Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit

Transcription

Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 1
Aktuelle Leitbegriffe der
Sozialen Arbeit
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 2
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 3
Josef Bakic, Marc Diebäcker,
Elisabeth Hammer (Hg.)
Aktuelle Leitbegriffe der
Sozialen Arbeit
Ein kritisches Handbuch
Löcker
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 4
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie des Magistrats der Stadt Wien, MA 7, Wissenschafts- und Forschungsförderung.
© Erhard Löcker GesmbH, Wien 2008
Herstellung: Gemi S.R.O., Prag
ISBN 3-85409-477-7
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 5
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Aktivierung und soziale Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Christine Stelzer-Orthofer
Auftrag und Mandat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Frank Bettinger
Biografie und Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Rudolf Egger
Case Management und Clearing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
Roland Fürst
Diagnose und Sozialtechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Michael Galuske, Nicole Rosenbauer
Diversity und Ausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Samira Baig
Ideologiekritik und Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . 106
Albert Scherr
Management und Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Michael Winkler
Neue Unterschicht und soziale Sicherung . . . . . . . . . . . 137
Elisabeth Hammer
Norm und Abweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
Franz Kolland
Prävention und Disziplinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
Agnieszka Dzierzbicka
Profession und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Margrit Brückner
Qualität und Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
Josef Bakic
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 6
Recht und Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
Nikolaus Dimmel
Sozialraum und Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Marc Diebäcker
System und Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
Fabian Kessel
Vorsorge und Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Michael Opielka
AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 7
Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit
Ein kritisches Handbuch
Vorwort
»Das Verzweifelte, daß die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist,
gewährt paradox die Atempause zum Denken,
die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre«
(Theodor W. Adorno 1975 [1966], 243)
Soziale Arbeit ist eng an gesellschaftliche, ökonomische und
staatliche Bedingungen gekoppelt und hat sich im Laufe der
Geschichte zu einem vielschichtigen Feld sozialer Praxis entwickelt. Die gegenwärtigen Transformationsprozesse sind von
einer ökonomisierenden Logik gekennzeichnet, die Ungleichheiten und Marginalisierungsprozesse verschärfen. Über den
Staat, der einer neoliberalen Regierungsrationalität folgt, wird
auch das Feld der Sozialen Arbeit geprägt und verfremdet. Vor
dem Hintergrund des Abbaus staatlicher Unterstützungssysteme und der Kürzung bzw. Nichtanpassung sozialer
Ausgaben verändern sich Inhalte und Formen sozialarbeiterischer Handlungsbezüge u.a. im Sinne ökonomisierter und ordnungs- bzw. sicherheitspolitischer Logiken.
Wir – die HerausgeberInnen – haben uns die letzten Jahre intensiv mit diesen Transformationsprozessen auseinandergesetzt
und unter anderem die »Wiener Erklärung zur Ökonomisierung
und Fachlichkeit in der Sozialen Arbeit« (Bakic/Diebäcker/
Hammer 2007) in die Diskussion eingebracht. Wir sind angesichts der aktuellen Bedingungen der Überzeugung, dass sich
Soziale Arbeit mit ihren gesellschaftlichen Aufträgen bzw.
Aufgaben in ihrer politischen Bedeutung kritisch auseinandersetzen und eine selbstbestimmte kritisch-reflexive Theorie und
Praxis entwickeln muss, die ihr eigenes Verwobensein in neoliberale Politiken erkennt. Dann wird Soziale Arbeit dazu beitra-
SatzBakic.qxd
8
27.02.2008
17:19
Seite 8
Vorwort
gen können, gesellschaftliche Widersprüche und Interessenskonflikte sowie soziale Ungleichheiten und Ausschließungsprozesse aufzudecken und das Soziale auch im Sinne von
KlientInnen mitzugestalten. Diese politische Dimension ist
unseres Erachtens untrennbarer Teil eines fachlichen Selbstverständnisses Sozialer Arbeit, die sich der Förderung der
menschlichen Entwicklung verpflichtet fühlt, sich schwerpunktmäßig mit individuellen Krisen und sozialen Problemlagen beschäftigt, sie sichert und soziale Bedingungen dort
strukturiert, wo die Anforderungen gesellschaftlichen Lebens
die Möglichkeiten der Selbstbehauptung von Einzelnen oder
Gruppen übersteigen.
In diesem Kontext war es für uns logische Folge, dass es mehr
denn je notwendig ist, jene Begrifflichkeiten kritisch zu analysieren, die in Theorie und Praxis Sozialer Arbeit Konjunktur
haben. Denn angesichts einer Hegemonie neoliberalen Regierens werden fachliche Konzepte oder Diskurse von einer,
auf den ersten Blick nicht wahrnehmbaren, ideologischen
Folie eingehüllt. Der Anspruch der vorliegenden Sammlung
ist es daher, ausgewählte Diskurse oder Konzepte kritisch auf
ihr theoretisches wie ideologisches Fundament hin zu analysieren sowie ihre gesellschaftspolitische Bedeutsamkeit mit
Bezügen zu den Arbeitsbereichen der Sozialen Arbeit zu veranschaulichen. Die Integration von unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven und Expertisen aus Feldern der
Sozialen Arbeit war hierfür nötig und soll dazu beitragen, eine
Lücke in der deutschsprachigen Auseinandersetzung zu
schließen.
Angeregt durch aktuelle Glossarabhandlungen in den Sozialwissenschaften wie dem 2004 erschienenen Band »Glossar der
Gegenwart«, herausgegeben von Ulrich Bröckling, Susanne
Krasmann und Thomas Lemke bzw. der z.T. direkten
Mitwirkung beim bildungswissenschaftlichen Pendant »Pädagogisches Glossar der Gegenwart«, herausgegeben von
Agnieszka Dzierzbicka und Alfred Schirlbauer 2006, lag eine
SatzBakic.qxd
27.02.2008
Vorwort
17:19
Seite 9
9
Strukturierung durch Leitbegriffe auf der Hand. Bei der
Auswahl der Begriffe war es uns aber ein Anliegen – Soziale
Arbeit als junge Disziplin muss ›innovativ‹ sein –, diese nicht
nur aneinanderzureihen, sondern in einem Spannungsfeld
zweier Begrifflichkeiten abbilden und aufarbeiten zu lassen.
Die AutorInnen wurden von uns also zur Herausforderung
genötigt, immer zwei aktuell wirkmächtige, sich aufeinander
beziehende Begriffe parallel zu analysieren und ihre Verflechtung aufzuzeigen. In jedem Fall sind die ausgewählten Begrifflichkeiten, angesichts ihrer derzeitigen ideologischen
Bedeutungszuweisung und Verwendung, als hybrid zu bezeichnen.
Eine erste Sondierung in Frage kommender Begrifflichkeiten
brachte eine erschreckend große Zahl zu Tage. Aufgrund der
Zielsetzung ein handliches Buch zu machen, musste jedoch
eine Fokussierung und Einschränkung vorgenommen werden –
die vorliegende Sammlung ist insofern als exemplarische zu
verstehen.
Wir wollten dem Gegenstand Soziale Arbeit entsprechend eine
multiperspektivische Behandlung der ausgewählten Begriffe
erreichen, und freuen uns sehr, dass es uns gelungen ist, namhafte TheoretikerInnen und ExpertInnen in einem Band zu vereinen. Die AutorInnen wurden eingeladen, in kurzer Form in
die Terminologie einzuführen, ihre Verwendung in der Sozialen
Arbeit zu skizzieren und auf ihre ideologischen Ansprüche hin
kritisch zu prüfen.
Dieses Handbuch möchte anhand einer Analyse von Leitbegriffen der Sozialen Arbeit zu einem kritischen, theoriebezogenen Selbstverständnis der Sozialen Arbeit beitragen, das sich
auch angesichts gegenwärtiger Rahmenbedingungen bewähren
kann. ProfessionistInnen, Studierenden und Lehrenden im Feld
der Sozialen Arbeit soll es als kritische Einführung in jene zentralen Diskurse der Sozialen Arbeit dienen, die gegenwärtig als
Mainstream in der konkreten Praxis Bedeutung und Umsetzung
finden. Allen Akteuren des Sozialen soll mit dieser Publikation
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 10
10
Vorwort
die Möglichkeit eröffnet werden, politische Prozesse aus einer
aufgeklärten Haltung heraus mitzugestalten.
Das Schreiben ist getan, nun frisch und flink ans Lesewerk.
Wien, Jänner 2008
Josef Bakic, Marc Diebäcker und Elisabeth Hammer
Literatur
Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2007): Wiener
Erklärung zur Ökonomisierung und Fachlichkeit in der Sozialen
Arbeit. Wien. Online unter: www.sozialearbeit.at/petition.php
[06.01.2008]
Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.) (2004):
Glossar der Gegenwart. Frankfurt am Main
Dzierzbicka, Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (Hg.) (2006): Pädagogisches
Glossar der Gegenwart. Wien
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 11
Aktivierung und soziale Kontrolle
Christine Stelzer-Orthofer
Die Begriffe Aktivierung und aktivierender Staat finden seit
mehr als zehn Jahren immer häufiger Eingang in die politische
und sozialwissenschaftliche Diskussion. Sie stehen als Symbol
und Leitbild für einen Paradigmenwechsel zur Gestaltung sozialstaatlicher Sicherung. Sie sind Schlüsselbegriffe für ein neues
Sozialmodell, für eine neue Balance von Rechten und Pflichten
und signalisieren Modernisierung, Veränderung und Erneuerung (vgl. Dahme et al. 2003, 9).
Gemeint ist damit zum einen, dass Politik sich nicht damit
begnügen kann, soziale Leistungen in Form von monetären
Transfers zur Verfügung zu stellen, sondern aufgefordert ist,
Instrumente, Programme und Maßnahmen für eine erfolgreiche
Sozial- und Arbeitsmarktintegration von gesellschaftlich ausgegrenzten Gruppen zu entwickeln. Zum anderen geht es dabei
aber auch um die Neujustierung der Frage, unter welchen
Bedingungen arbeitsfähige Menschen sozialstaatliches Einkommen beziehen dürfen. Es wird dabei ein wohlfahrtsstaatlicher Grundkonflikt thematisiert, der auf die Organisation und
das Verhältnis von Arbeitsmarkt und Sozialstaat abzielt (vgl.
Vobruba 2000, 5). Es geht um das Verhältnis der Einzelnen zur
Gesellschaft, es geht um deren Rechte, aber auch deren
Pflichten; »Fordern und Fördern« sowie »Hilfe zur Selbsthilfe«
stehen auf dem Programm.
Ein aktivierender Staat wird von vielen als der »dritte« Weg
eines neuen Sozialstaatsmodells beschrieben, der zwischen
einer minimalen und einer umfassendem Absicherung liegt. Es
soll daher nachfolgend dargelegt und den Fragen nachgegangen
werden, welche konträren Zielsetzungen mit Aktivierung verbunden sind, ob und wie sich soziale Kontrolle und Aktivierung
in idealtypischen wohlfahrtsstaatlichen Konzepten verorten las-
SatzBakic.qxd
12
27.02.2008
17:19
Seite 12
Aktivierung und soziale Kontrolle
sen und ob ein aktivierender Staat als Wohlfahrtsstaat Modell
sein kann.
Dabei sollte deutlich werden, dass Aktivierung kein neutrales
wohlfahrtsstaatliches Instrument ist, sondern sowohl »als
repressives und autoritäres« (Hammer 2006) als auch als emanzipatorisches Element in der sozialer Sicherungslandschaft und
in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit fungieren kann.
Aktivierung – ein ambivalenter Begriff
Aktivierung ist ein Sammelbegriff für eine sozialstaatliche
Strategie, die verschiedene Ebenen verfolgt. Aktivierung kann
helfen, Marginalisierung, Wohlfahrtsabhängigkeit und Ausgrenzung zu verhindern sowie Armut zu bekämpfen; sie soll die
gesellschaftliche Einbindung fördern und somit die soziale
Position der Einzelnen verbessern. Die (Wieder-)Entdeckung des
aus der Sozialpädagogik bekannten Prinzips Empowerment, der
Stärkung von Selbstkompetenz und Eigeninitiative, als sozialstaatliche Strategie fällt nicht zufällig in jene Phase, in der eine
steigende Anzahl von SozialtransfersbezieherInnen und überlastete Sozialbudgets beklagt werden. Aktivierung muss daher
auch als ökonomische Strategie angesehen werden, die darauf
abzielt, öffentliche Budgets durch die Reduzierung von KlientInnen und Sozialleistungen zu entlasten. Wenn aktivierende
Maßnahmen – wie die Praxis in den europäischen Sozialstaaten
zeigt (vgl. z.B. Heikkilä/Keskitalo 2001) – so angelegt sind, dass
der Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen erschwert oder verweigert wird, tragen sie zu einer gesellschaftlichen Polarisierung
und individuellen Ausgrenzung bei. Aktivierung ist demnach ein
ambivalenter Begriff, der kontrovers diskutiert wird. Aktivierung
wird daher von den einen als Mittel zur gerechten Verteilung von
Chancen und zur Armutsbekämpfung angesehen, für andere
wiederum steht er als Synonym für Sanktion, Zwang, Arbeitspflicht und verstärkte soziale Kontrolle.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 13
Aktivierung und soziale Kontrolle
13
Wohlfahrtsstaat und soziale Kontrolle
Während dem Begriff der Aktivierung zumindest dem Grunde
nach eine positive Konnotation innewohnt, da er den Gegenpol
zu Lethargie und Passivität impliziert, sind mit dem Begriff
Kontrolle, unabhängig davon, ob auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene, eher negative Assoziationen verbunden.
Dennoch ist auch der Begriff der sozialen Kontrolle mehrdeutig. Soziale Kontrolle subsumiert die Gesamtheit aller
Mechanismen, Prozesse und Strukturen, »mit deren Hilfe eine
Gesellschaft versucht, ihre Mitglieder zu Verhaltensweisen zu
bringen, die im Rahmen dieser Gesellschaft positiv bewertet
werden.« (Fuchs-Heinritz et al. 1995, 368). Soziale Kontrolle
steht daher in einem engen Zusammenhang mit der
Durchsetzung von gesellschaftlichen und sozialen Normen. Sie
fördert durch die Internalisierung gewünschter Verhaltensweisen die gesellschaftliche Integration und wirkt zugleich disziplinierend: Für jene, die sich diesen Werten und gewünschten
Verhaltensweisen entziehen, diese verletzen oder sie nicht
beachten und sich dementsprechend »abweichend« verhalten,
entsteht in Form von negativen Sanktionen zum Teil enormer
Druck, der zu Stigmatisierung und sozialer Ausschließung führen kann.
Nicht nur die Familie als primäre Sozialisationsinstanz, sondern auch Schule, Peer-Gruppen etc. wirken auf soziale
Normen und sozial akzeptiertes Verhalten prägend. Lange Zeit
nicht beachtet, hat im Besonderen die kritische Sozialstaatsforschung der 1970er Jahre darauf hingewiesen, wie z.B.
im Band »Sozialpolitik als soziale Kontrolle« der Starnberger
Studien (1978), dass Sozialpolitik »niemals nur soziale Hilfe
ist, sondern ihr immer auch ein Moment sozialer Kontrolle und
Disziplinierung inne wohnt« (Mohr 2007, 57). Neben der
Kompensations- und Konstitutionsfunktion, die zu Stabilisierung, Legitimierung, Umverteilung und Integration der
Gesellschaft beitragen, wird sozialstaatlichem Wirken daher
SatzBakic.qxd
14
27.02.2008
17:19
Seite 14
Aktivierung und soziale Kontrolle
auch eine Kontroll- und Disziplinierungsfunktion zugeschrieben.
Sozialpolitik dient dazu Klassenkonflikte zu entschärfen, da
durch kompensatorische Sozialtransfers Lohnarbeit gegen spezifische Risiken abgesichert wird. Sie trägt somit auch zur politischen Stabilität sowie zur sozialen Integration bei. Die
Konstitutionsfunktion betont, dass erst durch sozialpolitische
Maßnahmen, wie z.B. durch Ausbildung und Qualifizierung
von ArbeitnehmerInnen und Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik, »die Voraussetzung für die Nutzung von Arbeitskräften
in einzelkapitalistischen Produktionsprozessen« hergestellt
wird (Rödel/Guldimann 1978, 22). Die der Organisation sozialer Sicherheit zugeschriebene disziplinierende und kontrollierende Funktion bezieht sich auf »die Zurichtung der Individuen
auf die Erfordernisse der Marktgesellschaft« (Mohr 2007, 16)
durch die Verfestigung und Durchsetzung von Wert- und
Handlungsprinzipien (z.B. Motivation und Leistungsorientierung), die, so Rödel und Guldimann (1978, 27f), »erstens
sicherstellen, dass die Lohnarbeiter regelmäßig als individuelle
Anbieter ihrer Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt auftreten, und
zweitens gewährleisten, dass die Arbeiter die Disziplinierungen, Belastungen und Risiken des Arbeits- und Produktionsprozesses als normal hinnehmen.« Ähnlich argumentieren Sachße
und Tennstedt (1986, 12), die »disziplinierende Verhaltenszumutungen (als) notwendige Begleiterscheinungen bzw.
Voraussetzungen einer spezifischen Form sozialer Sicherheit«
betrachten.
Piven und Cloward (1977 zit. nach Mohr 2007, 58ff) analysieren am Beispiel der Geschichte der Sozialhilfepolitik der USA
wechselnde Phasen der Ausweitung bzw. Einschränkung sozialer Leistungen, die sie mit der systemimmanenten Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Sozial- und
Wirtschaftsordnung in Zusammenhang bringen. Zum einen
wird durch die Verteilung von Sozialleistungen eine politische
Stabilisierung erzeugt, zum anderen wird bei der Organisation
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 15
Aktivierung und soziale Kontrolle
15
und Ausgestaltung des sozialen Systems darauf Bedacht
genommen, dass trotz sozialer Hilfe der Druck zum Verkauf der
Arbeitskraft am Arbeitsmarkt aufrecht bleibt, meist durch
Zugangsbarrieren, niedrige Leistungen, die Bereitschaft und
die Pflicht zur Erwerbstätigkeit sowie gegebenenfalls durch
Androhen oder Verhängen von Sanktionen (vgl. Mohr 2007,
58f). Als ein sozialstaatliches Paradoxon ist hier jenes
Phänomen zu verorten, dass es gerade in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs und zunehmenden Wohlstands eher zum
Ausbau sozialer Leistungen kommt, aber »(i)n der Krise, dann
wenn sie am nötigsten sind, werden soziale Leistungen abgebaut.« (Sachße/Tennstedt 1986, 12).
Eine abgeschwächte und modifizierte Version der sozialstaatlichen Kontroll- und Disziplinierungsfunktion wird auch durch
jene Ansätze deutlich, die der Sozialpolitik »einen formenden
Zugriff auf die zeitliche Ordnung des Lebens« bescheinigen
(Leibfried et al. 1995, 24). Sozialpolitik und Sozialrecht sind
Struktur gebende Komponenten im individuellen Lebenslauf,
von der Wiege bis ins Grab. Sie beeinflussen explizit oder
implizit private Lebensformen, Entscheidungen, wie z.B.
Heirat, Scheidung oder Kündigung, werden auch im Hinblick
auf die damit verbundenen Rechtsfolgen getroffen (vgl. u.a.
Kaufmann 1997). Unbestritten eröffnen sie Handlungsmöglichkeiten, schaffen zugleich aber auch Zwänge. Sie wirken rechtlich normierend und somit Lebenslauf bestimmend, da sie beispielsweise vorgeben, ab welchem Alter und nach wie vielen
Jahren der Erwerbstätigkeit wir in Pension gehen können oder
müssen, in welchen Phasen unseres Lebens wir uns – staatlich
unterstützt – ausbilden können oder ob bzw. welche Sozialleistungen bei einer längerer Phase der Arbeitsmarktabstinenz
mittels welcher Vorleistungen zu gewähren sind.
Wiewohl normierende und disziplinierende Funktionen jedem
staatlichen Wirken immanent ist, sind Art, Ausmaß und Folgen
sozialer Kontrolle in nicht unmaßgeblicher Weise davon beeinflusst, von welcher Staatskonzeption ausgegangen wird.
SatzBakic.qxd
16
27.02.2008
17:19
Seite 16
Aktivierung und soziale Kontrolle
Aktivierung und soziale Kontrolle
in wohlfahrtsstaatlichen Konzepten
Das angeführte Beispiel, welche Leistungen im Falle der
Arbeitsmarktabsenz zur Verfügung gestellt werden, schließt
unmittelbar an die Begriffe Aktivierung und soziale Kontrolle
an. Es stellt sich daher die Frage, ob und wie diese sich in unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Konzepten finden und welche (sozial-)politischen Maßnahmen sich daraus ableiten lassen. Sind Aktivierungskonzepte unterstützende Maßnahmen,
Qualifizierung und Empowerment für jene, die den gegenwärtigen Anforderungen einer immer flexibleren und entgrenzten
Arbeitswelt wenig oder gar nicht gerecht werden? Sind sie ein
legitimes Mittel gegen Müßiggang und Missbrauch sozialer
Unterstützung? Oder sind sie »disziplinierende Verhaltenszumutungen« und »arbeitsmarktpolitische Herrschaftsinstrumente in einer flexibilisierten Wirtschaft« (Zilian 2000, 567ff),
primär darauf gerichtet, sozialstaatliche Leistungen zu reduzieren, Kontrollmechanismen zu installieren und Arbeitsbereitschaft aufrecht zu erhalten?
Entsprechend der Krisendiagnostik eines neoliberalen Staatsmodells wird Arbeitslosigkeit als Individualschuld interpretiert,
die sich aus fehlender Marktfähigkeit, unredlichem Verhalten
und mangelnder Motivation ergibt. Arbeitslosigkeit ist – ausgehend vom Menschenbild des »homo oeconomicus« und dem
Prinzip der Vertragsfreiheit – freiwillig gewählt. Mangelnde
Motivation und mangelnde Arbeitsanreize führen zu einem
weiteren Erklärungsansatz von Nicht-Erwerbstätigkeit, der im
Versagen wohlfahrtsstaatlicher Politik liegt: Zu großzügige und
im Sinne der Arbeitsmarktintegration kontraproduktive Sozialleistungen der europäischen Wohlfahrtsstaaten stünden einer
Arbeitsaufnahme im Wege. Gerade im Niedriglohnbereich
rechne sich das aus legaler Erwerbsarbeit zu erzielende und mit
Abgaben belastete Einkommen nicht. Viel eher würden soziale
Leistungen in Anspruch genommen, die allenfalls mit Einkom-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 17
Aktivierung und soziale Kontrolle
17
men aus Schwarzarbeit aufgebessert würden. Arbeitslosigkeit
bleibe daher auf einem hohen Niveau, so die Argumentationslinie, da durch zu hohe Sozialunterstützungen die Aufnahme
von Erwerbstätigkeit nicht gefördert, sondern im Gegenteil verhindert werde. Wohlfahrtsstaatlich bedingte, nicht vorhandene
Lohnflexibilität nach unten führe zu zusätzlicher Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit wird demnach als Produkt des Versagens
wohlfahrtsstaatlicher Politik, individueller Antriebslosigkeit
und Motivation interpretiert: Der »Wohlfahrtsstaat wird als
Förderer von Unmoral, Missbrauch und sozialer Devianz«
gebrandmarkt und mit ihm werden arbeitslose TransfersbezieherInnen als SozialschmarotzerInnen stigmatisiert (vgl.
Butterwege 2005,104f).
Konsequenterweise wird aus dieser Sicht im Konzept des aktivierenden Staates ein »Weniger« an sozialstaatlichem
Engagement und ein »Mehr« des/der Einzelnen favorisiert. Ziel
ist es, Eigeninitiative zu fördern, Selbstverantwortung zu steigern, Selbsthilfe anzuregen. Kurzum, am Programm eines aus
der neoliberalen Kritik konzipierten aktivierenden Staates stehen die Rücknahme gesamtgesellschaftlicher Verantwortung
durch Privatisierung und Entstaatlichung und die individuelle
Verantwortungssteigerung durch Fordern und Fördern, durch
Leistung und Gegenleistung, wobei die Akzentuierung auf der
Gegenleistung liegt. Der Begriff der Aktivierung zielt hier primär auf den Arbeitsmarkt ab, es gilt, Arbeitsanreize und
Arbeitsmotivation zu erhöhen, sei es durch Sanktionen, reduzierte Sozialtransfers, Arbeitszwang und zunehmender sozialer
Kontrolle. Betont werden dabei nicht die Rechte der Einzelnen,
sondern deren Pflichten dem Gemeinwesen gegenüber.
Kollektive Lebensrisiken werden individualisiert, Aktivierung
zu »einer neo-liberalen Verpflichtungserklärung des Einzelnen
gegenüber der Gesellschaft« (Dahme et al. 2003, 10), die
zudem verdecken hilft, dass es dabei um einen massiven Abbau
sozialer Absicherung geht.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
18
Abbildung 1:
Konzeptionen
17:19
Seite 18
Aktivierung und soziale Kontrolle
Aktivierung
und
wohlfahrtsstaatliche
Am anderen Pol wohlfahrtsstaatlicher Konzeptionen steht der
universalistische Sozialstaat. Arbeitslosigkeit wird als Produkt
des ökonomischen Wandels wahrgenommen, bedingt durch
strukturelle Veränderungen des Wirtschaftens unter globalisierten Bedingungen. Diese erhöhen das Risiko, aus dem Arbeitsmarkt heraus zu fallen, ebenso wie diskontinuierliche
Beschäftigungskarrieren und die im Vormarsch befindlichen
atypischen Beschäftigungsformen zu Prekarisierung und
Ausgrenzung beitragen. Gesellschaftliche Verantwortung für
Menschen mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten und in ihrer
gesellschaftlichen Einbettung stehen hier im Vordergrund. Ziel
ist es, gesellschaftliche Teilhabe für alle zu ermöglichen, und
diese wird noch immer, oder besser gesagt, immer mehr über
Erwerbsarbeit erreicht. Anstelle des »homo oeconomicus« tritt
in Anlehnung an Hannah Arendt der»homo activus«, der tätige
Mensch, als engagiert partizipativer Akteur, dem Solidarität ein
maßgebliches Handlungsprinzip ist. Besondere Unterstützung
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 19
Aktivierung und soziale Kontrolle
19
zu einer verbesserten Sozial- und Arbeitsmarktintegration ist
daher für Benachteiligte vorzusehen, um eine Einbindung an
soziale Sicherungssysteme und in den Arbeitsmarkt zu erreichen. Es geht um eine Verbesserung der sozialen Partizipation
und um die Erhöhung der Chancen am Arbeitsmarkt durch die
Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit (Qualifizierung,
Arbeitstraining etc.). Sozial- und Arbeitsmarktintegration stellen gleichberechtigte Ziele von sozialer Aktivierung dar. Nicht
Pflicht, sondern gesellschaftliche, sprich staatliche Verantwortung und Recht werden hier betont.
Folgt man diesen idealtypischen Konzeptionen, ist das Leitbild
des aktivierenden Staats als Konsens oder als »dritter« Weg
zwischen dem marktliberalen und dem universalistischen
Modell nicht aufrecht zu erhalten. Es kann nicht gleichzeitig
ein »Mehr« und ein »Weniger« an gesamtgesellschaftlicher
Verantwortung umgesetzt werden. Es ist demnach bei der
Bewertung des Begriffs der Aktivierung sowie des aktivierenden Staats sowie der damit verbundenen Strategien zu klären,
welche Probleme – und wie diese – wahrgenommen werden
und von welcher wohlfahrtsstaatlichen Konzeption und dem
damit zugrunde liegendem Menschenbild Aktivierungsmaßnahmen ihren Ausgangspunkt nehmen. Hält man an bisherigen
wohlfahrtsstaatlichen Prinzipien und Leistungen fest oder ist
das Menschenbild durch einen faulen, Nutzen maximierenden
homo oeconomicus geprägt, den es durch »negative
Aktivierung« zu bestrafen gilt? Sozialpolitische Strategien können daher nicht isoliert betrachtet werden, sondern verkörpern
bestimmte Welt- und Menschbilder.
Der politische Diskurs und die Praxis von Aktivierungsmaßnahmen orientieren sich in der Regel nicht an Wohlfahrtsstaatskonzeptionen. Übereinstimmung herrscht im Allgemeinen weitgehend darin, soziale Ausgrenzung und Armut zu
verhindern, während sich die Ziele und Instrumente, um dies zu
erreichen, deutlich unterscheiden. Dem eines minimalistischen,
neoliberalen Staates und dessen zugrunde liegendem
SatzBakic.qxd
20
27.02.2008
17:19
Seite 20
Aktivierung und soziale Kontrolle
Menschenbild stehen Umverteilungs- und Inklusionsdiskurse
und deren Ansätze zur Aktivierung gegenüber (vgl. Aust/Arriba
2004, 19ff). Im letztgenannten wird sowohl die gesellschaftliche als auch die individuelle Verantwortung angesprochen.
Kritisiert wird, dass wohlfahrtsstaatliches Engagement durch
Sozialtransfers (auch) zu negativen Anreizen, Wohlfahrtsabhängigkeit und Armutsfallen führen kann.
Ich gehe davon aus, dass, solange es nicht zu einer Präzisierung
des Begriffs Aktivierung sowie des ebenso ambivalenten
Leitbildes eines aktivierenden Staats kommt, eine analytische
Interpretation notwendig und eine normative Abgrenzung in
»positive« und »negative« Aktivierung unumgänglich ist.
Möglicherweise wäre eine Unterscheidung in suppressive und
emanzipatorische Aktivierung hilfreich.
Unter den Begriff suppressiver Aktivierung subsumiere ich alle
jene Maßnahmen, die in der Ideologie eines minimalistischen
Staates mit der primären Zielsetzung Sozialbudgets zu senken
durch die Einschränkung von Sozialleistungen, durch
Repression, Sanktion, Zwang und Druck, soziale Normen für
alle gleichermaßen, wie z.B. den Zwang zur Verwertung der
Arbeitskraft, durchzusetzen versuchen, ohne Berücksichtigung
der individuellen noch der strukturelle Lage. Legistische
Maßnahmen, wie beispielsweise die restriktiven Novellierungen im österreichischen Arbeitslosenversicherungsgesetz in
den letzten zehn Jahren, gekennzeichnet durch einen erschwerten Leistungszugang und die Senkung des Niveaus der Leistung
(vgl. Artner 2001), zählen ebenso dazu wie Androhung von
Sperren der Geldleistung sowie ganz generell eine Politik, die
gesamtgesellschaftliche Ursachen bestimmter Problemlagen
negiert und die Verantwortung auf bestimmtes individuelles
Verhalten reduziert und damit delegiert (vgl. Stelzer-Orthofer
2001).
Demgegenüber steht meiner Ansicht nach die emanzipatorische
Aktivierung, die in der Tradition eines umfassenden Wohlfahrtsstaats Zugänge eröffnen hilft, die sowohl auf der indivi-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 21
Aktivierung und soziale Kontrolle
21
duellen Ebene als auch auf der strukturellen Ebene ansetzen.
Zugänge eröffnen bedeutet gesellschaftliche Teilhabechancen
erhöhen. Dies kann durch den Zutritt in den ersten oder zweiten Arbeitsmarkt, durch Möglichkeiten Kompetenzen und neue
Qualifikationen zu erwerben erfolgen oder aber auch durch
finanzielle Absicherung und die Anbindung an soziale
Sicherheit, die als Minimalziel soziale Teilhabe ermöglicht.
Aktivierende Soziale Arbeit zwischen Kontrolle
und Empowerment
Ein aktivierender Staat – unabhängig davon, ob in neoliberaler
oder universalistischer Tradition – bleibt nicht ohne Folgen für
die Positionierung von Sozialer Arbeit, da sie hinsichtlich ihrer
Funktionen eng mit Sozialpolitik, demnach wohlfahrtsstaatlichen Konzeptionen, verknüpft ist (vgl. Hammer 2006). Das
Handlungsfeld ist zumindest im letzten Jahrzehnt durch eine
zunehmende Ökonomisierung geprägt. Die Ausgliederung von
sozialen Dienstleistungen aus der öffentlichen Verwaltung, der
Druck, Dienstleistungen der Sozialen Arbeit verkaufen zu müssen, führen zu einem »Wandel der Art der Organisation und
Kontrolle von Leistungserbringungen in der Sozialen Arbeit«
(Spatschek 2007, 53). Durch administrative Vorgaben und
zunehmende finanzielle Restriktionen wird die Zeit für die
KlientInnen knapper, der Handlungsspielraum enger. Dokumentationspflichten für Auftraggeber und Finanziers erschweren die tägliche Praxis. Ein Interessenskonflikt entsteht dann,
wenn »die legitimen Interessen der Zielgruppen der Sozialen
Arbeit den Interessen der öffentlichen Anbieter entgegenstehen« (Spatschek 2007, 54).
Wenn sozialstaatlichem Wirken eine disziplinierende und kontrollierende Funktion zukommt, gilt dies erst recht für Soziale
Arbeit. Soziale Arbeit war schon bisher gefordert, mit dem ihr
immanenten – und mit dem Begriff des »doppelten Mandats«
SatzBakic.qxd
22
27.02.2008
17:19
Seite 22
Aktivierung und soziale Kontrolle
umschriebenen – teils widersprüchlichen Verhältnis von sozialarbeiterischer Hilfe und Unterstützung für den und die Einzelne
einerseits sowie dem mehr oder weniger expliziten gesellschaftlichen Auftrag der sozialer Normierung, Disziplinierung
und Kontrolle andererseits (vgl. Hammer 2006) zurechtzukommen, demnach den Spagat zwischen Hilfe und sozialer
Kontrolle zu meistern. In einem neoliberalen Konstrukt eines
aktivierenden Staats neigt sich »die Waage (...) wieder deutlicher und stärker zur Kontrollseite« (Galuske 2007, 25). Somit
erhöht sich die Gefahr der Instrumentalisierung der sozialen
Arbeit, die als »eine Art Trojanisches Pferd« eingesetzt wird:
»Professionelle Sozialarbeit wird in Anspruch genommen, um
professionsfremde Ziele zu verfolgen: Kostenersparnis statt
bedarfsgerechter Hilfe zur Führung eines menschwürdigen
Lebens.« (Stark 2007, 404). Aktivierende soziale Arbeit, im
Sinne einer suppressiven Aktivierung, wird hier zum
Erfüllungsgehilfen für die Rücknahme sozialstaatlicher
Leistungen und den Abbau von Sozialtransfers.
Demgegenüber steht der eingangs erwähnte EmpowermentAnsatz, der sofern er nicht als Deckmantel der suppressiven
Aktivierung dient, einer emanzipatorischen Aktivierung entspricht. Ziel hierbei es ist, »die Menschen zur Entdeckung ihrer
eigenen (vielfach verschütteten) Stärken zu ermutigen, ihre
Fähigkeiten zu Selbstbestimmung und Selbstveränderung zu
stärken und sie bei der Suche nach Lebensräumen und
Lebenszukünften zu unterstützen, die einen Zugewinn von
Autonomie, sozialer Teilhabe und eigenbestimmter Lebensregie versprechen.« (Herringer 1997, 7). Kritische Soziale
Arbeit hat hier zum einen auf der Ebene der Individuen
Möglichkeiten auszuloten und motivierend auf die KlientInnen
einzuwirken. Zum anderen ist sie auf der Ebene des Politischen
gefordert, sich aktiv in eine demokratische und gerechte
Ausgestaltung der sozialen Sicherheit einzubringen.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 23
Aktivierung und soziale Kontrolle
23
Literatur
Arendt, Hannah (1981 [1958]): Vita activa oder Vom tätigen Leben.
München
Artner, Renate (2001): Neue Entwicklungen des österreichischen
Arbeitsmarktes
und
Strategien
in
der
österreichischen
Arbeitsmarktpolitik. In: Stelzer-Orthofer Christine (Hg.): Zwischen
Welfare und Workfare. Soziale Leistungen in der Diskussion. Linz
Aust, Andreas/Arriba, Ana (2004): Policy reforms and discourses in social
assistance in the 1990s: Towards ›activation‹? Unidad de Politicas
Comparadas (CSIS) Working Paper 04-11. Paper presented at the
ESPAnet Annual conference, September 9-11, 2004, Oxford.
http://www2.rz.hu-berlin.de/verwaltung/austarribaoxfordrev.pdf
[04.02.2008]
Butterwege, Christoph (2005): Krise und Zukunft des Sozialstaats.
Wiesbaden
Dahme, Heinz Jürgen (o.J.): Die Wiederkehr des Leviathan. »Aktivierung«
als neues Leitbild für soziale Arbeit. http://www.bdwi.de/forum/fw403-10.htm [30.09.2005]
Dahme, Heinz Jürgen et al. (2003): Einleitung: Aktivierung als gesellschaftliche
Metapher
oder
die
Ambivalenz
eines
neuen
Sozialmodells. In: Dahme Heinz-Jürgen/Otto Hans-Uwe/Trube
Achim/ Wohlfahrt Norbert (Hrsg): Soziale Arbeit für den aktivierenden Sozialstaat. Opladen, 9-13
Fuchs-Heinritz, Werner et al.(1995): Lexikon zur Soziologie. Opladen
Galuske, Michael (2007): Nach dem Ende des sozialpädagogischen
Jahrhunderts – Soziale Arbeit zwischen Aktivierung und Ökonomisierung. In: Knopp Reinhold/Münch Thomas (Hg.): Zurück zur
Armutspolizey? Soziale Arbeit zwischen Hilfe und Kontrolle. Berlin,
9-32
Hammer, Elisabeth (2006): Sozialpolitik und Soziale Arbeit im Dienste der
Standortsicherung – Aspekte einer grundlegenden Transformation. In:
ATTAC (Hg.) Standortwettbewerb: Zwischen Konkurrenz und
Kooperation. Wien, 76-95
Heikkilä, Matti / Kesiktalo, Elsa (ed) (2001): Social Assistance in Europe.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 24
24
Aktivierung und soziale Kontrolle
A comparative study on minimum income in seven European countries. Helsinki
Herriger, Norbert (1997): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Stuttgart
Leibfried, Stephan et al. (1995): Zeit der Armut. Frankfurt
Kaufmann, Franz-Xaver (1997): Herausforderungen des Sozialstaats.
Frankfurt
Mohr,
Katrin
(2007):
Soziale
Exklusion
im
Wohlfahrtsstaat.
Arbeitslosensicherung und Sozialhilfe in Großbritannien und
Deutschland. Wiesbaden
Rödel, Ulrich / Guldimann, Tim (1978): Sozialpolitik als soziale Kontrolle.
In: Guldimann, Tim / Rodenstein, Marianne / Rödel, Ulrich / Stille,
Frank (HgInnen): Sozialpolitik als soziale Kontrolle. Starnberger
Studien 2. Frankfurt, 11-56
Sachße, Christoph /Tennstedt, Florian (1986): Sicherheit und Disziplin.
Eine Skizze zur Einführung. In: Sachße, Christoph /Tennstedt,
Florian(Hg): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung.
Frankfurt, 11-44
Stark, Christian (2007): Sozialarbeit und Partizipation. Möglichkeiten und
Grenzen der Partizipation von KlientInnen. In: Stelzer-Orthofer,
Christine / Weidenholzer, Josef (HgInnen): Gerechtigkeit und
Partizipation. Linz, 395- 407
Stelzer-Orthofer, Christine (2006): Chancen und Risiken der Activation
Policies im Rahmen der Sozialhilfe – Soziale Integrationschancen für
KlientInnen? In: Fischer, Michael / Dimmel, Nikolaus (Hrsg.):
Sozialethik und Sozialpolitik. Zur praktischen Ethik des Sozialen.
Frankfurt, 153-165
Stelzer-Orthofer, Christine (2001): Auf dem Weg zu einem »schlanken«
Sozialstaat? Zur Privatisierung sozialer Risiken im österreichischen
sozialen Sicherungssystem. In: Kurswechsel. Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen. Heft 4/2001
Vobruba, Georg (2000): Alternativen zur Vollbeschäftigung. Frankfurt
Zilian, Hans Georg (2000): »Aktivierung und Workfare«. In: PROKLA
121. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Münster
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 25
Auftrag und Mandat
Frank Bettinger
Überlegungen bezüglich – der im weiteren Verlauf synonym
verwendeten Begriffe – »Auftrag« bzw. »Mandat« Sozialer
Arbeit gestalten sich schwierig. Ein eindeutiger, expliziter
Auftrag »der« Sozialen Arbeit ist ohne weiteres nicht identifizierbar, sondern variiert räumlich und historisch, aber auch je
nach Arbeitsfeld, nach ideologischen, partei- und ordnungspolitischen Präferenzen von EntscheidungsträgerInnen, nach
(wissenschafts-)theoretischer Ausrichtung der SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen usw. Im Folgenden wird der
Versuch unternommen, mit Blick insbesondere auf das sozialpädagogische Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit,
Möglichkeiten und Notwendigkeiten autonomerer Gegenstands- und Funktionsbestimmung als Voraussetzung selbstbestimmterer sozialpädagogischer Praxis zu skizzieren.
Der Staat, das Recht und die Soziale Arbeit
Die gesellschaftliche Funktion Sozialer Arbeit ist nach wie vor
umstritten. Grundsätzlich lassen sich Soziale Arbeit bzw. die an
sie gerichteten Aufgaben und Aufträge nur verstehen, wenn
zugleich die historische Entwicklung sowie die gesellschaftlichen, politischen, rechtlichen und ökonomischen Bedingungen Sozialer Arbeit rekonstruiert werden – was nur vereinzelt
hier geleistet werden kann. So entwickelte sich Soziale Arbeit
»als tragendes Element eines ambivalenten wohlfahrtsstaatlichen Auftrags. Sie verdankt ihre Entstehung den Ligaturen
jener Rationalisierungs-, Säkularisierungs- und Bürokratisierungsprozesse, die Habermas formschön als Kolonialisierung der Lebenswelt beschrieben hat« (Dimmel, 2005, 65).
SatzBakic.qxd
26
27.02.2008
17:19
Seite 26
Auftrag und Mandat
Soziale Arbeit war in ihrem Handeln von Beginn an orientiert
an ihr vorgegebene gesellschaftliche Ordnungsmodelle, an
Vorstellungen von »Normalität«, »Devianz« und »sozialen
Problemen«, also Gegenständen, die als Bezugsrahmen bis zum
heutigen Tage Bestand haben. Spätestens mit der
Verberuflichung Sozialer Arbeit entwickelten sich die neuen
Professionellen »zu Sachwaltern für richtig erfolgte Erziehung,
für korrekte Haushalts- und Lebensführung, kurz: zu Experten
und Garanten für Normalität« (Merten/Olk, 1999, 966), in
deren beruflichem Handeln sich eine Orientierung an vermeintlich fachlichem, häufig jedoch alltagstheoretischem Wissen und
berufspraktischem Können mit der Orientierung an gesellschaftlichen Normalitätsstandards verschränken, die in der
Struktur der Institutionen wie ihren Aufgabendefinitionen eingelassen sind (vgl. Dewe/Ferchhoff/Scherr/Stüwe, 1995, 20).
Hier kommt eine Asymmetrie (vgl. Gängler 2001) zum
Ausdruck: eine doppelte Verpflichtung sowohl gegenüber den
Ansprüchen gesellschaftlicher bzw. staatlicher Vorgaben, als
auch gegenüber einem eigenen professionellen und gegenstandsbezogenen Selbstverständnis; eine Asymmetrie, die – als
»doppeltes Mandat« begrifflich gefasst – in allen Arbeitsfeldern
Sozialer Arbeit bezüglich der jeweiligen Dominanz einer der
beiden Verpflichtungen zu reflektieren und gegebenenfalls
zugunsten fachlicher Ansprüche zu verändern ist.
Es ist einerseits der Staat, der seine Macht der Sozialen Arbeit
delegiert und dessen normativer, sozialrechtlicher Rahmen den
Handlungsspielraum der Sozialen Arbeit begrenzt, was andererseits dazu führt, dass Soziale Arbeit häufig Verwaltungshandeln ist, also Vollzug von Recht; gleichwohl Soziale Arbeit
(zumindest grundsätzlich) trotz weitgehender rechtlicher
Verregelung, deutlich mehr als das Kodifizierte umfasst,
umfassen sollte: und zwar ein professionelles, auf einen
Gegenstand bezogenes Selbstverständnis, das den rechtlich
vorgegebenen Rahmen sehr wohl zu ergänzen, gar zu verändern
vermag (vgl. Dimmel, 2005, 70; Hammerschmidt 2005). Die
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 27
Auftrag und Mandat
27
Sozialgesetzgebung generiert zwar einen konstitutiven Rahmen
der Sozialen Arbeit, fordert aber andererseits – so die optimistische Formulierung von Gedrath und Schröer – einen kontroversen Diskurs in der Sozialen Arbeit heraus und ist in Bezug
auf Reformperspektiven von diesem selbst abhängig. Gerade
die Entwicklung des Rechts und der relevanten Gegenstände
dokumentiert, dass insbesondere »die Kinder- und Jugendhilfe
ohne Bezug auf die kontroversen Sozialdiskurse um die
Vergesellschaftung von Kindheit und Jugend in der industriekapitalistischen Moderne kaum zu begreifen ist. Nur wenn die
rechtlichen Vorgaben – als ein Kernbestandteil der sozialstaatlichen Vergesellschaftung von Kindheit und Jugend – zu einem
diskursiven Brennpunkt der Kinder- und Jugendhilfediskussion
werden, kann die Soziale Arbeit eine eigenständige Position in
Bezug auf die sozialpädagogischen Herausforderungen von
Kindheit und Jugend im 21. Jahrhundert finden«
(Gedrath/Schröer, 2002, 663).
Die Produktion von Wissen, Wahrheit
und Gegenstand
Allerdings würde es zu kurz greifen, ausschließlich die rechtlichen Vorgaben in den Blick zu nehmen. Für ein weiteres
Verständnis der Aufgaben und Funktionen Sozialer Arbeit bedarf
viel mehr der Gegenstand und in der Folge die Funktion Sozialer
Arbeit, somit die Produktion von Wissen und Wahrheit gerade
auch in Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe, in denen das
sozialpädagogische Bemühen jungen Menschen gilt, mehr
Aufmerksamkeit. Dies in dem Bemühen, sich von einem naiven,
objektivistischen Verständnis von »Gegenstand«, »Funktion«,
»Auftrag« zu verabschieden, das seit jeher Wegbegleiter Sozialer
Arbeit war und wesentlich dazu beigetragen hat, Soziale Arbeit
als das zu konturieren, was sie nach wie vor ist: untertänige
Handlangerin und Bearbeiterin ihr vorgegebener »Probleme«.
SatzBakic.qxd
28
27.02.2008
17:19
Seite 28
Auftrag und Mandat
So ist davon auszugehen, dass die Kategorie »Jugend« eine
soziokulturelle Konstruktion ist, die unter ganz bestimmten
gesellschaftlichen Bedingungen – nämlich im Zuge der
Industrialisierung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert –
entstanden ist, und darüber hinaus einem historischen Wandel
unterliegt. M.a.W., Jugend als eigene Lebensphase zwischen
Kindheit und Erwachsensein ist ein Produkt und Projekt der
europäischen Moderne (vgl. Münchmeier 2001), und als »soziales Problem« seit jeher Gegenstand sozialpädagogischen
Bemühens der Kinder- und Jugendhilfe.
Anhorn skizziert die Entstehungsbedingungen von Jugend als
ein normatives Konstrukt in der Weise, dass die »Erfindung des
Jugendlichen« (Roth) als dem Anderen, Defizitären,
Gefährdeten und Gefährlichen, zugleich der Entmachtung und
Ausgrenzung von Jugendlichen dient, da es die Voraussetzungen und Legitimationen für eine (sozial- und kriminal-)
politische und sozialpädagogische Intensivierung und Ausweitung der Kontrolle und Disziplinierung von Jugendlichen
schafft (vgl. Anhorn 2002, S. 48). Mit den im Zuge der
Industrialisierung stetig steigenden Qualifikationserfordernissen, dehnte sich die Lebensphase Jugend als eigenständige
Übergangs- und Entwicklungsphase zwischen Kindheit und
Erwachsenenstatus tendenziell auf alle sozialen Klassen und
Schichten aus. Der Begriff »Jugendlicher« löste sich nach und
nach aus dem sozialen Bedeutungshorizont von proletarischen,
verwahrlosten und kriminellen jungen Menschen, insbesondere
im Zuge der Institutionalisierung von Jugendhilfe und
Jugendarbeit. »Am Ende dieser Entwicklung stand nicht nur ein
Konzept, das die Jugend im politisch-wissenschaftlich-massenmedialen Diskurs als eigenständige und einer eigenen
Entwicklungslogik mit jugendspezifischen Besonderheiten
gehorchenden Lebensphase etablierte, und die Jugendlichen –
ungeachtet aller sozioökonomischen und geschlechtsspezifischen Unterschiede – zu einer deutlich eingrenzbaren, homogenen sozialen Gruppe stilisierte; darüber hinaus resultierte aus
SatzBakic.qxd
27.02.2008
Auftrag und Mandat
17:19
Seite 29
29
der Verschmelzung dieser beiden Entwicklungslinien bereits in
der Konstitutionsphase des modernen Konzepts Jugend jenes
widersprüchliche Konglomerat aus positiven wie negativen
Bedeutungselementen, das bis auf den heutigen Tag seinen
Ausdruck in einer tief greifenden Ambivalenz, in der
Typisierung und den gesellschaftlichen Reaktionen auf
Jugend/Jugendliche findet« (Anhorn 2002, S. 50).
Mit der Produktion des Gegenstandes »Jugend« und in der
Folge »Jugend als problematische Lebensphase« gehen bis zum
heutigen Tage negative Konnotationen einher, die einen grundsätzlichen Zusammenhang von Jugend mit Phänomenen wie
Gefährlichkeit, Gefährdung, Abweichung unterstellen, die
wiederum präventives oder reaktives, regelmäßig jedoch (sozial)pädagogisches Eingreifen zu erfordern und zu legitimieren
scheinen. Dieser, seit Jahrzehnten reproduzierte negative
Konnex von »Jugend als Problem« liegt – darauf weist Hartmut
Griese hin – nicht zuletzt darin begründet, »dass der
Mainstream der Jugendforschung seit ihren Anfängen bis in
unsere Gegenwart hinein die Beschreibung und Erklärung ihres
Gegenstandes (Jugend) primär in den Kategorien von (biologischen, entwicklungspsychologischen, sozialisatorischen …)
Defiziten und Störungen konzipiert hat und damit im wesentlichen Problemforschung geblieben ist« (Griese 1999, S. 463).
Mit der diskursiven Produktion des Gegenstandes Jugend wird
eine kategoriale Differenz zwischen Jugendlichen und
Erwachsenen konstituiert; und die Etablierung dieser Differenz,
bzw. des Wissens um diese Differenz, bietet die Legitimation,
Jugend als soziale Gruppe zum Gegenstand ordnungs- und
sozialpolitischen Bemühens sowie insbesondere sozialpädagogischer Intervention und Kontrolle zu machen. Sämtliche politischen und (sozial)pädagogischen Anstrengungen und
Maßnahmen finden ihre Rechtfertigung in der Anpassung
Jugendlicher an die normativen Anforderungen der
Erwachsenenrolle und die Integration der Jugend in die
Gesellschaft (Sozialintegration). Der Jugenddiskurs ist seit
SatzBakic.qxd
30
27.02.2008
17:19
Seite 30
Auftrag und Mandat
jeher ein Diskurs über Moral und Abweichung. Die in Politik,
Medien, Öffentlichkeit immer wieder kehrenden Debatten über
gefährliche und gefährdete Jugendliche greifen auf solche
historisch-kulturell und gesellschaftlich verankerten Vorstellungen von Jugend zurück. Die in den Diskursen generierten Deutungen dienen als kollektive Erklärung für soziale
Phänomene bzw. Probleme und werden von den Akteuren zur
Herstellung von Sinn und Begründung ihrer Handlungen subjektiv aufgegriffen und reproduziert (vgl. Althoff 2002;
Bettinger 2002; Anhorn/Bettinger 2002).
Damit soll vereinzelt erlebbares, häufig aber doch nur rhetorisches sozialpädagogisches Bemühen um eine emanzipatorische, an den Bedürfnissen der Subjekte ansetzende Jugendarbeit nicht geleugnet werden. Allerdings »(ist) die Ambivalenz
zwischen den Autonomie-, Selbstvertretungs- und Partizipationsansprüchen von Heranwachsenden und dem gesellschaftlichen Auftrag der Kinder- und Jugendarbeit, die soziale
Integration der Kinder und Jugendlichen zu fördern und im
Konfliktfall auch mit massiven Interventionen einzuklagen, im
Kern auch heute noch aktuell« (Thole, 2000, 32), zumal
Studierende und PraktikerInnen der Sozialen Arbeit sich nach
wie vor an altruistischen und technologischen Konzepten und
Methoden orientieren, und versuchen so den gesellschaftlichen
Erwartungen, die an die Soziale Arbeit in Form von Aufgaben
und Aufträgen herangetragen werden, gerecht zu werden;
Erwartungen bezüglich der Identifizierung und in der Folge der
Bewältigung «sozialer Probleme«. Das Interesse gilt regelmäßig der Bewältigung einer konkreten, bearbeitbaren Praxis,
unter Bezugnahme auf alltagstheoretisches Wissen und
Erfahrungen, unter Ausschluss wissenschaftlicher Wissensbestände.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 31
Auftrag und Mandat
31
Beschränkungen traditioneller Sozialer Arbeit
Die hier zum Ausdruck kommende fehlende fachliche
Autonomie resultiert ohne Zweifel auch aus dem Eingebundensein Sozialer Arbeit in rechtliche und bürokratische
Entscheidungs- und Handlungszusammenhänge. D.h. nach wie
vor dominieren und strukturieren rechtliche, gesellschaftliche,
politische, ökonomische Vorgaben und Funktionszuweisungen
die Praxis der Sozialen Arbeit; andererseits nehmen sozialpädagogische PraktikerInnen nahezu ausschließlich das Wissen
bzw. die Wahrheiten zur Kenntnis und somit zur Grundlage
ihres Handelns, die mit den tradierten Evidenzen und vor allem
den Erwartungen politischer EntscheidungsträgerInnen und
GeldgeberInnen kompatibel erscheinen. – Solchermaßen
»funktioniert« Soziale Arbeit also, orientiert an einer Ordnung
des Sozialen, der sie sich in gleichem Maße unterwirft, wie sie
jene als objektiv gegeben voraussetzt. Eine solche, von uns als
»traditionelle« (vgl. Anhorn/Bettinger 2005; Anhorn/Bettinger/
Stehr 2008) bezeichnete Soziale Arbeit funktioniert somit im
Kontext neoliberaler, ordnungspolitischer Rahmungen,
•
•
•
•
•
•
•
weil sie sich in den Beschränkungen eines objektivistischen Wissenschaftsverständnisses eingenistet hat,
weil sie ihren Gegenstand nicht selbst bestimmt, sondern
theorielos, offizielle Definitionen «sozialer Probleme« zu
bearbeiten sucht und
sich fremde Kategorien und Begrifflichkeiten zu Eigen
macht, ferner
weil sie in Prozesse der Kriminalisierung und Stigmatisierung involviert ist,
weil sie strukturelle Faktoren in individuelle Defizite und
Schwächen transformiert und diese individualisierend zu
kompensieren sucht sowie
eigene Formen der sozialen Ausschließung erzeugt und
reproduziert und
SatzBakic.qxd
32
•
27.02.2008
17:19
Seite 32
Auftrag und Mandat
weil sie – trotz aller Partizipations-Rhetorik – ihren
AdressatInnen regelmäßig lediglich einen Objektstatus
zugesteht.
Die im »doppelten Mandat« zum Ausdruck kommende
Asymmetrie durch das Eingebundensein in rechtliche und
bürokratische Kontexte sowie den daraus resultierenden
Aufträgen einerseits, dem fachlichen Selbstverständnis andererseits, scheint zunächst nicht auflösbar, denn »jede
Profession ist in den staatlichen Macht- und Herrschaftsapparat und sein hoheitsstaatliches Verwaltungshandeln in
erheblichem Umfang einbezogen. Sie vollzieht selbst Verwaltungshandlungen im Auftrag des Staates (…), muss sich an
den Vorgaben der staatlichen Verwaltung abarbeiten (…) [und]
ist über ihre staatlichen Auftragshandlungen auch in die globale Kontrollfunktion, die globale Selektionsfunktion, die globale Sanktionsfunktion und die globale Ausgrenzungsfunktion
staatlichen Handelns eingebunden« (Schütze, 1997, 243).
Möglichkeitsräume selbstbestimmten Handelns
Und dennoch gibt es Möglichkeiten, die Dominanz staatlicher
und rechtlicher Vorgaben zurück zu drängen und die Anteile
selbst bestimmten Handelns zu erweitern. So gilt es zunächst
zu klären, »über welche Möglichkeitsräume professionellen
Handelns Sozialarbeiter und Sozialpädagogen in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern und Organisationsstrukturen
sowie in jeweiligen lokalen Kontexten trotz hoheitsstaatlicher
Kontroll- und Sanktionsvorgaben verfügen, sowie ob und ggf.
wie diese von Professionellen auch tatsächlich genutzt werden« (Scherr, 2006, 142). Dass diese Möglichkeitsräume von
Arbeitsfeld zu Arbeitsfeld nicht unerheblich variieren ist evident. Optionen selbstbestimmten Handelns sind in stark reglementierten Bereichen wie der Jugendgerichtshilfe, der
SatzBakic.qxd
27.02.2008
Auftrag und Mandat
17:19
Seite 33
33
Sozialarbeit im Strafvollzug oder in der Psychiatrie reduzierter, als in wenig reglementierten Bereichen, wie der Kinderund Jugendarbeit. Dennoch lassen sich grundsätzlich und in
jedem Bereich Möglichkeitsräume erweitern: »Sozialarbeiterinnen würden den Zugzwängen und dem vielfältigen
Druck des hoheitsstaatlichen Verwaltungs- und Herrschaftsapparates weniger schutzlos ausgeliefert sein, wenn sie ihre
unabweislichen hoheitsstaatlichen Verwaltungs- und Herrschaftsaufgaben aktiv und beherzt, mit Augenmaß, staatskritisch, organisationskritisch und selbstkritisch angehen und
gestalten würden« (Schütze, 1997, 247). Hierzu bedarf es
allerdings eines Bezugssystems, einer wissenschaftlichen
Theorie als Basis der Reflexion, der Kritik und des selbstbestimmten Handelns. Solche wissenschaftlichen Bezugssysteme, die insbesondere die gesellschaftlichen und strukturellen
Bedingungen sozialarbeiterischer und sozialpädagogischer
Praxis reflektieren, liegen für die Kinder- und Jugendarbeit
seit den 1960er Jahren vor; allerdings ohne Chance Einlass in
die Praxen traditioneller Sozialer Arbeit gewährt zu bekommen.(vgl. zur Theorieresistenz sozialpädagogischer PraktikerInnen Ackermann/Seeck (2000) und Thole/Küster-Schapfl
(1997).Gerade in formell weniger reglementierten Arbeitsfeldern wie der Kinder- und Jugendarbeit provoziert die regelmäßig zu konstatierende Theorie- aber auch Konzeptionslosigkeit
und in der Folge die Bereitschaft zu vorauseilendem
Gehorsam bezüglich der Bearbeitung »sozialer Probleme«
bzw. der sozialpädagogischen Beglückung von »ProblemJugendlichen«, Fassungslosigkeit; insbesondere auch dann,
wenn zumindest die Möglichkeitsräume, die der (sozial)rechtliche Rahmen offeriert zur fachlichen Ausgestaltung
sozialpädagogischer Praxis nicht genutzt werden. Zwar sind
Normen und Gesetze grundsätzlich zu reflektieren und zu kritisieren und nicht vorbehaltlos zur Grundlage eigenen
Handelns zu machen; andererseits ist immer wieder daran zu
erinnern, dass Kinder- und Jugendhilfe – und somit auch
SatzBakic.qxd
34
27.02.2008
17:19
Seite 34
Auftrag und Mandat
Kinder- und Jugendarbeit – dazu beizutragen haben,
Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen sowie positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre
Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt
zu erhalten oder zu schaffen (§ 1 Abs. 3 SGB VIII). Hier wird
Kinder- und Jugendhilfe explizit dazu aufgefordert, sich aktiv
an der Gestaltung der Lebensbedingungen junger Menschen –
also offensiv (als Querschnittspolitik) – zu beteiligen. Trotz
immer wieder artikulierter Bedenken gibt es sehr wohl
Ansatzpunkte der Bearbeitung gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen, gibt es Möglichkeiten auch im Rahmen von
Kinder- und Jugendarbeit, am Ziel, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen und positive Lebensbedingungen für
junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und
familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen, festzuhalten. So kann Soziale Arbeit zumindest partiell auf die
sozialen, kulturellen und individuellen Bedingungen der
Möglichkeiten und Fähigkeiten ihrer Adressaten Einfluss nehmen (Otto/Ziegler 2005) und sich als (sozial-)politische
Akteurin in der Arena des Staates verstehen und dabei politisch werden (Schaarschuch 1999). Letztlich – und dies kann
als bedeutender, wenn auch mittelbarer Ansatzpunkt sozialpädagogischer Praxis verstanden werden – ist die Frage zu stellen, so Heinz Sünker, nach den Bedingungen der Möglichkeit
von sozialen und kollektiven Lernprozessen zum Zwecke der
Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und der Beförderung der Selbsttätigkeit der Subjekte. Grundsätzlich ist
eine Soziale Arbeit gefordert, »die sich in Theorie, Praxis und
analytischer Kompetenz ihrer gesellschaftstheoretischen und
ihrer gesellschaftspolitischen Kontexte wie ihrer professionellen Perspektiven bewusst ist, um substantielle gesellschaftliche Veränderungsprozesse erneut zu ihrem Thema zu machen«
(Sünker 2000, S. 217), und zwar gerade in Anbetracht eines
tief greifenden Strukturwandels, neoliberaler Zumutungen,
systematischer Reproduktion von Ungleichheit, sich verschär-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 35
Auftrag und Mandat
35
fender Ausgrenzungsverhältnisse, Subjektivierungspraxen in
Bildungsinstitutionen, die sich als solche der Untertanenproduktion bezeichnen lassen.
Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit
Was aber sind die Bedingungen einer autonomeren, einer
selbstbestimmteren und politischen Praxis Sozialer Arbeit, die
bemüht ist, sich von den Funktions- und Auftragszuschreibungen durch Staat, Recht, Politik und Kapital zu emanzipieren? Wir haben – in Distanzierung von der Praxis traditioneller Sozialer Arbeit – einige Bausteine einer Theorie und
Praxis kritischer Sozialer Arbeit benannt, die einer reflexiven,
selbstbestimmteren Praxis Sozialer Arbeit den Weg ebnen
könnten. In Anlehnung an unsere Überlegungen zeichnet sich
eine kritische Soziale Arbeit dadurch aus, dass sie ihren
Gegenstand eigenständig benennt und sich auf diesen im
Kontext der Ausgestaltung der sozialpädagogischen Praxis
auch tatsächlich bezieht. Gegenstand Sozialer Arbeit sind u.E.
Prozesse und Auswirkungen sozialer Ausschließung. Bezug
nehmend auf diesen Gegenstand können als Aufgaben Sozialer
Arbeit u.a. benannt werden die Realisierung gesellschaftlicher
Teilhabe und Chancengleichheit sowie die Ermöglichung sozialer, ökonomischer, kultureller und politischer Partizipation
(vgl. Anhorn/Bettinger 2005 und Anhorn/Bettinger/Stehr
2008). Darüber hinaus und Bezug nehmend auf ihren Gegenstand zeichnet sich eine kritische Soziale Arbeit dadurch aus,
•
dass sie in einer kritisch-reflexiven Grundhaltung über
strukturelle Zusammenhänge und Folgen – bezogen beispielsweise auf soziale Ungleichheit oder Prozesse der
sozialen Ausschließung – aufklärt und auf das eigene
Selbstverständnis und die angetragenen Erwartungen von
Politik und Gesellschaft bezieht;
SatzBakic.qxd
36
•
•
•
•
•
•
27.02.2008
17:19
Seite 36
Auftrag und Mandat
dass sie die Verfestigung und Legitimation von sozialer
Ungleichheit (auch durch Kriminalisierungen und andere
personalisierende Negativzuschreibungen) deutlich macht
und damit gesellschaftliche Interessenkonflikte und
Machtunterschiede – nicht zuletzt bezogen auf die
Kategorie Geschlecht – aufdeckt;
dass sie sich nicht als Lösung oder Bearbeitung von
Devianz, Kriminalität, Gewalt oder sonstigen »sozialen
Problemen« anbietet,
sie zeichnet sich ferner dadurch aus, dass sie sich von den
Zumutungen ordnungspolitischer Problemlösungen distanziert und sich über die Thematisierung und politisierende Bearbeitung von sozialer Ungleichheit, sozialem
Ausschluss, Unterdrückung und Diskriminierung zu
begründen versucht;
sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Macht- und
Herrschaftsstrukturen (entlang der Trennlinie von Klasse,
Geschlecht, Rasse, Ethnizität und Alter) analysiert und
kritisiert;
sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Diskurse als herrschaftslegitimierende Techniken der Wirklichkeitsproduktion und somit von gesellschaftlichen Ordnungen in
der bürgerlich-kapitalistischen modernen Industriegesellschaft erkennt und diese analysiert,
und letztlich zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie –
orientiert an den Prinzipien der Aufklärung und
Emanzipation – Bildungsprozesse in Richtung auf eine
selbstbewusstere und selbstbestimmtere Lebenspraxis,
letztlich in Richtung der (politischen) Mündigkeit der
Subjekte ermöglicht.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 37
Auftrag und Mandat
37
Literatur
Ackermann, F./Seeck, D. (2000): SozialpädagogInnen/SozialarbeiterInnen
zwischen Studium und Beruf. Wissen und Können in der Sozialen
Arbeit: Motivation, Fachlichkeit und berufliche Identität – eine empirische Annäherung, in: Rundbrief Gilde Soziale Arbeit, 1, S. 21-38
Althoff, M. (2002): Jugendkriminalität und Gewalt. Einige Überlegungen
zur öffentlichen Thematisierung von Jugend, in: Bettinger, F. u.a.,
Gefährdete Jugendliche? Jugend, Kriminalität und der Ruf nach
Strafe, S. 75-88, Opladen
Anhorn, R. (2002): Jugend-Abweichung-Drogen. Zur Konstruktion eines
sozialen Problems, in: Bettinger, F. u.a., Gefährdete Jugendliche?
Jugend, Kriminalität und der Ruf nach Strafe, S.47-74, Opladen
Anhorn, R./Bettinger, F. (2002): Kritische Kriminologie und Soziale
Arbeit. Impulse für professionelles Selbstverständnis und kritischreflexive Handlungskompetenz, Weinheim und München
Anhorn, R./Bettinger, F. (2005): Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit.
Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer
Arbeit, Wiesbaden
Anhorn, R./Bettinger, F./Stehr, J: (2007): Foucaults Machtanalytik und
Soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme,
Wiesbaden
Anhorn, R./Bettinger, F./Stehr, J. (2008): Sozialer Ausschluss und Soziale
Arbeit. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis
Sozialer Arbeit, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Wiesbaden
Dewe, B./Ferchhoff, W./Scherr, A./Stüwe, G. (1995): Professionelles soziales Handeln. Soziale Arbeit im Spannungsfeld zwischen Theorie und
Praxis, 2. Aufl., Weinheim und München
Dimmel, N. (2005): Am Ende der Fahnenstange? Soziale Arbeit in der
Krise des Sozialen, in: Störch, K., Soziale Arbeit in der Krise.
Perspektiven fortschrittlicher Sozialer Arbeit, Hamburg.
Fieseler, G./Schleicher, H./Busch, M. (2004): Kinder- und Jugendhilferecht, Gemeinschaftskommentar zum SGB VIII, Neuwied und Kriftel
Gängler, H. (2001): Hilfe, in: Otto, H.-U./Thiersch, H., Handbuch
Sozialarbeit/Sozialpädagogik, S. 772-786, Neuwied
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 38
38
Auftrag und Mandat
Gedrath, V./Schröer, W. (2002): Die Sozialgesetzgebung und die Soziale
Arbeit im 20. Jahrhundert, in: Thole, W., Grundriss Soziale Arbeit, S.
647-665, Opladen
Griese, H. (1999):
Jugend, in: Albrecht, G. u.a., Handbuch soziale
Probleme, S.462-486, Wiesbaden
Hammerschmidt, P. (2002): Geschichte der Rechtsgrundlagen der Sozialen
Arbeit bis zum 20. Jahrhundert, in: Thole, W., Grundriss Soziale
Arbeit, S. 637-646, Opladen
Merten, R./Olk, Th. (1999): Soziale Dienstleistungsberufe und Professionalisierung, in: Albrecht, A/ Groenemeyer, A. u.a., Handbuch Soziale
Probleme, S. 955-982, Opladen und Wiesbaden
Münchmeier, R. (2001): Jugend. in: Otto, H.-U./Thiersch, H., Handbuch
Sozialarbeit/Sozialpädagogik, S. 816-830, Neuwied
Peukert, J.K.//Münchmeier, R. (1990): Historische Entwicklungsstrukturen und Grundprobleme der Deutschen Jugendhilfe, in: Sachverständigenkommission 8. Jugendbericht, S. 3-49.
Schaarschuch, A (1999): Integration ohne Ende? Soziale Arbeit in der
gespaltenen Gesellschaft, in: Treptow, Rainer/Hörster, Reinhard
(Hrsg.), Sozialpädagogische Integration, S. 57-68, Weinheim und
München
Scherr, A (1997): Subjektorientierte Jugendarbeit. Eine Einführung in die
Grundlagen emanzipatorischer Jugendpädagogik, Weinheim und
München
Scherr, A. (2006):
Soziale Arbeit und die Ambivalenz sozialer
Ordnungen, in: Badawia, T./Luckas, H./Müller, H., Das Soziale
gestalten, 135-148, Wiesbaden
Schütze, F. (1997): Organisationszwänge
und
hoheitsstaatliche
Rahmenbedingungen im Sozialwesen: Ihre Auswirkung auf die
Paradoxien des professionellen Handelns, in: Vombe, A./Helsper, W,
Pädagogische Professionalität, S. 183-275, Frankfurt am Main
Sünker, Heinz (2000): Gesellschaftliche Perspektiven Sozialer Arbeit
heute, in: Müller, S./Sünker, H./Olk, Th./Böllert, K. (Hrsg.), Soziale
Arbeit. Gesellschaftliche Bedingungen und professionelle Perspektiven, S. 209-225, Neuwied und Kriftel
Thole, W./Küster-Schapfl, E.-U. (1997): Sozialpädagogische
Profis.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 39
Auftrag und Mandat
39
Beruflicher Habitus, Wissen und Können von PädagogInnen in der
außerschulischen Jugendarbeit, Opladen
Thole, W. (2000):
Kinder-
und
Jugendarbeit.
Eine
Einführung,
Weinheim und München
Otto, H.-U./Ziegler, H. (2005/2008):
Sozialraum
und
sozialer
Ausschluss. Die analytische Ordnung neo-sozialer Integrationsrationalitäten in der Sozialen Arbeit, in: Anhorn, R./Bettinger,
F./Stehr, J., Soziale Arbeit und Sozialer Ausschluss, S. 115-145,
Wiesbaden
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 40
Biografie und Lebenswelt
Möglichkeiten und Grenzen der Biografie- und
Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit
Rudolf Egger
»Und mache ihn wieder / normal / damit er / zu dieser / Welt passt«
Wie elend dieser Auftrag ist / das hängt davon ab / wie blutig
die Welt ist /und wie menschenfeindlich /die Norm
Denn keiner soll passen / zu dieser Welt /
wie das Brennholz / zur Flamme
Sondern nur / wie der / der ihn löscht / zum Brand.
(Erich Fried: Heilungsvollzug)
Soziale Arbeit zwischen Normalisierung
und Emanzipation
Eine Beschreibung der derzeitigen gesellschaftlichen Vorgänge
könnte an zwei Stichworten festgemacht werden: Beschleunigung und Entgrenzung. Wo und wie Menschen leben, war
noch nie etwas Statisches, aber die heutigen verschärften sozialen, kulturellen oder religiösen Änderungsimpulse haben vieles davon, was uns Orientierung zu geben vermag, gleichzeitig
erfasst: Menschen und ihre Beziehungen, Waren und ihre
Distributionsmöglichkeiten, Dienstleistungen und ihre sozialen
Bezüge, Grundbedürfnisse und ihre Absicherungen. Alle diese
Umgestaltungen in der Arbeitswelt, der Familie, den Institutionen und auch in den kulturellen Leitbildern und den sozialen Bezugsgrößen erzeugen dabei permanent neue Zonen der
In- und Exklusion. Immer mehr Menschen kämpfen hier
darum, sich in diesen großflächigen Prozessen der Entbettung
(vgl. Giddens 1995) eine würdige Lebensgeschichte zu erschaf-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Biografie und Lebenswelt
Seite 41
41
fen, die ihnen in ihrem Streben Orientierung und Sinn geben
kann. Von diesen Prozessen der hier unablässig zu verhandelnden Teilhabe und des Ausschlusses von Individuen wird auch
das Bezugssystem der Sozialen Arbeit stark beeinflusst. Dies
betrifft dabei sowohl die konkreten Tätigkeiten, als auch den
gesellschaftlich-normativen Bezugsrahmen der »WiederHerstellung von Normalität« durch die Sozialarbeit. Abseits der
privaten, lebensweltlichen Unterstützungsformen der Familienverbände und Formen der informellen Solidarität haben sich in
den letzten Jahrzehnten diesbezüglich die wohlfahrtsstaatlichen
Interventionen in allen Ebenen unseres Lebens drastisch
erweitert. Der Zunahme der »Phänomene der Rätselhaftigkeit
und Verschlossenheit der Lebensrealität« (Schütze 1994, S.
193) sollte vor allem die Soziale Arbeit mit ihren lebensnahen
Interventionen entgegenwirken. Eine gesellschaftlich verantwortungsvolle und emanzipatorisch ausgerichtete Sozialarbeit
sollte hier vor allem auch durch eine biografie- und lebensweltorientierte Zuwendung zum prekären Subjekt etabliert werden.
Disziplingeschichtlich ist die Nähe der Felder der Sozialen
Arbeit zu biografischen und lebensweltlichen Ansätzen groß.
Die Arbeit an »Fällen«, anhand derer die Bedingungsstrukturen
von Lebenswelten und KlientInnen analysiert und mit
Interventionsmöglichkeiten verbunden werden können, sind
kein neues Phänomen. In der Sozialarbeit wurde schon sehr
früh mit (auto-)biografischem, lebensweltbezogenem Material
gearbeitet. Die Erstellung von Fallbeschreibungen gehört solcherart zum unabdingbaren Repertoire dieser Zunft. Die
Versuche, der fallorientierten Sozialen Arbeit eine wissenschaftliche Orientierung und Fundierung zu geben, setzten in
den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts an (vgl. Müller 1993). In
der psychoanalytischen Sozialpädagogik wurde z. B. die
Aufmerksamkeit schon recht zeitig auf die biografischen
Dimensionen von Erziehungsprozessen gelenkt und machte so
auch versteckte und unbewusste Faktoren des Erziehungsgeschehens zum erforschbaren und handlungsunterstützenden
SatzBakic.qxd
42
27.02.2008
17:19
Seite 42
Biografie und Lebenswelt
Bestandteil der sozialarbeiterischen Wirklichkeit (vgl. dazu u.
a. Körner/Ludwig-Körner 1997, Rauchfleisch 1996). Wichtige
Impulse gingen auch von der Chicago School of Sociology aus
(vgl. Bulmer 1984), indem sie den Fokus auf krisenhafte und
verinstitutionalisierte Lebensläufe richtete. Die daraus sich bis
heute entwickelnden Ansätze eröffnen diesbezüglich ein breites
Feld an Zugängen. Einmal geht es vorwiegend um biographische Fallanalysen (vgl. Schütze 1993) oder um Fallrekonstruktion (vgl. Kraimer 2000), bzw. um eine vorwiegend sozialpädagogische (vgl. Uhlendorf 1997) oder eine biografische
Diagnostik (vgl. Hanses 2004). Darüber hinaus sind auch ethnographische Aspekte (vgl. Schütze 1994) in der sozialarbeiterischen Praxis von Interesse. Der zentrale gemeinsame Nenner
liegt dabei in einem stark adressatenorientierten und rekonstruktiven konzeptionellen Umgang mit den jeweiligen Fällen
in der Praxis. In den hier entwickelten Konzeptionen zur
Analyse von biografisch erhobenen krisenhaften Phänomenen
von Personen und Gruppen sollte die Dynamik zwischen sozialer Umwelt und individueller Entwicklung besser nachvollziehbar gemacht werden. Grundlegend für die Analyse des
»Sozialen« sind dabei die Fragen, welche Interpretationsleistungen Subjekte zur Herstellung ihrer Welt erbringen müssen. Dazu wird vor allem an der Alltagswelt der Betroffenen
angesetzt, denn dieses Handeln ist zentral für die Herstellung
von Sinn und Bedeutung. Menschen verleihen ihren
Wahrnehmungen in Prozessen der immer schon ablaufenden
Interpretation und Selektion die für sie relevante Bedeutung.
Neben die Kategorien Ursache und Wirkung wird dabei der
Begriff Sinnhaftigkeit für das Verständnis von sozialem
Handeln wesentlich. Die Intention dabei ist, gesellschaftliche
Tatsachen über die Bedeutungszuschreibung und die Wirklichkeitskonzeption der Handelnden zu erschließen.
Viele dieser Versuche blieben aber entweder zu stark an einer
Idee der »Kunstlehre« zur richtigen Auslegung von Fällen
orientiert, oder fußten auf einer zu expertokratischen Per-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Biografie und Lebenswelt
Seite 43
43
spektive innerhalb eines zu kontrollierenden Interaktionsverhältnisses. Mit der in den 70er Jahren verstärkt einsetzenden
biografietheoretischen und -praktischen Perspektive wurden
diese Prozesse der Subjektbildung und des Mitgliedwerdens in
der Gesellschaft wieder an eine emanzipatorische
Interessenslage angebunden (vgl. Egger 1995). Grundlegende
Aspekte der Aneignung und der Konstruktion, der Temporalität, der (Selbst-)Reflexivität und Strukturbildung sollten
hier sowohl für die Sozialarbeitswissenschaft als auch für deren
Praxis systematisch Berücksichtigung finden. In diesem Sinne
wurde die lebensweltorientierte Soziale Arbeit von der
»Tübinger Schule« um Hans Thiersch entwickelt. Durch die
Hinwendung zu den konkreten Lebensverhältnissen und den
alltägliche Erfahrungen der Menschen sollte hier disziplinkritisch zu der fortwährenden Spezialisierung der Sozialen Arbeit
und der Arroganz der »Expertokratie« ein Gegengewicht aufgebaut werden (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, S. 14). Vor dem
Hintergrund gesellschaftlicher Tendenzen der Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen und der zunehmenden Erosion bestehender Lebensstrukturen wurde dabei
eine neue gesellschaftspolitisch anspruchsvolle Perspektive
entwickelt, die den Klientels der Sozialen Arbeit zu einem
»gelingenderen Alltag« (ebd., S 23) verhelfen sollte.
Der entscheidende Ausgangspunkt all dieser Bestrebungen
einer alltagsorientierten Sozialen Arbeit ist dabei die
Rekonstruktion der Lebenswelt, deren Routinen und Typisierungen, die den Alltag als feines Gewebe durchziehen, und
die es Menschen ermöglicht, die eigenen Lebensverhältnisse zu
bewältigen. Dabei soll der normative Aspekt erst einmal ausgeklammert werden, denn auch abweichendes Verhalten hat hier
seine erfahrbare Wirklichkeit, indem es z. B. als Versuch
bewertet wird, mit den konkreten Lebensverhältnissen zurecht
zu kommen. Dieser Nachvollzug der Bewältigungsleistungen
im Alltag wird innerhalb von drei großen Phasen mit dem
Helfersystem verknüpft. Ausgehend von der Situationsanalyse
SatzBakic.qxd
44
27.02.2008
17:19
Seite 44
Biografie und Lebenswelt
und einer darauf aufbauenden Diagnose wird ein Lösungsentwurf mit den AdressatInnen erarbeitet und dessen schrittweise Realisierung und Überprüfung eingeleitet. Die hier
lebensnah und biografisch sensibel entwickelten Erkenntnisse
und die daraus abgeleiteten Handlungsschritte haben in diesem
Konzept auch auf die Selbstinterpretation und die daraus resultierenden Deutungs- und Handlungskonsequenzen der Betroffenen große Auswirkung. Da hier nichts »von außen darübergestülpt« wird, soll Soziale Arbeit demnach als Hilfe zur
Selbsthilfe, als Empowerment-Strategie, wirken. Das Helfersystem beschränkt sich darauf, vor allem auf die Strukturen und
Dimensionen der Zeit (die Bedeutung der Gegenwart im
»Horizont der offenen, immer riskanten Zukunft«), des Raumes
(die Lebensverhältnisse der AdressatInnen) und der sozialen
Bezüge (dem Aufbau von verlässlichen und belastbaren
Beziehungen) zu achten (vgl. ebd., S. 28 – 36).
So ansprechend und wichtig die Ideen der Arbeit mit lebensnahen Geschichten von KlientInnen im Sinne partizipierender
und »empowerter« Konzepte auch sind, so voraussetzungsreich
sind sie aber in der konkreten Arbeit. Bei vielen Ausführungen
zu einer solchen Biografie- und Lebensweltorientierung hat es
den Anschein, dass die Sozialarbeit durch ihre vordergründige
»Interventionsaskese« einen »besonderen« Bezug zur konkreten Alltagswelt der Betroffenen per se hat, und dass sich
Probleme, sofern sie nur lebensnah »angepackt« werden, schon
»lösen« lassen. Dass dies ein Wunschbild ist, und dass auch die
konsequenteste Hinwendung zur Lebenswelt z. B. die Härten
der freien Marktwirtschaft und der Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft keineswegs außer Kraft setzen kann, ist evident. Es ist danach zu fragen, wie die hier Tätigen sich jenes
idiographische Wissen über die Lebenswelt ihrer KlientInnen
aneignen können, das sie in die Lage versetzt, ihrer Aufgabe der
Stabilisierung und Integration nachzukommen, und welche spezifischen Risiken hier auftreten. Es muss auch darüber diskutiert werden, welche Bedingungen in der Sozialen Arbeit gege-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Biografie und Lebenswelt
Seite 45
45
ben sein müssen, damit die biographische Hinwendung zum
Subjekt nicht dazu führt, dass die gesellschaftliche Relevanz in
einer rein lebensweltorientierten Individualhilfe aufgeht. Die
Fragen die es dabei zu stellen gilt sind: Wie gehen
SozialarbeiterInnen mit lebensnahem, »biographischem
Material« um, wie fließt dieses in die alltägliche Arbeit ein,
bzw., welche »Verwendungskompetenzen« sind hier daran
gebunden? Was geschieht bei der Entwicklung lebensgeschichtlich relevanter Perspektiven und Handlungsoptionen in
der Sozialarbeit? Wie werden die hier in den Interaktionsprozessen erschlossenen biographischen Wissensbestände und
Sinnhorizonte an die institutionellen Angebote der Sozialarbeit
angekoppelt? Wie und wodurch kann es zu einer Passung zwischen dem Bedarf, den Sinnhorizonten und den Erfahrungen
der AkteurInnen und den Aufforderungsstrukturen der Institutionen kommen, damit die KlientInnen überhaupt »ProduzentInnen personenbezogener Dienstleistungen« werden können? Wie begegnet man der Gefahr, dass sich »passgenaue
Hilfsangebote« als Sparpaket entpuppen, und die Maxime der
»Alltagsnähe« zur Vermeidung aufwändiger sozialpolitischer
Maßnahmen vorgeschoben wird? Und letztlich stellt sich die
einleitend zitierte Frage von Erich Fried, wie »elend dieser
Auftrag ist«, wenn die Integration nur als Anpassung an die
herrschenden Normen zu sehen ist. Erst wenn diese
Fragestellungen bearbeitet sind, wenn sichergestellt ist, wie die
Aushandlung der Geschichten und die daraus folgenden
Angebote biographisch angeeignet werden können, haben die
AdressatInnen Sozialer Arbeit auch tatsächlich die Chance, zu
NutzerInnen der professionellen Angebotsstrukturen (und dies
nicht nur per Definition, sondern auch konkret in ihren
Handlungen) zu werden.
SatzBakic.qxd
46
27.02.2008
17:19
Seite 46
Biografie und Lebenswelt
Lebensweltlich wirkende Ordnungsverfahren
Es spricht vieles dafür, dass biografie- und lebensweltorientierte Ansätze wichtige Beiträge zu einer klientInnenzentrierten,
milieusensiblen und ressourcenorientierten Arbeit betragen
können. Dennoch bleibt hier zu klären, wie mit Hilfe von
Biographen eine dem »Fall« zugrundeliegende »Logik« aufgespürt werden kann, die nicht nur eine strategische Rechtfertigungs-Erzählung (für Professionelle und AdressatInnen)
ist. Es gilt weiters zu bedenken, welche Rolle die Kontextbedingungen dieser Prozesse bei der »Erhebung der tatsächlich
erlebten Lebensgeschichte« spielen, und es bleibt abzuwägen,
wie dabei mit dem gesellschaftlichen und institutionellen
Auftrag der Sozialarbeit umgegangen wird? Gerade hier ist die
Biografieorientierung in den Sozialen Berufen und den
Sozialwissenschaften kritisch zu beleuchten, sollen nicht die
Fehler der Ethnomethodologie des letzten Jahrhunderts wiederholt werden. Auch damals wurde viel erwartet und noch mehr
versprochen. Was dann allerdings bald sichtbar wurde, kann
durchaus als ein subjektivistisches Desaster bezeichnet werden.
Die situativen Kontextualisierungen konnten kaum durchgehalten werden, zu oft wurden die hier auftauchenden Leerstellen
beinahe beliebig mit eigenen Überlegungen, Ideen, Thesen und
fertigen Deutungen überdeckt, statt diese sorgfältig zu reflektieren und als Lernfelder in den Prozess zurückzuführen. Diese
Gefahr besteht auch in den biografieorientierten Diskursen der
Sozialarbeit. Zu schnell werden auch hier unter dem Praxisdruck Interpretate verabsolutiert, ohne dass deren Zustandekommen und ihre Implikationen ausreichend berücksichtigt
werden. Ausgehend von einem meist fiktiv angenommenen
narrativen Bündnis zwischen den an der Biografie
Interessierten und den BiografieträgerInnen, wird hier ein
gemeinsames Interesse an und auch eine gemeinsame
Gewissheit über die erlebte und nun zu erzählende Lebensgeschichte vorausgesetzt. In der Arbeit mit Biografien ist ein
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Biografie und Lebenswelt
Seite 47
47
solches narratives Bündnis aber keineswegs neutral zu denken,
denn dabei finden permanent (bewusst und unbewusst)
Prozesse des Aushandelns statt. Hier werden quasi andauernd
(und von allen Beteiligten) das Programm und die Perspektiven
verhandelt, die jene Form der Konsistenz der Geschichte
sicherstellen müssen, die tragfähig für die weitere Arbeit sein
sollen. Die hier »produzierten« Lebensgeschichten sind als solche nicht voraussetzungslos, denn jede im Erkundungs- oder
Interventionsprozess erzählte Lebensgeschichte repräsentiert
auch die wirkungsvollen sozialen Prozesse und deren
Entstehung. SozialarbeiterInnen und KlientInnen, Fragende
und Befragte, produzieren hier gleichsam gemeinsam das, was
als Biografie schließlich zur »Anwendung« kommt. In solchen,
nach den sozialen Regeln des Alltags hergestellten Lebensgeschichten spielen natürlich auch Fragen von Macht und
Hierarchie eine große Rolle. Der Großteil dieser Implikationen
wird dabei aber (sowohl in den Interventions- und auch den
Erkundungsstrategien) beiseite geschoben, um den festen
Boden in der konkreten Handlungsabsicht nicht zu verlieren.
Diese Geschichten sind dabei ein umstrittenes Terrain, da hierin
die Wege und die Dimensionen der »inneren Landkarte« von
Individuen (bzw. deren individuelle und gesellschaftliche
Bedeutungszuschreibung der Realität) festgelegt werden. Der
hier ausverhandelte Erfahrungs- und Erinnerungsraum bestimmt
die Zuschreibungen von Relevanz, innerhalb derer einem
Ereignis Bedeutung beigemessen wird. Auch hier zeigt sich wieder, dass in diesem Aushandlungs- und Strukturierungsprozess
von Lebensgeschichten, unterschiedliche Macht- und Durchsetzungsmodi herrschen. Gerade Institutionen (wie z. B. die
Sozialarbeit oder das Gericht) werden für die KlientInnen zu
einem der wichtigsten Kontrollinstanzen der von ihnen geforderten Vergesellschaftung. Die hier eingebrachten und bearbeiteten Biografien sind deshalb immer im Referenzrahmen von
institutionalisierten Interaktionserfahrungen, in denen spezifische Ordnungen und Rahmen wirken, zu verstehen.
SatzBakic.qxd
48
27.02.2008
17:19
Seite 48
Biografie und Lebenswelt
Bei den in der alltäglichen sozialarbeiterischen Praxis präsentierten Erzählungen und biographischen Details handelt es sich
deshalb stets um Konstruktionsleistungen auf mehreren
Ebenen. Einmal geht es um die Legitimation von als bedeutungsvoll erachteten Aspekten und deren Absicherung durch
Erzählungen. Wie das relevante Geschehen hier erzählt, hergeleitet und abgesichert wird, gibt den Interventionen (sozialarbeiterisch, richterlich, etc.) ihre Perspektive. Manchmal genügt
es, einen Fall nur anders zu erzählen, das heißt, andere
Umstände heraus- und andere Beziehungen herzustellen, oder
den Zeithorizont, also das Vorher und Nachher, enger oder weiter zu fassen, um die Erfahrung zu machen, dass »die Sache in
einem neuen Licht« erscheint. Das bedeutet nicht, dass die
Geschichte willkürlich erzählt werden könnte, um die
gewünschte Entscheidung herbeizuführen, denn die hier
zugrundeliegenden Normen sind ihrerseits wiederum in
Erzählungen eingebettet. Nicht jede Erzählung passt demnach
gleichermaßen gut zu einer zugrundeliegenden Norm.
Erzählungen besitzen zudem selbst eine innere Struktur, die den
Variationsspielraum des Erzählbaren einschränkt (vgl. Egger
1995). Schließlich erregt eine Geschichte nur dann Aufmerksamkeit, wenn sie »passend« erzählt wird, wenn sie den
geforderten Mustern und Typen grundsätzlich entspricht. Aus
all diesen Schritten wird in der Folge von den damit betrauten
professionellen SozialarbeiterInnen oder RichterInnen aus
einer Menge von alternativen Fallgeschichten der »Fall« hergestellt. Dieser Prozess, in dem manche Umstände relevant, andere dagegen irrelevant werden, lässt sich nicht trennen von der
(impliziten oder expliziten) Norm, nach der die Entscheidung
des Falles gewichtet wird. Dabei ist die Wahl der Normen
bestimmt von den erlernten und habitualisierten Vorstellungen
möglicher Fälle, auf die sie anwendbar sind.
Darüber hinaus ist aber auch eine stringent erzählte
Lebensgeschichte selbst nicht das »Geschehene« an sich, sondern nur ein retrospektiver Entwurf, der sich dem Augenblick
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Biografie und Lebenswelt
Seite 49
49
der Entstehung dieses Entwurfs verdankt. Das, was in den
Geschichten dabei zum Vorschein kommt, ist eine aktuelle
Konstruktion, die die subjektiv erlebte und gesellschaftlich verortete Vergangenheit im Erzählen entwirft (vgl. Alheit 2003).
Die Erzählenden vergewissern sich hierin gewissermaßen der
Vergangenheit um die Gegenwart zu erklären und die Zukunft
zu perspektivieren. Solche Vorgänge sind immer durch
Kommunikation und Interaktion geprägt. Sinn entsteht dabei
durch einen permanenten Differenzierungsprozess, der sowohl
durch die »Erschaffung« der Erzählung, als auch durch deren
Rezeption und den hier eingelagerten Erwartungsraum geprägt
wird. In den Praxen und Theoriefeldern der Humanwissenschaften wandelt sich dabei der Gegenstand kommunikativ.
Was hierbei gut erfasst werden kann, sind jene von den
Beteiligten verwendeten Diskurse zur Ordnung der je spezifischen Lebenssituationen. Das »Hineinschauen« von SozialarbeiterInnen (oder auch von ForscherInnen) in die hier biografisch wirkenden Ordnungsverfahren geschieht demnach immer
dadurch, dass man selbst an ihnen aktiv teilnimmt. Hier ist der
Topos des »doing biography« in der Sozialen Arbeit (und auch
der Sozialforschung) den Bedingungen der Postmoderne unterworfen. Glückt dieses narrative Bündnis (und dies kann es nur,
wenn es innerhalb eines konkreten abgesicherten Lebensbezugs
stattfindet), wird die biografische (Un)Ordnung in ihrer konkreten Situiertheit erkennbar. Es kann dann einsichtig werden,
wie die Vorstellungen von z. B. Normalität von einem vielschichtigen Geflecht aus biografischen, kulturellen, sozialen
oder sozialpsychologischen Bezügen durchwoben sind. Der
Vorgang der Problembearbeitung, der Normalisierung,
beschreibt dabei den Prozess der Aufnahmebereitschaft, des
Findens, Begründens und Reflektierens von Bezugspunkten der
Interpretation von KlientInnen. Soziale Arbeit erzeugt hier
quasi gemeinsam erst jenen Diskurs und jene biografischen
Folien, in der die als relevant eingeschätzten problembehafteten
Aspekte der Vergangenheit vergegenwärtigt und reorganisiert
SatzBakic.qxd
50
27.02.2008
17:19
Seite 50
Biografie und Lebenswelt
werden. Die hier ausgehandelte(n) Geschichte(n), die biografisch sichtbar werdende Realität, ist also ein Resultat dieses
ordnenden Rahmens. In der Sozialen Arbeit werden dabei die
Ordnungstendenzen stärker als z. B. in der Forschung sichtbar,
da die Sozialarbeit auftragsgemäß zur Lösung eines virulenten
Konflikts herangezogen wird. Sowohl die Sozialforschung als
auch die Soziale Arbeit sind aber unabwendbar verwoben in
diesen Aushandlungs- und Ordnungsprozesses. Innerhalb dieser Kontextualisierungsverfahren hängt es von einem spezifischen Anlass, einem gemeinsamen Interesse ab, ob und wie
lebensgeschichtliche Bausteine und Kontexte in die
Deutungsarbeit gelangen. Es ist hier von eminenter Bedeutung,
innerhalb welcher Bedingungen die Lebensgeschichte
»entsteht« (ob im Rahmen von Bewerbungen, der Forschung
oder einer Gerichtsverhandlung), denn die in diesem Kontext
geltenden (oder antizipierten) Vorstellungen und Erwartungen
generieren das Bezugssystem, das die entsprechenden
Reaktionen auslöst (vgl. dazu Bukow et al. 2001). Sowohl
SozialforscherInnen als auch SozialarbeiterInnen sollten sich
hier bewusst machen, dass sie zwar Personen mit besonderen
Gestaltungsbefugnissen der Vergangenheit und der Gegenwart
ihrer KlientInnen sind, dass das Balancieren und Kontextualisieren dieser Biografien aber auf beiden Seiten Teile von
Selbstvergewisserungs- und Ordnungsverfahren sind. Hier
zeigt sich, dass Geschichte, die eigene und die andere, niemals
neutral ist, sondern stets innerhalb von Großgeschichten und
den hier eingeschriebenen Strukturen ihre Gestalt erhält. Die
Geschichten, die Menschen über ihre Arbeit, oder über die Orte
an denen sie leben erzählen, sind vieldeutig und wir sollten das
soziale Moment der Entstehung der Erkenntnis nicht außer
Acht lassen.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 51
Biografie und Lebenswelt
51
Biografie und Lebensweltbezug:
Mehr als ein neues Label?
Es ist offensichtlich, dass die Idee einer professionalisierten
Alltagspraxis nicht ohne den Lebensweltbezug auskommt. Die
Selbstdefinitionen der beteiligten Personen sind von wesentlicher Bedeutung, denn auch gesellschaftliche Bezüge erlangen
erst im alltäglichen Handeln ihre Gestalt und Wirksamkeit.
Eine Missachtung biographischer und sozialer Sinnhorizonte
kann z. B. die psychosoziale und gesundheitliche Destabilisierung von KlientInnen weitertreiben. Eine Folge davon sind
die gut bekannten institutionellen Drehtürsituationen (vgl.
Hanses/Börgartz 2001). Biografie- und subjektorientierte
Sozialarbeit kann also durchaus helfen, zwischen der Scylla der
Objektivität und der Charybdis des Relativismus hindurchzusteuern. Sie lässt uns jene Prozesse nachvollziehen, wie
Gesellschaftsmitglieder ihre Welt als real erleben, während sie
diese selbst interpretativ mitbauen. Sie lässt uns hinter den
»harten Strukturen«, den Daten und Statistiken, in denen wir
unsere Gesellschaft und die Subjekte wahrnehmen, lebendige
Menschen mit ihren vielfältigen Geschichten begreifen. Die
Hinwendung zum »Fall«, zur Lebensgeschichte darf aber niemals die gesellschaftlichen Dimensionen vergessen. Lebensgeschichten, deren Konstruktionen und Rekonstruktionen sind
immer auch verdeckte Referenzen an die strukturellen
Bedingungen, in denen wir leben. Darauf hinzuweisen scheint
umso wichtiger, als mit der biographischen Wende gleichzeitig
eine Perspektive etabliert wurde, deren Auswüchse zu oft dazu
dienen, die Welt mit Betroffenheitsprosa zu »heilen« und zu
verkitschen. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass es so etwas
wie eine kohärente Lebensgeschichte in allen Phasen tatsächlich gibt (vgl. Bourdieu 1990), und es ist auch unkritisch anzunehmen, dass jede/r sich nur ausgiebig bemühen müsste, um
eine stringente Lebenserfolgsgeschichte zu kreieren, um den
Platz in der Gesellschaft zu erreichen, der ihr/ihm zustehe.
SatzBakic.qxd
52
27.02.2008
17:19
Seite 52
Biografie und Lebenswelt
Auch die Wunschvorstellung, dass es genügt, sich »die Sache«
einmal aus der Nähe anzusehen, ist eine trügerische, denn das
Wesentliche des vor Ort zu Erlebenden und zu Sehenden hat
seinen Kern oft ganz woanders. Der Weg über die Biografie
führt dabei immer wieder auf den Umweg des Staates, der
Politik, um die Wechselbeziehungen zwischen den Strukturen
des Sozialraums und jenen des physischen Raums sichtbar zu
machen. Der sozialarbeiterische Traum von der perfekten
lebensweltlich-abgesicherten Intervention ist auch mit einer
verstärkten Biografieorientierung nicht zu retten. Eine weitere
Gefahr besteht darin, dass mit dieser praktischen Zugriffsweise
zum »echten, wirklichen gelebten Leben« nur noch Wissen
generiert wird, das lediglich dazu dient, den betreffenden
Menschen besser »helfen« zu können. Gerade aber aus dem
Kontrast des Einzelschicksals mit dem es umgebenden
Gesellschaftssystem entsteht erst ein unsentimentales, professionelles Verständnis von Sozialarbeit.
Noch einmal sei deshalb auf die institutionelle Verankerung der
Sozialen Arbeit hingewiesen, die die im Helfersystem Tätigen
bestimmt. Alltägliches Leben erfolgt inmitten eines steten
Stroms von Handlungen in spezifischen Situationen, die den
Einzelpersonen ein je spezifisches Feedback geben. Die Soziale
Arbeit gibt hier auch ständig Rückmeldung darüber, wie das
Verhalten der jeweiligen KlientInnen innerhalb gesellschaftlich
erwünschter Bahnen aussehen soll. Auch die noch so sensibelste Bezugnahme auf die »Realität« von gelebtem Leben muss
anerkennen, dass es einerseits für jede biografische Facette
mehrere Interpretationsmöglichkeiten gibt, und dass alle diese
Interpretationen auch stets im Modus der Ausübung von sozialer Kontrolle gesehen werden müssen. Das sozialarbeiterische
Wirken kann nicht per Definition von den es umgebenden
Institutionen und den hier wirkenden Normalitätsstandards
abgelöst werden. Eine Profession, die sich dieses Umstands
durch ein vermeintliches Aufgehen in den je individuellen
Problemlagen der AdressatInnen zu entledigen versucht, hat ein
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Biografie und Lebenswelt
Seite 53
53
großes legitimatorisches Problem. Die Idee der »Herstellung«
einer passgenauen Handlungsfähigkeit von KlientInnen durch
die verstärkte Hinwendung zu einer umfassenden Biografiearbeit ist in diesem Sinne genauso einfältig, wie Münchhausens
Versuch, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.
Das Erzeugen eines Passungsverhältnisses zwischen Professionellen und NutzerInnen ist ein störrischer und von unterschiedlichen gesellschaftlichen Diskursen imprägnierter Raum.
Die hier geschilderten Gesichtspunkte einer verstärkten
Orientierung an den lebensgeschichtlichen Bedeutungszuweisungen der AdressatInnen von Sozialer Arbeit sollten deutlich machen, dass sich diese immer innerhalb des Kräftefeldes
von individuellen und institutionellen Interpretations- und
Entscheidungsschemata bewegen. Biografische Bezüge sind
dabei wesentlich, um die gemeinsamen und wechselseitigen
Handlungen begreifbar zu machen. Die hierbei entwickelten
nutzbringenden Perspektiven werden dabei im Alltagshandeln
der Professionellen in ihren Institutionen oder im Austausch mit
den KlientInnen erzeugt und als Wirklichkeitsordnungen aufrechterhalten. Soziale Arbeit operiert hier auch in einem biografie- und lebensweltrelevanten Bezug in den Funktion des
Helfens und des Kontrollierens. Wenn sie tatsächlich emanzipatorisch greifen soll, dann ist es wesentlich, dass es den
Professionellen hier ermöglicht wird, die eigenen diesbezüglichen Rollenbilder in ihren institutionellen und gesellschaftlichen Bezügen zu hinterfragen und dadurch die eigene Praxis
einer selbstkritischen Kontrolle zu unterziehen. Dabei geht es
vorrangig um die Befähigung, individuelle Strategien und
gesellschaftlich vorgegebene Sozialstrukturen aufeinander zu
beziehen, um das Handeln in der Sozialen Arbeit auch gesellschaftlich zu legitimieren.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 54
54
Biografie und Lebenswelt
Literatur
Alheit, P. (2003): Biografizität. In: Bohnsack, R./Marotzki, W./Meuser, M.
(Hrsg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Opladen, S. 25.
Böhnisch, L. (2001): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung,
Weinheim und München, 3. Aufl.
Bourdieu, P. (1990): Die biographische Illusion. In: Bios, Jg.3, H.1, S. 7581
Bukow W.-D./Nikodem, C./Schulze, E./Yildiz, E. (2001): Die multikulturelle Stadt. Von der Selbstverständlichkeit im städtischen Alltag.
Opladen.
Bulmer, M. (1984): The Chicago School of Sociology. Institutionalization,
diversity, and the rise of sociological research. Chicago
Egger, R. (1995): Biografie und Bildungsrelevanz. Eine empirische Studie
über Prozeßstrukturen moderner BildungsBiografien. Wien/München
Giddens A. (1995): Konsequenzen der Moderne. Frankfurt/M.
Grunwald K./Tiersch, H (2004): Das Konzept lebensweltorientierte
Soziale Arbeit – einleitende Bemerkungen. In: Grunwald,
K./Thiersch, H. (Hg): Praxis lebensweltorientierter Sozialer Arbeit.
Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern. Weinheim/München
Hanses, A. (Hg.) (2004). Biografie und Soziale Arbeit. Institutionelle und
biographische Konstruktionen von Wirklichkeit. Baltmannsweiler
Hanses, A./Börgartz, H. (2001): Soziale Arbeit im Krankenhaus. Eine biographische Patientenstudie zur Praxis klinischer Sozialarbeit. In: neue
praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik
31. Neuwied, S. 573 – 595
Körner, J./Ludwig-Körner, Ch. (1997): Psychoanalytische Sozialpädagogik. Eine Einführung in vier Fallgeschichten. Freiburg i. Br.
Kraimer, K. (2000): Die Fallrekonstruktion – Bezüge, Konzepte,
Perspektiven. In: Kraimer, K. (Hg.): Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt/M., S.
23-57
Krauß, E. J./Möller, M./Münchmeier, R. (Hg.) 2007: Soziale Arbeit zwischen Ökonomisierung und Selbstbestimmung. Kassel
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 55
Biografie und Lebenswelt
55
Müller, B. (1993): Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit. Freiburg i. Br.
Rauchfleisch, U. (1996): Menschen in psychosozialer Not. Beratung –
Betreuung – Psychotherapie. Göttingen
Schütze F. (1994): Ethnographie und sozialwissenschaftliche Methoden
der Feldforschung. Eine mögliche methodische Orientierung in der
Ausbildung und Praxis der Sozialen Arbeit. In: Groddeck,
N./Schumann, M. (Hg.), Modernisierung Sozialer Arbeit durch
Methodenentwicklung und -reflexion. Freiburg, S. 189-297
Schütze, F. (1993). Die Fallanalyse. Zur wissenschaftlichen Fundierung
einer klassischen Methode der Sozialen Arbeit. In Rauschenbach,
T./Ortmann, F./Karsten, M.-E. (Hg.): Der sozialpädagogische Blick.
Lebensweltorientierte Methoden in der Sozialen Arbeit (S.191-221).
Weinheim.
Thiersch, H. (2005): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der
Praxis im sozialen Wandel. Weinheim/München
Uhlendorff, U. (1997): Sozialpädagogische Diagnosen III. Ein sozialpädagogischhermeneutisches Diagnoseverfahren für die Hilfeplanung.
Weinheim/München
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 56
Case Management und Clearing
Roland Fürst
Die Soziale Arbeit ist mit der Entwicklung einer neuen
Sozialstaatlichkeit einem politisch wie ökonomisch verursachten Veränderungsdruck unterworfen und durchläuft einen
Transformationsprozess (vgl. z.B. Ziegler 2003, 101ff.), sie ist
sozialstaatlich als mitkonstituierte Profession vom neo-liberalen Mainstream unmittelbar betroffen und soll helfen, dementsprechende Normen in die Gesellschaft zu implementieren (vgl.
Kleve 2006, 14). Effektivität und Effizienz sind die neuen
Instanzen, die nicht nur die Organisation, sondern auch die
Durchführung und Methoden Sozialer Arbeit beeinflussen.
Damit dieser bittere Befund keine allzu große Unruhe in der
Sozialen Arbeit verursacht, bedient man sich moderner
Methoden, Modelle und Fachbegriffe, die den »missing link«
zwischen ideologischem Überbau (Stichwort: Neue Steuerung)
und den AkteurInnen Sozialer Arbeit herstellen sollen. Die für
diese Entwicklung stehenden Schlagwörter werden aus der
Sicht von ProfessionistInnen nicht unbedingt sofort negativ
konnotiert, sondern ihnen wird zunächst eine Vereinbarkeit mit
professioneller und qualitätsvoller Sozialarbeit zugeschrieben
(vgl. Schöppl 2006, 107).
Das in diesem Beitrag zu bearbeitende Begriffspaar Clearing
und Case Management steht nach sorgfältiger Diagnose des
aktuellen Ist-Zustandes unter »dringendem Tatverdacht«, als
ein Diener dieser neuen neoliberalen Programmatik zu fungieren oder zumindest als solcher missbraucht zu werden.
Nachdem es sich um ein kritisches Handbuch handelt, verzichtet dieser Beitrag bewusst auf die nützlichen Aspekte von Case
Management und dem Clearing-Modell, die bei gutem Willen
sicherlich zu nennen wären (z.B. durchgängige Fallverantwortung).
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 57
Case Management und Clearing
57
Bei der Bearbeitung dieser beiden Methoden/Konzepte kristallisierte sich der Clearing-Begriff als sehr diffus heraus, da wohl
etliche zentrale Aspekte der Clearing-Intention im umfassenderen Konzept des Case Managements aufgehen (z.B. im Intake
oder im Assessment; vgl. Neuffer 2005, 51 ff.). So wird im
ersten Teil der Versuch unternommen, den Clearing-Begriff zu
klären und zu verorten, danach erfolgt eine kritische
Auseinandersetzung mit dem Case Management. Der Fokus in
der zusammenfassenden Analyse wird auf die Auswirkungen
dieser sozialtechnischen Methoden auf die Profession gelegt.
Mit dem Einzug des Sozialmanagements als zusätzlicher
Facette in der Sozialen Arbeit Mitte der 80er Jahre (vgl.
Galuske 2003, 313), brach nicht nur das Zeitalter der »Ökonomisierung« in der Sozialen Arbeit an, sondern es schwappte
auch eine Welle von neuen Begrifflichkeiten, Methoden,
Techniken und Konzepten auf die Profession nieder. Auf einmal wurde der Begriff »Management« vielfach als »Wunderterminus« gebraucht: Qualitätsmanagement, Unterstützungsmanagement, Kontraktmanagement, Netzwerkmanagement
und ähnliches mehr. Diese Managementphase hält bis dato an
und »tritt prononciert unter der gesellschaftlichen Bedingung
neo-liberaler Markt-Orientierung und der schärfer werdenden
Verteilungskämpfe auf.« (Karlusch 2005, 12). Die Vermittlung
von Kompetenzen des Sozialmanagements zur Steuerung und
Führung sozialer Einrichtungen wurde Bestandteil von Aus-,
Fort – und Weiterbildung. Mystisch klingende Anglizismen wie
Evaluation, Controlling, Sponsoring, Output-Steuerung,
Controlling, usw. bestimmten ab nun auch den Arbeitsalltag in
den Führungsebenen von sozialen Organisationen. Der Bezug
auf die »neuen« Ansätze von Clearing sowie Case Management
entspringt ebenfalls dieser Phase, wobei folgend der Versuch
unternommen wird, den Wirkungsgrad dieser Begrifflichkeit
und den dahinter liegenden Inhalt kritisch auszuleuchten und zu
verorten.
SatzBakic.qxd
58
27.02.2008
17:19
Seite 58
Case Management und Clearing
Ungeklärter »Clearing-Begriff« in der Sozialen
Arbeit – nun vor einer Klärung?
Der Begriff »Clearing« ist in der Praxis Sozialer Arbeit ein
geläufiger und man möchte meinen, dass die AkteurInnen
Sozialer Arbeit unter diesem Terminus etwas Ähnliches assoziieren, vermutlich Abklärung bzw. Klärung von Klienteninteressen oder -ansprüchen. Die Abklärung – bzw. die »Ermittlungstätigkeiten« (vgl. Müller 1991, 115) wie es zu Mary
Richmonds Zeiten hieß – der jeweiligen Problemsituation war
schon immer Bestandteil Sozialer Arbeit. Eine eingehende
Beschäftigung mit diesem Begriff ergibt allerdings kein klares
Bild, eine ausführliche Differenzierung und Verortung des
Begriffs bzw. der jeweiligen Intention wurde bis dato nicht vorgenommen. Für eine anschlussfähige Auseinandersetzung wäre
dies allerdings durchaus dienlich, kann in diesem Rahmen
allerdings nur in Form einer Skizze geleistet werden.
Ohne etymologisch ins Detail gehen zu wollen, überrascht es
im Ökonomisierungs-Kontext nicht, dass der Begriff
»Clearing« über die Betriebswirtschaft (Wertpapier- und
Cashclearing als Wertpapier- bzw. Cashabrechnung) den
Einzug in die Soziale Arbeit gefunden hat. Im Laufe der Zeit
etablierte sich der Begriff in den unterschiedlichsten
Handlungsfeldern (für Österreich: Jugendwohlfahrt, materielle
Grundsicherung, Straffälligenhilfe, Arbeit, usw.) und unterlag
den jeweilig unterschiedlichen Rezeptionen. So verwundert es
nicht, dass sich hinter diesem »Clearing-Begriff« differenzierte
Konzeptionen und Intentionen verbergen. Im Folgenden wird
der Versuch unternommen, diese unterschiedlichen ideologischen Zugänge zu identifizieren und in drei Kategorien zu gliedern
1. Organisatorisches Clearing
2. Psychosoziales Clearing
3. Clearing zur Abklärung materieller Ansprüche
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 59
Case Management und Clearing
59
Ad 1: In dieser Kategorie könnten alle organisatorischen
Vorgänge und Handlungen subsumiert werden, die rasch und
fachlich klären, welche soziale Institution oder andere
Ressource sich für die präsentierte Problemstellung der
KlientInnen als adäquat erweist. Als ein Beispiel für das »organisatorische Clearing« kann das Clearing-Team in österreichischen Justizanstalten1 angeführt werden. Das Team besteht aus
VertreterInnen des Sozialen Dienstes der jeweiligen
Justizanstalt, VertreterInnen der Straffälligenhilfe wie z.B.
BewährungshelferInnen, dem/der zuständigen JustizwachebamtIn für Entlassungen und diversen anderen Betreuungseinrichtungen (Suchthilfe, AusländerInnenhilfe etc.). Ziel dieses
Clearing-Teams ist die Abklärung, welche Ressourcen bzw.
Organisationen und Institutionen den KlientInnen, die zur
Entlassung anstehen, vermittelt werden können.
Ad 2: Das psychosoziale Clearing ist überall dort zu verorten,
wo aufgrund einer längeren zeitlichen Einschätzung der
Problemsituation eine Abklärungsphase festzulegen ist. Hier
kann es zum Aufbau eines KlientInnen-SozialarbeiterInnenInteraktionssystems ähnlich wie in der lebensweltorientierten
Individualhilfe (Phase als sog. »Intake«2) kommen. Dieses
Modell findet sich vor allem dort wieder, wo es um längerfristige Betreuungsphasen geht, wie zum Beispiel im Verein
NEUSTART (Straffälligenhilfeorganisation). Eine derartige
Umsetzung von Clearing ist nach wie vor Bestandteil im
Rahmen der fachlichen Standards bei NEUSTART, was auch
die Beschreibung von »neueren« sozialarbeiterischen
Leistungen wie beispielsweise die Vermittlung von diversionellen Maßnahmen zeigt (vgl. Neustart 2007, 1 ff).
Ad 3: Mit dem »Clearing zur Abklärung materieller Ansprüche« müssen sich SozialarbeiterInnen auseinandersetzen,
die vorwiegend im Bereich der Hoheits-Verwaltung wie der
Jugendwohlfahrt oder der materiellen Grundsicherung tätig
sind. So werden in den Wiener Sozialzentren Clearinggespräche von SozialarbeiterInnen durchgeführt, die neben der
SatzBakic.qxd
60
27.02.2008
17:19
Seite 60
Case Management und Clearing
Beratung und Information vorrangig der Anspruchsprüfung
bzw. Bedarfsabklärung dienen (vgl. Emprechtinger et al. 2007,
23). »In einem Erstgespräch gilt es dabei, eine umfassende
Sozialanamnese durchzuführen, die Situation zu erfassen und
den Anspruch auf eine Geldleistung zu prüfen« (Emprechtinger
et al. 2007, 22). Hinter dem Clearing zur Abklärung materieller
Ansprüche, wo eindeutig der sozio-ökonomische Aspekt im
Vordergrund steht, liegt ganz klar das Konzept des New Public
Managements, welches nach betriebswirtschaftlicher Prägung
ausgerichtet ist: »Mit der Umstrukturierung des Sozialhilfevollzuges, der (sic!) am Konzept des New Public Management
(NPM) orientiert ist, mag eine Optimierung im Sinne von
KundInnenorientierung, Effektivierung und Leistungen und des
Leistungsspektrums intendiert gewesen sein.« (Emprechtinger
et al. 2007, 11).
Mit diesen Aufgaben (Sozialanamnese, Anspruchsprüfung)
sind somit auch Grundfunktionen des Case Managements thematisiert, die einen gezielten Wandel zur Aktivierung anstreben. Entscheidend ist das Junktim, das zwischen der Dienstleistung, d.h. dem Case- oder Kontraktmanagement einerseits
und andererseits dem Erhalt der Transferleistung formuliert
wird (vgl. Trube 2005, 5).
Von den Geistern, die die Soziale Arbeit rief,
für die Zukunft lernen
Je nach inhaltlicher Umsetzung und gutem Willen des/der
BetrachterIn, kann hinter den beschriebenen Modellen des
organisatorischen und psychosozialen Clearings die Handlungsmaxime der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit verortet werden, also ein sozialarbeiterisches Agieren nach den allgemeinen Prinzipien der Prävention, Alltagsnähe, der
Integration, der Partizipation und der Dezentralisierung/
Regionalisierung bzw. Vernetzung (vgl. Thiersch 1992). Hinter
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 61
Case Management und Clearing
61
dem Clearing-Modell zur Abklärung materieller Ansprüche
steht eindeutig das Konzept des aktivierenden Changemanagements, dessen Basis die Veränderung sozialpolitischer
Logiken darstellt. Diese Veränderung erzeugt allerdings nicht
Integration, sondern vielmehr Exklusion und Marginalisierung
(vgl. Trube 2005, 7).
Die Philosophie des Clearings wurde vielfach in ein schönes
Konzept verpackt – die Implementierung des Clearinggespräches in den Wiener Sozialzentren wurde ursprünglich von
den SozialarbeiterInnen begrüßt3. Man sah darin einen großen
Vorteil, weil sich diese SozialarbeiterInnen von der Problemlage der jeweiligen Person selbst ein Urteil bilden konnten und
eine weitere Betreuung nach eigenen Kriterien angedacht werden konnte oder auch nicht. (vgl. Emprechtinger et al. 2007,
23). Inzwischen ist die Situation so, dass sich einzelne
SozialarbeiterInnen wünschen, die Anspruchsprüfung nicht
mehr durchführen zu müssen, weil es aufgrund der verwaltungsrechtlichen Mehrbelastung immer schwieriger wird, den
professionellen Anspruch in der täglichen Arbeit umzusetzen
(vgl. ebenda, 21). Dies erinnert entfernt an den berühmten
Zauberlehrling, der nicht mehr in der Lage ist, jene Geister (in
diesem Fall die »sozialarbeiterischen« Methoden des
Managements) wieder einzufangen, die er gerufen hat, weil die
Regie des wohlfahrtsstaatlichen Changemanagements in anderen Händen liegt (vgl. Trube 2005, 10). Diese Metapher gilt im
Besonderen auch für das Case Management.
Was ist drin, wenn Case Management drauf steht?
Analog zur Rezeption des »Clearing-Begriffes« verhält es sich
mit dem Case Management, mit dem sich derzeit auch die
Soziale Arbeit in Österreich4 auseinandersetzt, wohingegen der
Diskurs über Case oder Care Management in Deutschland seit
nunmehr über 12 Jahren geführt wird. In Deutschland wie in
SatzBakic.qxd
62
27.02.2008
17:19
Seite 62
Case Management und Clearing
Österreich internalisieren VertreterInnen von Profession und
Disziplin, sowie Politik und Verwaltung schon aufgrund ihrer
eigenen berufsspezifischen Intention und Sprachcodes unterschiedliche Zuschreibungen, was genau unter Case Management zu verstehen ist. »In vielen Konzepten, Veröffentlichungen und Institutionen ist zu lesen und zu hören:
›Wir arbeiten jetzt mit Case Management.‹ Eine Nachfrage
oder genauere Überprüfung zeigt z.B. in Krankenhaussozialdiensten, dass damit nur eine Art Lotsenfunktion für weitere Maßnahmen innerhalb und außerhalb der stationären
Behandlung gemeint ist. Diese wird zwar systematisch und
damit besser gesteuert, endet aber in der Regel beim Verlassen
des Krankenhauses nach dem Assessment oder der
Serviceplanung« (Remmel-Faßbender 2005, 80). Wendt (2005,
14) konstatiert zu diesem Thema: »Aber oft ist dort, wo Case
Management drauf steht, Case Management nicht drin. Seine
Einführung bedeutet und verlangt Systemveränderung; erfolgt
sie nicht, setzt sich das Case Management nicht durch.« Bei
Kenntnis der österreichischen Situation kann durchaus Skepsis
angebracht werden, ob der »von oben diktierte große Wurf«
(Neuffer 2005, 46) überhaupt gelingt. Möglichweise führt eine
schleichende Übernahme von im Case Management-Konzept
vorgeschlagenen Arbeitsweisen schneller zu kleineren strukturellen Veränderungen (ebenda, 46).
Case Management: Ein Export aus den USA
Das Case Management als Methode von Sozialdiensten wurde
Ende der 70er Jahre in den USA entwickelt (Galuske 2003,
201) und begann mit der Reorganisation der sozialen und
gesundheitlichen Versorgung. Aufgrund der Deinstitutionalisierung in den USA, aber auch in anderen Ländern entließ man
chronisch psychisch kranke, geistig behinderte und pflegebedürftige Menschen in großer Zahl aus der stationären
Unterbringung, was nun die Notwendigkeit mit sich brachte,
für die Entlassenen eine hinreichende ambulante Betreuung
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 63
Case Management und Clearing
63
durch soziale und medizinische Dienste zu organisieren. Im
darauf folgenden unkoordinierten Nebeneinander von Hilfeangeboten beispielsweise bei behinderten Menschen wurde mit
dem Case Management ein Dienst eingesetzt, der die notwendigen sozialen, medizinischen und erzieherischen Unterstützungen organisiert und diese dann koordiniert (vgl. Wendt
2001, 14ff.). Ende der 80er Jahre wurde Case Management in
Deutschland rezipiert, wobei Wendt die zunehmende
Differenzierung und Spezialisierung der Dienstleistungen, die
eine Kooperation der Angebote notwendig machen, als Gründe
für die Rezeption des Case Managements anführt (vgl. Wendt
1991, 11). Bisher hat sich diese methodische Arbeitsform in
Deutschland als erweiterte, ressourcen- und sozialräumlich
orientierte Einzelfallhilfe in vielen Arbeitsbereichen als
Neuorientierung (z.B.: Altenarbeit, Pflege und Gesundheit,
Kinder-, Jugend- Familienhilfe, Straffälligenhilfe, chronische
Suchtkranke etc.) etabliert (vgl. Remmel-Faßbender 2005, 67;
ausführlich Wendt 2005, 24 ff).
Begriffe und Merkmale von Case Management
Der aus dem US-amerikanischen Sprachraum übernommene
Begriff »Case Management« (Fallmanagement) wirkt nicht nur
in der deutschen Konnotation missverständlich (vgl. Hansen
2005, 107). »Seine problematische Auslegung trägt dazu bei,
die ohnehin nicht präzise zu fassende konzeptionelle und
methodische Rahmung der Arbeitsweise weiter verschwimmen
zu lassen« (Ewers 2000, 53). »Case« steht hier nicht für den
Menschen, sondern für eine problematische Situation, die es zu
bewältigen gilt. Sie ist der Fall und Gegenstand der sozialarbeiterischen ziel- und lösungsorientierten professionellen
Bemühungen (vgl. Wendt 2005, 15). Dieses Problem einer
direkten Übernahme von US-amerikanischen Terminologien in
einen anderen nationalen und kulturellen Kontext wurde unter
britischen Verhältnissen rechtzeitig erkannt. Vom britischen
Gesundheitsministerium wurde bereits 1991 darauf hingewie-
SatzBakic.qxd
64
27.02.2008
17:19
Seite 64
Case Management und Clearing
sen, dass die Verwendung des Begriffs »Case Management« für
NutzerInnen personenbezogener Sozialer Dienstleistungen
erniedrigend wirken kann (vgl. Hansen 2005, 107), in
Großbritannien spricht man in der Folge von »Care
Management«. Auch Wendt (2005, 15) sieht im »Fallmanagement« im Gesundheitsbereich ein »Care Management«,
welches für die überindividuelle Versorgungssteuerung und gestaltung als administrative Aufgabenstellung steht. Überdies
hat sich für die Steuerung der Gesundheitsversorgung der amerikanische Begriff »Managed Care« etabliert. Dieser kurze
Auszug zeigt deutlich, dass für die zukünftige Auseinandersetzung mit dem »Case Management« im Gesundheits- und
Sozialalbereich eine begriffliche Klarheit geschaffen werden
muss. Auch in Österreich stößt das Case Management-Konzept
bei vielen Dienstleistungsorganisationen des Sozial- und
Gesundheitswesens auf zunehmendes Interesse und eine jeweilige Klärung der Intention wäre den PerzipientInnen dringend
anzuraten.
Unabhängig von den begrifflichen Wirrungen offenbart sich der
Wesenskern von Case Management in »beeindruckender
Schlichtheit« (Ewers 2000, 54). Der Kernprozess des Unterstützungsmanagements besteht aus verschiedenen Phasen,
wobei sich in der Literatur zum Case Management unterschiedliche Phasierungsmodelle finden, die den Hilfeprozess in eine
sinnvolle Abfolge von Handlungsschritten zu bringen versuchen (vgl. Galuske 2003, 204). Ohne auf die einzelnen Phasen
und deren Umsetzungsprobleme (ausführlich dazu Hansen
2005, 112ff) an dieser Stelle ausführlicher eingehen zu können,
seien sie doch kurz skizziert: Im (1) Assessment sind die diversen Bedarfslagen zu identifizieren, darauf aufbauend werden
(2) Hilfe- und Leistungspläne erstellt (planning), danach werden die (3) Dienstleistungen organisiert (intervention/brokering), in der Folge wird der Leistungs- und Unterstützungsprozess von dem/der Case ManagerIn (4) kontrolliert
(Controlling/Monitoring) und schließlich auch (5) evaluiert
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 65
Case Management und Clearing
65
(Evaluation) (vgl. Neuffer 2002, 51ff; Moxley 1989, 18). Dem
Anspruch nach ist das Case Management längerfristig angelegt
und behält den gesamten Betreuungsverlauf im Blick.
Case Management pur – oder aber mit
Beziehungsarbeit?
Case Management wird von vielen VertreterInnen als eine
Weiterentwicklung oder »qualifizierte Fortschreibung«
(Neuffer 2005, 19) der Einzelfallhilfe verstanden. Allerdings
verlagert sich damit das Aufgabenspektrum des Helfers von der
psychosozialen Beziehungsarbeit zur organisierenden, planenden, koordinierenden und kontrollierenden Abstimmung von
Angebot und Nachfrage nach Unterstützung (vgl. Wendt 1991,
11). Unter den Case Management-Lobbyisten gibt es durchaus
unterschiedliche Vorstellungen, inwieweit die psycho-soziale
Beziehungsarbeit im Case Management eine Rolle spielt bzw.
ist dies Gegenstand kritischer Erörterungen (vgl. RemmelFaßbender 2005, 71 ff.; Löcherbach 2000, 104). Während für
Wendt (2001, 9) die helfende Beziehung im Case Management
»keine Vorbedingung für ein erfolgsversprechendes berufliches
Handeln« ist, sieht Neuffer diese Beziehungsarbeit auch nicht
in Konkurrenz zu effektiver und effizienter Fallarbeit. Er widerspricht Wendt m.E. zu Recht, wenn er meint, »dass eine durchgehende Fallverantwortung Beziehungsarbeit erfordert, um das
Vertrauen der KlientInnen zu erreichen (…)« (Neuffer 2005,
43). Egal, welcher ideologische Zugang im Case Management
als sozialarbeiterische Methode vorzufinden ist, eint nach meiner Einschätzung die Case Management-Lobbyisten der
Wunsch, die Soziale Arbeit endlich auf Augenhöhe zu anderen
Vollprofessionen betreiben zu können. Effektivität und
Effizienz sind die – aus der Ökonomie bekannten –
Wunderbegrifflichkeiten, die offenbar diese gewünschte
»Professionalität« signalisieren sollen.
SatzBakic.qxd
66
27.02.2008
17:19
Seite 66
Case Management und Clearing
Case Management als Instrument des Neoliberalismus
Mit näherem Blick auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem
Case Management etabliert wurde, muss Case Management als
ein Instrument neoliberal orientierter Wohlfahrtsstaaten identifiziert werden (vgl. Hansen 2005, 108). Auch wenn die heutige
Situation in Deutschland mehr als in Österreich der US-amerikanischen Entwicklung in einigen Aspekten gleicht (vgl. Kleve
2006, 15) – und allerdings auch Österreich im Sinne einer neoliberalen-neokonservativen Wende diesem Entwicklungsmuster
folgt (vgl. Talos/Fink 2001, 21) – darf nicht vergessen werden,
dass der österreichische Sozialstaat konservativ-korporatistischer Prägung mit einem sozialstaatlichen Charakter auf einem
völlig anderen Prinzip aufgebaut ist als die USA oder auch
Großbritannien (vgl. Beriè/Fink 2000, 50). Im Kern zielt das
neo-sozialstaatliche Modell des aktivierenden Sozialstaates, der
sich in Deutschland idealtypisch mit den Hartz-Gesetzen manifestiert hat, auf mehr Markt und weniger Staat. Für die Soziale
Arbeit ist das Beispiel der Hartz-Reformen hüben wie drüben
insofern bedeutsam, »als dass sich im Fallmanagement der
Arbeits- und Sozialverwaltung modellhaft nachlesen lässt, wie
sich der aktivierende Sozialstaat »seine Soziale Arbeit« vorstellt: Als strengen, mit Sanktionsmacht ausgestatteten Berater,
Begleiter, Kontrolleur und »Richter« auf dem Weg in einen
Arbeitsmarkt mit schwindender Absorbtionsfähigkeit, »workfare statt welfare«, mit Zielvorgabe und Zwangsberatung.«
(Galuske 2006, 14). Auch andere Autoren können sich dieser
Kritik anschließen: So identifiziert Achim Trube (2005, 43 ff.)
das »aktivierende Casemanagement als ein Instrument des
Changemanagements, ein Angebot, das der Adressat schlichtweg nicht ablehnen kann, da es nicht freiwillig auf Mitwirkung
beruht.« Und mit Blick auf die Profession sind Dahme/
Wohlfahrt (o.J., 11) der Meinung, dass durch den aktivierende
Staat – und gerade eben auch mittels jener Konzepte, »die
Fachlichkeit und die durch Expertise begründete Autonomie
der Fallbearbeitung […] in Frage gestellt [wird].« Ziel ist dabei
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 67
Case Management und Clearing
67
ein stärkeren Einfluss auf »Handlungsvollzüge in der Sozialen
Arbeit […], um letztlich die Fallbearbeitung optimaler steuern
und reglementieren zu können.« (Dahme/Wohlfahrt o.J., 11).
Im krassen Gegensatz dazu stehen die verlockenden Ausführungen vieler Case Management TheoretikerInnen, die mit
Partizipation und Empowerment den Anschein von Handlungsmacht für die KlientInnen erwecken (vgl. Neuffer 2005, 22ff.)
und es auch als professionelle Weiterentwicklung verstehen
wollen. Unter den beschriebenen Umständen kann es sich nur
um eine paternalistische Form von Partizipation handeln:
»Ihrer kritischen Inhalte beraubt (Anm. Inhalte der Partizipation), degeneriert Partizipation so zu einer besonderes subtilen Form politischer Apathie (als widerspruchslose Fügung in
institutionellen Gegebenheiten)« (Gronemeyer 1973, 28).
Case Management:
Ein Glaubwürdigkeitsproblem für die Soziale Arbeit
Gegenwärtig findet nach meiner Einschätzung weder ein kritisches Hinterfragen, noch ein völliger Boykott des Case
Management-Konzeptes statt. Dieser Umstand öffnet natürlich
jenen Tür und Tor, die SozialarbeiterInnen – vielleicht auch nur
implizit – mit der Gleichung »Case Management = mehr
Professionalität = mehr Anerkennung« für dieses Konzept
begeistern wollen. Wie oben allerdings ausgeführt wurde, vertraut und baut das Case Management-Konzept zu einseitig auf
den vom Neoliberalismus angenommenen, vernunftbetonten,
rational agierenden »homo oeconomicus«, der als
Menschenbild quasi auf alle übertragen werden kann (ausführlich dazu Staub-Bernasconi 2005, 1ff.).
Die Soziale Arbeit insgesamt hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn sie einerseits neoliberale Tendenzen in der
Sozialpolitik kategorisch als Beiträge zur Demontage des
Sozialstaates wertet, sich andererseits aber neoliberaler
SatzBakic.qxd
68
27.02.2008
17:19
Seite 68
Case Management und Clearing
Instrumente wie des Case/Care Managements (vgl. Hansen,
120) und diverser Clearing Modelle bedient sowie diese auch in
ihre Professionalisierungsstrategien einbaut. Dieses Glaubwürdigkeitsproblem wird sich noch erhöhen, wenn sich die
Profession und die Disziplin angesichts der teils dramatischen
sozialpolitischen Veränderungen in Europa nicht ausreichend
positionieren und einen anderen Weg der Professionalisierung
einschlagen, der dem Proprium Sozialer Arbeit a la Silvia
Staub-Bernasconi (vgl. Engelke 2002, 362 ff) näher ist.
Die gegenwärtigen Entwicklungen haben für die Soziale Arbeit
weit reichende Folgen. Das »Feld« wird für die praktische
Arbeit zur vernachlässigenden Größe, aber auch der »Fall«
bleibt nicht, was er einmal war, denn Ursachensuche, hermeneutisches Fallverstehen und Lebensweltorientierung kommen
abhanden. Mit jeder bewussten und unbewussten Übernahme
von klientInnenfeindlichen Aspekten in der Fallbearbeitung
wird die fachliche Autonomie schrittweise eingeschränkt und
führt auf absehbare Zeit möglicherweise zu einer grundsätzlich
veränderten Professionalität in der Sozialen Arbeit.
Verlockende Vokabeln wie Beteiligung, Autonomie, Selbststeuerung, Selbstverantwortung, Befähigen und Ermöglichen
sind kennzeichnend für eine neosoziale Politik und sollen die
Kunst effektiver Verhaltensbeeinflussung bei optimalem
Ressourceneinsatz befördern helfen (vgl. Dahme/Wohlfahrt
o.J., 14). »Für eine professionelle, gesellschaftlich und politisch
aufgeklärte Soziale Arbeit ist in diesem Szenario nur noch
wenig Spielraum enthalten.« (ebenda, 15).
Für alle VertreterInnen der Sozialen Arbeit in Österreich, die
sich pro futura mit der Implementierung von Case Management
befassen oder weitere Clearing-Modelle umsetzen müssen bzw.
wollen, wird es eine Gewissensentscheidung und Nagelprobe
sein, diese Konzepte mit kritisch-reflexivem Blick in das eigene Methodenrepertoire zu übernehmen. Formalisierungen wie
das Case Management müssen m.E. gestaltend angenommen
werden, sie erduldend hinzunehmen, ist ein Akt der Selbst-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 69
Case Management und Clearing
69
aufgabe (vgl. Hansen 2005, 123). Wesentlich ist dabei allerdings die kritische inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen
Konzepten, denn »wer mit der Methode nicht vertraut ist, wird
deren Missbrauch nicht erkennen können.« (Hansen 2005,
122).
Anmerkungen
1
http://www.neustart.at/jasicher/?cmd=ja_item&ja_id=17&item=
Freizeit
2
Das Intake ist die erste systematische Beratung und Bestandsaufnahme der Problemsituation (Pantucek 1998, 130)
3
Die Idee des Clearings entstand in einem Arbeitskreis aus
SozialarbeiterInnen und Verwaltungsbediensteten im Jahr 1999/2000
(vgl. Emprechtinger et al. 2007)
4
Siehe Schwerpunktnummer der Zeitschrift SIÖ (Sozialarbeit in Österreich) »Was kann Case Management?«, Ausgabe 1/06
Literatur
Beriè, Hermann/Fink, Ulf (2000): Europas Sozialmodell – Die europäischen Sozialsysteme im
Vergleich. Eine volkswirtschaftliche Analyse. Institut für Wirtschaft &
Soziales GmbH. Berlin
Dahme, Heinz-Jürgen/Wohlfahrt, Norbert (o.J.): Entwicklungstendenzen
zu neuer Sozialstaatlichkeit in Europa und ihre Konsequenzen für die
Soziale Arbeit. Online unter: (Stand 17.1.2008)
Eisenriegler, Adalbert (1993): Das 6-Varianten-Modell zur Durchführung
der Bewährungshilfe. In: Sozialarbeit und Bewährungshilfe (SUB)
1993, 21 – 30.
Emprechtinger, Julia/Jöbst-Arbeiter, Maria/Hammer, Elisabeth/Krieger,
Maria (2007): Sozialhilfe und Sozialarbeit zwischen öffentlichem
Auftrag und professionellem Anspruch.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
70
Seite 70
Case Management und Clearing
Die MA 15 der Stadt Wien. Fallbeispiel erstellt im Rahmen des
Workpackage 3 des Projektmoduls 4 »Fachliche Standards in der
Sozialwirtschaft: gestern – heute – morgen« der EQUAL
EntwicklungspartnerInnenschaft »Donau-Quality in Inclusion«. Wien
Engelke, Ernst (2002): Theorien der Sozialen Arbeit. Eine Einführung.
Freiburg im Breisgau
Ewers, Michael/Schaefer, Doris (Hg.) (2000): Case Management in
Theorie und Praxis. Bern
Galuske, Michael (2006): Zwischen staatstragender Funktion und gesellschaftskritischem Selbstverständnis. In: Sozialarbeit in Österreich
(SIÖ) 1/2006, 10 – 17
Galuske, Michael (2003): Methoden der Sozialarbeit. Eine Einführung.
Weinheim und München
Gronemeyer, Reimer (1973): Integration durch Partizipation? Frankfurt
Hansen, Eckhard (2005): Das Case/Care Management. Anmerkungen zu
einer importierten Methode. In: Neue Praxis 2/2005, 107 – 126
Hönisch, Bernhard: Die Wahrnehmung von den Interessen von
Geschädigten im Rahmen des Außergerichtlichen Tatausgleichs.
Online unter: www.neustart.at/Media/fall_ata_hoenisch.pdf [Stand:
7.1.2008]
Karlusch, Heinz (2006): Perspektive der methodischen Sozialarbeit.
Aktuelle dominante methodische Handlungsorientierungen. In:
Soziale Arbeit in Österreich (SIÖ) 2006, 8 – 15
Kleve, Heiko (2006): Systemisches Case Management. Eine effektive und
effiziente Methode lebensweltlich und sozialräumlich orientierter
Fallarbeit. In: Soziale Arbeit in Österreich (SIÖ) 1/2006, 14 – 16
Löcherbach, Peter (2005): Altes und Neues zum Case Management.
Soziale Unterstützungsarbeit zwischen persönlicher Hilfe und
Dienstleistungsservice. In: Mrochen, Siegfried/Berchtold, Elisabeth/
Hesse, Alexander (Hg.): Standortbestimmung sozialpädagogischer
und sozialarbeiterischer Methoden. Weinheim, 104 – 122
Moxley, David (1989): Practice of Case Management. Newbury Park
Müller, Wolfgang C. (1991): Wie helfen zum Beruf wurde. Eine
Methodengeschichte der Sozialarbeit 1883 – 1945. Weinheim und
Basel
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 71
Case Management und Clearing
71
Neuffer, Manfred (2005): Case Management. Soziale Arbeit mit Einzelnen
und Familien. Weinheim und München.
Pantucek, Peter (1998): Lebensweltorientierte Individualhilfe. Eine
Einführung für soziale Berufe. Freiburg im Breisgau.
Remmel-Faßbender, Ruth (2005): Case Management als Methodenkonzept der Sozial Arbeit. Erfahrungen und Perspektiven. In:
Löcherbach, Peter/Klug, Wolfgang/Remmel-Faßbender, Ruth/Wendt,
Wolf Rainer (Hg): Case Management. Fall- und Systemsteuerung in
der Sozialen Arbeit. München Basel, 67 – 88
Schöppl, Christina (2006): Neue Steuerungsmodelle in der Sozialen Arbeit
als Teil einer neoliberalen Offensive. Inwiefern tragen Kontraktmanagement und KundInnenorientierung als Elemente der Neuen
Steuerungsmodelle zu einer Verbesserung für die Soziale Arbeit und
deren KlientInnen bei? Wien: Diplomarbeit
Staub-Bernasconi, Silvia (2005): Deprofessionalisierung und Professionalisierung der Sozialen Arbeit – gegenläufige Antworten auf die
Finanzkrise des Sozialstaates oder Das Selbstbeschaffungsprogramm
der Sozialen Arbeit. Online unter: www. static.twoday.net/
rauch/files/professionalisierung.pdf [Stand 1.01.2008]
Tálos, Emmerich/Fink, Marcel (2001): Der österreichische Wohlfahrtsstaat; Entwicklungen und Herausforderungen. Manuskript Feber
2001.
Thiersch, Hans (1992): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben
der Praxis im sozialen Wandel. Weinheim/München.
Trube, Achim (2005): Case Management als Change Management? – Zur
ambivalenten
Professionalisierung Sozialer Arbeit im aktivierenden Sozialstaat. In:
Brinkmann, Volker (Hg.): Change Management in der Sozialwirtschaft. Wiesbaden, 43-55.
Wendt, Wolf Rainer (2005): Case Management. Stand und Position in der
Bundesrepublik. In: Löcherbach, Peter/Klug, Wolfgang/RemmelFaßbender, Ruth/Wendt, Wolf Rainer (Hg): Case Management. Fallund Systemsteuerung in der Sozialen Arbeit. München Basel, 14 – 40
Wendt, Wolf Rainer 2001: Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen. Eine Einführung. Freiburg im Breisgau.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
72
17:19
Seite 72
Case Management und Clearing
Wendt, Wolf Rainer 1991: Unterstützung fallweise. Case Management in
der Sozialarbeit, Freiburg im Breisgau.
Wöhrle, Armin (2003): Grundlagen des Managements in der Sozialwirtschaft. Studienkurs Management in der Sozialwirtschaft. BadenBaden
Ziegler, Holger (2003): Diagnose, Macht, Wissen und »What works?« –
Die Kunst, dermaßen zu regieren. In: Widersprüche 2/2005, 101 – 116
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 73
Diagnose und Sozialtechnologie
Michael Galuske
Nicole Rosenbauer
Ein konstitutiver, nicht hintergehbarer Bestandteil der alltäglichen Handlungsvollzüge von SozialpädagogInnen und
SozialarbeiterInnen ist die Fähigkeit, sozialpädagogische
Handlungssituationen in ihrer Komplexität zu ›entschlüsseln‹,
sie zu ›lesen‹, zu verstehen und zu deuten. Eine fragende und
›forschende‹ Haltung, die organisatorische, institutionelle und
gesellschaftliche Rahmenbedingungen ebenso einbezieht wie
Hypothesen über lebensgeschichtliche und situative Befindlichkeiten und deren kommunikative Validierung, ist die Basis
einer reflexiven sozialpädagogischen Professionalität, wie es
der Fachdiskurs als tragfähiges Leitbild fachlichen Handelns in
der Widersprüchlichkeit und Komplexität sozialpädagogischen
Handelns am Ende des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Deren
eigene Typik, ein ›sozialpädagogischer Blick‹ entfaltet sich in
der Vermittlung von Subjekt- und Strukturperspektive, von
institutionellen und individuellen Aspekten sowie eines Feldund Bildungsbezugs (vgl. Thole 2002, 37). Entsprechend
begleitete die Soziale Arbeit immer schon die Frage, wie die
»Fähigkeit zu schöpferischer Einsicht« (Salomon 1925, 44) und
eine adäquate Erkenntnisgewinnung über Lebenssituationen
methodisch unterstützt werden könne. Zwar wurden schon früh
differenzierte Modelle einer ›Sozialen Diagnose‹ für das Feld
Sozialer Arbeit entwickelt, die auch bereits Fallstricke thematisierten – die Praxis jedoch schien weitestgehend beherrscht von
Vorgehensweisen, die sich am medizinisch-klinischen Diagnostikmodell und Vokabular orientierten, die geprägt waren
von Defizit-, Zuständigkeits- und Ausgrenzungsrhetorik.
Der gegenwärtige diagnostische Boom in der Sozialen Arbeit ist
insofern umso überraschender, als entsprechende Verfahren im
SatzBakic.qxd
74
27.02.2008
17:19
Seite 74
Diagnose und Sozialtechnologie
Fahrwasser der Methodenkritik der 1970er-Jahre als »eine Kunst
des Regierens« (vgl. Langhanky 2005) und Element zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse identifiziert und kritisiert wurden (vgl. Kunstreich 2003). Die Frage
nach einer potentiellen ›Diagnostik‹ Sozialer Arbeit verschwand
nach einer systematischen Diskussion der zugrundeliegenden
Problematik schließlich in den 1980er-Jahren von der disziplinären Agenda. Heute erleben Erhebungs- und Klassifizierungsinstrumente, Testverfahren und Fragebögen in unterschiedlichsten Feldern Sozialer Arbeit eine ungeahnte Konjunktur. Dem
›Imperativ des Testens‹ unterliegen längst nicht mehr nur
Individuen, sondern auch Sozial- und Bildungseinrichtungen wie
Schulen und Universitäten in den diversen Ranking- oder
Evaluationsverfahren (vgl. Liessmann 2006, 74f.). Das
»Paradigma der (Über-) Prüfung« hat den gesamten sozialen und
kulturellen Raum ergriffen: »Es gibt heute nichts mehr, das nicht
getestet werden oder Gegenstand von Testparametern sein könnte. (…) Wir sind umgeben von Diagnosemethoden, Nachweisverfahren, Untersuchungstechniken und Prüfapparaten, die
uns mitteilen, über welche Kompetenzen wir verfügen, welchen
Risiken wir ins Auge sehen müssen und welcher Gruppe wir
zugehören« (Lemke 2004, 264).1 Im Folgenden gehen wir dieser
Entwicklung nach, indem zunächst strukturelle Merkmale von
diagnostischen Verfahren nachgezeichnet werden. Der neuerliche Boom wird vor dem Hintergrund des aktuellen Effizienzdiskurses in der Sozialen Arbeit diskutiert, und einige Hinweise
auf potentielle Folgen bilden den Abschluss.
Der gegenwärtige diagnostische Boom
in der Sozialen Arbeit
Wer sich dem disziplinären Diskurs um ›Diagnostik‹ in der
Sozialen Arbeit anhand der seit Beginn der 1990er-Jahre zahlreichen, neu erschienenen Lehr- und Handbücher nähert, stößt
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 75
Diagnose und Sozialtechnologie
75
zunächst auf einen ›Streit um die Begrifflichkeit‹. Die
BefürworterInnen eines Begriffsimports und einer Adaption
medizinischen und psychologischen Vokabulars verbinden
hiermit die Hoffnung, dass ein wichtiger Beitrag zur
Professionalisierung und zur Anerkennung Sozialer Arbeit
durch andere Professionen geleistet werde. KritikerInnen betonen hingegen die den medizinisch-klinischen Diagnostikmodellen inhärenten Degradierungs- und Etikettierungspotentiale, KlientInnen werde im Rahmen expertokratischer
und defizitorientierter Diagnoseverfahren lediglich der Status
passiver Objekte zugebilligt.
Die Anfang der 1990er-Jahre entstandenen neuerlichen
Versuche einer sozialpädagogischen Diagnostik nahmen diese
Kritik auf.2 Sie orientierten sich zwar weiterhin am klinischen
Begriffsinventar, versuchten dieses allerdings neu zu füllen, so
beispielsweise Burkhard Müller (1993) in seinem Entwurf
einer multiperspektivischen Fallarbeit. Dieser Entwurf ist
geprägt von dem Bestreben, die lebensweltliche und biographische Komplexität der Genese sozialpädagogischer Bedarfslagen zu erschließen, den sozialpädagogischen Blick zu schärfen und die SozialarbeiterInnen in die Lage zu versetzen, mit
der Komplexität der Interaktion adäquat umzugehen. An hermeneutische Denktraditionen anschließend finden sich des
Weiteren eine Reihe von Konzepten, die für ganzheitliche,
rekonstruktive, biografisch und/oder narrative sowie inszenierende, gruppen- oder beziehungsanalytische Zugänge des (Fall) Verstehens in der Sozialen Arbeit votieren (vgl. Schrapper
2005, 192f.). Diese Konzepte stellen die Selbstdeutungen und
Selbstäußerungen der Menschen in den Mittelpunkt und gewinnen hieraus Material für Falldarstellungen und -analysen.
Neuere Arbeiten betonen insbesondere die Potentiale biografischer Verfahren für die Ausgestaltung einer adressatInnenorientierten Sozialen Arbeit.3
Zwar wich das ›alte‹, simple klinische Dreischrittmodell
Anamnese, Diagnose und Behandlung als eine Vorstellung line-
SatzBakic.qxd
76
27.02.2008
17:19
Seite 76
Diagnose und Sozialtechnologie
ar geordneter Abfolgen zunehmend zirkulären Modellen mit
ineinander verschränkten Phasen4, und ohne Zweifel haben
sich auch medizinische und psychologische Verfahren weiterentwickelt, dennoch ist die Methodenentwicklung der letzten
Jahre in weiten Teilen als Sozialtechnologisierung der sozialpädagogischen Praxis angelegt. Das heißt, »dass Instrumente und
Modelle aus dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich
herangezogen und zum Zwecke der Zielerreichung eingesetzt
werden« (Knoblauch 2006, 1), dass ›das Soziale‹ durch den
zunehmenden Einsatz sozialwissenschaftlichen Wissens bearbeitet und gestaltet wird und wir die »Integration sozialpädagogischer Definitions- und Handlungsvollzüge in ökonomischtechnologisch dominierte Zugänge« beobachten (Böhnisch et
al. 2005, 236). Während die oben genannten Konzepte zunächst
offene Erkenntnisprozesse anstreben, in denen es um die
Gewinnung von »Wissen aus der ›Innenperspektive‹ der
Subjekte – über deren Selbstsichten, über Ressourcen und
Schwierigkeiten zur Bewältigung und über die subjektiven
Aneignungsprozesse angebotener Hilfen« geht (Bitzan et al.
2006, 7), verfolgt die Wissensgenerierung in sozialtechnologisch angelegten Verfahren dezidiert einen Zweck im Rahmen
einer Systemfunktion (vgl. Knoblauch 2006, 2): Im Kontext
verrechtlichter Prozeduren und administrativer Formen der
wohlfahrtsstaatlich organisierten Hilfe werden in der Regel solche Verfahren favorisiert, die Wissen auf Basis systematischer
Informationssammlung, Beobachtung und Befragung generieren, und dieses anhand von Konzepten der psychischen und
sozialen Normalität analysieren. Die Prozesse der
Wissensgenerierung sind hierbei nicht offen angelegt, sondern
durch den Verwendungszweck der Erkenntnisse gesteuert, die
als ExpertInnen-Deutungen im Kontext sozialrechtlicher
Entscheidungsfindung und Intervention instrumentalisiert werden (vgl. Cremer-Schäfer 2003, 57, Schrapper 2005, 191).
Die in den 1980er-Jahren gehegte Hoffnung, dass diagnostische
(Test-)Verfahren im Alltagsgeschäft Sozialer Arbeit im Zeichen
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 77
Diagnose und Sozialtechnologie
77
von Lebenswelt- und Dienstleistungsorientierung zugunsten
strukturierter, dialogischer Verständigungsprozesse sukzessive
an Boden verlieren, scheint angesichts der aktuellen
Renaissance standardisierter Test- und Diagnoseinstrumente
enttäuscht: Neuere Ansätze wie etwa die Diagnosetabellen des
bayrischen Landesjugendamtes (vgl. Hillmeier 2004),
Indikatorenlisten zur Erfassung des (potentiell gefährdeten)
Kindeswohls oder Screening-Instrumente, flächige Sprachtests
(wie z.B. Delfin 4 in Nordrhein-Westfalen)5, internationale
Bildungsrankings (wie PISA oder IGLU) und IT-gestütztes
Profiling oder Assessment im Rahmen der Arbeitsvermittlung
und –förderung (vgl. Schumak 2003) zielen in allen Feldern der
Sozialen Arbeit von den Erziehungshilfen bis zur
Arbeitsförderung, von der Kindertagesbetreuung bis zur
Universität zuvörderst auf die Reduktion von Komplexität.
Mithilfe von Fragebögen, Diagnosetabellen, Merk- und
Indikatorenlisten sowie Testverfahren werden diffuse und
unbestimmte Phänomene wie z.B. Kindeswohl, employability
oder Sprachfähigkeit operationalisiert, in Faktoren zerlegt,
anhand von Parametern und Kategorien bestimmt und gewichtet (vgl. Lemke 2004, 267).
Dieser Diagnostikboom ist eine logische Folge der
Verbetriebswirtschaftlichung von Denkformen, Instrumenten
und Strukturen des Alltags der Organisationen des
Sozialsektors: Indem SozialarbeiterInnen anhand solcher
Instrumente systematisch ›Material‹ erfassen sowie detailliertes
und individualisiertes Wissen erheben, wird ein zielgenau(er)es
Urteil über den ›Fall‹ ermöglicht und eine Grundlage geschaffen für eine qualitativ ›hochwertige‹, passgenaue Hilfeleistung,
so die Ideologie der betriebswirtschaftlichen Reorganisation
des Sozialen Sektors. In der Logik neuer Steuerungsmodelle
kommt der genauen Analyse des Einzelfalls (Diagnostik) und
der spezifischen Wirksamkeit unterschiedlicher Hilfen eine
Schlüsselrolle zu, denn nur mit genügend entsprechendem
Wissen kann die anvisierte Kalkulier- und Beherrschbarkeit
SatzBakic.qxd
78
27.02.2008
17:19
Seite 78
Diagnose und Sozialtechnologie
gesichert werden: Eine (zertifizierte) Qualität soll diejenige
Transparenz der Leistungen herstellen, auf deren Basis erst
AnbieterInnen in Konkurrenz zueinander treten können, um im
inszenierten Wettbewerb Effizienz, Innovation und
Kundenorientierung zu steigern. Um Leistungen kalkulierbar
und berechenbar zu machen, müssen die Wirkungen von
Leistungen evaluiert (Ergebnisqualität) und Instrumente zur
Einhaltung bestimmter Verfahrensstandards und -schritte
installiert werden (Prozessqualität).
Damit angesprochen ist eine qualitative Veränderung von
Technologien, die immer weniger auf Ergebnisprüfungen, sondern vielmehr auf Verlaufskontrollen abzielen (vgl. Lemke
2004, 264). Doch solche Testverfahren operieren in einem
Paradox, indem sie zwar Unterschiede und Differenzen voraussetzen, gleichsam jedoch Homogenität und Konformität produzieren (die vielbeschworene ›Vergleichbarkeit‹ von Leistungen)
und mithin einer Standardisierung des Hilfeprozesses und gerade der Missachtung von Individualität Vorschub leisten. Denn
die »Repräsentation des Selbst auf der Grundlage von standardisierten Testverfahren und dessen Einordnung in normierte
Testparameter verdunkelt eben jene Realität, die sie erhellen
soll. Denn es ist genau die Individualität, die Einmaligkeit und
Unverwechselbarkeit der Einzelnen, die in diesem
Testuniversum zugleich permanent beschworen und systematisch verworfen wird« (ebd., 269). Standardisierte Analyseinstrumente mit vorab festgelegten, als relevant erachteten
Dimensionen im Sinne von subsumptionslogischen Vorentscheidungen beinhalten immer die Gefahr, »mitunter eine
Verfahrensmechanik zu begründen, die für die Spezifik und
Individualität des Einzelfalls blind ist« (Höpfner et al. 1999,
202).
Im Diskurs um ›Anwendbarkeit‹ wird kaum thematisiert, auf
welches Wissen und welche Prämissen (z.B. erkenntnistheoretische Annahmen über Realität und Objektivität) bei der
Konstruktion von Instrumenten explizit wie implizit zurückge-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 79
Diagnose und Sozialtechnologie
79
griffen wird (vgl. Höhne 2006, 197) und dass jedes Raster und
Kategoriensystem bereits Ergebnis eines Entscheidungsprozesses ist, dessen Übernahme immer auch eine Übernahme der
vorangegangenen Selektion impliziert, d.h. aktuelle Entscheidungen werden von vorher getroffenen Entscheidungen beeinflusst (vgl. BOAG 2000, 5). Damit erfüllen solche Instrumente
für die AnwenderInnen zwar eine Entlastungsfunktion, da
Handlungen standardisiert werden (›das Instrument sagt ja, was
und was weiter getan werden soll‹). Sie sind jedoch immer auch
mit spezifischen Mechanismen der Selektion verbunden, da sie
Informationen für die Auswahl – und den Ausschluss – von präventiven, therapeutischen oder pädagogischen Interventionen
liefern, obwohl in der Regel immer mehrere brauchbare und
vertretbare Lösungen bei Entscheidungen vorhanden sind.
Da die gängigen Instrumente Neutralität und Objektivität suggerieren, indem Phänomene und Merkmale scheinbar sachlich
registriert und dargelegt werden, geraten ethische und normative Dimensionen des Handelns aus dem Blickfeld. Indem bereits
stattgefundene Entscheidungsprozesse der Festlegung, was
erhoben und ermittelt werden soll und was worauf hin folgt,
durch den Rückgriff auf Instrumente übernommen werden, vollzieht sich gleichsam eine (unbemerkte) Reproduktion gesellschaftlicher Wertvorstellungen.6 Diagnostische Verfahren operieren notwendigerweise an der Grenze zwischen Norm und
Abweichung, denn als ›Normalisierungstechnologien‹ sind sie
»konstitutives Element in der Herstellung des Normalen. Ihre
Leistung besteht darin … zu entscheiden« (Lemke 2004, 267).
Dies ist jedoch im gegenwärtigen ›Klassifizierungs-Hype‹ kaum
kritisierbar. Bei unerwünschten Effekten wird in der Regel dem
›Prinzip des Mehrdesselben‹ gefolgt, das heißt dem Glauben,
die Instrumente seien schlichtweg noch zu undifferenziert, die
Items noch zu ungenau usw. (vgl. Kunstreich 1995, 8) – die
Angemessenheit an sich wird kaum in Frage gestellt. »Kritik
darf geübt werden an den konkreten Maßstäben eines Tests,
nicht an der Praxis des Testens selbst« (Lemke 2004, 268).7
SatzBakic.qxd
80
27.02.2008
17:19
Seite 80
Diagnose und Sozialtechnologie
Die Suggestion von Neutralität und Objektivität etabliert eine
Sozialtechnologie auf ›höherer Ebene‹: Da die Instrumente von
konflikthaften und damit politisierbaren Zusammenhängen entkleidet sind (vgl. Kunstreich 1995, 9), werden soziale, ökonomische und gesellschaftliche Bedingungsfaktoren und Prozesse
nicht wahrgenommen, »die als Entstehungs- und Verlaufskontext den Rahmen darstellen, in dem der Einzelfall als
Einzelfall seine Besonderung erfährt« (Höpfner et al. 1999,
202). Dass alle kategorisierenden Verfahren »zwangsläufig
unflexibel im Hinblick auf Neues und hoffnungslos unterkomplex im Hinblick auf Reales« (ebd. 203) sind, interessiert evidenzbasiert vorgehende SozialarbeiterInnen nicht, sondern der
Fall wird nach erfolgreicher ›objektiver‹ Diagnose »dem profilspezifisch erwiesenermaßen effektivsten bzw. effizientesten
Programm« zugeführt (Ziegler 2006, 265) – womit die
›Steuerungsfantasien‹ des neuen manageriellen Denkens
schließlich auch in den Organisationen des Sozialsektors ihre
Vollendung finden.
Die sozialtechnologische Umstrukturierung
sozialer Organisationen
Im Zuge der Krise der öffentlichen Haushalte im Gefolge der
Verteilungskrise der flexiblen Arbeitsgesellschaft (vgl. Galuske
2002) ist der Rationalisierungsdruck auf Institutionen des
öffentlichen Sektors gestiegen, bei weiterhin zunehmender
Tendenz. Insofern ist der Neodiagnostik-Boom in der Sozialen
Arbeit keineswegs überraschend, da ohne eine Technisierung
des Hilfeprozesses schon an dieser Schwelle die Logik der
Rationalisierung nicht aufrecht zu erhalten ist. Doch spätestens
seit der Formel des ›strukturellen Technologiedefizits‹ wissen
wir um die nicht aufhebbare Unsicherheit (sozial-) pädagogischen Handelns aufgrund seiner Komplexität und die
Unmöglichkeit, funktionierende Technologien in diesem Feld
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 81
Diagnose und Sozialtechnologie
81
zu entwickeln, da es keine eindeutigen Kenntnisse der UrsacheWirkungs-Zusammenhänge (sozial-) pädagogischer Interventionen geben kann (vgl. Luhmann/Schorr 1979). Zwar zielen neuere Rationalisierungspraktiken insbesondere auf die
Ökonomisierung des ›menschlichen‹ Faktors, allerdings können sozialpädagogische Tätigkeiten und people processing
organizations nicht zweckprogrammiert, d.h. in Rekurs auf
Wenn-dann-Kausalitäten ausgestaltet werden – jedenfalls nicht
ohne gravierende Nebenfolgen und Deformationen. Angesichts
dieser Unsicherheit stellt sich das Problem potentieller
Rationalität, das im hier diskutierten Zusammenhang schlicht
»in ein Problem der Validität von Tests oder sonstigen diagnostischen Instrumenten umformuliert« wird (ebd., 330), umso
deutlicher.
In diesem Zusammenhang erfüllt nun die Installation diagnostischer Instrumente in den Organisation des Sozialsektors gerade als sozialer Mechanismus eine spezifische Funktion, nämlich die Beschaffung von ›Legitimation über Verfahren‹ (vgl.
Luhmann 1975). Organisationen implementieren – unabhängig
von einer spezifischen Wirksamkeit – generell verbreitete und
wissenschaftlich legitimierte Verfahren, um durch die
Befolgung gesellschaftlich verankerter Rationalitätsnormen die
Unterstützung aus der Umwelt und die Zufuhr von Ressourcen
(z.B. durch hohe Belegungszahlen) sicherzustellen (vgl. Kieser
1997, 87). Dass die Implementierung diagnostischer Verfahren
in der Sozialen Arbeit nicht jenseits organisatorischer
Relevanzen zu begreifen ist, zeigt bspw. der Umstand, dass
gerade hermeneutische Verfahren häufig als zu aufwändig, zu
zeitintensiv, zu langwierig, zu kompliziert, zu umständlich usw.
– kurz: als ›nicht praxistauglich‹, und das heißt in diesem Fall
als nicht organisationskonform verworfen werden. Nicht die
grundsätzliche Sinnhaftigkeit der Verfahren, sondern ihre institutionelle Passung wird in Frage gestellt. Durch den starken
Bezug zu den kulturellen Mythen der Wahrheit und
Erkennbarkeit8 trägt eine ›tickbox culture‹ – eine ›Kästchen-
SatzBakic.qxd
82
27.02.2008
17:19
Seite 82
Diagnose und Sozialtechnologie
Kultur‹ – in sehr viel höherem Maße zur Legitimitätssicherung
bei, sie ist jedoch gleichsam manifester Ausdruck einer instrumentell-strategischen Rationalisierung und Technologisierung
in den Organisationen Sozialer Arbeit.9
Der Siegeszug der Ökonomisierung und Rationalisierung
Sozialer Arbeit seit den 1990er-Jahren hat auch den Diskurs
verändert. War Sozialtechnologie in den Fachdiskussionen der
Sozialen Arbeit in den 1970er- und 1980er-Jahren eine kritische
Chiffre, um auf die Gefahr einer entpolitisierten, weitgehend
auf positivistischen Verhaltenstechnologien reduzierten
›Fachlichkeit‹ und instrumenteller Modelle des Handelns aufmerksam zu machen, scheint die Zeit des sensiblen Umgangs
mit Begrifflichkeiten und der Ablehnung von Termini wie ›Fall‹
(aufgrund der inhärenten Klientifizierung) oder ›Diagnose‹ zur
bewussten Abgrenzung von anderen Professionen und
Distanzierung von den technokratischen und expertokratischen
psychiatrischen und behavioristischen Konzepten vorbei. Die
›SozialtechnikerIn‹ oder ›SozialingenieurIn‹ (vgl. Meerkamp
2007) scheint heute als Professionalisierungshabitus Sozialer
Arbeit überaus attraktiv. Anhand der zeitgeistigen Effizienzund Effektivitätsrhetorik können nun Leistungsfähigkeit, ›professional skills‹, anerkanntes Problemlösungswissen, Verlaufskontrolle und Prozessbeherrschung inszeniert werden. Der
zugrundeliegende Utilitarismus – also die Orientierung an
›nützlichen‹ Handlungen und Sozialitäten – und die Reduktion
von Rationalität auf eine bloße instrumentelle Rationalität bilden die Basis dafür, dass soziale in technische Probleme umdefiniert, einer öffentlichen Diskussion und Politisierung des
Bestehenden entzogen und institutionelle und gesellschaftliche
Dimensionen des ›Falls‹ ausgeblendet werden (können).
Diagnostische Ansätze sind in der Regel personenorientiert,
und – darauf weisen selbst die VertreterInnen entsprechender
Verfahren hin – gerade nicht milieu- und sozialraumorientiert,
eine reflexive Orientierung ist in der Regel unzureichend formalisiert und institutionalisiert (vgl. Heiner 2001, 264). Die
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 83
Diagnose und Sozialtechnologie
83
ganz reale Gefahr dieser »Trivialisierung des Helfens«
(Meerkamp 2007, 14), dieses auf Schematisierungsdenken, alltagstheoretischen Vorstellungen von Ursache-Wirkungszusammenhängen und einem auf affirmativ-unkritischer Rhetorik
basierenden Habitus liegt in der Favorisierung von direktiven
Interventionsstrategien und asymmetrischen Kommunikationsstrukturen: »Zur Missachtung der lebensweltlichen Autonomie
der KlientInnen und zur Blindheit für die Ausübung von
Definitions-, Normalisierungs- und, um mit M. Foucault zu
sprechen, ›Disziplinarmacht‹ durch SozialarbeiterInnen ist es
dann kein allzu weiter Schritt« (Ney 2006, 37).
Sozialtechnologische Vorstellungen waren immer schon eng
mit Vorstellungen von Beherrschbarkeit und (sozialer)
Kontrolle verwoben. So verstand bspw. Paul Natorp unter
›sozialen Techniken‹ die kausale (äußere und innere)
Beherrschung der lebendigen Triebkräfte des Menschen zum
Zwecke der Menschenbildung, und für Karl Mannheim sind sie
Methoden zur Beeinflussung menschlichen Verhaltens und ein
potentiell besonders machtvolles Instrument sozialer Kontrolle
(vgl. Knoblauch 2006, 5). Doch da »es keine für soziale
Systeme ausreichende Kausalgesetzlichkeit, da es mit anderen
Worten keine Kausalpläne der Natur gibt, gibt es auch keine
objektiv richtige Technologie, die man nur erkennen und dann
anwenden müsste. Es gibt lediglich operativ eingesetzte
Komplexitätsreduktionen, verkürzte, eigentlich ›falsche‹
Kausalpläne« (Luhmann/Schorr 1982, 19). Das Bemühen, sozialpolitisch und normativ gerahmte belastete und belastende
Lebenssituationen und Lebenslagen mithilfe von Listen und
Fragebögen in Kausalattributionen und den Nimbus der (Quasi) Objektivität zu überführen, muss mithin als theoretisch verbrämte Ideologieproduktion und als (unreflektierte) Reproduktion eines Mythos der Beherrschbarkeit verstanden werden.10
SatzBakic.qxd
84
27.02.2008
17:19
Seite 84
Diagnose und Sozialtechnologie
Ein professionelles Abstiegsprojekt?
Das technische Arsenal der Sozialen Arbeit hat sich im letzten
Jahrzehnt zweifelsohne erweitert, ob damit allerdings lebensweltliche Verständigungsprozesse nachhaltig befördert werden
konnten, ob die neue, sozialtechnologisch gewandete Soziale
Arbeit ihre Qualität gesteigert hat, zu einem ›gelingenderen‹
Leben ihrer AdressatInnen beizutragen, darf angesichts der
skizzierten Zusammenhänge angezweifelt werden. Die gegebenen Verfahren mögen zwar den Anschein der Professionalisierung erzeugen, allerdings legen standardisierte Handlungsprogramme und die Eliminierung des subjektiven Faktors – im
Sinne einer Verringerung der Spielräume eines professionellen
›Ermessens‹ bzw. von professionell begründeten Entscheidungen – dann auch die Frage nahe, wofür man eigentlich noch
Fachkräfte braucht. Plakativ und zugespitzt ausgedrückt: Um
Diagnosetabellen auszufüllen, in Listen das statistisch wirksamste Angebot herauszusuchen und standardisierte, qualitätsgesicherte Handlungsprogramme abzuspulen, braucht man kein
qualifiziertes, einer reflexiven Fachlichkeit verpflichtetes
Fachpersonal, schon gar keine ›teuren‹ AkademikerInnen.
Angesichts der Logik einer Re-Taylorisierung von Arbeitsvollzügen und dem bislang unbekannten Ausmaß eines
Mikromanagements im sozialen Dienstleistungssektor im
Sinne einer Steuerung von Handlungsvollzügen ist eher von
»einem ›dramatischen Entwertungsprozess‹ der Profession«
auszugehen (Dahme/Wohlfahrt 2007, 23) – mithin einer
Deprofessionalisierung, einer Verschlechterung von Arbeitsbedingungen für die Mehrzahl der in Sozialen Berufen Tätigen
(vgl. Bauer 2004, 8) und – entgegen allen Verlautbarungen –
weiteren administrativen und organisatorischen Überformung
von Handlungsvollzügen.11 Hierbei fallen dann all jene nicht
messbaren, normierbaren und quantifizierbaren Faktoren wie
Vertrauen und die Qualität einer Beziehung aus den Listen und
Rastern heraus, eine ökonomistisch überformte Praxis kennt
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 85
Diagnose und Sozialtechnologie
85
nur wenig Raum für Scheitern, Rückschritte, Ausbrüche und
Unerwartetes. »Die reale lebensweltliche Komplexität, die
Eigenlogiken und Sperrigkeiten von sozialen und pädagogischen Prozessen bleiben hier ausgeblendet – ebenso die hochgradig komplexen Prozesse, die in der Sozialen Arbeit mit
Begriffen wie Beziehung, Offenheit und Grenzen verknüpft
sind« (Hafeneger 2001, 25).
Ein kritisch-hermeneutisches Professionsverständnis kann sich
nur in einem dialogischen Kommunikationsprozess zwischen
Menschen entfalten. Jedoch sind konstitutive Machtverhältnisse weder durch lebenswelthermeneutische Sensibilität
noch den Entwurf oder die Utopie einer ›anderen‹, nicht mehr
institutionell konstituierten ›Sozialen Arbeit‹ auflösbar, und
auch Aushandlungs- und Partizipationsverfahren schaffen keinen herrschaftsfreien Raum. Die nichtaufhebbare Subjektivität
von BeobachterIn und DeuterIn bleibt sowohl Risiko als auch
Ressource, und begründet im sozialpädagogischen Handeln
neben einer spezifischen Emotionalität im Kontext von Nähe
und Distanz gleichsam eine besondere professioneller Verantwortung (z.B. für eigene Deutungen, aber auch für die
Verwendung von Daten und Deutungen). Diese Verantwortung
heißt nicht notwendigerweise Expertokratie, und ihrer kann
sich auch nicht qua Verfahren entledigt werden. Die Besonderheit sozialpädagogischer Professionalität liegt »in der
gestalteten Balance von professioneller Expertise und respektvoller Verständigungsbereitschaft« (Schrapper 2005, 194), und
nicht zuletzt in der Beteiligung der AdressatInnen an allen sie
betreffenden Entscheidungsvorgängen.
Anmerkungen
1
Liessmann (2006, 79) identifiziert für den Bildungsbereich eine fast
schon »neurotische Fixierung auf Ranglisten aller Art«. »Wer einmal
dem Mechanismus der Reihung verfallen ist, entwickelt rasch
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
86
Seite 86
Diagnose und Sozialtechnologie
Symptome, die an den aus der Psychoanalyse bekannten
Zwangscharakter erinnern« (ebd., 83).
2
Bei dieser Kritik handelte es sich um mehr als um Begriffsklauberei,
denn: »Es ist keineswegs gleichgültig, wie man die Sachen nennt (...)
. Der Name schon bringt eine Auffassungstendenz mit sich, kann
glücklich treffen oder in die Irre führen. Er legt sich wie Schleier oder
Fessel um die Dinge« (Jaspers 1983, 428).
3
Vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch (2006), für ein Modell ausgehend von
jugendlichen Selbstdeutungsmuster z.B. Mollenhauer/Uhlendorff
(1995). Zur Verwendung von Verfahren der qualitativen Sozialforschung für die Ausbildung und Alltagspraxis von SozialarbeiterInnen vgl. die Beiträge in Jakob/Wensierski (1997).
4
So betonen bspw. SystemikerInnen die Verschränkung von Diagnose
und Intervention, da sie Diagnosen als Interventionen im Prozess, und
Interventionen als zugleich sondierende diagnostische Schritte
begreifen (vgl. Ritscher 2004, 73).
5
Im Bereich frühkindlicher Bildung absolvieren alle 4-jährigen im
Bundesland Nordrhein-Westfalens den ›Delfin 4‹-Test zur Diagnose
und Förderung der Sprachkompetenz, für die SchülerInnen der
Dritten und Achten Klasse folgen regelmäßige Lernstandserhebungen
in den Hauptfächern.
6
Liessmann (2006, 86 f.) hat in diesem Sinne in Bezug auf die Inflation
der Bildungsrankings vom Kindergarten bis zur Hochschule festgestellt: »Was in der Ideologie des Rankings als empirische
Bestandsaufname vorhandener Qualitäten und Defizite aufscheint,
hat bei genauerer Betrachtung einen durchwegs normativen
Charakter. Über die Autorität der Rangliste werden jene Vorgaben
gemacht, nach denen Wissenskulturen modifiziert und Bildungsräume reformiert werden, ohne dass diese Vorgaben je explizit
gemacht worden wären.«
7
Zwar weist Heiner (2001, 253) zu Recht auf entsprechende
Weiterentwicklungen hin, bemerkt jedoch auch, dass etwa die
psychologische Diagnostik bis heute im Wesentlichen eine
Testdiagnostik ist, die mit standardisierten Kategorien operiert und
einem positivistischen Erkenntnismodell folgt – und, sollten Zweifel
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 87
Diagnose und Sozialtechnologie
87
aufkommen, nach dem angesprochenen Prinzip des ›Mehrdesselben‹
operiert.
8
»Testverfahren bspw. verleihen diesem Mythos eine ungerechtfertigte Glaubwürdigkeit, indem diese die Sprache des Mythos zur
Beschreibung verwendet – und damit wird der Mythos ›realisiert‹
(oder ›wahr/objektiv gemacht‹) durch die Technologie, die er hervorgebracht hat« (vgl. BOAG 2000, 45).
9
Allen Fans der zeitgenössischen »Bekenntniskultur«, der permanenten »Selbstentzifferung« und dem »Zugang zur inneren Wirklichkeit
und zur eigenen Identität« (Lemke 2004, 268f.) sei die Website
http://de.tickle.com/ empfohlen. Hier können AnhängerInnen von
Persönlichkeitstests, Checklisten und Fragebögen nahezu alle
Bedürfnisse und Fragen befriedigen – zu Themen wie Karriere,
Entertainment, Liebe, Wissen, IQ und schließlich allen erdenklichen
Bereichen einer (vermeintlichen?) Persönlichkeit.
10
Als Beispiel für eine solche Ideologieproduktion vgl. z.B. Luthe
(2003). Bei der Lutheschen Bestimmung von Sozialer Arbeit als sozialtechnologisch optimierte Inklusionshilfe dürfen dann auch nicht alle
mitmachen, denn »Leute, die Dilettantismus als Leitprinzip beruflicher Identität betrachten, wird man hierbei nicht gebrauchen können« (Luthe 2003, 44), und, nicht nur bei Euch, liebe NachbarInnen,
muss scheinbar unbedingt nachgearbeitet werden! »Der in vielen
Ausbildungsinstitutionen unter der Rubrik ›Sozialarbeitswissenschaft‹ derzeit zu beobachtende Rückfall in die 70er Jahres des letzten Jahrhunderts (vor allem in Österreich) muß dagegen mit Sorge
betrachtet werden« (ebd., 48).
11
Indiz hierfür ist die Flut an Diagnose-, Qualitätserfassungs-,
Evaluationsbögen usw., die über die Soziale Arbeit hereingebrochen
ist und in der zum Teil banalste Alltagshandlungen (wie z.B. die
Begrüßung eines neu ankommenden Jugendlichen) zum Gegenstand
der Erfassung werden.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 88
88
Diagnose und Sozialtechnologie
Literatur
Bauer, Rudolph (2004): Arbeit, Arbeit, Arbeit … . In: Sozial Extra, 28 (1),
6-9.
Bitzan, Maria/Bolay, Eberhard/Thiersch, Hans (Hg.) (2006): Die Stimme
der Adressaten. Empirische Forschung über Erfahrungen von Jungen
und Mädchen in der Jugendhilfe. Weinheim.
BOAG (Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und
Wirklichkeitsprüfung) (2000): Variationen über den Konstruktivismus. Arbeitspapier Nr. 7. http://www.boag-online.de/pdf/boagap07.pdf [Stand: 27.12.2007]
Böhnisch, Lothar/Schröer, Wolfgang/Thiersch, Hans (2005): Sozialpädagogisches Denken. Wege zu einer Neubestimmung. Weinheim.
Cremer-Schäfer, Helga (2003): ›Wie der Name einer Sache unser
Verhalten bestimmt‹ – Eine Erinnerung an Wissen über Diagnostik.
In: Widersprüche 23 (6), 53-60.
Dahme, Heinz-Jürgen/Wohlfahrt, Norbert (2007): Vom Korporatismus zur
Strategischen Allianz von Sozialstaat und Sozialwirtschaft: Neue
›Sozialpartnerschaft‹ auf Kosten der Beschäftigten? In: Dahme,
Heinz-Jürgen/Trube, Achim/Wohlfahrt, Norbert (Hg.): Arbeit in
Sozialen Diensten: flexibel und schlecht bezahlt? Baltmannsweiler,
22-34.
Galuske, Michael (2002): Flexible Sozialpädagogik. Elemente einer
Theorie Sozialer Arbeit in der modernen Arbeitsgesellschaft.
Weinheim.
Hafeneger, Benno (2001): Wohin treiben Soziale Arbeit und Jugendhilfe?
In: Sozial Extra 25 (1), 25-26.
Heiner, Maja (2001): Diagnostik: psychosoziale. In: Otto, HansUwe/Thiersch, Hans (Hg.): Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik.
2. Aufl. Neuwied, 253-265.
Hillmeier, Hans (2004): Sozialpädagogische Diagnose. Eine Arbeitshilfe
des Bayrischen Landesjugendamtes. In: Heiner, Maja (Hg.)
Diagnostik und Diagnosen in der Sozialen Arbeit. Ein Handbuch.
Berlin, 203-217.
Höhne, Thomas (2006): Evaluation als Medium der Exklusion. Eine Kritik
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 89
Diagnose und Sozialtechnologie
89
an disziplinärer Standardisierung im Neoliberalismus. In: Weber,
Susanne/Maurer, Susanne (Hg.): Gouvernementalität und Erziehungswissenschaft. Wissen
–
Macht
– Transformation.
Wiesbaden, 197-218.
Höpfner, Norbert/Jöbgen/Becker (1999): Zur Methodisierbarkeit von Hilfe
oder: Braucht die Soziale Arbeit Diagnosen. In: Peters, Friedhelm
(Hg.): Diagnosen – Gutachten – hermeneutisches Fallverstehen.
Rekonstruktive Verfahren zur Qualifizierung individueller Hilfeplanung. Frankfurt a.M., 197-223.
Jakob, Gisela/Wensierski, Hans-Jürgen von (Hg.) (1997): Rekonstruktive
Sozialpädagogik. Konzepte und Methoden des sozialpädagogischen
Verstehens in Forschung und Praxis. Weinheim.
Jaspers, Karl (1983): Von der Wahrheit, 3. Aufl. München.
Kieser, Alfred (1997): Disziplinierung durch Selektion. Ein kurzer Abriß
der langen Geschichte der Personalauswahl. In: Klimecki,
Rüdiger/Remer, Andreas (Hg.): Personal als Strategie. Neuwied, 85118.
Knoblauch, Hubert (2006): Sozialtechnologie, Soziologie und Rhetorik.
Manuskript. Berlin. http://www2.tu-berlin.de/~soziologie/Crew/knoblauch/material/knoblauch_2006_Sozialtechnologie.pdf
[Stand:
27.11.2007]
Kunstreich, Timm (1995): Sozialpartizipation statt Sozialtechnologie: ein
Blick zurück, gegenwärtige Trends und ein Blick nach vorn. In:
Sozial extra 19 (11), 8-11.
Kunstreich, Timm (2003): Neo-Diagnostik – Modernisierung klinischer
Professionalität? Ein Exposé für ein Methodenheft der Widersprüche.
In: Widersprüche 23 (6), 7-10.
Langhanky, Michael (2005): Diagnostik – eine Kunst des Regierens. In:
Widersprüche, H. 96, 7-21.
Lemke, Thomas (2004): Test. In: Bröckling, Ulrich/Krasmann,
Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt
a.M., 263-270.
Liessmann, Konrad P. (2006): Theorie der Unbildung. Wien.
Luhmann, Niklas (1975): Legitimation durch Verfahren. Darmstadt.
Luhmann, Niklas/Schorr, Karl-Eberhard (1979): Reflexionsprobleme im
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 90
90
Diagnose und Sozialtechnologie
Erziehungssystem. Stuttgart.
Luhmann, Niklas/Schorr, Karl-Eberhard (1982): Das Technologiedefizit
der Erziehung und die Pädagogik. In: Dies. (Hg.): Zwischen
Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt
am Main, 11-40.
Luthe, Ernst-Wilhelm (2003): Sozialtechnologie. In: Archiv für
Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 34 (4), 3-48.
Meerkamp, Rainer (2007): Der Sozialtechniker in der Sozialen Arbeit. In:
Soziale Arbeit, H. 1, 12-22.
Mollenhauer, Klaus/Uhlendorff, Uwe (1995): Sozialpädagogische
Diagnosen II. Selbstdeutungen verhaltensschwieriger Jugendlicher
als empirische Grundlage für Erziehungspläne. Weinheim.
Müller, Burkhard (1993): Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur
multiperspektivischen Fallarbeit. Freiburg im Breisgau.
Ney, Paul (2006): Methodisches Handeln als Sozialtechnologie? Zur
Professionalisierungsfrage der Sozialen Arbeit. In: Sozialarbeit in
Österreich, H. 4, 33-38.
Ritscher, Wolf (2004): Prinzipien und Verfahren systemischer Diagnostik
in der Sozialen Arbeit. In: Heiner, Maja (Hg.) Diagnostik und
Diagnosen in der Sozialen Arbeit. Ein Handbuch. Berlin, 68-84.
Salomon, Alice (1925): Soziale Diagnose. Berlin.
Schrapper, Christian (2005): Diagnostik, sozialpädagogische und
Fallverstehen. In: Kreft, Dieter/Mielenz, Ingrid (Hg.): Wörterbuch
Soziale Arbeit. 5. Aufl. Weinheim, 189-197.
Schumak,
Renate
(2003):
Diagnostische
Verfahren
in
der
Arbeitsmarktpolitik: Profiling im aktivierenden Sozialstaat. In:
Widersprüche 23 (6), 61-71.
Thole, Werner (2002): Soziale Arbeit als Profession und Disziplin. Das
sozialpädagogische Projekt in Praxis, Theorie, Forschung und
Ausbildung – Versuche einer Standortbestimmung. In: Ders. (Hg.):
Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Opladen, 1359.
Ziegler, Holger (2006): What works? Probleme einer Wirkungsorientierung in der Sozialen Arbeit. In: Forum Erziehungshilfe, H. 5,
262-266.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 91
Diversity und Ausschluss
Samira Baig
Im Folgenden wird die Entwicklung des Diversitybegriffs dargelegt und in Bezug auf soziale Arbeit diskutiert. Nachdem die
Herkunft von Diversity und Diversity Management und deren
Einzug in Europa kurz beschrieben wurden, werden meine
Beobachtungen in Bezug auf das Thema im Bereich der sozialen Arbeit zur Diskussion gestellt. Im Zuge dessen soll auch
aufgezeigt werden, wie ein reduktionistisches Verständnis von
Diversität, die Gefahr in sich birgt, Ausschluss zu fördern
anstatt diesem entgegen zu wirken.
Diversity – ein vielfältiger Begriff
Das Wort Diversity bedeutet per se nichts anderes als Vielfalt
und hat als Schlagwort im Zeitalter der Globalisierung enorm
an Bedeutung gewonnen. Mit diesem Begriff wird versucht die
Heterogenität der Bevölkerung in einer Welt, die immer komplexer und pluralistischer geworden ist, zu beschreiben.
Konkret bezieht sich der Begriff auf die Vielfalt von Menschen,
die sich auf Grund ihrer Unterschiede, die sie zu Individuen
machen, ergibt.
Ganz im Sinne der Wortbedeutung gibt es aber vielfältige
Zugänge und unterschiedliche Sichtweisen zu Diversität.
Es wird davon ausgegangen, dass Menschen sich in vielerlei
Hinsicht voneinander unterscheiden und keineR der/dem anderen gleicht (vgl. Stuber 2004, S.15). In diesem Sinne betont
Diversity die Individualität und somit die Unterschiedlichkeit
jeder/s einzelnen. Dieses breite Verständnis von Diversity birgt
allerdings die Gefahr in sich, dass der Begriff wenig konkret
bleibt. Es wurden daher unterschiedliche Aspekte formuliert,
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 92
92
Diversity und Ausschluss
die dabei unterstützen sollen, die Vielfalt bzw. Unterschiedlichkeiten von Individuen näher zu beschreiben. So werden zum Beispiel die zwei Kerndimensionen Geschlecht und
Ethnizität herangezogen, oder es wird zwischen direkt wahrnehmbaren und indirekt wahrnehmbaren Unterschieden differenziert (vgl. Stuber 2004, S.17f; vgl. Finke 2005, S. 39f). Bei
diesen Versuchen Vielfalt und Unterschiedlichkeit mit konkreten Aspekten zu beschreiben, besteht die Gefahr, der Komplexitätsreduktion und der Fokussierung auf Unterschiede anstatt
auf Vielfalt (vgl. Stuber 2004, S.16). Somit steht nicht mehr die
Individualität im Vordergrund, sondern die Kategorie- und
Gruppenzugehörigkeit und Bilder von verallgemeinernden
Identitäten entstehen. Es entwickeln sich stereotype Annahmen
über die Angehörigen der jeweiligen Kategorie, wobei
Unterschiede innerhalb der Kategorien ausgeblendet werden
(Krell 2004, S. 42).
Michael Stuber (2004), »Diversity Pionier« im deutschsprachigen Raum führt in diesem Zusammenhang an:
»Ein besonderes Risiko besteht in der Reduzierung der ausgewählten
Unterscheidungsfaktoren
bei
gleichzeitiger
Betonung
von
Unterschiedlichkeit im Sinne von (trennendem) Anderssein. So entstehen allzu leicht klassische Feindbilder zwischen einigen wenigen
Gruppen: diejenigen, die der Norm entsprechen, also ›normal‹ sind,
und denen, die sich unterscheiden. Stattdessen erweisen sich Ansätze
als vorteilhaft, die einerseits darauf verweisen, dass jeder Mensch
angesichts zahlloser Faktoren ein einmaliges Individuum darstellt,
und gleichzeitig betonen, dass wir vieles gemeinsam haben, uns also
in einigen Faktoren ähneln.« (S. 18).
Lee Gardenswartz und Anita Rowe, zwei US Amerikanerinnen,
die sich bereits seit den 70er Jahren sehr intensiv dem Thema
widmen, haben ein Modell entwickelt, die »4 Layers of
Diversity«, das einem Verständnis von Vielfalt als Unterschiede
UND Gemeinsamkeiten gerecht wird, indem es Vielfalt mög-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Diversity und Ausschluss
Seite 93
93
lichst differenziert abbildet und im gleichen Zuge auch hilft,
Gemeinsamkeiten sichtbar zu machen (vgl. Gardenswartz
/Rowe 2003, S. 31-65).
Im Zentrum dieses Modells steht »Personality«, die
Persönlichkeit, als einzigartige Kombination persönlicher
Charakteristika, die uns alle voneinander unterscheidet und die
unsere Interaktion mit anderen auszeichnet. Neben dieser einzigartigen Individualität werden weitere Dimensionen
beschrieben bezüglich derer sich Menschen unterscheiden: die
»Internal Dimensions«, die »External Dimensions« und die
»Organizational Dimensions«.
Die am meisten beachteten Internal Dimensions stellen
Kategorien dar, die wir selber nicht beeinflussen können, wie
Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, physische Einschränkungen, ethnische Herkunft und Hautfarbe (vgl. Gardenswartz
/Rowe 2003, S. 31-32).
Die External Dimensions sind Faktoren, die ebenso die
Persönlichkeit in ihrer Individualität prägen, aber von jeder/m
einzelnen mehr oder weniger beeinflussbar sind (vgl.
Gardenswartz /Rowe 2003, S. 45). Hier werden Religionszugehörigkeit, Familienstand, Ausbildung, Einkommen,
Elternschaft, Erscheinungsbild bzw. Aussehen, Gewohnheiten
(wie rauchen, trinken, etc.), Hobbies, geografische Herkunft
(wie Wohnort, Gegend der Kindheit, etc.) und Arbeitserfahrung
(vgl. Gardenswartz /Rowe 2003, S. 45-52) hinzugezählt.
Da Diversity bzw. das Management von Diversity, wie wir weiter unten noch sehen werden, ein zentrales wirtschaftliches
Thema für Unternehmen darstellt, haben Lee Gardenswartz und
Anita Rowe neben den persönlichen und sozialen Einflüssen
auch Dimensionen auf organisatorischer Ebene formuliert, die
einen Unterschied im Arbeitsalltag machen: Funktion/Einstufung, Arbeitsinhalte/Tätigkeitsfeld, Abteilung/Einheit/
Gruppe, Dauer der Zugehörigkeit, Arbeitsort, Gewerkschaftszugehörigkeit und Management Status (vgl. Gardenswartz
/Rowe 2003, S. 53-57).
SatzBakic.qxd
94
27.02.2008
17:19
Seite 94
Diversity und Ausschluss
Dieses Modell der 4 Layers of Diversity ist hilfreich, Vielfalt in
ihren unterschiedlichen Aspekten sichtbar, benennbar und
somit fassbar zu machen und gleichzeitig einer allzu großen
Komplexitätsreduktion und der Gefahr von Stereotypisierung
und Stigmatisierung entgegen zu wirken. Bei allen Gegensätzlichkeiten werden auch Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten aufgezeigt, was Vorraussetzung für eine Auseinandersetzung mit Unterschiedlichkeiten darstellt. Auch wenn sich
allmählich die Haltung breit macht, dass Vielfalt eine Bereicherung darstellt, zieht sie per se keineswegs Harmonie nach
sich, sondern ist viel mehr Ursache für Missverständnisse und
Konflikte unterschiedlichster Art. Erst wenn diese geklärt sind,
können sich die Vorteile von Vielfalt entfalten. In diesem
Zusammenhang wurde Diversity Management zu einem zentralen Begriff.
Diversity Management
Diversity Management bezeichnet das Managementkonzept,
das zum Ziel hat, einen professionellen Umgang mit Diversity
in Unternehmen zu etablieren und so ein produktives Miteinander im Arbeitsalltag zu fördern (vgl. Finke 2005, S.13).
Es geht darum, eine strukturelle und inhaltliche Flexibilität zu
erlangen, die Raum für die Entfaltung von Diversität gibt und
gleichzeitig hilft die Produktivität zu erhalten bzw. zu steigern
(vgl. Stuber 2004, S. 244 f.). Diversity Management bedeutet
somit auch personalwirtschaftliches und organisationales
Managementhandeln, das vorhandene Privilegien und Benachteiligungen sichtbar macht und abbaut, um die Vielfalt der
MitarbeiterInnen betriebswirtschaftlich besser entwickeln und
nutzen zu können. Dabei gilt es sowohl individuelle Unterschiede als auch Gruppenzugehörigkeiten (z.B. Zugehörigkeit
zu den oben erwähnten Dimensionen) zu berücksichtigen.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 95
Diversity und Ausschluss
95
Diversity & Diversity Management –
und ihre US amerikanische Herkunft
Diversity und Diversity Management sind zwei Begriffe, die
ursprünglich aus den USA kommen, einem traditionellen
Einwanderungsland, das auf Grund dessen immer mit der
Notwendigkeit konfrontiert war ein Mit- oder zumindest
Nebeneinander auf Grund bzw. trotz der kulturellen und sozialen Vielfalt zu finden. Dieser Umstand in Kombination mit der
US amerikanischen Human Rights Bewegung führte dazu, dass
die Antidiskriminierungsidee schon früh gesetzlich eingebunden und somit auch gerichtlich einforderbar wurde (z.B. Civil
Rights Act 1964; Equal Employment Opportunity Act 1972).
Dadurch kam auch der Aspekt der Risikominimierung bzw.
Vermeidung von Klagen wegen individueller Diskriminierung
als wesentlicher Grund für Unternehmen hinzu, ein
Miteinander trotz aller Unterschiedlichkeiten zu unterstützen.
Diversity Management ist somit zwar nicht direkt, aber
womöglich indirekt auch gesetzlich motiviert (vgl. Koall/
Bruchhagen 2005, S. 17-20; Bendl, 2004).
David A. Thomas und Robin J. Ely (1996) haben eine Reihe US
amerikanischer Unternehmen und deren Umgang mit Diversity
untersucht und in der historischen Betrachtung unterschiedliche
Phasen in der Entwicklung von Diversity Management
beschrieben. (vgl. Engel 2004, S.15-15; vgl. Koall/Bruchhagen
2005, S. 22-24):
Eine erste Phase zeichnet sich dadurch aus, dass die Norm der
Fairness und Gerechtigkeit besteht, sowie die Übereinkunft,
dass niemand diskriminiert werden darf. Die tatsächliche
Umsetzung dessen ist aber von der individuellen
Konfliktbereitschaft und -fähigkeit abhängig. D.h. es existiert
eine Dominanzkultur, die Normen und somit unhinterfragt
Normalität vorgibt, in die sich sämtliche Minoritäten zu integrieren haben. Anderssein wird als Widerstand oder
Unprofessionalität gewertet. Alle – Frauen, Farbige,
SatzBakic.qxd
96
27.02.2008
17:19
Seite 96
Diversity und Ausschluss
Homosexuelle, u.a. – haben die Möglichkeit in den Organisationen Fuß zu fassen, vorausgesetzt sie geben dem
Anpassungszwang der Mehrheitsangehörigen1 nach und ordnen sich den vorhandenen Standards unter. ZuwandererInnen
verleugnen ihre kulturelle Herkunft und passen sich den westlichen Werten an, homosexuelle Menschen, verheimlichen ihre
sexuelle Orientierung, um als heterosexuell zu gelten, Frauen
unterstützen patriarchale Strukturen und somit den Ausschluss
von gleichgeschlechtlichen Personen, etc..
In einem nächsten Schritt werden zum einen durch die amerikanische Gesetzgebung spezielle Tätigkeitsfelder für Minderheitenangehörige eingeführt, um Sanktionszahlungen zu vermeiden, andererseits wird entdeckt, dass das Andere bzw. die
Anderen für den Ausbau von KundInnenmärkten eingesetzt
werden kann. Angehörige von Minderheiten werden damit
interessant für Unternehmen. In dieser zweiten Phase wird
gezielt rekrutiert, wobei weiterhin von dem Besonderen, dem
Anderen ausgegangen und die Differenzen betont werden.
Minoritätsangehörige sind für jeweils spezifische Zielgruppen
zuständig, um neue KundInnenmärkte zu erschließen und zu
betreuen, oder haben Aufgabenbereiche mit niedrigen sozialen
Status inne. Wenn hier auch der besondere Nutzen von
Minoritätsangehörigen sichtbar oder gar betont wird, so fördert
das gleichzeitig die Bildung von Nischen und somit auch die
(Re-)Produktion von Stereotypen.
Erst in der dritten Phase geht es um ein Erlernen eines effizienten Umgangs mit Unterschiedlichkeiten. Hier wird die
Integration minorisierter Personen angeregt, auch durch
Veränderungen der Organisationen und struktureller Rahmenbedingungen, wie der Kommunikationsbeziehungen und hierarchischer Positionierungen. Anderssein gilt nicht als Widerstand gegen die Dominanzkultur oder fachliches Defizit, sondern wird unter dem Aspekt einer grenzerweiternden Perspektive wertgeschätzt. Das Managementkonzept »Diversity
Management« ist entstanden.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Diversity und Ausschluss
Seite 97
97
Entsprechend dem »american way of life« basiert dieses
Konzept auf dem Leistungsgedanken. Die individuelle
Leistung wird betont, denn sie ermöglicht gesellschaftliche
Durchlässigkeit. (vgl. Koall/Bruchhagen 2005, S.17). Wenn die
Leistung im Sinne der Wirtschaftlichkeit stimmt, ist die
Gruppenzugehörigkeit per se unwesentlich und es gilt lediglich
eine gemeinsame Basis zu finden im Arbeitsalltag. Der politisch korrekte Anspruch Vielfalt nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu fördern und das Positive in Diversity zu sehen, ist
hinzugekommen als ein wesentlicher Aspekt, um das
Management von Vielfalt und Unterschiedlichkeit zu unterstützen.
Die zunehmende Leistungs- und Marktorientierung in
Kombination mit einer steigenden sichtbaren Vielfalt der
Bevölkerung auf Grund der demographischer Entwicklungen
(vgl. Stuber 2004, S. 110 – 134) lässt Diversity und Diversity
Management auch in Europa zu relevanten Themen werden.
»Managing Gender und Diversity« –
Diversity Management im deutschsprachigen Raum
Betrachtet man die Entwicklung von Diversity Management im
deutschsprachigen Raum, so fällt auf, dass oft von »Managing
Gender und Diversity« gesprochen wird und die Dimension
Gender somit explizit hervorgehoben wird, bei einschlägigen
Publikationen, bei der Benennung von Gender- und Diversitylehrgängen, bei der Bezeichnung von Gender- und Diversitybeauftragten, bei der Titulierung von Lehrveranstaltungen, etc.
Diese Tatsache resultiert aus der spezifischen Entwicklung und
den gesetzlichen Bestimmungen im deutschsprachigen Raum
im Vergleich zu den USA:
Die 80er und 90er Jahre in Westeuropa waren geprägt von
Chancengleichheitsprogrammen, die auf die Gleichstellung der
Geschlechter abzielten und speziell die Frauenförderung voran-
SatzBakic.qxd
98
27.02.2008
17:19
Seite 98
Diversity und Ausschluss
trieben. Die Bedeutung von Gender Mainstreaming, wurde bei
der UN Weltfrauenkonferenz 1985 entwickelt und hielt 1996
Einzug in die EU, wo es im Artikel 3 des Amsterdamer
Vertrages Niederschlag fand. Es wurde damit zur Aufgabe aller
EU Staaten Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern. Eine
Anforderung, der Österreich im Jahr 2000 explizit nachkam,
indem es ein Gleichbehandlungsgesetz für Frauen und Männer
beschloss (vgl. Bendl 2004, S. 46-53). Erst in demselben Jahr
verabschiedete die EU auch eine Richtlinie zum Verbot der
Diskriminierung im Arbeitsbereich auf Grund der Rasse und
der ethnischen Herkunft und schuf auch einen Rahmen gegen
Diskriminierung auf Grund von Behinderung, sexueller
Orientierung, der Weltanschauung, der Religion und des Alters.
Das führte 2004 zu einer Novellierung des Gleichbehandlungsgesetzes in Österreich, das über die Gleichbehandlung
von Mann und Frau hinaus geht und auch Menschen vor
Diskriminierung in der Arbeitswelt auf Grund von ethnischer
Zugehörigkeit, Religion oder Weltanschauung, des Alters und
der sexuellen Orientierung schützen soll (vgl. Gutschlhofer
2006).
Ganz im Gegensatz zu den USA lag der inhaltliche Fokus der
Gleichbehandlung in Europa also auf dem Genderaspekt und
erst aufgrund EU-rechtlicher Vorgaben erfolgte eine gesetzliche
Gleichstellung in Bezug auf weitere Diversityaspekte, wobei
die Bedeutung des Genderaspektes nach wie vor sichtbar in der
Bezeichnung mitgeführt wird.
Von der Wirtschaft in die soziale Arbeit
Auch im Bereich der sozialen Arbeit rückt die Heterogenität der
Bevölkerung auf KundInnen- bzw. KlientInnenseite ins
Bewusstsein und wird immer mehr zum Thema. Vor allem der
steigende Anteil an MigrantInnen, scheint bei den Mitarbei-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Diversity und Ausschluss
Seite 99
99
terInnen von sozialen Institutionen verunsichernd und irritierend zu wirken. Gleichzeitig besteht das Bemühen auch sozial
benachteiligte Menschen aus anderen Herkunftsländern gut
betreuen zu können.
Der Begriff Diversity – Vielfalt – findet im psychosozialen
Bereich weitgehend eine reduktionistische Verwendung und
wird oft als Synonym für Interkulturalität verwendet.2
Bei diesem Zugang wird allerdings leicht übersehen, dass kultureller Hintergrund bzw. Herkunft nur ein Aspekt von
Diversity ist, auf Grund dessen sich Menschen unterscheiden.
Weitere Aspekte, wie Geschlecht, Alter, Behinderung, sexuelle
Orientierung, etc., die die Identität von Personen prägen, werden ausgeblendet. Vergleichen wir die beschriebene Entwicklung des Einzuges von Diversity in amerikanische
Unternehmen weiter vorne in diesem Artikel, so scheint der
Verlauf im deutschsprachigen Raum im Bereich der sozialen
Arbeit diesem sehr ähnlich zu sein. Nachdem MigrantInnen
bereits vereinzelt in Institutionen des psychosozialen Bereichs
vorgedrungen sind, vorausgesetzt sie entsprechen den vorhandenen Werten und Standards – oder anders ausgedrückt sind gut
assimiliert, so dürfte nun Phase 2 eingetreten sein. Auch die
soziale Arbeit ist auf Grund der zunehmenden Heterogenität der
Bevölkerung mit neuen Markterfordernissen konfrontiert.
Soziale Einrichtungen sind bemüht der Situation damit zu
begegnen, dass sie danach streben, vermehrt MitarbeiterInnen
mit Migrationshintergrund und Fremdsprachenkenntnissen
anzuwerben. Die Anforderungen des »Marktes« lassen
MigrantInnen als wertvolle MitarbeiterInnen erscheinen, die
nun gezielt rekrutiert werden, um ihresgleichen gut betreuen
und beraten zu können. Das Anforderungsprofil: Menschen mit
einschlägiger Ausbildung, mit sehr guten Deutschkenntnissen,
Migrationshintergrund und einschlägigen Sprachkenntnissen.
Dieses Vorgehen zieht aber per se keine diversifizierte
Unternehmenskultur nach sich – ganz im Gegenteil, es fördert
Monokultur trotz ausländischer MitarbeiterInnen. Menschen
SatzBakic.qxd
100
27.02.2008
17:19
Seite 100
Diversity und Ausschluss
mit interkulturellem Hintergrund werden rekrutiert, unter dem
Aspekt der Nützlichkeit für die soziale Institution. Es werden
»die Besten« ausgesucht, die sich auch dadurch auszeichnen,
dass sie im Großen und Ganzen der Mehrheitskultur entsprechen, abgesehen von ein bis zwei Zusatzqualifikationen. Oder
wie viele Mitarbeiterinnen in sozialen Institutionen mit
Kopftuch kennen Sie?
Obwohl Du anders bist, darfst Du dazu gehören, aber du darfst
nur soweit anders sein, wie es zu unseren Werten passt. Alles an
Abweichung, was darüber hinaus geht, erzeugt einen Anpassungsdruck, der in der Regel von den Betroffenen selbst bewältigt werden muss (vgl. Pauser 2007, S.56), wenn sie dazu gehören wollen. Hinzu kommt, dass auf Grund des anders Seins,
andere Bereiche zugeordnet werden. Die Kollegin aus dem Iran
ist meist für Interkulturelles und MigrantInnen zuständig.
Durch diese Art der Ausgliederung wird einer Auseinandersetzung seitens der Mehrheitskultur ausgewichen. Wenn auch
das Bewusstsein besteht, dass das Andere wichtig und nützlich
ist, so birgt die momentane Vorgehensweise die Gefahr des
Ausschlusses in sich – des Ausschlusses von Vielfalt.
Diversity statt Ausschluss in der sozialen Arbeit
Für einen kompetenten Umgang mit Diversity, der Vielfalt
sichtbar macht und (be-)fördert und somit hilft Ausschluss entgegen zu wirken, sind folgende Aspekte hervorzuheben, die
meiner Meinung nach von zentraler Bedeutung sind und über
die hier beschriebenen Bestrebungen in der sozialen Arbeit hinaus gehen.
Zum einen ist Diversity ein breiter Begriff, der, wie erwähnt,
mehr meint als Interkulturalität. Diversity betont nicht nur die
Unterschiedlichkeiten unter Menschen, sondern auch die
Vielfalt im Menschen. Türken sind nicht nur Türken, Türken
sind auch Männer, sie sind alt oder jung, homo- oder heterose-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Diversity und Ausschluss
Seite 101
101
xuell, mit oder ohne physischer Behinderung, Väter, Großväter
oder allein stehend, etc..
Konkret bedeutet das auch für die soziale Arbeit mit ihrem
Diversity Fokus auf Interkulturalität den Blick zu öffnen für die
vielfältigen Lebensläufe von MigrantInnen, für die Vielfalt in
ihrer Person und die Aspekte, die sie ausmachen (vgl. Vahsen
2000, S.119). Es gilt zu erkennen, dass es auch in der sozialen
Arbeit tradierte Bilder über das Zusammenleben in
MigrantInnenfamilien gibt, über Männer und Frauenrollen und
religiös fixierte Zuschreibungen, die es zu überprüfen gilt, um
Stereotype, Vorurteile und (unbewusste) Diskriminierungen
aufzudecken (vgl. Vahsen 2000, S18-19).
Zum anderen bedeutet Diversity »Gemeinsamkeiten UND
Unterschiede«. Die Kunst besteht darin Gemeinsamkeiten im
Auge zu behalten, ohne Unterschiedlichkeiten zu leugnen.
Minoritätsangehörige unterscheiden sich von der herrschenden
Mehrheit. Damit sind hier allerdings nicht die nahezu romantischen Projektionen auf das Andere gemeint, die die anderen als
exotisch, anziehend, gastfreundlich, sozial, spontan, etc. erscheinen lassen (vgl. Gaitanides 2005), sondern die Tatsache, dass es
anzuerkennen gilt, dass Minderheitsangehörige auf Grund ihrer
Gruppenzugehörigkeit andere Erfahrungen machen als
Mehrheitsangehörige – konkret: Diskriminierungserfahrungen
(vgl. Vahsen 2000, S.70f). Minderheitenangehörige begegnen
häufig Situationen des Ausschlusses. Ihre Gruppenzugehörigkeit
auf Grund der ethnischen Herkunft, Hautfarbe, körperlicher
Behinderung, etc. ist permanent sichtbar – für sich und für andere. Sie erleben im Alltag Stresssituationen und spezifische
Risiken, vor denen Mehrheitsangehörige verschont bleiben, bis
hin zur tätlichen Angriffen und Beschimpfungen auf der Straße
einzig aufgrund ihres »anders Sein«.
Das führt in weiterer Folge zu natürlichen Grenzen der
Einfühlung auf Seiten der ProfessionistInnen der Mehrheitskultur, dessen sie sich bewusst sein sollten. Siebert (1996) formuliert (zit. nach Vahsen 2000 S. 65):
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
102
Seite 102
Diversity und Ausschluss
»Nicht das Verstehen um jeden Preis, die totale Empathie ist wünschenswert (...), sondern die Einsichten in die Grenzen des
Fremdverstehens.«
Nicht der/die andere ist fremd, sondern wir sind einander fremd
und das gilt es auszuhalten, um dann einen gemeinsamen Weg
im Sinne einer gleichberechtigten Integration zu finden.
Darüber hinaus ist Diversity Management auf allen Ebenen zu
berücksichtigen. Die Orientierung an sozialer Gerechtigkeit ist
gerade im Bereich der sozialen Arbeit sehr präsent und politische
Korrektheit wird groß geschrieben. Das hat aber leider nicht
automatisch das Verschwinden von Vorurteilen und Diskriminierung zur Folge. Vorurteile und Diskriminierung werden
dadurch lediglich tabuisiert und subtil – meist unbewusst ausgelebt. Anstatt einer Ausgrenzung der anderen kommt es zu einer
Bevorzugung der Eigengruppe (vgl. Devine, Plant, Blair 2001).
Diese Mechanismen spiegeln sich auch in den Systemen der
professionellen Institutionen wider, die durch ihre Ausrichtung
an tradierten Mehrheitsnormen implizit andere ausschließen
(vgl. Vahsen, 2000). Es bedarf somit auch Veränderungen auf
organisatorischer Ebene mit Aus- und Rückwirkungen auf die
bestehenden sozialen Normen:
Die interkulturelle Orientierung einer Institution beginnt beim
Leitbild und impliziert eine entsprechende Zusammensetzung der
Personals, schließt fragwürdige Arbeitsteilung aus und erfordert
Partizipation und Transparenz (Auerheimer 2005, S.19).
Das gilt nicht nur für eine interkulturelle Öffnung, sondern ist
ein wesentlicher Aspekt für Diversity Management auf institutioneller Ebene.
»Simply recruiting people from different backgrounds is not enough;
there has to be a complementary effort to support those individuals
once they have entered the organization« (Johns/Jordan, 2006, S.1274).
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 103
Diversity und Ausschluss
103
Diversity und soziale Arbeit –
ein politischer Anspruch?
Sozialarbeit mit einem politisch-reflexiven Anspruch hat schon
lange das Problem struktureller Unterdrückung in den unterschiedlichsten Bereichen erkannt und dennoch ist zu beobachten, wie strukturelle und politische Entwicklungen es geschafft
haben, soziale Arbeit zu einem Bereich zu machen, in dem
administrative und evaluative Tätigkeiten und Fähigkeiten
immer mehr an Bedeutung gewinnen – und Politisches aus dem
Berufsalltag verschwindet (vgl. Johns/Jordan 2006).
»The radical agenda of anti-oppressive, inclusive and empowering
practice has been sidelined.« (Johns/Jorda, 2006, S.1273).
Stellt sich die Frage, ob sich diese Tendenz nicht auch im
Bereich Diversity und soziale Arbeit widerspiegelt. Statt
Integrationsbewusstsein zu fördern, wird ein utilitaristischer
Zugang gewählt. Aber Diversity ist nicht nur eine wirtschaftliche Ressource, sondern hat auch einen politischen Anspruch.
Dazu gehört es, strukturelle Unterdrückung aufzuzeigen und
aktiv Ausschlussmechanismen und Diskriminierung in den
eigenen Reihen zu identifizieren. Stehen wirtschaftliche
Aspekte und das Ziel der Effizienzsteigerung im Vordergrund
wird nicht nur der Status Quo des Verhältnisses von Mehrheitsund Minderheitsangehörigen hingenommen, sondern auch darauf geachtet, dass die Stellung der Majorität und tradierte
Ausschlussmechanismen nicht gefährdet werden.
Es gilt einen Diskurs zu führen, der der Komplexität des
Themas Vielfalt mit all seinen Aspekten adäquat ist und das
Ziel einer wahrhaftigen Integration und eines Miteinander einer
immer heterogener werdenden Bevölkerung hat.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 104
104
Diversity und Ausschluss
Anmerkungen
1
Die Begriffe Mehrheit und Majorität wird in weiterer Folge nicht nur
im Sinne einer zahlenmäßigen Mehrheit verwendet, sondern auch
unter Berücksichtigung des Machtverhältnisses. In diesem Sinne ist
in Bezug auf Gender zum Beispiel die Gruppe der Männer als
Majorität bzw. Mehrheit zu verstehen, wenn sie auch anzahlmäßig
den Frauen gegenüber unterlegen sind.
2
Diese Beobachtung spiegelt sich auch in geförderten Sozialprojekten
zu Diversity wider, wie Diversity@Care, women.diversity.net, siqua,
etc.
Literatur
Auernheimer, Georg (2005): Interkulturelle Kommunikation und
Kompetenz. In: Migration und Soziale Arbeit 2005/1, S. 15 – 22.
Bendl, Regine (2004): Gendermanagement und Gender- und Diversitätsmanagement – ein Vergleich der verschiedenen Ansätze. In:
Bendl, Regine, Hanappi-Egger, Edeltraud, Roswitha Hofmann
(Hrsg.): Interdisziplinäres Gender- und Diversitätsmanagement.
Einführung in Theorie und Praxis. Wien: Linde Verlag. S. 43-72.
Devine, Patricia G./Plant, Ashby E./Blair, Irene V. (2001): Classic and
Contemporary
Analysis
of
Racial
Prejudice.
In
Brown,
Rupert/Gaertner, Samuel L.(Hg.): Blackwell Handbook of Social
Psychology: Intergroup Processes. Oxford: Blackwell Publishers Ltd,
S. 198 – 217.
Engel, Roland (2004): Die Diversität des Diversity Managements:
Geschichte und Landkarten. In: Managing Diversity, Hernsteiner
2/2004, Jg. 17, S. 15-18.
Finke, Merve (2005): Diversity Management. Förderung und Nutzen personeller Vielfalt in Unternehmen. München: Rainer Hampp Verlag.
Gaitanides, Stefan (2005): Facetten des Distanz-Nähe Problems in der
interkulturellen Sozialarbeit. In: Migration und soziale Arbeit 2005/1.
S. 23-31.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 105
Diversity und Ausschluss
105
Gardenswartz, Lee / Rowe, Anita (2003): Diverse Teams at Work.
Capitalizing on the Power of Diversity. Alexandria: SHRM.
Gutschlhofer, Birgit (2006): Rechtliche Rahmenbedingungen für
Diversitätsmanagement – Erste Erfahrungen mit dem Gleichbehandlungsgesetz in Österreich. In: Bendl, Regine, Hanappi-Egger,
Edeltraud, Roswitha Hofmann (Hrsg.): Agenda Diversität: Genderund Diversitätsmanagement in Wissenschaft und Praxis. Mering:
Rainer Hampp Verlag. S. 44-51.
Johns, Nick/Jordan, Bill (2006): Social Work, Merit and Ethnic Diversity.
In: British Journal of Social Work 36, 1271-1288.
Koall, Iris/Bruchhage, Verena (2005): Zum Umgang mit Unterschieden im
Managing Gender & Diversity – eine angewandte Systemperspektive.
In: Hartmann, Gabriella/Judy, Michaela (Hg.): Managing Gender und
Diversity in Organisationen und Gesellschaft. Wien: Edition
Volkshochschule.
Krell, Gertraude (2004): Managing Diversity: Chancengleichheit als
Wettbewerbsfaktor. In: Krell, Gertraude (Hrsg.): Chancengleichheit
durch Personalpolitik. S. 41–56.
Pauser, Norbert (2007): Mit Vielfalt gut beraten: Diversity Management
als Ansatz für die psychologisch-pädagogische Beratung? In: heilpädagogik online 03/07, 42-64 http://www.heilpaedagogik-online.com/
2007/heilpaedagogik_online_0307.pdf, Stand:30.06.2007
Stuber, Michael (2004): Diversity. Das Potenzial von Vielfalt nutzen – den
Erfolg durch Offenheit steigern. München: Wolters Kluwer
Deutschlang GmbH.
Vahsen, Friedhelm (2000): Migration und soziale Arbeit. Konzepte und
Perspektiven im Wandel. Neuwied: Leuchterhand.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 106
Ideologiekritik und Theoriebildung
Albert Scherr
Jede Praxis, also auch die Praxis der Sozialen Arbeit, basiert auf
gesellschaftlichen »Wirklichkeitsmodellen« (Schmidt 2003),
auf Annahmen darüber, was der Fall ist und wie angemessen
gehandelt werden kann sowie auf Normalitätsmodellen und
Normen, mit denen begründet wird, was bewirkt werden soll.
Wirklichkeitsmodelle, Normalitätsmodelle und Normen verändern sich mit der historischen Entwicklung und sind prinzipiell
kontrovers, wie sich an unterschiedlichen Beispielen zeigen
lässt: So hat sich inzwischen die Vorstellung einer prinzipiellen
Gleichheit von Männern und Frauen und die normative Überzeugung durchgesetzt, dass Gleichbehandlung anstrebenswert
ist; Homosexualität gilt nicht mehr, wie noch Anfang der
1970er Jahre, als behandlungsbedürftige psychische Krankheit,
sondern als eine normale und zu akzeptierende Form menschlicher Sexualität; PädagogInnen haben gelernt, die Anwendung
pädagogischer Gewalt nicht länger als unverzichtbares
Erziehungsmittel zu betrachten, sondern als unzulässige Form
der Misshandlung zu bewerten. Veränderungen gesellschaftlich
einflussreicher Sichtweisen werden in der Wissenssoziologie
nicht als eine Folge rationaler Lernprozesse betrachtet, in denen
sich das bessere Wissen gegen als falsch erkanntes durchsetzt,
sondern auf ihren Zusammenhang mit gesellschaftsstrukturellen Entwicklungen und mit den Interessen sozialer Gruppen hin
untersucht. Es wird danach gefragt, was bestimmte Sichtweisen
der sozialen Wirklichkeit ermöglicht, welche Auswirkungen
diese haben und was Veränderungen auslöst. (vgl. Knoblauch
2005) Bereits die ältere Wissenssoziologie verbindet die Frage
nach dem sozial gültigen Wissen mit der Untersuchung von
Machtverhältnissen. In seiner klassischen Studie »Außenseiter«
thematisiert Howard S. Becker die »Definitionsmacht« sozialer
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 107
Ideologiekritik und Theoriebildung
107
Gruppierungen, die bestimmte Vorstellungen über normales
und abweichendes Verhalten etablieren und durchsetzen (vgl.
Becker 1971, 133ff.). Peter L. Berger (1973, 3ff.) argumentiert,
dass der »Zwangscharakter« der Gesellschaft« nicht nur in
Gesetzen und Sanktionen begründet ist, sondern auch in ihrer
Macht, bestimmte Sichtweisen der Wirklichkeit als objektiv
gültige zu setzen. Diskursanalyse in der von Michel Foucault
begründeten Tradition (vgl. Keller et al. 2006) fragt dezidiert
nach den Macht- und Herrschaftseffekten von ›Macht-WissensKomplexen‹: Wissen und Macht sind demnach keine Gegensätze, sondern bestimmtes Wissen ermöglicht und begründet
bestimmte Formen der Macht- und Herrschaftsausübung.
Ideologiekritik – ein in der Traditionslinie der Marx’schen
Kapitalismuskritik zu verortendes und inzwischen als eher
unmodern geltendes Unternehmen – verfolgt ein vergleichbares
Anliegen (vgl. als einführenden Überblick Haug 1992): Hier
geht es zentral darum, aufzuzeigen, dass und wie gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse durch die jeweils vorherrschenden Wirklichkeitsmodelle gerechtfertigt werden:
Ideologien sind im Kern Rechtfertigungslehren, die die
Notwendigkeit einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung,
der sie kennzeichnenden Strukturen sozioökonomischer
Ungleichheit und der politischen Machtverhältnisse behaupten.
Naturalisierung und allgemeines Interesse
Eine Grundfigur ideologischen Denkens ist die der
Naturalisierung sozialer Verhältnisse: Eine bestimmte Ordnung
der gesellschaftlichen Verhältnisse wird damit gerechtfertigt,
dass sie den vermeintlich naturgegebenen Eigenschaften von
Menschen bzw. naturgesetzlichen Prinzipien entspricht. Auch
die aktuelle Programmatik des Neoliberalismus basiert auf solcher Naturalisierung: Die zentrale Forderung nach einer marktökonomischen Steuerung aller gesellschaftlichen Teilbereiche
SatzBakic.qxd
108
27.02.2008
17:19
Seite 108
Ideologiekritik und Theoriebildung
wird u. a. mit einer Darstellung von Globalisierung als ein
naturgesetzlicher Prozess verbunden, in dem nationale Grenzen
vermeintlich bedeutungslos werden sowie mit der Behauptung,
dass sich die Überlegenheit des Marktes als rationales
Steuerungsinstrument für die Koordination des Handelns von
Menschen, deren Grundantrieb die egoistische Verfolgung
eigener Interesse sei, zweifelsfrei erwiesen habe (vgl. etwa
Willke 2003).
Eine weitere klassische Grundfigur ideologischen Argumentierens besteht darin, dass spezifische Interessen als
Allgemeine, als das gemeinsame wohlverstandene Eigeninteresse aller Gesellschaftsmitglieder dargestellt werden. In der
Entstehungsphase moderner Gesellschaften war es v. a. die bürgerlichen Ideen der (Vertrags-)Freiheit und (rechtlichen)
Gleichheit, die als Ausdruck allgemeiner menschlicher Naturrechte und als Grundlage einer vernünftigen Gesellschaftsgestaltung behauptet wurden. Ideologiekritik zielt darauf bezogen auf den Nachweis, dass die bürgerlichen Freiheiten in dem
Maße nicht Jedermann, sondern nur partikularen Interessen dienen, wie die rechtliche Gleichheit durch ökonomische
Ungleichheit konterkariert und die formelle Freiheit durch ökonomische Zwänge und politische Machtverhältnisse in einer
Weise eingeschränkt wird, die den Interessen der Lohnabhängigen und der Armen widersprechen: Das Gesetz »in seiner erhabenen Gleichheit verbietet es Reichen wie Armen,
unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und
Brot zu stehlen«, so eine klassische Formulierung von Anatole
France (1925, 116).
Angesichts des mit neoliberalen Argumenten legitimierten
Abbaus sozialstaatlicher Leistungen bei gleichzeitiger Stärkung
repressiver Instrumente staatlicher Kontrolle und Sanktionierung – in Hinblick auf die USA hat Loic Wacquant (2006)
den Umbau vom Wohlfahrtsstaat zum strafenden Staat und die
Kriminalisierung der Armut detailliert beschrieben – besteht
gegenwärtig ersichtlich hinreichender Anlass für Ideologie-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 109
Ideologiekritik und Theoriebildung
109
kritik. Dabei kann aber, wie im Folgenden deutlich werden soll,
die Soziale Arbeit selbst aus einer ideologiekritischen Thematisierung nicht ausgeklammert werden.
Gibt es eine Garantie des richtigen Standpunkts
der Kritik?
Dass Ideologiekritik gegenwärtig gleichwohl nicht en vogue
ist, hängt mit einem zentralen Problem der klassischen
Ideologiekritik zusammen: Wer ein bestimmtes Wirklichkeitsmodell mit der klassischen Marx’schen Formel als »notwendig
falsches Bewusstsein« qualifiziert, muss für sich in Anspruch
nehmen, das falsche vom richtigen Bewusstsein unterscheiden
zu können, also über einen privilegierten Zugang zur Wahrheit
zu verfügen. Niemand, auch der Ideologiekritiker selbst, kann
aber beanspruchen, über einen Standpunkt zu verfügen, der
außerhalb gesellschaftlicher Einflussnahmen auf sein Denken
steht. Ideologiekritik setzt sich also selbst dem Verdacht aus,
auf ideologischen – nicht rational begründbaren – Annahmen
zu beruhen. Dies hat u. a. bei Michel Foucault (1992, 31) zu
einer Distanzierung von der Programmatik der Ideologiekritik
geführt:
»Man möchte nicht wissen, was wahr oder falsch, begründet oder
nicht begründet, wissenschaftlich oder ideologisch, legitim oder missbräuchlich ist. Man möchte wissen, welche Verschränkungen zwischen Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen aufgefunden
werden können, welche Verweisungen und Stützungen sich zwischen
ihnen entwickeln, wieso ein bestimmtes Erkenntniselement – sei es
wahr oder wahrscheinlich oder ungewiss oder falsch – Machtwirkungen annimmt und wieso ein bestimmtes Zwangsverfahren
rationale, kalkulierbare, technisch effiziente Formen und Rechtfertigungen annimmt.« (ebd.: 31)
SatzBakic.qxd
110
27.02.2008
17:19
Seite 110
Ideologiekritik und Theoriebildung
Verzichtet man nun aber darauf, ganz generell die Verzichtbarkeit von Zwangsmechanismen und die Überwindbarkeit von
Machtwirkungen zu behaupten, dann stellt sich an Foucault und
die Diskursanalyse die Frage, was eine Kritik bestimmter
Zwangsmechanismen, Erkenntniselemente und Machtwirkungen ermöglicht. Denn Foucault teilt mit der klassischen
Ideologiekritik das Motiv der Kritik: Auch bei ihm geht es
darum, gegebene Herrschaftsverhältnisse in Frage zu stellen
und nichts als wahr zu akzeptieren »was eine Autorität als wahr
ansagt« oder »weil eine Autorität es als wahr vorschreibt«
(ebd.: 14).
Folglich steht Diskursanalyse ebenso wie Ideologiekritik vor
der Aufgabe, die Kriterien auszuweisen, die sie für die
Begründung einer kritischen Perspektive in Anspruch nimmt.
Kritik kann sich entsprechend auf Regeln wissenschaftlichen
Argumentierens beziehen: Eine bestimmte Sichtweise wird in
Frage gestellt, weil ihre theoretischen und empirischen
Begründungen nicht überzeugen. Ein anderer Modus der Kritik
akzentuiert die Diskrepanz zwischen den normativen
Prinzipien, die politisch in Anspruch genommen werden, und
den Effekten gesellschaftspolitischer Entscheidungen, also
etwa zwischen Gleichheits- und Gerechtigkeitsnormen und der
Realität ungleicher und ungerechter Verhältnisse.
In beiden Fällen gilt, dass Kritik keineswegs voraussetzen
kann, aber auch nicht voraussetzen muss, »selbst im garantierten Besitz der einen, absoluten und ewigen Wahrheit zu sein«;
sie muss für sich beanspruchen können, »die besseren
Argumente zu haben« (Haug 1992: 118). Ideologiekritik
besteht also darin, in den Streit um die besseren Argumente einzutreten und dabei Begründungen und Rechtfertigungen von
sozialen Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnissen unter
den Verdacht zu stellen, auf rational nicht begründbaren
Prämissen und Setzungen zu basieren. Dies schließt eine selbstkritische Perspektive nicht aus, sondern ein: Angemessene
Grundlage von Ideologiekritik kann kein Dogmatismus sein,
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 111
Ideologiekritik und Theoriebildung
111
der sich gegen Zweifel an der Tragfähigkeit eigener Überzeugungen abschottet, sondern nur die Bereitschaft, sich auf den
offenen und unabschließbaren Prozess der kritischen Hinterfragung und argumentativen Begründung immer wieder erneut
einzulassen.
Wozu Ideologiekritik in der Sozialen Arbeit?
Moderne Soziale Arbeit hat sich in kritischer
Auseinandersetzung auch mit ihrer eigenen Tradition entwikkelt, einer Tradition, in der sich Soziale Arbeit immer wieder
als Anwalt der gesellschaftlichen Ordnung gegenüber denjenigen verstanden hat, die sich den ökonomischen Zwängen, den
rechtlichen Normen und den gesellschaftlichen Normalitätserwartungen nicht anpassen können oder wollen. So fasst
August Aichorn in seiner klassischen Studie zur Fürsorgeerziehung die Bezugsproblematik (Aichorn 1951) als »Verwahrlosung« und als »Dissozialenproblem« (ebd.: 39) und die
Zielsetzung als »Aufrichten des sozial gerichteten Ichideals,
das heißt im Nachholen jenes Stücks der individuellen
Entwicklung, das dem Verwahrlosten zur vollen Kulturfähigkeit gemangelt hat« (ebd.: 200). Hans Scherpner bestimmt
noch Anfang der 1960er Jahre die »Unangepasstheit des
Einzelnen an die materiellen Lebensbedingungen« und seine
»Unzulänglichkeit gegenüber der moralischen Ordnung der
Gemeinschaft« als Bezugsproblem sozialarbeiterischer Interventionen (Scherpner 1962, 122). Die Erfahrung der
Verstrickung der Sozialen Arbeit in die nationalsozialistische
Politik der Aussonderung und Vernichtung der »Asozialen« und
»Gemeinschaftsschädlinge« hatte also zunächst keineswegs zu
einer grundlegenden Infragestellung eines solchen Verständnisses Sozialer Arbeit geführt, das auf Veränderungen »problematischer« Verhaltensweisen von Individuen zielt, ohne dass
eine Hinterfragung der gesellschaftlichen Maßstäbe erfolgt, die
SatzBakic.qxd
112
27.02.2008
17:19
Seite 112
Ideologiekritik und Theoriebildung
jeweiligen Problemwahrnehmungen zu Grunde liegen. Dies
ändert sich erst in dem Maße, wie Versuche zu einer gesellschaftstheoretisch fundierten Theorie der Sozialen Arbeit vorgelegt werden und an Einfluss gewinnen. So formuliert Klaus
Mollenhauer (1964: 19) programmatisch, dass Sozialpädagogik
»Bestandteil des pädagogischen Systems, das durch die industrielle Gesellschaft hervorgebracht wurde« sei und deshalb
gelte, dass »alles, was über sie zu sagen ist, .... sinnvoll auch
nur in Bezug auf diese Gesellschaft gesagt werden« kann.
Dabei weist er auf den konstitutiven und spezifischen
Zusammenhang von gesellschaftlich bedingten Problemlagen
und sozialpädagogischen Interventionen hin: »Von ihrem
Beginn an und in allen ihren Formen war sie ein Antworten auf
Probleme dieser Gesellschaft, die der Sozialpädagoge zu
Erziehungsaufgaben umformulierte.« Daran anschließend kann
Soziale Arbeit – im Sinne einer ersten, abstrakt-allgemeinen
theoretischen Bestimmung – als eine gesellschaftliche Form
der Bearbeitung von solchen Auswirkungen gesellschaftsstrukturell bedingter Problemlagen auf die Lebenssituation von
Individuen und Familien verstanden werden, die die
Inanspruchnahme von Hilfeleistung und/oder die Zuschreibung
von Hilfsbedürftigkeit veranlassen.1
Folglich kann eine zentrale Aufgabe von Theoriebildung in der
Sozialen Arbeit darin gesehen werden, den gesellschaftlichen
Entstehungszusammenhang der Sozialen Arbeit zur
Bearbeitung zugewiesenen Problemlagen sowie gesellschaftliche Festlegungen zu analysieren, mit denen legitime von unberechtigten Hilfeerwartungen und vermeintlich angemessene
von vermeintlich unangemessenen Formen des Helfens unterschieden werden. Theorie zielt dann darauf, Soziale Arbeit als
eine gesellschaftlich situierte und gesellschaftlich strukturierte
Praxis zu untersuchen und dabei die Bedingungen und
Möglichkeiten, aber auch die strukturellen Grenzen sozialarbeiterischer Interventionen zu bestimmen. Dabei kann auf eine
ideologiekritische Perspektive nicht verzichtet werden. Dies
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 113
Ideologiekritik und Theoriebildung
113
gilt nicht ›nur‹ in Hinblick auf neoliberale Diskurse, die eine
affirmative Darstellung marktökonomischer Prinzipien mit
Forderungen nach einer verstärkten Kontrolle und Sanktionierung derjenigen verbinden, die an den Zwängen und
Zumutungen des sich modernisierenden Kapitalismus scheitern. Denn Soziale Arbeit findet sich, was im Weiteren zu erläutern sein wird, in einer Situation vor, in der ideologische, etwa
paternalistische, personalisierende und moralisierende Sichtweisen nicht nur als Traditionsbestand einflussreich sind, sondern durch das grundlegende Arrangement der individualisierenden Bearbeitung gesellschaftlich bedingter Problemlagen
immer wieder erneut nahe gelegt werden.
Soziale Arbeit als Verschiebung
Um als SozialarbeiterIn handlungsfähig zu sein und zu bleiben,
um den beruflichen Alltag bewältigen zu können, ist es erforderlich, mit den jeweils verfügbaren Mitteln auf diejenigen
Anforderungen und Problemlagen zu reagieren, die sich im
Kontext der jeweiligen Praxis stellen. Dazu ist es unverzichtbar
anzuerkennen, dass Soziale Arbeit an die zentralen Ursachen
der Probleme, mit denen sie konfrontiert ist, nicht heranreicht:
Zum Beispiel kann Soziale Arbeit mit arbeitslosen Jugendlichen zwar versuchen, deren individuelle Chancen auf dem
Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu verbessern, sie hat aber
ersichtlich nur wenig Einfluss auf die Arbeitsmarkt- und
Bildungspolitik. Soziale Arbeit verfügt auch nicht über
Möglichkeiten, eine Politik der Armutsbekämpfung durch
Umverteilung durchzusetzen, sie kann sich nur darum bemühen, die konkrete Lebenssituation ihrer jeweiligen Adressaten
zu verbessern.2
Dabei ist Soziale Arbeit vielfach mit Adressaten konfrontiert,
die sich durchaus »unvernünftig« und »ärgerlich« verhalten,
indem sie sich etwa schulischen oder beruflichen
SatzBakic.qxd
114
27.02.2008
17:19
Seite 114
Ideologiekritik und Theoriebildung
Möglichkeiten verweigern, und gelegentlich mit solchen, die
sich selbst und andere beschädigen, etwa durch Drogengebrauch, durch Vernachlässigung von Kindern oder durch
Gewaltausübung. Dass die Armen und Benachteiligten nicht
›die besseren Menschen‹ sind und eine Haltung der Sympathie
mit denjenigen, die den Normalitätserwartungen einer geordneten bürgerlichen Lebensführung nicht entsprechen können, mitunter an ihre Grenzen stößt, gehört zu den Grunderfahrungen
jeder SozialarbeiterIn. Eine Theorie der Sozialen Arbeit hat entsprechend in Rechnung zu stellen, dass soziale Ungleichheit
und soziale Ausgrenzung nicht nur zu objektiv benachteiligten
Lebensbedingungen führen, sondern auch die Subjektivität der
Benachteiligten, Ausgegrenzten und Diskriminierten beschädigen können: Subjektivität im Sinne eigenverantwortlicher
Urteils- und Handlungsfähigkeit, als Fähigkeit zur empathischen Perspektivenübernahme und zur moralischen Abwägung
zwischen Handlungsalternativen oder als Möglichkeit zur
Ausrichtung der eigenen alltäglichen Lebensführung ist sozial
voraussetzungsvoll. Denn Lebensbedingungen, die durch
Armut und Unsicherheit gekennzeichnet sind, können dazu
führen, dass das Denken und Handeln darauf fokussiert ist, den
Alltag irgendwie zu bewältigen; Subjektivität reduziert sich
dann ggf. auf Bemühungen, die eigene psychische Verfassung
zu stabilisieren und praktischen Handlungszwängen der alltäglichen Lebensführung gerecht zu werden.
Deshalb ist Soziale Arbeit wiederkehrend vor die Aufgabe
gestellt, »Bedingungen herzustellen, die dem Subjekt seine
Subjektivität ermöglichen« (Winkler 1988, 99), sich also mit
Effekten der Beschädigungen und Begrenzungen von
Subjektivität auseinander zu setzen.
Folglich werden gesellschaftsstrukturell bedingte Problemlagen in der Sozialen Arbeit auch als problematisches Verhalten
von Individuen sichtbar, auf das Soziale Arbeit mit ihren eigenen Mitteln einwirken soll. Dabei ist der Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem individuel-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 115
Ideologiekritik und Theoriebildung
115
len Verhalten komplex, keineswegs immer einfach zu durchschauen. In der Folge hat Soziale Arbeit eine nicht zufällige
Affinität zu solchen ideologischen Sichtweisen, die als
Individualisierung und Moralisierung charakterisiert werden
können: In ihrem beruflichen Handeln sind SozialarbeiterInnen
nicht unmittelbar mit gesellschaftlichen Verhältnissen befasst,
sondern mit Einzelnen und deren Praktiken. Die alltägliche
Erfahrung von SozialarbeiterInnen im praktischen Handlungszusammenhang legt deshalb Sichtweisen nahe, die Effekte
gesellschaftlicher Lebensbedingungen als Folge individuellen
Verhaltens »erklären« und als solche bewerten. Sozialarbeiterische Interventionen sind in der Regel zudem darauf verwiesen, Individuen zu einem veränderten Umgang mit den
ihnen auferlegten Lebensbedingungen zu befähigen, da sie
nicht über die Möglichkeit verfügen, substantielle Veränderungen dieser Lebensbedingungen zu bewirken. Soziale
Arbeit tendiert folglich immer dann zu einem moralisierenden
Individualismus, wenn eine theoretische Klärung der
Bedingungen, die für die Entwicklung der Fähigkeit zu einer
eigenverantwortlichen und sozial rechtfertigbaren Lebensführung förderlich oder hinderlich sind, unterbleibt.
Eine Radikalisierung eines moralisierenden Individualismus
wird im neoliberalen Leitbild des als »Unternehmer seiner
Arbeitskraft und seiner Daseinsvorsorge« konzipierten Individuums vorgenommen (vgl. Bröckling 2007). Unter systematischer Ausblendung des sozialwissenschaftlichen Wissens um
die sozialen und sozialisatorischen Voraussetzungen der Prozesse, in denen Individuen die Fähigkeit entwickeln können,
ihren Lebensentwurf gezielt und langfristig zu planen, wird an
Eigenverantwortlichkeit appelliert und werden denjenigen, die
im Dauerlauf um Selbstoptimierung durch lebenslanges Lernen
nicht mithalten, unter den sanktionsbewehrten Verdacht
gestellt, ihren Mitwirkungspflichten nicht gerecht zu werden.
Die Alternative zu einer ideologischen Deutung von
Hilfsbedürftigkeit als Ausdruck individuell zurechenbarer
SatzBakic.qxd
116
27.02.2008
17:19
Seite 116
Ideologiekritik und Theoriebildung
Defizite kann aber auch keine pauschale Gesellschaftskritik
sein, die die Klientel der Sozialen Arbeit zu unschuldigen und
bedauernswerten Opfern ihrer Lebensumstände stilisiert und
ihnen damit jede Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen
Lebensführung bestreitet. Erforderlich ist vielmehr eine genaue
Betrachtung nicht »nur« der objektiven Aspekte der
Lebenssituation jeweiliger Adressaten, sondern auch der damit
verbundenen Formierungen ihrer Subjektivität, insbesondere
der Beschädigungen und Begrenzungen ihrer Fähigkeit einer
selbstbewussten und selbstbestimmten Lebensgestaltung. Denn
nur so können auch Erfordernisse und Ansatzpunkte für eine
Praxis bestimmt werden, die auf Empowerment und
Subjektbildung ausgerichtet ist.
Eine weiterer Ansatzpunkt ideologischer Deutungen in der
Sozialen Arbeit ist die sich in Krisenzeiten zuspitzende
Diskrepanz zwischen Erfordernissen und Möglichkeiten des
Helfens: Mit der Zunahme von Hilfsbedürftigkeit, etwa in
Folge steigender Arbeitslosigkeit und Armut, reduzieren sich
zugleich die Möglichkeiten des Helfens, denn es stehen dann
auch weniger Arbeitsplätze zur Verfügung und die sozialstaatlichen Mitteln werden knapper. Soziale Arbeit kann sich dann
als »eine unlösbare Aufgabe darstellen (vgl. Bourdieu et al.
1997, 217ff.) Hierauf reagieren ideologische Deutungsangebote, die gesellschaftlich bedingte Grenzen des Helfens in prinzipielle, nicht überschreitbare Grenzen helfender Interventionen, etwa von Erziehung und Therapie, umdeuten. Es ist so
betrachtet kein Zufall, dass in Zeiten der Krise Zweifel an den
Möglichkeiten des Helfens wachsen und gleichzeitig Forderungen nach Repression und Sanktionierung an Einfluss gewinnen.3
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 117
Ideologiekritik und Theoriebildung
117
Rück- und Ausblick
Die Kritik von Ideologien, die das Leiden und das Scheitern der
Adressaten Sozialer Arbeit als unvermeidbar oder als selbstverschuldet darstellen sowie Soziale Arbeit in die Funktion einer
Institution zuweisen, die der Aufrechterhaltung und Durchsetzung ökonomischer Zwänge, politischer Strategien, vorherrschender Normen und Normalitätsmodelle dient, war und ist
eine zentrale Aufgabe von Theoriebildung. Eine solche Kritik
kann nicht durch eine bloße Beobachtung der Wandlungen der
Diskurse ersetzt werden, aus denen Soziale Arbeit ihre
Wirklichkeitsmodelle und Handlungsmaximen bezieht. Es
genügt auch nicht, gegenüber alten und neuen Mustern ideologischen Denkens eine Haltung der Sympathie mit den Armen,
Ausgegrenzten und Abweichenden einzunehmen – dies schon
deshalb nicht, weil diese allzu leicht in einen Zynismus umkippt,
der Distanz zu theoretischen Anstrengungen mit der vermeintlich
allein realistischen Einsicht verbindet, dass die Klientel letztlich
doch selbst verantwortlich ist für ihre Situation. Erforderlich ist
es vielmehr, immer wieder konkret zu analysieren, welche ideologischen Modelle jeweils an Einfluss gewinnen und die
Problematik ihrer Voraussetzungen und Folgen theoretisch
genau und empirisch fundiert zu bestimmen. Theoriebildung und
Ideologiekritik sind also zwei Seiten der gleichen Medaille.
Gegenwärtig stellt die Auseinandersetzung mit zwei ineinander
verwobenen Tendenzen die m. E. entscheidende Herausforderung dar: Der Abbau sozialstaatlicher Leistungen und sozialarbeiterischer Hilfen einerseits, der Ausbau sozialer Kontrollen
und Sanktionen andererseits. Deren gemeinsames ideologisches Fundament ist das Postulat des für seinen Erfolg und sein
Scheitern selbst verantwortlichen Individuums, dem auch
Normverletzungen als schuldhafte Verfehlung zurechenbar
sind. Demgegenüber ist in der Traditionslinie kritisch-sozialpädagogischen Denkens darauf zu beharren, dass es eine Aufgabe
von Gesellschaftspolitik, insbesondere von Arbeitsmarkt-,
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
118
Seite 118
Ideologiekritik und Theoriebildung
Sozial- und Bildungspolitik ist, Bedingungen herzustellen, die
Individuen tatsächlich befähigen, ihre Lebensführung bewusst
und eigenverantwortlich zu gestalten. Dabei ist gerade nicht,
wie immer wieder fälschlich behauptet wird, von einem grundlegenden Gegensatz von sozialer Sicherheit und individueller
Autonomie auszugehen, sondern gerade davon, dass soziale
Sicherheit vielfach Eigenverantwortlichkeit erst ermöglicht.
Umgekehrt gilt: »Der Weg über die Kürzung von Sozialleistungen mag sonst wohin führen – doch gewiss nicht zu einer
Gesellschaft freier Individuen.« (Bauman 1997, 363)
Anmerkungen
1
Soziale Arbeit ist nun jedoch keineswegs die einzige gesellschaftlich
institutionalisierte Form des Helfens: Im Unterschied zu den medizinischen und psychotherapeutischen Berufen ist sie gering spezialisiert
sowie überwiegend mit der Hilfsbedürftigkeit derjenigen befasst, die
sozioökonomischen Benachteiligungen unterliegen; im Unterschied
zu den Leistungen der sozialen Sicherungssysteme beschränkt sie
sich nicht auf die Zuteilung von Geld- und Versicherungsleistungen,
sondern versucht, durch Beratung, Betreuung, Erziehung, Bildung
und Quasi-Therapie auf die Lebensführung und das Selbstverständnis
von Individuen einzuwirken (vgl. dazu ausführlicher Bommes/Scherr
2000).
2
Zwar können SozialarbeiterInnen und Organisationen der Sozialen
Arbeit durchaus versuchen, auf politische Entscheidungen Einfluss zu
nehmen und für sich mit guten Gründen ein (sozial-)politisches Mandat beanspruchen; ersichtlich sind die Erfolge entsprechender
Versuche jedoch begrenzt.
3
Dies verbindet sich gegenwärtig mit einer einflussreichen Kritik, die
emanzipatorische Pädagogik und Sozialarbeit als illusionäre
Verkennung der Unhintergehbarkeit von Disziplinierung und
Sanktionierung denunziert (vgl. Bueb 2007; Weidner/Kilb 2004).
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 119
Ideologiekritik und Theoriebildung
119
Literatur
Aichorn, August (1951): Verwahrloste Jugend. Stuttgart/Wien
Bauman, Zygmunt (1997): Unbehagen in der Postmoderne. Hamburg
Becker, Howard S. (1971): Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden
Verhaltens. Frankfurt
Berger, Peter L. (1973): Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft.
Frankfurt
Bommes, Michael/Scherr, Albert (2000): Soziologie der Sozialen Arbeit.
Weinheim und München
Bourdieu, Pierre et al. (1997): Das Elend der Welt. Konstanz
Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Frankfurt
Bueb, Bernhard (2007): Lob der Disziplin. München
Dollinger,
Bernd/Raithel
Jürgen
(Hg.)
(2006):
Aktivierende
Sozialpädagogik. Wiesbaden
Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin
France, Anatole (1925): Die rote Lilie. München
Haug, Gerhard (1992): Einführung in die Ideologiekritik. Berlin
Keller, Rainer u.a. (2006): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. I. Wiesbaden
Knoblauch, Hubert (2005): Wissenssoziologie. Konstanz
Mollenhauer, Klaus (1964): Einführung in die Sozialpädagogik.
Weinheim/Berlin
Scherpner, Hans. (1962 [1974]): Theorie der Fürsorge. Göttingen
Schmidt, Siegfried J. (2003): Geschichten und Diskurse. Abschied vom
Konstruktivismus. Reinbek
Wacquant, Loic (2006): Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays.
Basel
Weidner, Jens/Kilb, Rainer (Hg.) (2004): Konfrontative Pädagogik.
Wiesbaden
Willke, Gerhard (2003): Neoliberalismus. Frankfurt/New York
Winkler, Michael (1988): Eine Theorie der Sozialpädagogik. Stuttgart
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 120
Management und Steuerung
Michael Winkler
1. Die Begriffe Management und Steuerung und die gemeinten
Sachverhalte gehören zu den jüngeren Ideologien und praktischen Pathologien der Sozialen Arbeit. Im Konzept des
Sozialmanagements sind sie zusammengeführt, der als ein
diskursiver Leitbegriff gelten kann. Sozialmanagement erlebt
vor allem im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts »eine erstaunliche Karriere« (Galuske 2007, 333); es steht für eine
Aufwertung der Sozialen Arbeit, die mit Binnendifferenzierung
einhergeht. Reputierlichkeit entsteht nämlich häufig, wenn
Hierarchien zeigen, wie man etwas in einem Bereich werden
kann: Wo es ManagerInnen gibt, lohnt es sich wohl einzusteigen. Ein Blick auf soziale Einrichtungen in Großbritannien
bestätigt dies auf makabre Weise: Während im Feld selbst, also
vor Ort und mit KlientInnen weniger und schlechter ausgebildete AkteurInnen wirken, schmücken sich in den Institutionen
auf unterschiedlichsten Ebenen die ManagerInnen mit ihren
Titeln. Ironischerweise ergab sich dies als Nebeneffekt fortschreitender Privatisierung des Sozialen Sektors und trug
zugleich zu erheblichen Kostensteigerungen bei.
In professioneller Hinsicht verweist Management auf eine neue
Kultur in der Sozialen Arbeit, die sich nicht zuletzt an den
Ausbildungsstätten beobachten lässt. Zwar klingen dort Ende
der siebziger Jahre die Parolen und Programme nach, welche
auf gesellschaftliche Veränderung durch Soziale Arbeit hoffen.
Die Akteure lassen sich von ihrem politischen Engagement zur
Randgruppenarbeit und von mitmenschlicher Empathie motivieren. Sie werden darauf eingeschworen, in einer »schmuddeligen« Lebenswelt verstehend und aushandelnd, die
Möglichkeiten zu einem gelingenderen Alltag zu entdecken
(vgl. Thiersch 1992). Doch schon taucht ein anderer Typus auf:
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Management und Steuerung
Seite 121
121
White collar workers mit schmucken Aktenkoffern und noch
schwergewichtigen Klapprechnern, welche der Sozialen Arbeit
und sich selbst ein neues Image geben (wollen): Unternehmer
des Sozialen, Betriebswirte in einem Non-Profit-Sektor, der
vom Gang an Aktienbörsen schwärmt, Organisatoren von
Dienstleistungen. Nebenbei gerät ihnen aus dem Blick, was
heute wieder beschäftigt: Armut, soziale Isolation und kulturelle Verelendung, Pädagogik im umfassenden Sinne, nämlich als
Erziehung zur Sicherung von Mündigkeit im Erwerb der Mittel
zur Selbstbeherrschung und im Zugang zu kulturell entscheidenden Inhalten gerät endgültig zum Tabu. Das rächt sich.
Disziplinär entspricht der professionellen Entwicklung zur
anerkannten Sozialen Arbeit die Etablierung des Sozialmanagements als Wissenschaft. Der Bereich wirkt attraktiv.
Denn Forschung und Lehre in ihm übersteigen die Horizonte
der klassischen sozialen Arbeit und der in der Erziehungswissenschaft angesiedelten Sozialpädagogik. Interdisziplinär
interessiert, bezieht sich die akademische Beschäftigung mit
dem Sozialmanagement auf die Sozial- und Gesundheitswissenschaften schlechthin. Sie wird durch die Entwicklungen
in den Arbeits- und Handlungsfeldern geradezu forciert:
Knappheit in den öffentlichen Haushalten, eine – etwa durch
den demographischen Wandel beeinflusste – Veränderung und
Steigerung der Bedarfszahlen, vor allem ein wachsendes
Bedürfnis nach Innovation bei gleichzeitig verbesserter und
intensivierter Qualitätskontrolle führen dazu, dass Fragen der
Organisation und Steuerung von Aufgaben und Leistungen in
den Zusammenhängen der Bildungs-, Kultur- und Sozialsysteme hohes Gewicht gewinnen. Ein erhebliches Interesse
besteht seitens der öffentlichen und der freien Träger sozialer,
kultureller und pädagogischer Angebote wie des Gesundheitsbereichs. Die Herausforderung liegt darin, dass ökonomische
wie administrative Vorgänge und solche etwa der Personalführung mit inhaltlichen, insbesondere konzeptionellen, curricularen Entwicklungen verbunden und in Strukturen gebracht
SatzBakic.qxd
122
27.02.2008
17:19
Seite 122
Management und Steuerung
werden, die eine Mitwirkung aller Beteiligten und Betroffenen
fördern. Nicht zuletzt aber berühren Fragen des Sozialmanagements Problemstellungen der Evaluation und einer ihr
folgenden Optimierung des Mitteleinsatzes. Insofern besteht
eine enge Verbindung zwischen Sozialmanagement und der
Qualitätssicherung in den einschlägigen Bereichen.
Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die Nachfrage nach
entsprechenden Ausbildungsangeboten und grundlegenden wie
anwendungsnahen Forschungsleistungen; insbesondere an
Fachhochschulen werden einschlägige Professuren eingerichtet, einige Universitäten folgen. Doch seit der Jahrtausendwende erlahmt die wissenschaftliche Arbeit. Zwar werden im
angelsächsischen Bereich einschlägige Handbücher veröffentlicht (vgl. Patti 2000), eine Untersuchung konzeptioneller und
begrifflicher Grundlagen lässt sich aber kaum mehr beobachten. Völlig fehlt eine empirische Erforschung der Implementation oder des Nutzens von Sozialmanagement. Die
Auseinandersetzung wird unter dem Begriff der Sozialwirtschaftslehre geführt (vgl. Wendt 2002) oder verlagert sich
in die Felder selbst. Sozialmanagement kommt in den Geruch,
als praxeologisches Konstrukt theorielos zu bleiben (vgl. Otto
2002, 178). Reflexion verliert ihre Relevanz, vielleicht weil
Idee und Konzept selbstverständlich geworden und in den professionellen Habitus eingesickert sind. Sie müssen anscheinend
nicht mehr geklärt werden.
Allerdings ist diese Entwicklung nicht ganz ungewöhnlich für
Debatten um Gesellschaft schlechthin, Soziale Arbeit und
Sozialpädagogik im Besonderen. Themen verflüchtigen sich in
Spezialdiskurse oder in eine Art untergründiges Wissen,
obwohl die Bedeutung der einschlägigen Probleme, Sachverhalte und Begriffe unbestimmt bleibt. Sie behalten dennoch
Gewicht und Ansehen, die ihnen sogar beängstigende Züge verleihen. Unsicherheit ruft Verunsicherung hervor. So endet beispielsweise ein Lexikonbeitrag mit der Zusammenfassung, dass
Sozialmanagement »ein Entwicklungsprogramm der Rekon-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Management und Steuerung
Seite 123
123
struktion und Produktion personenbezogener sozialer Dienstleistungen eines Verbandes, einer sozialen Verwaltung, einer
Kommune, sowie der [...] Evaluation im Horizont der
Charakteristika und der historischen Entwicklung des sozialen
Sektors aus einer Managementperspektive« kennzeichne
(Karsten 1996, 467). Dieser Satz klingt großartig, zumal er alle
diskursiv relevanten Bezugspunkte benennt. Gleichwohl bleibt
er schlicht unverständlich, was ihn der Ideologie verdächtig
macht. Sozialmanagement gibt sich bedeutungsschwanger –
das schafft dann eine besondere Aura. Sie leuchtet um so mehr,
weil hinter Sozialmanagement jene politischen und öffentlich
genutzten Semantiken stehen, in welchen Innovation und
Reform zu Topoi werden. Das Ganze gehört also in den
Kontext der Modernisierung moderner Gesellschaften.
2. Die Etymologie kann die Herkunft von Management nicht
sicher identifizieren, die Deutungen reichen von Hand anlegen
bis das Haus bestellen (vgl. Merchel 2006, 18). In die deutsche
Sprache wandert der Ausdruck seit dem Ende des 19.
Jahrhunderts ein, um nach dem 2. Weltkrieg größere
Verbreitung zu finden (vgl. Feldhoff 1980). Manager meint
seitdem zum einen OrganisatorInnen von Institutionen, größeren Verwaltungseinheiten, welche soziale und wirtschaftliche
Prozesse leiten, koordinieren und möglichst optimieren, oftmals in einem Spannungsfeld zwischen innerbetrieblichen
Kontexten und Öffentlichkeit. Das Bild des Managers/der
Managerin in der Öffentlichkeit ist weitgehend davon geprägt,
dass seine/ihre Aktivitäten kaum dem Gemeinwohl dienen,
schon gar nicht aber die (existenziellen) Interessen derjenigen
wahrnehmen, welche ihnen untergeordnet sind und als faktische Träger des betrieblichen Erfolges gelten. Tatsächlich fällt
es schwer ein persönliches Risiko des Managers zu erkennen.
Zum anderen hebt der Begriff des Managers auf jene ab, welche für erfolgreiche Akteure in Sport, Kunst und Medien die
Geschäfte führen, Vereinbarungen treffen und Öffentlichkeits-
SatzBakic.qxd
124
27.02.2008
17:19
Seite 124
Management und Steuerung
kontakte regeln, dafür meist mit einem festgesetzten prozentualen Anteil honoriert werden. Manager in diesem Sinn des
Ausdrucks genießen wenig Ansehen. Sie gelten sogar als geradezu parasitär. Management trägt dies als Ambivalenz weiter:
Etwas managen erweckt negative Vorstellungen, die vom
»Gschaftlhuber« im Dunstkreis klein-krimineller Aktivitäten
bis zum »Big Business« mit seinen vielschichtigen Feindbildern reicht.
In der Sache bezieht sich Management auf zwei Dimensionen,
nämlich einerseits – handlungsorientiert – auf die Leitung von
Organisationen, wobei klassisch Planung, Organisation,
Personalwahl und Personalführung, Betriebsleitung, Koordination und Finanzverwaltung unterschieden werden; zudem
gehören zum Management die strategische Entwicklung von
Unternehmen, auch durch Erweiterung und Verringerung der
Betriebseinheiten (also Zukauf zur Diversifikation als
Sicherung vor Marktrisiken oder zur Erzielung von Synergien
versus Outsourcing), Öffentlichkeits- und Lobbyistenarbeit wie
endlich die Kontrolle der Leistung. Andererseits versteht man
unter Management die Personen des Management, bzw. die
Führung und Entwicklung des Personals selbst.
Noch weniger lässt sich der Begriff Steuerung eindeutig fassen.
Das Grimmsche Wörterbuch erinnert eine Vielzahl von
Bedeutungen für die unterschiedlichen, als Verb wie als
Substantiv aufzufindenden Formen von »Steuern«. Steuerung
findet sich in der erfassten Literatur sogar für Unterstützung,
Hilfe, Förderung, dann erwartungsgemäß für Lenkung und
Leitung, aber sogar für Abwehr, Verhinderung und Linderung
(Grimm 1941, Sp. 2665). Die Sachbezüge fallen nicht minder
weit aus, und reichen dabei vom naturwissenschaftlichen technischen bis zum psychologischen Gebrauch des Ausdrucks
(vgl. Hassenstein/Hildebrandt 1998; Müller 1998).
3. Management und Steuerung stehen auch für den Tatbestand,
dass der moderne Staat das fürsorgende und helfende Handeln
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Management und Steuerung
Seite 125
125
aus der Zufälligkeit löst, an welche es durch christliche
Nächstenliebe gebunden war. Im sorgenden Staat wird
Gesellschaft zu einem Projekt, das rational begründet, bürokratisch durchgeführt und systematisch verwirklicht werden muss,
um das Wohlergehen des Ganzen oder aller zu sichern – in dieser Differenz unterscheiden sich marktwirtschaftliche von sozialstaatlichen Verfassungen. Das Geschehen bleibt allerdings
stets vieldeutig: Im Kern reagiert die Einführung wohlfahrtsstaatlicher Ordnungen und Regelungen nämlich darauf, dass
Notlagen systemisch und systematisch, mithin in einer Weise
notorisch werden, die nicht mehr als durch Gott gegeben oder
als menschliches Schicksal allein bestimmt sind. Wenngleich
schon mittelalterliche Armenordnungen den Weg gewiesen
haben, belegen Notlagen doch erst seit der Durchsetzung kapitalistischer Gesellschaften und industrieller Produktionsweisen
die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur als solche, sondern
als soziale Dynamos. Verhältnisse erzeugen Lebenslagen. Not
und Elend signalisieren jedoch eine abstrakte Mechanik; anders
als in der alten agrarischen Gesellschaft verschwindet noch der
Schutz durch jene, welche die Elenden in Abhängigkeit gehalten hatten. Notlagen werden nun gesellschaftlich erzeugt,
umfassend; sie bestimmen materielle wie kulturelle Lebensbedingungen und -lagen, prägen zugleich individuelle, psychisch-seelische Befindlichkeiten.
Darin entsteht eine kaum mehr einzuholende Spannung. Denn
einerseits verlangen die Notlagen systematische Gestaltung. Sie
fordern objektiv den Willen der Sozialpolitik, die sie in ihrer
abstrakt strukturellen Bedingtheit erkennt und Lebensverhältnisse umgestaltet. Andererseits aber richtet sich Soziale
Arbeit auf die Individuen in ihrer konkreten lebenspraktischen
Situation und Subjektivität. So entstehen Strukturen der Hilfe,
ein Systemzusammenhang und eine Regelmäßigkeit sowohl in
den zu bearbeitenden Problematiken wie in deren Bearbeitung
selbst; dies muss nicht bedeuten, dass humane Motive und
Verfahren maßgebend werden, vor allem wäre das Geschehen
SatzBakic.qxd
126
27.02.2008
17:19
Seite 126
Management und Steuerung
missverstanden, wenn Hilfe als entscheidend gelten würde. Es
geht schon um Kontrolle der Bevölkerung. Dem entspricht auf
der anderen Seite, dass für die AdressatInnen die Hilfeleistung
zugleich doch berechenbar wird. Als systematisches ist es aber
bürokratisches Verwaltungshandeln, stets im Zwang, auf generalisiert definierte Anlässe mit standardisierten Formen zu reagieren, um gerichtlich Bestand zu wahren, als individualisiertes
wirkt es immer willkürlich und ungerecht. Soziale Arbeit mag
zwar als Hilfe und Kontrolle gelten, sie ist aber auch
Verwaltung und Moral.
4. Nüchtern betrachtet steht jedoch Sozialmanagement zunächst
für einen eher äußerlichen, bloß terminologischen Wechsel von
Bezeichnungen, der aber einen Wechsel von Semantiken
andeutet, ohne unmittelbar eine Veränderung in den tatsächlichen Gegebenheiten der Sozialen Arbeit auszusprechen; als
symptomatisch für diese »unwesentliche« Bedeutung des
Begriffs Sozialmanagement kann man ansehen, wenn Stephan
Lessenichs Buch »Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe«, mit
welchen er an die »Geschichtlichen Grundbegriffe« anknüpft
und die historischen und aktuellen Diskurse der Sozialpolitik
diskutiert, Sozialmanagement, Management und Steuerung
nicht einmal im Register aufführt (vgl. Lessenich 2003). Auch
fällt auf, wie die Diskurse unverbunden bleiben: »Sozialpädagogisches Denken« von Böhnisch, Schröer und Thiersch
(2005) nimmt das Sozialmanagement schlicht nicht zur
Kenntnis, umgekehrt kennen die Einführungen in das Sozialmanagement das sozialpädagogische Denken nicht.
Sozialmanagement steht also zuerst – wie eine Vielzahl von
Belegstellen zeigt – als Äquivalent für »Verwaltung«, genauer:
»Administration«. Allerdings lässt sich kaum übersehen, wie
der Ausdruck damit aufkommt, dass in die Soziale Arbeit neue,
digitale Techniken eindringen und so veränderte Arbeitsformen
und neue Arbeitsabläufe provozieren, dass zudem Strategien
des Marketing, der Darstellung und der PR-Arbeit für die eige-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Management und Steuerung
Seite 127
127
nen Organisationen sich durchsetzen. Er lässt sich kaum trennen von Aktivitäten einer Beeinflussung von Öffentlichkeit, um
Mittel im Rahmen des fund raising zu akquirieren. Mit den
Begriffen Sozialmanagement, Management und Steuerung verbinden sich somit doch unterschiedliche Intentionen, die sich
als Begründungslinien zu einem Diskurs verweben:
Zunächst fordert der Begriff des »Sozialmanagement« ein
höheres Bewusstsein für die Spezifika des Sozialen Sektors;
strukturell zeichnet sich dieser als »intermediärer Bereich« aus,
der uneindeutig geregelt wird (vgl. zum Folgenden auch:
Merchel 2006, 41), nämlich durch eine Mischung von bürokratischen und marktförmigen Elementen mit solchen der
Solidarität und ethischen Normen1. Den sozialen Sektor
bestimmen mithin drei unterscheidbare Handlungsimperative,
nämlich solche einer Regulation durch die Solidarität im informellen Bereich gemeinschaftlichen Handelns, der Regulation
durch Vertrag und Tausch auf dem Markt, einer bürokratischen
Steuerung durch den Staat. Zudem muss man die wachsende
Einflussnahme durch die mediale Öffentlichkeit nennen, in der
Aufforderungen und Legitimationen entstehen, die wiederum
von der Politik beachtet werden, die allen drei Imperativen folgen möchte.
Sozialmanagement steht auch im Kontext des Versuchs, die
Soziale Arbeit von ihrem Image bloßer Sozialverwaltung zu
lösen, um einerseits den administrativen wie disziplinierenden
Zug der Sozialen Arbeit vordergründig abzustreifen, sowie die
Erstarrung in bürokratischen Routinen zu überwinden, andererseits den fachlichen Prinzipien des Handeln mehr Wirksamkeit
zu verschaffen. Damit geht einher, dass dem ganzen Bereich
der Sozialen Bereich nicht nur höhere Eigenständigkeit, sondern geradezu die Qualität eines eigenen Systems zugebilligt
wird; so bestehen Verbindungslinien zwischen der Systemtheorie als Begründung professionellen Handelns und dem
Denken als Sozialmanagement. Zugleich eröffnet dies eine
Perspektive, um Soziale Arbeit in die Nähe zu unternehmeri-
SatzBakic.qxd
128
27.02.2008
17:19
Seite 128
Management und Steuerung
schem Handeln zu bringen, das innerhalb seines systemischen
Kontexts Freiheit und Selbstständigkeit einerseits, die
Kompetenzen wirtschaftlicher Aktivitäten andererseits benötigt. Im Kern zielt dies auf stärkere Professionalisierung, während jedoch das Interesse der kommunaler Träger sozialer
Dienstleistungen eher auf Kostenreduktion gerichtet war und
ist.2
Sozialmanagement steht überdies für eine Veränderung der
generellen Steuerung des Sozialen Sektors; der »Managementboom in der Sozialen Arbeit [ist] Ausdruck des Umbaus und der
aktivierenden Neuprogrammierung von Sozialstaat und
Sozialer Arbeit« (Galuske 2007, 335). Dieser wird anfällig
(gemacht) für Einflussnahmen durch öffentliche und politische
Debatten. Eine neue public policy entspricht dem, die als governance erwartet, dass die Bürger selbst stärker in das Geschehen
eingebunden werden; das verlangt nach dem, was Foucault als
Gouvernementalität analysiert. Phänomenologisch zeigt sich
diese als Schwächung einer Steuerung durch Recht und Gesetz,
mithin als Abbau von überprüfbaren und einklagbaren rechtlichen Normen zugunsten von tagespolitisch motivierten
Programmen; so demonstrieren in Wahlkämpfen PolitikerInnen
und Medien eine eigentümliche Nonchalance gegenüber klaren
und eindeutigen rechtlichen Regelungen, verlangen zuweilen
Gesetzesänderungen, welche sich dem Verfassungsbruch
nähern. Hinter dieser new policy verbirgt sich eine durchaus
zweifelhafte Annahme: Sie besagt, dass moderne Gesellschaften einer zunehmenden Veränderungsdynamik unterliegen
und sich in einer Weise beschleunigen (vgl. Rosa 2005), die ein
beständiges Nachjustieren sozialer Systeme oder gar deren
regelmäßige Überprüfung und Revision verlangen; längst zu
Worthülsen verkommen (vgl. Bauman 2000). Der soziale
Sektor dürfe demnach nicht mehr als – vermeintlich – starres
System verwaltungsförmigen Handelns gestaltet werden, sondern müsse in sich dynamisch und flexibel werden; die Hilfen
zur Erziehung haben dies unter den Stichworten »Flexi-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Management und Steuerung
Seite 129
129
bilisierung« und »Integration« als Antwort auf die sogenannten
»Versäulung« von Hilfeangeboten aufgenommen. Kurz: Weil
das Ganze der Gesellschaft in Bewegung gerät, müsse der
Soziale Sektor selbst offener und dynamischer werden;
Sozialmanagement soll dies gewährleisten und zugleich im
Griff behalten. Nur: Solche Entwicklungen zur Dynamisierung
der Gesellschaft vollziehen sich gemeinsam mit Verhärtungen,
in welchen sich klassische Strukturmuster kapitalistischer
Gesellschaften wieder durchsetzen und Gewalt über Menschen
gewinnen. Prozesse der Ausgrenzung, vor allem: Verelendungsvorgänge vollziehen sich an den Scheidelinien zwischen
Kapital und Arbeit, wie die wachsende Gruppe derjenigen
belegt, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen ein
Arbeitseinkommen erzielen, das zur Existenzsicherung nicht
hinreicht.
Darin deutet sich die andere Seite des Sozialmanagements an: Es
wird eingeführt, um die Steuerung von den alten Imperativen zu
lösen und mehr – vermeintlich sachbezogen – politischer
Programmatik zu folgen. Zu dieser gehört, dass von den erreichten Effekten her gedacht werden soll. Die Ziele selbst stehen
nicht zur Debatte, Management aber soll erreichen, dass sie verwirklicht werden. Mehr noch: untergründig wirkt der Wunsch
nach absoluter Effizienzsteigerung. Mit einem Minimum an
Aufwand, möglichst unter Aktivierung der eigenen Ressourcen
sollen die Beteiligten, Adressaten wie soziale Dienste, die ihnen
vorgegebenen Ziele selbst verwirklichen. Vom aktivierenden
Staat verspricht sich die Sozialpolitik den höchsten Nutzen.
Management provoziert dann bei aller Knappheit der Mittel
Wirkungen, weil es schlichten Druck erzeugt. Dieser Druck trägt
einen Namen: Messen. Die Steuerung erfolgt über Kenndaten
und Eckwerte, über Standards, welchen sich die Beteiligten
selbst verpflichten (müssen). Wer ihnen nicht genügt, wird vom
Markt genommen – längst sitzen Einrichtungen der sozialen
Arbeit mit ihrer Klientel in einem Boot. Denn diese Soziale
Arbeit lässt sich nur mit Fachkräften verwirklichen, die schlech-
SatzBakic.qxd
130
27.02.2008
17:19
Seite 130
Management und Steuerung
ter ausgebildet, wenigstens aber jünger sind. Insofern sinkt wohl
mit wachsender Aufmerksamkeit auf managerielle Prozesse und
Steuerung die Qualität der Leistung, so weit die KlientInnen
betroffen sind.
Endlich symbolisiert Sozialmanagement die hegemoniale
Durchsetzung von Denkweisen und Praktiken, die als Ökonomisierung bezeichnet werden. Dabei geht es weniger um die
Frage nach materiellen Bedingungen oder fiskalischen
Restriktionen (diese bestanden im Feld der Sozialen Arbeit
schon immer). Den paradigmatischen Wechsel bezeugt die neue
Wahrnehmung der Sozialen Arbeit als »Produktion personenbezogener sozialer Dienstleistungen« (Karsten 2005, 1760);
dabei lassen sich ein sozialtechnokratisches, ein gruppen- bzw.
interaktionsdynamisch orientiertes, ein sozialplanerisches,
sowie ein innovationsorientiertes, sozialpolitisches Konzept
unterscheiden, zudem könne man Sozialmanagement als
»Metakonzept« fassen (Karsten ebenda). Immer geht es jedoch
darum zu verstehen und zu regeln, wie entweder das Soziale
schlechthin oder – vorzugsweise – die sozialen Dienstleistungen als Produkte und Erzeugnisse hervorgebracht werden; Wertschöpfung, Erzeugnis, Güterherstellung, Umwandlung des Objektiven stehen im Fokus, nicht mehr die gemeinsame Praxis handlungsfähiger und sinnorientierter Subjekte in
ihrem ethisch qualifizierten Lebens- und Bildungsprozess. Zum
anderen steht das Managementkonzept in großer Nähe zur
Durchsetzung von Wettbewerbsstrukturen, die Überprüfung
und Reduktion von Kosten einerseits, andererseits eine
Erhöhung der Qualität von Leistungen zu bewirken vorgibt, die
sowohl den Aufwandsträgern, also den Kommunen, wie den
betroffenen Adressaten zu Gute kommen soll (vgl. Merchel
2006). Unklar bleibt in einem solchen Produktionsverständnis
von Sozialer Arbeit, was als das Produkt zu fassen ist und ob
ein solches mehr oder maschinell zu erzeugen ist: Das
Wohlverhalten der Adressaten? Ihre Integration? Ihre
Entwicklung und ihr Lernen?
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Management und Steuerung
Seite 131
131
5. Hinter der Idee und dem Konzept des Managements verbirgt
sich ein alter Traum der Moderne, der sich auf die Natur bezog,
dann auf Gesellschaft und Kultur, indem sie diese selbst noch
naturalisiert und wo ihr dies nicht gelingt, im Begriffe des
Sachzwangs als unabänderlicheres Geschehen behauptet: Sie
will Ordnung schaffen, Kategorien und System einführen,
Zuordnungen vornehmen, welche eine technische Beherrschung und Regelung der Phänomene der sozialen wie kulturellen Welt erlauben. Dazu bedient sie sich verschiedener
Einteilungen, einer Feststellung von Ursache und Wirkung oder
einer Festsetzung von Relevanzen. Der normative Charakter
des Geschehens bleibt jedoch verschleiert. Denn alles soll wissensbasiert geschehen, aufgespannt zwischen einer apriorisch
festgestellten oder gesetzten rationalen Systematik einerseits,
einer experimentell gestützten Ordnung andererseits; diese
Spannung lässt sich bis heute als ein Konflikt zwischen den
akademisch Ausgebildeten, welchen neuen Theorien und
Modellen folgen, und den Erfahrenen verfolgen, welche im
schlimmsten Fall noch für ihre Routinen denunziert werden.
Das Programm der Moderne geht also mit einer Zerstörung von
humaner Erfahrung einher; es delegitimiert diese, um an die
Stelle einer moralische Ökonomie eine Ökonomie zu setzen,
welche einer anderen Rationalität folgt. Sie wird als durch
Vernunft begründet und auf experimentelles Wissen gestützt
behauptet. Der Verweis auf Vernunft und Experiment scheint zu
genügen, um die nun gesetzten Normen zu rechtfertigen; in der
jüngeren Zeit wird dies sichtbar an den Standards und bench
marks, welche als Maßstab des Handelns in den sozialen
Feldern wie des Bildungssystems gelten. Die Frage nach den
Normen, welche der Systematik der Ordnungen wie der den
Aktivitäten zugrunde liegt, wird beiseite geschoben, dass sie
gesetzt sind, entzieht sich der Wahrnehmung. Standards und
bench marks kommen jenseits der öffentlichen, selbst der politisch legitimierten Auseinandersetzung zustande. Es sind
ExpertInnen, manchmal selbst ernannt, oft geheiligt durch
SatzBakic.qxd
132
27.02.2008
17:19
Seite 132
Management und Steuerung
Interessensgruppen, Gurus der Verbände und Institute, welche
die Maßstäbe festsetzen, an welchen sich alles messen lassen
muss. Dass die Verfechter des Sozialmanagements regelmäßig
ethische Verpflichtungen ansprechen und fordern, hat Züge verzweifelter Ironie; sie sind blind für die Geister, die sie selbst
riefen. Management ist Technik, Instrument, welche Normativität nur vollzieht, über diese aber nicht verfügt. Das gilt noch
für das Handeln selbst. Management unterliegt der Steuerung,
Einfluss auf diese darf es nicht nehmen, es hat zu optimieren.
Dies geschieht durch Programme mit zynisch offenen
Leitformeln, welche einer Kritik entzogen werden: Fordern
und Fördern, der aktivierende Sozialstaat, sogar Empowerment
gehören dazu, verraten noch, wie die Soziale Arbeit selbst die
Stichworte gibt. Verantwortung sollen die Einzelnen nehmen,
für Bedingungen, auf die sie keinen Einfluss haben, welche
aber sorgfältig durch Steuerung verteilt werden. Steuerung
erklärt dabei Bedingungen für relevant und zulässig, andere
verfallen hingegen dem Verdikt des Obsoleten. Foucault hat
diese Herrschaftstechnik mit dem Begriff des Dispositivs
gefasst: Regierung erfolgt, indem Zuständigkeiten und
Aufgaben verteilt werden, das soziale Feld geordnet wird, um
am Ende Effektivität und Effizienz an den Kriterien zu messen,
welche unabhängig und wissenschaftlich gewonnen wurden.
Man sollte sich also besser nichts vormachen: Die
Gesellschaften und ihre Kulturen bestimmen die Möglichkeiten
menschlicher Lebenspraxis, mit der Autonomie ist es so weit
nicht her. Produktionsverhältnisse bestimmen Lebensbedingungen und Lebenslagen, machen wahrscheinlich, dass man
in Armut lebt, dauerhaft und über Generationen. Lebenschancen werden verteilt und zugeordnet, am Ende sind noch
dramatische Ereignisse sozial bestimmt. Durkheim hat dies
gezeigt, als er den Suizid als soziale Größe enthüllte, unser
Wissen über Armut macht dies deutlich, zuletzt etwa erneut in
ihren Folgen für Bildungsprozesse. Was Ausgrenzung und
Einschließung mit Menschen anstellen, ist nicht minder
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Management und Steuerung
Seite 133
133
bekannt, die Dynamik von Krisen vollzieht sich nach Mustern.
Die Verhältnisse bestimmen noch, wie die Akteure ihre Kinder
betreuen – und zuweilen kann man politischen und gesetzgeberischen Entscheidungen voraussagen, welche Katastrophen sie
erzeugen: Dass die nach Hartz, einem veritablen Kriminellen,
benannten neuen Sozialgesetze in Deutschland Familien und
Kinder in die Armut treiben, war im Umfang auf die Stelle hinter dem Komma prognostiziert; es ist so eingetreten. Dass
Familien, die der Höhe ihrer Miete wegen, Wohnungen aufgeben und in anonyme Plattenbauten umziehen müssen, isoliert
und mit der Betreuung ihrer Kinder überfordert werden, ist
wahrscheinlich – und ebenfalls eingetreten. Dass Fallmanager
anstelle von Sozialarbeitern nur die Aktenlage und Geldtransfers kennen, um die Personen und ihre konkrete
Lebensweise, um eben deren »schmuddeligen Alltag« aber
nicht mehr wissen, mag zwar mit der Förderung von
Eigenverantwortung gerechtfertigt werden, intensive persönliche Betreuung, der Aufbau von Beziehungen werden damit
aber unwahrscheinlich. Dass Management-Kulturen Unternehmen in Bewegung bringen, gehört vielleicht zu ihren unabdingbaren Effekten, welche zu wünschen sind, wenn sich
Märkte verändern. Aber darin klingt der Zynismus an: Sind
Elend und Not marktförmiges Geschehen, sind die Adressaten
sozialer Arbeit wirklich Kunden – mit Recht auf Widerspruch
und Anspruch auf Garantie?
Gleichwohl: das Soziale ist kontingent; das gilt für Gesellschaften und Kulturen in ihrer jeweils umfassenden
Gesamtheit, das gilt erst recht für die mittleren sozialen
Zusammenhänge, für Familien und Beziehungen, zuletzt für
den Einzelnen selbst. Sichtbar wird solche Kontingenz gesellschaftlich und kulturell an dem, was ästhetische Erfahrung
heißt, an der Differenz mithin der Kunst. Sichtbar wird solche
Kontingenz, wenn Einzelne sich verweigern oder den eigenen
Weg gehen – gegenüber den Zumutungen, die ihnen angetan
werden. Als Resilienz wird das zum Thema der Forschung. Das
SatzBakic.qxd
27.02.2008
134
17:19
Seite 134
Management und Steuerung
Soziale ist kontingent, weil Gesellschaften und Kulturellen
nicht bloß komplex sind, sondern sich in Veränderungsprozessen befinden; was Management erforderlich macht, wird
somit zum stärksten Argument gegen dieses: Weil unterschiedliche Entwicklungen möglich sind, können nur Möglichkeitsräume erschlossen und ausgelotet, aber eben nicht systematisch ausgestaltet werden.
Management und Steuerung, die solche Offenheit nicht zu ihrer
eigenen Aufgabe machen, die Herstellung von Alternativen
nicht in das Zentrum ihres Tuns heben, sondern Kategorien und
Klassifikationen schaffen, denen folgend sie Menschen bearbeiten, enthüllen sich als Formen von bloßer Herrschaft und
Machtausübung. Darin liegt dann die Grenze des Sozialmanagements, der Punkt, an dem es in grenzenlose Herrschaft
und Machtausübung umschlagen kann. So ist kein prinzipieller
Einwand gegen Management geboten, wohl aber einer, der sich
auf die Voraussetzungen und Imperative des Geschehens richtet. Man darf gestalten und Vernunft dafür in Anspruch nehmen,
wenn das Soziale mit Freiheit und damit verbunden wird, dass
man Freiheit ethisch qualifiziert nutzen kann.
Anmerkungen
1
wobei sich zudem eine Personalsituation auswirkt, die sich durch professionelle, bloß verberuflichte, fachfremd ausgebildete, ehrenamtliche und als Laien tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auszeichnet
...
2
KritikerInnen übersehen jedoch häufig, wie Sozialmanagement
zuweilen selbst eine kritische Absicht gegenüber den Praktiken einer
Verwaltungsreform verfolgt, welche unter dem Etikett »Neue
Steuerung« eingeführt wird; diese wird in Deutschland insbesondere
von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle, einer Art Think Tank der
Kommunen aufgegriffen, welche einerseits dem Subsidiaritätsprinzip
verpflichtet sind, andererseits einem zunehmenden Einspardruck
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 135
Management und Steuerung
135
unterliegen. Die Kommunale Gemeinschaftsstelle (KGSt) greift dabei
auf Erfahrungen in den Niederlanden zurück, die eine Verwaltungsreform praktizieren, welche das klassische Modell der »InputSteuerung« zugunsten einer »Output-Steuerung« favorisiert:
Leistungen
der
öffentlichen
Verwaltung
insbesondere
im
Wohlfahrtssektor sollen demnach prioritär an ihren Ergebnissen
gemessen werden.
Literatur
Bauman, Zygmunt (2000): Liquid Modernity. Cambridge
Bremische Bürgerschaft, Landtag: Bericht des Untersuchungsausschusses
zur Aufklärung von
mutmaßlichen
Vernachlässigungen
der
Amtsvormundschaft
und
Kindeswohlsicherung durch das Amt für Soziale Dienste. Drucksache
16/1381, 18. April 2007. Auch als pdf-Dokument unter:
http://www.bremische-buergerschaft.de/index.php?area=
1&np=5,34,0,0,0,0,0,0&uainfo=7&uaid=34 [20.1.2008]
Feldhoff, Jürgen (1980): Manager. In: Joachim Ritter/Karlfried
Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der
Philospohie. Band 5. L-Mn. Darmstadt: Sp. 709-711
Galuske, Michael (2007): »Wenn Soziale Arbeit zum Management wird
...« Anmerkungen zum aktivierenden Umbau der Sozialen Arbeit und
seinem Niederschlag i n der Methodendebatte. In: Jürgen Krauß,
Michael Möller, Richard Münchmeier (Hrsg.): soziale Arbeit zwischen Ökonomisierung und Selbstbestimmung. Kasseler Personalschriften Bd. 4. Kassel: University Press, S. 333-375
Grimm, Jacob, Grimm Wilhelm (1984[1941]): Deutsches Wörterbuch.
Band 18. Stehung – Stitzig. Leipzig
Hassenstein, Bernhard/Hildebrandt H (1998): Steuerung (Naturwissenschaft; Technik). In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer et al.
(Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Sp 143- 147
Karsten, Maria-Eleonora (1996): Sozialmanagement. In: Franz Stimmer
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 136
136
Management und Steuerung
(Hrsg.): Lexikon der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit. Zweite
Auflage. München, Wien: Oldenbourg, S. 466-468
Karsten, Maria-Eleonora (2005): Sozialmanagement. In: Hans Uwe Otto,
Hans Thiersch (Hrsg.): Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik. 3.
Auflage. München – Basel, S. 1757-1762
Lessenich, Stephan (Hrsg.) (2003): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe.
Historische und aktuelle Diskurse. Frankfurt am Main/New York
Merchel, Joachim (2006): Sozialmanagement. Eine Einführung in
Hintergründe, Anforderungen und Gestaltungsperspektiven des
Managements in Einrichtungen der Sozialen Arbeit. 2. überarbeitete
Auflage. Weinheim und München
Merchel, Joachim, Schrapper, Christian (Hrsg.) (1996): Neue Steuerung.
Tendenzen der Organisationsentwicklung in der Sozialverwaltung.
Münster
Müller, S. (1998): Steuerung (Psychologie). In: Joachim Ritter, Karlfried
Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10.
Darmstadt Sp 147- 150
Otto,
Ulrich:
Zwischen
Drinnen
und
Draußen. Aspekte
des
Sozialmanagements in pädagogischen Handlungsfeldern. In: Neue
Praxis 32 (2002), S. 177-193.
Otto, Ulrich (2008): Administration. In: Jürgen Oelkers u.a. (Hrsg): Handwörterbuch Pädagogik der Gegenwart. Weinheim und Basel i. D.
Patti, Rino J. (Ed.) (2000): The Handbook of Social Welfare Management.
Thousand Oaks, London, New Delhi
Pluto, Liane (2007): Partizipation in den Hilfen zur Erziehung. Eine empirische Studie. München
Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der
Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main
Thiersch, Hans (1992): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben
der Praxis im sozialen Wandel. Weinheim und München
Wendt, Wolf Rainer (2002): Sozialwirtschaftslehre. Grundlagen und
Perspektiven. Baden-Baden
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 137
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
Elisabeth Hammer
Im Rahmen der politischen Ära des Neoliberalismus ist seit
Mitte der 1990er Jahre eine Neustrukturierung von Zielrichtungen und Praktiken von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit
im Gange. Mit den Begriffen »Standortsicherung« und
»Wettbewerbsfähigkeit« werden zwei Paradigmen eingeführt,
an denen sich jegliche wohlfahrtsstaatliche Erneuerung nunmehr zu orientieren hat (vgl. Hammer 2006).
Diskursiv wurde die Etablierung eines neoliberalen
Sozialmodells bisher in erster Linie über Konzepte der
»Aktivierung« durchgesetzt. Vorausgesetzt und eingefordert
wurde hierbei eine spezifische Eigenleistung, um in weiterer
Folge eine sozialstaatliche Gegenleistung in Anspruch nehmen
zu können. Zug um Zug setzte sich, insbesondere im Feld der
Arbeitsmarktpolitik und zunehmend auch sichtbar in der
Jugendhilfe, eine Sozialpolitik durch, die »den Einsatz von verhaltensregulierenden und -kontrollierenden Interventionsmitteln [ermöglicht] und […] Abschreckung sowie Druck und
Zwang zur Konformität wieder gesellschaftsfähig [macht]«
(Dahme/Wohlfahrt 2002, 20).
Im Zuge der Debatte um die Existenz und die Merkmale einer so
genannten »neuen Unterschicht« hat dieser Aktivierungsdiskurs
nun neuen Rückenwind erhalten. Angestoßen wurde die Debatte
durch Paul Nolte, der 2004 für Deutschland die Herausbildung
einer »neue Unterschicht« konstatierte, die sich durch einen spezifischen verwahrlosten, unmündigen und unselbstständigen
Lebensstil auszeichnet. Im Verständnis von Nolte scheint dieser
»Schicht« vieles zu fehlen, die Bandbreite reicht hier »von der
Erwerbsfähigkeit bis zur Kompetenz, Kinder zu erziehen oder
sich vernünftig zu ernähren, ja, selbst eine gekochte Mahlzeit auf
den Tisch zu bringen« (Nolte, in Chassé 2007, 22).
SatzBakic.qxd
138
27.02.2008
17:19
Seite 138
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
Bei dieser Debatte geht es allerdings nicht um die Frage eines
durch die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse
veränderten Klassen- und Schichtmodells und einer damit im
Zusammenhang stehenden möglichen Spaltung der Gesellschaft. Ziel ist es vielmehr spezifische Phänomene als kulturbedingt umzudeuten und ihre Ursachen zu individualisieren. Zu
Recht konstatieren Kessl, Reutlinger und Ziegler (2007, 10) in
diesem Zusammenhang, dass die Debatte um eine »neue
Unterschicht« als »Motor für politische Positionierungen dient,
die sich vom bisherigen ›Lösungsmodell‹, dem Modell der
Wohlfahrtsstaatlichkeit, aber verabschieden wollen.« Gefahr
besteht, dass auch differenziertere Befunde sozialer und gesellschaftlicher Veränderungen für die neoliberal-konservative
Ausrichtung der Debatte verkürzt und verfremdet werden.
Legitimiert werden soll in der Folge eine Sozialpolitik, die
nicht nur – ganz in der Logik auch bisheriger Aktivierungspolitik – Transferleistungen zurückfährt, um Potenziale von
»Eigeninitiative« und »Selbstverantwortung« zwangsweise zu
stärken, sondern auch bei der Inanspruchnahme von sozialen
Leistungen paternalistische und strafandrohende Betreuungsformen durchsetzt, um eine umfassende Anpassung an arbeitsmarktpolitische Normen und bürgerliche Leitbilder zu erreichen. Anders als im Zuge der bisherigen Debatten zur
Aktivierung scheint der Diskurs um die »neue Unterschicht«
nun noch eindeutiger und unverschleierter als bisher einen
direkten erzieherischen Zugriff auf die Individuen, aufgrund
eben ihrer identifizierten kulturellen Defizite, als notwendige
Reformmaßnahme für die Ausrichtung sozialpolitischer und
sozialarbeiterischer Programme vorzuschlagen (vgl. Kessl
2005; Heite et al. 2007).
Angesichts dieses Diskursverlaufes wird deutlich, dass der
Begriff der »Unterschicht« zunehmend seiner ursprünglich auf
ökonomische Ursachen fokussierten Bedeutungen beraubt und
derzeit ausschließlich als kulturelles Phänomen gedeutet wird.
Im Gegenzug dazu hat sich für die Analyse gegenwärtiger
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 139
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
139
gesellschaftlicher Spaltungstendenzen der Begriff der »Prekarität« als hilfreich erwiesen – insbesondere auch deshalb, weil er
die Dynamik gesellschaftlicher (Des-)Integration durch
Erwerbsarbeit veranschaulicht und so neue Ungleichheiten
sichtbar machen hilft, die die vertikale Klassen- und
Schichtungsstruktur ergänzen und überlagern.
»Prekarität« als Ansatzpunkt zur Analyse von
erwerbsgesellschaftlichen Entwicklungen
Die Spaltung der Arbeitsgesellschaft in Folge ökonomischer
und politischer Entwicklungen hat Robert Castel (2000) herausgearbeitet. Er unterscheidet dabei eine »Zone der
Integration« mit geschützten Normalarbeitsverhältnissen von
einer »Zone der Entkoppelung« von Gruppen an »Entbehrlichen« und »Überflüssigen«, die mehr oder minder dauerhaft von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind.
Dazwischen verortet er eine »Zone der Prekarität«, die eine
Bündelung heterogener, nicht dauerhaft Existenz sichernder
und damit »verwundbarer« Beschäftigungsverhältnisse bildet.
Für Deutschland haben Dörre, Kraemer und Speidel (2004) versucht, die Integrations- bzw. Desintegrationspotenziale von Erwerbsarbeit zu veranschaulichen. Basierend auf einer qualitativen
Erhebung haben sie den drei Castel’schen Zonen jeweils zwei bis
vier unterschiedliche Typen zugeordnet und in der Folge auch
ihre jeweilige quantitative Ausprägung erhoben. Obwohl in die
»Zone der Integration« insgesamt 80,6% der Befragten zugeordnet werden konnten, entfallen immerhin 33,1% auf den Typus der
so genannten »Abstiegsbedrohten« und 12,9% auf die »Verunsicherten«. Gemeinsam mit 13,8% in der »Zone der Prekarität«
und 1,7% in der »Zone der Entkoppelung«, muss man von mehr
als 60% an Befragten ausgehen, die nicht länger von der für den
fordistischen Wohlfahrtsstaat üblichen stabilen, gesellschaftlichen Integrationskraft von Erwerbsarbeit erfasst werden.
SatzBakic.qxd
140
27.02.2008
17:19
Seite 140
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
Die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung ist somit entweder
unmittelbar von Prekarisierung betroffen oder aufgrund des
prekären Potenzials ihrer Beschäftigungsform mit Prekarisierungsängsten konfrontiert. Prekäres Potenzial, das die allermeisten Formen von flexibler, atypischer Beschäftigung auszeichnet, ist häufig mit einem nicht dauerhaft Existenz sichernden Erwerbseinkommen bzw. einer permanenten Beschäftigungsunsicherheit, einer Aushöhlung von sozialen Sicherheitsgarantien, einem Mangel an kollektiver Interessensvertretung
sowie einem benachteiligten Zugang zu betrieblichen
Anrechten und Privilegien verbunden (vgl. Kraemer/Speidel
2005, 379f). Da atypische Beschäftigungsformen quantitativ
auf dem Vormarsch sind und durch eine Vielzahl an
Deregulierungsmaßnahmen seitens der Gesetzgeber eine ReKommodifizierung von Erwerbsarbeit eingeläutet wird, ist
davon auszugehen, dass Prekarisierungserfahrungen und -ängste noch weiter zunehmen werden.
Prekarisierung bewirkt Disziplinierung,
Desintegration und soziale Unsicherheit
Neben dem Desintegrationspotenzial einer Re-Kommodifizierung von Erwerbsarbeit muss allerdings auch ein neuer
Integrationsmechanismus beachtet werden: Für jene, die (noch)
über ein Normalarbeitsverhältnis verfügen und der »Zone der
Integration« zuzuordnen sind, wirkt die zunehmende
Prekarisierung durchaus als marktförmiger Disziplinierungsmechanismus. Der gesellschaftliche Integrationsmodus wird
somit »von Teilhabe auf Disziplinierung, Einschüchterung und
Folgebereitschaft« (Kraemer/Speidel 2005, 382) umgestellt.
Prekarisierung wird damit zu einem »Macht- und Kontrollsystem, dem sich in der gespaltenen Arbeitsgesellschaft auch
die formal Integrierten nicht zu entziehen vermögen.«
(Dörre/Fuchs 2005, 29)
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 141
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
141
Die gegenwärtigen Veränderungen führen nicht nur zu
Spaltungstendenzen am Arbeitsmarkt, sondern auch zur
Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme – und wie Castel
hinweist (2005, 44) auch der öffentlichen Dienste und kollektiven Vertretungsinstanzen. Da soziale Erwartungen bezüglich
der Teilhabe am wirtschaftlichen Fortschritt und gesellschaftlichen Wohlstand enttäuscht werden, kommt es in der Folge zu
einer sozialen Verunsicherung nicht nur der unteren Schichten,
sondern weiter Teile der Gesellschaft.
Diese soziale Unsicherheit, als wahrgenommene Bedrohung
von individuellen Lebensplänen, umfassenderen Lebenskonzepten und auch berufsbiographischen Identitäten (vgl.
Kraemer/Speidel 2005, 376), ist in der Meinung von Castel
»wie ein Virus, der das Alltagsleben durchdringt, die sozialen
Bezüge auflöst und die psychischen Strukturen der Individuen
unterminiert […]« (Castel 2005, 38). Dörre und Fuchs bestätigen diese Einschätzung mit Blick auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse: »vielfach bewirken sie Anerkennungsdefizite und
eine Schwächung der Zugehörigkeit zu sozialen Netzen, die
eigentlich dringend benötigt würden, um den Alltag einigermaßen zu bewältigen.« (Dörre/Fuchs 2005, 27). Zusammenfassend muss festgehalten werden dass Prekarisierungsprozesse
das funktionale, aber auch symbolische, auf sozialen Status
orientierte, Integrationspotenzial von Erwerbsarbeit schwächen
(Kraemer/Speidel 2005, 372).
Angesichts der Ausbreitung von Prekarisierungserfahrungen
und -ängsten muss die Soziale Arbeit ihre Mitwirkung an der
Herstellung von sozialer Unsicherheit sowie an der
Marginalisierung von betroffenen Gruppen – auch über das
umgrenzte Feld der Arbeitsmarktpolitik hinaus – kritisch
beleuchten. Die Entwicklungen der letzten Jahre scheinen zu
bestätigen, dass der Sozialstaat zunehmend nicht mehr als
Armutsbekämpfer, sondern als Ausgrenzungsförderer in
Erscheinung tritt (vgl. Buhr 2005, 197) und sich die Soziale
Arbeit in die Rolle einer Exklusionsverwalterin einrichtet,
SatzBakic.qxd
142
27.02.2008
17:19
Seite 142
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
deren Bedeutung – so wie von Scherr (1999) vorhergesehen –
deutlich zugenommen hat.
Soziale Sicherung auf dem Prüfstand
Die Umbrüche der Erwerbsarbeitsgesellschaft zeigen die Grenzen gegenwärtiger Formen von sozialstaatlicher Sicherung auf
und ermöglichen darüber hinaus auch eine Re-Aktualisierung
struktureller Schwächen konservativ-korporatistischer Wohlfahrtsstaaten wie Österreich und Deutschland.
Grundlegend muss – im Sinne eines »revolutionär-konservativen Doppelgesichts der Sozialpolitik« (Heimann 1981 [1929])
anerkannt werden, dass mit dem System sozialer Sicherung
neben seinen integrativen und absichernden Errungenschaften
in allen Fällen auch disziplinierende, kontrollierende und ausgrenzende Wirkungen verbunden waren und sind. Die derzeitigen sozialstaatlichen Veränderungen, die insbesondere im Anschluss an die Hartz-Reformen in Deutschland kritisch diskutiert wurden (vgl. z.B. Dahme/Otto/Wohlfahrt 2003), spiegeln
diesbezüglich substanzielle Verschärfungen wider, sind allerdings einer sozialstaatlichen Logik nicht grundsätzlich fremd.
Die Kritik am gegenwärtigen Sozialstaatsmodell muss an folgenden Aspekten ansetzen, die ihrerseits stark miteinander verknüpft sind:
– Der Sozialstaat ist in seiner starken Orientierung als
Sozialversicherungsstaat in erster Linie auf die Bedürfnisse von
Lohnabhängigen hin orientiert und wirkt diesbezüglich auch
disziplinierend. Bedarfslagen, die in Erwerbsarbeit nicht oder
nur mangelhaft integrierte Gruppen betreffen, sind seit jeher
nachrangig im Rahmen der Sozialhilfe (als reformierte
Armenfürsorge) bearbeitet worden. Konstitutiv für diesen
Bereich ist ein deutlich verschlechterter Zugang zu sozialen
Rechten und materieller Sicherung, gekoppelt mit paternalistischen Ansprüchen zu Unterordnung und Anpassung.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 143
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
143
- Desweiteren ist die ausgeprägte Statusorientierung sozialer
Sicherung (d.h. die Aufrechterhaltung von Unterschieden zwischen Bevölkerungsgruppen durch eine Segmentierung von
Leistungen) kritisch zu beleuchten. Diese wurde zwar in gewissen Aspekten (insbesondere in der Krankenversicherung) abgeschwächt, ist aber ansonsten immer noch typisches Kennzeichen eines Sozialstaates Bismark’scher Prägung. Gerade
atypische und prekäre Beschäftigungsformen werden durch
dieses System strukturell kaum erfasst, Hierarchien und
Statusunterschiede setzen sich so vom Arbeitsmarkt auch in
andere Lebensbereiche fort und erhöhen gesellschaftliche
Spaltungen.
– Nicht zuletzt aufgrund der vorgenannten Aspekte ist der deutsche und österreichische Sozialstaat als stark geldleistungsorientiert zu bezeichnen (vgl. Badelt/Österle 2001, 21;
Benz/Böckh 2005, 84). Teilhabe wurde und wird in allererster
Linie über eine Integration am Erwerbsarbeitsmarkt bzw. über
Transfers sichergestellt, nicht aber über einen Zugang zu
öffentlichen Dienstleistungen im Bereich Verkehr, Wohnen,
Kultur und Soziales. Gerade aber auf die Bedeutung von
Sozialer Arbeit als Teil der sozialen Dienste – von
Böhnisch/Arnold/Schröer (1999) als »lebendiges Inventar der
Sozialpolitik« bezeichnet – wird gemeinhin in Grundlagentexten zur Sozialpolitik nicht oder nur am Rande verwiesen
(vgl. Tálos 2005, Badelt/Österle 2001)
– Diese Ausführungen deuten auch auf die starke Rolle von
familialen Leistungen im Zusammenhang mit sozialer
Sicherung hin, deren Erbringung historisch den Frauen zugewiesen wurde. Der Sozialstaat baut so auf einer Hierarchisierung von (bezahlter) Erwerbsarbeit für den männlichen
Ernährer (»breadwinner«) und (unbezahlter) Familienarbeit
durch die weibliche Versorgungsarbeiterin (»care taker«) auf
(vgl. Lewis 1992) und nutzt Frauen als »unsichtbare
Ressource« (Zander 1997: 31). Die damit verbundene grundsätzliche Inadäquatheit gegenwärtiger Strukturen für die sozia-
SatzBakic.qxd
144
27.02.2008
17:19
Seite 144
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
le Sicherung von Frauen sowie für die Vereinbarkeit von
Erwerbsarbeit und Sorgetätigkeiten – für beide Geschlechter! –
ist kritisch zu konstatieren.
In jedem Fall ist ein Umbau des Systems sozialer Sicherung
notwendig. Die Dringlichkeit einer Reform erhöht sich nicht
zuletzt dadurch, dass eine Beibehaltung des Gegenwärtigen
eine automatische Verschärfung der gesellschaftlichen Spaltungstendenzen bedeuten würde.
Neue Wege der sozialen Sicherung
Angesichts dieser Entwicklungen haben Ideen zur Einführung
eines »bedingungslosen Grundeinkommens« Hochkonjunktur.
Der grundsätzliche Gedanke eines »bedingungslosen Grundeinkommens«, wie er von neoliberalen Ökonomen in der
Tradition von Milton Friedman, aber auch von liberalen und
linksalternativen Gruppierungen vertreten wird, bricht mit zentralen Bedingungen eines bislang erwerbsorientierten Systems
sozialer Sicherheit und besteht in einer Entkoppelung von
Erwerbsarbeit und Existenzsicherung: Ein Grundeinkommen,
das als individueller Rechtsanspruch ohne Bedürftigkeitsprüfung konzipiert ist, impliziert weder Arbeitsgebote noch
Arbeitsverbote und würde mit großer Wahrscheinlichkeit auch
die Rolle von Sozialer Arbeit in einzelnen Handlungsfeldern
transformieren.
Die mit der Einführung eines Grundeinkommens verbundene
Erwartung (insbesondere auch von im Sozialbereich tätigen
Personen) liegt nicht zuletzt darin, über die Schaffung eines individuellen Rechts auf soziale Teilhabe – eben mittels eines monatlich zu gewährenden Fixbetrages – sozial disziplinierende
Aspekte in Sozialpolitik und Sozialer Arbeit zurückzudrängen,
die Autonomie in der persönlichen Lebensgestaltung zu erhöhen
sowie einer neuen Form gesellschaftlicher Solidarität abseits der
Erwerbsgesellschaft verstärkt zur Geltung zu verhelfen.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 145
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
145
Die unterschiedlichen Modelle, die unter der Überschrift
»Bedingungsloses Grundeinkommen« zusammengefasst werden, sind allerdings mit jeweils ähnlichen Grundproblemen verbunden. An dieser Stelle soll auf zwei Aspekte hingewiesen
werden:
VertreterInnen eines »bedingungslosen Grundeinkommens«
wollen ausgehend von den Befunden einer »Krise der
Arbeitsgesellschaft« die Erwerbsarbeitsgesellschaft überwinden. Allerdings steht dies im – auch empirisch belegbarem –
Widerspruch dazu, »dass Erwerbsarbeit weiterhin einen uneingeschränkt hohen Stellenwert für die Positionierung des
Individuums im sozialen Raum zugeschrieben werden muss«
(Kraemer/Speidel 2005, 370). So kann man – auch mit Blick
auf unfreiwillig vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Gruppen –
weder von einem subjektiven noch objektiven Bedeutungsverlust von Erwerbsarbeit ausgehen (Kraemer/Speidel 2005,
370) und muss Erwerbsarbeit weiterhin als »konstitutiv für alltagspraktische und symbolische Teilhabechancen« sowie die
Zuschreibung von sozialer Anerkennung verstehen. Angesichts
dieser Befunde erweist sich ein »bedingungsloses Grundeinkommen« in doppelter Hinsicht als Exklusionsermöglichung
(vgl. Nullmeier 2007, 18): Einerseits für die GrundeinkommensbezieherInnen, die – bei ausreichender Höhe der
Geldleistung – ihren Unterhalt auch ohne Erwerbsarbeit sichern
können, andererseits für Arbeitgeber und staatliche Akteure, die
von der Last der Sicherung eines hohen Niveaus an
Beschäftigungsmöglichkeiten entbunden werden. Während die
Option der Nichtinklusion beidseitig besteht, entscheidet über
die Inklusion allerdings nur eine Seite. Somit kann das »bedingungslose Grundeinkommen« auch als »Lohn für die soziale
Exklusion« (Butterwege 2005, 298) wirksam werden.
Darüber hinaus handelt es sich bei jedem Grundeinkommen um
eine rein monetäre Leistung, die es zur Sicherung der
Lebensbedürfnisse am »freien Markt« zu verwerten gilt.
Unabhängig von der Höhe und damit konkreten »Kaufkraft«
SatzBakic.qxd
146
27.02.2008
17:19
Seite 146
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
eines Grundeinkommens, wird über eine derartige Leistung das
Recht auf soziale Teilhabe monetarisiert – und gleichzeitig
auch individualisiert (zur Problematik von Geldleistungen vgl.
auch Hammer/Österle 2001). Teilhabe wird damit in erster
Linie auf eine »Konsuminklusion« reduziert (vgl. Nullmeier
2007, 18). Dies entspricht durchaus auch der Meinung und dem
Willen von liberalen ProponentInnen dieser Idee. So wirbt zum
Beispiel eine deutsche Expertengruppe im Auftrag der
Heinrich-Böll-Stiftung unter dem Titel einer »Teilhabegesellschaft« für einen »Neuen Sozialkontrakt mit Zukunftsperspektive«, der »dem Grundsatz der individuellen Eigenverantwortung Rechnung [trägt] und zugleich dem Prinzip der
Chancengleichheit [genügt]« (Grözinger/Maschke/Offe 2006,
3)1. Teilhabe kann damit am Markt erkauft werden – allerdings
nur, solange das Geld eben reicht. So sich individuelle
Entscheidungen zur Verwertung des Geldes als verfehlt herausstellen, läge der Gewinn an Gerechtigkeit darin, »dass alle mit
Beginn des Erwachsenenlebens eine ähnliche Chance hätten,
Entscheidungen zu treffen, die sich als ›richtig‹ bewähren.«
(Grözinger/Maschke/Offe 2006, 3). Ein derartiges Verständnis
von Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Solidarität muss vor
dem Hintergrund gegenwärtiger sozialer Ungleichheiten und
Spaltungstendenzen schlicht als zynisch bezeichnet werden.
Abseits der Vorschläge zur Einführung eines »bedingungslosen
Grundeinkommens« gibt es allerdings nur begrenzt Ideen zur
radikalen Reformierung der sozialen Sicherung – Benz/Boeckh
wähnen einen emanzipativen Reformbegriff grundsätzlich »in
der realpolitischen Defensive« (Benz/Boeckh 2005, 71).
Angesichts der kritischen Befunde zu Wirkungen eines »bedingungslosen Grundeinkommens« sollen im Folgenden jene
Perspektiven herausgearbeitet werden, die eine Reformierung
sozialer Sicherheit im Rahmen des derzeitigen Systems ermöglichen. Aufgegriffen werden soll allerdings der mit den
Perspektiven eines »bedingungslosen Grundeinkommens« reaktualisierte Anspruch der Gewährung von sozialer Sicherung
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 147
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
147
in einer Form, die Druck und Zwang zu einem normierten
(Erwerbsarbeits-)Leben möglichst hintanstellt.
Mit Blick auf die Zentrierung des derzeitigen sozialen
Sicherungsmodells auf ein geschlechterhierarchisches Verständnis von »male breadwinner« und »female caretaker«, aber
auch im Zusammenhang mit den Entwicklungen in Wirtschaft
und Arbeitsmarkt, bedarf es einer Neubewertung und -verteilung von Erwerbsarbeit und anderen (Sorge-)Tätigkeiten.
Soziale Sicherung muss so gestaltet sein, dass sie auch bei
Erwerbstätigkeiten abseits des traditionellen »Normalarbeitsverhältnisses« Existenzsicherung und gesellschaftliche
Teilhabe sicherstellt und Anreize für eine egalitäre Verteilung
von Sorgetätigkeiten zwischen den Geschlechtern setzt. Bei
einer Reform sozialer Sicherung ist jedenfalls darauf zu achten,
dass die »Planbarkeit der Zukunft« als wesentliches Element im
Kampf gegen die soziale Unsicherheit (vgl. Castel 2005, 49)
substanziell verbessert wird.
Verbunden ist damit ein System sozialer Sicherung, das nicht
mehr auf homogene und stabile Bevölkerungsgruppen abstellt,
sondern die vielfältigen Lebenssituationen und- profile von
Individuen zu berücksichtigen in der Lage ist (vgl. Castel 2005,
98f). Erstens bedeutet dies eine stärkere Verankerung von beitragsunabhängigen sozialen Grundrechten innerhalb und außerhalb der Sozialversicherung. Zweitens ist damit in logischer
Konsequenz eine Tendenz der Entkoppelung von sozialen
Rechten und strikter Erwerbsorientierung verknüpft. Angesichts diskontinuierlicher Berufswege würde so eine
Rechtskontinuität geschaffen werden, die auch Perioden einer
Unterbrechung von Erwerbsarbeit (z.B. auch zur Erbringung
von Sorgetätigkeiten) absichert und die Unabhängigkeit der
BürgerInnen von Wechselfällen des Marktes und des
Erwerbsstatus stärkt (vgl. Castel 2005, 119; sowie Kronauer
2007, 33).
Darüber hinaus ist, statt einer weitergehenden Privatisierung
von sozialen Diensten, die Gewährleistung eines breiten
SatzBakic.qxd
148
27.02.2008
17:19
Seite 148
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
Angebots von sozialer Infrastruktur sicherzustellen. Joachim
Hirsch als einer der Verfasser eines Konzeptes von
»Sozialpolitik als Infrastruktur« (vgl. AG links-netz 2003) versteht darunter den umfassenden »Ausbau öffentlicher Güter
und Dienstleistungen, die allen Menschen unentgeltlich zur
Verfügung gestellt werden müssen. Dies reicht von Bildung
und Ausbildung über Gesundheitsvorsorge bis hin zu Wohnen
und Verkehr« (Hirsch 2005, 39ff). Mit einem derartigen
Ausbau, auch von sozialen Diensten, können nicht nur armutspräventive Wirkungen (vgl. Benk/Boeckh 2005, 72), sondern
auch ein Beitrag zur sozialen Kohärenz verbunden werden.
Herausforderungen für eine kritische Soziale Arbeit
Die anhand der Debatte zur »neuen Unterschicht« sichtbare,
medial inszenierte Umdeutung von ökonomischen und sozialen
Problemlagen in kulturelle Defizite begünstigt eine Form von
Sozialer Arbeit, die paternalistisch-pädagogische Interventionen zur Wiederherstellung von Ordnung, Angepasstheit
und Sittlichkeit an die Stelle einer Unterstützung zur Sicherung
von sozialer und materieller Teilhabe setzt. In Misskredit geraten somit nicht nur »passivierende«, die Eigeninitiative und
–verantwortung lähmende Geldleistungen, sondern sozialarbeiterische Betreuungskonzepte insgesamt. Für die Fachlichkeit
Sozialer Arbeit, die schon im Zuge der Ökonomisierungsbestrebungen und der damit verbundenen quantifizierenden
Logiken – auch durch die eigene Profession selbst – zunehmend in Frage gestellt wird, bedeuten diese Veränderungen
eine große Herausforderung zur Wiederaneignung ihres normativen Anspruches und seiner fachlichen Umsetzung.
Prekarisierung und gesellschaftliche Desintegration bedürfen
als Reaktion einer Sozialpolitik und Sozialen Arbeit, die mit
Formen von sozialer Sicherung nicht nur einem Auseinanderdriften der materiellen Lebenslagen, sondern auch einer »sozi-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 149
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
149
alen Entkoppelung« (Castel 2005, 39) von Individuen und
Gruppen entgegenwirkt.
Wie die Ausführungen zu Dynamiken der Prekarisierung
gezeigt haben, werden eindeutige Schichtzugehörigkeiten
zunehmend brüchig und soziale Unsicherheiten, die auch, aber
nicht nur materielle Lebensverhältnisse betreffen, weiten sich
gesamtgesellschaftlich aus. In einem verbreiterten Verständnis
von sozialer Sicherung ist Soziale Arbeit als wesentlicher Teil
einer »sozialen Infrastruktur« zu verstehen, die sich gerade
durch ihre Zugänglichkeit für Menschen unterschiedslos von
Ressourcen und Status auszeichnet.
Die gegenwärtige Entwicklung einer einseitigen »Neuausrichtung« der Sozialen Arbeit auf Disziplinierung, Kontrolle und
Verhaltensregulierung macht eine Konkretisierung der gerechtigkeitstheoretischen Fundierung von Sozialer Arbeit unumgänglich. lohnende Konzeptionalisierungen sind im Anschluss
an den Fähigkeitenansatz von Amartya Sen und Martha
Nussbaum entstanden (vgl. Schrödter 2007). Grundgedanke ist
hierbei die Sichtweise von Fähigkeiten als Grundgüter, die in
der Regel sozial erzeugt sind und deren faire Verteilung ebenso
organisiert werden muss wie die Verteilung ökonomischer
Güter. Mark Schrödter sieht die Aufgabe der Sozialen Arbeit in
diesem Zusammenhang darin, Verwirklichungschancen für ihre
KlientInnen durch einen Zugang zu den ihnen bislang vorenthaltenen Grundgütern sicherzustellen und so zum Vollzug von
Sozialer Gerechtigkeit beizutragen (vgl. Schrödter 2007, 20f).
Aus dieser Perspektive heraus steht der Sozialen Arbeit ein großes Betätigungsfeld offen, das auch die widersprüchlichen
Anforderungen an Soziale Arbeit – die neben ihrer Funktion zur
Abfederung von kapitalistischen Verwerfungen immer auch
Herrschaftsinstrument ist und bleiben wird – aus kritischer
Sicht zu konzeptualisieren vermag.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
150
17:19
Seite 150
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
Anmerkungen
1
Anders als die herkömmlichen Vorschläge eines »bedingungslosen
Grundeinkommens«
schlagen
die
AutorInnen
hier
einen
Einmaltransfer im Sinne einer Vermögensteilhaberschaft für jede/n
BürgerIn vor.
Literatur
AG links-netz (2003): Gibt es eine Alternative zum neoliberalen
Sozialstaatsabbau? Umrisse eines Konzepts von Sozialpolitik als
Infrastruktur. Online unter: http://www.links-netz.de/rubriken/R_
infrastruktur.html [15.01.2008]
Badelt, Christoph/Österle, August (2001): Grundzüge der Sozialpolitik.
Sozialpolitik in Österreich. Spezieller Teil. Wien
Benz, Benjamin/Boeckh, Jürgen (2006): Theorie, Struktur und Zukunft des
Sozialstaats. In: Grasse, Alexander/Ludwig, Carmen/Dietz, Bernhard
(Hg.): Soziale Gerechtigkeit. Reformpolitik am Scheideweg.
Wiesbaden, 71-87
Böhnisch, Lothar/Arnold, Helmut/Schröer, Wolfgang (1999): Sozialpolitik. Eine sozialwissenschaftliche Einführung. Weinheim und
München.
Buhr, Petra (2005): Ausgrenzung, Entgrenzung, Aktivierung: Armut und
Armutspolitik in Deutschland. In: Anhorn, Roland/Bettinger, Frank
(Hg.): Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit.
Wiesbaden, 185-202
Butterwegge, Christoph (2005): Krise und Zukunft des Sozialstaates.
Wiesbaden.
Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine
Chronik der Lohnarbeit. Konstanz
Castel, Robert (2005): Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen
Wohlfahrtsstaat. Hamburg
Chassé, Karl August (2007): Unterschicht, prekäre Lebenslagen,
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 151
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
151
Exklusion – Versuch einer Dechiffrierung der Unterschichtsdebatte.
In: Kessl, Fabian / Reutlinger, Christian / Ziegler, Holger (Hg.):
Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die ›neue Unterschicht‹.
Wiesbaden, 17-38
Dahme, Heinz-Jürgen/Otto, Hans-Uwe/Wohlfahrt, Norbert (Hg.) (2003):
Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat. Leverkusen
Dahme, Heinz-Jürgen/Wohlfahrt, Norbert (2002): Aktivierender Staat. Ein
neues sozialpolitisches Leitbild und seine Konsequenzen für die soziale Arbeit. In: neue praxis 1/2002, 10-32
Dörre, Klaus/Fuchs, Tatjana (2005): Prekarität und soziale (Des-)
Integration. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 3/2005, 20-35
Dörre, Klaus/Kraemer, Klaus/Speidel, Friedrich (2004): Prekäre Arbeit.
Ursachen, soziale Auswirkungen und subjektive Verarbeitungsformen
unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. In: Das Argument 256,
Hamburg, 378-397
Grözinger, Gerd/Maschke, Michael/Offe, Claus (2006): Die Teilhabegesellschaft. Für einen neuen Sozialkontrakt mit Zukunftsperspektive. Kurzfassung einer Studie im Auftrag der Heinrich Böll Stiftung.
Online unter: [15.01.2008]
Hammer, Elisabeth (2006): Sozialpolitik und Soziale Arbeit im Dienste der
Standortsicherung – Aspekte einer grundlegenden Transformation. In:
ATTAC (Hg.): Standortwettbewerb: Zwischen Konkurrenz und
Kooperation. Wien, 76-95
Hammer, Elisabeth/Österle, August (2001): Neoliberale Gouvernementalität im österreichischen Wohlfahrtsstaat. Von der Reform der
Pflegevorsorge 1993 zum Kinderbetreuungsgeld 2002. In:
Kurswechsel 4/2001, 60-69
Heimann, Eduard (1981 [1929]): Soziale Theorie des Kapitalismus.
Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a. M.
Heite, Catrin/Klein, Alex/Landhäußer, Sandra/Ziegler, Holger (2007): Das
Elend der Sozialen Arbeit – Die ›neue Unterschicht‹ und die
Schwächung des Sozialen. In: Kessl, Fabian / Reutlinger, Christian /
Ziegler, Holger (Hg.): Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die
›neue Unterschicht‹. Wiesbaden, 55-79
Hirsch, Joachim (2005): Eine Alternative zum lohnarbeitsbezogenen
SatzBakic.qxd
27.02.2008
152
17:19
Seite 152
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
Sozialstaat: Das Konzept der »Sozialen Infrastruktur«. In:
Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-,
Gesundheits- und Sozialbereich. Heft 3/2005, 32-48
Kessl, Fabian (2005): Das wahre Elend? Zur Rede von der »neuen
Unterschicht«. In: Widersprüche 25 Jg. Heft 98: 29-44.
Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian/Ziegler, Holger (2007): Erziehung zur
Armut? Soziale Arbeit und die »neue Unterschicht« – eine
Einführung. In: Kessl, Fabian / Reutlinger, Christian / Ziegler, Holger
(Hg.): Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die ›neue
Unterschicht‹. Wiesbaden, 7-15
Kraemer, Klaus/Speidel, Frederic (2005): Prekarisierung von Erwerbsarbeit – Zur Transformation des arbeitsweltlichen Integrationsmodus.
In: Heitmeyer, Wilhelm / Imbusch, Peter (Hg.): Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft. Wiesbaden, 367-390
Kronauer, Martin (2007): Neue soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeitserfahrungen: Herausforderungen für eine Politik des
Sozialen. In: Filipic, Ursula (Hg.): Soziale Gerechtigkeit versus
Eigenverantwortung. Zur Neujustierung des Sozialstaates. Wien, 2335
Lewis, Jane (1992): Gender and the Development of Welfare Regimes. In:
Journal of European Social Policy 3/1992, 159-173
Nullmeier, Frank (2007): Auf dem Weg zum vorsorgenden Sozialstaat?
Neue Gerechtigkeitsdebatte und die Perspektiven der Sozialpolitik.
In: Filipic, Ursula (Hg.): Soziale Gerechtigkeit versus Eigenverantwortung. Zur Neujustierung des Sozialstaates. Wien, 9-22
Scherr, Albert (1999): Inklusion/Exklusion – Soziale Ausgrenzung.
Verändert sich die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit? In:
Treptow, Rainer/Hörster, Reinhard (Hg.): Sozialpädagogische Integration. Weinheim/München, 39-56
Schrödter, Mark (2007): Soziale Arbeit als Gerechtigkeitsprofession. Zur
Gewährleistung von Verwirklichungschancen. In: neue praxis 1/2007,
3-28
Tálos, Emmerich (2005): Vom Siegeszug zum Rückzug. Sozialstaat Österreich 1945-2005. Innsbruck
Zander, Margaritha (1997): Feminisierung sozialer Lasten im
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 153
Neue Unterschicht und soziale Sicherung
153
Wohlfahrtsstaat? oder: Wie entläßt der Wohlfahrtsstaat seine Frauen?
In: Braun, Helga/Jung, Dörthe (Hg.): Globale Gerechtigkeit?
Feministische Debatte zur Krise des Sozialstaates. Hamburg, 22-48
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 154
Norm und Abweichung
Franz Kolland
Warum ist die Frage von sozialen Normen und sozialer
Abweichung so wichtig? In der sogenannten Wiener Deklaration, dem Trinationalen Dokument des Deutschen Berufsverbandes für Soziale Arbeit e.V., der Nederlandse Vereniging van
Maatschappelijk Werkers und dem Österreichischen
Berufsverband Diplomierter SozialarbeiterInnen heißt es:
»Sozialarbeit trägt zur Durchsetzung gesellschaftlicher Normen
bei, im Einklang mit den in den Menschenrechtsverträgen und
den sozialen Chartas anerkannten Prinzipien«1. In diesem
deklarativen Anspruch steckt einerseits eine Referenz auf die
Existenz und die Bedeutung sozialer Normen im gesellschaftlichen Handeln, wobei auf die Legitimität dieser Normen
Bezug genommen wird. Andererseits wird auf den zwingenden
Charakter von Normen hingewiesen. Und beide Elemente
zusammen bilden einen Handlungsrahmen für Soziale Arbeit.
Gemeint ist mit diesem Dokument wohl auch, dass das
Normative die Grundlage der Gesellschaft ist – und damit auch
der Sozialen Arbeit. Dieser normative Aspekt gesellschaftlichen und sozialarbeiterischen Handelns wird im ersten Teil
der folgenden Ausführungen behandelt. Im zweiten Teil der
Arbeit wird dann der Begriff des abweichenden Verhaltens dargestellt, um im dritten Abschnitt dann dieses Begriffspaar stärker in den Kontext der Sozialen Arbeit zu stellen.
Handeln nach sozialen Normen
Doch wie entstehen Normen? Es konkurrieren hier verschiedene Grundauffassungen. Einige berufen sich auf das Naturrecht,
andere leiten sie aus dem göttlichen Ratschluss ab, wieder
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Norm und Abweichung
Seite 155
155
andere gehen davon aus, dass jede Norm von Menschen
geschaffen wurde. Die soziokulturelle Vielfältigkeit von
Norminhalten demonstriert jedenfalls die soziale Plastizität und
Produktivität des Menschen. Jede Gesellschaft entwickelt und
gestaltet ihre eigenen Normen, sie ist sogar gezwungen, diese
zu gestalten (vgl. Schäfers 2008). Wenn auch eine gewisse
Globalisierung von sozialen Normen feststellbar ist, so bleiben
diese nichtsdestoweniger stark kontextgebunden. Sie verlieren
jenseits des sozialen Umfeldes und der Art der Aktivitäten, auf
die sie sich beziehen, ihren Sinn.
Es gibt keine allgemeine Definition von normal bzw. pathologisch. Was normal bzw. pathologisch ist, ist vor dem
Hintergrund der jeweiligen gesellschaftlichen Situation zu
sehen. Dabei ist eine deutliche Diskrepanz zwischen den geltenden Normen und der Praxis feststellbar, zwischen dem, was
wir tun sollen und dem, was wir tatsächlich tun. Es scheint
gerade so zu sein, dass die Existenz sozial geforderter und sanktionierter Handlungen zugleich das Auftreten sozial verbotener
Handlungen nach sich zieht. Durkheim (1984 [1895]) geht
sogar soweit, dass er sagt: »Das Verbrechen ist normal, weil
eine Gesellschaft, in der es kein Verbrechen gäbe, völlig
unmöglich ist« (S. 154). Wenn auch unbestritten ist, dass
Normabweichung einen konstitutiven Bestandteil gesellschaftlichen Handelns ausmacht, so kann Durkheims These als utilitaristisch und evolutionistisch bezeichnet werden, weil sie letztlich jede menschliche Aktivität unter funktionalen Gesichtspunkten analysiert, d.h. in ihrer Bedeutung für den Erhalt der
Ordnung in der Gesellschaft.
Indem Entscheidungen für oder gegen eine bestimmte Norm
getroffen werden, für oder gegen Rauchen in Lokalen, für oder
gegen Fußfesseln in der Straffälligenarbeit, für oder gegen ein
Grundeinkommen ist eine Gesellschaft produktiv. Sie ist produktiv, weil eine Wahl innerhalb eines bestimmten Spielraums
getroffen wird und weil Entscheidungen getroffen werden, die
zu Festlegungen führen und weiteres Handeln definieren. Und
SatzBakic.qxd
156
27.02.2008
17:19
Seite 156
Norm und Abweichung
diese Festlegungen erfolgen unter gegenseitiger Bezugnahme,
d.h. Normen begrenzen die Willkür in der Beziehung von
Menschen untereinander. Allerdings können solche Entscheidungen nicht nur zu mehr Sicherheit und Verhaltensstabilität
führen, sondern auch gleichzeitig zu Regelungen führen, die
Freiheitsspielräume einschränken bzw. sozial ungerecht sind
(vgl. Biermann 2007). Inwieweit also (neue) soziale Normen
als produktiv bewertet werden können, hängt nicht nur davon
ab, ob sie Sicherheit erzeugen, sondern auch, wie sie sich auf
die Machtverhältnisse in der Gesellschaft auswirken. Die
KlientInnen in der Sozialen Arbeit haben aufgrund fehlender
Ressourcen geringe Spielräume bei der Gestaltung sozialer
Normen.
Unter sozialen Normen verstehen wir jedenfalls kollektive
Verhaltenserwartungen und Verhaltensanweisungen, die als
legitim gelten. Sie bewirken eine gewisse Regelmäßigkeit und
Gleichförmigkeit der sozialen Handlungsabläufe und entlasten
das Individuum von der Notwendigkeit, ständig neue, situationsgerechte Handlungsweisen zu entwerfen (vgl. Peuckert
1986, 256). Soziale Normen befriedigen grundlegende Bedürfnisse des Menschen, wie z.B. nach sozialem Vergleich,
Nutzenmaximierung, Gerechtigkeit und Zusammengehörigkeit.
Wenn Normen auch oft mit rationalen Interessen von
Individuen begründet werden, d.h. Individuen ein Interesse
daran haben, die Handlungen von anderen Personen in eine
bestimmte Richtung zu lenken, so ist ihnen doch gerade eigen,
dass sie über eine bloße Nutzenorientierung hinausführen.
Denn, so Esser (2001, 35), »die bloße Nutzenorientierung lässt
den Menschen in Ziellosigkeit und die Gesellschaft in
Unordnung zurück«.
Normen legen fest, was in spezifischen sozialen Situationen
geboten oder verboten ist, z.B. »Tischnormen«, »Begrüßungsnormen«. Sie werden im Sozialisationsprozess gelernt und tradiert, sie ermöglichen Erwartungshaltungen und haben allge-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Norm und Abweichung
Seite 157
157
meine Geltung für ein Kollektiv. Soziale Verpflichtungen werden habitualisiert. Es handelt sich also nicht nur um
Zumutungen, die als von außen kommend erlebt werden, sondern um Sollansprüche, die verinnerlicht und als selbstverständlich angesehen werden. Soziale Normen erzeugen auf
diese Weise Sicherheit (z.B. Verkehrsregeln) und ermöglichen
ein geregeltes Zusammenleben. »Normen begründen Normalität« (Bahrdt 2000, 50). Jede normative Interpretation von
Handlungen und Situationen begrenzt die soziale Relevanz der
individuellen Erlebnissphäre. Normen schaffen damit aber auch
eine künstliche Kommunikationssphäre zwischen Menschen.
Soziale Normen sind in der Moderne stark mit der Entwicklung
des Staates verknüpft. Die Entwicklung des wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystems seit dem Ende des 19. Jahrhunderts
hat sowohl zu neuen und tiefgreifenden Normierungseffekten
als auch zu Entlastungseffekten im gesellschaftlichen Handeln
geführt. Über wohlfahrtsstaatliche Regelungen ist es etwa zu
einer Normierung des Lebenslaufs in drei Phasen gekommen.
Entstanden ist eine altersdifferenzierte Gesellschaft, in der sich
die Jungen im Bildungssystem befinden, die Erwachsenen in
der Erwerbsarbeit und die Alten im »Ruhestand«. Diese
Ordnung des Lebenslaufs hat das Individuum entlastet und aus
der Kontrolle kleinräumlich angesiedelter Gemeinschaften entlassen. Der Einfluss des Sozialstaats hat damit als mächtiger
Individualisierungsfaktor gewirkt, indem er dem Individuum
beträchtliche kollektive Sicherungsleistungen zur Verfügung
stellte. Die »Hilfsgarantie« des Staates erweiterte die
Handlungsspielräume des Individuums. In dieser Hinsicht kann
von einer gesteigerten Normierungsoffenheit in wohlfahrtsstaatlich organisierten Gesellschaften gesprochen werden, d.h.
Normen haben ihre klare Orientierungsfunktion verloren. Das
Individuum findet eine deutlich erweiterte Gelegenheitsstruktur
für die eigene Lebensgestaltung. Im Zuge dieser Entwicklung
hat sich das Individuum an die Hilfsgarantien »gewöhnt«, das
Sicherheitsbedürfnis – könnte überspitzt formuliert werden –
SatzBakic.qxd
158
27.02.2008
17:19
Seite 158
Norm und Abweichung
ist zur gesellschaftlichen »Natur« des modernen Menschen
geworden. Demnach wird der Wandel im 20. Jahrhundert als
Wandel von einer Disziplinargesellschaft zu einer Sicherheitsgesellschaft beschrieben (vgl. Singelnstein/Stolle 2006).
Ende des 20. Jahrhunderts löst sich das Zusammenspiel von
wohlfahrtsstaatlicher Sicherheit und individuellem Handeln in
verschiedenen Lebensbereichen, z.B. Familie, Religion,
Freizeit auf. Es kommt zu einer Radikalisierung der
Individualisierung bzw. Selbstverantwortung. In der Sozialen
Arbeit findet sich die Formel von der »Hilfe zur Selbsthilfe«.
Subjektive Selbstorganisation wird der Vorrang vor staatlicher
Intervention eingeräumt. Soziale Arbeit steht unter dem normativen Postulat der Aktivierung (vgl. Kessl/Otto 2004).
Die Disziplinargesellschaft des 19./20.Jh war gekennzeichnet
durch ein allgemein gültiges Werte- und Normengefüge, das
eine klare Trennlinie zwischen normal und anormal gezogen
hat. Klassenzugehörigkeit, Kirche und Familie waren die institutionellen Träger dieser normativen Struktur. Wurden Normen
verletzt, dann wurde das Individuum diszipliniert und an den
präskriptiven Normen »ausgerichtet«. Diese Disziplinierung ist
großteils verschwunden, weil sich die gesellschaftlichen
Bedingungen, die diese Formation getragen haben, gewandelt
haben. Im Laufe dieser Entwicklung haben nicht nur die traditionellen Institutionen an Bedeutung verloren, sondern auch der
Wohlfahrtsstaat als Sicherheitsgarantie. Entwickelt hat sich im
späten 20. Jahrhundert zunehmend eine Ideologie der
Selbstverantwortung des Individuums, welches ein hohes persönliches Sicherheitsbedürfnis aufweist bzw. nach persönlicher
normativer Rahmung sucht. Die normative Kontrolle wurde in
das Individuum hineinverlagert, sodass Gilles Deleuze (1993)
von einer Ablösung der Disziplinargesellschaft durch die
Kontrollgesellschaft spricht2. Kontrolle geschieht aber nicht
nur durch eine Internalisierung von Normen, sondern auch über
den verstärkten Einsatz technischer Überwachungsgeräte (wie
Videokameras, Zugangsschranken oder Audiokontrolle) oder
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Norm und Abweichung
Seite 159
159
die architektonisch abweisende Gestaltung von Räumen. In
einer Untersuchung über deutsche Städte, kommt Wehrheim
(2002) zu dem Ergebnis, dass durch die neuartigen
Kontrollstrategien verstärkt benachteiligte Personengruppen
aus öffentlichen Räumen ausgeschlossen werden, die noch vor
kurzer Zeit unkompliziert zugänglich waren. Es geht dabei
nicht um eine Verhinderung von abweichendem Verhalten, sondern um die Verhinderung konsumabträglicher Situationen. Als
störend empfunden werden da sowohl Kinder als auch
Menschen, die betteln, rauchen, trinken oder Handel treiben.
Von Bedeutung für die Soziale Arbeit sind die von Heinrich
Popitz (2006 [1961]) herausgearbeiteten universalen Konstrukte
sozialer Normierung, wozu einerseits allgemeine Normen gehören und andererseits Partikularnormen. Zu den allgemeinen
Normen gehört etwa das Gleichheitsprinzip, welches besagt,
dass Menschen ungeachtet ihrer empirischen Ungleichheit als
gleich zu gelten haben und zu behandeln sind. Es werden damit
übergreifende Zugehörigkeitsprinzipien zu einer Gruppe definiert. Real erfährt das Individuum allerdings sowohl
Zugehörigkeit als auch Ausschluss. Im Fall der Menschen, mit
denen Soziale Arbeit zu tun hat, handelt es sich sehr viel häufiger um Erfahrungen sozialer Exklusion. Aus diesem Grund wird
das in allgemeinen Normen angelegte Gleichheitsprinzip durch
verschiedene Typen von Partikularnormen im gesellschaftlichen
Binnenraum
unterlaufen
und
modifiziert.
Über
Partikularnormen wird versucht, eine eigene »unversehrte«
Lebenswelt zu schaffen. In solchen Normen, die nur in den
jeweiligen gesellschaftlichen Teilgruppen anerkannt werden,
drücken sich Formen des Andersseins, der Ungleichartigkeit
aus. Roland Girtler (1995) weist in seinen Untersuchungen über
Randgruppen darauf hin, dass diese das Anderssein zu stilisieren trachten, weil gerade ein nicht mehrheitsgesellschaftlichkonformes Handeln zu hohem Ansehen der handelnden Akteure
beiträgt. Es ergibt sich eine Gleichheit im Anderssein, wobei
empirisch Prinzipien wechselseitig gleicher Verpflichtungen zu
SatzBakic.qxd
160
27.02.2008
17:19
Seite 160
Norm und Abweichung
finden sind und von einer insularen Reziprozität gesprochen
werden kann (vgl. Popitz 2006 [1961], 34).
Der Doppelcharakter sozialer Normen besteht in Inklusion und
Exklusion. Sie haben den Zweck der sozialen Integration. Sie
sorgen für Stabilität und Ordnung. Der Begriff deckt damit
auch die Friedhofsruhe in Gesellschaften totalitären Charakters
ab. Soziale Normen sind demnach nicht bloß Stützen der
Verhaltenssicherheit der Individuen, sie sind auch Stützen von
Macht und Herrschaft. Damit ist auf den Konfliktcharakter von
sozialen Normen verwiesen (vgl. Scherr 2006). Dieser zeigt
sich auf allen Ebenen der Gesellschaft. Er ist in der Vielheit
sich überschneidender Verpflichtungen prinzipiell angelegt. In
allen Gesellschaften sind die Individuen Mitglieder divergenter
sozialer Einheiten und damit Träger mehrerer sozialer Rollen,
wodurch die Möglichkeit von Normkonflikten gegeben ist. Die
KlientInnen der Sozialen Arbeit befinden sich in einer verschärften Konfliktsituation. Sie wollen bestimmte normative
Anforderungen erfüllen, z.B. eine »gute Mutter« sein, ein/e
»liebevolle/r PartnerIn« sein, können dies aber aufgrund ihrer
sozialen Lage nicht. Und sie verletzen ständig Normen, um
überleben zu können.
Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle
So wie Normen als Urphänomen des Sozialen bezeichnet werden können (vgl. König 1969), so ist auch das abweichende
Verhalten konstitutiv für den Erhalt sozialer Normen. Soziale
Arbeit hat es häufig mit abweichendem Verhalten zu tun, mit
Menschen und Gruppen, die nicht den gesellschaftlichen
Anforderungen gerecht werden. Doch wie lässt sich abweichendes Verhalten bestimmen? Es bezeichnet alle Formen eines
mit gesellschaftlichen Normen nicht übereinstimmenden
Verhaltens wie z.B. Kriminalität, Suizid, Drogenabhängigkeit,
Alkoholismus, Krankheit, Behinderungen, Leistungsversagen,
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Norm und Abweichung
Seite 161
161
Prostitution, Randgruppenzugehörigkeit, Extravaganz, Rebellion, Innovation etc (vgl. Lamnek 2007). In seiner
Neutralität intendiert der Terminus »abweichendes Verhalten«
die traditionelle Diskriminierung auffälligen Verhaltens und die
ideologische Belastung älterer Begriffe wie »Verwahrlosung«
und »Gefährdung« zu vermeiden. Wesentlich ist jedenfalls,
dass deviantes Verhalten von den in der jeweiligen Gesellschaft
anerkannten Normen abhängig ist. Es gibt kein abweichendes
Verhalten als solches, sondern Handlungen, die eine allgemeine gesellschaftliche Norm verletzen oder die einer bestimmten
Gruppe in der Gesellschaft. Die soziale Konstruktion abweichenden Verhaltens bedeutet auch, dass dieses einerseits jemanden braucht, der eine Handlung als abweichend definiert (vgl.
Becker 1973) und es andererseits einem ständigen Wandel
unterworfen ist. Devianz ist ein Begriff, der nur dann verstanden werden kann, wenn man weiß, wovon jemand »abweicht«
(vgl. Peuckert 2008).
Aus einem sozialpädagogischen Verständnis lässt sich öffentlich etikettiertes und sanktioniertes abweichendes Verhalten in
seinem Kern auch als Bewältigungsverhalten verstehen (vgl.
Böhnisch 1999), als subjektives Streben nach situativer und
biografischer Handlungsfähigkeit. Es dient der psychosozialen
Balance in kritischen Lebenssituationen. Abweichendes
Verhalten ist Folge einer »devianten Sozialisation«. Gibt es in
der Auseinandersetzung mit sich selbst bzw. mit anderen
Probleme, dann können diese über deviantes Verhalten »bewältigt« werden. Eine andere Definition lautet: Abweichende
Verhaltensweisen sind solche Verhaltensweisen, die in einer
bestimmten Gesellschaft und in einer bestimmten historischen
Epoche von den jeweils Herrschenden und einflussreichen
Eliten zur öffentlichen Distanzierung und Ächtung freigegeben
sind. Damit ist abweichendes Verhalten mit Macht und
Herrschaft verknüpft.
Immer wieder ist versucht worden, die Erklärung für
Abweichung in angeborenen Eigenarten der Menschen zu fin-
SatzBakic.qxd
162
27.02.2008
17:19
Seite 162
Norm und Abweichung
den. So analysierte zum Beispiel im 19. Jahrhundert der italienische Kriminologe Cesare Lombroso (1836-1909) auf der
Suche nach vererbten kriminellen Tendenzen die Schädelform
von Kriminellen. Seine Forschungen legten die Vermutung
nahe, dass viele Kriminelle hohe Backenknochen, große
Kieferknochen und hervorstehende Augenbrauenknochen hätten. Lombroso beging indessen einen fatalen Fehler. Er untersuchte nur die Schädel von Kriminellen, nicht jedoch die einer
repräsentativen Gruppe der gesamten Bevölkerung. Als einige
Jahre später der englische Arzt Charles Goring die Schädel von
Kriminellen mit denen anderer Menschen verglich, fand er
keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (vgl.
Lamnek 2007). Heutige Wissenschaftler gehen davon aus, dass
das menschliche Verhalten viel zu komplex ist, um es allein
biologisch zu erklären. Wie sehr allerdings der biologischgenetische Ansatz immer wieder zur Erklärung abweichenden
Verhaltens herangezogen wird, zeigt die von der Hirnforschung
vor einigen Jahren neu entfachte Debatte (vgl. Singer 2003).
Die Neurowissenschaften verstärken die Tendenz der
Psychiatrisierung des Rechtssystems und stellen damit sozialpädagogisch-sozialarbeiterische Interventionen in Frage.
Wesentliche soziale Determinanten abweichenden Verhaltens
sind – unter Berücksichtigung kriminellen Verhaltens – Alter
und Geschlecht, d.h. es findet sich eine höhere Rate bei
Jüngeren und Männern. Die Kriminalitätsbelastung junger
Menschen beträgt ein Mehrfaches der Belastung von Menschen
im mittleren und höheren Alter. Die Alterskurve der
Kriminalitätsbelastung für beide Geschlechter ist »linksschief«,
d.h. die Belastung erreicht bei den Altersgruppen unter 25
Jahren ihren Gipfel und fällt danach wieder ab (vgl. Hodapp
2007). Diese »Linksschiefe« wird seit Führung einer amtlichen
Kriminalitätsstatistik beobachtet. Daraus folgt auch der temporärere Charakter von abweichendem Verhalten im Jugendalter.
Die Frage, die sich hinsichtlich des Zusammenhangs von
Kriminalität mit Alter und Geschlecht ergibt, ist die nach der
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Norm und Abweichung
Seite 163
163
Erklärung dieses Zusammenhangs. Sind Frauen besser sozialisiert, vermeiden sie Delikte, weil sie für Kinder zu sorgen
haben? Oder lässt sich der Unterschied mit physischer Stärke
erklären, wie es der amerikanische Forscher Walter Gove formuliert hat, d.h. je größer die physische Stärke, die sowohl
geschlechts- als auch alterskorreliert ist, desto höher ist die
Kriminalitätsrate. Auffällig ist auch noch, dass Geschlechtsund Alterseffekte deliktabhängig sind, d.h. Diebstahl ist weniger altersabhängig als Gewaltdelikte. Der originäre Ort weiblicher Devianz ist die Privatsphäre. Die Mädchendelinquenz
spiegelt weibliche Rollennormen wider. Sie ist »leise«, sie findet eher im Verborgenen statt und richtet sich in den meisten
Fällen nicht gegen die Machtstrukturen männlicher Hegemonie
(vgl. Böhnisch 1999, 85).
Wie sieht nun die gesellschaftliche Reaktion auf abweichendes
Verhalten aus? Nach Peuckert (2008) verträgt fast jedes soziale
System abweichendes Verhalten in einem beträchtlichen
Ausmaß. Es leistet wichtige Beiträge zur Lebensfähigkeit und
Effektivität des sozialen Systems. Empirisch ist ungeklärt,
unter welchen Bedingungen welche Formen des abweichenden
Verhaltens günstige bzw. ungünstige Wirkungen haben.
Feststellbar ist hinsichtlich der äußeren Kontrolle von abweichendem Verhalten jedenfalls eine erhebliche Veränderung des
Kontrollstils im Zuge der Modernisierung. Soziale Kontrolle
wird immer weniger von lokalen Gruppen oder Gemeinschaften, sondern von staatlichen Organisationen und Medien
ausgeübt. Bis ins 19. Jahrhundert wurde abweichendes
Verhalten als Sünde bzw. Verbrechen gesehen und dementsprechend repressiv und körperlich bestraft (vgl. Foucault 2006).
Als ein wesentliches Kennzeichen der Modernisierung gilt die
Pädagogisierung bzw. Medikalisierung des Kontrollstils.
Ungehorsam wird weniger strafrechtlich und sozial ausschließend geahndet, sondern stärker als pathologisch gedeutet und
einer therapeutischen Intervention zugeführt. Mit der Zunahme
behandelnder Kontrollformen wurde das Gefängnis, so
SatzBakic.qxd
164
27.02.2008
17:19
Seite 164
Norm und Abweichung
Foucault (2006), als Mittel sozialer Kontrolle zunehmend überflüssig. Die Medikalisierung abweichenden Verhaltens zeigt
sich etwa im Anspruch der Medizin Normabweichungen
benennen, erklären und behandeln zu können. Normabweichungen werden als Symptome individueller Unmündigkeit
angesehen. Die Rolle des Abweichenden wird als eine solche
des/der Kranken umdefiniert.
Tendenziell lässt sich wohl ein Rückgang harter Formen der
sozialen Kontrolle beobachten und eine Zunahme präventiver
Strategien, d.h. Techniken der inneren Disziplinierung (z.B. Iss
weniger! Rauch weniger! Mach mehr Bewegung!), jedoch lässt
sich auch das Fortbestehen repressiver Formen zeigen. Dies gilt
etwa für den Ansatz der »Null Toleranz« der New Yorker
Polizei, wonach selbst kleinste Regelverstöße, wie z.B. Trinken
von Alkohol in der Öffentlichkeit hart und schnell geregelt werden. Dies gilt aber auch im Zusammenhang mit der Kontrolle
rechtsradikaler Strömungen, Gewalt in Schulen oder
Sexualdelikten (vgl. Hoops/Permien/Rieker 2001). Allen
Maßnahmen der sozialen Kontrolle ist jedenfalls gemeinsam,
dass sie die Bandbreite menschlichen Verhaltens auf Typen von
sozial erwünschten »Sozialcharakteren« einzuengen versuchen.
Normen und soziale Abweichung
in der Sozialen Arbeit
Die Bedeutung der Normenfrage in der Sozialen Arbeit stellt
sich vor dem Hintergrund ihres Engagements innerhalb konkreter Konfliktverhältnisse auf individueller, interaktiver und
struktureller Ebene. Dieses Engagement erhält Orientierungen
durch gesellschaftlich-sozialpolitische Funktionszuschreibungen und institutionell-administrative Vorgaben wie auch durch
Selbstkonzepte und Programme Sozialer Arbeit. Basierend auf
der Unterscheidung in helferische und erzieherische Normen
kann eine gewisse »Pädagogisierung« der Hilfe festgestellt
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Norm und Abweichung
Seite 165
165
werden, d.h. die Verknüpfung von Hilfeleistung mit Verhaltenserwartungen, wobei aus der Verbindung von Erziehung und
Hilfe in einer einzigen Berufsrolle des Sozialarbeiters
Normenkonflikte entstehen können (vgl. Biermann 2007).
Staub-Bernasconi (2005) hat in ihrer disziplinären Bestimmung
der Sozialen Arbeit drei Paradigmen herausgearbeitet, die
unterschiedliche normativen Rahmen sozialen Handelns anbieten. Als erstes Paradigma nennt sie das egozentrische, welches
den individuellen Wert Freiheit als wesentliche Handlungsmaxime in der Sozialen Arbeit ausweist. Dieser normative
Anspruch stellt sich dann im Zusammenhang mit abweichendem (kriminellen) Verhalten so dar, dass SozialarbeiterInnen
die Partei der KlientInnen gegen die »ungerechte« Gesellschaft
ergreifen und manchmal sogar in Kauf nehmen, selbst belogen
und bestohlen zu werden. Als zweites Paradigma nennt StaubBernasconi das soziozentrische, in dem soziale Werte des
Zusammenhalts, der gesellschaftlichen Stabilität und Ordnung
an oberster Stelle stehen. Individuen haben demnach »möglichst viele verallgemeinerbare Pflichten zur Erhaltung der
strukturellen Ordnung unter Gleichen und Ungleichen zu übernehmen« (Staub-Bernasconi 2005, 252). Als drittes Paradigma
wird das prozessual-systemische angeführt. Dieses versucht
den egozentrischen und den soziozentrischen zu vereinen. In
diesem Ansatz geht es sowohl um Probleme von Individuen als
auch sozialstrukturelle Hemmnisse als Basis für Soziale Arbeit.
Wesentlich ist in dieser Verlinkung von Mikro- und
Makroebene die Berücksichtung von Machtaspekten.
Soziale Arbeit ist stets nicht nur als eine Form der Hilfe sondern
auch als eine Form der Kontrolle anzusehen, wobei diese
Verdopplung (vgl. Sünker 1995, 81) als eine historische
Konsequenz der Vergesellschaftung von Hilfe angesehen wird.
Durch diese Dopplung der Funktion in Hilfe und Kontrolle
wird Soziale Arbeit in einen Zusammenhang mit Fragen nach
sozialen Normen und abweichendem Verhalten gestellt und als
eine darauf bezogene Interventionsform betrachtet. Lange Zeit
SatzBakic.qxd
166
27.02.2008
17:19
Seite 166
Norm und Abweichung
war man davon ausgegangen, dass die moderne Gesellschaft in
zunehmendem Maße Inklusionsmöglichkeiten für Jedermann
bereithalten würde. Es galt das »Prinzip der Inklusion aller in
alle Funktionssysteme« (Luhmann 1995). Doch das Postulat
einer allumfassenden Inklusion erweist sich wie jede Norm als
sehr enttäuschungsresistent. Die soziale Realität entspricht keineswegs den Vorgaben dieses Imperativs.
Erhebliche Schwierigkeiten ergeben sich für die Soziale Arbeit
vor dem Hintergrund des allgemeinen Kontrollbedürfnisses in
der Gesellschaft. Sie wird in die Rolle der kontrollierenden
Instanz gedrängt, d.h. sie übt nicht nur soziale Kontrolle aus,
sondern sie ist auch eine Instanz, die sozialer Kontrolle unterliegt (vgl. Biermann 2007). Sie soll kontrollieren, ob dies nun
die Medikamenteneinnahme von KlientInnen betrifft oder die
sachgerechte Verwendung von öffentlichen Geldern oder den
Tagesablauf von Haftentlassenen. Damit wird der Anspruch der
»Hilfe zur Selbsthilfe« konterkariert. Die »Hilfe« soll sowohl
ergebnisorientiert, nachhaltig und effektiv sein, als auch nicht
bevormundend und kein Verhältnis der Abhängigkeit erzeugen.
Dabei wäre es notwendig, die Gültigkeit sozialer Normen als
solches in Frage zu stellen, wie dies Judith Butler zeigt.
Judith Butler (2003) befasst sich mit dem Verhältnis zwischen
dem ethischen Subjekt und der in einer Gesellschaft tradierten
Norm. Es geht dabei darum, welche Normen innerhalb eines
gegebenen sozialen bzw. historischen Kontextes schon vorab
entscheiden, ob ein Subjekt Anerkennung und Gehör finden
kann und oder nicht. Normen entscheiden bereits vorweg darüber, wer Subjekt wird und wer nicht. Welche Normen sind es,
denen Individuen gleichzeitig in gleicher und in höchst unterschiedlicher Form unterliegen? Während bestimmte Individuen
von Vornherein in ihrer Subjekthaftigkeit anerkannt werden
(z.B. Weiße, Männer), werden andere als Subjekt »ausgesetzt«.
Herauszuarbeiten gilt es in der Sozialen Arbeit den Bezugsrahmen, der Anerkennung ermöglicht oder nicht. Es gibt vor
jeder möglichen Übernahme, Aneignung oder Überschreitung
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Norm und Abweichung
Seite 167
167
einzelner Normen bereits ein durch vorgängige Normen überhaupt erst eröffnetes Feld, das für ein Subjekt konstitutiv ist und
den Schauplatz jeder Anerkennung bestimmt. Besonderes problematisch sind soziale Normen dort, wenn sie zu einem
Universalitätsgesetz erstarren und neue ethische Ansprüche
zurückgewiesen werden. Das gilt etwa für den Topos der
»deserving poor«. In diesem Kontext kann von struktureller
Gewalt gesprochen werden. Soziale Normen entziehen sich
ihrer historischen und kulturellen Kontingenz, wenn kulturelle
Besonderheiten und die Entstehungsbedingungen, denen soziale Normen unterliegen, außer Acht gelassen werden.
Die Soziale Arbeit selbst befindet sich in einem bürokratisch
und marktwirtschaftlich regulierten »social services complex«
gefangen. In diesem Komplex geht es mehr um Verwaltung
oder auch Marketing von Aktivitäten als um die Arbeit selbst.
Die Soziale Arbeit ist dort gefährdet, wo sie Normen und
Gesetze bloß anwendet und diese zuwenig in ihren Macht- und
Begrenzungsaspekten reflektiert. Die Eigenständigkeit der
Sozialen Arbeit wird sich in Zukunft daran bewerten lassen,
inwieweit sie ihre Widerständigkeit gegenüber Kontrollzumutungen aufrecht erhält bzw. diesen entgegentritt. Die
Kontrollformen werden unpersönlicher, abstrakter und zunehmend mit dem Zwang zur individuellen Abarbeitung versehen.
Hier braucht es ein Korrektiv durch die Soziale Arbeit.
Zu erwarten ist eine weitere Diversifizierung der Wert- und
Moralvorstellungen und eine höhere Akzeptanz sozialer und
kultureller Abweichungen. Als Beispiel mag hier die
Hinzuziehung von illegalen Pflegekräften in der Altenbetreuung genannt werden, wo von einer strukturell erzeugten
Abweichung gesprochen werden kann, deren Ahndung individuelle Empörung ausgelöst hat. Eine Ausrichtung der
Individuen an festen Normen und eine präzise Unterscheidung
zwischen normal und anormal sind damit nur mehr bedingt
möglich. Übrig bleiben situations- und kontextabhängige
Wertprioritäten, die keinen allgemeingültigen Anspruch erhe-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 168
168
Norm und Abweichung
ben. Eine Logik des Risikos prägt die gegenwärtige Formation
von Norm-Abweichung, die auch von der Sozialen Arbeit
durch entsprechende theoretisch-methodische und politische
Konzepte zu berücksichtigen wäre. Ein Schritt in diese
Richtung findet sich in der »Wiener Erklärung zur Ökonomisierung und Fachlichkeit in der Sozialen Arbeit«3.
Anmerkungen
1
http://www.dbsh.de/html/hauptteil_wasistsozialarbeit.html [Zugriff:
24.9.2007]
2
http://www.nadir.org/nadir/archiv/netzkritik/postskriptum.html
[Zugriff: 3.1.2008]
3
http://www.oberoesterreich-sozialarbeit.at/download/Wiener
Erklaerung_04062007.pdf [Zugriff: 4.1.2008]
Literatur
Bahrdt, Hans Paul (2000[1984]): Schlüsselbegriffe der Soziologie.
München.
Becker, Howard S. (1973): Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden
Verhaltens. Frankfurt a.M.
Biermann, Benno (2007): Soziologische Grundlagen der Sozialen Arbeit.
München.
Böhnisch, Lothar (1999): Abweichendes Verhalten. München.
Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a.M.
Deleuze, Gilles (1993): Unterhandlungen. 1972 – 1990. Frankfurt a.M.
Durkheim, Emile (1983 [1895]): Die Regeln der soziologischen Methode.
Frankfurt a.M.
Esser, Hartmut (2001): Soziologie. Band 6: Sinn und Kultur. Frankfurt a.M.
Foucault, Michel (2006 [1975]): Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M.
Girtler, Roland (1995): Randkulturen. Theorie der Unanständigkeit. Wien,
Köln, Weimar.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 169
Norm und Abweichung
169
Hodapp, Axel (2007): Zum Phänomen der Kriminalität, insbesondere der
Jugendkriminalität. Norderstedt.
Hoops, Sabrina/ Permien, Hanna/ Rieker, Peter (2001): Zwischen null
Toleranz und null Autorität. Opladen.
Kessl, Fabian/ Otto, Hans-Uwe (2004): Soziale Arbeit und die
Neugestaltung des Sozialen. In: Kessl, Fabian/ Otto, Hans-Uwe
(Hg.): Soziale Arbeit und Soziales Kapital. Wiesbaden, 7-20.
König, René (1969): Soziale Normen. In: Bernsdorf, Wilhelm (Hg.):
Wörterbuch der Soziologie.
Lamnek, Siegfried (2007): Theorien abweichenden Verhaltens. Stuttgart.
Luhmann, Niklas (1995): Inklusion und Exklusion, in: Ders., Die
Soziologie und der Mensch, Soziologische Aufklärung. Opladen,
247-264.
Popitz, Heinrich (2006[1961]): Soziale Normen. Frankfurt a.M.
Peuckert, Rüdiger (1986): Soziale Rolle. In: Schäfers, Bernhard (Hg.):
Grundbegriffe der Soziologie. Opladen, 255-258.
Peuckert, Rüdiger (2008): Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle.
In: Korte, Hermann/ Schäfers, Bernhard (Hg.): Einführung in
Hauptbegriffe der Soziologie. 7. Aufl. Wiesbaden, 107-127.
Schäfers, Bernhard (2008): Soziales Handeln und seine Grundlagen:
Normen, Werte, Sinn. In: Korte, Hermann/ Schäfers, Bernhard (Hg.):
Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. 7. Aufl. Wiesbaden, 2344.
Scherr, Albert (2006): Werte und Normen. In: Scherr, Albert (Hg.):
Soziologische Basics. Wiesbaden, 187-192.
Singelnstein, Tobias/Stolle, Peer (2006): Die Sicherheitsgesellschaft.
Wiesbaden.
Singer, Wolf (2003) Ein neues Menschenbild? Frankfurt a.M.
Staub-Bernasconi, Silvia (2005[2002]): Soziale Arbeit und soziale
Probleme. In: Thole, Werner (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit.
Wiesbaden, 245-258.
Sünker, Heinz (1995): Theorie, Politik und Praxis Sozialer Arbeit.
Bielefeld.
Wehrheim, Jan (2002): Die überwachte Stadt. Opladen.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 170
Prävention und Disziplinierung
Agnieszka Dzierzbicka
Iss doch kein weißes Brot,
sonst bist du morgen tot
Wir meinen’s gut mit dir
Wir schützen dich vor dir
(Chuzpe – Die guten Kräfte)
Kampagnen, die der Prävention von Gewalt und Sucht, der
Ausbreitung von Krankheiten oder der Disziplinierung von
BürgerInnen ob ihrer ungesunden Lebensweise, ihres unrühmlichen Verhaltens – wie mangelnde Mülltrennung oder etwa die
Überschreitung von Geschwindigkeitsbegrenzungen – dienen,
stehen zurzeit hoch im Kurs: Ihretwegen werden Lebensgewohnheiten unter die Lupe genommen, mehr oder weniger
kreative Verhaltens-, Bewegungs- und Ernährungsimperative
formuliert und nicht zuletzt lukrative Allianzen zwischen
Politik, Ökonomie und Medien geschlossen. Der Anlassfall für
den Boom um die »richtige« Lebensführung ist sattsam
bekannt, eine statistische Gleichung, die nicht länger aufgehen
will: Menschen bestimmter Regionen werden immer älter, der
Preis dafür immer höher. Wurde jedoch bis vor kurzem in diesem Zusammenhang der Fokus auf die Kinderlosigkeit (der
europäischen Mittelschicht) gelegt, so rückt nun der Lebensstil
an sich ins Zentrum. Fettes Essen, Rauchen, Alkoholgenuss und
mangelnde Bewegung machen, wie immer wieder betont wird,
nicht nur unglücklich, sondern treiben auch die Gesundheitskosten in die Höhe. Damit sorgt der klinisch anmutende Begriff
Prävention für Furore. Egal ob in der nüchternen Welt der
Medizin oder in schicken Lifestylemagazinen, allerorts hat man
sich dem vorbeugenden und nachhaltigen Denken, Handeln
und Leben verschrieben.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 171
Prävention und Disziplinierung
171
Wesentlich länger und freilich weniger lukrativ aber nicht minder penetrant wird auch das Feld der Sozialarbeit in die Pflicht
genommen, wenn es darum geht, jene, die als gefährdet eingeschätzt werden – gefährdet aus dem gesellschaftlichen System
und seinen Spielregeln heraus zu fallen und damit das System
selbst zu gefährden –, zu stützen. Auch hier ist es längst eine
Binsenweisheit, dass Vorbeugung besser als «Heilen« ist: Ob
Gewaltprävention, Suchtprävention oder Schuldenprävention,
je früher interveniert wird, desto wirkungsvoller und freilich
billiger die Maßnahmen. Doch wie schon angedeutet, mit einer
Intervention allein ist es nicht getan. Was wäre jede
Vorbeugemaßnahme ohne einen Rückgriff auf die Disziplinierung, im optimalen Fall die Selbstdisziplinierung? Sie wäre
dazu verdammt als eine punktuelle Maßnahme zu verpuffen.
Dass es aber vor diesem Hintergrund ein sehr altes und bewährtes Wissen über die Techniken und Technologien der
Disziplinierung gibt, das innerhalb sozialer Einrichtungen über
Jahrhunderte mit Akribie und Hartnäckigkeit tradiert und
gepflegt wurde, das hat Michel Foucault in Überwachen und
Strafen (1975) auf eine für diese Einrichtungen wenig schmeichelnde Art und Weise veranschaulicht. Im Folgenden wird
diese Kritik nachgezeichnet und darüber hinaus die These vertreten, dass mit der Krise der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen nun konsequenterweise auch in der sozialen Praxis vermehrt auf den Begriff der Prävention zurückgegriffen wird. Ein
Umstand, der meines Erachtens die Problematik um die
Disziplinierung im Rahmen dieser Praxis keinesfalls entschärft
wie ich aufzeigen möchte.
Die Etablierung der Disziplinen
In Überwachen und Strafen beschreibt Michel Foucault das
Brüchigwerden der souveränen Macht und die darauf beruhende Formierung der von ihm so genannten Disziplinar-
SatzBakic.qxd
172
27.02.2008
17:19
Seite 172
Prävention und Disziplinierung
gesellschaften. Am Beispiel der allmählichen Verdrängung der
Marter im 17./18. Jahrhundert und der Implementierung des
modernen Strafvollzugs wird hier der Wandel der abendländischen Gesellschaften in Begriffen und Bildern skizziert, die
keine Spuren jener Euphorie oder Aufbruchsstimmung aufweisen, die für die Zeit der Aufklärung und ihre industriellen
Möglichkeiten charakteristisch sind: »Damit betreten wir das
Zeitalter der sozialen Orthopädie, wie ich es nennen möchte. Es
handelt sich um eine Form von Macht und einen Gesellschaftstyp, die ich im Unterschied zu den vorangegangenen
Strafgesellschaften als Disziplinargesellschaft bezeichne«
(Foucault 2002, 734). Die Strafgesellschaften sind abhängig
von vorherrschenden Strafgewohnheiten, es handelt sich dabei
um »hypothetische Gesellschaften« (ebd., 569). Sie stellen eine
modellhafte Typisierung vor, deren Charakterisierung vom
Umgang der Gesellschaften mit Straffälligen und Abweichenden abhängig ist. So unterscheidet Foucault vier
Gesellschaftstypen: griechische Gesellschaften, die verbannen,
germanische Gesellschaften, die im Fall eines Vergehens einen
Freikauf fordern, abendländische Gesellschaften am Ende des
Mittelalters, die »ein Zeichen im Körper einschreiben« – die
Souveränitätsgesellschaften1, und schließlich Gesellschaften,
die einsperren – die Disziplinargesellschaften. Die Formierung
der Disziplinargesellschaft ist auf das Engste mit dem Umstand
verbunden, dass die bis dahin übliche Manifestation der
Herrschaft, die leibliche Marter, ausgedient hat. Der schnelle
Tod durch die Guillotine bzw. den Strick setzt der langwierigen
öffentlichen Folter ein Ende.
Was haben nun Foucaults historisch-soziologische Analysen
einer längst vergangenen Zeit und daraus resultierenden philosophischen Überlegungen mit aktuellen Leitbegriffen der
Sozialarbeit zu tun? Es sind unter anderen zwei Motive, die
Foucault für die Auseinandersetzung mit dem Praxisfeld der
Sozialen Arbeit und seiner gegenwärtigen Verfasstheit spannend und fruchtbar machen: seine Analysen des gesellschaft-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 173
Prävention und Disziplinierung
173
lichen Wandels und der damit einhergehenden Brüche und
Kontinuitäten sowie seine Auseinandersetzung mit dem
Komplex Macht/Wissen entlang der Frage, wie die Gesellschaft
mit von der Norm Abweichendem umgeht, präziser, wie sie
Abweichungen zu verhindern sucht.
»Zu Beginn des 19. Jahrhunderts geht also das große
Schauspiel der peinlichen Strafe zu Ende; man schafft den
gemarterten Körper beiseite; man verbannt die Inszenierung
des Leidens aus der Züchtigung« (Foucault 1995a, 22 f.). An
ihre Stelle tritt die Disziplinierung des Körpers, der sich in
Anbetracht gesellschaftlicher und technischer Umwälzungen
als eine nutzbare Kraft zeigt. Also auch hier finden wir bereits
die Frage der gesellschaftlichen Ökonomisierungstendenzen als
Motor zum Wandel von Institutionen: Und so geraten von nun
an das Leben und seine Verwaltung an Stelle des Todes in den
Sog von Diskurs- und Machtwirkungen. In späteren Schriften
präzisierte Foucault diese Zäsur am Beispiel des Zugriffs auf
das Leben der Gesetzesbrechenden im Besonderen und das
Leben der Bevölkerungen im Allgemeinen: »Man könnte
sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen,
wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den
Tod zu stoßen« (Foucault 1997, 165; Hervorhebungen im
Orig.).
Das »Leben« wird also zum bestimmenden Faktor im gesellschaftlichen Gefüge. Die für seine Verwaltung notwendigen
Institutionen, die großen Einsperrungen bzw. Einschließungen
– die Schulen, die Kasernen, die Fabriken, die Krankenhäuser
wie auch die Gefängnisse –, formieren sich im 17./18.
Jahrhundert um das Individuum und werden zur allgemeinen
Herrschaftsform (vgl. Foucault 1995a). Wie Foucault nicht
müde wurde zu beschreiben, werden diese Institutionen maßgeblich für eine bestimmte Art von permanenter Unterdrückung
im Alltagsleben verantwortlich: Der Einzelne wird ins Zentrum
des Produktivitätsdenkens der Waren herstellenden bürgerlichen Gesellschaft befördert und von ihren Institutionen fest
SatzBakic.qxd
174
27.02.2008
17:19
Seite 174
Prävention und Disziplinierung
umschlossen. »Was in der Schule, in der Armee überhand
nimmt, ist eine Mikro-Justiz der Zeit (Verspätungen,
Abwesenheiten, Unterbrechungen), der Tätigkeit (Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit, Faulheit), des Körpers (›falsche‹
Körperhaltungen und Gesten, Unsauberkeit), der Sexualität
(Unanständigkeit)« (Foucault 1995a, 230).
Das von Foucault beschriebene Disziplinarregime entpuppt sich
also kurzerhand als eine Macht der Normierung und Normalisierung, hegemoniale Strukturen finden ihren Ausdruck in der
Anpassung und Eingliederung des Abweichenden. Zentraler
Begriff dabei ist, wie der Name schon verrät, die Disziplin, die
– disziplinäre Wissenschaft und disziplinierende Institutionen
subsumierend – jene Schnittstelle der Macht, die Produktivkräfte (z.B. menschliche Arbeitskraft, Maschinen, Rohstoffe)
und Wissen (bereitgestellt durch die Humanwissenschaften) zu
einen und zu funktionalisieren »weiß«. Nicht das vernunftbegabte und gerade vertragsfähig gewordene Individuum wird für
die Gestaltung der Produktionsbedingungen und Produktivität
in dieser Zeit bestimmend, sondern die Etablierung und
Stärkung von hierarchisch organisierten Strukturen, die die
Produktion gewährleisten und in Gang halten. Tayloristisches
Management und fordistische Produktionsweise werfen ihre
Schatten voraus und prägen das Menschenbild entgegengesetzt
zu einem an Autonomie ausgerichteten Emanzipationsideal. So
mündet die Stilisierung der Arbeit von einem notwendigen Übel
zu einer positiven, sinnstiftenden Aufgabe in der passgenauen
Austauschbarkeit von Einzelteilen wie auch von Arbeitenden
(vgl. Ribolits 1997). Ermöglicht wird diese Austauschbarkeit
durch die Disziplinen, die definieren, »wie man die Körper der
anderen in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen
zu lassen, was man verlangt, sondern um sie so arbeiten zu lassen, wie man will: mit den Techniken, mit der Schnelligkeit, mit
der Wirksamkeit, die man bestimmt« (Foucault 1995a, 176 f.).
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 175
Prävention und Disziplinierung
175
Normalisierung: Die aufgeklärte, produktive Masse
Die Vereinnahmung des Alltags durch das Diktat einer
bestimmten Ökonomie der Macht, der »Akkumulation von
Kapital und Menschen« (Foucault 1995a, 283), fällt somit
bemerkenswerterweise bereits in jene Zeit, die eigentlich als
Befreiung des Menschen aus seiner Unmündigkeit in die
Geschichte eingehen sollte: Indem der Mensch beschließt,
seine Lebensführung kraft der eigenen Vernunft in die Hand zu
nehmen, werden das »neuzeitliche subjektivistische Menschenverständnis« und die Pädagogik mit ihrem prononcierten
Auftrag begründet, Wissen und Methoden für die Aufklärung
der Gesellschaft bereitzustellen (vgl. Ballauf/Schaller 1970,
326). Das moderne Erziehungsverständnis ergibt sich also erst
mit der Vorstellung, dass der Mensch »allein und ausschließlich
für sich als vernünftiges Wesen verantwortlich zu sein habe und
dass dies von der Erziehung abhängig sei, dass also die
Erziehung den für sich selbst verantwortlichen Menschen ›hervorbringen‹ könne« (Schäfer 2005, 27). Foucault sieht die
Entstehung der modernen Pädagogik und ihrer späteren
Subdisziplinen selbstverständlich in keinem aufklärerischen
Licht, sondern im Dienst der Disziplinarmacht. So wird die
Sozialpädagogik »nützlich«, indem sie beispielsweise »beim
faulen Subjekt« den Geschmack an der Arbeit weckt – »wer
leben will, muß arbeiten« (Foucault 1995a, 157). Deshalb verwundert Foucaults Fazit hinsichtlich der gesellschaftlichen
Transformationen an der Schwelle zwischen Klassik und
Modernität wohl wenig: »›Aufklärung‹, welche die Freiheiten
entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden« (ebd., 285).
Was nun auf den ersten Blick widersprüchlich und unvereinbar
wirkt, nämlich die Befreiung bei gleichzeitiger Unterdrückung
des Menschen, lässt sich durchaus zusammenführen, wenn in
Betracht gezogen wird, dass in diesem Fall eine Verzahnung
individueller Interessen mit gesellschaftlichem Fortschritt stattgefunden hat. Auf diese Weise konnten komplexe Diszipli-
SatzBakic.qxd
176
27.02.2008
17:19
Seite 176
Prävention und Disziplinierung
nierungsakte im Namen von Leistung, Fortschritt, Bildung und
Produktivität dermaßen »trivialisiert« werden, dass sie eben
selbstverständlich und normal erschienen: »Wie sollte das
Gefängnis nicht unmittelbar akzeptiert werden, wo es doch,
indem es einsperrt, herrichtet, fügsam macht, nur die
Mechanismen des Gesellschaftskörpers – vielleicht mit einigem Nachdruck – reproduziert? Das Gefängnis ist eine etwas
strenge Kaserne, eine unnachsichtige Schule, eine düstere
Werkstatt, letztlich nichts qualitativ Verschiedenes« (ebd., 297).
Ob nun das Gefängnis oder die Schule – beide Institutionen stehen im Dienste einer Normalisierungsmaschinerie, die aus
unübersichtlicher Masse eine geordnete Vielheit macht, die sich
reproduziert, Ziele verfolgt und zu erfüllen trachtet. Zugleich
sind es aber auch die Normalisierungsmechanismen, die dem
Menschen ein Verständnis seiner Existenz ermöglichen: Als
»Subjekt« wird der Mensch einerseits zu einem freien, eben für
sein Handeln in der Gesellschaft verantwortlichen, da vernunftbegabten Menschen, andererseits bedeutet dieses Freisein
immer auch einen Akt der Unterwerfung angesichts der in den
Einschließungen/Staatsapparaten vorherrschenden Normen und
Normalisierungsmechanismen. Theodor W. Adorno und Max
Horkheimer beschrieben diese dialektische Wendung als die
»Absurdität des Zustandes«, der die Menschen zwar aus der
Gewalt der Natur herausführt, aber mit jedem ausgeführten
Schritt »die Gewalt des Systems über den Menschen« wachsen
lässt. (Horkheimer/Adorno 2000, 45) Für die Begründer der
Kritischen Theorie wird damit die Vernunft als ein strukturelles
Problem wahrgenommen. Die befreiende Macht der Vernunft
birgt per se ein Moment der Unvernunft in sich. So erlangt der
Mensch Herrschaft über die Welt »ohne Rücksicht auf
Unterschiede« und lässt die Natur zur »bloßen Objektivität«
werden. Doch diese Vermehrung an Macht müssen die
Menschen mit Entfremdung bezahlen, ausgerechnet mit »der
Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben« (ebd.,
14 f.). Auf den Punkt gebracht verstrickt sich der Mensch mit
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 177
Prävention und Disziplinierung
177
jedem Schritt aus der Abhängigkeit in eine andere Abhängigkeit. »Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die
Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen«
(ebd., 15).
Für den Strukturalisten Althusser liegt das Dilemma bereits
darin, dass der Subjektbegriff an sich für die bürgerliche
Ideologie konstitutiv ist: »Wir behaupten außerdem, daß die
Ideologie in einer Weise ›handelt‹ oder ›funktioniert‹, daß sie
durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung
(interpellation) nennen, aus der Masse der Individuen Subjekte
›rekrutiert‹ (sie rekrutiert sie alle) oder diese Individuen in
Subjekte ›transformiert‹ (sie transformiert sie alle)« (Althusser
1977, 142). Althusser zieht aus der allmächtigen, »ewigen«
Anrufung »He, Sie da!« (ebd.), die kein Entkommen vorsieht,
einen pragmatischen, definitiven Schluss: Um zu einer
Erkenntnis gelangen zu können, muss ein wissenschaftlicher
Diskurs über Ideologie »ohne Subjekt« auskommen (Althusser
1977, 142). Ist dies für eine sozialpädagogische Analyse möglich? Einen Versuch gilt es zu wagen.
Lässt man sich also auf die machtanalytischen Untersuchungen
in Foucaults Überwachen und Strafen ein, so erscheinen die
Gesellschaft und ihre Institutionen in einem düsteren Licht.
Selbst soziale Errungenschaften der Nachkriegszeit – formuliert in der Idee des Wohlfahrtsstaates – entpuppen sich in der
Foucault’schen Logik bei näherer Betrachtung als Facetten der
ungeheuren Disziplinarmacht. Diese Macht durchdringt, diszipliniert und normiert im Namen des Fortschritts und einer
(mittlerweile zweifelhaft gewordenen) Produktivität den
Gesellschaftskörper, der in den Institutionen, die das
Individuum einschließen, nun formbar wird. So wechseln
Menschen von einer einschließenden Institution zur nächsten.
Aller Anfang ist die Familie, dann folgen die Schul- und
Bildungsanstalten, für manche die Kaserne, die Fabrik bzw. der
Betrieb, zeitweilig das Krankenhaus, eventuell das Gefängnis
(vgl. Foucault 1995a). Jede dieser Einschließungen ist durch
SatzBakic.qxd
178
27.02.2008
17:19
Seite 178
Prävention und Disziplinierung
eigene Gesetze und Verfahren charakterisiert und bedeutet
zugleich immer auch Ausschließung. Zunächst erscheinen diese
Institutionen als voneinander divergierend und divergent. Bei
einer näheren Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass
diese so hermetisch abgeschlossenen Milieus einander konvergierend fortschreiben, immer aufeinander verweisen: Der vertraute Satz »Du bist hier nicht zu Hause« (Deleuze 1993, 254)
findet sich im Alltagsdiskurs der Einschließung Schule ebenso
wie auch die Drohung: »Wenn du dann mal wirklich im Beruf
stehst!« Im letzteren Fall entsinnt sich die Einschließung
Schule eines ihrer Aufträge, nämlich der Vorbereitung auf die
nächste Einschließung, das Berufsleben. Die stehende
Wendung »Du bist hier nicht mehr in der Schule!« fungiert
wiederum als eine Antwort der Einschließung Betrieb, wenn
gegen deren Regelwerk verstoßen wird. Auf diese Weise
erscheinen alle Varianten der Einschließungen letztlich als ein
einziges System ineinander greifender Disziplinierungs- und
Normierungsmechanismen, die in den entwicklungspsychologisch bedingten und sozial bestimmten Lebensentwürfen wirksam sind und – über die Einschließungsfunktion hinaus –
Komponenten des Anschließens beinhalten. Und wenn all die
Drohungen, Ermahnungen keine Wirkung zeitigen, dann gibt es
– frei nach Foucault – immer noch die Sozialarbeit.
Der Gesellschaftskörper tritt also in der Disziplinargesellschaft
in den Hintergrund und der gleichsam »erfundene« individualisierte, auszubildende Körper rückt ins Zentrum der
Einflussnahme. Es ist der individualisierte Körper, der in jener
Zeit-Raum-Achse der Produktivität positioniert werden kann,
welche die Summe der Einzelkräfte in einem nie zuvor gekannten Ausmaß zu übertreffen vermag. Die Funktion der einschließenden Institutionen jedoch ausschließlich auf die Normierung
und Disziplinierung zurückzuführen, wäre eine verkürzende
Vorgehensweise, denn es kann davon ausgegangen werden,
dass eine Normierung, die nicht zweckgerichtet ist, sich auf
lange Sicht erschöpft. Eine mögliche Erklärung für den beacht-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 179
Prävention und Disziplinierung
179
lichen Erfolg und die Wirksamkeit der Disziplinierungssysteme
könnte vielmehr in ihrer weiteren Funktion liegen, nämlich in
jener der Sinnstiftung.
So sind den normierenden Leistungen der Einschließungen die
anzustrebenden Lebensziele bzw. Wünsche und Sehnsüchte der
Einzelnen inhärent. Dieses spezifische Verhältnis lässt sich
zwischen den zwei Polen gesellschaftlicher Fortschritt und
persönlicher Erfolg verorten2. Dadurch entsteht ein
Spannungsfeld, das Einschließungen so effizient und beständig
macht wie die Disziplinargesellschaften produktiv – ein
Spannungsfeld, das Emanzipation und Unterwerfung des mit
Vernunft ausgestatteten modernen Subjekts überhaupt erst
ermöglicht. Isaiah Berlins Konzept der negativen Freiheit als
Freiheit von Zwängen kollektiver Bevormundung (»freedom
from«) findet hier ebenso eine Anwendung wie sein Konzept
der positiven Freiheit (»freedom to«), die das Subjekt zum
eigenen Herrn ermächtigt (vgl. Berlin 1995). Zwischen beiden
Richtungen zerrissen, indifferent und polarisiert, findet sich das
zum Einsatz der Vernunft ermächtigte Individuum der Moderne
in den Institutionen der Gesellschaft eingeschlossen wieder.
Althussers Argument, die Subjektivierungsmechanismen als
einen Akt der Unterwerfung zu betrachten, bringt dieses
Dilemma auf den Punkt. Demnach ist das Subjekt nichts
Ursprüngliches, sondern ein Resultat jener Verhältnisse, die
Menschen als Subjekte zueinander und zur Gesellschaft vorfinden und prägen, wobei diese Verhältnisse niemals transparent,
sondern imaginär sind, da sie eben über die ideologischen
Staatsapparate konstituiert und erst mit der Notwendigkeit
eines Rückgriffs auf repressive Staatsapparate3 real werden.
»Resultat: Gefangen in diesem […] System der Anrufung als
Subjekte, der Unterwerfung unter das SUBJEKT, der allgemeinen Wiedererkennung und der absoluten Garantie, ›funktionieren‹ die Subjekte in der riesigen Mehrzahl der Fälle ›ganz von
alleine‹ – mit Ausnahme der ›schlechten Subjekte‹, die gelegentlich das Eingreifen dieser oder jener Abteilung des (repres-
SatzBakic.qxd
180
27.02.2008
17:19
Seite 180
Prävention und Disziplinierung
siven) Staatsapparates provozieren« (Althusser 1977, 148;
Hervorhebungen im Orig.).
Von der Krise der Disziplinen
zum Aufstieg der Prävention
Seit geraumer Zeit scheinen jedoch die Disziplinen in der
Krise: Die Produktivität steht nicht länger im Zeichen der
Stückzahl und der Stechuhr. Auch sind die einst großen
Einschließungen wie Familie, Schule, Gefängnis, Fabrik oder
Krankenhaus seit geraumer Zeit von Prozessen der Öffnung
geprägt, die im übertragenen Sinne die disziplinäre Schlinge
um das Individuum gelockert haben. Diese Entwicklungen sind
aber laut Deleuze bloß ein Übergangsstadium und sollten nicht
über den Umstand hinwegtäuschen, dass die einstigen
Einschließungen, Nachlassverwaltern ähnlich, zu Wegbereitern
der Konstituierung neuer Kräfte geworden sind: »Aber jeder
weiß, daß diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind.
Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und
die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an
die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben« (Deleuze
1993, 255). Disziplin und Norm garantieren in den westlichen
Gesellschaften per se keine Produktivität mehr, viel eher lässt
sich deren Ersetzung durch Begriffe wie Flexibilität und
Motivation beobachten. Konnte in Foucaults Disziplinargesellschaft das wesentliche Moment der Macht als ein Akt der
Disziplinierung und Normierung benannt werden, so verweist
Deleuze demgegenüber auf eine neue strategische Situation der
Gesellschaft. Im Postskriptum über die Kontrollgesellschaften
(Deleuze 1993) findet sich Kontrolle als konstitutives Element
einer neuen Gesellschaftsordnung eingeschrieben.
»Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen«, lautet die knappe Diagnose von Gilles
Deleuze (Deleuze 1993, 255).4 So tritt das Unternehmen an die
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 181
Prävention und Disziplinierung
181
Stelle der Fabrik, die permanente Weiterbildung löst tendenziell
die Schule ab und die kontinuierliche Kontrolle das Examen.
»Bin ich noch jung genug?«, fragen sich Tom Holert und Mark
Terkessidis im Vorwort zu Mainstream der Minderheiten. Pop
in der Kontrollgesellschaft (1996). Und diese Frage ist programmatisch, denn einerseits verdeutlicht sie die Unsicherheit
der 1990er Jahre, als die Zahlen von »freigesetzten« Menschen
zum fixen Programmpunkt von Tagesnachrichten zu werden
schienen, und andererseits die Einschreibung der permanenten
Selbstüberprüfung und Kontrolle. Wenn man in den
Disziplinargesellschaften »nie aufhörte anzufangen« (in
Schule, Kaserne, Fabrik), so wird man in der Kontrollgesellschaft »nie mit irgendetwas fertig«: Unternehmen,
Weiterbildung und Dienstleistung, allesamt Zustände einer
Modulation (Deleuze 1993, 257). Während sich das Individuum also in mehreren Einschließungen zugleich wieder findet
und sich fragt, ob es genug ist – »Bin ich fit genug?«, »Bin ich
gesund genug?« etc. –, scheinen die Institutionen an der
Kostenfrage zu scheitern. Und so befinden sich mehr als ein
Jahrzehnt nach dem Erscheinen des Postskriptums die beschriebenen Institutionen immer noch in der Reformphase, eine
Konsolidierungsphase scheint nicht absehbar. Das heißt,
Institutionen und »Leute« sind nach wie vor in einer Art
Wartelounge platziert, deren wiederkehrende Funktion die reibungslose Durchführung von Restrukturierungsmaßnahmen ist.
»Bin ich gut genug?« Das bleibt als Frage neben vielen anderen, die allesamt um die Kardinalsfrage kreisen: »Habe ich
genug dafür getan?« Denn die jüngsten Entwicklungen lassen
den nahe liegenden Schluss zu, dass die Disziplinierung heute
nur Effizienz und Produktivität zeitigt, wenn Sie im Namen der
Prävention statt findet. Ob marode Gesundheitssysteme oder
das Problem der Vollbeschäftigung, auf alles scheint die
Prävention eine Antwort zu bieten. Vorsorge ist die Devise in
dem einen Fall, also gesunde Ernährung, Fitness usw. usf, und
Employability als die eigenverantwortlich sichergestellte
SatzBakic.qxd
182
27.02.2008
17:19
Seite 182
Prävention und Disziplinierung
Beschäftigungsfähigkeit im anderen. Gemeinsam ist beiden der
Umstand, dass das Individuum im Zuge der Selbstdisziplinierung dafür die (Vor)Sorge und Verantwortung zu tragen hat,
die gegenwärtig scheinbar unumstößlichen anthropologischen
Eigenschaften sein eigen zu nennen. Wie Frigga Haugg in einer
Kritik so treffend herausarbeitet handelt es sich dabei um die
Bereitschaft zu den drei Rs nämlich »rennen, rackern, rasen«
und das Aufweisen der vier Fs »fit, fähig, flexibel, fantastisch«.
(Vgl. Haugg 2003) Für das Praxisfeld Sozialarbeit ist das auf
den ersten Blick erfreulich, gibt es hier genug zu tun, zu beraten, zu aktivieren und zu stützen. Auf den zweiten Blick wird es
wohl immer wichtiger, sich darüber im Klaren zu werden, was
die eigentliche Profession ausmacht, denn die gesellschaftlichen Entwicklungen und politisch gefällten Entscheidungen
mit all ihren Folgen kann Sozialarbeit nicht abfedern. Um so
mehr scheint ein Rückgriff auf Gesellschaftstheorie unabdingbar, soll Burnout nicht als professionelle Selbstverständlichkeit
zur akzeptierten Norm werden.
Anmerkungen
1
Hierbei ist die direkte Beziehung zwischen dem Gesetzesbrecher und
dem Souverän von Bedeutung. Nicht nur ist der Souverän zur
Aufklärung des Tatbestands und Einleitung der Ahndung verpflichtet,
er ist auch das eigentliche Opfer des Verbrechens. Insofern es sich um
seine Gesetze handelt, die überschritten werden, ist es seine absolute
Macht, die untergraben wird. Mit der Peinigung bzw. dem Tode des
Täters erlischt die Schuld. Die öffentliche Hinrichtung oder das
Brandmal inklusive des obligaten Zur-Schau-Stellens der körperlichen Verstümmelungen wie auch die eventuelle Beteiligung des
Volkes an der Sühne heben den angegriffenen Herrscher wieder auf
seinen rechtmäßigen Platz der Souveränität (vgl. Foucault 1995a).
2
Alain Ehrenbergs These vom erschöpften Selbst als Kennzeichen der
Gegenwart lässt sich als eine Bestätigung dieser These anführen.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 183
Prävention und Disziplinierung
183
Demnach leidet das Selbst derzeit an Erschöpfung und Depression,
weil es – nach dem Aufweichen der autoritären Disziplinarmechanismen zugunsten der persönlichen Initiative – nun die
Verantwortung für die erfolgreiche Gestaltung seines Lebens selbst
tragen muss: »Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist
erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.«
(Ehrenberg 1998, 4). Siehe dazu auch Ulrich Bröcklings Das unternehmerische Selbst (2007).
3
Althusser unterscheidet die repressiven Staatsapparate von den ideologischen, indem er ihnen eine »auf der Gewalt funktionierende
Grundlage, zumindest im Ernstfall«, zuschreibt. Dazu zählen Armee,
Polizei, Gerichte und Gefängnisse, also Institutionen, die in den
1970er Jahren noch klar dem öffentlichen Sektor zugeordnet werden
konnten, während die ideologischen Staatsapparate größtenteils »privat« schienen, etwa »die Kirchen, die Parteien, die Gewerkschaften,
die Familien, einige Schulen, die Mehrzahl der Zeitungen, die kulturellen Unternehmungen usw. usf.« (Althusser 1977, 120). Beide
Formen des Staatsapparates funktionieren zwar auf repressiver wie
ideologischer Grundlage, allerdings lassen sich Tendenzen ausmachen, die eine Unterscheidung ermöglichen: »Der (repressive)
Staatsapparat funktioniert als solcher nämlich auf massive Weise in
erster Linie auf der Grundlage der Repression (die physische inbegriffen), während er nur in zweiter Linie auf der Grundlage der
Ideologie arbeitet (es gibt keinen rein repressiven Apparat)« (ebd.,
121).
4
Mit »Ablösung« ist jedoch nicht notwendigerweise eine zeitliche
Reihenfolge angedacht, vielmehr geht es um Bedeutung und
Wirksamkeit. Deleuzes Modell ist ein Schichtenmodell, das die
Gleichzeitigkeit der Wirkungsweise von der Macht unterschiedlicher
Gesellschaften denkmöglich macht: »Es könnte sein, daß alte Mittel,
die den frühen Souveränitätsgesellschaften entlehnt sind, wieder auf
den Plan treten, wenn auch mit den nötigen Anpassungen« (Deleuze
1993, 261).
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 184
184
Prävention und Disziplinierung
Literatur
Althusser, Louis (1977 [1965]): Ideologie und ideologische Staatsapparate.
Hamburg/Westberlin.
Ballauf, Theodor/Schaller, Klaus (1970): Pädagogik. Eine Geschichte der
Bildung und Erziehung. Band II: Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert.
Freiburg/München.
Berlin, Isaiah (1995): Freiheit. Vier Versuche. Frankfurt am Main.
Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Frankfurt am
Main.
Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In:
Ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt am Main, 254-262.
Ehrenberg, Alain (2004 [1998]): Das erschöpfte Selbst. Frankfurt am
Main.
Foucault, Michel (1995b [1975]): Überwachen und Strafen. Frankfurt am
Main.
Foucault, Michel (1996 [1980]): Der Mensch ist ein Erfahrungstier.
Frankfurt am Main.
Foucault, Michel (1997 [1976]): Der Wille zum Wissen. Sexualität und
Wahrheit I. Frankfurt am Main.
Foucault, Michel (2002): Die Strafgesellschaft. In: Defert, Daniel et al.
(Hg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et écrits. Band
II, 1970-1975. Frankfurt am Main, 568-586.
Haug, Frigga (2003): ›Schaffen wir einen neuen Menschentyp‹. Von Henry
Ford zu Peter Hartz. Argument 252, Berlin, 606-617.
Holert, Tom/Terkessidis, Mark (1996): Mainstream der Minderheiten. Pop
in der Kontrollgesellschaft. Berlin.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W: (2000 [1944]): Dialektik der
Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main.
Ribolits, Erich (1997): Die Arbeit hoch? Wien.
Schäfer, Alfred (2005): Einführung in die Erziehungsphilosophie.
Weinheim/Basel.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 185
Profession und Geschlecht
Margrit Brückner
Ermöglichungen und Grenzen postmoderner
Vielfalt diesseits und jenseits von Professionalität
Geschlecht scheint auf den ersten Blick in europäischen
Gesellschaften an Bedeutung verloren zu haben, denn die
Geschlechterverhältnisse vervielfältigen sich. Es herrscht nicht
nur jeweils ein Männer- und ein Frauenbild vor, sondern verschiedene Formen des Mann- respektive Frauseins sind möglich, bis hin zu dekonstruktivistischen Vorstellungen, nach
denen Geschlecht als aufzuhebende soziale Konstruktion gesehen wird. Auf den zweiten Blick gibt es neben all den postmodernen Bewegungen eigentümliche Konstanten im Geschlechterarrangement, Bereiche, in denen sich wenig bis gar nichts
verändert hat: Die Mächtigen in Wirtschaft und Politik sind
nach wie vor fast ausschließlich männlichen Geschlechts.
Männer arbeiten in besser bezahlten Branchen und verdienen
mehr als Frauen, selbst bei gleicher Ausbildung – auch in der
Sozialen Arbeit. Wobei es zumeist Frauen sind, die erzieherische, pflegende und soziale Berufe wählen. Familienarbeit wird
unabhängig von Erwerbstätigkeit ganz überwiegend von
Frauen wahrgenommen – auch in den meisten egalitär gesonnenen Beziehungen. Daher gibt es weiterhin geschlechtsspezifische soziale Problemlagen. (vgl. Brückner 2003).
Allen weitreichenden Veränderungen im Geschlechterverhältnis in den letzten hundert Jahren zum Trotz erweist sich
Geschlecht weiterhin als zentrale Kategorie zur Analyse gesellschaftlicher Prozesse und individueller Handlungs- und
Deutungsmuster. Von der Frauen- und Geschlechterforschung
wird Geschlecht verstanden als sozial konstruiert – im
Gegensatz zu biologisch vorgefunden, als kontextuell verankert
SatzBakic.qxd
186
27.02.2008
17:19
Seite 186
Profession und Geschlecht
und historisch variabel. Geschlecht zeigt sich auf zwei verschiedene Ebenen, die einander bedingen:
•
•
In die gesellschaftliche Struktur ist eine hegemoniale
männliche Geschlechterordnung eingelassen, die historisch
und kontextuell variabel ist, denn die Geschlechterbilder
haben sich beträchtlich gewandelt, aber die männliche
Vorherrschaft ist ökonomisch, politisch und sozial erhalten
geblieben (vgl. Becker-Schmidt/Knapp 2000).
Auf der Subjektebene erweist sich Geschlecht durch alltägliche Geschlechtszuweisung und -darstellung als wesentlicher Teil der sozialen Praxis (vgl. Gildemeister 2001).
Obwohl durch die Individualisierung der Lebenslagen
Frau-Sein und Mann-Sein heute vielfältiger gestaltbar ist,
kommt »doing gender«, der Übernahme und Ausgestaltung
geschlechtsspezifischer Muster, weiterhin eine identitätsrelevante und somit auch beruflich prägende Bedeutung zu.
Die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Judith Lorber
(1999) hat vor knapp zehn Jahren eine »De-Gendering«
Debatte angestoßen, die es gilt, für Soziale Arbeit fruchtbar zu
machen: Eine Entgeschlechtlichung gesellschaftlicher Strukturen, um Demokratisierungsprozesse im öffentlichen und im
privaten Raum voranzutreiben. Meines Erachtens bedeutet das:
»Re-Gendering« im Sinne des Sichtbarmachens von Geschlecht dort, wo Geschlecht drin ist, aber nicht drauf steht, um
den geschlechtsspezifischen Gehalt (z.B. sozialpolitischer
Maßnahmen) sichtbar zu machen und »De-Gendering« im
Sinne der Zurückweisung von Geschlechtszuweisungen dort,
wo diese an Entwertung gekoppelt ist oder mit Einengung einhergeht (z.B. unbezahlte Familienarbeit von Frauen) (vgl.
Brückner 2006). Gleichzeitig dürfen andere gesellschaftliche
Differenzmechanismen wie Schichtzugehörigkeit und Ethnie
mit ihrem jeweiligen Potential an sozialer Ungleichheit nicht
aus dem Auge verloren werden (vgl. Knapp 2005).
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Profession und Geschlecht
Seite 187
187
Zusammenfassend bedeutet die kategoriale Einbeziehung von
Geschlecht in Analysen und Handlungsformen Sozialer Arbeit,
die strukturellen gesellschaftlichen Auswirkungen von
Geschlecht zu erfassen und die Modi der Herstellung von
Geschlecht durch die Subjekte zu benennen, um – auf der Basis
demokratischer Prinzipien wie Gleichheit – an einer gerechteren Geschlechterordnung durch Kritik an den Geschlechterverhältnissen und durch geschlechterbewusste Ansätze mitzuwirken. Dabei gilt es, ein geschlechtertheoretischen Ansätzen
innewohnendes Problem zu beachten: So hoch der Erkenntnisgewinn von Geschlecht als soziale Kategorie ist, enthält die Thematisierung von Geschlecht jedoch immer die
Gefahr, Geschlecht als differenzierende Kategorie zu bestärken
und das Denken in bi-polaren Mustern von Weiblichkeit und
Männlichkeit zu verfestigen, statt diese zu kritisieren (vgl. Rose
2007).
Sichtbare und unsichtbare geschlechtsspezifische
Grundlagen der Profession Soziale Arbeit
Von der Entstehung bis zum heutigen Tage spielt Geschlecht in
der professionellen Entwicklung Sozialer Arbeit eine zentrale
Rolle. Soziale Arbeit war lange ein von Männern weitgehend
ignoriertes Feld, das Frauen aufgrund ihrer kulturell angenommenen und lebensgeschichtlich vorhandenen Nähe zu
Fürsorglichkeit geformt haben. Die ersten Ausbildungsstätten
wurden vor hundert Jahren von Frauen gegründet und boten
sozial engagierten, bürgerlichen Frauen eine Chance qualifizierter Betätigung (vgl. Maurer 2001). Ebenso wurden die
ersten theoretischen Ansätze zur Notwendigkeit einer systematischen Fürsorge – angesichts sich verschärfender Klassengegensätze und entsprechender Konflikte – in Europa und den
USA von Frauen veröffentlicht (vgl. Staub-Bernasconi 1989).
Pionierinnen wie Jane Addams, Ilse Arlt oder Alice Salomon
SatzBakic.qxd
188
27.02.2008
17:19
Seite 188
Profession und Geschlecht
waren theoretisch interessierte und politisch motivierte Frauen,
die ihre gesellschaftskritischen Ansätze im Kontext einer nationalökonomischen Analyse und ihre Praxis in engem
Zusammenhang mit der sozialreformerischen und der
Frauenbewegung entwickelten (vgl. Böhnisch/Schröer/
Thiersch 2005). In ihren Theorien und Handlungsansätzen steht
die Suche nach einer Gesellschaft mit menschlichem Antlitz
(auf der Basis vorhandener Macht- und Besitzverhältnisse) im
Mittelpunkt, die sich als damalige Suche nach einer Art
»Drittem Weg« zwischen Sozialismus und Kapitalismus interpretieren lässt. Im Zuge der Institutionalisierung und
Verwissenschaftlichung haben diese Frauen der Ersten Stunde
jedoch zunehmend an Anerkennung für ihre praxisbezogenen,
schulengründenden und wissenschaftlichen Leistungen eingebüßt. Je mehr Soziale Arbeit zur staatlich geplanten und rechtlich kodifizierten Aufgabe sozialer Sicherung wurde und je
stärker Soziale Arbeit in Hochschule und Wissenschaft eingebunden ist, desto häufiger sind Männer in Planung,
Entwicklung und Theorie öffentlich präsent, während Frauen
weiterhin die große Mehrheit der Praktikerinnen stellen (vgl.
Rauschenbach/Züchner 2001). Daher ist immer noch aktuell,
was Christoph Sachße für die 1920er Jahre konstatiert: »Soziale
Arbeit veränderte sich (...) von einem Konzept weiblicher
Emanzipation zu einem Dienstleistungsberuf unter männlicher
Leitung« (Sachße 2001, 679).
Anfang des letzten Jahrhunderts hat die gemäßigte erste
Frauenbewegung das Konzept »geistiger Mütterlichkeit« entwickelt, in dem Frauen für soziale Berufe prädestiniert erscheinen. Das grenzüberschreitende dieser Position lag darin, dass
die Erweiterung des Mütterlichkeitsbegriffs gebildeten Frauen
den Schritt aus der Familie ermöglichte. Die begrenzende Seite
dieses Konzepts – eine enge Verknüpfung sozialer Berufe mit
Weiblichkeit und mütterlichem Handeln – stellt jedoch bis
heute ein Problem dar, weil die geschlechtsspezifische
Konstruktion der Abwertung dieser Berufe als sogenannte
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Profession und Geschlecht
Seite 189
189
Semi-Professionen dient (vgl. Rabe-Kleberg 1996). Das kann
so weit gehen, dass selbst die bisher erreichte Qualifikationsstufe immer wieder politisch zur Disposition steht,
indem professionelle Aufgaben ins Ehrenamt verschoben oder
in ungelernte Tätigkeiten zurückverwandelt werden. Daher
bedürfen soziale Berufe einer eigenen Definitionsmacht und
Kontrolle über ihren Bereich, die es dann auch wahrzunehmen
gilt. Sorgetätigkeiten in der professionellen sozialen Praxis
müssen als Qualität anerkannt und normativ positiv besetzt
werden, ohne diese wieder im Sinne »geistiger Mütterlichkeit«
moralisch aufzuladen: Das heißt, Dekonstruktion der
Geschlechtszentrierung Sozialer Arbeit und Zugänglichmachen
für beide Geschlechter (vgl. Schimpf 2002).
Das Besondere in sozialen und pflegerischen Bereichen im
Vergleich zu männlich konnotierten Berufen ist, dass letztere
zumeist hoch strukturiert und in ihrem Aufgabenbereich klar
definiert sind, während erstere selbst auf professioneller Ebene
einen Grad von Diffusität und Allzuständigkeit beibehalten.
Die für Soziale Arbeit benötigten Fähigkeiten werden traditionell zwischen »natürlicher« Menschenliebe und wissenschaftlich fundierten Methoden angesiedelt (vgl. Zander et al. 2006).
Professionelle Befähigung zur Beziehungsarbeit – mit Kindern
oder mit Erwachsenen in schwierigen Lebenslagen – erhält eine
ähnlich geringe Wertschätzung wie Hausarbeit: beide finden
wenig Beachtung solange sie problemlos funktionieren und
dadurch unsichtbar sind. Anders als Tätigkeiten in männlich
konnotierten Professionen werden personenbezogene Hilfe und
Sorgen kulturell höher bewertet, wenn sie nicht professionell,
sondern privat geleistet werden. Professioneller Sozialer Arbeit
haftet daher häufig ein Makel an: bezogen auf die
Sorgebedürftigen, dass sie eine bezahlte Kraft nötig haben und
bezogen auf Sorgetragende, dass sie diese Arbeit nicht umsonst
und zeitlich unbegrenzt machen. Beides Phänomene, die es so
in männlich konnotierten Professionen typischerweise nicht
gibt, da diese historisch sehr viel früher vom Haus abgekoppelt
SatzBakic.qxd
190
27.02.2008
17:19
Seite 190
Profession und Geschlecht
wurden und weniger an »Liebesdienste« anknüpfen (vgl.
Brückner 2004).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in einer geschlechtszentrierten Gesellschaft das Verhältnis von Beruf und
Geschlecht bedeutungsvoll für den Stellenwert eines jeden
Berufes ist. Soziale Arbeit fällt dabei aus zweierlei Gründen aus
der normierten Welt der Professionen heraus. Sie beschäftigt
sich erstens weniger mit einem fest umrissenen Aufgabengebiet
in Alleinzuständigkeit, sondern ist vor allem zuständig für das
Ausgeschlossene (wie nicht versicherte Lebensrisiken und von
Ausschluss bedrohte Menschen). Soziale Arbeit bezieht sich
zweitens auf den Alltag und findet zumeist in der Lebenswelt
der Menschen statt. Beides macht Soziale Arbeit jedoch nicht
zu einer Semi-Profession, sondern zu einer Profession, welche
die herrschenden Normierungen von Professionalität in Frage
stellt. Der derzeitige Blick auf Soziale Arbeit als effektive und
effiziente Dienstleistung, die gemanagt und gesteuert werden
muss, läuft Gefahr, den Beziehungsaspekt Sozialer Arbeit aus
dem Auge zu verlieren, ohne dessen Berücksichtigung keine
Empowermentstrategien und keine Selbsthilfeansätze wirksam
werden können. Soziale Arbeit als Profession steht daher
immer auch für die Wertschätzung zwischenmenschlicher
Interdependenz.
Aktuelle Entwicklungen
Sozialer Arbeit als Profession
Derzeit lassen sich jedoch im Zuge emotionaler Entleerung
sozialer und pflegender Berufe – durch männlich konnotierte
betriebswirtschaftliche Prioritätensetzungen und entsprechend
zweck-mittel orientierten rationalen Zielsetzungen – vielfältige
Kehrtwendungen beobachten: Zeit- und kostenaufwendige
Fürsorglichkeit und Beziehungsorientierung drohen dem Credo
der Kurzfristigkeit und der Distanzwahrung als neuer
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Profession und Geschlecht
Seite 191
191
Königsweg der Professionalität zum Opfer zu fallen (vgl.
Waerness 2000). Im von Frauen dominierten, klientennahen
Bereich hat sich eine neue Arbeitsteilung entwickelt, indem auf
der einen Seite sozialpädagogisch gut ausgebildete
Professionelle mit zunehmend auf Steuerung ausgerichteten,
inhaltlich und zeitlich eingegrenzten Aufgabengebieten und
sehr beschränkten, persönlich distanzierten Kontakten zu den
AdressatInnen stehen. Auf der anderen Seite finden sich ungelernte Kräfte (häufig mit Migrationshintergrund) wie
Putzfrauen und HausmeisterInnen sowie Frauen mit
Kurzausbildungen wieder, die aufgrund sozialer Nähe und ihrer
Tätigkeit häufig in Anwesenheit der AdressatInnen für die allgemein menschliche Seite, wie alltägliche Gespräche und
Mitgefühl, sorgen.
Zur Sicherung vorherrschender Professionalitätsvorstellungen
auf der Basis curricularer Wissensbestände scheint es am einfachsten, schwer fassbare Dimensionen zwischenmenschlicher
Bindung als Teil der Professionalität in sozialen und pflegerischen Berufen aufzugeben und durch instrumentelles Handeln
zu ersetzen. Dann gehen allerdings auch Bedürfnisse der
AdressatInnen nach persönlicher Anerkennung und die
Möglichkeit, eine haltende Funktion im Sinne von Winnicott
(1990) einzunehmen (d.h. schwer auszuhaltende Situationen
innerlich mit zu tragen und somit Beistand zu leisten), verloren.
An beziehungsorientierten Fragen dieser Art setzen Theoretikerinnen wie Kari Waerness (2000) an, indem sie eine wissenschaftliche Verortung von Beziehungsarbeit zum zentralen
Bestandteil personenbezogener Fürsorge und Pflege machen.
Waerness geht von der Notwendigkeit einer »Fürsorgerationalität« aus, die sie zweckrationalen Vorgehensweisen
gegenüberstellt und die sie definiert als: Verständigung über
und Abstimmung von Bedürfnissen und Sichtweisen sowie ausreichend Zeit und Raum, um eine gemeinsame Arbeitsgrundlage zu schaffen. Diese zwischenmenschliche Dimension
jeder Sorgetätigkeit, ob in der Sozialen Arbeit, der Pflege oder
SatzBakic.qxd
192
27.02.2008
17:19
Seite 192
Profession und Geschlecht
im Erziehungsbereich muss nach Waerness seiner Naturalisierung und Geschlechterzuweisung enthoben und neu in
die Profession integriert werden.
Zusammenfassend zeigen Geschichte und Gegenwart Sozialer
Arbeit eine enge Verquickung von Geschlecht und Profession
durch den Wirkungszusammenhang gesellschaftlich vorgegebener Geschlechterordnung und durch die sozialen Praxen von
Frauen und Männern. Aufgrund enger geschlechtlicher Rahmenbedingungen und innerer Überzeugungen sind die Pionierinnen
Sozialer Arbeit den gesellschaftlich vorgegebenen Weg geschlechtlicher Besonderung weitergegangen. Heute können
Fürsorge-, Erziehungs- und Pflegeaufgaben (personenbezogene
soziale Dienstleistungen) als strukturell geschlechtsunabhängig
gesehen werden, indem als selbstverständlich erachtete, Frauen
zugeschriebene Fähigkeiten auf eine professionelle Ebene transferiert und offizieller Bestandteil des Arbeitsauftrages werden.
Entsprechend gilt es, das vorherrschende Männerbild so zu
erweitern, dass Sorgetätigkeiten integrierbar sind, und Männer
müssen ausreichend Möglichkeiten zu einer entsprechenden
sozialen Praxis erhalten. Die hohe Präsenz von Frauen und die
historische Verquickung des Berufs mit Frauen zugewiesener,
unbezahlter Arbeit in Haus und Familie hat zur Abwertung
Sozialer Arbeit im Verhältnis zu anderen Professionen geführt,
weshalb bei Professionsdiskursen zumeist die weibliche
Tradition ausgeklammert wird. Professionen wohnt ein männliches Verhältnis zu Arbeits- und Lebensbedingungen inne: ungehinderter Zugang zu Bildung, Spezialisierung und berufliche
Selbstkontrolle, Befreiung von reproduktiven Tätigkeiten und
ähnliches. Traditionelle Professionsvorstellungen greifen bezogen auf Soziale Arbeit zu kurz, da sie eine klare Trennung zwischen »System und Lebenswelt« (Habermas) voraussetzen, während die Qualität der Profession Sozialer Arbeit gerade darauf
beruht, Übergänge herzustellen, d.h. AdressatInnen Lebenschancen durch Zugänge zu persönlichen und gesellschaftlichen
Ressourcen sowie durch Beziehungsangebote zu eröffnen.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Profession und Geschlecht
Seite 193
193
Sichtbare und unsichtbare geschlechtsspezifische
Grundlagen Sozialer Politik
als Rahmenbedingungen professioneller
Sozialer Arbeit
Soziale Arbeit trifft auf sehr unterschiedliche Einkommensund Armutssituationen von Frauen und Männern, die entsprechend verschiedene Bedarfe haben, auch wenn durch
Arbeitslosigkeit, Reduktion versicherungspflichtiger Vollzeitarbeitsplätze und Abbau des Sozialstaates Angleichungen zwischen den Geschlechtern stattfinden. Da sich die Sozialversicherungsleistungen am männlichen Lebensmodell orientieren – lebenslange, versicherungspflichtige Vollerwerbstätigkeit, sind Frauen durch Familienarbeit häufig nur halbtags oder
geringfügig beschäftigt, wodurch sie strukturell schlechter
gestellt sind (vgl. Geißler 2002). Dass familiale und informelle
Sorgetätigkeiten (zumeist) von Frauen einen signifikanten Teil
wohlfahrtsstaatlicher Leistungen ausmachen, bleibt dabei politisch fast völlig unbeachtet.
Wurde Soziale Arbeit zu Zeiten des sozialstaatlichen Ausbaus
in den 1970er/80er Jahren noch als Teil gesellschaftlichen
Ausgleichs und des Demokratisierungsprozesses gesehen, stehen Sorgetätigkeiten aller Art heute für das Gegenteil von
Fortschritt, Emanzipation und Individualität (vgl. Bauer/
Gröning 2000). Daher gilt es, die geschlechtliche Bindung
Sozialer Arbeit aufzulösen, nicht um Frauen und ihre
Tätigkeiten zum Verschwinden zu bringen, sondern um die
Konsequenzen sichtbar zu machen, wenn Sorgetätigkeit einem
Geschlecht und noch dazu dem nachrangigen zugeordnet wird:
•
•
Sozialer Arbeit wird wenig Wert zugemessen, weil sie
Frauenarbeit ist und sie wird Frauen überlassen, weil sie
wegen ihrer Nähe zur Hausarbeit keinen Machtfaktor darstellt;
Soziale Arbeit widerspricht mit ihrer Hilfeleistung dem
SatzBakic.qxd
194
27.02.2008
17:19
Seite 194
Profession und Geschlecht
Ideal des unabhängigen Individuums, das sich selbst hilft
und immer als männlich gedacht war.
Unterschiedliche Entwicklungspfade sind bezogen auf soziale
Aufgaben der Erziehung, Fürsorge und Pflege– ob in einem
Sozialberuf oder als private Tätigkeit in der Familie – denkbar
(vgl. Gottschall/Pfau-Effinger 2002):
•
•
•
Soziale Aufgaben organisiert als professionelle Sorgetätigkeit von ausgebildeten Kräften im Kontext öffentlicher
Dienste (wie vor allem in Skandinavien),
Soziale Aufgaben organisiert als marktförmige Dienstleistungen von gering Qualifizierten (häufig Migrantinnen) im
Niedriglohnsektor (wie insbesondere in den USA) oder
Soziale Aufgaben organisiert als Mixmodell mit einem vergleichsweise geringen Anteil professioneller sozialer
Dienstleistungen und einem relativ hohen Anteil familialisierter, sozialstaatlich qua Steuerpolitik und Transferzahlungen gestützter Arbeit, zunehmend ergänzt durch
Schattenarbeit in der Kindererziehung und privaten Pflege
(wie charakteristisch für Deutschland und Österreich).
Aufgrund massiver, sozialstruktureller Veränderungen bezogen
auf Formen des Zusammenlebens, Überalterung der Bevölkerung und zunehmende Teilhabe von Frauen am
Arbeitsmarkt, wächst die Notwendigkeit, in zu erweiterndem
Umfang Soziale Aufgaben als gesellschaftlich und nicht privat
zu lösende zu verstehen, so z.B. durch Ausbau diversifizierter
Kindereinrichtungen und Hilfeinstanzen für alte Menschen.
Real werden hingegen soziale Institutionen eher abgebaut oder
zumindest nur selten entsprechend ausgebaut, wodurch sich das
Defizit sozialer Aufgaben vergrößert und die Lücke zunehmend
gar nicht oder nur mit privaten Mitteln geschlossen werden
kann. Für eine vorausschauende Bedarfsentwicklung muss
Soziale Arbeit den weiteren Verlauf dieser durchaus wider-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Profession und Geschlecht
Seite 195
195
sprüchlichen Entwicklungsprozesse mit seinen jeweiligen
geschlechtsspezifischen Wirkungen analysieren und entsprechende Hilfeplanungen vorantreiben.
Als angemessenes Modell (»warm modern model«) für die
Bewältigung sich wandelnder sozialer Aufgaben sieht Arlie
Hochschild (1995) eine nach den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen gestaltete Aufgabenteilung zwischen
gesellschaftlichen Institutionen und privaten Angeboten der
Fürsorge und Pflege sowohl von Frauen als auch von Männern.
Wenn eine Vernetzung zwischen den verschiedenen Anbietern
und Interessengruppen sichergestellt wird, bleibt auch für privat Sorgende gesellschaftliche Teilhabe im Sinne einer
Angebundenheit und einer Entschädigung weiter möglich. Die
Grenzen persönlicher Entscheidungsfreiheit – Sorgeaufgaben
zu übernehmen oder es nicht zu tun – liegen nach Hochschild
sowohl in jeweiligen ökonomischen Zwängen als auch da, wo
sie soziale Gerechtigkeit tangieren. Dann sind kollektive
Lösungen erforderlich, für die allerdings ein breiter Konsens
angesichts der Pluralisierung von Lebenslagen und sozialen
Polarisierungen schwieriger wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Sozialpolitik europäischer Wohlfahrtsregime einen mehr oder weniger stark ausgeprägten Geschlechter-Bias aufweist: Auf der strukturellen
Ebene dominiert ein an männlicher Normalität orientiertes
Modell sozialer Sicherheit, indem lebenslange, ganztägige
Erwerbsarbeit Voraussetzung für eine ausreichende, nicht
bedürftigkeitsbezogene Soziale Sicherung darstellt. Auf der
subjektiven Ebene dominiert die Vorstellung von Sorgetätigkeit
als Frauenarbeit, die als nicht passend für Männer angesehen
wird und entsprechend schlecht oder gar nicht bezahlt ist.
SatzBakic.qxd
196
27.02.2008
17:19
Seite 196
Profession und Geschlecht
Geschlechterforschung als Beitrag zur
Überwindung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit
Solange Geschlechtszugehörigkeit ein zentrales Kriterium
gesellschaftlicher und persönlicher Verortung bleibt, muss die
Wirkung von Geschlecht analysiert und reflektiert werden, um
Wege zu erkunden, die Gleichberechtigung und gegenseitiger
Anerkennung näher kommen.
Ein derartiges Konzept stellt »Geschlechterdemokratie« dar,
welches an den Gedanken eines demokratischen Staatswesens
und einer demokratischen zivilen Gesellschaft anknüpft und
Geschlechterungleichheit als undemokratisch betrachtet (vgl.
Diaz 2001). Geschlechterdemokratie erfordert Bildungsansätze, die Akteure beider Geschlechter für eine gleichberechtigte Kooperation ausbildet. Ziel ist eine Flexibilisierung von
Geschlechterrollen durch den Abbau männlicher Dominanzstrukturen und die Aufgabe von Männlichkeit als hegemonialem Strukturprinzip. Dabei dürfen sich Demokratisierungsprozesse nicht auf Geschlecht beschränken, sondern müssen
andere Formen der Ungleichheit einschließen, ohne Geschlecht
aus dem Blick zu verlieren. Bezogen auf De- und ReGendering bedeutet dieses Konzept
•
•
»De-Gendering« im Sinne des Sichtbarmachens und
Reduzierens von Geschlechtergrenzen und -benachteiligungen sowohl in gesellschaftlichen Institutionen als auch
alltäglichen Lebenszusammenhängen;
»Re-Gendering« im Sinne des Bewusstmachens und der
Wertschätzung erworbener geschlechtsspezifischer Leistungen und des Vorhaltens geschlechtsbewusster sowie
geschlechtsspezifischer sozialer Angebote solange
Geschlecht als sozialer Platzanweiser fungiert.
Im Sinne eines geschlechterdemokratischen Ansatzes ist
Profession und Geschlecht in der Sozialen Arbeit ein Thema
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Profession und Geschlecht
Seite 197
197
mit unterschiedlichen, gleichermaßen wichtigen Facetten, denn
alle Felder Sozialer Arbeit bedürfen geschlechterbewusster
Ansätze und zudem braucht es je nach gesellschaftlicher
Situation kontextspezifisch angemessener, geschlechtsspezifischer Angebote, derzeit z.B. bezogen auf das Problem der
Gewalt im Geschlechterverhältnis. Auf der Erkenntnisebene ist
es wichtig, Geschlecht als Wirkfaktor zu analysieren, um nach
geschlechterübergreifenden Perspektiven zu suchen oder um
geschlechtsspezifische Aufgaben anzuerkennen. Auf der Ebene
der Lösung sozialer Probleme geht es neben der gleichgewichtigen Sicht auf die Lebenslage beider Geschlechter um das
Feststellen geschlechtsspezifischer Bedarfe und um die besondere Förderung von Frauen und Mädchen, solange keine
gleichwertigen Partizipationsmöglichkeiten auf allen gesellschaftlichen Ebenen gewährleistet sind. Dazu erforderlich ist
•
•
eine ausreichende Geschlechtersensibilität der Profession,
um Geschlechterdifferenzen und deren Wirkungen zu
erkennen,
eine Reflexion des eigenen professionellen »doing gender«
in Theorie und Praxis.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die besondere
Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die Profession Soziale
Arbeit sowohl im Aufspüren von Geschlechterdimensionen
bezogen auf strukturelle und biografische Benachteiligungen
liegt, als auch in der Rekonstruktion geschlechtsspezifischer
Leistungen, die sonst dem Vergessen anheim fallen und last not
least in der Entwicklung geschlechtergerechter Perspektiven.
Um als Profession diese Aufgaben bestmöglich wahrnehmen zu
können, bedürfte es der Aktivität auf verschiedenen Ebenen:
Einer stärkeren Einbeziehung und Kritik sozialpolitischer
Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit, einer selbstbewussteren
und fachpolitisch vernetzten Vertretung der frauenpolitischen
Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit einschließlich der
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
198
Seite 198
Profession und Geschlecht
daraus erwachsenden eigenständigen Entwicklung von
Handlungsmethoden und ein wissenschaftlich abgesichertes
Bestehen auf Sozialer Arbeit als beziehungsorientierter,
geschlechtersensibler Hilfeform.
Literatur
Bauer, Annemarie/Gröning, Katharina (2000): Der verborgene Bereich:
Gefühle in der sozialen Dienstleistungsarbeit und als Thema der
Supervision. In: Forum Supervision 16 (8), 20-34
Becker-Schmidt, Regina/Knapp, Gudrun-Axeli (2000): Feministische
Theorien. Hamburg
Böhnisch, Lothar/Schröer, Wolfgang/Thiersch, Hans (2005): Sozialpädagogisches Denken – Wege zu einer Neubestimmung. Weinheim/ München
Brückner, Margrit (2006): Geschlechterorientierte Sozialarbeit. »De«- und
»Re«-Gendering als theoretische und praktische Aufgabe. In: Dungs,
Susanne/Gerber, Uwe/Schmidt, Heinz/Zitt, Renate: Soziale Arbeit
und Ethik im 21. Jahrhundert. Leipzig, 553-564
Brückner, Margrit (2004): Der gesellschaftliche Umgang mit menschlicher
Hilfsbedürftigkeit. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 2
(29), 7-23
Brückner, Margrit (2003): Hat Soziale Arbeit ein Geschlecht? Gender als
Strukturkategorie (2003). In: König, Joachim/Oerthel, Christian/
Puch, Hans-Joachim (Hg.): Soziale Arbeit im gesellschaftlichen
Wandel. Con Social 2002, Starnberg, 187-202
Diaz, Victor Rego (2001): Geschlechterdemokratie. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Hg: Wolfgang Fritz Haug.
Hamburg, 489-493
Geißler, Rainer (2002): Die Sozialstruktur Deutschlands. Wiesbaden
Gildemeister, Regine (2001): Geschlechterforschung. In: Otto, HansUwe/Thiersch, Hans (Hg.): Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik.
Neuwied, 682-690
Gottschall, Karin/Pfau-Effinger, Birgit (2002): Einleitung: Zur Dynamik
von Arbeit und Geschlechterordnung. In: Dies. (Hg.): Zukunft der
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 199
Profession und Geschlecht
199
Arbeit und Geschlecht. Opladen, 7-28
Hochschild, Arlie Russell (1995): The Culture of Politics: Traditional,
Postmodern, Cold-modern and Warm-modern Ideals of Care. In:
Social Politics, 2 (3) 331-346
Knapp, Gudrun-Axeli (2005): »Intersectionality« – ein neues Paradigma
feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von »Race, Class,
Gender«. In: Feministische Studien. H.1, 68-81
Lorber, Judith (1999): Gender-Paradoxien. Opladen
Maurer, Susanne (2001): Soziale Arbeit als Frauenberuf. In: Otto, HansUwe/Thiersch, Hans (Hg.): Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik.
Neuwied, 1598-1604
Rabe-Kleberg, Ursula (1996): Professionalität und Geschlechterverhältnis.
In: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hg.): Pädagogische Professionalität. Frankfurt a. M., 276-302
Rauschenbach, Thomas/Züchner, Ivo (2001): Soziale Berufe. In: Otto,
Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hg.): Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik. Neuwied: 1649-1667
Rose, Lotte (2007): Gender und Soziale Arbeit. Hohengehren
Sachße, Christoph (2001): Geschichte der Sozialarbeit. In: Otto, HansUwe/Thiersch, Hans (Hg.): Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik.
Neuwied, 670-681
Schimpf, Elke (2002): Geschlechterpolarität und Geschlechterdifferenz in
der Sozialpädagogik. In: Göttert, Margit/Walser, Karin (Hg.): Gender
und soziale Praxis. Königstein/Taunus, 197-216
Staub-Bernasconi, Silvia (1989): Im Schatten von Riesen – warten auf
feministische Gesellschaftstheorie? In: Hoffmann-Nowotny, HansJoachim (Hg.): Kultur und Gesellschaft. Kongressband des
Internationalen Soziologiekongresses 1988. Zürich, 113-116
Waerness, Kari (2000): Fürsorgerationalität. In: Feministische Studien
extra: Fürsorge, Anerkennung, Arbeit. 18. Jg., 54-66
Winnicott, Donald W. (1990): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt.
Frankfurt am Main
Zander, Margherita/Hartwig, Luise/Jansen, Irma (Hg.) (2006): Geschlecht
Nebensache? Zur Aktualität einer Gender-Perspektive in der Sozialen
Arbeit. Wiesbaden
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 200
Qualität und Effizienz
Josef Bakic
Starkoch Bocuse setzt auf Fast Food
«Es wird Self-Service sein«, beschreibt Jean Fleury,
der für den Meisterkoch vier Brasserien betreibt,
die Geschäftsidee. «Unser Motto wird sein:
Qualität, Einfachheit, Effizienz.«
Der Meister habe einfach die
Zeichen der Zeit erkannt, so Fleury.
www.orf.at 23.01.2007
Effizienz und Qualität sind für sich genommen zunächst harmlose, nichts sagende, im jeweiligen Zusammenhang erst zu
bestimmende »Plastikwörter« (Pörksen 1988). Spannend wird
es dann, wenn der Bedeutungsaufladung dieser beiden
Zauberwörter im Bereich der Sozialen Arbeit nachgespürt wird,
denn das, was für die einfache und schnelle Küche als Rezept
gilt, muss ja nicht für alles gelten.
Qualität im allgemeinen Wortsinne bedeutet Beschaffenheit
oder Eigenschaft – kurz das Wesen eines Gegenstandes.
Alltagssprachlich wird Qualität mit »positiven« Eigenschaften
wie Güte, Zufriedenheit, Solidität und Gründlichkeit verbunden. Im praktisch wirtschaftlichen Sinn wird versucht, mit dem
Begriff Qualität eine Messbarkeit der erwünschten Kriterien zu
verbinden. Dabei wird Qualität als die Gesamtheit von
Eigenschaften und Merkmalen eines Produktes oder einer
Tätigkeit definiert, die sich auf deren Eignung zur Erfüllung
gegebener Erfordernisse beziehen (vgl. DIN/ÖNORM/ISO).
Als Produkt ist hier jede Art von Waren oder Rohstoffen, wie
auch der Inhalt von Entwürfen, Plänen und Projekten
zusammengefasst, während die Tätigkeiten verschiedenste
Dienstleistungen und Prozesse bezeichnen (vgl. Bakic 2006,
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Qualität und Effizienz
Seite 201
201
218f). Die Produkte oder Tätigkeiten selbst müssen im jeweiligen Kontext erst bestimmt werden. In den letzten Jahrzehnten
hat sich eine Vielzahl von Einrichtungen zur Feststellung von
Qualität in diesem Sinne etabliert, so etwa das österreichische
Normungsinstitut (ÖNORM), die internationale Standardisierungsorganisation (ISO/DIS 8402:1991) und das Deutsche
Industrie Normierungsinstitut (DIN 55350).
Effizienz im allgemeinen Wortsinn bedeutet Wirksamkeit, hat
in verschiedenen Fachbereichen jedoch unterschiedliche
Bedeutungen. Während sie etwa im technischen Bereich den
Wirkungsgrad eines bestimmten Verhältnisses definiert, beispielsweise die Relation eines Rohrdurchmessers zur beförderten Flüssigkeitsmenge, meint Effizienz in wirtschaftlicher
Hinsicht in der Regel einen Imperativ. Betriebswirtschaftlich
heißt dies z.B. dann ein Ziel mit möglichst geringem Aufwand
zu erreichen, volkswirtschaftlich hingegen z.B. die Ressourcen
optimal zu verteilen. Allgemein ist die Frage nach der Effizienz
eine Frage nach der Passgenauigkeit der Mittel zur Zielerreichung und daher nicht unabhängig von der Perspektive, die
dabei eingenommen wird.
Ursprünglich stammt die Idee der Normierung von
Qualitätskriterien aus dem militärischen Bereich sowie anderen
sensiblen Gebieten wie der friedlichen Nutzung von
Kernenergie, der Raumfahrt etc. Ausgehend von betrieblichen
Qualitätszirkeln in japanischen Unternehmen in den 1950ern
kam es in Europa in den 1980er Jahren zu ersten Qualitätsmanagementbestrebungen, die über eine bloße Produktionskontrolle im Fordschen oder Taylorschen Sinne hinausgingen.
Während in Japan eine intensivere Weiterentwicklung der
Maßnahmen im Qualitätssektor hin zu ganzheitlicheren
Verfahren, wie dem Total Quality Management, stattfand, wurden in Europa jene Verfahren verwendet, die auf Produkt- und
Prozessmessung bzw. -sicherung abzielten. Die zunächst größte Verbreitung fand das normierte Qualitätssicherungssystem
nach ISO 9000 (ff, nunmehr aktuell: ISO 9000ff:2000), das in
SatzBakic.qxd
202
27.02.2008
17:19
Seite 202
Qualität und Effizienz
vielen Institutionen das Herzstück der Qualitätsmanagementbestrebungen ausmacht. Ein entscheidender Grund für die
Einführung dieses Systems wird darin gesehen, dass die
Abnehmer von Waren oder Leistungen, den hohen Zeit- und
Kostenaufwand für die Prüfung der Güte einsparen. Dazu
wurde eine einheitliche ISO-Norm vereinbart, auf die sich
Abnehmer grundsätzlich verlassen können sollen. Als Träger
einer derartigen Norm soll auch der Hersteller damit im Vorteil
gegenüber seinen nicht zertifizierten Mitbewerbern sein. Damit
überprüft werden kann, ob die jeweilige Institution auch die
dafür vorgesehenen Normen einhält, werden eigene
Zertifizierungsbetriebe gegründet. Entscheidend für das
Ausweisen von Qualität wird also die Anerkennung durch eine
Zertifizierungsagentur, die ihrerseits ExpertInnen für das
Zertifizieren bereitstellt, nicht jedoch für das zu Zertifizierende.
Zum Eindringen fachfremder
Begriffsverständnisse in die Soziale Arbeit
Soziale und pädagogische Einrichtungen rücken seit den
1990ern als Ziele, die auch neuer Qualitätsmanagementmethoden bedürfen, ins Blickfeld. Dabei wurde und wird ein
Anspruch nach Veränderung eingefordert und somit implizit
vermittelt, dass diese Einrichtungen bisher kaum etwas oder zu
wenig für die Herstellung und Sicherung guter Arbeitsergebnisse geleistet hätten. Qualität als neue Perspektive für die
Ausrichtung pädagogischen und sozialarbeiterischen Handelns
scheint demnach Folge veränderter Prioritätensetzungen der
Bildungs- und Sozialpolitik zu sein: Unter den Chiffren
»Wettbewerb« und »Exzellenz« soll eine wie auch immer geartete Leistungs- und Ertragssteigerung durch Vergleichbarkeit
erzielt werden. Qualität und Effizienz werden im Verständnis
zusammengeschmolzen und immer wenn von Qualität die Rede
ist, wird auch schon auf Effizienz abgezielt.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Qualität und Effizienz
Seite 203
203
Die in der Sozialarbeit seit jeher herrschende Verunsicherung
bezüglich ihrer theoretischen Selbstvergewisserung öffnet einer
bereitwilligen Implementation der »Qualitätsdebatte« Tür und
Tor. Mit den eingeführten Qualitätsmanagementsystemen soll
eine Kostensenkung durch Effizienzsteigerung, ein ständiges
Erkennen von Verbesserungspotentialen und eine Entwicklung
hin zu Wettbewerbsorientierung im Spiegel der Marktwirtschaft
erfolgen. Damit einhergehend werden nun zur Überprüfung der
Qualität und Effizienz sozialer Arbeit Steuerungsmodelle aus der
Industrie herangezogen, die auf durch Ursache – Wirkungszusammenhänge definierte technologische Verfahren abgestimmt sind (vgl. Bakic/Diebäcker/ Hammer 2007a). Eine sozialarbeitsspezifische Argumentation wird hier weder eingefordert
noch beachtet, obgleich dieser Diskurs auf eine Bewertung der
Sozialen Arbeit in unterschiedlichen Anwendungsbereichen
abzielt, also ihre Güte feststellen möchte und somit zu einem
genuin fachlichen Problem wird (vgl. Köpp/Neumann, 2003 98f;
Galiläer 2005, 12 bzw. 107ff). Bei der Analyse dieser
Entwicklung zeigt sich auch, dass immaterielle Bereiche der
Versorgung und Betreuung, also Schutz, Bildung, Erziehung und
Kultur deswegen standardisiert werden sollen, um etwa den
Anforderungen bei der Leistungsvergabe durch ein neu konstruiertes Ausschreibungswesen nach dem jeweiligen Vergabegesetz
gerecht zu werden, in dem Qualität und Effizienz zum
Entscheidungsfaktor werden (vgl. Bakic 2007, 78)1. Ganz allgemein wird hier jedenfalls davon ausgegangen, dass es eine externe Prüfvorstellung von richtig – also vorgabenkonform und sparsam – durchgeführter Sozialer Arbeit gäbe.
Der Begriff Qualität bietet sich hier als Zauberformel an. Als
eine aus der Wirtschaft gewohnte Messgröße wird sie mit darstellbaren Ergebnisziffern in Verbindung gebracht, mit deren
Hilfe günstige Kosten-Nutzen-Verhältnisse hergestellt werden
sollen. Die Darstellung dieser Messgrößen erfolgt in der Regel in
Form quantitativer Werte, Differenzierungen in der jeweiligen
besonderen Form der sozialarbeiterischen Tätigkeit sind hier nur
SatzBakic.qxd
204
27.02.2008
17:19
Seite 204
Qualität und Effizienz
sehr schwierig einzuführen und die Vergabe von Gewichtungskriterien liegt außerhalb der Zuständigkeit von Fachexpertinnen.
Die Konsequenzen der Effektivierung
menschlicher Handlungsvollzüge
Im Ansinnen, dass soziale Einrichtungen passfähiger und
ertragreicher werden sollen (vgl. Merchel 2003), wird die Zeitund Kostenfrage zu einem neuen Imperativ Sozialer Arbeit.
Finanziers sozialer Arbeit interessieren vorwiegend jene
Handlungen, die kurzfristig zu einem vorhersagbaren und berechenbaren Ergebnis führen. So wird nicht mehr gefragt, was für
die Soziale Arbeit ein sinnvoller Rahmen, sowohl zeitlich als
auch vom Aufwand her gesehen, wäre, sondern es werden in
der Regel betriebswirtschaftlich gedachte Kriterien als
Leitprinzip vorgegeben. Dieser Imperativ ›Optimiere!‹, der
dauerhafte Verbesserungsanspruch, ist Ausdruck politischer
Strategie, die das Subjekt einer Verfahrenskontrolle unterstellt,
die nicht auf eine Sache abzielt, sondern auf die Effektivierung
menschlichen Handelns als Technologie. Das wird etwa in den
Schriften der EU-Bildungskommision deutlich, wenn von der
Ausschöpfung des Humanressourcenpotentials gesprochen
wird (vgl. EU Bildungskommision 1995), was ja nicht unbedingt etwas Neues darstellt2. Dies führt mittlerweile soweit,
wie Michael Winkler einwirft, dass aus der Sozialen Arbeit heraus eigene Angebote kritisch unter die Lupe genommen werden, ob sie passgenau oder doch bereits eine ›Luxusvariante‹
seien, die wenig taugen angesichts der »realistischen
Perspektiven junger Menschen« (Winkler 2000, 152). Die
aktuelle Diskussion um Soziale Arbeit verkürzt sich dergestalt
auf die Frage nach der Passfähigkeit sozialarbeiterischer
Antworten auf gesellschaftlich markierte Problemlagen.
Die Versuche der Herstellung einer ökonomisch rationalen
Kontrolle zielen weiters auf messbare Ergebnisparameter ab,
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Qualität und Effizienz
Seite 205
205
die davon ausgehen müssen, dass Soziale Arbeit über kausal
wirkende Techniken zur Veränderung von Menschen verfügt.
Dieser Anspruch an Soziale Arbeit übersieht jedoch die
Offenheit von Bildungs- und Entscheidungsprozessen, die sich
allgemein im so genannten ›Technologiedefizit‹ Sozialer Arbeit
zeigen und von Michael Galuske als Akt der Selbsttäuschung
entlarvt werden, sollte man meinen, über absolut wirkende
Methoden zu verfügen (vgl. Galuske 2003, 60), da ihr dadurch
»jene auf die Bedingungen des Einzelfalls ausgerichtete, fachlich fundierte, gleichwohl offene Suchhaltung gegenüber dem
biografischen Eigensinn, den ›Besonderheiten‹ der Klienten
und ihrer Lebenslage, den Eigenheiten ihrer Lebenswelten und
ihrer sozialen Netzwerke« (Galuske/Müller 2002, 488) abhanden kommt. Es dürfte also ein fundamentaler Widerspruch zwischen dem fachlichen Anspruch Sozialer Arbeit und dem auf
betriebswirtschaftliche Kontrolle und Planbarkeit abzielendem
Qualitätsverständnis vorliegen.
Anstatt einer reflexiven Fachdiskussion erfolgt die Ausrichtung
an Zauberformeln und allseits Zustimmung findenden
Hülsenwörtern, wozu Qualität und Effizienz in herausragender
Weise zählen. Es fällt schwer, hier Kritik zu üben, ohne sich mit
dem Vorwurf konfrontiert zu sehen, realitätsfremd zu sein.
Qualität will schließlich jede/r, und zwar auf allerhöchstem
Niveau. Wer will schon von einer/m mittelmäßigen oder gar
mäßigen SozialarbeiterIn beraten oder betreut werden? Wer
möchte schon, dass am Ende einer sozialarbeiterischen
›Dienstleistungserbringung‹ ein Ergebnis steht, das nicht im
Entferntesten den Idealvorstellungen eines geglückten
Interventionsprozesses entspricht? Ebenso wird die aus
Werbesendungen allseits bekannte Forderung allgemein vorauszusetzen sein: Warum mehr bezahlen, wenn das gleiche
Produkt billiger zu haben ist?
Mit diesen, einfache Lösungen versprechenden Zugängen lässt
sich auch die zunehmend kritikfreie Einführung betriebswirtschaftlicher und managementorientierter Steuerungskonzepte
SatzBakic.qxd
206
27.02.2008
17:19
Seite 206
Qualität und Effizienz
in der sozialen Arbeit erklären, die konkrete Auswirkungen auf
die Arbeitsweise und das Arbeitsverständnis haben, und ihren
Niederschlag in der theoretischen Auseinandersetzung mit der
Sozialen Arbeit finden3. Otto Speck spricht hier bereits Ende
der 1990er von der Nötigung zur Wirtschaftlichkeit unter
Ausklammerung realer Anforderungen (vgl. Speck 1999, 12).
Diese Entwicklung führte in Deutschland zur Einführung neuer
Steuerungsmodelle bei den öffentlichen Jugendhilfeträgern und
zu neuen Anforderungen an Bereiche der Behindertenarbeit,
speziell an die Arbeit von Behindertenwerkstätten, die mit qualitätszertifizierten Firmen zusammenarbeiten und breitet sich
zunehmend auf alle Bereiche der Sozialen Arbeit aus. In Österreich sind ähnliche Entwicklungen etwas zeitversetzt zur deutschen Situation beobachtbar4.
Die Einführung von Maßnahmen zur Orientierung an Qualität
im Sinne der Sicherung und Messung geht Hand in Hand mit
der Diskussion um die Finanzierung der staatlichen
Sozialkosten und dem damit verbundenen Umbau des
Sozialstaates bzw. der Reform der öffentlichen Verwaltungen.
New-Public Management, strategisches bzw. operatives Controlling, Outputorientierung, Produktdefinitionen, Kontraktmanagement und ›Markt statt Staat‹ sind die heilsversprechenden Key-Words, die der öffentlichen Verwaltung und dem
Sozialwesen verordnet werden (vgl. Galiläer 2005, 112f).
Die Argumente, die diesen Paradigmenwechsel legitimieren
sollen, wurden in Deutschland, wie in Österreich gleichermaßen ins Treffen geführt: leere öffentliche Kassen und zu hohe
Sozialkosten. Eine Neuregelung des deutschen Sozialstaates
und die Reform der öffentlichen Verwaltungen werden konsequent durchgeführt, in Österreich wird dies seit Mitte der
1990er angestrebt und ab 2000 auf lokaler Ebene schrittweise
umgesetzt (vgl. Bakic/Diebäcker/Hammer 2008). Die Suche
nach dem Heilmittel mehr privat, weniger Staat als Lösung für
eine angebliche Finanzierungsproblematik favorisiert da wie
dort outputorientierte Steuerung sozialarbeiterischer Maß-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 207
Qualität und Effizienz
207
nahmen. In Deutschland gibt es hierfür ausgearbeitete
Produktkataloge (vgl. BMFSFJ 2000, 25ff) und für die
Bewilligung von Budgets sind die Einführung standardisierter
Controllingverfahren
sowie
ein
spezifisches
Kontraktmanagement im Zeichen von Qualität und Effizienz
vorgeschrieben.
Damit wird ein einseitiger Fokus auf Wirtschaftlichkeitsfragen
gelegt, denn bei all diesen Neuerungen wird vor allem geprüft,
ob das Ergebnis und der dafür notwendige Aufwand gerechtfertigt sind. Nikolaus Dimmel spricht in diesem Zusammenhang von wirkungsorientiertem Managerialismus: »what works
is good and true« (Dimmel 2007, 31). Gleichzeitig wird transportiert, dass die bisherige Arbeit im Verwaltungs- und
Sozialbereich nicht den zeitgemäßen Effizienzansprüchen
gerecht wird, wenn durch politische Vorgaben nicht Reformen
bloß um der Reformbekundung wegen durchgeführt werden.
Otto Speck findet die Antwort im allgemeinen Wehklagen über
den nicht mehr zeitgemäßen Wohlfahrtsstaat, der bereits Mitte
der Neunziger des zwanzigsten Jahrhunderts von deutschen
Politikern als Gefahr einer sozialen Dienstleistungskatastrophe
beschwört wird. Nach Warnfried Dettling (1995, 160) sei nicht
nur die Vergeudung von Ressourcen und Effizienzmängel zu
konstatieren, sondern vor allem das Vorbeiarbeiten an den
Bedürfnissen der Menschen.
»Der Grund liege in der Allzuständigkeit des Staates. Sie habe zu
einer Erstarrung der sozialen Dienste geführt. Diese seien heute so
organisiert, dass sie sich über ihre eigenen Ziele und Erfolgskriterien
nicht im Klaren seien, also weder aus ihren Erfolgen noch aus ihren
Fehlern lernen könnten.« (Speck 1999, 18).
Als Entgegnung dieser Vorwürfe kommt es zu einer bereitwilligen Aufnahme markterprobter Sicherungsmodelle.
Kriterien wie die gleichzeitige Beachtung des individuellen und
des Gemeinwohls, die Beachtung sozialer Logik jenseits eines
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 208
208
Qualität und Effizienz
Tauschwertes finden sich aber nicht an zentraler Stelle und die
›Prüfinstanzen‹ dazu wären wohl auch nicht die Verwaltungsexekutoren sozialstaatlicher Provenienz.
Wenn durch Qualitätssicherung als Grundlage von Leistungsbeschreibungen ein bewertender Vergleich zwischen verschiedenen Trägern ermöglicht werden soll, stellt sich in Folge die
Frage, ob in Zukunft nur noch der billigste Anbieter ausgewählt
werden soll? Dies stellt wohl ernsthaft in Aussicht, dass eine
Unterschiedlichkeit in der Gestaltung sozialarbeiterischer
Tätigkeit nicht nur nicht erwünscht, sondern unmöglich
gemacht werden soll. Es ist wohl so weit, dass die öffentliche
Verwaltung durch die Einführung einer wirtschaftsmarktangepassten Struktur sich eine Kostensenkung aufgrund eines künstlich forcierten Wettbewerbs erhofft. Wenn man sich die gegenwärtige Ausdünnung der Leistungsvergabe ansieht, kurz formuliert also mehr Arbeit um weniger Geld, dann lässt sich
erkennen, dass es hier um ein Ausloten der Möglichkeit von
Rationalisierung geht.
Die Diskussion um Qualität vermittelt jedenfalls als Lösung
eine einfache und ökonomisch rationale Kontrolle. In der
Sprache der Verwaltungslogik heißt dies dann etwa:
»Die Erarbeitung des Produktkataloges des Amtes erforderte viel
Anpassungsvermögen zwischen der Vielfalt der Leistungen, die sich
im Produktkatalog der Jugendwohlfahrt- Österreich spiegeln, und den
Erfordernissen der hohen Verdichtung für den Produktkatalog des
Magistrates.« (AJF Linz 2000, 168).
Die Übersetzung des Begriffes Verdichtung liegt wohl nicht nur
im Auge der BetrachterIn.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 209
Qualität und Effizienz
209
Wie nun damit umgehen?
Der Trend scheint jedenfalls auf eine Vision standardisierter
Einheitspraxis von Sozialpädagogik und Sozialarbeit abzuzielen. Eine offene Frage bei der Forderung nach Qualitätssicherungssystemnachweisen ist also die erziehungs- bzw. sozialarbeitswissenschaftliche Zielfrage. Liegt es in der Absicht
öffentlicher Vergabestellen, dass alle Anbieter sozialer Arbeit
nur mehr nach standardisierten wirtschaftlichen Normen verglichen werden können? Zählt bei der Bewertung von
Anbietern im Sozialbereich nur mehr der Kostenfaktor, der nun
gleichgesetzt wird mit Qualität?5
Es kann festgehalten werden, dass der Qualitätsdiskurs keine
brauchbaren fachlichen Kategorien für die Soziale Arbeit liefert
und lediglich als von außen eingebrachter Ziel- und Interessensdiskurs zu einer äußerst fragwürdigen Daseinsberechtigung kommen konnte. Der Drang auf diese Diskussion
aufzuspringen liegt jedoch – wie bereits aufgezeigt – zu einem
Gutteil in der angeblichen Legitimationsnot und dem scheinbaren Theoriedefizit der Sozialen Arbeit. Auch die Ertragsseite für
die allen Ortes werbenden Qualitätssicherungs-Beraterinnen im
Sozialbereich dürfte nicht zu vernachlässigen sein.
Die Qualitätsdebatte scheint überdies zu einem vielseitig einsetzbaren Vehikel für die Professionalisierungsdebatte in der
Sozialpädagogik/Sozialarbeit tauglich, weil die Soziale Arbeit
Ausübenden neben höheren Qualifizierungsansprüchen einen
höheren Professionalitätsgrad erreichen wollen (vgl.
Thole/Cloos 2000, 561), woran sichtbar wird,
»dass auf Seiten der Professionellen ein Bedarf an sinn- und sicherheitsstiftenden berufspraktischen Orientierungsmustern und Handlungsrezepten nicht zu leugnen ist und offenbar die bisherige, in
Ausbildung und Berufspraxis vermittelte Handlungskompetenz nicht
ausreicht, um eine verlässliche Orientierung im alltäglichen Arbeitsvollzug zu gewährleisten.« (Köpp/Neumann 2003, 178).
SatzBakic.qxd
210
27.02.2008
17:19
Seite 210
Qualität und Effizienz
Es geht also um einen mehrfachen Gewährleistungsanspruch.
Alle wollen vorher wissen, was nachher rauskommt und gleichzeitig eine Garantie, dass das, was zu erreichen ist, auch möglichst schnell erreicht wird. Soweit so praktisch, bedauerlich ist
nur, dass diese Wünsche vor allem reflexartig und nicht reflexionsartig bedient werden6.
So scheint es auch folgerichtig, dass Soziale Arbeit ihren
Begriff, ihre fachliche Bestimmung nicht mehr auf der Ebene
von Ziel- und Sollensbestimmungen bzw. fachlich zu erarbeitenden normativen Grundlagen gewinnen könne, sondern vielmehr ihr Fachverständnis und ihre Bestimmung aus der
Beschreibung und der Analyse des je marktmäßig zugelassenen
Geschehens zu gewinnen habe (vgl. Winkler 2000, 153). Dies
schließt den Kreis zu einem auf Einsparung abzielenden neuen
Steuerungsmodell in der Sozialen Arbeit, das unter anderem
mit der Vorgabe antritt, die Effizienz mittels Qualitätssicherung
zu steigern und diese neue Wirklichkeit zu schaffen.
Diese normative Aufnahme des Gegebenen als das legitim zu
Erreichende verabschiedet Soziale Arbeit als politische Idee der
Hoffnung auf eine bessere, andere Welt – wie sie etwa Siegfried
Bernfeld in seinem Sisyphos’schen Entwurf formuliert (vgl.
Bernfeld 2000 [1925]), spricht emanzipatorischen Ansätzen
jede Chance ab und ist eine Kurzschließung des Seins mit dem
Sollen, des Gegebenen mit dem Möglichen. Damit wird auch
eine zentrale Perspektive der Sozialer Arbeit suspendiert, die
Auseinandersetzung mit der zeitlichen Dimension, da eine offene Zukunft so nicht mehr verhandelbar ist.
Lässt man Fachleuten bei der Suche nach der Qualität Sozialer
Arbeit freien Lauf, dann kommt es mitunter zu Aussagen, wie
sie der Sozialpsychologe Heiner Keupp stellvertretend formuliert:
»Förderung und Unterstützung von a. ›aufrechtem‹ Gang und
Selbstbestimmung; b. gesellschaftlicher Chancengleichheit; c. Vielfalt von Lebensformen/das Recht auf Differenz; d. kommunitären,
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 211
Qualität und Effizienz
211
selbst organisatorischen Netzwerken; e. sozialer und materieller
Grundsicherung; f. partizipativen Formen der Politikgestaltung.«
(Keupp 2004, 337).
Dieser Katalog normativer Bezugspunkte mag erklärungsbedürftig sein, ist in seiner Thesenhaftigkeit auch eine sehr grobe
Allgemeinlinie, die bebildert und ausgestaltet gehört. Was diese
Aufzählung jedoch bereits skizziert, ist ein kritisch-reflexives
Menschenbild, das sowohl die AdressatInnen wie auch die
AkteurInnen Sozialer Arbeit mit dem Anspruch der
Eigenständigkeit und Identität versieht, also den Menschen und
seine Handlungsvollzüge in den Mittelpunkt stellt. Dies ist
etwas kategorial anderes als die ökonomistische Suche nach
Flexibilität, Passgenauigkeit und Konsumfähigkeit, die den
Menschen als Humanressource nimmt und zum verdinglichten
Faktor für die Aufrechterhaltung einer Warenaustausch- und
Dienstleistungswelt macht.
Die Debatte um Qualität und Effizienz weist keine sozialarbeitswissenschaftlich bedeutsame Kategorie auf, sondern stellt
vielmehr eine semantische Hülle dar, die zunächst von ideologischen Ansprüchen einer marktorientierten Ausrichtung des
Staates in den Dienst genommen wird. Was bei dieser Debatte
ganz augenscheinlich vergessen wird, ist die Anknüpfung an
historische Entwicklungslinien innerhalb der facheigenen
Theorieentwicklung, somit der Verlust der Tradition. Michael
Winkler streicht dies hervor, wenn er feststellt:
»Tatsächlich lässt sich an der um den Begriff der ›Qualität‹ zentrierten Jugendhilfe-Diskussion beobachten, dass sie eigentümlich unhistorisch wie aber auch gesellschaftstheoretisch desinteressiert, damit
möglicherweise systematisch wie kategorial unterhalb des disziplinär
verfügbaren Reflexionsniveaus bleibt.« (Winkler 2000, 143).
Gleichwohl stellt die Dauerthematisierung von ›Qualität‹ und
›Effizienz‹ eine konkrete Themenvorgabe für die Soziale Arbeit
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 212
212
Qualität und Effizienz
dar, weil sie die Frage nach der disziplinären Selbstvergewisserung zwar perspektivisch falsch, jedoch öffentlich
wirksam aufwirft. Gleichwohl sollte hier tunlichst zwischen
den beiden Ebenen unterschieden werden, die in der aktuellen
Debatte immer schon kurzgeschlossen zu sein scheinen:
Qualität und Effizienz als Benchmarking, als technologische
Verfahrensweise und damit als Legitimation für die Existenz
sozialarbeiterischer Handlungsfelder einseitig wirtschaftsorientiert zu führen, stellt eine Perspektivenwechsel dar, bei dem
nichts weniger als die Bestimmung des Menschen im Sinne der
Humanitas auf dem Spiel steht. Eine Diskussion über das
Wesen und die Wirkung Sozialer Arbeit, die sich an fachlichinhaltlichen Ansprüchen orientiert (vgl. Bakic/Diebäcker/
Hammer, 2007b), mit einem fachlich begründeten Verständnis
ihre Praxis bewertet, sich als solidarische Leistung für alle
Menschen in Krisen- und Problemsituationen sieht, reflexive
Fachlichkeit mit geeigneten Rahmenbedingungen verbinden
kann und dabei ein kritisch-emanzipatives und generalistisches
Verständnis Sozialer Arbeit nach innen wie nach außen
Ausdruck verleiht, ist dem alle mal vorzuziehen.
Anmerkungen
1
Einige Beispiele: So sieht etwa das Bundesvergabegesetz 2006 explizit den Nachweis von Qualitätssicherungsverfahren vor, auch fordert
Bundesminister Bartenstein in seiner Zielvorgabe für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen im April 2006, den Nachweis von
Qualitätsmessinstrumenten (vgl. www.bmwa.gv.at). Der FSW, der
Fonds Soziales Wien, verlangt von geförderten Einrichtungen: »Mit
der Anerkennung verpflichtet sich der Betreiber der Einrichtung zur
Durchführung von Maßnahmen des Qualitätsmanagements: z. B.
Maßnahmen der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung (inkl.
Konzepte zur Entwicklung und Implementierung solcher),
Anerkennung von Qualitätsstandards ...« (Spezifische Förderricht-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 213
Qualität und Effizienz
213
linie für die Unterbringung und Betreuung wohnungsloser Menschen
2006, [online: http://www.fsw.at])
2
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer Dialektik der
Aufklärung (vgl. Adorno/Horkheimer 2000) sowie Günther Anders in
seiner zweiten Abhandlung über die Antiquiertheit des Menschen
(vgl. Anders 1980) haben dieses Phänomen bereits reichlich beschrieben.
3
Vgl. etwa den Sammelband herausgegeben von Beckmann/Otto/
Richter/Schrödter (2004), in dem aus unterschiedlichen Perspektiven
das Qualitätsthema in der Sozialen Arbeit beleuchtet wird, der internationale Implikationen aufzeigt, den Zusammenhang zum
Wettbewerb, die Bedeutung für die Organisationsentwicklung, die
Bedeutung für die Professionalisierung wie für das Nutzerinteresse in
den Blick nimmt.
4
So
hat
das
BBRZ,
das
Berufliche
Bildungs-
und
Rehabilitationszentrum mit Gründung in Oberösterreich als erste
Einrichtung 1992 DIN ISO 9001 eingeführt, Jugend am Werk, WUK
Jugendprojekt, Rettet das Kind, Volkshilfe und viele andere
Einrichtungen in Österreich sind gefolgt. Mit Stand 08/2006 gibt es
allein im Sozial- und Erziehungsbereich in Österreich über 100
aktuelle ISO-Zertifikate.(vgl. www.oeqs.at) Was überdies, gemessen
am Arbeits- und Kostenaufwand, bemerkenswert ist, da die
Zertifikate ja nur gültig sind, wenn sie laufend überprüft und alle drei
Jahre neu zertifiziert werden.
5
Am Rande lässt sich bei der Beschäftigung mit diesen Fragen vermuten, dass die gewünschte Effizienzsteigerung der Sozialpädagogik mit
der Einführung von neuen Managementmodellen alleine deswegen
nicht erreicht werden kann, weil von den veranschlagten Budgets
immer weniger bei den Zielgruppen ankommt, da der personelle und
verwaltende Aufwand bei den Institutionen zur Kostenerfassung,
Abrechnung und Verwaltung immer weiter gesteigert werden dürfte
oder bereits wird.
6
Davon zeugen diverse Begleitbücher und Einführungshandbücher zur
Implementierung von Qualitätssicherungsverfahren in Organisationen der Sozialen Arbeit, Schule, Erwachsenenbildung,
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 214
214
Qualität und Effizienz
Sozialpädagogischen und Behinderteneinrichtungen etc.; vgl. etwa
die Bibliografie zur Qualitätsdebatte in der sozialen Arbeit auf
http://www.donau-quality.at/DMDOCUME/BIBLIOGR.PDF
[06.01.2008]
Literatur
AJF Linz (2000): Jahresbericht AMT FÜR JUGEND UND FAMILIE Linz
2000. [Online: http://www.linz.gv.at/archiv/jahresbericht00/gg3/ajf.
pdf Stand 22.11.2007]
Bakic, Josef (2007): Qualitätssicherung, Dienstleistungsorientierung und
Lebensweltorientierte Bewältigungshilfe – neue Tendenzen einer
Sozialpädagogik ohne pädagogischen Anspruch? Dissertation an der
Universität Wien
Bakic,
Josef
(2006):
Qualitätsmanagement.
In:
Dzierzbicka,
Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (Hg.): Pädagogisches Glossar der
Gegenwart. Von Autonomie bis Wissensmanagement. Wien/
Göttingen: Löcker, 218-227
Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2008): Die Ökonomisierung Sozialer Arbeit in Österreich – eine fachlich-kritische
Herausforderung. In: Kessl, Fabian/Ziegler, Holger (Hg.) Schwerpunktheft SOZIAL EXTRA «Schwarzbuch Soziale Arbeit –
Destablisierung und Entstrukturierung Sozialer Arbeit« in
Druckvorbereitung
Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2007a): Wer Qualität
sagt, muss auch Ideologie sagen: Eine Kritik managerialer und technokratischer
Optimierungsversuche
Sozialer
Arbeit.
In:
EntwicklungspartnerInnenschaft Donau – Quality in Inclusion (Hg.):
Sozialer Sektor im Wandel. Zur Qualitätsdebatte und Beauftragung
von Sozialer Arbeit. Linz: edition pro mente, 107-118
Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2007b): WIENER
ERKLÄRUNG ZUR ÖKONOMISIERUNG UND FACHLICHKEIT
IN DER SOZIALEN ARBEIT. [online: www.sozialearbeit.at,
06.01.2008]
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 215
Qualität und Effizienz
215
Beckmann, Christof/Otto, Hans-Uwe/Richter Martina (Hg.) (2004):
Qualität in der Sozialen Arbeit. Zwischen Nutzerinteresse und
Kostenkontrolle. Wiesbaden: VS
Siegfried Bernfeld (2000[1925]): Sisyphos oder die Grenzen der
Erziehung. Frankfurt am Main
BMFSFJ (2000) Handbuch zur Neuen Steuerung in der Kinder- und
Jugendhilfe: eine Arbeitshilfe für freie und öffentliche Träger.
Stuttgart/Berlin/Köln (zugleich: Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Bd. 187)
Dettling, Warnfried (1995): Politik und Lebenswelt. Vom Wohlfahrtsstaat
zur Wohlfahrtsgesellschaft. Gütersloh
Dimmel, Nikolaus (2007): Ökonomisierung und Sozialbedarfsmarkte.
Faktoren des Strukturwandels Sozialer Arbeit. In: EntwicklungspartnerInnenschaft Donau – Quality in Inclusion (Hg.): Sozialer
Sektor im Wandel. Zur Qualitätsdebatte und Beauftragung von
Sozialer Arbeit. Linz, 17-42
EU-Bildungskommission (1995): Weißbuch der Kommission zur allgemeinen und beruflichen Bildung «Lehren und Lernen – auf dem Weg
zur kognitiven Gesellschaft«, KOM(95) [online: http://euramis.net/
documents/comm/white_papers/pdf/com95_590_de.pdf
Stand
06.01.2008]
Galuske, Michael (2003): Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung.
Weinheim und München
Galuske, Michael (2002a): Dienstleistungsorientierung – ein neues
Leitkonzept Sozialer Arbeit? In: neue praxis 3/2002, S. 240-258
Galuske, Michael/Müller, Wolfgang, C. (2002): Handlungsformen in der
Sozialen Arbeit. Geschichte und Entwickung. In: Thole, Werne (Hg.):
Grundriss Soziale Arbeit. Opladen, 485-508
Galiläer, Lutz (2005): Pädagogische Qualität. Perspektiven der
Qualitätsdiskurse über Schule, Soziale Arbeit und Erwachsenenbildung. Weinheim/München
Hütte, Michael (1998): Qualitätssicherung in der Jugendhilfe Chance zur
verbesserten Legitimation vergesellschafteter Kosten oder der Weg in
eine technokratisierte Pädagogik? In: Internationale Gesellschaft für
erzieherische Hilfen (Hg.): Forum Erziehungshilfen 2/98
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 216
216
Qualität und Effizienz
Keupp, Heiner (2004): Die Suche nach der Qualität Sozialer Arbeit im
Spannungsfeld von Markt, Staat und Bürgergesellschaft. In:
Peterander, Franz/Speck, Otto (Hg.): Qualitätsmanagement in sozialen Einrichtungen. München/Basel, 326-340
Majewski, Karin/Seyband, Elke (2002): Erfolgreich arbeiten mit QfS.
Qualitätsmanagement und fachliche Standards für Organisationen im
sozialen Bereich. Weinheim/München
Merchel, Joachim (2003): Zum Stand der Diskussion über Effizienz und
Qualität in der Produktion sozialer Dienstleistungen. In: Möller,
Michael (Hg.): Effektivität und Qualität sozialer Dienstleistungen.
Kassel, 4-25
Schmidt, Mathias (1996): Modernisierung der Profession – ohne professionelle Modernisierung? Zum Verhältnis von Professionalisierung
und Verwaltungsreform in der Jugendhilfe. In: Flösser, Gaby/Otto,
Hans-Uwe (Hg.): Neue Steuerungsmodelle für die Jugendhilfe.
Neuwied/Kriftel/Berlin
Speck, Otto (1999): Die Ökonomisierung sozialer Qualität: Zur
Qualitätsdiskussion in Behindertenhilfe und sozialer Arbeit.
München/Basel
Thole, Werner/Cloos, Peter (2000): Soziale Arbeit als professionelle
Dienstleistung – »Zur Transformation des beruflichen Handelns«
zwischen Ökonomie und eigenständiger Fachkultur. In: Otto, HansUwe /Müller, Siegfried/Sünker, Heinz/Olk, Thomas/Böllert, Karin
(Hg.): Soziale Arbeit. Gesellschaftliche Bedingungen und professionelle Perspektiven. Neuwied/Kriftel, 547-567
Winkler, Michael (2000): Qualität und Jugendhilfe: Über Sozialpädagogik
und reflexive Modernisierung. In: Helmke, Andreas/Hornstein,
Walter/Terhart, Ewald (Hg.): Qualität und Qualitätssicherung im
Bildungsbereich: Schule, Sozialpädagogik, Hochschule. 41. Beiheft
Z. f. Päd., Weinheim/Basel, 137-159
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 217
Recht und Wettbewerb
Nikolaus Dimmel
Wettbewerb – Recht – Sozialwirtschaft
Seit Anfang der 1990er Jahre werden im Zuge einer Totalmobilmachung des Marktprinzips (vgl. Kurz 1999, 539ff) sukzessive auch Sozialdienstleistungen des österreichischen
Wohlfahrtsstaates Marktbedingungen unterworfen. Damit einher ging eine Umstellung von der traditionellen Subventionswirtschaft auf zeitlich befristete Leistungsverträge. Dienstleistungen werden darin im Regelfall als »Produkte« beschrieben
und mithilfe von Tag- bzw. Einzelleistungssätzen kalkuliert und
abgerechnet. Gesetzgeber und Sozialverwaltungen sprechen
seither von einem regulierten, gesteuerten »Sozialmarkt«.
Reguliert werden etwa Leistungsstandards, Erbringungsqualität, Preise oder Einsatzgebiete sozialer Dienste. Da solcherart ein Preiswettbewerb nur eingeschränkt möglich ist,
konzentriert sich die öffentliche Hand darauf, den
Qualitätswettbewerb zwischen den Anbietern zu erzwingen.
Diese Zuschneidung auf den Qualitätswettbewerb zwischen
sozialen Dienstleistungsträgern wurde vor allem durch qualitative Standards im Sozialrecht, etwa im Sozialhilfe-,
Behinderten-, Heimvertrags- oder Heimrecht umgesetzt.
Begründet wurde dieser Paradigmenwechsel mit Argumenten
aus der (neo)liberalen Wohlfahrtsstaatskritik der 1980er Jahre.
Diese rügte die drohende Unfinanzierbarkeit von Sozialleistungen, Formen der Überversorgung, falsche Anreize zum
Verweilen in der Leistungsabhängigkeit (»Welfarization«)
sowie die unzureichende Abstimmung von Angebot und
Nachfrage. Zugleich wurde die Entmündigung der
NutzerInnen1 sozialer Dienstleistungen im Kontext der traditionellen Objektförderung, in der nicht die bedürftige Person,
SatzBakic.qxd
218
27.02.2008
17:19
Seite 218
Recht und Wettbewerb
sondern der Leistungen erbringende Träger entgolten/gefördert
wird, kritisiert.
Der mit jener »Vermarktlichung« einhergehende Umbau des
Sozial- und Wohlfahrtsstaates schuf einen Marktrahmen,
genauer: ein Wohlfahrtsdreieck bestehend aus öffentlichem
Financier, Leistungserbringer und NutzerIn/KlientIn, in dem
Hilfebedürftige kontrafaktisch seit Beginn der 1990er Jahre
ungeachtet der »Unschlüssigkeit« der Austauschbeziehungen
als »KonsumentInnen« bzw. »KundInnen« einer Sozialdienstleistung auftreten (müssen) (vgl. Effinger 1993).
Gegenstand von Transaktionen auf diesem Markt sind im
Wesentlichen Dienstleistungen der Beratung, Betreuung,
Unterbringung und Pflege, also auch Tätigkeiten der Sozialen
Arbeit (vgl. Dennebaum 1997). Diese Dienstleistungen werden
von sozialwirtschaftlichen Unternehmen, also freien
Wohlfahrtsträgern, zumeist im Auftrag der öffentlichen Hand
erbracht und neben den Eigenleistungen der Begünstigten bzw.
ihrer Unterhaltsverpflichteten auch ko-finanziert.
Sozialwirtschaftliche Unternehmen treten darin einerseits als
Leistungsvertragspartner der öffentlichen Hand und
Arbeitgeber von Sozial- und PflegearbeiterInnen und andererseits als Konkurrenten auf Märkten in Erscheinung (vgl.
Dahme et.al. 2005). Dazwischen bewegen sich die
NutzerInnen, selten nur noch als »KlientInnen« bezeichnet, die
sich als »geförderte Hilfsbedürftige« (daher: Subjektförderung)
auf einem freien Anbietermarkt orientieren müssen.
Genauer betrachtet indes muss man von mehreren
»Sozialmärkten« sprechen, auf denen Staat, freie Träger bzw.
sozialwirtschaftliche Unternehmen, NGO´s und Selbsthilfeorganisationen Dienstleistungen erbringen. Es liegt auf der
Hand, dass die Regulierungen in den drei Sektoren Sozialer
Dienstleistungen, nämlich »For-Profit-Markt«, »Staat« und
»Social-Profit-Markt«, unterschiedlichen Kalkülen folgen.
Während im Bereich gewinnorientierter privater Pflegeheime
tatsächlich nach allgemein geltenden Grundsätzen wettbewerb-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Recht und Wettbewerb
Seite 219
219
lich gehandelt wird, ist im Bereich staatlich monopolisierter
Leistungen, etwa bei behördlichen Rechtsakten, bei
Adoptionen oder bei sozialmedizinischen AnamneseLeistungen eines Amtsarztes, Wettbewerb nicht möglich. In
jenem Marktsegment, in welchem »Social Profit Unternehmen« agieren, ist schließlich Wettbewerb nur in eingeschränkter Form, nämlich als Qualitätswettbewerb (in Bezug
auf Personalqualität, Zielerreichung, Nachhaltigkeit, KundInnenzufriedenheit etc) denkbar und praktikabel.2
Die Logik der sozialpolitischen Steuerung dieses Marktes
basiert im Wesentlichen auf drei Zugriffen, nämlich dem
Marktzutritt der Leistungserbringer, der Qualitätssteuerung zu
erbringender Leistungen sowie der Preisfestsetzung (bzw. der
bedarfsgeprüften Bezuschussung von Marktpreisen). Das
gesamtwirtschaftliche Steuerungsarrangement allerdings ist
wesentlich komplexer, da sozialwirtschaftliche Unternehmen
auch wirtschaftsrechtlichen Regelungen unterliegen. Kompetentiell vermengen sich hier drei Gesetzesebenen, nämlich die
supranationale, die nationale sowie die föderale. Auf supranationaler Ebene wird der Marktzugang gesteuert (EUWettbewerbsrecht; Vergabe- und Dienstleistungsrichtlinie). Der
Zentralstaat wiederum steuert mithilfe der Normen des
Wirtschaftsrechts – also der Gesamtheit der privat-, unternehmens- und öffentlich-rechtlichen Rechtsnormen – die
Rechtsbeziehungen der auf den Sozialmärkten Beteiligten
untereinander und ihr Verhältnis zum leistenden und gestaltenden Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat – etwa in Form des
Heimunterbringungsrechts. Erst komplementär zum wirtschaftsrechtlichen Rahmen regeln die Länder im Rahmen der
»Sozialmarktordnung« den Marktzutritt, Mindestanforderungen an leistungserbringende Einrichtungen (Organisation,
Personal, Konzept etc.), die Qualität der Leistungen
(Betreuungsschlüssel, Wohnformenverordnungen, Dokumentationspflichten uam.), die Koordination der Dienstleistungen
(Sozialsprengel, soziale Infrastrukturplanung etc.) oder die
SatzBakic.qxd
220
27.02.2008
17:19
Seite 220
Recht und Wettbewerb
Sicherstellung von Diensten durch Institutionengarantien und
Vorhalteverpflichtungen.
Die normative Regelungsdichte auf den Sozialmärkten, auf
denen soziale Dienstleistungen vergeben, beauftragt, erworben
und erbracht werden, aber auch die Ausübung der Fachaufsicht
durch die öffentlichen Auftraggeber und Financiers verunmöglicht weitgehend freien und ermöglicht stattdessen nur regulierten Wettbewerb. Kostenwettbewerb wird im Regelfall unterbunden. Denn während Wettbewerb oder »Mitbewerb«
bekanntlich Konkurrenz, also die Rivalität um Chancen der
Kapitalverwertung auf Märkten, meint, sind auf den regulierten
Sozialmärkten Dienstleistungsvolumen, Preis und Qualität im
Regelfall bereits vertraglich festgelegt (vgl. MackIntosh 1997).
Dies bezieht sich sowohl auf Aspekte der Struktur- und
Prozess- als auch der Ergebnisqualität. Wettbewerb ist unter
diesen Vorzeichen im Regelfall nur als Qualitäts-, nicht aber als
Kostenwettbewerb vorstellbar. Im regulierten Qualitätswettbewerb spiegelt sich, dass NutzerInnen von Dienstleistungen
selten »KundInnen«, fast immer aber »KlientInnen« sind, da
ihnen zentrale Kundenmerkmale wie Entscheidungssouveränität oder Fähigkeit zur Auswahl zwischen verschiedenen
Leistungen fehlen.
Die einschlägigen Wettbewerbsbedingungen, unter denen soziale Dienstleistungen (und damit: soziale Arbeit) erbracht werden,
erschöpfen sich nicht im Wettbewerbs- und Sozialrecht, sondern
werden durch ein kompliziertes Geflecht aus Vergabe-,
Gesellschafts-, Vertrags-, Arbeits-, Steuer- und Vereinsrecht
sowie ausgewählten Teilen der Zivilrechtsordnung (Gewährleistung; Schadenersatz; Gehilfenhaftung; Produkthaftpflicht
etc.) gesteuert.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Recht und Wettbewerb
Seite 221
221
Zur ökonomischen Notwendigkeit einer rechtlichen
Regelung von Sozialdienstleistungen
Das Postulat der »Vermarktlichung sozialer Dienstleistungen«
erscheint in kategorialer Weise als paradox (Altvater
1991,79ff). Denn die Notwendigkeit rechtlicher Regelungen in
Bereichen von Dienstleistungen der Sozialen Arbeit erklärt sich
– neben den allgemeinen Anforderungen an die rechtsstaatliche
Verfasstheit sozialer Leistungen und der institutionell ausbuchstabierten wohlfahrtsstaatlichen Zielsetzung des kapitalistischen Staates (vgl. Dimmel 2007, 13) – gerade auch aus der nur
eingeschränkt gegebenen Marktfähigkeit dieser Dienstleistungen. Diese ergibt sich einerseits aus Eigenschaften der
Dienstleistungen selbst, liegt andererseits aber auch in der
Charakteristik der (potenziellen) NutzerInnen/NachfragerInnen
begründet, die im Zusammenspiel zu einer ineffizienten Marktallokation und einer gesellschaftlich unerwünschten Distribution führen (können) (vgl. Trukeschitz 2006, 50f).
Einige der möglichen Ursachen von eingeschränkten
Marktmöglichkeiten sollen in der Folge kurz besprochen werden. Häufig gibt es keine ausreichenden Marktsignale im Sinne
von kaufkraftfähiger Nachfrage, auf die sozialwirtschaftliche
Unternehmen reagieren können, weshalb der Staat gesellschaftliche Investitionen in den sozialen Zusammenhalt tätigen muss
(vgl. Aglietta 2000, 70), deren Umwegrentabilität sowohl für
Arbeitsproduktivität als auch für politische Stabilität sorgt (vgl.
Kaufmann 1997, 34ff), wobei es andererseits aber auch dem
Staat oft nicht möglich ist, die erforderlichen Leistungen auf
effektive Weise selbst zu erbringen. Die Theorien zum Marktund zum Staatsversagen können insoweit sinnvoll als
»Verdrängungstheorien« (Frey 1998, 83) beschrieben werden,
als erst durch das Versagen von Markt und Staat der Weg für
einen dritten Sektor (vgl. Birkhölzer et al. 2005) frei wird.
SatzBakic.qxd
222
27.02.2008
17:19
Seite 222
Recht und Wettbewerb
Asymmetrische Informations- und Machtverteilung
Das idealtypische Marktmodell – nach dem Angebot und
Nachfrage eine optimale Güterversorgung garantieren – geht
von einer vollständigen Informiertheit aller MarktteilnehmerInnen hinsichtlich aller relevanten Aspekte der
Transaktion aus. Diese Voraussetzung wird in der Realität
natürlich nie vollständig erfüllt sein (vgl. Heilbronner/Thurow
2004, 203f). Gerade bei sozialen Dienstleistungen indes ist
Information systemisch bedingt asymmetrisch verteilt.
Gesellschaftlich erwünschte Transaktionen kommen dann gar
nicht oder nicht mit dem gesellschaftlich erwünschten Ergebnis
zustande: der Markt versagt.
Das Informationsungleichgewicht und die daraus resultierenden
»falschen individuellen Präferenzen« können in Rechtsunkenntnis, erlernter Hilflosigkeit, verminderter Artikulationsfähigkeit,
psychischer Belastung, Scham, Stigmafurcht oder Verlustängsten begründet liegen. Informationsungleichgewichte entstehen
aber auch daraus, dass bei co-produzierten Dienstleistungen
Produktion und Konsum zusammenfallen (»Uno-Actu-Prinzip«)
(vgl. Trukeschitz 2006, 36), es also unmöglich/nicht direkt möglich ist, weder Eigenschaften, Qualität noch Folgen der
Dienstleistung im Voraus festzustellen, selbst wenn die formalen
Rahmenbedingungen sozialer Arbeit (Qualifikationszertifikat;
Betreuungsschlüssel; Zeitquanten) vorgegeben sind. Das
erschwert den Aufbau einer Vertrauensbeziehung, die aufgrund
der notwendigen »compliance«, also der Duldungs-,
Mitwirkungs- und Kooperationsbereitschaft des/r Leistungsempfängers/in erforderlich ist (vgl. Dimmel 2007, 47). Nicht nur
ist der korporierte Anbieter der Dienstleistung im Regelfall besser informiert als sein Klient, er besetzt ihm gegenüber im
Gewande des sozialarbeiterischen Doppelmandates auch eine
Macht-, Herrschafts- oder sozialpädagogische Autoritätsposition. Das führt bei mangelnder Regelung dazu, dass mehr
Leistungen erbracht werden als nötig oder dass eine überhöhte
Gegenleistung verlangt wird (vgl. Badelt/Österle 2001, 71).
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Recht und Wettbewerb
Seite 223
223
Asymmetrien behindern also den Qualitätswettbewerb, während Preiswettbewerb mangels kaufkraftfähiger Nachfrage
leerläuft. Lösungsmöglichkeiten für dieses Dilemma zwischen
Preis- und Qualitätswettbewerb liegen in der Installierung von
institutionellen Strukturen, die Vertrauen schaffen sollen oder
im Hinzuziehen von informierten Dritten, die die Informationsasymmetrie ausgleichen, Beispiele hierfür wären
Sozialberatungsstellen oder SozialanwältInnen (Ombudsleute).
Konkret können von staatlicher Seite Informationen unmittelbar zur Verfügung gestellt und Informationspflichten (Manuduktion; Informationspflichten von Heimbetreibern) festgelegt
werden, während die Etablierung von Ausbildungsnormen und
von Verfahren der Berufszulassungs- und Betriebsbewilligung,
von Maßnahmen der Qualitätssicherung oder die Beigabe von
Sachverständigen und die Einrichtung von Beratungseinrichtungen sowohl der objektiven Verbesserung der Leistungserbringung als auch dem subjektiven Aufbau von Vertrauen dienen können (vgl. Badelt/Österle 2001, 71f., Frey 1998, 84).
Geringes/fehlendes nachfragefähiges Einkommen
Ein substantielles Hindernis für das Zustandekommen eines
gesellschaftlich wünschenswerten Ausmaßes des Konsums
sozialer Dienstleistungen ist die eingeschränkte oder fehlende
Zahlungsfähigkeit der potenziellen NachfragerInnen. Die prekäre Einkommenssituation betroffener Bevölkerungsteile kann
nicht nur zu einer Unterversorgung mit sozialen Dienstleistungen sondern auch zu externalisierten Folgekosten führen,
die wiederum gesamtgesellschaftlich zu tragen sind (vgl.
Fouarge 2003). Ein Beispiel hierfür liegt etwa in der sozialen
Umwegrentabilität von Maßnahmen der Delogierungsprävention, deren Outcome, also Wirkung, die Kosten des
Nichtintervenierens bei weitem übersteigt. Exekutierte
Delogierungen wiederum haben nicht nur enorme primär-direkte (persönliche, familiäre) Folgekosten im Sinne einer
Verstetigung der Armutsbelastung von Haushalten, sondern
SatzBakic.qxd
224
27.02.2008
17:19
Seite 224
Recht und Wettbewerb
auch hohe sekundär-indirekte Folgekosten etwa durch
Lernstörungen, »home-avoidance«, Arbeitsplatzverlust oder
Scheidung. Die individuelle Zahlungsbereitschaft kann freilich
auch bei ausreichendem Einkommen zu gering sein. Nämlich
dann, wenn es sich bei der Dienstleistung um ein meritorisches
Gut handelt, bei welchem der gesellschaftliche Nutzen höher ist
als der vom Individuum individuell angenommene (vgl.
Trukeschitz 2006, 51f). Beides zusammen führt dazu, dass der
Staat in einem Dreiparteien-Verhältnis, welches als
»Wohlfahrtsdreieck« bezeichnet werden kann (Dimmel 2007,
40), die »Financier«-Funktion übernehmen muss.
Öffentliche Güter/meritorische Güter
Staatlich gewährleiste soziale Dienstleistungen sind für alle
zugänglich und sie beruhen nicht auf gewinnwirtschaftlichem
Kalkül, sondern politischer Entscheidung (vgl. Bellermann
2004, 61f). Quantität und Qualität sozialer Dienstleistungen
sind folglich Ergebnis politischer Konsensfindungsverfahren
(vgl. Winter 1997). Hierbei stellt sich die marktmäßige
Zuordnung von Dienstleistungen als Problem dar, da das marktwirtschaftliche System nicht in der Lage ist, eine flächen- und
bedarfsdeckende Erbringung von gesellschaftlich wünschenswerten sozialen Dienstleistungen zu gewährleisten. Externe
Effekte einer Dienstleistung (die ökonomische Situation eines
Individuums wird durch die Dienstleistung/das Gut, die/das
einem anderen Individuum gehört, positiv oder negativ beeinflusst, ohne dass es zu einem Ausgleich/einer Gegenleistung
kommt) führen stets zu Verzerrungen der volkswirtschaftlich
»korrekten« Allokation.
Im Falle »öffentlicher Dienstleistungen« kann die Erstellung
aber überhaupt nur durch ein Tätigwerden der öffentlichen
Hand sichergestellt werden. Diese Dienstleistungen/Güter
zeichnen sich einerseits dadurch aus, dass bei ihnen das
Ausschlussprinzip nicht greift (Gruppen, die nicht bereit sind,
für den Konsum zu bezahlen, können nicht vom Konsum aus-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Recht und Wettbewerb
Seite 225
225
geschlossen werden – »Freeriding«), andererseits durch die
Nichtrivalität im Konsum (mehrere KonsumentInnen können
das Gut gleichzeitig nutzen, ohne eine Nutzeneinbuße hinnehmen zu müssen) aus.
Dort, wo öffentliche Güter/Dienstleistungen über den Weg von
Selbstbehalten/Selbstbeteiligungen individualisiert werden,
finanzieren die KäuferInnen häufig auch den Nutzen für Dritte
mit. Gegebenenfalls kommen vertragliche Lösungen deshalb
nicht/oder nicht in optimaler Weise zustande (vgl. Frey 1998,
83). Die prekäre Effizienz der Bereitstellung öffentlicher Güter
ist schließlich vor allem auch dadurch bedingt, dass Individuen
(auch) als irrational eigennutzmaximierende Subjekte in
Erscheinung treten, mithin auch Leistungen in Anspruch nehmen, nach denen sie eigentlich keinen Bedarf haben.
Umgekehrt können (vergleichbar der Familienbeihilfe)
»Mitnahmeeffekte« auftreten, bei denen Personen öffentlich
finanzierte Dienstleistungen in Anspruch nehmen, welche sie
sich auch selbst/privat hätten finanzieren können. In diesem
Zusammenhang ist indes auch auf die möglichen negativen
externen Effekte sozialer Dienstleistungen zu verweisen, welche etwa »impact« auf die Lebensführung und ökonomischen
Interessen unbeteiligter Dritter haben können. Dies lässt sich
vielfach bei der Errichtung sozialer Dienstleistungseinrichtungen (AIDS-Hilfe; Drogenberatung; Notschlafstelle etc)
nachzeichnen, wo AnrainerInnen negative Folgen für die
Wohnqualität ihres Viertels/Quartiers einwenden, während die
öffentliche Hand ein Interesse an der »Dispersion« bzw. der
Dekonzentration sozialer Problemlagen hat.
Im Falle sog. »meritorischer Güter«, die nach Auffassung des
Staates oder kollektiver Akteure privat in zu geringem/nicht
sozialverträglichem Ausmaß nachgefragt werden, muss die
öffentliche Hand in Vorlage treten. Diese individuelle
»Unterbewertung« von Dienstleistungen/Gütern ist im gesamten Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen endemisch. Die
Erstellung meritorischer Dienstleistungen/Güter wird hier des-
SatzBakic.qxd
226
27.02.2008
17:19
Seite 226
Recht und Wettbewerb
halb vom Staat in der Form von Regulierungen, Subventionierungen oder vollständiger staatlicher Finanzierung sichergestellt (vgl. Badelt/Österle 2001, 77f).
Staats- und Politikversagen
Die Theorie des Staatsversagens (Heise 2005) geht davon aus,
dass sich eine demokratisch legitimierte staatliche Organisation
in der Ausrichtung ihres Leistungsangebots wesentlich an
wahlpolitischen Erwägungen und dem Einfluss von lobbyierten
Interessen orientieren wird. Tendenziell wird sie mit ihrem
Leistungsangebot deshalb möglichst breite Wählerschichten
und ´Stake Holder` (etwa: Wirtschaftsverbände) ansprechen
wollen und damit Akzeptanz generieren. Die Interessen von
kleineren und wahlpolitisch unbedeutenderen Bevölkerungsgruppen, etwa sozialer Randgruppen, werden vom Sozialstaat
daher strukturell bedingt nur unzureichend berücksichtigt,
wodurch eine optimale Ressourcenallokation erneut nicht
zustande kommt (vgl. Frey 1998, 84f). Staatsversagen (eigentlich ein durch Legitimitätszwänge bedingtes Politikversagen,
da sich politische Eliten im Wesentlichen nur an Lobbies und
Wahlen orientieren und somit notwendige und/oder unpopuläre
Entscheidungen verzögern) tritt also nicht nur in Form kontraproduktiver Markteingriffe, sondern auch durch die
Ausblendung der Bedürfnisse jener Bevölkerungsgruppen auf,
welche kein entsprechendes politisches »voicing« entwickeln
können. Die aus dem »political rent seeking« der politischen
Eliten resultierenden Probleme beschränken sich nicht auf eine
mangelhafte Güterallokation oder die Instabilität/Ineffizienz
der Erbringung von Dienstleistungen, sondern erstrecken sich
etwa auch auf die unzureichende Ausschöpfung von Beschäftigungspotentialen oder die mit Beschäftigung verbundenen Erwerbschancen und Verteilungswirkungen. Ein idealtypisches Staatsversagen liegt in der Orientierung an kurzfristig
wirksamen und der Vernachlässigkeit mittel- und langfristig
wirksamer Maßnahmen (»second-best-solution«). Schließlich
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Recht und Wettbewerb
Seite 227
227
kann auch die selbst generierte Ausweitung bürokratischer
(Kontroll-)Kompetenzen zu paradoxen Kosten-NutzenEffekten führen, etwa indem die Kontroll- und Überwachungskosten die Gesamtkosten des Systems aufblähen, ohne dass
damit ein Qualitätszugewinn verbunden wäre.
Unschlüssige Tauschbeziehungen
Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass auch durch
das Tätigwerden der staatlichen Akteure auf Sozialmärkten die
Marktunvollkommenheiten nicht beseitigt, weshalb hier
Dienstleistungen dominant durch politische Entscheidungen
bzw. nach politischen Kriterien und weniger durch Marktlogiken bestimmt werden. In einer ökonomischen Betrachtung
kann sich deshalb ein wirksamer Knappheitsmesser (etwa ein
aussagekräftiger Marktpreis) nicht herausbilden, die
Tauschbeziehungen bleiben insofern »unschlüssig« (vgl.
Dimmel 2007, 40). Diese Unschlüssigkeit ist allerdings je nach
dem Finanzierungsmodell, das der Staat als Financier sozialer
Arbeit wählt – Objekt- oder Subjektförderung – unterschiedlich
ausgeprägt.
Im Objektförderungsmodell wird die Einrichtung, welche die
sozialen Dienstleistungen erbringt, direkt gefördert. Richtiger
handelt es sich hierbei aber nicht um eine Förderung, sondern
(in der Regel) um den Abschluss von Leistungsverträgen; die
»Förderung« ist einfach das Entgelt für vom Staat gekaufte
Leistungen. Im Rahmen der Objektförderung sind dem Staat
direkte und weitreichende Eingriffe in die Sphäre der
Leistungserbringer möglich. Neben der Kostenübernahme des
Staates bleibt natürlich eine Eigenleistung des/r Leistungsempfängers/in möglich (bzw. ist in vielen Fällen üblich und
erforderlich) (vgl. Dimmel 2007, 22).
Bei der Subjektförderung kommt es hingegen zu einer direkten
Förderung der hilfebedürftigen/begünstigten Person. Das
Individuum wird also mit den nötigen Finanzmitteln ausgestattet, um auf dem Sozialmarkt nach eigener Wahl Leistungen von
SatzBakic.qxd
228
27.02.2008
17:19
Seite 228
Recht und Wettbewerb
den anbietenden Einrichtungen einzukaufen (Modell Pflegegeld). Der Staat steuert diese Märkte damit nur indirekt, die
Konsumentensouveränität wird tendenziell gesteigert, während
der Wettbewerbsdruck für die Anbieter tendenziell steigt
(Etablierung eines Dienstleistungsmarktes). Es kann hier zwischen einem Vollkostenmodell (mit anschließendem Regress)
und einem Restkostenmodell (mit nur teilweiser Kostenübernahme) unterschieden werden (vgl. Dimmel 2007, 22f).
Während aber der eigentliche Leistungsvertrag zwischen dem/r
NutzerIn der Dienstleistung und ihrem Anbieter geschlossen
wird, kommt es dennoch häufig auch zum Abschluss eines
Rahmenvertrages zwischen dem Anbieter und dem staatlichen
Financier, der dann als Vertrag zugunsten oder mit
Schutzwirkung zugunsten Dritter zu qualifizieren ist (vgl.
Dimmel/Hornung 2007).
Kapitalistische Herrschaft auf Sozialmärkten
Die Durchsetzung sowohl der Vermarktlichung von bislang
direktiv staatlich geregelten Politikfeldern als auch der
Marktorientierung von Subjekten, welche bislang Leistungen
direkt zugeteilt erhielten, spiegelt die Strategie neoliberaler,
postfordistischer Eliten, den leistenden und gestaltenden
Wohlfahrtsstaat durch einen »Wettbewerbsstaat« (Joachim
Hirsch) zu ersetzen. Die Totalmobilmachung des Marktprinzips
spiegelt insofern nicht nur eine Ideologie, versteht man
Ideologie sowohl als falsches Bewusstsein als auch als
Hegemonie von kulturellen Deutungsmustern und Handlungsformen, innerhalb derer gesellschaftliche Beziehungen gelebt
werden, sondern auch eine Verschiebung staatlicher Herrschaftspraktiken (vgl. Atzmüller 1997). Das betrifft vor allem
zwei Aspekte:
Die politisch-ideologische Bedeutung im Kontext sozialarbeiterischer Praxis liegt vor allem zum einen in der »Verwarung«
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Recht und Wettbewerb
Seite 229
229
sozialer Arbeit, also der reellen (!) Subsumtion sozialer Arbeit
unter die Verwertungsinteressen eines sich sukzessive als
Unternehmen gebärdenden Staates. Wie die soziale
Dienstleistung nunmehr als »Produkt« und eben nicht mehr als
co-produzierte Inklusionsleistung beschrieben wird, so wird
auch die soziale Arbeit als Tauschwerteigenschaft dieses
Produktes subsumiert. Indem sie primär über ihren Preis,
sekundär über ihren Output und erst zuletzt über ihren Outcome
gehandelt wird, verschwindet die spezifische Qualität der sozialen Arbeits- und Austauschbeziehung, nämlich ihr sozietaler
Gebrauchswert, in der von Marx hinreichend beschriebenen
rechtsförmigen Hülle der Austauschbeziehungen zwischen den
EigentümerInnen von Ware und Geld. Die mit ihrer Verwarung
verbundene tendenzielle Fetischisierung der sozialen Arbeit
löst indes ihren emanzipatorischen, strukturell antihegemonialen Charakter tendenziell auf. »At the end of the day« kann als
soziale Arbeit überhaupt nur noch jene erscheinen, die sich im
Wechselspiel von Angebot und Nachfrage als »Tauschwert«
verkaufen kann.
Die zweite wesentliche Bedeutung dieser Totalmobilmachung
liegt in der fortschreitenden Re-Kommodifikation der
Beziehungen zwischen Citoyen (StaatsbürgerIn) und Staat.
Der/die KlientIn eines wie auch immer kritisierbaren paternalistischen Wohlfahrtsstaates wird durch die eherne Form des/r
Kunden/in verdrängt. Die Paradoxie dieses Vorgangs, nämlich
die Verwandlung des/r Klienten/in in eine/n Kunden/in, der
Dienstleistungen einkauft, wird deutlich, wenn man sich die
Handlungsoptionen der Beteiligten im Wohlfahrtsdreieck vergegenwärtigt, worin der/die phantasierte Kunde/in über keine
KonsumentInnensouveränität, kein Wahlrecht und keinen
Gewährleistungsanspruch, kein Preisverhandlungspouvoir verfügt. Gänzlich ausgeblendet wird dabei, dass noch immer ein
Gutteil sozialer Arbeit behördlich/gerichtlich angeordnet ist, in
der Maßnahmen der Sozialdisziplinierung, sozialen Kontrolle,
»surveillance« (Überwachungsleistungen) und direktive
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 230
230
Recht und Wettbewerb
Eingriffe in die individuelle Lebensführung auch gegen den
Willen der Betroffenen durchgesetzt werden. Dieser Widerspruch zwischen der immanenten Logik sozialarbeiterischer
Funktion/Praxis und den Anforderungen der Vermarktlichung
wohlfahrtsstaatlicher Sozialdienstleistungen kann wohl nur
dadurch aufgelöst werden, dass die befähigende Dimension
sozialer Arbeit kategorial als Kernbestandteil ihrer Qualität verstanden und finanziert wird.
Anmerkungen
1
Die gendersensitive Schreibweise erstreckt sich im Weiteren aus-
2
Freilich ist unverkennbar, dass auch hier die durchgesetzten
schließlich auf natürliche Personen.
Marktparadigmen »KundInnennähe«, »Serviceorientierung« oder die
»Co-Produktion von Dienstleistungen auf Bestellung« im Grunde
genommen als mehrschichtiges Herrschaftsinstrument verstanden
werden
müssen,
welches
sowohl
KlientInnen
als
auch
DienstleisterInnen bestimmte Vorverständnisse und Verhaltensformen
aufzwingt.
Literatur
Aglietta,
Michel
(2000):
Ein
neues
Akkumulationsregime.
Regulationstheorie auf dem Prüfstand, Hamburg.
Altvater, Elmar (1991): Die Zukunft des Marktes, Münster.
Atzmüller, Roland (1997): Der integrale Staat. Ideologie- und hegemonietheoretische Überlegungen zum Staat in der Krise des Fordismus,
Univ.Dipl., Wien.
Badelt, Christoph/ Österle, August (2001): Grundzüge der Sozialpolitik.
Allgemeiner Teil, 2. Auflage. Wien.
Bellermann, Martin (2004): Sozialökonomie.
Soziale Güter und
Organisationen zwischen Ökonomie und Politik, Freiburg.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 231
Recht und Wettbewerb
231
Birkhölzer, Karl et al. (2005): Theorie, Funktionswandel und zivilgesellschaftliche Perspektive des Dritten Sektors / Dritten Systems; in:
Karlö Birkhölzer/Ansgar Klein/Eckhard Priller (Hg): Dritter Sektor –
Drittes System, Wiesbaden, S. 9 ff.
Dahme, Hans-Jürgen et al. (2005): Zwischen Wettbewerb und Subsidiarität. Wohlfahrtsverbände unterwegs in die Sozialwirtschaft, Berlin.
Dennebaum, Eva-Maria (1997): Mehr Markt in der Sozialen Arbeit ?,
Freiburg.
Dimmel,
Nikolaus/Hornung,
Stefan
(2007):
Vertragsrechtliche
Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft, Wien.
Dimmel, Nikolaus (1997): Sozialmanagement oder Wohlfahrtsverwaltung
?, Frankfurt.
Dimmel, Nikolaus (2007): Sozialwirtschaft in der Sozialordnung; in: ders.
(Hrsg): Das Recht der Sozialwirtschaft, Wien, S. 9 ff.
Dimmel, Nikolaus (2004): Zur Praxis der Vergabe von Dienstleistungen im
Rahmen der österreichischen Sozialwirtschaft, Wien; URL: http://
www.lrsocialresearch.at/content.php?pg=archiv&aid=276&lng=de
Effinger, Herbert (1993): Sozialmärkte und Management. Herausforderungen bei der Produktion sozialer Dienstleistungen, Bremen.
Fouarge, Didier (2003): Costs of non-social policy: towards an economic
framework of quality social policies – and the costs of not having
them. Report from the Employment and Social Affairs DG. Final
Report, Jan 3rd, 2003, Brussels.
Frey, Birgit (1998): Zwischen Markt- und Staatsversagen – Die DritteSektor-Forschung im Überblick, in: Ulrich Arnold/Bernd Maelicke
(Hg): Lehrbuch der Sozialwirtschaft2, Baden-Baden, S. 80 ff.
Halfar, Bernd (1998): Wettbewerbsstrategien im Sozialbereich.
Marketing ohne Marken?; in: Wissenschaft und Praxis der sozialen
Arbeit No 1, S. 7 ff.
Heise, Arne (2005):Einführung in die Wirtschaftspolitik. Grundlagen,
Institutionen, Paradigmen, München.
Kaufmann, Franz Xaver (1997): Herausforderungen des Sozialstaates,
Frankfurt.
Mackintosh, Mauren (1997): Economic Culture and Quasi Markets in
Local Government. The Case of Contracting for Social Care; in:
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 232
232
Recht und Wettbewerb
Local Government Studies No 2, S. 80 ff.
Trukeschitz, Birgit (2006): Im Dienst sozialer Dienste. Ökonomische
Analyse der Beschäftigung in sozialen Diensten des Nonprofit
Sektors, Frankfurt.
Winter, Thomas (1997): Sozialpolitische Interessen. Konstituierung, politische Repräsentation und Beteiligung an Entscheidungsprozessen,
Baden-Baden.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 233
Sozialraum und Governance
Marc Diebäcker
Die Rezeption und Popularität von Sozialraum als soziologische
Theorie, von Governance als politisches Konzept und von
Sozialraumorientierung als Zugang in der Sozialen Arbeit fallen
nicht zufällig in die Zeit der 1980er und 1990er Jahre. Ihre
Konzeptualisierung und Anwendung muss auf gewandelte
Formen von Herrschaft, Regieren und Staatlichkeit bezogen werden. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft hat sich im
Rahmen von Globalisierungsstrategien und neoliberalen
Politiken in der Hinsicht verändert, dass nationale
Interventionsspielräume in Wirtschafts- und Sozialpolitik aufgrund von Deregulierungspolitiken massiv eingeschränkt werden, wodurch sich sozialräumliche Ungleichheiten und
Spaltungen in der Gesellschaft beschleunigen. In dieser Situation
erscheint der Staat nur mehr »als Moderator und Koordinator
innerhalb eines Geflechts relativ unabhängiger gesellschaftlicher
Akteure und Gruppen« (Hirsch 2001a, 118) und politische
Entscheidungen werden stärker in staatlich-private Verhandlungssysteme verlagert. Im »verhandelnden« Staat gewinnt die
lokal-regionale Ebene in der politischen Regulierung an
Bedeutung: Aus ökonomischer Perspektive vollzieht sich dort
die neoliberal-inspirierte Standortdebatte in Form von
Städtekonkurrenz und auch die sozialen Auswirkungen gesellschaftlicher Spaltungs- und Marginalisierungstendenzen verorten sich lokal und werden dort sichtbar. Aufgrund des sozialstaatlichen Rückbaus und dem Mangel an Integrationsressourcen
und -leistungen wird den Städten und Gemeinden zunehmend
die Problembewältigung überlassen, wobei das Herstellen von
Ordnung und Sicherheit sich zu einem zentralen Feld politischer
Intervention entwickelt (vgl.; Hirsch 2001b, 200-203; Stenson
2007) Vor diesem Hintergrund werden im folgenden die
SatzBakic.qxd
234
27.02.2008
17:19
Seite 234
Sozialraum und Governance
Konzepte von Sozialraum und Governance reflektiert und auf
ihre Brauchbarkeit für die Weiterentwicklung der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit geprüft.
Das Konzept der Sozialraumorientierung erfreut sich seit den
1990er Jahren in der Sozialen Arbeit wachsender Aufmerksamkeit und hat als theoretischer Bezugspunkt und als Methode
Eingang in Ausbildung und Praxis gefunden. Spezialisierungen
von SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen finden ihren
Niederschlag in »sozialraumorientierten« Lehr- oder Studiengängen und vielerorts hat Sozialraumorientierung das
Arbeitsprinzip »Gemeinwesenarbeit« als Bezug im Stadtteil
oder der Gemeinde abgelöst. Aber das Paradigma der
Sozialraumorientierung stößt inzwischen nicht nur in der Stadtund Gemeindeentwicklung auf Akzeptanz, sondern gilt auch in
der Jugendarbeit oder der Kinder- und Jugendhilfe als fachliches Konzept. (siehe Beiträge in Kessl et al 2005 oder
Galuske/Schoneville 2007)
Zur Theorie des Sozialraums
Der Begriff Sozialraum wurde Ende des 19. Jahrhunderts im
Rahmen der Ausdifferenzierung der Human- und Sozialwissenschaften von Emile Durkheim und Georg Simmel eingeführt, um räumlich-soziale Organisation nicht länger statischen
Zugängen der Politischen Geographie zu überlassen, die behaupteten, dass der physisch-geographische Raum die soziale
Ordnung bestimmt. Das Besondere dieser frühen sozialwissenschaftlichen Zugänge liegt u.a. in der Trennung von physischem
Raum und sozialer Organisation, was bedeutet, dass das, was
sich an einem Ort konkret sozial manifestiert, Folge gesellschaftlicher Strukturen ist und soziale Phänomene nicht als statisch und unveränderlich betrachtet werden können. (vgl. Dünne
2006, 289f) Seit den 1970er Jahren im Anschluss an den französischen Philosophen Henri Lefebvre hat sich ein Verständnis her-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Sozialraum und Governance
Seite 235
235
ausgebildet, dass eine veränderliche Wechselbeziehung von physischem und sozialem Raum unterstellt und die zeitliche
Perspektive stärker wahrnimmt. Dabei wird auch der physische
Raum als gesellschaftlich strukturiert und veränderbar anerkannt
als auch umgekehrt als gesellschaftsstrukturierend und -verändernd verstanden. (vgl. Löw/Sturm 2005, 32-42)
Aktuell wird – auch in der Sozialen Arbeit – häufig auf das
Modell des Sozialraums von Pierre Bourdieu Bezug genommen, welches den Dualismus von Struktur und Handeln – also
Mikro- und Makroperspektive – zu verbinden versucht, um
über die Begriffe Feld/Sozialraum (Strukturierendes Kräftefeld), Habitus (Handlungsmuster des Individuums) und einem
weit gefassten Kapitalbegriff (Handlungsressourcen des
Individuums) die soziale Praxis im Raum analysieren zu können. Insbesondere Bourdieus Klassifizierung des Kapitalbegriffs in ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches
Kapital (vgl. Bourdieu 1987 [1979]; Bourdieu 1993, einführend
dazu Rehbein 2006, 79-109) wird bei der Abbildung von
Klassenstrukturen und Milieus breit angewendet.
Bourdieu macht in seiner Konzeption des Sozialraums deutlich,
dass der Ort lediglich ein Punkt ist, an dem ein »Akteur oder ein
Ding sich platziert findet« (Bourdieu 1993, 160) – also im physischen Raum lokalisiert ist. Zugleich geht er davon aus, dass
sich die Beziehungen gesellschaftlicher Akteure im Sozialraum
und die damit verbundenen sozialen Positionen (die
Klassenlage) im physischen Raum ausdrücken und einschreiben. Der Bourdieusche Ansatz entfaltet seine Bedeutung für die
Soziale Arbeit darin, dass er auf die enge Verbindung von
objektiven Strukturen und subjektiven Orientierungen verweist
und die Alltagspraxis des Menschen in den Vordergrund rückt.
Zugleich aber wird Bourdieu nicht müde die Begrenzungen hierarchisch strukturierter Sozialräume und die damit verbundenen Kräfteverhältnisse zu betonen, die den Handlungsspielraum von Menschen stark einschränken. (zum Überblick vgl.
Treibel 2006, 219-243; Joas/Knöbl 2004, 518-557)
SatzBakic.qxd
236
27.02.2008
17:19
Seite 236
Sozialraum und Governance
Bezug nehmend auch auf aktuelle Diskussionen der
Raumsoziologie lässt sich festhalten, dass ein sozialräumlicher
Blick auf Gesellschaft nicht allein nach sichtbaren (und unsichtbaren) Platzierungen und Verknüpfungen von Dingen und
Menschen fragt, sondern diese Phänomene in regionale, nationalstaatliche oder globale Strukturen und Prozesse einbettet.
(vgl. Löw 2005, 42-46) Bourdieu et al (1993) haben in »Das
Elend der Welt« anhand qualitativer Interviews die Produktivität
des sozialräumlichen Zugangs eindrucksvoll konkretisiert. (für
Österreich vgl. Katschnig-Fasch, 2003) Die besondere Aktualität
des Werkes liegt darin, dass im Fallverstehen der dort versammelten Biographien die Folgen neoliberaler Politiken und des
staatlichen Rückzuges aufgedeckt und Manifestierungen zum
individuellen Leiden – sei es der Verlust des Arbeitsplatzes oder
auch des Lebenssinns – abgebildet werden. Margareta
Steinrücke hält diesbezüglich fest, dass auch »das relative
Leiden der sogenannten ›linken Hand‹ des Staates, des niederen
Staatsadels aus Sozialarbeitern, Lehrern etc., der infolge der
Restriktionen der ›rechten Hand‹ des Staates, der Finanz- und
Verwaltungsbürokratie, seine ständig wachsenden Aufgaben
immer weniger erfüllen kann« (1997, 12 f.) nicht aus dem Blick
der Analyse von Bourdieu et al gerät.
Zur Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit
Die Konjunktur der Sozialraumorientierung in der Sozialen
Arbeit seit den 1990er Jahre ließe eine starke Bezugnahme auf
soziologische Theorien des Sozialen Raums vermuten. Jedoch
ist der fachliche Diskurs in der Sozialen Arbeit überwiegend
von einem Sozialraumverständnis geprägt, das seine Anleihen
bei der Gemeinwesenarbeit bezieht und auf die Entwicklung
der endogenen Ressourcen im Sozialraum abzielt.
Wolfgang Hinte, als ein Protagonist dieser Auffassung, vertritt
die Überzeugung, dass von Problemlagen betroffene Menschen
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 237
Sozialraum und Governance
237
ihre Lebensbedingungen mit ihren zur Verfügung stehenden
Ressourcen im Quartier selbst und eigenverantwortlich verbessern können. Die Orientierung an den geäußerten Interessen der
Wohnbevölkerung, die Unterstützung der Eigeninitiative oder
die Kooperation und Koordination werden als zentrale
Prinzipien genannt. Ausgehend von der These, dass die
Selbsthilfekräfte der Menschen häufig unterschätzt werden,
wird unter dem Stichwort der »Prävention« weitestgehend für
eine Auflösung von fallspezifischer Arbeit argumentiert und auf
die »Aktivierung« der Betroffenen abgezielt. (vgl. Hinte/Kreft
2005; Hinte/Litges/Springer 2000) Dieses Sozialraumverständnis wird von den VertreterInnen aber auch auf das
Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe übertragen und in
deutschen sowie österreichischen Kommunen implementiert.
Ein etwas anders gelagerter Ansatz der Sozialraumorientierung
hat sich in den 1990ern in der Kinder- und Jugendarbeit entwickelt, der – anknüpfend an das Paradigma der Lebensweltorientierung von einem subjektiv-lebensweltlichen
Raumbegriff ausgeht. Im Ansatz der flexiblen Erziehungshilfen
wird »als Antwort auf die Individualisierung von Lebensläufen
und Pluralisierung von Lebenswelten« (Galuske/Schoneville
2007, 282) eine Alternative zu den verfestigten Angebotsformen der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt. Auch in diesem
Zugang wird die Nutzung der Ressourcen des Sozialraums und
fallübergreifende Arbeit betont, allerdings bleibt die (flexible)
Orientierung am Einzelfall charakteristisch. (vgl. Galuske/
Schoneville 2007, 284-285)
Zur Kritik an der Sozialraumorientierung
in der Sozialen Arbeit
Die Kritik an Konzepten der Sozialraumorientierung in der
Sozialen Arbeit ist inzwischen vielfältig, wobei eine mangelnde theoretische Reflexion der soziologischen Raumtheorie
SatzBakic.qxd
238
27.02.2008
17:19
Seite 238
Sozialraum und Governance
unmittelbar ins Blickfeld gerät. Bezug nehmend auf die Theorie
des Sozialraums lassen sich u.a. zwei Verkürzungen orten:
Erstens, beziehen sich die meisten »pragmatischen Sozialraumvarianten« in der Praxis auf ein abgegrenztes Territorium. Die
Konstitution des Raums wird dabei (in der Regel von außen) als
absolut festgelegt, womit andere Raumvorstellungen nicht
beachtet und damit das Handeln von Menschen oder Gruppen
nicht richtig verstehbar werden. (vgl. Löw 2001, 64) So können
beispielsweise stadtteilbezogene Programme in so genannten
»benachteiligten« Gebieten, die aufgrund sozialstruktureller
Indikatoren von außen als defizitär definiert werden, sich mit
den Sichtweisen dort lokalisierter Gruppen nicht im geringsten
decken und sogar mit negativen Wahrnehmungsänderungen
von Orten und Stigmatisierungen dieser Gruppen verbunden
sein kann.
Zweitens, führt der in der sozialraumorientierten Sozialen
Arbeit weit verbreitete Fokus auf die vorhandenen
Handlungsressourcen von KlientInnen oder Gruppen mit dem
Ziel der produktiven Nutzbarmachung oder Funktionalisierung
dazu, dass die Strukturen – also die Kräftverhältnisse hierarchisch-strukturierter Sozialräume – völlig aus dem Blick gerät.
Gerade das nicht zur Verfügung stehende ökonomische, kulturelle oder soziale Kapital bestimmt die soziale Position und ist
die Ursache für die Verfestigung sozialer Ungleichheiten. Die
Vorstellung des schnellen Nutzbarmachens zentraler
Handlungsressourcen von Menschen aus der Nachbarschaft
oder dem Quartier muss in dieser Hinsicht als naiv bezeichnet
werden.
Heinz-Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt glauben, dass die
aktuelle Sozialraumorientierung »sich bei näherer Betrachtung
als ein Hebel der umfassenden Reorganisation sozialer
Dienste« (2005, 263) erweist und halten die Sozialraumbudgetierung für ein betriebswirtschaftliches Instrument der
Kostenkontrolle einer »modernisierten« Verwaltung. Da kommunales Handeln Ursachen von Arbeitslosigkeit oder wachsen-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 239
Sozialraum und Governance
239
der Armut nur schwer beeinflussen kann, sind aktuelle Ansätze
der Sozialraumorientierung einer aktivierenden Sozialpolitik
des »Fördern und Fordern« zuzuordnen, in denen Menschen
aktiviert werden, sich selbst zu helfen. (vgl. Dahme/Wohlfahrt
2005, 272-277)
In der Diskussion um Sozialraumorientierung ist auffällig, dass
Strukturen und Prozesse globaler, nationalstaatlicher oder
regionaler Ebenen, die soziale Probleme verursachen und lokalisieren, nicht in ausreichendem Maße mitgedacht werden und
innerhalb der Profession entweder zur Überschätzung sozialraumorientierter Sozialer Arbeit führen oder lediglich als alltagsbewältigende, kompensatorische Strategie der Anpassung
unter Politiken einer sich verändernden Staatlichkeit verstanden
werden. Es wird auch deutlich, dass politische Dimensionen in
der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit kaum reflektiert
werden. Beispielsweise vermittelt der Hinte’sche Ansatz mit
dem Fokus auf intermediäre Instanzen in sozialen Fragen
»Neutralität« und »Unparteilichkeit« und entledigt sich damit
sozialpolitischeren Perspektiven der Gemeinwesenarbeit wie
sie beispielsweise Dieter Oelschlägel vertritt. (vgl. Hinte/
Oelschlägel 2001, 17-36) Herrschaftsfragen werden damit
bewusst ausgegrenzt, was im Gegenzug seine Anschlussfähigkeit an neoliberale Politiken der Flexibilität und Selbstverantwortung sichert.
Zum Diskurs um Governance
Der Begriff Governance hat in der Politikwissenschaft einen
ähnlichen Rezeptionsverlauf genommen wie der Sozialraumbegriff in der Sozialen Arbeit. Seit den 1980ern taucht das
Konzept in politikwissenschaftlichen Fachdiskussionen auf und
hat sich vor allem in den 1990er Jahren zu einem Schlagwort
entwickelt, das in verschiedenen Gesellschaftssphären eine
neue Qualität politische Steuerung propagiert und unter dem
SatzBakic.qxd
240
27.02.2008
17:19
Seite 240
Sozialraum und Governance
Stichwort »from government zu governance« besseres
Regieren verspricht. Der Governance-Diskurs mit seiner zentralen Prämisse »es sei effizienter Probleme kooperativ und dialogisch zu bearbeiten« (Brand 2004,112) bezieht sich auf
Netzwerke als zentrale Ordnungsmuster von Politik.
Im sozialwissenschaftlichen Diskurs dominieren zwei
Zugänge: einerseits werden mehrere räumlich-konstitutiven
Ebenen unterschieden (local, regional, national und global
governance) und die Integration dieser Ebenen (multi-levelgovernance) soll dann gesellschaftliche Problemlösungen erreichen. Andererseits wird mit akteursbezogenen Ansätzen, die oft
stark auf die lokale Ebene fokussieren, ein Mehr an horizontaler Netzwerksteuerung oder Partizipation und ein Weniger an
hierarchisch-organisierter Regulierung der formalisierten
repräsentativen Demokratie gefordert. Diesbezüglich wird die
Dominanz des öffentlichen Sektors und seine fehlende
Offenheit gegenüber BürgerInnen oder wirtschaftlichen
AkteurInnen kritisiert. Das Governance-Konzept ist aufgrund
der suggerierten stärkeren Einflussnahme von gesellschaftlichen AkteurInnen sowohl für wirtschaftsliberale als auch für
links-identitäre Gruppen anschlussfähig, wobei letztere
Partizipation, Demokratisierung oder Teilhabe mit Governance
verbinden. (vgl. Diebäcker 2008; Brunnengräber et al 2004)
In den letzten Jahren wird zunehmend Kritik am undifferenzierten Governance-Diskurs laut. Das angestrebte »neue«
Verhältnis von Staat, Markt und Zivilgesellschaft wird problematisiert und die postulierte hohe demokratische Qualität der
nichthierarchischen, dezentralen und nicht-dirigistischen
Formen des Regierens wird öfter in Frage gestellt.
Erstens gehen laut Ulrich Brand die meisten GovernanceAnsätze von der Annahme aus, dass es keine grundsätzlichen
Interessengegensätze zwischen sozialen Gruppen, Milieus oder
Klassen mehr gäbe. Er kritisiert, dass »Governance für ein dialogisches und kooperatives Politikmodell [stehe], das nicht nur
Interessensgegensätze, sondern auch die ungleiche
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Sozialraum und Governance
Seite 241
241
Ressourcenverteilung der in den Verhandlungsprozess einbezogenen Akteure sowie asymmetrische Machtverhältnisse ausblendet« (Brand 2004: 114). Ein Verständnis von Governance
als ein harmonistisch-kooperatives Modell läuft also Gefahr
Fragen sozialer Ungleichheit und politische Konflikte zu verschleiern und von der gesellschaftlichen Regelung auszuschließen.
Zweitens, werden die neuen Netzwerke politischer Steuerung –
auch wenn sie bezüglich ihrer Organisation und Einflussnahme
nur selten Gegenstand der Analysen sind (vgl. Fraser 2003,
256) – hinsichtlich ihrer demokratischen Qualität skeptisch
beurteilt. Denn, ob »alte« Machtasymmetrien der repräsentativen Demokratie sich zugunsten einer pluralen und öffentlichen
Politik verschoben haben, wird grundsätzlich in Frage gestellt.
Stattdessen ist davon auszugehen, dass sich der Einfluss des
Marktes auf Entscheidungen des Staates zunehmend durchsetzt
und politisch-emanzipatorische Positionen weiter an Einfluss
verlieren, was Erik Swyngedouw als »system of governance
beyond the state« (Swyngedouw 2005) bezeichnet. (vgl. Hirsch
2001a, 118)
Drittens wird der Wechsel von Government zu Governance
auch mit einer angeblich effektiveren Steuerung von
Gesellschaft begründet. Die Integration von Ressourcen (wie
Wissen oder Zeit) der zu beteiligenden BürgerInnen oder
AkteurInnen in Entscheidungsprozesse wird dabei als zentrales
Mittel zur Problemlösung angesehen. Netzwerkartige Prozesse
oder partizipative Verfahren werden damit über ihre Zweckmäßigkeit und Effektivität hinsichtlich der Problemstellung
definiert und auf diese verkürzt. Aussagen zum Eigenwert politischer Beteiligung finden sich nur selten, um das neue institutionelle Arrangement zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft zu legitimieren.
Viertens orientieren sich die Governance-Konzepte an marktförmigen Ordnungsmechanismen. Dabei wird unter dem
Schlagwort des »kooperativen Staates« entsprechend eines neo-
SatzBakic.qxd
242
27.02.2008
17:19
Seite 242
Sozialraum und Governance
liberalen oder neokonservativen Menschenbildes an »AktivbürgerInnen« appelliert, sich im Sinne ihres Eigeninteresses
oder ihrer gemeinschaftlichen Verpflichtung, ihre Lebenssituation durch eigene Beteiligung zu verbessern – mit dem
Ergebnis, dass sich »aktivierte« Individuen (oder auch
Institutionen) in Zukunft »Kosten und Folgelasten selbst
zurechnen lassen müssen«. (Brand 2004, 115; vgl. Fraser 2003,
255)
Es wird deutlich, dass der Terminus Governance aufgrund der
mit ihm verbundenen Zuschreibungen und Wertsetzungen –
seien sie wirtschaftsliberal oder politisch-emanzipatorisch
inspiriert – als hybrid verstanden werden muss. Aufgrund dieser breiten gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit entfaltet er
unter der Dominanz neoliberaler Politiken seine ideologische
Wirkung – gerade weil er soziale Ungleichheiten und
Machtverhältnisse tendenziell verschleiert und mit der
Anrufung der/des aktive/n »BürgerIn« Symbiosen mit dem flexiblen, eigenverantwortlichen, selbstkontrollierenden, rationalen und männlich strukturierten Menschenbild radikal-liberaler
Prägung eingehen kann.
In seiner Anwendung entfalten sich unter dem »Deckmantel«
von Governance vor allem ökonomische Zielorientierungen,
der gesellschaftliche Hierarchien und Machtverhältnisse weitestgehend unberührt lässt. Birgit Sauer hält aus Sicht der feministischen Staatstheorie fest, dass Governance eine neue
Technologie des Regierens darstellt und »nicht Ausdruck eines
herrschaftsfreien Diskurses, sondern im Gegenteil die ReArtikulation von patriarchaler Steuerung und Herrschaft [ist].«
(Sauer 2004, 125)
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 243
Sozialraum und Governance
243
Die politische Regulierung des Lokalen
und Herausforderungen für eine kritische
sozialraumorientierte Soziale Arbeit
Hinsichtlich der notwendigen politischen Fundierung von sozialraumorientierter Sozialer Arbeit bietet das GovernanceKonzept aufgrund seines demokratietheoretischen Defizits keinen Nutzen. Governance muss vielmehr als Technologie der
politischen Regulierung verstanden werden, die insbesondere
auf der lokalen Ebene ihre Bedeutung entfaltet. Im Zusammendenken von Politischem und Sozialem Raum ist Governance
mit der Sozialraumorientierung eng verwoben, denn das
Lokale1 ist auch die wesentliche Interventionsebene Sozialer
Arbeit. Die hier angerissene vergleichende Perspektive weist
auf ähnliche Inhalte und Problematiken von Governance und
Sozialraumorientierung hin. Beide Konzepte vertragen sich mit
marktförmigen Ordnungsmechanismen des Staates und der
damit verbundenen Ausweitung ökonomischer Rationalität auf
alle Lebensbereiche, um soziale oder ökonomische Ressourcen
für die gesellschaftliche Regulierung nutzbar zu machen. Sie
neigen dazu Ursachen und Dynamisierungstendenzen sozialer
Ungleichheit nicht genügend in den Blick zu nehmen und mit
ihrem »kooperativ-harmonisierenden« Zugang gesellschaftliche Konflikte und Machtverhältnisse zu ignorieren, wobei sie
weitestgehend auf horizontale Prozesse der Vernetzung abzielen und vertikale Entscheidungsprozesse oftmals unberücksichtigt lassen.
Im Lokalen drückt sich – wie in der Einleitung angesprochen –
die scheinbare Widersprüchlichkeit einer veränderten Staatlichkeit deutlich aus und stellt enorme Herausforderungen für die
Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit dar. Aus politischer und fachlicher Perspektive gilt es daher aktuelle Konzepte und Methoden in mehrfacher Hinsicht kritisch zu prüfen:
Erstens ist die Soziale Arbeit selbst Adressatin von
Deregulierungs- und Privatisierungstendenzen des öffentlichen
SatzBakic.qxd
244
27.02.2008
17:19
Seite 244
Sozialraum und Governance
Sektors und wird daher einer Einsparungspolitik und
Kostenkontrolle unterworfen. Aus diesem Blickwinkel entpuppt sich die Zentralisierung und Deckelung von Finanzen
durch Sozialraumbudgets als kontraproduktiv. Auch der inhaltliche Fokus vom »Fall zum Feld« (vgl. Hinte/Litges/Springer
2000) forciert – zumindest in der Logik auf Kostenreduktion
abzielender Financiers – die Konkurrenz zwischen Einzelfallund Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit und könnte
zur weiteren Ausdünnung der sozialen Infrastruktur führen.
Zweitens, ist die Soziale Arbeit zur Agentin eine neuen
»Partizipationskultur« aufgestiegen, die auf Integration von
AktivbürgerInnen und die Herstellung lokaler Gemeinschaftlichkeit abzielt bzw. diese suggeriert. Denn in den Stadtteiloder Quartiersprogrammen offenbart sich meist, dass der politischen Einflussnahme enge Grenzen gesetzt sind und sich die
materiellen Lebensbedingungen der Bevölkerung in der Regel
nicht verbessern, wie Evaluierungen aus dem deutschen BundLänder-Programm »Soziale Stadt« zu belegen scheinen. (vgl.
Reutlinger et al 2005, 13) Wenn die Prozesse hinsichtlich des
ökonomischen, kulturellen oder sozialen Kapitals weitestgehend »leer laufen« und BewohnerInnen dann lediglich aufgrund ihrer Aktivität Zufriedenheit verspüren, kommt sozialraumorientierte Soziale Arbeit in den Ruf nur zur Inszenierung
kollektiver Zufriedenheit beizutragen.
Drittens ist die Soziale Arbeit als Herrschaftsinstrument damit
konfrontiert, dass sich ihre ordnungs- und sicherheitspolitischen Agenden verstärken und sie bei der Kontrolle und
Disziplinierung von kriminellem, sozial abweichendem bzw.
unerwünschtem Verhalten zunehmend beteiligt sein wird.2 Vor
diesem Hintergrund muss darauf hingewiesen werden, dass die
sozialraumorientierte Soziale Arbeit sich mit ihrem »Präventivcharakter« im Rahmen des neoliberalen »Sozialmodells«
zur Territorialisierung, Stigmatisierung und Kulturalisierung
von Ursachen sozialer Ungleichheit eignet sowie für die soziale Ausschließung von Bevölkerungsgruppen funktionalisiert
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Sozialraum und Governance
Seite 245
245
werden kann. Bezug nehmend auf die aktuellen Kriminalisierungstendenzen besteht zudem die Gefahr, dass die
gebildeten sozialen Netzwerke im Stadtteil oder in
Nachbarschaften zur gegenseitigen sozialen Kontrolle instrumentalisiert werden.
Angesichts dieser Tendenzen steht die sozialraumorientierte
Soziale Arbeit vor der Herausforderung, auch um die Theorie
des Sozialen Raums für die Praxis nutzbar zu machen, politisch-theoretische Perspektiven stärker mitzudenken. Nur mit
der Reflexion einer veränderten Staatlichkeit kann sie ein kritisches Potenzial entwickeln, um trotz der Hegemonie neoliberaler Diskurse und Politiken ihrer eigenen »Einverleibung«
reflektiert zu begegnen. In dieser zu führenden Debatte plädiere ich für die Konzeptualisierung politischer Theorien, die
einen stärker konfliktorientierten Ansatz vertreten, da so
Interessenskonflikte, Formen der Aneignung und Machtkämpfe
stärker in den Blick geraten.
Perspektivisch gesehen muss die sozialraumorientierte Soziale
Arbeit eine räumlich-reflexive Haltung (Kessl/Reutlinger
2007) und eine fachlich-fundierte Praxis entwickeln, die in der
Bezugnahme zur soziologischen Theorie des Sozialraums
inhaltlich weiterentwickelt werden sollte. Denn gerade das
Erfassen der Rationalitäten von Menschen in marginalisierten
oder gesellschaftlich entkoppelten Lebenssituationen gilt es
analytisch zu erschließen und Möglichkeiten der ReArtikulation zu eröffnen. Diesbezüglich wird die Soziale Arbeit
auch weiterhin gefordert sein, aus einer kritisch-reflexiven
Perspektive zur Solidarisierung und Organisation kollektiven
Handelns unterstützend beizutragen. Zudem gilt es eine vertikal
ausgerichtete Praxis politischer Kommunikation im Staat zu
entwickeln, um für materielle, soziale, kulturelle, politische
Rechte und gegen soziale Ausschließung einstehen zu können.
(vgl. Stövesand 2007, 292f)
Angesichts der Dominanz neoliberaler Rationalitäten und
Politiken muss daraufhin hingewiesen werden, dass Hegemonie
SatzBakic.qxd
246
27.02.2008
17:19
Seite 246
Sozialraum und Governance
»kein kohärentes und geschlossenes, der Gesellschaft quasi von
oben aufgestülptes Konstrukt« (Hirsch 2001b, 209) ist, sondern
das Resultat politisch-sozialer Auseinandersetzung. Eine sozialraumorientierte Soziale Arbeit wird sich in Zukunft daran
messen lassen müssen, inwieweit sie antihegemoniales Wissen
erfassen und politisch vermitteln kann. Für die «paradoxe
Intervention antistaatlicher Politik mit staatlichen Akteuren«
(Sauer 2004, 125) ist die Soziale Arbeit historisch vorbereitet,
ihre kritische Kraft im Zeitalter des Neoliberalismus muss sie
aber erst entwickeln.
Anmerkungen
1
Die Dimension des Lokalen wird hier als Bezugssystem zu anderen
räumlichen Ebenen wie dem Nationalen oder Globalen verstanden,
denn Prozesse auf diesen Ebenen verlaufen parallel bzw. gleichzeitig
und sind miteinander verwoben. Das Lokale besitzt zudem auch einen
spezifizierbaren Ort – also eine weitere räumliche Ausprägung, wobei
diese nie rein lokal ist. vgl. Löw/Steets/Stoetzer 2007, 77f.
2
Es muss darauf hingewiesen werden, dass bei der Suche nach politischer Legitimation sich jene Politikfelder besonders eignen, die auf
Unsicherheit und Ängste der Mehrheitsgesellschaft abzielen und die
Bedrohung durch eine zu regulierende Minderheit unterstellen wie es
beispielsweise in Migrations- bzw. Einwanderungspolitiken oder
»Politiken innerer Sicherheit« der Fall ist und damit die öffentlichen
Debatten bestimmen. Die Konstruktion oder »Entdeckung« von
Problemgruppen – oder auch sozialarbeiterischer Zielgruppen –
erweist sich angesichts öffentlicher Skandalisierungen und
Ausschlussmechanismen in hohem Maße als problematisch.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 247
Sozialraum und Governance
247
Literatur
Bourdieu, Pierre (2002 [1993]): Ortseffekte. In: Bourdieu et al. (Hg.): Das
Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der
Gesellschaft. Konstanz, 159-167.
Bourdieu et al. (Hg.) (2002 [1993]): Das Elend der Welt. Zeugnisse und
Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz.
Bourdieu, Pierre (1987 [1979]): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main.
Brand, Ulrich (2004): Governance. In: Bröckling, Ulrich/Krasmann,
Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt am
Main, 111-117.
Dahme, Hans-Jürgen/Wohlfahrt, Norbert (2005): Recht und Finanzierung.
In: Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian/Maurer, Susanne/Frey, Oliver
(Hg.) (2005): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden, 263-278.
Brunnengräber, Achim et al. (2004): Interdisziplinarität in der
Governance-Forschung. Diskussionspapier. Internet: www.ioew.de/
home/downloaddateien/DP6404.pdf, [15.03.2006]
Diebäcker, Marc (2008): Governance und Demokratie. Die Frage nach
dem Wer steuert wen und warum? In: Hamedinger, Alexander/Frey,
Oliver/Dangschat, Jens S./Breitfuss, Andrea (Hg.): Strategieorientierte Planung im kooperativen Staat.Wiesbaden, 266-281.
Dünne, Jörg (2006): Soziale Räume. Einleitung. In: Dünne, Jörg/Günzel,
Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und
Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main, 289-303.
Fraser, Nancy (2003): Von der Disziplin zur Flexibilisierung? Foucault im
Spiegel der Globalisierung. In: Honneth, Axel/Saar, Martin (Hrsg.)
(2003): Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter FoucaultKonferenz 2001. Frankfurt am Main, 239-258.
Galuske, Michael/Schoneville, Holger (2007): Sozialraumorientierung. In:
Galuske, Michael: Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung.
Weinheim/München, 276-292.
Hinte, Wolfgang/Kreft, Dieter (2005): Sozialraumorientierung. In: Kreft,
Dieter/Mielenz, Ingrid (Hg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Weinheim/
München, 869-872.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
248
Seite 248
Sozialraum und Governance
Hinte, Wolfgang/Litges, Gerd/Springer, Werner (2000): Soziale Dienste
vom Fall zum Feld. Soziale Räume statt Verwaltungsbezirke. Berlin.
Hinte, Wolfgang/Oelschlägel, Dieter (2001): GWA – Eine Idee wächst auf
vielen Feldern. Doch lasst uns die Spreu vom Weizen trennen! Ein
Interview mit Dieter Oelschlägel und Wolfgang Hinte. In: Hinte,
Wolfgang/Lüttringhaus, Maria/Oelschlägel, Dieter: Grundlagen und
Standards der Gemeinwesenarbeit. Münster, 17-36.
Hirsch, Joachim (2001a): Die Internationalisierung des Staates.
Anmerkungen zu einigen aktuellen Fragen der Staatstheorie. In:
Hirsch, Joachim/Jessop, Bob/Poulantzas Nicos: Die Zukunft des
Staates. Denationalisierung, Internationalisierung, Renationalisierung. Hamburg, 101-138.
Hirsch, Joachim (2001b): Postfordismus: Dimensionen einer neuen kapitalistischen Formation. In: Hirsch, Joachim/Jessop, Bob/Poulantzas
Nicos: Die Zukunft des Staates. Denationalisierung, Internationalisierung, Renationalisierung. Hamburg, 171-209.
Joas, Hans/Knöbl, Wolfgang (2004): Zwischen Strukturalismus und
Theorie der Praxis – die Kultursoziologie Pierre Bourdieus. In: Dies.:
Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Frankfurt am Main,
518- 557.
Katschnig-Fasch, Elisabeth (2003): Das ganz alltägliche Elend.
Begegnungen im Schatten des Neoliberalismus. Wien.
Kessl, Fabian/Reutlinger Christian (2007): Reflexive räumliche Haltung.
In: Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian/Deinet, Ulrich: Sozialraum.
Eine Einführung. Wiesbaden, 121-129.
Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian/Maurer, Susanne/Frey, Oliver (Hg.)
(2005): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden.
Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main.
Löw, Martina/Steets, Silke/Stoetzer, Sergej (2007). Einführung in die
Stadt- und Raumsoziologie. Opladen/Farmington Hills.
Löw, Martina/Sturm, Gabriele (2005). Raumsoziologie. In: Kessl,
Fabian/Reutlinger, Christian/Maurer, Susanne/Frey, Oliver (Hg.)
(2005): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden, 31-48.
Rehbein, Boike (2006): Die Soziologie Pierre Bourdieus. Konstanz.
Reutlinger, Christian/Kessl Fabian/Maurer, Susanne: Die Rede vom
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 249
Sozialraum und Governance
249
Sozialraum – eine Einleitung. In: Kessl, Fabian/Reutlinger,
Christian/Maurer, Susanne/Frey, Oliver (Hg.) (2005): Handbuch
Sozialraum. Wiesbaden, 11-27.
Sauer, Birgit (2004): Staat – Institutionen – Governance. In: Rosenberger,
Sieglinde K./Sauer, Birgit (Hg.): Politikwissenschaft und Geschlecht.
Wien, 107-125.
Swyngedouw, Erik (2005): Governance Innovation and the Citizen: The
Janus Face of Governance beyond-the-State. In: Urban Studies 42
(11), 1991-2006.
Stenson, Kevin (2007): Staatsmacht, Biopolitik und die lokale Regierung
von Kriminalität in Großbritannien. In: Krasmann, Susanne/Volkmer,
Michael (Hg.): Michel Foucaults ›Geschichte der Gouvernementalität‹ in den Sozialwissenschaften. Internationale Beiträge.
Bielefeld, 181-209.
Steinrücke, Margareta (1997): Vorwort. In: Bourdieu, Pierre (1997): Der
Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik und Kultur 2.
Herausgegeben von Margaret Steinrücke. Hamburg, 7-15.
Stövesand, Sabine (2007): Gemeinwesenarbeit und Gouvernementalität.
In: Anhorn, Roland/Bettinger, Frank/Stehr, Johannes (Hg): Foucaults
Machtanalytik und Soziale Arbeit. Eine kritische Bestandsaufnahme.
Wiesbaden, 277-294.
Treibel, Annette (2006): Kultur, Ökonomie, Politik und der Habitus des
Menschen. In: Ders.: Einführung in die soziologischen Theorien der
Gegenwart. Wiesbaden, 219-243.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 250
System und Subjekt
Fabian Kessl
»Letztlich ist es die Praxis,
die die einzige Kontinuität
zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart bildet,
oder umgekehrt die Weise,
in der die Gegenwart die Vergangenheit erklärt.«
(Gilles Deleuze Foucault: 162)
Einleitung: Zur Ausblendung subjektkritischer
Einwände in den Diskussionen um Soziale Arbeit
Das Subjekt hat es schwer am Anfang des 21. Jahrhundert.
Denn es wird ihm im fortgeschrittenen Liberalismus so viel
zugemutet, wie noch nie in der Moderne (vgl. Bröckling 2007;
Reckwitz 2006: 441ff.). Nikolas Rose (2000: 14) diagnostiziert,
die Einzelnen würden heute angehalten, so zu leben, »als ob sie
ein Projekt aus sich selbst machten«. Im Leben in der flüchtigen Moderne: »geht es (somit) zuallererst und vor allem darum,
in Bewegung zu bleiben« (Bauman 2007: 149; Hervorh. im
Orig.). Für die Soziale Arbeit haben Maria Bitzan, Eberhard
Bolay und Hans Thiersch (2006²: 260) diesen Sachverhalt
jüngst folgendermaßen übersetzt: »Die Einzelnen erfahren sich
auf sich selbst geworfen«. Die Dominanz aktivierender
Interventionsstrategien in verschiedenen Feldern der Sozialen
Arbeit und der Sozialpolitik sind Ausdruck dieser Eigenverantwortungs-Anrufung der Gesellschaftsmitglieder (vgl.
Dollinger/Raithel 2006; Kessl 2006). Aktivierungspropagandisten folgern für die Kinder- und Jugendhilfe dementsprechend, die bisherige sozialpädagogische Handlungsmaxime der
Unterstützungsorientierung müsse grundlegend überdacht wer-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
System und Subjekt
17:19
Seite 251
251
den und stattdessen müsse nun der neuen Formel
»Handlungsdruck statt Übernahmegarantie« gefolgt werden
(Esch et al. 2001: 522). Diese Zuschreibung von Lebensgestaltungsverantwortung an – individuelle (einzelne Gesellschaftsmitglieder) wie kollektive (Familien, Nachbarschaften,
Stadtteilbevölkerungen) – Subjekte geschieht in einer Phase, in
der parallel eine grundlegende Infragestellung der Idee des
Subjekts Raum gegriffen hat: Vor allem (post)strukturalistische
und (sozial)konstruktivistische Perspektiven stellen die seit der
Aufklärung dominierende humanwissenschaftliche Idee »des
Subjekts« als einer relativ autonom agierenden leiblichen
Einheit in Frage: »Das Subjekt als eine mit sich selbst identische Entität gibt es aber nicht mehr« (Butler 1997: 315; vgl.
Luhmann 1987: 593ff.).
Zwar haben sich die zum Teil heftig geführten Auseinandersetzungen um einen vermeintlichen »Tod des Subjekts« oder
dessen schon wieder zu proklamierende »Wiederkehr« nach
den ersten Aufregungen seit Ende der 1960er Jahre, die vor
allem die französischsprachigen Beiträge im Anschluss an
Nietzsches, Freuds und Heideggers Überlegungen ausgelöst
hatten, inzwischen wieder deutlich beruhigt. Dennoch bleibt
die subjektkritische Herausforderung gerade für eine
(sozial)pädagogische Perspektive bestehen. Schließlich geht es
in der Sozialen Arbeit nach weit verbreitetem Selbstverständnis
darum, dass das Subjekt lernt, »über sich selbst zu verfügen,
seine eigenen Perspektiven zu fassen und zu verfolgen«
(Winkler 1988: 335). Eine sozialpädagogische Intervention
wird dementsprechend als erfolgreich bestimmt, wenn das
Subjekt »imstande wird, sich selbst zu erziehen«, wie es
Michael Winkler vor knapp 20 Jahren in einem der seltenen
deutschsprachigen Versuche einer theorie-systematischen
Bestimmung Sozialer Arbeit formuliert hat. Vor dem
Hintergrund eines solchen Selbstverständnisses müsste eine
Auseinandersetzung mit den vielfältigen und grundsätzlichen
subjektkritischen Einwänden (vgl. Meyer-Drawe 1991) nur
SatzBakic.qxd
252
27.02.2008
17:19
Seite 252
System und Subjekt
allzu nahe liegend sein. Überraschenderweise fehlen diese aber
bisher weitgehend – eine der Ausnahmen stellen bemerkenswerterweise die jüngeren Arbeiten des eben zitierten Autors dar
(vgl. Winkler 2006: 119ff.).
Die weitgehende Nicht- oder De-Thematisierung subjektkritischer Einwände in den Diskussionen um Soziale Arbeit ist noch
aus zwei weiteren Gründen überraschend. Zum einen haben
innerhalb der Debatten um Soziale Arbeit gerade subjektzentrierte Motive als Teil von handlungskonzeptionellen Reformprogrammen (adressaten-, kunden- und nutzerorientierte
Ansätze) und jüngst auch als Teil neuer methodologischer
Bestimmungsversuche (Adressaten-, Konsumenten- und
Nutzerforschung) zunehmend an Einfluss gewonnen (vgl. Kap
1).1 Zum anderen wurden in den letzten Jahren eine ganze
Reihe, vor allem systemtheoretisch (vgl. zum Überblick
Merten/Scherr 2004), aber auch einzelne machtanalytisch argumentierende Arbeiten (vgl. zum Überblick Kessl 2007) im Feld
der Wissenschaft Sozialer Arbeit vorgelegt – also Arbeiten, die
sich an konstitutiv subjektkritischen Methodologien ausrichten
(vgl. Kap. 2). In den Diskussionen um Soziale Arbeit ist somit
die gleichzeitige Konjunktur subjektzentrierter Bestimmungen,
in denen die Akteursfigur »des Subjekts« als konzeptioneller
Ausgangspunkt gesetzt wird, und subjektkritischer Methodologien, vor allem in systemtheoretischer Variante, zu konstatieren. Dass angesichts dieser Situation explizite Auseinandersetzungen mit den subjektkritischen Einwänden – auch in den
eben solche Einwände umfassenden Methodologien – fast
komplett fehlen bzw. diese im Fall ihrer Diskussion umgehend
wieder als unzureichend verworfen werden, ist erklärungsbedürftig.
Um diese verblüffende Gleichzeitigkeit von Subjektzentrierung
und subjektkritischer Methodologie einerseits und Nicht- bzw.
De-Thematisierung subjektkritischer Einwände andererseits zu
erklären, wird im Folgenden im ersten Schritt am Beispiel der
adressaten- bzw. nutzerorientierten Handlungskonzeptionen
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 253
System und Subjekt
253
und Methodologien die Präsenz subjektzentrierter Annahmen
innerhalb der Diskussionen um Soziale Arbeit skizziert und
nach den Gründen der hierbei weitgehend ausbleibenden
Thematisierung subjektkritischer Einwände – oder deren DeThematisierung – gefragt. Daran anschließend werden zentrale
Aspekte der einflussreichsten subjektkritischen Methodologie,
der Luhmannschen Systemtheorie, und deren Rezeption diskutiert. Auf dieser Basis kann dann deutlich gemacht werden, dass
die weitgehende Aus- und Überblendung des subjektkritischen
Potenzials in der sozialpädagogischen Rezeption einerseits auf
grundlegende Theorieprobleme dieser Bezugstheorie und andererseits stellvertretend auf die immense Verstrickung sozialpädagogischer Konzepte mit subjektzentrierten Vorstellungen
verweist. Vor diesem Hintergrund wird abschließend eine praxistheoretische Erweiterung subjektkritischer Perspektiven –
allerdings weniger im Anschluss an die systemtheoretischen
denn die machtanalytischen Formate – angedeutet. Ein solcher
Zugang bietet Ansatzpunkte an für eine angemessene – wissenschaftlich-analytische wie fachlich-professionelle – Reaktion
auf die subjektkritischen Einwände der letzten Jahre an, so die
hier vertretene These.
Aktuelle Subjekt-Konjunktur(en)
in der Sozialen Arbeit
Adressaten-, konsumenten- und nutzerorientierte Ansätze und
Methodologien stellen die Annahme eines zumindest potenziell
einheitlichen Subjekts an den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. In diesem Sinne setzen entsprechende Konzeptionen sozialpädagogischer Intervention »das Subjekt« als Startpunkt voraus – sie unterstellen damit das Modell eines zentrierten
Subjekts. Soziale Arbeit habe es »in der Regel mit Menschen zu
tun«, so formulieren Bitzan, Bolay und Thiersch (2006: 7) diese
Annahme in ihrer einführenden Darstellung zu ihrem aktuellen
SatzBakic.qxd
254
27.02.2008
17:19
Seite 254
System und Subjekt
Sammelband Die Stimme der Adressaten. Für ein dementsprechendes fachliches Handeln sei daher, so schließen sie an, ein
»Wissen aus der ›Innenperspektive‹ der Subjekte« erforderlich
(ebd.). Gertrud Oelerich und Andreas Schaarschuch schreiben
in ihrem Versuch der Grundlegung einer sozialpädagogischen
Nutzerforschung in analoger Weise davon, dass innerhalb der
sozialpädagogischen Nutzerforschung »die Nutzerinnen und
Nutzer als aktive Subjekte konzipiert« würden (Schaarschuch/
Oelerich 2005: 16).2
Für die Autorinnen und Autoren dieser Ansätze scheinen somit
Mensch, Nutzer und Subjekt synonyme Begriffsbestimmungen
für den als einheitlichen Aktanten angenommenen direkten
Adressaten/die direkte Nutzerin sozialpädagogischer Dienstleistungsangebote. Vor dem Hintergrund der zeitgleichen
Fokussierung und Infragestellung einer solchen zentrierten und
präskriptiven Subjektfigur ruft eine solche Setzung aktuell nach
Erläuterung. Denn gerät die dringend notwendige fachpolitische
Abgrenzung sozialpädagogischer Strategien von den semantisch
und konzeptionell häufig analogen neo-sozialen und neo-liberalen Subjektivierungsprogrammen (Versprechen einer Allzugänglichkeit differenter Lebensstile und Aktivierung von Eigenverantwortung) nicht manches Mal zum Problem, wenn nun
sozialpädagogisch wie »aktivierungspädagogisch« (Kessl 2006)
die Selbsttätigkeit »des Subjekts« zum Ausgangs- wie Zielpunkt
der jeweiligen Interventionsprogramme erklärt wird? Dieses
Dilemma ist den Autoren/innen adressaten- oder nutzerorientierter Programme durchaus bewusst. So betonen Bitzan, Bolay und
Thiersch in ihren abschließenden Überlegungen zur Adressatenforschung, dass »die Subjektperspektive in der Sozialen Arbeit
nicht ein Medium der noch zielgenaueren Bemächtigung der
AdressatInnen werden (dürfe)« (Bitzan/Bolay/Thiersch 2006²:
284; vgl. Schaarschuch/ Oelerich 2005: 14ff.). Doch dieser
Hinweis steht in einer eigenartigen Spannung zu der bereits
zitierten adressatenorientierten Ausgangsannahme derselben
Autoren/innen.3 Wie ist das zu erklären?
SatzBakic.qxd
27.02.2008
System und Subjekt
17:19
Seite 255
255
Zum einen scheint das Phänomen der widersprüchlichen oder
sogar der De- und Nicht-Thematisierung subjektkritischer
Einwände dem diesen Ansätzen unterliegenden politischen und
berufsethischen Postulat geschuldet, das sich einer emanzipatorischen Perspektive verpflichtet sieht: Schaarschuch und
Oelerich (2005: 19; vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch 20061: 7) markieren das für ihr Modell einer sozialpädagogischen
Nutzerforschung mit den Worten, es gehe um den »moralischen
Anspruch der Nutzerinnen auf Anerkennung als aktiv handelnde Subjekte«. Diese Emanzipationspostulate basieren zum
anderen auf spezifischen neo-marxistischen Denktraditionen,
auf deren Basis diese Autoren/innen in verschiedenen praxis-,
alltags- und aneignungstheoretischen Varianten argumentieren:
Ihre argumentative Basis konkretisiert sich dementsprechend in
Annahmen einer »Pseudokonkretheit« der Praxis (Kosik
19896: 217; vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch 2006²: 260ff.) oder der
nur »einseitig(en) und unvollständig(en)« Aneignungsmöglichkeiten menschlicher Wirklichkeit (Leontjew 1971: 236; vgl.
Schaarschuch/Oelerich 2005: 11). 4
Die damit skizzierte aktuelle Konjunktur subjektzentrierter
Annahmen in den Diskussionen um Soziale Arbeit ist also vor
allem der spezifischen humanistischen Denktradition geschuldet, die das Subjekt als konstitutive autonome Handlungseinheit zugleich voraussetzt und durch emanzipatorische
Interventionsstrategien freisetzen will. Ganz im Sinne des
Vorwurfs, den vor allem Axel Honneth (vgl. 1985: 194f.) und
Jürgen Habermas (1985/1998) Mitte der 1980er Jahre mit
Verweis auf Michel Foucaults Überlegungen formuliert hatten,
dass nämlich subjektkritische Überlegungen sich durch ihre
machttheoretische Verkürzung auszeichneten, »vergesellschaftete Individuen nur als (...) die standardisierten Erzeugnisse
einer Diskursformation« wahrzunehmen (ebd.: 343), scheinen
auch diese Ansätze in der Sozialen Arbeit das Projekt der
Aufklärung als subjektzentriertes pädagogisches Programm
verteidigen zu wollen. Subjektkritische Einwände werden von
SatzBakic.qxd
256
27.02.2008
17:19
Seite 256
System und Subjekt
solchen Standpunkten aus schnell als Bedrohung dieser subjektkritischen Emanzipations- und Befreiungsprogramme angesehen. Auch manchen explizit machtanalytisch argumentierenden Autoren/innen im Feld der Wissenschaft Sozialer Arbeit ist
es angesichts der vor allem Foucault zu gerechneten
Subjektkritik nicht ganz geheuer. Sie plädieren zwar dafür, das
machtanalytische Potenzial zu nutzen, wenden aber zugleich
ein, dass man damit allzu schnell in die Gefahr gerate, (politische) Rationalitäten und (Subjekt)Praktiken in eins zu setzen
und damit die »Eigensinnigkeit des Handelns gegenüber den
Programmatiken« auszublenden (Stövesand 2007: 286).
System und Subjekt, so könnte man diese Lesart zuspitzen, fielen aber eben nicht in eins, was eine solche totalisierende
Machtperspektive aber allzu leicht nahelege, wie beispielsweise die Studien zur Gouvernementalität vorlegten (kritisch
dazu: Kessl 2007: 217ff.). Daher sei auch nicht weniger als eine
subjekttheoretische Re-Lektüre machtanalytischer Vorgehensweisen notwendig (vgl. auch Horlacher 2007).
So berechtigt die Kritik im Einzelnen und gegenüber einzelnen
Aspekten machtanalytischer Studien ist, so problematisch ist
sie zugleich. Denn solche Positionen kommen zugleich in die
Gefahr, die konstitutive Relationalität »der Natur« zu übersehen bzw. analytisch nicht fassen zu können – oder wie es
Etienne Balibar (1991: 63) in seiner vergleichenden Lektüre
Marxscher und Foucaultscher Überlegungen mit Blick auf die
marxistischen Denktraditionen verdeutlicht, allzu schnell »von
der Materialität der Körper« auf die »Idealität des Lebens«
überzugehen.
Nicht zuletzt fehlt bereits in den sozialphilosophischen
Einwänden, wie sie hier mit dem Verweis auf Honneth und
Habermas angedeutet werden, eine explizite Auseinandersetzung mit dem post-aufklärerischen, post-kritischen und posthumanistischen Anspruch und dem entsprechenden Transformations- und Subversionspotenzial solcher Perspektiven:5
Dieser Hinweis könnte nun nicht nur miss-, sondern auch als
SatzBakic.qxd
27.02.2008
System und Subjekt
17:19
Seite 257
257
deutlich verkürzt verstanden werden, wenn er nicht auch mit
einer Problematisierung solcher subjektkritischen Deutungsangebote selbst verbunden würde. Denn diese können zum
einen in die Gefahr geraten, das Potenzial der Aufklärung allzu
schnell zu verschenken und zum anderen lösen sie den – von
uns im Anschluss an erkenntnis- und subjektkritische Herangehensweisen – beanspruchten radikal relationalen und praxisanalytischen Zugang keineswegs per se ein. Das soll im
Folgenden, wie bereits angedeutet, am Beispiel der in den
Diskussionen um Soziale Arbeit in den letzten Jahren besonders
einflussreichen subjektkritischen, nämlich systemtheoretischen
Methodologie verdeutlicht werden.
Vom handelnden Subjekt zum handelnden System
Niklas Luhmann fordert in seinen Überlegungen zur
Grundlegung einer konstruktivistischen Weltordnung eine
generelle Aufgabe der »Denkfigur Subjekt«. Der Mensch sei
nur mehr als Umwelt sozialer Systeme – das heißt einzelner
Funktionssysteme, wie Wirtschaft, Recht oder Bildung – zu
erfassen und dabei selbst in eine dreifache Systemaufteilung zu
splitten: in ein physisches, ein psychisches und ein soziales
System (vgl. Luhmann 2002: 256). Für eine sozialpolitische
und damit auch sozialpädagogische Perspektive entscheidend
sei diese Annahme, weil damit die Gesellschaftsmitglieder
»letztlich für keines der Funktionssysteme mehr als Personen
relevant« seien (Hillebrandt 2004: 132). Das Individuum ist
vielmehr nur mehr hinsichtlich des spezifischen Aspekts eines
einzelnen Funktionssystems teil-integriert (Inklusion) und
damit hinsichtlich dieses Aspekts zugleich aus anderen
Teilsystemen ausgeschlossen (Exklusion). In den modernen,
funktional differenzierten Gesellschaften ist somit, nach
Luhmann, das Individuum nie mehr in ein Funktionssystem
komplett inkludiert, da Funktionssysteme eben immer nur noch
SatzBakic.qxd
258
27.02.2008
17:19
Seite 258
System und Subjekt
spezifische, einzelne Bedürfnisse als relevant anerkennen und
andere Bedürfnisse in alternative, dafür zuständige Systeme
verweisen (vgl. Scherr 2004: 57ff.). Diese auf den ersten Blick
scheinbar radikal innovative Theoriearchitektur auf dem
Fundament einer Annahme funktional differenzierter, moderner
Gesellschaften erweist sich auf den zweiten Blick allerdings als
ein, wenn auch beeindruckender Taschenspielertrick: Luhmann
überträgt nämlich die bisherige Figur des Subjekts, aber auch
die damit verbundenen systematischen Probleme »einfach« auf
die Figur des Systems.
Luhmanns Denkmodell unterliegt eine relativ schlichte und
wohl gerade deshalb so überzeugungskräftige analytische
Operation: Mit der System/Umwelt-Unterscheidung macht er
soziale Zusammenhänge auf einer erhöhten Abstraktionsebene
neu kategorisierbar (vgl. Luhmann 2005: 7). Damit scheint es
Luhmann möglich, »zahlreiche Denkgewohnheiten« zu durchschneiden, indem er systemtheoretisch deren Anteile auf die
»eine bzw. die andere Seite dieser (systemischen; F.K.)
Grenzlinien verteilt« (ebd.).6 Nicht nur das damit mögliche
»totalisierende Ordnungsdenken« (vgl. Demirovic 2001: 16) ist
theorie-architektonisch beeindruckend, sondern vor allem auch
die damit verbundene Möglichkeit, das »Eigentliche« der
Soziologie freizulegen und zu reinigen: das soziale System. Nie
zuvor schien es so pur präsentiert werden zu können – frei von
damit verbundenem oder gar eingewobenem »humanistischen,
leiblichen, ästhetischen oder psychischen Ballast«. Die
Möglichkeit eines solchen soziologischen Purismus, einer
»purifizierte(n) Soziologie«, wie auch systemtheoretische
Denker in der Sozialen Arbeit formulieren (Scherr 2000: 71),
scheint Luhmanns zentrale Motivation, wenn er seine
Einwände gegen eine theoretische Integration der Subjektfigur
formuliert (vgl. Luhmann 2002: 256).
Diese »Befreiung« der Subjekte gelingt Luhmann aber eben nur
dadurch, dass er nun die »Systeme« statt der »Subjekte« zu den
bestimmenden Handlungseinheiten erklärt. »Das System« wird
SatzBakic.qxd
27.02.2008
System und Subjekt
17:19
Seite 259
259
zum theorie-konzeptionellen Ausgangs- und Endpunkt: Statt
der von Luhmann unseres Erachtens zurecht kritisierten, die
Philosophie und anschließend die Human- und Sozialwissenschaften seit der die Aufklärung konstituierenden subjektzentrierten Perspektive haben wir es nun mit einer systemzentrierten zu tun. In Luhmanns Theoriekonstruktion handeln
zwar nicht mehr die »Subjekte«, aber dafür die »Systeme« –
auch wenn Luhmann den Handlungsbegriff durch die relativ
schlichte semantische Transformation in den Begriff der
»Operation« zu überwinden sucht.
Die zentrale Frage während der ersten Rezeptionsphase der
Luhmannschen Systemtheorie in den theorie-systematischen
Diskussionen um Soziale Arbeit war daher auch diejenige nach
der Möglichkeit einer Bestimmung Sozialer Arbeit als eines
eigenständigen Funktionssystems (vgl. Baecker 1994; Merten
1997: 86ff.; kritisch dazu: Bommes/Scherr 2000). Diese
Auseinandersetzung scheint trotz der heftig geführten Debatten
allerdings inzwischen ohne merklichen Widerhall weitgehend
verklungen. Stattdessen wurde aber eine zweite Rezeptionsphase eingeläutet.7 Im Zentrum steht nun, so lässt sich aus der
hier interessierenden Perspektive formulieren, eine Auseinandersetzung mit der Luhmannschen Forderung nach einer radikalen Auflösung des Subjekts. Diese Forderung geht die
Mehrheit der systemtheoretisch argumentierenden AutorInnen
so nicht mit (vgl. Merten 1997: 49ff.). Stattdessen erweitern
diese Luhmanns funktionale Differenzierungstheorie um eine
Perspektive auf soziale Ungleichheitsphänomene (vgl. Merten
2004: 108, daran anschließend Kleve 2004: 173ff.) bzw. auf die
Bedingungen von Exklusions- und Inklusionsprozessen (vgl.
Scherr 2004: 69ff.; vgl. Bommes/Scherr 2000: 97). So schlägt
Roland Merten die Einführung eines Begriffs der »NichtInklusion« vor, womit er nichts anderes meint als den
Ausschluss von Menschen aus allen relevanten Teilsystemen –
eine für Luhmanns Systemtheorie an sich gar nicht denkbare
Konstruktion (vgl. Kronauer 2002: 126ff.; Hillebrandt 2004:
SatzBakic.qxd
260
27.02.2008
17:19
Seite 260
System und Subjekt
132). Dass sich eine ganze Reihe der sozialpädagogischen
Systemtheoretiker darüber hinwegsetzen, ist kein Zufall. Sie
reagieren damit erstens auf einen Schwachpunkt der
Luhmannschen Systemtheorie selbst. Denn Luhmann neigt in
seinen Überlegungen dazu, wie Peter Zima (2000: 331) verdeutlicht, »den Subjektbegriff mit dem individuellen oder
transzendentalen Subjekt zu identifizieren«. Damit verengt er
die Subjektfigur aber kategorial in einer Weise, wie sie nicht
einmal von explizit subjektzentrierten Ansätzen in Anspruch
genommen wird. Diese individualistische Subjektkonstruktion
scheint zugleich theorie-immanent konsequent, da Luhmann
einen »radikalen Individualismus« (Luhmann 2002: 257) unterstellt, den gerade die Verlagerung der psychischen wie physischen Systeme als zentrale Bestandteile menschlicher Akteure
in die Umwelt der Sozialsysteme möglich mache (kritisch dazu
Merten 1997: 49).
Das sich damit für eine Wissenschaft Sozialer Arbeit zweitens
andeutende Problem ist die von Systemtheoretikern als immenser Vorteil präsentierte »unglaubliche Realitätsfähigkeit der
Systemtheorie« (Stichweh 1999: 62, zit. nach Demirovic 2001:
24). Die Behauptung lautet, mit Luhmanns Systemtheorie
könne man sich von kritisch-theoretischen Zugängen absetzen
und diese »als ein Unterfangen vorwiegend normativen
Gehalts« ausweisen (ebd.). Ohne nun an dieser Stelle auf das
damit angedeutete Werturteilsproblem weiter einzugehen (vgl.
dazu Ritsert 1996: 30ff.), ist festzuhalten, dass Luhmanns
Systemtheorie gegenüber Positionen, die sich durch eine eingelagerte und nicht-explizierte Normativität ausweisen, zumindest auf den ersten Blick als radikal-kritischer Gegenentwurf
gelesen werden könnte.8 Könnten damit gerade für eine
Wissenschaft Sozialer Arbeit, in deren Mittelpunkt die skeptische Rekonstruktion dieser Instanz der Lebensführungsregulierung und –regierung gehen sollte, systemtheoretische
Ansätze von entscheidendem Wert sein? Denn einer
Wissenschaft Sozialer Arbeit muss es um die sozialen Praktiken
SatzBakic.qxd
27.02.2008
System und Subjekt
17:19
Seite 261
261
der beteiligten Akteure gehen, und zwar hinsichtlich ihrer
Regulierung und Regierung, denn genau das ist der Auftrag
Sozialer Arbeit. Und könnten daher systemtheoretische
Instrumente, wie »Formbegriffe, die auf der Ebene der Relationierung von Relationen angesiedelt sind« (Luhmann 1987: 26)
nicht sehr hilfreich sein? Erinnert Luhmanns Hinweis, dass
Systeme wie deren Umwelt jeweils nur das sein können, was
sie »im Bezug auf das jeweils andere (sind)« (ebd.: 244) nicht
deutlich an relationale und eben auch explizit macht- und herrschaftssensible Zugänge (vgl. Appadurai 1996)? Tatsächlich
weist diese systemtheoretische Annahme – zumindest auf den
ersten Blick – durchaus Strukturanalogien zu explizit machtund herrschaftssensiblen Ansätzen auf, in denen davon ausgegangen wird, dass Herrschaftsverhältnisse nur in Form von
»materiell verdichteten Kräfteverhältnissen«, so Poulantzas
(2002) Bestimmung des Staats, bzw. als ein Feld blockierter
Machtbeziehungen (Foucault 1984: 11), angemessen zu erfassen seien. Und definiert nicht Luhmann »Herrschaftspositionen« als »Grenzstellen des Systems«, von denen aus
»eine entsprechende Ausstattung mit Macht und mit
Kompetenzen legitimier(t werde)« (Luhmann 1987: 280)?
Die Schwierigkeit, Luhmanns Überlegungen als theorie-systematische Grundlage für eine radikal relationale und damit
macht- und herrschaftssensible Perspektive zu nutzen, ist, dass
systemtheoretisch nicht nur eine relationales, sondern auch ein
relativistisches Deutungsangebot gemacht wird. Und damit
beginnt das systematische Problem: Das Phänomen einer, wenn
auch nur historisch-spezifischen Fixierung der Systemgrenzen,
einer Herrschaftspositionierung also, wird von Luhmann theorie-architektonisch ausgeschlossen: »Erst wenn die Sinngrenzen die Differenz von System und Umwelt verfügbar halten, kann es die Welt geben« (ebd.: 283). Diese gegen einen
Parsonianischen Strukturfunktionalismus zwar überzeugend
argumentierende Forderung, die ein Modell flexibler Grenzen
beansprucht, verschattet aber zugleich den analytischen Blick
SatzBakic.qxd
262
27.02.2008
17:19
Seite 262
System und Subjekt
auf Herrschaftsverhältnisse. Denn diese realisieren sich gerade
als Fixierung von historisch-spezifischen Formaten eines
bestimmten Musters von Systemgrenzen. Luhmanns Begründung für diese Annahme ist, dass er das Prinzip der
Selbstreferentialität absolut setzt, die Systemtheorie also auf
der Annahme einer »autopoietischen Abkapselung« basiert
(Zima 2000: 342). Entscheidend und konstitutiv für die Welt
sind demnach die Logiken der Einzelsysteme und nicht deren
Verschränkung oder Verkopplung (vgl. Luhmann 1995: 174).
Gerade in diesen Verschränkungen, Grenzfixierungen oder veränderungen zeigen sich aber die historisch-spezifischen
Macht- und Herrschaftsverhältnisse.
Damit verweigert sich Luhmann einer macht- und herrschaftskritischen Perspektive und sein Relationalitätspostulat wird eindimensional, weil Relationen in seiner Theorie autopoietischer
Systeme in diesen und deren konstitutiven Selbstreproduktionslogik ihren Ausgangspunkt nehmen und immer wieder
an diese zurückgebunden bleiben. Ganz im Gegensatz zu herrschaftskritischen Zugängen, beispielsweise in machtanalytischer
oder neo-marxistischer Variante. Denn diese fokussieren gerade
auf den »Gesamteffekt dieser Beweglichkeiten« (Foucault 1999:
114), das heißt gerade die Gestalt und vor allem die
Gestaltungsformierung der Herrschaftspositionen: Die Grenzstellen, die Grenzreproduktionen und damit die Bearbeitung der
Grenzen »der Systeme«, um nochmals Luhmanns Terminologie
zu verwenden, rücken dann in den analytischen Fokus. »Situationen der Missachtung«, wie sie für die Soziale Arbeit konstitutiv sind, weil diese das Ergebnis fremder und eigener Regulierungs- und Regierungsstrategien darstellen, entstehen eben
genau dann, »wenn es soziale Akteure gibt, die die Macht haben,
bestimmten Bevölkerungsgruppen die soziale Anerkennung zu
verweigern« (Hillebrandt 2004: 136). Systemtheoretisch ist
durch den Verweis auf die je »eigene Gesellschaftsbeschreibung« der einzelnen Funktionssysteme eine solche
Analyseperspektive ausgeschlossen (Luhmann 1995: 147).
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 263
System und Subjekt
263
System, Subjekt und Soziale Arbeit
Gemeinsam ist konstruktivistischen wie machtanalytischen
Zugängen also, dass sie auf die Notwendigkeit einer radikalen
Dezentrierung des zentrierten Subjektmodells aufmerksam
machen können: Das Subjekt ist nicht mehr »Herr im eigenen
Haus« (®i¾ek 2004). Dieser Hinweis ist gerade angesichts der
konstitutiven Einlagerung subjektzentrierter Annahmen in traditionelle wie aktuelle Konzepte Sozialer Arbeit entscheidend –
und findet bisher, wie der Verweis auf jüngere adressaten- und
nutzerbezogene Konzepte gezeigt hat, zu wenig Berücksichtigung. Während allerdings konstruktivistische Zugänge im
Sinne der Luhmannschen Systemtheorie aus dieser Einsicht
eine Verschiebung der menschlichen Akteure in die Außenwelt
der Funktionssysteme und zugleich die Rollenübernahme durch
die Systeme vorschlagen, geht es machtanalytischen
Vorgehensweisen um den Hinweis auf die differenten, historisch-spezifischen Konstruktionsmodi der Subjektivierung
selbst. Machtanalytische – wie auch dekonstruktive – Ansätze
basieren also auf der Annahme, dass man das »Subjekt nicht als
schlechthin Erstes ansetzen« kann, denn es »gehorcht vielleicht
einem Subjektprinzip, ist aber keines« (Waldenfels 1987: 115)
– und genau dieses Prinzip gilt es jeweils historisch-spezifisch
zu rekonstruieren. Für die Wissenschaft Sozialer Arbeit heißt
das aktuell, die in den entstehenden post-wohlfahrtsstaatlichen
Gesellschaften (vgl. Beiträge in Bütow/Chassé/Hirt 2007;
Kessl/Otto 2008/i.E.) dominierenden Subjektivierungsweisen
in den Blick zu nehmen und deren Regelmäßigkeiten nachvollziehbar und transparent deutlich zu machen – vor allem in
Bezug auf die damit verbundene Ermöglichung oder
Verunmöglichung von Handlungsoptionen für die direkten
Nutzerinnen und Adressaten. Für die Soziale Arbeit als professionelle – und damit als pädagogische wie politische – Akteurin
sollte das unseres Erachtens heißen, sich ihrer selbst als Instanz
der (Re)Produktion dieser Subjektivierungsweisen zu begreifen
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 264
264
System und Subjekt
und das eigene Tun dementsprechend skeptisch auf die eigenen
Regulierungs- und Regierungsaktivitäten zu befragen.
Einer sich (gesellschafts)kritisch verstehenden Soziale Arbeit,
wie sie dieses Handbuch zu befördern versucht, kann es daher
nicht um die Vermittlung eines scheinbar gegebenen Verhältnisses von System und Subjekt (Individuum und Gesellschaft),
nicht um einen scheinbar eindeutigen Perspektivwechsel von
der systemischen auf die subjektive Ebene (Subjektorientierung), nicht um eine Substitution der autonomen Subjektfigur durch die (Funktions)Systemfigur (Systemtheorie), sondern sollte es um die analytische wie professionelle
Inblicknahme und Bearbeitung der historisch-spezifischen
Formate der Subjektivierung gehen.
Anmerkungen
1
Mit dem Begriff der Subjektzentrierung werden im Folgenden
Deutungsweisen kategorisiert, die das Subjekt als gegebenen, relativ
autonom aktionsfähigen Einzel-Aktanten theorie-systematisch
(Descartsches Cogito Ergo Sum) wie -politisch (klassischer
Humanismus) voraussetzen. Demgegenüber wenden subjektkritische
Perspektiven in der erkenntniskritischen Denktradition von Friedrich
Nietzsche, Sigmund Freud und Martin Heidegger ein, dass eine solche Annahme in ihrer immanenten Metaphysik stecken bleibe (vgl.
Derrida 1976: 21ff.) und demgegenüber ein de-zentrierter
Subjektbegriff gedacht werden müsse: »Es kommt also dazu, daß die
Gegenwart (...) nicht mehr als die absolute Matrixform des Seins,
sondern als eine ›Bestimmung‹ und ein ›Effekt‹ gesetzt wird« (ebd.:
23).
2
Ähnliches ist auch für die jüngsten Versuche der Etablierung einer
sozialpädagogischen Agency-Forschung zu konstatieren, wenn die
Vertreter/innen davon sprechen, dass »Personen (...) UrheberInnen
ihrer Handlungen (sind)« (Hirschler/Homfeldt 2006: 46).
3
In den aktuellen Versuchen zur Grundlegung einer sozialpädagogi-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 265
System und Subjekt
265
schen Agency-Forschung (vgl. Anmerkung 2) deutet sich die
Diskussion des zugrunde gelegten Subjektbegriffs zwar an manchen
Stellen an, wenn beispielsweise Hans-Günther Homfeldt, Wolfgang
Schröer und Cornelia Schweppe (2007: 245) aktuell im Anschluss an
Christian Reutlingers Arbeiten für eine kritische Perspektive auf soziale Entwicklung plädieren, die nicht nur die Selbstentwicklung, sondern
auch das »Entwickelt-Werden« der Menschen in den Blick nehme, und
außerdem die Begrenzung der sozialpädagogischen Biografie- und
Nutzerforschung auf »die biografische Verarbeitung von sozialpädagogischen Programmen« kritisieren (ebd.: 247). Allerdings ist der von
ihnen beanspruchte Analysefokus auf eine soziale Einbettung der
Akteure statt eines Fokus auf »immanente individuelle Fähigkeiten«
eine zugespitzte Dichotomie, die nicht nur hinter die immanenten subjekttheoretischen Grundannahmen der meisten vorliegenden Biografieund Nutzerforschungsprojekte zurückfällt, sondern auch für eine
Aufnahme subjektkritischer Einwände unzureichend bleibt – das illustriert die gleichzeitige Formulierung subjektzentrierter Annahmen der
Agency-Protagonisten selbst (vgl. Anmerkung 2).
4
Die Frage nach möglichen Gründen wird noch dadurch provoziert,
dass einzelne der benannten AutorInnen bereits vor fast 20 Jahren
selbst wegweisende, wenn auch (bisher) wenig rezipierte, Arbeiten zu
einer subjektkritischen Perspektive in der Sozialen Arbeit vorgelegt
haben (vgl. Bolay/Trieb 1988).
5
Anspruch dieser Perspektiven ist es, die Ereignishaftigkeit von
Praktiken und die Regelmäßigkeiten des Sag- und Sichtbaren zu
rekonstruieren (vgl. Waldenfels 2004), um dessen nur regionale
Gültigkeit auszuweisen, seine immanenten Ausschlussformen aufzudecken und die Grenzen zu markieren, an denen manches als Fremdes
zurückgewiesen wird, um der Identität des Einheimischen seine
Legitimität zu verleihen.
Mindestens in Bezug auf die Arbeiten von Axel Honneth ist die
Einschätzung der Ausblendung dieser Perspektiven inzwischen zu
modifizieren, da er sich in den letzten Jahren explizit mit der jüngeren Rezeption machtanalytischer Vorgehensweisen auseinandergesetzt hat (vgl. Honneth/Saar 2003).
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 266
266
6
System und Subjekt
Luhmanns selbst gestellte analytische Aufgabe ist enorm. Denn ihn
treibt nicht weniger um, als die Erarbeitung einer universalen Theorie
für das Soziale. Es gehe ihm, so formuliert er in der Einleitung zu
Soziale Systeme, seines Grundrisses einer allgemeinen Theorie (sic!),
um die »Universalität der Gegenstandserfassung in dem Sinne, daß
sie als soziologische Theorie alles Soziale behandelt und nicht nur
Ausschnitte« (Luhmann 1987: 9). Luhmanns Entwurf einer
Systemtheorie ist daher auch in die Gruppe der »Supertheorien« einzuordnen, einem Theorietypus, der »totalisierend verfährt«
(Demirovic 2001: 25), indem theoretische Gegenpositionen gleich
integriert und re-interpretiert werden, das heißt »sich selbst und ihren
Gegensatz selbst erklärt« (Luhmann 1978: 18, zit. nach Demirovic
2001: 25). Auch diese Totalisierung kann theorie-architektonisch faszinieren, bleibt damit doch – zumindest dem eigenen Anspruch nach
– keine systematische Lücke offen.
7
Die vorgeschlagene Differenzierung in zwei Rezeptionsphasen ist
nicht als eindeutige Chronologie der systemtheoretischen Debatten in
der Sozialen Arbeit zu verstehen, sondern als analytische
Differenzierung und Klarstellung. Denn die beiden unterschiedenen
Rezeptionsstränge verlaufen teilweise parallel nebeneinander her
bzw. in gegenseitiger Verschränkung zum gleichen Zeitpunkt.
8
Der konstitutive Ausgangspunkt einer radikal-relationalen Analyseperspektive sind die konfliktiven, ambivalenten, heterogenen und
miteinander verstrickten sozialen Praktiken, die zwischen Akteuren
und Akteuren und »Dingen« (Bruno Latour) in ihrer permanenten
(Re)Produktion existent werden. Theorie-systematisch knüpfen praxistheoretische Perspektiven (vgl. Reckwitz 2003) vor allem an neomarxistische Zugänge (Althusser; Poulantzas), machtanalytische
Ansätze (Foucault; Studien zur Gouvernementalität), hegemonietheoretische Entwürfe (Laclau/Mouffe) und sprachanalytische Deutungsmuster (Wittgenstein; Derrida; Butler) an.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 267
System und Subjekt
267
Literatur
Bitzan, Maria/Bolay, Eberhard/Thiersch, Hans (Hg.) (2006): Die Stimme
der Adressaten: empirische Forschung über Erfahrungen von
Mädchen und Jungen mit der Jugendhilfe, Weinheim/München.
Bolay, Eberhard/Trieb, Bernhard: Verkehrte Subjektivität: Kritik der individuellen Ich-Identität, Frankfurt a.M./New York 1988.
Bommes, Michael/Scherr (2000), Albert: Soziologie der Sozialen Arbeit:
eine Einführung in Formen und Funktionen organisierter Hilfe,
Weinheim/München 2000.
Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst: Soziologe einer
Subjektivierungsform, Frankfurt a.M..
Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht: die diskursiven Grenzen des
Geschlechts, Frankfurt a.M..
Bütow, Birgit/Chassé, Karl August/Hirt, Rainer (2007): Soziale Arbeit
nach dem Sozialpädagogischen Jahrhundert. Positionsbestimmungen
Sozialer Arbeit im Post-Wohlfahrtsstaat, Opladen/Farmington Hills.
Deleuze, Gilles: Foucault, Frankfurt a.M. 1997 (3. Auflage).
Demirovic, Alex: Komplexität und Emanzipation, in: ders.: (Hg.):
Komplexität und Emanzipation: kritische Gesellschaftstheorie und
die Herrausforderung der Systemtheorie, Münster 2001: 13-52.
Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie, Frankfurt a.M. 1985.
Dollinger, Bernd/Raithel, Jürgen (Hg.): Aktivierende Sozialpädagogik –
ein kritisches Glossar, Wiesbaden 2006.
Esch, Karin/Hilbert, Josef/Stöbe-Blossey, Sibylle (2001): Der aktivierende
Staat – Konzept, Potentiale und Entwicklungstrends am Beispiel der
Jugendhilfe, in: Heinze, Rolf G./Olk, Thomas (Hg.): Bürgerengagement in Deutschland: Bestandsaufnahme und Perspektiven,
Opladen: 519–547.
Foucault, Michel: Freiheit und Selbstsorge, Gespräch mit Michel Foucault
am 20. Januar 1984, in: Becker, Helmut/Wolfstetter, Lothar (Hg.):
Freiheit und Selbstsorge, Frankfurt a.M 1985: 9-28.
Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Band 1: Der Wille zum
Wissen., Frankfurt a.M. 1999 (11. Auflage).
Foucault, Michel: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit, in:
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 268
268
System und Subjekt
ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 4: 1980-1988,
Frankfurt a.M. 2005: 875-909.
Habermas, Jürgen (1995), Der philosophische Diskurs der Moderne,
Frankfurt a.M.
Hillebrandt, Frank : Soziale Ungleichheit oder Exklusion? Zur funktionalistischen Verkennung eines soziologischen Grundproblems, in:
Merten, Roland/Scherr, Albert (Hg.): Inklusion und Exklusion in der
Sozialen Arbeit, Wiesbaden 2004: 117-142.
Horlacher, Cornelis: Wessen Kunst, nicht regiert zu werden? Zur
Rezeption Foucaults und insbesondere des Begriffs »Regieren« im
Kontext kritischer Reflexion Sozialer Arbeit, in: Anhorn,
Roland/Bettinger, Frank/Stehr, Johannes (Hg.): Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit: eine kritische Einführung und
Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2007: 245-260.
Honneth, Axel (1985): Kritik der Macht: Reflexionsstufen einer kritischen
Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M.
Honneth, Axel/Saar, Martin (Hg.): Michel Foucault – Zwischenbilanz
einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt
a.M. 2003.
Kessl, Fabian (2006): Aktivierungspädagogik statt wohlfahrtsstaatlicher
Dienstleistung? Das aktivierungspolitische Re-Arrangement der
bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe, in: Zeitschrift für
Sozialreform, 52. Jg., Heft 2: 217-232.
Kessl, Fabian (2007): Wozu Studien zur Gouvernementalität in der
Sozialen Arbeit? Von der Etablierung einer Forschungsperspektive,
in: Anhorn, Roland/Bettinger, Frank/Stehr, Johannes (Hg.): Foucaults
Machtanalytik und Soziale Arbeit: eine kritische Einführung und
Bestandsaufnahme, Wiesbaden: 203-225.
Kessl, Fabian/Otto, Hans-Uwe (2008/i.E.): Soziale Arbeit jenseits des
Wohlfahrtsstaats: Zeitdiagnosen, Problematisierungen und Perspektiven, Weinheim/München.
Kleve, Heiko (2004): Die intime Grenze funktionaler Partizipation. Ein
Revisionsvorschlag zum systemtheoretischen Inklusion/ExklusionKonzept, in: Merten, Roland/Scherr, Albert (Hg.): Inklusion und
Exklusion in der Sozialen Arbeit, Wiesbaden: 163-187.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 269
System und Subjekt
269
Kronauer, Martin (2002): Exklusion: die Gefährdung des Sozialen im hoch
entwickelten Kapitalismus, Frankfurt a.M..
Leontjew, Alexej N. (1971): Probleme der Entwicklung des Psychischen,
Berlin.
Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie,
Frankfurt a.M. 1987.
Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 4, Frankfurt
a.M. 1995.
Luhmann, Niklas (2002): Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg.
Luhmann, Niklas: Identität – was oder wie?, in: ders.: Soziologische
Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Wiesbaden 2005 (3.
Auflage): 15-30.
Merten, Roland: Autonomie der Sozialen Arbeit: zur Funktionsbestimmung als Disziplin und Profession, Weinheim/München 1997.
Merten, Roland: Inklusion/Exklusion und Soziale Arbeit. Überlegungen
zur aktuellen Theoriedebatte zwischen Bestimmung und Destruktion,
in: ders./Scherr, Albert (Hg.): Inklusion und Exklusion in der Sozialen
Arbeit, Wiesbaden 2004: 99-118.
Merten, Roland/Scherr, Albert (Hg.) (2004): Inklusion und Exklusion in
der Sozialen Arbeit, Wiesbaden.
Meyer-Drawe, K. : Das »Ich als Differenz der Masken«. Zur Problematik
autonomer Subjektivität, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche
Subjektivität, 67. Jg., Heft
Poulantzas, Nicos (2002): Staatstheorie: politischer Überbau, Ideologie,
autoritärer Etatismus, Hamburg .
Reckwitz, Andreas (2006): Das hybride Subjekt: eine Theorie der
Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne,
Weilerswist.
Redaktion Widersprüche: Aus Anlass des Heftes 100: ein Blick auf einige
methodologische und theoretische Widersprüche in der Redaktion, in:
Widersprüche, 26. Jg., Heft 100, 2006: 209-222.
Ritsert, Jürgen (1996): Einführung in die Logik der Sozialwissenschaften,
Münster.
Rose, Nikolas (2000): Das Regieren unternehmerischer Individuen, in:
Kurswechsel, ??. Jg., Heft 2: 8-27.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 270
270
System und Subjekt
Schaarschuch, Andreas/Oelerich, Gertrud: Theoretische Grundlagen und
Perspektiven sozialpädagogischer Nutzerforschung, in: Oelerich,
Gertrud/Schaarschuch, Andreas (Hg.): Soziale Dienstleistungen aus
Nutzersicht: zum Gebrauchswert Sozialer Arbeit, München 2005: 925.
Scherr, Albert: Was nützt die soziologische Systemtheorie für eine Theorie
der Sozialen Arbeit?, in: Widersprüche, 20. Jg., Heft 77, 2000: 63-80.
Scherr, Albert: Exklusionsindividualität, Lebensführung und Soziale
Arbeit, in Merten, Roland/Scherr, Albert (Hg.): Inklusion und
Exklusion in der Sozialen Arbeit, Wiesbaden 2004: 55-74.
Stövesand, Sabine: Doppelter Einsatz: Gemeinwesenarbeit und Gouvernementalität, in: Anhorn, Roland/Bettinger, Frank/Stehr, Johannes
(Hg.): Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit: eine kritische
Einführung und Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2007: 277-294.
Waldenfels, Bernhard: Ordnung im Zwielicht, Frankfurt a.M. 1987.
Waldenfels, Bernhard (2004): Michel Foucault. Auskehr des Denkens, in:
Fleischer, Margot (Hg.): Philosophen des 20.Jahrhunderts. Eine
Einführung, Darmstadt (5. Aufl.): 191-203.
Winkler, Michael: Kritik der Pädagogik. Der Sinn der Erziehung, Stuttgart
2006.
Zima, Peter: Theorie des Subjekts: Subjektivität und Identität zwischen
Moderne und Postmoderne, Tübingen/Basel 2000.
®i¾ek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a.M. 2004.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 271
Vorsorge und Fürsorge
Michael Opielka
Das Begriffspaar »Vorsorge und Fürsorge« erinnert in seiner
Anwendung auf das Feld der Sozialen Arbeit heute an ein weiteres, zeitgemäßer erscheinendes Begriffspaar, nämlich
»Prävention und Kompensation«. Im Sinne eines sozialökologischen Nachhaltigkeitsdiskurses kommt dabei der Prävention
(ex ante) ein höheres Prestige zu als der Kompensation (ex
post), da erstere eine Kosten- wie eine Leidensverringerung
erhoffen lässt. In der sozialpolitischen Begriffsgeschichte (dazu
Kaufmann 2003) kommen »Vorsorge und Fürsorge« ganz ähnliche Bedeutungen, wenngleich sehr unterschiedliche Verwendungen zu. Üblicherweise wird am deutschen Fall eine
institutionelle Trias von »Sozial-/Versicherung, Versorgung,
Fürsorge« diskutiert, unterdessen von einigen AutorInnen um
den vierten Institutionentyp der »BürgerInnenversicherung«
erweitert (Opielka 2004). »Fürsorge« gilt dabei häufig als der
älteste Sozialpolitiktyp, zurückgehend auf frühneuzeitliche
Versuche, die vor allem religiös basierte Armenfürsorge unter
kommunal- oder zentralstaatlicher Aufsicht zu rationalisieren
(z.B. Poor Laws, Speenhamland, Elberfelder System, Straßburger System). Der Begriff »Vorsorge« findet sich in der
Begriffsgeschichte bislang nicht systematisch eingeführt, kann
aber einerseits mit den Systemprinzipien Sozialversicherung
und Versorgung verknüpft werden, andererseits aber auch diffus mit marktbasierten Ansparstrategien (z.B. Lebensversicherung) oder öffentlichen Infrastrukturinvestitionen. Das
insoweit schillernde Begriffspaar »Vorsorge und Fürsorge« soll
daher im Folgenden analytisch als Spannungsfeld nicht nur in
einer Zeitachse vorher – nachher, sondern vor allem als analytische Kategorie zur Untersuchung des Spannungsverhältnisses
von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit gefasst werden: in beiden
SatzBakic.qxd
272
27.02.2008
17:19
Seite 272
Vorsorge und Fürsorge
Bereichen ist die Spannung von Prävention und Kompensation
angelegt.
Der Zusammenhang von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit ist
komplex. Zugleich nimmt die Soziale Arbeit im Gesamtgefüge
des modernen Sozialstaats eine noch immer unterschätzte Rolle
ein. In einem beeindruckenden Vergleich der Entwicklung sozialer Dienste in Deutschland, Frankreich und Großbritannien
gelangt Thomas Bahle zu einem Ergebnis, das diese Unterschätzung auf den ersten Blick revidieren kann: »Ohne Zweifel
beginnen sich überall die Beziehungen zwischen den wohlfahrtsstaatlichen Sicherungen und der Arbeitswelt zu lösen, die
als zentrales Erbe der Industriegesellschaft für den
Wohlfahrtsstaat betrachtet werden können. Die sozialen
Dienste spielen in dieser Hinsicht eine Pionierrolle, auch deshalb, weil sie niemals eng mit den Erwerbsstrukturen verbunden waren. Insofern können die Sicherungsformen, die sich
heute in diesem Bereich ausprägen, durchaus modellgebend für
andere Bereiche des Wohlfahrtsstaates sein. (…) Nicht
Klassenkonflikte und Statussicherung, sondern die Kooperation
zwischen Akteuren und das Ziel der Gleichheit haben die sozialen Dienstleistungen langfristig geprägt. Auf dieser Grundlage
könnte es dem Wohlfahrtsstaat gelingen, eine neue institutionelle Basis für das gegenwärtige Jahrhundert zu finden.«
(Bahle 2007, 31) Soziale Arbeit als Dienstleistung, genauer: als
personenbezogene soziale Dienstleistungsarbeit (Olk/Otto
2003) wird in dieser modernisierungstheoretischen Perspektive
sozialpolitisch zentral und optimistisch positioniert. Allerdings
zeigt ein genauerer Blick in Bahles Studie, dass die von ihm
verwendete Typologie sozialer Dienste – stationär, teilstationär,
Tageseinrichtung, ambulant mit den Funktionen Heilen,
Pflegen, Wohnen, Betreuen, Erziehen, Beraten, Haushalt,
Mobilität, Verpflegung – vor allem hoch standardisierte Dienste
erfasst und ausdrücklich »nicht (…) die klassische ›multifunktionale‹ und ›offene‹ Sozialarbeit, die von ihrem Grundverständnis her weder auf bestimmte Funktionen spezialisiert ist
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Vorsorge und Fürsorge
Seite 273
273
noch regelmäßig an einem festen Ort stattfindet« (Bahle 2007,
37). Dieser Beschränkung des Begriffs der Sozialen Arbeit
muss man jedoch aus zwei Gründen nicht folgen: ihr unterliegt
eine Engführung, die mit der Sozialen Arbeit als Disziplin und
Profession heute nicht mehr verbunden werden kann
(Otto/Thiersch 2001); sie entspricht aber auch nicht einer vor
allem im englischsprachigen Raum vertretenen Konzeption der
systematischen Verknüpfung von Sozialer Arbeit (social work)
und »Sozialer Wohlfahrtspolitik« (Gilbert/Terrell 2005), einer
Politik sozialer Dienste, die von Funktionen ausgeht und nicht
von einem materialen Professionsmodell. Es erscheint daher
möglich, Bahles politisch-analytisches Resümee als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen heranzuziehen, zumal er
sich in seiner Arbeit nicht mehr weiter mit der Professionsdimension beschäftigt. Dass »Kooperation zwischen Akteuren
und das Ziel der Gleichheit« den Bereich sozialer Dienste prägen und diese damit eine Zukunftssignatur für die Sozialpolitik
setzen, erscheint nämlich vielen BeobachterInnen hoch
bedroht.
Dies gilt vor allem dann, wenn seit Mitte der 1990er Jahre in
der Sozialpolitik ein Wandel hin zu einer Politik der
»Aktivierung« beobachtet wird, der zunehmend zu einer
Sozialpädagogisierung der Sozialpolitik zu führen scheint,
allerdings weniger im Sinne eines emanzipativen, an
Teilhaberechten orientierten Politikkonzepts, vielmehr als
Maßgabe einer sozial-psychischen Steuerungsstrategie, die
individuelle Einstellungen und habituelle Orientierungen einer
umfassenden Marktorientierung unterwerfen möchte.
Prävention wird dann als sozialtechnokratische Disziplinierung
gefasst. Dabei wird ein neuer sozialpolitischer Gouvernementalismus, eine Reorientierung der Staatstätigkeit hin zu einem
»manageriellen Staat« (Rüb 2003) wahrgenommen, der die
Soziale Arbeit selbst auf die Durchsetzung von Marktstrategien
hin diszipliniert (Kessl 2005). Diese umfassende »Transformation of the Welfare State« (Gilbert 2002) lässt freilich fra-
SatzBakic.qxd
274
27.02.2008
17:19
Seite 274
Vorsorge und Fürsorge
gen, ob es nicht doch Sozialpolitikkonzepte geben könnte und
ob möglicherweise bereits Anzeichen hierfür zu erkennen sind,
die der Sozialen Arbeit nicht nur quantitativen Zuwachs, sondern auch teilhabeorientierte Qualitäten versprechen.
Ich möchte dieser Problemstellung in drei Schritten nachgehen.
Im ersten Schritt werde ich die ambivalente Beziehung von
Sozialpolitik und Sozialer Arbeit untersuchen und eine
Triangulation der Sozialen Arbeit aus sozialpolitischer und
soziologischer Sicht vorschlagen. Im zweiten Schritt werde ich
dies für die sozialpolitische Perspektive durchführen und im
dritten einige Anforderungen an die Professionalität Sozialer
Arbeit in einer Bürgergesellschaft skizzieren. Der Optimismus
der folgenden Überlegungen speist sich aus einer analytischen
Differenzierung. Ich schlage vor, die in der bisherigen
Diskussion zum Verhältnis von Sozialpolitik und Sozialer
Arbeit vorherrschende Dichotomisierung Markt-Staat bzw.
Trias von Markt-Staat-Gemeinschaft (wobei statt dem soziologischen Steuerungsmodus Gemeinschaft auch von Kooperation, Solidarität oder »Dritter Sektor« die Rede ist), die sich
auch in der Wohlfahrtsregimetypologie Gøsta EspingEndersens (liberal-sozialdemokratisch-konservativ) niederschlägt (Esping-Andersen 1990), zu erweitern: um einen vierten Regimetyp des »Garantismus«, der sich um Menschen- und
Teilhaberechte und den Steuerungsmodus Ethik konstituiert
(Opielka 2004, 2006). Die Frage lautet, ob ein solcher
Regimetyp nicht nur eine sozialpolitische Perspektive aufweist,
sondern hier vor allem, ob er einer Sozialen Arbeit der Zukunft
nützt. Die derzeit verwendeten Zukunftsbegriffe einer »aktivierenden« oder »investiven« Sozialpolitik werden im Licht der
»garantistischen« Wohlfahrtsregimekonzeption jedenfalls vorsichtig zu verwenden sein.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 275
Vorsorge und Fürsorge
275
1. Sozialpolitik und Soziale Arbeit:
eine ambivalente Beziehung
Die sozialpolitische Konstituierung der Sozialpädagogik hat
Lothar Böhnisch bereits 1982 ziemlich genau formuliert: »Die
Sozialpolitik bildet den historisch-politischen Horizont, vor
dem sich die institutionelle Sozialpädagogik entfaltet und der
sie gleichzeitig begrenzt.« (Böhnisch 1982, 1) Zugleich diagnostizierte er: »Dass die Sozialpolitik der Zukunft über die
›alte soziale Frage‹ hinaus zu einem verallgemeinerten
Lebenslagenbezug und zu einer materiellen Politik sozialer
Rechte werden muss und dann nicht mehr im Korsett sozialstaatlicher Balance agieren kann, ist eine historische
Notwendigkeit.« (ebd., 153; Herv. M.O.) Jener mehr als ein
Vierteljahrhundert alte Optimismus aus der Frühzeit universitärer Sozialpädagogik erscheint heute gebrochen. So ruht
Galuskes »Flexible Sozialpädagogik« (Galuske 2002) zwar auf
einer systematischen Analyse der Sozialpolitik auf. Deutlich
wird hier allerdings eine gegenüber dem frühen Böhnisch markant pessimistischere Zukunftsperspektive der Sozialpolitik,
die um Codes wie Neoliberalismus und Bürgerarbeit kreist und
der Sozialpädagogik wenig Positives ankündigt, eine sozialpolitische Konstituierung der Sozialpädagogik scheint wenig vorstellbar. Betrachten wir zur Überprüfung dieser Beobachtung
den Diskurs um das Verhältnis von Sozialpädagogik und
Sozialer Arbeit.
Während die Soziale Arbeit zumindest theoretisch – und praktisch in vielen Ländern (Skandinavien, Großbritannien, teils in
den USA) – ihren systematischen Bezug zur Sozialpolitik nicht
verhehlt, scheint die Sozialpädagogik als erziehungswissenschaftliche Subdisziplin staatsfern: wie ihre große Schwester,
die Schulpädagogik, verleugnet sie vor allem in Deutschland
ihre Staats- und damit Politikkonstituierung und vergibt sich
damit die Chance einer wahrheitsnäheren, also wissenschaftlichen Reflexion ihrer Konstituierung. Eine denkbare Lösung,
SatzBakic.qxd
276
27.02.2008
17:19
Seite 276
Vorsorge und Fürsorge
nämlich die Integration von Fachhochschul- und Universitätsausbildung in Professional Schools der Universitäten, unter
mehr oder weniger dauerhafter Mitwirkung der Fachhochschulstrukturen, wird hierzulande noch wenig angedacht. Ein positives Beispiel ist das von Fabian Kessl als drittes Szenario einer
Nach-Bologna-Entwicklung skizzierte Modell: »Fachhochschulen und Universitäten koordinieren ihre Bachelor- und
Masterstudiengänge bundes- und landesweit. Die jeweils konkreten Kooperationsformen zwischen den beteiligten
Hochschulen werden regional ausgehandelt und umgesetzt.
(…) Der gemeinsam formulierte Slogan lautet: Für das kämpfen, was Wohlfahrtsstaatlichkeit sein könnte.« (Kessl 2006, 82)
Kessl kann sich dabei auf die »Münsteraner Erklärung« des 6.
Bundeskongresses Soziale Arbeit 2005 beziehen, in der gefordert wird, die »Qualifizierung des beruflichen Nachwuchses
und die gemeinsame Weiterentwicklung Sozialer Arbeit durch
›Schools‹ oder ›Departments‹ auf universitärem Niveau zu
gewährleisten« (Münsteraner Erklärung 2005, 2). Dass Kessl
diesem Szenario »am wenigsten Realisierungschancen« (Kessl
2006, 83) gibt, liegt auch an der geringen Forschungsbasis der
Fachhochschulen, so dass die universitären Vertreter der
Sozialen Arbeit Reputationsminderungen fürchten. Letztlich
würde das Szenario bedeuten, die Fachhochschulen – zumindest deren Bereiche der Sozialen Arbeit – in diese Schools aufzulösen. Die österreichische und auch die schweizerische
Hochschulpolitiken wiederholen seit den 1990er Jahren leider
die deutschen Erfahrungen, sie bauen einseitig auf
Fachhochschulen und vernachlässigen damit die akademische
Präsenz der Sozialen Arbeit.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Seite 277
Vorsorge und Fürsorge
277
2. Vorsorge und Fürsorge:
Sozialpolitische Reflexion
Sozialpolitik wurde und wird mit präventiven, also vorsorgenden Wirkungen begründet. Sie soll Kriminalität verhindern,
Demokratie und Frieden bewahren und Fundamentalismen
überflüssig machen. Zudem soll sie nachgehende, reparierende
und insoweit fürsorgende Interventionen vermeiden. Dahinter
stehen zwei starke Annahmen, eine empirische und eine theoretische. Die starke empirische Annahme besteht darin, dass
sozialpolitische Interventionen soziale Wirkungen haben. Die
starke theoretische Annahme besteht in einem Standardkonzept
gleichheitsorientierter Normalität, dessen Abweichungen
Intervention begründen, wobei sich dabei noch eine sozialtechnokratische und eine sozialutopische Variante unterscheiden
lassen. Befürworter und Kritiker beider Annahmen finden sich
in der sozialpolitischen, sozialpädagogischen und soziologischen Literatur.
Eine Neuorientierung der Diskussionslage dürfte sich nach
1989, dem Zusammenbruch der klassischen KapitalismusKommunismus-Dualität, insoweit ergeben haben, als die
Standardkonzepte von Normalität neu justiert wurden. Die
sozialutopische Wirkungsvariante scheint erschöpft, der
Fortfall des kompetitiv sozialistischen Musters führte zu einer
Reformulierung sozialreformerischer Programmatiken (»Workfare statt Welfare«, Mindest- statt Lebensstandardsicherungen,
Marktsteuerung, investive Sozialpolitik usf.). Sie lassen sich als
eine Konzentration sozialpolitischer Interventionen zugunsten
von mehr oder eben weniger voraussetzungsvollen sozialen
Garantien beschreiben. Allerdings müssen sich auch diese der
genannten empirischen und theoretischen Kritik stellen.
Prävention wird dabei methodisch von Intervention abgegrenzt,
unterliegt allerdings einem »generellen Gefährdungsverdacht«
(Böllert 2001, 1397), weil Handlungs- und Verursachungsketten sozialer Probleme meist nicht eindeutig, Präventions-
SatzBakic.qxd
278
27.02.2008
17:19
Seite 278
Vorsorge und Fürsorge
bemühungen damit häufig unspezifisch angelegt sind. Am
Beispiel von zwei Politikfeldern – Gesundheit und Armut –
werden nun empirische und theoretische Annahmen kontrastiert: was genau wird unter sozialen Garantien bzw. sozialen
Grundrechten in diesen Politikfeldern diskursiv verhandelt?
Welche Präventionswirkungen werden damit jeweils verknüpft? Welche empirischen und welche theoretischen Evidenzen werden in den Diskursen vorgetragen? Welche Rolle
spielen sozialpolitische Diskurse in diesem Zusammenhang?
Im Gesundheitsbereich, der unterdessen (einschließlich der
Rehabilitation) zum zweitgrößten sozialpädagogischen
Arbeitsfeld nach der Jugendhilfe wuchs (Schröer/Sting 2006,
25ff.), lassen sich die stärksten Traditionen des Themas
Prävention beobachten. Die Erwartungen an Leistungssteigerungen und Kostensenkungen durch Prävention sind
hoch. Zugleich soll »hohe Lebensqualität« gesichert, wie eine
Reduzierung von »20 bis 30 Prozent der heutigen
Gesundheitsausgaben in Deutschland« (Klotz u.a. 2006, 608)
ermöglicht werden. Der Präventionsdiskurs wird im Diskurs
der neueren Medizin und Gesundheitswissenschaft als
»Gesundheitsförderung« geführt (Hurrelmann u.a. 2004), entfernt sich damit von verhaltensmoralischen und punitiven
Diskursen, die auch in der sozialpädagogischen Literatur als
körperbezogene Sozialdisziplinierung kritisch reflektiert wurden und werden (Hirschler/Homfeldt 2006). Möglicherweise
hat der sozial- und gesundheitspolitische Diskurs auf jene
Kritik reagiert und die individualistische Perspektive der
Lebensqualität dagegen in Anschlag gebracht. Allerdings haben
sich seitdem auch die gesundheitspolitischen Koordinaten verschoben. Zunehmend erscheint das Problem der Rationierung,
einer institutionalisierten Dauer-Triage die sozialpolitischen
Garantien auf eine bestmögliche Gesundheitsversorgung für
jede und jeden zu unterminieren. Bezogen auf unsere
Fragestellung heißt das:
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Vorsorge und Fürsorge
•
•
•
•
Seite 279
279
Der sozialpolitische Diskurs fokussiert auf Kostenbegrenzung;
Gesundheitsförderung und Prävention sollen zugleich individuelle Lebensqualität und kollektive Kostensenkung
organisieren. Eine Skalierung beider Ziele und eine systematische Diskussion ihrer Optimierung geschieht kaum;
empirische und theoretische Evidenzen für die Wirksamkeit von Prävention sind hoch. Dies gilt allerdings eher
für die Zieldimension Lebensqualität als für diejenige der
Kostensenkung;
sozialpolitische Diskurse scheinen von erheblicher Bedeutung. Die Integration beispielsweise der Gesundheitsförderung in die Ausbildungsordnungen der medizinischen
Profession (Hurrelmann u.a. 2004) kann als Langzeitergebnis der Präventionsdiskurse der 1970er und 1980er
Jahre gelten.
Die deutsche Dominanz von arbeitnehmerfinanzierten
Sozialversicherungen und die Möglichkeit deren Mittel zu verteilen ohne in den sichtbareren Steuerhaushalt eingreifen zu
müssen, reduzieren zwangsläufig die Reichweite von Prävention. Empirisch erweisen sich hier Systeme der Bürgerversicherung – wie in der österreichischen und schweizerischen
Kassenfinanzierung (Opielka 2004, Carigiet/Opielka 2006) –
oder auch der Steuerfinanzierung – wie in Großbritannien – als
überlegen.
Bereits das weiter oben genannte Zitat von Böhnisch zu einer
»materiellen Politik sozialer Rechte« (Böhnisch 1982, 1) bezog
sich auf soziale Garantien gegen Armut. Seitdem haben sich die
Diskurse ausdifferenziert. Im sozialdemokratischen Mainstream der modernen Sozialpädagogik wird zwar die Exklusionsneigung des lohnarbeitszentrierten Sozialstaatsmodells
reflektiert. Allerdings verbleiben die Konzepte sozialer
Garantien gewöhnlich innerhalb dieses Modells, dessen mangelhafte armutspräventive Wirkung nicht zuletzt mit dem
SatzBakic.qxd
280
27.02.2008
17:19
Seite 280
Vorsorge und Fürsorge
Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der deutschen
Bundesregierung (2005) evident wurde.
Starke Annahmen über präventive Wirkungen wurden mit den
sozialdemokratischen Konzepten des »aktivierenden
Sozialstaats« verbunden. Aktivierungskonzepte existieren
jedoch in allen politischen Lagern, gleichwohl mit sehr unterschiedlichen Annahmen und Effekten. Die von EspingAndersen mit dem Begriff der »Dekommodifizierung«
beschriebene Zentralfunktion des modernen Wohlfahrtsstaates
– die Reduzierung der Arbeitsmarktabhängigkeit der Ware
(commodity) Arbeitskraft durch arbeitsmarktexterne
Existenzsicherungsoptionen – (Esping-Andersen 1990), wurde
durch die Aktivierungs-Agenda in eine Re-Kommodifizierung
verdreht (ders. 2002).
Entscheidend erscheint dabei die Alternativlosigkeit, mit der
diese Agenda im politischen wie im sozialpolitikwissenschaftlichen Kontext behauptet wird. Bezogen auf unsere
Fragestellung heißt das:
•
•
•
Der Mainstream des neueren Armutsdiskurses rekonstruiert Armut im Wesentlichen als Mangel existenzsichernder
Arbeitsplätze. Durch »Aktivierung« und »workfare« soll
eine umfassende Teilnahme bzw. Teilhabe am Arbeitsmarkt
und darüber die Beseitigung von Armut erreicht werden.
Der hierzu alternative, »garantistische« Diskurs um
Grundeinkommen bezweifelt mit dem Verweis auf die
»Working Poor« die behauptete Integrationskraft des
Arbeitsmarktes für die Gesamtbevölkerung und empfiehlt
auch deshalb eine Lockerung des Arbeitsbegriffs;
die Präventionswirkungen des »Aktivierungs«-Diskurses
zielen auf die Wiederherstellung von Vollbeschäftigung,
diejenigen des konkurrierenden Grundeinkommensdiskurses auf die Universalisierung sozialer Bürgerrechte;
empirische Evidenzen sind für beide Positionen widersprüchlich. Theoretische Evidenzen sprechen eher für die
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Vorsorge und Fürsorge
•
Seite 281
281
»garantistische« Position, da diese mit einer individualistischen und expressiven Sozialmoral moderner Bürger eher
übereinstimmt;
sozialpolitische Diskurse konstituieren auch hier die politische Wirklichkeit.
Insoweit sich die Soziale Arbeit dem Rekommodifizierungsprogramm widersetzt, geschieht dies unter dem
Verweis auf die Verletzung von Grundrechten. Irritierenderweise übersehen die meisten ihrer kritischen Vertreter (z.B.
Cremer-Schäfer 2006, Dahme u.a. 2003), dass die von ihnen
postulierte oder zumindest als verschwindend bedauerte »alte«,
nämlich sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatlichkeit selbst
fundamental an die Lohnarbeitszentrierung gebunden war. Die
nun verstärkte Kopplung von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik
stellt insoweit nur eine Neuakzentuierung des Arbeits- und
Leistungsethos der produktivistischen Arbeiterbewegung um
eine liberale Annahme des »Sieges des Kapitalismus« nach
1989-90 dar. Eine wohlfahrtsregimetheoretische Verortung dieser Diskurse kann diese Unklarheiten mindern. Sie zeigt, dass
die Garantie von Grundrechten bisher im Sozialstaat zu wenig
entwickelt wurde. Amartya Sens in der Sozialpolitikdebatte
zunehmend reüssierender Fähigkeitenansatz (»capability
approach«) erscheint vor diesem Hintergrund nicht einfach nur
als eine Auflistung kluger Teilhabeansprüche ohne systematische Rangordnung (so Hirschler/Homfeldt 2006, 50), sondern
als »garantistisches« Programm (Opielka 2004, 232), das gegen
die Dominanz der etablierten Trias der Wohlfahrtsregime (sozialdemokratisch, liberal, konservativ) stark gemacht werden
sollte.
SatzBakic.qxd
282
27.02.2008
17:19
Seite 282
Vorsorge und Fürsorge
3. Professionalität Sozialer Arbeit
in der Bürgergesellschaft
In einem widersprüchlichen, keineswegs immer linearen,
modernisierungstheoretischen Annahmen folgenden Prozess
haben sich soziale Grundrechte auf die Agenda geschoben,
meist bewusst intendiert durch soziale Akteure, nicht selten
freilich als Nebenfolge rein funktional gedachter Entscheidungen. Es ist dieser komplexe Prozess, den »NeoInstitutionalisten« in der Soziologie und den Politikwissenschaften fokussieren und dabei feststellen, wie eine
»Weltkultur« (Meyer 2005) entstand, die den Kern des
»Europäischen Sozialmodells« kulturell einschließt – trotz
scheinbarer Gegenbewegungen. Jener Kern ist die Gleichheit
des Menschen, sind Freiheit und Solidarität, gleichsam die
Werte der Französischen Revolution, von Christentum und
Aufklärung, die sich in den Menschenrechten universalisierten
und in anderen Kultur- und Religionskreisen auch deshalb auf
Resonanz stoßen, weil sie die Wirklichkeit auf den Begriff bringen. Die beiden diskutierten Fragestellungen (Gesundheit,
Armut) rekonstruierten sozialpolitische Wertkonflikte, die nicht
nur zwischen individuellen und kollektiven Akteuren, sondern
auch je in ihnen selbst beobachtet werden können (Meyer 2004,
73; Opielka 2007).
Die Soziale Arbeit befindet sich heute in einer unerfreulichen
Opferrolle gegenüber Sozialreformen, die den sozialen Status
ihrer Klienten abwerten. Der Grund für dieses tendenzielle
Versagen liegt in ihrer Depolitisierung und ihrer Deprofessionalisierung. Depolitisierung deshalb, weil weder die
praktischen noch die akademischen VertreterInnen der
Disziplin bewusst die Abwertung ihrer KlientInnen wollen,
zugleich aber zu wenig politische Reflexivität gelehrt und kommuniziert wird. Deprofessionalisierung deshalb, weil die
deutschsprachige Soziale Arbeit – ganz anders als bspw. Social
Work in den USA – ihre fehlende, auf die eher forschungs-
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:19
Vorsorge und Fürsorge
Seite 283
283
schwachen Fachhochschulen begrenzte Akademisierung oft
auch noch mit dem naiven Verweis auf Praxisnähe begrüßt. In
einer Wissensgesellschaft ist damit die systemische Bedeutungsarmut programmiert.
Der Trend zur Personenzentrierung, wie er in der
Sozialpsychiatrie und teils der Jugendhilfe zu beobachten ist,
bietet daher unter dem Fokus Vorsorge und Prävention Chancen
für eine kontextuierte und zugleich individualisierte Soziale
Arbeit. Eine Reihe neuer, auch in der Sozialgesetzgebung verankerter Instrumente wie der »Integrierte Behandlungs- und
Rehabilitationsplan (IBRP)«, »Individuelle Hilfepläne (IHP)«,
»Persönliche Budgets (PB)« und die »Hilfeplankonferenz
(HPK)« sind Bestandteil einer Neuorientierung sozialer und
gesundheitlicher Dienstleistungen, die von vielen Beobachtern
als Ausdruck einer zunehmenden Marktorientierung verstanden
werden, teils eingebaut in »Neue Steuerungsmodelle« vor
allem der kommunalen Sozialpolitik wie »New Public
Management (NPM)« und einer zielgesteuerten Unternehmensführung (Management by Objectives, MBO; Qualitätsmanagement) in sozialen Einrichtungen (Seim 2000, Otto/Schnur
2000). Kritiker rechnen das Konzept der »Evidenzbasierten
Sozialen Arbeit« umstandslos in die Kategorie der neoliberalen
Refigurationen des Sozialen (Ziegler 2006). Doch lassen sich
die Diskurse um eine Wirkungsorientierung der Sozialen Arbeit
keineswegs ausschließlich neo-bürokratisch und neoliberal verorten, sie beinhalten auch die Chancen zu einer Neuformulierung von Professionalität Sozialer Arbeit (Otto 2007).
Von besonderer Bedeutung für die Soziale Arbeit erscheint
dabei das Instrument der Evaluation, insbesondere in seiner
Ausprägung als qualitative Evaluationsforschung (Opielka u.a.
2007).
Die gegenwärtig spürbare Beunruhigung unter den MitarbeiterInnen der Sozialen Arbeit hat ihre Ursache darin, dass
hinter den neuen Entwicklungen letztlich fiskalische
Sparinteressen stehen. Effizienzsteigerung durch bürokratische
SatzBakic.qxd
284
27.02.2008
17:20
Seite 284
Vorsorge und Fürsorge
Prozeduren wird bezweifelt. Der Grund liegt in einem
Misstrauen gegenüber der »großen« Sozialpolitik. Dieses
Misstrauen ist nicht unberechtigt. Seit Mitte der 1990er Jahre,
nicht zufällig auch seit dem Ende der Ost-/West-Blockkonfrontation und dem weltweiten »Sieg des Kapitalismus«,
hat sich in den westlichen Wohlfahrtsstaaten die Rhetorik
»from welfare to workfare«, ein Paradigma der »Aktivierung«,
eines »aktivierenden Sozialstaats« durchgesetzt (Opielka
2004). Diese »Transformation des Wohlfahrtsstaats« (Gilbert
2002) zielt darauf hin, die Erwerbs- oder besser: Lohnarbeitszentrierung der Sozialpolitik wieder verschärft durchzusetzen. Die VertreterInnen dieser Transformation wollen die
Prozesse sozialpolitischer »Dekommodifizierung« rückgängig
machen. Was in den politischen Diskursen als »neoliberal«
bezeichnet wird, meint in der Regel den Kampf für ein möglichst liberales Wohlfahrtsregime, das auf Leistungsgerechtigkeit (am Markt) abhebt und die Idee der »Eigenverantwortung« verallgemeinert, auch wenn die Eigenkräfte
ungleich verteilt sind.
Hier liegt nun der Grund für das Unbehagen vieler politisch
sensibler Mitarbeiter und Betroffener im Sozialbereich. Man
spürt, dass die Legitimität sozialpolitischer Investitionen immer
wieder neu erkämpft werden muss. Wer sich advokatorisch,
anwaltlich auf die Seite der sozial Schwächsten stellt, benötigt
einen gesellschaftspolitisch sensiblen und kenntnisreichen
Blick. Zur professionellen Dienstleistungskunst gehört, die
Teilhaberechte der KlientInnen mit anderen Rechten und
Pflichten abzuwägen. Sie, die Professionellen, »müssen lernen,
eine feine Linie zu ziehen zwischen zu offen formulierten
Kontrakten einerseits, in denen Profitmotive einfließen und
durch Qualitätsminderung Kostenersparnisse erzwungen werden können, und den zu restriktiv formulierten Kontrakten
andererseits, durch die eine Kommodifizierung sozialer Hilfen
entsteht, welche die Rolle professioneller Praxis schwächt und
die Qualität sozialer Dienste mindert.« (Gilbert 2000, 153)
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:20
Seite 285
Vorsorge und Fürsorge
285
Die sozialpolitische Konfiguration, die für die Soziale Arbeit
zukunftsträchtig erscheint, kann dabei als »garantistisch«
bezeichnet werden. Der Fokus auf das Individuum wird darin
selbst systemisch, funktional gefasst, Individualisierung also
gesellschaftlich kontextuiert. »Garantismus« heißt zunächst,
dass wohlfahrtsstaatliche Sicherung im Kern an Grundrechten
gebunden ist und nicht an das Erwerbssystem. Dass dies historisch auch die Agenda sozialer Dienste und damit der Sozialen
Arbeit bildet, sollte als motivierende Erkenntnis für die Zukunft
des Sozialstaats gelten können.
Literatur
Bahle, Thomas, 2007, Wege zum Dienstleistungsstaat. Deutschland,
Frankreich und Großbritannien im Vergleich, Wiesbaden: VS Verlag
für Sozialwissenschaften
Böhnisch, Lothar, 1982, Der Sozialstaat und seine Pädagogik.
Sozialpolitische Anleitungen zur Sozialarbeit, Neuwied/Darmstadt:
Luchterhand
Böllert, Karin, 2001, Prävention und Intervention, in: Otto/Thiersch 2001,
1394-1398
Carigiet, Erwin/Opielka, Michael, 2006, Deutsche Arbeitnehmer –
Schweizer Bürger?, in: Carigiet, Erwin/Mäder, Ueli/Opielka,
Michael/Schulz-Nieswandt,
Frank
(Hg.),
Wohlstand
durch
Gerechtigkeit. Deutschland und die Schweiz im sozialpolitischen
Vergleich, Zürich: Rotpunkt Verlag, 15-45
Cremer-Schäfer, Helga, 2006, Neoliberale Produktionsweise und der
Umbau des SozialstaatWelche Bewandtnis hat Hartz für die Soziale
Arbeit?, in: Schweppe/Sting 2006, 157-173
Dahme, Heinz-Jürgen/Otto, Hans-Uwe/Trube, Achim/Wohlfahrt, Norbert,
2003, Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat, Opladen: Leske +
Budrich
Esping-Andersen, Gøsta, 1990, The Three Worlds of Welfare Capitalism,
Princeton: Princeton University Press
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:20
Seite 286
286
Vorsorge und Fürsorge
ders. et al., 2002, Why We Need a New Welfare State, Oxford et al.:
Oxford University Press
Galuske, Michael, 2002, Flexible Sozialpädagogik. Elemente einer
Theorie Sozialer Arbeit in der modernen Arbeitsgesellschaft,
Weinheim/München: Juventa
Gilbert, Neil, 2000, Dienstleistungskontrakte: Strategien und Risiken, in:
Otto/Schnur 2000, 143-154
ders., 2002, Transformation of the Welfare State. The Silent Surrender of
Public Responsibility, Oxford et al.: Oxford University Press
ders./Terrell, Paul, 2005, Dimensions of Social Welfare Policy, 6. Aufl.,
Boston u.a.: Pearson
Hirschler, Sandra/Homfeldt, Hans Günther, 2006, Agency und Soziale
Arbeit, in: Schweppe/Sting 2006, 41-54
Hurrelmann, Klaus/Klotz, Theodor/Haisch, Jochen (Hg.), 2004, Lehrbuch
Prävention und Gesundheitsförderung, Bern: Huber
Kaufmann, Franz-Xaver (2003): Sozialpolitisches Denken. Die deutsche
Tradition, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Kessl, Fabian, 2005, Der Gebrauch der eigenen Kräfte. Eine
Gouvernementalität sozialer Arbeit, Weinheim: Juventa
ders., 2006, Soziale Arbeit trotz(t) Bologna. Drei Szenarien zur Zukunft
der Studiengänge im Feld Sozialer Arbeit, in: Schweppe/Sting 2006,
71-87
Klotz, Theodor/Haisch, Jochen/Hurrelmann, Klaus, 2006, Prävention und
Gesundheitsförderung: Ziel ist anhaltend hohe Lebensqualität, in:
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 103, 10, A606-609
Meyer, John W., World Society, the Welfare State and the Life Course. An
Institutionalist Perspective, Social World – Working Paper No. 9,
Bielefeld: Universität Bielefeld
ders., 2005, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt: Suhrkamp
Münsteraner Erklärung, 2005, Die Zukunft der Sozialen Arbeit gemeinsam
gestalten. Zu den Aufgaben der Hochschulen in der Neubestimmung
der Qualifizierungslandschaft, http://www.bundeskongress-sozialearbeit.de/muensteranererklaerung.pdf
Olk, Thomas/Otto, Hans-Uwe (Hg.), 2003, Soziale Arbeit als
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:20
Seite 287
Vorsorge und Fürsorge
Dienstleistung.
Grundlegungen,
287
Entwürfe
und
Modelle,
München/Unterschleißheim: Luchterhand
Opielka, Michael, 2004, Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichende
Perspektiven, Reinbek: Rowohlt
ders. (Hg.), 2005, Bildungsreform als Sozialreform. Zum Zusammenhang
von Bildungs- und Sozialpolitik, Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften
ders., 2006, Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und
Parsons, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
ders., 2007, Kultur versus Religion? Soziologische Analysen zu modernen
Wertkonflikten, Bielefeld: transcript
ders./Müller, Matthias/Henn, Matthias, 2007, Bedarf und Implementation
von Evaluation in der Sozialen Arbeit. Forschungsbericht, Jena:
Fachhochschule Jena
Otto, Hans-Uwe, 2007, Zum aktuellen Diskurs um Ergebnisse und
Wirkungen im Feld der Sozialpädagogik und Sozialarbeit –
Literaturvergleich nationaler und internationaler Diskussion.
Expertise im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und
Jugendhilfe – AGJ (unter Mitarbeit von Stefanie Albus, Andreas
Polutta, Mark Schrödter, Holger Ziegler), Berlin: AGJ
ders./Oelerich, Gertrud/Micheel, Heinz-Günter (Hg.), 2003, Empirische
Forschung und Soziale Arbeit. Ein Lehr- und Arbeitsbuch,
München/Unterschleißheim: Luchterhand
ders./Schnur, Stephan (Hg.), 2000, Privatisierung und Wettbewerb in der
Jugendhilfe. Marktorientierte Modernisierungsstrategien in internationaler Perspektive, Neuwied/Kriftel: Luchterhand,
ders./Thiersch, Hans (Hg.), 2001, Handbuch der Sozialarbeit/
Sozialpädagogik, 2. Aufl., Neuwied/Kriftel: Luchterhand
Rüb, Friedbert, 2003, Vom Wohlfahrtsstaat zum ›manageriellen Staat‹?
Zum Wandel des Verhältnisses von Markt und Staat in der deutschen
Sozialpolitik, in: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 34, 256299
Schröer, Wolfgang/Sting, Stephan, 2006, Vergessene Themen der Disziplin
– neue Perspektiven für die Sozialpädagogik?, in: Schweppe/Sting
2006, 17-30
SatzBakic.qxd
27.02.2008
288
17:20
Seite 288
Vorsorge und Fürsorge
Schweppe, Cornelia/Sting, Stefan (Hg.), 2006, Sozialpädagogik im Übergang. Neue Herausforderungen für Disziplin, Profession und
Ausbildung, Weinheim/München: Juventa
Seim, Sissel, 2000, Marktförmige Steuerungsmodelle und Nutzerpartizipation – Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Otto/Schnur
2000, 155-173
Ziegler, Holger, 2006, Evidenzbasierte Soziale Arbeit. Über managerielle
Praktiken in neo-bürokratischen Organisationen, in: Schweppe/Sting
2006, 139-155
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:20
Seite 289
AutorInnen
Baig, Samira, Mag.a, Studium der Psychologie, Lektorin am Studiengang
Sozialarbeit der FH Campus Wien, Supervisorin & Coach in freier Praxis,
Stv. Leitung des arbeitspsychologischen Zentrums der Health Consult
Ges.m.b.H.
Forschungsschwerpunkte: Diversitykompetenz in Supervision, Coaching
und Beratung; sozialpsychologische Aspekte von Managing Diversity und
Interkulturalität.
Bakic, Josef, Dr., Studium der Pädagogik und Psychologie, Studiengang
Soziale Arbeit an der FH Campus Wien, Nebenberuflicher Lektor am
Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien. Mitbegründer
des Vereins KriSo – Kritische Soziale Arbeit.
Forschungsschwerpunkte: Beruf und Bildung, Theorien Sozialer Arbeit,
aktuelle Herausforderungen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik.
Bettinger, Frank, Prof. Dr., Studium der Pädagogik, Sozialpädagogik und
Sozialwissenschaften, Fachbereich Sozialpädagogik/Sozialarbeit an der
EFH Darmstadt, Vorstandsmitglied im Bremer Institut für Soziale Arbeit
und Entwicklung (BISA+E) an der Hochschule Bremen; Mitarbeit im
Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit (AKS);
Forschungsschwerpunkte: Kritische Kriminologie und Soziale Arbeit;
Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit.
Brückner,
Margrit,
Prof.in
Dr.in,
Studium
der
Soziologie,
Gruppenanalytikerin und Supervisorin (DGSv), Fachbereich Soziale
Arbeit und Gesundheit an der Fachhochschule Frankfurt.
Forschungsschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse; Frauen und Geschlechterforschung Häusliche Gewalt; das Unbewusste in Institutionen;
Internationale Care-Debatte.
Diebäcker, Marc, Dipl.-Soz.-Wiss., Studium der Politikwissenschaft,
Geschichte und Sozialen Arbeit, Studiengang Soziale Arbeit an der FH
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:20
Seite 290
290
AutorInnen
Campus Wien. Mitbegründer des Vereins KriSo – Kritische Soziale Arbeit.
Forschungsschwerpunkte: Politische Theorien, Staat und Soziale Arbeit;
Sozialpolitik; Sozialraum & Politischer Raum; Stadtentwicklung und
Gemeinwesenarbeit.
Dimmel, Nikolaus, Prof. DDr., Studium der Rechtswissenschaften,
Politikwissenschaft und Soziologie, Diplomierter Sozialmanager,
Rechtswissenschaftliche Fakultät an der Universität Salzburg, Leiter der
Lehrgänge für Sozialmanagement und Migrationsmanagement an der der
Universität Salzburg.
Forschungsschwerpunkte: Wohlfahrtsstaat; Sozialpolitik und Sozialrecht;
Sozialmanagement und Soziale Dienste; Armut und soziale Kontrolle;
Arbeitsmarktpolitik & Workfare.
Dzierzbicka, Agnieszka, Univ.-Ass.in Dr.in, Studium der Pädagogik,
Soziologie und Politikwissenschaft, Institut für Bildungswissenschaft der
Universität Wien.
Forschungsschwerpunkte: Vertrags- und Vereinbarungskultur; Cultural
Studies und Gouvernementalität.
Egger, Rudolf, Ao.Univ.-Prof. Dr., Studium der Pädagogik, Soziologie und
Betriebswirtschaftslehre, Institut für Erziehungswissenschaft an der KarlFranzens-Universität Graz.
Forschungsschwerpunkte: Biographie- und Evaluationsforschung;
Wissenschaftstheorie; Interpretative Sozialforschung; Methoden der
Erziehungswissenschaft.
Fürst, Roland, Mag.(FH) DSA, Studium der Sozialarbeit und
Sozialwissenschaften, Department Soziale Arbeit an der FH Campus
Wien.
Forschungsschwerpunkte: Methoden und Theorie der Sozialen Arbeit;
Sozialmanagement
&
Öffentlichkeitsarbeit;
Soziale
Arbeit
im
Zwangskontext/Kontrollauftrag; aktuelle Diskurse in der Sozialen Arbeit
und Sozialpolitik.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:20
Seite 291
AutorInnen
291
Galuske, Michael, Prof. Dr. phil., Studium der Sozialpädagogik und
Germanistik, Institut für Sozialpädagogik und Soziologie der Lebensalter
an der Universität Kassel.
Forschungsschwerpunkte: Modernisierungstheorie; Arbeitslosigkeit und
arbeitsgesellschaftlicher Wandel; Armut und Ausgrenzung; Methoden
Sozialer Arbeit; Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe.
Hammer, Elisabeth, DSAin, Mag.a, Studium der Sozialarbeit und Ökonomie, Studiengang Soziale Arbeit an der FH Campus Wien. Mitbegründerin
des Vereins KriSo – Kritische Soziale Arbeit.
Forschungsschwerpunkte: Sozialpolitik und Ökonomie; Armut und soziale Sicherung, aktuelle Diskurse in Sozialpolitik und Sozialer Arbeit.
Kessl, Fabian, M.A. Dr., Studium der Erziehungswissenschaften und
Politikwissenschaften, Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld.
Forschungsschwerpunkte: (Politische) Theorie Sozialer Arbeit, Empirie
der Lebensführung, Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit.
Kolland, Franz, Ao.-Prof. Dr., Studium der Soziologie, Universitätsprofessor am Institut für Soziologie der Universität Wien;
Forschungsschwerpunkte: Alterns- und Lebenslaufforschung; Entwicklungssoziologie.
Opielka, Michael, Prof. Dr. rer. soc, Studium der Rechtswissenschaften,
Erziehungswissenschaften, Ethnologie/Anthropologie, Philosophie und
Soziologie, Fachbereich Sozialwesen an der Fachhochschule Jena,
Lehrbeauftragter an der Universität Bonn (Master Sozialmanagement);
Geschäftsführer des Instituts für Sozialökologie in Königswinter.
Forschungsschwerpunkte:
Sozialpolitik,
soziologische
Theorie,
Psychoanalyse, Religions- und Kultursoziologie.
Rosenbauer, Nicole, Dr.in, Studium der Erziehungswissenschaft,
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik,
Erwachsenenbildung und Pädagogik der Frühen Kindheit (ISEP) an der
Technischen Universität Dortmund.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:20
Seite 292
292
Forschungsschwerpunkte:
AutorInnen
Organisationstheorie
und
-forschung;
Professionalisierung Sozialer Arbeit; Kinder- und Jugendhilfeforschung;
Hilfen zur Erziehung.
Scherr, Albert, Prof. Dr., Studium der Soziologie, Direktor des Instituts für
Sozialwissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Freiburg.
Forschungsschwerpunkte: Gesellschafts- und Subjekttheorie; Theorien der
Sozialen Arbeit; Bildungsforschung; Fremdheitskonstruktionen und
Rassismus in der Einwanderungsgesellschaft.
Stelzer-Orthofer, Christine, Ass.-Prof.in Dr.in, Studium der Sozialwirtschaft, Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik an der Johannes
Kepler Universität Linz.
Forschungsschwerpunkte: Armut; Arbeitslosigkeit; Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik;
Winkler, Michael, Prof. Dr., Studium der Pädagogik, Germanistik,
Geschichte und Philosophie, Institut für Erziehungswissenschaft, Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik
an der Friedrich Schiller-Universität Jena.
Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Pädagogik und der
Sozialpädagogik; pädagogische Gegenwartsdiagnose; Hilfen zur
Erziehung; Übergänge von Ausbildung in Beruf.
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:20
Seite 293
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:20
Seite 294
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:20
Seite 295
SatzBakic.qxd
27.02.2008
17:20
Seite 296