Materialmappe Sezuan neu

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Materialmappe Sezuan neu
Der gute Mensch
von Sezuan
von Bertolt Brecht
Materialien zur Inszenierung von Volker Schmalöer
Empfohlen ab 12 Jahren
Fächer: Deutsch, Literatur
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,
„Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Bertolt Brecht brannte nicht
nur fürs Theater, sondern auch für die Politik. Beides zu verbinden war das Ziel des Dramatikers
und Theatertheoretikers.
Liebe Lehrer/innen,
Mit dieser Materialmappe zur Inszenierung „Der gute Mensch von Sezuan” von Bertolt Brecht
möchten wir kreative Impulse für die Vor- und Nachbereitung der Inszenierung von Volker
Schmalöer in Schulen und Bildungseinrichtungen vermittelt. Neben Informationen zum Autor und
zur Inszenierung finden sie Texte zum epischen Theater sowie Wissenswertes zur Entstehungsund Aufführungsgeschichte des Stücks. Die Auszüge aus dem Apostolischen Schreiben von
Papst Franziskus und der Schriftenreihe Ökologie der Heinrich-Böll-Stiftung schlagen die Brücke
zur Gegenwart und sollen zur Diskussion über die Aktualität der im Stück verhandelten Themen
anregen. Unter der Rubrik „Theateraktiv“ finden Sie praktische Übungen und Arbeitsangebote
zum Einsatz im Unterricht.
Ihr Theaterpädagogik-Team des Theater Paderborn – Westfälische Kammerspiele
GmbH
Nächste Premiere im Großen Haus: FRAU HEGNAUER revisited von Lisa Stadler,
ein Stück zum Thema Sterbehilfe. Premiere am 20.03.2015, empfohlen ab 14 Jahren.
Nächste Empfehlung für Sie: MÄRTYRER von Marius von Mayenburg, ein Stück zum Thema
christlicher Fundamentalismus. Premiere am 27.02.2015 im Studio, empfohlen ab 12 Jahren.
Zu dieser Inszenierung bieten wir stückbegleitende Workshops an.
Kontakt unter [email protected]
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Beset
Besetzung
Shen Te
Shui Ta
Maria Thomas
Yang Sun, ein stellungsloser Flieger
Der Bruder
Der Polizist
Der Arbeitslose
Stephan Weigelin
Frau Yang, Yang Suns Mutter
Der zweite Gott
Die Frau
Die alte Prostituierte
Kirsten Potthoff
Wang, ein Wasserverkäufer
Der Neffe
Der Teppichhändler
Die Kellnerin
Markus Schultz
Der Barbier Shu Fu
Der erste Gott
Der Mann
Der Polizist
Der Bonze
David Lukowczyk
Die Hausbesitzerin Mi Tzü
Der dritte Gott
Der Großvater
Der Aufseher
Willi Hagemeier
Die Witwe Shin
Beate Leclercq
Die Nichte
Der Schreiner Lin To
Die Frau des Teppichhändlers
Der Junge
Linda Meyer
Statisterie
Henrik Schulz / Lazar Umiljenovic
Musiker
Christine Weghoff
Gerhard Gemke
Thorsten Drücker / Tim Albrecht
Regie
Bühne & Kostüme
Musikalische Leitung
Dramaturgie
Regieassistenz
Inspizienz
Soufflage
Bühnenmeister
Volker Schmalöer
Sabine Böing
Christine Weghoff
Anne Vogtmann
Chiara Nassauer
Robert Stark
Beate Leclercq
Paul Discher
Michael Bröckling
Hermenegild Fietz
Martin Zwiehoff
Annette Seidel-Rohlf
Kristiane Szonn
Christina Pantermehl
Ramona Foerder
Beleuchtungsmeister
Ton & Video
Requisite
Leitung Kostümabteilung
Maske
Premiere: Freitag, 16.01.2014 / 19:30 Uhr im Großen Haus
Dauer: 140 Minuten, inklusive Pause
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Inhalt
INHALTSANGABE
Seite 5
BERTOLT BRECHT
Biografie
Seite 5-6
Brecht über die Straßenszene als Modell für episches Theater (1938)
Seite 7-8
Brecht über experimentelles Theater (1939)
Seite 8
DAS STÜCK
Daten zur Entstehungs- und frühen Aufführungsgeschichte
Seite 9-11
Zur Inszenierung am Theater Paderborn
Seite 11
TEXTAUSZÜGE ZUM THEMA
Auszüge aus dem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“
des Heiligen Vaters Papst Franziskus
Seite 12-13
„Mentale Infrastrukturen“ von Harald Welzer –
Vorwort zur Schriftenreihe Ökologie Band 14 der Heinrich-Böll-Stiftung
Seite 14-16
THEATERAKTIV
Seite 17-20
SEKUNDÄRMEDIUMPOOL: LITERATUR / FILME
IMPRESSUM
Seite 21
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INHALTSANGABE
Mit dem Auftrag einen guten Menschen zu finden, damit die Welt so bleiben kann wie sie ist,
reisen drei Götter auf die Erde und finden - Shen Te. Sie ist eine warmherzige Prostituierte und
schon bald wird von den Göttern entschieden, dass sie der gesuchte Mensch ist. Sie bekommt
einen Tabakladen und soll fortan Gutes tun. Leichter gesagt als getan, denn schnell findet Shen Te
heraus, dass die Menschen ihre Gutherzigkeit ausnutzen. Hier kann nur noch einer helfen – Shui
Ta ihr kapitalistischer Vetter!
BERTOLT
BERTOLT BRECHT
Biografie
Der Schriftsteller und Regisseur Bertolt Brecht gilt als einer der einflussreichsten deutschen
Dramatiker und Lyriker des 20. Jahrhunderts. Er schuf ein umfangreiches und vielseitiges Werk,
das unter anderem 30 Dramen, 150 Prosatexte und 1300 Gedichte umfasst. Auch im Bereich der
Theatertheorie hinterließ er zahlreiche Schriften. Mit seinem Begriff vom epischen Theater
entwickelte Brecht neue Darstellungskonzepte, die an das kritisch-reflektierende Bewusstsein des
Publikums
appelieren.
Viele
seiner
Werke
sind
geprägt
von
den
Wirtschafts-
und
Gesellschaftstheorien des Marxismus und verbinden so lehrhafte und künstlerische Aspekte
miteinander.
Eugen Bertolt Friedrich Brecht wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren. Nach seinem
Notabitur 1917 (Abitur unter erleichterten Voraussetzungen, um sich danach als Kriegsfreiwilliger
melden zu können) studierte er zunächst an der Philosophischen Fakultät in München. Später
wechselte er zum Medizinstudium. 1918 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen und arbeitete als
Mediziner in einem Seuchenlazarett in Augsburg. Nach dem Krieg setzte er sein Medizinstudium
fort, nahm aber mit Vorzug an theaterwissenschaftlichen Vorlesungen teil und verfasste erste
Theaterstücke.
1922 wurde sein Drama „Trommeln in der Nacht“ uraufgeführt. Damit hatte Brecht großen Erfolg.
Im selben Jahr erhielt er nicht nur den Kleist-Preis, sondern auch eine Stelle als Dramaturg an den
Münchner Kammerspielen. Er heiratete die Sängerin Marianne Zoff und zog zwei Jahre später nach
Berlin. Dort war er als Dramaturg am Deutschen Theater unter der Leitung von Max Reinhardt
beschäftigt. Im Jahr 1928 führte er seine „Dreigroschenoper“ erfolgreich im Theater am
Schifferbauerdamm auf, in dem er bis 1933 weitere Arbeiten realisieren konnte. 1927 ließ er sich
von Marianne Zoff scheiden und heiratete zwei Jahre später die Schauspielerin Helene Weigel.
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Nach Hitlers Machtergreifung 1933 setzte sich Bertolt Brecht mit seiner Familie über Prag, Wien,
Zürich und Frankreich ins dänische Skovbistrand bei Svendborg ab. Von Svendborg ging es 1939
weiter nach Schweden und 1940 nach Finnland. Nach einer Reise über Moskau und Wladiwostok
zog es ihn in das US-amerikanischen Santa Monica in Kalifornien. Die Exilzeit war geprägt von
einer intensiven literarischen Produktion, in der sich Brecht immer wieder mit den politischen
Ereignissen in Deutschland und den Entwicklungen im 2. Weltkrieg auseinandersetzte. In dieser
Zeit entstanden Werke wie „Mutter Courage und ihre Kinder“ (uraufgeführt 1941), „Der gute
Mensch von Sezuan“ (uraufgeführt 1943), „Leben des Galilei“ (uraufgeführt 1943) oder „Der
kaukasische Kreidekreis“ (uraufgeführt 1948).
Nach einer Reise über Paris nach Zürich zog Brecht 1948 nach Ostberlin und gründete dort
gemeinsam mit Helene Weigel im Jahr 1949 das Berliner Ensemble, das ab 1954 im Theater am
Schiffbauerdamm auftrat. Dort konnte Brecht seine Theorie des epischen Theaters in der
Inszenierung eigener und fremder Stücke praktisch umsetzen.
Im Jahr 1950 nahm Brecht die österreichische Staatsbürgerschaft an und kaufte ein Haus in
Buckow in der Märkischen Schweiz. Zwischen Brecht und der DDR-Staats- und Parteiführung
entwickelte sich kein problemfreies Verhältnis, dennoch wurde er mit wichtigen Preisen, wie 1951
dem Nationalpreis 1. Klasse der DDR oder 1954 dem Stalin-Friedenspreis geehrt. Am 14. August
1956 starb Bertolt Brecht in Ostberlin.
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Brecht über die
die Straßenszene als Modell für episches Theater (1938)
Es ist verhältnismäßig einfach, ein Grundmodell für episches Theater aufzustellen. Bei praktischen
Versuchen wählte ich für gewöhnlich als Beispiel allereinfachsten, sozusagen „natürlichen“
epischen Theaters einen Vorgang, der sich an irgendeiner Straßenecke abspielen kann: Der
Augenzeuge eines Verkehrsunfalls demonstriert einer Menschenansammlung, wie das Unglück
passierte. Die Umstehenden können den Vorgang nicht gesehen haben oder nur nicht seiner
Meinung sein, ihn „anders sehen“ – die Hauptsache ist, daß der Demonstrierende das Verhalten
des Fahrers oder des Überfahrenen oder beider in einer solchen Weise vormacht, daß die
Umstehenden sich über den Unfall ein Urteil bilden können.
Dieses Beispiel epischen Theaters primitivster Art scheint leicht verstehbar. Jedoch bereitet es
erfahrungsgemäß dem Hörer oder Leser erstaunliche Schwierigkeiten, sobald von ihm verlangt
wird, die Tragweite des Entschlusses zu fassen, eine solche Demonstration an der Straßenecke
als Grundform großen Theaters, Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters, anzunehmen.
Man bedenke: Der Vorgang ist offenbar keineswegs das, was wir unter einem Kunstvorgang
verstehen. Der Demonstrierende braucht kein Künstler zu sein. Was er können muss, um seinen
Zweck zu erreichen, kann praktisch jeder. Angenommen, er ist nicht imstande, eine so schnelle
Bewegung auszuführen, wie der Verunglückte, den er nachahmt, so braucht er nur erläuternd zu
sagen: er bewegte sich dreimal so schnell, und seine Demonstration ist nicht wesentlich
geschädigt oder entwertet. Eher ist seiner Perfektion eine Grenze gesetzt. Seine Demonstration
würde gestört, wenn den Umstehenden seine Verwandlungsfähigkeit auffiele. Er hat es zu
vermeiden, sich so aufzuführen, dass jemand ausruft: „Wie lebenswahr stellt er doch einen
Chauffeur dar!“ Er hat niemanden „in seinen Bann zu ziehen“. Er soll niemanden aus dem Alltag in
„eine höhere Sphäre“ locken. Er braucht nicht über besondere suggestive Fähigkeiten zu verfügen.
Völlig entscheidend ist es, dass ein Hauptmerkmal des gewöhnlichen Theaters in unserer
Straßenszene ausfällt: die Bereitung der Illusion. Die Vorführung des Straßendemonstranten hat
den Charakter der Wiederholung. Das Ereignis hat stattgefunden, hier findet die Wiederholung
statt. Folgt die Theaterszene hier in der Straßenszene, dann verbirgt das Theater nicht mehr, dass
es Theater ist, so wie die Demonstration an der Straßenecke nicht verbirgt, dass sie Demonstration
(und nicht vorgibt, daß sie Ereignis) ist. Das Geprobte am Spiel tritt voll in Erscheinung, das
auswendig Gelernte am Text, der ganze Apparat und die ganze Vorbereitung. Wo bleibt dann das
Erlebnis, wird die dargestellte Wirklichkeit dann überhaupt noch erlebt?
Die Straßenszene bestimmt, welcher Art das Erlebnis zu sein hat, das dem Zuschauer bereitet
wird. Der Straßendemonstrant hat ohne Zweifel ein „Erlebnis“ hinter sich, aber er ist doch nicht
darauf aus, seine Demonstration zu einem „Erlebnis“ der Zuschauer zu machen;
selbst das Erlebnis des Fahrers und des Überfahrenen vermittelt er nur zum Teil, keinesfalls
versucht er, es zu einem genussvollen Erlebnis des Zuschauers zu machen, wie lebendig er immer
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seine Demonstration gestalten mag. Seine Demonstration verliert zum Beispiel nicht an Wert, wenn
er den Schrecken, den der Unfall erregte, nicht reproduziert; ja, sie verlöre eher an Wert. Er ist
nicht auf Erzeugung purer Emotionen aus. Ein Theater, das ihm hierin folgt, vollzieht geradezu
einen Funktionswechsel, wie man verstehen muss. Ein wesentliches Element der Straßenszene,
das sich auch in der Theaterszene vorfinden muss, soll sie episch genannt werden, ist der
Umstand, dass die Demonstration gesellschaftlich praktische Bedeutung hat. Ob unser
Straßendemonstrant nun zeigen will, dass bei dem und dem Verhalten eines Passanten oder des
Fahrers ein Unfall unvermeidlich, bei einem andern vermeidlich ist, oder ob er zur Klärung der
Schuldfrage demonstriert – seine Demonstration verfolgt praktische Zwecke, greift gesellschaftlich
ein.
Brecht über experimentelles Theater (1939)
[...] Die Einfühlung ist das große Kunstmittel einer Epoche, in der der Mensch die Variable, seine
Umwelt die Konstante ist. Einfühlen kann man sich nur in den Menschen, der seines Schicksals
Sterne in der eigenen Brust trägt, ungleich uns.
Es ist nicht schwer, einzusehen, daß das Aufgeben der Einfühlung für das Theater eine riesige
Entscheidung, vielleicht das größte aller denkbaren Experimente bedeuten würde.
Die Menschen gehen ins Theater, um mitgerissen, gebannt, beeindruckt, erhoben, entsetzt,
ergriffen, gespannt, befreit, zerstreut, erlöst, in Schwung gebracht, aus ihrer eigenen Zeit entführt,
mit Illusionen versehen zu werden. All dies ist so selbstverständlich, daß die Kunst geradezu damit
definiert wird, dass sie befreit, mitreißt, erhebt und so weiter. Sie ist gar keine Kunst, wenn sie das
nicht tut.
Die Frage lautete also: Ist Kunstgenuss überhaupt möglich ohne Einfühlung oder jedenfalls auf
einer andern Basis als der Einfühlung? Was konnte eine solche neue Basis abgeben? Was konnte
an die Stelle von Furcht und Mitleid gesetzt werden, des klassischen Zwiegespanns zur
Herbeiführung der aristotelischen Katharsis? Wenn man auf die Hypnose verzichtete, an was
konnte man appellieren? Welche Haltung sollte der Zuhörer einnehmen in den neuen Theatern,
wenn ihm die traumbefangene, passive, in das Schicksal ergebene Haltung verwehrt wurde?
Er sollte nicht mehr aus seiner Welt in die Welt der Kunst entführt, nicht mehr gekidnappt werden;
im Gegenteil sollte er in seine reale Welt eingeführt werden, mit wachen Sinnen. War es möglich,
etwa anstelle der Furcht vor dem Schicksal die Wissensbegierde zu setzen, anstelle des Mitleids
die Hilfsbereitschaft? Konnte man damit einen neuen Kontakt schaffen zwischen Bühne und
Zuschauer, konnte das eine neue Basis für den Kunstgenuss abgeben? Ich kann die neue Technik
des Dramenbaus, des Bühnenbaus und der Schauspielweise, mit der wir Versuche anstellten, hier
nicht beschreiben. Das Prinzip besteht darin, anstelle der Einfühlung die Verfremdung
herbeizuführen.
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DAS STÜCK
Daten zur EntstehungsEntstehungs- und frühen Aufführungsgeschichte
Um 1927/28: Brecht notiert sich die Grundidee zu einem Stück „Fanny Kress“ oder „Der
Huren einziger Freund“.
Aus einem frühen Stück-Entwurf: „Die Hure verkleidet sich al Mann (Zigarrenhändler),
um ihnen allen zu helfen. Nun sieht sie, wie alle Huren einander verraten und jede
versucht, den mann zu kapern.“
Um 1930: Es entstehen zwei Texte zu einem geplanten Stück mit dem Titel „Die Ware Liebe“.
Aus einem frühen Stück-Entwurf: „Eine junge Prostituierte sieht, dass sie nicht zugleich
Ware und Verkäufer sein kann. Durch ein günstiges Geschick bekommt sie eine kleine
Geldsumme in die Hand. Damit eröffnet sie einen Zigarrenladen, in dem sie in
Männerkleidern den Zigarrenhändler spielt, während sie ihren Beruf als Prostituierte
fortsetzt.“
1939: 15.3.: In den letzten Tagen seines Exils in Svendborg (Dänemark) beschäftigt sich
Brecht mit dem bereits in Berlin unter dem Titel „Die Ware Liebe“ begonnenen Stück:
„Vor ein paar Tagen habe ich den alten Entwurf von ‚Der gute Mensch von Sezuan‘
wieder hervorgezogen. Es existieren fünf Szenen, vier davon sind zu brauchen. Es ist
eine Scharadenarbeit, schon der Umkleide- und Umschminkakte wegen. Ich kann aber
dabei die epische Technik entwickeln und so endlich wieder auf den Standard
kommen. Für die Schublade braucht man keine Konzessionen.“
Mitte Mai: Margarete Steffin (1908-1841) bestätigt gegenüber Walter Benjamin (18921940) die „ortsveränderung“ (schwedisches Exil) und die Schwierigkeiten bei den
verschiedenen Projekten: „er hat leider den CAESAR[-Romans] immer noch nicht
hervorgeholt, sondern ein neues, altes stück herausgesucht: DER GUTE MENSCH
VON SEZUAN“ (Steffin, S. 300 f.)
11.9.: „Ich komme ins Stocken bei der Arbeit an der Parabel. Sie fließt nicht voll. Vieles
ist zu spitzfindig, das Ganze besteht noch aus Stellen. Schönen, realistischen,
scharfsinnigen – und anderen.“
1940: 11.6.:
11.6.: „Ich gehe jetzt zum x-ten Mal den ‚Guten Menschen von Sezuan‘ durch, Wort für
Wort mit Grete [Margarete Steffin]“.
20.6.: „Im großen und ganzen fertig mit dem ‚Guten Menschen von Sezuan‘. Der Stoff
bot große Schwierigkeiten, und mehrere Versuche, ihn zu meistern, seit ich ihn vor
etwa zehn Jahren angriff, schlugen fehl.“ Der gute Mensch heißt zu diesm Zeitpunkt noch
Li Gung, bzw. Lao Go. „Li Gung musste ein Mensch sein, damit sie ein guter Mensch
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sein konnte. Sie ist also nicht stereotyp gut, ganz gut, in jedem Augenblick gut, auch
als Li Gung nicht. Und Lao Go ist nicht stereotyp böse und so weiter. Das Ineinander
übergehen der beiden Figuren, ihr ständiger Zerfall und so weiter scheint nun
halbwegs gelungen. Das große Experiment der Götter, dem Gebot der Nächstenliebe
das Gebot der Selbstliebe hinzuzufügen, dem ‚Du sollst zu anderen gut sein‘ das ‚Du
sollst zu dir selbst gut sein‘ musste sich zugleich abheben von der Fabel und sie doch
beherrschen. Die moralischen Prästationen [Darstellungen] mussten sozial motiviert
sein, jedoch mussten sie auch einem besonderen Vermögen (besonderem Talent,
besonderer Veranlagung) zugeschrieben werden.“
30.6.: Brecht bemerkt wieder einmal: „Es ist unmöglich, ohne die Bühne ein Stück
fertig zu machen. The proof oft he pudding…“ („Die Güte des Puddings erweist sich
beim Essen“ – ein von Brecht mehrfach geführtes englisches Sprichwort).
9.8.: „Die kleinen Korrekturen des ‚Guten Menschen‘ kosten mich ebensoviel Wochen,
wie die Niederschrift der Szenen Tage gekostet hat.“ Noch immer heißt die Hauptfigur
Li Gung bzw. Lao Go.
1941: 25.1.: Zu Jahresbeginn ist Brecht entschlossen, das „Sezuan“-Stück zu „beenden“.
26.1.: Erst jetzt entstehen mehrere Songs, teilweise gemeinsam mit Margatere Steffin:
„Das Lied vom Rauch“, „Das Lied vom achten Elefanten“ und „Das Terzett der
entschwindenden Götter auf der Wolke“.
20.4.: Der „Gute Mensch“ ist inzwischen mit Matrizen verfielfältigt und verschickt
worden. Brecht beklagt; „‚Der gute Mensch von Sezuan‘ ist in zahlreichen Exemplaren
seit Monaten an Freunde (in der Schweiz, Amerika, in Schweden) verschickt, und noch
nicht ein einziger Brief darüber ist eingelaufen.“
9.10.: Gegenüber dem Schriftsteller Curt Riess (1902-1993) nennt Brecht mehrere
sich abzeichnende Aufführungsmöglichkeiten, u.a. auch für den „Guten Menschen“.
1942: 22.8.: Brecht hat erfahren, dass das Zürcher Schauspielhaus nach „Mutter Courage“
(19.4.1941) nun den „Guten Menschen“ uraufführen möchte.
1943: 4.2.: Uraufführung (aufgrund eines Exemplars der Matrizen-Vervielfälitigung) in Zürich;
Regie: Leonard Steckel (1901-1971); Bühnenbild: Teo Otto (1904-1968); Shen
Te/Shui Ta: Maria Becker (*1920); Therese Ghiese (1898-1975) spielt die
Hausbesitzerin Mi Tzü, Karl Paryla (1905-1996) den Flieger Yang Sun. Die Musik zu
einzelnen Liedern stammt von dem Schweizer Komponisten Huldreich Georg Früh
(1903-1945).
1944: Mitte März: In seinem Resümee über einen längeren Aufenthalt in New York (ab Mitte
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November 1943) hält Brecht fest, dass er mit Kurt Weill vertragseinig geworden sei
(Brecht wollte ihn für die Vertonung des „Guten Menschen“ gewinnen); zu einer
Vertonung durch Weill lommt es jedoch letztlich nicht.
1952: 16.11.: Brecht kommentiert die Frankfurter Inszenierung des Stücks (deutsche
Erstaufführung): „Frankfurt führt ‚Der gute Mensch von Szeuan‘ auf. (…) Ich war vier
Tage dort und versuchte, der Aufführung zu Deutlichkeit und Leichtigkeit zu verhelfen.“
Unter der Regie von Intendant Harry Buckwitz und im Bühnenbild von Teo Otto spielen
Solveig Thomas die Shen Te/den Shui Ta, Arno Assmann (1908-1979) den Flieger
Yang Sun, Karl Lieffen (1926-1999) einen Arbeitslosen. Unter der musikalischen
Leitung von Walther Knör wird erstmals die Musik des ebenfalls nach Frankfurt
gekommenen Paul Dessau (1894-1979) gespielt.
Der Verleger Peter Suhrkamp schrieb Brecht, der selbst nicht anwesend war, nach der
Premiere: „Die Aufführung des ‚Guten Menschen von Sezuan‘ gestern Abend war vor
dem Premierenpublikum ein besonders guter Erfolg. Allerdings bin ich zweifelhaft, ob
er vor dem Durchschnittspublikum andauern wird. Die Leute hier lassen sich nicht gern
Unannehmlichkeiten sagen, sondern entziehen sich dem natürlicherweise.“
Zur Inszenierung am Theater Paderborn
Die epischen Strukturelemente der Textvorlage spiegeln sich in der Inszenierung von Volker
Schmalöer wider, auch die Spielweise der Darsteller ist vom epischen Theater geprägt. Acht
Schauspieler spielen insgesamt 28 Rollen, was dazu führt, dass sie in vielen Situation sehr schnell
auf offener Bühne, mittels Kostüm, Gestik, Mimik und Stimme, von einer Rolle in eine andere
wechseln müssen. Dadurch sind sie auf der Bühne nicht nur als eine bestimmte Figur, sondern
immer wieder auch als Schauspieler präsent. Unterstützt wird diese Spielweise durch 24
„Puppen“, die man als eine Art mobile Kleiderständer bezeichnen kann. Die Puppen haben
verschiedene Funktionen, sie stehen zum Teil stellvertretend für eine Figur des Stückes, sie
fungieren als Elemente des Bühnenbilds und sind als anonyme Masse stets auf der Bühne präsent.
Mittels der unterschiedlich platzierten Puppen und anderer Bühnenbildelemente werden die
Schauplatzwechsel und die Entwicklung vom Tabakladen zur Tabakfabrik verdeutlicht. Die Bühnenund Kostümbildnerin Sabine Böing greift in den Kostümen und der Maske zum Teil den
chinesischen Handlungsort des Stückes auf.
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TEXTAUSZÜGE ZUM THEMA
Auszüge aus dem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ des Heiligen Vaters Papst
Franziskus (24. November 2013)
2013)
Ebenso wie das Gebot „du sollst nicht töten“ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des
menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein „Nein zu einer Wirtschaft der
Ausschließung und der Disparität der Einkommen“ sagen. Diese Wirtschaft tötet. (…) Heute spielt
sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo
der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht. Als Folge dieser Situation sehen sich große
Massen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne
Aussichten, ohne Ausweg. Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man
gebrauchen und dann wegwerfen kann. (…)
Einer der Gründe dieser Situation liegt in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt haben, denn
friedlich akzeptieren wir seine Vorherrschaft über uns und über unsere Gesellschaften. Die
Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe
anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzen
geschaffen. Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue und
erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft
ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel. (…)
Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter
entfernt vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien
zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen. Darum
bestreiten sie das Kontrollrecht der Staaten, die beauftragt sind, über den Schutz des
Gemeinwohls zu wachen. Es entsteht eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei, die
einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und ihre Regeln aufzwingt. (…) Die Gier nach Macht und
Besitz kennt keine Grenzen. (…) Hinter dieser Haltung verbergen sich die Ablehnung der Ethik und
die Ablehnung Gottes. Die Ethik wird gewöhnlich mit einer gewissen spöttischen Verachtung
betrachtet. Sie wird als kontra-produktiv und zu menschlich angesehen, weil sie das Geld und die
Macht relativiert. Man empfindet sie als eine Bedrohung, denn sie verurteilt die Manipulierung und
die Degradierung der Person. (…) Die Ethik – eine nicht ideologisierte Ethik – erlaubt, ein
Gleichgewicht und eine menschlichere Gesellschaftsordnung zu schaffen. (…) Das Geld muss
dienen und nicht regieren! Der Papst liebt alle, Reiche und Arme, doch im Namen Christi hat er die
Pflicht daran zu erinnern, dass die Reichen den Armen helfen, sie achten und fördern müssen. Ich
ermahne euch zur uneigennützigen Solidarität und zu einer Rückkehr von Wirtschaft und
Finanzleben zu einer Ethik zugunsten des Menschen.
12
(…) Die Armen und die ärmsten Bevölkerungen werden der Gewalt beschuldigt, aber ohne
Chancengleichheit finden die verschiedenen Formen von Aggression und Krieg einen fruchtbaren
Boden, der früher oder später die Explosion verursacht. Wenn die lokale, nationale oder weltweite
Gesellschaft einen Teil ihrer selbst in den Randgebieten seinem Schicksal überlässt, wird es keine
politischen Programme, noch Ordnungskräfte oder Intelligence geben, die unbeschränkt die Ruhe
gewährleisten können. Das geschieht nicht nur, weil die soziale Ungleichheit gewaltsame
Reaktionen derer provoziert, die vom System ausgeschlossen sind, sondern weil das
gesellschaftliche und wirtschaftliche System an der Wurzel ungerecht ist. (…)
Diskussionsanregung
Sprechen Sie mit Ihrer Klasse über den gelesenen Beitrag und fragen Sie die
Schüler/innen,
ob sie das heutige Wirtschaftssystem als Bedrohung einschätzen.
Wenn ja, warum?
Gibt es Ideen zur Schaffung einer „menschlicheren Gesellschaftsordnung“?
In Kleingruppen können die Schüler/innen ein kleines Konzept entwerfen. Nach einer
kurzen Präsentation kann man das Konzept auf Potential prüfen.
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„Mentale Infrastrukturen“
Infrastrukturen“ von Harald Welzer – Vorwort zur Schriftenreihe Ökologie Band 14 der
HeinrichHeinrich-BöllBöll-Stiftung
Kritik am alles dominierenden Paradigma des Wirtschaftswachstums ist mit der Finanz- und
Wirtschaftskrise der letzten Jahre wieder gesellschaftsfähig geworden. Auch der Klimawandel und
erst recht die japanische Nuklearkatastrophe lösen intensives Nachdenken aus. Kann unsere
Wirtschaft tatsächlich ewig weiterwachsen? Ist unsere Konsumwelt eigentlich zukunftsfähig?
Kann Wirtschaftswachstum in Industrieländern überhaupt ein legitimes Ziel sein, wenn die
Weltwirtschaft jetzt schon an ihre ökologischen Grenzen stößt und weit mehr als eine Milliarde
Menschen hungern? Werden wir so weitermachen können?
Der Großteil der Wachstumskritik zielt auf die politische und ökonomische Sphäre des
Wachstumszwangs. Die Apologeten dieser Sphären vertreten die Ansicht, die Existenz des Zinses
und der internationale Standortwettbewerb bedingen den kapitalistischen Wachstumszwang.
Ein weiteres Argument: Die hohen Staatsschulden und die Notwendigkeit, die sozialen
Sicherungssysteme aufrecht zu erhalten und gesellschaftliche Umverteilung zu ermöglichen,
zwingen zum stetigen Wirtschaftswachstum.
Wirtschaft und Politik sind sicherlich Wachstumstreiber. Aber sie sind deshalb auch zentrale
Akteure, wenn es ums Umsteuern geht. Wie die Menschen – als Individuen und in
gesellschaftlichen Zusammenhängen – mit dem auf Wachstum ausgerichteten Gesellschafts- und
Lebensmodell aufs Engste verwoben sind, das versucht Welzer auszuleuchten.
Das Wachstum als Wille und Vorstellung herrsche nicht nur in Konzernzentralen, an Börsen oder in
Ministerien, argumentiert der Autor, sondern auch in unseren Köpfen. Die materiellen Güter
dienten längst nicht mehr alleine den elementaren Bedürfnissen wie Nahrung, Wohnen,
Gesundheit, Bildung und Vitalität. Materielle Güter sagten auch etwas aus über den sozialen
Status und über Beziehungen, über kulturelle Vorlieben. Tatsächlich prägen sie Zugehörigkeit und
Identität.
Wir kennen sie alle: die Lust nach etwas Neuem, nach steigendem Einkommen, nach Besitz, nach
immer exotischeren Urlaubsreisen. Die Vorstellung vom „unendlichen Wachstum“ ist seit der
industriellen Revolution gleichsam in unseren emotionalen und kognitiven Haushalt eingebettet, so
Welzer. Das äußert sich etwa in Karrierewünschen und Aufstiegsplänen im Job, ebenso in der
Selbstfindungssuche nach dem „wahren Ich“ oder einer „höheren Erkenntnisstufe“. Der moderne
Mensch ist der Schmied seines eigenen Glückes, er will etwas aus seinem Leben machen, und
zwar nicht nur einmal, sondern immer wieder aufs Neue, um stetig seine Zufriedenheit zu steigern.
„Das Neue liefert Vielfalt und Aufregung und lässt uns träumen und hoffen. Mit seiner Hilfe können
wir Träume und Sehnsüchte nach einem idealen Leben erforschen und der gelegentlich doch recht
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harten Lebensrealität entkommen“. Diese Lust nach Neuem, nach Konsum und Wachstum ist, wie
Harald Welzer in seinem Essay zeigt, als „mentale Infrastruktur“ in den Wünschen, Hoffnungen
und Werten jedes Einzelnen, in unseren Innenwelten verankert. So kommt es, dass das System
nicht nur die „Lebenswelt“ (Habermas) kolonialisiert, sondern dass wir durch unsere Lebenswelt
auch das System konstruieren, das wir „verdienen“. Die „große Transformation“, die unsere
Gesellschaft in eine nachhaltige Zukunft beamen und den Kollaps der Biosphäre verhindern soll,
hat neben den technischen und politischen Lösungen, auch eine sozial-psychologische
und
kulturelle Dimension: Wir müssen die Mechanismen und Prinzipien durchschauen, auf denen
unsere Ideale und Wünsche, unsere Vorstellungen und Empfindungen von Zufriedenheit fußen.
Denn diese werden durch unsere mentalen Infrastrukturen ein gutes Stück vorgegeben.
Welzer zeigt, wie wir uns als Gestalterinnen und Gestalter unserer eigenen Persönlichkeitsentwürfe und Biographien laufend selbst zum (Konsum-) Wachstum, zum Mehr antreiben. Dies zu
erkennen, ist der erste Schritt in die richtige Richtung. Und dies wiederum ist die Grundlage, um
den Wachstumszwang nicht nur vom System zu lösen, sondern „in uns drinnen“, in unseren
mentalen Infrastrukturen aufzulösen. Womöglich werden wir dann dem Wunsch nach „Weniger ist
mehr“ näher kommen oder die Frage „Wie viel ist genug für ein gutes Leben?“ anders
beantworten können. Um das „rastlose Begehren“ in ein erfülltes Leben umdrehen, das nicht
ständig nach Neuem schreit, brauchen wir eine Geschichte, die wir über uns selbst erzählen
können – und zwar aus der Perspektive einer möglichen Zukunft: Wer möchte ich einmal gewesen
sein? Wie möchte ich die Welt in 20 Jahren eingerichtet sehen, wie möchte ich sie meinen Kindern
hinterlassen?
Die Frage zu beantworten, wie man im Jahr 2030 oder 2050 gelebt haben möchte, und darüber
Visionen zu entwickeln, die Menschen bewegen und neue Identitäten stiften, kann nicht nur
abstrakt gelingen. Sie muss das Ausprobieren von konkreten Lebensentwürfen einbeziehen.
Denn das „business-as-usual“ der uns allgegenwärtig umgebenden materiellen und institutionellen
Infrastrukturen (Supermärkte, Autobahnen, Allverfügbarkeit und Leistungsdruck) haben eine
ungeheure Macht, weil wir uns täglich in ihnen bewegen und sie deshalb zwangsläufig bejahen
oder unterstützen. Erst wenn jede(r) für sich konkret lebt und erlebt, wie sie und er sich eigentlich
wünschen zu leben, erst dann können sich die mentalen Infrastrukturen verändern. Deswegen ist
es dann doch wichtig, einfach vom Auto häufiger auf den Zug umzusteigen, statt der exotischen
Ferne die Region auszukundschaften, statt der Karriere mal die Familie oder mehr Zeit im
Freundeskreis vorzuziehen. Nicht weil solches Handeln gleich die Welt verbessern würde; dazu
bleibt es zu singulär und machtlos. Aber weil es jedem Einzelnen eine bessere Vorstellung und
Gewissheit vermitteln kann, wie es sich nachhaltig gut leben lässt. Es geht also auch darum, Angst
und Hemmschwellen abzulegen, Neues auszuprobieren, im sozialen Miteinander und im besseren
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Einklang mit den natürlichen Lebensgrundlagen. Erst wenn sich der Protest gegen das Fliegen und
nicht gegen die Flughäfen wendet, bringt Welzer es auf den Punkt, bietet er eine handfeste
Intervention
gegen
die
materiellen,
institutionellen
und
mentalen
Infrastrukturen
des
Wachstumszeitalters. Auf Basis von wachstumsbefriedeten ökonomischen und gesellschaftlichen
Leitbildern wird es dann vielleicht auch eher gelingen, gegen den Wachstumszwang anzugehen,
der unser System bestimmt. Bei sich selbst anzufangen sitzt dann nicht nur der Vorstellung auf, die
Gegenwart gleich verbessern zu können. Wenn wir im Kleinen Formen des Gemein-Wirtschaftens
(„commoning“) praktizieren, die jenseits der Marktökonomie auf Reziprozität und Austausch und
nicht auf Profitsteigerung ausgerichtet sind, dann können hieraus auch die Umrisse einer
Postwachstumsökonomie entwickelt und eine Gesellschaft greifbarer gemacht werden, die die
ökologischen Grenzen der Erde anerkennt.
Diskussionsanregung
Lassen Sie die Schüler/innen die wichtigsten Punkte des Textes von Harald Welzer
stichpunktartig zusammenfassen und für sowie gegen Welzer argumentieren.
Mögliche Fragen zum Thema:
In welchem „business-as-usual“ der materiellen- und institutionellen Infrastruktur bewegst
du dich jeden Tag (der Bus zur Schule, der Kiosk nebenan usw.)?
Was brauchen wir, um ein gutes Leben zu führen?
Wie will ich die Welt in 20 Jahren eingerichtet sehen?
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THEATERAKTIV DER GUTE MENSCH VON SEZUAN
für Schulklass
klassen / Gruppen ab 12 Jah
Jahren
a) Figurenkonstellation der Inszenierung
Beliebige Gruppengröße
Ein größerer, freier Raum wird benötigt
Die Schüler/innen laufen zunächst in einer neutralen Haltung durch den Raum. Spielaufgabe ist:
Es werden Figuren aus der Inszenierung genannt, welche man auf die Bewegungssqualität
untersucht. Die Schüler/innen versuchen diese zu imitieren / zu adaptieren. Wie verhalten sich die
Figuren der Inszenierung körpersprachlich auf der Bühne? Gibt es Charakteristika in der Gangart?
Jeder bleibt in dieser Übung zunächst bei sich, ohne mit den anderen Kontakt aufzunehmen.
Wurde eine Figur und die dazu passende Körperlichkeit gefunden, lassen Sie die Spieler/innen mit
der Stimme ausprobieren: Wie sprechen die Figuren? Was haben Sie während des Stückes
gesagt?
b) Schneller Rollenwechsel
Improvisationsübung
Kreativität, Konzentration und schnelle Umsetzung wird gefördert
Ein größerer, freier Raum wird benötigt
Kleine Requisiten- und Kostümauswahl gewünscht
Wie die Schauspieler/innen in der Inszenierung, werden die Schüler/innen in dieser Übung mit
schnellen Rollenwechseln konfrontiert.
Die Schüler/innen sind in kleine Gruppen eingeteilt. Innerhalb der Gruppe improvisieren sie mit
zusammengestellten Requisiten und Kleidungsstücken (Alles, was der Klassenraum / der Rucksack
hergibt). Jede Kleingruppe sucht sich drei bis vier Schauspieler/innen aus und erfindet eine Szene
mit einigen Figuren aus dem Stück, in der pro Schauspieler/in mindestens zwei Rollenwechsel
vollzogen werden. Wie kann das funktionieren und für die Zuschauer sichtbar gemacht werden?
Dies gilt es in der Arbeit zu erforschen, auszuprobieren und sich dann für eine Darstellung zu
entscheiden, die den anderen Gruppen präsentiert wird.
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c) Die Straßenszene
Beliebige Gruppengröße
Suchen Sie sich mit der Gruppe einen Spielort aus (z.B. auf der Straße). Wählen Sie eine
Situation, in der ein/eine Passant/in eine Zeugenaussage machen soll (z.B. Verkehrsunfall,
Raubüberfall etc.). Der/die Erzähler/in spricht in der dritten Person über den Vorfall, vor anderen
Passanten, die keine Augenzeugen sind. Der/die Spieler/in soll den Umstehenden das
Geschehene nacheinander auf zwei verschiedene Arten vermitteln. Zunächst wird die Situation
nüchtern und distanziert demonstriert, anschließend soll sich der/die Augenzeuge/in in die am
Vorfall beteiligten Personen hineinversetzen und die Situation möglichst lebendig, ggf. auch mittels
Einsatz von Requsiten und Kostümteilen, beschreiben. Die übrigen Gruppenmitglieder sollen nun
beide
Arten
der
Demonstration
vergleichen
und
beschreiben
wie
die
verschiedenen
Darstellungsversionen auf sie als Zuschauer gewirkt haben.
d) Nach dem Vorstellungsbesuch, Diskussionsrunde
Beliebige Gruppengröße
Konzentrierte Arbeitsatmosphäre
Führen Sie mit ihrer Gruppe nach dem Vorstellungsbesuch ein Nachgespräch. Dabei geht es
darum zu beschreiben, was man gesehen und empfunden hat sowie um die Beschreibung der
theatralen Mittel. Was hat wie und warum, wodurch gewirkt und gibt es Bezüge zur heutigen Zeit?
Der Spielleiter übernimmt die Rolle des Moderators. Die unten stehenden Fragen können als
Diskussionsanregungen dienen:
-
Welche Stimmungen herrschten in der Inszenierung? Beschreibt bitte einzelne Sequenzen
und Bilder der Inszenierung.
-
Welche Rollen, DarstellerInnen sind dir am stärksten in Erinnerung geblieben und warum?
-
Beschreibe die Zeichnung / Darstellungen einzelner Figuren z.B. der Götter im Stück.
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-
Warum hat man sich deiner Meinung nach für diese Spielweise entschieden?
-
Wie sah das Bühnenbild aus? Welche Spielmöglichkeiten hat es den Spielern geboten?
-
Verändert sich die Bühne im Laufe des Stücks?
-
Wie sahen die Kostüme aus? Beschreibt einzelne Figuren.
-
Wie wurde mit dem Kostüm gespielt?
-
Was sagt das Kostümbild über diese Gesellschaft aus?
-
Was erzählt die im Stück verhandelte Geschichte über die Gesellschaft heute?
-
Wie war das Ende der Inszenierung? Hast du es so erwartet? Hast du andere Ideen für ein
Ende?
-
Warum wird das Stück heute noch gelesen und/oder gespielt?
d) Chorischer Gruppenepilog
Gruppenaufgabe für beliebige Gruppengröße
Ein größerer, freier Raum wird benötigt
Eine Textkopie (unten) pro Schüler/in
Requisiten und/oder Kostümauswahl gewünscht
Teilen Sie die Gruppe in Kleingruppen. Die Schüler/innen bekommen nun die Aufgabe, in die Rolle
der Schauspieler / des Regisseurs zu schlüpfen und anhand des Epilogtextes eine kleine
Theaterszene zu inszenieren (Text auf der folgenden Seite). Der Text kann chorisch gesprochen
oder auf einzelne Spieler/innen aufgeteilt werden. Welche Aktionen lassen sich mit ihm verbinden?
Mit welcher Stimme und Körperlichkeit sollen die Darsteller/innen den Text präsentieren? Am Ende
werden alle Szenen nacheinander gezeigt. Tauschen sie sich anschließend über die Wirkung der
einzelnen Szenen aus.
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Epilog
„Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruss:
Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluss.
Vorschwebte uns: die goldene Legende.
Unter der Hand nahm sie ein bitteres Ende.
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Dabei sind wir doch auf Sie angewiesen
Dass Sie bei uns zu Haus sind und genießen.
Wir können es uns leider nicht verhehlen:
Wir sind bankrott, wenn Sie uns nicht empfehlen!
Vielleicht fiel uns aus lauter Furcht nichts ein.
Das kam schon vor.
Was könnt die Lösung sein?
Wir konnten keine finden, nicht einmal für Geld.
Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?
Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?
Wir sind zerschmettert und nicht nur zum Scheine!
Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“
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Sekun
ekundär
därmedi
edienpoo
npool: Literatur / Filme
Harald Welzer: „Selbst denken – eine Anleitung zum Widerstand“, Fischer Taschenbuch Auflage:
5, 2014.
Horst Grobe: „Der gute Mensch von Sezuan. Textanalyse und Interpretation zu Bertolt Brecht”
C.Bange Verlag GmbH, 2011.
Fritz Umgelter: „Der gute Mensch von Sezuan“, Deutschland 1966
Verfilmung von „Der gute Mensch von Sezuan“, 181 Minuten
Impressum
Herausg
usgeber Theater Paderborn – Westfälische Kammerspiele GmbH
Intenda
endanz
eschäftsführung Katharina Kreuzhage
danz und Gesch
Vor
Vorsitz
itzend
ender des Aufsicht
chtsrat
rates Michael Dreier
Redak
daktion
tion Dramaturgie & Theaterpädagogik
Gest
estaltung Theaterpädagogik /
Förderer der Theater Paderborn Westfälische Kammerspiele GmbH
Stadt Paderborn / Kreis Paderborn / Ministerium für Familie, Kinder, Jugend und Sport des Landes NRW / Theaterfreunde e.V.
Quelle
llen
Bertolt Brecht: „Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe“, hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei
und Klaus-Detlef Müller, Berlin und Weimar/Frankfurt a.M. 1988-2000, Band 22, Schriften 2.
Bertolt Brecht: „Schriften zum Theater I“, Frankfurt a.M. 2000.
Ruth Berlau: „Brechts Lai-tu. Erinnerungen und Notate“, hg. von Hans Bunge, Darmstadt, Neuwied,
Luchterhand 1987.
Bertolt Brecht: „Der gute Mensch von Sezuan“, kommentierte Ausgabe, hrsg. v.
Wolfgang Jeske, Frankfurt a.M. 2003.
Horst Grobe: „Der gute Mensch von Sezuan. Textanalyse und Interpretation zu Bertolt Brecht”, Hollfeld 2011.
http://www.boell.de/sites/default/files/Endf_Mentale_Infrastrukturen.pdf
http://www.whoswho.de/bio/bertolt-brecht.html
https://schulesocialmedia.files.wordpress.com/2012/06/brecht-episches-theater.pdf
http://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangeliigaudium.html
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