Zwangssterilisation und Eugenik während der NS

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Zwangssterilisation und Eugenik während der NS
Nerven, Seele und Gehirn:
Psychiatriegeschichte
Cornelius Borck
Vorlesung Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Wintersemester 2010/11
Stephen Colbert ("The Word" on July 25th, 2006)
Psychopharmaparenting.
It’s a darn good thing more kids are being
medicated. The article says they’re quote:
unpredictable, hostile, extremely agitated and prone
to aggression and mood swings.
Luckily there are drugs on the market that treat
everything that makes raising kids a pain in the butt.
Just so we’re clear, medicating kids isn’t coddling
them, it’s a cutting edge form of discipline.
You see, for years parents and school marms were
limited to spanking childrens butts, now we’re
spanking their brains.
Now having a kid on meds is like having a kid with
adjustable knobs, so you can turn down the volume
turn up the obedience and one day, science
permitting, switch off the gay.
Now I’m no doctor, I don’t know the long term
effects of medicating our childrens brains twice a day
for ten years of their early development, but I do
know the long term effects of this on the
pharmaceutical industry: Fantastic. You know, the
pharmaceutical industry is like a child, compared to
things like farming and coal mining, it’s in its
infancy.
And the pharmaceutical industry needs our help to
reach its potential, its dream, the dream that these
children on prescription drugs will someday grow up
to be happy, prosperous adults on prescription
drugs. And if there are any parents out there who
still have qualms about medicating their children, I’m
sure they will come up with a drug to treat that too.
Kernthesen
- Psychiatrische Erkrankungen zählen zu den häufigsten überhaupt
- Kern bilden psychische Auffälligkeiten, die als „echte“ Krankheit,
d.h. als biologische Störungen gelten
- Psychische Störungen sind immer auch Spiegel der Gesellschaft,
Geschichte, Theorie und Ethik verschränken sich vielfältig
- Umgang mit psychisch Kranken deshalb besonderes
Maß der Menschlichkeit
- Verlagerung auf biologische Ursachen entlastet von sozialen Faktoren
"Der psychiatrische Arzt ist der inkompetenteste und immer dem
Lustmörder näher als seiner Wissenschaft. Mein ganzes Leben
habe ich vor nichts mehr Angst gehabt, als in die Hände von
psychiatrischen Ärzten zu fallen, gegen die alle anderen, ja letzten
Endes auch immer nur unheilbringenden Ärzte, doch viel weniger
gefährlich sind, denn die psychiatrischen sind in unseren heutigen
Gesellschaft noch vollkommen unter sich und immunisiert."
Bernhard: Wittgensteins Neffe (1982)
Das Irrenhaus
Francisco de Goya, 1794
Meadows Museum, Dallas, Texas
Melencolia I
Albrecht Dürer, 1514
Kupferstichkabinett, Berlin
Themen
•
Kontinuität und Diskontinuitäten im Umgang mit psychiatrischen
Erkrankungen
•
Antike Wurzeln moderner Seelenvorstellungen
•
Die wichtigsten Phasen und Umbrüche im Umgang mit
psychischen Störungen:
Aufklärung / Anstalten / invasive Therapien / Gesellschaftskritik /
Medikalisierung
•
Freud und das Jahrhundert der Psychoanalyse
•
Was ist eine wissenschaftliche Tatsache und welche Folgen hat die
Festlegung auf bestimmte Ursachen für die Gesellschaft?
Die Befreiung der Irren von ihren Ketten durch Philippe Pinel,
Charles Muller 1849,
Académie Nationale de Médecine, Paris
„Zeitschrift von Ver-rückten
gegen Psychiatrie“
Berlin, 1981
Hospitalisierung psychiatrischer Patienten
1800
GB
USA
1850
ca. 5000
ca. 5000
1900
1950
100.000
150.000
150.000
500.000
Une leçon clinique à la Salpêtrière, André Brouillet, 1887 (Prof. Jean-Martin Charcot)
Freud und das Jahrhundert der Psychoanalyse
Die Couch in Freuds Arbeitszimmer, Wien
Sigmund Freud
(1856 – 1939)
1927, Julius
Wagner-Jauregg
für Malaria-Infektion als
Therapie gegen Paralyse
Menschliches Gehirn,
Zustand nach Lobotomie
1949, Egas Moniz
für Angiographie, zugleich
Erfinder der Lobotomie
Zwangssterilisation und Eugenik während der NS-Herrschaft
•
Gesetz zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses vom 14. Juli 1933
•
Zwangssterilisation von
•
Meldepflicht für Ärzte, Schaffung von
Erbgesundheitsgerichte, Teil der
nationalsozialistischen
Rassenhygiene
•
bis Mai 1945 wurden mindestens
400.000 Menschen zwangssterilisiert
•
Beginn der Patientenmorde im
Sommer 1939 mit der
Kindereuthanasie,
•
Januar 1940 – August 1941 „Aktion
T4“, Einrichtung von
Tötungsanstalten, gezielte
Ermordung psychiatrischer Patienten
•
Nach dem offiziellen Ende von T4
aufgrund öffentlicher Kritik
Fortsetzung als sogenannte „Wilde
Euthanasie“ und absichtliches
Verhungernlassen
•
Insgesamt etwa 250.000 Opfer
Psychopharmaka
Beginn der modernen Pharmakotherapie in der
Psychiatrie mit der Einführung von Chlorpromazin
1952, Haloperidol 1957, Benzodiazepin 1960.
Heute über 200 verschiedene Präparate.
Einführung der Psychopharmaka hat klinischen
Alltag und Leben von Psychiatriepatienten radikal
verändert.
Kombinationstherapie mit psychotherapeutischen
und sozialtherapeutischen Ansätzen gilt heute in
der Regel als Verfahren der Wahl.
Bis heute stellen Zwangsbehandlungen ein
schwieriges ethisches Problem dar.
Frage des Patientenwohls bei mangelnder
Krankheitseinsicht.
Erfolge der Psychopharmaka belegen neurophysiologische Beteiligung an psychischen Störungen,
Mechanismen aber nach wie vor unklar.
Zusammenfassung:
•
Psychische Störungen kommen in allen menschlichen Gesellschaften vor, aber jede
Kultur geht unterschiedlich mit ihnen um.
•
Viele unserer Namen für psychische Störungen weisen noch auf ihren antiken Ursprung
hin (Melancholie, Hysterie, Hypochondrie).
•
Psychisch Kranke über lange Zeit positiv bzw. negativ stigmatisiert („Hexe“/“Heilige“).
•
Erst mit der Etablierung des neuzeitlichen Verständnisses von Rationalität wird der
Wahnsinn „irre“.
•
Im Zuge der Industrialisierung entstehen spezielle Orte für Verrückte: Anstalten. Die
Zahl der auf diese Weise hospitalisierten Menschen steigt im Laufe des 19. Jh.
dramatisch an.
•
Die Ohnmacht der Psychiatrie im Vergleich zu medizinischen Erfolgen veranlasst
Psychiater zu „heroischen“ invasiven Therapien (Schockverfahren, Lobotomie,
Sterilisierung, Euthanasie).
•
Parallel zur biologischen Psychiatrie entsteht Psychoanalyse: Deutung des menschlichen
Lebens als Konsequenz der seelischen Kräfte und Triebe.
•
Nach 2. Weltkrieg zwei einschneidende Ereignisse: Erfindung der Psychopharmaka und
Antipsychiatrie.
•
Statt Opposition von Psychotherapie und organischer Psychiatrie heute Kombination.
•
Fröhliche Polypragmasie bedeutet zugleich eine massive Medikalisierung psychischer
Auffälligkeiten.