Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit
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Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit
SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 1 Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 2 SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 3 Josef Bakic, Marc Diebäcker, Elisabeth Hammer (Hg.) Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit Ein kritisches Handbuch Löcker SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 4 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie des Magistrats der Stadt Wien, MA 7, Wissenschafts- und Forschungsförderung. © Erhard Löcker GesmbH, Wien 2008 Herstellung: Gemi S.R.O., Prag ISBN 3-85409-477-7 SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Aktivierung und soziale Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Christine Stelzer-Orthofer Auftrag und Mandat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Frank Bettinger Biografie und Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Rudolf Egger Case Management und Clearing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Roland Fürst Diagnose und Sozialtechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Michael Galuske, Nicole Rosenbauer Diversity und Ausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Samira Baig Ideologiekritik und Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Albert Scherr Management und Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Michael Winkler Neue Unterschicht und soziale Sicherung . . . . . . . . . . . 137 Elisabeth Hammer Norm und Abweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Franz Kolland Prävention und Disziplinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Agnieszka Dzierzbicka Profession und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Margrit Brückner Qualität und Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Josef Bakic SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 6 Recht und Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Nikolaus Dimmel Sozialraum und Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Marc Diebäcker System und Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Fabian Kessel Vorsorge und Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Michael Opielka AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 7 Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit Ein kritisches Handbuch Vorwort »Das Verzweifelte, daß die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist, gewährt paradox die Atempause zum Denken, die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre« (Theodor W. Adorno 1975 [1966], 243) Soziale Arbeit ist eng an gesellschaftliche, ökonomische und staatliche Bedingungen gekoppelt und hat sich im Laufe der Geschichte zu einem vielschichtigen Feld sozialer Praxis entwickelt. Die gegenwärtigen Transformationsprozesse sind von einer ökonomisierenden Logik gekennzeichnet, die Ungleichheiten und Marginalisierungsprozesse verschärfen. Über den Staat, der einer neoliberalen Regierungsrationalität folgt, wird auch das Feld der Sozialen Arbeit geprägt und verfremdet. Vor dem Hintergrund des Abbaus staatlicher Unterstützungssysteme und der Kürzung bzw. Nichtanpassung sozialer Ausgaben verändern sich Inhalte und Formen sozialarbeiterischer Handlungsbezüge u.a. im Sinne ökonomisierter und ordnungs- bzw. sicherheitspolitischer Logiken. Wir – die HerausgeberInnen – haben uns die letzten Jahre intensiv mit diesen Transformationsprozessen auseinandergesetzt und unter anderem die »Wiener Erklärung zur Ökonomisierung und Fachlichkeit in der Sozialen Arbeit« (Bakic/Diebäcker/ Hammer 2007) in die Diskussion eingebracht. Wir sind angesichts der aktuellen Bedingungen der Überzeugung, dass sich Soziale Arbeit mit ihren gesellschaftlichen Aufträgen bzw. Aufgaben in ihrer politischen Bedeutung kritisch auseinandersetzen und eine selbstbestimmte kritisch-reflexive Theorie und Praxis entwickeln muss, die ihr eigenes Verwobensein in neoliberale Politiken erkennt. Dann wird Soziale Arbeit dazu beitra- SatzBakic.qxd 8 27.02.2008 17:19 Seite 8 Vorwort gen können, gesellschaftliche Widersprüche und Interessenskonflikte sowie soziale Ungleichheiten und Ausschließungsprozesse aufzudecken und das Soziale auch im Sinne von KlientInnen mitzugestalten. Diese politische Dimension ist unseres Erachtens untrennbarer Teil eines fachlichen Selbstverständnisses Sozialer Arbeit, die sich der Förderung der menschlichen Entwicklung verpflichtet fühlt, sich schwerpunktmäßig mit individuellen Krisen und sozialen Problemlagen beschäftigt, sie sichert und soziale Bedingungen dort strukturiert, wo die Anforderungen gesellschaftlichen Lebens die Möglichkeiten der Selbstbehauptung von Einzelnen oder Gruppen übersteigen. In diesem Kontext war es für uns logische Folge, dass es mehr denn je notwendig ist, jene Begrifflichkeiten kritisch zu analysieren, die in Theorie und Praxis Sozialer Arbeit Konjunktur haben. Denn angesichts einer Hegemonie neoliberalen Regierens werden fachliche Konzepte oder Diskurse von einer, auf den ersten Blick nicht wahrnehmbaren, ideologischen Folie eingehüllt. Der Anspruch der vorliegenden Sammlung ist es daher, ausgewählte Diskurse oder Konzepte kritisch auf ihr theoretisches wie ideologisches Fundament hin zu analysieren sowie ihre gesellschaftspolitische Bedeutsamkeit mit Bezügen zu den Arbeitsbereichen der Sozialen Arbeit zu veranschaulichen. Die Integration von unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven und Expertisen aus Feldern der Sozialen Arbeit war hierfür nötig und soll dazu beitragen, eine Lücke in der deutschsprachigen Auseinandersetzung zu schließen. Angeregt durch aktuelle Glossarabhandlungen in den Sozialwissenschaften wie dem 2004 erschienenen Band »Glossar der Gegenwart«, herausgegeben von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke bzw. der z.T. direkten Mitwirkung beim bildungswissenschaftlichen Pendant »Pädagogisches Glossar der Gegenwart«, herausgegeben von Agnieszka Dzierzbicka und Alfred Schirlbauer 2006, lag eine SatzBakic.qxd 27.02.2008 Vorwort 17:19 Seite 9 9 Strukturierung durch Leitbegriffe auf der Hand. Bei der Auswahl der Begriffe war es uns aber ein Anliegen – Soziale Arbeit als junge Disziplin muss ›innovativ‹ sein –, diese nicht nur aneinanderzureihen, sondern in einem Spannungsfeld zweier Begrifflichkeiten abbilden und aufarbeiten zu lassen. Die AutorInnen wurden von uns also zur Herausforderung genötigt, immer zwei aktuell wirkmächtige, sich aufeinander beziehende Begriffe parallel zu analysieren und ihre Verflechtung aufzuzeigen. In jedem Fall sind die ausgewählten Begrifflichkeiten, angesichts ihrer derzeitigen ideologischen Bedeutungszuweisung und Verwendung, als hybrid zu bezeichnen. Eine erste Sondierung in Frage kommender Begrifflichkeiten brachte eine erschreckend große Zahl zu Tage. Aufgrund der Zielsetzung ein handliches Buch zu machen, musste jedoch eine Fokussierung und Einschränkung vorgenommen werden – die vorliegende Sammlung ist insofern als exemplarische zu verstehen. Wir wollten dem Gegenstand Soziale Arbeit entsprechend eine multiperspektivische Behandlung der ausgewählten Begriffe erreichen, und freuen uns sehr, dass es uns gelungen ist, namhafte TheoretikerInnen und ExpertInnen in einem Band zu vereinen. Die AutorInnen wurden eingeladen, in kurzer Form in die Terminologie einzuführen, ihre Verwendung in der Sozialen Arbeit zu skizzieren und auf ihre ideologischen Ansprüche hin kritisch zu prüfen. Dieses Handbuch möchte anhand einer Analyse von Leitbegriffen der Sozialen Arbeit zu einem kritischen, theoriebezogenen Selbstverständnis der Sozialen Arbeit beitragen, das sich auch angesichts gegenwärtiger Rahmenbedingungen bewähren kann. ProfessionistInnen, Studierenden und Lehrenden im Feld der Sozialen Arbeit soll es als kritische Einführung in jene zentralen Diskurse der Sozialen Arbeit dienen, die gegenwärtig als Mainstream in der konkreten Praxis Bedeutung und Umsetzung finden. Allen Akteuren des Sozialen soll mit dieser Publikation SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 10 10 Vorwort die Möglichkeit eröffnet werden, politische Prozesse aus einer aufgeklärten Haltung heraus mitzugestalten. Das Schreiben ist getan, nun frisch und flink ans Lesewerk. Wien, Jänner 2008 Josef Bakic, Marc Diebäcker und Elisabeth Hammer Literatur Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2007): Wiener Erklärung zur Ökonomisierung und Fachlichkeit in der Sozialen Arbeit. Wien. Online unter: www.sozialearbeit.at/petition.php [06.01.2008] Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.) (2004): Glossar der Gegenwart. Frankfurt am Main Dzierzbicka, Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (Hg.) (2006): Pädagogisches Glossar der Gegenwart. Wien SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 11 Aktivierung und soziale Kontrolle Christine Stelzer-Orthofer Die Begriffe Aktivierung und aktivierender Staat finden seit mehr als zehn Jahren immer häufiger Eingang in die politische und sozialwissenschaftliche Diskussion. Sie stehen als Symbol und Leitbild für einen Paradigmenwechsel zur Gestaltung sozialstaatlicher Sicherung. Sie sind Schlüsselbegriffe für ein neues Sozialmodell, für eine neue Balance von Rechten und Pflichten und signalisieren Modernisierung, Veränderung und Erneuerung (vgl. Dahme et al. 2003, 9). Gemeint ist damit zum einen, dass Politik sich nicht damit begnügen kann, soziale Leistungen in Form von monetären Transfers zur Verfügung zu stellen, sondern aufgefordert ist, Instrumente, Programme und Maßnahmen für eine erfolgreiche Sozial- und Arbeitsmarktintegration von gesellschaftlich ausgegrenzten Gruppen zu entwickeln. Zum anderen geht es dabei aber auch um die Neujustierung der Frage, unter welchen Bedingungen arbeitsfähige Menschen sozialstaatliches Einkommen beziehen dürfen. Es wird dabei ein wohlfahrtsstaatlicher Grundkonflikt thematisiert, der auf die Organisation und das Verhältnis von Arbeitsmarkt und Sozialstaat abzielt (vgl. Vobruba 2000, 5). Es geht um das Verhältnis der Einzelnen zur Gesellschaft, es geht um deren Rechte, aber auch deren Pflichten; »Fordern und Fördern« sowie »Hilfe zur Selbsthilfe« stehen auf dem Programm. Ein aktivierender Staat wird von vielen als der »dritte« Weg eines neuen Sozialstaatsmodells beschrieben, der zwischen einer minimalen und einer umfassendem Absicherung liegt. Es soll daher nachfolgend dargelegt und den Fragen nachgegangen werden, welche konträren Zielsetzungen mit Aktivierung verbunden sind, ob und wie sich soziale Kontrolle und Aktivierung in idealtypischen wohlfahrtsstaatlichen Konzepten verorten las- SatzBakic.qxd 12 27.02.2008 17:19 Seite 12 Aktivierung und soziale Kontrolle sen und ob ein aktivierender Staat als Wohlfahrtsstaat Modell sein kann. Dabei sollte deutlich werden, dass Aktivierung kein neutrales wohlfahrtsstaatliches Instrument ist, sondern sowohl »als repressives und autoritäres« (Hammer 2006) als auch als emanzipatorisches Element in der sozialer Sicherungslandschaft und in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit fungieren kann. Aktivierung – ein ambivalenter Begriff Aktivierung ist ein Sammelbegriff für eine sozialstaatliche Strategie, die verschiedene Ebenen verfolgt. Aktivierung kann helfen, Marginalisierung, Wohlfahrtsabhängigkeit und Ausgrenzung zu verhindern sowie Armut zu bekämpfen; sie soll die gesellschaftliche Einbindung fördern und somit die soziale Position der Einzelnen verbessern. Die (Wieder-)Entdeckung des aus der Sozialpädagogik bekannten Prinzips Empowerment, der Stärkung von Selbstkompetenz und Eigeninitiative, als sozialstaatliche Strategie fällt nicht zufällig in jene Phase, in der eine steigende Anzahl von SozialtransfersbezieherInnen und überlastete Sozialbudgets beklagt werden. Aktivierung muss daher auch als ökonomische Strategie angesehen werden, die darauf abzielt, öffentliche Budgets durch die Reduzierung von KlientInnen und Sozialleistungen zu entlasten. Wenn aktivierende Maßnahmen – wie die Praxis in den europäischen Sozialstaaten zeigt (vgl. z.B. Heikkilä/Keskitalo 2001) – so angelegt sind, dass der Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen erschwert oder verweigert wird, tragen sie zu einer gesellschaftlichen Polarisierung und individuellen Ausgrenzung bei. Aktivierung ist demnach ein ambivalenter Begriff, der kontrovers diskutiert wird. Aktivierung wird daher von den einen als Mittel zur gerechten Verteilung von Chancen und zur Armutsbekämpfung angesehen, für andere wiederum steht er als Synonym für Sanktion, Zwang, Arbeitspflicht und verstärkte soziale Kontrolle. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 13 Aktivierung und soziale Kontrolle 13 Wohlfahrtsstaat und soziale Kontrolle Während dem Begriff der Aktivierung zumindest dem Grunde nach eine positive Konnotation innewohnt, da er den Gegenpol zu Lethargie und Passivität impliziert, sind mit dem Begriff Kontrolle, unabhängig davon, ob auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene, eher negative Assoziationen verbunden. Dennoch ist auch der Begriff der sozialen Kontrolle mehrdeutig. Soziale Kontrolle subsumiert die Gesamtheit aller Mechanismen, Prozesse und Strukturen, »mit deren Hilfe eine Gesellschaft versucht, ihre Mitglieder zu Verhaltensweisen zu bringen, die im Rahmen dieser Gesellschaft positiv bewertet werden.« (Fuchs-Heinritz et al. 1995, 368). Soziale Kontrolle steht daher in einem engen Zusammenhang mit der Durchsetzung von gesellschaftlichen und sozialen Normen. Sie fördert durch die Internalisierung gewünschter Verhaltensweisen die gesellschaftliche Integration und wirkt zugleich disziplinierend: Für jene, die sich diesen Werten und gewünschten Verhaltensweisen entziehen, diese verletzen oder sie nicht beachten und sich dementsprechend »abweichend« verhalten, entsteht in Form von negativen Sanktionen zum Teil enormer Druck, der zu Stigmatisierung und sozialer Ausschließung führen kann. Nicht nur die Familie als primäre Sozialisationsinstanz, sondern auch Schule, Peer-Gruppen etc. wirken auf soziale Normen und sozial akzeptiertes Verhalten prägend. Lange Zeit nicht beachtet, hat im Besonderen die kritische Sozialstaatsforschung der 1970er Jahre darauf hingewiesen, wie z.B. im Band »Sozialpolitik als soziale Kontrolle« der Starnberger Studien (1978), dass Sozialpolitik »niemals nur soziale Hilfe ist, sondern ihr immer auch ein Moment sozialer Kontrolle und Disziplinierung inne wohnt« (Mohr 2007, 57). Neben der Kompensations- und Konstitutionsfunktion, die zu Stabilisierung, Legitimierung, Umverteilung und Integration der Gesellschaft beitragen, wird sozialstaatlichem Wirken daher SatzBakic.qxd 14 27.02.2008 17:19 Seite 14 Aktivierung und soziale Kontrolle auch eine Kontroll- und Disziplinierungsfunktion zugeschrieben. Sozialpolitik dient dazu Klassenkonflikte zu entschärfen, da durch kompensatorische Sozialtransfers Lohnarbeit gegen spezifische Risiken abgesichert wird. Sie trägt somit auch zur politischen Stabilität sowie zur sozialen Integration bei. Die Konstitutionsfunktion betont, dass erst durch sozialpolitische Maßnahmen, wie z.B. durch Ausbildung und Qualifizierung von ArbeitnehmerInnen und Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik, »die Voraussetzung für die Nutzung von Arbeitskräften in einzelkapitalistischen Produktionsprozessen« hergestellt wird (Rödel/Guldimann 1978, 22). Die der Organisation sozialer Sicherheit zugeschriebene disziplinierende und kontrollierende Funktion bezieht sich auf »die Zurichtung der Individuen auf die Erfordernisse der Marktgesellschaft« (Mohr 2007, 16) durch die Verfestigung und Durchsetzung von Wert- und Handlungsprinzipien (z.B. Motivation und Leistungsorientierung), die, so Rödel und Guldimann (1978, 27f), »erstens sicherstellen, dass die Lohnarbeiter regelmäßig als individuelle Anbieter ihrer Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt auftreten, und zweitens gewährleisten, dass die Arbeiter die Disziplinierungen, Belastungen und Risiken des Arbeits- und Produktionsprozesses als normal hinnehmen.« Ähnlich argumentieren Sachße und Tennstedt (1986, 12), die »disziplinierende Verhaltenszumutungen (als) notwendige Begleiterscheinungen bzw. Voraussetzungen einer spezifischen Form sozialer Sicherheit« betrachten. Piven und Cloward (1977 zit. nach Mohr 2007, 58ff) analysieren am Beispiel der Geschichte der Sozialhilfepolitik der USA wechselnde Phasen der Ausweitung bzw. Einschränkung sozialer Leistungen, die sie mit der systemimmanenten Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Sozial- und Wirtschaftsordnung in Zusammenhang bringen. Zum einen wird durch die Verteilung von Sozialleistungen eine politische Stabilisierung erzeugt, zum anderen wird bei der Organisation SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 15 Aktivierung und soziale Kontrolle 15 und Ausgestaltung des sozialen Systems darauf Bedacht genommen, dass trotz sozialer Hilfe der Druck zum Verkauf der Arbeitskraft am Arbeitsmarkt aufrecht bleibt, meist durch Zugangsbarrieren, niedrige Leistungen, die Bereitschaft und die Pflicht zur Erwerbstätigkeit sowie gegebenenfalls durch Androhen oder Verhängen von Sanktionen (vgl. Mohr 2007, 58f). Als ein sozialstaatliches Paradoxon ist hier jenes Phänomen zu verorten, dass es gerade in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs und zunehmenden Wohlstands eher zum Ausbau sozialer Leistungen kommt, aber »(i)n der Krise, dann wenn sie am nötigsten sind, werden soziale Leistungen abgebaut.« (Sachße/Tennstedt 1986, 12). Eine abgeschwächte und modifizierte Version der sozialstaatlichen Kontroll- und Disziplinierungsfunktion wird auch durch jene Ansätze deutlich, die der Sozialpolitik »einen formenden Zugriff auf die zeitliche Ordnung des Lebens« bescheinigen (Leibfried et al. 1995, 24). Sozialpolitik und Sozialrecht sind Struktur gebende Komponenten im individuellen Lebenslauf, von der Wiege bis ins Grab. Sie beeinflussen explizit oder implizit private Lebensformen, Entscheidungen, wie z.B. Heirat, Scheidung oder Kündigung, werden auch im Hinblick auf die damit verbundenen Rechtsfolgen getroffen (vgl. u.a. Kaufmann 1997). Unbestritten eröffnen sie Handlungsmöglichkeiten, schaffen zugleich aber auch Zwänge. Sie wirken rechtlich normierend und somit Lebenslauf bestimmend, da sie beispielsweise vorgeben, ab welchem Alter und nach wie vielen Jahren der Erwerbstätigkeit wir in Pension gehen können oder müssen, in welchen Phasen unseres Lebens wir uns – staatlich unterstützt – ausbilden können oder ob bzw. welche Sozialleistungen bei einer längerer Phase der Arbeitsmarktabstinenz mittels welcher Vorleistungen zu gewähren sind. Wiewohl normierende und disziplinierende Funktionen jedem staatlichen Wirken immanent ist, sind Art, Ausmaß und Folgen sozialer Kontrolle in nicht unmaßgeblicher Weise davon beeinflusst, von welcher Staatskonzeption ausgegangen wird. SatzBakic.qxd 16 27.02.2008 17:19 Seite 16 Aktivierung und soziale Kontrolle Aktivierung und soziale Kontrolle in wohlfahrtsstaatlichen Konzepten Das angeführte Beispiel, welche Leistungen im Falle der Arbeitsmarktabsenz zur Verfügung gestellt werden, schließt unmittelbar an die Begriffe Aktivierung und soziale Kontrolle an. Es stellt sich daher die Frage, ob und wie diese sich in unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Konzepten finden und welche (sozial-)politischen Maßnahmen sich daraus ableiten lassen. Sind Aktivierungskonzepte unterstützende Maßnahmen, Qualifizierung und Empowerment für jene, die den gegenwärtigen Anforderungen einer immer flexibleren und entgrenzten Arbeitswelt wenig oder gar nicht gerecht werden? Sind sie ein legitimes Mittel gegen Müßiggang und Missbrauch sozialer Unterstützung? Oder sind sie »disziplinierende Verhaltenszumutungen« und »arbeitsmarktpolitische Herrschaftsinstrumente in einer flexibilisierten Wirtschaft« (Zilian 2000, 567ff), primär darauf gerichtet, sozialstaatliche Leistungen zu reduzieren, Kontrollmechanismen zu installieren und Arbeitsbereitschaft aufrecht zu erhalten? Entsprechend der Krisendiagnostik eines neoliberalen Staatsmodells wird Arbeitslosigkeit als Individualschuld interpretiert, die sich aus fehlender Marktfähigkeit, unredlichem Verhalten und mangelnder Motivation ergibt. Arbeitslosigkeit ist – ausgehend vom Menschenbild des »homo oeconomicus« und dem Prinzip der Vertragsfreiheit – freiwillig gewählt. Mangelnde Motivation und mangelnde Arbeitsanreize führen zu einem weiteren Erklärungsansatz von Nicht-Erwerbstätigkeit, der im Versagen wohlfahrtsstaatlicher Politik liegt: Zu großzügige und im Sinne der Arbeitsmarktintegration kontraproduktive Sozialleistungen der europäischen Wohlfahrtsstaaten stünden einer Arbeitsaufnahme im Wege. Gerade im Niedriglohnbereich rechne sich das aus legaler Erwerbsarbeit zu erzielende und mit Abgaben belastete Einkommen nicht. Viel eher würden soziale Leistungen in Anspruch genommen, die allenfalls mit Einkom- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 17 Aktivierung und soziale Kontrolle 17 men aus Schwarzarbeit aufgebessert würden. Arbeitslosigkeit bleibe daher auf einem hohen Niveau, so die Argumentationslinie, da durch zu hohe Sozialunterstützungen die Aufnahme von Erwerbstätigkeit nicht gefördert, sondern im Gegenteil verhindert werde. Wohlfahrtsstaatlich bedingte, nicht vorhandene Lohnflexibilität nach unten führe zu zusätzlicher Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit wird demnach als Produkt des Versagens wohlfahrtsstaatlicher Politik, individueller Antriebslosigkeit und Motivation interpretiert: Der »Wohlfahrtsstaat wird als Förderer von Unmoral, Missbrauch und sozialer Devianz« gebrandmarkt und mit ihm werden arbeitslose TransfersbezieherInnen als SozialschmarotzerInnen stigmatisiert (vgl. Butterwege 2005,104f). Konsequenterweise wird aus dieser Sicht im Konzept des aktivierenden Staates ein »Weniger« an sozialstaatlichem Engagement und ein »Mehr« des/der Einzelnen favorisiert. Ziel ist es, Eigeninitiative zu fördern, Selbstverantwortung zu steigern, Selbsthilfe anzuregen. Kurzum, am Programm eines aus der neoliberalen Kritik konzipierten aktivierenden Staates stehen die Rücknahme gesamtgesellschaftlicher Verantwortung durch Privatisierung und Entstaatlichung und die individuelle Verantwortungssteigerung durch Fordern und Fördern, durch Leistung und Gegenleistung, wobei die Akzentuierung auf der Gegenleistung liegt. Der Begriff der Aktivierung zielt hier primär auf den Arbeitsmarkt ab, es gilt, Arbeitsanreize und Arbeitsmotivation zu erhöhen, sei es durch Sanktionen, reduzierte Sozialtransfers, Arbeitszwang und zunehmender sozialer Kontrolle. Betont werden dabei nicht die Rechte der Einzelnen, sondern deren Pflichten dem Gemeinwesen gegenüber. Kollektive Lebensrisiken werden individualisiert, Aktivierung zu »einer neo-liberalen Verpflichtungserklärung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft« (Dahme et al. 2003, 10), die zudem verdecken hilft, dass es dabei um einen massiven Abbau sozialer Absicherung geht. SatzBakic.qxd 27.02.2008 18 Abbildung 1: Konzeptionen 17:19 Seite 18 Aktivierung und soziale Kontrolle Aktivierung und wohlfahrtsstaatliche Am anderen Pol wohlfahrtsstaatlicher Konzeptionen steht der universalistische Sozialstaat. Arbeitslosigkeit wird als Produkt des ökonomischen Wandels wahrgenommen, bedingt durch strukturelle Veränderungen des Wirtschaftens unter globalisierten Bedingungen. Diese erhöhen das Risiko, aus dem Arbeitsmarkt heraus zu fallen, ebenso wie diskontinuierliche Beschäftigungskarrieren und die im Vormarsch befindlichen atypischen Beschäftigungsformen zu Prekarisierung und Ausgrenzung beitragen. Gesellschaftliche Verantwortung für Menschen mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten und in ihrer gesellschaftlichen Einbettung stehen hier im Vordergrund. Ziel ist es, gesellschaftliche Teilhabe für alle zu ermöglichen, und diese wird noch immer, oder besser gesagt, immer mehr über Erwerbsarbeit erreicht. Anstelle des »homo oeconomicus« tritt in Anlehnung an Hannah Arendt der»homo activus«, der tätige Mensch, als engagiert partizipativer Akteur, dem Solidarität ein maßgebliches Handlungsprinzip ist. Besondere Unterstützung SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 19 Aktivierung und soziale Kontrolle 19 zu einer verbesserten Sozial- und Arbeitsmarktintegration ist daher für Benachteiligte vorzusehen, um eine Einbindung an soziale Sicherungssysteme und in den Arbeitsmarkt zu erreichen. Es geht um eine Verbesserung der sozialen Partizipation und um die Erhöhung der Chancen am Arbeitsmarkt durch die Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit (Qualifizierung, Arbeitstraining etc.). Sozial- und Arbeitsmarktintegration stellen gleichberechtigte Ziele von sozialer Aktivierung dar. Nicht Pflicht, sondern gesellschaftliche, sprich staatliche Verantwortung und Recht werden hier betont. Folgt man diesen idealtypischen Konzeptionen, ist das Leitbild des aktivierenden Staats als Konsens oder als »dritter« Weg zwischen dem marktliberalen und dem universalistischen Modell nicht aufrecht zu erhalten. Es kann nicht gleichzeitig ein »Mehr« und ein »Weniger« an gesamtgesellschaftlicher Verantwortung umgesetzt werden. Es ist demnach bei der Bewertung des Begriffs der Aktivierung sowie des aktivierenden Staats sowie der damit verbundenen Strategien zu klären, welche Probleme – und wie diese – wahrgenommen werden und von welcher wohlfahrtsstaatlichen Konzeption und dem damit zugrunde liegendem Menschenbild Aktivierungsmaßnahmen ihren Ausgangspunkt nehmen. Hält man an bisherigen wohlfahrtsstaatlichen Prinzipien und Leistungen fest oder ist das Menschenbild durch einen faulen, Nutzen maximierenden homo oeconomicus geprägt, den es durch »negative Aktivierung« zu bestrafen gilt? Sozialpolitische Strategien können daher nicht isoliert betrachtet werden, sondern verkörpern bestimmte Welt- und Menschbilder. Der politische Diskurs und die Praxis von Aktivierungsmaßnahmen orientieren sich in der Regel nicht an Wohlfahrtsstaatskonzeptionen. Übereinstimmung herrscht im Allgemeinen weitgehend darin, soziale Ausgrenzung und Armut zu verhindern, während sich die Ziele und Instrumente, um dies zu erreichen, deutlich unterscheiden. Dem eines minimalistischen, neoliberalen Staates und dessen zugrunde liegendem SatzBakic.qxd 20 27.02.2008 17:19 Seite 20 Aktivierung und soziale Kontrolle Menschenbild stehen Umverteilungs- und Inklusionsdiskurse und deren Ansätze zur Aktivierung gegenüber (vgl. Aust/Arriba 2004, 19ff). Im letztgenannten wird sowohl die gesellschaftliche als auch die individuelle Verantwortung angesprochen. Kritisiert wird, dass wohlfahrtsstaatliches Engagement durch Sozialtransfers (auch) zu negativen Anreizen, Wohlfahrtsabhängigkeit und Armutsfallen führen kann. Ich gehe davon aus, dass, solange es nicht zu einer Präzisierung des Begriffs Aktivierung sowie des ebenso ambivalenten Leitbildes eines aktivierenden Staats kommt, eine analytische Interpretation notwendig und eine normative Abgrenzung in »positive« und »negative« Aktivierung unumgänglich ist. Möglicherweise wäre eine Unterscheidung in suppressive und emanzipatorische Aktivierung hilfreich. Unter den Begriff suppressiver Aktivierung subsumiere ich alle jene Maßnahmen, die in der Ideologie eines minimalistischen Staates mit der primären Zielsetzung Sozialbudgets zu senken durch die Einschränkung von Sozialleistungen, durch Repression, Sanktion, Zwang und Druck, soziale Normen für alle gleichermaßen, wie z.B. den Zwang zur Verwertung der Arbeitskraft, durchzusetzen versuchen, ohne Berücksichtigung der individuellen noch der strukturelle Lage. Legistische Maßnahmen, wie beispielsweise die restriktiven Novellierungen im österreichischen Arbeitslosenversicherungsgesetz in den letzten zehn Jahren, gekennzeichnet durch einen erschwerten Leistungszugang und die Senkung des Niveaus der Leistung (vgl. Artner 2001), zählen ebenso dazu wie Androhung von Sperren der Geldleistung sowie ganz generell eine Politik, die gesamtgesellschaftliche Ursachen bestimmter Problemlagen negiert und die Verantwortung auf bestimmtes individuelles Verhalten reduziert und damit delegiert (vgl. Stelzer-Orthofer 2001). Demgegenüber steht meiner Ansicht nach die emanzipatorische Aktivierung, die in der Tradition eines umfassenden Wohlfahrtsstaats Zugänge eröffnen hilft, die sowohl auf der indivi- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 21 Aktivierung und soziale Kontrolle 21 duellen Ebene als auch auf der strukturellen Ebene ansetzen. Zugänge eröffnen bedeutet gesellschaftliche Teilhabechancen erhöhen. Dies kann durch den Zutritt in den ersten oder zweiten Arbeitsmarkt, durch Möglichkeiten Kompetenzen und neue Qualifikationen zu erwerben erfolgen oder aber auch durch finanzielle Absicherung und die Anbindung an soziale Sicherheit, die als Minimalziel soziale Teilhabe ermöglicht. Aktivierende Soziale Arbeit zwischen Kontrolle und Empowerment Ein aktivierender Staat – unabhängig davon, ob in neoliberaler oder universalistischer Tradition – bleibt nicht ohne Folgen für die Positionierung von Sozialer Arbeit, da sie hinsichtlich ihrer Funktionen eng mit Sozialpolitik, demnach wohlfahrtsstaatlichen Konzeptionen, verknüpft ist (vgl. Hammer 2006). Das Handlungsfeld ist zumindest im letzten Jahrzehnt durch eine zunehmende Ökonomisierung geprägt. Die Ausgliederung von sozialen Dienstleistungen aus der öffentlichen Verwaltung, der Druck, Dienstleistungen der Sozialen Arbeit verkaufen zu müssen, führen zu einem »Wandel der Art der Organisation und Kontrolle von Leistungserbringungen in der Sozialen Arbeit« (Spatschek 2007, 53). Durch administrative Vorgaben und zunehmende finanzielle Restriktionen wird die Zeit für die KlientInnen knapper, der Handlungsspielraum enger. Dokumentationspflichten für Auftraggeber und Finanziers erschweren die tägliche Praxis. Ein Interessenskonflikt entsteht dann, wenn »die legitimen Interessen der Zielgruppen der Sozialen Arbeit den Interessen der öffentlichen Anbieter entgegenstehen« (Spatschek 2007, 54). Wenn sozialstaatlichem Wirken eine disziplinierende und kontrollierende Funktion zukommt, gilt dies erst recht für Soziale Arbeit. Soziale Arbeit war schon bisher gefordert, mit dem ihr immanenten – und mit dem Begriff des »doppelten Mandats« SatzBakic.qxd 22 27.02.2008 17:19 Seite 22 Aktivierung und soziale Kontrolle umschriebenen – teils widersprüchlichen Verhältnis von sozialarbeiterischer Hilfe und Unterstützung für den und die Einzelne einerseits sowie dem mehr oder weniger expliziten gesellschaftlichen Auftrag der sozialer Normierung, Disziplinierung und Kontrolle andererseits (vgl. Hammer 2006) zurechtzukommen, demnach den Spagat zwischen Hilfe und sozialer Kontrolle zu meistern. In einem neoliberalen Konstrukt eines aktivierenden Staats neigt sich »die Waage (...) wieder deutlicher und stärker zur Kontrollseite« (Galuske 2007, 25). Somit erhöht sich die Gefahr der Instrumentalisierung der sozialen Arbeit, die als »eine Art Trojanisches Pferd« eingesetzt wird: »Professionelle Sozialarbeit wird in Anspruch genommen, um professionsfremde Ziele zu verfolgen: Kostenersparnis statt bedarfsgerechter Hilfe zur Führung eines menschwürdigen Lebens.« (Stark 2007, 404). Aktivierende soziale Arbeit, im Sinne einer suppressiven Aktivierung, wird hier zum Erfüllungsgehilfen für die Rücknahme sozialstaatlicher Leistungen und den Abbau von Sozialtransfers. Demgegenüber steht der eingangs erwähnte EmpowermentAnsatz, der sofern er nicht als Deckmantel der suppressiven Aktivierung dient, einer emanzipatorischen Aktivierung entspricht. Ziel hierbei es ist, »die Menschen zur Entdeckung ihrer eigenen (vielfach verschütteten) Stärken zu ermutigen, ihre Fähigkeiten zu Selbstbestimmung und Selbstveränderung zu stärken und sie bei der Suche nach Lebensräumen und Lebenszukünften zu unterstützen, die einen Zugewinn von Autonomie, sozialer Teilhabe und eigenbestimmter Lebensregie versprechen.« (Herringer 1997, 7). Kritische Soziale Arbeit hat hier zum einen auf der Ebene der Individuen Möglichkeiten auszuloten und motivierend auf die KlientInnen einzuwirken. Zum anderen ist sie auf der Ebene des Politischen gefordert, sich aktiv in eine demokratische und gerechte Ausgestaltung der sozialen Sicherheit einzubringen. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 23 Aktivierung und soziale Kontrolle 23 Literatur Arendt, Hannah (1981 [1958]): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München Artner, Renate (2001): Neue Entwicklungen des österreichischen Arbeitsmarktes und Strategien in der österreichischen Arbeitsmarktpolitik. In: Stelzer-Orthofer Christine (Hg.): Zwischen Welfare und Workfare. Soziale Leistungen in der Diskussion. Linz Aust, Andreas/Arriba, Ana (2004): Policy reforms and discourses in social assistance in the 1990s: Towards ›activation‹? Unidad de Politicas Comparadas (CSIS) Working Paper 04-11. Paper presented at the ESPAnet Annual conference, September 9-11, 2004, Oxford. http://www2.rz.hu-berlin.de/verwaltung/austarribaoxfordrev.pdf [04.02.2008] Butterwege, Christoph (2005): Krise und Zukunft des Sozialstaats. Wiesbaden Dahme, Heinz Jürgen (o.J.): Die Wiederkehr des Leviathan. »Aktivierung« als neues Leitbild für soziale Arbeit. http://www.bdwi.de/forum/fw403-10.htm [30.09.2005] Dahme, Heinz Jürgen et al. (2003): Einleitung: Aktivierung als gesellschaftliche Metapher oder die Ambivalenz eines neuen Sozialmodells. In: Dahme Heinz-Jürgen/Otto Hans-Uwe/Trube Achim/ Wohlfahrt Norbert (Hrsg): Soziale Arbeit für den aktivierenden Sozialstaat. 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Ein eindeutiger, expliziter Auftrag »der« Sozialen Arbeit ist ohne weiteres nicht identifizierbar, sondern variiert räumlich und historisch, aber auch je nach Arbeitsfeld, nach ideologischen, partei- und ordnungspolitischen Präferenzen von EntscheidungsträgerInnen, nach (wissenschafts-)theoretischer Ausrichtung der SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen usw. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, mit Blick insbesondere auf das sozialpädagogische Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit, Möglichkeiten und Notwendigkeiten autonomerer Gegenstands- und Funktionsbestimmung als Voraussetzung selbstbestimmterer sozialpädagogischer Praxis zu skizzieren. Der Staat, das Recht und die Soziale Arbeit Die gesellschaftliche Funktion Sozialer Arbeit ist nach wie vor umstritten. Grundsätzlich lassen sich Soziale Arbeit bzw. die an sie gerichteten Aufgaben und Aufträge nur verstehen, wenn zugleich die historische Entwicklung sowie die gesellschaftlichen, politischen, rechtlichen und ökonomischen Bedingungen Sozialer Arbeit rekonstruiert werden – was nur vereinzelt hier geleistet werden kann. So entwickelte sich Soziale Arbeit »als tragendes Element eines ambivalenten wohlfahrtsstaatlichen Auftrags. Sie verdankt ihre Entstehung den Ligaturen jener Rationalisierungs-, Säkularisierungs- und Bürokratisierungsprozesse, die Habermas formschön als Kolonialisierung der Lebenswelt beschrieben hat« (Dimmel, 2005, 65). SatzBakic.qxd 26 27.02.2008 17:19 Seite 26 Auftrag und Mandat Soziale Arbeit war in ihrem Handeln von Beginn an orientiert an ihr vorgegebene gesellschaftliche Ordnungsmodelle, an Vorstellungen von »Normalität«, »Devianz« und »sozialen Problemen«, also Gegenständen, die als Bezugsrahmen bis zum heutigen Tage Bestand haben. Spätestens mit der Verberuflichung Sozialer Arbeit entwickelten sich die neuen Professionellen »zu Sachwaltern für richtig erfolgte Erziehung, für korrekte Haushalts- und Lebensführung, kurz: zu Experten und Garanten für Normalität« (Merten/Olk, 1999, 966), in deren beruflichem Handeln sich eine Orientierung an vermeintlich fachlichem, häufig jedoch alltagstheoretischem Wissen und berufspraktischem Können mit der Orientierung an gesellschaftlichen Normalitätsstandards verschränken, die in der Struktur der Institutionen wie ihren Aufgabendefinitionen eingelassen sind (vgl. Dewe/Ferchhoff/Scherr/Stüwe, 1995, 20). Hier kommt eine Asymmetrie (vgl. Gängler 2001) zum Ausdruck: eine doppelte Verpflichtung sowohl gegenüber den Ansprüchen gesellschaftlicher bzw. staatlicher Vorgaben, als auch gegenüber einem eigenen professionellen und gegenstandsbezogenen Selbstverständnis; eine Asymmetrie, die – als »doppeltes Mandat« begrifflich gefasst – in allen Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit bezüglich der jeweiligen Dominanz einer der beiden Verpflichtungen zu reflektieren und gegebenenfalls zugunsten fachlicher Ansprüche zu verändern ist. Es ist einerseits der Staat, der seine Macht der Sozialen Arbeit delegiert und dessen normativer, sozialrechtlicher Rahmen den Handlungsspielraum der Sozialen Arbeit begrenzt, was andererseits dazu führt, dass Soziale Arbeit häufig Verwaltungshandeln ist, also Vollzug von Recht; gleichwohl Soziale Arbeit (zumindest grundsätzlich) trotz weitgehender rechtlicher Verregelung, deutlich mehr als das Kodifizierte umfasst, umfassen sollte: und zwar ein professionelles, auf einen Gegenstand bezogenes Selbstverständnis, das den rechtlich vorgegebenen Rahmen sehr wohl zu ergänzen, gar zu verändern vermag (vgl. Dimmel, 2005, 70; Hammerschmidt 2005). Die SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 27 Auftrag und Mandat 27 Sozialgesetzgebung generiert zwar einen konstitutiven Rahmen der Sozialen Arbeit, fordert aber andererseits – so die optimistische Formulierung von Gedrath und Schröer – einen kontroversen Diskurs in der Sozialen Arbeit heraus und ist in Bezug auf Reformperspektiven von diesem selbst abhängig. Gerade die Entwicklung des Rechts und der relevanten Gegenstände dokumentiert, dass insbesondere »die Kinder- und Jugendhilfe ohne Bezug auf die kontroversen Sozialdiskurse um die Vergesellschaftung von Kindheit und Jugend in der industriekapitalistischen Moderne kaum zu begreifen ist. Nur wenn die rechtlichen Vorgaben – als ein Kernbestandteil der sozialstaatlichen Vergesellschaftung von Kindheit und Jugend – zu einem diskursiven Brennpunkt der Kinder- und Jugendhilfediskussion werden, kann die Soziale Arbeit eine eigenständige Position in Bezug auf die sozialpädagogischen Herausforderungen von Kindheit und Jugend im 21. Jahrhundert finden« (Gedrath/Schröer, 2002, 663). Die Produktion von Wissen, Wahrheit und Gegenstand Allerdings würde es zu kurz greifen, ausschließlich die rechtlichen Vorgaben in den Blick zu nehmen. Für ein weiteres Verständnis der Aufgaben und Funktionen Sozialer Arbeit bedarf viel mehr der Gegenstand und in der Folge die Funktion Sozialer Arbeit, somit die Produktion von Wissen und Wahrheit gerade auch in Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe, in denen das sozialpädagogische Bemühen jungen Menschen gilt, mehr Aufmerksamkeit. Dies in dem Bemühen, sich von einem naiven, objektivistischen Verständnis von »Gegenstand«, »Funktion«, »Auftrag« zu verabschieden, das seit jeher Wegbegleiter Sozialer Arbeit war und wesentlich dazu beigetragen hat, Soziale Arbeit als das zu konturieren, was sie nach wie vor ist: untertänige Handlangerin und Bearbeiterin ihr vorgegebener »Probleme«. SatzBakic.qxd 28 27.02.2008 17:19 Seite 28 Auftrag und Mandat So ist davon auszugehen, dass die Kategorie »Jugend« eine soziokulturelle Konstruktion ist, die unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen – nämlich im Zuge der Industrialisierung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert – entstanden ist, und darüber hinaus einem historischen Wandel unterliegt. M.a.W., Jugend als eigene Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsensein ist ein Produkt und Projekt der europäischen Moderne (vgl. Münchmeier 2001), und als »soziales Problem« seit jeher Gegenstand sozialpädagogischen Bemühens der Kinder- und Jugendhilfe. Anhorn skizziert die Entstehungsbedingungen von Jugend als ein normatives Konstrukt in der Weise, dass die »Erfindung des Jugendlichen« (Roth) als dem Anderen, Defizitären, Gefährdeten und Gefährlichen, zugleich der Entmachtung und Ausgrenzung von Jugendlichen dient, da es die Voraussetzungen und Legitimationen für eine (sozial- und kriminal-) politische und sozialpädagogische Intensivierung und Ausweitung der Kontrolle und Disziplinierung von Jugendlichen schafft (vgl. Anhorn 2002, S. 48). Mit den im Zuge der Industrialisierung stetig steigenden Qualifikationserfordernissen, dehnte sich die Lebensphase Jugend als eigenständige Übergangs- und Entwicklungsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenstatus tendenziell auf alle sozialen Klassen und Schichten aus. Der Begriff »Jugendlicher« löste sich nach und nach aus dem sozialen Bedeutungshorizont von proletarischen, verwahrlosten und kriminellen jungen Menschen, insbesondere im Zuge der Institutionalisierung von Jugendhilfe und Jugendarbeit. »Am Ende dieser Entwicklung stand nicht nur ein Konzept, das die Jugend im politisch-wissenschaftlich-massenmedialen Diskurs als eigenständige und einer eigenen Entwicklungslogik mit jugendspezifischen Besonderheiten gehorchenden Lebensphase etablierte, und die Jugendlichen – ungeachtet aller sozioökonomischen und geschlechtsspezifischen Unterschiede – zu einer deutlich eingrenzbaren, homogenen sozialen Gruppe stilisierte; darüber hinaus resultierte aus SatzBakic.qxd 27.02.2008 Auftrag und Mandat 17:19 Seite 29 29 der Verschmelzung dieser beiden Entwicklungslinien bereits in der Konstitutionsphase des modernen Konzepts Jugend jenes widersprüchliche Konglomerat aus positiven wie negativen Bedeutungselementen, das bis auf den heutigen Tag seinen Ausdruck in einer tief greifenden Ambivalenz, in der Typisierung und den gesellschaftlichen Reaktionen auf Jugend/Jugendliche findet« (Anhorn 2002, S. 50). Mit der Produktion des Gegenstandes »Jugend« und in der Folge »Jugend als problematische Lebensphase« gehen bis zum heutigen Tage negative Konnotationen einher, die einen grundsätzlichen Zusammenhang von Jugend mit Phänomenen wie Gefährlichkeit, Gefährdung, Abweichung unterstellen, die wiederum präventives oder reaktives, regelmäßig jedoch (sozial)pädagogisches Eingreifen zu erfordern und zu legitimieren scheinen. Dieser, seit Jahrzehnten reproduzierte negative Konnex von »Jugend als Problem« liegt – darauf weist Hartmut Griese hin – nicht zuletzt darin begründet, »dass der Mainstream der Jugendforschung seit ihren Anfängen bis in unsere Gegenwart hinein die Beschreibung und Erklärung ihres Gegenstandes (Jugend) primär in den Kategorien von (biologischen, entwicklungspsychologischen, sozialisatorischen …) Defiziten und Störungen konzipiert hat und damit im wesentlichen Problemforschung geblieben ist« (Griese 1999, S. 463). Mit der diskursiven Produktion des Gegenstandes Jugend wird eine kategoriale Differenz zwischen Jugendlichen und Erwachsenen konstituiert; und die Etablierung dieser Differenz, bzw. des Wissens um diese Differenz, bietet die Legitimation, Jugend als soziale Gruppe zum Gegenstand ordnungs- und sozialpolitischen Bemühens sowie insbesondere sozialpädagogischer Intervention und Kontrolle zu machen. Sämtliche politischen und (sozial)pädagogischen Anstrengungen und Maßnahmen finden ihre Rechtfertigung in der Anpassung Jugendlicher an die normativen Anforderungen der Erwachsenenrolle und die Integration der Jugend in die Gesellschaft (Sozialintegration). Der Jugenddiskurs ist seit SatzBakic.qxd 30 27.02.2008 17:19 Seite 30 Auftrag und Mandat jeher ein Diskurs über Moral und Abweichung. Die in Politik, Medien, Öffentlichkeit immer wieder kehrenden Debatten über gefährliche und gefährdete Jugendliche greifen auf solche historisch-kulturell und gesellschaftlich verankerten Vorstellungen von Jugend zurück. Die in den Diskursen generierten Deutungen dienen als kollektive Erklärung für soziale Phänomene bzw. Probleme und werden von den Akteuren zur Herstellung von Sinn und Begründung ihrer Handlungen subjektiv aufgegriffen und reproduziert (vgl. Althoff 2002; Bettinger 2002; Anhorn/Bettinger 2002). Damit soll vereinzelt erlebbares, häufig aber doch nur rhetorisches sozialpädagogisches Bemühen um eine emanzipatorische, an den Bedürfnissen der Subjekte ansetzende Jugendarbeit nicht geleugnet werden. Allerdings »(ist) die Ambivalenz zwischen den Autonomie-, Selbstvertretungs- und Partizipationsansprüchen von Heranwachsenden und dem gesellschaftlichen Auftrag der Kinder- und Jugendarbeit, die soziale Integration der Kinder und Jugendlichen zu fördern und im Konfliktfall auch mit massiven Interventionen einzuklagen, im Kern auch heute noch aktuell« (Thole, 2000, 32), zumal Studierende und PraktikerInnen der Sozialen Arbeit sich nach wie vor an altruistischen und technologischen Konzepten und Methoden orientieren, und versuchen so den gesellschaftlichen Erwartungen, die an die Soziale Arbeit in Form von Aufgaben und Aufträgen herangetragen werden, gerecht zu werden; Erwartungen bezüglich der Identifizierung und in der Folge der Bewältigung «sozialer Probleme«. Das Interesse gilt regelmäßig der Bewältigung einer konkreten, bearbeitbaren Praxis, unter Bezugnahme auf alltagstheoretisches Wissen und Erfahrungen, unter Ausschluss wissenschaftlicher Wissensbestände. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 31 Auftrag und Mandat 31 Beschränkungen traditioneller Sozialer Arbeit Die hier zum Ausdruck kommende fehlende fachliche Autonomie resultiert ohne Zweifel auch aus dem Eingebundensein Sozialer Arbeit in rechtliche und bürokratische Entscheidungs- und Handlungszusammenhänge. D.h. nach wie vor dominieren und strukturieren rechtliche, gesellschaftliche, politische, ökonomische Vorgaben und Funktionszuweisungen die Praxis der Sozialen Arbeit; andererseits nehmen sozialpädagogische PraktikerInnen nahezu ausschließlich das Wissen bzw. die Wahrheiten zur Kenntnis und somit zur Grundlage ihres Handelns, die mit den tradierten Evidenzen und vor allem den Erwartungen politischer EntscheidungsträgerInnen und GeldgeberInnen kompatibel erscheinen. – Solchermaßen »funktioniert« Soziale Arbeit also, orientiert an einer Ordnung des Sozialen, der sie sich in gleichem Maße unterwirft, wie sie jene als objektiv gegeben voraussetzt. Eine solche, von uns als »traditionelle« (vgl. Anhorn/Bettinger 2005; Anhorn/Bettinger/ Stehr 2008) bezeichnete Soziale Arbeit funktioniert somit im Kontext neoliberaler, ordnungspolitischer Rahmungen, • • • • • • • weil sie sich in den Beschränkungen eines objektivistischen Wissenschaftsverständnisses eingenistet hat, weil sie ihren Gegenstand nicht selbst bestimmt, sondern theorielos, offizielle Definitionen «sozialer Probleme« zu bearbeiten sucht und sich fremde Kategorien und Begrifflichkeiten zu Eigen macht, ferner weil sie in Prozesse der Kriminalisierung und Stigmatisierung involviert ist, weil sie strukturelle Faktoren in individuelle Defizite und Schwächen transformiert und diese individualisierend zu kompensieren sucht sowie eigene Formen der sozialen Ausschließung erzeugt und reproduziert und SatzBakic.qxd 32 • 27.02.2008 17:19 Seite 32 Auftrag und Mandat weil sie – trotz aller Partizipations-Rhetorik – ihren AdressatInnen regelmäßig lediglich einen Objektstatus zugesteht. Die im »doppelten Mandat« zum Ausdruck kommende Asymmetrie durch das Eingebundensein in rechtliche und bürokratische Kontexte sowie den daraus resultierenden Aufträgen einerseits, dem fachlichen Selbstverständnis andererseits, scheint zunächst nicht auflösbar, denn »jede Profession ist in den staatlichen Macht- und Herrschaftsapparat und sein hoheitsstaatliches Verwaltungshandeln in erheblichem Umfang einbezogen. Sie vollzieht selbst Verwaltungshandlungen im Auftrag des Staates (…), muss sich an den Vorgaben der staatlichen Verwaltung abarbeiten (…) [und] ist über ihre staatlichen Auftragshandlungen auch in die globale Kontrollfunktion, die globale Selektionsfunktion, die globale Sanktionsfunktion und die globale Ausgrenzungsfunktion staatlichen Handelns eingebunden« (Schütze, 1997, 243). Möglichkeitsräume selbstbestimmten Handelns Und dennoch gibt es Möglichkeiten, die Dominanz staatlicher und rechtlicher Vorgaben zurück zu drängen und die Anteile selbst bestimmten Handelns zu erweitern. So gilt es zunächst zu klären, »über welche Möglichkeitsräume professionellen Handelns Sozialarbeiter und Sozialpädagogen in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern und Organisationsstrukturen sowie in jeweiligen lokalen Kontexten trotz hoheitsstaatlicher Kontroll- und Sanktionsvorgaben verfügen, sowie ob und ggf. wie diese von Professionellen auch tatsächlich genutzt werden« (Scherr, 2006, 142). Dass diese Möglichkeitsräume von Arbeitsfeld zu Arbeitsfeld nicht unerheblich variieren ist evident. Optionen selbstbestimmten Handelns sind in stark reglementierten Bereichen wie der Jugendgerichtshilfe, der SatzBakic.qxd 27.02.2008 Auftrag und Mandat 17:19 Seite 33 33 Sozialarbeit im Strafvollzug oder in der Psychiatrie reduzierter, als in wenig reglementierten Bereichen, wie der Kinderund Jugendarbeit. Dennoch lassen sich grundsätzlich und in jedem Bereich Möglichkeitsräume erweitern: »Sozialarbeiterinnen würden den Zugzwängen und dem vielfältigen Druck des hoheitsstaatlichen Verwaltungs- und Herrschaftsapparates weniger schutzlos ausgeliefert sein, wenn sie ihre unabweislichen hoheitsstaatlichen Verwaltungs- und Herrschaftsaufgaben aktiv und beherzt, mit Augenmaß, staatskritisch, organisationskritisch und selbstkritisch angehen und gestalten würden« (Schütze, 1997, 247). Hierzu bedarf es allerdings eines Bezugssystems, einer wissenschaftlichen Theorie als Basis der Reflexion, der Kritik und des selbstbestimmten Handelns. Solche wissenschaftlichen Bezugssysteme, die insbesondere die gesellschaftlichen und strukturellen Bedingungen sozialarbeiterischer und sozialpädagogischer Praxis reflektieren, liegen für die Kinder- und Jugendarbeit seit den 1960er Jahren vor; allerdings ohne Chance Einlass in die Praxen traditioneller Sozialer Arbeit gewährt zu bekommen.(vgl. zur Theorieresistenz sozialpädagogischer PraktikerInnen Ackermann/Seeck (2000) und Thole/Küster-Schapfl (1997).Gerade in formell weniger reglementierten Arbeitsfeldern wie der Kinder- und Jugendarbeit provoziert die regelmäßig zu konstatierende Theorie- aber auch Konzeptionslosigkeit und in der Folge die Bereitschaft zu vorauseilendem Gehorsam bezüglich der Bearbeitung »sozialer Probleme« bzw. der sozialpädagogischen Beglückung von »ProblemJugendlichen«, Fassungslosigkeit; insbesondere auch dann, wenn zumindest die Möglichkeitsräume, die der (sozial)rechtliche Rahmen offeriert zur fachlichen Ausgestaltung sozialpädagogischer Praxis nicht genutzt werden. Zwar sind Normen und Gesetze grundsätzlich zu reflektieren und zu kritisieren und nicht vorbehaltlos zur Grundlage eigenen Handelns zu machen; andererseits ist immer wieder daran zu erinnern, dass Kinder- und Jugendhilfe – und somit auch SatzBakic.qxd 34 27.02.2008 17:19 Seite 34 Auftrag und Mandat Kinder- und Jugendarbeit – dazu beizutragen haben, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen sowie positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen (§ 1 Abs. 3 SGB VIII). Hier wird Kinder- und Jugendhilfe explizit dazu aufgefordert, sich aktiv an der Gestaltung der Lebensbedingungen junger Menschen – also offensiv (als Querschnittspolitik) – zu beteiligen. Trotz immer wieder artikulierter Bedenken gibt es sehr wohl Ansatzpunkte der Bearbeitung gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen, gibt es Möglichkeiten auch im Rahmen von Kinder- und Jugendarbeit, am Ziel, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen und positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen, festzuhalten. So kann Soziale Arbeit zumindest partiell auf die sozialen, kulturellen und individuellen Bedingungen der Möglichkeiten und Fähigkeiten ihrer Adressaten Einfluss nehmen (Otto/Ziegler 2005) und sich als (sozial-)politische Akteurin in der Arena des Staates verstehen und dabei politisch werden (Schaarschuch 1999). Letztlich – und dies kann als bedeutender, wenn auch mittelbarer Ansatzpunkt sozialpädagogischer Praxis verstanden werden – ist die Frage zu stellen, so Heinz Sünker, nach den Bedingungen der Möglichkeit von sozialen und kollektiven Lernprozessen zum Zwecke der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und der Beförderung der Selbsttätigkeit der Subjekte. Grundsätzlich ist eine Soziale Arbeit gefordert, »die sich in Theorie, Praxis und analytischer Kompetenz ihrer gesellschaftstheoretischen und ihrer gesellschaftspolitischen Kontexte wie ihrer professionellen Perspektiven bewusst ist, um substantielle gesellschaftliche Veränderungsprozesse erneut zu ihrem Thema zu machen« (Sünker 2000, S. 217), und zwar gerade in Anbetracht eines tief greifenden Strukturwandels, neoliberaler Zumutungen, systematischer Reproduktion von Ungleichheit, sich verschär- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 35 Auftrag und Mandat 35 fender Ausgrenzungsverhältnisse, Subjektivierungspraxen in Bildungsinstitutionen, die sich als solche der Untertanenproduktion bezeichnen lassen. Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit Was aber sind die Bedingungen einer autonomeren, einer selbstbestimmteren und politischen Praxis Sozialer Arbeit, die bemüht ist, sich von den Funktions- und Auftragszuschreibungen durch Staat, Recht, Politik und Kapital zu emanzipieren? Wir haben – in Distanzierung von der Praxis traditioneller Sozialer Arbeit – einige Bausteine einer Theorie und Praxis kritischer Sozialer Arbeit benannt, die einer reflexiven, selbstbestimmteren Praxis Sozialer Arbeit den Weg ebnen könnten. In Anlehnung an unsere Überlegungen zeichnet sich eine kritische Soziale Arbeit dadurch aus, dass sie ihren Gegenstand eigenständig benennt und sich auf diesen im Kontext der Ausgestaltung der sozialpädagogischen Praxis auch tatsächlich bezieht. Gegenstand Sozialer Arbeit sind u.E. Prozesse und Auswirkungen sozialer Ausschließung. Bezug nehmend auf diesen Gegenstand können als Aufgaben Sozialer Arbeit u.a. benannt werden die Realisierung gesellschaftlicher Teilhabe und Chancengleichheit sowie die Ermöglichung sozialer, ökonomischer, kultureller und politischer Partizipation (vgl. Anhorn/Bettinger 2005 und Anhorn/Bettinger/Stehr 2008). Darüber hinaus und Bezug nehmend auf ihren Gegenstand zeichnet sich eine kritische Soziale Arbeit dadurch aus, • dass sie in einer kritisch-reflexiven Grundhaltung über strukturelle Zusammenhänge und Folgen – bezogen beispielsweise auf soziale Ungleichheit oder Prozesse der sozialen Ausschließung – aufklärt und auf das eigene Selbstverständnis und die angetragenen Erwartungen von Politik und Gesellschaft bezieht; SatzBakic.qxd 36 • • • • • • 27.02.2008 17:19 Seite 36 Auftrag und Mandat dass sie die Verfestigung und Legitimation von sozialer Ungleichheit (auch durch Kriminalisierungen und andere personalisierende Negativzuschreibungen) deutlich macht und damit gesellschaftliche Interessenkonflikte und Machtunterschiede – nicht zuletzt bezogen auf die Kategorie Geschlecht – aufdeckt; dass sie sich nicht als Lösung oder Bearbeitung von Devianz, Kriminalität, Gewalt oder sonstigen »sozialen Problemen« anbietet, sie zeichnet sich ferner dadurch aus, dass sie sich von den Zumutungen ordnungspolitischer Problemlösungen distanziert und sich über die Thematisierung und politisierende Bearbeitung von sozialer Ungleichheit, sozialem Ausschluss, Unterdrückung und Diskriminierung zu begründen versucht; sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Macht- und Herrschaftsstrukturen (entlang der Trennlinie von Klasse, Geschlecht, Rasse, Ethnizität und Alter) analysiert und kritisiert; sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Diskurse als herrschaftslegitimierende Techniken der Wirklichkeitsproduktion und somit von gesellschaftlichen Ordnungen in der bürgerlich-kapitalistischen modernen Industriegesellschaft erkennt und diese analysiert, und letztlich zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie – orientiert an den Prinzipien der Aufklärung und Emanzipation – Bildungsprozesse in Richtung auf eine selbstbewusstere und selbstbestimmtere Lebenspraxis, letztlich in Richtung der (politischen) Mündigkeit der Subjekte ermöglicht. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 37 Auftrag und Mandat 37 Literatur Ackermann, F./Seeck, D. (2000): SozialpädagogInnen/SozialarbeiterInnen zwischen Studium und Beruf. Wissen und Können in der Sozialen Arbeit: Motivation, Fachlichkeit und berufliche Identität – eine empirische Annäherung, in: Rundbrief Gilde Soziale Arbeit, 1, S. 21-38 Althoff, M. (2002): Jugendkriminalität und Gewalt. Einige Überlegungen zur öffentlichen Thematisierung von Jugend, in: Bettinger, F. u.a., Gefährdete Jugendliche? Jugend, Kriminalität und der Ruf nach Strafe, S. 75-88, Opladen Anhorn, R. (2002): Jugend-Abweichung-Drogen. Zur Konstruktion eines sozialen Problems, in: Bettinger, F. u.a., Gefährdete Jugendliche? Jugend, Kriminalität und der Ruf nach Strafe, S.47-74, Opladen Anhorn, R./Bettinger, F. (2002): Kritische Kriminologie und Soziale Arbeit. Impulse für professionelles Selbstverständnis und kritischreflexive Handlungskompetenz, Weinheim und München Anhorn, R./Bettinger, F. 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Die analytische Ordnung neo-sozialer Integrationsrationalitäten in der Sozialen Arbeit, in: Anhorn, R./Bettinger, F./Stehr, J., Soziale Arbeit und Sozialer Ausschluss, S. 115-145, Wiesbaden SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 40 Biografie und Lebenswelt Möglichkeiten und Grenzen der Biografie- und Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit Rudolf Egger »Und mache ihn wieder / normal / damit er / zu dieser / Welt passt« Wie elend dieser Auftrag ist / das hängt davon ab / wie blutig die Welt ist /und wie menschenfeindlich /die Norm Denn keiner soll passen / zu dieser Welt / wie das Brennholz / zur Flamme Sondern nur / wie der / der ihn löscht / zum Brand. (Erich Fried: Heilungsvollzug) Soziale Arbeit zwischen Normalisierung und Emanzipation Eine Beschreibung der derzeitigen gesellschaftlichen Vorgänge könnte an zwei Stichworten festgemacht werden: Beschleunigung und Entgrenzung. Wo und wie Menschen leben, war noch nie etwas Statisches, aber die heutigen verschärften sozialen, kulturellen oder religiösen Änderungsimpulse haben vieles davon, was uns Orientierung zu geben vermag, gleichzeitig erfasst: Menschen und ihre Beziehungen, Waren und ihre Distributionsmöglichkeiten, Dienstleistungen und ihre sozialen Bezüge, Grundbedürfnisse und ihre Absicherungen. Alle diese Umgestaltungen in der Arbeitswelt, der Familie, den Institutionen und auch in den kulturellen Leitbildern und den sozialen Bezugsgrößen erzeugen dabei permanent neue Zonen der In- und Exklusion. Immer mehr Menschen kämpfen hier darum, sich in diesen großflächigen Prozessen der Entbettung (vgl. Giddens 1995) eine würdige Lebensgeschichte zu erschaf- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Biografie und Lebenswelt Seite 41 41 fen, die ihnen in ihrem Streben Orientierung und Sinn geben kann. Von diesen Prozessen der hier unablässig zu verhandelnden Teilhabe und des Ausschlusses von Individuen wird auch das Bezugssystem der Sozialen Arbeit stark beeinflusst. Dies betrifft dabei sowohl die konkreten Tätigkeiten, als auch den gesellschaftlich-normativen Bezugsrahmen der »WiederHerstellung von Normalität« durch die Sozialarbeit. Abseits der privaten, lebensweltlichen Unterstützungsformen der Familienverbände und Formen der informellen Solidarität haben sich in den letzten Jahrzehnten diesbezüglich die wohlfahrtsstaatlichen Interventionen in allen Ebenen unseres Lebens drastisch erweitert. Der Zunahme der »Phänomene der Rätselhaftigkeit und Verschlossenheit der Lebensrealität« (Schütze 1994, S. 193) sollte vor allem die Soziale Arbeit mit ihren lebensnahen Interventionen entgegenwirken. Eine gesellschaftlich verantwortungsvolle und emanzipatorisch ausgerichtete Sozialarbeit sollte hier vor allem auch durch eine biografie- und lebensweltorientierte Zuwendung zum prekären Subjekt etabliert werden. Disziplingeschichtlich ist die Nähe der Felder der Sozialen Arbeit zu biografischen und lebensweltlichen Ansätzen groß. Die Arbeit an »Fällen«, anhand derer die Bedingungsstrukturen von Lebenswelten und KlientInnen analysiert und mit Interventionsmöglichkeiten verbunden werden können, sind kein neues Phänomen. In der Sozialarbeit wurde schon sehr früh mit (auto-)biografischem, lebensweltbezogenem Material gearbeitet. Die Erstellung von Fallbeschreibungen gehört solcherart zum unabdingbaren Repertoire dieser Zunft. Die Versuche, der fallorientierten Sozialen Arbeit eine wissenschaftliche Orientierung und Fundierung zu geben, setzten in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts an (vgl. Müller 1993). In der psychoanalytischen Sozialpädagogik wurde z. B. die Aufmerksamkeit schon recht zeitig auf die biografischen Dimensionen von Erziehungsprozessen gelenkt und machte so auch versteckte und unbewusste Faktoren des Erziehungsgeschehens zum erforschbaren und handlungsunterstützenden SatzBakic.qxd 42 27.02.2008 17:19 Seite 42 Biografie und Lebenswelt Bestandteil der sozialarbeiterischen Wirklichkeit (vgl. dazu u. a. Körner/Ludwig-Körner 1997, Rauchfleisch 1996). Wichtige Impulse gingen auch von der Chicago School of Sociology aus (vgl. Bulmer 1984), indem sie den Fokus auf krisenhafte und verinstitutionalisierte Lebensläufe richtete. Die daraus sich bis heute entwickelnden Ansätze eröffnen diesbezüglich ein breites Feld an Zugängen. Einmal geht es vorwiegend um biographische Fallanalysen (vgl. Schütze 1993) oder um Fallrekonstruktion (vgl. Kraimer 2000), bzw. um eine vorwiegend sozialpädagogische (vgl. Uhlendorf 1997) oder eine biografische Diagnostik (vgl. Hanses 2004). Darüber hinaus sind auch ethnographische Aspekte (vgl. Schütze 1994) in der sozialarbeiterischen Praxis von Interesse. Der zentrale gemeinsame Nenner liegt dabei in einem stark adressatenorientierten und rekonstruktiven konzeptionellen Umgang mit den jeweiligen Fällen in der Praxis. In den hier entwickelten Konzeptionen zur Analyse von biografisch erhobenen krisenhaften Phänomenen von Personen und Gruppen sollte die Dynamik zwischen sozialer Umwelt und individueller Entwicklung besser nachvollziehbar gemacht werden. Grundlegend für die Analyse des »Sozialen« sind dabei die Fragen, welche Interpretationsleistungen Subjekte zur Herstellung ihrer Welt erbringen müssen. Dazu wird vor allem an der Alltagswelt der Betroffenen angesetzt, denn dieses Handeln ist zentral für die Herstellung von Sinn und Bedeutung. Menschen verleihen ihren Wahrnehmungen in Prozessen der immer schon ablaufenden Interpretation und Selektion die für sie relevante Bedeutung. Neben die Kategorien Ursache und Wirkung wird dabei der Begriff Sinnhaftigkeit für das Verständnis von sozialem Handeln wesentlich. Die Intention dabei ist, gesellschaftliche Tatsachen über die Bedeutungszuschreibung und die Wirklichkeitskonzeption der Handelnden zu erschließen. Viele dieser Versuche blieben aber entweder zu stark an einer Idee der »Kunstlehre« zur richtigen Auslegung von Fällen orientiert, oder fußten auf einer zu expertokratischen Per- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Biografie und Lebenswelt Seite 43 43 spektive innerhalb eines zu kontrollierenden Interaktionsverhältnisses. Mit der in den 70er Jahren verstärkt einsetzenden biografietheoretischen und -praktischen Perspektive wurden diese Prozesse der Subjektbildung und des Mitgliedwerdens in der Gesellschaft wieder an eine emanzipatorische Interessenslage angebunden (vgl. Egger 1995). Grundlegende Aspekte der Aneignung und der Konstruktion, der Temporalität, der (Selbst-)Reflexivität und Strukturbildung sollten hier sowohl für die Sozialarbeitswissenschaft als auch für deren Praxis systematisch Berücksichtigung finden. In diesem Sinne wurde die lebensweltorientierte Soziale Arbeit von der »Tübinger Schule« um Hans Thiersch entwickelt. Durch die Hinwendung zu den konkreten Lebensverhältnissen und den alltägliche Erfahrungen der Menschen sollte hier disziplinkritisch zu der fortwährenden Spezialisierung der Sozialen Arbeit und der Arroganz der »Expertokratie« ein Gegengewicht aufgebaut werden (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, S. 14). Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Tendenzen der Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen und der zunehmenden Erosion bestehender Lebensstrukturen wurde dabei eine neue gesellschaftspolitisch anspruchsvolle Perspektive entwickelt, die den Klientels der Sozialen Arbeit zu einem »gelingenderen Alltag« (ebd., S 23) verhelfen sollte. Der entscheidende Ausgangspunkt all dieser Bestrebungen einer alltagsorientierten Sozialen Arbeit ist dabei die Rekonstruktion der Lebenswelt, deren Routinen und Typisierungen, die den Alltag als feines Gewebe durchziehen, und die es Menschen ermöglicht, die eigenen Lebensverhältnisse zu bewältigen. Dabei soll der normative Aspekt erst einmal ausgeklammert werden, denn auch abweichendes Verhalten hat hier seine erfahrbare Wirklichkeit, indem es z. B. als Versuch bewertet wird, mit den konkreten Lebensverhältnissen zurecht zu kommen. Dieser Nachvollzug der Bewältigungsleistungen im Alltag wird innerhalb von drei großen Phasen mit dem Helfersystem verknüpft. Ausgehend von der Situationsanalyse SatzBakic.qxd 44 27.02.2008 17:19 Seite 44 Biografie und Lebenswelt und einer darauf aufbauenden Diagnose wird ein Lösungsentwurf mit den AdressatInnen erarbeitet und dessen schrittweise Realisierung und Überprüfung eingeleitet. Die hier lebensnah und biografisch sensibel entwickelten Erkenntnisse und die daraus abgeleiteten Handlungsschritte haben in diesem Konzept auch auf die Selbstinterpretation und die daraus resultierenden Deutungs- und Handlungskonsequenzen der Betroffenen große Auswirkung. Da hier nichts »von außen darübergestülpt« wird, soll Soziale Arbeit demnach als Hilfe zur Selbsthilfe, als Empowerment-Strategie, wirken. Das Helfersystem beschränkt sich darauf, vor allem auf die Strukturen und Dimensionen der Zeit (die Bedeutung der Gegenwart im »Horizont der offenen, immer riskanten Zukunft«), des Raumes (die Lebensverhältnisse der AdressatInnen) und der sozialen Bezüge (dem Aufbau von verlässlichen und belastbaren Beziehungen) zu achten (vgl. ebd., S. 28 – 36). So ansprechend und wichtig die Ideen der Arbeit mit lebensnahen Geschichten von KlientInnen im Sinne partizipierender und »empowerter« Konzepte auch sind, so voraussetzungsreich sind sie aber in der konkreten Arbeit. Bei vielen Ausführungen zu einer solchen Biografie- und Lebensweltorientierung hat es den Anschein, dass die Sozialarbeit durch ihre vordergründige »Interventionsaskese« einen »besonderen« Bezug zur konkreten Alltagswelt der Betroffenen per se hat, und dass sich Probleme, sofern sie nur lebensnah »angepackt« werden, schon »lösen« lassen. Dass dies ein Wunschbild ist, und dass auch die konsequenteste Hinwendung zur Lebenswelt z. B. die Härten der freien Marktwirtschaft und der Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft keineswegs außer Kraft setzen kann, ist evident. Es ist danach zu fragen, wie die hier Tätigen sich jenes idiographische Wissen über die Lebenswelt ihrer KlientInnen aneignen können, das sie in die Lage versetzt, ihrer Aufgabe der Stabilisierung und Integration nachzukommen, und welche spezifischen Risiken hier auftreten. Es muss auch darüber diskutiert werden, welche Bedingungen in der Sozialen Arbeit gege- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Biografie und Lebenswelt Seite 45 45 ben sein müssen, damit die biographische Hinwendung zum Subjekt nicht dazu führt, dass die gesellschaftliche Relevanz in einer rein lebensweltorientierten Individualhilfe aufgeht. Die Fragen die es dabei zu stellen gilt sind: Wie gehen SozialarbeiterInnen mit lebensnahem, »biographischem Material« um, wie fließt dieses in die alltägliche Arbeit ein, bzw., welche »Verwendungskompetenzen« sind hier daran gebunden? Was geschieht bei der Entwicklung lebensgeschichtlich relevanter Perspektiven und Handlungsoptionen in der Sozialarbeit? Wie werden die hier in den Interaktionsprozessen erschlossenen biographischen Wissensbestände und Sinnhorizonte an die institutionellen Angebote der Sozialarbeit angekoppelt? Wie und wodurch kann es zu einer Passung zwischen dem Bedarf, den Sinnhorizonten und den Erfahrungen der AkteurInnen und den Aufforderungsstrukturen der Institutionen kommen, damit die KlientInnen überhaupt »ProduzentInnen personenbezogener Dienstleistungen« werden können? Wie begegnet man der Gefahr, dass sich »passgenaue Hilfsangebote« als Sparpaket entpuppen, und die Maxime der »Alltagsnähe« zur Vermeidung aufwändiger sozialpolitischer Maßnahmen vorgeschoben wird? Und letztlich stellt sich die einleitend zitierte Frage von Erich Fried, wie »elend dieser Auftrag ist«, wenn die Integration nur als Anpassung an die herrschenden Normen zu sehen ist. Erst wenn diese Fragestellungen bearbeitet sind, wenn sichergestellt ist, wie die Aushandlung der Geschichten und die daraus folgenden Angebote biographisch angeeignet werden können, haben die AdressatInnen Sozialer Arbeit auch tatsächlich die Chance, zu NutzerInnen der professionellen Angebotsstrukturen (und dies nicht nur per Definition, sondern auch konkret in ihren Handlungen) zu werden. SatzBakic.qxd 46 27.02.2008 17:19 Seite 46 Biografie und Lebenswelt Lebensweltlich wirkende Ordnungsverfahren Es spricht vieles dafür, dass biografie- und lebensweltorientierte Ansätze wichtige Beiträge zu einer klientInnenzentrierten, milieusensiblen und ressourcenorientierten Arbeit betragen können. Dennoch bleibt hier zu klären, wie mit Hilfe von Biographen eine dem »Fall« zugrundeliegende »Logik« aufgespürt werden kann, die nicht nur eine strategische Rechtfertigungs-Erzählung (für Professionelle und AdressatInnen) ist. Es gilt weiters zu bedenken, welche Rolle die Kontextbedingungen dieser Prozesse bei der »Erhebung der tatsächlich erlebten Lebensgeschichte« spielen, und es bleibt abzuwägen, wie dabei mit dem gesellschaftlichen und institutionellen Auftrag der Sozialarbeit umgegangen wird? Gerade hier ist die Biografieorientierung in den Sozialen Berufen und den Sozialwissenschaften kritisch zu beleuchten, sollen nicht die Fehler der Ethnomethodologie des letzten Jahrhunderts wiederholt werden. Auch damals wurde viel erwartet und noch mehr versprochen. Was dann allerdings bald sichtbar wurde, kann durchaus als ein subjektivistisches Desaster bezeichnet werden. Die situativen Kontextualisierungen konnten kaum durchgehalten werden, zu oft wurden die hier auftauchenden Leerstellen beinahe beliebig mit eigenen Überlegungen, Ideen, Thesen und fertigen Deutungen überdeckt, statt diese sorgfältig zu reflektieren und als Lernfelder in den Prozess zurückzuführen. Diese Gefahr besteht auch in den biografieorientierten Diskursen der Sozialarbeit. Zu schnell werden auch hier unter dem Praxisdruck Interpretate verabsolutiert, ohne dass deren Zustandekommen und ihre Implikationen ausreichend berücksichtigt werden. Ausgehend von einem meist fiktiv angenommenen narrativen Bündnis zwischen den an der Biografie Interessierten und den BiografieträgerInnen, wird hier ein gemeinsames Interesse an und auch eine gemeinsame Gewissheit über die erlebte und nun zu erzählende Lebensgeschichte vorausgesetzt. In der Arbeit mit Biografien ist ein SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Biografie und Lebenswelt Seite 47 47 solches narratives Bündnis aber keineswegs neutral zu denken, denn dabei finden permanent (bewusst und unbewusst) Prozesse des Aushandelns statt. Hier werden quasi andauernd (und von allen Beteiligten) das Programm und die Perspektiven verhandelt, die jene Form der Konsistenz der Geschichte sicherstellen müssen, die tragfähig für die weitere Arbeit sein sollen. Die hier »produzierten« Lebensgeschichten sind als solche nicht voraussetzungslos, denn jede im Erkundungs- oder Interventionsprozess erzählte Lebensgeschichte repräsentiert auch die wirkungsvollen sozialen Prozesse und deren Entstehung. SozialarbeiterInnen und KlientInnen, Fragende und Befragte, produzieren hier gleichsam gemeinsam das, was als Biografie schließlich zur »Anwendung« kommt. In solchen, nach den sozialen Regeln des Alltags hergestellten Lebensgeschichten spielen natürlich auch Fragen von Macht und Hierarchie eine große Rolle. Der Großteil dieser Implikationen wird dabei aber (sowohl in den Interventions- und auch den Erkundungsstrategien) beiseite geschoben, um den festen Boden in der konkreten Handlungsabsicht nicht zu verlieren. Diese Geschichten sind dabei ein umstrittenes Terrain, da hierin die Wege und die Dimensionen der »inneren Landkarte« von Individuen (bzw. deren individuelle und gesellschaftliche Bedeutungszuschreibung der Realität) festgelegt werden. Der hier ausverhandelte Erfahrungs- und Erinnerungsraum bestimmt die Zuschreibungen von Relevanz, innerhalb derer einem Ereignis Bedeutung beigemessen wird. Auch hier zeigt sich wieder, dass in diesem Aushandlungs- und Strukturierungsprozess von Lebensgeschichten, unterschiedliche Macht- und Durchsetzungsmodi herrschen. Gerade Institutionen (wie z. B. die Sozialarbeit oder das Gericht) werden für die KlientInnen zu einem der wichtigsten Kontrollinstanzen der von ihnen geforderten Vergesellschaftung. Die hier eingebrachten und bearbeiteten Biografien sind deshalb immer im Referenzrahmen von institutionalisierten Interaktionserfahrungen, in denen spezifische Ordnungen und Rahmen wirken, zu verstehen. SatzBakic.qxd 48 27.02.2008 17:19 Seite 48 Biografie und Lebenswelt Bei den in der alltäglichen sozialarbeiterischen Praxis präsentierten Erzählungen und biographischen Details handelt es sich deshalb stets um Konstruktionsleistungen auf mehreren Ebenen. Einmal geht es um die Legitimation von als bedeutungsvoll erachteten Aspekten und deren Absicherung durch Erzählungen. Wie das relevante Geschehen hier erzählt, hergeleitet und abgesichert wird, gibt den Interventionen (sozialarbeiterisch, richterlich, etc.) ihre Perspektive. Manchmal genügt es, einen Fall nur anders zu erzählen, das heißt, andere Umstände heraus- und andere Beziehungen herzustellen, oder den Zeithorizont, also das Vorher und Nachher, enger oder weiter zu fassen, um die Erfahrung zu machen, dass »die Sache in einem neuen Licht« erscheint. Das bedeutet nicht, dass die Geschichte willkürlich erzählt werden könnte, um die gewünschte Entscheidung herbeizuführen, denn die hier zugrundeliegenden Normen sind ihrerseits wiederum in Erzählungen eingebettet. Nicht jede Erzählung passt demnach gleichermaßen gut zu einer zugrundeliegenden Norm. Erzählungen besitzen zudem selbst eine innere Struktur, die den Variationsspielraum des Erzählbaren einschränkt (vgl. Egger 1995). Schließlich erregt eine Geschichte nur dann Aufmerksamkeit, wenn sie »passend« erzählt wird, wenn sie den geforderten Mustern und Typen grundsätzlich entspricht. Aus all diesen Schritten wird in der Folge von den damit betrauten professionellen SozialarbeiterInnen oder RichterInnen aus einer Menge von alternativen Fallgeschichten der »Fall« hergestellt. Dieser Prozess, in dem manche Umstände relevant, andere dagegen irrelevant werden, lässt sich nicht trennen von der (impliziten oder expliziten) Norm, nach der die Entscheidung des Falles gewichtet wird. Dabei ist die Wahl der Normen bestimmt von den erlernten und habitualisierten Vorstellungen möglicher Fälle, auf die sie anwendbar sind. Darüber hinaus ist aber auch eine stringent erzählte Lebensgeschichte selbst nicht das »Geschehene« an sich, sondern nur ein retrospektiver Entwurf, der sich dem Augenblick SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Biografie und Lebenswelt Seite 49 49 der Entstehung dieses Entwurfs verdankt. Das, was in den Geschichten dabei zum Vorschein kommt, ist eine aktuelle Konstruktion, die die subjektiv erlebte und gesellschaftlich verortete Vergangenheit im Erzählen entwirft (vgl. Alheit 2003). Die Erzählenden vergewissern sich hierin gewissermaßen der Vergangenheit um die Gegenwart zu erklären und die Zukunft zu perspektivieren. Solche Vorgänge sind immer durch Kommunikation und Interaktion geprägt. Sinn entsteht dabei durch einen permanenten Differenzierungsprozess, der sowohl durch die »Erschaffung« der Erzählung, als auch durch deren Rezeption und den hier eingelagerten Erwartungsraum geprägt wird. In den Praxen und Theoriefeldern der Humanwissenschaften wandelt sich dabei der Gegenstand kommunikativ. Was hierbei gut erfasst werden kann, sind jene von den Beteiligten verwendeten Diskurse zur Ordnung der je spezifischen Lebenssituationen. Das »Hineinschauen« von SozialarbeiterInnen (oder auch von ForscherInnen) in die hier biografisch wirkenden Ordnungsverfahren geschieht demnach immer dadurch, dass man selbst an ihnen aktiv teilnimmt. Hier ist der Topos des »doing biography« in der Sozialen Arbeit (und auch der Sozialforschung) den Bedingungen der Postmoderne unterworfen. Glückt dieses narrative Bündnis (und dies kann es nur, wenn es innerhalb eines konkreten abgesicherten Lebensbezugs stattfindet), wird die biografische (Un)Ordnung in ihrer konkreten Situiertheit erkennbar. Es kann dann einsichtig werden, wie die Vorstellungen von z. B. Normalität von einem vielschichtigen Geflecht aus biografischen, kulturellen, sozialen oder sozialpsychologischen Bezügen durchwoben sind. Der Vorgang der Problembearbeitung, der Normalisierung, beschreibt dabei den Prozess der Aufnahmebereitschaft, des Findens, Begründens und Reflektierens von Bezugspunkten der Interpretation von KlientInnen. Soziale Arbeit erzeugt hier quasi gemeinsam erst jenen Diskurs und jene biografischen Folien, in der die als relevant eingeschätzten problembehafteten Aspekte der Vergangenheit vergegenwärtigt und reorganisiert SatzBakic.qxd 50 27.02.2008 17:19 Seite 50 Biografie und Lebenswelt werden. Die hier ausgehandelte(n) Geschichte(n), die biografisch sichtbar werdende Realität, ist also ein Resultat dieses ordnenden Rahmens. In der Sozialen Arbeit werden dabei die Ordnungstendenzen stärker als z. B. in der Forschung sichtbar, da die Sozialarbeit auftragsgemäß zur Lösung eines virulenten Konflikts herangezogen wird. Sowohl die Sozialforschung als auch die Soziale Arbeit sind aber unabwendbar verwoben in diesen Aushandlungs- und Ordnungsprozesses. Innerhalb dieser Kontextualisierungsverfahren hängt es von einem spezifischen Anlass, einem gemeinsamen Interesse ab, ob und wie lebensgeschichtliche Bausteine und Kontexte in die Deutungsarbeit gelangen. Es ist hier von eminenter Bedeutung, innerhalb welcher Bedingungen die Lebensgeschichte »entsteht« (ob im Rahmen von Bewerbungen, der Forschung oder einer Gerichtsverhandlung), denn die in diesem Kontext geltenden (oder antizipierten) Vorstellungen und Erwartungen generieren das Bezugssystem, das die entsprechenden Reaktionen auslöst (vgl. dazu Bukow et al. 2001). Sowohl SozialforscherInnen als auch SozialarbeiterInnen sollten sich hier bewusst machen, dass sie zwar Personen mit besonderen Gestaltungsbefugnissen der Vergangenheit und der Gegenwart ihrer KlientInnen sind, dass das Balancieren und Kontextualisieren dieser Biografien aber auf beiden Seiten Teile von Selbstvergewisserungs- und Ordnungsverfahren sind. Hier zeigt sich, dass Geschichte, die eigene und die andere, niemals neutral ist, sondern stets innerhalb von Großgeschichten und den hier eingeschriebenen Strukturen ihre Gestalt erhält. Die Geschichten, die Menschen über ihre Arbeit, oder über die Orte an denen sie leben erzählen, sind vieldeutig und wir sollten das soziale Moment der Entstehung der Erkenntnis nicht außer Acht lassen. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 51 Biografie und Lebenswelt 51 Biografie und Lebensweltbezug: Mehr als ein neues Label? Es ist offensichtlich, dass die Idee einer professionalisierten Alltagspraxis nicht ohne den Lebensweltbezug auskommt. Die Selbstdefinitionen der beteiligten Personen sind von wesentlicher Bedeutung, denn auch gesellschaftliche Bezüge erlangen erst im alltäglichen Handeln ihre Gestalt und Wirksamkeit. Eine Missachtung biographischer und sozialer Sinnhorizonte kann z. B. die psychosoziale und gesundheitliche Destabilisierung von KlientInnen weitertreiben. Eine Folge davon sind die gut bekannten institutionellen Drehtürsituationen (vgl. Hanses/Börgartz 2001). Biografie- und subjektorientierte Sozialarbeit kann also durchaus helfen, zwischen der Scylla der Objektivität und der Charybdis des Relativismus hindurchzusteuern. Sie lässt uns jene Prozesse nachvollziehen, wie Gesellschaftsmitglieder ihre Welt als real erleben, während sie diese selbst interpretativ mitbauen. Sie lässt uns hinter den »harten Strukturen«, den Daten und Statistiken, in denen wir unsere Gesellschaft und die Subjekte wahrnehmen, lebendige Menschen mit ihren vielfältigen Geschichten begreifen. Die Hinwendung zum »Fall«, zur Lebensgeschichte darf aber niemals die gesellschaftlichen Dimensionen vergessen. Lebensgeschichten, deren Konstruktionen und Rekonstruktionen sind immer auch verdeckte Referenzen an die strukturellen Bedingungen, in denen wir leben. Darauf hinzuweisen scheint umso wichtiger, als mit der biographischen Wende gleichzeitig eine Perspektive etabliert wurde, deren Auswüchse zu oft dazu dienen, die Welt mit Betroffenheitsprosa zu »heilen« und zu verkitschen. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass es so etwas wie eine kohärente Lebensgeschichte in allen Phasen tatsächlich gibt (vgl. Bourdieu 1990), und es ist auch unkritisch anzunehmen, dass jede/r sich nur ausgiebig bemühen müsste, um eine stringente Lebenserfolgsgeschichte zu kreieren, um den Platz in der Gesellschaft zu erreichen, der ihr/ihm zustehe. SatzBakic.qxd 52 27.02.2008 17:19 Seite 52 Biografie und Lebenswelt Auch die Wunschvorstellung, dass es genügt, sich »die Sache« einmal aus der Nähe anzusehen, ist eine trügerische, denn das Wesentliche des vor Ort zu Erlebenden und zu Sehenden hat seinen Kern oft ganz woanders. Der Weg über die Biografie führt dabei immer wieder auf den Umweg des Staates, der Politik, um die Wechselbeziehungen zwischen den Strukturen des Sozialraums und jenen des physischen Raums sichtbar zu machen. Der sozialarbeiterische Traum von der perfekten lebensweltlich-abgesicherten Intervention ist auch mit einer verstärkten Biografieorientierung nicht zu retten. Eine weitere Gefahr besteht darin, dass mit dieser praktischen Zugriffsweise zum »echten, wirklichen gelebten Leben« nur noch Wissen generiert wird, das lediglich dazu dient, den betreffenden Menschen besser »helfen« zu können. Gerade aber aus dem Kontrast des Einzelschicksals mit dem es umgebenden Gesellschaftssystem entsteht erst ein unsentimentales, professionelles Verständnis von Sozialarbeit. Noch einmal sei deshalb auf die institutionelle Verankerung der Sozialen Arbeit hingewiesen, die die im Helfersystem Tätigen bestimmt. Alltägliches Leben erfolgt inmitten eines steten Stroms von Handlungen in spezifischen Situationen, die den Einzelpersonen ein je spezifisches Feedback geben. Die Soziale Arbeit gibt hier auch ständig Rückmeldung darüber, wie das Verhalten der jeweiligen KlientInnen innerhalb gesellschaftlich erwünschter Bahnen aussehen soll. Auch die noch so sensibelste Bezugnahme auf die »Realität« von gelebtem Leben muss anerkennen, dass es einerseits für jede biografische Facette mehrere Interpretationsmöglichkeiten gibt, und dass alle diese Interpretationen auch stets im Modus der Ausübung von sozialer Kontrolle gesehen werden müssen. Das sozialarbeiterische Wirken kann nicht per Definition von den es umgebenden Institutionen und den hier wirkenden Normalitätsstandards abgelöst werden. Eine Profession, die sich dieses Umstands durch ein vermeintliches Aufgehen in den je individuellen Problemlagen der AdressatInnen zu entledigen versucht, hat ein SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Biografie und Lebenswelt Seite 53 53 großes legitimatorisches Problem. Die Idee der »Herstellung« einer passgenauen Handlungsfähigkeit von KlientInnen durch die verstärkte Hinwendung zu einer umfassenden Biografiearbeit ist in diesem Sinne genauso einfältig, wie Münchhausens Versuch, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Das Erzeugen eines Passungsverhältnisses zwischen Professionellen und NutzerInnen ist ein störrischer und von unterschiedlichen gesellschaftlichen Diskursen imprägnierter Raum. Die hier geschilderten Gesichtspunkte einer verstärkten Orientierung an den lebensgeschichtlichen Bedeutungszuweisungen der AdressatInnen von Sozialer Arbeit sollten deutlich machen, dass sich diese immer innerhalb des Kräftefeldes von individuellen und institutionellen Interpretations- und Entscheidungsschemata bewegen. Biografische Bezüge sind dabei wesentlich, um die gemeinsamen und wechselseitigen Handlungen begreifbar zu machen. Die hierbei entwickelten nutzbringenden Perspektiven werden dabei im Alltagshandeln der Professionellen in ihren Institutionen oder im Austausch mit den KlientInnen erzeugt und als Wirklichkeitsordnungen aufrechterhalten. Soziale Arbeit operiert hier auch in einem biografie- und lebensweltrelevanten Bezug in den Funktion des Helfens und des Kontrollierens. Wenn sie tatsächlich emanzipatorisch greifen soll, dann ist es wesentlich, dass es den Professionellen hier ermöglicht wird, die eigenen diesbezüglichen Rollenbilder in ihren institutionellen und gesellschaftlichen Bezügen zu hinterfragen und dadurch die eigene Praxis einer selbstkritischen Kontrolle zu unterziehen. Dabei geht es vorrangig um die Befähigung, individuelle Strategien und gesellschaftlich vorgegebene Sozialstrukturen aufeinander zu beziehen, um das Handeln in der Sozialen Arbeit auch gesellschaftlich zu legitimieren. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 54 54 Biografie und Lebenswelt Literatur Alheit, P. (2003): Biografizität. In: Bohnsack, R./Marotzki, W./Meuser, M. (Hrsg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Opladen, S. 25. Böhnisch, L. (2001): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung, Weinheim und München, 3. Aufl. Bourdieu, P. (1990): Die biographische Illusion. In: Bios, Jg.3, H.1, S. 7581 Bukow W.-D./Nikodem, C./Schulze, E./Yildiz, E. 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Weinheim/München SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 56 Case Management und Clearing Roland Fürst Die Soziale Arbeit ist mit der Entwicklung einer neuen Sozialstaatlichkeit einem politisch wie ökonomisch verursachten Veränderungsdruck unterworfen und durchläuft einen Transformationsprozess (vgl. z.B. Ziegler 2003, 101ff.), sie ist sozialstaatlich als mitkonstituierte Profession vom neo-liberalen Mainstream unmittelbar betroffen und soll helfen, dementsprechende Normen in die Gesellschaft zu implementieren (vgl. Kleve 2006, 14). Effektivität und Effizienz sind die neuen Instanzen, die nicht nur die Organisation, sondern auch die Durchführung und Methoden Sozialer Arbeit beeinflussen. Damit dieser bittere Befund keine allzu große Unruhe in der Sozialen Arbeit verursacht, bedient man sich moderner Methoden, Modelle und Fachbegriffe, die den »missing link« zwischen ideologischem Überbau (Stichwort: Neue Steuerung) und den AkteurInnen Sozialer Arbeit herstellen sollen. Die für diese Entwicklung stehenden Schlagwörter werden aus der Sicht von ProfessionistInnen nicht unbedingt sofort negativ konnotiert, sondern ihnen wird zunächst eine Vereinbarkeit mit professioneller und qualitätsvoller Sozialarbeit zugeschrieben (vgl. Schöppl 2006, 107). Das in diesem Beitrag zu bearbeitende Begriffspaar Clearing und Case Management steht nach sorgfältiger Diagnose des aktuellen Ist-Zustandes unter »dringendem Tatverdacht«, als ein Diener dieser neuen neoliberalen Programmatik zu fungieren oder zumindest als solcher missbraucht zu werden. Nachdem es sich um ein kritisches Handbuch handelt, verzichtet dieser Beitrag bewusst auf die nützlichen Aspekte von Case Management und dem Clearing-Modell, die bei gutem Willen sicherlich zu nennen wären (z.B. durchgängige Fallverantwortung). SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 57 Case Management und Clearing 57 Bei der Bearbeitung dieser beiden Methoden/Konzepte kristallisierte sich der Clearing-Begriff als sehr diffus heraus, da wohl etliche zentrale Aspekte der Clearing-Intention im umfassenderen Konzept des Case Managements aufgehen (z.B. im Intake oder im Assessment; vgl. Neuffer 2005, 51 ff.). So wird im ersten Teil der Versuch unternommen, den Clearing-Begriff zu klären und zu verorten, danach erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Case Management. Der Fokus in der zusammenfassenden Analyse wird auf die Auswirkungen dieser sozialtechnischen Methoden auf die Profession gelegt. Mit dem Einzug des Sozialmanagements als zusätzlicher Facette in der Sozialen Arbeit Mitte der 80er Jahre (vgl. Galuske 2003, 313), brach nicht nur das Zeitalter der »Ökonomisierung« in der Sozialen Arbeit an, sondern es schwappte auch eine Welle von neuen Begrifflichkeiten, Methoden, Techniken und Konzepten auf die Profession nieder. Auf einmal wurde der Begriff »Management« vielfach als »Wunderterminus« gebraucht: Qualitätsmanagement, Unterstützungsmanagement, Kontraktmanagement, Netzwerkmanagement und ähnliches mehr. Diese Managementphase hält bis dato an und »tritt prononciert unter der gesellschaftlichen Bedingung neo-liberaler Markt-Orientierung und der schärfer werdenden Verteilungskämpfe auf.« (Karlusch 2005, 12). Die Vermittlung von Kompetenzen des Sozialmanagements zur Steuerung und Führung sozialer Einrichtungen wurde Bestandteil von Aus-, Fort – und Weiterbildung. Mystisch klingende Anglizismen wie Evaluation, Controlling, Sponsoring, Output-Steuerung, Controlling, usw. bestimmten ab nun auch den Arbeitsalltag in den Führungsebenen von sozialen Organisationen. Der Bezug auf die »neuen« Ansätze von Clearing sowie Case Management entspringt ebenfalls dieser Phase, wobei folgend der Versuch unternommen wird, den Wirkungsgrad dieser Begrifflichkeit und den dahinter liegenden Inhalt kritisch auszuleuchten und zu verorten. SatzBakic.qxd 58 27.02.2008 17:19 Seite 58 Case Management und Clearing Ungeklärter »Clearing-Begriff« in der Sozialen Arbeit – nun vor einer Klärung? Der Begriff »Clearing« ist in der Praxis Sozialer Arbeit ein geläufiger und man möchte meinen, dass die AkteurInnen Sozialer Arbeit unter diesem Terminus etwas Ähnliches assoziieren, vermutlich Abklärung bzw. Klärung von Klienteninteressen oder -ansprüchen. Die Abklärung – bzw. die »Ermittlungstätigkeiten« (vgl. Müller 1991, 115) wie es zu Mary Richmonds Zeiten hieß – der jeweiligen Problemsituation war schon immer Bestandteil Sozialer Arbeit. Eine eingehende Beschäftigung mit diesem Begriff ergibt allerdings kein klares Bild, eine ausführliche Differenzierung und Verortung des Begriffs bzw. der jeweiligen Intention wurde bis dato nicht vorgenommen. Für eine anschlussfähige Auseinandersetzung wäre dies allerdings durchaus dienlich, kann in diesem Rahmen allerdings nur in Form einer Skizze geleistet werden. Ohne etymologisch ins Detail gehen zu wollen, überrascht es im Ökonomisierungs-Kontext nicht, dass der Begriff »Clearing« über die Betriebswirtschaft (Wertpapier- und Cashclearing als Wertpapier- bzw. Cashabrechnung) den Einzug in die Soziale Arbeit gefunden hat. Im Laufe der Zeit etablierte sich der Begriff in den unterschiedlichsten Handlungsfeldern (für Österreich: Jugendwohlfahrt, materielle Grundsicherung, Straffälligenhilfe, Arbeit, usw.) und unterlag den jeweilig unterschiedlichen Rezeptionen. So verwundert es nicht, dass sich hinter diesem »Clearing-Begriff« differenzierte Konzeptionen und Intentionen verbergen. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, diese unterschiedlichen ideologischen Zugänge zu identifizieren und in drei Kategorien zu gliedern 1. Organisatorisches Clearing 2. Psychosoziales Clearing 3. Clearing zur Abklärung materieller Ansprüche SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 59 Case Management und Clearing 59 Ad 1: In dieser Kategorie könnten alle organisatorischen Vorgänge und Handlungen subsumiert werden, die rasch und fachlich klären, welche soziale Institution oder andere Ressource sich für die präsentierte Problemstellung der KlientInnen als adäquat erweist. Als ein Beispiel für das »organisatorische Clearing« kann das Clearing-Team in österreichischen Justizanstalten1 angeführt werden. Das Team besteht aus VertreterInnen des Sozialen Dienstes der jeweiligen Justizanstalt, VertreterInnen der Straffälligenhilfe wie z.B. BewährungshelferInnen, dem/der zuständigen JustizwachebamtIn für Entlassungen und diversen anderen Betreuungseinrichtungen (Suchthilfe, AusländerInnenhilfe etc.). Ziel dieses Clearing-Teams ist die Abklärung, welche Ressourcen bzw. Organisationen und Institutionen den KlientInnen, die zur Entlassung anstehen, vermittelt werden können. Ad 2: Das psychosoziale Clearing ist überall dort zu verorten, wo aufgrund einer längeren zeitlichen Einschätzung der Problemsituation eine Abklärungsphase festzulegen ist. Hier kann es zum Aufbau eines KlientInnen-SozialarbeiterInnenInteraktionssystems ähnlich wie in der lebensweltorientierten Individualhilfe (Phase als sog. »Intake«2) kommen. Dieses Modell findet sich vor allem dort wieder, wo es um längerfristige Betreuungsphasen geht, wie zum Beispiel im Verein NEUSTART (Straffälligenhilfeorganisation). Eine derartige Umsetzung von Clearing ist nach wie vor Bestandteil im Rahmen der fachlichen Standards bei NEUSTART, was auch die Beschreibung von »neueren« sozialarbeiterischen Leistungen wie beispielsweise die Vermittlung von diversionellen Maßnahmen zeigt (vgl. Neustart 2007, 1 ff). Ad 3: Mit dem »Clearing zur Abklärung materieller Ansprüche« müssen sich SozialarbeiterInnen auseinandersetzen, die vorwiegend im Bereich der Hoheits-Verwaltung wie der Jugendwohlfahrt oder der materiellen Grundsicherung tätig sind. So werden in den Wiener Sozialzentren Clearinggespräche von SozialarbeiterInnen durchgeführt, die neben der SatzBakic.qxd 60 27.02.2008 17:19 Seite 60 Case Management und Clearing Beratung und Information vorrangig der Anspruchsprüfung bzw. Bedarfsabklärung dienen (vgl. Emprechtinger et al. 2007, 23). »In einem Erstgespräch gilt es dabei, eine umfassende Sozialanamnese durchzuführen, die Situation zu erfassen und den Anspruch auf eine Geldleistung zu prüfen« (Emprechtinger et al. 2007, 22). Hinter dem Clearing zur Abklärung materieller Ansprüche, wo eindeutig der sozio-ökonomische Aspekt im Vordergrund steht, liegt ganz klar das Konzept des New Public Managements, welches nach betriebswirtschaftlicher Prägung ausgerichtet ist: »Mit der Umstrukturierung des Sozialhilfevollzuges, der (sic!) am Konzept des New Public Management (NPM) orientiert ist, mag eine Optimierung im Sinne von KundInnenorientierung, Effektivierung und Leistungen und des Leistungsspektrums intendiert gewesen sein.« (Emprechtinger et al. 2007, 11). Mit diesen Aufgaben (Sozialanamnese, Anspruchsprüfung) sind somit auch Grundfunktionen des Case Managements thematisiert, die einen gezielten Wandel zur Aktivierung anstreben. Entscheidend ist das Junktim, das zwischen der Dienstleistung, d.h. dem Case- oder Kontraktmanagement einerseits und andererseits dem Erhalt der Transferleistung formuliert wird (vgl. Trube 2005, 5). Von den Geistern, die die Soziale Arbeit rief, für die Zukunft lernen Je nach inhaltlicher Umsetzung und gutem Willen des/der BetrachterIn, kann hinter den beschriebenen Modellen des organisatorischen und psychosozialen Clearings die Handlungsmaxime der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit verortet werden, also ein sozialarbeiterisches Agieren nach den allgemeinen Prinzipien der Prävention, Alltagsnähe, der Integration, der Partizipation und der Dezentralisierung/ Regionalisierung bzw. Vernetzung (vgl. Thiersch 1992). Hinter SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 61 Case Management und Clearing 61 dem Clearing-Modell zur Abklärung materieller Ansprüche steht eindeutig das Konzept des aktivierenden Changemanagements, dessen Basis die Veränderung sozialpolitischer Logiken darstellt. Diese Veränderung erzeugt allerdings nicht Integration, sondern vielmehr Exklusion und Marginalisierung (vgl. Trube 2005, 7). Die Philosophie des Clearings wurde vielfach in ein schönes Konzept verpackt – die Implementierung des Clearinggespräches in den Wiener Sozialzentren wurde ursprünglich von den SozialarbeiterInnen begrüßt3. Man sah darin einen großen Vorteil, weil sich diese SozialarbeiterInnen von der Problemlage der jeweiligen Person selbst ein Urteil bilden konnten und eine weitere Betreuung nach eigenen Kriterien angedacht werden konnte oder auch nicht. (vgl. Emprechtinger et al. 2007, 23). Inzwischen ist die Situation so, dass sich einzelne SozialarbeiterInnen wünschen, die Anspruchsprüfung nicht mehr durchführen zu müssen, weil es aufgrund der verwaltungsrechtlichen Mehrbelastung immer schwieriger wird, den professionellen Anspruch in der täglichen Arbeit umzusetzen (vgl. ebenda, 21). Dies erinnert entfernt an den berühmten Zauberlehrling, der nicht mehr in der Lage ist, jene Geister (in diesem Fall die »sozialarbeiterischen« Methoden des Managements) wieder einzufangen, die er gerufen hat, weil die Regie des wohlfahrtsstaatlichen Changemanagements in anderen Händen liegt (vgl. Trube 2005, 10). Diese Metapher gilt im Besonderen auch für das Case Management. Was ist drin, wenn Case Management drauf steht? Analog zur Rezeption des »Clearing-Begriffes« verhält es sich mit dem Case Management, mit dem sich derzeit auch die Soziale Arbeit in Österreich4 auseinandersetzt, wohingegen der Diskurs über Case oder Care Management in Deutschland seit nunmehr über 12 Jahren geführt wird. In Deutschland wie in SatzBakic.qxd 62 27.02.2008 17:19 Seite 62 Case Management und Clearing Österreich internalisieren VertreterInnen von Profession und Disziplin, sowie Politik und Verwaltung schon aufgrund ihrer eigenen berufsspezifischen Intention und Sprachcodes unterschiedliche Zuschreibungen, was genau unter Case Management zu verstehen ist. »In vielen Konzepten, Veröffentlichungen und Institutionen ist zu lesen und zu hören: ›Wir arbeiten jetzt mit Case Management.‹ Eine Nachfrage oder genauere Überprüfung zeigt z.B. in Krankenhaussozialdiensten, dass damit nur eine Art Lotsenfunktion für weitere Maßnahmen innerhalb und außerhalb der stationären Behandlung gemeint ist. Diese wird zwar systematisch und damit besser gesteuert, endet aber in der Regel beim Verlassen des Krankenhauses nach dem Assessment oder der Serviceplanung« (Remmel-Faßbender 2005, 80). Wendt (2005, 14) konstatiert zu diesem Thema: »Aber oft ist dort, wo Case Management drauf steht, Case Management nicht drin. Seine Einführung bedeutet und verlangt Systemveränderung; erfolgt sie nicht, setzt sich das Case Management nicht durch.« Bei Kenntnis der österreichischen Situation kann durchaus Skepsis angebracht werden, ob der »von oben diktierte große Wurf« (Neuffer 2005, 46) überhaupt gelingt. Möglichweise führt eine schleichende Übernahme von im Case Management-Konzept vorgeschlagenen Arbeitsweisen schneller zu kleineren strukturellen Veränderungen (ebenda, 46). Case Management: Ein Export aus den USA Das Case Management als Methode von Sozialdiensten wurde Ende der 70er Jahre in den USA entwickelt (Galuske 2003, 201) und begann mit der Reorganisation der sozialen und gesundheitlichen Versorgung. Aufgrund der Deinstitutionalisierung in den USA, aber auch in anderen Ländern entließ man chronisch psychisch kranke, geistig behinderte und pflegebedürftige Menschen in großer Zahl aus der stationären Unterbringung, was nun die Notwendigkeit mit sich brachte, für die Entlassenen eine hinreichende ambulante Betreuung SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 63 Case Management und Clearing 63 durch soziale und medizinische Dienste zu organisieren. Im darauf folgenden unkoordinierten Nebeneinander von Hilfeangeboten beispielsweise bei behinderten Menschen wurde mit dem Case Management ein Dienst eingesetzt, der die notwendigen sozialen, medizinischen und erzieherischen Unterstützungen organisiert und diese dann koordiniert (vgl. Wendt 2001, 14ff.). Ende der 80er Jahre wurde Case Management in Deutschland rezipiert, wobei Wendt die zunehmende Differenzierung und Spezialisierung der Dienstleistungen, die eine Kooperation der Angebote notwendig machen, als Gründe für die Rezeption des Case Managements anführt (vgl. Wendt 1991, 11). Bisher hat sich diese methodische Arbeitsform in Deutschland als erweiterte, ressourcen- und sozialräumlich orientierte Einzelfallhilfe in vielen Arbeitsbereichen als Neuorientierung (z.B.: Altenarbeit, Pflege und Gesundheit, Kinder-, Jugend- Familienhilfe, Straffälligenhilfe, chronische Suchtkranke etc.) etabliert (vgl. Remmel-Faßbender 2005, 67; ausführlich Wendt 2005, 24 ff). Begriffe und Merkmale von Case Management Der aus dem US-amerikanischen Sprachraum übernommene Begriff »Case Management« (Fallmanagement) wirkt nicht nur in der deutschen Konnotation missverständlich (vgl. Hansen 2005, 107). »Seine problematische Auslegung trägt dazu bei, die ohnehin nicht präzise zu fassende konzeptionelle und methodische Rahmung der Arbeitsweise weiter verschwimmen zu lassen« (Ewers 2000, 53). »Case« steht hier nicht für den Menschen, sondern für eine problematische Situation, die es zu bewältigen gilt. Sie ist der Fall und Gegenstand der sozialarbeiterischen ziel- und lösungsorientierten professionellen Bemühungen (vgl. Wendt 2005, 15). Dieses Problem einer direkten Übernahme von US-amerikanischen Terminologien in einen anderen nationalen und kulturellen Kontext wurde unter britischen Verhältnissen rechtzeitig erkannt. Vom britischen Gesundheitsministerium wurde bereits 1991 darauf hingewie- SatzBakic.qxd 64 27.02.2008 17:19 Seite 64 Case Management und Clearing sen, dass die Verwendung des Begriffs »Case Management« für NutzerInnen personenbezogener Sozialer Dienstleistungen erniedrigend wirken kann (vgl. Hansen 2005, 107), in Großbritannien spricht man in der Folge von »Care Management«. Auch Wendt (2005, 15) sieht im »Fallmanagement« im Gesundheitsbereich ein »Care Management«, welches für die überindividuelle Versorgungssteuerung und gestaltung als administrative Aufgabenstellung steht. Überdies hat sich für die Steuerung der Gesundheitsversorgung der amerikanische Begriff »Managed Care« etabliert. Dieser kurze Auszug zeigt deutlich, dass für die zukünftige Auseinandersetzung mit dem »Case Management« im Gesundheits- und Sozialalbereich eine begriffliche Klarheit geschaffen werden muss. Auch in Österreich stößt das Case Management-Konzept bei vielen Dienstleistungsorganisationen des Sozial- und Gesundheitswesens auf zunehmendes Interesse und eine jeweilige Klärung der Intention wäre den PerzipientInnen dringend anzuraten. Unabhängig von den begrifflichen Wirrungen offenbart sich der Wesenskern von Case Management in »beeindruckender Schlichtheit« (Ewers 2000, 54). Der Kernprozess des Unterstützungsmanagements besteht aus verschiedenen Phasen, wobei sich in der Literatur zum Case Management unterschiedliche Phasierungsmodelle finden, die den Hilfeprozess in eine sinnvolle Abfolge von Handlungsschritten zu bringen versuchen (vgl. Galuske 2003, 204). Ohne auf die einzelnen Phasen und deren Umsetzungsprobleme (ausführlich dazu Hansen 2005, 112ff) an dieser Stelle ausführlicher eingehen zu können, seien sie doch kurz skizziert: Im (1) Assessment sind die diversen Bedarfslagen zu identifizieren, darauf aufbauend werden (2) Hilfe- und Leistungspläne erstellt (planning), danach werden die (3) Dienstleistungen organisiert (intervention/brokering), in der Folge wird der Leistungs- und Unterstützungsprozess von dem/der Case ManagerIn (4) kontrolliert (Controlling/Monitoring) und schließlich auch (5) evaluiert SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 65 Case Management und Clearing 65 (Evaluation) (vgl. Neuffer 2002, 51ff; Moxley 1989, 18). Dem Anspruch nach ist das Case Management längerfristig angelegt und behält den gesamten Betreuungsverlauf im Blick. Case Management pur – oder aber mit Beziehungsarbeit? Case Management wird von vielen VertreterInnen als eine Weiterentwicklung oder »qualifizierte Fortschreibung« (Neuffer 2005, 19) der Einzelfallhilfe verstanden. Allerdings verlagert sich damit das Aufgabenspektrum des Helfers von der psychosozialen Beziehungsarbeit zur organisierenden, planenden, koordinierenden und kontrollierenden Abstimmung von Angebot und Nachfrage nach Unterstützung (vgl. Wendt 1991, 11). Unter den Case Management-Lobbyisten gibt es durchaus unterschiedliche Vorstellungen, inwieweit die psycho-soziale Beziehungsarbeit im Case Management eine Rolle spielt bzw. ist dies Gegenstand kritischer Erörterungen (vgl. RemmelFaßbender 2005, 71 ff.; Löcherbach 2000, 104). Während für Wendt (2001, 9) die helfende Beziehung im Case Management »keine Vorbedingung für ein erfolgsversprechendes berufliches Handeln« ist, sieht Neuffer diese Beziehungsarbeit auch nicht in Konkurrenz zu effektiver und effizienter Fallarbeit. Er widerspricht Wendt m.E. zu Recht, wenn er meint, »dass eine durchgehende Fallverantwortung Beziehungsarbeit erfordert, um das Vertrauen der KlientInnen zu erreichen (…)« (Neuffer 2005, 43). Egal, welcher ideologische Zugang im Case Management als sozialarbeiterische Methode vorzufinden ist, eint nach meiner Einschätzung die Case Management-Lobbyisten der Wunsch, die Soziale Arbeit endlich auf Augenhöhe zu anderen Vollprofessionen betreiben zu können. Effektivität und Effizienz sind die – aus der Ökonomie bekannten – Wunderbegrifflichkeiten, die offenbar diese gewünschte »Professionalität« signalisieren sollen. SatzBakic.qxd 66 27.02.2008 17:19 Seite 66 Case Management und Clearing Case Management als Instrument des Neoliberalismus Mit näherem Blick auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem Case Management etabliert wurde, muss Case Management als ein Instrument neoliberal orientierter Wohlfahrtsstaaten identifiziert werden (vgl. Hansen 2005, 108). Auch wenn die heutige Situation in Deutschland mehr als in Österreich der US-amerikanischen Entwicklung in einigen Aspekten gleicht (vgl. Kleve 2006, 15) – und allerdings auch Österreich im Sinne einer neoliberalen-neokonservativen Wende diesem Entwicklungsmuster folgt (vgl. Talos/Fink 2001, 21) – darf nicht vergessen werden, dass der österreichische Sozialstaat konservativ-korporatistischer Prägung mit einem sozialstaatlichen Charakter auf einem völlig anderen Prinzip aufgebaut ist als die USA oder auch Großbritannien (vgl. Beriè/Fink 2000, 50). Im Kern zielt das neo-sozialstaatliche Modell des aktivierenden Sozialstaates, der sich in Deutschland idealtypisch mit den Hartz-Gesetzen manifestiert hat, auf mehr Markt und weniger Staat. Für die Soziale Arbeit ist das Beispiel der Hartz-Reformen hüben wie drüben insofern bedeutsam, »als dass sich im Fallmanagement der Arbeits- und Sozialverwaltung modellhaft nachlesen lässt, wie sich der aktivierende Sozialstaat »seine Soziale Arbeit« vorstellt: Als strengen, mit Sanktionsmacht ausgestatteten Berater, Begleiter, Kontrolleur und »Richter« auf dem Weg in einen Arbeitsmarkt mit schwindender Absorbtionsfähigkeit, »workfare statt welfare«, mit Zielvorgabe und Zwangsberatung.« (Galuske 2006, 14). Auch andere Autoren können sich dieser Kritik anschließen: So identifiziert Achim Trube (2005, 43 ff.) das »aktivierende Casemanagement als ein Instrument des Changemanagements, ein Angebot, das der Adressat schlichtweg nicht ablehnen kann, da es nicht freiwillig auf Mitwirkung beruht.« Und mit Blick auf die Profession sind Dahme/ Wohlfahrt (o.J., 11) der Meinung, dass durch den aktivierende Staat – und gerade eben auch mittels jener Konzepte, »die Fachlichkeit und die durch Expertise begründete Autonomie der Fallbearbeitung […] in Frage gestellt [wird].« Ziel ist dabei SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 67 Case Management und Clearing 67 ein stärkeren Einfluss auf »Handlungsvollzüge in der Sozialen Arbeit […], um letztlich die Fallbearbeitung optimaler steuern und reglementieren zu können.« (Dahme/Wohlfahrt o.J., 11). Im krassen Gegensatz dazu stehen die verlockenden Ausführungen vieler Case Management TheoretikerInnen, die mit Partizipation und Empowerment den Anschein von Handlungsmacht für die KlientInnen erwecken (vgl. Neuffer 2005, 22ff.) und es auch als professionelle Weiterentwicklung verstehen wollen. Unter den beschriebenen Umständen kann es sich nur um eine paternalistische Form von Partizipation handeln: »Ihrer kritischen Inhalte beraubt (Anm. Inhalte der Partizipation), degeneriert Partizipation so zu einer besonderes subtilen Form politischer Apathie (als widerspruchslose Fügung in institutionellen Gegebenheiten)« (Gronemeyer 1973, 28). Case Management: Ein Glaubwürdigkeitsproblem für die Soziale Arbeit Gegenwärtig findet nach meiner Einschätzung weder ein kritisches Hinterfragen, noch ein völliger Boykott des Case Management-Konzeptes statt. Dieser Umstand öffnet natürlich jenen Tür und Tor, die SozialarbeiterInnen – vielleicht auch nur implizit – mit der Gleichung »Case Management = mehr Professionalität = mehr Anerkennung« für dieses Konzept begeistern wollen. Wie oben allerdings ausgeführt wurde, vertraut und baut das Case Management-Konzept zu einseitig auf den vom Neoliberalismus angenommenen, vernunftbetonten, rational agierenden »homo oeconomicus«, der als Menschenbild quasi auf alle übertragen werden kann (ausführlich dazu Staub-Bernasconi 2005, 1ff.). Die Soziale Arbeit insgesamt hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn sie einerseits neoliberale Tendenzen in der Sozialpolitik kategorisch als Beiträge zur Demontage des Sozialstaates wertet, sich andererseits aber neoliberaler SatzBakic.qxd 68 27.02.2008 17:19 Seite 68 Case Management und Clearing Instrumente wie des Case/Care Managements (vgl. Hansen, 120) und diverser Clearing Modelle bedient sowie diese auch in ihre Professionalisierungsstrategien einbaut. Dieses Glaubwürdigkeitsproblem wird sich noch erhöhen, wenn sich die Profession und die Disziplin angesichts der teils dramatischen sozialpolitischen Veränderungen in Europa nicht ausreichend positionieren und einen anderen Weg der Professionalisierung einschlagen, der dem Proprium Sozialer Arbeit a la Silvia Staub-Bernasconi (vgl. Engelke 2002, 362 ff) näher ist. Die gegenwärtigen Entwicklungen haben für die Soziale Arbeit weit reichende Folgen. Das »Feld« wird für die praktische Arbeit zur vernachlässigenden Größe, aber auch der »Fall« bleibt nicht, was er einmal war, denn Ursachensuche, hermeneutisches Fallverstehen und Lebensweltorientierung kommen abhanden. Mit jeder bewussten und unbewussten Übernahme von klientInnenfeindlichen Aspekten in der Fallbearbeitung wird die fachliche Autonomie schrittweise eingeschränkt und führt auf absehbare Zeit möglicherweise zu einer grundsätzlich veränderten Professionalität in der Sozialen Arbeit. Verlockende Vokabeln wie Beteiligung, Autonomie, Selbststeuerung, Selbstverantwortung, Befähigen und Ermöglichen sind kennzeichnend für eine neosoziale Politik und sollen die Kunst effektiver Verhaltensbeeinflussung bei optimalem Ressourceneinsatz befördern helfen (vgl. Dahme/Wohlfahrt o.J., 14). »Für eine professionelle, gesellschaftlich und politisch aufgeklärte Soziale Arbeit ist in diesem Szenario nur noch wenig Spielraum enthalten.« (ebenda, 15). Für alle VertreterInnen der Sozialen Arbeit in Österreich, die sich pro futura mit der Implementierung von Case Management befassen oder weitere Clearing-Modelle umsetzen müssen bzw. wollen, wird es eine Gewissensentscheidung und Nagelprobe sein, diese Konzepte mit kritisch-reflexivem Blick in das eigene Methodenrepertoire zu übernehmen. Formalisierungen wie das Case Management müssen m.E. gestaltend angenommen werden, sie erduldend hinzunehmen, ist ein Akt der Selbst- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 69 Case Management und Clearing 69 aufgabe (vgl. Hansen 2005, 123). Wesentlich ist dabei allerdings die kritische inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Konzepten, denn »wer mit der Methode nicht vertraut ist, wird deren Missbrauch nicht erkennen können.« (Hansen 2005, 122). Anmerkungen 1 http://www.neustart.at/jasicher/?cmd=ja_item&ja_id=17&item= Freizeit 2 Das Intake ist die erste systematische Beratung und Bestandsaufnahme der Problemsituation (Pantucek 1998, 130) 3 Die Idee des Clearings entstand in einem Arbeitskreis aus SozialarbeiterInnen und Verwaltungsbediensteten im Jahr 1999/2000 (vgl. Emprechtinger et al. 2007) 4 Siehe Schwerpunktnummer der Zeitschrift SIÖ (Sozialarbeit in Österreich) »Was kann Case Management?«, Ausgabe 1/06 Literatur Beriè, Hermann/Fink, Ulf (2000): Europas Sozialmodell – Die europäischen Sozialsysteme im Vergleich. Eine volkswirtschaftliche Analyse. Institut für Wirtschaft & Soziales GmbH. Berlin Dahme, Heinz-Jürgen/Wohlfahrt, Norbert (o.J.): Entwicklungstendenzen zu neuer Sozialstaatlichkeit in Europa und ihre Konsequenzen für die Soziale Arbeit. Online unter: (Stand 17.1.2008) Eisenriegler, Adalbert (1993): Das 6-Varianten-Modell zur Durchführung der Bewährungshilfe. In: Sozialarbeit und Bewährungshilfe (SUB) 1993, 21 – 30. Emprechtinger, Julia/Jöbst-Arbeiter, Maria/Hammer, Elisabeth/Krieger, Maria (2007): Sozialhilfe und Sozialarbeit zwischen öffentlichem Auftrag und professionellem Anspruch. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 70 Seite 70 Case Management und Clearing Die MA 15 der Stadt Wien. Fallbeispiel erstellt im Rahmen des Workpackage 3 des Projektmoduls 4 »Fachliche Standards in der Sozialwirtschaft: gestern – heute – morgen« der EQUAL EntwicklungspartnerInnenschaft »Donau-Quality in Inclusion«. Wien Engelke, Ernst (2002): Theorien der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Freiburg im Breisgau Ewers, Michael/Schaefer, Doris (Hg.) (2000): Case Management in Theorie und Praxis. Bern Galuske, Michael (2006): Zwischen staatstragender Funktion und gesellschaftskritischem Selbstverständnis. In: Sozialarbeit in Österreich (SIÖ) 1/2006, 10 – 17 Galuske, Michael (2003): Methoden der Sozialarbeit. Eine Einführung. Weinheim und München Gronemeyer, Reimer (1973): Integration durch Partizipation? Frankfurt Hansen, Eckhard (2005): Das Case/Care Management. Anmerkungen zu einer importierten Methode. In: Neue Praxis 2/2005, 107 – 126 Hönisch, Bernhard: Die Wahrnehmung von den Interessen von Geschädigten im Rahmen des Außergerichtlichen Tatausgleichs. Online unter: www.neustart.at/Media/fall_ata_hoenisch.pdf [Stand: 7.1.2008] Karlusch, Heinz (2006): Perspektive der methodischen Sozialarbeit. Aktuelle dominante methodische Handlungsorientierungen. In: Soziale Arbeit in Österreich (SIÖ) 2006, 8 – 15 Kleve, Heiko (2006): Systemisches Case Management. Eine effektive und effiziente Methode lebensweltlich und sozialräumlich orientierter Fallarbeit. In: Soziale Arbeit in Österreich (SIÖ) 1/2006, 14 – 16 Löcherbach, Peter (2005): Altes und Neues zum Case Management. Soziale Unterstützungsarbeit zwischen persönlicher Hilfe und Dienstleistungsservice. In: Mrochen, Siegfried/Berchtold, Elisabeth/ Hesse, Alexander (Hg.): Standortbestimmung sozialpädagogischer und sozialarbeiterischer Methoden. Weinheim, 104 – 122 Moxley, David (1989): Practice of Case Management. Newbury Park Müller, Wolfgang C. (1991): Wie helfen zum Beruf wurde. Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit 1883 – 1945. Weinheim und Basel SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 71 Case Management und Clearing 71 Neuffer, Manfred (2005): Case Management. Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien. Weinheim und München. Pantucek, Peter (1998): Lebensweltorientierte Individualhilfe. Eine Einführung für soziale Berufe. Freiburg im Breisgau. Remmel-Faßbender, Ruth (2005): Case Management als Methodenkonzept der Sozial Arbeit. Erfahrungen und Perspektiven. In: Löcherbach, Peter/Klug, Wolfgang/Remmel-Faßbender, Ruth/Wendt, Wolf Rainer (Hg): Case Management. Fall- und Systemsteuerung in der Sozialen Arbeit. München Basel, 67 – 88 Schöppl, Christina (2006): Neue Steuerungsmodelle in der Sozialen Arbeit als Teil einer neoliberalen Offensive. Inwiefern tragen Kontraktmanagement und KundInnenorientierung als Elemente der Neuen Steuerungsmodelle zu einer Verbesserung für die Soziale Arbeit und deren KlientInnen bei? 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In: Löcherbach, Peter/Klug, Wolfgang/RemmelFaßbender, Ruth/Wendt, Wolf Rainer (Hg): Case Management. Fallund Systemsteuerung in der Sozialen Arbeit. München Basel, 14 – 40 Wendt, Wolf Rainer 2001: Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen. Eine Einführung. Freiburg im Breisgau. SatzBakic.qxd 27.02.2008 72 17:19 Seite 72 Case Management und Clearing Wendt, Wolf Rainer 1991: Unterstützung fallweise. Case Management in der Sozialarbeit, Freiburg im Breisgau. Wöhrle, Armin (2003): Grundlagen des Managements in der Sozialwirtschaft. Studienkurs Management in der Sozialwirtschaft. BadenBaden Ziegler, Holger (2003): Diagnose, Macht, Wissen und »What works?« – Die Kunst, dermaßen zu regieren. In: Widersprüche 2/2005, 101 – 116 SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 73 Diagnose und Sozialtechnologie Michael Galuske Nicole Rosenbauer Ein konstitutiver, nicht hintergehbarer Bestandteil der alltäglichen Handlungsvollzüge von SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen ist die Fähigkeit, sozialpädagogische Handlungssituationen in ihrer Komplexität zu ›entschlüsseln‹, sie zu ›lesen‹, zu verstehen und zu deuten. Eine fragende und ›forschende‹ Haltung, die organisatorische, institutionelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen ebenso einbezieht wie Hypothesen über lebensgeschichtliche und situative Befindlichkeiten und deren kommunikative Validierung, ist die Basis einer reflexiven sozialpädagogischen Professionalität, wie es der Fachdiskurs als tragfähiges Leitbild fachlichen Handelns in der Widersprüchlichkeit und Komplexität sozialpädagogischen Handelns am Ende des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Deren eigene Typik, ein ›sozialpädagogischer Blick‹ entfaltet sich in der Vermittlung von Subjekt- und Strukturperspektive, von institutionellen und individuellen Aspekten sowie eines Feldund Bildungsbezugs (vgl. Thole 2002, 37). Entsprechend begleitete die Soziale Arbeit immer schon die Frage, wie die »Fähigkeit zu schöpferischer Einsicht« (Salomon 1925, 44) und eine adäquate Erkenntnisgewinnung über Lebenssituationen methodisch unterstützt werden könne. Zwar wurden schon früh differenzierte Modelle einer ›Sozialen Diagnose‹ für das Feld Sozialer Arbeit entwickelt, die auch bereits Fallstricke thematisierten – die Praxis jedoch schien weitestgehend beherrscht von Vorgehensweisen, die sich am medizinisch-klinischen Diagnostikmodell und Vokabular orientierten, die geprägt waren von Defizit-, Zuständigkeits- und Ausgrenzungsrhetorik. Der gegenwärtige diagnostische Boom in der Sozialen Arbeit ist insofern umso überraschender, als entsprechende Verfahren im SatzBakic.qxd 74 27.02.2008 17:19 Seite 74 Diagnose und Sozialtechnologie Fahrwasser der Methodenkritik der 1970er-Jahre als »eine Kunst des Regierens« (vgl. Langhanky 2005) und Element zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse identifiziert und kritisiert wurden (vgl. Kunstreich 2003). Die Frage nach einer potentiellen ›Diagnostik‹ Sozialer Arbeit verschwand nach einer systematischen Diskussion der zugrundeliegenden Problematik schließlich in den 1980er-Jahren von der disziplinären Agenda. Heute erleben Erhebungs- und Klassifizierungsinstrumente, Testverfahren und Fragebögen in unterschiedlichsten Feldern Sozialer Arbeit eine ungeahnte Konjunktur. Dem ›Imperativ des Testens‹ unterliegen längst nicht mehr nur Individuen, sondern auch Sozial- und Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten in den diversen Ranking- oder Evaluationsverfahren (vgl. Liessmann 2006, 74f.). Das »Paradigma der (Über-) Prüfung« hat den gesamten sozialen und kulturellen Raum ergriffen: »Es gibt heute nichts mehr, das nicht getestet werden oder Gegenstand von Testparametern sein könnte. (…) Wir sind umgeben von Diagnosemethoden, Nachweisverfahren, Untersuchungstechniken und Prüfapparaten, die uns mitteilen, über welche Kompetenzen wir verfügen, welchen Risiken wir ins Auge sehen müssen und welcher Gruppe wir zugehören« (Lemke 2004, 264).1 Im Folgenden gehen wir dieser Entwicklung nach, indem zunächst strukturelle Merkmale von diagnostischen Verfahren nachgezeichnet werden. Der neuerliche Boom wird vor dem Hintergrund des aktuellen Effizienzdiskurses in der Sozialen Arbeit diskutiert, und einige Hinweise auf potentielle Folgen bilden den Abschluss. Der gegenwärtige diagnostische Boom in der Sozialen Arbeit Wer sich dem disziplinären Diskurs um ›Diagnostik‹ in der Sozialen Arbeit anhand der seit Beginn der 1990er-Jahre zahlreichen, neu erschienenen Lehr- und Handbücher nähert, stößt SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 75 Diagnose und Sozialtechnologie 75 zunächst auf einen ›Streit um die Begrifflichkeit‹. Die BefürworterInnen eines Begriffsimports und einer Adaption medizinischen und psychologischen Vokabulars verbinden hiermit die Hoffnung, dass ein wichtiger Beitrag zur Professionalisierung und zur Anerkennung Sozialer Arbeit durch andere Professionen geleistet werde. KritikerInnen betonen hingegen die den medizinisch-klinischen Diagnostikmodellen inhärenten Degradierungs- und Etikettierungspotentiale, KlientInnen werde im Rahmen expertokratischer und defizitorientierter Diagnoseverfahren lediglich der Status passiver Objekte zugebilligt. Die Anfang der 1990er-Jahre entstandenen neuerlichen Versuche einer sozialpädagogischen Diagnostik nahmen diese Kritik auf.2 Sie orientierten sich zwar weiterhin am klinischen Begriffsinventar, versuchten dieses allerdings neu zu füllen, so beispielsweise Burkhard Müller (1993) in seinem Entwurf einer multiperspektivischen Fallarbeit. Dieser Entwurf ist geprägt von dem Bestreben, die lebensweltliche und biographische Komplexität der Genese sozialpädagogischer Bedarfslagen zu erschließen, den sozialpädagogischen Blick zu schärfen und die SozialarbeiterInnen in die Lage zu versetzen, mit der Komplexität der Interaktion adäquat umzugehen. An hermeneutische Denktraditionen anschließend finden sich des Weiteren eine Reihe von Konzepten, die für ganzheitliche, rekonstruktive, biografisch und/oder narrative sowie inszenierende, gruppen- oder beziehungsanalytische Zugänge des (Fall) Verstehens in der Sozialen Arbeit votieren (vgl. Schrapper 2005, 192f.). Diese Konzepte stellen die Selbstdeutungen und Selbstäußerungen der Menschen in den Mittelpunkt und gewinnen hieraus Material für Falldarstellungen und -analysen. Neuere Arbeiten betonen insbesondere die Potentiale biografischer Verfahren für die Ausgestaltung einer adressatInnenorientierten Sozialen Arbeit.3 Zwar wich das ›alte‹, simple klinische Dreischrittmodell Anamnese, Diagnose und Behandlung als eine Vorstellung line- SatzBakic.qxd 76 27.02.2008 17:19 Seite 76 Diagnose und Sozialtechnologie ar geordneter Abfolgen zunehmend zirkulären Modellen mit ineinander verschränkten Phasen4, und ohne Zweifel haben sich auch medizinische und psychologische Verfahren weiterentwickelt, dennoch ist die Methodenentwicklung der letzten Jahre in weiten Teilen als Sozialtechnologisierung der sozialpädagogischen Praxis angelegt. Das heißt, »dass Instrumente und Modelle aus dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich herangezogen und zum Zwecke der Zielerreichung eingesetzt werden« (Knoblauch 2006, 1), dass ›das Soziale‹ durch den zunehmenden Einsatz sozialwissenschaftlichen Wissens bearbeitet und gestaltet wird und wir die »Integration sozialpädagogischer Definitions- und Handlungsvollzüge in ökonomischtechnologisch dominierte Zugänge« beobachten (Böhnisch et al. 2005, 236). Während die oben genannten Konzepte zunächst offene Erkenntnisprozesse anstreben, in denen es um die Gewinnung von »Wissen aus der ›Innenperspektive‹ der Subjekte – über deren Selbstsichten, über Ressourcen und Schwierigkeiten zur Bewältigung und über die subjektiven Aneignungsprozesse angebotener Hilfen« geht (Bitzan et al. 2006, 7), verfolgt die Wissensgenerierung in sozialtechnologisch angelegten Verfahren dezidiert einen Zweck im Rahmen einer Systemfunktion (vgl. Knoblauch 2006, 2): Im Kontext verrechtlichter Prozeduren und administrativer Formen der wohlfahrtsstaatlich organisierten Hilfe werden in der Regel solche Verfahren favorisiert, die Wissen auf Basis systematischer Informationssammlung, Beobachtung und Befragung generieren, und dieses anhand von Konzepten der psychischen und sozialen Normalität analysieren. Die Prozesse der Wissensgenerierung sind hierbei nicht offen angelegt, sondern durch den Verwendungszweck der Erkenntnisse gesteuert, die als ExpertInnen-Deutungen im Kontext sozialrechtlicher Entscheidungsfindung und Intervention instrumentalisiert werden (vgl. Cremer-Schäfer 2003, 57, Schrapper 2005, 191). Die in den 1980er-Jahren gehegte Hoffnung, dass diagnostische (Test-)Verfahren im Alltagsgeschäft Sozialer Arbeit im Zeichen SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 77 Diagnose und Sozialtechnologie 77 von Lebenswelt- und Dienstleistungsorientierung zugunsten strukturierter, dialogischer Verständigungsprozesse sukzessive an Boden verlieren, scheint angesichts der aktuellen Renaissance standardisierter Test- und Diagnoseinstrumente enttäuscht: Neuere Ansätze wie etwa die Diagnosetabellen des bayrischen Landesjugendamtes (vgl. Hillmeier 2004), Indikatorenlisten zur Erfassung des (potentiell gefährdeten) Kindeswohls oder Screening-Instrumente, flächige Sprachtests (wie z.B. Delfin 4 in Nordrhein-Westfalen)5, internationale Bildungsrankings (wie PISA oder IGLU) und IT-gestütztes Profiling oder Assessment im Rahmen der Arbeitsvermittlung und –förderung (vgl. Schumak 2003) zielen in allen Feldern der Sozialen Arbeit von den Erziehungshilfen bis zur Arbeitsförderung, von der Kindertagesbetreuung bis zur Universität zuvörderst auf die Reduktion von Komplexität. Mithilfe von Fragebögen, Diagnosetabellen, Merk- und Indikatorenlisten sowie Testverfahren werden diffuse und unbestimmte Phänomene wie z.B. Kindeswohl, employability oder Sprachfähigkeit operationalisiert, in Faktoren zerlegt, anhand von Parametern und Kategorien bestimmt und gewichtet (vgl. Lemke 2004, 267). Dieser Diagnostikboom ist eine logische Folge der Verbetriebswirtschaftlichung von Denkformen, Instrumenten und Strukturen des Alltags der Organisationen des Sozialsektors: Indem SozialarbeiterInnen anhand solcher Instrumente systematisch ›Material‹ erfassen sowie detailliertes und individualisiertes Wissen erheben, wird ein zielgenau(er)es Urteil über den ›Fall‹ ermöglicht und eine Grundlage geschaffen für eine qualitativ ›hochwertige‹, passgenaue Hilfeleistung, so die Ideologie der betriebswirtschaftlichen Reorganisation des Sozialen Sektors. In der Logik neuer Steuerungsmodelle kommt der genauen Analyse des Einzelfalls (Diagnostik) und der spezifischen Wirksamkeit unterschiedlicher Hilfen eine Schlüsselrolle zu, denn nur mit genügend entsprechendem Wissen kann die anvisierte Kalkulier- und Beherrschbarkeit SatzBakic.qxd 78 27.02.2008 17:19 Seite 78 Diagnose und Sozialtechnologie gesichert werden: Eine (zertifizierte) Qualität soll diejenige Transparenz der Leistungen herstellen, auf deren Basis erst AnbieterInnen in Konkurrenz zueinander treten können, um im inszenierten Wettbewerb Effizienz, Innovation und Kundenorientierung zu steigern. Um Leistungen kalkulierbar und berechenbar zu machen, müssen die Wirkungen von Leistungen evaluiert (Ergebnisqualität) und Instrumente zur Einhaltung bestimmter Verfahrensstandards und -schritte installiert werden (Prozessqualität). Damit angesprochen ist eine qualitative Veränderung von Technologien, die immer weniger auf Ergebnisprüfungen, sondern vielmehr auf Verlaufskontrollen abzielen (vgl. Lemke 2004, 264). Doch solche Testverfahren operieren in einem Paradox, indem sie zwar Unterschiede und Differenzen voraussetzen, gleichsam jedoch Homogenität und Konformität produzieren (die vielbeschworene ›Vergleichbarkeit‹ von Leistungen) und mithin einer Standardisierung des Hilfeprozesses und gerade der Missachtung von Individualität Vorschub leisten. Denn die »Repräsentation des Selbst auf der Grundlage von standardisierten Testverfahren und dessen Einordnung in normierte Testparameter verdunkelt eben jene Realität, die sie erhellen soll. Denn es ist genau die Individualität, die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit der Einzelnen, die in diesem Testuniversum zugleich permanent beschworen und systematisch verworfen wird« (ebd., 269). Standardisierte Analyseinstrumente mit vorab festgelegten, als relevant erachteten Dimensionen im Sinne von subsumptionslogischen Vorentscheidungen beinhalten immer die Gefahr, »mitunter eine Verfahrensmechanik zu begründen, die für die Spezifik und Individualität des Einzelfalls blind ist« (Höpfner et al. 1999, 202). Im Diskurs um ›Anwendbarkeit‹ wird kaum thematisiert, auf welches Wissen und welche Prämissen (z.B. erkenntnistheoretische Annahmen über Realität und Objektivität) bei der Konstruktion von Instrumenten explizit wie implizit zurückge- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 79 Diagnose und Sozialtechnologie 79 griffen wird (vgl. Höhne 2006, 197) und dass jedes Raster und Kategoriensystem bereits Ergebnis eines Entscheidungsprozesses ist, dessen Übernahme immer auch eine Übernahme der vorangegangenen Selektion impliziert, d.h. aktuelle Entscheidungen werden von vorher getroffenen Entscheidungen beeinflusst (vgl. BOAG 2000, 5). Damit erfüllen solche Instrumente für die AnwenderInnen zwar eine Entlastungsfunktion, da Handlungen standardisiert werden (›das Instrument sagt ja, was und was weiter getan werden soll‹). Sie sind jedoch immer auch mit spezifischen Mechanismen der Selektion verbunden, da sie Informationen für die Auswahl – und den Ausschluss – von präventiven, therapeutischen oder pädagogischen Interventionen liefern, obwohl in der Regel immer mehrere brauchbare und vertretbare Lösungen bei Entscheidungen vorhanden sind. Da die gängigen Instrumente Neutralität und Objektivität suggerieren, indem Phänomene und Merkmale scheinbar sachlich registriert und dargelegt werden, geraten ethische und normative Dimensionen des Handelns aus dem Blickfeld. Indem bereits stattgefundene Entscheidungsprozesse der Festlegung, was erhoben und ermittelt werden soll und was worauf hin folgt, durch den Rückgriff auf Instrumente übernommen werden, vollzieht sich gleichsam eine (unbemerkte) Reproduktion gesellschaftlicher Wertvorstellungen.6 Diagnostische Verfahren operieren notwendigerweise an der Grenze zwischen Norm und Abweichung, denn als ›Normalisierungstechnologien‹ sind sie »konstitutives Element in der Herstellung des Normalen. Ihre Leistung besteht darin … zu entscheiden« (Lemke 2004, 267). Dies ist jedoch im gegenwärtigen ›Klassifizierungs-Hype‹ kaum kritisierbar. Bei unerwünschten Effekten wird in der Regel dem ›Prinzip des Mehrdesselben‹ gefolgt, das heißt dem Glauben, die Instrumente seien schlichtweg noch zu undifferenziert, die Items noch zu ungenau usw. (vgl. Kunstreich 1995, 8) – die Angemessenheit an sich wird kaum in Frage gestellt. »Kritik darf geübt werden an den konkreten Maßstäben eines Tests, nicht an der Praxis des Testens selbst« (Lemke 2004, 268).7 SatzBakic.qxd 80 27.02.2008 17:19 Seite 80 Diagnose und Sozialtechnologie Die Suggestion von Neutralität und Objektivität etabliert eine Sozialtechnologie auf ›höherer Ebene‹: Da die Instrumente von konflikthaften und damit politisierbaren Zusammenhängen entkleidet sind (vgl. Kunstreich 1995, 9), werden soziale, ökonomische und gesellschaftliche Bedingungsfaktoren und Prozesse nicht wahrgenommen, »die als Entstehungs- und Verlaufskontext den Rahmen darstellen, in dem der Einzelfall als Einzelfall seine Besonderung erfährt« (Höpfner et al. 1999, 202). Dass alle kategorisierenden Verfahren »zwangsläufig unflexibel im Hinblick auf Neues und hoffnungslos unterkomplex im Hinblick auf Reales« (ebd. 203) sind, interessiert evidenzbasiert vorgehende SozialarbeiterInnen nicht, sondern der Fall wird nach erfolgreicher ›objektiver‹ Diagnose »dem profilspezifisch erwiesenermaßen effektivsten bzw. effizientesten Programm« zugeführt (Ziegler 2006, 265) – womit die ›Steuerungsfantasien‹ des neuen manageriellen Denkens schließlich auch in den Organisationen des Sozialsektors ihre Vollendung finden. Die sozialtechnologische Umstrukturierung sozialer Organisationen Im Zuge der Krise der öffentlichen Haushalte im Gefolge der Verteilungskrise der flexiblen Arbeitsgesellschaft (vgl. Galuske 2002) ist der Rationalisierungsdruck auf Institutionen des öffentlichen Sektors gestiegen, bei weiterhin zunehmender Tendenz. Insofern ist der Neodiagnostik-Boom in der Sozialen Arbeit keineswegs überraschend, da ohne eine Technisierung des Hilfeprozesses schon an dieser Schwelle die Logik der Rationalisierung nicht aufrecht zu erhalten ist. Doch spätestens seit der Formel des ›strukturellen Technologiedefizits‹ wissen wir um die nicht aufhebbare Unsicherheit (sozial-) pädagogischen Handelns aufgrund seiner Komplexität und die Unmöglichkeit, funktionierende Technologien in diesem Feld SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 81 Diagnose und Sozialtechnologie 81 zu entwickeln, da es keine eindeutigen Kenntnisse der UrsacheWirkungs-Zusammenhänge (sozial-) pädagogischer Interventionen geben kann (vgl. Luhmann/Schorr 1979). Zwar zielen neuere Rationalisierungspraktiken insbesondere auf die Ökonomisierung des ›menschlichen‹ Faktors, allerdings können sozialpädagogische Tätigkeiten und people processing organizations nicht zweckprogrammiert, d.h. in Rekurs auf Wenn-dann-Kausalitäten ausgestaltet werden – jedenfalls nicht ohne gravierende Nebenfolgen und Deformationen. Angesichts dieser Unsicherheit stellt sich das Problem potentieller Rationalität, das im hier diskutierten Zusammenhang schlicht »in ein Problem der Validität von Tests oder sonstigen diagnostischen Instrumenten umformuliert« wird (ebd., 330), umso deutlicher. In diesem Zusammenhang erfüllt nun die Installation diagnostischer Instrumente in den Organisation des Sozialsektors gerade als sozialer Mechanismus eine spezifische Funktion, nämlich die Beschaffung von ›Legitimation über Verfahren‹ (vgl. Luhmann 1975). Organisationen implementieren – unabhängig von einer spezifischen Wirksamkeit – generell verbreitete und wissenschaftlich legitimierte Verfahren, um durch die Befolgung gesellschaftlich verankerter Rationalitätsnormen die Unterstützung aus der Umwelt und die Zufuhr von Ressourcen (z.B. durch hohe Belegungszahlen) sicherzustellen (vgl. Kieser 1997, 87). Dass die Implementierung diagnostischer Verfahren in der Sozialen Arbeit nicht jenseits organisatorischer Relevanzen zu begreifen ist, zeigt bspw. der Umstand, dass gerade hermeneutische Verfahren häufig als zu aufwändig, zu zeitintensiv, zu langwierig, zu kompliziert, zu umständlich usw. – kurz: als ›nicht praxistauglich‹, und das heißt in diesem Fall als nicht organisationskonform verworfen werden. Nicht die grundsätzliche Sinnhaftigkeit der Verfahren, sondern ihre institutionelle Passung wird in Frage gestellt. Durch den starken Bezug zu den kulturellen Mythen der Wahrheit und Erkennbarkeit8 trägt eine ›tickbox culture‹ – eine ›Kästchen- SatzBakic.qxd 82 27.02.2008 17:19 Seite 82 Diagnose und Sozialtechnologie Kultur‹ – in sehr viel höherem Maße zur Legitimitätssicherung bei, sie ist jedoch gleichsam manifester Ausdruck einer instrumentell-strategischen Rationalisierung und Technologisierung in den Organisationen Sozialer Arbeit.9 Der Siegeszug der Ökonomisierung und Rationalisierung Sozialer Arbeit seit den 1990er-Jahren hat auch den Diskurs verändert. War Sozialtechnologie in den Fachdiskussionen der Sozialen Arbeit in den 1970er- und 1980er-Jahren eine kritische Chiffre, um auf die Gefahr einer entpolitisierten, weitgehend auf positivistischen Verhaltenstechnologien reduzierten ›Fachlichkeit‹ und instrumenteller Modelle des Handelns aufmerksam zu machen, scheint die Zeit des sensiblen Umgangs mit Begrifflichkeiten und der Ablehnung von Termini wie ›Fall‹ (aufgrund der inhärenten Klientifizierung) oder ›Diagnose‹ zur bewussten Abgrenzung von anderen Professionen und Distanzierung von den technokratischen und expertokratischen psychiatrischen und behavioristischen Konzepten vorbei. Die ›SozialtechnikerIn‹ oder ›SozialingenieurIn‹ (vgl. Meerkamp 2007) scheint heute als Professionalisierungshabitus Sozialer Arbeit überaus attraktiv. Anhand der zeitgeistigen Effizienzund Effektivitätsrhetorik können nun Leistungsfähigkeit, ›professional skills‹, anerkanntes Problemlösungswissen, Verlaufskontrolle und Prozessbeherrschung inszeniert werden. Der zugrundeliegende Utilitarismus – also die Orientierung an ›nützlichen‹ Handlungen und Sozialitäten – und die Reduktion von Rationalität auf eine bloße instrumentelle Rationalität bilden die Basis dafür, dass soziale in technische Probleme umdefiniert, einer öffentlichen Diskussion und Politisierung des Bestehenden entzogen und institutionelle und gesellschaftliche Dimensionen des ›Falls‹ ausgeblendet werden (können). Diagnostische Ansätze sind in der Regel personenorientiert, und – darauf weisen selbst die VertreterInnen entsprechender Verfahren hin – gerade nicht milieu- und sozialraumorientiert, eine reflexive Orientierung ist in der Regel unzureichend formalisiert und institutionalisiert (vgl. Heiner 2001, 264). Die SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 83 Diagnose und Sozialtechnologie 83 ganz reale Gefahr dieser »Trivialisierung des Helfens« (Meerkamp 2007, 14), dieses auf Schematisierungsdenken, alltagstheoretischen Vorstellungen von Ursache-Wirkungszusammenhängen und einem auf affirmativ-unkritischer Rhetorik basierenden Habitus liegt in der Favorisierung von direktiven Interventionsstrategien und asymmetrischen Kommunikationsstrukturen: »Zur Missachtung der lebensweltlichen Autonomie der KlientInnen und zur Blindheit für die Ausübung von Definitions-, Normalisierungs- und, um mit M. Foucault zu sprechen, ›Disziplinarmacht‹ durch SozialarbeiterInnen ist es dann kein allzu weiter Schritt« (Ney 2006, 37). Sozialtechnologische Vorstellungen waren immer schon eng mit Vorstellungen von Beherrschbarkeit und (sozialer) Kontrolle verwoben. So verstand bspw. Paul Natorp unter ›sozialen Techniken‹ die kausale (äußere und innere) Beherrschung der lebendigen Triebkräfte des Menschen zum Zwecke der Menschenbildung, und für Karl Mannheim sind sie Methoden zur Beeinflussung menschlichen Verhaltens und ein potentiell besonders machtvolles Instrument sozialer Kontrolle (vgl. Knoblauch 2006, 5). Doch da »es keine für soziale Systeme ausreichende Kausalgesetzlichkeit, da es mit anderen Worten keine Kausalpläne der Natur gibt, gibt es auch keine objektiv richtige Technologie, die man nur erkennen und dann anwenden müsste. Es gibt lediglich operativ eingesetzte Komplexitätsreduktionen, verkürzte, eigentlich ›falsche‹ Kausalpläne« (Luhmann/Schorr 1982, 19). Das Bemühen, sozialpolitisch und normativ gerahmte belastete und belastende Lebenssituationen und Lebenslagen mithilfe von Listen und Fragebögen in Kausalattributionen und den Nimbus der (Quasi) Objektivität zu überführen, muss mithin als theoretisch verbrämte Ideologieproduktion und als (unreflektierte) Reproduktion eines Mythos der Beherrschbarkeit verstanden werden.10 SatzBakic.qxd 84 27.02.2008 17:19 Seite 84 Diagnose und Sozialtechnologie Ein professionelles Abstiegsprojekt? Das technische Arsenal der Sozialen Arbeit hat sich im letzten Jahrzehnt zweifelsohne erweitert, ob damit allerdings lebensweltliche Verständigungsprozesse nachhaltig befördert werden konnten, ob die neue, sozialtechnologisch gewandete Soziale Arbeit ihre Qualität gesteigert hat, zu einem ›gelingenderen‹ Leben ihrer AdressatInnen beizutragen, darf angesichts der skizzierten Zusammenhänge angezweifelt werden. Die gegebenen Verfahren mögen zwar den Anschein der Professionalisierung erzeugen, allerdings legen standardisierte Handlungsprogramme und die Eliminierung des subjektiven Faktors – im Sinne einer Verringerung der Spielräume eines professionellen ›Ermessens‹ bzw. von professionell begründeten Entscheidungen – dann auch die Frage nahe, wofür man eigentlich noch Fachkräfte braucht. Plakativ und zugespitzt ausgedrückt: Um Diagnosetabellen auszufüllen, in Listen das statistisch wirksamste Angebot herauszusuchen und standardisierte, qualitätsgesicherte Handlungsprogramme abzuspulen, braucht man kein qualifiziertes, einer reflexiven Fachlichkeit verpflichtetes Fachpersonal, schon gar keine ›teuren‹ AkademikerInnen. Angesichts der Logik einer Re-Taylorisierung von Arbeitsvollzügen und dem bislang unbekannten Ausmaß eines Mikromanagements im sozialen Dienstleistungssektor im Sinne einer Steuerung von Handlungsvollzügen ist eher von »einem ›dramatischen Entwertungsprozess‹ der Profession« auszugehen (Dahme/Wohlfahrt 2007, 23) – mithin einer Deprofessionalisierung, einer Verschlechterung von Arbeitsbedingungen für die Mehrzahl der in Sozialen Berufen Tätigen (vgl. Bauer 2004, 8) und – entgegen allen Verlautbarungen – weiteren administrativen und organisatorischen Überformung von Handlungsvollzügen.11 Hierbei fallen dann all jene nicht messbaren, normierbaren und quantifizierbaren Faktoren wie Vertrauen und die Qualität einer Beziehung aus den Listen und Rastern heraus, eine ökonomistisch überformte Praxis kennt SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 85 Diagnose und Sozialtechnologie 85 nur wenig Raum für Scheitern, Rückschritte, Ausbrüche und Unerwartetes. »Die reale lebensweltliche Komplexität, die Eigenlogiken und Sperrigkeiten von sozialen und pädagogischen Prozessen bleiben hier ausgeblendet – ebenso die hochgradig komplexen Prozesse, die in der Sozialen Arbeit mit Begriffen wie Beziehung, Offenheit und Grenzen verknüpft sind« (Hafeneger 2001, 25). Ein kritisch-hermeneutisches Professionsverständnis kann sich nur in einem dialogischen Kommunikationsprozess zwischen Menschen entfalten. Jedoch sind konstitutive Machtverhältnisse weder durch lebenswelthermeneutische Sensibilität noch den Entwurf oder die Utopie einer ›anderen‹, nicht mehr institutionell konstituierten ›Sozialen Arbeit‹ auflösbar, und auch Aushandlungs- und Partizipationsverfahren schaffen keinen herrschaftsfreien Raum. Die nichtaufhebbare Subjektivität von BeobachterIn und DeuterIn bleibt sowohl Risiko als auch Ressource, und begründet im sozialpädagogischen Handeln neben einer spezifischen Emotionalität im Kontext von Nähe und Distanz gleichsam eine besondere professioneller Verantwortung (z.B. für eigene Deutungen, aber auch für die Verwendung von Daten und Deutungen). Diese Verantwortung heißt nicht notwendigerweise Expertokratie, und ihrer kann sich auch nicht qua Verfahren entledigt werden. Die Besonderheit sozialpädagogischer Professionalität liegt »in der gestalteten Balance von professioneller Expertise und respektvoller Verständigungsbereitschaft« (Schrapper 2005, 194), und nicht zuletzt in der Beteiligung der AdressatInnen an allen sie betreffenden Entscheidungsvorgängen. Anmerkungen 1 Liessmann (2006, 79) identifiziert für den Bildungsbereich eine fast schon »neurotische Fixierung auf Ranglisten aller Art«. »Wer einmal dem Mechanismus der Reihung verfallen ist, entwickelt rasch SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 86 Seite 86 Diagnose und Sozialtechnologie Symptome, die an den aus der Psychoanalyse bekannten Zwangscharakter erinnern« (ebd., 83). 2 Bei dieser Kritik handelte es sich um mehr als um Begriffsklauberei, denn: »Es ist keineswegs gleichgültig, wie man die Sachen nennt (...) . Der Name schon bringt eine Auffassungstendenz mit sich, kann glücklich treffen oder in die Irre führen. Er legt sich wie Schleier oder Fessel um die Dinge« (Jaspers 1983, 428). 3 Vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch (2006), für ein Modell ausgehend von jugendlichen Selbstdeutungsmuster z.B. Mollenhauer/Uhlendorff (1995). Zur Verwendung von Verfahren der qualitativen Sozialforschung für die Ausbildung und Alltagspraxis von SozialarbeiterInnen vgl. die Beiträge in Jakob/Wensierski (1997). 4 So betonen bspw. SystemikerInnen die Verschränkung von Diagnose und Intervention, da sie Diagnosen als Interventionen im Prozess, und Interventionen als zugleich sondierende diagnostische Schritte begreifen (vgl. Ritscher 2004, 73). 5 Im Bereich frühkindlicher Bildung absolvieren alle 4-jährigen im Bundesland Nordrhein-Westfalens den ›Delfin 4‹-Test zur Diagnose und Förderung der Sprachkompetenz, für die SchülerInnen der Dritten und Achten Klasse folgen regelmäßige Lernstandserhebungen in den Hauptfächern. 6 Liessmann (2006, 86 f.) hat in diesem Sinne in Bezug auf die Inflation der Bildungsrankings vom Kindergarten bis zur Hochschule festgestellt: »Was in der Ideologie des Rankings als empirische Bestandsaufname vorhandener Qualitäten und Defizite aufscheint, hat bei genauerer Betrachtung einen durchwegs normativen Charakter. Über die Autorität der Rangliste werden jene Vorgaben gemacht, nach denen Wissenskulturen modifiziert und Bildungsräume reformiert werden, ohne dass diese Vorgaben je explizit gemacht worden wären.« 7 Zwar weist Heiner (2001, 253) zu Recht auf entsprechende Weiterentwicklungen hin, bemerkt jedoch auch, dass etwa die psychologische Diagnostik bis heute im Wesentlichen eine Testdiagnostik ist, die mit standardisierten Kategorien operiert und einem positivistischen Erkenntnismodell folgt – und, sollten Zweifel SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 87 Diagnose und Sozialtechnologie 87 aufkommen, nach dem angesprochenen Prinzip des ›Mehrdesselben‹ operiert. 8 »Testverfahren bspw. verleihen diesem Mythos eine ungerechtfertigte Glaubwürdigkeit, indem diese die Sprache des Mythos zur Beschreibung verwendet – und damit wird der Mythos ›realisiert‹ (oder ›wahr/objektiv gemacht‹) durch die Technologie, die er hervorgebracht hat« (vgl. BOAG 2000, 45). 9 Allen Fans der zeitgenössischen »Bekenntniskultur«, der permanenten »Selbstentzifferung« und dem »Zugang zur inneren Wirklichkeit und zur eigenen Identität« (Lemke 2004, 268f.) sei die Website http://de.tickle.com/ empfohlen. Hier können AnhängerInnen von Persönlichkeitstests, Checklisten und Fragebögen nahezu alle Bedürfnisse und Fragen befriedigen – zu Themen wie Karriere, Entertainment, Liebe, Wissen, IQ und schließlich allen erdenklichen Bereichen einer (vermeintlichen?) Persönlichkeit. 10 Als Beispiel für eine solche Ideologieproduktion vgl. z.B. Luthe (2003). Bei der Lutheschen Bestimmung von Sozialer Arbeit als sozialtechnologisch optimierte Inklusionshilfe dürfen dann auch nicht alle mitmachen, denn »Leute, die Dilettantismus als Leitprinzip beruflicher Identität betrachten, wird man hierbei nicht gebrauchen können« (Luthe 2003, 44), und, nicht nur bei Euch, liebe NachbarInnen, muss scheinbar unbedingt nachgearbeitet werden! »Der in vielen Ausbildungsinstitutionen unter der Rubrik ›Sozialarbeitswissenschaft‹ derzeit zu beobachtende Rückfall in die 70er Jahres des letzten Jahrhunderts (vor allem in Österreich) muß dagegen mit Sorge betrachtet werden« (ebd., 48). 11 Indiz hierfür ist die Flut an Diagnose-, Qualitätserfassungs-, Evaluationsbögen usw., die über die Soziale Arbeit hereingebrochen ist und in der zum Teil banalste Alltagshandlungen (wie z.B. die Begrüßung eines neu ankommenden Jugendlichen) zum Gegenstand der Erfassung werden. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 88 88 Diagnose und Sozialtechnologie Literatur Bauer, Rudolph (2004): Arbeit, Arbeit, Arbeit … . In: Sozial Extra, 28 (1), 6-9. Bitzan, Maria/Bolay, Eberhard/Thiersch, Hans (Hg.) (2006): Die Stimme der Adressaten. Empirische Forschung über Erfahrungen von Jungen und Mädchen in der Jugendhilfe. Weinheim. BOAG (Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung) (2000): Variationen über den Konstruktivismus. Arbeitspapier Nr. 7. http://www.boag-online.de/pdf/boagap07.pdf [Stand: 27.12.2007] Böhnisch, Lothar/Schröer, Wolfgang/Thiersch, Hans (2005): Sozialpädagogisches Denken. Wege zu einer Neubestimmung. Weinheim. Cremer-Schäfer, Helga (2003): ›Wie der Name einer Sache unser Verhalten bestimmt‹ – Eine Erinnerung an Wissen über Diagnostik. In: Widersprüche 23 (6), 53-60. 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Mit diesem Begriff wird versucht die Heterogenität der Bevölkerung in einer Welt, die immer komplexer und pluralistischer geworden ist, zu beschreiben. Konkret bezieht sich der Begriff auf die Vielfalt von Menschen, die sich auf Grund ihrer Unterschiede, die sie zu Individuen machen, ergibt. Ganz im Sinne der Wortbedeutung gibt es aber vielfältige Zugänge und unterschiedliche Sichtweisen zu Diversität. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen sich in vielerlei Hinsicht voneinander unterscheiden und keineR der/dem anderen gleicht (vgl. Stuber 2004, S.15). In diesem Sinne betont Diversity die Individualität und somit die Unterschiedlichkeit jeder/s einzelnen. Dieses breite Verständnis von Diversity birgt allerdings die Gefahr in sich, dass der Begriff wenig konkret bleibt. Es wurden daher unterschiedliche Aspekte formuliert, SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 92 92 Diversity und Ausschluss die dabei unterstützen sollen, die Vielfalt bzw. Unterschiedlichkeiten von Individuen näher zu beschreiben. So werden zum Beispiel die zwei Kerndimensionen Geschlecht und Ethnizität herangezogen, oder es wird zwischen direkt wahrnehmbaren und indirekt wahrnehmbaren Unterschieden differenziert (vgl. Stuber 2004, S.17f; vgl. Finke 2005, S. 39f). Bei diesen Versuchen Vielfalt und Unterschiedlichkeit mit konkreten Aspekten zu beschreiben, besteht die Gefahr, der Komplexitätsreduktion und der Fokussierung auf Unterschiede anstatt auf Vielfalt (vgl. Stuber 2004, S.16). Somit steht nicht mehr die Individualität im Vordergrund, sondern die Kategorie- und Gruppenzugehörigkeit und Bilder von verallgemeinernden Identitäten entstehen. Es entwickeln sich stereotype Annahmen über die Angehörigen der jeweiligen Kategorie, wobei Unterschiede innerhalb der Kategorien ausgeblendet werden (Krell 2004, S. 42). Michael Stuber (2004), »Diversity Pionier« im deutschsprachigen Raum führt in diesem Zusammenhang an: »Ein besonderes Risiko besteht in der Reduzierung der ausgewählten Unterscheidungsfaktoren bei gleichzeitiger Betonung von Unterschiedlichkeit im Sinne von (trennendem) Anderssein. So entstehen allzu leicht klassische Feindbilder zwischen einigen wenigen Gruppen: diejenigen, die der Norm entsprechen, also ›normal‹ sind, und denen, die sich unterscheiden. Stattdessen erweisen sich Ansätze als vorteilhaft, die einerseits darauf verweisen, dass jeder Mensch angesichts zahlloser Faktoren ein einmaliges Individuum darstellt, und gleichzeitig betonen, dass wir vieles gemeinsam haben, uns also in einigen Faktoren ähneln.« (S. 18). Lee Gardenswartz und Anita Rowe, zwei US Amerikanerinnen, die sich bereits seit den 70er Jahren sehr intensiv dem Thema widmen, haben ein Modell entwickelt, die »4 Layers of Diversity«, das einem Verständnis von Vielfalt als Unterschiede UND Gemeinsamkeiten gerecht wird, indem es Vielfalt mög- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Diversity und Ausschluss Seite 93 93 lichst differenziert abbildet und im gleichen Zuge auch hilft, Gemeinsamkeiten sichtbar zu machen (vgl. Gardenswartz /Rowe 2003, S. 31-65). Im Zentrum dieses Modells steht »Personality«, die Persönlichkeit, als einzigartige Kombination persönlicher Charakteristika, die uns alle voneinander unterscheidet und die unsere Interaktion mit anderen auszeichnet. Neben dieser einzigartigen Individualität werden weitere Dimensionen beschrieben bezüglich derer sich Menschen unterscheiden: die »Internal Dimensions«, die »External Dimensions« und die »Organizational Dimensions«. Die am meisten beachteten Internal Dimensions stellen Kategorien dar, die wir selber nicht beeinflussen können, wie Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, physische Einschränkungen, ethnische Herkunft und Hautfarbe (vgl. Gardenswartz /Rowe 2003, S. 31-32). Die External Dimensions sind Faktoren, die ebenso die Persönlichkeit in ihrer Individualität prägen, aber von jeder/m einzelnen mehr oder weniger beeinflussbar sind (vgl. Gardenswartz /Rowe 2003, S. 45). Hier werden Religionszugehörigkeit, Familienstand, Ausbildung, Einkommen, Elternschaft, Erscheinungsbild bzw. Aussehen, Gewohnheiten (wie rauchen, trinken, etc.), Hobbies, geografische Herkunft (wie Wohnort, Gegend der Kindheit, etc.) und Arbeitserfahrung (vgl. Gardenswartz /Rowe 2003, S. 45-52) hinzugezählt. Da Diversity bzw. das Management von Diversity, wie wir weiter unten noch sehen werden, ein zentrales wirtschaftliches Thema für Unternehmen darstellt, haben Lee Gardenswartz und Anita Rowe neben den persönlichen und sozialen Einflüssen auch Dimensionen auf organisatorischer Ebene formuliert, die einen Unterschied im Arbeitsalltag machen: Funktion/Einstufung, Arbeitsinhalte/Tätigkeitsfeld, Abteilung/Einheit/ Gruppe, Dauer der Zugehörigkeit, Arbeitsort, Gewerkschaftszugehörigkeit und Management Status (vgl. Gardenswartz /Rowe 2003, S. 53-57). SatzBakic.qxd 94 27.02.2008 17:19 Seite 94 Diversity und Ausschluss Dieses Modell der 4 Layers of Diversity ist hilfreich, Vielfalt in ihren unterschiedlichen Aspekten sichtbar, benennbar und somit fassbar zu machen und gleichzeitig einer allzu großen Komplexitätsreduktion und der Gefahr von Stereotypisierung und Stigmatisierung entgegen zu wirken. Bei allen Gegensätzlichkeiten werden auch Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten aufgezeigt, was Vorraussetzung für eine Auseinandersetzung mit Unterschiedlichkeiten darstellt. Auch wenn sich allmählich die Haltung breit macht, dass Vielfalt eine Bereicherung darstellt, zieht sie per se keineswegs Harmonie nach sich, sondern ist viel mehr Ursache für Missverständnisse und Konflikte unterschiedlichster Art. Erst wenn diese geklärt sind, können sich die Vorteile von Vielfalt entfalten. In diesem Zusammenhang wurde Diversity Management zu einem zentralen Begriff. Diversity Management Diversity Management bezeichnet das Managementkonzept, das zum Ziel hat, einen professionellen Umgang mit Diversity in Unternehmen zu etablieren und so ein produktives Miteinander im Arbeitsalltag zu fördern (vgl. Finke 2005, S.13). Es geht darum, eine strukturelle und inhaltliche Flexibilität zu erlangen, die Raum für die Entfaltung von Diversität gibt und gleichzeitig hilft die Produktivität zu erhalten bzw. zu steigern (vgl. Stuber 2004, S. 244 f.). Diversity Management bedeutet somit auch personalwirtschaftliches und organisationales Managementhandeln, das vorhandene Privilegien und Benachteiligungen sichtbar macht und abbaut, um die Vielfalt der MitarbeiterInnen betriebswirtschaftlich besser entwickeln und nutzen zu können. Dabei gilt es sowohl individuelle Unterschiede als auch Gruppenzugehörigkeiten (z.B. Zugehörigkeit zu den oben erwähnten Dimensionen) zu berücksichtigen. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 95 Diversity und Ausschluss 95 Diversity & Diversity Management – und ihre US amerikanische Herkunft Diversity und Diversity Management sind zwei Begriffe, die ursprünglich aus den USA kommen, einem traditionellen Einwanderungsland, das auf Grund dessen immer mit der Notwendigkeit konfrontiert war ein Mit- oder zumindest Nebeneinander auf Grund bzw. trotz der kulturellen und sozialen Vielfalt zu finden. Dieser Umstand in Kombination mit der US amerikanischen Human Rights Bewegung führte dazu, dass die Antidiskriminierungsidee schon früh gesetzlich eingebunden und somit auch gerichtlich einforderbar wurde (z.B. Civil Rights Act 1964; Equal Employment Opportunity Act 1972). Dadurch kam auch der Aspekt der Risikominimierung bzw. Vermeidung von Klagen wegen individueller Diskriminierung als wesentlicher Grund für Unternehmen hinzu, ein Miteinander trotz aller Unterschiedlichkeiten zu unterstützen. Diversity Management ist somit zwar nicht direkt, aber womöglich indirekt auch gesetzlich motiviert (vgl. Koall/ Bruchhagen 2005, S. 17-20; Bendl, 2004). David A. Thomas und Robin J. Ely (1996) haben eine Reihe US amerikanischer Unternehmen und deren Umgang mit Diversity untersucht und in der historischen Betrachtung unterschiedliche Phasen in der Entwicklung von Diversity Management beschrieben. (vgl. Engel 2004, S.15-15; vgl. Koall/Bruchhagen 2005, S. 22-24): Eine erste Phase zeichnet sich dadurch aus, dass die Norm der Fairness und Gerechtigkeit besteht, sowie die Übereinkunft, dass niemand diskriminiert werden darf. Die tatsächliche Umsetzung dessen ist aber von der individuellen Konfliktbereitschaft und -fähigkeit abhängig. D.h. es existiert eine Dominanzkultur, die Normen und somit unhinterfragt Normalität vorgibt, in die sich sämtliche Minoritäten zu integrieren haben. Anderssein wird als Widerstand oder Unprofessionalität gewertet. Alle – Frauen, Farbige, SatzBakic.qxd 96 27.02.2008 17:19 Seite 96 Diversity und Ausschluss Homosexuelle, u.a. – haben die Möglichkeit in den Organisationen Fuß zu fassen, vorausgesetzt sie geben dem Anpassungszwang der Mehrheitsangehörigen1 nach und ordnen sich den vorhandenen Standards unter. ZuwandererInnen verleugnen ihre kulturelle Herkunft und passen sich den westlichen Werten an, homosexuelle Menschen, verheimlichen ihre sexuelle Orientierung, um als heterosexuell zu gelten, Frauen unterstützen patriarchale Strukturen und somit den Ausschluss von gleichgeschlechtlichen Personen, etc.. In einem nächsten Schritt werden zum einen durch die amerikanische Gesetzgebung spezielle Tätigkeitsfelder für Minderheitenangehörige eingeführt, um Sanktionszahlungen zu vermeiden, andererseits wird entdeckt, dass das Andere bzw. die Anderen für den Ausbau von KundInnenmärkten eingesetzt werden kann. Angehörige von Minderheiten werden damit interessant für Unternehmen. In dieser zweiten Phase wird gezielt rekrutiert, wobei weiterhin von dem Besonderen, dem Anderen ausgegangen und die Differenzen betont werden. Minoritätsangehörige sind für jeweils spezifische Zielgruppen zuständig, um neue KundInnenmärkte zu erschließen und zu betreuen, oder haben Aufgabenbereiche mit niedrigen sozialen Status inne. Wenn hier auch der besondere Nutzen von Minoritätsangehörigen sichtbar oder gar betont wird, so fördert das gleichzeitig die Bildung von Nischen und somit auch die (Re-)Produktion von Stereotypen. Erst in der dritten Phase geht es um ein Erlernen eines effizienten Umgangs mit Unterschiedlichkeiten. Hier wird die Integration minorisierter Personen angeregt, auch durch Veränderungen der Organisationen und struktureller Rahmenbedingungen, wie der Kommunikationsbeziehungen und hierarchischer Positionierungen. Anderssein gilt nicht als Widerstand gegen die Dominanzkultur oder fachliches Defizit, sondern wird unter dem Aspekt einer grenzerweiternden Perspektive wertgeschätzt. Das Managementkonzept »Diversity Management« ist entstanden. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Diversity und Ausschluss Seite 97 97 Entsprechend dem »american way of life« basiert dieses Konzept auf dem Leistungsgedanken. Die individuelle Leistung wird betont, denn sie ermöglicht gesellschaftliche Durchlässigkeit. (vgl. Koall/Bruchhagen 2005, S.17). Wenn die Leistung im Sinne der Wirtschaftlichkeit stimmt, ist die Gruppenzugehörigkeit per se unwesentlich und es gilt lediglich eine gemeinsame Basis zu finden im Arbeitsalltag. Der politisch korrekte Anspruch Vielfalt nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu fördern und das Positive in Diversity zu sehen, ist hinzugekommen als ein wesentlicher Aspekt, um das Management von Vielfalt und Unterschiedlichkeit zu unterstützen. Die zunehmende Leistungs- und Marktorientierung in Kombination mit einer steigenden sichtbaren Vielfalt der Bevölkerung auf Grund der demographischer Entwicklungen (vgl. Stuber 2004, S. 110 – 134) lässt Diversity und Diversity Management auch in Europa zu relevanten Themen werden. »Managing Gender und Diversity« – Diversity Management im deutschsprachigen Raum Betrachtet man die Entwicklung von Diversity Management im deutschsprachigen Raum, so fällt auf, dass oft von »Managing Gender und Diversity« gesprochen wird und die Dimension Gender somit explizit hervorgehoben wird, bei einschlägigen Publikationen, bei der Benennung von Gender- und Diversitylehrgängen, bei der Bezeichnung von Gender- und Diversitybeauftragten, bei der Titulierung von Lehrveranstaltungen, etc. Diese Tatsache resultiert aus der spezifischen Entwicklung und den gesetzlichen Bestimmungen im deutschsprachigen Raum im Vergleich zu den USA: Die 80er und 90er Jahre in Westeuropa waren geprägt von Chancengleichheitsprogrammen, die auf die Gleichstellung der Geschlechter abzielten und speziell die Frauenförderung voran- SatzBakic.qxd 98 27.02.2008 17:19 Seite 98 Diversity und Ausschluss trieben. Die Bedeutung von Gender Mainstreaming, wurde bei der UN Weltfrauenkonferenz 1985 entwickelt und hielt 1996 Einzug in die EU, wo es im Artikel 3 des Amsterdamer Vertrages Niederschlag fand. Es wurde damit zur Aufgabe aller EU Staaten Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern. Eine Anforderung, der Österreich im Jahr 2000 explizit nachkam, indem es ein Gleichbehandlungsgesetz für Frauen und Männer beschloss (vgl. Bendl 2004, S. 46-53). Erst in demselben Jahr verabschiedete die EU auch eine Richtlinie zum Verbot der Diskriminierung im Arbeitsbereich auf Grund der Rasse und der ethnischen Herkunft und schuf auch einen Rahmen gegen Diskriminierung auf Grund von Behinderung, sexueller Orientierung, der Weltanschauung, der Religion und des Alters. Das führte 2004 zu einer Novellierung des Gleichbehandlungsgesetzes in Österreich, das über die Gleichbehandlung von Mann und Frau hinaus geht und auch Menschen vor Diskriminierung in der Arbeitswelt auf Grund von ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Weltanschauung, des Alters und der sexuellen Orientierung schützen soll (vgl. Gutschlhofer 2006). Ganz im Gegensatz zu den USA lag der inhaltliche Fokus der Gleichbehandlung in Europa also auf dem Genderaspekt und erst aufgrund EU-rechtlicher Vorgaben erfolgte eine gesetzliche Gleichstellung in Bezug auf weitere Diversityaspekte, wobei die Bedeutung des Genderaspektes nach wie vor sichtbar in der Bezeichnung mitgeführt wird. Von der Wirtschaft in die soziale Arbeit Auch im Bereich der sozialen Arbeit rückt die Heterogenität der Bevölkerung auf KundInnen- bzw. KlientInnenseite ins Bewusstsein und wird immer mehr zum Thema. Vor allem der steigende Anteil an MigrantInnen, scheint bei den Mitarbei- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Diversity und Ausschluss Seite 99 99 terInnen von sozialen Institutionen verunsichernd und irritierend zu wirken. Gleichzeitig besteht das Bemühen auch sozial benachteiligte Menschen aus anderen Herkunftsländern gut betreuen zu können. Der Begriff Diversity – Vielfalt – findet im psychosozialen Bereich weitgehend eine reduktionistische Verwendung und wird oft als Synonym für Interkulturalität verwendet.2 Bei diesem Zugang wird allerdings leicht übersehen, dass kultureller Hintergrund bzw. Herkunft nur ein Aspekt von Diversity ist, auf Grund dessen sich Menschen unterscheiden. Weitere Aspekte, wie Geschlecht, Alter, Behinderung, sexuelle Orientierung, etc., die die Identität von Personen prägen, werden ausgeblendet. Vergleichen wir die beschriebene Entwicklung des Einzuges von Diversity in amerikanische Unternehmen weiter vorne in diesem Artikel, so scheint der Verlauf im deutschsprachigen Raum im Bereich der sozialen Arbeit diesem sehr ähnlich zu sein. Nachdem MigrantInnen bereits vereinzelt in Institutionen des psychosozialen Bereichs vorgedrungen sind, vorausgesetzt sie entsprechen den vorhandenen Werten und Standards – oder anders ausgedrückt sind gut assimiliert, so dürfte nun Phase 2 eingetreten sein. Auch die soziale Arbeit ist auf Grund der zunehmenden Heterogenität der Bevölkerung mit neuen Markterfordernissen konfrontiert. Soziale Einrichtungen sind bemüht der Situation damit zu begegnen, dass sie danach streben, vermehrt MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund und Fremdsprachenkenntnissen anzuwerben. Die Anforderungen des »Marktes« lassen MigrantInnen als wertvolle MitarbeiterInnen erscheinen, die nun gezielt rekrutiert werden, um ihresgleichen gut betreuen und beraten zu können. Das Anforderungsprofil: Menschen mit einschlägiger Ausbildung, mit sehr guten Deutschkenntnissen, Migrationshintergrund und einschlägigen Sprachkenntnissen. Dieses Vorgehen zieht aber per se keine diversifizierte Unternehmenskultur nach sich – ganz im Gegenteil, es fördert Monokultur trotz ausländischer MitarbeiterInnen. Menschen SatzBakic.qxd 100 27.02.2008 17:19 Seite 100 Diversity und Ausschluss mit interkulturellem Hintergrund werden rekrutiert, unter dem Aspekt der Nützlichkeit für die soziale Institution. Es werden »die Besten« ausgesucht, die sich auch dadurch auszeichnen, dass sie im Großen und Ganzen der Mehrheitskultur entsprechen, abgesehen von ein bis zwei Zusatzqualifikationen. Oder wie viele Mitarbeiterinnen in sozialen Institutionen mit Kopftuch kennen Sie? Obwohl Du anders bist, darfst Du dazu gehören, aber du darfst nur soweit anders sein, wie es zu unseren Werten passt. Alles an Abweichung, was darüber hinaus geht, erzeugt einen Anpassungsdruck, der in der Regel von den Betroffenen selbst bewältigt werden muss (vgl. Pauser 2007, S.56), wenn sie dazu gehören wollen. Hinzu kommt, dass auf Grund des anders Seins, andere Bereiche zugeordnet werden. Die Kollegin aus dem Iran ist meist für Interkulturelles und MigrantInnen zuständig. Durch diese Art der Ausgliederung wird einer Auseinandersetzung seitens der Mehrheitskultur ausgewichen. Wenn auch das Bewusstsein besteht, dass das Andere wichtig und nützlich ist, so birgt die momentane Vorgehensweise die Gefahr des Ausschlusses in sich – des Ausschlusses von Vielfalt. Diversity statt Ausschluss in der sozialen Arbeit Für einen kompetenten Umgang mit Diversity, der Vielfalt sichtbar macht und (be-)fördert und somit hilft Ausschluss entgegen zu wirken, sind folgende Aspekte hervorzuheben, die meiner Meinung nach von zentraler Bedeutung sind und über die hier beschriebenen Bestrebungen in der sozialen Arbeit hinaus gehen. Zum einen ist Diversity ein breiter Begriff, der, wie erwähnt, mehr meint als Interkulturalität. Diversity betont nicht nur die Unterschiedlichkeiten unter Menschen, sondern auch die Vielfalt im Menschen. Türken sind nicht nur Türken, Türken sind auch Männer, sie sind alt oder jung, homo- oder heterose- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Diversity und Ausschluss Seite 101 101 xuell, mit oder ohne physischer Behinderung, Väter, Großväter oder allein stehend, etc.. Konkret bedeutet das auch für die soziale Arbeit mit ihrem Diversity Fokus auf Interkulturalität den Blick zu öffnen für die vielfältigen Lebensläufe von MigrantInnen, für die Vielfalt in ihrer Person und die Aspekte, die sie ausmachen (vgl. Vahsen 2000, S.119). Es gilt zu erkennen, dass es auch in der sozialen Arbeit tradierte Bilder über das Zusammenleben in MigrantInnenfamilien gibt, über Männer und Frauenrollen und religiös fixierte Zuschreibungen, die es zu überprüfen gilt, um Stereotype, Vorurteile und (unbewusste) Diskriminierungen aufzudecken (vgl. Vahsen 2000, S18-19). Zum anderen bedeutet Diversity »Gemeinsamkeiten UND Unterschiede«. Die Kunst besteht darin Gemeinsamkeiten im Auge zu behalten, ohne Unterschiedlichkeiten zu leugnen. Minoritätsangehörige unterscheiden sich von der herrschenden Mehrheit. Damit sind hier allerdings nicht die nahezu romantischen Projektionen auf das Andere gemeint, die die anderen als exotisch, anziehend, gastfreundlich, sozial, spontan, etc. erscheinen lassen (vgl. Gaitanides 2005), sondern die Tatsache, dass es anzuerkennen gilt, dass Minderheitsangehörige auf Grund ihrer Gruppenzugehörigkeit andere Erfahrungen machen als Mehrheitsangehörige – konkret: Diskriminierungserfahrungen (vgl. Vahsen 2000, S.70f). Minderheitenangehörige begegnen häufig Situationen des Ausschlusses. Ihre Gruppenzugehörigkeit auf Grund der ethnischen Herkunft, Hautfarbe, körperlicher Behinderung, etc. ist permanent sichtbar – für sich und für andere. Sie erleben im Alltag Stresssituationen und spezifische Risiken, vor denen Mehrheitsangehörige verschont bleiben, bis hin zur tätlichen Angriffen und Beschimpfungen auf der Straße einzig aufgrund ihres »anders Sein«. Das führt in weiterer Folge zu natürlichen Grenzen der Einfühlung auf Seiten der ProfessionistInnen der Mehrheitskultur, dessen sie sich bewusst sein sollten. Siebert (1996) formuliert (zit. nach Vahsen 2000 S. 65): SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 102 Seite 102 Diversity und Ausschluss »Nicht das Verstehen um jeden Preis, die totale Empathie ist wünschenswert (...), sondern die Einsichten in die Grenzen des Fremdverstehens.« Nicht der/die andere ist fremd, sondern wir sind einander fremd und das gilt es auszuhalten, um dann einen gemeinsamen Weg im Sinne einer gleichberechtigten Integration zu finden. Darüber hinaus ist Diversity Management auf allen Ebenen zu berücksichtigen. Die Orientierung an sozialer Gerechtigkeit ist gerade im Bereich der sozialen Arbeit sehr präsent und politische Korrektheit wird groß geschrieben. Das hat aber leider nicht automatisch das Verschwinden von Vorurteilen und Diskriminierung zur Folge. Vorurteile und Diskriminierung werden dadurch lediglich tabuisiert und subtil – meist unbewusst ausgelebt. Anstatt einer Ausgrenzung der anderen kommt es zu einer Bevorzugung der Eigengruppe (vgl. Devine, Plant, Blair 2001). Diese Mechanismen spiegeln sich auch in den Systemen der professionellen Institutionen wider, die durch ihre Ausrichtung an tradierten Mehrheitsnormen implizit andere ausschließen (vgl. Vahsen, 2000). Es bedarf somit auch Veränderungen auf organisatorischer Ebene mit Aus- und Rückwirkungen auf die bestehenden sozialen Normen: Die interkulturelle Orientierung einer Institution beginnt beim Leitbild und impliziert eine entsprechende Zusammensetzung der Personals, schließt fragwürdige Arbeitsteilung aus und erfordert Partizipation und Transparenz (Auerheimer 2005, S.19). Das gilt nicht nur für eine interkulturelle Öffnung, sondern ist ein wesentlicher Aspekt für Diversity Management auf institutioneller Ebene. »Simply recruiting people from different backgrounds is not enough; there has to be a complementary effort to support those individuals once they have entered the organization« (Johns/Jordan, 2006, S.1274). SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 103 Diversity und Ausschluss 103 Diversity und soziale Arbeit – ein politischer Anspruch? Sozialarbeit mit einem politisch-reflexiven Anspruch hat schon lange das Problem struktureller Unterdrückung in den unterschiedlichsten Bereichen erkannt und dennoch ist zu beobachten, wie strukturelle und politische Entwicklungen es geschafft haben, soziale Arbeit zu einem Bereich zu machen, in dem administrative und evaluative Tätigkeiten und Fähigkeiten immer mehr an Bedeutung gewinnen – und Politisches aus dem Berufsalltag verschwindet (vgl. Johns/Jordan 2006). »The radical agenda of anti-oppressive, inclusive and empowering practice has been sidelined.« (Johns/Jorda, 2006, S.1273). Stellt sich die Frage, ob sich diese Tendenz nicht auch im Bereich Diversity und soziale Arbeit widerspiegelt. Statt Integrationsbewusstsein zu fördern, wird ein utilitaristischer Zugang gewählt. Aber Diversity ist nicht nur eine wirtschaftliche Ressource, sondern hat auch einen politischen Anspruch. Dazu gehört es, strukturelle Unterdrückung aufzuzeigen und aktiv Ausschlussmechanismen und Diskriminierung in den eigenen Reihen zu identifizieren. Stehen wirtschaftliche Aspekte und das Ziel der Effizienzsteigerung im Vordergrund wird nicht nur der Status Quo des Verhältnisses von Mehrheitsund Minderheitsangehörigen hingenommen, sondern auch darauf geachtet, dass die Stellung der Majorität und tradierte Ausschlussmechanismen nicht gefährdet werden. Es gilt einen Diskurs zu führen, der der Komplexität des Themas Vielfalt mit all seinen Aspekten adäquat ist und das Ziel einer wahrhaftigen Integration und eines Miteinander einer immer heterogener werdenden Bevölkerung hat. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 104 104 Diversity und Ausschluss Anmerkungen 1 Die Begriffe Mehrheit und Majorität wird in weiterer Folge nicht nur im Sinne einer zahlenmäßigen Mehrheit verwendet, sondern auch unter Berücksichtigung des Machtverhältnisses. In diesem Sinne ist in Bezug auf Gender zum Beispiel die Gruppe der Männer als Majorität bzw. Mehrheit zu verstehen, wenn sie auch anzahlmäßig den Frauen gegenüber unterlegen sind. 2 Diese Beobachtung spiegelt sich auch in geförderten Sozialprojekten zu Diversity wider, wie Diversity@Care, women.diversity.net, siqua, etc. Literatur Auernheimer, Georg (2005): Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. In: Migration und Soziale Arbeit 2005/1, S. 15 – 22. 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SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 106 Ideologiekritik und Theoriebildung Albert Scherr Jede Praxis, also auch die Praxis der Sozialen Arbeit, basiert auf gesellschaftlichen »Wirklichkeitsmodellen« (Schmidt 2003), auf Annahmen darüber, was der Fall ist und wie angemessen gehandelt werden kann sowie auf Normalitätsmodellen und Normen, mit denen begründet wird, was bewirkt werden soll. Wirklichkeitsmodelle, Normalitätsmodelle und Normen verändern sich mit der historischen Entwicklung und sind prinzipiell kontrovers, wie sich an unterschiedlichen Beispielen zeigen lässt: So hat sich inzwischen die Vorstellung einer prinzipiellen Gleichheit von Männern und Frauen und die normative Überzeugung durchgesetzt, dass Gleichbehandlung anstrebenswert ist; Homosexualität gilt nicht mehr, wie noch Anfang der 1970er Jahre, als behandlungsbedürftige psychische Krankheit, sondern als eine normale und zu akzeptierende Form menschlicher Sexualität; PädagogInnen haben gelernt, die Anwendung pädagogischer Gewalt nicht länger als unverzichtbares Erziehungsmittel zu betrachten, sondern als unzulässige Form der Misshandlung zu bewerten. Veränderungen gesellschaftlich einflussreicher Sichtweisen werden in der Wissenssoziologie nicht als eine Folge rationaler Lernprozesse betrachtet, in denen sich das bessere Wissen gegen als falsch erkanntes durchsetzt, sondern auf ihren Zusammenhang mit gesellschaftsstrukturellen Entwicklungen und mit den Interessen sozialer Gruppen hin untersucht. Es wird danach gefragt, was bestimmte Sichtweisen der sozialen Wirklichkeit ermöglicht, welche Auswirkungen diese haben und was Veränderungen auslöst. (vgl. Knoblauch 2005) Bereits die ältere Wissenssoziologie verbindet die Frage nach dem sozial gültigen Wissen mit der Untersuchung von Machtverhältnissen. In seiner klassischen Studie »Außenseiter« thematisiert Howard S. Becker die »Definitionsmacht« sozialer SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 107 Ideologiekritik und Theoriebildung 107 Gruppierungen, die bestimmte Vorstellungen über normales und abweichendes Verhalten etablieren und durchsetzen (vgl. Becker 1971, 133ff.). Peter L. Berger (1973, 3ff.) argumentiert, dass der »Zwangscharakter« der Gesellschaft« nicht nur in Gesetzen und Sanktionen begründet ist, sondern auch in ihrer Macht, bestimmte Sichtweisen der Wirklichkeit als objektiv gültige zu setzen. Diskursanalyse in der von Michel Foucault begründeten Tradition (vgl. Keller et al. 2006) fragt dezidiert nach den Macht- und Herrschaftseffekten von ›Macht-WissensKomplexen‹: Wissen und Macht sind demnach keine Gegensätze, sondern bestimmtes Wissen ermöglicht und begründet bestimmte Formen der Macht- und Herrschaftsausübung. Ideologiekritik – ein in der Traditionslinie der Marx’schen Kapitalismuskritik zu verortendes und inzwischen als eher unmodern geltendes Unternehmen – verfolgt ein vergleichbares Anliegen (vgl. als einführenden Überblick Haug 1992): Hier geht es zentral darum, aufzuzeigen, dass und wie gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse durch die jeweils vorherrschenden Wirklichkeitsmodelle gerechtfertigt werden: Ideologien sind im Kern Rechtfertigungslehren, die die Notwendigkeit einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung, der sie kennzeichnenden Strukturen sozioökonomischer Ungleichheit und der politischen Machtverhältnisse behaupten. Naturalisierung und allgemeines Interesse Eine Grundfigur ideologischen Denkens ist die der Naturalisierung sozialer Verhältnisse: Eine bestimmte Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird damit gerechtfertigt, dass sie den vermeintlich naturgegebenen Eigenschaften von Menschen bzw. naturgesetzlichen Prinzipien entspricht. Auch die aktuelle Programmatik des Neoliberalismus basiert auf solcher Naturalisierung: Die zentrale Forderung nach einer marktökonomischen Steuerung aller gesellschaftlichen Teilbereiche SatzBakic.qxd 108 27.02.2008 17:19 Seite 108 Ideologiekritik und Theoriebildung wird u. a. mit einer Darstellung von Globalisierung als ein naturgesetzlicher Prozess verbunden, in dem nationale Grenzen vermeintlich bedeutungslos werden sowie mit der Behauptung, dass sich die Überlegenheit des Marktes als rationales Steuerungsinstrument für die Koordination des Handelns von Menschen, deren Grundantrieb die egoistische Verfolgung eigener Interesse sei, zweifelsfrei erwiesen habe (vgl. etwa Willke 2003). Eine weitere klassische Grundfigur ideologischen Argumentierens besteht darin, dass spezifische Interessen als Allgemeine, als das gemeinsame wohlverstandene Eigeninteresse aller Gesellschaftsmitglieder dargestellt werden. In der Entstehungsphase moderner Gesellschaften war es v. a. die bürgerlichen Ideen der (Vertrags-)Freiheit und (rechtlichen) Gleichheit, die als Ausdruck allgemeiner menschlicher Naturrechte und als Grundlage einer vernünftigen Gesellschaftsgestaltung behauptet wurden. Ideologiekritik zielt darauf bezogen auf den Nachweis, dass die bürgerlichen Freiheiten in dem Maße nicht Jedermann, sondern nur partikularen Interessen dienen, wie die rechtliche Gleichheit durch ökonomische Ungleichheit konterkariert und die formelle Freiheit durch ökonomische Zwänge und politische Machtverhältnisse in einer Weise eingeschränkt wird, die den Interessen der Lohnabhängigen und der Armen widersprechen: Das Gesetz »in seiner erhabenen Gleichheit verbietet es Reichen wie Armen, unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen«, so eine klassische Formulierung von Anatole France (1925, 116). Angesichts des mit neoliberalen Argumenten legitimierten Abbaus sozialstaatlicher Leistungen bei gleichzeitiger Stärkung repressiver Instrumente staatlicher Kontrolle und Sanktionierung – in Hinblick auf die USA hat Loic Wacquant (2006) den Umbau vom Wohlfahrtsstaat zum strafenden Staat und die Kriminalisierung der Armut detailliert beschrieben – besteht gegenwärtig ersichtlich hinreichender Anlass für Ideologie- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 109 Ideologiekritik und Theoriebildung 109 kritik. Dabei kann aber, wie im Folgenden deutlich werden soll, die Soziale Arbeit selbst aus einer ideologiekritischen Thematisierung nicht ausgeklammert werden. Gibt es eine Garantie des richtigen Standpunkts der Kritik? Dass Ideologiekritik gegenwärtig gleichwohl nicht en vogue ist, hängt mit einem zentralen Problem der klassischen Ideologiekritik zusammen: Wer ein bestimmtes Wirklichkeitsmodell mit der klassischen Marx’schen Formel als »notwendig falsches Bewusstsein« qualifiziert, muss für sich in Anspruch nehmen, das falsche vom richtigen Bewusstsein unterscheiden zu können, also über einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu verfügen. Niemand, auch der Ideologiekritiker selbst, kann aber beanspruchen, über einen Standpunkt zu verfügen, der außerhalb gesellschaftlicher Einflussnahmen auf sein Denken steht. Ideologiekritik setzt sich also selbst dem Verdacht aus, auf ideologischen – nicht rational begründbaren – Annahmen zu beruhen. Dies hat u. a. bei Michel Foucault (1992, 31) zu einer Distanzierung von der Programmatik der Ideologiekritik geführt: »Man möchte nicht wissen, was wahr oder falsch, begründet oder nicht begründet, wissenschaftlich oder ideologisch, legitim oder missbräuchlich ist. Man möchte wissen, welche Verschränkungen zwischen Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen aufgefunden werden können, welche Verweisungen und Stützungen sich zwischen ihnen entwickeln, wieso ein bestimmtes Erkenntniselement – sei es wahr oder wahrscheinlich oder ungewiss oder falsch – Machtwirkungen annimmt und wieso ein bestimmtes Zwangsverfahren rationale, kalkulierbare, technisch effiziente Formen und Rechtfertigungen annimmt.« (ebd.: 31) SatzBakic.qxd 110 27.02.2008 17:19 Seite 110 Ideologiekritik und Theoriebildung Verzichtet man nun aber darauf, ganz generell die Verzichtbarkeit von Zwangsmechanismen und die Überwindbarkeit von Machtwirkungen zu behaupten, dann stellt sich an Foucault und die Diskursanalyse die Frage, was eine Kritik bestimmter Zwangsmechanismen, Erkenntniselemente und Machtwirkungen ermöglicht. Denn Foucault teilt mit der klassischen Ideologiekritik das Motiv der Kritik: Auch bei ihm geht es darum, gegebene Herrschaftsverhältnisse in Frage zu stellen und nichts als wahr zu akzeptieren »was eine Autorität als wahr ansagt« oder »weil eine Autorität es als wahr vorschreibt« (ebd.: 14). Folglich steht Diskursanalyse ebenso wie Ideologiekritik vor der Aufgabe, die Kriterien auszuweisen, die sie für die Begründung einer kritischen Perspektive in Anspruch nimmt. Kritik kann sich entsprechend auf Regeln wissenschaftlichen Argumentierens beziehen: Eine bestimmte Sichtweise wird in Frage gestellt, weil ihre theoretischen und empirischen Begründungen nicht überzeugen. Ein anderer Modus der Kritik akzentuiert die Diskrepanz zwischen den normativen Prinzipien, die politisch in Anspruch genommen werden, und den Effekten gesellschaftspolitischer Entscheidungen, also etwa zwischen Gleichheits- und Gerechtigkeitsnormen und der Realität ungleicher und ungerechter Verhältnisse. In beiden Fällen gilt, dass Kritik keineswegs voraussetzen kann, aber auch nicht voraussetzen muss, »selbst im garantierten Besitz der einen, absoluten und ewigen Wahrheit zu sein«; sie muss für sich beanspruchen können, »die besseren Argumente zu haben« (Haug 1992: 118). Ideologiekritik besteht also darin, in den Streit um die besseren Argumente einzutreten und dabei Begründungen und Rechtfertigungen von sozialen Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnissen unter den Verdacht zu stellen, auf rational nicht begründbaren Prämissen und Setzungen zu basieren. Dies schließt eine selbstkritische Perspektive nicht aus, sondern ein: Angemessene Grundlage von Ideologiekritik kann kein Dogmatismus sein, SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 111 Ideologiekritik und Theoriebildung 111 der sich gegen Zweifel an der Tragfähigkeit eigener Überzeugungen abschottet, sondern nur die Bereitschaft, sich auf den offenen und unabschließbaren Prozess der kritischen Hinterfragung und argumentativen Begründung immer wieder erneut einzulassen. Wozu Ideologiekritik in der Sozialen Arbeit? Moderne Soziale Arbeit hat sich in kritischer Auseinandersetzung auch mit ihrer eigenen Tradition entwikkelt, einer Tradition, in der sich Soziale Arbeit immer wieder als Anwalt der gesellschaftlichen Ordnung gegenüber denjenigen verstanden hat, die sich den ökonomischen Zwängen, den rechtlichen Normen und den gesellschaftlichen Normalitätserwartungen nicht anpassen können oder wollen. So fasst August Aichorn in seiner klassischen Studie zur Fürsorgeerziehung die Bezugsproblematik (Aichorn 1951) als »Verwahrlosung« und als »Dissozialenproblem« (ebd.: 39) und die Zielsetzung als »Aufrichten des sozial gerichteten Ichideals, das heißt im Nachholen jenes Stücks der individuellen Entwicklung, das dem Verwahrlosten zur vollen Kulturfähigkeit gemangelt hat« (ebd.: 200). Hans Scherpner bestimmt noch Anfang der 1960er Jahre die »Unangepasstheit des Einzelnen an die materiellen Lebensbedingungen« und seine »Unzulänglichkeit gegenüber der moralischen Ordnung der Gemeinschaft« als Bezugsproblem sozialarbeiterischer Interventionen (Scherpner 1962, 122). Die Erfahrung der Verstrickung der Sozialen Arbeit in die nationalsozialistische Politik der Aussonderung und Vernichtung der »Asozialen« und »Gemeinschaftsschädlinge« hatte also zunächst keineswegs zu einer grundlegenden Infragestellung eines solchen Verständnisses Sozialer Arbeit geführt, das auf Veränderungen »problematischer« Verhaltensweisen von Individuen zielt, ohne dass eine Hinterfragung der gesellschaftlichen Maßstäbe erfolgt, die SatzBakic.qxd 112 27.02.2008 17:19 Seite 112 Ideologiekritik und Theoriebildung jeweiligen Problemwahrnehmungen zu Grunde liegen. Dies ändert sich erst in dem Maße, wie Versuche zu einer gesellschaftstheoretisch fundierten Theorie der Sozialen Arbeit vorgelegt werden und an Einfluss gewinnen. So formuliert Klaus Mollenhauer (1964: 19) programmatisch, dass Sozialpädagogik »Bestandteil des pädagogischen Systems, das durch die industrielle Gesellschaft hervorgebracht wurde« sei und deshalb gelte, dass »alles, was über sie zu sagen ist, .... sinnvoll auch nur in Bezug auf diese Gesellschaft gesagt werden« kann. Dabei weist er auf den konstitutiven und spezifischen Zusammenhang von gesellschaftlich bedingten Problemlagen und sozialpädagogischen Interventionen hin: »Von ihrem Beginn an und in allen ihren Formen war sie ein Antworten auf Probleme dieser Gesellschaft, die der Sozialpädagoge zu Erziehungsaufgaben umformulierte.« Daran anschließend kann Soziale Arbeit – im Sinne einer ersten, abstrakt-allgemeinen theoretischen Bestimmung – als eine gesellschaftliche Form der Bearbeitung von solchen Auswirkungen gesellschaftsstrukturell bedingter Problemlagen auf die Lebenssituation von Individuen und Familien verstanden werden, die die Inanspruchnahme von Hilfeleistung und/oder die Zuschreibung von Hilfsbedürftigkeit veranlassen.1 Folglich kann eine zentrale Aufgabe von Theoriebildung in der Sozialen Arbeit darin gesehen werden, den gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang der Sozialen Arbeit zur Bearbeitung zugewiesenen Problemlagen sowie gesellschaftliche Festlegungen zu analysieren, mit denen legitime von unberechtigten Hilfeerwartungen und vermeintlich angemessene von vermeintlich unangemessenen Formen des Helfens unterschieden werden. Theorie zielt dann darauf, Soziale Arbeit als eine gesellschaftlich situierte und gesellschaftlich strukturierte Praxis zu untersuchen und dabei die Bedingungen und Möglichkeiten, aber auch die strukturellen Grenzen sozialarbeiterischer Interventionen zu bestimmen. Dabei kann auf eine ideologiekritische Perspektive nicht verzichtet werden. Dies SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 113 Ideologiekritik und Theoriebildung 113 gilt nicht ›nur‹ in Hinblick auf neoliberale Diskurse, die eine affirmative Darstellung marktökonomischer Prinzipien mit Forderungen nach einer verstärkten Kontrolle und Sanktionierung derjenigen verbinden, die an den Zwängen und Zumutungen des sich modernisierenden Kapitalismus scheitern. Denn Soziale Arbeit findet sich, was im Weiteren zu erläutern sein wird, in einer Situation vor, in der ideologische, etwa paternalistische, personalisierende und moralisierende Sichtweisen nicht nur als Traditionsbestand einflussreich sind, sondern durch das grundlegende Arrangement der individualisierenden Bearbeitung gesellschaftlich bedingter Problemlagen immer wieder erneut nahe gelegt werden. Soziale Arbeit als Verschiebung Um als SozialarbeiterIn handlungsfähig zu sein und zu bleiben, um den beruflichen Alltag bewältigen zu können, ist es erforderlich, mit den jeweils verfügbaren Mitteln auf diejenigen Anforderungen und Problemlagen zu reagieren, die sich im Kontext der jeweiligen Praxis stellen. Dazu ist es unverzichtbar anzuerkennen, dass Soziale Arbeit an die zentralen Ursachen der Probleme, mit denen sie konfrontiert ist, nicht heranreicht: Zum Beispiel kann Soziale Arbeit mit arbeitslosen Jugendlichen zwar versuchen, deren individuelle Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu verbessern, sie hat aber ersichtlich nur wenig Einfluss auf die Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik. Soziale Arbeit verfügt auch nicht über Möglichkeiten, eine Politik der Armutsbekämpfung durch Umverteilung durchzusetzen, sie kann sich nur darum bemühen, die konkrete Lebenssituation ihrer jeweiligen Adressaten zu verbessern.2 Dabei ist Soziale Arbeit vielfach mit Adressaten konfrontiert, die sich durchaus »unvernünftig« und »ärgerlich« verhalten, indem sie sich etwa schulischen oder beruflichen SatzBakic.qxd 114 27.02.2008 17:19 Seite 114 Ideologiekritik und Theoriebildung Möglichkeiten verweigern, und gelegentlich mit solchen, die sich selbst und andere beschädigen, etwa durch Drogengebrauch, durch Vernachlässigung von Kindern oder durch Gewaltausübung. Dass die Armen und Benachteiligten nicht ›die besseren Menschen‹ sind und eine Haltung der Sympathie mit denjenigen, die den Normalitätserwartungen einer geordneten bürgerlichen Lebensführung nicht entsprechen können, mitunter an ihre Grenzen stößt, gehört zu den Grunderfahrungen jeder SozialarbeiterIn. Eine Theorie der Sozialen Arbeit hat entsprechend in Rechnung zu stellen, dass soziale Ungleichheit und soziale Ausgrenzung nicht nur zu objektiv benachteiligten Lebensbedingungen führen, sondern auch die Subjektivität der Benachteiligten, Ausgegrenzten und Diskriminierten beschädigen können: Subjektivität im Sinne eigenverantwortlicher Urteils- und Handlungsfähigkeit, als Fähigkeit zur empathischen Perspektivenübernahme und zur moralischen Abwägung zwischen Handlungsalternativen oder als Möglichkeit zur Ausrichtung der eigenen alltäglichen Lebensführung ist sozial voraussetzungsvoll. Denn Lebensbedingungen, die durch Armut und Unsicherheit gekennzeichnet sind, können dazu führen, dass das Denken und Handeln darauf fokussiert ist, den Alltag irgendwie zu bewältigen; Subjektivität reduziert sich dann ggf. auf Bemühungen, die eigene psychische Verfassung zu stabilisieren und praktischen Handlungszwängen der alltäglichen Lebensführung gerecht zu werden. Deshalb ist Soziale Arbeit wiederkehrend vor die Aufgabe gestellt, »Bedingungen herzustellen, die dem Subjekt seine Subjektivität ermöglichen« (Winkler 1988, 99), sich also mit Effekten der Beschädigungen und Begrenzungen von Subjektivität auseinander zu setzen. Folglich werden gesellschaftsstrukturell bedingte Problemlagen in der Sozialen Arbeit auch als problematisches Verhalten von Individuen sichtbar, auf das Soziale Arbeit mit ihren eigenen Mitteln einwirken soll. Dabei ist der Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem individuel- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 115 Ideologiekritik und Theoriebildung 115 len Verhalten komplex, keineswegs immer einfach zu durchschauen. In der Folge hat Soziale Arbeit eine nicht zufällige Affinität zu solchen ideologischen Sichtweisen, die als Individualisierung und Moralisierung charakterisiert werden können: In ihrem beruflichen Handeln sind SozialarbeiterInnen nicht unmittelbar mit gesellschaftlichen Verhältnissen befasst, sondern mit Einzelnen und deren Praktiken. Die alltägliche Erfahrung von SozialarbeiterInnen im praktischen Handlungszusammenhang legt deshalb Sichtweisen nahe, die Effekte gesellschaftlicher Lebensbedingungen als Folge individuellen Verhaltens »erklären« und als solche bewerten. Sozialarbeiterische Interventionen sind in der Regel zudem darauf verwiesen, Individuen zu einem veränderten Umgang mit den ihnen auferlegten Lebensbedingungen zu befähigen, da sie nicht über die Möglichkeit verfügen, substantielle Veränderungen dieser Lebensbedingungen zu bewirken. Soziale Arbeit tendiert folglich immer dann zu einem moralisierenden Individualismus, wenn eine theoretische Klärung der Bedingungen, die für die Entwicklung der Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen und sozial rechtfertigbaren Lebensführung förderlich oder hinderlich sind, unterbleibt. Eine Radikalisierung eines moralisierenden Individualismus wird im neoliberalen Leitbild des als »Unternehmer seiner Arbeitskraft und seiner Daseinsvorsorge« konzipierten Individuums vorgenommen (vgl. Bröckling 2007). Unter systematischer Ausblendung des sozialwissenschaftlichen Wissens um die sozialen und sozialisatorischen Voraussetzungen der Prozesse, in denen Individuen die Fähigkeit entwickeln können, ihren Lebensentwurf gezielt und langfristig zu planen, wird an Eigenverantwortlichkeit appelliert und werden denjenigen, die im Dauerlauf um Selbstoptimierung durch lebenslanges Lernen nicht mithalten, unter den sanktionsbewehrten Verdacht gestellt, ihren Mitwirkungspflichten nicht gerecht zu werden. Die Alternative zu einer ideologischen Deutung von Hilfsbedürftigkeit als Ausdruck individuell zurechenbarer SatzBakic.qxd 116 27.02.2008 17:19 Seite 116 Ideologiekritik und Theoriebildung Defizite kann aber auch keine pauschale Gesellschaftskritik sein, die die Klientel der Sozialen Arbeit zu unschuldigen und bedauernswerten Opfern ihrer Lebensumstände stilisiert und ihnen damit jede Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bestreitet. Erforderlich ist vielmehr eine genaue Betrachtung nicht »nur« der objektiven Aspekte der Lebenssituation jeweiliger Adressaten, sondern auch der damit verbundenen Formierungen ihrer Subjektivität, insbesondere der Beschädigungen und Begrenzungen ihrer Fähigkeit einer selbstbewussten und selbstbestimmten Lebensgestaltung. Denn nur so können auch Erfordernisse und Ansatzpunkte für eine Praxis bestimmt werden, die auf Empowerment und Subjektbildung ausgerichtet ist. Eine weiterer Ansatzpunkt ideologischer Deutungen in der Sozialen Arbeit ist die sich in Krisenzeiten zuspitzende Diskrepanz zwischen Erfordernissen und Möglichkeiten des Helfens: Mit der Zunahme von Hilfsbedürftigkeit, etwa in Folge steigender Arbeitslosigkeit und Armut, reduzieren sich zugleich die Möglichkeiten des Helfens, denn es stehen dann auch weniger Arbeitsplätze zur Verfügung und die sozialstaatlichen Mitteln werden knapper. Soziale Arbeit kann sich dann als »eine unlösbare Aufgabe darstellen (vgl. Bourdieu et al. 1997, 217ff.) Hierauf reagieren ideologische Deutungsangebote, die gesellschaftlich bedingte Grenzen des Helfens in prinzipielle, nicht überschreitbare Grenzen helfender Interventionen, etwa von Erziehung und Therapie, umdeuten. Es ist so betrachtet kein Zufall, dass in Zeiten der Krise Zweifel an den Möglichkeiten des Helfens wachsen und gleichzeitig Forderungen nach Repression und Sanktionierung an Einfluss gewinnen.3 SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 117 Ideologiekritik und Theoriebildung 117 Rück- und Ausblick Die Kritik von Ideologien, die das Leiden und das Scheitern der Adressaten Sozialer Arbeit als unvermeidbar oder als selbstverschuldet darstellen sowie Soziale Arbeit in die Funktion einer Institution zuweisen, die der Aufrechterhaltung und Durchsetzung ökonomischer Zwänge, politischer Strategien, vorherrschender Normen und Normalitätsmodelle dient, war und ist eine zentrale Aufgabe von Theoriebildung. Eine solche Kritik kann nicht durch eine bloße Beobachtung der Wandlungen der Diskurse ersetzt werden, aus denen Soziale Arbeit ihre Wirklichkeitsmodelle und Handlungsmaximen bezieht. Es genügt auch nicht, gegenüber alten und neuen Mustern ideologischen Denkens eine Haltung der Sympathie mit den Armen, Ausgegrenzten und Abweichenden einzunehmen – dies schon deshalb nicht, weil diese allzu leicht in einen Zynismus umkippt, der Distanz zu theoretischen Anstrengungen mit der vermeintlich allein realistischen Einsicht verbindet, dass die Klientel letztlich doch selbst verantwortlich ist für ihre Situation. Erforderlich ist es vielmehr, immer wieder konkret zu analysieren, welche ideologischen Modelle jeweils an Einfluss gewinnen und die Problematik ihrer Voraussetzungen und Folgen theoretisch genau und empirisch fundiert zu bestimmen. Theoriebildung und Ideologiekritik sind also zwei Seiten der gleichen Medaille. Gegenwärtig stellt die Auseinandersetzung mit zwei ineinander verwobenen Tendenzen die m. E. entscheidende Herausforderung dar: Der Abbau sozialstaatlicher Leistungen und sozialarbeiterischer Hilfen einerseits, der Ausbau sozialer Kontrollen und Sanktionen andererseits. Deren gemeinsames ideologisches Fundament ist das Postulat des für seinen Erfolg und sein Scheitern selbst verantwortlichen Individuums, dem auch Normverletzungen als schuldhafte Verfehlung zurechenbar sind. Demgegenüber ist in der Traditionslinie kritisch-sozialpädagogischen Denkens darauf zu beharren, dass es eine Aufgabe von Gesellschaftspolitik, insbesondere von Arbeitsmarkt-, SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 118 Seite 118 Ideologiekritik und Theoriebildung Sozial- und Bildungspolitik ist, Bedingungen herzustellen, die Individuen tatsächlich befähigen, ihre Lebensführung bewusst und eigenverantwortlich zu gestalten. Dabei ist gerade nicht, wie immer wieder fälschlich behauptet wird, von einem grundlegenden Gegensatz von sozialer Sicherheit und individueller Autonomie auszugehen, sondern gerade davon, dass soziale Sicherheit vielfach Eigenverantwortlichkeit erst ermöglicht. Umgekehrt gilt: »Der Weg über die Kürzung von Sozialleistungen mag sonst wohin führen – doch gewiss nicht zu einer Gesellschaft freier Individuen.« (Bauman 1997, 363) Anmerkungen 1 Soziale Arbeit ist nun jedoch keineswegs die einzige gesellschaftlich institutionalisierte Form des Helfens: Im Unterschied zu den medizinischen und psychotherapeutischen Berufen ist sie gering spezialisiert sowie überwiegend mit der Hilfsbedürftigkeit derjenigen befasst, die sozioökonomischen Benachteiligungen unterliegen; im Unterschied zu den Leistungen der sozialen Sicherungssysteme beschränkt sie sich nicht auf die Zuteilung von Geld- und Versicherungsleistungen, sondern versucht, durch Beratung, Betreuung, Erziehung, Bildung und Quasi-Therapie auf die Lebensführung und das Selbstverständnis von Individuen einzuwirken (vgl. dazu ausführlicher Bommes/Scherr 2000). 2 Zwar können SozialarbeiterInnen und Organisationen der Sozialen Arbeit durchaus versuchen, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen und für sich mit guten Gründen ein (sozial-)politisches Mandat beanspruchen; ersichtlich sind die Erfolge entsprechender Versuche jedoch begrenzt. 3 Dies verbindet sich gegenwärtig mit einer einflussreichen Kritik, die emanzipatorische Pädagogik und Sozialarbeit als illusionäre Verkennung der Unhintergehbarkeit von Disziplinierung und Sanktionierung denunziert (vgl. Bueb 2007; Weidner/Kilb 2004). SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 119 Ideologiekritik und Theoriebildung 119 Literatur Aichorn, August (1951): Verwahrloste Jugend. Stuttgart/Wien Bauman, Zygmunt (1997): Unbehagen in der Postmoderne. Hamburg Becker, Howard S. (1971): Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt Berger, Peter L. (1973): Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Frankfurt Bommes, Michael/Scherr, Albert (2000): Soziologie der Sozialen Arbeit. Weinheim und München Bourdieu, Pierre et al. (1997): Das Elend der Welt. Konstanz Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Frankfurt Bueb, Bernhard (2007): Lob der Disziplin. München Dollinger, Bernd/Raithel Jürgen (Hg.) (2006): Aktivierende Sozialpädagogik. Wiesbaden Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin France, Anatole (1925): Die rote Lilie. München Haug, Gerhard (1992): Einführung in die Ideologiekritik. Berlin Keller, Rainer u.a. 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Sozialmanagement erlebt vor allem im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts »eine erstaunliche Karriere« (Galuske 2007, 333); es steht für eine Aufwertung der Sozialen Arbeit, die mit Binnendifferenzierung einhergeht. Reputierlichkeit entsteht nämlich häufig, wenn Hierarchien zeigen, wie man etwas in einem Bereich werden kann: Wo es ManagerInnen gibt, lohnt es sich wohl einzusteigen. Ein Blick auf soziale Einrichtungen in Großbritannien bestätigt dies auf makabre Weise: Während im Feld selbst, also vor Ort und mit KlientInnen weniger und schlechter ausgebildete AkteurInnen wirken, schmücken sich in den Institutionen auf unterschiedlichsten Ebenen die ManagerInnen mit ihren Titeln. Ironischerweise ergab sich dies als Nebeneffekt fortschreitender Privatisierung des Sozialen Sektors und trug zugleich zu erheblichen Kostensteigerungen bei. In professioneller Hinsicht verweist Management auf eine neue Kultur in der Sozialen Arbeit, die sich nicht zuletzt an den Ausbildungsstätten beobachten lässt. Zwar klingen dort Ende der siebziger Jahre die Parolen und Programme nach, welche auf gesellschaftliche Veränderung durch Soziale Arbeit hoffen. Die Akteure lassen sich von ihrem politischen Engagement zur Randgruppenarbeit und von mitmenschlicher Empathie motivieren. Sie werden darauf eingeschworen, in einer »schmuddeligen« Lebenswelt verstehend und aushandelnd, die Möglichkeiten zu einem gelingenderen Alltag zu entdecken (vgl. Thiersch 1992). Doch schon taucht ein anderer Typus auf: SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Management und Steuerung Seite 121 121 White collar workers mit schmucken Aktenkoffern und noch schwergewichtigen Klapprechnern, welche der Sozialen Arbeit und sich selbst ein neues Image geben (wollen): Unternehmer des Sozialen, Betriebswirte in einem Non-Profit-Sektor, der vom Gang an Aktienbörsen schwärmt, Organisatoren von Dienstleistungen. Nebenbei gerät ihnen aus dem Blick, was heute wieder beschäftigt: Armut, soziale Isolation und kulturelle Verelendung, Pädagogik im umfassenden Sinne, nämlich als Erziehung zur Sicherung von Mündigkeit im Erwerb der Mittel zur Selbstbeherrschung und im Zugang zu kulturell entscheidenden Inhalten gerät endgültig zum Tabu. Das rächt sich. Disziplinär entspricht der professionellen Entwicklung zur anerkannten Sozialen Arbeit die Etablierung des Sozialmanagements als Wissenschaft. Der Bereich wirkt attraktiv. Denn Forschung und Lehre in ihm übersteigen die Horizonte der klassischen sozialen Arbeit und der in der Erziehungswissenschaft angesiedelten Sozialpädagogik. Interdisziplinär interessiert, bezieht sich die akademische Beschäftigung mit dem Sozialmanagement auf die Sozial- und Gesundheitswissenschaften schlechthin. Sie wird durch die Entwicklungen in den Arbeits- und Handlungsfeldern geradezu forciert: Knappheit in den öffentlichen Haushalten, eine – etwa durch den demographischen Wandel beeinflusste – Veränderung und Steigerung der Bedarfszahlen, vor allem ein wachsendes Bedürfnis nach Innovation bei gleichzeitig verbesserter und intensivierter Qualitätskontrolle führen dazu, dass Fragen der Organisation und Steuerung von Aufgaben und Leistungen in den Zusammenhängen der Bildungs-, Kultur- und Sozialsysteme hohes Gewicht gewinnen. Ein erhebliches Interesse besteht seitens der öffentlichen und der freien Träger sozialer, kultureller und pädagogischer Angebote wie des Gesundheitsbereichs. Die Herausforderung liegt darin, dass ökonomische wie administrative Vorgänge und solche etwa der Personalführung mit inhaltlichen, insbesondere konzeptionellen, curricularen Entwicklungen verbunden und in Strukturen gebracht SatzBakic.qxd 122 27.02.2008 17:19 Seite 122 Management und Steuerung werden, die eine Mitwirkung aller Beteiligten und Betroffenen fördern. Nicht zuletzt aber berühren Fragen des Sozialmanagements Problemstellungen der Evaluation und einer ihr folgenden Optimierung des Mitteleinsatzes. Insofern besteht eine enge Verbindung zwischen Sozialmanagement und der Qualitätssicherung in den einschlägigen Bereichen. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die Nachfrage nach entsprechenden Ausbildungsangeboten und grundlegenden wie anwendungsnahen Forschungsleistungen; insbesondere an Fachhochschulen werden einschlägige Professuren eingerichtet, einige Universitäten folgen. Doch seit der Jahrtausendwende erlahmt die wissenschaftliche Arbeit. Zwar werden im angelsächsischen Bereich einschlägige Handbücher veröffentlicht (vgl. Patti 2000), eine Untersuchung konzeptioneller und begrifflicher Grundlagen lässt sich aber kaum mehr beobachten. Völlig fehlt eine empirische Erforschung der Implementation oder des Nutzens von Sozialmanagement. Die Auseinandersetzung wird unter dem Begriff der Sozialwirtschaftslehre geführt (vgl. Wendt 2002) oder verlagert sich in die Felder selbst. Sozialmanagement kommt in den Geruch, als praxeologisches Konstrukt theorielos zu bleiben (vgl. Otto 2002, 178). Reflexion verliert ihre Relevanz, vielleicht weil Idee und Konzept selbstverständlich geworden und in den professionellen Habitus eingesickert sind. Sie müssen anscheinend nicht mehr geklärt werden. Allerdings ist diese Entwicklung nicht ganz ungewöhnlich für Debatten um Gesellschaft schlechthin, Soziale Arbeit und Sozialpädagogik im Besonderen. Themen verflüchtigen sich in Spezialdiskurse oder in eine Art untergründiges Wissen, obwohl die Bedeutung der einschlägigen Probleme, Sachverhalte und Begriffe unbestimmt bleibt. Sie behalten dennoch Gewicht und Ansehen, die ihnen sogar beängstigende Züge verleihen. Unsicherheit ruft Verunsicherung hervor. So endet beispielsweise ein Lexikonbeitrag mit der Zusammenfassung, dass Sozialmanagement »ein Entwicklungsprogramm der Rekon- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Management und Steuerung Seite 123 123 struktion und Produktion personenbezogener sozialer Dienstleistungen eines Verbandes, einer sozialen Verwaltung, einer Kommune, sowie der [...] Evaluation im Horizont der Charakteristika und der historischen Entwicklung des sozialen Sektors aus einer Managementperspektive« kennzeichne (Karsten 1996, 467). Dieser Satz klingt großartig, zumal er alle diskursiv relevanten Bezugspunkte benennt. Gleichwohl bleibt er schlicht unverständlich, was ihn der Ideologie verdächtig macht. Sozialmanagement gibt sich bedeutungsschwanger – das schafft dann eine besondere Aura. Sie leuchtet um so mehr, weil hinter Sozialmanagement jene politischen und öffentlich genutzten Semantiken stehen, in welchen Innovation und Reform zu Topoi werden. Das Ganze gehört also in den Kontext der Modernisierung moderner Gesellschaften. 2. Die Etymologie kann die Herkunft von Management nicht sicher identifizieren, die Deutungen reichen von Hand anlegen bis das Haus bestellen (vgl. Merchel 2006, 18). In die deutsche Sprache wandert der Ausdruck seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein, um nach dem 2. Weltkrieg größere Verbreitung zu finden (vgl. Feldhoff 1980). Manager meint seitdem zum einen OrganisatorInnen von Institutionen, größeren Verwaltungseinheiten, welche soziale und wirtschaftliche Prozesse leiten, koordinieren und möglichst optimieren, oftmals in einem Spannungsfeld zwischen innerbetrieblichen Kontexten und Öffentlichkeit. Das Bild des Managers/der Managerin in der Öffentlichkeit ist weitgehend davon geprägt, dass seine/ihre Aktivitäten kaum dem Gemeinwohl dienen, schon gar nicht aber die (existenziellen) Interessen derjenigen wahrnehmen, welche ihnen untergeordnet sind und als faktische Träger des betrieblichen Erfolges gelten. Tatsächlich fällt es schwer ein persönliches Risiko des Managers zu erkennen. Zum anderen hebt der Begriff des Managers auf jene ab, welche für erfolgreiche Akteure in Sport, Kunst und Medien die Geschäfte führen, Vereinbarungen treffen und Öffentlichkeits- SatzBakic.qxd 124 27.02.2008 17:19 Seite 124 Management und Steuerung kontakte regeln, dafür meist mit einem festgesetzten prozentualen Anteil honoriert werden. Manager in diesem Sinn des Ausdrucks genießen wenig Ansehen. Sie gelten sogar als geradezu parasitär. Management trägt dies als Ambivalenz weiter: Etwas managen erweckt negative Vorstellungen, die vom »Gschaftlhuber« im Dunstkreis klein-krimineller Aktivitäten bis zum »Big Business« mit seinen vielschichtigen Feindbildern reicht. In der Sache bezieht sich Management auf zwei Dimensionen, nämlich einerseits – handlungsorientiert – auf die Leitung von Organisationen, wobei klassisch Planung, Organisation, Personalwahl und Personalführung, Betriebsleitung, Koordination und Finanzverwaltung unterschieden werden; zudem gehören zum Management die strategische Entwicklung von Unternehmen, auch durch Erweiterung und Verringerung der Betriebseinheiten (also Zukauf zur Diversifikation als Sicherung vor Marktrisiken oder zur Erzielung von Synergien versus Outsourcing), Öffentlichkeits- und Lobbyistenarbeit wie endlich die Kontrolle der Leistung. Andererseits versteht man unter Management die Personen des Management, bzw. die Führung und Entwicklung des Personals selbst. Noch weniger lässt sich der Begriff Steuerung eindeutig fassen. Das Grimmsche Wörterbuch erinnert eine Vielzahl von Bedeutungen für die unterschiedlichen, als Verb wie als Substantiv aufzufindenden Formen von »Steuern«. Steuerung findet sich in der erfassten Literatur sogar für Unterstützung, Hilfe, Förderung, dann erwartungsgemäß für Lenkung und Leitung, aber sogar für Abwehr, Verhinderung und Linderung (Grimm 1941, Sp. 2665). Die Sachbezüge fallen nicht minder weit aus, und reichen dabei vom naturwissenschaftlichen technischen bis zum psychologischen Gebrauch des Ausdrucks (vgl. Hassenstein/Hildebrandt 1998; Müller 1998). 3. Management und Steuerung stehen auch für den Tatbestand, dass der moderne Staat das fürsorgende und helfende Handeln SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Management und Steuerung Seite 125 125 aus der Zufälligkeit löst, an welche es durch christliche Nächstenliebe gebunden war. Im sorgenden Staat wird Gesellschaft zu einem Projekt, das rational begründet, bürokratisch durchgeführt und systematisch verwirklicht werden muss, um das Wohlergehen des Ganzen oder aller zu sichern – in dieser Differenz unterscheiden sich marktwirtschaftliche von sozialstaatlichen Verfassungen. Das Geschehen bleibt allerdings stets vieldeutig: Im Kern reagiert die Einführung wohlfahrtsstaatlicher Ordnungen und Regelungen nämlich darauf, dass Notlagen systemisch und systematisch, mithin in einer Weise notorisch werden, die nicht mehr als durch Gott gegeben oder als menschliches Schicksal allein bestimmt sind. Wenngleich schon mittelalterliche Armenordnungen den Weg gewiesen haben, belegen Notlagen doch erst seit der Durchsetzung kapitalistischer Gesellschaften und industrieller Produktionsweisen die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur als solche, sondern als soziale Dynamos. Verhältnisse erzeugen Lebenslagen. Not und Elend signalisieren jedoch eine abstrakte Mechanik; anders als in der alten agrarischen Gesellschaft verschwindet noch der Schutz durch jene, welche die Elenden in Abhängigkeit gehalten hatten. Notlagen werden nun gesellschaftlich erzeugt, umfassend; sie bestimmen materielle wie kulturelle Lebensbedingungen und -lagen, prägen zugleich individuelle, psychisch-seelische Befindlichkeiten. Darin entsteht eine kaum mehr einzuholende Spannung. Denn einerseits verlangen die Notlagen systematische Gestaltung. Sie fordern objektiv den Willen der Sozialpolitik, die sie in ihrer abstrakt strukturellen Bedingtheit erkennt und Lebensverhältnisse umgestaltet. Andererseits aber richtet sich Soziale Arbeit auf die Individuen in ihrer konkreten lebenspraktischen Situation und Subjektivität. So entstehen Strukturen der Hilfe, ein Systemzusammenhang und eine Regelmäßigkeit sowohl in den zu bearbeitenden Problematiken wie in deren Bearbeitung selbst; dies muss nicht bedeuten, dass humane Motive und Verfahren maßgebend werden, vor allem wäre das Geschehen SatzBakic.qxd 126 27.02.2008 17:19 Seite 126 Management und Steuerung missverstanden, wenn Hilfe als entscheidend gelten würde. Es geht schon um Kontrolle der Bevölkerung. Dem entspricht auf der anderen Seite, dass für die AdressatInnen die Hilfeleistung zugleich doch berechenbar wird. Als systematisches ist es aber bürokratisches Verwaltungshandeln, stets im Zwang, auf generalisiert definierte Anlässe mit standardisierten Formen zu reagieren, um gerichtlich Bestand zu wahren, als individualisiertes wirkt es immer willkürlich und ungerecht. Soziale Arbeit mag zwar als Hilfe und Kontrolle gelten, sie ist aber auch Verwaltung und Moral. 4. Nüchtern betrachtet steht jedoch Sozialmanagement zunächst für einen eher äußerlichen, bloß terminologischen Wechsel von Bezeichnungen, der aber einen Wechsel von Semantiken andeutet, ohne unmittelbar eine Veränderung in den tatsächlichen Gegebenheiten der Sozialen Arbeit auszusprechen; als symptomatisch für diese »unwesentliche« Bedeutung des Begriffs Sozialmanagement kann man ansehen, wenn Stephan Lessenichs Buch »Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe«, mit welchen er an die »Geschichtlichen Grundbegriffe« anknüpft und die historischen und aktuellen Diskurse der Sozialpolitik diskutiert, Sozialmanagement, Management und Steuerung nicht einmal im Register aufführt (vgl. Lessenich 2003). Auch fällt auf, wie die Diskurse unverbunden bleiben: »Sozialpädagogisches Denken« von Böhnisch, Schröer und Thiersch (2005) nimmt das Sozialmanagement schlicht nicht zur Kenntnis, umgekehrt kennen die Einführungen in das Sozialmanagement das sozialpädagogische Denken nicht. Sozialmanagement steht also zuerst – wie eine Vielzahl von Belegstellen zeigt – als Äquivalent für »Verwaltung«, genauer: »Administration«. Allerdings lässt sich kaum übersehen, wie der Ausdruck damit aufkommt, dass in die Soziale Arbeit neue, digitale Techniken eindringen und so veränderte Arbeitsformen und neue Arbeitsabläufe provozieren, dass zudem Strategien des Marketing, der Darstellung und der PR-Arbeit für die eige- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Management und Steuerung Seite 127 127 nen Organisationen sich durchsetzen. Er lässt sich kaum trennen von Aktivitäten einer Beeinflussung von Öffentlichkeit, um Mittel im Rahmen des fund raising zu akquirieren. Mit den Begriffen Sozialmanagement, Management und Steuerung verbinden sich somit doch unterschiedliche Intentionen, die sich als Begründungslinien zu einem Diskurs verweben: Zunächst fordert der Begriff des »Sozialmanagement« ein höheres Bewusstsein für die Spezifika des Sozialen Sektors; strukturell zeichnet sich dieser als »intermediärer Bereich« aus, der uneindeutig geregelt wird (vgl. zum Folgenden auch: Merchel 2006, 41), nämlich durch eine Mischung von bürokratischen und marktförmigen Elementen mit solchen der Solidarität und ethischen Normen1. Den sozialen Sektor bestimmen mithin drei unterscheidbare Handlungsimperative, nämlich solche einer Regulation durch die Solidarität im informellen Bereich gemeinschaftlichen Handelns, der Regulation durch Vertrag und Tausch auf dem Markt, einer bürokratischen Steuerung durch den Staat. Zudem muss man die wachsende Einflussnahme durch die mediale Öffentlichkeit nennen, in der Aufforderungen und Legitimationen entstehen, die wiederum von der Politik beachtet werden, die allen drei Imperativen folgen möchte. Sozialmanagement steht auch im Kontext des Versuchs, die Soziale Arbeit von ihrem Image bloßer Sozialverwaltung zu lösen, um einerseits den administrativen wie disziplinierenden Zug der Sozialen Arbeit vordergründig abzustreifen, sowie die Erstarrung in bürokratischen Routinen zu überwinden, andererseits den fachlichen Prinzipien des Handeln mehr Wirksamkeit zu verschaffen. Damit geht einher, dass dem ganzen Bereich der Sozialen Bereich nicht nur höhere Eigenständigkeit, sondern geradezu die Qualität eines eigenen Systems zugebilligt wird; so bestehen Verbindungslinien zwischen der Systemtheorie als Begründung professionellen Handelns und dem Denken als Sozialmanagement. Zugleich eröffnet dies eine Perspektive, um Soziale Arbeit in die Nähe zu unternehmeri- SatzBakic.qxd 128 27.02.2008 17:19 Seite 128 Management und Steuerung schem Handeln zu bringen, das innerhalb seines systemischen Kontexts Freiheit und Selbstständigkeit einerseits, die Kompetenzen wirtschaftlicher Aktivitäten andererseits benötigt. Im Kern zielt dies auf stärkere Professionalisierung, während jedoch das Interesse der kommunaler Träger sozialer Dienstleistungen eher auf Kostenreduktion gerichtet war und ist.2 Sozialmanagement steht überdies für eine Veränderung der generellen Steuerung des Sozialen Sektors; der »Managementboom in der Sozialen Arbeit [ist] Ausdruck des Umbaus und der aktivierenden Neuprogrammierung von Sozialstaat und Sozialer Arbeit« (Galuske 2007, 335). Dieser wird anfällig (gemacht) für Einflussnahmen durch öffentliche und politische Debatten. Eine neue public policy entspricht dem, die als governance erwartet, dass die Bürger selbst stärker in das Geschehen eingebunden werden; das verlangt nach dem, was Foucault als Gouvernementalität analysiert. Phänomenologisch zeigt sich diese als Schwächung einer Steuerung durch Recht und Gesetz, mithin als Abbau von überprüfbaren und einklagbaren rechtlichen Normen zugunsten von tagespolitisch motivierten Programmen; so demonstrieren in Wahlkämpfen PolitikerInnen und Medien eine eigentümliche Nonchalance gegenüber klaren und eindeutigen rechtlichen Regelungen, verlangen zuweilen Gesetzesänderungen, welche sich dem Verfassungsbruch nähern. Hinter dieser new policy verbirgt sich eine durchaus zweifelhafte Annahme: Sie besagt, dass moderne Gesellschaften einer zunehmenden Veränderungsdynamik unterliegen und sich in einer Weise beschleunigen (vgl. Rosa 2005), die ein beständiges Nachjustieren sozialer Systeme oder gar deren regelmäßige Überprüfung und Revision verlangen; längst zu Worthülsen verkommen (vgl. Bauman 2000). Der soziale Sektor dürfe demnach nicht mehr als – vermeintlich – starres System verwaltungsförmigen Handelns gestaltet werden, sondern müsse in sich dynamisch und flexibel werden; die Hilfen zur Erziehung haben dies unter den Stichworten »Flexi- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Management und Steuerung Seite 129 129 bilisierung« und »Integration« als Antwort auf die sogenannten »Versäulung« von Hilfeangeboten aufgenommen. Kurz: Weil das Ganze der Gesellschaft in Bewegung gerät, müsse der Soziale Sektor selbst offener und dynamischer werden; Sozialmanagement soll dies gewährleisten und zugleich im Griff behalten. Nur: Solche Entwicklungen zur Dynamisierung der Gesellschaft vollziehen sich gemeinsam mit Verhärtungen, in welchen sich klassische Strukturmuster kapitalistischer Gesellschaften wieder durchsetzen und Gewalt über Menschen gewinnen. Prozesse der Ausgrenzung, vor allem: Verelendungsvorgänge vollziehen sich an den Scheidelinien zwischen Kapital und Arbeit, wie die wachsende Gruppe derjenigen belegt, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen ein Arbeitseinkommen erzielen, das zur Existenzsicherung nicht hinreicht. Darin deutet sich die andere Seite des Sozialmanagements an: Es wird eingeführt, um die Steuerung von den alten Imperativen zu lösen und mehr – vermeintlich sachbezogen – politischer Programmatik zu folgen. Zu dieser gehört, dass von den erreichten Effekten her gedacht werden soll. Die Ziele selbst stehen nicht zur Debatte, Management aber soll erreichen, dass sie verwirklicht werden. Mehr noch: untergründig wirkt der Wunsch nach absoluter Effizienzsteigerung. Mit einem Minimum an Aufwand, möglichst unter Aktivierung der eigenen Ressourcen sollen die Beteiligten, Adressaten wie soziale Dienste, die ihnen vorgegebenen Ziele selbst verwirklichen. Vom aktivierenden Staat verspricht sich die Sozialpolitik den höchsten Nutzen. Management provoziert dann bei aller Knappheit der Mittel Wirkungen, weil es schlichten Druck erzeugt. Dieser Druck trägt einen Namen: Messen. Die Steuerung erfolgt über Kenndaten und Eckwerte, über Standards, welchen sich die Beteiligten selbst verpflichten (müssen). Wer ihnen nicht genügt, wird vom Markt genommen – längst sitzen Einrichtungen der sozialen Arbeit mit ihrer Klientel in einem Boot. Denn diese Soziale Arbeit lässt sich nur mit Fachkräften verwirklichen, die schlech- SatzBakic.qxd 130 27.02.2008 17:19 Seite 130 Management und Steuerung ter ausgebildet, wenigstens aber jünger sind. Insofern sinkt wohl mit wachsender Aufmerksamkeit auf managerielle Prozesse und Steuerung die Qualität der Leistung, so weit die KlientInnen betroffen sind. Endlich symbolisiert Sozialmanagement die hegemoniale Durchsetzung von Denkweisen und Praktiken, die als Ökonomisierung bezeichnet werden. Dabei geht es weniger um die Frage nach materiellen Bedingungen oder fiskalischen Restriktionen (diese bestanden im Feld der Sozialen Arbeit schon immer). Den paradigmatischen Wechsel bezeugt die neue Wahrnehmung der Sozialen Arbeit als »Produktion personenbezogener sozialer Dienstleistungen« (Karsten 2005, 1760); dabei lassen sich ein sozialtechnokratisches, ein gruppen- bzw. interaktionsdynamisch orientiertes, ein sozialplanerisches, sowie ein innovationsorientiertes, sozialpolitisches Konzept unterscheiden, zudem könne man Sozialmanagement als »Metakonzept« fassen (Karsten ebenda). Immer geht es jedoch darum zu verstehen und zu regeln, wie entweder das Soziale schlechthin oder – vorzugsweise – die sozialen Dienstleistungen als Produkte und Erzeugnisse hervorgebracht werden; Wertschöpfung, Erzeugnis, Güterherstellung, Umwandlung des Objektiven stehen im Fokus, nicht mehr die gemeinsame Praxis handlungsfähiger und sinnorientierter Subjekte in ihrem ethisch qualifizierten Lebens- und Bildungsprozess. Zum anderen steht das Managementkonzept in großer Nähe zur Durchsetzung von Wettbewerbsstrukturen, die Überprüfung und Reduktion von Kosten einerseits, andererseits eine Erhöhung der Qualität von Leistungen zu bewirken vorgibt, die sowohl den Aufwandsträgern, also den Kommunen, wie den betroffenen Adressaten zu Gute kommen soll (vgl. Merchel 2006). Unklar bleibt in einem solchen Produktionsverständnis von Sozialer Arbeit, was als das Produkt zu fassen ist und ob ein solches mehr oder maschinell zu erzeugen ist: Das Wohlverhalten der Adressaten? Ihre Integration? Ihre Entwicklung und ihr Lernen? SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Management und Steuerung Seite 131 131 5. Hinter der Idee und dem Konzept des Managements verbirgt sich ein alter Traum der Moderne, der sich auf die Natur bezog, dann auf Gesellschaft und Kultur, indem sie diese selbst noch naturalisiert und wo ihr dies nicht gelingt, im Begriffe des Sachzwangs als unabänderlicheres Geschehen behauptet: Sie will Ordnung schaffen, Kategorien und System einführen, Zuordnungen vornehmen, welche eine technische Beherrschung und Regelung der Phänomene der sozialen wie kulturellen Welt erlauben. Dazu bedient sie sich verschiedener Einteilungen, einer Feststellung von Ursache und Wirkung oder einer Festsetzung von Relevanzen. Der normative Charakter des Geschehens bleibt jedoch verschleiert. Denn alles soll wissensbasiert geschehen, aufgespannt zwischen einer apriorisch festgestellten oder gesetzten rationalen Systematik einerseits, einer experimentell gestützten Ordnung andererseits; diese Spannung lässt sich bis heute als ein Konflikt zwischen den akademisch Ausgebildeten, welchen neuen Theorien und Modellen folgen, und den Erfahrenen verfolgen, welche im schlimmsten Fall noch für ihre Routinen denunziert werden. Das Programm der Moderne geht also mit einer Zerstörung von humaner Erfahrung einher; es delegitimiert diese, um an die Stelle einer moralische Ökonomie eine Ökonomie zu setzen, welche einer anderen Rationalität folgt. Sie wird als durch Vernunft begründet und auf experimentelles Wissen gestützt behauptet. Der Verweis auf Vernunft und Experiment scheint zu genügen, um die nun gesetzten Normen zu rechtfertigen; in der jüngeren Zeit wird dies sichtbar an den Standards und bench marks, welche als Maßstab des Handelns in den sozialen Feldern wie des Bildungssystems gelten. Die Frage nach den Normen, welche der Systematik der Ordnungen wie der den Aktivitäten zugrunde liegt, wird beiseite geschoben, dass sie gesetzt sind, entzieht sich der Wahrnehmung. Standards und bench marks kommen jenseits der öffentlichen, selbst der politisch legitimierten Auseinandersetzung zustande. Es sind ExpertInnen, manchmal selbst ernannt, oft geheiligt durch SatzBakic.qxd 132 27.02.2008 17:19 Seite 132 Management und Steuerung Interessensgruppen, Gurus der Verbände und Institute, welche die Maßstäbe festsetzen, an welchen sich alles messen lassen muss. Dass die Verfechter des Sozialmanagements regelmäßig ethische Verpflichtungen ansprechen und fordern, hat Züge verzweifelter Ironie; sie sind blind für die Geister, die sie selbst riefen. Management ist Technik, Instrument, welche Normativität nur vollzieht, über diese aber nicht verfügt. Das gilt noch für das Handeln selbst. Management unterliegt der Steuerung, Einfluss auf diese darf es nicht nehmen, es hat zu optimieren. Dies geschieht durch Programme mit zynisch offenen Leitformeln, welche einer Kritik entzogen werden: Fordern und Fördern, der aktivierende Sozialstaat, sogar Empowerment gehören dazu, verraten noch, wie die Soziale Arbeit selbst die Stichworte gibt. Verantwortung sollen die Einzelnen nehmen, für Bedingungen, auf die sie keinen Einfluss haben, welche aber sorgfältig durch Steuerung verteilt werden. Steuerung erklärt dabei Bedingungen für relevant und zulässig, andere verfallen hingegen dem Verdikt des Obsoleten. Foucault hat diese Herrschaftstechnik mit dem Begriff des Dispositivs gefasst: Regierung erfolgt, indem Zuständigkeiten und Aufgaben verteilt werden, das soziale Feld geordnet wird, um am Ende Effektivität und Effizienz an den Kriterien zu messen, welche unabhängig und wissenschaftlich gewonnen wurden. Man sollte sich also besser nichts vormachen: Die Gesellschaften und ihre Kulturen bestimmen die Möglichkeiten menschlicher Lebenspraxis, mit der Autonomie ist es so weit nicht her. Produktionsverhältnisse bestimmen Lebensbedingungen und Lebenslagen, machen wahrscheinlich, dass man in Armut lebt, dauerhaft und über Generationen. Lebenschancen werden verteilt und zugeordnet, am Ende sind noch dramatische Ereignisse sozial bestimmt. Durkheim hat dies gezeigt, als er den Suizid als soziale Größe enthüllte, unser Wissen über Armut macht dies deutlich, zuletzt etwa erneut in ihren Folgen für Bildungsprozesse. Was Ausgrenzung und Einschließung mit Menschen anstellen, ist nicht minder SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Management und Steuerung Seite 133 133 bekannt, die Dynamik von Krisen vollzieht sich nach Mustern. Die Verhältnisse bestimmen noch, wie die Akteure ihre Kinder betreuen – und zuweilen kann man politischen und gesetzgeberischen Entscheidungen voraussagen, welche Katastrophen sie erzeugen: Dass die nach Hartz, einem veritablen Kriminellen, benannten neuen Sozialgesetze in Deutschland Familien und Kinder in die Armut treiben, war im Umfang auf die Stelle hinter dem Komma prognostiziert; es ist so eingetreten. Dass Familien, die der Höhe ihrer Miete wegen, Wohnungen aufgeben und in anonyme Plattenbauten umziehen müssen, isoliert und mit der Betreuung ihrer Kinder überfordert werden, ist wahrscheinlich – und ebenfalls eingetreten. Dass Fallmanager anstelle von Sozialarbeitern nur die Aktenlage und Geldtransfers kennen, um die Personen und ihre konkrete Lebensweise, um eben deren »schmuddeligen Alltag« aber nicht mehr wissen, mag zwar mit der Förderung von Eigenverantwortung gerechtfertigt werden, intensive persönliche Betreuung, der Aufbau von Beziehungen werden damit aber unwahrscheinlich. Dass Management-Kulturen Unternehmen in Bewegung bringen, gehört vielleicht zu ihren unabdingbaren Effekten, welche zu wünschen sind, wenn sich Märkte verändern. Aber darin klingt der Zynismus an: Sind Elend und Not marktförmiges Geschehen, sind die Adressaten sozialer Arbeit wirklich Kunden – mit Recht auf Widerspruch und Anspruch auf Garantie? Gleichwohl: das Soziale ist kontingent; das gilt für Gesellschaften und Kulturen in ihrer jeweils umfassenden Gesamtheit, das gilt erst recht für die mittleren sozialen Zusammenhänge, für Familien und Beziehungen, zuletzt für den Einzelnen selbst. Sichtbar wird solche Kontingenz gesellschaftlich und kulturell an dem, was ästhetische Erfahrung heißt, an der Differenz mithin der Kunst. Sichtbar wird solche Kontingenz, wenn Einzelne sich verweigern oder den eigenen Weg gehen – gegenüber den Zumutungen, die ihnen angetan werden. Als Resilienz wird das zum Thema der Forschung. Das SatzBakic.qxd 27.02.2008 134 17:19 Seite 134 Management und Steuerung Soziale ist kontingent, weil Gesellschaften und Kulturellen nicht bloß komplex sind, sondern sich in Veränderungsprozessen befinden; was Management erforderlich macht, wird somit zum stärksten Argument gegen dieses: Weil unterschiedliche Entwicklungen möglich sind, können nur Möglichkeitsräume erschlossen und ausgelotet, aber eben nicht systematisch ausgestaltet werden. Management und Steuerung, die solche Offenheit nicht zu ihrer eigenen Aufgabe machen, die Herstellung von Alternativen nicht in das Zentrum ihres Tuns heben, sondern Kategorien und Klassifikationen schaffen, denen folgend sie Menschen bearbeiten, enthüllen sich als Formen von bloßer Herrschaft und Machtausübung. Darin liegt dann die Grenze des Sozialmanagements, der Punkt, an dem es in grenzenlose Herrschaft und Machtausübung umschlagen kann. So ist kein prinzipieller Einwand gegen Management geboten, wohl aber einer, der sich auf die Voraussetzungen und Imperative des Geschehens richtet. Man darf gestalten und Vernunft dafür in Anspruch nehmen, wenn das Soziale mit Freiheit und damit verbunden wird, dass man Freiheit ethisch qualifiziert nutzen kann. Anmerkungen 1 wobei sich zudem eine Personalsituation auswirkt, die sich durch professionelle, bloß verberuflichte, fachfremd ausgebildete, ehrenamtliche und als Laien tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auszeichnet ... 2 KritikerInnen übersehen jedoch häufig, wie Sozialmanagement zuweilen selbst eine kritische Absicht gegenüber den Praktiken einer Verwaltungsreform verfolgt, welche unter dem Etikett »Neue Steuerung« eingeführt wird; diese wird in Deutschland insbesondere von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle, einer Art Think Tank der Kommunen aufgegriffen, welche einerseits dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet sind, andererseits einem zunehmenden Einspardruck SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 135 Management und Steuerung 135 unterliegen. Die Kommunale Gemeinschaftsstelle (KGSt) greift dabei auf Erfahrungen in den Niederlanden zurück, die eine Verwaltungsreform praktizieren, welche das klassische Modell der »InputSteuerung« zugunsten einer »Output-Steuerung« favorisiert: Leistungen der öffentlichen Verwaltung insbesondere im Wohlfahrtssektor sollen demnach prioritär an ihren Ergebnissen gemessen werden. Literatur Bauman, Zygmunt (2000): Liquid Modernity. Cambridge Bremische Bürgerschaft, Landtag: Bericht des Untersuchungsausschusses zur Aufklärung von mutmaßlichen Vernachlässigungen der Amtsvormundschaft und Kindeswohlsicherung durch das Amt für Soziale Dienste. Drucksache 16/1381, 18. April 2007. Auch als pdf-Dokument unter: http://www.bremische-buergerschaft.de/index.php?area= 1&np=5,34,0,0,0,0,0,0&uainfo=7&uaid=34 [20.1.2008] Feldhoff, Jürgen (1980): Manager. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philospohie. Band 5. L-Mn. Darmstadt: Sp. 709-711 Galuske, Michael (2007): »Wenn Soziale Arbeit zum Management wird ...« Anmerkungen zum aktivierenden Umbau der Sozialen Arbeit und seinem Niederschlag i n der Methodendebatte. In: Jürgen Krauß, Michael Möller, Richard Münchmeier (Hrsg.): soziale Arbeit zwischen Ökonomisierung und Selbstbestimmung. Kasseler Personalschriften Bd. 4. Kassel: University Press, S. 333-375 Grimm, Jacob, Grimm Wilhelm (1984[1941]): Deutsches Wörterbuch. Band 18. Stehung – Stitzig. Leipzig Hassenstein, Bernhard/Hildebrandt H (1998): Steuerung (Naturwissenschaft; Technik). In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer et al. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Sp 143- 147 Karsten, Maria-Eleonora (1996): Sozialmanagement. In: Franz Stimmer SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 136 136 Management und Steuerung (Hrsg.): Lexikon der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit. Zweite Auflage. München, Wien: Oldenbourg, S. 466-468 Karsten, Maria-Eleonora (2005): Sozialmanagement. In: Hans Uwe Otto, Hans Thiersch (Hrsg.): Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik. 3. Auflage. München – Basel, S. 1757-1762 Lessenich, Stephan (Hrsg.) (2003): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse. Frankfurt am Main/New York Merchel, Joachim (2006): Sozialmanagement. Eine Einführung in Hintergründe, Anforderungen und Gestaltungsperspektiven des Managements in Einrichtungen der Sozialen Arbeit. 2. überarbeitete Auflage. Weinheim und München Merchel, Joachim, Schrapper, Christian (Hrsg.) (1996): Neue Steuerung. Tendenzen der Organisationsentwicklung in der Sozialverwaltung. Münster Müller, S. (1998): Steuerung (Psychologie). In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Darmstadt Sp 147- 150 Otto, Ulrich: Zwischen Drinnen und Draußen. Aspekte des Sozialmanagements in pädagogischen Handlungsfeldern. In: Neue Praxis 32 (2002), S. 177-193. Otto, Ulrich (2008): Administration. In: Jürgen Oelkers u.a. (Hrsg): Handwörterbuch Pädagogik der Gegenwart. Weinheim und Basel i. D. Patti, Rino J. (Ed.) (2000): The Handbook of Social Welfare Management. Thousand Oaks, London, New Delhi Pluto, Liane (2007): Partizipation in den Hilfen zur Erziehung. Eine empirische Studie. München Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main Thiersch, Hans (1992): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. Weinheim und München Wendt, Wolf Rainer (2002): Sozialwirtschaftslehre. Grundlagen und Perspektiven. Baden-Baden SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 137 Neue Unterschicht und soziale Sicherung Elisabeth Hammer Im Rahmen der politischen Ära des Neoliberalismus ist seit Mitte der 1990er Jahre eine Neustrukturierung von Zielrichtungen und Praktiken von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit im Gange. Mit den Begriffen »Standortsicherung« und »Wettbewerbsfähigkeit« werden zwei Paradigmen eingeführt, an denen sich jegliche wohlfahrtsstaatliche Erneuerung nunmehr zu orientieren hat (vgl. Hammer 2006). Diskursiv wurde die Etablierung eines neoliberalen Sozialmodells bisher in erster Linie über Konzepte der »Aktivierung« durchgesetzt. Vorausgesetzt und eingefordert wurde hierbei eine spezifische Eigenleistung, um in weiterer Folge eine sozialstaatliche Gegenleistung in Anspruch nehmen zu können. Zug um Zug setzte sich, insbesondere im Feld der Arbeitsmarktpolitik und zunehmend auch sichtbar in der Jugendhilfe, eine Sozialpolitik durch, die »den Einsatz von verhaltensregulierenden und -kontrollierenden Interventionsmitteln [ermöglicht] und […] Abschreckung sowie Druck und Zwang zur Konformität wieder gesellschaftsfähig [macht]« (Dahme/Wohlfahrt 2002, 20). Im Zuge der Debatte um die Existenz und die Merkmale einer so genannten »neuen Unterschicht« hat dieser Aktivierungsdiskurs nun neuen Rückenwind erhalten. Angestoßen wurde die Debatte durch Paul Nolte, der 2004 für Deutschland die Herausbildung einer »neue Unterschicht« konstatierte, die sich durch einen spezifischen verwahrlosten, unmündigen und unselbstständigen Lebensstil auszeichnet. Im Verständnis von Nolte scheint dieser »Schicht« vieles zu fehlen, die Bandbreite reicht hier »von der Erwerbsfähigkeit bis zur Kompetenz, Kinder zu erziehen oder sich vernünftig zu ernähren, ja, selbst eine gekochte Mahlzeit auf den Tisch zu bringen« (Nolte, in Chassé 2007, 22). SatzBakic.qxd 138 27.02.2008 17:19 Seite 138 Neue Unterschicht und soziale Sicherung Bei dieser Debatte geht es allerdings nicht um die Frage eines durch die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse veränderten Klassen- und Schichtmodells und einer damit im Zusammenhang stehenden möglichen Spaltung der Gesellschaft. Ziel ist es vielmehr spezifische Phänomene als kulturbedingt umzudeuten und ihre Ursachen zu individualisieren. Zu Recht konstatieren Kessl, Reutlinger und Ziegler (2007, 10) in diesem Zusammenhang, dass die Debatte um eine »neue Unterschicht« als »Motor für politische Positionierungen dient, die sich vom bisherigen ›Lösungsmodell‹, dem Modell der Wohlfahrtsstaatlichkeit, aber verabschieden wollen.« Gefahr besteht, dass auch differenziertere Befunde sozialer und gesellschaftlicher Veränderungen für die neoliberal-konservative Ausrichtung der Debatte verkürzt und verfremdet werden. Legitimiert werden soll in der Folge eine Sozialpolitik, die nicht nur – ganz in der Logik auch bisheriger Aktivierungspolitik – Transferleistungen zurückfährt, um Potenziale von »Eigeninitiative« und »Selbstverantwortung« zwangsweise zu stärken, sondern auch bei der Inanspruchnahme von sozialen Leistungen paternalistische und strafandrohende Betreuungsformen durchsetzt, um eine umfassende Anpassung an arbeitsmarktpolitische Normen und bürgerliche Leitbilder zu erreichen. Anders als im Zuge der bisherigen Debatten zur Aktivierung scheint der Diskurs um die »neue Unterschicht« nun noch eindeutiger und unverschleierter als bisher einen direkten erzieherischen Zugriff auf die Individuen, aufgrund eben ihrer identifizierten kulturellen Defizite, als notwendige Reformmaßnahme für die Ausrichtung sozialpolitischer und sozialarbeiterischer Programme vorzuschlagen (vgl. Kessl 2005; Heite et al. 2007). Angesichts dieses Diskursverlaufes wird deutlich, dass der Begriff der »Unterschicht« zunehmend seiner ursprünglich auf ökonomische Ursachen fokussierten Bedeutungen beraubt und derzeit ausschließlich als kulturelles Phänomen gedeutet wird. Im Gegenzug dazu hat sich für die Analyse gegenwärtiger SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 139 Neue Unterschicht und soziale Sicherung 139 gesellschaftlicher Spaltungstendenzen der Begriff der »Prekarität« als hilfreich erwiesen – insbesondere auch deshalb, weil er die Dynamik gesellschaftlicher (Des-)Integration durch Erwerbsarbeit veranschaulicht und so neue Ungleichheiten sichtbar machen hilft, die die vertikale Klassen- und Schichtungsstruktur ergänzen und überlagern. »Prekarität« als Ansatzpunkt zur Analyse von erwerbsgesellschaftlichen Entwicklungen Die Spaltung der Arbeitsgesellschaft in Folge ökonomischer und politischer Entwicklungen hat Robert Castel (2000) herausgearbeitet. Er unterscheidet dabei eine »Zone der Integration« mit geschützten Normalarbeitsverhältnissen von einer »Zone der Entkoppelung« von Gruppen an »Entbehrlichen« und »Überflüssigen«, die mehr oder minder dauerhaft von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind. Dazwischen verortet er eine »Zone der Prekarität«, die eine Bündelung heterogener, nicht dauerhaft Existenz sichernder und damit »verwundbarer« Beschäftigungsverhältnisse bildet. Für Deutschland haben Dörre, Kraemer und Speidel (2004) versucht, die Integrations- bzw. Desintegrationspotenziale von Erwerbsarbeit zu veranschaulichen. Basierend auf einer qualitativen Erhebung haben sie den drei Castel’schen Zonen jeweils zwei bis vier unterschiedliche Typen zugeordnet und in der Folge auch ihre jeweilige quantitative Ausprägung erhoben. Obwohl in die »Zone der Integration« insgesamt 80,6% der Befragten zugeordnet werden konnten, entfallen immerhin 33,1% auf den Typus der so genannten »Abstiegsbedrohten« und 12,9% auf die »Verunsicherten«. Gemeinsam mit 13,8% in der »Zone der Prekarität« und 1,7% in der »Zone der Entkoppelung«, muss man von mehr als 60% an Befragten ausgehen, die nicht länger von der für den fordistischen Wohlfahrtsstaat üblichen stabilen, gesellschaftlichen Integrationskraft von Erwerbsarbeit erfasst werden. SatzBakic.qxd 140 27.02.2008 17:19 Seite 140 Neue Unterschicht und soziale Sicherung Die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung ist somit entweder unmittelbar von Prekarisierung betroffen oder aufgrund des prekären Potenzials ihrer Beschäftigungsform mit Prekarisierungsängsten konfrontiert. Prekäres Potenzial, das die allermeisten Formen von flexibler, atypischer Beschäftigung auszeichnet, ist häufig mit einem nicht dauerhaft Existenz sichernden Erwerbseinkommen bzw. einer permanenten Beschäftigungsunsicherheit, einer Aushöhlung von sozialen Sicherheitsgarantien, einem Mangel an kollektiver Interessensvertretung sowie einem benachteiligten Zugang zu betrieblichen Anrechten und Privilegien verbunden (vgl. Kraemer/Speidel 2005, 379f). Da atypische Beschäftigungsformen quantitativ auf dem Vormarsch sind und durch eine Vielzahl an Deregulierungsmaßnahmen seitens der Gesetzgeber eine ReKommodifizierung von Erwerbsarbeit eingeläutet wird, ist davon auszugehen, dass Prekarisierungserfahrungen und -ängste noch weiter zunehmen werden. Prekarisierung bewirkt Disziplinierung, Desintegration und soziale Unsicherheit Neben dem Desintegrationspotenzial einer Re-Kommodifizierung von Erwerbsarbeit muss allerdings auch ein neuer Integrationsmechanismus beachtet werden: Für jene, die (noch) über ein Normalarbeitsverhältnis verfügen und der »Zone der Integration« zuzuordnen sind, wirkt die zunehmende Prekarisierung durchaus als marktförmiger Disziplinierungsmechanismus. Der gesellschaftliche Integrationsmodus wird somit »von Teilhabe auf Disziplinierung, Einschüchterung und Folgebereitschaft« (Kraemer/Speidel 2005, 382) umgestellt. Prekarisierung wird damit zu einem »Macht- und Kontrollsystem, dem sich in der gespaltenen Arbeitsgesellschaft auch die formal Integrierten nicht zu entziehen vermögen.« (Dörre/Fuchs 2005, 29) SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 141 Neue Unterschicht und soziale Sicherung 141 Die gegenwärtigen Veränderungen führen nicht nur zu Spaltungstendenzen am Arbeitsmarkt, sondern auch zur Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme – und wie Castel hinweist (2005, 44) auch der öffentlichen Dienste und kollektiven Vertretungsinstanzen. Da soziale Erwartungen bezüglich der Teilhabe am wirtschaftlichen Fortschritt und gesellschaftlichen Wohlstand enttäuscht werden, kommt es in der Folge zu einer sozialen Verunsicherung nicht nur der unteren Schichten, sondern weiter Teile der Gesellschaft. Diese soziale Unsicherheit, als wahrgenommene Bedrohung von individuellen Lebensplänen, umfassenderen Lebenskonzepten und auch berufsbiographischen Identitäten (vgl. Kraemer/Speidel 2005, 376), ist in der Meinung von Castel »wie ein Virus, der das Alltagsleben durchdringt, die sozialen Bezüge auflöst und die psychischen Strukturen der Individuen unterminiert […]« (Castel 2005, 38). Dörre und Fuchs bestätigen diese Einschätzung mit Blick auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse: »vielfach bewirken sie Anerkennungsdefizite und eine Schwächung der Zugehörigkeit zu sozialen Netzen, die eigentlich dringend benötigt würden, um den Alltag einigermaßen zu bewältigen.« (Dörre/Fuchs 2005, 27). Zusammenfassend muss festgehalten werden dass Prekarisierungsprozesse das funktionale, aber auch symbolische, auf sozialen Status orientierte, Integrationspotenzial von Erwerbsarbeit schwächen (Kraemer/Speidel 2005, 372). Angesichts der Ausbreitung von Prekarisierungserfahrungen und -ängsten muss die Soziale Arbeit ihre Mitwirkung an der Herstellung von sozialer Unsicherheit sowie an der Marginalisierung von betroffenen Gruppen – auch über das umgrenzte Feld der Arbeitsmarktpolitik hinaus – kritisch beleuchten. Die Entwicklungen der letzten Jahre scheinen zu bestätigen, dass der Sozialstaat zunehmend nicht mehr als Armutsbekämpfer, sondern als Ausgrenzungsförderer in Erscheinung tritt (vgl. Buhr 2005, 197) und sich die Soziale Arbeit in die Rolle einer Exklusionsverwalterin einrichtet, SatzBakic.qxd 142 27.02.2008 17:19 Seite 142 Neue Unterschicht und soziale Sicherung deren Bedeutung – so wie von Scherr (1999) vorhergesehen – deutlich zugenommen hat. Soziale Sicherung auf dem Prüfstand Die Umbrüche der Erwerbsarbeitsgesellschaft zeigen die Grenzen gegenwärtiger Formen von sozialstaatlicher Sicherung auf und ermöglichen darüber hinaus auch eine Re-Aktualisierung struktureller Schwächen konservativ-korporatistischer Wohlfahrtsstaaten wie Österreich und Deutschland. Grundlegend muss – im Sinne eines »revolutionär-konservativen Doppelgesichts der Sozialpolitik« (Heimann 1981 [1929]) anerkannt werden, dass mit dem System sozialer Sicherung neben seinen integrativen und absichernden Errungenschaften in allen Fällen auch disziplinierende, kontrollierende und ausgrenzende Wirkungen verbunden waren und sind. Die derzeitigen sozialstaatlichen Veränderungen, die insbesondere im Anschluss an die Hartz-Reformen in Deutschland kritisch diskutiert wurden (vgl. z.B. Dahme/Otto/Wohlfahrt 2003), spiegeln diesbezüglich substanzielle Verschärfungen wider, sind allerdings einer sozialstaatlichen Logik nicht grundsätzlich fremd. Die Kritik am gegenwärtigen Sozialstaatsmodell muss an folgenden Aspekten ansetzen, die ihrerseits stark miteinander verknüpft sind: – Der Sozialstaat ist in seiner starken Orientierung als Sozialversicherungsstaat in erster Linie auf die Bedürfnisse von Lohnabhängigen hin orientiert und wirkt diesbezüglich auch disziplinierend. Bedarfslagen, die in Erwerbsarbeit nicht oder nur mangelhaft integrierte Gruppen betreffen, sind seit jeher nachrangig im Rahmen der Sozialhilfe (als reformierte Armenfürsorge) bearbeitet worden. Konstitutiv für diesen Bereich ist ein deutlich verschlechterter Zugang zu sozialen Rechten und materieller Sicherung, gekoppelt mit paternalistischen Ansprüchen zu Unterordnung und Anpassung. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 143 Neue Unterschicht und soziale Sicherung 143 - Desweiteren ist die ausgeprägte Statusorientierung sozialer Sicherung (d.h. die Aufrechterhaltung von Unterschieden zwischen Bevölkerungsgruppen durch eine Segmentierung von Leistungen) kritisch zu beleuchten. Diese wurde zwar in gewissen Aspekten (insbesondere in der Krankenversicherung) abgeschwächt, ist aber ansonsten immer noch typisches Kennzeichen eines Sozialstaates Bismark’scher Prägung. Gerade atypische und prekäre Beschäftigungsformen werden durch dieses System strukturell kaum erfasst, Hierarchien und Statusunterschiede setzen sich so vom Arbeitsmarkt auch in andere Lebensbereiche fort und erhöhen gesellschaftliche Spaltungen. – Nicht zuletzt aufgrund der vorgenannten Aspekte ist der deutsche und österreichische Sozialstaat als stark geldleistungsorientiert zu bezeichnen (vgl. Badelt/Österle 2001, 21; Benz/Böckh 2005, 84). Teilhabe wurde und wird in allererster Linie über eine Integration am Erwerbsarbeitsmarkt bzw. über Transfers sichergestellt, nicht aber über einen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen im Bereich Verkehr, Wohnen, Kultur und Soziales. Gerade aber auf die Bedeutung von Sozialer Arbeit als Teil der sozialen Dienste – von Böhnisch/Arnold/Schröer (1999) als »lebendiges Inventar der Sozialpolitik« bezeichnet – wird gemeinhin in Grundlagentexten zur Sozialpolitik nicht oder nur am Rande verwiesen (vgl. Tálos 2005, Badelt/Österle 2001) – Diese Ausführungen deuten auch auf die starke Rolle von familialen Leistungen im Zusammenhang mit sozialer Sicherung hin, deren Erbringung historisch den Frauen zugewiesen wurde. Der Sozialstaat baut so auf einer Hierarchisierung von (bezahlter) Erwerbsarbeit für den männlichen Ernährer (»breadwinner«) und (unbezahlter) Familienarbeit durch die weibliche Versorgungsarbeiterin (»care taker«) auf (vgl. Lewis 1992) und nutzt Frauen als »unsichtbare Ressource« (Zander 1997: 31). Die damit verbundene grundsätzliche Inadäquatheit gegenwärtiger Strukturen für die sozia- SatzBakic.qxd 144 27.02.2008 17:19 Seite 144 Neue Unterschicht und soziale Sicherung le Sicherung von Frauen sowie für die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Sorgetätigkeiten – für beide Geschlechter! – ist kritisch zu konstatieren. In jedem Fall ist ein Umbau des Systems sozialer Sicherung notwendig. Die Dringlichkeit einer Reform erhöht sich nicht zuletzt dadurch, dass eine Beibehaltung des Gegenwärtigen eine automatische Verschärfung der gesellschaftlichen Spaltungstendenzen bedeuten würde. Neue Wege der sozialen Sicherung Angesichts dieser Entwicklungen haben Ideen zur Einführung eines »bedingungslosen Grundeinkommens« Hochkonjunktur. Der grundsätzliche Gedanke eines »bedingungslosen Grundeinkommens«, wie er von neoliberalen Ökonomen in der Tradition von Milton Friedman, aber auch von liberalen und linksalternativen Gruppierungen vertreten wird, bricht mit zentralen Bedingungen eines bislang erwerbsorientierten Systems sozialer Sicherheit und besteht in einer Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Existenzsicherung: Ein Grundeinkommen, das als individueller Rechtsanspruch ohne Bedürftigkeitsprüfung konzipiert ist, impliziert weder Arbeitsgebote noch Arbeitsverbote und würde mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Rolle von Sozialer Arbeit in einzelnen Handlungsfeldern transformieren. Die mit der Einführung eines Grundeinkommens verbundene Erwartung (insbesondere auch von im Sozialbereich tätigen Personen) liegt nicht zuletzt darin, über die Schaffung eines individuellen Rechts auf soziale Teilhabe – eben mittels eines monatlich zu gewährenden Fixbetrages – sozial disziplinierende Aspekte in Sozialpolitik und Sozialer Arbeit zurückzudrängen, die Autonomie in der persönlichen Lebensgestaltung zu erhöhen sowie einer neuen Form gesellschaftlicher Solidarität abseits der Erwerbsgesellschaft verstärkt zur Geltung zu verhelfen. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 145 Neue Unterschicht und soziale Sicherung 145 Die unterschiedlichen Modelle, die unter der Überschrift »Bedingungsloses Grundeinkommen« zusammengefasst werden, sind allerdings mit jeweils ähnlichen Grundproblemen verbunden. An dieser Stelle soll auf zwei Aspekte hingewiesen werden: VertreterInnen eines »bedingungslosen Grundeinkommens« wollen ausgehend von den Befunden einer »Krise der Arbeitsgesellschaft« die Erwerbsarbeitsgesellschaft überwinden. Allerdings steht dies im – auch empirisch belegbarem – Widerspruch dazu, »dass Erwerbsarbeit weiterhin einen uneingeschränkt hohen Stellenwert für die Positionierung des Individuums im sozialen Raum zugeschrieben werden muss« (Kraemer/Speidel 2005, 370). So kann man – auch mit Blick auf unfreiwillig vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Gruppen – weder von einem subjektiven noch objektiven Bedeutungsverlust von Erwerbsarbeit ausgehen (Kraemer/Speidel 2005, 370) und muss Erwerbsarbeit weiterhin als »konstitutiv für alltagspraktische und symbolische Teilhabechancen« sowie die Zuschreibung von sozialer Anerkennung verstehen. Angesichts dieser Befunde erweist sich ein »bedingungsloses Grundeinkommen« in doppelter Hinsicht als Exklusionsermöglichung (vgl. Nullmeier 2007, 18): Einerseits für die GrundeinkommensbezieherInnen, die – bei ausreichender Höhe der Geldleistung – ihren Unterhalt auch ohne Erwerbsarbeit sichern können, andererseits für Arbeitgeber und staatliche Akteure, die von der Last der Sicherung eines hohen Niveaus an Beschäftigungsmöglichkeiten entbunden werden. Während die Option der Nichtinklusion beidseitig besteht, entscheidet über die Inklusion allerdings nur eine Seite. Somit kann das »bedingungslose Grundeinkommen« auch als »Lohn für die soziale Exklusion« (Butterwege 2005, 298) wirksam werden. Darüber hinaus handelt es sich bei jedem Grundeinkommen um eine rein monetäre Leistung, die es zur Sicherung der Lebensbedürfnisse am »freien Markt« zu verwerten gilt. Unabhängig von der Höhe und damit konkreten »Kaufkraft« SatzBakic.qxd 146 27.02.2008 17:19 Seite 146 Neue Unterschicht und soziale Sicherung eines Grundeinkommens, wird über eine derartige Leistung das Recht auf soziale Teilhabe monetarisiert – und gleichzeitig auch individualisiert (zur Problematik von Geldleistungen vgl. auch Hammer/Österle 2001). Teilhabe wird damit in erster Linie auf eine »Konsuminklusion« reduziert (vgl. Nullmeier 2007, 18). Dies entspricht durchaus auch der Meinung und dem Willen von liberalen ProponentInnen dieser Idee. So wirbt zum Beispiel eine deutsche Expertengruppe im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung unter dem Titel einer »Teilhabegesellschaft« für einen »Neuen Sozialkontrakt mit Zukunftsperspektive«, der »dem Grundsatz der individuellen Eigenverantwortung Rechnung [trägt] und zugleich dem Prinzip der Chancengleichheit [genügt]« (Grözinger/Maschke/Offe 2006, 3)1. Teilhabe kann damit am Markt erkauft werden – allerdings nur, solange das Geld eben reicht. So sich individuelle Entscheidungen zur Verwertung des Geldes als verfehlt herausstellen, läge der Gewinn an Gerechtigkeit darin, »dass alle mit Beginn des Erwachsenenlebens eine ähnliche Chance hätten, Entscheidungen zu treffen, die sich als ›richtig‹ bewähren.« (Grözinger/Maschke/Offe 2006, 3). Ein derartiges Verständnis von Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Solidarität muss vor dem Hintergrund gegenwärtiger sozialer Ungleichheiten und Spaltungstendenzen schlicht als zynisch bezeichnet werden. Abseits der Vorschläge zur Einführung eines »bedingungslosen Grundeinkommens« gibt es allerdings nur begrenzt Ideen zur radikalen Reformierung der sozialen Sicherung – Benz/Boeckh wähnen einen emanzipativen Reformbegriff grundsätzlich »in der realpolitischen Defensive« (Benz/Boeckh 2005, 71). Angesichts der kritischen Befunde zu Wirkungen eines »bedingungslosen Grundeinkommens« sollen im Folgenden jene Perspektiven herausgearbeitet werden, die eine Reformierung sozialer Sicherheit im Rahmen des derzeitigen Systems ermöglichen. Aufgegriffen werden soll allerdings der mit den Perspektiven eines »bedingungslosen Grundeinkommens« reaktualisierte Anspruch der Gewährung von sozialer Sicherung SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 147 Neue Unterschicht und soziale Sicherung 147 in einer Form, die Druck und Zwang zu einem normierten (Erwerbsarbeits-)Leben möglichst hintanstellt. Mit Blick auf die Zentrierung des derzeitigen sozialen Sicherungsmodells auf ein geschlechterhierarchisches Verständnis von »male breadwinner« und »female caretaker«, aber auch im Zusammenhang mit den Entwicklungen in Wirtschaft und Arbeitsmarkt, bedarf es einer Neubewertung und -verteilung von Erwerbsarbeit und anderen (Sorge-)Tätigkeiten. Soziale Sicherung muss so gestaltet sein, dass sie auch bei Erwerbstätigkeiten abseits des traditionellen »Normalarbeitsverhältnisses« Existenzsicherung und gesellschaftliche Teilhabe sicherstellt und Anreize für eine egalitäre Verteilung von Sorgetätigkeiten zwischen den Geschlechtern setzt. Bei einer Reform sozialer Sicherung ist jedenfalls darauf zu achten, dass die »Planbarkeit der Zukunft« als wesentliches Element im Kampf gegen die soziale Unsicherheit (vgl. Castel 2005, 49) substanziell verbessert wird. Verbunden ist damit ein System sozialer Sicherung, das nicht mehr auf homogene und stabile Bevölkerungsgruppen abstellt, sondern die vielfältigen Lebenssituationen und- profile von Individuen zu berücksichtigen in der Lage ist (vgl. Castel 2005, 98f). Erstens bedeutet dies eine stärkere Verankerung von beitragsunabhängigen sozialen Grundrechten innerhalb und außerhalb der Sozialversicherung. Zweitens ist damit in logischer Konsequenz eine Tendenz der Entkoppelung von sozialen Rechten und strikter Erwerbsorientierung verknüpft. Angesichts diskontinuierlicher Berufswege würde so eine Rechtskontinuität geschaffen werden, die auch Perioden einer Unterbrechung von Erwerbsarbeit (z.B. auch zur Erbringung von Sorgetätigkeiten) absichert und die Unabhängigkeit der BürgerInnen von Wechselfällen des Marktes und des Erwerbsstatus stärkt (vgl. Castel 2005, 119; sowie Kronauer 2007, 33). Darüber hinaus ist, statt einer weitergehenden Privatisierung von sozialen Diensten, die Gewährleistung eines breiten SatzBakic.qxd 148 27.02.2008 17:19 Seite 148 Neue Unterschicht und soziale Sicherung Angebots von sozialer Infrastruktur sicherzustellen. Joachim Hirsch als einer der Verfasser eines Konzeptes von »Sozialpolitik als Infrastruktur« (vgl. AG links-netz 2003) versteht darunter den umfassenden »Ausbau öffentlicher Güter und Dienstleistungen, die allen Menschen unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden müssen. Dies reicht von Bildung und Ausbildung über Gesundheitsvorsorge bis hin zu Wohnen und Verkehr« (Hirsch 2005, 39ff). Mit einem derartigen Ausbau, auch von sozialen Diensten, können nicht nur armutspräventive Wirkungen (vgl. Benk/Boeckh 2005, 72), sondern auch ein Beitrag zur sozialen Kohärenz verbunden werden. Herausforderungen für eine kritische Soziale Arbeit Die anhand der Debatte zur »neuen Unterschicht« sichtbare, medial inszenierte Umdeutung von ökonomischen und sozialen Problemlagen in kulturelle Defizite begünstigt eine Form von Sozialer Arbeit, die paternalistisch-pädagogische Interventionen zur Wiederherstellung von Ordnung, Angepasstheit und Sittlichkeit an die Stelle einer Unterstützung zur Sicherung von sozialer und materieller Teilhabe setzt. In Misskredit geraten somit nicht nur »passivierende«, die Eigeninitiative und –verantwortung lähmende Geldleistungen, sondern sozialarbeiterische Betreuungskonzepte insgesamt. Für die Fachlichkeit Sozialer Arbeit, die schon im Zuge der Ökonomisierungsbestrebungen und der damit verbundenen quantifizierenden Logiken – auch durch die eigene Profession selbst – zunehmend in Frage gestellt wird, bedeuten diese Veränderungen eine große Herausforderung zur Wiederaneignung ihres normativen Anspruches und seiner fachlichen Umsetzung. Prekarisierung und gesellschaftliche Desintegration bedürfen als Reaktion einer Sozialpolitik und Sozialen Arbeit, die mit Formen von sozialer Sicherung nicht nur einem Auseinanderdriften der materiellen Lebenslagen, sondern auch einer »sozi- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 149 Neue Unterschicht und soziale Sicherung 149 alen Entkoppelung« (Castel 2005, 39) von Individuen und Gruppen entgegenwirkt. Wie die Ausführungen zu Dynamiken der Prekarisierung gezeigt haben, werden eindeutige Schichtzugehörigkeiten zunehmend brüchig und soziale Unsicherheiten, die auch, aber nicht nur materielle Lebensverhältnisse betreffen, weiten sich gesamtgesellschaftlich aus. In einem verbreiterten Verständnis von sozialer Sicherung ist Soziale Arbeit als wesentlicher Teil einer »sozialen Infrastruktur« zu verstehen, die sich gerade durch ihre Zugänglichkeit für Menschen unterschiedslos von Ressourcen und Status auszeichnet. Die gegenwärtige Entwicklung einer einseitigen »Neuausrichtung« der Sozialen Arbeit auf Disziplinierung, Kontrolle und Verhaltensregulierung macht eine Konkretisierung der gerechtigkeitstheoretischen Fundierung von Sozialer Arbeit unumgänglich. lohnende Konzeptionalisierungen sind im Anschluss an den Fähigkeitenansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum entstanden (vgl. Schrödter 2007). Grundgedanke ist hierbei die Sichtweise von Fähigkeiten als Grundgüter, die in der Regel sozial erzeugt sind und deren faire Verteilung ebenso organisiert werden muss wie die Verteilung ökonomischer Güter. Mark Schrödter sieht die Aufgabe der Sozialen Arbeit in diesem Zusammenhang darin, Verwirklichungschancen für ihre KlientInnen durch einen Zugang zu den ihnen bislang vorenthaltenen Grundgütern sicherzustellen und so zum Vollzug von Sozialer Gerechtigkeit beizutragen (vgl. Schrödter 2007, 20f). Aus dieser Perspektive heraus steht der Sozialen Arbeit ein großes Betätigungsfeld offen, das auch die widersprüchlichen Anforderungen an Soziale Arbeit – die neben ihrer Funktion zur Abfederung von kapitalistischen Verwerfungen immer auch Herrschaftsinstrument ist und bleiben wird – aus kritischer Sicht zu konzeptualisieren vermag. SatzBakic.qxd 27.02.2008 150 17:19 Seite 150 Neue Unterschicht und soziale Sicherung Anmerkungen 1 Anders als die herkömmlichen Vorschläge eines »bedingungslosen Grundeinkommens« schlagen die AutorInnen hier einen Einmaltransfer im Sinne einer Vermögensteilhaberschaft für jede/n BürgerIn vor. Literatur AG links-netz (2003): Gibt es eine Alternative zum neoliberalen Sozialstaatsabbau? Umrisse eines Konzepts von Sozialpolitik als Infrastruktur. Online unter: http://www.links-netz.de/rubriken/R_ infrastruktur.html [15.01.2008] Badelt, Christoph/Österle, August (2001): Grundzüge der Sozialpolitik. Sozialpolitik in Österreich. Spezieller Teil. Wien Benz, Benjamin/Boeckh, Jürgen (2006): Theorie, Struktur und Zukunft des Sozialstaats. In: Grasse, Alexander/Ludwig, Carmen/Dietz, Bernhard (Hg.): Soziale Gerechtigkeit. Reformpolitik am Scheideweg. Wiesbaden, 71-87 Böhnisch, Lothar/Arnold, Helmut/Schröer, Wolfgang (1999): Sozialpolitik. Eine sozialwissenschaftliche Einführung. Weinheim und München. Buhr, Petra (2005): Ausgrenzung, Entgrenzung, Aktivierung: Armut und Armutspolitik in Deutschland. In: Anhorn, Roland/Bettinger, Frank (Hg.): Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Wiesbaden, 185-202 Butterwegge, Christoph (2005): Krise und Zukunft des Sozialstaates. Wiesbaden. Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz Castel, Robert (2005): Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburg Chassé, Karl August (2007): Unterschicht, prekäre Lebenslagen, SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 151 Neue Unterschicht und soziale Sicherung 151 Exklusion – Versuch einer Dechiffrierung der Unterschichtsdebatte. In: Kessl, Fabian / Reutlinger, Christian / Ziegler, Holger (Hg.): Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die ›neue Unterschicht‹. Wiesbaden, 17-38 Dahme, Heinz-Jürgen/Otto, Hans-Uwe/Wohlfahrt, Norbert (Hg.) 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Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich. Heft 3/2005, 32-48 Kessl, Fabian (2005): Das wahre Elend? Zur Rede von der »neuen Unterschicht«. In: Widersprüche 25 Jg. Heft 98: 29-44. Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian/Ziegler, Holger (2007): Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die »neue Unterschicht« – eine Einführung. In: Kessl, Fabian / Reutlinger, Christian / Ziegler, Holger (Hg.): Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die ›neue Unterschicht‹. Wiesbaden, 7-15 Kraemer, Klaus/Speidel, Frederic (2005): Prekarisierung von Erwerbsarbeit – Zur Transformation des arbeitsweltlichen Integrationsmodus. In: Heitmeyer, Wilhelm / Imbusch, Peter (Hg.): Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft. Wiesbaden, 367-390 Kronauer, Martin (2007): Neue soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeitserfahrungen: Herausforderungen für eine Politik des Sozialen. In: Filipic, Ursula (Hg.): Soziale Gerechtigkeit versus Eigenverantwortung. 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In diesem deklarativen Anspruch steckt einerseits eine Referenz auf die Existenz und die Bedeutung sozialer Normen im gesellschaftlichen Handeln, wobei auf die Legitimität dieser Normen Bezug genommen wird. Andererseits wird auf den zwingenden Charakter von Normen hingewiesen. Und beide Elemente zusammen bilden einen Handlungsrahmen für Soziale Arbeit. Gemeint ist mit diesem Dokument wohl auch, dass das Normative die Grundlage der Gesellschaft ist – und damit auch der Sozialen Arbeit. Dieser normative Aspekt gesellschaftlichen und sozialarbeiterischen Handelns wird im ersten Teil der folgenden Ausführungen behandelt. Im zweiten Teil der Arbeit wird dann der Begriff des abweichenden Verhaltens dargestellt, um im dritten Abschnitt dann dieses Begriffspaar stärker in den Kontext der Sozialen Arbeit zu stellen. Handeln nach sozialen Normen Doch wie entstehen Normen? Es konkurrieren hier verschiedene Grundauffassungen. Einige berufen sich auf das Naturrecht, andere leiten sie aus dem göttlichen Ratschluss ab, wieder SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Norm und Abweichung Seite 155 155 andere gehen davon aus, dass jede Norm von Menschen geschaffen wurde. Die soziokulturelle Vielfältigkeit von Norminhalten demonstriert jedenfalls die soziale Plastizität und Produktivität des Menschen. Jede Gesellschaft entwickelt und gestaltet ihre eigenen Normen, sie ist sogar gezwungen, diese zu gestalten (vgl. Schäfers 2008). Wenn auch eine gewisse Globalisierung von sozialen Normen feststellbar ist, so bleiben diese nichtsdestoweniger stark kontextgebunden. Sie verlieren jenseits des sozialen Umfeldes und der Art der Aktivitäten, auf die sie sich beziehen, ihren Sinn. Es gibt keine allgemeine Definition von normal bzw. pathologisch. Was normal bzw. pathologisch ist, ist vor dem Hintergrund der jeweiligen gesellschaftlichen Situation zu sehen. Dabei ist eine deutliche Diskrepanz zwischen den geltenden Normen und der Praxis feststellbar, zwischen dem, was wir tun sollen und dem, was wir tatsächlich tun. Es scheint gerade so zu sein, dass die Existenz sozial geforderter und sanktionierter Handlungen zugleich das Auftreten sozial verbotener Handlungen nach sich zieht. Durkheim (1984 [1895]) geht sogar soweit, dass er sagt: »Das Verbrechen ist normal, weil eine Gesellschaft, in der es kein Verbrechen gäbe, völlig unmöglich ist« (S. 154). Wenn auch unbestritten ist, dass Normabweichung einen konstitutiven Bestandteil gesellschaftlichen Handelns ausmacht, so kann Durkheims These als utilitaristisch und evolutionistisch bezeichnet werden, weil sie letztlich jede menschliche Aktivität unter funktionalen Gesichtspunkten analysiert, d.h. in ihrer Bedeutung für den Erhalt der Ordnung in der Gesellschaft. Indem Entscheidungen für oder gegen eine bestimmte Norm getroffen werden, für oder gegen Rauchen in Lokalen, für oder gegen Fußfesseln in der Straffälligenarbeit, für oder gegen ein Grundeinkommen ist eine Gesellschaft produktiv. Sie ist produktiv, weil eine Wahl innerhalb eines bestimmten Spielraums getroffen wird und weil Entscheidungen getroffen werden, die zu Festlegungen führen und weiteres Handeln definieren. Und SatzBakic.qxd 156 27.02.2008 17:19 Seite 156 Norm und Abweichung diese Festlegungen erfolgen unter gegenseitiger Bezugnahme, d.h. Normen begrenzen die Willkür in der Beziehung von Menschen untereinander. Allerdings können solche Entscheidungen nicht nur zu mehr Sicherheit und Verhaltensstabilität führen, sondern auch gleichzeitig zu Regelungen führen, die Freiheitsspielräume einschränken bzw. sozial ungerecht sind (vgl. Biermann 2007). Inwieweit also (neue) soziale Normen als produktiv bewertet werden können, hängt nicht nur davon ab, ob sie Sicherheit erzeugen, sondern auch, wie sie sich auf die Machtverhältnisse in der Gesellschaft auswirken. Die KlientInnen in der Sozialen Arbeit haben aufgrund fehlender Ressourcen geringe Spielräume bei der Gestaltung sozialer Normen. Unter sozialen Normen verstehen wir jedenfalls kollektive Verhaltenserwartungen und Verhaltensanweisungen, die als legitim gelten. Sie bewirken eine gewisse Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit der sozialen Handlungsabläufe und entlasten das Individuum von der Notwendigkeit, ständig neue, situationsgerechte Handlungsweisen zu entwerfen (vgl. Peuckert 1986, 256). Soziale Normen befriedigen grundlegende Bedürfnisse des Menschen, wie z.B. nach sozialem Vergleich, Nutzenmaximierung, Gerechtigkeit und Zusammengehörigkeit. Wenn Normen auch oft mit rationalen Interessen von Individuen begründet werden, d.h. Individuen ein Interesse daran haben, die Handlungen von anderen Personen in eine bestimmte Richtung zu lenken, so ist ihnen doch gerade eigen, dass sie über eine bloße Nutzenorientierung hinausführen. Denn, so Esser (2001, 35), »die bloße Nutzenorientierung lässt den Menschen in Ziellosigkeit und die Gesellschaft in Unordnung zurück«. Normen legen fest, was in spezifischen sozialen Situationen geboten oder verboten ist, z.B. »Tischnormen«, »Begrüßungsnormen«. Sie werden im Sozialisationsprozess gelernt und tradiert, sie ermöglichen Erwartungshaltungen und haben allge- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Norm und Abweichung Seite 157 157 meine Geltung für ein Kollektiv. Soziale Verpflichtungen werden habitualisiert. Es handelt sich also nicht nur um Zumutungen, die als von außen kommend erlebt werden, sondern um Sollansprüche, die verinnerlicht und als selbstverständlich angesehen werden. Soziale Normen erzeugen auf diese Weise Sicherheit (z.B. Verkehrsregeln) und ermöglichen ein geregeltes Zusammenleben. »Normen begründen Normalität« (Bahrdt 2000, 50). Jede normative Interpretation von Handlungen und Situationen begrenzt die soziale Relevanz der individuellen Erlebnissphäre. Normen schaffen damit aber auch eine künstliche Kommunikationssphäre zwischen Menschen. Soziale Normen sind in der Moderne stark mit der Entwicklung des Staates verknüpft. Die Entwicklung des wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystems seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat sowohl zu neuen und tiefgreifenden Normierungseffekten als auch zu Entlastungseffekten im gesellschaftlichen Handeln geführt. Über wohlfahrtsstaatliche Regelungen ist es etwa zu einer Normierung des Lebenslaufs in drei Phasen gekommen. Entstanden ist eine altersdifferenzierte Gesellschaft, in der sich die Jungen im Bildungssystem befinden, die Erwachsenen in der Erwerbsarbeit und die Alten im »Ruhestand«. Diese Ordnung des Lebenslaufs hat das Individuum entlastet und aus der Kontrolle kleinräumlich angesiedelter Gemeinschaften entlassen. Der Einfluss des Sozialstaats hat damit als mächtiger Individualisierungsfaktor gewirkt, indem er dem Individuum beträchtliche kollektive Sicherungsleistungen zur Verfügung stellte. Die »Hilfsgarantie« des Staates erweiterte die Handlungsspielräume des Individuums. In dieser Hinsicht kann von einer gesteigerten Normierungsoffenheit in wohlfahrtsstaatlich organisierten Gesellschaften gesprochen werden, d.h. Normen haben ihre klare Orientierungsfunktion verloren. Das Individuum findet eine deutlich erweiterte Gelegenheitsstruktur für die eigene Lebensgestaltung. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich das Individuum an die Hilfsgarantien »gewöhnt«, das Sicherheitsbedürfnis – könnte überspitzt formuliert werden – SatzBakic.qxd 158 27.02.2008 17:19 Seite 158 Norm und Abweichung ist zur gesellschaftlichen »Natur« des modernen Menschen geworden. Demnach wird der Wandel im 20. Jahrhundert als Wandel von einer Disziplinargesellschaft zu einer Sicherheitsgesellschaft beschrieben (vgl. Singelnstein/Stolle 2006). Ende des 20. Jahrhunderts löst sich das Zusammenspiel von wohlfahrtsstaatlicher Sicherheit und individuellem Handeln in verschiedenen Lebensbereichen, z.B. Familie, Religion, Freizeit auf. Es kommt zu einer Radikalisierung der Individualisierung bzw. Selbstverantwortung. In der Sozialen Arbeit findet sich die Formel von der »Hilfe zur Selbsthilfe«. Subjektive Selbstorganisation wird der Vorrang vor staatlicher Intervention eingeräumt. Soziale Arbeit steht unter dem normativen Postulat der Aktivierung (vgl. Kessl/Otto 2004). Die Disziplinargesellschaft des 19./20.Jh war gekennzeichnet durch ein allgemein gültiges Werte- und Normengefüge, das eine klare Trennlinie zwischen normal und anormal gezogen hat. Klassenzugehörigkeit, Kirche und Familie waren die institutionellen Träger dieser normativen Struktur. Wurden Normen verletzt, dann wurde das Individuum diszipliniert und an den präskriptiven Normen »ausgerichtet«. Diese Disziplinierung ist großteils verschwunden, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen, die diese Formation getragen haben, gewandelt haben. Im Laufe dieser Entwicklung haben nicht nur die traditionellen Institutionen an Bedeutung verloren, sondern auch der Wohlfahrtsstaat als Sicherheitsgarantie. Entwickelt hat sich im späten 20. Jahrhundert zunehmend eine Ideologie der Selbstverantwortung des Individuums, welches ein hohes persönliches Sicherheitsbedürfnis aufweist bzw. nach persönlicher normativer Rahmung sucht. Die normative Kontrolle wurde in das Individuum hineinverlagert, sodass Gilles Deleuze (1993) von einer Ablösung der Disziplinargesellschaft durch die Kontrollgesellschaft spricht2. Kontrolle geschieht aber nicht nur durch eine Internalisierung von Normen, sondern auch über den verstärkten Einsatz technischer Überwachungsgeräte (wie Videokameras, Zugangsschranken oder Audiokontrolle) oder SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Norm und Abweichung Seite 159 159 die architektonisch abweisende Gestaltung von Räumen. In einer Untersuchung über deutsche Städte, kommt Wehrheim (2002) zu dem Ergebnis, dass durch die neuartigen Kontrollstrategien verstärkt benachteiligte Personengruppen aus öffentlichen Räumen ausgeschlossen werden, die noch vor kurzer Zeit unkompliziert zugänglich waren. Es geht dabei nicht um eine Verhinderung von abweichendem Verhalten, sondern um die Verhinderung konsumabträglicher Situationen. Als störend empfunden werden da sowohl Kinder als auch Menschen, die betteln, rauchen, trinken oder Handel treiben. Von Bedeutung für die Soziale Arbeit sind die von Heinrich Popitz (2006 [1961]) herausgearbeiteten universalen Konstrukte sozialer Normierung, wozu einerseits allgemeine Normen gehören und andererseits Partikularnormen. Zu den allgemeinen Normen gehört etwa das Gleichheitsprinzip, welches besagt, dass Menschen ungeachtet ihrer empirischen Ungleichheit als gleich zu gelten haben und zu behandeln sind. Es werden damit übergreifende Zugehörigkeitsprinzipien zu einer Gruppe definiert. Real erfährt das Individuum allerdings sowohl Zugehörigkeit als auch Ausschluss. Im Fall der Menschen, mit denen Soziale Arbeit zu tun hat, handelt es sich sehr viel häufiger um Erfahrungen sozialer Exklusion. Aus diesem Grund wird das in allgemeinen Normen angelegte Gleichheitsprinzip durch verschiedene Typen von Partikularnormen im gesellschaftlichen Binnenraum unterlaufen und modifiziert. Über Partikularnormen wird versucht, eine eigene »unversehrte« Lebenswelt zu schaffen. In solchen Normen, die nur in den jeweiligen gesellschaftlichen Teilgruppen anerkannt werden, drücken sich Formen des Andersseins, der Ungleichartigkeit aus. Roland Girtler (1995) weist in seinen Untersuchungen über Randgruppen darauf hin, dass diese das Anderssein zu stilisieren trachten, weil gerade ein nicht mehrheitsgesellschaftlichkonformes Handeln zu hohem Ansehen der handelnden Akteure beiträgt. Es ergibt sich eine Gleichheit im Anderssein, wobei empirisch Prinzipien wechselseitig gleicher Verpflichtungen zu SatzBakic.qxd 160 27.02.2008 17:19 Seite 160 Norm und Abweichung finden sind und von einer insularen Reziprozität gesprochen werden kann (vgl. Popitz 2006 [1961], 34). Der Doppelcharakter sozialer Normen besteht in Inklusion und Exklusion. Sie haben den Zweck der sozialen Integration. Sie sorgen für Stabilität und Ordnung. Der Begriff deckt damit auch die Friedhofsruhe in Gesellschaften totalitären Charakters ab. Soziale Normen sind demnach nicht bloß Stützen der Verhaltenssicherheit der Individuen, sie sind auch Stützen von Macht und Herrschaft. Damit ist auf den Konfliktcharakter von sozialen Normen verwiesen (vgl. Scherr 2006). Dieser zeigt sich auf allen Ebenen der Gesellschaft. Er ist in der Vielheit sich überschneidender Verpflichtungen prinzipiell angelegt. In allen Gesellschaften sind die Individuen Mitglieder divergenter sozialer Einheiten und damit Träger mehrerer sozialer Rollen, wodurch die Möglichkeit von Normkonflikten gegeben ist. Die KlientInnen der Sozialen Arbeit befinden sich in einer verschärften Konfliktsituation. Sie wollen bestimmte normative Anforderungen erfüllen, z.B. eine »gute Mutter« sein, ein/e »liebevolle/r PartnerIn« sein, können dies aber aufgrund ihrer sozialen Lage nicht. Und sie verletzen ständig Normen, um überleben zu können. Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle So wie Normen als Urphänomen des Sozialen bezeichnet werden können (vgl. König 1969), so ist auch das abweichende Verhalten konstitutiv für den Erhalt sozialer Normen. Soziale Arbeit hat es häufig mit abweichendem Verhalten zu tun, mit Menschen und Gruppen, die nicht den gesellschaftlichen Anforderungen gerecht werden. Doch wie lässt sich abweichendes Verhalten bestimmen? Es bezeichnet alle Formen eines mit gesellschaftlichen Normen nicht übereinstimmenden Verhaltens wie z.B. Kriminalität, Suizid, Drogenabhängigkeit, Alkoholismus, Krankheit, Behinderungen, Leistungsversagen, SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Norm und Abweichung Seite 161 161 Prostitution, Randgruppenzugehörigkeit, Extravaganz, Rebellion, Innovation etc (vgl. Lamnek 2007). In seiner Neutralität intendiert der Terminus »abweichendes Verhalten« die traditionelle Diskriminierung auffälligen Verhaltens und die ideologische Belastung älterer Begriffe wie »Verwahrlosung« und »Gefährdung« zu vermeiden. Wesentlich ist jedenfalls, dass deviantes Verhalten von den in der jeweiligen Gesellschaft anerkannten Normen abhängig ist. Es gibt kein abweichendes Verhalten als solches, sondern Handlungen, die eine allgemeine gesellschaftliche Norm verletzen oder die einer bestimmten Gruppe in der Gesellschaft. Die soziale Konstruktion abweichenden Verhaltens bedeutet auch, dass dieses einerseits jemanden braucht, der eine Handlung als abweichend definiert (vgl. Becker 1973) und es andererseits einem ständigen Wandel unterworfen ist. Devianz ist ein Begriff, der nur dann verstanden werden kann, wenn man weiß, wovon jemand »abweicht« (vgl. Peuckert 2008). Aus einem sozialpädagogischen Verständnis lässt sich öffentlich etikettiertes und sanktioniertes abweichendes Verhalten in seinem Kern auch als Bewältigungsverhalten verstehen (vgl. Böhnisch 1999), als subjektives Streben nach situativer und biografischer Handlungsfähigkeit. Es dient der psychosozialen Balance in kritischen Lebenssituationen. Abweichendes Verhalten ist Folge einer »devianten Sozialisation«. Gibt es in der Auseinandersetzung mit sich selbst bzw. mit anderen Probleme, dann können diese über deviantes Verhalten »bewältigt« werden. Eine andere Definition lautet: Abweichende Verhaltensweisen sind solche Verhaltensweisen, die in einer bestimmten Gesellschaft und in einer bestimmten historischen Epoche von den jeweils Herrschenden und einflussreichen Eliten zur öffentlichen Distanzierung und Ächtung freigegeben sind. Damit ist abweichendes Verhalten mit Macht und Herrschaft verknüpft. Immer wieder ist versucht worden, die Erklärung für Abweichung in angeborenen Eigenarten der Menschen zu fin- SatzBakic.qxd 162 27.02.2008 17:19 Seite 162 Norm und Abweichung den. So analysierte zum Beispiel im 19. Jahrhundert der italienische Kriminologe Cesare Lombroso (1836-1909) auf der Suche nach vererbten kriminellen Tendenzen die Schädelform von Kriminellen. Seine Forschungen legten die Vermutung nahe, dass viele Kriminelle hohe Backenknochen, große Kieferknochen und hervorstehende Augenbrauenknochen hätten. Lombroso beging indessen einen fatalen Fehler. Er untersuchte nur die Schädel von Kriminellen, nicht jedoch die einer repräsentativen Gruppe der gesamten Bevölkerung. Als einige Jahre später der englische Arzt Charles Goring die Schädel von Kriminellen mit denen anderer Menschen verglich, fand er keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (vgl. Lamnek 2007). Heutige Wissenschaftler gehen davon aus, dass das menschliche Verhalten viel zu komplex ist, um es allein biologisch zu erklären. Wie sehr allerdings der biologischgenetische Ansatz immer wieder zur Erklärung abweichenden Verhaltens herangezogen wird, zeigt die von der Hirnforschung vor einigen Jahren neu entfachte Debatte (vgl. Singer 2003). Die Neurowissenschaften verstärken die Tendenz der Psychiatrisierung des Rechtssystems und stellen damit sozialpädagogisch-sozialarbeiterische Interventionen in Frage. Wesentliche soziale Determinanten abweichenden Verhaltens sind – unter Berücksichtigung kriminellen Verhaltens – Alter und Geschlecht, d.h. es findet sich eine höhere Rate bei Jüngeren und Männern. Die Kriminalitätsbelastung junger Menschen beträgt ein Mehrfaches der Belastung von Menschen im mittleren und höheren Alter. Die Alterskurve der Kriminalitätsbelastung für beide Geschlechter ist »linksschief«, d.h. die Belastung erreicht bei den Altersgruppen unter 25 Jahren ihren Gipfel und fällt danach wieder ab (vgl. Hodapp 2007). Diese »Linksschiefe« wird seit Führung einer amtlichen Kriminalitätsstatistik beobachtet. Daraus folgt auch der temporärere Charakter von abweichendem Verhalten im Jugendalter. Die Frage, die sich hinsichtlich des Zusammenhangs von Kriminalität mit Alter und Geschlecht ergibt, ist die nach der SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Norm und Abweichung Seite 163 163 Erklärung dieses Zusammenhangs. Sind Frauen besser sozialisiert, vermeiden sie Delikte, weil sie für Kinder zu sorgen haben? Oder lässt sich der Unterschied mit physischer Stärke erklären, wie es der amerikanische Forscher Walter Gove formuliert hat, d.h. je größer die physische Stärke, die sowohl geschlechts- als auch alterskorreliert ist, desto höher ist die Kriminalitätsrate. Auffällig ist auch noch, dass Geschlechtsund Alterseffekte deliktabhängig sind, d.h. Diebstahl ist weniger altersabhängig als Gewaltdelikte. Der originäre Ort weiblicher Devianz ist die Privatsphäre. Die Mädchendelinquenz spiegelt weibliche Rollennormen wider. Sie ist »leise«, sie findet eher im Verborgenen statt und richtet sich in den meisten Fällen nicht gegen die Machtstrukturen männlicher Hegemonie (vgl. Böhnisch 1999, 85). Wie sieht nun die gesellschaftliche Reaktion auf abweichendes Verhalten aus? Nach Peuckert (2008) verträgt fast jedes soziale System abweichendes Verhalten in einem beträchtlichen Ausmaß. Es leistet wichtige Beiträge zur Lebensfähigkeit und Effektivität des sozialen Systems. Empirisch ist ungeklärt, unter welchen Bedingungen welche Formen des abweichenden Verhaltens günstige bzw. ungünstige Wirkungen haben. Feststellbar ist hinsichtlich der äußeren Kontrolle von abweichendem Verhalten jedenfalls eine erhebliche Veränderung des Kontrollstils im Zuge der Modernisierung. Soziale Kontrolle wird immer weniger von lokalen Gruppen oder Gemeinschaften, sondern von staatlichen Organisationen und Medien ausgeübt. Bis ins 19. Jahrhundert wurde abweichendes Verhalten als Sünde bzw. Verbrechen gesehen und dementsprechend repressiv und körperlich bestraft (vgl. Foucault 2006). Als ein wesentliches Kennzeichen der Modernisierung gilt die Pädagogisierung bzw. Medikalisierung des Kontrollstils. Ungehorsam wird weniger strafrechtlich und sozial ausschließend geahndet, sondern stärker als pathologisch gedeutet und einer therapeutischen Intervention zugeführt. Mit der Zunahme behandelnder Kontrollformen wurde das Gefängnis, so SatzBakic.qxd 164 27.02.2008 17:19 Seite 164 Norm und Abweichung Foucault (2006), als Mittel sozialer Kontrolle zunehmend überflüssig. Die Medikalisierung abweichenden Verhaltens zeigt sich etwa im Anspruch der Medizin Normabweichungen benennen, erklären und behandeln zu können. Normabweichungen werden als Symptome individueller Unmündigkeit angesehen. Die Rolle des Abweichenden wird als eine solche des/der Kranken umdefiniert. Tendenziell lässt sich wohl ein Rückgang harter Formen der sozialen Kontrolle beobachten und eine Zunahme präventiver Strategien, d.h. Techniken der inneren Disziplinierung (z.B. Iss weniger! Rauch weniger! Mach mehr Bewegung!), jedoch lässt sich auch das Fortbestehen repressiver Formen zeigen. Dies gilt etwa für den Ansatz der »Null Toleranz« der New Yorker Polizei, wonach selbst kleinste Regelverstöße, wie z.B. Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit hart und schnell geregelt werden. Dies gilt aber auch im Zusammenhang mit der Kontrolle rechtsradikaler Strömungen, Gewalt in Schulen oder Sexualdelikten (vgl. Hoops/Permien/Rieker 2001). Allen Maßnahmen der sozialen Kontrolle ist jedenfalls gemeinsam, dass sie die Bandbreite menschlichen Verhaltens auf Typen von sozial erwünschten »Sozialcharakteren« einzuengen versuchen. Normen und soziale Abweichung in der Sozialen Arbeit Die Bedeutung der Normenfrage in der Sozialen Arbeit stellt sich vor dem Hintergrund ihres Engagements innerhalb konkreter Konfliktverhältnisse auf individueller, interaktiver und struktureller Ebene. Dieses Engagement erhält Orientierungen durch gesellschaftlich-sozialpolitische Funktionszuschreibungen und institutionell-administrative Vorgaben wie auch durch Selbstkonzepte und Programme Sozialer Arbeit. Basierend auf der Unterscheidung in helferische und erzieherische Normen kann eine gewisse »Pädagogisierung« der Hilfe festgestellt SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Norm und Abweichung Seite 165 165 werden, d.h. die Verknüpfung von Hilfeleistung mit Verhaltenserwartungen, wobei aus der Verbindung von Erziehung und Hilfe in einer einzigen Berufsrolle des Sozialarbeiters Normenkonflikte entstehen können (vgl. Biermann 2007). Staub-Bernasconi (2005) hat in ihrer disziplinären Bestimmung der Sozialen Arbeit drei Paradigmen herausgearbeitet, die unterschiedliche normativen Rahmen sozialen Handelns anbieten. Als erstes Paradigma nennt sie das egozentrische, welches den individuellen Wert Freiheit als wesentliche Handlungsmaxime in der Sozialen Arbeit ausweist. Dieser normative Anspruch stellt sich dann im Zusammenhang mit abweichendem (kriminellen) Verhalten so dar, dass SozialarbeiterInnen die Partei der KlientInnen gegen die »ungerechte« Gesellschaft ergreifen und manchmal sogar in Kauf nehmen, selbst belogen und bestohlen zu werden. Als zweites Paradigma nennt StaubBernasconi das soziozentrische, in dem soziale Werte des Zusammenhalts, der gesellschaftlichen Stabilität und Ordnung an oberster Stelle stehen. Individuen haben demnach »möglichst viele verallgemeinerbare Pflichten zur Erhaltung der strukturellen Ordnung unter Gleichen und Ungleichen zu übernehmen« (Staub-Bernasconi 2005, 252). Als drittes Paradigma wird das prozessual-systemische angeführt. Dieses versucht den egozentrischen und den soziozentrischen zu vereinen. In diesem Ansatz geht es sowohl um Probleme von Individuen als auch sozialstrukturelle Hemmnisse als Basis für Soziale Arbeit. Wesentlich ist in dieser Verlinkung von Mikro- und Makroebene die Berücksichtung von Machtaspekten. Soziale Arbeit ist stets nicht nur als eine Form der Hilfe sondern auch als eine Form der Kontrolle anzusehen, wobei diese Verdopplung (vgl. Sünker 1995, 81) als eine historische Konsequenz der Vergesellschaftung von Hilfe angesehen wird. Durch diese Dopplung der Funktion in Hilfe und Kontrolle wird Soziale Arbeit in einen Zusammenhang mit Fragen nach sozialen Normen und abweichendem Verhalten gestellt und als eine darauf bezogene Interventionsform betrachtet. Lange Zeit SatzBakic.qxd 166 27.02.2008 17:19 Seite 166 Norm und Abweichung war man davon ausgegangen, dass die moderne Gesellschaft in zunehmendem Maße Inklusionsmöglichkeiten für Jedermann bereithalten würde. Es galt das »Prinzip der Inklusion aller in alle Funktionssysteme« (Luhmann 1995). Doch das Postulat einer allumfassenden Inklusion erweist sich wie jede Norm als sehr enttäuschungsresistent. Die soziale Realität entspricht keineswegs den Vorgaben dieses Imperativs. Erhebliche Schwierigkeiten ergeben sich für die Soziale Arbeit vor dem Hintergrund des allgemeinen Kontrollbedürfnisses in der Gesellschaft. Sie wird in die Rolle der kontrollierenden Instanz gedrängt, d.h. sie übt nicht nur soziale Kontrolle aus, sondern sie ist auch eine Instanz, die sozialer Kontrolle unterliegt (vgl. Biermann 2007). Sie soll kontrollieren, ob dies nun die Medikamenteneinnahme von KlientInnen betrifft oder die sachgerechte Verwendung von öffentlichen Geldern oder den Tagesablauf von Haftentlassenen. Damit wird der Anspruch der »Hilfe zur Selbsthilfe« konterkariert. Die »Hilfe« soll sowohl ergebnisorientiert, nachhaltig und effektiv sein, als auch nicht bevormundend und kein Verhältnis der Abhängigkeit erzeugen. Dabei wäre es notwendig, die Gültigkeit sozialer Normen als solches in Frage zu stellen, wie dies Judith Butler zeigt. Judith Butler (2003) befasst sich mit dem Verhältnis zwischen dem ethischen Subjekt und der in einer Gesellschaft tradierten Norm. Es geht dabei darum, welche Normen innerhalb eines gegebenen sozialen bzw. historischen Kontextes schon vorab entscheiden, ob ein Subjekt Anerkennung und Gehör finden kann und oder nicht. Normen entscheiden bereits vorweg darüber, wer Subjekt wird und wer nicht. Welche Normen sind es, denen Individuen gleichzeitig in gleicher und in höchst unterschiedlicher Form unterliegen? Während bestimmte Individuen von Vornherein in ihrer Subjekthaftigkeit anerkannt werden (z.B. Weiße, Männer), werden andere als Subjekt »ausgesetzt«. Herauszuarbeiten gilt es in der Sozialen Arbeit den Bezugsrahmen, der Anerkennung ermöglicht oder nicht. Es gibt vor jeder möglichen Übernahme, Aneignung oder Überschreitung SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Norm und Abweichung Seite 167 167 einzelner Normen bereits ein durch vorgängige Normen überhaupt erst eröffnetes Feld, das für ein Subjekt konstitutiv ist und den Schauplatz jeder Anerkennung bestimmt. Besonderes problematisch sind soziale Normen dort, wenn sie zu einem Universalitätsgesetz erstarren und neue ethische Ansprüche zurückgewiesen werden. Das gilt etwa für den Topos der »deserving poor«. In diesem Kontext kann von struktureller Gewalt gesprochen werden. Soziale Normen entziehen sich ihrer historischen und kulturellen Kontingenz, wenn kulturelle Besonderheiten und die Entstehungsbedingungen, denen soziale Normen unterliegen, außer Acht gelassen werden. Die Soziale Arbeit selbst befindet sich in einem bürokratisch und marktwirtschaftlich regulierten »social services complex« gefangen. In diesem Komplex geht es mehr um Verwaltung oder auch Marketing von Aktivitäten als um die Arbeit selbst. Die Soziale Arbeit ist dort gefährdet, wo sie Normen und Gesetze bloß anwendet und diese zuwenig in ihren Macht- und Begrenzungsaspekten reflektiert. Die Eigenständigkeit der Sozialen Arbeit wird sich in Zukunft daran bewerten lassen, inwieweit sie ihre Widerständigkeit gegenüber Kontrollzumutungen aufrecht erhält bzw. diesen entgegentritt. Die Kontrollformen werden unpersönlicher, abstrakter und zunehmend mit dem Zwang zur individuellen Abarbeitung versehen. Hier braucht es ein Korrektiv durch die Soziale Arbeit. Zu erwarten ist eine weitere Diversifizierung der Wert- und Moralvorstellungen und eine höhere Akzeptanz sozialer und kultureller Abweichungen. Als Beispiel mag hier die Hinzuziehung von illegalen Pflegekräften in der Altenbetreuung genannt werden, wo von einer strukturell erzeugten Abweichung gesprochen werden kann, deren Ahndung individuelle Empörung ausgelöst hat. Eine Ausrichtung der Individuen an festen Normen und eine präzise Unterscheidung zwischen normal und anormal sind damit nur mehr bedingt möglich. Übrig bleiben situations- und kontextabhängige Wertprioritäten, die keinen allgemeingültigen Anspruch erhe- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 168 168 Norm und Abweichung ben. Eine Logik des Risikos prägt die gegenwärtige Formation von Norm-Abweichung, die auch von der Sozialen Arbeit durch entsprechende theoretisch-methodische und politische Konzepte zu berücksichtigen wäre. Ein Schritt in diese Richtung findet sich in der »Wiener Erklärung zur Ökonomisierung und Fachlichkeit in der Sozialen Arbeit«3. Anmerkungen 1 http://www.dbsh.de/html/hauptteil_wasistsozialarbeit.html [Zugriff: 24.9.2007] 2 http://www.nadir.org/nadir/archiv/netzkritik/postskriptum.html [Zugriff: 3.1.2008] 3 http://www.oberoesterreich-sozialarbeit.at/download/Wiener Erklaerung_04062007.pdf [Zugriff: 4.1.2008] Literatur Bahrdt, Hans Paul (2000[1984]): Schlüsselbegriffe der Soziologie. München. Becker, Howard S. (1973): Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt a.M. Biermann, Benno (2007): Soziologische Grundlagen der Sozialen Arbeit. München. Böhnisch, Lothar (1999): Abweichendes Verhalten. München. Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a.M. Deleuze, Gilles (1993): Unterhandlungen. 1972 – 1990. Frankfurt a.M. Durkheim, Emile (1983 [1895]): Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt a.M. Esser, Hartmut (2001): Soziologie. Band 6: Sinn und Kultur. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2006 [1975]): Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M. Girtler, Roland (1995): Randkulturen. Theorie der Unanständigkeit. Wien, Köln, Weimar. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 169 Norm und Abweichung 169 Hodapp, Axel (2007): Zum Phänomen der Kriminalität, insbesondere der Jugendkriminalität. Norderstedt. Hoops, Sabrina/ Permien, Hanna/ Rieker, Peter (2001): Zwischen null Toleranz und null Autorität. Opladen. Kessl, Fabian/ Otto, Hans-Uwe (2004): Soziale Arbeit und die Neugestaltung des Sozialen. In: Kessl, Fabian/ Otto, Hans-Uwe (Hg.): Soziale Arbeit und Soziales Kapital. Wiesbaden, 7-20. König, René (1969): Soziale Normen. In: Bernsdorf, Wilhelm (Hg.): Wörterbuch der Soziologie. Lamnek, Siegfried (2007): Theorien abweichenden Verhaltens. Stuttgart. Luhmann, Niklas (1995): Inklusion und Exklusion, in: Ders., Die Soziologie und der Mensch, Soziologische Aufklärung. Opladen, 247-264. Popitz, Heinrich (2006[1961]): Soziale Normen. Frankfurt a.M. Peuckert, Rüdiger (1986): Soziale Rolle. 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SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 170 Prävention und Disziplinierung Agnieszka Dzierzbicka Iss doch kein weißes Brot, sonst bist du morgen tot Wir meinen’s gut mit dir Wir schützen dich vor dir (Chuzpe – Die guten Kräfte) Kampagnen, die der Prävention von Gewalt und Sucht, der Ausbreitung von Krankheiten oder der Disziplinierung von BürgerInnen ob ihrer ungesunden Lebensweise, ihres unrühmlichen Verhaltens – wie mangelnde Mülltrennung oder etwa die Überschreitung von Geschwindigkeitsbegrenzungen – dienen, stehen zurzeit hoch im Kurs: Ihretwegen werden Lebensgewohnheiten unter die Lupe genommen, mehr oder weniger kreative Verhaltens-, Bewegungs- und Ernährungsimperative formuliert und nicht zuletzt lukrative Allianzen zwischen Politik, Ökonomie und Medien geschlossen. Der Anlassfall für den Boom um die »richtige« Lebensführung ist sattsam bekannt, eine statistische Gleichung, die nicht länger aufgehen will: Menschen bestimmter Regionen werden immer älter, der Preis dafür immer höher. Wurde jedoch bis vor kurzem in diesem Zusammenhang der Fokus auf die Kinderlosigkeit (der europäischen Mittelschicht) gelegt, so rückt nun der Lebensstil an sich ins Zentrum. Fettes Essen, Rauchen, Alkoholgenuss und mangelnde Bewegung machen, wie immer wieder betont wird, nicht nur unglücklich, sondern treiben auch die Gesundheitskosten in die Höhe. Damit sorgt der klinisch anmutende Begriff Prävention für Furore. Egal ob in der nüchternen Welt der Medizin oder in schicken Lifestylemagazinen, allerorts hat man sich dem vorbeugenden und nachhaltigen Denken, Handeln und Leben verschrieben. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 171 Prävention und Disziplinierung 171 Wesentlich länger und freilich weniger lukrativ aber nicht minder penetrant wird auch das Feld der Sozialarbeit in die Pflicht genommen, wenn es darum geht, jene, die als gefährdet eingeschätzt werden – gefährdet aus dem gesellschaftlichen System und seinen Spielregeln heraus zu fallen und damit das System selbst zu gefährden –, zu stützen. Auch hier ist es längst eine Binsenweisheit, dass Vorbeugung besser als «Heilen« ist: Ob Gewaltprävention, Suchtprävention oder Schuldenprävention, je früher interveniert wird, desto wirkungsvoller und freilich billiger die Maßnahmen. Doch wie schon angedeutet, mit einer Intervention allein ist es nicht getan. Was wäre jede Vorbeugemaßnahme ohne einen Rückgriff auf die Disziplinierung, im optimalen Fall die Selbstdisziplinierung? Sie wäre dazu verdammt als eine punktuelle Maßnahme zu verpuffen. Dass es aber vor diesem Hintergrund ein sehr altes und bewährtes Wissen über die Techniken und Technologien der Disziplinierung gibt, das innerhalb sozialer Einrichtungen über Jahrhunderte mit Akribie und Hartnäckigkeit tradiert und gepflegt wurde, das hat Michel Foucault in Überwachen und Strafen (1975) auf eine für diese Einrichtungen wenig schmeichelnde Art und Weise veranschaulicht. Im Folgenden wird diese Kritik nachgezeichnet und darüber hinaus die These vertreten, dass mit der Krise der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen nun konsequenterweise auch in der sozialen Praxis vermehrt auf den Begriff der Prävention zurückgegriffen wird. Ein Umstand, der meines Erachtens die Problematik um die Disziplinierung im Rahmen dieser Praxis keinesfalls entschärft wie ich aufzeigen möchte. Die Etablierung der Disziplinen In Überwachen und Strafen beschreibt Michel Foucault das Brüchigwerden der souveränen Macht und die darauf beruhende Formierung der von ihm so genannten Disziplinar- SatzBakic.qxd 172 27.02.2008 17:19 Seite 172 Prävention und Disziplinierung gesellschaften. Am Beispiel der allmählichen Verdrängung der Marter im 17./18. Jahrhundert und der Implementierung des modernen Strafvollzugs wird hier der Wandel der abendländischen Gesellschaften in Begriffen und Bildern skizziert, die keine Spuren jener Euphorie oder Aufbruchsstimmung aufweisen, die für die Zeit der Aufklärung und ihre industriellen Möglichkeiten charakteristisch sind: »Damit betreten wir das Zeitalter der sozialen Orthopädie, wie ich es nennen möchte. Es handelt sich um eine Form von Macht und einen Gesellschaftstyp, die ich im Unterschied zu den vorangegangenen Strafgesellschaften als Disziplinargesellschaft bezeichne« (Foucault 2002, 734). Die Strafgesellschaften sind abhängig von vorherrschenden Strafgewohnheiten, es handelt sich dabei um »hypothetische Gesellschaften« (ebd., 569). Sie stellen eine modellhafte Typisierung vor, deren Charakterisierung vom Umgang der Gesellschaften mit Straffälligen und Abweichenden abhängig ist. So unterscheidet Foucault vier Gesellschaftstypen: griechische Gesellschaften, die verbannen, germanische Gesellschaften, die im Fall eines Vergehens einen Freikauf fordern, abendländische Gesellschaften am Ende des Mittelalters, die »ein Zeichen im Körper einschreiben« – die Souveränitätsgesellschaften1, und schließlich Gesellschaften, die einsperren – die Disziplinargesellschaften. Die Formierung der Disziplinargesellschaft ist auf das Engste mit dem Umstand verbunden, dass die bis dahin übliche Manifestation der Herrschaft, die leibliche Marter, ausgedient hat. Der schnelle Tod durch die Guillotine bzw. den Strick setzt der langwierigen öffentlichen Folter ein Ende. Was haben nun Foucaults historisch-soziologische Analysen einer längst vergangenen Zeit und daraus resultierenden philosophischen Überlegungen mit aktuellen Leitbegriffen der Sozialarbeit zu tun? Es sind unter anderen zwei Motive, die Foucault für die Auseinandersetzung mit dem Praxisfeld der Sozialen Arbeit und seiner gegenwärtigen Verfasstheit spannend und fruchtbar machen: seine Analysen des gesellschaft- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 173 Prävention und Disziplinierung 173 lichen Wandels und der damit einhergehenden Brüche und Kontinuitäten sowie seine Auseinandersetzung mit dem Komplex Macht/Wissen entlang der Frage, wie die Gesellschaft mit von der Norm Abweichendem umgeht, präziser, wie sie Abweichungen zu verhindern sucht. »Zu Beginn des 19. Jahrhunderts geht also das große Schauspiel der peinlichen Strafe zu Ende; man schafft den gemarterten Körper beiseite; man verbannt die Inszenierung des Leidens aus der Züchtigung« (Foucault 1995a, 22 f.). An ihre Stelle tritt die Disziplinierung des Körpers, der sich in Anbetracht gesellschaftlicher und technischer Umwälzungen als eine nutzbare Kraft zeigt. Also auch hier finden wir bereits die Frage der gesellschaftlichen Ökonomisierungstendenzen als Motor zum Wandel von Institutionen: Und so geraten von nun an das Leben und seine Verwaltung an Stelle des Todes in den Sog von Diskurs- und Machtwirkungen. In späteren Schriften präzisierte Foucault diese Zäsur am Beispiel des Zugriffs auf das Leben der Gesetzesbrechenden im Besonderen und das Leben der Bevölkerungen im Allgemeinen: »Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen« (Foucault 1997, 165; Hervorhebungen im Orig.). Das »Leben« wird also zum bestimmenden Faktor im gesellschaftlichen Gefüge. Die für seine Verwaltung notwendigen Institutionen, die großen Einsperrungen bzw. Einschließungen – die Schulen, die Kasernen, die Fabriken, die Krankenhäuser wie auch die Gefängnisse –, formieren sich im 17./18. Jahrhundert um das Individuum und werden zur allgemeinen Herrschaftsform (vgl. Foucault 1995a). Wie Foucault nicht müde wurde zu beschreiben, werden diese Institutionen maßgeblich für eine bestimmte Art von permanenter Unterdrückung im Alltagsleben verantwortlich: Der Einzelne wird ins Zentrum des Produktivitätsdenkens der Waren herstellenden bürgerlichen Gesellschaft befördert und von ihren Institutionen fest SatzBakic.qxd 174 27.02.2008 17:19 Seite 174 Prävention und Disziplinierung umschlossen. »Was in der Schule, in der Armee überhand nimmt, ist eine Mikro-Justiz der Zeit (Verspätungen, Abwesenheiten, Unterbrechungen), der Tätigkeit (Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit, Faulheit), des Körpers (›falsche‹ Körperhaltungen und Gesten, Unsauberkeit), der Sexualität (Unanständigkeit)« (Foucault 1995a, 230). Das von Foucault beschriebene Disziplinarregime entpuppt sich also kurzerhand als eine Macht der Normierung und Normalisierung, hegemoniale Strukturen finden ihren Ausdruck in der Anpassung und Eingliederung des Abweichenden. Zentraler Begriff dabei ist, wie der Name schon verrät, die Disziplin, die – disziplinäre Wissenschaft und disziplinierende Institutionen subsumierend – jene Schnittstelle der Macht, die Produktivkräfte (z.B. menschliche Arbeitskraft, Maschinen, Rohstoffe) und Wissen (bereitgestellt durch die Humanwissenschaften) zu einen und zu funktionalisieren »weiß«. Nicht das vernunftbegabte und gerade vertragsfähig gewordene Individuum wird für die Gestaltung der Produktionsbedingungen und Produktivität in dieser Zeit bestimmend, sondern die Etablierung und Stärkung von hierarchisch organisierten Strukturen, die die Produktion gewährleisten und in Gang halten. Tayloristisches Management und fordistische Produktionsweise werfen ihre Schatten voraus und prägen das Menschenbild entgegengesetzt zu einem an Autonomie ausgerichteten Emanzipationsideal. So mündet die Stilisierung der Arbeit von einem notwendigen Übel zu einer positiven, sinnstiftenden Aufgabe in der passgenauen Austauschbarkeit von Einzelteilen wie auch von Arbeitenden (vgl. Ribolits 1997). Ermöglicht wird diese Austauschbarkeit durch die Disziplinen, die definieren, »wie man die Körper der anderen in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen zu lassen, was man verlangt, sondern um sie so arbeiten zu lassen, wie man will: mit den Techniken, mit der Schnelligkeit, mit der Wirksamkeit, die man bestimmt« (Foucault 1995a, 176 f.). SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 175 Prävention und Disziplinierung 175 Normalisierung: Die aufgeklärte, produktive Masse Die Vereinnahmung des Alltags durch das Diktat einer bestimmten Ökonomie der Macht, der »Akkumulation von Kapital und Menschen« (Foucault 1995a, 283), fällt somit bemerkenswerterweise bereits in jene Zeit, die eigentlich als Befreiung des Menschen aus seiner Unmündigkeit in die Geschichte eingehen sollte: Indem der Mensch beschließt, seine Lebensführung kraft der eigenen Vernunft in die Hand zu nehmen, werden das »neuzeitliche subjektivistische Menschenverständnis« und die Pädagogik mit ihrem prononcierten Auftrag begründet, Wissen und Methoden für die Aufklärung der Gesellschaft bereitzustellen (vgl. Ballauf/Schaller 1970, 326). Das moderne Erziehungsverständnis ergibt sich also erst mit der Vorstellung, dass der Mensch »allein und ausschließlich für sich als vernünftiges Wesen verantwortlich zu sein habe und dass dies von der Erziehung abhängig sei, dass also die Erziehung den für sich selbst verantwortlichen Menschen ›hervorbringen‹ könne« (Schäfer 2005, 27). Foucault sieht die Entstehung der modernen Pädagogik und ihrer späteren Subdisziplinen selbstverständlich in keinem aufklärerischen Licht, sondern im Dienst der Disziplinarmacht. So wird die Sozialpädagogik »nützlich«, indem sie beispielsweise »beim faulen Subjekt« den Geschmack an der Arbeit weckt – »wer leben will, muß arbeiten« (Foucault 1995a, 157). Deshalb verwundert Foucaults Fazit hinsichtlich der gesellschaftlichen Transformationen an der Schwelle zwischen Klassik und Modernität wohl wenig: »›Aufklärung‹, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden« (ebd., 285). Was nun auf den ersten Blick widersprüchlich und unvereinbar wirkt, nämlich die Befreiung bei gleichzeitiger Unterdrückung des Menschen, lässt sich durchaus zusammenführen, wenn in Betracht gezogen wird, dass in diesem Fall eine Verzahnung individueller Interessen mit gesellschaftlichem Fortschritt stattgefunden hat. Auf diese Weise konnten komplexe Diszipli- SatzBakic.qxd 176 27.02.2008 17:19 Seite 176 Prävention und Disziplinierung nierungsakte im Namen von Leistung, Fortschritt, Bildung und Produktivität dermaßen »trivialisiert« werden, dass sie eben selbstverständlich und normal erschienen: »Wie sollte das Gefängnis nicht unmittelbar akzeptiert werden, wo es doch, indem es einsperrt, herrichtet, fügsam macht, nur die Mechanismen des Gesellschaftskörpers – vielleicht mit einigem Nachdruck – reproduziert? Das Gefängnis ist eine etwas strenge Kaserne, eine unnachsichtige Schule, eine düstere Werkstatt, letztlich nichts qualitativ Verschiedenes« (ebd., 297). Ob nun das Gefängnis oder die Schule – beide Institutionen stehen im Dienste einer Normalisierungsmaschinerie, die aus unübersichtlicher Masse eine geordnete Vielheit macht, die sich reproduziert, Ziele verfolgt und zu erfüllen trachtet. Zugleich sind es aber auch die Normalisierungsmechanismen, die dem Menschen ein Verständnis seiner Existenz ermöglichen: Als »Subjekt« wird der Mensch einerseits zu einem freien, eben für sein Handeln in der Gesellschaft verantwortlichen, da vernunftbegabten Menschen, andererseits bedeutet dieses Freisein immer auch einen Akt der Unterwerfung angesichts der in den Einschließungen/Staatsapparaten vorherrschenden Normen und Normalisierungsmechanismen. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer beschrieben diese dialektische Wendung als die »Absurdität des Zustandes«, der die Menschen zwar aus der Gewalt der Natur herausführt, aber mit jedem ausgeführten Schritt »die Gewalt des Systems über den Menschen« wachsen lässt. (Horkheimer/Adorno 2000, 45) Für die Begründer der Kritischen Theorie wird damit die Vernunft als ein strukturelles Problem wahrgenommen. Die befreiende Macht der Vernunft birgt per se ein Moment der Unvernunft in sich. So erlangt der Mensch Herrschaft über die Welt »ohne Rücksicht auf Unterschiede« und lässt die Natur zur »bloßen Objektivität« werden. Doch diese Vermehrung an Macht müssen die Menschen mit Entfremdung bezahlen, ausgerechnet mit »der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben« (ebd., 14 f.). Auf den Punkt gebracht verstrickt sich der Mensch mit SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 177 Prävention und Disziplinierung 177 jedem Schritt aus der Abhängigkeit in eine andere Abhängigkeit. »Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen« (ebd., 15). Für den Strukturalisten Althusser liegt das Dilemma bereits darin, dass der Subjektbegriff an sich für die bürgerliche Ideologie konstitutiv ist: »Wir behaupten außerdem, daß die Ideologie in einer Weise ›handelt‹ oder ›funktioniert‹, daß sie durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung (interpellation) nennen, aus der Masse der Individuen Subjekte ›rekrutiert‹ (sie rekrutiert sie alle) oder diese Individuen in Subjekte ›transformiert‹ (sie transformiert sie alle)« (Althusser 1977, 142). Althusser zieht aus der allmächtigen, »ewigen« Anrufung »He, Sie da!« (ebd.), die kein Entkommen vorsieht, einen pragmatischen, definitiven Schluss: Um zu einer Erkenntnis gelangen zu können, muss ein wissenschaftlicher Diskurs über Ideologie »ohne Subjekt« auskommen (Althusser 1977, 142). Ist dies für eine sozialpädagogische Analyse möglich? Einen Versuch gilt es zu wagen. Lässt man sich also auf die machtanalytischen Untersuchungen in Foucaults Überwachen und Strafen ein, so erscheinen die Gesellschaft und ihre Institutionen in einem düsteren Licht. Selbst soziale Errungenschaften der Nachkriegszeit – formuliert in der Idee des Wohlfahrtsstaates – entpuppen sich in der Foucault’schen Logik bei näherer Betrachtung als Facetten der ungeheuren Disziplinarmacht. Diese Macht durchdringt, diszipliniert und normiert im Namen des Fortschritts und einer (mittlerweile zweifelhaft gewordenen) Produktivität den Gesellschaftskörper, der in den Institutionen, die das Individuum einschließen, nun formbar wird. So wechseln Menschen von einer einschließenden Institution zur nächsten. Aller Anfang ist die Familie, dann folgen die Schul- und Bildungsanstalten, für manche die Kaserne, die Fabrik bzw. der Betrieb, zeitweilig das Krankenhaus, eventuell das Gefängnis (vgl. Foucault 1995a). Jede dieser Einschließungen ist durch SatzBakic.qxd 178 27.02.2008 17:19 Seite 178 Prävention und Disziplinierung eigene Gesetze und Verfahren charakterisiert und bedeutet zugleich immer auch Ausschließung. Zunächst erscheinen diese Institutionen als voneinander divergierend und divergent. Bei einer näheren Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass diese so hermetisch abgeschlossenen Milieus einander konvergierend fortschreiben, immer aufeinander verweisen: Der vertraute Satz »Du bist hier nicht zu Hause« (Deleuze 1993, 254) findet sich im Alltagsdiskurs der Einschließung Schule ebenso wie auch die Drohung: »Wenn du dann mal wirklich im Beruf stehst!« Im letzteren Fall entsinnt sich die Einschließung Schule eines ihrer Aufträge, nämlich der Vorbereitung auf die nächste Einschließung, das Berufsleben. Die stehende Wendung »Du bist hier nicht mehr in der Schule!« fungiert wiederum als eine Antwort der Einschließung Betrieb, wenn gegen deren Regelwerk verstoßen wird. Auf diese Weise erscheinen alle Varianten der Einschließungen letztlich als ein einziges System ineinander greifender Disziplinierungs- und Normierungsmechanismen, die in den entwicklungspsychologisch bedingten und sozial bestimmten Lebensentwürfen wirksam sind und – über die Einschließungsfunktion hinaus – Komponenten des Anschließens beinhalten. Und wenn all die Drohungen, Ermahnungen keine Wirkung zeitigen, dann gibt es – frei nach Foucault – immer noch die Sozialarbeit. Der Gesellschaftskörper tritt also in der Disziplinargesellschaft in den Hintergrund und der gleichsam »erfundene« individualisierte, auszubildende Körper rückt ins Zentrum der Einflussnahme. Es ist der individualisierte Körper, der in jener Zeit-Raum-Achse der Produktivität positioniert werden kann, welche die Summe der Einzelkräfte in einem nie zuvor gekannten Ausmaß zu übertreffen vermag. Die Funktion der einschließenden Institutionen jedoch ausschließlich auf die Normierung und Disziplinierung zurückzuführen, wäre eine verkürzende Vorgehensweise, denn es kann davon ausgegangen werden, dass eine Normierung, die nicht zweckgerichtet ist, sich auf lange Sicht erschöpft. Eine mögliche Erklärung für den beacht- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 179 Prävention und Disziplinierung 179 lichen Erfolg und die Wirksamkeit der Disziplinierungssysteme könnte vielmehr in ihrer weiteren Funktion liegen, nämlich in jener der Sinnstiftung. So sind den normierenden Leistungen der Einschließungen die anzustrebenden Lebensziele bzw. Wünsche und Sehnsüchte der Einzelnen inhärent. Dieses spezifische Verhältnis lässt sich zwischen den zwei Polen gesellschaftlicher Fortschritt und persönlicher Erfolg verorten2. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld, das Einschließungen so effizient und beständig macht wie die Disziplinargesellschaften produktiv – ein Spannungsfeld, das Emanzipation und Unterwerfung des mit Vernunft ausgestatteten modernen Subjekts überhaupt erst ermöglicht. Isaiah Berlins Konzept der negativen Freiheit als Freiheit von Zwängen kollektiver Bevormundung (»freedom from«) findet hier ebenso eine Anwendung wie sein Konzept der positiven Freiheit (»freedom to«), die das Subjekt zum eigenen Herrn ermächtigt (vgl. Berlin 1995). Zwischen beiden Richtungen zerrissen, indifferent und polarisiert, findet sich das zum Einsatz der Vernunft ermächtigte Individuum der Moderne in den Institutionen der Gesellschaft eingeschlossen wieder. Althussers Argument, die Subjektivierungsmechanismen als einen Akt der Unterwerfung zu betrachten, bringt dieses Dilemma auf den Punkt. Demnach ist das Subjekt nichts Ursprüngliches, sondern ein Resultat jener Verhältnisse, die Menschen als Subjekte zueinander und zur Gesellschaft vorfinden und prägen, wobei diese Verhältnisse niemals transparent, sondern imaginär sind, da sie eben über die ideologischen Staatsapparate konstituiert und erst mit der Notwendigkeit eines Rückgriffs auf repressive Staatsapparate3 real werden. »Resultat: Gefangen in diesem […] System der Anrufung als Subjekte, der Unterwerfung unter das SUBJEKT, der allgemeinen Wiedererkennung und der absoluten Garantie, ›funktionieren‹ die Subjekte in der riesigen Mehrzahl der Fälle ›ganz von alleine‹ – mit Ausnahme der ›schlechten Subjekte‹, die gelegentlich das Eingreifen dieser oder jener Abteilung des (repres- SatzBakic.qxd 180 27.02.2008 17:19 Seite 180 Prävention und Disziplinierung siven) Staatsapparates provozieren« (Althusser 1977, 148; Hervorhebungen im Orig.). Von der Krise der Disziplinen zum Aufstieg der Prävention Seit geraumer Zeit scheinen jedoch die Disziplinen in der Krise: Die Produktivität steht nicht länger im Zeichen der Stückzahl und der Stechuhr. Auch sind die einst großen Einschließungen wie Familie, Schule, Gefängnis, Fabrik oder Krankenhaus seit geraumer Zeit von Prozessen der Öffnung geprägt, die im übertragenen Sinne die disziplinäre Schlinge um das Individuum gelockert haben. Diese Entwicklungen sind aber laut Deleuze bloß ein Übergangsstadium und sollten nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass die einstigen Einschließungen, Nachlassverwaltern ähnlich, zu Wegbereitern der Konstituierung neuer Kräfte geworden sind: »Aber jeder weiß, daß diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind. Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben« (Deleuze 1993, 255). Disziplin und Norm garantieren in den westlichen Gesellschaften per se keine Produktivität mehr, viel eher lässt sich deren Ersetzung durch Begriffe wie Flexibilität und Motivation beobachten. Konnte in Foucaults Disziplinargesellschaft das wesentliche Moment der Macht als ein Akt der Disziplinierung und Normierung benannt werden, so verweist Deleuze demgegenüber auf eine neue strategische Situation der Gesellschaft. Im Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (Deleuze 1993) findet sich Kontrolle als konstitutives Element einer neuen Gesellschaftsordnung eingeschrieben. »Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen«, lautet die knappe Diagnose von Gilles Deleuze (Deleuze 1993, 255).4 So tritt das Unternehmen an die SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 181 Prävention und Disziplinierung 181 Stelle der Fabrik, die permanente Weiterbildung löst tendenziell die Schule ab und die kontinuierliche Kontrolle das Examen. »Bin ich noch jung genug?«, fragen sich Tom Holert und Mark Terkessidis im Vorwort zu Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft (1996). Und diese Frage ist programmatisch, denn einerseits verdeutlicht sie die Unsicherheit der 1990er Jahre, als die Zahlen von »freigesetzten« Menschen zum fixen Programmpunkt von Tagesnachrichten zu werden schienen, und andererseits die Einschreibung der permanenten Selbstüberprüfung und Kontrolle. Wenn man in den Disziplinargesellschaften »nie aufhörte anzufangen« (in Schule, Kaserne, Fabrik), so wird man in der Kontrollgesellschaft »nie mit irgendetwas fertig«: Unternehmen, Weiterbildung und Dienstleistung, allesamt Zustände einer Modulation (Deleuze 1993, 257). Während sich das Individuum also in mehreren Einschließungen zugleich wieder findet und sich fragt, ob es genug ist – »Bin ich fit genug?«, »Bin ich gesund genug?« etc. –, scheinen die Institutionen an der Kostenfrage zu scheitern. Und so befinden sich mehr als ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen des Postskriptums die beschriebenen Institutionen immer noch in der Reformphase, eine Konsolidierungsphase scheint nicht absehbar. Das heißt, Institutionen und »Leute« sind nach wie vor in einer Art Wartelounge platziert, deren wiederkehrende Funktion die reibungslose Durchführung von Restrukturierungsmaßnahmen ist. »Bin ich gut genug?« Das bleibt als Frage neben vielen anderen, die allesamt um die Kardinalsfrage kreisen: »Habe ich genug dafür getan?« Denn die jüngsten Entwicklungen lassen den nahe liegenden Schluss zu, dass die Disziplinierung heute nur Effizienz und Produktivität zeitigt, wenn Sie im Namen der Prävention statt findet. Ob marode Gesundheitssysteme oder das Problem der Vollbeschäftigung, auf alles scheint die Prävention eine Antwort zu bieten. Vorsorge ist die Devise in dem einen Fall, also gesunde Ernährung, Fitness usw. usf, und Employability als die eigenverantwortlich sichergestellte SatzBakic.qxd 182 27.02.2008 17:19 Seite 182 Prävention und Disziplinierung Beschäftigungsfähigkeit im anderen. Gemeinsam ist beiden der Umstand, dass das Individuum im Zuge der Selbstdisziplinierung dafür die (Vor)Sorge und Verantwortung zu tragen hat, die gegenwärtig scheinbar unumstößlichen anthropologischen Eigenschaften sein eigen zu nennen. Wie Frigga Haugg in einer Kritik so treffend herausarbeitet handelt es sich dabei um die Bereitschaft zu den drei Rs nämlich »rennen, rackern, rasen« und das Aufweisen der vier Fs »fit, fähig, flexibel, fantastisch«. (Vgl. Haugg 2003) Für das Praxisfeld Sozialarbeit ist das auf den ersten Blick erfreulich, gibt es hier genug zu tun, zu beraten, zu aktivieren und zu stützen. Auf den zweiten Blick wird es wohl immer wichtiger, sich darüber im Klaren zu werden, was die eigentliche Profession ausmacht, denn die gesellschaftlichen Entwicklungen und politisch gefällten Entscheidungen mit all ihren Folgen kann Sozialarbeit nicht abfedern. Um so mehr scheint ein Rückgriff auf Gesellschaftstheorie unabdingbar, soll Burnout nicht als professionelle Selbstverständlichkeit zur akzeptierten Norm werden. Anmerkungen 1 Hierbei ist die direkte Beziehung zwischen dem Gesetzesbrecher und dem Souverän von Bedeutung. Nicht nur ist der Souverän zur Aufklärung des Tatbestands und Einleitung der Ahndung verpflichtet, er ist auch das eigentliche Opfer des Verbrechens. Insofern es sich um seine Gesetze handelt, die überschritten werden, ist es seine absolute Macht, die untergraben wird. Mit der Peinigung bzw. dem Tode des Täters erlischt die Schuld. Die öffentliche Hinrichtung oder das Brandmal inklusive des obligaten Zur-Schau-Stellens der körperlichen Verstümmelungen wie auch die eventuelle Beteiligung des Volkes an der Sühne heben den angegriffenen Herrscher wieder auf seinen rechtmäßigen Platz der Souveränität (vgl. Foucault 1995a). 2 Alain Ehrenbergs These vom erschöpften Selbst als Kennzeichen der Gegenwart lässt sich als eine Bestätigung dieser These anführen. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 183 Prävention und Disziplinierung 183 Demnach leidet das Selbst derzeit an Erschöpfung und Depression, weil es – nach dem Aufweichen der autoritären Disziplinarmechanismen zugunsten der persönlichen Initiative – nun die Verantwortung für die erfolgreiche Gestaltung seines Lebens selbst tragen muss: »Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.« (Ehrenberg 1998, 4). Siehe dazu auch Ulrich Bröcklings Das unternehmerische Selbst (2007). 3 Althusser unterscheidet die repressiven Staatsapparate von den ideologischen, indem er ihnen eine »auf der Gewalt funktionierende Grundlage, zumindest im Ernstfall«, zuschreibt. Dazu zählen Armee, Polizei, Gerichte und Gefängnisse, also Institutionen, die in den 1970er Jahren noch klar dem öffentlichen Sektor zugeordnet werden konnten, während die ideologischen Staatsapparate größtenteils »privat« schienen, etwa »die Kirchen, die Parteien, die Gewerkschaften, die Familien, einige Schulen, die Mehrzahl der Zeitungen, die kulturellen Unternehmungen usw. usf.« (Althusser 1977, 120). Beide Formen des Staatsapparates funktionieren zwar auf repressiver wie ideologischer Grundlage, allerdings lassen sich Tendenzen ausmachen, die eine Unterscheidung ermöglichen: »Der (repressive) Staatsapparat funktioniert als solcher nämlich auf massive Weise in erster Linie auf der Grundlage der Repression (die physische inbegriffen), während er nur in zweiter Linie auf der Grundlage der Ideologie arbeitet (es gibt keinen rein repressiven Apparat)« (ebd., 121). 4 Mit »Ablösung« ist jedoch nicht notwendigerweise eine zeitliche Reihenfolge angedacht, vielmehr geht es um Bedeutung und Wirksamkeit. Deleuzes Modell ist ein Schichtenmodell, das die Gleichzeitigkeit der Wirkungsweise von der Macht unterschiedlicher Gesellschaften denkmöglich macht: »Es könnte sein, daß alte Mittel, die den frühen Souveränitätsgesellschaften entlehnt sind, wieder auf den Plan treten, wenn auch mit den nötigen Anpassungen« (Deleuze 1993, 261). SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 184 184 Prävention und Disziplinierung Literatur Althusser, Louis (1977 [1965]): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Hamburg/Westberlin. Ballauf, Theodor/Schaller, Klaus (1970): Pädagogik. Eine Geschichte der Bildung und Erziehung. Band II: Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Freiburg/München. Berlin, Isaiah (1995): Freiheit. Vier Versuche. Frankfurt am Main. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Frankfurt am Main. Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt am Main, 254-262. Ehrenberg, Alain (2004 [1998]): Das erschöpfte Selbst. Frankfurt am Main. Foucault, Michel (1995b [1975]): Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main. Foucault, Michel (1996 [1980]): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Frankfurt am Main. Foucault, Michel (1997 [1976]): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt am Main. Foucault, Michel (2002): Die Strafgesellschaft. In: Defert, Daniel et al. (Hg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et écrits. Band II, 1970-1975. Frankfurt am Main, 568-586. Haug, Frigga (2003): ›Schaffen wir einen neuen Menschentyp‹. Von Henry Ford zu Peter Hartz. Argument 252, Berlin, 606-617. Holert, Tom/Terkessidis, Mark (1996): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W: (2000 [1944]): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main. Ribolits, Erich (1997): Die Arbeit hoch? Wien. Schäfer, Alfred (2005): Einführung in die Erziehungsphilosophie. Weinheim/Basel. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 185 Profession und Geschlecht Margrit Brückner Ermöglichungen und Grenzen postmoderner Vielfalt diesseits und jenseits von Professionalität Geschlecht scheint auf den ersten Blick in europäischen Gesellschaften an Bedeutung verloren zu haben, denn die Geschlechterverhältnisse vervielfältigen sich. Es herrscht nicht nur jeweils ein Männer- und ein Frauenbild vor, sondern verschiedene Formen des Mann- respektive Frauseins sind möglich, bis hin zu dekonstruktivistischen Vorstellungen, nach denen Geschlecht als aufzuhebende soziale Konstruktion gesehen wird. Auf den zweiten Blick gibt es neben all den postmodernen Bewegungen eigentümliche Konstanten im Geschlechterarrangement, Bereiche, in denen sich wenig bis gar nichts verändert hat: Die Mächtigen in Wirtschaft und Politik sind nach wie vor fast ausschließlich männlichen Geschlechts. Männer arbeiten in besser bezahlten Branchen und verdienen mehr als Frauen, selbst bei gleicher Ausbildung – auch in der Sozialen Arbeit. Wobei es zumeist Frauen sind, die erzieherische, pflegende und soziale Berufe wählen. Familienarbeit wird unabhängig von Erwerbstätigkeit ganz überwiegend von Frauen wahrgenommen – auch in den meisten egalitär gesonnenen Beziehungen. Daher gibt es weiterhin geschlechtsspezifische soziale Problemlagen. (vgl. Brückner 2003). Allen weitreichenden Veränderungen im Geschlechterverhältnis in den letzten hundert Jahren zum Trotz erweist sich Geschlecht weiterhin als zentrale Kategorie zur Analyse gesellschaftlicher Prozesse und individueller Handlungs- und Deutungsmuster. Von der Frauen- und Geschlechterforschung wird Geschlecht verstanden als sozial konstruiert – im Gegensatz zu biologisch vorgefunden, als kontextuell verankert SatzBakic.qxd 186 27.02.2008 17:19 Seite 186 Profession und Geschlecht und historisch variabel. Geschlecht zeigt sich auf zwei verschiedene Ebenen, die einander bedingen: • • In die gesellschaftliche Struktur ist eine hegemoniale männliche Geschlechterordnung eingelassen, die historisch und kontextuell variabel ist, denn die Geschlechterbilder haben sich beträchtlich gewandelt, aber die männliche Vorherrschaft ist ökonomisch, politisch und sozial erhalten geblieben (vgl. Becker-Schmidt/Knapp 2000). Auf der Subjektebene erweist sich Geschlecht durch alltägliche Geschlechtszuweisung und -darstellung als wesentlicher Teil der sozialen Praxis (vgl. Gildemeister 2001). Obwohl durch die Individualisierung der Lebenslagen Frau-Sein und Mann-Sein heute vielfältiger gestaltbar ist, kommt »doing gender«, der Übernahme und Ausgestaltung geschlechtsspezifischer Muster, weiterhin eine identitätsrelevante und somit auch beruflich prägende Bedeutung zu. Die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Judith Lorber (1999) hat vor knapp zehn Jahren eine »De-Gendering« Debatte angestoßen, die es gilt, für Soziale Arbeit fruchtbar zu machen: Eine Entgeschlechtlichung gesellschaftlicher Strukturen, um Demokratisierungsprozesse im öffentlichen und im privaten Raum voranzutreiben. Meines Erachtens bedeutet das: »Re-Gendering« im Sinne des Sichtbarmachens von Geschlecht dort, wo Geschlecht drin ist, aber nicht drauf steht, um den geschlechtsspezifischen Gehalt (z.B. sozialpolitischer Maßnahmen) sichtbar zu machen und »De-Gendering« im Sinne der Zurückweisung von Geschlechtszuweisungen dort, wo diese an Entwertung gekoppelt ist oder mit Einengung einhergeht (z.B. unbezahlte Familienarbeit von Frauen) (vgl. Brückner 2006). Gleichzeitig dürfen andere gesellschaftliche Differenzmechanismen wie Schichtzugehörigkeit und Ethnie mit ihrem jeweiligen Potential an sozialer Ungleichheit nicht aus dem Auge verloren werden (vgl. Knapp 2005). SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Profession und Geschlecht Seite 187 187 Zusammenfassend bedeutet die kategoriale Einbeziehung von Geschlecht in Analysen und Handlungsformen Sozialer Arbeit, die strukturellen gesellschaftlichen Auswirkungen von Geschlecht zu erfassen und die Modi der Herstellung von Geschlecht durch die Subjekte zu benennen, um – auf der Basis demokratischer Prinzipien wie Gleichheit – an einer gerechteren Geschlechterordnung durch Kritik an den Geschlechterverhältnissen und durch geschlechterbewusste Ansätze mitzuwirken. Dabei gilt es, ein geschlechtertheoretischen Ansätzen innewohnendes Problem zu beachten: So hoch der Erkenntnisgewinn von Geschlecht als soziale Kategorie ist, enthält die Thematisierung von Geschlecht jedoch immer die Gefahr, Geschlecht als differenzierende Kategorie zu bestärken und das Denken in bi-polaren Mustern von Weiblichkeit und Männlichkeit zu verfestigen, statt diese zu kritisieren (vgl. Rose 2007). Sichtbare und unsichtbare geschlechtsspezifische Grundlagen der Profession Soziale Arbeit Von der Entstehung bis zum heutigen Tage spielt Geschlecht in der professionellen Entwicklung Sozialer Arbeit eine zentrale Rolle. Soziale Arbeit war lange ein von Männern weitgehend ignoriertes Feld, das Frauen aufgrund ihrer kulturell angenommenen und lebensgeschichtlich vorhandenen Nähe zu Fürsorglichkeit geformt haben. Die ersten Ausbildungsstätten wurden vor hundert Jahren von Frauen gegründet und boten sozial engagierten, bürgerlichen Frauen eine Chance qualifizierter Betätigung (vgl. Maurer 2001). Ebenso wurden die ersten theoretischen Ansätze zur Notwendigkeit einer systematischen Fürsorge – angesichts sich verschärfender Klassengegensätze und entsprechender Konflikte – in Europa und den USA von Frauen veröffentlicht (vgl. Staub-Bernasconi 1989). Pionierinnen wie Jane Addams, Ilse Arlt oder Alice Salomon SatzBakic.qxd 188 27.02.2008 17:19 Seite 188 Profession und Geschlecht waren theoretisch interessierte und politisch motivierte Frauen, die ihre gesellschaftskritischen Ansätze im Kontext einer nationalökonomischen Analyse und ihre Praxis in engem Zusammenhang mit der sozialreformerischen und der Frauenbewegung entwickelten (vgl. Böhnisch/Schröer/ Thiersch 2005). In ihren Theorien und Handlungsansätzen steht die Suche nach einer Gesellschaft mit menschlichem Antlitz (auf der Basis vorhandener Macht- und Besitzverhältnisse) im Mittelpunkt, die sich als damalige Suche nach einer Art »Drittem Weg« zwischen Sozialismus und Kapitalismus interpretieren lässt. Im Zuge der Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung haben diese Frauen der Ersten Stunde jedoch zunehmend an Anerkennung für ihre praxisbezogenen, schulengründenden und wissenschaftlichen Leistungen eingebüßt. Je mehr Soziale Arbeit zur staatlich geplanten und rechtlich kodifizierten Aufgabe sozialer Sicherung wurde und je stärker Soziale Arbeit in Hochschule und Wissenschaft eingebunden ist, desto häufiger sind Männer in Planung, Entwicklung und Theorie öffentlich präsent, während Frauen weiterhin die große Mehrheit der Praktikerinnen stellen (vgl. Rauschenbach/Züchner 2001). Daher ist immer noch aktuell, was Christoph Sachße für die 1920er Jahre konstatiert: »Soziale Arbeit veränderte sich (...) von einem Konzept weiblicher Emanzipation zu einem Dienstleistungsberuf unter männlicher Leitung« (Sachße 2001, 679). Anfang des letzten Jahrhunderts hat die gemäßigte erste Frauenbewegung das Konzept »geistiger Mütterlichkeit« entwickelt, in dem Frauen für soziale Berufe prädestiniert erscheinen. Das grenzüberschreitende dieser Position lag darin, dass die Erweiterung des Mütterlichkeitsbegriffs gebildeten Frauen den Schritt aus der Familie ermöglichte. Die begrenzende Seite dieses Konzepts – eine enge Verknüpfung sozialer Berufe mit Weiblichkeit und mütterlichem Handeln – stellt jedoch bis heute ein Problem dar, weil die geschlechtsspezifische Konstruktion der Abwertung dieser Berufe als sogenannte SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Profession und Geschlecht Seite 189 189 Semi-Professionen dient (vgl. Rabe-Kleberg 1996). Das kann so weit gehen, dass selbst die bisher erreichte Qualifikationsstufe immer wieder politisch zur Disposition steht, indem professionelle Aufgaben ins Ehrenamt verschoben oder in ungelernte Tätigkeiten zurückverwandelt werden. Daher bedürfen soziale Berufe einer eigenen Definitionsmacht und Kontrolle über ihren Bereich, die es dann auch wahrzunehmen gilt. Sorgetätigkeiten in der professionellen sozialen Praxis müssen als Qualität anerkannt und normativ positiv besetzt werden, ohne diese wieder im Sinne »geistiger Mütterlichkeit« moralisch aufzuladen: Das heißt, Dekonstruktion der Geschlechtszentrierung Sozialer Arbeit und Zugänglichmachen für beide Geschlechter (vgl. Schimpf 2002). Das Besondere in sozialen und pflegerischen Bereichen im Vergleich zu männlich konnotierten Berufen ist, dass letztere zumeist hoch strukturiert und in ihrem Aufgabenbereich klar definiert sind, während erstere selbst auf professioneller Ebene einen Grad von Diffusität und Allzuständigkeit beibehalten. Die für Soziale Arbeit benötigten Fähigkeiten werden traditionell zwischen »natürlicher« Menschenliebe und wissenschaftlich fundierten Methoden angesiedelt (vgl. Zander et al. 2006). Professionelle Befähigung zur Beziehungsarbeit – mit Kindern oder mit Erwachsenen in schwierigen Lebenslagen – erhält eine ähnlich geringe Wertschätzung wie Hausarbeit: beide finden wenig Beachtung solange sie problemlos funktionieren und dadurch unsichtbar sind. Anders als Tätigkeiten in männlich konnotierten Professionen werden personenbezogene Hilfe und Sorgen kulturell höher bewertet, wenn sie nicht professionell, sondern privat geleistet werden. Professioneller Sozialer Arbeit haftet daher häufig ein Makel an: bezogen auf die Sorgebedürftigen, dass sie eine bezahlte Kraft nötig haben und bezogen auf Sorgetragende, dass sie diese Arbeit nicht umsonst und zeitlich unbegrenzt machen. Beides Phänomene, die es so in männlich konnotierten Professionen typischerweise nicht gibt, da diese historisch sehr viel früher vom Haus abgekoppelt SatzBakic.qxd 190 27.02.2008 17:19 Seite 190 Profession und Geschlecht wurden und weniger an »Liebesdienste« anknüpfen (vgl. Brückner 2004). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in einer geschlechtszentrierten Gesellschaft das Verhältnis von Beruf und Geschlecht bedeutungsvoll für den Stellenwert eines jeden Berufes ist. Soziale Arbeit fällt dabei aus zweierlei Gründen aus der normierten Welt der Professionen heraus. Sie beschäftigt sich erstens weniger mit einem fest umrissenen Aufgabengebiet in Alleinzuständigkeit, sondern ist vor allem zuständig für das Ausgeschlossene (wie nicht versicherte Lebensrisiken und von Ausschluss bedrohte Menschen). Soziale Arbeit bezieht sich zweitens auf den Alltag und findet zumeist in der Lebenswelt der Menschen statt. Beides macht Soziale Arbeit jedoch nicht zu einer Semi-Profession, sondern zu einer Profession, welche die herrschenden Normierungen von Professionalität in Frage stellt. Der derzeitige Blick auf Soziale Arbeit als effektive und effiziente Dienstleistung, die gemanagt und gesteuert werden muss, läuft Gefahr, den Beziehungsaspekt Sozialer Arbeit aus dem Auge zu verlieren, ohne dessen Berücksichtigung keine Empowermentstrategien und keine Selbsthilfeansätze wirksam werden können. Soziale Arbeit als Profession steht daher immer auch für die Wertschätzung zwischenmenschlicher Interdependenz. Aktuelle Entwicklungen Sozialer Arbeit als Profession Derzeit lassen sich jedoch im Zuge emotionaler Entleerung sozialer und pflegender Berufe – durch männlich konnotierte betriebswirtschaftliche Prioritätensetzungen und entsprechend zweck-mittel orientierten rationalen Zielsetzungen – vielfältige Kehrtwendungen beobachten: Zeit- und kostenaufwendige Fürsorglichkeit und Beziehungsorientierung drohen dem Credo der Kurzfristigkeit und der Distanzwahrung als neuer SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Profession und Geschlecht Seite 191 191 Königsweg der Professionalität zum Opfer zu fallen (vgl. Waerness 2000). Im von Frauen dominierten, klientennahen Bereich hat sich eine neue Arbeitsteilung entwickelt, indem auf der einen Seite sozialpädagogisch gut ausgebildete Professionelle mit zunehmend auf Steuerung ausgerichteten, inhaltlich und zeitlich eingegrenzten Aufgabengebieten und sehr beschränkten, persönlich distanzierten Kontakten zu den AdressatInnen stehen. Auf der anderen Seite finden sich ungelernte Kräfte (häufig mit Migrationshintergrund) wie Putzfrauen und HausmeisterInnen sowie Frauen mit Kurzausbildungen wieder, die aufgrund sozialer Nähe und ihrer Tätigkeit häufig in Anwesenheit der AdressatInnen für die allgemein menschliche Seite, wie alltägliche Gespräche und Mitgefühl, sorgen. Zur Sicherung vorherrschender Professionalitätsvorstellungen auf der Basis curricularer Wissensbestände scheint es am einfachsten, schwer fassbare Dimensionen zwischenmenschlicher Bindung als Teil der Professionalität in sozialen und pflegerischen Berufen aufzugeben und durch instrumentelles Handeln zu ersetzen. Dann gehen allerdings auch Bedürfnisse der AdressatInnen nach persönlicher Anerkennung und die Möglichkeit, eine haltende Funktion im Sinne von Winnicott (1990) einzunehmen (d.h. schwer auszuhaltende Situationen innerlich mit zu tragen und somit Beistand zu leisten), verloren. An beziehungsorientierten Fragen dieser Art setzen Theoretikerinnen wie Kari Waerness (2000) an, indem sie eine wissenschaftliche Verortung von Beziehungsarbeit zum zentralen Bestandteil personenbezogener Fürsorge und Pflege machen. Waerness geht von der Notwendigkeit einer »Fürsorgerationalität« aus, die sie zweckrationalen Vorgehensweisen gegenüberstellt und die sie definiert als: Verständigung über und Abstimmung von Bedürfnissen und Sichtweisen sowie ausreichend Zeit und Raum, um eine gemeinsame Arbeitsgrundlage zu schaffen. Diese zwischenmenschliche Dimension jeder Sorgetätigkeit, ob in der Sozialen Arbeit, der Pflege oder SatzBakic.qxd 192 27.02.2008 17:19 Seite 192 Profession und Geschlecht im Erziehungsbereich muss nach Waerness seiner Naturalisierung und Geschlechterzuweisung enthoben und neu in die Profession integriert werden. Zusammenfassend zeigen Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit eine enge Verquickung von Geschlecht und Profession durch den Wirkungszusammenhang gesellschaftlich vorgegebener Geschlechterordnung und durch die sozialen Praxen von Frauen und Männern. Aufgrund enger geschlechtlicher Rahmenbedingungen und innerer Überzeugungen sind die Pionierinnen Sozialer Arbeit den gesellschaftlich vorgegebenen Weg geschlechtlicher Besonderung weitergegangen. Heute können Fürsorge-, Erziehungs- und Pflegeaufgaben (personenbezogene soziale Dienstleistungen) als strukturell geschlechtsunabhängig gesehen werden, indem als selbstverständlich erachtete, Frauen zugeschriebene Fähigkeiten auf eine professionelle Ebene transferiert und offizieller Bestandteil des Arbeitsauftrages werden. Entsprechend gilt es, das vorherrschende Männerbild so zu erweitern, dass Sorgetätigkeiten integrierbar sind, und Männer müssen ausreichend Möglichkeiten zu einer entsprechenden sozialen Praxis erhalten. Die hohe Präsenz von Frauen und die historische Verquickung des Berufs mit Frauen zugewiesener, unbezahlter Arbeit in Haus und Familie hat zur Abwertung Sozialer Arbeit im Verhältnis zu anderen Professionen geführt, weshalb bei Professionsdiskursen zumeist die weibliche Tradition ausgeklammert wird. Professionen wohnt ein männliches Verhältnis zu Arbeits- und Lebensbedingungen inne: ungehinderter Zugang zu Bildung, Spezialisierung und berufliche Selbstkontrolle, Befreiung von reproduktiven Tätigkeiten und ähnliches. Traditionelle Professionsvorstellungen greifen bezogen auf Soziale Arbeit zu kurz, da sie eine klare Trennung zwischen »System und Lebenswelt« (Habermas) voraussetzen, während die Qualität der Profession Sozialer Arbeit gerade darauf beruht, Übergänge herzustellen, d.h. AdressatInnen Lebenschancen durch Zugänge zu persönlichen und gesellschaftlichen Ressourcen sowie durch Beziehungsangebote zu eröffnen. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Profession und Geschlecht Seite 193 193 Sichtbare und unsichtbare geschlechtsspezifische Grundlagen Sozialer Politik als Rahmenbedingungen professioneller Sozialer Arbeit Soziale Arbeit trifft auf sehr unterschiedliche Einkommensund Armutssituationen von Frauen und Männern, die entsprechend verschiedene Bedarfe haben, auch wenn durch Arbeitslosigkeit, Reduktion versicherungspflichtiger Vollzeitarbeitsplätze und Abbau des Sozialstaates Angleichungen zwischen den Geschlechtern stattfinden. Da sich die Sozialversicherungsleistungen am männlichen Lebensmodell orientieren – lebenslange, versicherungspflichtige Vollerwerbstätigkeit, sind Frauen durch Familienarbeit häufig nur halbtags oder geringfügig beschäftigt, wodurch sie strukturell schlechter gestellt sind (vgl. Geißler 2002). Dass familiale und informelle Sorgetätigkeiten (zumeist) von Frauen einen signifikanten Teil wohlfahrtsstaatlicher Leistungen ausmachen, bleibt dabei politisch fast völlig unbeachtet. Wurde Soziale Arbeit zu Zeiten des sozialstaatlichen Ausbaus in den 1970er/80er Jahren noch als Teil gesellschaftlichen Ausgleichs und des Demokratisierungsprozesses gesehen, stehen Sorgetätigkeiten aller Art heute für das Gegenteil von Fortschritt, Emanzipation und Individualität (vgl. Bauer/ Gröning 2000). Daher gilt es, die geschlechtliche Bindung Sozialer Arbeit aufzulösen, nicht um Frauen und ihre Tätigkeiten zum Verschwinden zu bringen, sondern um die Konsequenzen sichtbar zu machen, wenn Sorgetätigkeit einem Geschlecht und noch dazu dem nachrangigen zugeordnet wird: • • Sozialer Arbeit wird wenig Wert zugemessen, weil sie Frauenarbeit ist und sie wird Frauen überlassen, weil sie wegen ihrer Nähe zur Hausarbeit keinen Machtfaktor darstellt; Soziale Arbeit widerspricht mit ihrer Hilfeleistung dem SatzBakic.qxd 194 27.02.2008 17:19 Seite 194 Profession und Geschlecht Ideal des unabhängigen Individuums, das sich selbst hilft und immer als männlich gedacht war. Unterschiedliche Entwicklungspfade sind bezogen auf soziale Aufgaben der Erziehung, Fürsorge und Pflege– ob in einem Sozialberuf oder als private Tätigkeit in der Familie – denkbar (vgl. Gottschall/Pfau-Effinger 2002): • • • Soziale Aufgaben organisiert als professionelle Sorgetätigkeit von ausgebildeten Kräften im Kontext öffentlicher Dienste (wie vor allem in Skandinavien), Soziale Aufgaben organisiert als marktförmige Dienstleistungen von gering Qualifizierten (häufig Migrantinnen) im Niedriglohnsektor (wie insbesondere in den USA) oder Soziale Aufgaben organisiert als Mixmodell mit einem vergleichsweise geringen Anteil professioneller sozialer Dienstleistungen und einem relativ hohen Anteil familialisierter, sozialstaatlich qua Steuerpolitik und Transferzahlungen gestützter Arbeit, zunehmend ergänzt durch Schattenarbeit in der Kindererziehung und privaten Pflege (wie charakteristisch für Deutschland und Österreich). Aufgrund massiver, sozialstruktureller Veränderungen bezogen auf Formen des Zusammenlebens, Überalterung der Bevölkerung und zunehmende Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt, wächst die Notwendigkeit, in zu erweiterndem Umfang Soziale Aufgaben als gesellschaftlich und nicht privat zu lösende zu verstehen, so z.B. durch Ausbau diversifizierter Kindereinrichtungen und Hilfeinstanzen für alte Menschen. Real werden hingegen soziale Institutionen eher abgebaut oder zumindest nur selten entsprechend ausgebaut, wodurch sich das Defizit sozialer Aufgaben vergrößert und die Lücke zunehmend gar nicht oder nur mit privaten Mitteln geschlossen werden kann. Für eine vorausschauende Bedarfsentwicklung muss Soziale Arbeit den weiteren Verlauf dieser durchaus wider- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Profession und Geschlecht Seite 195 195 sprüchlichen Entwicklungsprozesse mit seinen jeweiligen geschlechtsspezifischen Wirkungen analysieren und entsprechende Hilfeplanungen vorantreiben. Als angemessenes Modell (»warm modern model«) für die Bewältigung sich wandelnder sozialer Aufgaben sieht Arlie Hochschild (1995) eine nach den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen gestaltete Aufgabenteilung zwischen gesellschaftlichen Institutionen und privaten Angeboten der Fürsorge und Pflege sowohl von Frauen als auch von Männern. Wenn eine Vernetzung zwischen den verschiedenen Anbietern und Interessengruppen sichergestellt wird, bleibt auch für privat Sorgende gesellschaftliche Teilhabe im Sinne einer Angebundenheit und einer Entschädigung weiter möglich. Die Grenzen persönlicher Entscheidungsfreiheit – Sorgeaufgaben zu übernehmen oder es nicht zu tun – liegen nach Hochschild sowohl in jeweiligen ökonomischen Zwängen als auch da, wo sie soziale Gerechtigkeit tangieren. Dann sind kollektive Lösungen erforderlich, für die allerdings ein breiter Konsens angesichts der Pluralisierung von Lebenslagen und sozialen Polarisierungen schwieriger wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Sozialpolitik europäischer Wohlfahrtsregime einen mehr oder weniger stark ausgeprägten Geschlechter-Bias aufweist: Auf der strukturellen Ebene dominiert ein an männlicher Normalität orientiertes Modell sozialer Sicherheit, indem lebenslange, ganztägige Erwerbsarbeit Voraussetzung für eine ausreichende, nicht bedürftigkeitsbezogene Soziale Sicherung darstellt. Auf der subjektiven Ebene dominiert die Vorstellung von Sorgetätigkeit als Frauenarbeit, die als nicht passend für Männer angesehen wird und entsprechend schlecht oder gar nicht bezahlt ist. SatzBakic.qxd 196 27.02.2008 17:19 Seite 196 Profession und Geschlecht Geschlechterforschung als Beitrag zur Überwindung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit Solange Geschlechtszugehörigkeit ein zentrales Kriterium gesellschaftlicher und persönlicher Verortung bleibt, muss die Wirkung von Geschlecht analysiert und reflektiert werden, um Wege zu erkunden, die Gleichberechtigung und gegenseitiger Anerkennung näher kommen. Ein derartiges Konzept stellt »Geschlechterdemokratie« dar, welches an den Gedanken eines demokratischen Staatswesens und einer demokratischen zivilen Gesellschaft anknüpft und Geschlechterungleichheit als undemokratisch betrachtet (vgl. Diaz 2001). Geschlechterdemokratie erfordert Bildungsansätze, die Akteure beider Geschlechter für eine gleichberechtigte Kooperation ausbildet. Ziel ist eine Flexibilisierung von Geschlechterrollen durch den Abbau männlicher Dominanzstrukturen und die Aufgabe von Männlichkeit als hegemonialem Strukturprinzip. Dabei dürfen sich Demokratisierungsprozesse nicht auf Geschlecht beschränken, sondern müssen andere Formen der Ungleichheit einschließen, ohne Geschlecht aus dem Blick zu verlieren. Bezogen auf De- und ReGendering bedeutet dieses Konzept • • »De-Gendering« im Sinne des Sichtbarmachens und Reduzierens von Geschlechtergrenzen und -benachteiligungen sowohl in gesellschaftlichen Institutionen als auch alltäglichen Lebenszusammenhängen; »Re-Gendering« im Sinne des Bewusstmachens und der Wertschätzung erworbener geschlechtsspezifischer Leistungen und des Vorhaltens geschlechtsbewusster sowie geschlechtsspezifischer sozialer Angebote solange Geschlecht als sozialer Platzanweiser fungiert. Im Sinne eines geschlechterdemokratischen Ansatzes ist Profession und Geschlecht in der Sozialen Arbeit ein Thema SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Profession und Geschlecht Seite 197 197 mit unterschiedlichen, gleichermaßen wichtigen Facetten, denn alle Felder Sozialer Arbeit bedürfen geschlechterbewusster Ansätze und zudem braucht es je nach gesellschaftlicher Situation kontextspezifisch angemessener, geschlechtsspezifischer Angebote, derzeit z.B. bezogen auf das Problem der Gewalt im Geschlechterverhältnis. Auf der Erkenntnisebene ist es wichtig, Geschlecht als Wirkfaktor zu analysieren, um nach geschlechterübergreifenden Perspektiven zu suchen oder um geschlechtsspezifische Aufgaben anzuerkennen. Auf der Ebene der Lösung sozialer Probleme geht es neben der gleichgewichtigen Sicht auf die Lebenslage beider Geschlechter um das Feststellen geschlechtsspezifischer Bedarfe und um die besondere Förderung von Frauen und Mädchen, solange keine gleichwertigen Partizipationsmöglichkeiten auf allen gesellschaftlichen Ebenen gewährleistet sind. Dazu erforderlich ist • • eine ausreichende Geschlechtersensibilität der Profession, um Geschlechterdifferenzen und deren Wirkungen zu erkennen, eine Reflexion des eigenen professionellen »doing gender« in Theorie und Praxis. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die besondere Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die Profession Soziale Arbeit sowohl im Aufspüren von Geschlechterdimensionen bezogen auf strukturelle und biografische Benachteiligungen liegt, als auch in der Rekonstruktion geschlechtsspezifischer Leistungen, die sonst dem Vergessen anheim fallen und last not least in der Entwicklung geschlechtergerechter Perspektiven. Um als Profession diese Aufgaben bestmöglich wahrnehmen zu können, bedürfte es der Aktivität auf verschiedenen Ebenen: Einer stärkeren Einbeziehung und Kritik sozialpolitischer Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit, einer selbstbewussteren und fachpolitisch vernetzten Vertretung der frauenpolitischen Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit einschließlich der SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 198 Seite 198 Profession und Geschlecht daraus erwachsenden eigenständigen Entwicklung von Handlungsmethoden und ein wissenschaftlich abgesichertes Bestehen auf Sozialer Arbeit als beziehungsorientierter, geschlechtersensibler Hilfeform. Literatur Bauer, Annemarie/Gröning, Katharina (2000): Der verborgene Bereich: Gefühle in der sozialen Dienstleistungsarbeit und als Thema der Supervision. In: Forum Supervision 16 (8), 20-34 Becker-Schmidt, Regina/Knapp, Gudrun-Axeli (2000): Feministische Theorien. 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Spannend wird es dann, wenn der Bedeutungsaufladung dieser beiden Zauberwörter im Bereich der Sozialen Arbeit nachgespürt wird, denn das, was für die einfache und schnelle Küche als Rezept gilt, muss ja nicht für alles gelten. Qualität im allgemeinen Wortsinne bedeutet Beschaffenheit oder Eigenschaft – kurz das Wesen eines Gegenstandes. Alltagssprachlich wird Qualität mit »positiven« Eigenschaften wie Güte, Zufriedenheit, Solidität und Gründlichkeit verbunden. Im praktisch wirtschaftlichen Sinn wird versucht, mit dem Begriff Qualität eine Messbarkeit der erwünschten Kriterien zu verbinden. Dabei wird Qualität als die Gesamtheit von Eigenschaften und Merkmalen eines Produktes oder einer Tätigkeit definiert, die sich auf deren Eignung zur Erfüllung gegebener Erfordernisse beziehen (vgl. DIN/ÖNORM/ISO). Als Produkt ist hier jede Art von Waren oder Rohstoffen, wie auch der Inhalt von Entwürfen, Plänen und Projekten zusammengefasst, während die Tätigkeiten verschiedenste Dienstleistungen und Prozesse bezeichnen (vgl. Bakic 2006, SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Qualität und Effizienz Seite 201 201 218f). Die Produkte oder Tätigkeiten selbst müssen im jeweiligen Kontext erst bestimmt werden. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine Vielzahl von Einrichtungen zur Feststellung von Qualität in diesem Sinne etabliert, so etwa das österreichische Normungsinstitut (ÖNORM), die internationale Standardisierungsorganisation (ISO/DIS 8402:1991) und das Deutsche Industrie Normierungsinstitut (DIN 55350). Effizienz im allgemeinen Wortsinn bedeutet Wirksamkeit, hat in verschiedenen Fachbereichen jedoch unterschiedliche Bedeutungen. Während sie etwa im technischen Bereich den Wirkungsgrad eines bestimmten Verhältnisses definiert, beispielsweise die Relation eines Rohrdurchmessers zur beförderten Flüssigkeitsmenge, meint Effizienz in wirtschaftlicher Hinsicht in der Regel einen Imperativ. Betriebswirtschaftlich heißt dies z.B. dann ein Ziel mit möglichst geringem Aufwand zu erreichen, volkswirtschaftlich hingegen z.B. die Ressourcen optimal zu verteilen. Allgemein ist die Frage nach der Effizienz eine Frage nach der Passgenauigkeit der Mittel zur Zielerreichung und daher nicht unabhängig von der Perspektive, die dabei eingenommen wird. Ursprünglich stammt die Idee der Normierung von Qualitätskriterien aus dem militärischen Bereich sowie anderen sensiblen Gebieten wie der friedlichen Nutzung von Kernenergie, der Raumfahrt etc. Ausgehend von betrieblichen Qualitätszirkeln in japanischen Unternehmen in den 1950ern kam es in Europa in den 1980er Jahren zu ersten Qualitätsmanagementbestrebungen, die über eine bloße Produktionskontrolle im Fordschen oder Taylorschen Sinne hinausgingen. Während in Japan eine intensivere Weiterentwicklung der Maßnahmen im Qualitätssektor hin zu ganzheitlicheren Verfahren, wie dem Total Quality Management, stattfand, wurden in Europa jene Verfahren verwendet, die auf Produkt- und Prozessmessung bzw. -sicherung abzielten. Die zunächst größte Verbreitung fand das normierte Qualitätssicherungssystem nach ISO 9000 (ff, nunmehr aktuell: ISO 9000ff:2000), das in SatzBakic.qxd 202 27.02.2008 17:19 Seite 202 Qualität und Effizienz vielen Institutionen das Herzstück der Qualitätsmanagementbestrebungen ausmacht. Ein entscheidender Grund für die Einführung dieses Systems wird darin gesehen, dass die Abnehmer von Waren oder Leistungen, den hohen Zeit- und Kostenaufwand für die Prüfung der Güte einsparen. Dazu wurde eine einheitliche ISO-Norm vereinbart, auf die sich Abnehmer grundsätzlich verlassen können sollen. Als Träger einer derartigen Norm soll auch der Hersteller damit im Vorteil gegenüber seinen nicht zertifizierten Mitbewerbern sein. Damit überprüft werden kann, ob die jeweilige Institution auch die dafür vorgesehenen Normen einhält, werden eigene Zertifizierungsbetriebe gegründet. Entscheidend für das Ausweisen von Qualität wird also die Anerkennung durch eine Zertifizierungsagentur, die ihrerseits ExpertInnen für das Zertifizieren bereitstellt, nicht jedoch für das zu Zertifizierende. Zum Eindringen fachfremder Begriffsverständnisse in die Soziale Arbeit Soziale und pädagogische Einrichtungen rücken seit den 1990ern als Ziele, die auch neuer Qualitätsmanagementmethoden bedürfen, ins Blickfeld. Dabei wurde und wird ein Anspruch nach Veränderung eingefordert und somit implizit vermittelt, dass diese Einrichtungen bisher kaum etwas oder zu wenig für die Herstellung und Sicherung guter Arbeitsergebnisse geleistet hätten. Qualität als neue Perspektive für die Ausrichtung pädagogischen und sozialarbeiterischen Handelns scheint demnach Folge veränderter Prioritätensetzungen der Bildungs- und Sozialpolitik zu sein: Unter den Chiffren »Wettbewerb« und »Exzellenz« soll eine wie auch immer geartete Leistungs- und Ertragssteigerung durch Vergleichbarkeit erzielt werden. Qualität und Effizienz werden im Verständnis zusammengeschmolzen und immer wenn von Qualität die Rede ist, wird auch schon auf Effizienz abgezielt. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Qualität und Effizienz Seite 203 203 Die in der Sozialarbeit seit jeher herrschende Verunsicherung bezüglich ihrer theoretischen Selbstvergewisserung öffnet einer bereitwilligen Implementation der »Qualitätsdebatte« Tür und Tor. Mit den eingeführten Qualitätsmanagementsystemen soll eine Kostensenkung durch Effizienzsteigerung, ein ständiges Erkennen von Verbesserungspotentialen und eine Entwicklung hin zu Wettbewerbsorientierung im Spiegel der Marktwirtschaft erfolgen. Damit einhergehend werden nun zur Überprüfung der Qualität und Effizienz sozialer Arbeit Steuerungsmodelle aus der Industrie herangezogen, die auf durch Ursache – Wirkungszusammenhänge definierte technologische Verfahren abgestimmt sind (vgl. Bakic/Diebäcker/ Hammer 2007a). Eine sozialarbeitsspezifische Argumentation wird hier weder eingefordert noch beachtet, obgleich dieser Diskurs auf eine Bewertung der Sozialen Arbeit in unterschiedlichen Anwendungsbereichen abzielt, also ihre Güte feststellen möchte und somit zu einem genuin fachlichen Problem wird (vgl. Köpp/Neumann, 2003 98f; Galiläer 2005, 12 bzw. 107ff). Bei der Analyse dieser Entwicklung zeigt sich auch, dass immaterielle Bereiche der Versorgung und Betreuung, also Schutz, Bildung, Erziehung und Kultur deswegen standardisiert werden sollen, um etwa den Anforderungen bei der Leistungsvergabe durch ein neu konstruiertes Ausschreibungswesen nach dem jeweiligen Vergabegesetz gerecht zu werden, in dem Qualität und Effizienz zum Entscheidungsfaktor werden (vgl. Bakic 2007, 78)1. Ganz allgemein wird hier jedenfalls davon ausgegangen, dass es eine externe Prüfvorstellung von richtig – also vorgabenkonform und sparsam – durchgeführter Sozialer Arbeit gäbe. Der Begriff Qualität bietet sich hier als Zauberformel an. Als eine aus der Wirtschaft gewohnte Messgröße wird sie mit darstellbaren Ergebnisziffern in Verbindung gebracht, mit deren Hilfe günstige Kosten-Nutzen-Verhältnisse hergestellt werden sollen. Die Darstellung dieser Messgrößen erfolgt in der Regel in Form quantitativer Werte, Differenzierungen in der jeweiligen besonderen Form der sozialarbeiterischen Tätigkeit sind hier nur SatzBakic.qxd 204 27.02.2008 17:19 Seite 204 Qualität und Effizienz sehr schwierig einzuführen und die Vergabe von Gewichtungskriterien liegt außerhalb der Zuständigkeit von Fachexpertinnen. Die Konsequenzen der Effektivierung menschlicher Handlungsvollzüge Im Ansinnen, dass soziale Einrichtungen passfähiger und ertragreicher werden sollen (vgl. Merchel 2003), wird die Zeitund Kostenfrage zu einem neuen Imperativ Sozialer Arbeit. Finanziers sozialer Arbeit interessieren vorwiegend jene Handlungen, die kurzfristig zu einem vorhersagbaren und berechenbaren Ergebnis führen. So wird nicht mehr gefragt, was für die Soziale Arbeit ein sinnvoller Rahmen, sowohl zeitlich als auch vom Aufwand her gesehen, wäre, sondern es werden in der Regel betriebswirtschaftlich gedachte Kriterien als Leitprinzip vorgegeben. Dieser Imperativ ›Optimiere!‹, der dauerhafte Verbesserungsanspruch, ist Ausdruck politischer Strategie, die das Subjekt einer Verfahrenskontrolle unterstellt, die nicht auf eine Sache abzielt, sondern auf die Effektivierung menschlichen Handelns als Technologie. Das wird etwa in den Schriften der EU-Bildungskommision deutlich, wenn von der Ausschöpfung des Humanressourcenpotentials gesprochen wird (vgl. EU Bildungskommision 1995), was ja nicht unbedingt etwas Neues darstellt2. Dies führt mittlerweile soweit, wie Michael Winkler einwirft, dass aus der Sozialen Arbeit heraus eigene Angebote kritisch unter die Lupe genommen werden, ob sie passgenau oder doch bereits eine ›Luxusvariante‹ seien, die wenig taugen angesichts der »realistischen Perspektiven junger Menschen« (Winkler 2000, 152). Die aktuelle Diskussion um Soziale Arbeit verkürzt sich dergestalt auf die Frage nach der Passfähigkeit sozialarbeiterischer Antworten auf gesellschaftlich markierte Problemlagen. Die Versuche der Herstellung einer ökonomisch rationalen Kontrolle zielen weiters auf messbare Ergebnisparameter ab, SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Qualität und Effizienz Seite 205 205 die davon ausgehen müssen, dass Soziale Arbeit über kausal wirkende Techniken zur Veränderung von Menschen verfügt. Dieser Anspruch an Soziale Arbeit übersieht jedoch die Offenheit von Bildungs- und Entscheidungsprozessen, die sich allgemein im so genannten ›Technologiedefizit‹ Sozialer Arbeit zeigen und von Michael Galuske als Akt der Selbsttäuschung entlarvt werden, sollte man meinen, über absolut wirkende Methoden zu verfügen (vgl. Galuske 2003, 60), da ihr dadurch »jene auf die Bedingungen des Einzelfalls ausgerichtete, fachlich fundierte, gleichwohl offene Suchhaltung gegenüber dem biografischen Eigensinn, den ›Besonderheiten‹ der Klienten und ihrer Lebenslage, den Eigenheiten ihrer Lebenswelten und ihrer sozialen Netzwerke« (Galuske/Müller 2002, 488) abhanden kommt. Es dürfte also ein fundamentaler Widerspruch zwischen dem fachlichen Anspruch Sozialer Arbeit und dem auf betriebswirtschaftliche Kontrolle und Planbarkeit abzielendem Qualitätsverständnis vorliegen. Anstatt einer reflexiven Fachdiskussion erfolgt die Ausrichtung an Zauberformeln und allseits Zustimmung findenden Hülsenwörtern, wozu Qualität und Effizienz in herausragender Weise zählen. Es fällt schwer, hier Kritik zu üben, ohne sich mit dem Vorwurf konfrontiert zu sehen, realitätsfremd zu sein. Qualität will schließlich jede/r, und zwar auf allerhöchstem Niveau. Wer will schon von einer/m mittelmäßigen oder gar mäßigen SozialarbeiterIn beraten oder betreut werden? Wer möchte schon, dass am Ende einer sozialarbeiterischen ›Dienstleistungserbringung‹ ein Ergebnis steht, das nicht im Entferntesten den Idealvorstellungen eines geglückten Interventionsprozesses entspricht? Ebenso wird die aus Werbesendungen allseits bekannte Forderung allgemein vorauszusetzen sein: Warum mehr bezahlen, wenn das gleiche Produkt billiger zu haben ist? Mit diesen, einfache Lösungen versprechenden Zugängen lässt sich auch die zunehmend kritikfreie Einführung betriebswirtschaftlicher und managementorientierter Steuerungskonzepte SatzBakic.qxd 206 27.02.2008 17:19 Seite 206 Qualität und Effizienz in der sozialen Arbeit erklären, die konkrete Auswirkungen auf die Arbeitsweise und das Arbeitsverständnis haben, und ihren Niederschlag in der theoretischen Auseinandersetzung mit der Sozialen Arbeit finden3. Otto Speck spricht hier bereits Ende der 1990er von der Nötigung zur Wirtschaftlichkeit unter Ausklammerung realer Anforderungen (vgl. Speck 1999, 12). Diese Entwicklung führte in Deutschland zur Einführung neuer Steuerungsmodelle bei den öffentlichen Jugendhilfeträgern und zu neuen Anforderungen an Bereiche der Behindertenarbeit, speziell an die Arbeit von Behindertenwerkstätten, die mit qualitätszertifizierten Firmen zusammenarbeiten und breitet sich zunehmend auf alle Bereiche der Sozialen Arbeit aus. In Österreich sind ähnliche Entwicklungen etwas zeitversetzt zur deutschen Situation beobachtbar4. Die Einführung von Maßnahmen zur Orientierung an Qualität im Sinne der Sicherung und Messung geht Hand in Hand mit der Diskussion um die Finanzierung der staatlichen Sozialkosten und dem damit verbundenen Umbau des Sozialstaates bzw. der Reform der öffentlichen Verwaltungen. New-Public Management, strategisches bzw. operatives Controlling, Outputorientierung, Produktdefinitionen, Kontraktmanagement und ›Markt statt Staat‹ sind die heilsversprechenden Key-Words, die der öffentlichen Verwaltung und dem Sozialwesen verordnet werden (vgl. Galiläer 2005, 112f). Die Argumente, die diesen Paradigmenwechsel legitimieren sollen, wurden in Deutschland, wie in Österreich gleichermaßen ins Treffen geführt: leere öffentliche Kassen und zu hohe Sozialkosten. Eine Neuregelung des deutschen Sozialstaates und die Reform der öffentlichen Verwaltungen werden konsequent durchgeführt, in Österreich wird dies seit Mitte der 1990er angestrebt und ab 2000 auf lokaler Ebene schrittweise umgesetzt (vgl. Bakic/Diebäcker/Hammer 2008). Die Suche nach dem Heilmittel mehr privat, weniger Staat als Lösung für eine angebliche Finanzierungsproblematik favorisiert da wie dort outputorientierte Steuerung sozialarbeiterischer Maß- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 207 Qualität und Effizienz 207 nahmen. In Deutschland gibt es hierfür ausgearbeitete Produktkataloge (vgl. BMFSFJ 2000, 25ff) und für die Bewilligung von Budgets sind die Einführung standardisierter Controllingverfahren sowie ein spezifisches Kontraktmanagement im Zeichen von Qualität und Effizienz vorgeschrieben. Damit wird ein einseitiger Fokus auf Wirtschaftlichkeitsfragen gelegt, denn bei all diesen Neuerungen wird vor allem geprüft, ob das Ergebnis und der dafür notwendige Aufwand gerechtfertigt sind. Nikolaus Dimmel spricht in diesem Zusammenhang von wirkungsorientiertem Managerialismus: »what works is good and true« (Dimmel 2007, 31). Gleichzeitig wird transportiert, dass die bisherige Arbeit im Verwaltungs- und Sozialbereich nicht den zeitgemäßen Effizienzansprüchen gerecht wird, wenn durch politische Vorgaben nicht Reformen bloß um der Reformbekundung wegen durchgeführt werden. Otto Speck findet die Antwort im allgemeinen Wehklagen über den nicht mehr zeitgemäßen Wohlfahrtsstaat, der bereits Mitte der Neunziger des zwanzigsten Jahrhunderts von deutschen Politikern als Gefahr einer sozialen Dienstleistungskatastrophe beschwört wird. Nach Warnfried Dettling (1995, 160) sei nicht nur die Vergeudung von Ressourcen und Effizienzmängel zu konstatieren, sondern vor allem das Vorbeiarbeiten an den Bedürfnissen der Menschen. »Der Grund liege in der Allzuständigkeit des Staates. Sie habe zu einer Erstarrung der sozialen Dienste geführt. Diese seien heute so organisiert, dass sie sich über ihre eigenen Ziele und Erfolgskriterien nicht im Klaren seien, also weder aus ihren Erfolgen noch aus ihren Fehlern lernen könnten.« (Speck 1999, 18). Als Entgegnung dieser Vorwürfe kommt es zu einer bereitwilligen Aufnahme markterprobter Sicherungsmodelle. Kriterien wie die gleichzeitige Beachtung des individuellen und des Gemeinwohls, die Beachtung sozialer Logik jenseits eines SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 208 208 Qualität und Effizienz Tauschwertes finden sich aber nicht an zentraler Stelle und die ›Prüfinstanzen‹ dazu wären wohl auch nicht die Verwaltungsexekutoren sozialstaatlicher Provenienz. Wenn durch Qualitätssicherung als Grundlage von Leistungsbeschreibungen ein bewertender Vergleich zwischen verschiedenen Trägern ermöglicht werden soll, stellt sich in Folge die Frage, ob in Zukunft nur noch der billigste Anbieter ausgewählt werden soll? Dies stellt wohl ernsthaft in Aussicht, dass eine Unterschiedlichkeit in der Gestaltung sozialarbeiterischer Tätigkeit nicht nur nicht erwünscht, sondern unmöglich gemacht werden soll. Es ist wohl so weit, dass die öffentliche Verwaltung durch die Einführung einer wirtschaftsmarktangepassten Struktur sich eine Kostensenkung aufgrund eines künstlich forcierten Wettbewerbs erhofft. Wenn man sich die gegenwärtige Ausdünnung der Leistungsvergabe ansieht, kurz formuliert also mehr Arbeit um weniger Geld, dann lässt sich erkennen, dass es hier um ein Ausloten der Möglichkeit von Rationalisierung geht. Die Diskussion um Qualität vermittelt jedenfalls als Lösung eine einfache und ökonomisch rationale Kontrolle. In der Sprache der Verwaltungslogik heißt dies dann etwa: »Die Erarbeitung des Produktkataloges des Amtes erforderte viel Anpassungsvermögen zwischen der Vielfalt der Leistungen, die sich im Produktkatalog der Jugendwohlfahrt- Österreich spiegeln, und den Erfordernissen der hohen Verdichtung für den Produktkatalog des Magistrates.« (AJF Linz 2000, 168). Die Übersetzung des Begriffes Verdichtung liegt wohl nicht nur im Auge der BetrachterIn. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 209 Qualität und Effizienz 209 Wie nun damit umgehen? Der Trend scheint jedenfalls auf eine Vision standardisierter Einheitspraxis von Sozialpädagogik und Sozialarbeit abzuzielen. Eine offene Frage bei der Forderung nach Qualitätssicherungssystemnachweisen ist also die erziehungs- bzw. sozialarbeitswissenschaftliche Zielfrage. Liegt es in der Absicht öffentlicher Vergabestellen, dass alle Anbieter sozialer Arbeit nur mehr nach standardisierten wirtschaftlichen Normen verglichen werden können? Zählt bei der Bewertung von Anbietern im Sozialbereich nur mehr der Kostenfaktor, der nun gleichgesetzt wird mit Qualität?5 Es kann festgehalten werden, dass der Qualitätsdiskurs keine brauchbaren fachlichen Kategorien für die Soziale Arbeit liefert und lediglich als von außen eingebrachter Ziel- und Interessensdiskurs zu einer äußerst fragwürdigen Daseinsberechtigung kommen konnte. Der Drang auf diese Diskussion aufzuspringen liegt jedoch – wie bereits aufgezeigt – zu einem Gutteil in der angeblichen Legitimationsnot und dem scheinbaren Theoriedefizit der Sozialen Arbeit. Auch die Ertragsseite für die allen Ortes werbenden Qualitätssicherungs-Beraterinnen im Sozialbereich dürfte nicht zu vernachlässigen sein. Die Qualitätsdebatte scheint überdies zu einem vielseitig einsetzbaren Vehikel für die Professionalisierungsdebatte in der Sozialpädagogik/Sozialarbeit tauglich, weil die Soziale Arbeit Ausübenden neben höheren Qualifizierungsansprüchen einen höheren Professionalitätsgrad erreichen wollen (vgl. Thole/Cloos 2000, 561), woran sichtbar wird, »dass auf Seiten der Professionellen ein Bedarf an sinn- und sicherheitsstiftenden berufspraktischen Orientierungsmustern und Handlungsrezepten nicht zu leugnen ist und offenbar die bisherige, in Ausbildung und Berufspraxis vermittelte Handlungskompetenz nicht ausreicht, um eine verlässliche Orientierung im alltäglichen Arbeitsvollzug zu gewährleisten.« (Köpp/Neumann 2003, 178). SatzBakic.qxd 210 27.02.2008 17:19 Seite 210 Qualität und Effizienz Es geht also um einen mehrfachen Gewährleistungsanspruch. Alle wollen vorher wissen, was nachher rauskommt und gleichzeitig eine Garantie, dass das, was zu erreichen ist, auch möglichst schnell erreicht wird. Soweit so praktisch, bedauerlich ist nur, dass diese Wünsche vor allem reflexartig und nicht reflexionsartig bedient werden6. So scheint es auch folgerichtig, dass Soziale Arbeit ihren Begriff, ihre fachliche Bestimmung nicht mehr auf der Ebene von Ziel- und Sollensbestimmungen bzw. fachlich zu erarbeitenden normativen Grundlagen gewinnen könne, sondern vielmehr ihr Fachverständnis und ihre Bestimmung aus der Beschreibung und der Analyse des je marktmäßig zugelassenen Geschehens zu gewinnen habe (vgl. Winkler 2000, 153). Dies schließt den Kreis zu einem auf Einsparung abzielenden neuen Steuerungsmodell in der Sozialen Arbeit, das unter anderem mit der Vorgabe antritt, die Effizienz mittels Qualitätssicherung zu steigern und diese neue Wirklichkeit zu schaffen. Diese normative Aufnahme des Gegebenen als das legitim zu Erreichende verabschiedet Soziale Arbeit als politische Idee der Hoffnung auf eine bessere, andere Welt – wie sie etwa Siegfried Bernfeld in seinem Sisyphos’schen Entwurf formuliert (vgl. Bernfeld 2000 [1925]), spricht emanzipatorischen Ansätzen jede Chance ab und ist eine Kurzschließung des Seins mit dem Sollen, des Gegebenen mit dem Möglichen. Damit wird auch eine zentrale Perspektive der Sozialer Arbeit suspendiert, die Auseinandersetzung mit der zeitlichen Dimension, da eine offene Zukunft so nicht mehr verhandelbar ist. Lässt man Fachleuten bei der Suche nach der Qualität Sozialer Arbeit freien Lauf, dann kommt es mitunter zu Aussagen, wie sie der Sozialpsychologe Heiner Keupp stellvertretend formuliert: »Förderung und Unterstützung von a. ›aufrechtem‹ Gang und Selbstbestimmung; b. gesellschaftlicher Chancengleichheit; c. Vielfalt von Lebensformen/das Recht auf Differenz; d. kommunitären, SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 211 Qualität und Effizienz 211 selbst organisatorischen Netzwerken; e. sozialer und materieller Grundsicherung; f. partizipativen Formen der Politikgestaltung.« (Keupp 2004, 337). Dieser Katalog normativer Bezugspunkte mag erklärungsbedürftig sein, ist in seiner Thesenhaftigkeit auch eine sehr grobe Allgemeinlinie, die bebildert und ausgestaltet gehört. Was diese Aufzählung jedoch bereits skizziert, ist ein kritisch-reflexives Menschenbild, das sowohl die AdressatInnen wie auch die AkteurInnen Sozialer Arbeit mit dem Anspruch der Eigenständigkeit und Identität versieht, also den Menschen und seine Handlungsvollzüge in den Mittelpunkt stellt. Dies ist etwas kategorial anderes als die ökonomistische Suche nach Flexibilität, Passgenauigkeit und Konsumfähigkeit, die den Menschen als Humanressource nimmt und zum verdinglichten Faktor für die Aufrechterhaltung einer Warenaustausch- und Dienstleistungswelt macht. Die Debatte um Qualität und Effizienz weist keine sozialarbeitswissenschaftlich bedeutsame Kategorie auf, sondern stellt vielmehr eine semantische Hülle dar, die zunächst von ideologischen Ansprüchen einer marktorientierten Ausrichtung des Staates in den Dienst genommen wird. Was bei dieser Debatte ganz augenscheinlich vergessen wird, ist die Anknüpfung an historische Entwicklungslinien innerhalb der facheigenen Theorieentwicklung, somit der Verlust der Tradition. Michael Winkler streicht dies hervor, wenn er feststellt: »Tatsächlich lässt sich an der um den Begriff der ›Qualität‹ zentrierten Jugendhilfe-Diskussion beobachten, dass sie eigentümlich unhistorisch wie aber auch gesellschaftstheoretisch desinteressiert, damit möglicherweise systematisch wie kategorial unterhalb des disziplinär verfügbaren Reflexionsniveaus bleibt.« (Winkler 2000, 143). Gleichwohl stellt die Dauerthematisierung von ›Qualität‹ und ›Effizienz‹ eine konkrete Themenvorgabe für die Soziale Arbeit SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 212 212 Qualität und Effizienz dar, weil sie die Frage nach der disziplinären Selbstvergewisserung zwar perspektivisch falsch, jedoch öffentlich wirksam aufwirft. Gleichwohl sollte hier tunlichst zwischen den beiden Ebenen unterschieden werden, die in der aktuellen Debatte immer schon kurzgeschlossen zu sein scheinen: Qualität und Effizienz als Benchmarking, als technologische Verfahrensweise und damit als Legitimation für die Existenz sozialarbeiterischer Handlungsfelder einseitig wirtschaftsorientiert zu führen, stellt eine Perspektivenwechsel dar, bei dem nichts weniger als die Bestimmung des Menschen im Sinne der Humanitas auf dem Spiel steht. Eine Diskussion über das Wesen und die Wirkung Sozialer Arbeit, die sich an fachlichinhaltlichen Ansprüchen orientiert (vgl. Bakic/Diebäcker/ Hammer, 2007b), mit einem fachlich begründeten Verständnis ihre Praxis bewertet, sich als solidarische Leistung für alle Menschen in Krisen- und Problemsituationen sieht, reflexive Fachlichkeit mit geeigneten Rahmenbedingungen verbinden kann und dabei ein kritisch-emanzipatives und generalistisches Verständnis Sozialer Arbeit nach innen wie nach außen Ausdruck verleiht, ist dem alle mal vorzuziehen. Anmerkungen 1 Einige Beispiele: So sieht etwa das Bundesvergabegesetz 2006 explizit den Nachweis von Qualitätssicherungsverfahren vor, auch fordert Bundesminister Bartenstein in seiner Zielvorgabe für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen im April 2006, den Nachweis von Qualitätsmessinstrumenten (vgl. www.bmwa.gv.at). Der FSW, der Fonds Soziales Wien, verlangt von geförderten Einrichtungen: »Mit der Anerkennung verpflichtet sich der Betreiber der Einrichtung zur Durchführung von Maßnahmen des Qualitätsmanagements: z. B. Maßnahmen der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung (inkl. Konzepte zur Entwicklung und Implementierung solcher), Anerkennung von Qualitätsstandards ...« (Spezifische Förderricht- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 213 Qualität und Effizienz 213 linie für die Unterbringung und Betreuung wohnungsloser Menschen 2006, [online: http://www.fsw.at]) 2 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung (vgl. Adorno/Horkheimer 2000) sowie Günther Anders in seiner zweiten Abhandlung über die Antiquiertheit des Menschen (vgl. Anders 1980) haben dieses Phänomen bereits reichlich beschrieben. 3 Vgl. etwa den Sammelband herausgegeben von Beckmann/Otto/ Richter/Schrödter (2004), in dem aus unterschiedlichen Perspektiven das Qualitätsthema in der Sozialen Arbeit beleuchtet wird, der internationale Implikationen aufzeigt, den Zusammenhang zum Wettbewerb, die Bedeutung für die Organisationsentwicklung, die Bedeutung für die Professionalisierung wie für das Nutzerinteresse in den Blick nimmt. 4 So hat das BBRZ, das Berufliche Bildungs- und Rehabilitationszentrum mit Gründung in Oberösterreich als erste Einrichtung 1992 DIN ISO 9001 eingeführt, Jugend am Werk, WUK Jugendprojekt, Rettet das Kind, Volkshilfe und viele andere Einrichtungen in Österreich sind gefolgt. Mit Stand 08/2006 gibt es allein im Sozial- und Erziehungsbereich in Österreich über 100 aktuelle ISO-Zertifikate.(vgl. www.oeqs.at) Was überdies, gemessen am Arbeits- und Kostenaufwand, bemerkenswert ist, da die Zertifikate ja nur gültig sind, wenn sie laufend überprüft und alle drei Jahre neu zertifiziert werden. 5 Am Rande lässt sich bei der Beschäftigung mit diesen Fragen vermuten, dass die gewünschte Effizienzsteigerung der Sozialpädagogik mit der Einführung von neuen Managementmodellen alleine deswegen nicht erreicht werden kann, weil von den veranschlagten Budgets immer weniger bei den Zielgruppen ankommt, da der personelle und verwaltende Aufwand bei den Institutionen zur Kostenerfassung, Abrechnung und Verwaltung immer weiter gesteigert werden dürfte oder bereits wird. 6 Davon zeugen diverse Begleitbücher und Einführungshandbücher zur Implementierung von Qualitätssicherungsverfahren in Organisationen der Sozialen Arbeit, Schule, Erwachsenenbildung, SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 214 214 Qualität und Effizienz Sozialpädagogischen und Behinderteneinrichtungen etc.; vgl. etwa die Bibliografie zur Qualitätsdebatte in der sozialen Arbeit auf http://www.donau-quality.at/DMDOCUME/BIBLIOGR.PDF [06.01.2008] Literatur AJF Linz (2000): Jahresbericht AMT FÜR JUGEND UND FAMILIE Linz 2000. [Online: http://www.linz.gv.at/archiv/jahresbericht00/gg3/ajf. pdf Stand 22.11.2007] Bakic, Josef (2007): Qualitätssicherung, Dienstleistungsorientierung und Lebensweltorientierte Bewältigungshilfe – neue Tendenzen einer Sozialpädagogik ohne pädagogischen Anspruch? Dissertation an der Universität Wien Bakic, Josef (2006): Qualitätsmanagement. In: Dzierzbicka, Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (Hg.): Pädagogisches Glossar der Gegenwart. Von Autonomie bis Wissensmanagement. Wien/ Göttingen: Löcker, 218-227 Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2008): Die Ökonomisierung Sozialer Arbeit in Österreich – eine fachlich-kritische Herausforderung. In: Kessl, Fabian/Ziegler, Holger (Hg.) Schwerpunktheft SOZIAL EXTRA «Schwarzbuch Soziale Arbeit – Destablisierung und Entstrukturierung Sozialer Arbeit« in Druckvorbereitung Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2007a): Wer Qualität sagt, muss auch Ideologie sagen: Eine Kritik managerialer und technokratischer Optimierungsversuche Sozialer Arbeit. In: EntwicklungspartnerInnenschaft Donau – Quality in Inclusion (Hg.): Sozialer Sektor im Wandel. Zur Qualitätsdebatte und Beauftragung von Sozialer Arbeit. Linz: edition pro mente, 107-118 Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2007b): WIENER ERKLÄRUNG ZUR ÖKONOMISIERUNG UND FACHLICHKEIT IN DER SOZIALEN ARBEIT. [online: www.sozialearbeit.at, 06.01.2008] SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 215 Qualität und Effizienz 215 Beckmann, Christof/Otto, Hans-Uwe/Richter Martina (Hg.) (2004): Qualität in der Sozialen Arbeit. Zwischen Nutzerinteresse und Kostenkontrolle. Wiesbaden: VS Siegfried Bernfeld (2000[1925]): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt am Main BMFSFJ (2000) Handbuch zur Neuen Steuerung in der Kinder- und Jugendhilfe: eine Arbeitshilfe für freie und öffentliche Träger. Stuttgart/Berlin/Köln (zugleich: Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Bd. 187) Dettling, Warnfried (1995): Politik und Lebenswelt. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft. Gütersloh Dimmel, Nikolaus (2007): Ökonomisierung und Sozialbedarfsmarkte. Faktoren des Strukturwandels Sozialer Arbeit. In: EntwicklungspartnerInnenschaft Donau – Quality in Inclusion (Hg.): Sozialer Sektor im Wandel. Zur Qualitätsdebatte und Beauftragung von Sozialer Arbeit. Linz, 17-42 EU-Bildungskommission (1995): Weißbuch der Kommission zur allgemeinen und beruflichen Bildung «Lehren und Lernen – auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft«, KOM(95) [online: http://euramis.net/ documents/comm/white_papers/pdf/com95_590_de.pdf Stand 06.01.2008] Galuske, Michael (2003): Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Weinheim und München Galuske, Michael (2002a): Dienstleistungsorientierung – ein neues Leitkonzept Sozialer Arbeit? In: neue praxis 3/2002, S. 240-258 Galuske, Michael/Müller, Wolfgang, C. (2002): Handlungsformen in der Sozialen Arbeit. Geschichte und Entwickung. In: Thole, Werne (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Opladen, 485-508 Galiläer, Lutz (2005): Pädagogische Qualität. Perspektiven der Qualitätsdiskurse über Schule, Soziale Arbeit und Erwachsenenbildung. Weinheim/München Hütte, Michael (1998): Qualitätssicherung in der Jugendhilfe Chance zur verbesserten Legitimation vergesellschafteter Kosten oder der Weg in eine technokratisierte Pädagogik? In: Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (Hg.): Forum Erziehungshilfen 2/98 SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 216 216 Qualität und Effizienz Keupp, Heiner (2004): Die Suche nach der Qualität Sozialer Arbeit im Spannungsfeld von Markt, Staat und Bürgergesellschaft. In: Peterander, Franz/Speck, Otto (Hg.): Qualitätsmanagement in sozialen Einrichtungen. München/Basel, 326-340 Majewski, Karin/Seyband, Elke (2002): Erfolgreich arbeiten mit QfS. Qualitätsmanagement und fachliche Standards für Organisationen im sozialen Bereich. Weinheim/München Merchel, Joachim (2003): Zum Stand der Diskussion über Effizienz und Qualität in der Produktion sozialer Dienstleistungen. In: Möller, Michael (Hg.): Effektivität und Qualität sozialer Dienstleistungen. Kassel, 4-25 Schmidt, Mathias (1996): Modernisierung der Profession – ohne professionelle Modernisierung? Zum Verhältnis von Professionalisierung und Verwaltungsreform in der Jugendhilfe. In: Flösser, Gaby/Otto, Hans-Uwe (Hg.): Neue Steuerungsmodelle für die Jugendhilfe. Neuwied/Kriftel/Berlin Speck, Otto (1999): Die Ökonomisierung sozialer Qualität: Zur Qualitätsdiskussion in Behindertenhilfe und sozialer Arbeit. München/Basel Thole, Werner/Cloos, Peter (2000): Soziale Arbeit als professionelle Dienstleistung – »Zur Transformation des beruflichen Handelns« zwischen Ökonomie und eigenständiger Fachkultur. In: Otto, HansUwe /Müller, Siegfried/Sünker, Heinz/Olk, Thomas/Böllert, Karin (Hg.): Soziale Arbeit. Gesellschaftliche Bedingungen und professionelle Perspektiven. Neuwied/Kriftel, 547-567 Winkler, Michael (2000): Qualität und Jugendhilfe: Über Sozialpädagogik und reflexive Modernisierung. In: Helmke, Andreas/Hornstein, Walter/Terhart, Ewald (Hg.): Qualität und Qualitätssicherung im Bildungsbereich: Schule, Sozialpädagogik, Hochschule. 41. Beiheft Z. f. Päd., Weinheim/Basel, 137-159 SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 217 Recht und Wettbewerb Nikolaus Dimmel Wettbewerb – Recht – Sozialwirtschaft Seit Anfang der 1990er Jahre werden im Zuge einer Totalmobilmachung des Marktprinzips (vgl. Kurz 1999, 539ff) sukzessive auch Sozialdienstleistungen des österreichischen Wohlfahrtsstaates Marktbedingungen unterworfen. Damit einher ging eine Umstellung von der traditionellen Subventionswirtschaft auf zeitlich befristete Leistungsverträge. Dienstleistungen werden darin im Regelfall als »Produkte« beschrieben und mithilfe von Tag- bzw. Einzelleistungssätzen kalkuliert und abgerechnet. Gesetzgeber und Sozialverwaltungen sprechen seither von einem regulierten, gesteuerten »Sozialmarkt«. Reguliert werden etwa Leistungsstandards, Erbringungsqualität, Preise oder Einsatzgebiete sozialer Dienste. Da solcherart ein Preiswettbewerb nur eingeschränkt möglich ist, konzentriert sich die öffentliche Hand darauf, den Qualitätswettbewerb zwischen den Anbietern zu erzwingen. Diese Zuschneidung auf den Qualitätswettbewerb zwischen sozialen Dienstleistungsträgern wurde vor allem durch qualitative Standards im Sozialrecht, etwa im Sozialhilfe-, Behinderten-, Heimvertrags- oder Heimrecht umgesetzt. Begründet wurde dieser Paradigmenwechsel mit Argumenten aus der (neo)liberalen Wohlfahrtsstaatskritik der 1980er Jahre. Diese rügte die drohende Unfinanzierbarkeit von Sozialleistungen, Formen der Überversorgung, falsche Anreize zum Verweilen in der Leistungsabhängigkeit (»Welfarization«) sowie die unzureichende Abstimmung von Angebot und Nachfrage. Zugleich wurde die Entmündigung der NutzerInnen1 sozialer Dienstleistungen im Kontext der traditionellen Objektförderung, in der nicht die bedürftige Person, SatzBakic.qxd 218 27.02.2008 17:19 Seite 218 Recht und Wettbewerb sondern der Leistungen erbringende Träger entgolten/gefördert wird, kritisiert. Der mit jener »Vermarktlichung« einhergehende Umbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates schuf einen Marktrahmen, genauer: ein Wohlfahrtsdreieck bestehend aus öffentlichem Financier, Leistungserbringer und NutzerIn/KlientIn, in dem Hilfebedürftige kontrafaktisch seit Beginn der 1990er Jahre ungeachtet der »Unschlüssigkeit« der Austauschbeziehungen als »KonsumentInnen« bzw. »KundInnen« einer Sozialdienstleistung auftreten (müssen) (vgl. Effinger 1993). Gegenstand von Transaktionen auf diesem Markt sind im Wesentlichen Dienstleistungen der Beratung, Betreuung, Unterbringung und Pflege, also auch Tätigkeiten der Sozialen Arbeit (vgl. Dennebaum 1997). Diese Dienstleistungen werden von sozialwirtschaftlichen Unternehmen, also freien Wohlfahrtsträgern, zumeist im Auftrag der öffentlichen Hand erbracht und neben den Eigenleistungen der Begünstigten bzw. ihrer Unterhaltsverpflichteten auch ko-finanziert. Sozialwirtschaftliche Unternehmen treten darin einerseits als Leistungsvertragspartner der öffentlichen Hand und Arbeitgeber von Sozial- und PflegearbeiterInnen und andererseits als Konkurrenten auf Märkten in Erscheinung (vgl. Dahme et.al. 2005). Dazwischen bewegen sich die NutzerInnen, selten nur noch als »KlientInnen« bezeichnet, die sich als »geförderte Hilfsbedürftige« (daher: Subjektförderung) auf einem freien Anbietermarkt orientieren müssen. Genauer betrachtet indes muss man von mehreren »Sozialmärkten« sprechen, auf denen Staat, freie Träger bzw. sozialwirtschaftliche Unternehmen, NGO´s und Selbsthilfeorganisationen Dienstleistungen erbringen. Es liegt auf der Hand, dass die Regulierungen in den drei Sektoren Sozialer Dienstleistungen, nämlich »For-Profit-Markt«, »Staat« und »Social-Profit-Markt«, unterschiedlichen Kalkülen folgen. Während im Bereich gewinnorientierter privater Pflegeheime tatsächlich nach allgemein geltenden Grundsätzen wettbewerb- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Recht und Wettbewerb Seite 219 219 lich gehandelt wird, ist im Bereich staatlich monopolisierter Leistungen, etwa bei behördlichen Rechtsakten, bei Adoptionen oder bei sozialmedizinischen AnamneseLeistungen eines Amtsarztes, Wettbewerb nicht möglich. In jenem Marktsegment, in welchem »Social Profit Unternehmen« agieren, ist schließlich Wettbewerb nur in eingeschränkter Form, nämlich als Qualitätswettbewerb (in Bezug auf Personalqualität, Zielerreichung, Nachhaltigkeit, KundInnenzufriedenheit etc) denkbar und praktikabel.2 Die Logik der sozialpolitischen Steuerung dieses Marktes basiert im Wesentlichen auf drei Zugriffen, nämlich dem Marktzutritt der Leistungserbringer, der Qualitätssteuerung zu erbringender Leistungen sowie der Preisfestsetzung (bzw. der bedarfsgeprüften Bezuschussung von Marktpreisen). Das gesamtwirtschaftliche Steuerungsarrangement allerdings ist wesentlich komplexer, da sozialwirtschaftliche Unternehmen auch wirtschaftsrechtlichen Regelungen unterliegen. Kompetentiell vermengen sich hier drei Gesetzesebenen, nämlich die supranationale, die nationale sowie die föderale. Auf supranationaler Ebene wird der Marktzugang gesteuert (EUWettbewerbsrecht; Vergabe- und Dienstleistungsrichtlinie). Der Zentralstaat wiederum steuert mithilfe der Normen des Wirtschaftsrechts – also der Gesamtheit der privat-, unternehmens- und öffentlich-rechtlichen Rechtsnormen – die Rechtsbeziehungen der auf den Sozialmärkten Beteiligten untereinander und ihr Verhältnis zum leistenden und gestaltenden Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat – etwa in Form des Heimunterbringungsrechts. Erst komplementär zum wirtschaftsrechtlichen Rahmen regeln die Länder im Rahmen der »Sozialmarktordnung« den Marktzutritt, Mindestanforderungen an leistungserbringende Einrichtungen (Organisation, Personal, Konzept etc.), die Qualität der Leistungen (Betreuungsschlüssel, Wohnformenverordnungen, Dokumentationspflichten uam.), die Koordination der Dienstleistungen (Sozialsprengel, soziale Infrastrukturplanung etc.) oder die SatzBakic.qxd 220 27.02.2008 17:19 Seite 220 Recht und Wettbewerb Sicherstellung von Diensten durch Institutionengarantien und Vorhalteverpflichtungen. Die normative Regelungsdichte auf den Sozialmärkten, auf denen soziale Dienstleistungen vergeben, beauftragt, erworben und erbracht werden, aber auch die Ausübung der Fachaufsicht durch die öffentlichen Auftraggeber und Financiers verunmöglicht weitgehend freien und ermöglicht stattdessen nur regulierten Wettbewerb. Kostenwettbewerb wird im Regelfall unterbunden. Denn während Wettbewerb oder »Mitbewerb« bekanntlich Konkurrenz, also die Rivalität um Chancen der Kapitalverwertung auf Märkten, meint, sind auf den regulierten Sozialmärkten Dienstleistungsvolumen, Preis und Qualität im Regelfall bereits vertraglich festgelegt (vgl. MackIntosh 1997). Dies bezieht sich sowohl auf Aspekte der Struktur- und Prozess- als auch der Ergebnisqualität. Wettbewerb ist unter diesen Vorzeichen im Regelfall nur als Qualitäts-, nicht aber als Kostenwettbewerb vorstellbar. Im regulierten Qualitätswettbewerb spiegelt sich, dass NutzerInnen von Dienstleistungen selten »KundInnen«, fast immer aber »KlientInnen« sind, da ihnen zentrale Kundenmerkmale wie Entscheidungssouveränität oder Fähigkeit zur Auswahl zwischen verschiedenen Leistungen fehlen. Die einschlägigen Wettbewerbsbedingungen, unter denen soziale Dienstleistungen (und damit: soziale Arbeit) erbracht werden, erschöpfen sich nicht im Wettbewerbs- und Sozialrecht, sondern werden durch ein kompliziertes Geflecht aus Vergabe-, Gesellschafts-, Vertrags-, Arbeits-, Steuer- und Vereinsrecht sowie ausgewählten Teilen der Zivilrechtsordnung (Gewährleistung; Schadenersatz; Gehilfenhaftung; Produkthaftpflicht etc.) gesteuert. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Recht und Wettbewerb Seite 221 221 Zur ökonomischen Notwendigkeit einer rechtlichen Regelung von Sozialdienstleistungen Das Postulat der »Vermarktlichung sozialer Dienstleistungen« erscheint in kategorialer Weise als paradox (Altvater 1991,79ff). Denn die Notwendigkeit rechtlicher Regelungen in Bereichen von Dienstleistungen der Sozialen Arbeit erklärt sich – neben den allgemeinen Anforderungen an die rechtsstaatliche Verfasstheit sozialer Leistungen und der institutionell ausbuchstabierten wohlfahrtsstaatlichen Zielsetzung des kapitalistischen Staates (vgl. Dimmel 2007, 13) – gerade auch aus der nur eingeschränkt gegebenen Marktfähigkeit dieser Dienstleistungen. Diese ergibt sich einerseits aus Eigenschaften der Dienstleistungen selbst, liegt andererseits aber auch in der Charakteristik der (potenziellen) NutzerInnen/NachfragerInnen begründet, die im Zusammenspiel zu einer ineffizienten Marktallokation und einer gesellschaftlich unerwünschten Distribution führen (können) (vgl. Trukeschitz 2006, 50f). Einige der möglichen Ursachen von eingeschränkten Marktmöglichkeiten sollen in der Folge kurz besprochen werden. Häufig gibt es keine ausreichenden Marktsignale im Sinne von kaufkraftfähiger Nachfrage, auf die sozialwirtschaftliche Unternehmen reagieren können, weshalb der Staat gesellschaftliche Investitionen in den sozialen Zusammenhalt tätigen muss (vgl. Aglietta 2000, 70), deren Umwegrentabilität sowohl für Arbeitsproduktivität als auch für politische Stabilität sorgt (vgl. Kaufmann 1997, 34ff), wobei es andererseits aber auch dem Staat oft nicht möglich ist, die erforderlichen Leistungen auf effektive Weise selbst zu erbringen. Die Theorien zum Marktund zum Staatsversagen können insoweit sinnvoll als »Verdrängungstheorien« (Frey 1998, 83) beschrieben werden, als erst durch das Versagen von Markt und Staat der Weg für einen dritten Sektor (vgl. Birkhölzer et al. 2005) frei wird. SatzBakic.qxd 222 27.02.2008 17:19 Seite 222 Recht und Wettbewerb Asymmetrische Informations- und Machtverteilung Das idealtypische Marktmodell – nach dem Angebot und Nachfrage eine optimale Güterversorgung garantieren – geht von einer vollständigen Informiertheit aller MarktteilnehmerInnen hinsichtlich aller relevanten Aspekte der Transaktion aus. Diese Voraussetzung wird in der Realität natürlich nie vollständig erfüllt sein (vgl. Heilbronner/Thurow 2004, 203f). Gerade bei sozialen Dienstleistungen indes ist Information systemisch bedingt asymmetrisch verteilt. Gesellschaftlich erwünschte Transaktionen kommen dann gar nicht oder nicht mit dem gesellschaftlich erwünschten Ergebnis zustande: der Markt versagt. Das Informationsungleichgewicht und die daraus resultierenden »falschen individuellen Präferenzen« können in Rechtsunkenntnis, erlernter Hilflosigkeit, verminderter Artikulationsfähigkeit, psychischer Belastung, Scham, Stigmafurcht oder Verlustängsten begründet liegen. Informationsungleichgewichte entstehen aber auch daraus, dass bei co-produzierten Dienstleistungen Produktion und Konsum zusammenfallen (»Uno-Actu-Prinzip«) (vgl. Trukeschitz 2006, 36), es also unmöglich/nicht direkt möglich ist, weder Eigenschaften, Qualität noch Folgen der Dienstleistung im Voraus festzustellen, selbst wenn die formalen Rahmenbedingungen sozialer Arbeit (Qualifikationszertifikat; Betreuungsschlüssel; Zeitquanten) vorgegeben sind. Das erschwert den Aufbau einer Vertrauensbeziehung, die aufgrund der notwendigen »compliance«, also der Duldungs-, Mitwirkungs- und Kooperationsbereitschaft des/r Leistungsempfängers/in erforderlich ist (vgl. Dimmel 2007, 47). Nicht nur ist der korporierte Anbieter der Dienstleistung im Regelfall besser informiert als sein Klient, er besetzt ihm gegenüber im Gewande des sozialarbeiterischen Doppelmandates auch eine Macht-, Herrschafts- oder sozialpädagogische Autoritätsposition. Das führt bei mangelnder Regelung dazu, dass mehr Leistungen erbracht werden als nötig oder dass eine überhöhte Gegenleistung verlangt wird (vgl. Badelt/Österle 2001, 71). SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Recht und Wettbewerb Seite 223 223 Asymmetrien behindern also den Qualitätswettbewerb, während Preiswettbewerb mangels kaufkraftfähiger Nachfrage leerläuft. Lösungsmöglichkeiten für dieses Dilemma zwischen Preis- und Qualitätswettbewerb liegen in der Installierung von institutionellen Strukturen, die Vertrauen schaffen sollen oder im Hinzuziehen von informierten Dritten, die die Informationsasymmetrie ausgleichen, Beispiele hierfür wären Sozialberatungsstellen oder SozialanwältInnen (Ombudsleute). Konkret können von staatlicher Seite Informationen unmittelbar zur Verfügung gestellt und Informationspflichten (Manuduktion; Informationspflichten von Heimbetreibern) festgelegt werden, während die Etablierung von Ausbildungsnormen und von Verfahren der Berufszulassungs- und Betriebsbewilligung, von Maßnahmen der Qualitätssicherung oder die Beigabe von Sachverständigen und die Einrichtung von Beratungseinrichtungen sowohl der objektiven Verbesserung der Leistungserbringung als auch dem subjektiven Aufbau von Vertrauen dienen können (vgl. Badelt/Österle 2001, 71f., Frey 1998, 84). Geringes/fehlendes nachfragefähiges Einkommen Ein substantielles Hindernis für das Zustandekommen eines gesellschaftlich wünschenswerten Ausmaßes des Konsums sozialer Dienstleistungen ist die eingeschränkte oder fehlende Zahlungsfähigkeit der potenziellen NachfragerInnen. Die prekäre Einkommenssituation betroffener Bevölkerungsteile kann nicht nur zu einer Unterversorgung mit sozialen Dienstleistungen sondern auch zu externalisierten Folgekosten führen, die wiederum gesamtgesellschaftlich zu tragen sind (vgl. Fouarge 2003). Ein Beispiel hierfür liegt etwa in der sozialen Umwegrentabilität von Maßnahmen der Delogierungsprävention, deren Outcome, also Wirkung, die Kosten des Nichtintervenierens bei weitem übersteigt. Exekutierte Delogierungen wiederum haben nicht nur enorme primär-direkte (persönliche, familiäre) Folgekosten im Sinne einer Verstetigung der Armutsbelastung von Haushalten, sondern SatzBakic.qxd 224 27.02.2008 17:19 Seite 224 Recht und Wettbewerb auch hohe sekundär-indirekte Folgekosten etwa durch Lernstörungen, »home-avoidance«, Arbeitsplatzverlust oder Scheidung. Die individuelle Zahlungsbereitschaft kann freilich auch bei ausreichendem Einkommen zu gering sein. Nämlich dann, wenn es sich bei der Dienstleistung um ein meritorisches Gut handelt, bei welchem der gesellschaftliche Nutzen höher ist als der vom Individuum individuell angenommene (vgl. Trukeschitz 2006, 51f). Beides zusammen führt dazu, dass der Staat in einem Dreiparteien-Verhältnis, welches als »Wohlfahrtsdreieck« bezeichnet werden kann (Dimmel 2007, 40), die »Financier«-Funktion übernehmen muss. Öffentliche Güter/meritorische Güter Staatlich gewährleiste soziale Dienstleistungen sind für alle zugänglich und sie beruhen nicht auf gewinnwirtschaftlichem Kalkül, sondern politischer Entscheidung (vgl. Bellermann 2004, 61f). Quantität und Qualität sozialer Dienstleistungen sind folglich Ergebnis politischer Konsensfindungsverfahren (vgl. Winter 1997). Hierbei stellt sich die marktmäßige Zuordnung von Dienstleistungen als Problem dar, da das marktwirtschaftliche System nicht in der Lage ist, eine flächen- und bedarfsdeckende Erbringung von gesellschaftlich wünschenswerten sozialen Dienstleistungen zu gewährleisten. Externe Effekte einer Dienstleistung (die ökonomische Situation eines Individuums wird durch die Dienstleistung/das Gut, die/das einem anderen Individuum gehört, positiv oder negativ beeinflusst, ohne dass es zu einem Ausgleich/einer Gegenleistung kommt) führen stets zu Verzerrungen der volkswirtschaftlich »korrekten« Allokation. Im Falle »öffentlicher Dienstleistungen« kann die Erstellung aber überhaupt nur durch ein Tätigwerden der öffentlichen Hand sichergestellt werden. Diese Dienstleistungen/Güter zeichnen sich einerseits dadurch aus, dass bei ihnen das Ausschlussprinzip nicht greift (Gruppen, die nicht bereit sind, für den Konsum zu bezahlen, können nicht vom Konsum aus- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Recht und Wettbewerb Seite 225 225 geschlossen werden – »Freeriding«), andererseits durch die Nichtrivalität im Konsum (mehrere KonsumentInnen können das Gut gleichzeitig nutzen, ohne eine Nutzeneinbuße hinnehmen zu müssen) aus. Dort, wo öffentliche Güter/Dienstleistungen über den Weg von Selbstbehalten/Selbstbeteiligungen individualisiert werden, finanzieren die KäuferInnen häufig auch den Nutzen für Dritte mit. Gegebenenfalls kommen vertragliche Lösungen deshalb nicht/oder nicht in optimaler Weise zustande (vgl. Frey 1998, 83). Die prekäre Effizienz der Bereitstellung öffentlicher Güter ist schließlich vor allem auch dadurch bedingt, dass Individuen (auch) als irrational eigennutzmaximierende Subjekte in Erscheinung treten, mithin auch Leistungen in Anspruch nehmen, nach denen sie eigentlich keinen Bedarf haben. Umgekehrt können (vergleichbar der Familienbeihilfe) »Mitnahmeeffekte« auftreten, bei denen Personen öffentlich finanzierte Dienstleistungen in Anspruch nehmen, welche sie sich auch selbst/privat hätten finanzieren können. In diesem Zusammenhang ist indes auch auf die möglichen negativen externen Effekte sozialer Dienstleistungen zu verweisen, welche etwa »impact« auf die Lebensführung und ökonomischen Interessen unbeteiligter Dritter haben können. Dies lässt sich vielfach bei der Errichtung sozialer Dienstleistungseinrichtungen (AIDS-Hilfe; Drogenberatung; Notschlafstelle etc) nachzeichnen, wo AnrainerInnen negative Folgen für die Wohnqualität ihres Viertels/Quartiers einwenden, während die öffentliche Hand ein Interesse an der »Dispersion« bzw. der Dekonzentration sozialer Problemlagen hat. Im Falle sog. »meritorischer Güter«, die nach Auffassung des Staates oder kollektiver Akteure privat in zu geringem/nicht sozialverträglichem Ausmaß nachgefragt werden, muss die öffentliche Hand in Vorlage treten. Diese individuelle »Unterbewertung« von Dienstleistungen/Gütern ist im gesamten Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen endemisch. Die Erstellung meritorischer Dienstleistungen/Güter wird hier des- SatzBakic.qxd 226 27.02.2008 17:19 Seite 226 Recht und Wettbewerb halb vom Staat in der Form von Regulierungen, Subventionierungen oder vollständiger staatlicher Finanzierung sichergestellt (vgl. Badelt/Österle 2001, 77f). Staats- und Politikversagen Die Theorie des Staatsversagens (Heise 2005) geht davon aus, dass sich eine demokratisch legitimierte staatliche Organisation in der Ausrichtung ihres Leistungsangebots wesentlich an wahlpolitischen Erwägungen und dem Einfluss von lobbyierten Interessen orientieren wird. Tendenziell wird sie mit ihrem Leistungsangebot deshalb möglichst breite Wählerschichten und ´Stake Holder` (etwa: Wirtschaftsverbände) ansprechen wollen und damit Akzeptanz generieren. Die Interessen von kleineren und wahlpolitisch unbedeutenderen Bevölkerungsgruppen, etwa sozialer Randgruppen, werden vom Sozialstaat daher strukturell bedingt nur unzureichend berücksichtigt, wodurch eine optimale Ressourcenallokation erneut nicht zustande kommt (vgl. Frey 1998, 84f). Staatsversagen (eigentlich ein durch Legitimitätszwänge bedingtes Politikversagen, da sich politische Eliten im Wesentlichen nur an Lobbies und Wahlen orientieren und somit notwendige und/oder unpopuläre Entscheidungen verzögern) tritt also nicht nur in Form kontraproduktiver Markteingriffe, sondern auch durch die Ausblendung der Bedürfnisse jener Bevölkerungsgruppen auf, welche kein entsprechendes politisches »voicing« entwickeln können. Die aus dem »political rent seeking« der politischen Eliten resultierenden Probleme beschränken sich nicht auf eine mangelhafte Güterallokation oder die Instabilität/Ineffizienz der Erbringung von Dienstleistungen, sondern erstrecken sich etwa auch auf die unzureichende Ausschöpfung von Beschäftigungspotentialen oder die mit Beschäftigung verbundenen Erwerbschancen und Verteilungswirkungen. Ein idealtypisches Staatsversagen liegt in der Orientierung an kurzfristig wirksamen und der Vernachlässigkeit mittel- und langfristig wirksamer Maßnahmen (»second-best-solution«). Schließlich SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Recht und Wettbewerb Seite 227 227 kann auch die selbst generierte Ausweitung bürokratischer (Kontroll-)Kompetenzen zu paradoxen Kosten-NutzenEffekten führen, etwa indem die Kontroll- und Überwachungskosten die Gesamtkosten des Systems aufblähen, ohne dass damit ein Qualitätszugewinn verbunden wäre. Unschlüssige Tauschbeziehungen Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass auch durch das Tätigwerden der staatlichen Akteure auf Sozialmärkten die Marktunvollkommenheiten nicht beseitigt, weshalb hier Dienstleistungen dominant durch politische Entscheidungen bzw. nach politischen Kriterien und weniger durch Marktlogiken bestimmt werden. In einer ökonomischen Betrachtung kann sich deshalb ein wirksamer Knappheitsmesser (etwa ein aussagekräftiger Marktpreis) nicht herausbilden, die Tauschbeziehungen bleiben insofern »unschlüssig« (vgl. Dimmel 2007, 40). Diese Unschlüssigkeit ist allerdings je nach dem Finanzierungsmodell, das der Staat als Financier sozialer Arbeit wählt – Objekt- oder Subjektförderung – unterschiedlich ausgeprägt. Im Objektförderungsmodell wird die Einrichtung, welche die sozialen Dienstleistungen erbringt, direkt gefördert. Richtiger handelt es sich hierbei aber nicht um eine Förderung, sondern (in der Regel) um den Abschluss von Leistungsverträgen; die »Förderung« ist einfach das Entgelt für vom Staat gekaufte Leistungen. Im Rahmen der Objektförderung sind dem Staat direkte und weitreichende Eingriffe in die Sphäre der Leistungserbringer möglich. Neben der Kostenübernahme des Staates bleibt natürlich eine Eigenleistung des/r Leistungsempfängers/in möglich (bzw. ist in vielen Fällen üblich und erforderlich) (vgl. Dimmel 2007, 22). Bei der Subjektförderung kommt es hingegen zu einer direkten Förderung der hilfebedürftigen/begünstigten Person. Das Individuum wird also mit den nötigen Finanzmitteln ausgestattet, um auf dem Sozialmarkt nach eigener Wahl Leistungen von SatzBakic.qxd 228 27.02.2008 17:19 Seite 228 Recht und Wettbewerb den anbietenden Einrichtungen einzukaufen (Modell Pflegegeld). Der Staat steuert diese Märkte damit nur indirekt, die Konsumentensouveränität wird tendenziell gesteigert, während der Wettbewerbsdruck für die Anbieter tendenziell steigt (Etablierung eines Dienstleistungsmarktes). Es kann hier zwischen einem Vollkostenmodell (mit anschließendem Regress) und einem Restkostenmodell (mit nur teilweiser Kostenübernahme) unterschieden werden (vgl. Dimmel 2007, 22f). Während aber der eigentliche Leistungsvertrag zwischen dem/r NutzerIn der Dienstleistung und ihrem Anbieter geschlossen wird, kommt es dennoch häufig auch zum Abschluss eines Rahmenvertrages zwischen dem Anbieter und dem staatlichen Financier, der dann als Vertrag zugunsten oder mit Schutzwirkung zugunsten Dritter zu qualifizieren ist (vgl. Dimmel/Hornung 2007). Kapitalistische Herrschaft auf Sozialmärkten Die Durchsetzung sowohl der Vermarktlichung von bislang direktiv staatlich geregelten Politikfeldern als auch der Marktorientierung von Subjekten, welche bislang Leistungen direkt zugeteilt erhielten, spiegelt die Strategie neoliberaler, postfordistischer Eliten, den leistenden und gestaltenden Wohlfahrtsstaat durch einen »Wettbewerbsstaat« (Joachim Hirsch) zu ersetzen. Die Totalmobilmachung des Marktprinzips spiegelt insofern nicht nur eine Ideologie, versteht man Ideologie sowohl als falsches Bewusstsein als auch als Hegemonie von kulturellen Deutungsmustern und Handlungsformen, innerhalb derer gesellschaftliche Beziehungen gelebt werden, sondern auch eine Verschiebung staatlicher Herrschaftspraktiken (vgl. Atzmüller 1997). Das betrifft vor allem zwei Aspekte: Die politisch-ideologische Bedeutung im Kontext sozialarbeiterischer Praxis liegt vor allem zum einen in der »Verwarung« SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Recht und Wettbewerb Seite 229 229 sozialer Arbeit, also der reellen (!) Subsumtion sozialer Arbeit unter die Verwertungsinteressen eines sich sukzessive als Unternehmen gebärdenden Staates. Wie die soziale Dienstleistung nunmehr als »Produkt« und eben nicht mehr als co-produzierte Inklusionsleistung beschrieben wird, so wird auch die soziale Arbeit als Tauschwerteigenschaft dieses Produktes subsumiert. Indem sie primär über ihren Preis, sekundär über ihren Output und erst zuletzt über ihren Outcome gehandelt wird, verschwindet die spezifische Qualität der sozialen Arbeits- und Austauschbeziehung, nämlich ihr sozietaler Gebrauchswert, in der von Marx hinreichend beschriebenen rechtsförmigen Hülle der Austauschbeziehungen zwischen den EigentümerInnen von Ware und Geld. Die mit ihrer Verwarung verbundene tendenzielle Fetischisierung der sozialen Arbeit löst indes ihren emanzipatorischen, strukturell antihegemonialen Charakter tendenziell auf. »At the end of the day« kann als soziale Arbeit überhaupt nur noch jene erscheinen, die sich im Wechselspiel von Angebot und Nachfrage als »Tauschwert« verkaufen kann. Die zweite wesentliche Bedeutung dieser Totalmobilmachung liegt in der fortschreitenden Re-Kommodifikation der Beziehungen zwischen Citoyen (StaatsbürgerIn) und Staat. Der/die KlientIn eines wie auch immer kritisierbaren paternalistischen Wohlfahrtsstaates wird durch die eherne Form des/r Kunden/in verdrängt. Die Paradoxie dieses Vorgangs, nämlich die Verwandlung des/r Klienten/in in eine/n Kunden/in, der Dienstleistungen einkauft, wird deutlich, wenn man sich die Handlungsoptionen der Beteiligten im Wohlfahrtsdreieck vergegenwärtigt, worin der/die phantasierte Kunde/in über keine KonsumentInnensouveränität, kein Wahlrecht und keinen Gewährleistungsanspruch, kein Preisverhandlungspouvoir verfügt. Gänzlich ausgeblendet wird dabei, dass noch immer ein Gutteil sozialer Arbeit behördlich/gerichtlich angeordnet ist, in der Maßnahmen der Sozialdisziplinierung, sozialen Kontrolle, »surveillance« (Überwachungsleistungen) und direktive SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 230 230 Recht und Wettbewerb Eingriffe in die individuelle Lebensführung auch gegen den Willen der Betroffenen durchgesetzt werden. Dieser Widerspruch zwischen der immanenten Logik sozialarbeiterischer Funktion/Praxis und den Anforderungen der Vermarktlichung wohlfahrtsstaatlicher Sozialdienstleistungen kann wohl nur dadurch aufgelöst werden, dass die befähigende Dimension sozialer Arbeit kategorial als Kernbestandteil ihrer Qualität verstanden und finanziert wird. Anmerkungen 1 Die gendersensitive Schreibweise erstreckt sich im Weiteren aus- 2 Freilich ist unverkennbar, dass auch hier die durchgesetzten schließlich auf natürliche Personen. Marktparadigmen »KundInnennähe«, »Serviceorientierung« oder die »Co-Produktion von Dienstleistungen auf Bestellung« im Grunde genommen als mehrschichtiges Herrschaftsinstrument verstanden werden müssen, welches sowohl KlientInnen als auch DienstleisterInnen bestimmte Vorverständnisse und Verhaltensformen aufzwingt. Literatur Aglietta, Michel (2000): Ein neues Akkumulationsregime. Regulationstheorie auf dem Prüfstand, Hamburg. Altvater, Elmar (1991): Die Zukunft des Marktes, Münster. Atzmüller, Roland (1997): Der integrale Staat. Ideologie- und hegemonietheoretische Überlegungen zum Staat in der Krise des Fordismus, Univ.Dipl., Wien. Badelt, Christoph/ Österle, August (2001): Grundzüge der Sozialpolitik. Allgemeiner Teil, 2. Auflage. Wien. Bellermann, Martin (2004): Sozialökonomie. Soziale Güter und Organisationen zwischen Ökonomie und Politik, Freiburg. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 231 Recht und Wettbewerb 231 Birkhölzer, Karl et al. (2005): Theorie, Funktionswandel und zivilgesellschaftliche Perspektive des Dritten Sektors / Dritten Systems; in: Karlö Birkhölzer/Ansgar Klein/Eckhard Priller (Hg): Dritter Sektor – Drittes System, Wiesbaden, S. 9 ff. Dahme, Hans-Jürgen et al. (2005): Zwischen Wettbewerb und Subsidiarität. Wohlfahrtsverbände unterwegs in die Sozialwirtschaft, Berlin. Dennebaum, Eva-Maria (1997): Mehr Markt in der Sozialen Arbeit ?, Freiburg. 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Konstituierung, politische Repräsentation und Beteiligung an Entscheidungsprozessen, Baden-Baden. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 233 Sozialraum und Governance Marc Diebäcker Die Rezeption und Popularität von Sozialraum als soziologische Theorie, von Governance als politisches Konzept und von Sozialraumorientierung als Zugang in der Sozialen Arbeit fallen nicht zufällig in die Zeit der 1980er und 1990er Jahre. Ihre Konzeptualisierung und Anwendung muss auf gewandelte Formen von Herrschaft, Regieren und Staatlichkeit bezogen werden. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft hat sich im Rahmen von Globalisierungsstrategien und neoliberalen Politiken in der Hinsicht verändert, dass nationale Interventionsspielräume in Wirtschafts- und Sozialpolitik aufgrund von Deregulierungspolitiken massiv eingeschränkt werden, wodurch sich sozialräumliche Ungleichheiten und Spaltungen in der Gesellschaft beschleunigen. In dieser Situation erscheint der Staat nur mehr »als Moderator und Koordinator innerhalb eines Geflechts relativ unabhängiger gesellschaftlicher Akteure und Gruppen« (Hirsch 2001a, 118) und politische Entscheidungen werden stärker in staatlich-private Verhandlungssysteme verlagert. Im »verhandelnden« Staat gewinnt die lokal-regionale Ebene in der politischen Regulierung an Bedeutung: Aus ökonomischer Perspektive vollzieht sich dort die neoliberal-inspirierte Standortdebatte in Form von Städtekonkurrenz und auch die sozialen Auswirkungen gesellschaftlicher Spaltungs- und Marginalisierungstendenzen verorten sich lokal und werden dort sichtbar. Aufgrund des sozialstaatlichen Rückbaus und dem Mangel an Integrationsressourcen und -leistungen wird den Städten und Gemeinden zunehmend die Problembewältigung überlassen, wobei das Herstellen von Ordnung und Sicherheit sich zu einem zentralen Feld politischer Intervention entwickelt (vgl.; Hirsch 2001b, 200-203; Stenson 2007) Vor diesem Hintergrund werden im folgenden die SatzBakic.qxd 234 27.02.2008 17:19 Seite 234 Sozialraum und Governance Konzepte von Sozialraum und Governance reflektiert und auf ihre Brauchbarkeit für die Weiterentwicklung der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit geprüft. Das Konzept der Sozialraumorientierung erfreut sich seit den 1990er Jahren in der Sozialen Arbeit wachsender Aufmerksamkeit und hat als theoretischer Bezugspunkt und als Methode Eingang in Ausbildung und Praxis gefunden. Spezialisierungen von SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen finden ihren Niederschlag in »sozialraumorientierten« Lehr- oder Studiengängen und vielerorts hat Sozialraumorientierung das Arbeitsprinzip »Gemeinwesenarbeit« als Bezug im Stadtteil oder der Gemeinde abgelöst. Aber das Paradigma der Sozialraumorientierung stößt inzwischen nicht nur in der Stadtund Gemeindeentwicklung auf Akzeptanz, sondern gilt auch in der Jugendarbeit oder der Kinder- und Jugendhilfe als fachliches Konzept. (siehe Beiträge in Kessl et al 2005 oder Galuske/Schoneville 2007) Zur Theorie des Sozialraums Der Begriff Sozialraum wurde Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Ausdifferenzierung der Human- und Sozialwissenschaften von Emile Durkheim und Georg Simmel eingeführt, um räumlich-soziale Organisation nicht länger statischen Zugängen der Politischen Geographie zu überlassen, die behaupteten, dass der physisch-geographische Raum die soziale Ordnung bestimmt. Das Besondere dieser frühen sozialwissenschaftlichen Zugänge liegt u.a. in der Trennung von physischem Raum und sozialer Organisation, was bedeutet, dass das, was sich an einem Ort konkret sozial manifestiert, Folge gesellschaftlicher Strukturen ist und soziale Phänomene nicht als statisch und unveränderlich betrachtet werden können. (vgl. Dünne 2006, 289f) Seit den 1970er Jahren im Anschluss an den französischen Philosophen Henri Lefebvre hat sich ein Verständnis her- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Sozialraum und Governance Seite 235 235 ausgebildet, dass eine veränderliche Wechselbeziehung von physischem und sozialem Raum unterstellt und die zeitliche Perspektive stärker wahrnimmt. Dabei wird auch der physische Raum als gesellschaftlich strukturiert und veränderbar anerkannt als auch umgekehrt als gesellschaftsstrukturierend und -verändernd verstanden. (vgl. Löw/Sturm 2005, 32-42) Aktuell wird – auch in der Sozialen Arbeit – häufig auf das Modell des Sozialraums von Pierre Bourdieu Bezug genommen, welches den Dualismus von Struktur und Handeln – also Mikro- und Makroperspektive – zu verbinden versucht, um über die Begriffe Feld/Sozialraum (Strukturierendes Kräftefeld), Habitus (Handlungsmuster des Individuums) und einem weit gefassten Kapitalbegriff (Handlungsressourcen des Individuums) die soziale Praxis im Raum analysieren zu können. Insbesondere Bourdieus Klassifizierung des Kapitalbegriffs in ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital (vgl. Bourdieu 1987 [1979]; Bourdieu 1993, einführend dazu Rehbein 2006, 79-109) wird bei der Abbildung von Klassenstrukturen und Milieus breit angewendet. Bourdieu macht in seiner Konzeption des Sozialraums deutlich, dass der Ort lediglich ein Punkt ist, an dem ein »Akteur oder ein Ding sich platziert findet« (Bourdieu 1993, 160) – also im physischen Raum lokalisiert ist. Zugleich geht er davon aus, dass sich die Beziehungen gesellschaftlicher Akteure im Sozialraum und die damit verbundenen sozialen Positionen (die Klassenlage) im physischen Raum ausdrücken und einschreiben. Der Bourdieusche Ansatz entfaltet seine Bedeutung für die Soziale Arbeit darin, dass er auf die enge Verbindung von objektiven Strukturen und subjektiven Orientierungen verweist und die Alltagspraxis des Menschen in den Vordergrund rückt. Zugleich aber wird Bourdieu nicht müde die Begrenzungen hierarchisch strukturierter Sozialräume und die damit verbundenen Kräfteverhältnisse zu betonen, die den Handlungsspielraum von Menschen stark einschränken. (zum Überblick vgl. Treibel 2006, 219-243; Joas/Knöbl 2004, 518-557) SatzBakic.qxd 236 27.02.2008 17:19 Seite 236 Sozialraum und Governance Bezug nehmend auch auf aktuelle Diskussionen der Raumsoziologie lässt sich festhalten, dass ein sozialräumlicher Blick auf Gesellschaft nicht allein nach sichtbaren (und unsichtbaren) Platzierungen und Verknüpfungen von Dingen und Menschen fragt, sondern diese Phänomene in regionale, nationalstaatliche oder globale Strukturen und Prozesse einbettet. (vgl. Löw 2005, 42-46) Bourdieu et al (1993) haben in »Das Elend der Welt« anhand qualitativer Interviews die Produktivität des sozialräumlichen Zugangs eindrucksvoll konkretisiert. (für Österreich vgl. Katschnig-Fasch, 2003) Die besondere Aktualität des Werkes liegt darin, dass im Fallverstehen der dort versammelten Biographien die Folgen neoliberaler Politiken und des staatlichen Rückzuges aufgedeckt und Manifestierungen zum individuellen Leiden – sei es der Verlust des Arbeitsplatzes oder auch des Lebenssinns – abgebildet werden. Margareta Steinrücke hält diesbezüglich fest, dass auch »das relative Leiden der sogenannten ›linken Hand‹ des Staates, des niederen Staatsadels aus Sozialarbeitern, Lehrern etc., der infolge der Restriktionen der ›rechten Hand‹ des Staates, der Finanz- und Verwaltungsbürokratie, seine ständig wachsenden Aufgaben immer weniger erfüllen kann« (1997, 12 f.) nicht aus dem Blick der Analyse von Bourdieu et al gerät. Zur Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit Die Konjunktur der Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit seit den 1990er Jahre ließe eine starke Bezugnahme auf soziologische Theorien des Sozialen Raums vermuten. Jedoch ist der fachliche Diskurs in der Sozialen Arbeit überwiegend von einem Sozialraumverständnis geprägt, das seine Anleihen bei der Gemeinwesenarbeit bezieht und auf die Entwicklung der endogenen Ressourcen im Sozialraum abzielt. Wolfgang Hinte, als ein Protagonist dieser Auffassung, vertritt die Überzeugung, dass von Problemlagen betroffene Menschen SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 237 Sozialraum und Governance 237 ihre Lebensbedingungen mit ihren zur Verfügung stehenden Ressourcen im Quartier selbst und eigenverantwortlich verbessern können. Die Orientierung an den geäußerten Interessen der Wohnbevölkerung, die Unterstützung der Eigeninitiative oder die Kooperation und Koordination werden als zentrale Prinzipien genannt. Ausgehend von der These, dass die Selbsthilfekräfte der Menschen häufig unterschätzt werden, wird unter dem Stichwort der »Prävention« weitestgehend für eine Auflösung von fallspezifischer Arbeit argumentiert und auf die »Aktivierung« der Betroffenen abgezielt. (vgl. Hinte/Kreft 2005; Hinte/Litges/Springer 2000) Dieses Sozialraumverständnis wird von den VertreterInnen aber auch auf das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe übertragen und in deutschen sowie österreichischen Kommunen implementiert. Ein etwas anders gelagerter Ansatz der Sozialraumorientierung hat sich in den 1990ern in der Kinder- und Jugendarbeit entwickelt, der – anknüpfend an das Paradigma der Lebensweltorientierung von einem subjektiv-lebensweltlichen Raumbegriff ausgeht. Im Ansatz der flexiblen Erziehungshilfen wird »als Antwort auf die Individualisierung von Lebensläufen und Pluralisierung von Lebenswelten« (Galuske/Schoneville 2007, 282) eine Alternative zu den verfestigten Angebotsformen der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt. Auch in diesem Zugang wird die Nutzung der Ressourcen des Sozialraums und fallübergreifende Arbeit betont, allerdings bleibt die (flexible) Orientierung am Einzelfall charakteristisch. (vgl. Galuske/ Schoneville 2007, 284-285) Zur Kritik an der Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit Die Kritik an Konzepten der Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit ist inzwischen vielfältig, wobei eine mangelnde theoretische Reflexion der soziologischen Raumtheorie SatzBakic.qxd 238 27.02.2008 17:19 Seite 238 Sozialraum und Governance unmittelbar ins Blickfeld gerät. Bezug nehmend auf die Theorie des Sozialraums lassen sich u.a. zwei Verkürzungen orten: Erstens, beziehen sich die meisten »pragmatischen Sozialraumvarianten« in der Praxis auf ein abgegrenztes Territorium. Die Konstitution des Raums wird dabei (in der Regel von außen) als absolut festgelegt, womit andere Raumvorstellungen nicht beachtet und damit das Handeln von Menschen oder Gruppen nicht richtig verstehbar werden. (vgl. Löw 2001, 64) So können beispielsweise stadtteilbezogene Programme in so genannten »benachteiligten« Gebieten, die aufgrund sozialstruktureller Indikatoren von außen als defizitär definiert werden, sich mit den Sichtweisen dort lokalisierter Gruppen nicht im geringsten decken und sogar mit negativen Wahrnehmungsänderungen von Orten und Stigmatisierungen dieser Gruppen verbunden sein kann. Zweitens, führt der in der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit weit verbreitete Fokus auf die vorhandenen Handlungsressourcen von KlientInnen oder Gruppen mit dem Ziel der produktiven Nutzbarmachung oder Funktionalisierung dazu, dass die Strukturen – also die Kräftverhältnisse hierarchisch-strukturierter Sozialräume – völlig aus dem Blick gerät. Gerade das nicht zur Verfügung stehende ökonomische, kulturelle oder soziale Kapital bestimmt die soziale Position und ist die Ursache für die Verfestigung sozialer Ungleichheiten. Die Vorstellung des schnellen Nutzbarmachens zentraler Handlungsressourcen von Menschen aus der Nachbarschaft oder dem Quartier muss in dieser Hinsicht als naiv bezeichnet werden. Heinz-Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt glauben, dass die aktuelle Sozialraumorientierung »sich bei näherer Betrachtung als ein Hebel der umfassenden Reorganisation sozialer Dienste« (2005, 263) erweist und halten die Sozialraumbudgetierung für ein betriebswirtschaftliches Instrument der Kostenkontrolle einer »modernisierten« Verwaltung. Da kommunales Handeln Ursachen von Arbeitslosigkeit oder wachsen- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 239 Sozialraum und Governance 239 der Armut nur schwer beeinflussen kann, sind aktuelle Ansätze der Sozialraumorientierung einer aktivierenden Sozialpolitik des »Fördern und Fordern« zuzuordnen, in denen Menschen aktiviert werden, sich selbst zu helfen. (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2005, 272-277) In der Diskussion um Sozialraumorientierung ist auffällig, dass Strukturen und Prozesse globaler, nationalstaatlicher oder regionaler Ebenen, die soziale Probleme verursachen und lokalisieren, nicht in ausreichendem Maße mitgedacht werden und innerhalb der Profession entweder zur Überschätzung sozialraumorientierter Sozialer Arbeit führen oder lediglich als alltagsbewältigende, kompensatorische Strategie der Anpassung unter Politiken einer sich verändernden Staatlichkeit verstanden werden. Es wird auch deutlich, dass politische Dimensionen in der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit kaum reflektiert werden. Beispielsweise vermittelt der Hinte’sche Ansatz mit dem Fokus auf intermediäre Instanzen in sozialen Fragen »Neutralität« und »Unparteilichkeit« und entledigt sich damit sozialpolitischeren Perspektiven der Gemeinwesenarbeit wie sie beispielsweise Dieter Oelschlägel vertritt. (vgl. Hinte/ Oelschlägel 2001, 17-36) Herrschaftsfragen werden damit bewusst ausgegrenzt, was im Gegenzug seine Anschlussfähigkeit an neoliberale Politiken der Flexibilität und Selbstverantwortung sichert. Zum Diskurs um Governance Der Begriff Governance hat in der Politikwissenschaft einen ähnlichen Rezeptionsverlauf genommen wie der Sozialraumbegriff in der Sozialen Arbeit. Seit den 1980ern taucht das Konzept in politikwissenschaftlichen Fachdiskussionen auf und hat sich vor allem in den 1990er Jahren zu einem Schlagwort entwickelt, das in verschiedenen Gesellschaftssphären eine neue Qualität politische Steuerung propagiert und unter dem SatzBakic.qxd 240 27.02.2008 17:19 Seite 240 Sozialraum und Governance Stichwort »from government zu governance« besseres Regieren verspricht. Der Governance-Diskurs mit seiner zentralen Prämisse »es sei effizienter Probleme kooperativ und dialogisch zu bearbeiten« (Brand 2004,112) bezieht sich auf Netzwerke als zentrale Ordnungsmuster von Politik. Im sozialwissenschaftlichen Diskurs dominieren zwei Zugänge: einerseits werden mehrere räumlich-konstitutiven Ebenen unterschieden (local, regional, national und global governance) und die Integration dieser Ebenen (multi-levelgovernance) soll dann gesellschaftliche Problemlösungen erreichen. Andererseits wird mit akteursbezogenen Ansätzen, die oft stark auf die lokale Ebene fokussieren, ein Mehr an horizontaler Netzwerksteuerung oder Partizipation und ein Weniger an hierarchisch-organisierter Regulierung der formalisierten repräsentativen Demokratie gefordert. Diesbezüglich wird die Dominanz des öffentlichen Sektors und seine fehlende Offenheit gegenüber BürgerInnen oder wirtschaftlichen AkteurInnen kritisiert. Das Governance-Konzept ist aufgrund der suggerierten stärkeren Einflussnahme von gesellschaftlichen AkteurInnen sowohl für wirtschaftsliberale als auch für links-identitäre Gruppen anschlussfähig, wobei letztere Partizipation, Demokratisierung oder Teilhabe mit Governance verbinden. (vgl. Diebäcker 2008; Brunnengräber et al 2004) In den letzten Jahren wird zunehmend Kritik am undifferenzierten Governance-Diskurs laut. Das angestrebte »neue« Verhältnis von Staat, Markt und Zivilgesellschaft wird problematisiert und die postulierte hohe demokratische Qualität der nichthierarchischen, dezentralen und nicht-dirigistischen Formen des Regierens wird öfter in Frage gestellt. Erstens gehen laut Ulrich Brand die meisten GovernanceAnsätze von der Annahme aus, dass es keine grundsätzlichen Interessengegensätze zwischen sozialen Gruppen, Milieus oder Klassen mehr gäbe. Er kritisiert, dass »Governance für ein dialogisches und kooperatives Politikmodell [stehe], das nicht nur Interessensgegensätze, sondern auch die ungleiche SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Sozialraum und Governance Seite 241 241 Ressourcenverteilung der in den Verhandlungsprozess einbezogenen Akteure sowie asymmetrische Machtverhältnisse ausblendet« (Brand 2004: 114). Ein Verständnis von Governance als ein harmonistisch-kooperatives Modell läuft also Gefahr Fragen sozialer Ungleichheit und politische Konflikte zu verschleiern und von der gesellschaftlichen Regelung auszuschließen. Zweitens, werden die neuen Netzwerke politischer Steuerung – auch wenn sie bezüglich ihrer Organisation und Einflussnahme nur selten Gegenstand der Analysen sind (vgl. Fraser 2003, 256) – hinsichtlich ihrer demokratischen Qualität skeptisch beurteilt. Denn, ob »alte« Machtasymmetrien der repräsentativen Demokratie sich zugunsten einer pluralen und öffentlichen Politik verschoben haben, wird grundsätzlich in Frage gestellt. Stattdessen ist davon auszugehen, dass sich der Einfluss des Marktes auf Entscheidungen des Staates zunehmend durchsetzt und politisch-emanzipatorische Positionen weiter an Einfluss verlieren, was Erik Swyngedouw als »system of governance beyond the state« (Swyngedouw 2005) bezeichnet. (vgl. Hirsch 2001a, 118) Drittens wird der Wechsel von Government zu Governance auch mit einer angeblich effektiveren Steuerung von Gesellschaft begründet. Die Integration von Ressourcen (wie Wissen oder Zeit) der zu beteiligenden BürgerInnen oder AkteurInnen in Entscheidungsprozesse wird dabei als zentrales Mittel zur Problemlösung angesehen. Netzwerkartige Prozesse oder partizipative Verfahren werden damit über ihre Zweckmäßigkeit und Effektivität hinsichtlich der Problemstellung definiert und auf diese verkürzt. Aussagen zum Eigenwert politischer Beteiligung finden sich nur selten, um das neue institutionelle Arrangement zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft zu legitimieren. Viertens orientieren sich die Governance-Konzepte an marktförmigen Ordnungsmechanismen. Dabei wird unter dem Schlagwort des »kooperativen Staates« entsprechend eines neo- SatzBakic.qxd 242 27.02.2008 17:19 Seite 242 Sozialraum und Governance liberalen oder neokonservativen Menschenbildes an »AktivbürgerInnen« appelliert, sich im Sinne ihres Eigeninteresses oder ihrer gemeinschaftlichen Verpflichtung, ihre Lebenssituation durch eigene Beteiligung zu verbessern – mit dem Ergebnis, dass sich »aktivierte« Individuen (oder auch Institutionen) in Zukunft »Kosten und Folgelasten selbst zurechnen lassen müssen«. (Brand 2004, 115; vgl. Fraser 2003, 255) Es wird deutlich, dass der Terminus Governance aufgrund der mit ihm verbundenen Zuschreibungen und Wertsetzungen – seien sie wirtschaftsliberal oder politisch-emanzipatorisch inspiriert – als hybrid verstanden werden muss. Aufgrund dieser breiten gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit entfaltet er unter der Dominanz neoliberaler Politiken seine ideologische Wirkung – gerade weil er soziale Ungleichheiten und Machtverhältnisse tendenziell verschleiert und mit der Anrufung der/des aktive/n »BürgerIn« Symbiosen mit dem flexiblen, eigenverantwortlichen, selbstkontrollierenden, rationalen und männlich strukturierten Menschenbild radikal-liberaler Prägung eingehen kann. In seiner Anwendung entfalten sich unter dem »Deckmantel« von Governance vor allem ökonomische Zielorientierungen, der gesellschaftliche Hierarchien und Machtverhältnisse weitestgehend unberührt lässt. Birgit Sauer hält aus Sicht der feministischen Staatstheorie fest, dass Governance eine neue Technologie des Regierens darstellt und »nicht Ausdruck eines herrschaftsfreien Diskurses, sondern im Gegenteil die ReArtikulation von patriarchaler Steuerung und Herrschaft [ist].« (Sauer 2004, 125) SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 243 Sozialraum und Governance 243 Die politische Regulierung des Lokalen und Herausforderungen für eine kritische sozialraumorientierte Soziale Arbeit Hinsichtlich der notwendigen politischen Fundierung von sozialraumorientierter Sozialer Arbeit bietet das GovernanceKonzept aufgrund seines demokratietheoretischen Defizits keinen Nutzen. Governance muss vielmehr als Technologie der politischen Regulierung verstanden werden, die insbesondere auf der lokalen Ebene ihre Bedeutung entfaltet. Im Zusammendenken von Politischem und Sozialem Raum ist Governance mit der Sozialraumorientierung eng verwoben, denn das Lokale1 ist auch die wesentliche Interventionsebene Sozialer Arbeit. Die hier angerissene vergleichende Perspektive weist auf ähnliche Inhalte und Problematiken von Governance und Sozialraumorientierung hin. Beide Konzepte vertragen sich mit marktförmigen Ordnungsmechanismen des Staates und der damit verbundenen Ausweitung ökonomischer Rationalität auf alle Lebensbereiche, um soziale oder ökonomische Ressourcen für die gesellschaftliche Regulierung nutzbar zu machen. Sie neigen dazu Ursachen und Dynamisierungstendenzen sozialer Ungleichheit nicht genügend in den Blick zu nehmen und mit ihrem »kooperativ-harmonisierenden« Zugang gesellschaftliche Konflikte und Machtverhältnisse zu ignorieren, wobei sie weitestgehend auf horizontale Prozesse der Vernetzung abzielen und vertikale Entscheidungsprozesse oftmals unberücksichtigt lassen. Im Lokalen drückt sich – wie in der Einleitung angesprochen – die scheinbare Widersprüchlichkeit einer veränderten Staatlichkeit deutlich aus und stellt enorme Herausforderungen für die Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit dar. Aus politischer und fachlicher Perspektive gilt es daher aktuelle Konzepte und Methoden in mehrfacher Hinsicht kritisch zu prüfen: Erstens ist die Soziale Arbeit selbst Adressatin von Deregulierungs- und Privatisierungstendenzen des öffentlichen SatzBakic.qxd 244 27.02.2008 17:19 Seite 244 Sozialraum und Governance Sektors und wird daher einer Einsparungspolitik und Kostenkontrolle unterworfen. Aus diesem Blickwinkel entpuppt sich die Zentralisierung und Deckelung von Finanzen durch Sozialraumbudgets als kontraproduktiv. Auch der inhaltliche Fokus vom »Fall zum Feld« (vgl. Hinte/Litges/Springer 2000) forciert – zumindest in der Logik auf Kostenreduktion abzielender Financiers – die Konkurrenz zwischen Einzelfallund Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit und könnte zur weiteren Ausdünnung der sozialen Infrastruktur führen. Zweitens, ist die Soziale Arbeit zur Agentin eine neuen »Partizipationskultur« aufgestiegen, die auf Integration von AktivbürgerInnen und die Herstellung lokaler Gemeinschaftlichkeit abzielt bzw. diese suggeriert. Denn in den Stadtteiloder Quartiersprogrammen offenbart sich meist, dass der politischen Einflussnahme enge Grenzen gesetzt sind und sich die materiellen Lebensbedingungen der Bevölkerung in der Regel nicht verbessern, wie Evaluierungen aus dem deutschen BundLänder-Programm »Soziale Stadt« zu belegen scheinen. (vgl. Reutlinger et al 2005, 13) Wenn die Prozesse hinsichtlich des ökonomischen, kulturellen oder sozialen Kapitals weitestgehend »leer laufen« und BewohnerInnen dann lediglich aufgrund ihrer Aktivität Zufriedenheit verspüren, kommt sozialraumorientierte Soziale Arbeit in den Ruf nur zur Inszenierung kollektiver Zufriedenheit beizutragen. Drittens ist die Soziale Arbeit als Herrschaftsinstrument damit konfrontiert, dass sich ihre ordnungs- und sicherheitspolitischen Agenden verstärken und sie bei der Kontrolle und Disziplinierung von kriminellem, sozial abweichendem bzw. unerwünschtem Verhalten zunehmend beteiligt sein wird.2 Vor diesem Hintergrund muss darauf hingewiesen werden, dass die sozialraumorientierte Soziale Arbeit sich mit ihrem »Präventivcharakter« im Rahmen des neoliberalen »Sozialmodells« zur Territorialisierung, Stigmatisierung und Kulturalisierung von Ursachen sozialer Ungleichheit eignet sowie für die soziale Ausschließung von Bevölkerungsgruppen funktionalisiert SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Sozialraum und Governance Seite 245 245 werden kann. Bezug nehmend auf die aktuellen Kriminalisierungstendenzen besteht zudem die Gefahr, dass die gebildeten sozialen Netzwerke im Stadtteil oder in Nachbarschaften zur gegenseitigen sozialen Kontrolle instrumentalisiert werden. Angesichts dieser Tendenzen steht die sozialraumorientierte Soziale Arbeit vor der Herausforderung, auch um die Theorie des Sozialen Raums für die Praxis nutzbar zu machen, politisch-theoretische Perspektiven stärker mitzudenken. Nur mit der Reflexion einer veränderten Staatlichkeit kann sie ein kritisches Potenzial entwickeln, um trotz der Hegemonie neoliberaler Diskurse und Politiken ihrer eigenen »Einverleibung« reflektiert zu begegnen. In dieser zu führenden Debatte plädiere ich für die Konzeptualisierung politischer Theorien, die einen stärker konfliktorientierten Ansatz vertreten, da so Interessenskonflikte, Formen der Aneignung und Machtkämpfe stärker in den Blick geraten. Perspektivisch gesehen muss die sozialraumorientierte Soziale Arbeit eine räumlich-reflexive Haltung (Kessl/Reutlinger 2007) und eine fachlich-fundierte Praxis entwickeln, die in der Bezugnahme zur soziologischen Theorie des Sozialraums inhaltlich weiterentwickelt werden sollte. Denn gerade das Erfassen der Rationalitäten von Menschen in marginalisierten oder gesellschaftlich entkoppelten Lebenssituationen gilt es analytisch zu erschließen und Möglichkeiten der ReArtikulation zu eröffnen. Diesbezüglich wird die Soziale Arbeit auch weiterhin gefordert sein, aus einer kritisch-reflexiven Perspektive zur Solidarisierung und Organisation kollektiven Handelns unterstützend beizutragen. Zudem gilt es eine vertikal ausgerichtete Praxis politischer Kommunikation im Staat zu entwickeln, um für materielle, soziale, kulturelle, politische Rechte und gegen soziale Ausschließung einstehen zu können. (vgl. Stövesand 2007, 292f) Angesichts der Dominanz neoliberaler Rationalitäten und Politiken muss daraufhin hingewiesen werden, dass Hegemonie SatzBakic.qxd 246 27.02.2008 17:19 Seite 246 Sozialraum und Governance »kein kohärentes und geschlossenes, der Gesellschaft quasi von oben aufgestülptes Konstrukt« (Hirsch 2001b, 209) ist, sondern das Resultat politisch-sozialer Auseinandersetzung. Eine sozialraumorientierte Soziale Arbeit wird sich in Zukunft daran messen lassen müssen, inwieweit sie antihegemoniales Wissen erfassen und politisch vermitteln kann. Für die «paradoxe Intervention antistaatlicher Politik mit staatlichen Akteuren« (Sauer 2004, 125) ist die Soziale Arbeit historisch vorbereitet, ihre kritische Kraft im Zeitalter des Neoliberalismus muss sie aber erst entwickeln. Anmerkungen 1 Die Dimension des Lokalen wird hier als Bezugssystem zu anderen räumlichen Ebenen wie dem Nationalen oder Globalen verstanden, denn Prozesse auf diesen Ebenen verlaufen parallel bzw. gleichzeitig und sind miteinander verwoben. Das Lokale besitzt zudem auch einen spezifizierbaren Ort – also eine weitere räumliche Ausprägung, wobei diese nie rein lokal ist. vgl. Löw/Steets/Stoetzer 2007, 77f. 2 Es muss darauf hingewiesen werden, dass bei der Suche nach politischer Legitimation sich jene Politikfelder besonders eignen, die auf Unsicherheit und Ängste der Mehrheitsgesellschaft abzielen und die Bedrohung durch eine zu regulierende Minderheit unterstellen wie es beispielsweise in Migrations- bzw. Einwanderungspolitiken oder »Politiken innerer Sicherheit« der Fall ist und damit die öffentlichen Debatten bestimmen. Die Konstruktion oder »Entdeckung« von Problemgruppen – oder auch sozialarbeiterischer Zielgruppen – erweist sich angesichts öffentlicher Skandalisierungen und Ausschlussmechanismen in hohem Maße als problematisch. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 247 Sozialraum und Governance 247 Literatur Bourdieu, Pierre (2002 [1993]): Ortseffekte. In: Bourdieu et al. (Hg.): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz, 159-167. Bourdieu et al. (Hg.) (2002 [1993]): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz. Bourdieu, Pierre (1987 [1979]): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main. Brand, Ulrich (2004): Governance. In: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt am Main, 111-117. Dahme, Hans-Jürgen/Wohlfahrt, Norbert (2005): Recht und Finanzierung. 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Für die Soziale Arbeit haben Maria Bitzan, Eberhard Bolay und Hans Thiersch (2006²: 260) diesen Sachverhalt jüngst folgendermaßen übersetzt: »Die Einzelnen erfahren sich auf sich selbst geworfen«. Die Dominanz aktivierender Interventionsstrategien in verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit und der Sozialpolitik sind Ausdruck dieser Eigenverantwortungs-Anrufung der Gesellschaftsmitglieder (vgl. Dollinger/Raithel 2006; Kessl 2006). Aktivierungspropagandisten folgern für die Kinder- und Jugendhilfe dementsprechend, die bisherige sozialpädagogische Handlungsmaxime der Unterstützungsorientierung müsse grundlegend überdacht wer- SatzBakic.qxd 27.02.2008 System und Subjekt 17:19 Seite 251 251 den und stattdessen müsse nun der neuen Formel »Handlungsdruck statt Übernahmegarantie« gefolgt werden (Esch et al. 2001: 522). Diese Zuschreibung von Lebensgestaltungsverantwortung an – individuelle (einzelne Gesellschaftsmitglieder) wie kollektive (Familien, Nachbarschaften, Stadtteilbevölkerungen) – Subjekte geschieht in einer Phase, in der parallel eine grundlegende Infragestellung der Idee des Subjekts Raum gegriffen hat: Vor allem (post)strukturalistische und (sozial)konstruktivistische Perspektiven stellen die seit der Aufklärung dominierende humanwissenschaftliche Idee »des Subjekts« als einer relativ autonom agierenden leiblichen Einheit in Frage: »Das Subjekt als eine mit sich selbst identische Entität gibt es aber nicht mehr« (Butler 1997: 315; vgl. Luhmann 1987: 593ff.). Zwar haben sich die zum Teil heftig geführten Auseinandersetzungen um einen vermeintlichen »Tod des Subjekts« oder dessen schon wieder zu proklamierende »Wiederkehr« nach den ersten Aufregungen seit Ende der 1960er Jahre, die vor allem die französischsprachigen Beiträge im Anschluss an Nietzsches, Freuds und Heideggers Überlegungen ausgelöst hatten, inzwischen wieder deutlich beruhigt. Dennoch bleibt die subjektkritische Herausforderung gerade für eine (sozial)pädagogische Perspektive bestehen. Schließlich geht es in der Sozialen Arbeit nach weit verbreitetem Selbstverständnis darum, dass das Subjekt lernt, »über sich selbst zu verfügen, seine eigenen Perspektiven zu fassen und zu verfolgen« (Winkler 1988: 335). Eine sozialpädagogische Intervention wird dementsprechend als erfolgreich bestimmt, wenn das Subjekt »imstande wird, sich selbst zu erziehen«, wie es Michael Winkler vor knapp 20 Jahren in einem der seltenen deutschsprachigen Versuche einer theorie-systematischen Bestimmung Sozialer Arbeit formuliert hat. Vor dem Hintergrund eines solchen Selbstverständnisses müsste eine Auseinandersetzung mit den vielfältigen und grundsätzlichen subjektkritischen Einwänden (vgl. Meyer-Drawe 1991) nur SatzBakic.qxd 252 27.02.2008 17:19 Seite 252 System und Subjekt allzu nahe liegend sein. Überraschenderweise fehlen diese aber bisher weitgehend – eine der Ausnahmen stellen bemerkenswerterweise die jüngeren Arbeiten des eben zitierten Autors dar (vgl. Winkler 2006: 119ff.). Die weitgehende Nicht- oder De-Thematisierung subjektkritischer Einwände in den Diskussionen um Soziale Arbeit ist noch aus zwei weiteren Gründen überraschend. Zum einen haben innerhalb der Debatten um Soziale Arbeit gerade subjektzentrierte Motive als Teil von handlungskonzeptionellen Reformprogrammen (adressaten-, kunden- und nutzerorientierte Ansätze) und jüngst auch als Teil neuer methodologischer Bestimmungsversuche (Adressaten-, Konsumenten- und Nutzerforschung) zunehmend an Einfluss gewonnen (vgl. Kap 1).1 Zum anderen wurden in den letzten Jahren eine ganze Reihe, vor allem systemtheoretisch (vgl. zum Überblick Merten/Scherr 2004), aber auch einzelne machtanalytisch argumentierende Arbeiten (vgl. zum Überblick Kessl 2007) im Feld der Wissenschaft Sozialer Arbeit vorgelegt – also Arbeiten, die sich an konstitutiv subjektkritischen Methodologien ausrichten (vgl. Kap. 2). In den Diskussionen um Soziale Arbeit ist somit die gleichzeitige Konjunktur subjektzentrierter Bestimmungen, in denen die Akteursfigur »des Subjekts« als konzeptioneller Ausgangspunkt gesetzt wird, und subjektkritischer Methodologien, vor allem in systemtheoretischer Variante, zu konstatieren. Dass angesichts dieser Situation explizite Auseinandersetzungen mit den subjektkritischen Einwänden – auch in den eben solche Einwände umfassenden Methodologien – fast komplett fehlen bzw. diese im Fall ihrer Diskussion umgehend wieder als unzureichend verworfen werden, ist erklärungsbedürftig. Um diese verblüffende Gleichzeitigkeit von Subjektzentrierung und subjektkritischer Methodologie einerseits und Nicht- bzw. De-Thematisierung subjektkritischer Einwände andererseits zu erklären, wird im Folgenden im ersten Schritt am Beispiel der adressaten- bzw. nutzerorientierten Handlungskonzeptionen SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 253 System und Subjekt 253 und Methodologien die Präsenz subjektzentrierter Annahmen innerhalb der Diskussionen um Soziale Arbeit skizziert und nach den Gründen der hierbei weitgehend ausbleibenden Thematisierung subjektkritischer Einwände – oder deren DeThematisierung – gefragt. Daran anschließend werden zentrale Aspekte der einflussreichsten subjektkritischen Methodologie, der Luhmannschen Systemtheorie, und deren Rezeption diskutiert. Auf dieser Basis kann dann deutlich gemacht werden, dass die weitgehende Aus- und Überblendung des subjektkritischen Potenzials in der sozialpädagogischen Rezeption einerseits auf grundlegende Theorieprobleme dieser Bezugstheorie und andererseits stellvertretend auf die immense Verstrickung sozialpädagogischer Konzepte mit subjektzentrierten Vorstellungen verweist. Vor diesem Hintergrund wird abschließend eine praxistheoretische Erweiterung subjektkritischer Perspektiven – allerdings weniger im Anschluss an die systemtheoretischen denn die machtanalytischen Formate – angedeutet. Ein solcher Zugang bietet Ansatzpunkte an für eine angemessene – wissenschaftlich-analytische wie fachlich-professionelle – Reaktion auf die subjektkritischen Einwände der letzten Jahre an, so die hier vertretene These. Aktuelle Subjekt-Konjunktur(en) in der Sozialen Arbeit Adressaten-, konsumenten- und nutzerorientierte Ansätze und Methodologien stellen die Annahme eines zumindest potenziell einheitlichen Subjekts an den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. In diesem Sinne setzen entsprechende Konzeptionen sozialpädagogischer Intervention »das Subjekt« als Startpunkt voraus – sie unterstellen damit das Modell eines zentrierten Subjekts. Soziale Arbeit habe es »in der Regel mit Menschen zu tun«, so formulieren Bitzan, Bolay und Thiersch (2006: 7) diese Annahme in ihrer einführenden Darstellung zu ihrem aktuellen SatzBakic.qxd 254 27.02.2008 17:19 Seite 254 System und Subjekt Sammelband Die Stimme der Adressaten. Für ein dementsprechendes fachliches Handeln sei daher, so schließen sie an, ein »Wissen aus der ›Innenperspektive‹ der Subjekte« erforderlich (ebd.). Gertrud Oelerich und Andreas Schaarschuch schreiben in ihrem Versuch der Grundlegung einer sozialpädagogischen Nutzerforschung in analoger Weise davon, dass innerhalb der sozialpädagogischen Nutzerforschung »die Nutzerinnen und Nutzer als aktive Subjekte konzipiert« würden (Schaarschuch/ Oelerich 2005: 16).2 Für die Autorinnen und Autoren dieser Ansätze scheinen somit Mensch, Nutzer und Subjekt synonyme Begriffsbestimmungen für den als einheitlichen Aktanten angenommenen direkten Adressaten/die direkte Nutzerin sozialpädagogischer Dienstleistungsangebote. Vor dem Hintergrund der zeitgleichen Fokussierung und Infragestellung einer solchen zentrierten und präskriptiven Subjektfigur ruft eine solche Setzung aktuell nach Erläuterung. Denn gerät die dringend notwendige fachpolitische Abgrenzung sozialpädagogischer Strategien von den semantisch und konzeptionell häufig analogen neo-sozialen und neo-liberalen Subjektivierungsprogrammen (Versprechen einer Allzugänglichkeit differenter Lebensstile und Aktivierung von Eigenverantwortung) nicht manches Mal zum Problem, wenn nun sozialpädagogisch wie »aktivierungspädagogisch« (Kessl 2006) die Selbsttätigkeit »des Subjekts« zum Ausgangs- wie Zielpunkt der jeweiligen Interventionsprogramme erklärt wird? Dieses Dilemma ist den Autoren/innen adressaten- oder nutzerorientierter Programme durchaus bewusst. So betonen Bitzan, Bolay und Thiersch in ihren abschließenden Überlegungen zur Adressatenforschung, dass »die Subjektperspektive in der Sozialen Arbeit nicht ein Medium der noch zielgenaueren Bemächtigung der AdressatInnen werden (dürfe)« (Bitzan/Bolay/Thiersch 2006²: 284; vgl. Schaarschuch/ Oelerich 2005: 14ff.). Doch dieser Hinweis steht in einer eigenartigen Spannung zu der bereits zitierten adressatenorientierten Ausgangsannahme derselben Autoren/innen.3 Wie ist das zu erklären? SatzBakic.qxd 27.02.2008 System und Subjekt 17:19 Seite 255 255 Zum einen scheint das Phänomen der widersprüchlichen oder sogar der De- und Nicht-Thematisierung subjektkritischer Einwände dem diesen Ansätzen unterliegenden politischen und berufsethischen Postulat geschuldet, das sich einer emanzipatorischen Perspektive verpflichtet sieht: Schaarschuch und Oelerich (2005: 19; vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch 20061: 7) markieren das für ihr Modell einer sozialpädagogischen Nutzerforschung mit den Worten, es gehe um den »moralischen Anspruch der Nutzerinnen auf Anerkennung als aktiv handelnde Subjekte«. Diese Emanzipationspostulate basieren zum anderen auf spezifischen neo-marxistischen Denktraditionen, auf deren Basis diese Autoren/innen in verschiedenen praxis-, alltags- und aneignungstheoretischen Varianten argumentieren: Ihre argumentative Basis konkretisiert sich dementsprechend in Annahmen einer »Pseudokonkretheit« der Praxis (Kosik 19896: 217; vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch 2006²: 260ff.) oder der nur »einseitig(en) und unvollständig(en)« Aneignungsmöglichkeiten menschlicher Wirklichkeit (Leontjew 1971: 236; vgl. Schaarschuch/Oelerich 2005: 11). 4 Die damit skizzierte aktuelle Konjunktur subjektzentrierter Annahmen in den Diskussionen um Soziale Arbeit ist also vor allem der spezifischen humanistischen Denktradition geschuldet, die das Subjekt als konstitutive autonome Handlungseinheit zugleich voraussetzt und durch emanzipatorische Interventionsstrategien freisetzen will. Ganz im Sinne des Vorwurfs, den vor allem Axel Honneth (vgl. 1985: 194f.) und Jürgen Habermas (1985/1998) Mitte der 1980er Jahre mit Verweis auf Michel Foucaults Überlegungen formuliert hatten, dass nämlich subjektkritische Überlegungen sich durch ihre machttheoretische Verkürzung auszeichneten, »vergesellschaftete Individuen nur als (...) die standardisierten Erzeugnisse einer Diskursformation« wahrzunehmen (ebd.: 343), scheinen auch diese Ansätze in der Sozialen Arbeit das Projekt der Aufklärung als subjektzentriertes pädagogisches Programm verteidigen zu wollen. Subjektkritische Einwände werden von SatzBakic.qxd 256 27.02.2008 17:19 Seite 256 System und Subjekt solchen Standpunkten aus schnell als Bedrohung dieser subjektkritischen Emanzipations- und Befreiungsprogramme angesehen. Auch manchen explizit machtanalytisch argumentierenden Autoren/innen im Feld der Wissenschaft Sozialer Arbeit ist es angesichts der vor allem Foucault zu gerechneten Subjektkritik nicht ganz geheuer. Sie plädieren zwar dafür, das machtanalytische Potenzial zu nutzen, wenden aber zugleich ein, dass man damit allzu schnell in die Gefahr gerate, (politische) Rationalitäten und (Subjekt)Praktiken in eins zu setzen und damit die »Eigensinnigkeit des Handelns gegenüber den Programmatiken« auszublenden (Stövesand 2007: 286). System und Subjekt, so könnte man diese Lesart zuspitzen, fielen aber eben nicht in eins, was eine solche totalisierende Machtperspektive aber allzu leicht nahelege, wie beispielsweise die Studien zur Gouvernementalität vorlegten (kritisch dazu: Kessl 2007: 217ff.). Daher sei auch nicht weniger als eine subjekttheoretische Re-Lektüre machtanalytischer Vorgehensweisen notwendig (vgl. auch Horlacher 2007). So berechtigt die Kritik im Einzelnen und gegenüber einzelnen Aspekten machtanalytischer Studien ist, so problematisch ist sie zugleich. Denn solche Positionen kommen zugleich in die Gefahr, die konstitutive Relationalität »der Natur« zu übersehen bzw. analytisch nicht fassen zu können – oder wie es Etienne Balibar (1991: 63) in seiner vergleichenden Lektüre Marxscher und Foucaultscher Überlegungen mit Blick auf die marxistischen Denktraditionen verdeutlicht, allzu schnell »von der Materialität der Körper« auf die »Idealität des Lebens« überzugehen. Nicht zuletzt fehlt bereits in den sozialphilosophischen Einwänden, wie sie hier mit dem Verweis auf Honneth und Habermas angedeutet werden, eine explizite Auseinandersetzung mit dem post-aufklärerischen, post-kritischen und posthumanistischen Anspruch und dem entsprechenden Transformations- und Subversionspotenzial solcher Perspektiven:5 Dieser Hinweis könnte nun nicht nur miss-, sondern auch als SatzBakic.qxd 27.02.2008 System und Subjekt 17:19 Seite 257 257 deutlich verkürzt verstanden werden, wenn er nicht auch mit einer Problematisierung solcher subjektkritischen Deutungsangebote selbst verbunden würde. Denn diese können zum einen in die Gefahr geraten, das Potenzial der Aufklärung allzu schnell zu verschenken und zum anderen lösen sie den – von uns im Anschluss an erkenntnis- und subjektkritische Herangehensweisen – beanspruchten radikal relationalen und praxisanalytischen Zugang keineswegs per se ein. Das soll im Folgenden, wie bereits angedeutet, am Beispiel der in den Diskussionen um Soziale Arbeit in den letzten Jahren besonders einflussreichen subjektkritischen, nämlich systemtheoretischen Methodologie verdeutlicht werden. Vom handelnden Subjekt zum handelnden System Niklas Luhmann fordert in seinen Überlegungen zur Grundlegung einer konstruktivistischen Weltordnung eine generelle Aufgabe der »Denkfigur Subjekt«. Der Mensch sei nur mehr als Umwelt sozialer Systeme – das heißt einzelner Funktionssysteme, wie Wirtschaft, Recht oder Bildung – zu erfassen und dabei selbst in eine dreifache Systemaufteilung zu splitten: in ein physisches, ein psychisches und ein soziales System (vgl. Luhmann 2002: 256). Für eine sozialpolitische und damit auch sozialpädagogische Perspektive entscheidend sei diese Annahme, weil damit die Gesellschaftsmitglieder »letztlich für keines der Funktionssysteme mehr als Personen relevant« seien (Hillebrandt 2004: 132). Das Individuum ist vielmehr nur mehr hinsichtlich des spezifischen Aspekts eines einzelnen Funktionssystems teil-integriert (Inklusion) und damit hinsichtlich dieses Aspekts zugleich aus anderen Teilsystemen ausgeschlossen (Exklusion). In den modernen, funktional differenzierten Gesellschaften ist somit, nach Luhmann, das Individuum nie mehr in ein Funktionssystem komplett inkludiert, da Funktionssysteme eben immer nur noch SatzBakic.qxd 258 27.02.2008 17:19 Seite 258 System und Subjekt spezifische, einzelne Bedürfnisse als relevant anerkennen und andere Bedürfnisse in alternative, dafür zuständige Systeme verweisen (vgl. Scherr 2004: 57ff.). Diese auf den ersten Blick scheinbar radikal innovative Theoriearchitektur auf dem Fundament einer Annahme funktional differenzierter, moderner Gesellschaften erweist sich auf den zweiten Blick allerdings als ein, wenn auch beeindruckender Taschenspielertrick: Luhmann überträgt nämlich die bisherige Figur des Subjekts, aber auch die damit verbundenen systematischen Probleme »einfach« auf die Figur des Systems. Luhmanns Denkmodell unterliegt eine relativ schlichte und wohl gerade deshalb so überzeugungskräftige analytische Operation: Mit der System/Umwelt-Unterscheidung macht er soziale Zusammenhänge auf einer erhöhten Abstraktionsebene neu kategorisierbar (vgl. Luhmann 2005: 7). Damit scheint es Luhmann möglich, »zahlreiche Denkgewohnheiten« zu durchschneiden, indem er systemtheoretisch deren Anteile auf die »eine bzw. die andere Seite dieser (systemischen; F.K.) Grenzlinien verteilt« (ebd.).6 Nicht nur das damit mögliche »totalisierende Ordnungsdenken« (vgl. Demirovic 2001: 16) ist theorie-architektonisch beeindruckend, sondern vor allem auch die damit verbundene Möglichkeit, das »Eigentliche« der Soziologie freizulegen und zu reinigen: das soziale System. Nie zuvor schien es so pur präsentiert werden zu können – frei von damit verbundenem oder gar eingewobenem »humanistischen, leiblichen, ästhetischen oder psychischen Ballast«. Die Möglichkeit eines solchen soziologischen Purismus, einer »purifizierte(n) Soziologie«, wie auch systemtheoretische Denker in der Sozialen Arbeit formulieren (Scherr 2000: 71), scheint Luhmanns zentrale Motivation, wenn er seine Einwände gegen eine theoretische Integration der Subjektfigur formuliert (vgl. Luhmann 2002: 256). Diese »Befreiung« der Subjekte gelingt Luhmann aber eben nur dadurch, dass er nun die »Systeme« statt der »Subjekte« zu den bestimmenden Handlungseinheiten erklärt. »Das System« wird SatzBakic.qxd 27.02.2008 System und Subjekt 17:19 Seite 259 259 zum theorie-konzeptionellen Ausgangs- und Endpunkt: Statt der von Luhmann unseres Erachtens zurecht kritisierten, die Philosophie und anschließend die Human- und Sozialwissenschaften seit der die Aufklärung konstituierenden subjektzentrierten Perspektive haben wir es nun mit einer systemzentrierten zu tun. In Luhmanns Theoriekonstruktion handeln zwar nicht mehr die »Subjekte«, aber dafür die »Systeme« – auch wenn Luhmann den Handlungsbegriff durch die relativ schlichte semantische Transformation in den Begriff der »Operation« zu überwinden sucht. Die zentrale Frage während der ersten Rezeptionsphase der Luhmannschen Systemtheorie in den theorie-systematischen Diskussionen um Soziale Arbeit war daher auch diejenige nach der Möglichkeit einer Bestimmung Sozialer Arbeit als eines eigenständigen Funktionssystems (vgl. Baecker 1994; Merten 1997: 86ff.; kritisch dazu: Bommes/Scherr 2000). Diese Auseinandersetzung scheint trotz der heftig geführten Debatten allerdings inzwischen ohne merklichen Widerhall weitgehend verklungen. Stattdessen wurde aber eine zweite Rezeptionsphase eingeläutet.7 Im Zentrum steht nun, so lässt sich aus der hier interessierenden Perspektive formulieren, eine Auseinandersetzung mit der Luhmannschen Forderung nach einer radikalen Auflösung des Subjekts. Diese Forderung geht die Mehrheit der systemtheoretisch argumentierenden AutorInnen so nicht mit (vgl. Merten 1997: 49ff.). Stattdessen erweitern diese Luhmanns funktionale Differenzierungstheorie um eine Perspektive auf soziale Ungleichheitsphänomene (vgl. Merten 2004: 108, daran anschließend Kleve 2004: 173ff.) bzw. auf die Bedingungen von Exklusions- und Inklusionsprozessen (vgl. Scherr 2004: 69ff.; vgl. Bommes/Scherr 2000: 97). So schlägt Roland Merten die Einführung eines Begriffs der »NichtInklusion« vor, womit er nichts anderes meint als den Ausschluss von Menschen aus allen relevanten Teilsystemen – eine für Luhmanns Systemtheorie an sich gar nicht denkbare Konstruktion (vgl. Kronauer 2002: 126ff.; Hillebrandt 2004: SatzBakic.qxd 260 27.02.2008 17:19 Seite 260 System und Subjekt 132). Dass sich eine ganze Reihe der sozialpädagogischen Systemtheoretiker darüber hinwegsetzen, ist kein Zufall. Sie reagieren damit erstens auf einen Schwachpunkt der Luhmannschen Systemtheorie selbst. Denn Luhmann neigt in seinen Überlegungen dazu, wie Peter Zima (2000: 331) verdeutlicht, »den Subjektbegriff mit dem individuellen oder transzendentalen Subjekt zu identifizieren«. Damit verengt er die Subjektfigur aber kategorial in einer Weise, wie sie nicht einmal von explizit subjektzentrierten Ansätzen in Anspruch genommen wird. Diese individualistische Subjektkonstruktion scheint zugleich theorie-immanent konsequent, da Luhmann einen »radikalen Individualismus« (Luhmann 2002: 257) unterstellt, den gerade die Verlagerung der psychischen wie physischen Systeme als zentrale Bestandteile menschlicher Akteure in die Umwelt der Sozialsysteme möglich mache (kritisch dazu Merten 1997: 49). Das sich damit für eine Wissenschaft Sozialer Arbeit zweitens andeutende Problem ist die von Systemtheoretikern als immenser Vorteil präsentierte »unglaubliche Realitätsfähigkeit der Systemtheorie« (Stichweh 1999: 62, zit. nach Demirovic 2001: 24). Die Behauptung lautet, mit Luhmanns Systemtheorie könne man sich von kritisch-theoretischen Zugängen absetzen und diese »als ein Unterfangen vorwiegend normativen Gehalts« ausweisen (ebd.). Ohne nun an dieser Stelle auf das damit angedeutete Werturteilsproblem weiter einzugehen (vgl. dazu Ritsert 1996: 30ff.), ist festzuhalten, dass Luhmanns Systemtheorie gegenüber Positionen, die sich durch eine eingelagerte und nicht-explizierte Normativität ausweisen, zumindest auf den ersten Blick als radikal-kritischer Gegenentwurf gelesen werden könnte.8 Könnten damit gerade für eine Wissenschaft Sozialer Arbeit, in deren Mittelpunkt die skeptische Rekonstruktion dieser Instanz der Lebensführungsregulierung und –regierung gehen sollte, systemtheoretische Ansätze von entscheidendem Wert sein? Denn einer Wissenschaft Sozialer Arbeit muss es um die sozialen Praktiken SatzBakic.qxd 27.02.2008 System und Subjekt 17:19 Seite 261 261 der beteiligten Akteure gehen, und zwar hinsichtlich ihrer Regulierung und Regierung, denn genau das ist der Auftrag Sozialer Arbeit. Und könnten daher systemtheoretische Instrumente, wie »Formbegriffe, die auf der Ebene der Relationierung von Relationen angesiedelt sind« (Luhmann 1987: 26) nicht sehr hilfreich sein? Erinnert Luhmanns Hinweis, dass Systeme wie deren Umwelt jeweils nur das sein können, was sie »im Bezug auf das jeweils andere (sind)« (ebd.: 244) nicht deutlich an relationale und eben auch explizit macht- und herrschaftssensible Zugänge (vgl. Appadurai 1996)? Tatsächlich weist diese systemtheoretische Annahme – zumindest auf den ersten Blick – durchaus Strukturanalogien zu explizit machtund herrschaftssensiblen Ansätzen auf, in denen davon ausgegangen wird, dass Herrschaftsverhältnisse nur in Form von »materiell verdichteten Kräfteverhältnissen«, so Poulantzas (2002) Bestimmung des Staats, bzw. als ein Feld blockierter Machtbeziehungen (Foucault 1984: 11), angemessen zu erfassen seien. Und definiert nicht Luhmann »Herrschaftspositionen« als »Grenzstellen des Systems«, von denen aus »eine entsprechende Ausstattung mit Macht und mit Kompetenzen legitimier(t werde)« (Luhmann 1987: 280)? Die Schwierigkeit, Luhmanns Überlegungen als theorie-systematische Grundlage für eine radikal relationale und damit macht- und herrschaftssensible Perspektive zu nutzen, ist, dass systemtheoretisch nicht nur eine relationales, sondern auch ein relativistisches Deutungsangebot gemacht wird. Und damit beginnt das systematische Problem: Das Phänomen einer, wenn auch nur historisch-spezifischen Fixierung der Systemgrenzen, einer Herrschaftspositionierung also, wird von Luhmann theorie-architektonisch ausgeschlossen: »Erst wenn die Sinngrenzen die Differenz von System und Umwelt verfügbar halten, kann es die Welt geben« (ebd.: 283). Diese gegen einen Parsonianischen Strukturfunktionalismus zwar überzeugend argumentierende Forderung, die ein Modell flexibler Grenzen beansprucht, verschattet aber zugleich den analytischen Blick SatzBakic.qxd 262 27.02.2008 17:19 Seite 262 System und Subjekt auf Herrschaftsverhältnisse. Denn diese realisieren sich gerade als Fixierung von historisch-spezifischen Formaten eines bestimmten Musters von Systemgrenzen. Luhmanns Begründung für diese Annahme ist, dass er das Prinzip der Selbstreferentialität absolut setzt, die Systemtheorie also auf der Annahme einer »autopoietischen Abkapselung« basiert (Zima 2000: 342). Entscheidend und konstitutiv für die Welt sind demnach die Logiken der Einzelsysteme und nicht deren Verschränkung oder Verkopplung (vgl. Luhmann 1995: 174). Gerade in diesen Verschränkungen, Grenzfixierungen oder veränderungen zeigen sich aber die historisch-spezifischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Damit verweigert sich Luhmann einer macht- und herrschaftskritischen Perspektive und sein Relationalitätspostulat wird eindimensional, weil Relationen in seiner Theorie autopoietischer Systeme in diesen und deren konstitutiven Selbstreproduktionslogik ihren Ausgangspunkt nehmen und immer wieder an diese zurückgebunden bleiben. Ganz im Gegensatz zu herrschaftskritischen Zugängen, beispielsweise in machtanalytischer oder neo-marxistischer Variante. Denn diese fokussieren gerade auf den »Gesamteffekt dieser Beweglichkeiten« (Foucault 1999: 114), das heißt gerade die Gestalt und vor allem die Gestaltungsformierung der Herrschaftspositionen: Die Grenzstellen, die Grenzreproduktionen und damit die Bearbeitung der Grenzen »der Systeme«, um nochmals Luhmanns Terminologie zu verwenden, rücken dann in den analytischen Fokus. »Situationen der Missachtung«, wie sie für die Soziale Arbeit konstitutiv sind, weil diese das Ergebnis fremder und eigener Regulierungs- und Regierungsstrategien darstellen, entstehen eben genau dann, »wenn es soziale Akteure gibt, die die Macht haben, bestimmten Bevölkerungsgruppen die soziale Anerkennung zu verweigern« (Hillebrandt 2004: 136). Systemtheoretisch ist durch den Verweis auf die je »eigene Gesellschaftsbeschreibung« der einzelnen Funktionssysteme eine solche Analyseperspektive ausgeschlossen (Luhmann 1995: 147). SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 263 System und Subjekt 263 System, Subjekt und Soziale Arbeit Gemeinsam ist konstruktivistischen wie machtanalytischen Zugängen also, dass sie auf die Notwendigkeit einer radikalen Dezentrierung des zentrierten Subjektmodells aufmerksam machen können: Das Subjekt ist nicht mehr »Herr im eigenen Haus« (®i¾ek 2004). Dieser Hinweis ist gerade angesichts der konstitutiven Einlagerung subjektzentrierter Annahmen in traditionelle wie aktuelle Konzepte Sozialer Arbeit entscheidend – und findet bisher, wie der Verweis auf jüngere adressaten- und nutzerbezogene Konzepte gezeigt hat, zu wenig Berücksichtigung. Während allerdings konstruktivistische Zugänge im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie aus dieser Einsicht eine Verschiebung der menschlichen Akteure in die Außenwelt der Funktionssysteme und zugleich die Rollenübernahme durch die Systeme vorschlagen, geht es machtanalytischen Vorgehensweisen um den Hinweis auf die differenten, historisch-spezifischen Konstruktionsmodi der Subjektivierung selbst. Machtanalytische – wie auch dekonstruktive – Ansätze basieren also auf der Annahme, dass man das »Subjekt nicht als schlechthin Erstes ansetzen« kann, denn es »gehorcht vielleicht einem Subjektprinzip, ist aber keines« (Waldenfels 1987: 115) – und genau dieses Prinzip gilt es jeweils historisch-spezifisch zu rekonstruieren. Für die Wissenschaft Sozialer Arbeit heißt das aktuell, die in den entstehenden post-wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaften (vgl. Beiträge in Bütow/Chassé/Hirt 2007; Kessl/Otto 2008/i.E.) dominierenden Subjektivierungsweisen in den Blick zu nehmen und deren Regelmäßigkeiten nachvollziehbar und transparent deutlich zu machen – vor allem in Bezug auf die damit verbundene Ermöglichung oder Verunmöglichung von Handlungsoptionen für die direkten Nutzerinnen und Adressaten. Für die Soziale Arbeit als professionelle – und damit als pädagogische wie politische – Akteurin sollte das unseres Erachtens heißen, sich ihrer selbst als Instanz der (Re)Produktion dieser Subjektivierungsweisen zu begreifen SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 264 264 System und Subjekt und das eigene Tun dementsprechend skeptisch auf die eigenen Regulierungs- und Regierungsaktivitäten zu befragen. Einer sich (gesellschafts)kritisch verstehenden Soziale Arbeit, wie sie dieses Handbuch zu befördern versucht, kann es daher nicht um die Vermittlung eines scheinbar gegebenen Verhältnisses von System und Subjekt (Individuum und Gesellschaft), nicht um einen scheinbar eindeutigen Perspektivwechsel von der systemischen auf die subjektive Ebene (Subjektorientierung), nicht um eine Substitution der autonomen Subjektfigur durch die (Funktions)Systemfigur (Systemtheorie), sondern sollte es um die analytische wie professionelle Inblicknahme und Bearbeitung der historisch-spezifischen Formate der Subjektivierung gehen. Anmerkungen 1 Mit dem Begriff der Subjektzentrierung werden im Folgenden Deutungsweisen kategorisiert, die das Subjekt als gegebenen, relativ autonom aktionsfähigen Einzel-Aktanten theorie-systematisch (Descartsches Cogito Ergo Sum) wie -politisch (klassischer Humanismus) voraussetzen. Demgegenüber wenden subjektkritische Perspektiven in der erkenntniskritischen Denktradition von Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Martin Heidegger ein, dass eine solche Annahme in ihrer immanenten Metaphysik stecken bleibe (vgl. Derrida 1976: 21ff.) und demgegenüber ein de-zentrierter Subjektbegriff gedacht werden müsse: »Es kommt also dazu, daß die Gegenwart (...) nicht mehr als die absolute Matrixform des Seins, sondern als eine ›Bestimmung‹ und ein ›Effekt‹ gesetzt wird« (ebd.: 23). 2 Ähnliches ist auch für die jüngsten Versuche der Etablierung einer sozialpädagogischen Agency-Forschung zu konstatieren, wenn die Vertreter/innen davon sprechen, dass »Personen (...) UrheberInnen ihrer Handlungen (sind)« (Hirschler/Homfeldt 2006: 46). 3 In den aktuellen Versuchen zur Grundlegung einer sozialpädagogi- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 265 System und Subjekt 265 schen Agency-Forschung (vgl. Anmerkung 2) deutet sich die Diskussion des zugrunde gelegten Subjektbegriffs zwar an manchen Stellen an, wenn beispielsweise Hans-Günther Homfeldt, Wolfgang Schröer und Cornelia Schweppe (2007: 245) aktuell im Anschluss an Christian Reutlingers Arbeiten für eine kritische Perspektive auf soziale Entwicklung plädieren, die nicht nur die Selbstentwicklung, sondern auch das »Entwickelt-Werden« der Menschen in den Blick nehme, und außerdem die Begrenzung der sozialpädagogischen Biografie- und Nutzerforschung auf »die biografische Verarbeitung von sozialpädagogischen Programmen« kritisieren (ebd.: 247). Allerdings ist der von ihnen beanspruchte Analysefokus auf eine soziale Einbettung der Akteure statt eines Fokus auf »immanente individuelle Fähigkeiten« eine zugespitzte Dichotomie, die nicht nur hinter die immanenten subjekttheoretischen Grundannahmen der meisten vorliegenden Biografieund Nutzerforschungsprojekte zurückfällt, sondern auch für eine Aufnahme subjektkritischer Einwände unzureichend bleibt – das illustriert die gleichzeitige Formulierung subjektzentrierter Annahmen der Agency-Protagonisten selbst (vgl. Anmerkung 2). 4 Die Frage nach möglichen Gründen wird noch dadurch provoziert, dass einzelne der benannten AutorInnen bereits vor fast 20 Jahren selbst wegweisende, wenn auch (bisher) wenig rezipierte, Arbeiten zu einer subjektkritischen Perspektive in der Sozialen Arbeit vorgelegt haben (vgl. Bolay/Trieb 1988). 5 Anspruch dieser Perspektiven ist es, die Ereignishaftigkeit von Praktiken und die Regelmäßigkeiten des Sag- und Sichtbaren zu rekonstruieren (vgl. Waldenfels 2004), um dessen nur regionale Gültigkeit auszuweisen, seine immanenten Ausschlussformen aufzudecken und die Grenzen zu markieren, an denen manches als Fremdes zurückgewiesen wird, um der Identität des Einheimischen seine Legitimität zu verleihen. Mindestens in Bezug auf die Arbeiten von Axel Honneth ist die Einschätzung der Ausblendung dieser Perspektiven inzwischen zu modifizieren, da er sich in den letzten Jahren explizit mit der jüngeren Rezeption machtanalytischer Vorgehensweisen auseinandergesetzt hat (vgl. Honneth/Saar 2003). SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 266 266 6 System und Subjekt Luhmanns selbst gestellte analytische Aufgabe ist enorm. Denn ihn treibt nicht weniger um, als die Erarbeitung einer universalen Theorie für das Soziale. Es gehe ihm, so formuliert er in der Einleitung zu Soziale Systeme, seines Grundrisses einer allgemeinen Theorie (sic!), um die »Universalität der Gegenstandserfassung in dem Sinne, daß sie als soziologische Theorie alles Soziale behandelt und nicht nur Ausschnitte« (Luhmann 1987: 9). Luhmanns Entwurf einer Systemtheorie ist daher auch in die Gruppe der »Supertheorien« einzuordnen, einem Theorietypus, der »totalisierend verfährt« (Demirovic 2001: 25), indem theoretische Gegenpositionen gleich integriert und re-interpretiert werden, das heißt »sich selbst und ihren Gegensatz selbst erklärt« (Luhmann 1978: 18, zit. nach Demirovic 2001: 25). Auch diese Totalisierung kann theorie-architektonisch faszinieren, bleibt damit doch – zumindest dem eigenen Anspruch nach – keine systematische Lücke offen. 7 Die vorgeschlagene Differenzierung in zwei Rezeptionsphasen ist nicht als eindeutige Chronologie der systemtheoretischen Debatten in der Sozialen Arbeit zu verstehen, sondern als analytische Differenzierung und Klarstellung. Denn die beiden unterschiedenen Rezeptionsstränge verlaufen teilweise parallel nebeneinander her bzw. in gegenseitiger Verschränkung zum gleichen Zeitpunkt. 8 Der konstitutive Ausgangspunkt einer radikal-relationalen Analyseperspektive sind die konfliktiven, ambivalenten, heterogenen und miteinander verstrickten sozialen Praktiken, die zwischen Akteuren und Akteuren und »Dingen« (Bruno Latour) in ihrer permanenten (Re)Produktion existent werden. Theorie-systematisch knüpfen praxistheoretische Perspektiven (vgl. Reckwitz 2003) vor allem an neomarxistische Zugänge (Althusser; Poulantzas), machtanalytische Ansätze (Foucault; Studien zur Gouvernementalität), hegemonietheoretische Entwürfe (Laclau/Mouffe) und sprachanalytische Deutungsmuster (Wittgenstein; Derrida; Butler) an. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 267 System und Subjekt 267 Literatur Bitzan, Maria/Bolay, Eberhard/Thiersch, Hans (Hg.) (2006): Die Stimme der Adressaten: empirische Forschung über Erfahrungen von Mädchen und Jungen mit der Jugendhilfe, Weinheim/München. Bolay, Eberhard/Trieb, Bernhard: Verkehrte Subjektivität: Kritik der individuellen Ich-Identität, Frankfurt a.M./New York 1988. Bommes, Michael/Scherr (2000), Albert: Soziologie der Sozialen Arbeit: eine Einführung in Formen und Funktionen organisierter Hilfe, Weinheim/München 2000. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst: Soziologe einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.. 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SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 271 Vorsorge und Fürsorge Michael Opielka Das Begriffspaar »Vorsorge und Fürsorge« erinnert in seiner Anwendung auf das Feld der Sozialen Arbeit heute an ein weiteres, zeitgemäßer erscheinendes Begriffspaar, nämlich »Prävention und Kompensation«. Im Sinne eines sozialökologischen Nachhaltigkeitsdiskurses kommt dabei der Prävention (ex ante) ein höheres Prestige zu als der Kompensation (ex post), da erstere eine Kosten- wie eine Leidensverringerung erhoffen lässt. In der sozialpolitischen Begriffsgeschichte (dazu Kaufmann 2003) kommen »Vorsorge und Fürsorge« ganz ähnliche Bedeutungen, wenngleich sehr unterschiedliche Verwendungen zu. Üblicherweise wird am deutschen Fall eine institutionelle Trias von »Sozial-/Versicherung, Versorgung, Fürsorge« diskutiert, unterdessen von einigen AutorInnen um den vierten Institutionentyp der »BürgerInnenversicherung« erweitert (Opielka 2004). »Fürsorge« gilt dabei häufig als der älteste Sozialpolitiktyp, zurückgehend auf frühneuzeitliche Versuche, die vor allem religiös basierte Armenfürsorge unter kommunal- oder zentralstaatlicher Aufsicht zu rationalisieren (z.B. Poor Laws, Speenhamland, Elberfelder System, Straßburger System). Der Begriff »Vorsorge« findet sich in der Begriffsgeschichte bislang nicht systematisch eingeführt, kann aber einerseits mit den Systemprinzipien Sozialversicherung und Versorgung verknüpft werden, andererseits aber auch diffus mit marktbasierten Ansparstrategien (z.B. Lebensversicherung) oder öffentlichen Infrastrukturinvestitionen. Das insoweit schillernde Begriffspaar »Vorsorge und Fürsorge« soll daher im Folgenden analytisch als Spannungsfeld nicht nur in einer Zeitachse vorher – nachher, sondern vor allem als analytische Kategorie zur Untersuchung des Spannungsverhältnisses von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit gefasst werden: in beiden SatzBakic.qxd 272 27.02.2008 17:19 Seite 272 Vorsorge und Fürsorge Bereichen ist die Spannung von Prävention und Kompensation angelegt. Der Zusammenhang von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit ist komplex. Zugleich nimmt die Soziale Arbeit im Gesamtgefüge des modernen Sozialstaats eine noch immer unterschätzte Rolle ein. In einem beeindruckenden Vergleich der Entwicklung sozialer Dienste in Deutschland, Frankreich und Großbritannien gelangt Thomas Bahle zu einem Ergebnis, das diese Unterschätzung auf den ersten Blick revidieren kann: »Ohne Zweifel beginnen sich überall die Beziehungen zwischen den wohlfahrtsstaatlichen Sicherungen und der Arbeitswelt zu lösen, die als zentrales Erbe der Industriegesellschaft für den Wohlfahrtsstaat betrachtet werden können. Die sozialen Dienste spielen in dieser Hinsicht eine Pionierrolle, auch deshalb, weil sie niemals eng mit den Erwerbsstrukturen verbunden waren. Insofern können die Sicherungsformen, die sich heute in diesem Bereich ausprägen, durchaus modellgebend für andere Bereiche des Wohlfahrtsstaates sein. (…) Nicht Klassenkonflikte und Statussicherung, sondern die Kooperation zwischen Akteuren und das Ziel der Gleichheit haben die sozialen Dienstleistungen langfristig geprägt. Auf dieser Grundlage könnte es dem Wohlfahrtsstaat gelingen, eine neue institutionelle Basis für das gegenwärtige Jahrhundert zu finden.« (Bahle 2007, 31) Soziale Arbeit als Dienstleistung, genauer: als personenbezogene soziale Dienstleistungsarbeit (Olk/Otto 2003) wird in dieser modernisierungstheoretischen Perspektive sozialpolitisch zentral und optimistisch positioniert. Allerdings zeigt ein genauerer Blick in Bahles Studie, dass die von ihm verwendete Typologie sozialer Dienste – stationär, teilstationär, Tageseinrichtung, ambulant mit den Funktionen Heilen, Pflegen, Wohnen, Betreuen, Erziehen, Beraten, Haushalt, Mobilität, Verpflegung – vor allem hoch standardisierte Dienste erfasst und ausdrücklich »nicht (…) die klassische ›multifunktionale‹ und ›offene‹ Sozialarbeit, die von ihrem Grundverständnis her weder auf bestimmte Funktionen spezialisiert ist SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Vorsorge und Fürsorge Seite 273 273 noch regelmäßig an einem festen Ort stattfindet« (Bahle 2007, 37). Dieser Beschränkung des Begriffs der Sozialen Arbeit muss man jedoch aus zwei Gründen nicht folgen: ihr unterliegt eine Engführung, die mit der Sozialen Arbeit als Disziplin und Profession heute nicht mehr verbunden werden kann (Otto/Thiersch 2001); sie entspricht aber auch nicht einer vor allem im englischsprachigen Raum vertretenen Konzeption der systematischen Verknüpfung von Sozialer Arbeit (social work) und »Sozialer Wohlfahrtspolitik« (Gilbert/Terrell 2005), einer Politik sozialer Dienste, die von Funktionen ausgeht und nicht von einem materialen Professionsmodell. Es erscheint daher möglich, Bahles politisch-analytisches Resümee als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen heranzuziehen, zumal er sich in seiner Arbeit nicht mehr weiter mit der Professionsdimension beschäftigt. Dass »Kooperation zwischen Akteuren und das Ziel der Gleichheit« den Bereich sozialer Dienste prägen und diese damit eine Zukunftssignatur für die Sozialpolitik setzen, erscheint nämlich vielen BeobachterInnen hoch bedroht. Dies gilt vor allem dann, wenn seit Mitte der 1990er Jahre in der Sozialpolitik ein Wandel hin zu einer Politik der »Aktivierung« beobachtet wird, der zunehmend zu einer Sozialpädagogisierung der Sozialpolitik zu führen scheint, allerdings weniger im Sinne eines emanzipativen, an Teilhaberechten orientierten Politikkonzepts, vielmehr als Maßgabe einer sozial-psychischen Steuerungsstrategie, die individuelle Einstellungen und habituelle Orientierungen einer umfassenden Marktorientierung unterwerfen möchte. Prävention wird dann als sozialtechnokratische Disziplinierung gefasst. Dabei wird ein neuer sozialpolitischer Gouvernementalismus, eine Reorientierung der Staatstätigkeit hin zu einem »manageriellen Staat« (Rüb 2003) wahrgenommen, der die Soziale Arbeit selbst auf die Durchsetzung von Marktstrategien hin diszipliniert (Kessl 2005). Diese umfassende »Transformation of the Welfare State« (Gilbert 2002) lässt freilich fra- SatzBakic.qxd 274 27.02.2008 17:19 Seite 274 Vorsorge und Fürsorge gen, ob es nicht doch Sozialpolitikkonzepte geben könnte und ob möglicherweise bereits Anzeichen hierfür zu erkennen sind, die der Sozialen Arbeit nicht nur quantitativen Zuwachs, sondern auch teilhabeorientierte Qualitäten versprechen. Ich möchte dieser Problemstellung in drei Schritten nachgehen. Im ersten Schritt werde ich die ambivalente Beziehung von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit untersuchen und eine Triangulation der Sozialen Arbeit aus sozialpolitischer und soziologischer Sicht vorschlagen. Im zweiten Schritt werde ich dies für die sozialpolitische Perspektive durchführen und im dritten einige Anforderungen an die Professionalität Sozialer Arbeit in einer Bürgergesellschaft skizzieren. Der Optimismus der folgenden Überlegungen speist sich aus einer analytischen Differenzierung. Ich schlage vor, die in der bisherigen Diskussion zum Verhältnis von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit vorherrschende Dichotomisierung Markt-Staat bzw. Trias von Markt-Staat-Gemeinschaft (wobei statt dem soziologischen Steuerungsmodus Gemeinschaft auch von Kooperation, Solidarität oder »Dritter Sektor« die Rede ist), die sich auch in der Wohlfahrtsregimetypologie Gøsta EspingEndersens (liberal-sozialdemokratisch-konservativ) niederschlägt (Esping-Andersen 1990), zu erweitern: um einen vierten Regimetyp des »Garantismus«, der sich um Menschen- und Teilhaberechte und den Steuerungsmodus Ethik konstituiert (Opielka 2004, 2006). Die Frage lautet, ob ein solcher Regimetyp nicht nur eine sozialpolitische Perspektive aufweist, sondern hier vor allem, ob er einer Sozialen Arbeit der Zukunft nützt. Die derzeit verwendeten Zukunftsbegriffe einer »aktivierenden« oder »investiven« Sozialpolitik werden im Licht der »garantistischen« Wohlfahrtsregimekonzeption jedenfalls vorsichtig zu verwenden sein. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 275 Vorsorge und Fürsorge 275 1. Sozialpolitik und Soziale Arbeit: eine ambivalente Beziehung Die sozialpolitische Konstituierung der Sozialpädagogik hat Lothar Böhnisch bereits 1982 ziemlich genau formuliert: »Die Sozialpolitik bildet den historisch-politischen Horizont, vor dem sich die institutionelle Sozialpädagogik entfaltet und der sie gleichzeitig begrenzt.« (Böhnisch 1982, 1) Zugleich diagnostizierte er: »Dass die Sozialpolitik der Zukunft über die ›alte soziale Frage‹ hinaus zu einem verallgemeinerten Lebenslagenbezug und zu einer materiellen Politik sozialer Rechte werden muss und dann nicht mehr im Korsett sozialstaatlicher Balance agieren kann, ist eine historische Notwendigkeit.« (ebd., 153; Herv. M.O.) Jener mehr als ein Vierteljahrhundert alte Optimismus aus der Frühzeit universitärer Sozialpädagogik erscheint heute gebrochen. So ruht Galuskes »Flexible Sozialpädagogik« (Galuske 2002) zwar auf einer systematischen Analyse der Sozialpolitik auf. Deutlich wird hier allerdings eine gegenüber dem frühen Böhnisch markant pessimistischere Zukunftsperspektive der Sozialpolitik, die um Codes wie Neoliberalismus und Bürgerarbeit kreist und der Sozialpädagogik wenig Positives ankündigt, eine sozialpolitische Konstituierung der Sozialpädagogik scheint wenig vorstellbar. Betrachten wir zur Überprüfung dieser Beobachtung den Diskurs um das Verhältnis von Sozialpädagogik und Sozialer Arbeit. Während die Soziale Arbeit zumindest theoretisch – und praktisch in vielen Ländern (Skandinavien, Großbritannien, teils in den USA) – ihren systematischen Bezug zur Sozialpolitik nicht verhehlt, scheint die Sozialpädagogik als erziehungswissenschaftliche Subdisziplin staatsfern: wie ihre große Schwester, die Schulpädagogik, verleugnet sie vor allem in Deutschland ihre Staats- und damit Politikkonstituierung und vergibt sich damit die Chance einer wahrheitsnäheren, also wissenschaftlichen Reflexion ihrer Konstituierung. Eine denkbare Lösung, SatzBakic.qxd 276 27.02.2008 17:19 Seite 276 Vorsorge und Fürsorge nämlich die Integration von Fachhochschul- und Universitätsausbildung in Professional Schools der Universitäten, unter mehr oder weniger dauerhafter Mitwirkung der Fachhochschulstrukturen, wird hierzulande noch wenig angedacht. Ein positives Beispiel ist das von Fabian Kessl als drittes Szenario einer Nach-Bologna-Entwicklung skizzierte Modell: »Fachhochschulen und Universitäten koordinieren ihre Bachelor- und Masterstudiengänge bundes- und landesweit. Die jeweils konkreten Kooperationsformen zwischen den beteiligten Hochschulen werden regional ausgehandelt und umgesetzt. (…) Der gemeinsam formulierte Slogan lautet: Für das kämpfen, was Wohlfahrtsstaatlichkeit sein könnte.« (Kessl 2006, 82) Kessl kann sich dabei auf die »Münsteraner Erklärung« des 6. Bundeskongresses Soziale Arbeit 2005 beziehen, in der gefordert wird, die »Qualifizierung des beruflichen Nachwuchses und die gemeinsame Weiterentwicklung Sozialer Arbeit durch ›Schools‹ oder ›Departments‹ auf universitärem Niveau zu gewährleisten« (Münsteraner Erklärung 2005, 2). Dass Kessl diesem Szenario »am wenigsten Realisierungschancen« (Kessl 2006, 83) gibt, liegt auch an der geringen Forschungsbasis der Fachhochschulen, so dass die universitären Vertreter der Sozialen Arbeit Reputationsminderungen fürchten. Letztlich würde das Szenario bedeuten, die Fachhochschulen – zumindest deren Bereiche der Sozialen Arbeit – in diese Schools aufzulösen. Die österreichische und auch die schweizerische Hochschulpolitiken wiederholen seit den 1990er Jahren leider die deutschen Erfahrungen, sie bauen einseitig auf Fachhochschulen und vernachlässigen damit die akademische Präsenz der Sozialen Arbeit. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Seite 277 Vorsorge und Fürsorge 277 2. Vorsorge und Fürsorge: Sozialpolitische Reflexion Sozialpolitik wurde und wird mit präventiven, also vorsorgenden Wirkungen begründet. Sie soll Kriminalität verhindern, Demokratie und Frieden bewahren und Fundamentalismen überflüssig machen. Zudem soll sie nachgehende, reparierende und insoweit fürsorgende Interventionen vermeiden. Dahinter stehen zwei starke Annahmen, eine empirische und eine theoretische. Die starke empirische Annahme besteht darin, dass sozialpolitische Interventionen soziale Wirkungen haben. Die starke theoretische Annahme besteht in einem Standardkonzept gleichheitsorientierter Normalität, dessen Abweichungen Intervention begründen, wobei sich dabei noch eine sozialtechnokratische und eine sozialutopische Variante unterscheiden lassen. Befürworter und Kritiker beider Annahmen finden sich in der sozialpolitischen, sozialpädagogischen und soziologischen Literatur. Eine Neuorientierung der Diskussionslage dürfte sich nach 1989, dem Zusammenbruch der klassischen KapitalismusKommunismus-Dualität, insoweit ergeben haben, als die Standardkonzepte von Normalität neu justiert wurden. Die sozialutopische Wirkungsvariante scheint erschöpft, der Fortfall des kompetitiv sozialistischen Musters führte zu einer Reformulierung sozialreformerischer Programmatiken (»Workfare statt Welfare«, Mindest- statt Lebensstandardsicherungen, Marktsteuerung, investive Sozialpolitik usf.). Sie lassen sich als eine Konzentration sozialpolitischer Interventionen zugunsten von mehr oder eben weniger voraussetzungsvollen sozialen Garantien beschreiben. Allerdings müssen sich auch diese der genannten empirischen und theoretischen Kritik stellen. Prävention wird dabei methodisch von Intervention abgegrenzt, unterliegt allerdings einem »generellen Gefährdungsverdacht« (Böllert 2001, 1397), weil Handlungs- und Verursachungsketten sozialer Probleme meist nicht eindeutig, Präventions- SatzBakic.qxd 278 27.02.2008 17:19 Seite 278 Vorsorge und Fürsorge bemühungen damit häufig unspezifisch angelegt sind. Am Beispiel von zwei Politikfeldern – Gesundheit und Armut – werden nun empirische und theoretische Annahmen kontrastiert: was genau wird unter sozialen Garantien bzw. sozialen Grundrechten in diesen Politikfeldern diskursiv verhandelt? Welche Präventionswirkungen werden damit jeweils verknüpft? Welche empirischen und welche theoretischen Evidenzen werden in den Diskursen vorgetragen? Welche Rolle spielen sozialpolitische Diskurse in diesem Zusammenhang? Im Gesundheitsbereich, der unterdessen (einschließlich der Rehabilitation) zum zweitgrößten sozialpädagogischen Arbeitsfeld nach der Jugendhilfe wuchs (Schröer/Sting 2006, 25ff.), lassen sich die stärksten Traditionen des Themas Prävention beobachten. Die Erwartungen an Leistungssteigerungen und Kostensenkungen durch Prävention sind hoch. Zugleich soll »hohe Lebensqualität« gesichert, wie eine Reduzierung von »20 bis 30 Prozent der heutigen Gesundheitsausgaben in Deutschland« (Klotz u.a. 2006, 608) ermöglicht werden. Der Präventionsdiskurs wird im Diskurs der neueren Medizin und Gesundheitswissenschaft als »Gesundheitsförderung« geführt (Hurrelmann u.a. 2004), entfernt sich damit von verhaltensmoralischen und punitiven Diskursen, die auch in der sozialpädagogischen Literatur als körperbezogene Sozialdisziplinierung kritisch reflektiert wurden und werden (Hirschler/Homfeldt 2006). Möglicherweise hat der sozial- und gesundheitspolitische Diskurs auf jene Kritik reagiert und die individualistische Perspektive der Lebensqualität dagegen in Anschlag gebracht. Allerdings haben sich seitdem auch die gesundheitspolitischen Koordinaten verschoben. Zunehmend erscheint das Problem der Rationierung, einer institutionalisierten Dauer-Triage die sozialpolitischen Garantien auf eine bestmögliche Gesundheitsversorgung für jede und jeden zu unterminieren. Bezogen auf unsere Fragestellung heißt das: SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Vorsorge und Fürsorge • • • • Seite 279 279 Der sozialpolitische Diskurs fokussiert auf Kostenbegrenzung; Gesundheitsförderung und Prävention sollen zugleich individuelle Lebensqualität und kollektive Kostensenkung organisieren. Eine Skalierung beider Ziele und eine systematische Diskussion ihrer Optimierung geschieht kaum; empirische und theoretische Evidenzen für die Wirksamkeit von Prävention sind hoch. Dies gilt allerdings eher für die Zieldimension Lebensqualität als für diejenige der Kostensenkung; sozialpolitische Diskurse scheinen von erheblicher Bedeutung. Die Integration beispielsweise der Gesundheitsförderung in die Ausbildungsordnungen der medizinischen Profession (Hurrelmann u.a. 2004) kann als Langzeitergebnis der Präventionsdiskurse der 1970er und 1980er Jahre gelten. Die deutsche Dominanz von arbeitnehmerfinanzierten Sozialversicherungen und die Möglichkeit deren Mittel zu verteilen ohne in den sichtbareren Steuerhaushalt eingreifen zu müssen, reduzieren zwangsläufig die Reichweite von Prävention. Empirisch erweisen sich hier Systeme der Bürgerversicherung – wie in der österreichischen und schweizerischen Kassenfinanzierung (Opielka 2004, Carigiet/Opielka 2006) – oder auch der Steuerfinanzierung – wie in Großbritannien – als überlegen. Bereits das weiter oben genannte Zitat von Böhnisch zu einer »materiellen Politik sozialer Rechte« (Böhnisch 1982, 1) bezog sich auf soziale Garantien gegen Armut. Seitdem haben sich die Diskurse ausdifferenziert. Im sozialdemokratischen Mainstream der modernen Sozialpädagogik wird zwar die Exklusionsneigung des lohnarbeitszentrierten Sozialstaatsmodells reflektiert. Allerdings verbleiben die Konzepte sozialer Garantien gewöhnlich innerhalb dieses Modells, dessen mangelhafte armutspräventive Wirkung nicht zuletzt mit dem SatzBakic.qxd 280 27.02.2008 17:19 Seite 280 Vorsorge und Fürsorge Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der deutschen Bundesregierung (2005) evident wurde. Starke Annahmen über präventive Wirkungen wurden mit den sozialdemokratischen Konzepten des »aktivierenden Sozialstaats« verbunden. Aktivierungskonzepte existieren jedoch in allen politischen Lagern, gleichwohl mit sehr unterschiedlichen Annahmen und Effekten. Die von EspingAndersen mit dem Begriff der »Dekommodifizierung« beschriebene Zentralfunktion des modernen Wohlfahrtsstaates – die Reduzierung der Arbeitsmarktabhängigkeit der Ware (commodity) Arbeitskraft durch arbeitsmarktexterne Existenzsicherungsoptionen – (Esping-Andersen 1990), wurde durch die Aktivierungs-Agenda in eine Re-Kommodifizierung verdreht (ders. 2002). Entscheidend erscheint dabei die Alternativlosigkeit, mit der diese Agenda im politischen wie im sozialpolitikwissenschaftlichen Kontext behauptet wird. Bezogen auf unsere Fragestellung heißt das: • • • Der Mainstream des neueren Armutsdiskurses rekonstruiert Armut im Wesentlichen als Mangel existenzsichernder Arbeitsplätze. Durch »Aktivierung« und »workfare« soll eine umfassende Teilnahme bzw. Teilhabe am Arbeitsmarkt und darüber die Beseitigung von Armut erreicht werden. Der hierzu alternative, »garantistische« Diskurs um Grundeinkommen bezweifelt mit dem Verweis auf die »Working Poor« die behauptete Integrationskraft des Arbeitsmarktes für die Gesamtbevölkerung und empfiehlt auch deshalb eine Lockerung des Arbeitsbegriffs; die Präventionswirkungen des »Aktivierungs«-Diskurses zielen auf die Wiederherstellung von Vollbeschäftigung, diejenigen des konkurrierenden Grundeinkommensdiskurses auf die Universalisierung sozialer Bürgerrechte; empirische Evidenzen sind für beide Positionen widersprüchlich. Theoretische Evidenzen sprechen eher für die SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Vorsorge und Fürsorge • Seite 281 281 »garantistische« Position, da diese mit einer individualistischen und expressiven Sozialmoral moderner Bürger eher übereinstimmt; sozialpolitische Diskurse konstituieren auch hier die politische Wirklichkeit. Insoweit sich die Soziale Arbeit dem Rekommodifizierungsprogramm widersetzt, geschieht dies unter dem Verweis auf die Verletzung von Grundrechten. Irritierenderweise übersehen die meisten ihrer kritischen Vertreter (z.B. Cremer-Schäfer 2006, Dahme u.a. 2003), dass die von ihnen postulierte oder zumindest als verschwindend bedauerte »alte«, nämlich sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatlichkeit selbst fundamental an die Lohnarbeitszentrierung gebunden war. Die nun verstärkte Kopplung von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik stellt insoweit nur eine Neuakzentuierung des Arbeits- und Leistungsethos der produktivistischen Arbeiterbewegung um eine liberale Annahme des »Sieges des Kapitalismus« nach 1989-90 dar. Eine wohlfahrtsregimetheoretische Verortung dieser Diskurse kann diese Unklarheiten mindern. Sie zeigt, dass die Garantie von Grundrechten bisher im Sozialstaat zu wenig entwickelt wurde. Amartya Sens in der Sozialpolitikdebatte zunehmend reüssierender Fähigkeitenansatz (»capability approach«) erscheint vor diesem Hintergrund nicht einfach nur als eine Auflistung kluger Teilhabeansprüche ohne systematische Rangordnung (so Hirschler/Homfeldt 2006, 50), sondern als »garantistisches« Programm (Opielka 2004, 232), das gegen die Dominanz der etablierten Trias der Wohlfahrtsregime (sozialdemokratisch, liberal, konservativ) stark gemacht werden sollte. SatzBakic.qxd 282 27.02.2008 17:19 Seite 282 Vorsorge und Fürsorge 3. Professionalität Sozialer Arbeit in der Bürgergesellschaft In einem widersprüchlichen, keineswegs immer linearen, modernisierungstheoretischen Annahmen folgenden Prozess haben sich soziale Grundrechte auf die Agenda geschoben, meist bewusst intendiert durch soziale Akteure, nicht selten freilich als Nebenfolge rein funktional gedachter Entscheidungen. Es ist dieser komplexe Prozess, den »NeoInstitutionalisten« in der Soziologie und den Politikwissenschaften fokussieren und dabei feststellen, wie eine »Weltkultur« (Meyer 2005) entstand, die den Kern des »Europäischen Sozialmodells« kulturell einschließt – trotz scheinbarer Gegenbewegungen. Jener Kern ist die Gleichheit des Menschen, sind Freiheit und Solidarität, gleichsam die Werte der Französischen Revolution, von Christentum und Aufklärung, die sich in den Menschenrechten universalisierten und in anderen Kultur- und Religionskreisen auch deshalb auf Resonanz stoßen, weil sie die Wirklichkeit auf den Begriff bringen. Die beiden diskutierten Fragestellungen (Gesundheit, Armut) rekonstruierten sozialpolitische Wertkonflikte, die nicht nur zwischen individuellen und kollektiven Akteuren, sondern auch je in ihnen selbst beobachtet werden können (Meyer 2004, 73; Opielka 2007). Die Soziale Arbeit befindet sich heute in einer unerfreulichen Opferrolle gegenüber Sozialreformen, die den sozialen Status ihrer Klienten abwerten. Der Grund für dieses tendenzielle Versagen liegt in ihrer Depolitisierung und ihrer Deprofessionalisierung. Depolitisierung deshalb, weil weder die praktischen noch die akademischen VertreterInnen der Disziplin bewusst die Abwertung ihrer KlientInnen wollen, zugleich aber zu wenig politische Reflexivität gelehrt und kommuniziert wird. Deprofessionalisierung deshalb, weil die deutschsprachige Soziale Arbeit – ganz anders als bspw. Social Work in den USA – ihre fehlende, auf die eher forschungs- SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:19 Vorsorge und Fürsorge Seite 283 283 schwachen Fachhochschulen begrenzte Akademisierung oft auch noch mit dem naiven Verweis auf Praxisnähe begrüßt. In einer Wissensgesellschaft ist damit die systemische Bedeutungsarmut programmiert. Der Trend zur Personenzentrierung, wie er in der Sozialpsychiatrie und teils der Jugendhilfe zu beobachten ist, bietet daher unter dem Fokus Vorsorge und Prävention Chancen für eine kontextuierte und zugleich individualisierte Soziale Arbeit. Eine Reihe neuer, auch in der Sozialgesetzgebung verankerter Instrumente wie der »Integrierte Behandlungs- und Rehabilitationsplan (IBRP)«, »Individuelle Hilfepläne (IHP)«, »Persönliche Budgets (PB)« und die »Hilfeplankonferenz (HPK)« sind Bestandteil einer Neuorientierung sozialer und gesundheitlicher Dienstleistungen, die von vielen Beobachtern als Ausdruck einer zunehmenden Marktorientierung verstanden werden, teils eingebaut in »Neue Steuerungsmodelle« vor allem der kommunalen Sozialpolitik wie »New Public Management (NPM)« und einer zielgesteuerten Unternehmensführung (Management by Objectives, MBO; Qualitätsmanagement) in sozialen Einrichtungen (Seim 2000, Otto/Schnur 2000). Kritiker rechnen das Konzept der »Evidenzbasierten Sozialen Arbeit« umstandslos in die Kategorie der neoliberalen Refigurationen des Sozialen (Ziegler 2006). Doch lassen sich die Diskurse um eine Wirkungsorientierung der Sozialen Arbeit keineswegs ausschließlich neo-bürokratisch und neoliberal verorten, sie beinhalten auch die Chancen zu einer Neuformulierung von Professionalität Sozialer Arbeit (Otto 2007). Von besonderer Bedeutung für die Soziale Arbeit erscheint dabei das Instrument der Evaluation, insbesondere in seiner Ausprägung als qualitative Evaluationsforschung (Opielka u.a. 2007). Die gegenwärtig spürbare Beunruhigung unter den MitarbeiterInnen der Sozialen Arbeit hat ihre Ursache darin, dass hinter den neuen Entwicklungen letztlich fiskalische Sparinteressen stehen. Effizienzsteigerung durch bürokratische SatzBakic.qxd 284 27.02.2008 17:20 Seite 284 Vorsorge und Fürsorge Prozeduren wird bezweifelt. Der Grund liegt in einem Misstrauen gegenüber der »großen« Sozialpolitik. Dieses Misstrauen ist nicht unberechtigt. Seit Mitte der 1990er Jahre, nicht zufällig auch seit dem Ende der Ost-/West-Blockkonfrontation und dem weltweiten »Sieg des Kapitalismus«, hat sich in den westlichen Wohlfahrtsstaaten die Rhetorik »from welfare to workfare«, ein Paradigma der »Aktivierung«, eines »aktivierenden Sozialstaats« durchgesetzt (Opielka 2004). Diese »Transformation des Wohlfahrtsstaats« (Gilbert 2002) zielt darauf hin, die Erwerbs- oder besser: Lohnarbeitszentrierung der Sozialpolitik wieder verschärft durchzusetzen. Die VertreterInnen dieser Transformation wollen die Prozesse sozialpolitischer »Dekommodifizierung« rückgängig machen. Was in den politischen Diskursen als »neoliberal« bezeichnet wird, meint in der Regel den Kampf für ein möglichst liberales Wohlfahrtsregime, das auf Leistungsgerechtigkeit (am Markt) abhebt und die Idee der »Eigenverantwortung« verallgemeinert, auch wenn die Eigenkräfte ungleich verteilt sind. Hier liegt nun der Grund für das Unbehagen vieler politisch sensibler Mitarbeiter und Betroffener im Sozialbereich. Man spürt, dass die Legitimität sozialpolitischer Investitionen immer wieder neu erkämpft werden muss. Wer sich advokatorisch, anwaltlich auf die Seite der sozial Schwächsten stellt, benötigt einen gesellschaftspolitisch sensiblen und kenntnisreichen Blick. Zur professionellen Dienstleistungskunst gehört, die Teilhaberechte der KlientInnen mit anderen Rechten und Pflichten abzuwägen. Sie, die Professionellen, »müssen lernen, eine feine Linie zu ziehen zwischen zu offen formulierten Kontrakten einerseits, in denen Profitmotive einfließen und durch Qualitätsminderung Kostenersparnisse erzwungen werden können, und den zu restriktiv formulierten Kontrakten andererseits, durch die eine Kommodifizierung sozialer Hilfen entsteht, welche die Rolle professioneller Praxis schwächt und die Qualität sozialer Dienste mindert.« (Gilbert 2000, 153) SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:20 Seite 285 Vorsorge und Fürsorge 285 Die sozialpolitische Konfiguration, die für die Soziale Arbeit zukunftsträchtig erscheint, kann dabei als »garantistisch« bezeichnet werden. Der Fokus auf das Individuum wird darin selbst systemisch, funktional gefasst, Individualisierung also gesellschaftlich kontextuiert. »Garantismus« heißt zunächst, dass wohlfahrtsstaatliche Sicherung im Kern an Grundrechten gebunden ist und nicht an das Erwerbssystem. Dass dies historisch auch die Agenda sozialer Dienste und damit der Sozialen Arbeit bildet, sollte als motivierende Erkenntnis für die Zukunft des Sozialstaats gelten können. Literatur Bahle, Thomas, 2007, Wege zum Dienstleistungsstaat. Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Vergleich, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Böhnisch, Lothar, 1982, Der Sozialstaat und seine Pädagogik. Sozialpolitische Anleitungen zur Sozialarbeit, Neuwied/Darmstadt: Luchterhand Böllert, Karin, 2001, Prävention und Intervention, in: Otto/Thiersch 2001, 1394-1398 Carigiet, Erwin/Opielka, Michael, 2006, Deutsche Arbeitnehmer – Schweizer Bürger?, in: Carigiet, Erwin/Mäder, Ueli/Opielka, Michael/Schulz-Nieswandt, Frank (Hg.), Wohlstand durch Gerechtigkeit. 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Drei Szenarien zur Zukunft der Studiengänge im Feld Sozialer Arbeit, in: Schweppe/Sting 2006, 71-87 Klotz, Theodor/Haisch, Jochen/Hurrelmann, Klaus, 2006, Prävention und Gesundheitsförderung: Ziel ist anhaltend hohe Lebensqualität, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 103, 10, A606-609 Meyer, John W., World Society, the Welfare State and the Life Course. An Institutionalist Perspective, Social World – Working Paper No. 9, Bielefeld: Universität Bielefeld ders., 2005, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt: Suhrkamp Münsteraner Erklärung, 2005, Die Zukunft der Sozialen Arbeit gemeinsam gestalten. Zu den Aufgaben der Hochschulen in der Neubestimmung der Qualifizierungslandschaft, http://www.bundeskongress-sozialearbeit.de/muensteranererklaerung.pdf Olk, Thomas/Otto, Hans-Uwe (Hg.), 2003, Soziale Arbeit als SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:20 Seite 287 Vorsorge und Fürsorge Dienstleistung. Grundlegungen, 287 Entwürfe und Modelle, München/Unterschleißheim: Luchterhand Opielka, Michael, 2004, Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichende Perspektiven, Reinbek: Rowohlt ders. (Hg.), 2005, Bildungsreform als Sozialreform. Zum Zusammenhang von Bildungs- und Sozialpolitik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften ders., 2006, Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften ders., 2007, Kultur versus Religion? Soziologische Analysen zu modernen Wertkonflikten, Bielefeld: transcript ders./Müller, Matthias/Henn, Matthias, 2007, Bedarf und Implementation von Evaluation in der Sozialen Arbeit. Forschungsbericht, Jena: Fachhochschule Jena Otto, Hans-Uwe, 2007, Zum aktuellen Diskurs um Ergebnisse und Wirkungen im Feld der Sozialpädagogik und Sozialarbeit – Literaturvergleich nationaler und internationaler Diskussion. Expertise im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (unter Mitarbeit von Stefanie Albus, Andreas Polutta, Mark Schrödter, Holger Ziegler), Berlin: AGJ ders./Oelerich, Gertrud/Micheel, Heinz-Günter (Hg.), 2003, Empirische Forschung und Soziale Arbeit. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, München/Unterschleißheim: Luchterhand ders./Schnur, Stephan (Hg.), 2000, Privatisierung und Wettbewerb in der Jugendhilfe. Marktorientierte Modernisierungsstrategien in internationaler Perspektive, Neuwied/Kriftel: Luchterhand, ders./Thiersch, Hans (Hg.), 2001, Handbuch der Sozialarbeit/ Sozialpädagogik, 2. Aufl., Neuwied/Kriftel: Luchterhand Rüb, Friedbert, 2003, Vom Wohlfahrtsstaat zum ›manageriellen Staat‹? Zum Wandel des Verhältnisses von Markt und Staat in der deutschen Sozialpolitik, in: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 34, 256299 Schröer, Wolfgang/Sting, Stephan, 2006, Vergessene Themen der Disziplin – neue Perspektiven für die Sozialpädagogik?, in: Schweppe/Sting 2006, 17-30 SatzBakic.qxd 27.02.2008 288 17:20 Seite 288 Vorsorge und Fürsorge Schweppe, Cornelia/Sting, Stefan (Hg.), 2006, Sozialpädagogik im Übergang. Neue Herausforderungen für Disziplin, Profession und Ausbildung, Weinheim/München: Juventa Seim, Sissel, 2000, Marktförmige Steuerungsmodelle und Nutzerpartizipation – Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Otto/Schnur 2000, 155-173 Ziegler, Holger, 2006, Evidenzbasierte Soziale Arbeit. Über managerielle Praktiken in neo-bürokratischen Organisationen, in: Schweppe/Sting 2006, 139-155 SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:20 Seite 289 AutorInnen Baig, Samira, Mag.a, Studium der Psychologie, Lektorin am Studiengang Sozialarbeit der FH Campus Wien, Supervisorin & Coach in freier Praxis, Stv. Leitung des arbeitspsychologischen Zentrums der Health Consult Ges.m.b.H. Forschungsschwerpunkte: Diversitykompetenz in Supervision, Coaching und Beratung; sozialpsychologische Aspekte von Managing Diversity und Interkulturalität. Bakic, Josef, Dr., Studium der Pädagogik und Psychologie, Studiengang Soziale Arbeit an der FH Campus Wien, Nebenberuflicher Lektor am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien. Mitbegründer des Vereins KriSo – Kritische Soziale Arbeit. Forschungsschwerpunkte: Beruf und Bildung, Theorien Sozialer Arbeit, aktuelle Herausforderungen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Bettinger, Frank, Prof. Dr., Studium der Pädagogik, Sozialpädagogik und Sozialwissenschaften, Fachbereich Sozialpädagogik/Sozialarbeit an der EFH Darmstadt, Vorstandsmitglied im Bremer Institut für Soziale Arbeit und Entwicklung (BISA+E) an der Hochschule Bremen; Mitarbeit im Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit (AKS); Forschungsschwerpunkte: Kritische Kriminologie und Soziale Arbeit; Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Brückner, Margrit, Prof.in Dr.in, Studium der Soziologie, Gruppenanalytikerin und Supervisorin (DGSv), Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der Fachhochschule Frankfurt. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse; Frauen und Geschlechterforschung Häusliche Gewalt; das Unbewusste in Institutionen; Internationale Care-Debatte. Diebäcker, Marc, Dipl.-Soz.-Wiss., Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Sozialen Arbeit, Studiengang Soziale Arbeit an der FH SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:20 Seite 290 290 AutorInnen Campus Wien. Mitbegründer des Vereins KriSo – Kritische Soziale Arbeit. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorien, Staat und Soziale Arbeit; Sozialpolitik; Sozialraum & Politischer Raum; Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit. Dimmel, Nikolaus, Prof. DDr., Studium der Rechtswissenschaften, Politikwissenschaft und Soziologie, Diplomierter Sozialmanager, Rechtswissenschaftliche Fakultät an der Universität Salzburg, Leiter der Lehrgänge für Sozialmanagement und Migrationsmanagement an der der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Wohlfahrtsstaat; Sozialpolitik und Sozialrecht; Sozialmanagement und Soziale Dienste; Armut und soziale Kontrolle; Arbeitsmarktpolitik & Workfare. Dzierzbicka, Agnieszka, Univ.-Ass.in Dr.in, Studium der Pädagogik, Soziologie und Politikwissenschaft, Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Vertrags- und Vereinbarungskultur; Cultural Studies und Gouvernementalität. Egger, Rudolf, Ao.Univ.-Prof. Dr., Studium der Pädagogik, Soziologie und Betriebswirtschaftslehre, Institut für Erziehungswissenschaft an der KarlFranzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Biographie- und Evaluationsforschung; Wissenschaftstheorie; Interpretative Sozialforschung; Methoden der Erziehungswissenschaft. Fürst, Roland, Mag.(FH) DSA, Studium der Sozialarbeit und Sozialwissenschaften, Department Soziale Arbeit an der FH Campus Wien. Forschungsschwerpunkte: Methoden und Theorie der Sozialen Arbeit; Sozialmanagement & Öffentlichkeitsarbeit; Soziale Arbeit im Zwangskontext/Kontrollauftrag; aktuelle Diskurse in der Sozialen Arbeit und Sozialpolitik. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:20 Seite 291 AutorInnen 291 Galuske, Michael, Prof. Dr. phil., Studium der Sozialpädagogik und Germanistik, Institut für Sozialpädagogik und Soziologie der Lebensalter an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Modernisierungstheorie; Arbeitslosigkeit und arbeitsgesellschaftlicher Wandel; Armut und Ausgrenzung; Methoden Sozialer Arbeit; Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe. Hammer, Elisabeth, DSAin, Mag.a, Studium der Sozialarbeit und Ökonomie, Studiengang Soziale Arbeit an der FH Campus Wien. Mitbegründerin des Vereins KriSo – Kritische Soziale Arbeit. Forschungsschwerpunkte: Sozialpolitik und Ökonomie; Armut und soziale Sicherung, aktuelle Diskurse in Sozialpolitik und Sozialer Arbeit. Kessl, Fabian, M.A. Dr., Studium der Erziehungswissenschaften und Politikwissenschaften, Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: (Politische) Theorie Sozialer Arbeit, Empirie der Lebensführung, Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit. Kolland, Franz, Ao.-Prof. Dr., Studium der Soziologie, Universitätsprofessor am Institut für Soziologie der Universität Wien; Forschungsschwerpunkte: Alterns- und Lebenslaufforschung; Entwicklungssoziologie. Opielka, Michael, Prof. Dr. rer. soc, Studium der Rechtswissenschaften, Erziehungswissenschaften, Ethnologie/Anthropologie, Philosophie und Soziologie, Fachbereich Sozialwesen an der Fachhochschule Jena, Lehrbeauftragter an der Universität Bonn (Master Sozialmanagement); Geschäftsführer des Instituts für Sozialökologie in Königswinter. Forschungsschwerpunkte: Sozialpolitik, soziologische Theorie, Psychoanalyse, Religions- und Kultursoziologie. Rosenbauer, Nicole, Dr.in, Studium der Erziehungswissenschaft, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Pädagogik der Frühen Kindheit (ISEP) an der Technischen Universität Dortmund. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:20 Seite 292 292 Forschungsschwerpunkte: AutorInnen Organisationstheorie und -forschung; Professionalisierung Sozialer Arbeit; Kinder- und Jugendhilfeforschung; Hilfen zur Erziehung. Scherr, Albert, Prof. Dr., Studium der Soziologie, Direktor des Instituts für Sozialwissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Gesellschafts- und Subjekttheorie; Theorien der Sozialen Arbeit; Bildungsforschung; Fremdheitskonstruktionen und Rassismus in der Einwanderungsgesellschaft. Stelzer-Orthofer, Christine, Ass.-Prof.in Dr.in, Studium der Sozialwirtschaft, Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik an der Johannes Kepler Universität Linz. Forschungsschwerpunkte: Armut; Arbeitslosigkeit; Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik; Winkler, Michael, Prof. Dr., Studium der Pädagogik, Germanistik, Geschichte und Philosophie, Institut für Erziehungswissenschaft, Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik an der Friedrich Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Pädagogik und der Sozialpädagogik; pädagogische Gegenwartsdiagnose; Hilfen zur Erziehung; Übergänge von Ausbildung in Beruf. SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:20 Seite 293 SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:20 Seite 294 SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:20 Seite 295 SatzBakic.qxd 27.02.2008 17:20 Seite 296