schmerzmedizin - Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin eV
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November 2016 | Jg. 32 | Nr. 6 SCHMERZMEDIZIN Angewandte Schmerztherapie und Palliativmedizin Interdisziplinär • Patientenorientiert • Praxisnah Akzeptanz und Achtsamkeit in der Schmerztherapie CME: Somatische Belastungsstörungen Differenzialdiagnostik im Fokus Intensivmedizin oder Palliativversorgung? Übertherapie am Lebensende Tod im Islam und Judentum Religionssensible Begleitung Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. Deutsche Akademie für Ganzheitliche Schmerztherapie e. V. Bundesverband der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe e.V. www.dgschmerzmedizin.de www.dagst.de www.bv-palliativmediziner.de www.springermedizin.de/schmerzmedizin Editorial „Die steigende Zahl chronisch schmerzkranker Menschen ist Beweis dafür, dass die aktuell zugelassenen, verordnungsund erstattungsfähigen Arzneimittel allein nicht ausreichen, des Problems Herr zu werden.“ PD Dr. med. Michael A. Überall, Nürnberg Medizinischer Leiter IFNAP – Institut für Neurowissenschaften, Algesiologie & Pädiatrie Gesetzentwürfe mit erheblicher Sprengkraft K ommt der Berg nicht zum Propheten, dann muss der Prophet halt zum Berg kommen. An diese Redensart haben sich sicherlich viele Gesundheitsexperten angesichts der erstaunlichen Bewegungsfreudigkeit des Bundesgesundheitsministers bezüglich der Erleichterung des medizinischen Einsatzes von Cannabis und cannabisbasierten Medikamenten erinnert und mit Staunen verfolgt, welches Schauspiel sich da aktuell in Berlin abspielt. Man könnte fast den Eindruck haben, dass die Gesundheitspolitiker im Deutschen Bundestag verstanden haben, woran es bei der Versorgung chronischer schmerzkranker Menschen in Deutschland unter anderem hakt: an der Widersprüchlichkeit von Verordnungs- und Erstattungsfähigkeit medizinischer Therapien nämlich! Und da nun auch deutsche Gerichte den bislang restriktiven Einsatz von Cannabis bis hin zur Genehmigung des Selbstanbaus erleichtert haben, war es einfach an der Zeit, dass sich endlich auch der Prophet – sprich die Gesundheitspolitik – bewegt. Nicht anders darf man wohl den aktuell im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages diskutierten und in der öffentlichen Anhörung vom 21. September beratenen Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften …“ deuten. Vordergründig darauf abzielend, chronisch kranken Menschen den Zugang zu cannabishaltigen Therapien zu erleichtern und gleichzeitig den Selbstanbau zu unterbinden, birgt dieser Gesetzesentwurf darüber hinaus auch das Potenzial, etablierte Strukturen und Prozesse der Verordnungs- und Erstattungsfähigkeit von Arzneimitteln in Deutschland nachhaltig zu verändern. Denn: für Cannabis und cannabisbasierte Arzneimittel liegen aus Sicht des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) bislang nur für das Fertigarzneimittel und die Indikation Schmerzmedizin 2016; 32 (6) „Spastik bei MS“ die für eine arzneimittelrechtliche Zulassung notwendigen kontrollierten Studien vor. Auch an verwertbaren Daten zum (Zusatz-)Nutzen im Vergleich zu anderen bereits etablierten/zugelassenen Therapien mangelt es laut G-BA und MDK. Dass jetzt auch Rezepturarzneien und sogar die Blütentherapie per Gesetz als uneingeschränkt verordnungs- und letztlich auch erstattungsfähig erklärt werden (sollen), zeigt, wie weit die Politik bereit ist auf den Berg medizinischer Versorgungsprobleme chronisch (Schmerz-)Kranker zuzugehen. Aus Sicht Betroffener ein längst überfälliger Schritt, schließlich ist die kontinuierlich steigende Zahl chronisch schmerzkranker Menschen in Deutschland Beweis dafür genug, dass die aktuell zugelassenen, verordnungs- und als Regelleistung auch erstattungsfähigen Arzneimittel allein nicht ausreichen um des Problems Herr zu werden. Aus Sicht des G-BA und aller analog strukturierten Verbände und insbesondere für die gesetzlichen Krankenkassen ist diese Entwicklung jedoch ein Desaster – denn mit dem „Verstoß“ gegen die etablierten Regeln der Arzneimittelzulassung birgt dieser Gesetzesentwurf beträchtliche Sprengkraft. Aus Sicht der Schmerzmedizin ist er allemal zu unterstützen, wenngleich es – nicht nur aus arzneimittelrechtlichen Gründen – sicherlich sinnvoll wäre, stärker zwischen den verschiedenen Optionen zu differenzieren und die verfügbare Fertigarznei als Mittel der ersten Wahl in den gesetzesbegleitenden Ausführungsbestimmungen zu positionieren, gefolgt von der THC-Rezepturarznei als zweite und der Blüte als dritte Wahl. Man darf gespannt sein wie sich der Gesetzesentwurf weiterentwickelt. In jedem Fall kommt hier Bewegung in eine Sache, die lange Zeit für unveränderbar gehalten wurde – und das ist gut so! PD Dr. med. Michael A. Überall 3 Inhalt Schmerzmedizin 6 · 2016 Editorial Gesetzentwürfe mit erheblicher Sprengkraft 3 Michael A. Überall, Nürnberg Panorama 8 Schmerztherapie-Vereinbarung: Erleichterter Zugang für Ärzte Endmenstruelle Migräne: Ein neuer Kopfschmerztyp? Kopfschmerz bei Schülern: Unterricht gegen Schmerz 9 Rückenschmerzen: Reden statt Röntgen Paracetamol: Pränatale Exposition mit Einfluss aufs Kind? Forscher entwickeln neues Opioid-Analgetikum Literatur kompak t 10 Kopfschmerzen durch übermäßige Smartphone-Nutzung? 12 Patienten mit Organversagen: Versorgung am Lebensende verbesserungsbedürftig Opioidverordnungen nach Operationen langfristig erhöht 13 Behandlung von Tumorschmerzen: Sind alle Opioide gleich? 14 In zehn Schritten zur Schmerzkontrolle Dem Schmerzsyndrom geht oft posttraumatischer Stress voraus 15 Das Miteinander verbessern Unter den Leitgedanken Mut, Miteinander und Kompetenz diskutierten Vertreter der Palliativmedizin auf dem 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin in Leipzig über Chancen und Herausforde rungen der Fachdisziplin. Medizin ak tuell 15 Berichterstattung vom 11. Kongress der Gesellschaft für Palliativmedizin in Leipzig 19 Berichterstattung vom Deutschen Schmerzkongress 2016 in Mannheim Zer tif izier te For tbildung 23 Somatische Belastungsstörungen in der Schmerztherapie 23 Somatische Belastungsstörungen in der Schmerztherapie Eine Differenzierung zwischen organisch und nicht organisch bedingten Schmerz leiden ist essenziell für die Wahl der Schmerztherapie. Hierbei helfen die DSM5-Kriterien. Johannes Horlemann, Kevelaer Unsere Organschaften: Verlagsredaktion springermedizin.de auf Twitter Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. Dr. rer. nat. Gunter Freese E-Mail: [email protected] Deutsche Akademie für Ganzheitliche Schmerztherapie e. V. Springer Medizin Verlag GmbH Aschauer Str. 30, 81549 München Das Zwitschern wird immer lauter: Werden Sie zum „Follower“ und „lauschen“ Sie unseren Springer-Medizin-Tweets auf www.twitter.com – oder mit der Twitter-App auf Ihrem Smartphone. Berufsverband der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe e. V. Besuchen Sie uns online: www.springermedizin.de/schmerzmedizin springermedizin.de auf Twitter Inhalt Schmerzmedizin 6 · 2016 For tbildung 28 Akzeptanz und Achtsamkeit als Teil der Behandlung chronischer Schmerzen Christiane Braun, Linda Mehner, Andreas Böger, Kassel 31 Intensivmedizin oder Palliativversorgung am Lebensende? Matthias Thöns, Witten 34 Ernährung als wichtiges Element einer ganzheitlichen Schmerzmedizin Günther Bittel, Duisburg; Gabriele Wagner, Überlingen Gesellschaf ten und Verbände Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS) 40 DGS aktuell: Schmerzmedizin – trübe Aussichten? Oliver Emrich, Ludwigshafen 42 Geschichte der Schmerzmedizin: Wie wir wurden, was wir sind Oliver Emrich, Ludwigshafen 45 31 Intensivmedizin oder Palliativversorgung am Lebensende? Die Versorgung schwerstkranker Patienten am Lebensende stellt Ärzte immer wieder vor schwerwiegende Entscheidungen. Leider führen diese immer häufiger auch zu einer Übertherapie. Das DGS-Schmerzzentrum Wangen stellt sich vor Stefan Locher, Klaus Kalmbach, Wangen 47 Pharmazeutische Wissenschaft zum Wohle des Patienten Stefan Laufer, Tübingen; Dieter Steinhilber, Frankfurt am Main 49 Veranstaltungen und Termine Deutsche Akademie für Ganzheitliche Schmerztherapie e.V. (DAGST) 50 Wir betreten Neuland Sven Gottschling, Homburg 51 52 Veranstaltungen und Termine Tod und Sterben im Islam und Judentum Nicole Schönmann, Hamburg Berufsverband der Palliativmediziner Westfalen-Lippe 56 Das palliative Team in der ambulanten Versorgung Eberhard A. Lux, Lünen Praxis konkret 61 Missbrauchsvorwurf: Beratungsverhältnis nicht ausgenutzt 52 Tod und Sterben im Islam und Judentum Bei der Begleitung am Lebensende haben in unserer heutigen multikulturellen Gesellschaft neben individuellen auch religiöse Traditionen und Wünsche der Patienten einen hohen Stellenwert. Arno Zurstraßen, Köln Bitte vormerken! 27CME-Fragebogen Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2017 33Leserbrief 35Erratum 58Industrieforum 61 Galenus-Preis und CharityAward 2016 63Impressum Schon heute möchten wir Sie auf den Deutschen Schmerz- und Palliativtag 2017 hinweisen, der vom 22. bis 25. März 2017 im Congress Center Messe Frankfurt stattfinden wird. Titel ©© Ida Jarosova / Getty Images / iStock Rubriken Panorama Schmerztherapie-Vereinbarung fen“, erklärte Professor Joachim Nadstawek, Vorsitzender des Berufsverbands der Ärzte und Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland, der an den Verhandlungen beteiligt war. Mit der Vereinbarung würden die Anforderungen an die aktuellen Vorgaben der Zusatzweiterbildung „Spezielle Schmerztherapie“ angepasst, heißt es weiter in der Mitteilung. Auch die Praxisbedingungen würden nun flexibler gestaltet, etwa für größere Einrichtungen. Außerdem wurden die Modalitäten zur Dokumentationsprüfung verändert. (ger/eis) Erleichterter Zugang für Ärzte —— Der Zugang zur Versorgung chronisch schmerzkranker Patienten wird für Vertragsärzte erleichtert. Das sieht die erneuerte Schmerztherapie-Vereinbarung vor, auf die sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der GKV-Spitzenverband jetzt geeinigt haben. „Mit der aktualisierten Vereinbarung werden wir mehr Ärzte für die Versorgung chronisch schmerzkranker Patienten gewinnen können“, äußerte sich KBV-Vorsitzender Dr. Andre- as Gassen laut Pressemitteilung zuversichtlich. „Die Anpassung an moderne Arbeitszeitmodelle, der Wegfall des obligatorischen Eingangskolloquiums unter bestimmten Voraussetzungen und die Einführung einer befristeten Dokumentationsprüfung sind wichtige Schritte, um den Ärztezugang zu einer qualitätsgesicherten schmerzmedizinischen Versorgung zu erleichtern und damit das Nachwuchsproblem etwas zu entschär- Kopfschmerz bei Schülern „Endmenstruelle Migräne“ Unterricht gegen Schmerz Ein neuer Kopfschmerztyp bei Frauen? ihrer Periode über Kopfschmerzen klagen, ist das möglicherweise durch den Blutverlust bedingt. Neurologen aus North Carolina postulieren einen neuen Kopfschmerztyp: die „endmenstruelle“ Migräne [Calhoun AH et al. Headache 2016; online 5. Oktober]. Der Zusammenhang war den Forschern um Dr. Anne H. Calhoun vom Carolina Headache Institute in Durham schon vor einigen Jahren aufgefallen: So gab es unter den Frauen in ihrer Migräne-Ambulanz immer wieder Patientinnen, die die Kopfschmerzschübe nicht klassischerweise zu Beginn ihrer Periode sondern erst gegen Ende bekamen. In der auf Menstruationskopfschmerzen spezialisierten Klinik fanden sich in einem Zeitraum von sechs Wochen 85 Frauen mit Migränediagnose, die einen regelmäßigen Zyklus hatten und damit für die Auswertung geeignet waren. 30 von ihnen (35,3 %) hatten angegeben, dass jeweils in den letzten Tagen ihrer Monatsblutung Kopfschmerzen einsetzten und dann im Schnitt 2,6 Tage anhielten. Für die Forscher ist das ein klarer Hinweis auf die Existenz der von ihnen postulierten „endmenstruellen“ Migräne (EMM). In der Migräne-Klinik werden bei allen Patientinnen routinemäßig die Ferritinwerte bestimmt. Diese lagen bei 28 der 30 EMM-Kandidatinnen unterhalb des allgemein akzeptierten Grenzwertes von 50 ng/ml. Bei der Hälfte waren es sogar 8 ©© fred goldstein / fotolia.com —— Wenn Frauen regelmäßig gegen Ende weniger als 18 ng/ml. Ferritin dient im rganismus nicht nur als Speicherstoff für O Eisen, sondern kontrolliert auch dessen Freisetzung. Mangelt es an dem Protein, können sich die Eisenspeicher schnell entleeren. Wie Calhoun et al. zeigen konnten, stand die „EMM“, anders als die „normale“ Mens truationsmigräne, nicht im zeitlichen Zusammenhang mit hormonellen Schwankungen, sondern ereignete sich in einer Phase sehr stabiler Östrogenkonzentrationen. Die Forscher postulieren, dass es bei Frauen mit ohnehin niedrigen FerritinSpiegeln durch den monatlichen Blutverlust zu einem ausgeprägten Missverhältnis zwischen dem Sauerstoffbedarf und der Menge an zirkulierenden roten Blutkörperchen komme.(eo) Viele Schüler haben wie selbstverständlich Kopfschmerztabletten im Ranzen. Das geht aus einer Umfrage unter 1.102 Siebtklässlern hervor. Demnach leiden knapp 74 % der Jugendlichen an Migräne oder Spannungskopfschmerzen. Davon nehmen drei Viertel regelmäßig Schmerzmedikamente ohne ärztliche Verordnung. Weniger als ein Drittel der Betroffenen weiß um die Diagnose. Sie nehmen ein, was da ist: ASS, Paracetamol oder Ibuprofen. „Die meisten haben kein Konzept und keinen Namen für ihre Kopfschmerzen“, sagte Professor Hartmut Göbel von der Schmerzklinik Kiel. Gemeinsam mit der Lehrerin Karin Frisch vom gemeinnützigen Zentrum für Forschung und Diagnostik bei Implantaten, Entzündungen und Schmerzen (Zies gGmbH) in Frankfurt hat Göbel die „Aktion Mütze – Kindheit ohne Kopfzerbrechen“ ins Leben gerufen. Diese stellt Schulen Unterrichtsmaterial zur Kopfschmerzprävention zur Verfügung. 21 gesetzliche Krankenkassen unterstützen das Projekt bislang mit rund 2,5 Millionen Euro. „Durch die Unterrichtseinheit lernen Schüler, Eltern und Lehrer wie sie durch Veränderungen im Alltag Kopfschmerzen vorbeugen können“, erklärte Frisch. Dazu gehöre regelmäßiger Schlaf, Bewegung, kohlenhydratreiche Mahlzeiten und ein bewusster Umgang mit Medien. Anno Fricke Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Rückenschmerzen Paracetamol Reden statt Röntgen Pränatale Exposition mit Einfluss aufs Kind? —— Bei 60–80 % der Patienten haben Rü- eine Entzündung hindeuten. „Lassen sich keine entsprechenden Hinweise feststellen, kann man bei erstmaligen akuten Schmerzen in den ersten vier Wochen zunächst das Symptom Schmerz behandeln und den Patienten ausführlich aufklären“, so Kladny. In diesen Fällen helfen akut Schmerzmittel sowie Bewegung im Alltag und gezielte Übungen. Bei 80 % aller Rückenpatienten klingen die Schmerzen innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen wieder ab. „Tritt nach vier bis sechs Wochen bei anhaltenden aktivitätseinschränkenden oder zunehmenden Kreuzschmerzen keine Besserung ein, ist es angeraten, den Einsatz von bildgebenden Verfahren zu überprüfen“, räumt Kladny ein. (eb) Weniger Nebenwirkungen Forscher entwickeln neues OpioidAnalgetikum —— Forscher haben ein neues Opioid-Schmerzmittel entwickelt. Das Analgetikum scheint kaum schwerwiegende Nebenwirkungen zu verursachen, teilt die FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) mit. Der Wirkstoff wurde erfolgreich in Modellversuchen getestet [Nature 2016 Aug; 537(7619):185–90]. Im Modellversuch konnten die Forscher nachweisen, dass ihr neuer Wirkstoff PZM21, der keine chemische Ähnlichkeit mit den bisherigen Opiaten besitzt, genauso effektiv wie Morphin Schmerzen lindert. Atemdepression und Abhängigkeit konnten nicht nachgewiesen werden, heißt es in der Mitteilung. Mithilfe des sogenannten DockingVerfahrens berechnete das Team zunächst an einem Hochleistungsrechner, welche von mehr als drei Millionen potenziellen Wirkstoffen am geeignetsten erscheinen, mit dem μ-Opioidrezeptor zu interagieren. Dies führte zu 23 Molekülen, die die Arbeitsgruppe experimentell auf ihre Rezeptorbindung hin untersuchte, um einen vielversprechenden Treffer herauszufiltern. Weitere Experimente des FAU-Teams führten zu PZM21, einem funktionell selektiven Wirkstoff. Er sei in der Lage G-Proteine zu aktivieren, nicht jedoch das Signalmolekül β-Arrestin, das für die opioidtypischen Nebenwirkungen verantwortlich ist, so die Forscher. (eb) Schmerzmedizin 2016; 32 (6) of Parents and Children“ (ALSPAC) handelt es sich um eine prospektive Geburtskohortenstudie, an der zwischen April 1991 und Dezember 1992 insgesamt 7.796 Mütter mit ihren Kindern und Partnern teilgenommen hatten [Stergiakouli E et al. JAMA Pediatr 2016; 170:964–70]. Die Befragung zum Paracetamolgebrauch erfolgte während der Schwangerschaft in der 18. und 32. Woche sowie im Alter der Kinder von 61 Monaten. Mithilfe des „Strengths and Difficulties Questionnaire“ (SDQ) wurden die Mütter zu Verhaltensstörungen ihrer Kinder im Alter von sieben Jahren befragt. Wie die Wissenschaftler um Dr. Evie Stergiakouli vom Medical Research Council in Bristol berichten, nahmen 4.415 Mütter (53 %) Paracetamol in der 18. Schwangerschaftswoche (SSW) ein, 3.381 Mütter in der 32. SSW. Den Berechnungen zufolge war die Wahrscheinlichkeit für Verhaltensstörungen durch diese Selbstbehandlung während der Schwangerschaft deutlich um etwa das Eineinhalbfache (Risk Ratio [RR]:1,42; 95%-KI 1,25–1,62) erhöht. Die Risikoerhöhung galt auch für Hyperaktivitätssymptome (RR: 1,31; 95%-KI 1,16–1,49) sowie für emotionale Symptome (RR: 1,29; 95%-KI 1,09–1,53). Die RR-Werte lagen jeweils bei Paracetamolanwendung in der 32. SSW höher als in der 18. SSW. Aus den Studienergebnissen lässt sich kein kausaler Zusammenhang zwischen der Paracetamolanwendung während der Schwangerschaft und der Entwicklung von Verhaltensstörungen ableiten. Zumal von den Studienteilnehmerinnen keine Angaben zur Indikation der Paracetamol therapie sowie zur Dosierung der Arznei und zur Dauer der Behandlung gemacht wurden. In den Fachinformationen zur Anwendung von Paracetamol wird unter anderem darauf hingewiesen, dass Paracetamol während der Schwangerschaft bei klinischer Notwendigkeit eingenommen werden darf. Es sollte jedoch „in der geringsten wirksamen Dosis über einen möglichst kurzen Zeitraum und so selten wie möglich eingenommen werden“. (ple) 9 ©© Tatiana Gladskikh / iStock / thinkstock —— Bei der Studie „Avon Longitudinal Study ©© CLIPAREA.com / Fotolia ckenschmerzen keine organische Ursache, erinnert die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie. Die Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz empfiehlt deshalb, erst dann eine bildgebende Untersuchung wie Röntgen oder MRT anzuordnen, wenn der Schmerz auch nach vier bis sechs Wochen nicht abklingt, die körperliche Aktivität einschränkt oder zunimmt. In über 90 % der Fälle wird diesen Vorgaben auch entsprochen und auf eine nicht indizierte oder zu frühe radiologische Bildgebungsdiagnostik verzichtet. Das ergab eine Analyse von Versichertendaten gesetzlicher Krankenversicherungen. „Im Vordergrund einer guten Diagnostik bei Rückenbeschwerden steht die fachkundige Befragung des Patienten und eine sachgerechte körperliche Untersuchung“, wird Professor Bernd Kladny, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie, in der Mitteilung zitiert. Bei der Erstuntersuchung gehe es vor allem darum, Warnzeichen zu erkennen, die etwa auf einen Wirbelbruch, einen Bandscheibenvorfall mit Nervenschaden oder ©© Mehmet Dilsiz / Fotolia.com Literatur kompak t In der Rubrik „Literatur kompakt“ werden die wichtigsten Originalarbeiten aus der internationalen Fachliteratur referiert. Kopfschmerzen durch übermäßige SmartphoneNutzung? Kopfschmerzen und andere somatische Beschwerden hängen möglicher weise auch mit einer übermäßigen Nutzung von Internet und Mobiltelefonen zusammen. Zumindest zeigt eine italienische Studie eine entsprechende Assoziation bei Schülern zwischen 10 und 16 Jahren. I sitzungen bei Heranwachsenden sind bekannt. Der exakte Zusammenhang zwischen Kopfschmerzprävalenz und exzessiver Nutzung digitaler Medien ist bisher allerdings noch wenig erforscht. Eine bevölkerungsbasierte Querschnittsstudie untersuchte deshalb in den Jahren 2013 und 2014 die Assozia tion zwischen der Nutzungsintensität von Internet und Mobiltelefonen und der Inzidenz von Migräne, Kopfschmerzen und anderen gesundheitlichen Einschränkungen. Die per Fragebogen ein- ©© IPGGutenbergUKLtd / Getty Images / iStock nternet und Mobiltelefone gehören heute zum Alltag. Jugendliche und Heranwachsende machen besonders intensiv von den Digitaltechnologien Gebrauch, die Übergänge zwischen Nutzung und Abhängigkeit sind fließend und noch nicht endgültig definiert. Störungen der motorischen Entwicklung zusammen mit Symptomen wie Kopf- und Muskelschmerzen, Beeinträchtigungen bei Schlaf und Konzentration sowie eine nicht ausreichend ausgebildete Selbst regulation durch ausgedehnte Computer geholten Auskünfte von 841 der 1.004 einbezogenen italienischen Schüler zwischen 10 und 16 Jahren konnten ausgewertet werden. Insgesamt 28 % der Befragten gaben an, unter Kopfschmerzen zu leiden – Mädchen signifikant häufiger als Jungen. Bei 39,6 % der Schüler mit Kopfschmerz bestand kein Verdacht auf einen Missbrauch von Internet oder Mobiltelefon, in dieser Studie definiert als eine Internetnutzung von mehr als zwei Stunden und ein Mobiltelefongebrauch von mehr als zehn Stunden pro Tag. 19,5 % der Stichprobe „missbrauchten“ entsprechend dieser Definition sowohl ihren Computer als auch ihr Handy/Smartphone. Allerdings ergab sich kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen der Kopfschmerzhäufigkeit – auch differenziert in Migräne- und Spannungskopfschmerz-Typ – und einer Überbeanspruchung der Digitalkommunikation, wenngleich der Trend einen Zusammenhang erkennen ließ. Darüber hinaus hatten Schüler, die täglich das Internet benutzen, signifikant häufiger somatische Symptome als die nur sporadisch das Internet nutzenden Teilnehmer der Nicht-Kopfschmerzgruppe. Fazit: Ein gegenüber den Durchschnittswerten häufigerer Gebrauch von Internet und Mobiltelefonen bei Schülern erhöht tendenziell das Risiko für Kopfschmerzen vom Migräne- und Spannungstyp als auch für somatische Symptome wie etwa Schlafstörungen. Eine exzessive Nutzung von Mobiltelefonen kann das Risiko für Kopfschmerzen bei J ugendlichen offenbar erhöhen. 10 Dr. Barbara Kreutzkamp Cerutti R et al. The potential impact of internet and mobile use on headache and other somatic symptoms in adolescence. A population-based cross-sectional study. Headache 2016; 56:1161–70 Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Literatur kompak t Patienten mit Organversagen: Versorgung am Lebensende verbesserungsbedürftig Ein Lebensende ohne intensivmedizinische Maßnahmen zusammen mit einer hochwertigen Palliation kommt bisher vor allem Krebs- und Demenz patienten zugute. Um Patienten mit Organversagen kümmert sich die Intensivmedizin vielleicht immer noch zu lange. E ine qualitativ hochwertige Pflege am Lebensende ist nicht nur für Krebs patienten wichtig. Auch die letzten Lebenswochen von Patienten mit anderen schweren Erkrankungen erfordern eine hochwertige palliativ-pflegerische Begleitung. Ein Messinstrument für die Qualität der End-of-Life-Betreuung ist die Einschätzung durch Familienangehörige. Dieses Instrument setzte jetzt eine retrospektive US-amerikanische Querschnittsstudie ein, in der nach positiv empfundenen Charakteristika von Maßnahmen am Lebensende bei verschiedenen Grunderkrankungen gesucht wurde. Einbezogen in die Auswertung waren insgesamt 57.753 sterbende Patienten unter anderem mit den Diagnosen Nierenerkrankungen im Endstadium, Krebs, Herz-Lungen-Versagen, Demenz und Altersschwäche sowie 34.005 Familien dieser Patienten. Ergebnis: Von den Patienten mit Nieren-, Herz- und Lungenerkrankungen erhielt rund die Hälfte eine palliative Betreuung im Vergleich zu 73 % der Krebspatienten und 61 % der Demenzpatienten (p < 0,001). Rund ein Drittel der Patienten mit Nieren-, Herzund Lungenerkrankungen starb auf der Intensivstation (Nierenversagen 32,3 %, kardiopulmonales Versagen 34,1 % und Altersschwäche 35,2 %) im Vergleich zu rund 10 % der Patienten mit Krebs oder Demenz (13,4 % bzw. 8,9 %; p < 0,001). Dass die Qualität der Pflege am Lebensende exzellent gewesen sei, bescheinigten 59,2 % beziehungsweise 59,3 % der Familienangehörigen von Krebs- beziehungsweise Demenzpatienten, aber sig- Opioidverordnungen nach schmerzhaften Operationen langfristig erhöht Lassen sich Patienten nach operativen Eingriffen tatsächlich häufiger Opioide verschreiben als Patienten ohne einen schmerzhaften Eingriff? Und wenn ja, was sind die Risikofaktoren für einen postoperativen Opioidmissbrauch? Eine US-amerikanische Registerstudie gibt Antworten. V or allem in den USA belastet ein zunehmender Opioideinsatz die Gesundheit der Patienten und das Gesundheitswesen. Als ein Risikofaktor für diesen Trend gelten Operationen mit perioperativer Opiodgabe. Um die RisikoDatenlage speziell bei opioidnaiven Patienten zu verbessern, durchforsteten US-Forscher die Krankenakten von opioidnaiven Operationspatienten hinsichtlich Folgeverordnungen von Opioiden im ersten Jahr nach dem Eingriff. Einbezogen in die Registerstudie waren 641.941 privatversicherte Patienten 12 im Alter von 18 bis 64 Jahren, bei denen schmerzhafte Eingriffe vorgenommen wurden. Dazu gehörten arthroplastische Operationen, Cholecyst- und Appendektomien, Kaiserschnitte, Mastektomien und transurethrale Prostataresektionen. Ausgewertet wurden die postoperativen Opioidverordnungsdaten von präoperativ opioidnaiven Patienten, bereinigt um mögliche konfundierende Faktoren wie Geschlecht, Alter, psychiatrische Diagnosen, Alkoholabusus und Benzodiazepineinnahme. Die so ermittelten Patienten wurden einer Kontroll- nifikant weniger Familienangehörige von Patienten mit anderen Erkrankungen (Nierenerkrankungen 54,8 %, kardiopulmonales Versagen 54,8 % und Altersschwäche 53,7 %; alle p < 0,02 vs. Krebspatienten). Der Eindruck einer qualitativ besseren Pflege bei den Krebsund Demenzpatienten beruhte vor allem auf einer palliativmedizinischen Betreuung, dem Setting während des Sterbens und der Ablehnung von wiederbelebenden Maßnahmen. Fazit: Die von Familienangehörigen beurteilte Pflegequalität am Lebensende war für sterbende Patienten mit Krebs oder Demenz signifikant besser als für Patienten mit Nieren-, Herz- oder Lungenerkrankungen. Einfluss auf die Einschätzung hatten vor allem die höheren Raten von palliativen Pflegeeinsätzen, die Verweigerung von wiederbelebenden Maßnahmen und ein Sterben außerhalb von Intensivstationen. Dr. Barbara Kreutzkamp Wachteman MW et al. Quality of end-of-life care provided to patients with different serious illnesses. JAMA Intern Med 2016; 176:1095–1102 gruppe von 18.011.137 nicht operierten Patienten gegenübergestellt. Ergebnis: Die meisten der untersuchten schmerzhaften operativen Eingriffe erhöhten das Risiko für einen gesteigerten postoperativen chronischen Opioidgebrauch mit Odds ratios von 1,28 (95 %-KI 1,12–1,46) bei einem Kaiserschnitt bis zu 5,10 (95 %-KI 4,67–5,58) bei einer Knie-Arthroplastie. So rangierte die Inzidenz von chronischem Opioidgebrauch, definiert als mehr als zehn Opioidverordnungen über mehr als 120 Tage, bei den opioidnaiven operierten Patienten zwischen 0,119 % bei Frauen nach einem Kaiserschnitt (95 %-Konfidenzintervall 0,104–0,134 %) bis 1,41 % nach einer Knie-Arthroplastie (95 %-KI 1,29–1,53 %). Lediglich bei Kataraktoperationen, laparoskopischer Appendektomie, endoskopischer SinusOperation und transurethraler Prostataresektion waren keine erhöhten Inzidenzen für einen ostoperativen OpioidSchmerzmedizin 2016; 32 (6) gebrauch feststellbar.Anfällig für einen postoperativen chronischen Opioidgebrauch waren Patienten über 50 Jahre, Männer, Patienten mit anamnestisch bekanntem Alkohol abusus und Benzodiazepineinnahme sowie Patienten mit Depressionen. Fazit: Viele operative Eingriffe erhöhen die Inzidenz eines chronischen Opioidgebrauchs. Risikogruppen sind vor allem Männer über 50 Jahre sowie Patienten mit psychiatrischer und/ oder Missbrauchsanamnese. Dr. Barbara Kreutzkamp Sun EC et al. Incidence of and risk factors for chronic opioid use among opioid-naive patients in the postoperative period. JAMA Intern Med 2016; 176:1286–93 Behandlung von Tumorschmerzen: Sind alle Opioide gleich? Die Therapie von Krebspatienten mit jeweils einem von vier starken Opioiden führt zu vergleichbaren Ergebnissen hinsichtlich der Schmerzkontrolle, der Ansprechraten und der Hauptnebenwirkungen. Ein beträchtlicher Anteil an Patienten spricht schlecht oder gar nicht auf die Behandlung an. D as zeigte eine Phase-IV-Studie, in der Wirksamkeit und Verträglichkeit von oralem Morphin, oralem Oxycodon (in einer Formulierung mit kontrollierter Freisetzung), transdermalem Fentanyl und transdermalem Buprenorphin bei der Schmerztherapie von 520 Krebspatienten über 28 Tage verglichen wurden. Während des Follow-ups waren alle notwendigen klinisch und ethisch vertretbaren Anpassungen für eine bessere Schmerzkontrolle erlaubt. Innerhalb von vier Wochen gingen die durchschnittliche (API) und höchste Schmerzintensität (WPI) zurück, wobei zwischen den Therapiearmen keine signifikanten Unterschiede messbar waren. Der Anteil an Nonrespondern reichte von 11,5 % bei Morphin bis zu 14,4 % bei Buprenorphin. In allen vier Gruppen kam es während des Follow-ups zu beträchtlichen Veränderungen der Therapie: Erhöhung der täglichen Dosis um 32,7 % bei Morphin bis 121,2 % bei Fentanyl, adjuvante Medikamente in 68,9 % der Fälle unter Morphin bis 81,6 % unter Oxycodon, Opioidwechsel bei 22,1 % in der Morphin-Gruppe bis 12 % in der Oxycodon-Gruppe. Zu Therapieabbrüchen kam es bei 27 % unter Morphin bis 14,5 % unter Fentanyl. Die Toxizität war in allen Gruppen vergleichbar, mit Ausnahme von Nebenwirkungen, die das Nervensystem betrafen: Sie kamen hauptsächlich unter oralem Morphin vor. Kathrin von Kieseritzky Corli O et al. Are strong opioids equally effective and safe in the treatment of chronic cancer pain? A multicenter randomized phase IV ‘real life’ trial on the variability of response to opioids. Ann Oncol 2016; 27:1107–15 Schmerzmedizin 2016; 32 (6) 13 Literatur kompak t In zehn Schritten zur Schmerzkontrolle Chronische tägliche Kopfschmerzen plagen zwei bis vier Prozent der Nordamerikaner und Europäer. Ein 10-Schritte-Plan hilft, die Beschwerden in den Griff zu bekommen. Z u chronischen täglichen Kopfschmerzen (CDH) tragen unterschiedliche ätiologische Faktoren bei. Doch trotz aller Unterschiede sollen sich die meisten Schmerzen mithilfe des von Dr. Robert Sheeler von der Mayo Klinik in Rochester vorgestellten 10-SchrittePlans diagnostizieren und behandeln lassen: 1. Ausschließen lebensbedrohlicher oder progressiver sekundärer Kopfschmerzen. 2. Klassifizieren der primären Kopfschmerzen. 3. Identifizieren der verschärfenden und erhaltenden Faktoren. 4. Identifizieren von Komorbiditäten 5. Prüfen der momentanen akuten Therapie. 6. Entgiften bei übermäßigem Medikamentengebrauch. 7. Prüfen vergangener präventiver Therapieversuche. 8. Erstellen eines Kopfschmerzplans mit akuten, präventiven und Lifestyle-Komponenten. 9. Aufklären des Patienten und Anleitung zum Führen eines Kopfschmerztagebuchs. 10.Initiieren eines regelmäßigen Follow-ups zur kontinuierlichen Verbesserung mit dem Ziel tägliche Kopfschmerzen in kontrollierbare episodische Kopfschmerzen zu verwandeln. Viele Patienten mit chronischen täglichen Kopfschmerzen greifen zu häufig zu Schmerzmitteln, was wiederum „me- Dem Schmerzsyndrom geht oft posttraumatischer Stress voraus Patienten mit komplexem regionalem Schmerzsyndrom (CRPS) erfüllen häufig auch die Kriterien der posttraumatische Belastungsstörung (PTSD), wie die Ergebnisse einer deutschen Studie zeigen. F ibromyalgie und andere chronische Schmerzsyndrome gehen mit einer relativ hohen Prävalenz von PTSD einher. Warum sich dies bei CRPS anders verhalten sollte, dafür sah eine Gruppe von Wissenschaftlern der Universitäten Mainz und Erlangen-Nürnberg keine ernsthaften Argumente. Die Mainzer Neurologin Verena Speck und ihre Forscherkollegen machten sich deshalb daran, den Zusammenhang zwischen CRPS und PTSD im Zuge einer Studie zu untersuchen. An der Untersuchung waren 152 erwachsene Patienten mit CRPS, davon 71 % Frauen, beteiligt. Weit überwiegend handelte es sich um ein CRPS I, vormals Morbus Sudeck genannt. Rund 11 % litten an CRPS II, früher als Kausalgie be- 14 zeichnet. Von den Schmerzen betroffen waren meist die Hände. 55 Patienten, die ebenfalls an Schmerzen, aber nicht an einem CRPS litten, dienten als Kontrollen, ebenso 55 nach Alter und Geschlecht passende gesunde Probanden. Das Vorliegen von PTSD beurteilten Speck und Mitarbeiter anhand der Resultate einer Befragung mit einschlägigen psychologischen Fragebogen (Posttraumatic Diagnostic Scale, deutsche Version). Von den CRPS-Patienten wiesen 58 (38 %) eine PTSD auf. Bei den Schmerzpatienten ohne CRPS waren es sechs (10 %), bei den Gesunden zwei (4 %). Der Beginn der PTSD lag bei 50 CRPS-Patienten vor dem Beginn des Schmerzsyndroms, bei 20 (35 %) sogar mehr als fünf dication overuse headaches“ (MOH) bedingen kann. Deshalb raten Sheeler und seine Mitarbeiter dazu, die aktuelle Medikation des Patienten zu erfragen und bei übermäßigem Medikamenten gebrauch eine Entgiftung zu starten. Zur Unterstützung können Therapeuten über kurze Zeit Kortikosteroide, NSAID oder Dihydroergotamin einsetzen. Nach Diagnose und Anamnese kann abschließend ein individuell auf den Patienten zugeschnittener Kopfschmerzplan erstellt werden, der präventive sowie akute Therapieoptionen enthält und auch auf die Optimierung des Lebensstils eingeht. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Therapeut und Patient sowie eine regelmäßige Kontrolle des Behandlungs erfolgs helfen laut Autoren dabei, langfristig eine gute Kontrolle über CDH zu erlangen. Julia Rustemeier Sheeler RD et al. Chronic Daily Headache: Ten Steps for Primary Care Providers to Regain Control. Headache 2016; online 23. August Jahre davor. Unter den erlebten Traumata waren schwere Unfälle, lebensbedrohliche Erkrankungen, häusliche Gewalt, Gewalt durch Fremde, Kriegserlebnisse und Vergewaltigungen durch Familienmitglieder oder Fremde. Signifikant mit CRPS assoziiert war der Schweregrad der PTSD. Zudem bestand ein Zusammenhang zwischen dem Vorliegen von PTSD und fehlan gepassten Bewältigungsmechanismen. Stutzig macht Speck und Kollegen, dass die PTSD dem CRPS so häufig vorausgeht. „Trotz des Querschnittscharakters unserer Studie und der retrospektiven Einschätzung der PTSD legt dies nahe, dass die PTSD ein Risikofaktor für die Entwicklung eines CRPS sein könnte“, schreiben sie. Eine Längsschnittstudie, mit der sich das untersuchen ließe, halten sie für machbar – aber auch für nötig, um zu klären, ob die Therapie der PTSD die Symptome des CRPS lindern kann. Dr. Robert Bublak Speck V et al. Increased prevalence of posttraumatic stress disorder in CRPS. Eur J Pain 2016; Online 21. September Schmerzmedizin 2016; 32 (6) ©© Stockfotos-MG / Fotolia Medizin ak tuell 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin Das Miteinander verbessern Auf dem 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin in Leipzig vom 7. bis 10. September widmeten sich Vertreter der palliativmedizinischen Fachdisziplinen sowie benachbarter Fächer und Profes sionen dem aktuellen Versorgungsstand der Palliativmedizin in Deutschland. Unter den drei Leitgedanken von „Mut, Miteinander und Kompetenz“ präsentierte sich in einem abwechslungsreichen Programm eine Fachdisziplin, die sich nach aktuellen politischen Entwicklungen wie der Verabschiedung des Hospiz- und Palliativgesetzes 2015 mit neuen Chancen und Herausforderungen konfrontiert sieht. Glioblastom – Tumor mit schlechter Prognose Bislang blieben sie bei der frühen Integration meistens außen vor: Patienten mit primären Hirntumoren. Doch der interdisziplinäre Ansatz kommt den Schwerkranken zugute. F ür viele onkologische Krankheitsbilder ist die „frühe Integration“ längst „common sense“, das gilt bislang aber nur selten für Fachbereiche außerhalb der Onkologie. Dabei, so Professor Heidrun Golla vom Universitätsklinikum Köln, umfasse die WHO-Definition von Palliativmedizin alle „Patienten mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht.“ Dazu gehören laut Golla unzweifelhaft auch Patienten mit Glioblastom (GBM). „Ein Glioblastom ist eine gravierende Erkrankung (…). Selbst wenn der Tumor im Guten reseziert ist, haben Sie immer noch ellen im Gewebe. Der Tumor ist nicht Z heilbar.“ Nach Daten aus ihrer eigenen Klinik liege die mittlere Überlebenszeit nach Diagnosestellung für Patienten mit GBM bei 25,05 ± 1,8 Monaten, berichtete Golla. Deshalb sollten auch GBM- Patienten früh Zugang zu palliativen Versorgungsansätzen haben. Die Realität sieht bislang jedoch anders aus: Nach dem HOPE-Bericht 2015 sind nur 3 % der in Palliaitv- und Hospizeinreichtungen betreuten Patienten von einer Erkrankungen des Nervensystems betroffen [https://www.hope-clara.de/download/2015_HOPE_Bericht.pdf]. 15 Patienten fallen durchs Raster Als primäre Hindernisse, die einer frühen Integration entgegenstehen, identifizierte Golla dabei den Weg der Patienten ins Gesundheitssystem: Hier sei zum einen die zentrale Therapieführung durch die Neurologie entscheidend – ein Fachbereich, der bislang kaum Berührungspunkte mit der Palliativmedizin habe. Zum anderen fielen GBM-Patienten durch das übliche Raster der Palliativmedizin, da in der Regel andere Sym- 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin ptome im Vordergrund stünden als die klassisch onkologischen Komplexe von Schmerzen, Übelkeit, Verstopfung und Appetitmangel. Häufiger seien Be wusstseinstrübung, Schluckbeschwerden, Hirndrucksymptome oder fokal neurologische Defizite. Aber auch mit Persönlichkeitsänderungen, kognitiven Defiziten und Verwirrtheit haben Patienten und ihre Angehörigen zu kämpfen. Diese Befunde bestätigt auch eine am Kölner Zentrum für Palliativmedizin Wie viele Sprachen spricht der Tod? Verbindend sind die Unterschiede – und das Bewusstsein darum. So lässt sich die zentrale Botschaft des Symposiums „Trans- und Interkulturalität in der Palliativversorgung“ zusammenfassen. V ier Millionen Muslime leben in Deutschland, einige in der vierten Generation. Sie unterscheiden sich in ihrer Migrationsbiografie, in ihren Ethnien, Herkunftskulturen und Konfessionen – und werden doch häufig als homogene Gruppe adressiert. „Oft werden Missverständnisse vorschnell mit kulturellen Unterschieden begründet“, befand Senay Kaldirim-Celik, tätig am Kinderpalliativzentrum der Vestischen Kinderund Jugendklinik Datteln. Generell nehme die Bedeutung der Religion am Lebensende zu. Sie spiele bei den in Deutschland lebenden Muslimen generationsübergreifend eine wichtige Rolle, weniger in der tagtäglichen Praxis als rituell verankert im Bezug auf wichtige Ereignisse wie Hochzeit, Feiertage und eben auch den Tod, sagte Kaldirim-Celik. Hier wirke die Religion häufig als große emotionale Stütze und es sei eine der wichtigsten Herausforderungen für Begleiter und Therapeuten, dieses Potenzial als Ressource zu verstehen und zu nutzen. Krankheitskonzepte begründet durch den muslimischen Glauben unterschieden sich dabei kaum von solchen, die auch das Christentum kennt: Krankheit wird als eine Prüfung Gottes verstanden – sowohl für den Betroffenen selbst als auch für das Umfeld – und manchmal auch als Gnadenerweis, der den Wert des Lebens erkennbar werden lässt. 16 Eine Interpretation von Krankheit als Bestrafung, so Kaldirim-Celik, ließe sich aus islamischen Hauptquellen nicht ableiten. Was die für die palliative Versorgung wichtige Fragestellung einer Therapiepflicht am Lebensende angeht, so sei die islamische Welt gespalten: Dem klaren Ja zur Therapiepflicht unter Verweis auf das in der islamischen Glaubenslehre verankerte Verbot von Sterbehilfe und Suizid steht die Interpretation des Therapieverzichts am Lebensende als natürlicher Tod entgegen. Vertreter der letzten Position definieren für die jeweilige Situation die Wünsche des Patienten, seiner Familie und den Konsens des gesamten Behandlungsteams als handlungsleitend. Man müsse den Menschen unter bestimmten Bedingungen „erlauben zu sterben“. Kommunikation ist das A und O Für die Praxis bedeute dies, dass jede therapeutische Begleitung beleuchten müsse, welche Kommunikationsbarrieren den Entscheidungsprozess beeinflussten, erklärt Kaldirim-Celik. Zentrales Thema bleibt hierbei die Sprache. „Uns fehlen bei so sensiblen Gesprächen auch die Zwischentöne“ konstatierte Kaldirim-Celik und verwies auf die Tabuisierung, die Worte wie „Tod“ und „Sterben“ in vielen Kulturen der islamischen Welt erführen. durchgeführte Studie. Hier hat sich aus dem erkannten Handlungsbedarf eine Änderung der Strukturen entwickelt. Immerhin 30 % aller GBM-Patienten konnten seit den ersten Studienschritten durch den Palliativdienst mit versorgt werden. Anna Atak „Frühe Integration von Palliativversorgung – ein Modell für Patienten mit Glioblastom?“ 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Leipzig, 8. September 2016 Dass das Sprechen über den bevorstehenden Tod in manchen Kulturen – vor allem im mittleren und fernen Osten – „fast einem Fluch gleichkomme“, betonte Dr. phil. Ute Siebert, Trainerin im Bereich interkulturelle Kompetenzen und Diversity aus Berlin. Zugleich erlebe sie jedoch auch, dass in Migrantenfamilien Vertreter der zweiten oder dritten Generation bereits einen ganz anderen Umgang mit der Kommunikation übers Sterben zeigten. Keinesfalls sollte in der Kommunikationssituation mit Sterbenden auf einen neutralen Dolmetscher verzichtet werden. Angehörige sollten nicht in den Rollenkonflikt geraten, zugleich Tochter oder Sohn und Übermittler der schlechten Nachricht zu sein. Auch dass Angehörige mehr über die Erkrankung ihrer Angehörigen wüssten als der Patient selbst, sei in unserem Rechtssystem nicht akzeptabel. Gleichzeitig verwies Siebert darauf, dass die Patientenautonomie im westlichen Sinne auf viele, kollektivistischer geprägte Gesellschaften nicht übertragbar sei. Hier steht oft die Familienautonomie über der des einzelnen und bestimmte Entscheidungen werden im Familienverband getroffen. Für Patienten kann dies auch entlastend wirken. Man müsse, so Siebert, einfach immer wieder forschen, welche Autonomie für den einzelnen Patienten gelte. Anna Atak „Sterben in der fremden Heimat - Entscheidungen am Lebensende muslimischer Patienten.“ und „Kommunikation über Sterben und Tod mit Migranten und ihren Angehörigen“, 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Leipzig, 8. September 2016 Schmerzmedizin 2016; 32 (6) ©© Grapeys / iStock.comx Medizin ak tuell Alt – und immer auch gebrechlich? Dass alte Menschen gebrechlich werden, gilt für Viele als Normalfall. Doch „Frailty“ ist ein Syndrom mit schweren Konsequenzen für die Betroffenen. D ©© Jürgen Fälchle / fotolia.com er englische Begriff „Frailty“ – zu Deutsch „Altersgebrechlichkeit“ – bezeichnet einen multifaktoriellen Abbau von Fähigkeiten und Reserven: physisch, kognitiv und sozial. Die Betroffenen verlieren unbeabsichtigt Gewicht, Muskelkraft, entwickeln Stand- und Gangunsicherheiten, werden immobil. Altersgebrechlichkeit beeinträchtigt ein selbstbestimmtes Leben. Bagatellerkrankungen nehmen zu, Krankenhausaufenthalte häufen sich, die Mortalität steigt. Den palliativmedizinischen Blickwinkel zeigte Professor Gabriele MüllerMundt von der Medizinischen Hochschule Hannover, in ihrer Vorstellung des ELFOP-Projekts (End of life care for frail older patients in family practice) auf: Über 18 Monate wurden 31 Patienten über 70 Jahren mit mäßig bis schwer ausgeprägter Gebrechlichkeit begleitet und zu ihren Bedürfnissen im letzten Lebensabschnitt befragt [Müller-Mundt G et al. BMC Family Practice 2013, 14:52]. 17 der initial rekrutierten Patienten blieben bis zum Ende der Studie dabei, elf verstarben innerhalb der 18 Monate. Im Erleben der Patienten stellte sich Frailty dabei als ein mit vielfältigen Verlusten verbundener Prozess dar, der für viele eine Bedrohung der bisher gekannten eigenen Identität gleichkam. Als zentrales Bedürfnis konnte die Studie den Wunsch der Patienten ausmachen, möglichst selbstbestimmt im vertrauten Um- Ernährung bei Demenz – wenn Menschen vergessen zu essen Demenzkranke zählen zu den Risikogruppen für Mangelernährung. Screening und Prävention sind Pflicht. Was aber gilt für die späten Erkrankungsstadien? W er über Demenz spricht, spricht über ein Phänomen mit wachsender Prävalenz und gesellschaftlicher Bedeutung: Liegt die Zahl der Erkrankten in der Altersspanne von 70–74 Jahren noch bei 5 %, so sind es bei den über 85-Jährigen bereits 36 %. Der Progress der Erkrankung, so Privatdozent Dr. Mathias Pfisterer aus Darmstadt, hat dabei direkte Auswirkungen auf die Ernährungssituation der Betroffenen: Mit fortschreitendem kognitiven Abbau nimmt das Risiko für Mangel Schmerzmedizin 2016; 32 (6) ernährung proportional zu. Frühes Screening – beispielsweise durch das Mini Nutritional Assessment (MNA) – ist essentiell. Die Ende 2015 erschienenen „ESPEN guidelines on Nutrition in Dementia“ [Volkert D et al. Clinical Nutrition 2015; 34: 1052–1073] zeigen: Was für die geriatrische Betrachtungsweise gilt, gilt für Demenzkranke erst recht. Die Autoren ordnen typische Ernährungsprobleme verschiedenen Erkrankungsstadien zu. So ist eine Beeinträchtigung des Geruchs- oder Geschmackssinns oft feld weiterzuleben und zu sterben. Dabei stand der Wunsch in deutlichem Kontrast zur Realität: von den elf während der Studienlaufzeit verstorbenen Teilnehmern verstarb nur ein Patient zu Hause. Konnten die meisten Teilnehmer zwar für sich ihre Wünsche benennen, so fehlte doch oft eine frühzeitige offene Kommunikation im Krankheitsverlauf, gemeinsame Lösungsfindungen mit den Angehörigen wurden nicht angestrebt und auch von Kontaktpersonen im Gesundheitswesen nicht ermöglicht. Die Realisierbarkeit der eigenen Wünsche war vor allem abhängig von individuellen Ressourcen. Je gesünder und sozial besser gestellt ein Patient war, je trag fähiger seine informellen Netze und professionellen Unterstützungssysteme, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, nach eigenen Wünschen zu leben und zu sterben. Vorausschauende Versorgungsplanung bezogen auf Therapie und Versorgungsarrangements ist deshalb Pflicht. Und nicht zuletzt erfordert der Respekt vor dem Bedürfnis, in der vertrauten Umgebung sterben zu dürfen, die frühzeitige Integration eines palliativen Versorgungsansatzes. Anna Atak „Patienten mit Frailty in der letzten Lebensphase“, 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin Leipzig, 8. September 2016 schon präklinisch vorhanden, während exekutive Funktionen wie Einkaufen oder Kochen in mittleren Stadien verloren gehen. Dysphagie und Nahrungsverweigerung treten meist erst spät ein. Analog zur Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin „Klinische Ernährung in der Geriatrie“ (2013) empfehlen auch die ESPEN-Guidelines einfache, aber nachgewiesenermaßen effektive Interventionen zur Verbesserung der Ernährungssituation: Beispielsweise auf jegliche diätetischen Einschränkungen zu verzichten oder Mahlzeiten in angenehmer Atmosphäre einzunehmen. Weniger künstliche Ernährung Die Empfehlungen zur schwierigen Frage der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitsgabe sind zurückhaltend. Für eine Sondenernährung über einen begrenzten 17 Medizin ak tuell 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin Zeitraum sprechen sie sich ausschließlich bei Patienten mit leichter bis mittelschwerer Demenz aus, um krisenhafte Zustände zu überwinden. Ganz klar abgelehnt wird die Einleitung einer Sondenernährung bei Menschen mit schwerer Demenz. Hintergrund sei die fehlende Evidenz für den Nutzen einer künstlichen Ernährung, erläutert Pfisterer. Hier gelte es – und das sei die große Kunst – in der jeweiligen Si- tuation zu entscheiden, ob es sich um eine vorübergehende Verschlechterung handle oder der Patient irreversibel in ein nächstes Stadium der Erkrankung eingetreten sei. Nach möglichen behandel baren Ursachen müsse selbstverständlich immer aufs Neue geforscht werden. Den Leitgedanken für die Ernährungsempfehlungen bei Patienten mit schwerer Demenz formulierte Pfisterer Wenn das Leben mit dem Sterben beginnt Wenn werdende Eltern während der Schwangerschaft von einer schweren, lebenslimitierenden Erkrankung ihres Kindes erfahren, ist das ein Schlag, der Ängste aufwirft und vor schwere Entscheidungen stellt. Liegt hier auch ein Versorgungsauftrag für die Palliativmedizin? W er sich in dieser Situation für eine Fortsetzung der Schwangerschaft entscheidet, befand Dr. Silke Nolte-Buchholtz vom Dresdener Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, wagt den „Sprung ins kalte Wasser.“ Auch wenn die Palliativversorgung heute zur Perinatalmedizin gehört, kommt sie bislang fast nur unmittelbar vor oder nach der Geburt zum Zug. Damit schrumpft das Zeitfenster, das den Palliativversorgern zur Verfügung steht, auf Stunden bis Tage. Was eine rechtzeitige Integration der Palliativversorgung in den Schwangerschaftsverlauf zu leisten vermag, verdeutlichte Nolte-Buchholtz mit fünf ein- drücklichen Fallgeschichten von Familien, die sich für die Geburt eines Kindes mit infauster Prognose entschieden hatten. Alle Familien hatten den Weg zur Palliativ Care auf eigene Initiative gefunden. Denn eine standardisierte Beratung von Eltern in dieser Situationen zu palliativer Versorgung gibt es bisher nicht. Dass dabei auch unter Schwangeren beratern Bedarf an entsprechenden Angeboten gesehen wird, zeigte Franziska Flaig aus München, die Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie mit Schwangerenberatern präsentierte. Ein Haupt beweggrund für die Befürwortung von Perinatal Palliative Care (PPC) in der Delir als Status epilepticus Ein unterschätztes Phänomen stellt das Delir als Manifestation des nicht- konvulsiven Status epilepticus dar. Dieses richtig zu diagnostizieren ist allerdings nicht einfach. R isikogruppen für epileptische Anfälle sind in der Palliativmedizin häufig. Patienten mit primären Hirntumoren und zerebraler Metastasierung zählen dazu, aber auch solche mit reversiblen Ursachen wie Elektrolytverschiebungen oder Substanzentzug. Eine über sechs Jahre geführte Studie am Klinikum Großhadern identifizierte von 311 Patienten im Status epilepticus, 185 als nicht- 18 konvulsiv, davon wiederum 36 als Delir. „20 % aller nicht-konvulsiven Patienten zeigen ein Delir – das ist viel.“, sagte Professor Berend Feddersen aus München. Das Problem: Wirklich hilfreiche Erkennungsmerkmale gibt es kaum. Die Semiologie gleicht sich nicht, eine entsprechende Vorgeschichte muss nicht bekannt sein. Was für die Diagnose helfen kann: der plötzliche Beginn der Ver- so: „Mit dem Löffel bis zum Mund – aber nicht weiter“, denn „Die Alternative zum Verzicht auf Sondennahrung ist keinesfalls der Verzicht auf Ernährung und Zuwendung.“ Anna Atak „Ernährung und Flüssigkeit bei Patienten mit Demenz.“ 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Leipzig, 8. September 2016 Schwangerenberatung sei das Gefühl, „dass die Eltern zu schnellen Entscheidungen und eher in Richtung Abbruch gedrängt werden“, so Flaig. Meistens sähen sich Familien mit den beiden Alternativen konfrontiert: Schwangerschaftsabbruch oder Austragung mit anschließender Maximalversorung. Es gehe bei der Integration von PPC in die Schwangerenberatung darum, die Entscheidung für das Austragen der Schwangerschaft zu normalisieren. Nicht mit dem Ziel, die Zahl der Abbrüche zu senken, wie Nolte-Buchholtz betonte. Sondern um allen Beteiligten mehr Zeit für eine fachlich kompetente und emotional stützende Beratung zu geben. Anna Atak Perinatale Palliativversorgung – ein Thema für Pädiatrische Palliativversorgung?“ und „Perinatal Palliative Care bei lebenslimitierender Erkrankung des Ungeborenen – eine qualitative Interviewstudie mit SchwangerenberaterInnen“, 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Leipzig, 9. September 2016 wirrtheit, manchmal das begleitende Auftreten minimaler Kloni und eventuell das Vorhandensein eines epileptischen Nystagmus. Eine sichere Diagnose ermöglicht letztlich nur das EEG. Weil dieses aber in der klinischen Realität nicht immer sofort verfügbar ist, plädierte Feddersen für den Mut zur Spritze: Wenn ein Therapieversuch mit z.B. Lorazepam 2 mg zur Durchbrechung des Status die Symptomatik abrupt beende, sei die Diagnose praktisch gesichert. Anna Atak „Delir als Manifestation des nicht-konvulsiven Status epilepticus“, 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Leipzig, 8. September 2016 Schmerzmedizin 2016; 32 (6) ©© Thomas Hauss / DGK Medizin ak tuell Deutscher Schmerzkongress 2016 Neue Denkanstöße in der Schmerzmedizin Unter dem Motto „(Um) Denken erwünscht“ fand der diesjährige Deutschen Schmerzkongress vom 19. – 22. Oktober in Mannheim statt. Im Fokus standen deshalb auch Aspekte der Schmerzmedizin, bei denen das Ausbleiben des therapeutischen Erfolgs oder die Grenzen des Wissens ein Um- und Nachdenken erfordern. Der Vagusnerv könnte bei Schmerzen eine vermittelnde Rolle spielen Das parasympathische Nervensystem leistet einen entscheidenden Beitrag zu antiinflammatorischen Reaktionen im Körper, selbst in Regionen, die nicht mit entsprechenden Nervenfasern versorgt sind. Hieran sind offenbar Makrophagen beteiligt. D er Vagusnerv versorgt zwar innere a fferente Fasern stimuliert, umgekehrt Organe, jedoch nicht die Extremitäfinden sich cholinerge Rezeptoren auch ten. Er ist zudem kein rein parasympaan Strukturen, die nicht durch parasymthischer Nerv, sondern er besteht zu pathische Nervenfasern versorgt sind. 80 – 85 % aus sensorischen, also afferenBelege für die antiinflammatorische ten Fasern, erklärte Professor Hans- Wirkung von Vagusefferenzen gibt es Georg Schaible, Neurophysiologe von durchaus, nur selten wurde dabei jedoch der Universität Jena. Bei der elektrischen auch der Einfluss auf die Nozizeption Stimulation werden also immer auch untersucht. So zeigte sich in einer Studie Schmerzmedizin 2016; 32 (6) [Borovikova et al. Nature 2000;405 (6785):458–62.], dass die Vagusnerv stimulation im Tierversuch die systemische inflammatorische Antwort auf Endotoxin A schwächt. Nach einer experimentell induzierten Sepsis durch die Injektion von bakteriellem Lipopoly saccharid (LPS) in den Bauch konnten durch elektrische Reizung des Vagusnervs die LPS-induzierte Serumantwort, die hepatische Ausschüttung von TNF (Tumornekrosefaktor) und der Endo toxin-Schock reduziert werden. Bestimmte, antiinflammatorisch aktive Makrophagen sind dabei offenbar ein wesentliches Ziel der Stimulation, so Schaible. Hier werden nach Stimulation der alpha-7-Subunit des nikotinergen Acetylcholin-Rezeptors, der stark in 19 Medizin ak tuell Deutscher Schmerzkongress 2016 Makrophagen exprimiert wird, durch Acetylcholin weniger entzündungsför dernde Zytokine freigesetzt [Wang et al. Nat Med. 2004;10(11):1216–21]. Tier experimentell konnte bereits nachgewie sen werden, dass sich durch Nikotin- Applikation die Überlebensrate bei einer Sepsis erhöhen lässt. Makrophagen als Bindeglied? Obwohl die Extremitäten nicht para sympathisch innerviert werden, können solche Effekte in geringerem Ausmaß auch bei peripheren Entzündungen im Gelenk nachgewiesen werden. Auch Synovitis und Knochendestruktion kön nen durch parasympathisch vermittelte geringere Zytokinbildung gebremst wer den, was die Hypothese einer endogenen suppressiven Aktivität von Entzündun gen unterstützt. Untersuchungen am Menschen erga ben, so Schaible, dass der Rezeptor auch im Synovialgewebe bei Patienten mit Rheuma exprimiert wird. Hier vor allem von „fibroblast-like Synoviocytes“, die bedeutsam für die Entwicklung einer Rheumatoiden Arthritis sind. Aller dings wurde der Einfluss auf Schmerzen nie direkt untersucht. „Wir können nur annehmen, dass dort wo weniger Ent zündung ist, auch weniger Schmerz ist“, vermutete Schaible. Seine eigenen Untersuchungen zur Bedeutung von Makrophagen für den Schmerz und die Nozizeption ergaben, Berufserfahrung Pflegender beeinflusst deren Schmerzbewertung beim Patienten Schmerzbeurteilung ist immer auch die Konsequenz eines Schmerz-Kommunikations-Prozesses zwischen Patient und Behandler. Die Bewertung des Schmerzes hängt offenbar von der Expertise des Behandlers ab. P rinzipiell steigt mit dem Ausmaß der berichteten Schmerzen auch die quantitative Einschätzung des Schmer zes durch die Behandler, sagte die Psy chologin Dr. Judith Kappesser von der Universität Gießen. Eine weitere wichti ge Größe ist die Schmerzmimik. Hinzu kommt jedoch die Beurteilung der vor handenen medizinischen Evidenz für die Plausibilität der berichteten Schmer zen. Ob und inwiefern auch die Berufs erfahrung der Beurteiler für die Schmerzbeurteilung eine Rolle spielt, ist bislang noch nicht mit schlüssigen Daten belegt, so Kappesser. ©© Von Schonertagen / Fotolia Mimik Indikator für Schmerzstärke Bei der Beurteilung der Schmerzen ihrer Patienten lassen sich Pflegende wohl stark durch die Mimik leiten. 20 In einer Querschnittsstudie haben die Gießener Psychologen um Kappesser daher den Einfluss der fachlichen Exper tise der Pflegenden auf deren Schmerz beurteilung untersucht. Die Probanden, 81, zumeist weibliche Pflegekräfte – da von 41 Personen mit längerer Berufs erfahrung – sollten dazu die Schmerz intensität mehrerer Musterpatienten anhand ihrer Selbstberichte, der medi zinischen Evidenz sowie der Schmerz mimik – anhand aufgezeichneter Filme – einstufen. Dabei fand sich eine höhere dass Makrophagen bei Entzündungen im Kniegelenk in die „dorsal root“-Gan glien einwandern. Solche MakrophagenCluster sehe man auch bei neuropathi schen Störungen. Die noch zu überprüf tende Hypothese ist, dass dies der Ver mittlung parasympathischer Effekte in entzündetes Gewebe dient. Diese VagusAktivität könnte – laut einer weiteren Hypothese [Tracey KJ. J Clin Invest 2007;117:289–96] – durch Akupunktur, Biofeedback oder Sport unterstützt wer den, was allerdings bislang klinisch kaum erforscht ist. Dr. Andreas Häckel „Das vegetative Nervensystem und Schmerz: Mögliche Zusammenhänge und therapeutische Optionen.“ Deutscher Schmerzkongress, Mannheim, 22.10.2016 Einstufung der Schmerzintensität durch Berufsneulinge (Novizen) im Vergleich zu erfahrenen Pflegekräften, erklärte Kappesser. Der Zusammenhang zwi schen dem Selbstbericht und der Mimik zeigte, dass die geschätzte Schmerzin tensität zwar mit der zunehmenden In tensität im Selbstbericht korrelierte, aber bei neutraler Mimik der Schmerz stets geringer eingestuft wurde als bei wahr nehmbarer Schmerzmimik. Auswirkung auf Hilfsbereitschaft Die Intention zur Hilfsbereitschaft der Pflegekräfte stieg mit dem Ausmaß des Schmerzes im Selbstbericht, bei den Novizen allerdings deutlich stärker und linearer als bei erfahrenen Pflegekräften. Zugleich hatte eine ausgeprägte Schmerzmimik einen größeren Einfluss auf die Schmerzbeurteilung als der Selbstbericht der Patienten. Allgemein stuften Pflegeneulinge Schmerzen zu dem stärker ein als die Pflegekräfte mit längerer Berufserfahrung. Eine bekann te organische Ursache der Schmerzen beeinflusste indessen nur bei wenigen Beurteilern die Bewertung der Schmerz intensität und hatte auch keinen Einfluss auf ihre daraus resultierende Hilfs bereitschaft. Dr. Andreas Häckel „Schmerz oder kein Schmerz – das ist hier die Frage.“ Möglichkeiten und Grenzen der Erfassung von akuten und chronischen Schmerzen. Deutscher Schmerzkongress, Mannheim, 22.10.2016 Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Chronische Unterbauchschmerzen der Frau – noch immer ein Stiefkind der Schmerzmedizin Erst in den letzten 20 Jahren wurden urogenitale Schmerzsyndrome wie interstitielle Cystitis und Vulvodynie als eigenständige chronische Schmerz syndrome in Urologie und Gynäkologie erkannt. In der Schmerzmedizin sind sie allerdings noch selten behandelte Krankheitsbilder. rogenitale Schmerzsyndrome wie die Vulvodynie und die interstitielle Cystitis (IC) sind häufig und zudem oft mit weiteren Schmerzsyndromen ver gesellschaftet. Allein an der Vulvodynie leiden in den USA geschätzt sechs Mil lionen Frauen, berichtete Professor Ursula Wesselmann, Anästhesiologin, Psychologin und Neurologin von der Universität Birmingham, Alabama. Vulvodynie bezeichnet Schmerzen in den äußeren primären Geschlechtsorga nen, die länger als drei Monaten ohne identifizierbare Ursache andauern. Da bei können die Schmerzen am Scheiden eingang lokalisiert, generalisiert über den gesamten Perinealbereich oder als gemischte Form auftreten. Der Anteil weiterer, extragenitaler Schmerzen ist besonders bei Patientinnen mit der ge mischten Form mit über 40 % besonders hoch, so Wesselmann. Quantifizierbar sind die Vulvodynie-bedingten Schmer zen durch „quantitative thermal testing“ mit einer, in die Vagina eingeführten temperierbaren Sonde, mit der sich Schwellenwerte für Wärme- und Kälte schmerz ermitteln lassen. Dabei finden sich bei Frauen mit Vulvodynie stets niedrigere Schwellenwerte als bei Ge sunden, also eine Hypersensibilität. Schmerz-Cluster sind häufig Die IC ist charakterisiert durch unange nehme Empfindungen oder Schmerzen im Bereich der Harnblase und dem Gefühl eines anhaltenden Harndranges sowie Schmerzen bei der Blasenentlee rung, ebenfalls ohne identifizierbare Ursache. Eine eigene Studie Wessel manns [Warren et al. J Psychosom Res 2014;77(5):363–7] bei mehr als 300 IC- Patientinnen ergab, dass viele der Frauen bereits vor Beginn der IC-Symptome über weitere Schmerzsyndrom-Cluster wie Reizdarm, Fibromyalgie, Chronic Fatigue Syndrome, Siccasyndrom, aber auch zu sätzlich über stattgefundene chirurgische Eingriffe teilweise Jahre vor Beginn der IC berichteten. Eine Analyse fand dabei einen Zusammenhang zwischen den extraurethralen Schmerzen und einer er höhten Anzahl chirurgischer Eingriffe, insbesondere einer Hysterektomie bei den späteren IC-Patienten. Bei Frauen mit vielen funktionellen somatischen Symptomen stieg dabei die Wahrschein lichkeit einer Operation. Wird solchen Patienten eine Hysterektomie empfohlen, sollten zunächst jedoch alternative, nicht invasive Optionen erwogen werden, emp fahl Wesselmann. Liegt eine „Chronic Overlap Pain Condition – etwa die Kom ©© ruigsantos / Fotolia U Schmerzen der Harnblase und das nhaltende Gefühl des Harndrangs a zählen auch zu chronischen Unterbauchschmerzen bei Frauen. bination einer Dysmenorrhö mit einem Reizdarmsyndrom – vor, so sind die Schmerzen jeder einzelnen Manifesta tion, auch der extragenitalen Syndrome, überdies stärker als bei isoliert auftreten den Syndromen. Allerdings lässt sich durch erfolgreiche Behandlung eines Schmerzsyndroms auch das Schmerz empfinden anderer Schmerzsyndrome reduzieren. So senke die erfolgreiche hormonelle Behandlung einer Dysme norrhö zugleich das Schmerzniveau eines gleichzeitig vorhandenen Reizdarm- Syndroms. Dr. Andreas Häckel „Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie chronischer Unterbauchschmerzen der Frau – eine interdisziplinäre Perspektive.“ Deutscher Schmerzkongress, Mannheim, 22.10.2016 Medizin ak tuell Deutscher Schmerzkongress 2016 Wo sitzt der Schmerz? Moderne bildgebende Verfahren machen mit präzisen Darstellungen einzelner Hirnareale Hoffnung, dem genauen Sitz des Schmerzes im Hirn näher zu kommen. Doch offenbar sind verschiedene Schmerzaspekte in unterschiedlichen Regionen repräsentiert. D ©© photos.com ie Anwendung bildgebender Verfah ren wie die funktionelle Magnet resonanztomografie (fMRT) hat in den letzten Jahren auch in der Schmerz forschung stark zugenommen. Doch Schmerz ist eine multidimensionale Größe mit sensorisch-diskriminativen, affektiv-emotionalen, motorischen, au tonomen und kognitiv/attentionalen Komponenten, betonte die Neurologin Professor Ulrike Bingel von der Univer sität Essen auf dem diesjährigen deut schen Schmerzkongress in Mannheim. Auf der Suche nach einer spezifischen „Neural Signature of Pain“ (NSP) werden Probanden nach einer experimentellen Stimulation auf die fokale Aktivierung bestimmter Hirnareale hin untersucht. Als Trick dienen dabei parametrische Designs, bei denen mit unterschiedli chen Reizintensitäten getestet wird, ob und wie ein Reiz wahrgenommen wird und ob zugleich eine Stimulus-Intensi tätskodierung vorhanden ist. Doch die vermeintliche Identifikation entspre chender Areale ist fehlerbehaftet, so Bin gel. Als Beispiel für Fehlinterpretationen sieht die Neurologin etwa Studien, in de Bildgebende Verfahren können womöglich auch helfen den Ort des Schmerzes zu lokalisieren. 22 nen experimentell erzeugte Situationen sozialer Zurückweisung in Probanden identische Hirnareale aktivierten wie physische Schmerzen. Dynamisches Netzwerk Daraus eine „reverse Inferenz“ abzulei ten, also von reaktiven Hirnarealen auf tatsächlich empfundenen Schmerz zu schließen, „ist nicht zulässig“, erklärte sie. „Es gibt kein Areal im Gehirn, das exklusiv und selektiv nur schmerzhafte Reize verarbeitet.“ Gewisse Hinweise für ein solches schmerzspezifisches Hirn areal bestehen lediglich für die hintere Insel, die zumindest gehäuft auf Schmerzsignale reagiert [Mazzola et al. Brain. 2012; 135: 631–40]. Generell scheint die individuelle Schmerzerfah rung jedoch in einem dynamischen Netzwerk von Hirnarealen repräsentiert, die auch unterschiedlich miteinander interagieren. „Univariate klassische Mapping-Studien bringen uns dabei nicht weiter, zu sagen, ob jemand Schmerz oder keinen Schmerz oder viel oder wenig Schmerz hat“, betonte Bingel. Ein neuer Trend in der Bildgebung sind multivariate Ansätze mit Bezeich nungen wie „machine learning“, „ pattern recognition“ oder „brain reading“. Dabei soll, im Gegensatz zum klassischen An satz – bei dem Perzeption die Resultate der Bildgebung mit einzelnen Voxeln er klären soll – die Bildgebung vieler Voxel des Gehirns das Verhalten oder die Per zeption des Probanden erklären. Basie rend auf einem Datensatz von Hirnbil dern, bei denen Vorhandensein und In tensität des Schmerzes beim Probanden bekannt sind, wird ein Algorithmus for muliert um zwischen verschiedenen Be dingungen zu unterscheiden. Im Ideal fall lässt sich damit die Frage beantwor ten, ob und wie stark der Schmerz vor handen ist. Auch der Beitrag einzelner Hirnareale an der Beantwortung dieser Frage lässt sich damit ermitteln. In einer Schlüsselstudie hierzu wurde eine NSP identifiziert, die sich offenbar zur Quan tifizierung von experimentell erzeugten thermischen Schmerzen eignet [Wager TD et al. N Engl J Med. 2013; 368: 1388– 97]. Aber schon für eine experimentelle Selbstregulation (hoch/herunter) der Schmerzintensität durch die Probanden ließ sich keine Repräsentation in dieser NSP nachweisen [Woo et al. PLoS Biol. 2015;13:e1002036]. Noch keine klinische Messung Dennoch werden die Techniken funkti oneller Bildgebung, auch für die Ent wicklung zentral wirksamer Schmerz medikamente bei akuten Schmerzen, zunehmend explorieren. Bislang weitge hend unerforscht sind jedoch noch chro nische Schmerzen, so Bingel. Das liege auch daran, dass im Gegensatz zur sub akuten Schmerzphase, in der noch klas sische Schmerz-assoziierte Netzwerke wie die Insel oder das mittlere Cingulum aktiv sind, sich die zentrale Repräsenta tion des Schmerzes im Laufe der Chro nifizierung in ganz andere Areale ver schiebt [Hashimi et al. Brain 2013; 136: 2751–68]. Mit Masken, die eigentlich für die Erfassung emotionaler Prozesse ent wickelt wurden, kann dann chronischer Schmerz viel besser erklärt werden als akuter Schmerz. In einer ersten Studie mit diesem Ansatz gelang es bislang al lerdings lediglich, zwischen Fibro myalgiepatienten und gesunden Kont rollen zu unterscheiden. Bingels Fazit: Bildgebende Verfahren sind zwar hilfrei che Surrogatmarker zur Darstellung ex perimenteller Schmerzen im Gehirn, eignen sich bislang aber noch nicht für die Diagnostik und Messung klinischer Schmerzen, zumal es nicht nur eine uni verselle NPS gibt. Multivariate Ansätze sind noch nicht praxistauglich, aber viel versprechend. Für die genauere Veror tung chronischer Schmerzen sind ver mutlich weitere, neue Methoden erfor derlich. Nicht vergessen werden sollten dabei jedoch die enormen ethischen und juristischen Implikationen dieser neuen Techniken, mahnte die Neurologin. Dr. Andreas Häckel „Schmerz oder kein Schmerz – das ist hier die Frage.“ Möglichkeiten und Grenzen der Erfassung von akuten und chronischen Schmerzen. Deutscher Schmerzkongress, Mannheim, 22.10.2016 Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Häufig begleiten psychische L eiden die Schmerzchronifizierung. Diese sind aber von somatischen Belastungsstörungen abzugrenzen. Differenzierte Diagnostik erforderlich Somatische Belastungsstörungen in der Schmerztherapie Johannes Horlemann, Kevelaer Chronische Schmerzen belasten Patienten nicht nur physisch, sondern häufig auch psychisch. Ob psychische Belastungen Folge oder doch Ursache des Schmerzleidens sind, ist essenziell für die Wahl der Schmerztherapie. Durch somatische Belastungsstörungen bedingte Schmerzen lassen sich mit Hilfe der DSM-5-Kriterien von organisch bedingten abgrenzen. I m Jahre 2013 ist die DSM-5-Klassifikation durch die American Psychiatric Association veröffentlicht worden. Die deutsche Übersetzung erschien 2015. Die bisherigen Einstufungen von Erlebensstörungen bei chronischem, also biopsychosozial ausgestaltetem Schmerz müssen nun notwendigerweise anhand dieses durchweg neuen, evidenzbasierten Expertenkonsens überprüft werden. Die bisherigen Klassifikationen in der Diagnostik psychischer Störungen wurden erheblich verSchmerzmedizin 2016; 32 (6) ändert. Daher besteht Bedarf, eine Orientierung aus schmerz medizinischer Sicht zu geben, diese zu aktualisieren und damit wiederherzustellen. Bisherige tiefenpsychologische und entwicklungsgeschichtliche Konzepte, die hinter den Begriffen „Somatisierung“ und „somatoforme Schmerzstörung“ standen, sind nun in einem Kapitel „Somatische Belastungsstörung und verwandte Störungen“ vereinigt, das folgende Entitäten umfasst [1]: 23 ©© Jochen Tack / AOK-Medienservice Zertifizierte Fortbildung Zertifizierte Fortbildung Somatische Belastungsstörungen 1.Die Somatische Belastungsstörung 2.Die Krankheitsangststörung 3.Die Konversionsstörung (Störung mit funktionellen neurologischen Symptomen) 4.Psychologische Faktoren, die eine körperliche Krankheit beeinflussen 5.Die vorgetäuschte Störung 6.Andere näher bezeichnete somatische Belastungsstörungen und verwandte Störungen 7.Die nicht näher bezeichnete somatische Belastungsstörung und verwandte Störungen Alle diese Störungen haben gemein, dass somatische Symptome, die mit ausgeprägtem Leiden und Beeinträchtigungen einhergehen, im Vordergrund stehen. Sie repräsentieren Erkrankungen, die eher in primärärztlichen und schmerzmedizinischen Einrichtungen als unter fachpsychiatrischen Bedingungen vorkommen. Die bedeutsamste Diagnose im schmerzmedizinischen Setting ist sicherlich die „Somatische Belastungsstörung“, weshalb auf diese Krankheitsentität näher einzugehen ist. Sie kommt dem Begriff der „Somatoformen Störung“ im DSM IV am nächsten. Viele Symptome, insbesondere durch Konversion, werden im DSM 5 als medizinisch nicht erklärbar und nicht reliabel eingestuft. Nunmehr wird eine eindeutig feststellbare körperliche Symptomatik gefordert, auf die der Patient nachvollziehbar mit abnormen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen reagiert. Bisherige Vorgehensweisen nicht falsch Die Wahrnehmung und Evaluierung von Störungen des Erlebens sind Teil jeder schmerzmedizinischen Begegnung mit dem Patienten. Insbesondere solche Schmerzen, die als chronischer Schmerz ihre Schutzfunktion verloren haben und in der Regel nicht direkt oder monokausal nachvollziehbar sind, werden durch ein biopsychosoziales Wechselspiel dargestellt (nach ICD10: F45.41 [2]). Besonders Patienten, die schwer lokalisierbare Schmerzen oder solche mit ständig wechselnder Lokalisierung präsentieren und darüber hinaus Schmerzstärken in wenig nachvollziehbarem Ausmaß angeben, lassen an funktionelle Beeinträchtigungen oder psychiatrische Störungen denken. Es ist belegt, dass auch nicht organische Schmerzbeteiligungen alle Mechanismen der zentralen und peripheren Chronifizierung durchlaufen. Neuere physiologische Befunde legen nahe, dass die Vorstellung von Schmerz und der tatsächliche, akute, repetitive oder chronische Schmerz in zum Teil identischen kortikalen Strukturen bearbeitet werden. Der „Vorstellungsschmerz“ des Patienten wird zentral hirnplastisch wirksam, auch wenn er keinen eindeutigen oder eindeutig peripheren läsionellen Bezug hat. Wir sind es gewohnt, Strukturen des Erlebens und Verarbeitens in einem triadischen psychiatrischen System einzuordnen: I. erlebnisreaktiv II. neurotisch reaktualisiert III. psychotisch, inklusive Persönlichkeitsstörungen Unter letzteren sind insbesondere histrionische und narzistische Persönlichkeitsstörungen für die Schmerzchronifizierung bedeutsam. 24 Während erlebnisreaktive Störungen üblicherweise als bewusstseinsnahe Verarbeitungsstörungen vorkommen, für die sowohl dem Arzt als auch dem Patienten eine Kausalität relativ leicht ableitbar ist, werden neurotische Störungen als Neuauftreten früherer, nicht gelöster Konflikte in verändertem Lebenszusammenhang, hier mit chronischem Schmerz, verstanden. Neurotische Muster sind bei Schmerzchronifizierungen erwartbar deutlich häufiger als erlebnisreaktive. Allerdings nehmen posttraumatische Belastungsstörungen im Rahmen von Chronifizierungsprozessen eine besondere Stellung ein. Diese werden im DSM 5 auch in einem eigenen Kapitel gewürdigt. Diagnostik Im praktischen schmerzmedizinischen Alltag kommt der sequenziellen Diagnostik der Erlebensstörungen eine besondere Bedeutung zu. Dabei stellt sich die Frage, ob: 1. psychische Störungen in der Folge einer Schmerzchronifizierung auftreten, 2. psychische Störungen bereits vorbestanden, bevor ein chronisches Schmerzsyndrom entstand (ggf. gleichzeitiger Beginn) oder 3. es eine Komorbidität zwischen psychischen Störungen und chronifiziertem Schmerz gibt, mit allen denkbaren Interaktionen und gegenseitiger Triggerung. Von besonderem therapeutischem Interesse ist die Frage, ob eine krankheitswertige psychische Störung bereits vor der Schmerzchronifizierung bestand, weil die Schmerzsymptomatik damit eventuell als Ausgestaltungsmittel der zugrundeliegenden psychischen Erkrankung verstanden werden könnte. Diese Konstellation ist auch bei vormals als endogen bezeichneten Depressionen und bei schwergradigen Depressionen möglich. In diesem Fall sind eher eine Lithium-Therapie, Anti depressiva und psychiatrisch-psychologische Interventionen angezeigt als ein Analgetikum oder sogar eine multimodale Schmerztherapie. Die Mehrzahl der Patienten wird jedoch im Sinne einer „Zermürbungsdepression“ psychische Begleitsymp tomatik infolge und im Rahmen der Schmerzchronifizierung entwickeln. Seltener ist das gleichzeitige Auftreten von Schmerz und psychischer Komorbidität. Das Vorhandensein von krankheitswertiger Angst oder Depression im Schmerzgeschehen führt grundsätzlich zu der therapeutischen Fragestellung, ob ein Patient auch im Rahmen der Schmerzbewältigung von Antidepressiva oder Anxiolytika profitieren könnte. Unter den Antidepressiva werden solche mit noradrenerger Wiederaufnahmehemmung für Schmerzpatienten bevorzugt. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Möglichkeit von Suizidalität in der Einwaschphase, bei Dosisumstellungen und in der Auswaschphase von Antidepressiva bei Patienten mit chronischem Schmerz. Differenzialdiagnostische Überlegungen Es ist auffällig, dass degenerativ erklärbare Schmerzerkrankungen und organische Grundlagen von chronischen Schmerzen nicht mit dem Ausmaß der Beschwerdepräsentation von Patienten korrelieren. Der Hauptanteil der Patienten mit chronischem Rückenschmerz liegt im Alter zwischen 40 und 60 Jahren, während sehr alte Menschen häufig trotz weitaus fortgeSchmerzmedizin 2016; 32 (6) schrittener Degeneration weniger über Schmerzen klagen als Jüngere. Verarbeitungsstil und Persönlichkeit, antizipatorische Angst, katastophisierende Verhaltensweisen und dysphorische Veränderungen können für Menschen in den mittleren Lebensdekaden in der Entwicklung der Schmerzchronifizierung bestimmender sein als der läsionelle Ansatz. Es existieren zahlreiche Hinweise, dass Prädiktoren der Chronifizierung vorrangig psychisch und nicht somatisch-läsionell sind. Im Einzelfall müssen komplexe Bedingungsgefüge analysiert werden, da kaum monokausale Schädigungsfolgen vorliegen dürften. Diese Analyse stellt die strukturierte schmerzmedizinische Eingangsdiagnostik umfassend dar. Die Unterscheidung von organisch erklärbaren gegenüber nicht organisch ableitbaren Schmerzen ist elementar für das therapeutische Prozedere und die Prognose der Schmerzen (Tab. 1). Somatisierungsstörungen beziehen sich auf einen 2-JahresZeitraum, in dem psychosomatische Symptome dargestellt werden. Abzugrenzen ist die somatoforme Schmerzstörung, die als eine mindestens sechs Monate bestehende, organisch nicht erklärbare und nicht in mitverursachender Beziehung zu einer somatischen Läsion stehende Störung verstanden wird (Tab. 2). Nach Egle et al. wird vornehmlich eine spezifische biografische Vulnerabilität, insbesondere durch sexuellen Missbrauch in der Anamnese dieser Schmerzpatienten festgestellt [3]. Beiden Bedingungen, sowohl der Somatisierung als auch der somatoformen Schmerzstörung, ist das vermehrte Nachfragen von Gesundheitsleitungen gemeinsam. Neue Diagnose-Entität Die Anwendung diagnostischer Konzepte der Somatisierung und der somatoformen Schmerzstörung ist für Ärzte ohne psy- chiatrische Fachkenntnisse schwierig, die Fachtermini sind missverständlich. Der DSM 5 hat deshalb die Zahl der Störungsdiagnosen und die Subtypen deutlich reduziert. Nachfolgend werden die diagnostischen Kriterien der „Somatischen Belastungsstörung“ (DSM 5) aufgeführt: A.Eines oder mehrere somatische Symptome, die belastend sind oder zu erheblichen Einschränkungen in der alltäglichen Lebensführung führen. B.Exzessive Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen bezüglich der somatischen Symptome oder damit einhergehender Gesundheitssorgen, die sich in mindestens einem der folgenden Merkmale ausdrücken: —Unangemessene und andauernde Gedanken bezüglich der Ernsthaftigkeit der vorliegenden Symptome. —Anhaltende stark ausgeprägte Ängste in Bezug auf die Gesundheit oder die Symptome. —Exzessiver Aufwand an Zeit und Energie, die für die Symptome oder Gesundheitssorgen aufgebracht werden. C.Obwohl keines der einzelnen somatischen Symptome durchgängig vorhanden sein muss, ist der Zustand der Symptombelastung persistierend (typischerweise länger als sechs Monate). Zu bestimmen ist außerdem, ob der Schmerz überwiegend ist (früher: „Schmerzstörung“). Diese Spezifikation ist für Personen bestimmt, bei denen die hauptsächlichen somatischen Symptome Schmerzen sind. Oder ob ein andauernder Schmerz vorliegt: Ein chronischer Verlauf ist gekennzeichnet durch schwergradige Symptome, deutliche Beeinträchtigungen und eine lange Dauer von mehr als sechs Monaten. Auch der aktuelle Schweregrad der Schmerzen ist zu bestimmen: Tab. 1: Differenzialdiagnostische Einstufung organischer gegenüber nicht organischer Schmerzen Organisch Nicht organisch Eindeutig umschrieben, oft dermatombezogen Unklare regionale Abgrenzung, eventuell ohne anatomischen Bezug Angemessene (sensorische) Schmerzschilderung Inadäquate Schilderungen, emotional betont Belastungsabhängigkeit, oft tagesbetont Dauerhafter Schmerz („continous pain“), oft monoton und gleich intensiv, ohne Belastungsabhängigkeit Lokal konkrete Beschreibungen, Ansprechen auf lokalanästhesiologische Verfahren (Blockaden) Vage Umschreibungen, wechselnde Orte Eher Abendbetonung der Schmerzen („Gelenkaufbrauch“), Anlaufschmerz Kein fester Tagesrhythmus, situativ abhängiger Schmerz („Stress“) Angemessenes Ansprechen auf Pharmaka Kein adäquates Ansprechen auf Pharmaka (Dosis-Wirkungs-Beziehung) Betonung der organischen Begleiterscheinungen/Grundlagen von Schmerz Deutliche Gestaltung der mitmenschlichen Beziehungen, insbesondere: Arbeitsplatz und Familie, Belastung der Paarbeziehung durch Schmerz Sprache: einfach, nüchtern, klar, konkret Sprache: emotional bis bildhaft Affekte des Patienten: ruhig, aufmerksam Affekte des Patienten: Parathymie, Alexithymie, emotionale Betonung Affekte des Arztes: empathische Anteilnahme, supportives Verhalten Affekte des Arztes: negative Gegenübertragung beim Arzt (z.B. Ärger, Wut, Ungeduld) Patient eher offen für Psychotherapie Eher Ablehnung von Psychotherapie Angemessenheit der Beschwerden, Schilderung im Verhältnis zur Ursache Katastrophisierung, Doctorhopping Schmerzmedizin 2016; 32 (6) 25 Zertifizierte Fortbildung Somatische Belastungsstörungen —Leicht: Nur eines der unter Kriterium B bezeichneten Sym ptome trifft zu. —Mittel: Zwei oder mehr der unter Kriterium B bezeichneten Symptome treffen zu. —Schwer: Zwei oder mehr der unter Kriterium B bezeichneten Symptome treffen zu; zusätzlich bestehen multiple somati sche Beschwerden oder ein sehr schwer ausgeprägtes soma tisches Symptom. Erheblicher Leidensdruck typisch Der Begriff „Somatische Belastungsstörung“ bildet wirklich keitsnah die meisten Patienten mit chronischen Schmerzsyn dromen ab. Im DSM 5 wird ausgeführt, dass somatische Belas tungsstörungen meist solche Patienten treffen, die aktuell unter multiplen Symptomen leiden, welche stark belastend sind und zu wesentlichen Störungen in der allgemeinen Lebensführung beitragen (führend: Kriterium A). Dies tritt häufig in Kombina tion mit einem weiteren, schwergradigen Symptom – zumeist Schmerz – auf. Die Symptome können spezifisch sein wie bei einem lokalisierten Schmerz oder sich relativ unspezifisch äu ßern, etwa durch Erschöpfung. Manchmal stellen die Symptome normale körperliche Empfindungen oder Aspekte von Unwohl sein dar, die üblicherweise keine Hinweise auf eine ernsthafte Erkrankung sind. Medizinisch unerklärte somatische Symp tome reichen alleine allerdings nicht aus, um diese Diagnose zu stellen. Das Leiden der Person ist authentisch, unabhängig da von, was medizinisch erklärt werden kann oder nicht. Die ein zelnen Symptome müssen nicht, können aber mit anderen kör perlichen Krankheitsfaktoren in Verbindung stehen. Personen mit einer somatischen Belastungsstörung tendieren zu sehr stark ausgeprägten Krankheitssorgen (Kriterium B). Sie bewer ten ihre körperlichen Symptome als übermäßig bedrohlich, gesundheitsschädlich oder störend und denken häufig das Schlimmste über ihren Gesundheitszustand. Die Betroffenen erleben typischerweise einen Leidensdruck, der hauptsächlich auf somatische Symptome und deren Bedeutung ausgerichtet ist. Oftmals liegt eine ausgeprägte Inanspruchnahme medizini scher Leistungen vor, welche jedoch nur selten die Sorgen der Betroffenen lindert. Die Prävalenz der Diagnose „Somatische Belastungsstörung“ ist unbekannt. Sie ist vermutlich höher als die Prävalenz der restriktiveren Diagnose der Somatisierungsstörung des DSM IV (< 1 %) und niedriger als die Prävalenz der undifferenzier ten somatoformen Störungen (etwa 19 %). Die Prävalenz der somatischen Belastungsstörung in der Erwachsenenbevölke rung liegt bei 5 – 7 %. Frauen neigen im Vergleich zu Männern dazu, mehr über körperliche Symptome zu berichten, weshalb die Prävalenz der somatischen Belastungsstörung bei Frauen wahrscheinlich höher ist als bei Männern. Verlässliche Daten fehlen jedoch noch. Bei älteren Menschen wird das Kriterium B ausschlaggebend sein, da häufig somatische Symptome und gleichzeitig bestehende körperliche Erkrankungen vorkom men. Die somatische Belastungsstörung hat die Tendenz, bei älteren Menschen unterdiagnostiziert zu werden. Somatische Belastungsstörungen treffen häufiger Personen mit niedrige rem Bildungsstand und niedrigem sozioökonomischen Status sowie Menschen nach stressreichen Lebensereignissen. 26 Tab. 2: Hinweise auf eine somatoforme Schmerzstörung Analgetika sprechen nicht angemessen auf den Schmerz an. Bei dem Patienten lässt sich eine typische „broken home“-Situation nachweisen. Es fällt eine affektiv inadäquate Beschwerdeschilderung auf (Parathymie). Es ist möglich, dass die Patienten lächelnd und sich frei bewegend die Sprechstunde aufsuchen, aber höchste Schmerzstärken angeben. Die Patienten sind kaum für psychotherapeutische Verfahren zugänglich, sie betonen die Organogenese ihrer Beschwerden und suchen nach Begründungen für immer neue diagnostische und Therapiemaßnahmen inklusive Medikamenten. Im Endstadium tritt eine Panalgesie auf: Ausbreitung der Schmerzen auf den ganzen Körper ohne anatomisch-orthopädischen Bezug. Die Beschwerdeschilderung ist dramatisiert, aber monoton und monothematisch im Gegensatz zum bunten Bild der neurotischen Somatisierung. Das Verhalten der Patienten ist ausgeprägt dependent. Eigenaktivität und Selbstverantwortung in der Schmerzbewältigung sind den Patienten weitgehend fremd. Affektiv besteht eine Alexithymie. Der Patient hat unrealistische Ansprüche an seine Gesundheit, was häufiger zu einem Substanzabusus und zu inadäquatem Gesundheitsverhalten beiträgt. Fazit für die Praxis Störungen des Erlebens mit Angst und Depression sind Be standteil jeder Schmerzchronifizierung. Eine Einordnung in strukturelle Zusammenhänge der Biografie und Persönlichkeit des Patienten ist unabdingbar für eine gelingende schmerz medizinische Intervention. Die Unterscheidung zwischen organisch begründbaren und nicht organisch begründbaren Schmerzen ist dabei ausschlaggebend für die Therapie. Literatur (Auswahl): 1. American Psychiatric Association. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM 5. 1. Aufl. Hogrefe Verlag; 2015 2. http://www.icd-code.de/icd/code/F45.41.html 3. Egle U, Hoffmann S, Lehmann K, Nix W. Handbuch Chronischer Schmerz. 1. Aufl. Schattauer Verlag; 2003 Weitere Literatur beim Verfasser Dr. med. Johannes Horlemann Facharzt für Allgemeinmedizin, spezielle Schmerztherapie Grünstraße 25, 47625 Kevelaer Leiter des Regionalen Schmerzzentrums DGS Kevelaer Interessenkonflikt Der Autor erklärt, dass er sich bei der Erstellung des Beitrages von keinen wirtschaftlichen Interessen leiten ließ und dass keine potenziellen Interessenkonflikte vorliegen. Der Verlag erklärt, dass die inhaltliche Qualität des Beitrags von zwei unabhängigen Gutachtern geprüft wurde. Werbung in dieser Zeitschriftenausgabe hat keinen Bezug zur CME-Fortbildung. Der Verlag garantiert, dass die CME-Fortbildung sowie die CME-Fragen frei sind von werblichen Aussagen und keinerlei Produktempfehlungen enthalten. Dies gilt insbesondere für Präparate, die zur Therapie des dargestellten Krankheitsbildes geeignet sind. Schmerzmedizin 2016; 32 (6) CME .SpringerMedizin.de CME-Fragebogen Teilnehmen und Punkte sammeln können Sie • als e.Med-Abonnent von springermedizin.de • als registrierter Abonnent dieser Fachzeitschrift • a ls Mitglied der DGS e.V., der DAGST e.V. und dem Berufsverband der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe e.V. ??Mit welchem Kriterium lassen sich organische von nicht organisch er klärbaren Schmerzen nicht abgren zen? ◯◯ Läsioneller Bezug ◯◯ Belastungsabhängigkeit ◯◯ Tagesrhythmik ◯◯ Angaben des Patienten ◯◯ Dermatombezug ??Welche Persönlichkeitsstörung greift in die Ausgestaltung eines chronischen Schmerzsyndroms ein? ◯◯ Histrionische Persönlichkeitsstörung ◯◯ Anankastische Persönlichkeitsstörung ◯◯ Dissoziale Persönlichkeitsstörung ◯◯ Borderlinesyndrom ◯◯ Schizoide Persönlichkeit ??Welches der Kriterien gehört nicht zu einer somatischen Belastungs störung? ◯◯ Erhebliche Einschränkungen der Alltagsgestaltung ◯◯ Übermäßige Gesundheitssorgen ◯◯ Häufige Arztbesuche ◯◯ Akuter Beginn ◯◯ Dauerhaftigkeit der Symptome über Jahre ??Welche Aussage trifft zu? Die Prä valenz somatischer Belastungsstö rungen liegt in der Erwachsenenbe völkerung… ◯◯ bei 5 – 7 %. ◯◯ bei 40 %. Dieser CME-Kurs wurde von der Bayerischen Landesärztekammer mit zwei Punkten in der Kategorie I zur zertifizierten Fortbildung freigegeben und ist damit auch für andere Ärztekammern anerkennungsfähig. Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Dieser CME-Kurs ist zwölf Monate auf CME.SpringerMedizin.de verfügbar. Sie finden ihn am Schnellsten, wenn Sie den Titel des Beitrags in das Suchfeld eingeben. Alternativ können Sie auch mit der Option „Kurse nach Zeitschriften“ zum Ziel navigieren. DOI: 10.1007/s00940-016-0179-7 Somatische Belastungsstörungen in der Schmerztherapie ◯◯ bei etwa 1 %. ◯◯ bei Männern höher als bei Frauen. ◯◯ in der Jugend höher als im Alter. ◯◯ sind besonders im 40. – 60. Lebensjahr ??Welche Störung ist nicht mit der somatischen Belastungsstörung (DSM 5) verwandt? ◯◯ Krankheitsangststörung ◯◯ Konversionsstörung ◯◯ die vorgetäuschte Störung ◯◯ psychologische Faktoren, die eine Krankheit beeinflussen ◯◯ Borderlinesyndrom ◯◯ sind meist neuropathisch verursacht. ??Welche Antwort zur Sequenz von Erlebensstörungen ist richtig? ◯◯ Somatische Symptome gehen in der Regel depressiven Entwicklungen im chronischen Schmerz voraus. ◯◯ Psychische Erkrankungen gehen in der Regel der Schmerzchronifizierung voraus. ◯◯ Gleichzeitiges Auftreten von psychi schen und organisch erklärbaren Erkrankungen ist sehr häufig. ◯◯ Meist entwickelt sich eine Komorbi dität ohne Interferenzen. ◯◯ Schlafstörungen treten häufig als Vorläufer der Schmerzchronifizierung auf. ??Was ist nicht charakteristisch für organisch erklärbare Schmerzen? ◯◯ meist nachtbetont ◯◯ belastungsunabhängig ◯◯ in der Bechwerdebeschreibung vorrangig sensorisch ◯◯ besitzen Dermatombezug ◯◯ oft Ursache der Erschöpfungs depression ??Welche Aussage trifft zu? Rücken schmerzen… ◯◯ sind durchgehend degenerativ erklärbar. ◯◯ nehmen im hohen Alter stets zu. Für eine erfolgreiche Teilnahme müssen 70 % der Fragen richtig beantwortet werden. Pro Frage ist jeweils nur eine Antwortmöglichkeit zutreffend. Bitte beachten Sie, dass Fragen wie auch Antwortoptionen online abweichend vom Heft in zufälliger Reihenfolge ausgespielt werden. maßgeblich psychisch ausgestaltet. ◯◯ sollten stets mit Antidepressiva behan delt werden. ??Zu den Kriterien einer somatoformen Schmerzstörung gehört nicht: ◯◯ Alexithymie ◯◯ Parathymie ◯◯ „Broken home“-Anamnese ◯◯ Halluzinationen ◯◯ Panalgesie ??Welche Aussage ist richtig? Vorrangig psychisch erklärbare Schmerzen... ◯◯ sind in der Beschreibung bagatellisie rend. ◯◯ wechseln häufig in der Lokalisierung. ◯◯ sind meist brennend. ◯◯ betreffen meist nur die untere Körper hälfte. ◯◯ werden in der Regel vom Patienten vorgetäuscht. Bei inhaltlichen Fragen erhalten Sie beim Kurs auf CME.SpringerMedizin.de tutorielle Unterstützung. Bei technischen Problemen erreichen Sie unseren Kundenservice kostenfrei unter der Nummer (0800) 77 80 777 oder per Mail unter [email protected]. 27 Fortbildung Psychologische Schmerztherapie Akzeptanz und Achtsamkeit als Teil der Behandlung chronischer Schmerzen Christiane Braun, Linda Mehner, Andreas Böger, Kassel Unsere mentale Haltung beeinflusst häufig unser Handeln und damit auch unser Befinden. Da ist es nicht verwunderlich, dass auch in der Therapie von chronischen Schmerzen die Einstellung des Patienten zu seinen Schmerzen eine Rolle spielt. E doch, dass es viel notwendiger ist, dem Patienten möglichst früh zu vermitteln, trotz vorhandener Schmerzen wieder aktiv zu werden. Multimodale Schmerztherapie Die multimodale Schmerztherapie (MMS) gilt als Goldstandard bei der Behandlung chronischer Schmerzen und betont das Zurückgewinnen der Kontrolle, die Aktivierung und die Selbstwirksamkeit der Patienten im Umgang mit ihren chronischen Schmerzen [3]. Ein integraler Bestandteil der MMS ist die Psychotherapie. Diese fußt vorwiegend auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Konzepten. Auf der Basis der Entwicklung von Selbstwirksamkeit und Selbsteffizienz erweist sich die Integra tion individueller Schmerzbewältigungs- ©© Robert Kneschke / fotolia.com twa 17 % aller Deutschen leiden laut der Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. und der deutschen Schmerzliga unter chronischem Schmerz [1]. Davon sind circa vier bis fünf Millionen Menschen stark in ihrer alltäglichen Lebensführung eingeschränkt [2]. Hieraus lässt sich eine deutliche Behandlungsnotwendigkeit ableiten, da sich die Erkrankung nicht nur auf das Individuum an sich, sondern auch auf sein psychosoziales Umfeld auswirkt. Häufig kommen Patienten mit der Idee zu uns in die Klinik, dass erst die subjektive Schmerzempfindung herunterreguliert werden müsste, um die bisher eingeschränkte Funktionalität im Alltag wieder voll aufnehmen zu können. Unsere bisherigen multimodalen Therapieerfahrungen zeigen je- strategien als ausgesprochen wertvoll. Die „Acceptance- and CommitmentTherapie“ (ACT) stellt in diesem Zusammenhang eine interessante Erweiterung dar. So zeigt etwa die Auseinander setzung mit dem inneren „Schmerzmonster“ [4] nicht nur empirisch eine hohe Wirksamkeit [5], sondern beweist sich auch im stationären, therapeutischen Kontext. Durch das eindrückliche Bild eines „Monsters, das sich in den Weg stellt“ und der damit verbundenen Herausforderung, Lösungswege im Umgang hiermit zu entwickeln, kann sich die metakognitive Verarbeitungsebene durch erlebensnahe und emotionale Prozesse erweitern. Dabei geht es nicht darum, den Kampf mit dem Monster aufzunehmen, sondern zu lernen eine akzeptierende und mitfühlende Haltung einzunehmen. Geuter regt in seiner Buchrezension „Wirkfaktoren der Achtsamkeit“ ebenfalls dazu an, sich die Offenheit im therapeutischen Kontext zu bewahren und mit den Patienten gemeinsam einen passenden, individuellen Weg zu erarbeiten [6]. 28 Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Die ACT in der Schmerztherapie Nach den Konzepten der ACT verstärkt sich das Leiden, wenn Menschen mit ihrem eigenen Erleben kämpfen und versuchen unangenehme Empfindungen zu unterdrücken. Ziel der ACT-basierten Schmerztherapie ist es, nicht gegen, sondern mit dem Schmerz leben zu lernen. Den unproduktiven Kampf mit dem eigenem Erleben zu beenden und die vorhandene Energie stattdessen auf das Ausleben der eigenen Lebenswerte und Ziele zu lenken. Die aus der „ dritten Welle der Verhaltenstherapie“ e ntstandene Psychotherapiemethode betrachtet den Schmerz dabei differenzierter und unterscheidet den „clean pain“, den „Schmerz an sich“ also die sensorische Wahrnehmung von dem „dirty pain“, der individuellen Reaktionen auf den erlebten Schmerz. Dieser „dirty pain“ können Gedanken wie „Bald sitze ich im Rollstuhl“ oder Gefühle der Hilflosigkeit sein, auch sozialer Rückzug oder gesteigerte Anspannung gehören zum „schlechten Schmerz“ [4]. Derartige Unterscheidungen werden ebenfalls in der dialektisch-behavioralen Therapie aufgegriffen, wobei hier Leid als „Nichtakzeptanz des Schmerzes“ definiert wird [7]. Auch im Zusammenhang mit emotionalem Schmerz wie Liebeskummer und „Herzschmerz“, den man bei Tod und Verlust nahestehender geliebter Menschen empfindet, wissen wir, dass es natürlich und wichtig ist, diese Schmerzen anzunehmen, um das eigene Leben fortführen zu können [8]. Eine Metaanalyse von Hayes unterstreicht, dass Erlebensvermeidung unerwünschter innerer Prozesse sogar zur Intensivierung und Verstärkung emotionaler Belastung führt [9]. Inhaltliche Überschneidungen gibt es auch zum Programm der „Mindfulness based Stress Reduction“ [10]. Wer profitiert von der ACT? Eine 46-jährige Patientin leidet bereits über Jahrzehnte an einem Ganzkörperschmerz. Sie habe bereits verschiedenste spezialisierte Fachrichtungen, vom Orthopäden bis zum Osteopathen, konsultiert, diverse Meinungen gehört und unterschiedlichste Verfahren für sich ausprobiert. Eine Kontrolle über den Schmerz habe sie nicht erfahren können. Dieser nehme jedoch kontinuierlich mehr Lebensraum ein und fördere ihren Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Gegenwärtigkeit/ im Hier und Jetzt präsent sein Akzeptieren und innerlich bereit sein Werte Psychische Flexibilität Kognitive Defusion Commitment/ engagiertes, entschlossenes Handeln Selbst als Kontext/ Beobachterselbst Abb. 1: Hexaflexdarstellung nach [4] sozialen Rückzug. Die hier beschriebene aufgewendete Energie im Kampf gegen den Schmerz soll, im Rahmen des ACTKonzeptes, gespart und zukünftig für anderweitige, lebenswertere Ziele eingesetzt werden. Die Patientin wird dazu angeregt, sich wieder über einige Wünsche und Werteziele klar zu werden und sich für diese – trotz Schmerzen – einzusetzen. Hierfür bietet die ACT unterschiedliche Metaphern wie die des Busfahrers oder des Wertekompass, um einen individuellen Zugang zu ermöglichen [11]. Die Patientin fühle sich „festgefahren“ in ihrem Leben, habe über Jahre Strategien aufgebaut, den Schmerz zu vermeiden und ihn so ungewollt ins Zentrum ihres Lebens gestellt. Die ACT gebraucht das Bild „wie das Leid Kreise zieht“, welches Konsequenzen und zunehmende Einschränkungen aufzeigt [11]. Eine wertschätzende Annahme ihrer Bemühungen und die daran anknüpfende Frage „Hilft es denn?“ sollen ihre Bereitschaft zur Veränderung fördern. Die ACT nennt diesen Prozess der Erarbeitung eines individuellen Störungsmodells „kreative Hoffnungslosigkeit“ [12]. Zentrale Begriffe der ACT Zwei Begriffe haben bei der ACT eine besondere Relevanz: Akzeptanz und Achtsamkeit. Unter dem Begriff der Akzeptanz wird das „Annehmen der augenblicklichen Situation ohne Gegen regulation und Bewertung“ verstanden [4]. Hier ist die Abgrenzung zum Begriff der Resignation, dem Aufgeben, ein erster Schritt in der psychotherapeutischen Arbeit. Achtsamkeit definiert sich als „absichtsvolle Art der Aufmerksamkeit, die auf den Moment gerichtet ist, ohne Bewertung“ [13]. Des Weiteren steht der Begriff „Psychische Flexibilität“ im Fokus der ACT. Diese umfasst sechs störungsrelevante Prozesse, die im therapeutischen Prozess aufgegriffen und gefördert werden. Sie können sowohl störungsaufrechterhaltende als auch chronifizierende Folgen haben (Abb. 1). Akzeptieren und innerlich bereit sein beschreibt das Gegenteil von Erlebensvermeidung. Aus der Haltung „vor sich selbst wegzulaufen/den Kopf in den Sand zu stecken“ wird ein Zulassen, ohne Vorgabe einer bestimmten Handlungsanweisung. Innere Bereitschaft könnte im Fall der Patientin bspielsweise bedeuten, „bei ihren Schmerzen zu sitzen wie bei einem kranken Freund“ oder „ihre Schmerzen zu betrachten wie ein faszinierendes Gemälde“. Unter „kognitiver Defusion“ versteht die ACT das Auflösen der Verschmelzung mit den eigenen Gedanken (Oberplänen und Lernerfahrungen), die wiederum Verhaltensweisen formen. Mit seinen Gedanken verschmolzen zu sein bedeutet, Gedanken wie „Ich bin nicht gut genug!“, „Ich kann das nicht aushalten!“ oder „Ich habe es nicht anders verdient!“ wortgetreu als wahrhaftig anzunehmen. Nicht die Verifikation oder Falsifizierung der Kognitionen steht im Behandlungsfokus, 29 Fortbildung sondern die Frage nach dem langfristigen individuellen Nutzen. Auf der Verhaltensebene bedeutet dies beispielsweise trotz unangenehmer Gedanken werteorientiert zu handeln. Ein starres Selbstkonzept hemmt Veränderungen. Sich Selbst als „Kontext oder Beobachterselbst“ zu sehen, bedeutet einen Perspektivenwechsel bezüglich innerer Konzepte über sich selbst und die Welt anzustreben. Erfahrungen werden dann als vorübergehender Teil von uns eingestuft und nicht als generelle Festlegung wie „Ich war schon immer unsportlich“ oder „Ich konnte es anderen nie Recht machen“. Genuine Empathie und Mitgefühl, die nicht auf ein Konzept des eigenen Selbst fixiert sind, werden hierbei geschult und gefördert. Ein „ja, aber…“ gilt als das Gegenteil von Commitment oder engagiertem, entschlossenem Handeln. Keine Entscheidung zu treffen, ist eine getroffene Entscheidung zur Passivität und zum Rückzug. Es gilt also, eine Wahl zu treffen und konsequent Schritte in die entsprechende Richtung zu gehen, immer mit der Bereitschaft, den Kurs jederzeit korrigieren zu können. Anhand von intrinsisch motivierten und gegenwartsorientierten Werten werden konkrete Ziele abgeleitet, wobei sich im Alltag wiederholt die Frage danach stellt, ob uns „dieses spezielle Verhalten den individuellen Werten näher bringt oder weiter davon entfernt?“ Werte wie „Ich möchte zufriedener leben“ geben unserem Leben eine Richtung, sie sind unkonkret und unvollendet, Ziele hingegen sind konkrete und erreichbare Zwischenstationen: „Ich möchte mir jeden Morgen 15 Minuten Zeit für Eigenübungen nehmen.“ Unter „Gegenwärtigkeit“ oder „im Hier und Jetzt präsent zu sein“ versteht die ACT ein „Innehalten zwischen Reiz und Reaktion“, um automatisch ablaufende und erlernte Reaktionsmuster, den „Autopilot“ zu verlangsamen, im Hinblick auf die eigenen Werte zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern – also zielorientiert umzuformulieren [4, 14]. Empirische Befunde Die Datenlage zur inkrementellen Validität bei der zusätzlichen Anwendung ACT-basierter Verfahren ist noch gering, jedoch zeigen erste Ergebnisse in Meta- 30 Akzeptanz und Achtsamkeit analysen zum Einsatz der ACT in der Psychotherapie eine vergleichbare Effektivität zu bisher angewendeten psychotherapeutische Verfahren, wie etwa der kognitiven Verhaltenstherapie [15]. Vowles et al. konnten bei der gesonderten Betrachtung von Patienten mit chronischen Schmerzen zeigen, dass eine Verbesserung der Lebensqualität, sowie ein Rückgang an subjektiven Einschränkungen und depressiven Symptomen zu beobachten war [16]. Daraus schlossen sie, dass die ACT eine gute Alternative zur Behandlung von chronischen Schmerzen darstellt. Nachweislich kann eine höhere Schmerzakzeptanz, verbunden mit der Reduktion komorbid bestehender Folgeerkrankungen wie Depressivität oder Angst erreicht werden. McCracken et al. haben zudem bei der wissenschaftlichen Prüfung des Chronic Pain Acceptance Questionnaire festgestellt, dass die innere Bereitschaft zur Schmerzakzeptanz signifikant (von 0,46 bis 0,80) mit den Kennwerten emotionaler und physischer Funktionalität der Schmerzpatienten korrelieren [8]. Demnach leiden Patienten bei entsprechender Bereitschaft zur Schmerzakzeptanz weniger unter Depressionen und weisen zudem funktionalere Coping-Strategien auf. Die ACT ist kein störungsspezifisches Therapieprogramm und kann somit flexibel und individuell eingesetzt werden, was sowohl die stationäre, die teilstationäre als auch die ambulante Psychotherapie betrifft. Fazit für die Praxis Eine offene Haltung des Therapeuten und die innere Bereitschaft des Patienten dienen als therapeutische Basis. Die ACT bietet eine Vielzahl an Metaphern und Übungen, die zur individuellen Therapie in Einzelgesprächen und Gruppentherapien Anwendung finden können. Im therapeutischen Prozess ist wiederholt Geduld, Zeit und Übung gefordert. Eine Veränderung automatisierter Reaktions- und Bewertungsmuster kann im stationären Setting allenfalls begonnen werden und stellt einen langfristigen Prozess dar. Nach unseren Erfahrungen kann im tagesklinischen Setting, das bei uns geschlossene Gruppen mit maximal acht Patienten beinhaltet, eher mit Elementen der ACT gearbeitet wer- den. Welche Anteile aus der kognitivverhaltenstherapeutischen, der dialektisch-behaviouralen und der ACT tatsächlich angewendet werden, hängt zum einen natürlich vom individuellen Störungsbild des Patienten, zum anderen auch von der Qualifikation des Therapeuten ab. Dr. med. Andreas Böger Chefarzt und Ärztlicher Leiter MVZ Rotes Kreuz Krankenhaus Kassel gGmbH Klinik für Schmerzmedizin Hansteinstrasse 29, 34121 Kassel E-Mail: [email protected] Christiane Braun Diplom-Psychologin Psychologische Psychotherapeutin Rotes Kreuz Krankenhaus Kassel gGmbH Linda Mehner Diplom-Psychologin Rotes Kreuz Krankenhaus Kassel gGmbH Literatur 1. http://www.schmerzklinik. de/2014/03/20/30-jahre-deutschen-gesellschaft-fuer-schmerzmedizin/ 2. http://schmerzliga.de/download/Dossier_ Schmerzliga.pdf 3. Arnold B, Brinkschmidt T, Casser H et al. Schmerz 2014;28:459 4. Eifert G. Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT). 1.Aufl. Hogrefe Verlag Göttingen; 2012 5. Scascighini L et al. Rheumatology (Oxford) 2008;47(5):670–8 6. Geuter U. (2016). Buchrezension: Wirkfaktoren der Achtsamkeit. Psychotherapeutenjournal 7. Bohus M, Wolf M. Interaktives SkillsTraining für Borderline-Patienten (DBT). 3. Auflage Schattauer Stuttgart; 2009 8. McCracken LM, Vowles KE, Eccleston C. Pain 2004;107(1-2):159–66 9. Hayes SC et al. Behav Res Ther 2006;44(1):1– 25 10. Turner JA et al. Pain Ebup 2016 May 31 11. Wengenroth M. Therapie-Tools Akzeptanzund Commitment-Therapie (ACT). Beltz Weinheim; 2012 12. Polk KL, Schoendorff B, Wilson KG. New Harbinger Oakland; 2014 13. Kabat-Zinn J. Im Alltag Ruhe finden: Meditationen für ein gelassenes Leben. Fischer Frankfurt; 2007 14. Wengenroth M. Das Leben annehmen. So hilft die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT). Huber Bern; 2008 15. McCracken LM, Sat A, Tylor GJ. J Pain 2013;14(11):1398–406 16. Vowles, McCracken &Zhao. Behav Res Ther 49 (2011):748-755 Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Fortbildung Übertherapie Intensivmedizin oder Palliativversorgung am Lebensende? Matthias Thöns, Witten Bei der Versorgung schwerstkranker Patienten am Lebensende steht leider nicht nur das Patientenwohl im Fokus. Auch wenn Therapie erfolg und Schmerzlinderung die Ziele der behandelten Ärzte sein sollten, verleitet der finanzielle Profit auch ohne Indikation häufig zur intensivmedizinischen Versorgung. D Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Neun Monate später kam es zu erneuten Bauchproblemen, nun wurde sogar gegen den Willen des Ehemanns operiert. Aufgrund eines erkennbar fortgeschrittenen Krebsleidens im Bauchraum wurde die OP abgebrochen und Karla Mit Beatmung lassen sich etwa 800 € pro Tag umsetzen, stationär sogar das Doppelte. ©© Oliver Berg / dpa/lnw ie mittlerweile 73-Jährige Rentnerin Karla hatte schon lange mit ihrer Demenz zu kämpfen und wurde mehr als liebevoll von ihrem Ehemann Heinz versorgt (Namen geändert). Im August 2014, zwischenzeitlich war Karla schwerst pflegebedürftig, inkontinent und aphasisch, traten Fieber und eine deutliche Bauchschwellung auf. Der Notarzt brachte sie in die Klinik, dort wurde ein blutendes Magengeschwür festgestellt. Es gab Komplikationen, eine längere Intensivbehandlung und ein bleibendes Atemversagen. Schließlich kam es zum Kreislaufstillstand. Trotz intensiver Gespräche konnte Heinz den Willen seiner Frau nicht durchsetzen, hatte sie sich doch zu gesunden Zeiten stets „Apparatemedizin“ verbeten, wenn Heilung nicht zu erwarten oder sie nur noch pflegebedürftig war. Das Ganze war sogar in einem Dokument festgehalten, leider aber nicht unterschrieben. So versuchte die Oberärztin in der Klinik dem sich immer heftiger gegen die Intensivbehandlung seiner Frau wehrenden Heinz die Gesundheitsvorsorge zu entziehen, dies allerdings lehnte das Betreuungsgericht ab. Doch mittlerweile war Karla in eine Beatmungs-WG verlegt, dort wurde die Intensivbehandlung fortgesetzt. Wieder und wieder kritisierte Heinz die fortlaufende Beatmung, „es gäbe aber keine Beweise, dass diese nicht dem Willen von Karla entsprächen,“ war die monotone Antwort der Ärzte. kontrolliert beatmet in die BeatmungsWG zurückverlegt. Als sich dort schwere Leidenszeichen zeigten, rief Heinz verzweifelt beim Palliativnetz an. Die diensthabende Fachschwester erkannte den Leidenszustand und setzte in Rücksprache mit dem Dienstarzt die notwendige Symptomkontrolle an. Als sie den betreuenden Intensivarzt der Einrichtung darüber informierte, verwies er das Palliativteam telefonisch des Hauses, er kümmere sich selbst um Karla, so seine Aussage. Da er jedoch nicht kam, meldete sich Heinz bereits am nächsten Mor- 31 Fortbildung Buchtipp Piper Verlag GmbH München 320 Seiten, 22,00 Euro ISBN: 978-3-49205776-9 Patient ohne Verfügung In seinem Buch „Patient ohne erfügung – Das Geschäft mit dem V Lebensende“ berichtet der Palliativ mediziner Dr. Matthias Thöns aus seiner jahrelangen Erfahrung von Fällen, in denen schwer Kranke intensiv behandelt werden, obwohl kein Therapieerfolg mehr zu erwarten ist. Übertherapie Bei Karla war schon für die erste In tensivbehandlung angesichts ihres Zu standes einer terminalen Demenz kein Therapieziel oder gar eine mutmaßliche Zustimmung zu erkennen. Dabei muss der Betreuer das Nichtvorliegen einer Einwilligung keinesfalls durch eine schriftliche Patientenverfügung bewei sen. Vielmehr heißt es im einschlägigen Gesetzestext (§ 1901a BGB): „Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der Be treuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreu ten festzustellen und auf dieser Grund lage zu entscheiden, ob er in eine ärztli che Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder sie untersagt.“ Der Patient ist kein Kunde gen erneut. Sofort eilte der Bereitschafts arzt zur WG und übernahm wunsch gemäß die Behandlung. Er setzte ledig lich den Intensivmediziner, der sich heftig wehrte, in Kenntnis und sorgte für die längst nötige Leidenslinderung. Da das Palliativteam Rechtsfolgen fürchtete, wurde am Folgetag eine Eil verfügung des Betreuungsgerichts er wirkt. Eine Indikation für die Beatmung, die eindeutig dem Willen von Karla wi dersprach, bestand schon lange nicht mehr. Dies wurde eingehend mit Heinz besprochen. Bevor die Beatmung unter der nun bereits notwendigen Vollnarko se beendet werden konnte, verstarb Kar la an den Folgen des Grundleidens. Wann darf der Arzt handeln? Die Aussage des Intensivarztes stellt die Grundlagen von Ethik und Recht auf den Kopf: Nicht das Nichtdurchführen eines Eingriffs bedarf einer Begründung, sondern die Durchführung bedarf zweier Voraussetzungen: 1.Es muss eine Indikation vorliegen. Das heißt der Arzt ist der Überzeu gung, dass durch die Maßnahme ein Therapieziel im Sinne des Patienten erreicht werden kann. 2.Der Patient muss nach Aufklärung (mutmaßlich) zustimmen. Fehlt nur eine Bedingung, handelt es sich um eine strafbare Körperverletzung. 32 Über wirtschaftliche Fehlanreize, Men genausweitung von Eingriffen und „Ausweitung der Indikationen“ sowie die Durchführung von nicht indizierten Eingriffen berichten die Bundesärzte kammer [1], die Bertelsmannstiftung [2], der Deutsche Ethikrat [3] und die Deut sche Gesellschaft für innere Medizin [4] in einem Positionspapier mit dem weg weisenden Namen: „Der Patient ist kein Kunde, das Krankenhaus kein Wirt schaftsunternehmen.“ Diese Thematik wächst seit Anfang des Jahrtausends zum Hauptproblem in der Versorgung Sterbender heran. Seit dem wurde das wirtschaftliche Risiko der Kliniken durch eine Änderung des Abrechnungsmodus auf die Klinik leitungen übertragen. Während früher die Kliniken, jeweils zum Jahresende, ihre Kosten vorrangig anhand der Verweildauer der Patienten geltend ma chen konnten (Kostendeckungsprinzip), wird durch das neue DRG-System (diagnosis related groups) auf der Basis eines Diagnosemix und anhand der durchgeführten Prozeduren ein Entgelt bestimmt: je schlimmer die Krankheit und je technischer der Eingriff, desto höher der Erlös. Über Bonusverträge werden leitende Ärzte an lukrativen Ein griffen oder am Klinikgewinn beteiligt. Dabei entsteht ein hoher Fehlanreiz bei Sterbenskranken möglichst umfang reiche Eingriffe durchzuführen. Mittlerweile schätzen namhafte xperten, dass die Hälfte der Sterben E den Opfer von Übertherapie sind [5]. Das bestätigt auch eine aktuelle Unter suchung: Bis zu 50 % der Patienten er halten nicht indizierte Untersuchungen, 28 % der Sterbenden werden sogar re animiert [6]. Sie sind oft nicht mehr in der Lage, ihren Willen kundzutun oder zu widersprechen. Selbst wenn ein Schwerkranker noch Herr seiner Sinne ist, so steht er nach der Diagnose einer schlimmen Krankheit unter „Diagno seschock“. Das ist vergleichbar mit ei nem hypnoseähnlichen Zustand, man ist also suggestibel [7]. Dementspre chend ist ein sterbenskranker Patient auch ein „Patient ohne Verfügung“. Und genauso lautet auch der Titel des Buchs [8] aus dem das hier vorgestellte Beispiel stammt (siehe Buchtipp). Demografischer Wandel ist keine Ausrede Mittlerweile verlagert sich die Intensiv medizin zunehmend in den häuslichen Bereich. Gab es 2003 nur circa 500 au ßerklinische Beatmungen, so waren es 2013 bereits 15.000 [9]. Die Erklärung der zuständigen Fachgesellschaft: „der demografische Wandel“ – wir sollen also 30-mal älter und kränker geworden sein? Aber es kommt noch schlimmer: jedes Jahr nimmt die Zahl der Heim beatmeten um 15 % zu, allein in Bayern stieg die Anzahl an Beatmungs-WGs im letzten Jahr um 22 % [10]. Hier werden mittlerweile 25–50 % der Gesamtkosten für die ambulante Pflege umgesetzt, längst ist dies sogar betragssatzrelevant [11]. Davon kann die ambulante Palliativversorgung nur träumen, trotz w iederkehrender politischer Lippenbe kenntnisse der Förderung werden für sie weniger als 0,2 % der Ausgaben inves tiert, Hausärzte arbeiten im Rahmen a llgemeiner Palliativversorgung an der Grenze der Ehrenamtlichkeit. Mit einer fingierten Patientenge schichte wurden 254 Beatmungseinrich tungen angeschrieben. Man suche für den vermeintlich wohlhabenden Onkel einen neuen Intensivpflegedienst, weil es bei dem aktuellen Versorger Probleme wegen einer der Behandlung entgegen stehenden Patientenverfügung gäbe. Das Ergebnis: Die überwältigende Mehr Schmerzmedizin 2016; 32 (6) heit hätte die als nicht indiziert und nicht gewünscht konstruierte Beatmung fortgesetzt. Weniger als 10 % der befragten Dienste widersetzten sich dem kriminellen Ansinnen [12]. Literatur 1. Wiesing U: „Ärztliches Handeln zwischen Berufsethos und Ökonomisierung. Das Beispiel der Verträge mit leitenden Klinikärztinnen und -ärzten“. Deutsches Ärzteblatt 110, Heft 38 (20.09.2013), S. A-1752 - A-1756 2. Bertelsmann Stiftung: Faktencheck regionale Unterschiede 2015. https://faktencheck-gesundheit.de/de/faktenchecks/regionale-unterschiede/ergebnis-ueberblick/ 3. Deutscher Ethikrat: Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus; www. ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahmepatientenwohl-als-ethischer-massstab-fuer-das-krankenhaus.pdf 4. DGIM: Der Patient ist kein Kunde, das Krankenhaus kein Wirtschaftsunternehmen. DMW 07/2015 http://www.dgim.de/portals/ pdf/Positionspapier_SchummDraeger_%C3%96konomisierung.pdf 5. Borasio GD: Faktencheck zur Sterbehilfe. Die Zeit vom 22.09.2015. www.zeit. de/2015/38/bundestag-sterbehilfe-diskussion-gesetzesentwuerfe 6. Cardona-Morell Met al. Non-beneficial treatments in hospital at the end of life: a systematic review on extent of the problem. Int J Qual Health Care. 2016;28(4):456–69 7. Cheek DB (1962) Importance of recognizing that surgical patients behave as though hypnotized. Am J Clin Hypn 4:227–236 8. Thöns M. Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebensende. Piper Verlag 2016 9. DIGAB: Stellungnahme der Deutschen Interdisziplinären Gesellschaft für Außerklinische Beatmung (DIGAB e.V.) zu den Ausführungen von Dr. Matthias Thöns aus Witten auf dem Bremer Palliativkongresses am 20. März 2015 www.digab.de/startseite/neuigkeiten/detailansicht/?tx_ttnews%5Btt_ news%5D=38&cHash=03 9186c1ab8257b93cca90fd9064d74b 10. Bayrisches Landesamt für Statistik 31.12.2015 11. Jaschke C, Jünke O, Demmel P: Leben in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft für Menschen mit Beatmung. Gepflegt durchatmen 07/2016 12. Thöns M, Putz W: Intensivmedizin - Angebot schafft Nachfrage. Der Niedergelassene Arzt 09 (2015) 97 Dr. Matthias Thöns Abteilung für Allgemeinmedizin Ruhr-Universität Bochum Wiesenstr. 14 58452 Witten [email protected] Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Leserbrief Keine Opioide und kein Diclofenac i.m. bei Nierenkolik Kritische Stellungnahme zur Aussage: Diclofenac i.m. ist zur Therapie einer Nierenkolik zu empfehlen. Nachzulesen in Schmerzmedizin 2016;32(4):7 im Beitrag „Nierenkolik: NSAR statt Opioid?“ Schon die Aussage in der Einleitung: Die gängige Praxis bei Nierenkoliken ein Opioid i.v. zu applizieren, stimmt nicht. Die weitere Aussage, ein Opioid ist offenbar nicht optimal zur Therapie einer Nierenkolik, ist richtig. Opioide verstärken eher die Intensität von Nierenkoliken. Bei keinem Opioid wird als Indikation Nierenkolik erwähnt und ist daher auch nicht zugelassen (off label use). NSAR haben als Indikation entzündliche und/oder degenerative Erkrankungen im Stützund Bewegungssystem [1]. Eine spasmolytische Wirkung fehlt. Gerade eine Spasmolyse ist neben der Analgesie bei Nierenkoliken dringend erforderlich. Nach langjährigen Erfahrungen einer Vielzahl von Hausärzten, Ärzten im Bereitschaftsdienst und Notärzten ist Metamizol 1–2 g langsam i.v. injiziert oder als Kurzinfusion appliziert Mittel der Wahl zur Behandlung von Nierenkoliken mit sehr guter Wirkung und Verträglichkeit. Metamizol senkt neben der guten analgetischen Wirkung auch den erhöhten intra luminalen Druck im Harnleiter, wirkt also zusätzlich spasmolytisch und zudem auch antinozizeptiv und ist daher Mittel der ersten Wahl bei starken Nierenkoliken [2, 3]. Verschiedene Studien konnten auch die Wirksamkeit von Diclofenac 75mg i.m. bei s tarken Nierenkoliken belegen [2, 4]. Jedoch gilt die i.m. Applikation von Diclofenac seit geraumer Zeit als obsolet. Das hohe Risiko durch Gewebeschäden am Injektionsort mit Abszessbildungen, Nekrosen, oft tödlicher nekrotisierender Fasziitis, foudroyanten Kokkensepsis, aber auch lebensbedrohlicher Anaphylaxie und einem 100-mal höheren Risiko pseudoallergischer Schockzustände kann bei weitem nicht den Vorteil eines schnelleren Wirkungseintritts gegenüber der oralen oder rektalen Anwendung auf wiegen [3, 5, 6, 7]. Nach der Fachinformation von Diclofenac wird die i.m. Injektion nur dann zugelassen, wenn eine orale oder rektale Applikation nicht möglich ist. Nach erfolgter Injektion ist eine einstündige Überwachung gefordert sowie die Vorhaltung eines funktionstüchtigen Notfallequipments [1]. Eine umfassende Aufklärung der Patienten vor einer Behandlung wird selbstverständlich gefordert. Als Nebenwirkungen werden Nierenkoliken und Harnwegsverengungen aufgeführt. Als Anwendungsbeschränkung gelten Koliken der Harnwege [1]. Überdies kann die Anwendung von Diclofenac bei vorbelasteten Patienten zum akuten Nierenversagen führen [8]. Gegen die Empfehlung im Schlusssatz im oben genannten Beitrag über die Therapie von Nierenkoliken: „NSAR i.m. sollten als Erstlinientherapie betrachtet werden (…)“ [9], kann man sich nur mit aller Entschiedenheit wehren. Referenzen 1. Fachinformation Diclofenac u.a. Rote Liste 2. Zwergel U et al. Schmerz 1998; 12 (2): 112-117 3. S2k – Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis der AWMF (043/025). www.awmf.org/uploads/tx sz_leitlinien/043-0251_s2k_uro 4. Marthak K V et al. Curr Med Res Opin 1991; 12 (6): 366 – 373 5. Arzneitelegramm 1997; 8: 87 6. Arzneitelegramm 1999; 9: 65 7. Arzneitelegramm Fachinformation zu Diclofenac- Injektionslösung 2000;31 (10): 85 8. Lee A et al. Cochrane Database Syst Rev 2007;(2)CD 002765 9. http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=1635 Dr. med. Winfried Hoerster Facharzt für Anästhesiologie Spezielle Schmerztherapie Gießen 33 Fortbildung Therapie chronischer Schmerzen Ernährung als wichtiges Element einer ganzheitlichen Schmerzmedizin Günther Bittel, Duisburg; Gabriele Wagner, Überlingen Die Korrektur von Übergewicht oder nutritiven Defiziten war und ist ein anerkanntes und elementares Therapieziel in der Allgemeinmedizin und besonders auch in der Schmerzmedizin. Der heutige Kenntnisstand geht jedoch weit über diese Teilziele hinaus. Gesunde Ernährung und Ernährungstherapie müssen als Basiselement einer ganzheitlichen Schmerzmedizin verstanden und genutzt werden – sie gehören in jedes multimodale Therapiekonzept. C hronische Krankheiten lassen sich, sieht man von den Tumor erkrankungen und genetischen Defekten ab, im Wesentlichen als chro nisch-degenerative oder chronisch-ent zündliche Krankheiten definieren. In der Realität liegt meistens eine Mi schung beider Prozesse vor: Der durch schnittliche Schmerzpatient bringt ne ben seinen orthopädischen, rheumato logischen und psychosomatischen Krankheitsprozessen oft auch ein „inter nistisches Polytrauma“ mit. In Deutsch land gibt es nicht nur 23 Millionen Men schen mit chronischen Schmerzen, son dern auch 7 Millionen Diabetiker und 35 Millionen Menschen mit Bluthoch druck. Jeweils über 20 % der Deutschen leiden an Angststörungen oder Depres sionen. 56 % der Frauen und 69 % der Männer sind übergewichtig, bei den Kindern und Jugendlichen ebenfalls schon über 20 %. Umwelt- und Gesundheitsbewusst sein sind bei vielen Menschen durchaus geschärft und gewachsen: Millionen wollen fit werden, gehen in teure Sport studios, treiben Vereinssport, sind Kleingärtner oder betreiben „Urban Gardening“, kümmern sich um eine ge sunde Ernährung und versuchen sich an Diäten. ©© © CITAlliance/Getty Images/iStockphoto Eine frische, pflanzliche Ernährung kann dabei helfen das Leiden von Schmerzpatienten zu verringern. 34 Prägend ist aber ein Massen- und Fehlkonsum von Zucker, Weißmehl, tie rischen Fetten und Eiweiß sowie ein aus geprägter Mangel an Ballaststoffen, wichtigen Mikronährstoffen und sekun dären Pflanzenwirkstoffen. Im Durch schnitt werden in Deutschland pro Kopf pro Jahr 44 kg Zucker, 90 kg Fleisch und Wurst und 11 Liter reinen Alkohol kon sumiert. Täglich 161 Gramm Fett mit ei nem hohen Anteil an tierischen Fetten und gesättigten Fettsäuren begünstigen eine durchschnittliche Energiezufuhr, die bei etwa 180 % der empfohlenen Ka lorien-Menge liegt. Sekundäre Pflanzenwirkstoffe Stressoren, die chronische Schmerz krankheiten befeuern, sind vielfältig. Neben physikalischen und chemischen Belastungen spielen auch biologische Aspekte wie das Mikrobiom des Darms eine große Rolle (Abb. 1). Viele Nah rungsmittel sind heute chemisch belas tet und erfahren durch die dominieren den großtechnischen Agrarmethoden und die industrialisierte Lebensmittel produktion eine Entwertung, was zum Mangel an sekundären Pflanzenstoffen führen kann (Tab. 1). Deren elementare Bedeutung für die menschliche Gesund heit wurde erst in den letzten Jahren wis senschaftlich entschlüsselt und belegt. Das Curcumin in Gelbwurz (Curcuma) wirkt antientzündlich, antiparasitär und antitumorigen, wird als Einzelsubstanz aber schlecht resorbiert. Erst durch die Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Nahrungsmittelintoleranzen Etwa 20 % der Deutschen sind Laktoseintolerant. Neben der seltenen frühkindlichen Manifestation steht bei der größten Gruppe nach der Kindheit das Ferment Laktase im Dünndarm nicht mehr ausreichend zur Verfügung. Etwas seltener sind Intoleranzen gegen Fruchtzucker und Sorbit. Die Histaminintoleranz entsteht durch eine Minderfunktion des Histamin-Abbauenzyms Diamino-Oxidase. Solche Intoleranzen führen nicht nur zu Blähungen, Bauchschmerzen und Durchfall, sie können auch Kopfschmerzen, Weichteilschmerzen, Ausschläge und über Entzündungsprozesse im Darm auch Infektionen im ganzen Körper hervorrufen. Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Nahrungsmittelallergien Die Bedeutung der Darmflora Es gibt Nahrungsmittelallergien vom Soforttyp (Typ1-Allergie, IgE-vermittelt), aber auch verzögert ablaufende Nahrungsmittelallergien (IgG4-vermittelt, Typ3, oder zellulär vermittelt, Typ4). Antikörpertests im Blut oder LymphozytenTransformationstests geben Hinweise auf Nahrungsmittelallergien. Die Diagnose darf aber nur gestellt werden, wenn sie durch eine Weglass- und eine nachfolgende Provokationsdiät doppelt bestätigt wurde. Deshalb lassen wir die Patienten über sieben Tage synchrone Ernährungs-, Reaktions- und Schmerztagebücher führen. Eventuell erforderliche Weglassdiäten verlangen eine sorgsame Ernährungsberatung, um nutritive Mangelsituationen zu vermeiden. Eine ganzheitliche Therapie erforscht immer die Störung des Milieus der Zellen, die eine solche Entwicklung überhaupt erst möglich gemacht hat. Es gibt aus der mikrobiologischen Grundlagenforschung wichtige Hinweise, dass bei einer intakten Darmflora eine Nahrungsmittelallergie gar nicht erst entstehen kann, weil der Schutzgitterschmierfilm der Darmbakterien großvolumige Proteine gar nicht passieren und zur Resorption kommen lässt. _Nicht-ionisierende Strahlung _elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder _Infrarot, sichtbares Licht, UV _Ionisierende Strahlung _Hitze-Kälte _Erschütterungen _Infraschall _Lärm physikalisch 100 Billionen Darmbakterien mit einer Masse von bis zu 2 kg erbringen eine erstaunliche Leistung für die menschliche Gesundheit. Man spricht zu Recht von „Symbiose“ und „Symbionten“, weil wir ohne diese Hochleistungs-Biofabrik überhaupt nicht existieren könnten. Nicht nur Verdauungsleistungen oder Produktion von Vitaminen wie Vitamin K erfolgen durch die freundlichen Darmbewohner, sie erbringen auch eine erstaunliche immunologische Leistung. Da der Darm mit etwa 10.000 Quadratmetern Gesamtoberfläche – zählt man alle Zotten, Villi und Mikrovilli mit – die größte Kontaktoberfläche des Menschen zur Umwelt bildet, ist es nur logisch, dass 70 % des Lymphknotensystems darmassoziiert sind. Mit unserer Nahrung ernähren wir auch unsere Darmflora. Fördert die Ernährung die „freundlichen“ Darmbakterien, spricht man von präbiotischer Therapie. Die langwierige Zufuhr lebender Darmbakterien wird dagegen als probiotische Therapie bezeichnet. Eine ballaststoffreiche, vegetarisch betonte, biologische Vollwertkost ist ideal für eine gesunde und vielschichtige Darmflora. _Zahnersatzmaterialien und Implantate _Rückstände in Lebensmitteln _Rauche und Abgase _Stoffe/Chemikalien in _Wasch- und Putzmitteln _Kosmetika und Duftstoffen _Baustoffen und Möbeln _Druckerzeugnissen _Farben _Desinfektionsmitteln _Medikamenten chemisch _Teppichwaren _Textilien etc. Stressoren _Bakterien _Viren _Pilze _Parasiten _Allergene _Pollen _Schimmelpilze _Hausstaub/Mehlstaubmilben _Tiere/Haustiere _Schaben biologisch psychosozial _Traumatisierung _Emotionale Konflikte _Soziale Konflikte _Tag-Nacht-Rhythmus ©© Mod. nach Institut für Medizinische Diagnostik Berlin-Potsdam Zugabe von Piperipin aus dem Pfeffer werden ausreichend hohe Resorptionsquoten erreicht. Eine solche Mischung finden wir in der Gewürzmischung Curry. Dieses Beispiel belegt eindrucksvoll, wie traditionelle Ernährung und Erfahrungsmedizin bereits wissenschaftliche Erkenntnisse antizipierten. Durch eine frische, pflanzlich betonte Vollwertkost, reich an Kräutern, Beeren, Sprossen, Rohkost und Pilzen können sich Patienten die breite Palette der pflanzlichen Wirkstoffe erschließen und davon gesundheitlich erheblich profitieren. Eine besondere Bedeutung haben dabei die Öle. Bei der Verwendung von hoch ungesättigten Fettsäuren (frühere Bezeichnung Vitamin F) muss besonders für eine ausreichend hohe Zufuhr an Omega-3-Fettsäuren (entzündungshemmend) und die richtige Relation zu den Omega-6-Fettsäuren (entzündungsfördernd) gesorgt werden. Dies gelingt am besten durch Hochseefisch aus kalten Gewässern, der aber wegen der Schwermetallbelastung und notwendiger Restriktion tierischer Eiweiße und Fette höchstens einmal pro Woche verzehrt werden sollte und über bestimmte Pflanzenöle. Hier bietet das Leinöl den höchsten Gehalt an Omega-3-Fettsäuren, ferner Rapsöl und Walnussöl, die am besten gemischt mit kaltgepresstem Olivenöl verzehrt werden sollen. Vom Erhitzen der Pflanzenöle mit einem hohen Anteil ungesättigter Fettsäuren ist dringend abzuraten, weil dabei toxische Peroxide entstehen. Abb. 1: Stressoren, die chronische Schmerzkrankheiten beeinflussen. (Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Volker von Baehr, Institut für Medizinische Diagnostik Berlin-Potsdam MVZ GbR, und der Kurparkklinik Überlingen) 35 Fortbildung Pathologische Darmbakterien, überschießende Mengen an Gärungs- und Fäulnisbakterien und pathologischen Hefepilzen wie Candida albicans werden dagegen durch eine Nahrung mit viel Zucker, Weißmehl, tierischen Fetten und Proteinen gefördert. Bei schweren Störungen der Darmflora (Dysbiose) ist eine probiotische Therapie notwendig und hilfreich, immer aber in Verbindung mit einer entsprechenden Ernährungstherapie. Moderne wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigen die Rolle des Magen-Darm-Trakts als Zentralorgan der Inflammation. Über Milliarden neuronaler Verbindungen steht das „Enteritische Nervensystem“ (ENS), das vier bis fünfmal so viele Neurone wie das Rückenmark besitzt, mit dem Zentralen Nervensystem (ZNS) in ständiger Verbindung. Nicht nur das ZNS diktiert dem Bauch den Takt, was aus der Psychosomatik hinreichend bekannt ist. Man findet etwas „zum Kot- Ernährung in der ganzheitlichen Schmerzmedizin zen“, „schluckt den Ärger herunter“, hat „Schiss“. Auch die Gegenrichtung funktioniert beeindruckend: So haben Stresssignale aus dem Magen-DarmTrakt einen erheblichen Einfluss auf unser Gehirnsowie auf das vegetative Nervensystem und spielen eine entscheidende Rolle für unseren Gemütszustand! Chronischer Stress und Entzündung im Darm führen zu einer gestörten Immunleistung, zur nutritiven Fehlversorgung der Zellen, damit zu oxidativem und nitrosativem Stress und zur Störung der Mitochondrienfunktion. Dies resultiert zwangsläufig in einer Neuroinflammation mit Schlafstörungen, Erschöpfung, Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Schwindel und Kopfschmerzen. Die Wiederherstellung einer freundlichen Darmflora und der Harmonie in den Verdauungsfunktionen bekommt so ganz schnell auch eine schmerzlindernde sowie antidepressive Wirkung. Umweltgifte reichern sich an 80.000 Chemikalien wurden mehr oder weniger unkontrolliert in den letzten Jahrzehnten auf Mensch und Umwelt losgelassen. Das umstrittene MonsantoAckergift Glyphosat wurde bei einer Reihenuntersuchung von 2.000 Probanden bei fast allen im Urin nachgewiesen, bei vielen in bedenklichen Konzentrationen. Nur ein Beispiel von vielen. Über die Nahrungskette reichern sich die überwiegend fettlöslichen Umweltgifte an und erreichen im tierischen Fett und in Milchprodukten die höchsten Konzentrationen – bis sie sich im menschlichen Organismus erneut anreichern, dort vor allem im Fettgewebe und fetthaltigen Organsystemen wie dem ZNS oder den endokrinen Organen. Pflanzliche Produkte aus nicht-biologischem Anbau sind bereits mehr oder weniger deutlich mit diversen Chemikalien belastet. Die höchste Gefahr droht beim Verzehr von industriellem Fast- Tab. 1: Sekundäre Pflanzenwirkstoffe Verbindungen Vorkommen Wirkung Carotinoide Farbstoff in gelb-orangem und grünblättrigem Gemüse und Obst wie Möhren, Kürbis, Tomaten, Grünkohl, Blattsalat, Broccoli, Spinat, Aprikosen schützen vor schädlichen Oxidationen und Herzinfarkt, stärken das Abwehrsystem, hemmen die Krebsentstehung Glucosinolate Geschmackstoffe in Rettich, Kresse, Senf und allen Kohlarten beugen Infektionen vor, hemmen die Krebsentstehung Phytoöstrogene in Sojabohnen, Getreide, Kohlgemüse und Leinsamen beugen hormonabhängigen Krebsarten wie Brust-, Gebärmutter-, Prostatakrebs aber auch Dickdarmkrebs vor Phytosterine in Samen wie Sonnenblumenkernen, Nüssen, Sesam und in kalt gepressten Ölen verringern das Dickdarmkrebsrisiko, senken den Cholesterinspiegel Polyphenole Flavonoide in der Schale von rotem, violettem und gelbem Obst und Gemüse wie Kirschen, Beeren, Äpfeln, Rotkohl, Kartoffeln und gelben Zwiebeln schützen vor Infektionen, hemmen die Krebsentstehung, verringern das Dickdarmkrebsrisiko Phenolsäuren in den Randschichten von Getreide, Nüssen, aber auch in Tee und Kaffee hemmen das Wachstum von Bakterien und Viren, schützen vor schädlichen Oxidationen und Herzinfarkt Proteaseinhibitoren in eiweißreichen Pflanzen wie Hülsenfrüchten, Kartoffeln, Getreide beugen Krebs vor Saponine in Hülsenfrüchten wie Sojabohnen und Kichererbsen senken den Cholesterinspiegel, stärken die Abwehrkräfte, verringern das Dickdarmkrebsrisiko Sulfide schwefelhaltige Substanzen in Knoblauch, Zwiebeln und Lauch beugen Infektionen vor, senken den Cholesterinspiegel, schützen vor schädlichen Oxidationen, beeinflussen die Blut gerinnung, beugen Herzinfarkt vor, hemmen das Krebsrisiko Terpene Aromastoffe in Pfefferminze, Zitronen, Kümmel, Sellerie senken das Krebsrisiko Ballaststoffe in allen Obst- und Gemüsesorten, Getreide, Hülsenfrüchte und Samen senken den Cholesterinspiegel, beugen Darmkrebs vor, regulieren den Blutzuckerspiegel Milchsäurebakterien in Sauermilchprodukten wie Dickmilch, Joghurt, Buttermilch aber auch in Sauerkraut verringern das Dickdarmkrebsrisiko, stärken das Immunsystem, beugen Durchfallerkrankungen vor Mit freundlicher Unterstützung der Kurparkklinik Überlingen, Fachklinik für Ernährungsmedizin (Leiter Herrn Dr. Gunter Hölz und Ernähurngsberaterin Frau Dipl.Ing. Gabriele Wagner) 36 Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Food und Fertignahrung, sowie dem Konsum von Schweinefleisch und Geflügel aus industrieller Massentierhaltung. Besorgniserregend ist, dass Großmäster und Veterinärmediziner bereits Reserveantibiotika wie zum Beispiel Colistin einsetzen, die eigentlich Intensivstationen vorbehalten sind. Nicht nur Antibiotika, auch Hormone, Wachstumsfaktoren und Psychopharmaka werden in der Massentierhaltung eingesetzt. Das Futtergemisch aus industriellem Mais- und Sojaschrot bewirkt gegenüber dem natürlichen Grasund Kräuterfutter für Kühe eine Entwertung der Produkte und ist oft schadstoffbelastet. Nicht nur die zu großzügige Massenanwendung von Antibiotika in der Humanmedizin schädigt die menschliche Darmflora, auch der unbemerkte „LowDose“-Konsum über entsprechend belastete Nahrungsmittel führt beim Menschen zu Störungen der Darmflora und Resistenzen oder Unverträglichkeiten gegenüber Antibiotika. Neben der individuellen Aufforderung der Patienten zur Umstellung auf eine biologische, pflanzlich betonte Vollwerternährung zur Minderung der eigenen Belastung mit Schadstoffen, müssen allgemein wirksame umwelt- und gesundheitspolitische Forderungen zur Reduktion der „chronischen Volksvergiftung“ durchgesetzt werden. Dieser Begriff wurde von Professor Harry Rosin, ehemaliger Hygieniker, Mikrobiologe und Virologe an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf geprägt. Rosin hat sich nicht nur als Umweltmediziner, sondern auch durch die Erfindung des Greenfreeze-Kühlschranks und des Kryorecyclings (als unschädliche Alternative zur Müllverbrennung) große Verdienste erworben. qualifizierte stationäre Rehabilitation. Einleuchtend ist, dass Adipositas die Bewegungsarmut verstärkt, zu zahlreichen Folgekrankheiten (metabolisches Syndrom) und zu Sekundärschäden wie Arthrosen der lasttragenden Gelenke und Schädigungen der Wirbelsäule führt. Aber auch neuropsychiatrisch sind die Auswirkungen erheblich: Müdigkeit, Hirnleistungsminderung, Depression, Schlafapnoe und Schlafstörungen. Chronisch Schmerzkranken mit Adipositas können wir nicht helfen, wenn wir dieses Krankheitsbild ausklammern oder uns in moralischen Standpauken ergehen. Hier ist die Aufklärung wichtig, dass Sonderdiäten nur zu kurzfristigen Scheinerfolgen, langfristig aber über den „Jojo-Effekt“ zu Schäden führen mit dem Resultat einer immer schlechteren organischen Körperzusammensetzung, vor allem durch die Abnahme der Muskelmasse und der Strukturproteine. Deswegen helfen nur eine nachhaltige und lebenslange Kostumstellung und eine Be- wegungstherapie. Ein hoher Anteil an Ballaststoffen und eine große Trinkmenge sorgen trotz negativer Kalorienbilanz für ein ausreichendes Sättigungsgefühl (Abb. 2). Neben der einleuchtenden Logik, dass Ausdauertraining und zumutbare sportliche Betätigung die Kalorienbilanz weiter verbessert, ist gezielte medizinische Trainingstherapie zum Erhalt und Verbesserung der Muskulatur dringend erforderlich. Dazu zählt nicht nur Gerätetraining, sondern auch Wassergymnastik, Aerobic und Pilates. Wassergymnastik und Nordic Walking können auch Adipositas-Patienten mit chronischen Rückenschmerzen oder Gelenkschmerzen relativ gut durchführen. Besondere Trainingsgruppen („Schneckengruppen“) sollten in Absprache mit einem qualifizierten Anbieter im Netzwerk des Schmerzzentrums gebildet werden, weil Schmerzpatienten mit Adipositas in sportlich orientierten Trainingsgruppen überfordert sind und sofort demotiviert aufgeben würden. Nach der Definition der WHO spricht man ab einem BMI von über 30 von Adipositas als eigenständiges Krankheitsbild. Leider verweigern deutsche Sozialversicherungsträger diesem Krankheitsbild zum Teil immer noch die notwendige Anerkennung und medizinische Hilfe wie Ernährungstherapie, Bewegungstherapie, Psychotherapie und Schmerzmedizin 2016; 32 (6) ©© Mod. Kurparkklinik Überlingen Adipositas: ein eigenständiges Krankheitsbild Abb. 2: Ernährungspyramide mit der Anzahl der Portionen pro Tag für einen Erwachsenen. 37 Fortbildung Ernährung in der ganzheitlichen Schmerzmedizin Allgemeine Empfehlung für eine gesunde Ernährung bei Schmerzpatienten Täglich Trinken: 6 Gläser Wasser (bei Hitze 1–2 Liter mehr), 2–3 Tassen Kräutertee Basis der Ernährung: „Take Five“: 5 x am Tag „eine Handvoll“ aus dem Bereich Salat, emüse, Obst, Rohkost (2 x Obst) G Fette und Öle: 1–3 Esslöffel Leinöl (nie erhitzen!), zum Braten ausgelassene Butter ( Butterreinfett) oder Kokosfett. Olivenöl kann zum Dünsten (80–90 °C) verwendet werden, sollte jedoch nie zum Braten (ab 130 °C) verwendet werden. Ansonsten Öl mischung aus Olivenöl, Leinöl, Walnussöl verwenden, jedoch nur kalt. Vielversprechende Umweltmedizin Generell Wertvolle (langsam frei gesetzte, vollwertige) Kohlenhydrate verwenden - keinen Industriezucker, kein Weißmehl! Gute Kohlenhydrate sind (basisch und glutenfrei): Kartoffel, Hirse, Linsen, Reis, Quinoa, Buchweizen. Sekundäre Pflanzenwirkstoffe sind neben Vitaminen und Mineralstoffen unverzichtbar für unsere Gesundheit! Regelmäßig zu verwenden: Pilze, Kräuter (Bärlauch, Schnittlauch, Petersilie, Dill etc.), Curcuma (Curry), Ingwer, Polyphenole, wie in Paprika, Tomate, Heidelbeeren, Himbeeren, Johannisbeeren. Vorsicht oder weglassen! Wurst und rotes Fleisch: gar nicht - Käse: wenig - Eier: wenig - Geflügel: wenig - Milchprodukte: wenig Kunststoffe Biozide Pilze Metalle ©© Mod. nach Institut für Medizinische Diagnostik Berlin-Potsdam Bakterien Viren An großen Patientenkollektiven ließ sich nachweisen, dass 30 Minuten Ausdauersport täglich nach vier Monaten einen vergleichbaren antidepressiven Effekt hat wie Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, aber langfristig viel besser auf das Körpergewicht und die allgemeine Gesundheit wirken. Unter Triggerfaktoren werden in der Umweltmedizin alle Faktoren verstanden, die an unterschiedlichen Stellen, aber mit einer sehr einheitlichen Wirkung den Teufelskreis aus chronischer Entzündung, oxidativem und nitrosativem Stress weiter anheizen und damit zu einer nachhaltigen Störung der Bereitsstellung der Zellenergie führen: zu einer Mitochondriopathie. Psychischer Stress, Viren, Umweltgifte wie Schwermetalle und Pestizide und viele mehr verbinden und durchdringen sich hier in unheilvoller Weise (Abb. 3). Neue chronische Massenkrankheiten wie das Fibromyalgiesyndrom, das chronische Müdigkeitssyndrom und multiple Chemikalienempfindlichkeit können vor diesem Hintergrund überhaupt erst als chronische Multisystemkrankheiten mit „Silent Inflammation“ verstanden werden. Psychische Traumaten Industriegifte Lösungsmittel EMF Mercaptane/Thioether Weichmacher Nahrungsmittel + Nitrosativer Stress Nitrotyrosin ↑ Gestörte Funktion von Treg-Zellen iNOS ↑ Superoxid ↑ Peroxynitrit ↑ Mitochondriopathie ATP ↓ Oxidativer Stress MDA-LDL ↑ Entzündung TNF-α ↑ IFN-γ ↑ ↑ Histamin gestörte Immuntoleranz TH2 -Dominanz Entwicklung weiterer Sensibilisierungen TH1/TH2-Quotient ↓ Treg-Zellen↑ TGF-β ↑ Abb. 3: Triggerfaktoren „stören“ die Immuntoleranz, wobei der Circulus vitiosus aus chronischer Entzündung, oxidativem/ nitrosativem Stress sowie Mitochondriopathie die „Brücke“ bildet. (Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Volker von Baehr, Institut für Medizinische Diagnostik Berlin-Potsdam MVZ GbR) 38 Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Schmerzmedizinische Konzepte, die naturheilkundliche, damit auch ernährungstherapeutische, umweltmedizinische, physiotherapeutische und psychotherapeutische Ansätze sinnvoll kombinieren, haben eine hohe Relevanz. Diese ganzheitlichen Ansätze sind heute längst der belächelten Ecke einer „AußenseiterMedizin“ entsprungen. Sie sind inzwischen naturwissenschaftlich abgesichert und belegt. Was wäre die Alternative? Die Patienten würden lange Zeit mit Pharmaka behandelt mit Konsequenzen wie Darmträgheit, Müdigkeit, kognitive Störungen, hormonelle Störungen, Libidostörungen, Gewichtszunahme. Die physiotherapeutischen Einzelanwendungen (rationiert durch Budgetzwänge) sind phasenweise sicher ebenso nötig, schaffen aber keine dauerhafte durchgreifende Veränderung. Bleibt noch das Lotteriespiel, irgendwo einen geeigneten Psychotherapeuten zu finden. Dieser wird nach einer in der Regel 12-monatigen Wartezeit eine Behandlung beginnen, die oft die Schmerzproblematik gänzlich ausklammert oder losgelöst vom Konzept des Schmerztherapeuten in eine wiederum willkürliche Richtung agiert. Salutogenetische Strategien müssen darüber hinausgehen und den Patienten im Bewusstsein erziehen, dass er selbst Wesentliches verändern und et- was für sich und seine Gesundheit tun muss und kann! Fazit für die Praxis Die gegenwärtige Konfiguration des Gesundheitssystems sieht ganzheitliche Gruppenangebote in Ernährungsmedizin, Bewegung, Konditions- und Krafttraining und Psychosomatik gar nicht vor. Schmerzzentren müssen sich momentan mühevoll ihre eigenen Netz werke aufbauen und darum kämpfen, entsprechende Maßnahmen bei der zentralen Zertifizierungsstelle der Krankenkassen für Prophylaxe-Maßnahmen registrieren zu lassen. Sowohl in der schmerztherapeutischen Aus- und Weiterbildung als auch in der täglichen Praxis muss gegen bürokratische Hindernisse die Symbiose aus Schmerzmedizin, Ernährungsmedizin/Naturheilkunde und moderner Umweltmedizin gefördert und auch in breitem Umfang durchgesetzt werden. 3. Das Antikrebs-Buch, David Servan-Schreiber, Kunstmann 4. Darm mit Charme, Giulia Enders, Ullstein 5. Der Darm denkt mit, Klaus-Dietrich Runow, Südwest 6. Bauchhirn: http://www.hs-furtwangen.de/ willkommen/aktuelles/aktuelleseinzelansicht/3021-forschungsprojekt-unser-bauchhirn-verstehen.html 7. Umwelt-Medizin-Gesellschaft Ausgabe 1 und 2/2016, Forum Medizin Verlagsgesellschaft 8. Deutsche Gesellschaft für Ernährung, www.dge.de 9. Powerfood – Lustvoll schlemmen mit bioaktiven Substanzen, Professor Claus Leitzmann, Helmut Million, Gräfe und Unzer (GU) Weiterführende Literatur 1. Lehrbuch Integrative Schmerztherapie, Herausgeber Lorenz Fischer / Elmar T. Peuker, Haug Verlag, S.312-327 (V.Zettl, G.Wagner, G.Hölz) 2. Chronische Erkrankungen integrativ, Herausgeber G.Dobos, U.Deuse, A.Michalsen. Urban&Fischer, S.352-368 (Christiana Pithan, Andreas Michalsen) Dr. med. Günther Bittel Leiter des regionalen DGS-Schmerzzentrums Duisburg Facharzt für Anästhesiologie und Allgemeinmedizin/Spezielle Schmerztherapie/Akupunktur Krefelder Str. 26, 47226 Duisburg Dipl.Ing. Gabriele Wagner Hochschule Albstadt- Sigmaringen Leiterin Ernährungslehre und -beratung und Lehrküche der Kurparkklinik Überlingen Erratum Erratum zum Beitrag: Sicherheitsstandards für die Lokal- und Regionalanästhesie Winfried Hoerster, Schmerzmedizin 2016;32(5):22–29 DOI: 10.1007/s00940-016-0178-8 In Tabelle 6 ist das Medikament Dabigatran versehentlich den Faktor Xa Inhibitoren zugeordnet worden. Richtig ist aber Dabigatran ein Thrombin Faktor IIa Inhibitor. Dabigatran wird neben der Thromboseprophylaxe im Rahmen großer Operationen auch zur Schlaganfallprophylaxe bei nicht valvulärem Vorhofflimmern eingesetzt. Dabigatran ist ein Prodrug und wird abhängig von Leberund Nierenfunktion verstoffwechselt. Zudem müssen zahlreiche Medikamenteninteraktionen beachtet werden. Routinemonitoring der Gerinnung wird nicht empfohlen, bei operativen Eingriffen und interventionellen therapeutischen Regionalanästhesien muss die Gerinnungssituation abgeklärt werden. Sensitiv ist die Thrombinzeit, die unter Dabigatran dosisabhängig verlängert wird. Die Thromboplastinzeit (Quick, INR- Tests) ist zum Monitoring nicht geeignet. Im Zweifelsfall, etwa bei Niereninsuffizienz, sollte der Plasmaspiegel von Dabigatran bestimmt werden. Schmerzmedizin 2016; 32 (6) ktuell steht auch ein Dabigatran-Inhibitor zur Verfügung: IdaruciA zumab wurde von der EMA inzwischen zugelassen. Literatur www. pharmazeutische-zeitung.de Simon L et al. Dtsch.Med. Wochenschr 2014;139:94–8 Dr. med. Winfried Hoerster Facharzt für Anästhesiologie, Spezielle Schmerztherapie Mozartstraße 5, 35392 Gießen E-Mail: [email protected] Zitierweise des Erratums: Hoerster W. Sicherheitsstandards in der Lokal- und Regionalanästhesie. Schmerzmedizin 2016;32(6):39 DOI: 10.1007/s00940-016-0414-2 39 DGS c G Im c Auftrag rzm z n der V www dgschm rzmediz n.de Schmerzfreiheit Die wichtigsten Ziele der DGS: — Förderung der Schmerzmedizin in Forschung und Lehre — Entwicklung von Standards für die Aus-, Fort- und Weiterbildung in Schmerzmedizin — Entwicklung von Qualitätsstandards in der Schmerzmedizin — Weiterbildung auf allen Gebieten der Schmerzdiagnostik und -therapie — Qualitative und quantitative Verbesserung der schmerzmedizinischen Patientenversorgung — Förderung der palliativmedizinischen Versorgung — Aufbau eines nationalen und internationalen Netzwerkes Schmerz medizin — Versorgungsforschung im Bereich der Schmerzmedizin — Gründung regionaler Schmerz zentren und Schmerzkonferenzen — Wissenschaftliche und fachliche Beratung und Unterstützung von Ärzten, Psychologen und allen Berufsgruppen in der Patienten versorgung — Wissenschaftliche und fachliche Beratung von öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Kostenträgern, Politik und Öffentlichkeit — Flächendeckende schmerzmedizinische Versorgung durch Etablierung eines Facharztes für Schmerzmedizin Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. Geschäftsstelle: Heike Ahrendt Adenauerallee 18, 61440 Oberursel Telefon: 06171 286061, Fax: -286069 E-Mail: heike.ahrendt@ dgschmerzmedizin.de Vorstand: Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe (Präsident) Dr. med. Oliver Emrich (Vizepräsident) Dr. med. Johannes Horlemann (Vizepräsident) Klaus H. Längler (Vizepräsident) Dr. Silvia Maurer (Vizepräsidentin) PD Dr. med. Michael A. Überall (Vizepräsident) www.dgschmerzmedizin.de 40 Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. DGS aktuell Schmerzmedizin – trübe Aussichten? I have a dream … Das war der Auftakt der berühmten Rede von Martin Luther King am 28. August 1963, die er vor mehr als 250.000 Menschen vor dem Lincoln Memorial in Washington D. C. hielt. Damals ging es um etwas, das bis heute nicht vollständig realisiert ist: die Gleichberechtigung der Menschen und die Chancengleichheit unabhängig von der Hautfarbe und der sozialen Herkunft. Mir kam dieser Satz in den Sinn, weil er Aufbruch signalisierte, Solidarität und Zukunftsvision und einen Auftrag formulierte zur Veränderung und Verbesserung in gesellschaftlichen Belangen. Solche Visionen sollten aber nicht nur für den großen gesellschaftlichen Kontext gelten, sondern auch für die alltäglichen Nöte und Sorgen der Menschen. Chronisch Schmerzkranke und Palliativpatienten beispielsweise stellen einen Ansatzpunkt dar, an dem weitere Verbesserungen nun wirklich notwendig wären. In Deutschland ist die Versorgung noch vergleichsweise gut geregelt. Wir klagen auf hohem Niveau. In anderen Ländern, vor allem in den Staaten der sogenannten dritten Welt oder Schwellenländern ist die Versorgung nur marginal oder überhaupt nicht gegeben, auch wenn es dort angemeldete nationale Chapter der IASP (International Association for the Study of Pain) geben sollte. Konkrete Versorungsstrukturen? Die Morgenröte der organisierten „Verfassung“ einer versorgenden Schmerztherapie begann mit Dr. John J. Bonica, (ebenfalls) in Washington, als er 1973 die IASP mit begründete, einen Kongress zu Schmerz ins Leben rief, einen Lehrauftrag an der Universität für Schmerztherapie bekleidete, und vor allem als er das erste interdisziplinäre „Pain Treatment „Solche Visionen sollten aber nicht nur für den großen gesellschaftlichen Kontext gelten, sondern auch für die alltäglichen Nöte und Sorgen der Menschen.“ Dr. med. Oliver Emrich Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. Center“ gründete. Dieser Aufbruch in eine organisierte Schmerztherapie war der Startschuss für viele nationale Initiativen, die letztendlich in die Gründung von Fachgesellschaften mündeten. In Deutschland formierte sich 1975 die DGSS (Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes, zuletzt umbenannt in Deutsche Schmerzgesellschaft) und 1984 die DGS (Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin, vormals StK, Schmerztherapeutisches Kolloqium). Man kann sich über die Wortfindungen und die Tatsache, dass es zwei Fachgesellschaften gibt, natürlich trefflich streiten, letztendlich transportieren die Protagonisten und das Selbstverständnis der Gesellschaften wissenschaftliche Ergebnisse in den praktischen Versorgungsalltag von Schmerzund Palliativpatienten. Diese Entwicklung führte dazu, dass auch die Versorgungstrukturen und -inhalte für die Patienten konkret formuliert und definiert werden konnten. 1984 erreichte die DGS/StK eine erste Schmerztherapie-Vereinbarung, 1996 wurde auf der Qualitätsbasis der DGS Algesiologen-Zertifikate die Zusatzbezeichnung „spezielle Schmerztherapie“ eingeführt. 2005 wurde die „Schmerztherapie“ eine verbriefte Leistung Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. www.dgschmerzmedizin.de im einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM), also in dem Verzeichnis, auf das alle gesetzlich Krankenversicherten in der Versorgung Anspruch haben. Die Kompensation der Ärzte für ihre Leistung ist darin in Euro-Beträgen ausgewiesen und man könnte meinen, damit wäre nun endgültig geregelt, dass alle Patienten ausreichend behandelt würden und die Ärzte ihr gerechtes Honorar für die erbrachte Leistung bekämen. Flickenteppich der Versorgung Leider eine Mogelpackung, denn die Kassenärztlichen Vereinigungen haben das Verteilungs- und Kontrollrecht über die tatsächlichen Arzthonorare (HVMHonorarverteilungsmaßstab) und die Qualitätsprüfung. Dadurch ist in Deutschland mittlerweile ein Flickenteppich an Versorgungsinkongruenzen entstanden und niemand weiß, wie dies aufzulösen wäre. Die Anzahl an Patienten, die einem einzelnen Schmerztherapeuten zugestanden wird, damit er nach der EBM-Ziffer 30704 Schmerzzentrum sein kann, schwankt ab 300 pro Quartal und ist nach oben hin offen. Außerdem werden die Saläre der Leistungen gemäß dem Leistungsverzeichnis häufig abgestaffelt und sind also de facto gar keine Euro-Beträge, wie ausgewiesen. In der GOÄ gibt es schon gar keine festen Regeln bezüglich der Abrechnung und Leistungserbringung schmerztherapeutischer Leistungen. Da ist es kein Wunder, dass es unter diesen Voraussetzungen kein überbordendes Interesse daran gibt, Schmerztherapeut zu werden. Hört man in die Anästhesie-Abteilungen der Kliniken, ist es nicht der erste Wunsch der jungen Kollegen in die Schmerz therapie-Abteilung versetzt zu werden. Da locken OP, Emergency Room und Notfall- oder Intensivmedizin viel eher. Und wie soll der Nachwuchs für die Schmerztherapie motiviert werden? Es sei erlaubt, bezüglich der Weiterentwicklung der Schmerztherapie eher pessimistisch in die Zukunft zu blicken. Zwar emanzipiert sich die Schmerz therapie zusehends von der Anästhesie. Allgemeinärzte, Orthopäden, Internisten und Neurologen sind durch die Zusatzqualifikation ebenfalls Schmerz therapeuten und die Zeiten, in der die Schmerztherapie ein angeborener Teil Schmerzmedizin 2016; 32 (6) der Anästhesie wäre, sind klar erkennbar vorbei. Aber eine Aufbruchstimmung, vergleichbar der in den 1970er-Jahren, ist nur schwerlich zu erkennen, auch wenn Studenten nun die Querschnittsfächer Palliativmedizin und Schmerztherapie obligat absolvieren müssen. Die Wörter „obligat, „absolvieren“ und „müssen“ sind bewusst so von mir gewählt, denn auf die Begeisterung für ein solch wichtiges und für Behandler und Patienten häufig so befriedigendes Fachgebiet käme es eigentlich an. Schon jetzt ist es schwierig Schmerztherapie-Praxen weiterzugeben, ganz ähnlich den Problemen der allgemeinärztlichen Versorgung auf dem „flachen Land“. Es ist schlicht und ergreifend wenig attraktiv Schmerztherapeut zu sein und zu werden, und auf Augenhöhe anerkannt mit den anderen Fachdisziplinen ist die Schmerztherapie bislang nicht. Wir sind nämlich ganz weit entfernt von der vielleicht wichtigsten Lösung des Problems: einem Facharzt für Schmerzmedizin. Wer möchte schon Guru und letzter EndVersorger von Patienten sein, wenn alle anderen Fachdisziplinen versagt haben: „Sie sind austherapiert“ – „Herr Doktor, Sie sind meine letzte Rettung“. Wir müssen dringend wieder ein Bewusstsein für den hohen Auftrag an die Schmerztherapie wecken und junge Mediziner dafür begeistern. I have a dream … Es fehlt an Standards In Deutschland müssen 23 Millionen Menschen, davon 2,8 Millionen schwerst Schmerzkranke, speziell schmerztherapeutisch versorgt werden. Klar ist, die Schere zwischen den zu Versorgenden und den qualifizierten Versorgern klafft, vielleicht entwickelt sie sich sogar noch weiter auseinander. Denn die Qualifikationen der Versorger und die Strukturen, in denen sie arbeiten, sind so unterschiedlich, dass es sehr schwierig ist, einen einheitlichen Standard zu definieren. Auch der gemeinsamen Kommission der Fachverbände DGSS, DGS, IGOST und des Berufsverbandes BVSD ist dies zuletzt nicht recht gelungen. Dabei wäre es so einfach: An der Basis müsste der Hausarzt, ähnlich der Fachkunde Palliativmedizin, eine Fachkunde Schmerztherapie praktizieren dürfen, für die er sich qualifizieren könnte und dafür ein Honorar bekommen würde. Dafür müsste er die „Basics“ der Schmerzanalyse (Dokumentation und Verlaufsbeobachtung) und der Schmerztherapie kompensiert umsetzen (dürfen). Die DGS hat hier schon von Anbeginn der Definitionen und Standards eine solche Fachkunde definiert und für ihre Mitglieder Qualifikationen geprüft. Erreichen kann man bei uns eine verbandsinterne „Fachkunde (Schwerpunkt) Schmerztherapie“. Der nieder gelassene spezielle Schmerztherapeut in einer Schwerpunktpraxis, einem Regionalzentrum DGS (oder vergleichbar), wäre dann anschließend oder begleitend der pluripotente Spezialversorger mit Kenntnissen in der inneren Medizin, der Pharmakologie, der neuro-orthopädischen Untersuchung, der manuellen Medizin, der diagnostisch-t herapeutischen Lokal- und Leitungs anästhesie, der Akupunktur, der psychosomatischen (Grund-)Versorgung, vielleicht sogar auch der Homöopathie und anderen Randgebieten. Auch müsste er obligat vernetzt sein mit Physio- und Psychotherapeuten, die erklärtermaßen kooperieren, oder sogar diese wichtigen Versorgungen in der Einrichtung vorhalten. I have a dream ... Träumen aber muss erlaubt sein, nämlich davon, was alles besser sein könnte. Der schmerzliquidierende Allgemeinarzt, der abgesicherte Facharzt für Schmerzmedizin, es wäre so einfach, aber ob das durchgesetzt werden kann? Ich bin skeptisch, aber die Hoffnung, so sagt man, stirbt zuletzt … Dr. med. Oliver Emrich Deutscher Schmerzpreis 2017 Der Deutsche Schmerzpreis 2017 wird im Rahmen des Deutschen Schmerzund Palliativtages verliehen, der vom 22. bis 25. März 2017 in Frankfurt/Main stattfinden wird. Er wird von der Firma Mundipharma gestiftet und ist mit 10.000 € dotiert. Nominierungen und Bewerbungen werden bis zum 30. November 2016 bei der DGS-Geschäftsstelle angenommen. Die Wahl erfolgt durch eine unabhängige Jury und den wissenschaftlichen Beirat. 41 DGS Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. Geschichte der Schmerztherapie Wie wir wurden, was wir sind Der Schmerzmedizin kommt zunehmend mehr Beachtung zu. Dies war jedoch nicht immer so. Bis zur Emanzipation war es ein langer Weg, der noch nicht abgeschlossen scheint. ©© C. Schiller / fotolia.com —zwölfmonatige ganztägige Weiterbil dung in einer zugelassenen Schmerz abteilung —Nachweis der Durchführung spezifi scher Verfahren —Verwendung einer standardisierten Exploration und Dokumentation mit standardisierter Anamnese inklusive Aussagen zur Chronifizierung und zum Ausmaß der psychosomatischen Auswirkungen (Deutscher Schmerz fragebogen, iDocLive®) —Schmerzanalyse und Differenzial diagnose —Erstellung eines Therapieplans mit Festlegung der Therapieziele —Multidisziplinär in Diagnose und The rapie und Teilnahme oder Durchfüh rung von monatlichen interdisziplinä ren Schmerzkonferenzen mit Patien tenvorstellung. Hippokrates war der Ansicht, dass Schmerzen durch ein Ungleichgewicht der humoralen Säfte hervorgerufen werden. D ie Schmerztherapie ist zu einem eigenständigen, etablierten und wissenschaftlich fundierten Me dizinbereich der „Versorgung (chro nisch) schmerzkranker Patienten“ ge wachsen. Man könnte denken, dies sei schon länger so, aber erst seit zehn Jah ren ist die „Schmerztherapie“ eine der „Arztgruppen übergreifenden allgemei nen Leistungen“ im Kapitel 30.7 des Ka talogs der kassenärztlich abrechenbaren Leistungen des EBM in Deutschland. Dieses Kapitel wurde 2005 implemen 42 tiert und umfasst die heute etablierten allgemeinen und speziellen schmerz therapeutischen Methoden, wie sie in der Qualitätssicherungsvereinbarung dazu beschrieben sind. Darin festgelegt ist im Wesentlichen wer als Schmerz therapeut gilt, welche Voraussetzungen er erfüllen und welches Tätigkeitsspek trum er obligat abdecken muss: —Zugang für alle klinischen Fachgebiete —Curriculare Qualifikation in einem 80 Stunden-Kurs —psychosomatische Grundversorgung Emanzipation der Schmerzmedizin Im Kanon der medizinischen Professio nen (Hausarzt/Facharzt) bleibt die spe zielle Schmerztherapie oder Schmerz medizin jedoch eine Zusatzbezeichnung zum klinischen Fach und ist nach wie vor keine eigenständige Facharztbe zeichnung. 1996 wurde die Zusatzbe zeichnung „Spezielle Schmerztherapie“ vom Deutschen Ärztetag Addendum zu den klinischen Fächern hinzugefügt (12 Monate WB zusätzlich zur Facharzt WB, 80 Stunden Curriculum). Seit 2003 ist der Weg zur Zusatzbezeichnung an das (Muster-) Logbuch „Zusatz-Weiterbil dung Spezielle Schmerztherapie“ der Bundesärztekammer gebunden. 2012 wurde die Schmerzmedizin als Querschnittsfach in die Approbations ordnung der Ausbildung von Medizin studenten aufgenommen. Damit sind die Universitäten erstmals verpflichtet, dieses Fach strukturiert in die Lehre auf Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. www.dgschmerzmedizin.de zunehmen und Studenten darin auszubilden und zu prüfen. Damit sollen das Wissen angehender Mediziner in der Schmerztherapie besser strukturiert und Berufsanfänger dafür motiviert werden. Traditionell ist die Geschichte der speziellen Schmerztherapie mit dem Fach Anästhesie verbunden, das ebenfalls erst seit etwa 60 Jahren als eigene Facharztdisziplin anerkannt und implementiert ist. Zunehmend emanzipiert sich die Schmerztherapie aber von der Anästhesie und auch Allgemeinärzte, Internisten, Orthopäden und Neurologen akkreditieren sich in diesem Bereich. Derzeit haben sich drei Fachgesellschaften etabliert: —Die 1975 gegründete Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS). Sie ist seit 2012 in Deutsche Schmerzgesellschaft (DSG) umbenannt und zählt etwa 2.500 Mitglieder, die in der großen Mehrheit Anästhesisten sind und die traditionell eher aus dem klinischen universitären und Forschungsbereich kommen. —Die 1984 gründete sich die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS), vormals StK (Schmerztherapeutisches Kolloquium). Ihre etwa 4.000 Mitglieder sind mehrheitlich Allgemeinmediziner/ Internisten, danach Anästhesisten, Neurologen; traditionell eher aus dem niedergelassenen und klinischen Versorgungsbereich. —Der interdisziplinären Gesellschaft für orthopädische Schmerztherapie (IGOST) gehören etwa 1.000 Mitglieder, mehrheitlich Orthopäden, an. Da Doppelmitgliedschaften nicht die Regel sind, kann man somit sogar sagen, dass bis zu 7.000 Medizinern in den Fachgesellschaften der Schmerzmedizin Deutschlands organisiert und engagiert sind, was man sich vor 40 Jahren kaum hätte vorstellen können.DSG und DGS veranstalten je einen eigenen Jahreskongress, den Deutschen Schmerzkongress, traditionell jährlich im Oktober in Mannheim, sowie den Deutschen Schmerz- und Palliativtag, traditionell jährlich im März in Frankfurt. Die berufspolitischen Interessen vertritt der Berufsverband der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Deutschland e.V. (BVSD) in Berlin (etwa 600 Mitglieder). Die antike Schmerzmedizin Die Geschichte der Schmerztherapie, des Verständnisses der Schmerzent stehung und der Behandlungsoptionen reicht weit zurück, denn der Schmerz ist eines der grundlegenden Gesundheitsthemen seit Anbeginn der Menschheit. Überlieferte Aufzeichnungen über Schmerz und Schmerztherapie fanden sich auf den Schiefertafeln der Babylonier, den Papyrusrollen der Ägypter, persischen Lederschriften, Inschriften in Griechenland, Pergamentrollen der Trojaner und in der Bibel, dem Koran und anderen religiösen Schriften. Die Behandlung durch Handauflegen ist wohl die älteste Form der Schmerztherapie und findet sich bereits in steinzeitlichen Höhlenzeichnungen. Unsere Urahnen kannten die „Druckanalgesie“ und die physikalische Wirkung von Wasser, Wind, Kälte und Feuer. Schmerz, wenn nicht durch sichtbare Verletzung hervorgerufen, wurde bösen Geistern oder Giften zugeschrieben, die man beschwören, ausleiten oder exorzieren musste. Schamanen, Heiler, Medizinmänner sind in manchen Kulturen heute noch bekannt, häufig wurden auch Frauen besondere Heilkräfte zugesprochen. Geheilt wurde mit bestimmten R iten und durch als wirksam überlieferten pflanzlichen Mitteln. In den weiter entwickelten Gesellschaften des Altertums „glaubte“ man an durchaus unterschiedliche Schmerzmechanismen und vertraute dabei weiter auf sich lange bis ins Mittelalter und darüber hinaus tradierte Behandlungsformen. Die alten Ägypter dachten, dass Schmerzen, die nicht durch Verwundung zu erklären waren, durch Götter wie den Sonnengott Ra oder Seht, den Gott des Chaos bewirkt werden. Auch die Vorstellung, dass die Geister der Verstorbenen, die nachts durch Nase oder Ohr in den Körper drängten, Schmerzen auslösen, war verbreitet. Sie glaubten an ein Gefäßnetzwerk, das die Lebensenergie zum Herz führe, schließlich konnte man über dieses Gefäßsystem Mumien auch haltbar machen. Buddhisten und Hinduisten im alten asiatischen Raum, besonders in Indien waren dagegen viel mehr davon überzeugt, dass ein Ungleichgewicht von unangenehmen Emotionen Schmerz hervorruft. Sie dachten aber auch, dass das Herz im Zentrum stünde. Im alten China wurde Schmerz als ein Ungleich gewicht von Körperkräften im System der Meridiane verortet und die Therapie über die Beeinflussung von spezifischen Punkten auf diesen Energielinien praktiziert. Eine Methode, die sich bis heute erfolgreich hält und sogar in kontrollierten Studien nach heutigem Wissenschaftsverständnis einen Wirksamkeitsnachweis erbrachte. Im alten Griechenland hatte man ebenfalls Kenntnis von den Gepflogenheiten anderer und Vorläufer-Kulturen. Pythagoras (566–497 v. Chr.) bereiste beispielsweise vieler dieser Länder. Die Ähnlichkeiten der Auffassungen sind evident: Hippokrates (460–370 v. Chr.) auf dessen Eid bis heute alle Ärzte verpflichtet sind, glaubte dass ein Ungleichgewicht der humoralen Säfte Schmerz hervorruft. Am Nachhaltigsten bis in die in die Renaissance hinein war aber das Krankheitsbild des Aristoteles (384– 322 v. Chr.), der das Herz im Zentrum aller Sinne sah. Das Gehirn, glaubte er, kühle lediglich das heiße, aus dem Herzen aufsteigende Gefühl, den Schmerz. Seine Nachfolger und Schüler, kamen aber schon zu der Erkenntnis, dass das Gehirn ein Teil des Nervensystems und dass die Nerven für Sensorik und Motorik über die Neuroaxis verbunden seien. Herophilos werden die ersten wissenschaftlichen Obduktionen am Menschen zugeschrieben, die wesentlich zur Kenntnis des Gehirns beitrugen. Im alten Rom war Celsus (25 v. Chr. – 50 n. Chr.) der erste, der die Entzündung im heutigen Sinne mit den Kennzeichen Schwellung, Röte, Hitze und Schmerz beschrieb. Einen Bezug zu den Erkenntnissen von Herophilus stellte er aber noch nicht her. Erst Galen (129–200 n. Chr.) erinnerte sich im späten Rom an diese Theorien und forschte unter Marc Aurel am Nervensystem. Er war der erste, der klare Beschreibungen der Anatomie des zentralen und peripheren Nervensystems als auch des vegetativen Nervensystems erstellte. Er klassifizierte weiche Nerven für das Gefühl, harte Nerven für die Motorik und eine dritte 43 DGS Art von Nerven, die für Schmerz zustän dig sein sollten. Über allen Sinnen stand bei ihm das Gehirn. Trotzdem schaffte es das Modell des Aristoteles, bei dem das Herzen das Zentrum für alle Sinne, auch des Schmerzes, darstellte für 23 Jahrhunderte alle anderen teils außer ordentlich exakten Beschreibungen des sen, was wir heute wissen zu dominieren, damit auch die Therapie. Die Entwicklung hin zur Moderne Im Mittelalter standen die Forschung und damit die Fortschritte der Schmerz medizin quasi still. In dieser Zeit etab liert sich die arabische Medizin als Schrittmacher. Avicenna (980–1037 n. Chr.), besser bekannt als Ibn Sina (Ka non der Medizin) in Persien, beschrieb die Wirksamkeit von peroral zugeführ ten Anästhetika. Im 12. Jahrhundert wurde der Kanon ins Lateinische über setzt. Das Werk, von dem 1470 im ge samten Abendland 15–30 lateinische Ausgaben existierten, galt bis ins 17. Jahrhundert als wichtiges Lehrbuch der Medizin. 1493 erschien es in Neapel in einer hebräischen Fassung, 1593 wurde es als eines der ersten persischen Werke in Rom in arabischer Sprache gedruckt. 1650 wurde der Kanon zum letzten Mal an den Universitäten von Löwen und Montpellier benutzt. Trotzdem dominierte weiter die Auf fassung von Aristoteles, sie wurde aber längst nicht mehr von allen geteilt. In der Renaissance (15.–16. Jhd.) kam es zu detaillierteren Einsichten in die Funkti on des Nervensystems. Rene Decartes (1596–1650) war der erste, der das abge stufte Nervensystem als Ort der Entste hung von Schmerzen beschrieb. Im frühen 19. Jahrhundert etablierte sich eine Forschung auf dem Gebiet der Schmerzphysiologie im heutigen Sinne, verbunden mit Namen, wie Charles Bell (1774–1842) und François Magendie (1783–1855). Das sogenannte Magendie und Bell-Gesetz formulierte die Er kenntnis der funktionellen Trennung der vorderen und hinteren Spinalner venwurzeln. Friedrich Sertürner (1783– 1841) entdeckte das „Morphin“ indem er Morphium aus Roh-Opium isolierte. Francis Rynd (1801–1861) und Alexan der Wood (1817–1884) erfanden die Hohlnadel und Spritze, eine unermess 44 Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. lich bedeutsame Entdeckung für die Entwicklung der Schmerztherapie. Die organsierte Schmerztherapie als eigenständiger Forschungsgegenstand und Profession entwickelten sich aber erst langsam seit den 1970er-Jahren. 1974 wurde die IASP (International Association for the Study of Pain) unter ihrem ersten Präsident John J. Bonica in den USA gegründet. Seine Vision war die Installation einer internationalen, interdisziplinären Schmerzforschung und Schmerztherapie. Bald darauf, 1976 gründete sich die deutsche Sektion der IASP, die DGSS (seit 2012 DSG). Die IASP hat heute über 7.000 Mitglieder in aller Welt. Forschung und Kongresse waren das eine. Die Implementierung einer eigen ständigen Schmerztherapie im ambu lanten und stationären Bereich durch dazu berufene ärztliche Protagonisten und die Anerkennung der Schmerzthe rapie als eine besondere und weiterfüh rende Expertise das andere. In den frü hen 1980er-Jahren begannen deshalb Pioniere im niedergelassenen Bereich nur noch Schmerzpatienten zu behan deln und nicht mehr ihrer ursprüngli chen Profession aus der sie stammten, die Anästhesie. Die ersten „Schmerztherapeuten“ nach gegenwärtiger Definition in Deutschland waren unter anderem Chi rurgen. Nach dem 2. Weltkrieg bettete die neue Fachrichtung der Anästhesis ten ihre Möglichkeiten der „Blockie rung“ von Schmerzimpulsen in ein the rapeutisches Konzept ein. Inzwischen verlässt die Schmerzmedizin das Kon zept der Dominanz der Anästhesie und wächst in ein Konzept des Zusammen wirkens multiprofessioneller Bestandtei le eines Therapiegebäudes für schwierige Fälle chronischer Schmerzerkrankun gen hinein. Die Schmerzmedizin etab liert sich zunehmend als eigenständiges Fach im Kanon der ärztlichen Speziali sierungen. Kein Weg führt deshalb vor bei an der Anerkennung eines Facharz tes für Schmerzmedizin. Literatur beim Verfasser SanRat Dr. med. Oliver Emrich, Ludwigshafen Einladung zur Mitgliederversammlung der DGS Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitglieder, zu der ordentlichen Mitgliederversammlung im Rahmen des 28. Deutschen Schmerz- und Palliativtages 2017, möchte ich Sie recht herzlich einladen. Datum: Mittwoch, 22. März 2017 ab 18:15 Uhr Ort: Congress Center Messe Frankfurt Ludwig Erhardt Anlage 1 60327 Frankfurt/Main Raum Fantasie 1 + 2 Tagesordnung: 1. Eröffnung 2. Tätigkeitsbericht des Vorstands 3. Vorstellung Geschäftsbericht DGS 2016 4. Bericht der Rechnungsprüfer 5. E ntlastung des Vorstands für das Jahr 2016 6. S atzungsänderung: Verlegung des Vereinssitzes nach Berlin 7. Verschiedenes Die Mitgliederversammlung ist eingebunden in den Deutschen Schmerzund Palliativtag 2017, der vom 22. bis 25. März 2017 im Congress Center Messe Frankfurt stattfindet. Ich freue mich, Sie in Frankfurt am Main begrüßen zu können. Mit freundlichen Grüßen Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe Präsident Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. Zu TOP 6: § 1 der Satzung bisher: § 1 Name und Sitz (1) Der Verein führt den Namen „Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V.“. (2) E r hat seinen Sitz und Gerichtsstand in Oberursel. (3) D er Verein ist im Vereinsregister eingetragen; er ist vom Finanzamt als gemeinnützig anerkannt. Vorschlag zur Satzungsänderung: § 1 Name und Sitz (1) Der Verein führt den Namen „Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V.“. (2) E r hat seinen Sitz und Gerichtsstand in Berlin. (3) D er Verein ist im Vereinsregister eingetragen; er ist vom Finanzamt als gemeinnützig anerkannt. Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. www.dgschmerzmedizin.de DGS-Schmerzzentrum am Krankenhaus Wangen Individuelles Therapiekonzept für jeden Patienten Zum Klinikverbund der Oberschwabenklinik gehört bereits seit zwei Jahrzehnten das regionale Schmerzzentrum Wangen. Dieses bietet seinen Patienten sowohl ambulant als auch stationär eine umfassende individualisierte Schmerztherapie. D as regionale Schmerzzentrum Wangen ist am Krankenhaus Wangen des Klinikverbundes der Oberschwabenklinik (OSK) im Landkreis Ravensburg angesiedelt. Es umfasst eine Schmerzambulanz sowie einen stationären Bereich. Mit 15 Betten ist es das größte bettenführende Schmerzzentrum der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS) in BadenWürttemberg. Im Jahre 2015 feierte das von Dr. Stefan Locher geleitete Schmerzzentrum sein 20-jähriges Bestehen. Die Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen hat eine lange Tradition am Krankenhaus Wangen. Bereits seit über 25 Jahren widmen sich die Ärzte dort diesem wichtigen Gebiet der Medizin. Seit 1995 ist es als Regionales Schmerzzentrum der DGS anerkannt. Seit mittlerweile elf Jahren ist die Klinik Teil des Regionalen Schmerzzentrums Ravensburg/Wangen in Kooperation mit der Klinik für Anästhesie, Intensiv-, Notfall- und Schmerzmedizin des Krankenhauses St. Elisabeth (OSK) in Ravensburg, den SINOVA Kliniken sowie dem Zentrum für Psychiatrie. Durch die jahrzehntelange Erfahrung in der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen ist das Team um Dr. Stefan Locher in der Lage, ein umfangreiches und stets individuelles Behandlungsspektrum, das ständig erweitert wird, anzubieten. Die Behandlung mit Botulinumtoxin bei Migräne wird seit 2013 erfolgreich angewandt. Auch die Entzugstherapie bei übermäßi- gem oder falschem Gebrauch von Medikamenten gehört zum Standardrepertoire. Dr. Stefan Locher ist außerdem Chefarzt der Klinik für Anästhesie, Intensiv-, Notfall- und Schmerzmedizin am Krankenhaus. Die insgesamt elf Fachärzte seiner Klinik mit Zusatzbezeichnung für Spezielle Schmerzmedizin betreuen auch die Patienten des Schmerzzentrums. Im Schmerzzentrum Wangen werden jährlich rund 1.500 Patienten behandelt. Etwa 500 von ihnen werden stationär aufgenommen. Individuelles Behandlungskonzept Eine Schmerzkrankheit kann viele Ursachen haben. Man spricht heute von einem biopsychosozialen Problem des chronischen Schmerzes. Es ist deswegen wichtig, bei der Behandlung die individuellen Krankheitssymptome zu erkennen und den Körper, die Seele sowie die Folgen der Schmerzkrankheit zu behandeln. „Um aktiv gegen den Schmerz vorgehen zu können, versucht unser Team gemeinsam mit den Patienten ein Konzept einer speziell auf ihn abgestimmten Schmerzbehandlung zu erstellen“, erklärt Locher. Bei allen chronischen Schmerzen werden eine interdisziplinäre Diagnostik in enger Kooperation mit den verschiede- DGS-Schmerzzentren stellen sich vor Pain Nurse Natascha Köhler setzt auch komplementäre Methoden wie Aroma therapie und Kräuterwerkstatt ein. Schmerzmedizin 2016; 32 (6) In den regionalen DGS-Schmerzzentren erhalten Betroffene eine wirksame und kompetente Schmerzbehandlung. Ob Fachärzte für Anästhesiologie, Allgemeinmedizin und Innere Medizin mit den Zusatzbezeichnungen spezielle Schmerztherapie, Akupunktur oder Naturheilverfahren, ob Physiotherapeuten, Osteopathen oder Psychotherapeuten – nur die berufsgruppenübergreifende Vernetzung zwischen allen an der Behandlung von Schmerzpatienten beteiligten Akteuren, kann die Versorgung unserer Patienten langfristig verbessern. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS) ist bundesweit in 129 regionalen DGS-Schmerzzentren organisiert, in denen interdisziplinäre Schmerzkonferenzen veranstaltet werden. In unserer neuen Rubrik „DGS-Schmerzzentren stellen sich vor“ haben die Leiter eines DGS-Schmerzzentrums die Möglichkeit, sich und Ihr Team vorzustellen. Was ist das Besondere eines solchen Zentrums? Welche Schmerzkrankheiten werden behandelt? Welche Fachrichtungen werden abgedeckt? Worauf ist das Zentrum spezialisiert? 45 DGS Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. Das Team des Schmerzzentrums Wangen: Dr. Jürgen Ruf, Bernd Harrer, Chefarzt Dr. Stefan Locher, Helmut Beck und Eva Huber (von links). Adressen und Kontaktdaten des Schmerzzentrums Wangen Schmerzzentrum Wangen Krankenhaus Wangen Am Engelberg 29 88239 Wangen Patienten mit Tumorerkrankungen Tel: 07522/96-1376 Fax: 07522/96-1511 Weitere Informationen zum regionalen Schmerzzentrum Wangen u nter http://www.www.oberschwabenklinik.de nen Fachdisziplinen sowie eine multi modale Schmerztherapie durchgeführt. Diese umfasst den Einsatz medikamen töser Verfahren, psychologischer Ver fahren und Nervenblockaden sowie den Aufbau und die Stärkung der Muskula tur. Die Ärzte des Schmerzzentrums set zen alle bewährten Verfahren der Schmerztherapie ein – immer individu ell abgestimmt auf den einzelnen Patien ten. Die zum Schmerzzentrum gehören de Psychologin ist hier ab dem ersten Schritt involviert. Im Mittelpunkt stehen bei der multi modalen Schmerztherapie aktivierende Behandlungsformen. Die Schmerzthera peuten bieten dazu ein abgestuftes, indi viduelles Konzept an, das aus folgenden Bausteinen besteht: Trainingstherapie, 46 ernden Schmerzen nach Bandscheiben operationen, Folgestadien eines komple xen regionalen Schmerzsyndroms (Mor bus Sudeck), Schmerzen bei Gefäß erkrankungen oder bei Schmerzen bei Spastik der Muskeln zum Einsatz. Im Schmerzzentrum Wangen werden unter anderem bildwandler- oder ultraschall kontrollierte diagnostische und thera peutische Blockaden, Rückenmarks elektrostimulation (Spinal Cord Stimu lation), Dorsalganglienstimulation, Blo ckaden unter computertomografischer Kontrolle sowie die Behandlung mit Schmerzpumpen (extern oder implan tiert) eingesetzt. Diese Therapieformen setzen direkt am Ort der Schmerzentstehung oder am Nerv, der die Schmerzsignale an das Ge hirn weiterleitet, an. Eine Möglichkeit ist Medikamente zur Schmerzbehandlung oder zur örtlichen Betäubung einzubrin gen, eine andere, mit schwachen elektri schen Impulsen zu arbeiten. „Durch die se Behandlungen kann eine sichere und nachhaltig anhaltende Schmerzredukti on bei deutlicher Zunahme der Lebens qualität erreicht werden“, so Locher. Physiotherapie, Entspannung, Musik therapie, Aromatherapie, medika mentöse Behandlung, interventionelle Schmerztherapie und Patientenschu lung sowie psychologische Betreuung. „Alle diese Behandlungsformen sollen dazu dienen, den Patienten wieder an ei nem selbstbestimmten Leben teilneh men zu lassen. Die Schmerztherapie kann ambulant oder stationär erfolgen und ist gezielt auf die Bedürfnisse der Patienten abgestimmt“, erklärt der Lei ter des Schmerzzentrums. Verbesserte Lebensqualität als Ziel Ein wesentlicher Schwerpunkt der Ab teilung ist die interventionelle und neuromodulierende Schmerztherapie: Diese kommt zum Beispiel bei andau Bei onkologischen Patienten werden Symptome wie Atemnot, Erbrechen, Übelkeit und andere den Patienten stark belastende Symptome behandelt. Ein wesentliches Ziel dabei ist, alle Patienten so zu betreuen, dass die Schmerzen deutlich reduziert werden oder ganz ver schwinden. Besonders bei Menschen mit Tumorerkrankungen kommen starke Medikamente sowie therapeutische Ver fahren wie Schmerzkatheter und -pum pen zum Einsatz. Diese Patienten wer den auch ambulant in enger Zusammen arbeit mit der Brückenpflege Clinic Home Interface (CHI) sowie den nieder gelassenen Ärzten weiterbetreut. CHI ist der ambulante Palliativversorger der OSK, der als Teil der spezialisierten am bulanten Palliativversorgung (SAPV) Tumorpatienten und kranke Menschen mit begrenzter Lebenserwartung im Landkreis Ravensburg und im Boden seekreis betreut. Dr. med. Stefan Locher, Wangen Klaus Kalmbach, Wangen Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. www.dgschmerzmedizin.de Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft Pharmazeutische Wissenschaften zum Wohle der Patienten Die Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft e.V. (DPhG) fördert seit über 125 Jahren die wissenschaftliche Pharmazie. Davon profitieren nicht nur Arzneimittelforscher und Apotheker, sondern auch Patienten. D er Fortschritt im Bereich der Arz neimittel ist in den letzten Jahren rasant verlaufen. Aufgrund ihrer wissenschaftlichen Ausbildung haben Pharmazeuten ein großes Potential bei der Erforschung und Entwicklung neu er, effektiver Arzneimittel. In der öffent lichen Apotheke und im Krankenhaus übernehmen Apotheker die verantwor tungsvolle Aufgabe der ordnungsge mäßen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln. Um Patienten kompetent beraten zu können, müssen Apotheker naturwissenschaftlich ausgebildet sein und die Arzneimittel in all ihren Facet ten kennen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Zusammenarbeit mit Ärz ten bei der Optimierung der Arzneimit teltherapie bei Patienten. Forschung und Praxis vereint Die Deutsche Pharmazeutische Gesell schaft e.V. (DPhG), die 1890 in Berlin ge gründet wurde, zählt heute mit über 10.000 Mitgliedern zu den großen w issenschaftlichen Gesellschaften in Deutschland. Die DPhG veranstaltet jährlich etwa 150 wissenschaftliche Vor träge für Apotheker, ist Herausgeber der Zeitschrift „Pharmakon“ und fördert als unabhängige und gemeinnützig aner kannte Gesellschaft die wissenschaft lichen Interessen der deutschen Phar mazie. Das Besondere an der DPhG ist die Struktur ihrer Mitglieder, denn vie le Mitglieder sind nicht in der For schung, sondern in der pharmazeuti schen Praxis tätig. Etwa ein Drittel der Mitglieder sind Studierende und Dok toranden. Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Die DPhG, an deren Spitze ein interna tional anerkannter Wissenschaftler als Präsident steht, gliedert sich regional in 15 Landesgruppen, die wiederum Unter gruppen bilden können. Die Gesell schaft bildet ohne regionale Gliederung verschiedene wissenschaftliche Fach gruppen sowie themenspezifische Ar beitsgemeinschaften wie zum Beispiel auf dem Gebiet der Arzneimittelsicher heit. Die Organe der Gesellschaft sind das Präsidium, der Vorstand und die Hauptversammlung. Die DPhG ist die wichtigste wissen schaftliche Gesellschaft innerhalb des pharmazeutischen Berufsstandes, die ein umfassendes Fortbildungsangebot in Form von Vorträgen, Kongressen und Publikationen anbietet. Ein weiterer Schwerpunkt ist die gezielte Förderung von Wissenschaftlern in der Pharmazie. Besonders wichtig ist für die DPhG die Förderung des wissenschaftlichen Nach wuchses durch Stipendien, Preise und spezielle wissenschaftliche Tagungen. Die Zukunft des Faches Pharmazie hängt entscheidend von der Qualität des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Pharmazie ab. Die gezielte Nachwuchs förderung ist die Grundlage der wissen schaftlich orientierten Apotheke und sichert die qualitativ hohe Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten. Übersetzer für Patienten Eine Pharmazie ohne Patient ist nicht vorstellbar. Nur entsprechend naturwis senschaftlich ausgebildete Apotheker sind in der Lage, Patienten kompetent und verantwortungsvoll zu beraten. Die Apotheker müssen dazu aber auch ler nen, wie sie wissenschaftliche Inhalte und ärztliche Anordnungen für die Pa tienten in praxisgerechte Informationen „übersetzen“. Die DPhG-Fachgruppe „Klinische Pharmazie“ beschäftigt sich intensiv mit solchen Fragestellungen. Unter anderem wie die Gesamtsituation des Patienten hinsichtlich seiner Er krankung und Arzneimitteltherapie besser verstanden werden und die ge wonnenen Kenntnisse eingesetzt werden können, um Patienten und Ärzte sowie Angehörige anderer Gesundheitsberufe in der optimalen Arzneimittelanwen dung bestmöglich zu unterstützen. Kooperation mit der DGS Im Bereich der Schmerzfortbildung geht die DPhG seit letztem Jahr gemeinsame Wege mit der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS) und der Deutschen Schmerzliga e.V. (DSL). In ge meinsamen Fortbildungsveranstaltun gen können Apotheker die spezielle Sichtweise und Entscheidungsfindung des Arztes hinsichtlich der Arzneimit teltherapie bei Schmerzpatienten ken nenlernen und dieses Wissen in der pharmazeutischen Praxis zum Wohle der Schmerzpatienten gezielt einsetzen. Prof. Dr. Stefan Laufer DPhG-Präsident Pharmazeutische Chemie Eberhard-KarlsUniversität Tübingen Prof. Dr. Dieter Steinhilber DPhG-Altpräsident Pharmazeutische Chemie Goethe-Universtität Frankfurt am Main 47 DGS Weitere Informationen zu den Seminaren erhalten Sie über die Geschäftsstelle der DGS Telefon: 06171 286060 Fax: 06171 286069 E-Mail: [email protected] oder im Internet unter www.dgschmerzmedizin.de November 2016 Placebo / Nocebo 23.11.2016 in Osnabrück Regionales Schmerzzentrum DGS – Osnabrück Der „alte“ (Schmerz)Patient – altersphysiologische Veränderungen und therapeutische Konsequenzen 30.11.2016 in Halle Regionales Schmerzzentrum DGS – Halle Saale Methoden der Schmerzmessung 09.02.2017 in Tübingen Regionales Schmerzzentrum DGS – Tübingen Interdisziplinäres Schmerzforum Siegen (ISS) 21.03.2017 in Siegen Regionales Schmerzzentrum DGS – Siegen NetzwerkApotheke Schmerz 15.02.2017 in Nürnberg Geschäftsstelle DGS Der Deutsche Schmerz- und Palliativtag 2017 – PRAKTISCHE SCHMERZTHERAPIE und PALLIATIVVERSORGUNG Im Fokus: Schmerzmedizin - Praxis und Theorie der Versorgung 22. – 25.03.2017 in Frankfurt am Main Geschäftsstelle DGS Update Morphine 16.02.2017 in Bad Säckingen Regionales Schmerzzentrum DGS – Bad Säckingen NetzwerkApotheke Schmerz 30.11.2016 in Unna Geschäftsstelle DGS Curriculum Spezielle Schmerztherapie, Block A 18. – 19.02.2017 in Frankfurt am Main Geschäftsstelle DGS Dezember 2016 Extrabudgetäre Verordnungsmöglichkeiten in der Physiotherapie bei Schmerzpatienten 22.02.2017 in Halle Regionales Schmerzzentrum DGS – Halle Saale CME-Update Schmerz: Schmerztherapie im Alter – Was ist in der Praxis wichtig? 05.12.2016 in Ludwigshafen Regionales Schmerzzentrum DGS – Ludwigshafen Qualitätszirkel Palliativversorgung Siegen-Wittgenstein-Olpe 01.03.2017 in Siegen Regionales Schmerzzentrum DGS – Siegen Januar 2017 Curriculum Biofeedback-Therapeut DGS/ Biofeedback-Trainer DGS – Grundlagenseminar 1 04. – 05.03.2017 in Frankfurt am Main Geschäftsstelle DGS Der Notfall in der Praxis – Reanimationsmaßnahmen, praktische Übungen am Dummy – Für Ärzte und medizinisches Personal 25.01.2017 in Halle Regionales Schmerzzentrum DGS – Halle Saale Februar 2017 Fibromyalgie – alles Psycho oder was? 08.02.2017 in Haan Regionales Schmerzzentrum DGS – Haan 1) Ernährung bei chronischen Schmerzen – 2) Osteopathie in der stationären Schmerztherapie 08.02.2017 in Kassel Regionales Schmerzzentrum DGS – Kassel NetzwerkApotheke Schmerz 08.02.2017 in Stuttgart Geschäftsstelle DGS Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Patientenverfügung – Vorsorgevollmacht – aus notarieller Sicht 29.03.2017 in Halle Regionales Schmerzzentrum DGS – Halle Saale März 2017 Palliativmedizin 15.12.2016 in Bad Säckingen Regionales Schmerzzentrum DGS – Bad Säckingen Update Cannabinoide 19.01.2017 in Bad Säckingen Regionales Schmerzzentrum DGS – Bad Säckingen Curriculum Algesiologische Fachassistenz – Kursteil 1 Einführungsveranstaltung 25.03.2017 in Frankfurt am Main Geschäftsstelle DGS Zytokine und Schmerz 08.03.2017 in Stade Regionales Schmerzzentrum DGS – Stade Curriculum Spezielle Schmerztherapie, Block B 11. – 12.03.2017 in Frankfurt am Main Geschäftsstelle DGS Mythos Impingement-Syndrom der Schulter – Ursachen, Untersuchung, Behandlung im ganzheitlichem Konzept 15.03.2017 in Berlin Regionales Schmerzzentrum DGS – Berlin Mitte NetzwerkApotheke Schmerz 15.03.2017 in Magdeburg Geschäftsstelle DGS April 2017 SchmerzKompetenz Physiotherapie 20.04.2017 in Bad Säckingen Geschäftsstelle DGS SchmerzKompetenz Physiotherapie 25.04.2017 in Berlin Geschäftsstelle DGS NetzwerkApotheke Schmerz 26.04.2017 in Unna Geschäftsstelle DGS Rechtliche Aspekte bei Arbeitsfähigkeits bescheinigung 26.04.2017 in Halle Regionales Schmerzzentrum DGS – Halle Saale Pharmakologische Tipps und Tricks in der Schmerztherapie 26.04.2017 in Osnabrück Regionales Schmerzzentrum DGS – Osnabrück Curriculum Biofeedback-Therapeut DGS / Biofeedback-Trainer DGS – Grundlagenseminar 2 29. – 30.04.2017 in Frankfurt am Main Geschäftsstelle DGS Psychosomatik I 16.03.2017 in Bad Säckingen Regionales Schmerzzentrum DGS – Bad Säckingen 49 DAGST Deutsche Akademie für ganzheitliche Schmerztherapie Altersübergreifende Palliativmedizin Wir betreten Neuland Die DAGST e. V. ist eine originäre Schmerzgesellschaft und setzt sich seit ihrer Gründung 2002 ausschließlich für eine qualitativ hoch wertige Ausbildung in ganzheitlicher Schmerztherapie ein. Unsere Ziele: — Bessere Behandlung von Schmerz patienten durch ganzheitlichen Ansatz — Berufsbegleitende qualifizierte Schmerztherapie-Ausbildung mit Zertifikat zum Tätigkeitsschwerpunkt „Ganzheitliche Schmerzbehandlung“ — Interaktive Vorträge mit Beteiligung des Auditoriums und Demonstration von Behandlungsverfahren — Umsetzung der Ergebnisse aktueller Schmerzforschung in die Ausbildung und Therapie — Intensiver kollegialer Austausch sowie Bildung von interdisziplinären Netzwerken Deutsche Akademie für ganzheitliche Schmerztherapie e. V. 1. Vorsitzender Dr. med. Ludwig Distler 2. V orsitzender Prof. Dr. med. Sven Gottschling (Schriftleitung) Weitere Informationen: Fortbildungsbüro DAGST Amperstr. 20A 82296 Schöngeising Telefon: 08141 355530-20 Fax: 08141 355530-27 E-Mail: [email protected] Redaktion: Christine Höppner E-Mail: [email protected] www.dagst.de 50 Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor acht Jahren wurde die Idee geboren, vor sieben Jahren wurde dann das Zentrum für altersübergreifende Palliativmedizin am Uniklinikum in Homburg gegründet, vor sechs Jahren folgte die Verankerung im Landesbettenplan des Saarlandes als bettenführende Hauptfachabteilung mit vier Kinder- und sechs Erwachsenenbetten und jetzt – am 10. Oktober 2016 – war es endlich soweit: Die ersten Patienten konnten auf der europaweit ersten altersübergreifenden Palliativstation (vom Baby bis zum Greis) aufgenommen werden. Aber gibt es überhaupt Bedarf für eine solche Versorgung, insbesondere für Kinder? Im Frühjahr dieses Jahres wurde nach Datteln (NRW) in München die zweite Kinderpalliativstation Deutschlands eröffnet. Wenn man sich das Verhältnis von rund 320 Palliativstationen für Erwachsene zu zwei Kinderpalliativstationen in Deutschland anschaut und sich dann vor Augen führt, dass wir in Deutschland rund 50.000 lebensbegrenzt erkrankte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene haben, wird jedem klar, dass wir gerade in der Kinderversorgung noch einen gewaltigen Nachholbedarf haben. Gibt es eine richtige Altersgrenze? Wieso eine Station für altersübergreifende Palliativmedizin? Weil wir der Meinung sind, dass aus der Kindermedizin kommend der 18. Geburtstag eine eher willkürliche Landmarke ist, die der medizinischen Entwicklung in vielerlei Bereichen überhaupt nicht mehr gerecht wird. Auf der einen Seite diskutieren wir über perinatale Palliativsprechstunden mit pädiatrischer Beteiligung und auf der anderen Seite erreichen immer mehr Menschen mit typisch pädiatrischen Krankheiten das Erwachsenenalter, so dass man mittlerweile schon fast über Gerontopädiatrie als eigenen Schwer- „Die Transition führt leider noch viel zu oft zu großen Versorgungsproblemen.“ Prof. Dr. med. Sven Gottschling Chefarzt Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie punkt nachdenken könnte. Die Transi tion, das heißt die Überleitung eines Jugendlichen mit einer eigentlich pädiatrischen Grunderkrankung in die Erwachsenenmedizin, führt für die Betroffenen leider immer noch viel zu oft zu großen Versorgungsproblemen, wenn nicht gar zu Versorgungsabbrüchen. Auch im Bereich der stationären Kinderhospize sehen wir seit Jahren eine Entwicklung hin zur Versorgung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Hier ist die Grenzziehung bis zu welchem Lebensalter jemand in ein Jugendhospiz darf auch eher willkürlich. Endet sie mit dem 18. Lebensjahr, mit 27, mit 35? Warum muss ich einem 36-Jährigen, der seit vielen Jahren auch zu Mitarbeitern einer Einrichtung Vertrauen gefasst hat, sagen: „Du bist aus unserer Versorgung rausgewachsen“. Wir persönlich sind der Meinung, dass diese Grenzziehung falsch ist und möchten genau das auf unserer Mehrgenerationenpalliativstation anders machen. Und wir sind mit diesem Gedanken nicht allein. So hat im Frühjahr 2016 das erste Mehrgenerationenhospiz in Kassel seinen Betrieb aufgenommen. Die Pädiater und Kinderkrankenschwestern in unserem Team möchten Patienten, die uns kennen und die VerSchmerzmedizin 2016; 32 (6) DAGST-Veranstaltungen „Interkulturelle Kommunikation in der medizinischen Praxis“ Kommunikationstechniken und Basiswissen in der transkulturellen Auseinandersetzung. ©© RRF Fotolia Kursleitung: Dr. Ludwig Distler, Referentin: PD Dr. habil. Claude- Hélène Mayer Auch kritische Gedanken Ja, uns begegnen auch genug kritische Stimmen, zum Beispiel von Eltern die sagen, sie möchten nicht auf eine Station kommen, auf der ältere Menschen sterben. „Unser Kind soll nicht mit dem Tod konfrontiert werden“. Und genauso begegnen uns Stimmen älterer Menschen, die sagen, dass sie mit dem Gedanken, dass im Nachbarzimmer ein sterbendes Kind liegt, gewaltige Schwierigkeiten haben. Ja, wir geben zu, dass wir mit unserer Idee Neuland betreten und dass wir selbstverständlich auch die Bereitschaft haben müssen, mit diesen zum Teil durchaus berechtigten Zweifeln und Sorgen adäquat umzugehen. Und trotzdem denken wir, dass wir den richtigen Weg einschlagen, und dass lebensbegrenzende Erkrankungen, leidvolle Symptome, Lebensqualität, Hoffnung und die Erfüllung letzter Wünsche weder an bestimmte Erkrankungen noch an irgendein Lebensalter gebunden sind. Wir glauben an unsere Vision und brennen darauf, endlich unsere Patienten mit ihren Angehörigen so gut wie möglich versorgen zu dürfen. Und den Tod und das Sterben wieder ein bisschen aus der Tabuzone heraus ins Leben zu holen. Wir treten mit rund 40 Mitarbeitern der verschiedensten Berufsgruppen für dieses Projekt an und eines darf ich Ihnen hier und heute schon versichern, wir werden Sie auf dem Laufenden halten und wir freuen uns jetzt schon auf Ihre Anregungen, kritischen Gedanken aber natürlich vor allem auf Ihre Unterstützung. Mit den besten Grüßen, Ihr Kursvorschau Datum Kursort Weiterbildungen Von den Ärztekammern anerkannt! 80 h Spezielle Schmerztherapie Kursweiterbildung; Blockkurse à 40 h 10.–13.11.2016 Mannheim Block 1 / 40 UE / CME-Punkte 8.–11.12.2016 Mannheim Block 2 / 40 UE / CME-Punkte 16.–19.2.2017 Berlin Block 1 / 40 UE / CME-Punkte 18.–21.5.2017 Berlin Block 2 / 40 UE / CME-Punkte 16.–19.11.2017 Mannheim Block 1 / 40 UE / CME-Punkte 7.–10.12.2017 Mannheim Block 2 / 40 UE / CME-Punkte Basiskurs Palliativmedizin; 40 h 21.–25.6.2017 Mannheim 40 UE / CME-Punkte Fortbildungen 11.–12.3.2017 Mannheim 24.6.2017 Homburg (Saar) Interkulturelle Kommunikation in der medizinischen Praxis 6. Homburger Schmerz- und Palliativkongress Kleingruppenseminare 21.1.2017 Ludwigsburg Programmänderungen vorbehalten Alle Kurse können Sie auch bequem online buchen unter www.dagst.de. Laser in der Schmerztherapie / Alexander Philipp ©© [M] Nata-Lia / Shutterstock.com trauen zu uns gefasst haben, auch jenseits ihres 18. Lebensjahres weiter versorgen. Darüber hinaus sind wir fest davon überzeugt, dass sowohl sterbenskranke ältere Menschen von Kindern als Mitpatienten auf einer gemeinsamen Station profitieren können, als auch umgekehrt. Vom 11. – 12. März 2017 findet in Mannheim folgende Fortbildung statt: Prof. Dr. med. Sven Gottschling Schmerzmedizin 2016; 32 (6) 51 DAGST Deutsche Akademie für ganzheitliche Schmerztherapie ©© Fotolia/Photographee.eu Während bei Christen Blumen und Kerzen zu Beerdigun gen und Trauer dazugehören, sind diese im Islam un üblich. Religionssensible Begleitung am Lebensende Tod und Sterben im Islam und Judentum Nicole Schönmann, Hamburg In unserer multikulturellen Gesellschaft wird jeder Mensch, der in die Behandlung von Patienten involviert ist, auf gläubige Mitbürger unterschiedlichster Religionen treffen. Ebenso selbstverständlich wie die Frage nach besonderen Essensgewohnheiten sollte die Frage nach Wünschen hinsichtlich der religiösen Begleitung am Lebensende sein. Sterben im Islam Etwa 3,5 Millionen Menschen gehören in Deutschland dem muslimischen Glauben an. Ähnlich wie in anderen Weltreligionen finden sich unter dem Überbegriff des Islam verschiedene Religionsgruppen. Die Sunniten bilden die größte Glaubensrichtung im Islam. Der Name geht auf das Wort Sunna‚ die Tradition des Propheten des Islam „Mohammed“ zurück. Das Heilige Buch des 52 Islam ist der Koran. Muslime glauben an die Auferstehung nach dem Tod. Doch wie stehen Muslime zur Palliativbegleitung am Lebensende? Der Zentralrat der Muslime (einer der deutschen Dachverbände der Muslime) sprach sich in einer Veröffentlichung von 2013 klar für den flächendeckenden Einsatz der Palliativmedizin aus: „Aus islamischer Sicht sehen wir keine Einwände für den Einsatz von Sedierungs- und Schmerzmitteln (Opioide, Derivate), auch in hoher Dosierung, wenn es bei diesem schwerstkranken Menschen erforderlich wird. Bei den Schwerstkranken und unheilbaren Menschen ist es statthaft, das Angebot vom Unterlassen oder der Reduktion der Behandlungsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen (sog. passive Sterbehilfe oder besser: „Sterbenlassen“). Wir fordern und begrüßen deswegen die Weiterentwicklung und flächendeckende Verbreitung der Palliativmedizin und Palliative Care“ [1]. Umgang mit sterbenden Muslimen Die religiöse Betreuung wird durch die Angehörigen des Sterbenden übernommen. Die Anwesenheit eines religiösen Amtsträgers wird nicht als zwingend Schmerzmedizin 2016; 32 (6) notwendig angesehen, die Anwesenheit von muslimischen Mitgläubigen sollte aber angestrebt werden. So kann zur re ligiösen Begleitung des Strebenden oder lebenslimitiert Erkrankten die nächstge legene muslimische Gemeinde infor miert werden. Der Tod wird im Islam als der Wille Gottes verstanden, die Begleitung Kran ker und Sterbender als religiöse Pflicht. Familienangehörige versammeln sich am Sterbebett und lesen Verse aus dem Koran vor, um den Sterbenden nicht al leine zu lassen. Gläubige Muslime wün schen sich mit der Fatiha Sure auf den Lippen zu sterben, diese kann auch von Nichtgläubigen vorgelesen werden: „Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen. Lob sei Gott, dem Weltenherrn, dem Erbarmer, dem Barmherzigen, dem Herrscher am Tage des Gerichts. Dir dienen wir und zu Dir rufen wir um Hilfe. Leite uns den rechten Pfad, den Pfad derer, denen Du gnädig bist, nicht derer, denen Du zürnst, und nicht der Irrenden.“ Im Islam ist eine von Würde und Re spekt geprägte Atmosphäre in der Ster besituation wichtig. Um die den Musli men wichtige innere und äußere Rein heit zu unterstützen, sollte verschmutze Bettwäsche zeitnah gewechselt sowie Wasser zur rituellen Waschung vor dem Gebet bereitgestellt werden. Frisches Wasser am Sterbebett dient zudem dazu, die Lippen zu benetzen und symbolisch für den Weg in den Tod und die Aufer stehung zu stärken. Neben der inneren Haltung ist auch die Körperhaltung beim Sterben wichtig. So sollte der Ober körper erhöht gelagert (zur Kaaba hin) oder der Körper in Richtung Mekka mit dem Kopf auf die rechte Seite gedreht ge lagert werden. Nach Eintritt des Todes Tote werden im Islam mit großer Fürsor ge und Respekt behandelt. Der Leich nam darf nur durch Muslime berührt werden, jeder andere Mensch sollte Handschuhe tragen. Die nächsten Ange hörigen verschließen die Augen und den Mund (durch Hochbinden des Unterkie fers) des Verstorbenen, während ein Ge bet für die gnädige Aufnahme des Toten ins Jenseits gesprochen und die Toten klage angestimmt wird. Bezüglich der Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Trauerklage bestehen jedoch je nach so ziokulturellem Hintergrund und religi öser Glaubensrichtung große Unter schiede, so trauern Schiiten in der Regel impulsiver als Sunniten. Nach Eintritt des Todes sollte Folgendes, wenn von den Angehörigen erwünscht, ermöglicht werden: —dass der Kopf auf die rechte Körper seite und nach Mekka hin ausgerichtet werden kann, —dass die Gliedmaßen ausgestreckt werden können, —dass heißes Wasser und Seife für die rituelle Waschung (durch einen voll jährigen erfahrenen Muslim gleichen Geschlechts) zur Verfügung gestellt werden, —dass der Leichnam in drei (Mann) be ziehungsweise fünf (Frau) parfümier te Leinentücher eingehüllt werden kann. Begräbnis und Totengedenken Kondolenzbesuche werden innerhalb von drei Tagen und drei Nächten durch geführt. Danach wird außer von entfernt lebenden Angehörigen (bis zu 40 Tagen) kein Beileid mehr ausgesprochen. Die muslimische Beileidsformel lau tet: „Gott erhöhe Eure Belohnung, versichere Euch seines Trostes und verleihe die Vergebung Eurem Verstorbenen.“ Die Beerdigung sollte möglichst bald, am besten innerhalb von vierundzwan zig Stunden auf einem muslimischen Friedhof stattfinden. Viele Muslime wünschen eine Überführung in ihr Hei matland, um sich des ewigen Ruherechts des Leichnams und der sarglosen Beiset zung gewiss zu sein. Der Tote wird ohne Sarg, in weiße Tücher gehüllt auf der rechten Seite liegend in Richtung Mekka beerdigt. Das Anzünden von Kerzen ist unüblich, die Anwesenheit von Symbo len anderer Religionen nicht gestattet. So sollte sich zum Beispiel im Raum, in dem die rituelle Waschung durchgeführt wird, kein christliches Kreuz befinden. Es ist verboten sich auf ein Grab zu legen oder um es herumzugehen, das Spazieren über Friedhöfe ist genauso untersagt, wie den Verstorbenen um Fürsprache anzu rufen. Auch Grabschmuck und Grabpfle ge sind nicht erwünscht, Trauerfarben werden nicht benutzt. Je nach islami scher Rechtsschule ist Frauen der Besuch von Friedhöfen nicht gestattet oder nur in Begleitung erlaubt. Das Tragen des Leichnams im Rahmen des Trauerzugs gilt als verdienstvoll und ist den Män nern vorbehalten. Sterben im Judentum In Deutschland leben circa 200.000 Ju den. Das Judentum ist die älteste der fünf Weltreligionen. Seit etwa 5.000 Jah ren glauben Juden an die leibliche Auf erstehung nach dem Tod. Die heilige Schrift der Juden ist der Tanach, die von Mose verfasste Tora der wichtigste Teil. Der Talmud darf nicht mit der Tora ver wechselt werden, er ist die Auslegung der im Tanach enthaltenen biblischen Gesetzestexte. Auch die Juden kennen einen Pallia tivgedanken. Denn auch wenn das Le ben erhalten und als Geschenk Gottes geschützt werden soll, sprach sich wäh rend einer Tagung zu den Perspektiven am Ende des Lebens der Rabbiner Dr. Tom Kucera im Mai 2015 für eine men schenwürdige Palliativmedizin aus: „Solide medizinische Forschung zeigt, dass palliative Behandlung oft erfolgreicher und menschenwürdiger für die unheilbar Kranken ist, als eine aggressive medizinische Behandlung. Zu den Möglichkeiten der passiven Sterbehilfe zählen Verzicht auf zusätzliche Therapien/Operationen oder ein Ausschalten der Maschinen (zum Beispiel Herzschrittmacher, Atemmaske, Dialysegerät) oder Verzicht auf Essen/Trinken. Die klassische jüdische Vorstellung spricht sich zwar gegen die Beschleunigung des Todes aus, gleichzeitig aber für das Entfernen eines Todeshindernisses“ [3]. Die religiöse Betreuung im Krank heitsfall und im Sterben übernimmt die Familie. Ein Rabbiner, welcher aufgrund seines Gelehrtenstatus eine moralische Autorität ist, kann bei Fragestellungen be züglich der Behandlung und Pflege des sterbenden Juden hinzugezogen werden. Umgang mit sterbenden Juden Im Judentum übernehmen Angehörige die Begleitung des Sterbenden. Frauen dürfen nur von Frauen gepflegt werden, Männer dürfen sowohl von Frauen und von Männern gepflegt werden. Insbe sondere bei der Körperpflege von jüdi schen Mitbürgern sollte berücksichtigt 53 DAGST werden, dass der Körper niemals gänzlich unbekleidet sein darf, daher sollten nur die Stellen entblößt werden, die gerade gewaschen werden. Desweiteren ist das Bereitstellen von frischem Wasser vor den Mahlzeiten sehr erwünscht, da diese Waschungen rituell motiviert sind. Ist der Sterbeprozess absehbar, wird die Chewra Kaddischa, die jeweils gleichgeschlechtliche Beerdigungsgesellschaft informiert, die die wichtigsten Tätigkeiten, wie den Krankenbesuch und das Gebet am Sterbebett übernimmt und die Angehörigen unterstützt und tröstet. Im Judentum ist es erwünscht, dass der Sterbende über seinen Gesundheitszustand ehrlich und vollumfänglich informiert wird, denn nicht nur die Angehörigen, auch der Sterbende selbst hat letzte religiöse Aufgaben: So segnet der sterbende Vater – wenn er dazu noch in der Lage ist – seine Kinder. Nach Eintritt des Todes Die Feststellung des Todes erfolgt traditionell über das Auflegen einer Feder auf die Oberlippe des Toten. Unmittelbar nach dem Tod sollte ein Jude zunächst für etwa eine halbe Stunde nicht berührt werden, danach werden die Augen mittels Tonscherben und der Mund durch Hochbinden des Unterkiefers geschlossen. Dies ist die Aufgabe des ältesten Sohnes. Ein weißes Tuch wird über das Gesicht gelegt. Die Arme werden ausgestreckt neben dem Körper gelagert, nicht über der Brust gekreuzt und die Hände nicht gefaltet. Bis zur Beerdigung wird als Zeichen des Respekts Totenwache gehalten und der Tote nie allein gelassen. Zur Totenwache sitzt ein „Schomer“ (Wächter) neben dem Toten und rezitiert alttestamentliche Psalme. Beim Sterben zuhause werden die Spiegel verdeckt, um zu verhindern, dass sich die Seele verirrt oder der Tod sich doppelt. Außerdem werden die Fenster geöffnet, damit die Seele hinausfliegen kann. Die rituelle Waschung findet ebenfalls wie die Lagerung des Leichnams durch die Chewra Kaddischa statt. Dem Waschwasser wird als Symbol für das Leben ein Ei zugegeben. Nach der Waschung wird dem Toten das Totenhemd angezogen. Männer erhalten ihr Totenhemd bereits bei der Hochzeit als Brautgeschenk und tragen dieses schon 54 Deutsche Akademie für ganzheitliche Schmerztherapie zu Lebzeiten zum Neujahrstag und am Versöhnungstag (Jom Kippur). In den einfachen, für alle Juden baugleichen Sarg, der von der jüdischen Gemeinde bereitgestellt wird, wird Männern ihr Tallit, ein Gebetsschal mit einseitig abgetrennten Schaufäden, die der Gebetserinnerung dienen, mitgegeben. Auch Frauen tragen nach der rituellen Waschung ein weißes, einfaches Totenkleid [4]. Begräbnis und Totengedenken Die Friedhöfe der Juden heißen Bet ha-chajjim (Ort des Lebens) oder Bet ha-olam (Ort der Ewigkeit) [5]. Im Judentum besteht ewige Grabruhe. Die Beisetzung soll nach Möglichkeit am Todestag stattfinden, außerhalb Israels nach 48 Stunden. Die Gräber sind innerhalb Jerusalems in Richtung des Tempelbergs ausgerichtet, außerhalb Jerusalems in Richtung Jerusalem, dies begründet sich in der Annahme, dass der Messias am Tempelberg erscheint und die Toten erweckt. Diese sollen dann aus der liegenden Position aufstehen und ihm folgen können. Als Zeichen für den Riss in ihrer Seele zerreißen sich die Angehörigen während der Beisetzung ein Stück ihrer Kleidung; bei Eltern auf der herznahen linken Seite, bei allen anderen Angehörigen auf der rechten Seite. Statt Blumen werden auch bei weiteren Grabbesuchen kleine Steine auf die Gräber gelegt. Beim Verlassen des Friedhofs findet ebenfalls eine rituelle Händewaschung statt; die Hände werden danach nicht abgetrocknet, damit die Erinnerung länger anhält. Die Trauerzeit gliedert sich in vier Phasen: 1.Aninut: Vom Tod bis zur Beisetzung, die lähmende, starre Trauer in der nicht getröstet werden soll. 2.Schiwa: Von der Beisetzung bis zum Morgen des siebten Tages. Das Kondolenzessen ist Teil der Schiwa und findet im Anschluss an die Beisetzung statt: Traditionell werden Bagel mit hartgekochten Eiern gereicht, die Bagel stellen durch ihre runde Form den Lebenskreis dar, Eier symbolisieren das Leben. Ein Feiertag hebt die Schiwa auf und beendet sie vor dem Ablauf der sieben Tage; hier wird das Vorrecht des Lebens über das Recht des Todes bekundet, der Freude über die Trauer. 3.Schloschim: Von der Beisetzung bis zum Morgen des 30. Tages. Nach Beendigung der Schiwa, wird der Alltag Stück für Stück wieder aufgenommen. Nach 30 Tagen endet nun die Trauerzeit, außer wenn ein Elternteil betrauert wird. 4.Trauerjahr: Um Eltern wird ein ganzes Jahr getrauert. Am ersten Jahrtag des Todes wird ein Grabstein aufgestellt, die Angehörigen und Freunde versammeln sich erneut auf dem Friedhof, während des gesamtem Tages brennt eine Kerze zu Ehren des Verstorbenen. Generell helfen uns Rituale unser tagtägliches Leben zu strukturieren und zu vereinfachen. Noch viel wichtiger sind sie an Wendepunkten des Lebens, wie zum Beispiel beim Sterben und Begleiten von trauernden Angehörigen, diese Rituale können dann ein Halt in einer haltlosen Situation sein. Viel wichtiger aber als jede rituelle Vorschrift, als Gebote und Verbote erscheint es, dem Sterbenden und den Trauernden unser Mitgefühl spüren zu lassen und echtes Interesse an ihren Wünschen oder Vorstellungen zu signalisieren. Auch wenn es bestimmte religiöse Regeln und Gepfogenheiten gibt, sollte in jedem individuellen Fall nachgefragt werden, welche Handlungen, Rituale und Symbole tatsächlich erwünscht sind. Literatur 1. Zentralrat der Muslime Deutschland e. V. Sterbehilfe bzw. Sterbebegleitung und Palliative Care aus islamischer Sicht – Eine Handreichung des Zentralrates der Muslime in Deutschland (ZMD); http://islam.de/ files/pdf/sterbehilfe_islam_zmd_2013_03. pdf. 2013. 2. Ilkilic, Ilhan. Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten. Eine Handreichung für die Gesundheitsberufe. 5.Auflage, Bochum 2005. 3. Rabbiner Dr. Tom Kucera. End-of-Life: Jewish Perspectives, eine Responsa zum Thema Sterbehilfe; http://www.hagalil. com/2015/06/sterbehilfe-2. Mai 2015. 4. Heinrich Simon. Leben im Judentum. 1. Auflage. Hentrich & Hentrich Verlag Berlin, 2003. 5. http://www.zentralratdjuden.de/de/topic/210.lebensende-bestattung-trauer. html Dr. Nicole Schönmann, Hamburg Martinistrasse 21, 20251 Hamburg Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Berufsverband der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe e.V. Zukunft der Palliativversorgung Das palliative Team in der ambulanten Versorgung In der ambulanten Palliativversorgung tut sich seit Jahren einiges. Wie wird es aber mit der palliativpflegerischen Versorgung in den nächsten Jahren weitergehen, wie sieht deren Organisation in der Zukunft aus? N Unsere Ziele sind: — Qualitätsindikatoren in der ambulanten Palliativmedizin zu definieren und weiterzuentwickeln, — Betroffene und Angehörige über die Möglichkeiten einer fachgerechten palliativmedizinischen Versorgung zu informieren, — die Diskussion über ethische und rechtliche Fragestellungen am Lebensende anzustoßen und zu vertiefen, — ein langfristiger Kulturwandel im Umgang mit Tod und Sterben. Berufsverband der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe e.V. Geschäftsstelle: Sabine Schäfer Dieckmannstraße 200 48161 Münster Tel. 02 51 / 5308-9960 E-Mail: [email protected] Öffentlichkeitsarbeit: Dr. med. Eberhard A. Lux Klinik für Schmerz- und Palliativmedizin am Klinikum St.-Marien-Hospital Lünen Tel. 0 23 06 / 77-2920 Fax. 0 23 06 / 77-2921 E-Mail: [email protected] www.bv-palliativmediziner.de 56 achdem sich im September die Ansprechstelle im Land NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung (Alpha NRW) sowie die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V., Landesvertretung Nordrhein-Westfalen (DGP NRW) und der Hospiz- und Palliativverband NRW e.V. zur Zukunft der Palliativpflegedienste NRW nach § 132a Abs. 2 SGB V geäußert haben, sollen auch einige Gedanken aus dem Berufsverband der Palliativmediziner Westfalen-Lippe die Diskussion befruchten. Tatsächlich hat sich die ambulante Palliativpflege als eigenständige Versorgungsstruktur in NRW seit zehn Jahren etabliert – beginnend zu einer Zeit, als Regelungen zur ärztlichen Organisation der ambulanten Palliativversorgung noch auf sich warten ließen. In der Zeit nach der Änderung des SGB V 2007, besonders der spezialisierten ambulanten Palliativversorgungs-Richtlinie vom 11. März 2008, etablierten sich außerhalb von Nordrhein-Westfalen analog zu Erfahrungen aus Modellprojekten erste Palliativteams. Diese stellten zumeist selbstständige Strukturen aus Ärzten und Pflegenden zur regionalen ambulanten Palliativversorgung dar. Wir in NRW und besonders in WestfalenLippe schlugen einen eigenständigen Weg ein. Mit der „Vereinbarung zur Umsetzung der ambulanten palliativmedizinischen Versorgung von unheilbar erkrankten Patienten im häuslichen Umfeld“ organisierten wir in Westfalen-Lippe die ambulante Palliativversorgung außerhalb der festen Teamstruktur von Pflegediensten und Ärzten. Die dabei erzielten hervorragenden Ergebnisse der vergangenen Jahre waren nur dadurch möglich, dass es in den meisten Palliativmedizinischen Konsiliardiensten (PKD) eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen QPA und ambulanten (Palliativ-) Pflegediensten gab und gibt. Nur so konnten Patienten – besonders in den PKD mit großer Flächenausdehnung –bedarfsgerecht am Lebensende versorgt und etwa einem Drittel aller versterbenden Patienten in der letzten Lebensphase eine Supervision durch einen Palliativa rzt oder Koordinator des PKD ermöglicht werden. Man bedenke, dass man während der Einführung der ambulanten Palliativversorgung von einer Notwendigkeit der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) bei etwa 10 % aller Versterbenden ausging. Wirtschaftlichkeit bedenken Nun sind nicht alle PKD den Weg der engen Kooperation mit Palliativpflegediensten in der ambulanten Versorgung gegangen. Im PKD Münster wurde sehr früh durch eine große Anzahl von Koordinatoren die Versorgung von ambulanten Palliativpatienten ihren Bedürfnissen entsprechend organisiert. Solche Koordinatoren sind dreijährig examinierte Pflegekräfte mit Palliative-CareQualifikation im PKD. Dieses Organisationsprinzip, SAPV durch die Koordinatoren des eigenen PKD und nicht durch die Kooperation mit Palliativpflegediensten zu leisten, wurde im BerufsverSchmerzmedizin 2016; 32 (6) ©© rasica / Fotolia Soweit so gut Was die Zukunft für die ambulante Palliativversorung der Patienten bringt, bleibt abzuwarten. band in der Vergangenheit häufig disku tiert. Für eng besiedelte Gebiete mit kur zen Fahrzeiten zum Patienten scheint es ein geeignetes Modell zu sein. Für PKD in Territorien mit weiten Anfahrtswegen zum Patienten ist sicher eine dezentrale Struktur mit über das zu versorgende Territorium verteilten qualifizierten Pflegediensten und Palliativärzten die bessere Struktur, da lange Anfahrtszei ten die ambulante Palliativversorgung wirtschaftlich in Frage stellen. Qualität an erster Stelle In Zukunft werden wohl alle Pflege dienste Palliativpflege erbringen können, wobei allerdings noch unklar ist, welche Qualifikationsvoraussetzungen voran gestellt werden sollten. Das Prinzip der allgemeinen Palliativversorgung, in der die Palliativpflegedienste oder unsere Koordinatoren hochspezialisiert tätig werden und damit ärztliche Aufgaben übernehmen, spiegelt den Trend unserer Zeit wider. So können mit neuen Versor gungsstrukturen bei reduzierter ärzt licher Ressource neue Wege gegangen werden, wie diese auch in der allgemein medizinischen Versorgung bereits Ein zug gehalten haben. Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Unserer ambulanten Palliativversor gung in Westfalen-Lippe wurde von Sei ten der etablierten SAPV-Teams seit lan gem der Vorwurf gemacht, Patienten nicht in einer eng organisierten Team struktur aus Ärzten und Pflegenden zu versorgen. Um diesem teilweise nach vollziehbaren Gedanken Raum zur Ent wicklung zu geben, möchten wir in einer sich weiterentwickelnden „Vereinbarung zur Umsetzung der ambulanten pallia tivmedizinischen Versorgung von un heilbar erkrankten Patienten im häusli chen Umfeld“ unsere Koordinatoren in Anzahl und Aufgaben stärken. Der Erst kontakt durch den Besuch eines Koordi nators im häuslichen Milieu des Patien ten kann durchaus den Blick auf psycho soziale Probleme schärfen – dies muss aber auch zu finanzieren sein. Die häus liche palliativpflegerische Versorgung sollte auch vermehrt durch die Koordi natoren erfolgen, im Bereich der AAPV aber vor allem bei Erfüllung der SAPVKriterien. Zurück zum Positionspapier Unter der Rubrik „Die bestehende Struk tur“ ist zu lesen: Die auf der Grundlage dieses Vertrages entwickelte Versor gungsstruktur stellt heute mit 183 Diensten eine weitestgehend flächen deckende ambulante palliativpflegeri sche Versorgung in NRW dar, die so wohl in der allgemeinen als auch in der spezialisierten ambulanten Palliativver sorgung ihre Wirkung entfaltet. Dieser Aussage ist gemäß einer sich seit einem Jahr anbahnenden Entwick lung zu widersprechen. Wurden in den ersten Jahren Verordnungen von Pallia tivpflege in aller Regel durch die Kran kenkassen akzeptiert oder durch den medizinischen Dienst der Krankenkas sen (MDK) nicht hochgradig kritisch ge prüft, so ist dies seit einem Jahr anders. Verordnungen von Palliativpflege wer den jetzt in aller Regel durch den MDK hinsichtlich der Erfüllung der SAPVKriterien geprüft und sofern eine ausge prägte und komplexe Symptomkontrol le, welche besonderes Handeln erfordert, nicht vorliegt, konsequent abgelehnt. Damit kommen die Palliativpflege dienste bei Patienten, welche eine allge meine Palliativversorgung benötigen, kaum mehr zum Einsatz; es sei denn, sie versorgen den Patienten auch in der Grund- oder Behandlungspflege. In durchaus vertrauensvollen Gesprächen mit Mitarbeitern des MDK wurde von deren Seite auf die inflationäre Verord nung von Palliativpflege verwiesen und die häufig mangelnde Qualität der In formationen auf den Verordnungsbögen aufgezeigt – hier liegt der Ball in uns rem Feld. Sollte der Gesetzgeber jedem Pflege dienst den Zugang zur allgemeinen Palliativpflege ermöglichen und keine klar definierte Qualifikation der für Palliativpflege zum Einsatz kommenden Pflegenden definieren, wird sich die Ver sorgungsqualität der Patienten in der allgemeinen Palliativversorgung ver schlechtern. Man wird sicher zunächst wieder einen Anstieg der Notarztein sätze und der Einweisungen in ein Kran kenhaus erleben – sofern unsere Koor dinatoren nicht geregelt zum Einsatz kommen. Blicken wir dennoch optimistisch in die Zukunft? Das hängt sicherlich von einem erfolg reichen Abschluss der Gespräche zwi schen dem Berufsverband, der Kassen ärztlichen Vereinigung und den Kosten trägern hinsichtlich der Weiterent wicklung unserer „Vereinbarung zur Umsetzung der ambulanten palliativ medizinischen Versorgung von unheil bar erkrankten Patienten im häuslichen Umfeld“ ab. Mit der Stärkung der Rolle unserer Koordinatoren und der geplan ten Einführung qualitätssichernder Maßnahmen werden sowohl die allge meine Palliativversorgung als auch die Versorgung von Patienten mit speziel lem Versorgungsbedarf im Sinne der SAPV gestärkt. Inwieweit dann in ein zelnen geeigneten Regionen die spezia lisierte Patientenversorgung durch QPA und eine große Zahl von Koordinatoren oder in der bewährten Struktur aus QPA, Koordinatoren und (spezialisierten) Pflegediensten geschieht, bleibt abzu warten. Eberhard A. Lux, Lünen 57 Kurz gemeldet Industrieforum Vagusnervstimulation zur Vorbeugung von Migräne Bei Patienten mit Migräne scheint das Wechselspiel von Sympathikus und Parasympathikus meist aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Grund hierfür ist laut Forschern eine verringerte Aktivität des Vagusnervs. Genau an dieser Stelle setzt die Migräneprophylaxe mittels Neurostimulation an. Über die zwei Ohrelektroden des Therapiegeräts Vitos wird der Vagusnerv im Ohr mit leichten elektrischen Reizen stimuliert. Die Reizweiterleitung ins Gehirn führt laut Hersteller zur Stimulation von Hirnregionen, die bei Schmerz- und Migränepatienten typischerweise nur eine geringe Aktivität aufweisen. In einer doppelblinden, randomisierten Studie mit Patienten, die unter chronischer Migräne leiden, konnte die Zahl der Kopfschmerztage nach vier Wochen unter transkutaner Vagusnervstimulation um vier Tage reduziert werden [Straube et al. J Headache Pain 2015; 16:543]. Nach zwölfwöchiger Anwedung der Neurostimulation für vier Stunden täglich reduzierten sich die Migränetage von im Mittel 19 auf 12 Tage im Monat. Die Wirksamkeit der Therapie war damit vergleichbar mit dem Goldstandard der Therapie von chronischer Migräne (Topiramat). Ein Vorteil der transkutanten Vagusnervstimulation ist die sehr gute Verträglichkeit und die selbstständige Anwendung durch den Patienten. Um der Migräne vorzubeugen sollte das Therapiegerät, das etwa die Größe eines Smartphones aufweist, für drei Stunden täglich eingesetzt werden. Die Einsatzzeit kann über den Tag beliebig verteilt werden. Die Therapieminuten werden automatisch gezählt und auf dem Display angezeigt. Auch Dauer und Intensität der Stimula tion können über das Therapiegerät individuell gesteuert werden. Bei der Anwendung spürt der Patient lediglich ein leichtes Kribbeln im Ohr. Die Migräneprophylaxe mittels Neurostimulation eignet sich laut Hersteller für alle Formen und Schweregrade von Migräne und Spannungskopfschmerz. Auch eine Kombination mit anderen Therapieformen oder der Einsatz als Zusatztherapie zur medikamentösen Behandlung ist möglich. Nach Informationen von Cerbomed 58 red Rückenschmerzen: Drei Hebel gegen die Chronifizierung —— Chronische Rückenschmerzen sind oft mit großem Leid der Patienten sowie mit einer hohen Zahl an Krankschreibungen verbunden. Auf dem Deutschen Schmerzkongress zeigten Experten mögliche Wege auf, die Chronifizierung von Schmerzen zu verhindern. Die Chronifizierung von Rückenschmerzen ist ein komplexer Vorgang, bei dem die periphere und die zentrale Sensibilisierung sowie die Abnahme der körpereigenen Schmerzhemmung eine wichtige Rolle spielen, rief Professor Ralf Baron, Klinik für Neurologie Kiel, in Erinnerung. Die periphere Sensibilisierung führe zu einem ständigen Feuern der Schmerzfaser, was unter anderem die zentrale Sensibilisierung unterhalte. Diese wiederum führe zu einer Hyperaktivität des Rückenmarks. Durch diese Prozesse nehme zusätzlich die Wirkung der körpereigenen noradrenergen Schmerzhemmung kontinuierlich ab, betonte Baron. Unter den zur Verfügung stehenden Schmerzmitteln wirke Tapentadol ( als einziger Wirkstoff auf alle drei Faktoren der Schmerzchronifizierung, sagte der Neurologe. Der Wirkstoff reduziere die Weiterleitung der Schmerzsignale und stärke aufgrund seines dualen Wirkmechanismus gleichzeitig die körpereigene absteigende Schmerzhemmung (Abb. 1). „Für mich bedeutet das, dass man mit dem frühen Einsatz eine Chronifizierung eventuell verhindern kann“, so Baron. Neben der medikamentösen Therapie können Schmerztherapeuten gemeinsam mit den Patienten den Chronifizierungsprozess positiv beeinflussen. Wichtig sei eine gute Arzt-Patienten-Beziehung mit einer empathischen Ansprache, sagte PD Dr. KaiUwe Kern, Schmerzpraxis Wiesbaden. Eher kontraproduktiv seien Sätze wie „Das verstehen Sie nicht, ich mache das schon…“. Stattdessen empfiehlt Kern die direkte Einbindung des Patienten: „Lassen Sie uns gemeinsam schauen, welche Bausteine Ihr Schmerz haben könnte und welche wir als erstes gemeinsam angehen wollen.“ Wichtige Faktoren der Schmerzchronifizierung aus psychologischer Sicht sind eine ungünstige Einstellung zum sowie ein vermeidender oder überaktiver Umgang mit dem Schmerz, sagte Dipl.-Psych. Patricia Albert vom Schmerzzentrum des Universitätsklinikums Erlangen. Ein adaptiver Umgang mit Schmerzen sei gekennzeichnet durch die Gewissheit, trotz Schmerzen Einfluss auf das eigene Leben zu haben und zum anderen die Bereitschaft, negative innere Erfahrungen zuzulassen. Erfahrungsvermeidung stelle jedoch das größte Risiko für dysfunktionales Verhalten dar. Dr. Gunter Freese Symposium „Einfluss der Schmerztherapie auf den Chronifizierungsprozess“ im Rahmen des Deutschen Schmerzkongresses 2016, 20. Oktober 2016 in Mannheim; Veranstalter: Grünenthal GmbH NSAR Die Schmerzfaser feuert ständig Tilidin Das Rückenmark ist überaktiv Noradrenalin hemmt nicht mehr Morphin Pregabalin Tapentadol Abb. 1: Wirkweise von Schmerzmitteln auf Faktoren der Chronifizierung (nach Baron). Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Kurz gemeldet Tumorschmerzen: 24-stündige Schmerzabdeckung anstreben —— Eine adäquate Schmerztherapie ist vor rangiges Ziel einer guten therapeutischen Begleitung bei Tumorpatienten. Die Min destanforderung an einen Qualitätsstan dard sollte eine 24-stündige Schmerzfrei heit sein. Doch diese wird nach wie vor häufig verfehlt. „Wir müssen dafür sorgen, dass der einzelne Mensch im Mittelpunkt steht, und nicht so sehr die Standardisierung“, betonte Dr. Jo hannes Horlemann aus Kevelaer, Facharzt für Innere- und Allgemeinmedizin, Schmerz und Palliativmedizin und verantwortlicher Autor der Praxisleitlinie „Tumorschmerz“ der Deutschen Gesellschaft für Schmerzme dizin. Entscheidend für Patienten in der Palliativsituation sei die Zuverlässigkeit von Therapie und Betreuung, denn Konstanz wirke beruhigend und anxiolytisch. Die Herstellung eines steady state mit 24-stün diger Schmerzabdeckung und das Erzielen einer guten Schlafqualität seien neben der Vermeidung von Durchbruchschmerzen oder häufigen Opioidrotationen vorrangig. Maßgeblich für die Auswahl eines Opioids sei der Abgleich zwischen Schmerzkinetik und Galenik des jeweiligen Medikaments. So muss unter anderem unterschieden werden zwischen nozizeptiven und neuro pathischen Schmerzen. Letzteren kommt insbesondere für die Schlafqualität eine wichtige Rolle zu, da sie meist belas tungsunabhängig und nachts auftreten. Unter anderem wegen seiner besseren Wirkung auf neuropathische Schmerzen, so Horlemann, hat Hydromorphin das Mor phin als Goldstandard in der Opiattherapie von Tumorschmerzen abgelöst: Es wirke Behandlung starker Schmerzen dual, CYP-unabhängig und auch weitge hend unabhängig von der Nierenfunktion. Dadurch sei es leicht aufzutitrieren und zu steuern. Zudem befinden sich mittlerweile zahlreiche schnell anflutende und Retard optionen mit unterschiedlicher Galenik auf dem Markt, was eine individuelle Therapie erleichtere. Norbert Schürmann, Leiter der Abteilung für Schmerztherapie und Palliativmedizin im St. Josef Krankenhaus GmbH Moers, zeigte anhand eines konkreten Behand lungsbeispiels den Nutzen der i. v. Opioid titration als Mittel zur Neueinstellung von Patienten mit stärksten Schmerzen (VAS 7 und mehr). Die titrierte Gabe von Hydro morphon i. v. dient dabei als Grundlage für die Neuberechnung des täglichen oralen Opioidbedarfs. Besonderes Augenmerk sollte Schürmann zufolge auf die richtige Interpretation der Schmerzsymptomatik gelegt werden, denn häufig sei ein ver meintlicher Durchbruchschmerz ein „Endof-Dose-Failure“. Präparaten mit einer län geren Halbwertszeit und gleichmäßigeren Wirkspiegeln wie beispielsweise Hydromor phon long Retardtabletten komme in diesem Kontext eine besondere Bedeu tung zu. Anna Atak Frühstücks-Symposium „Differenzierte Thera pie und Bedeutung unterschiedlicher Galeniken in der Therapie mit Opioiden“ im Rahmen des 11. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Leipzig, 9. September 2016; Veranstalter: Aristo Pharma GmbH Pain Care Award 2016 verliehen Zum vierten Mal hat das Unternehmen Mundipharma den Pain Care Award (ehemals „Pain Nurse des Jahres“) für außerordentliche Leistungen in der Betreuung von Patien ten mit Schmerzen verliehen. Auf dem Deutschen Schmerzkongress 2016 in Mannheim wurde das Gewinnerprojekt gekürt: Der „Akutschmerzdienst“ von Tamara Kasten, DIAKOVERE Henriettenstift Hannover, konnte den wissenschaftlichen Beirat des Pain Care Awards 2016 für die Auszeichnung überzeugen. Das Projekt, bei dem es um die Schmerzversorgung von Sectio-Patientinnen geht, zeige nicht nur ein akribisches Qua litätsmanagement, das Fragebögen, Schmerzdokumentation, Ziel- und Maßnahmen pläne sowie Infoflyer in interdisziplinärer Zusammenarbeit umfasst. Es überzeuge auch durch das Aufsetzen einer Benchmark im Vergleich zu einem anderen Krankenhaus so wie durch die aufwendige Auswertung des Fragebogens. red Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Das Unternehmen Glenmark hat das pioid Buprenorphin als transdermales O Pflaster (4 Tage) auf den Markt gebracht. Buprenorphin Glenmark transdermales Pflaster ist bioäquivalent zum Original präparat und steht in den Dosierungen 35 μg/Stunde, 52,5 μg/Stunde und 70 μg/Stunde zur Verfügung. Es ist jeweils in den Packungsgrößen mit 4, 5, 8, 10, 16 oder 20 Stück lieferbar und zuzahlungs frei. Das transdermale Pflaster sollte auf eine trockene, gesunde, gereinigte und enthaarte sowie flache Hautpartie aufge bracht werden, beispielsweise am Rü cken oder unterhalb des Schlüsselbeins. Nach 96 Stunden (4 Tagen) sollte das Pflaster entfernt und das Folgepflaster an einer anderen geeigneten Stelle ap pliziert werden. Therapienaive Schmerz patienten bekommen initial die kleinst mögliche Dosierung. Bei unzureichender Wirkung wird die Dosis bis zu einer zu friedenstellenden Schmerzlinderung ge steigert. Nach Informationen von Glenmark Zulassungserweiterung für Naloxegol Der orale, peripher wirkende µ-Opioidrezeptor-Antagonist Naloxegol ( , der zur Behandlung der Opioid-induzierten Obstipation (opioidinduced constipation, OIC) indiziert ist, hat eine Zulassungserweiterung erhal ten. Die Filmtablette kann nun für die Anwendung bei Patienten mit Schluck beschwerden gemörsert und in Wasser gelöst verabreicht werden. Damit wird auch diesen Patienten die Versorgung mit einer gezielten, kausalen Therapie der OIC ermöglicht. Die empfohlene Dosierung von Nalox egol ist 25 mg einmal täglich. Für Patien ten, die nicht in der Lage sind, eine Filmtablette zu schlucken, besteht nun die Möglichkeit, die Tablette zu zersto ßen. Das Pulver muss dann in einem hal ben Glas Wasser (120 ml) aufgelöst und sofort eingenommen werden. Danach sollte das Glas mit einem weiteren hal ben Glas Wasser gespült und der Inhalt ebenfalls getrunken werden. Die Lösung kann auch über eine transnasale Magen sonde (CH8 oder größer) zugeführt wer den. Dabei ist es wichtig, den Tubus nach der Gabe der Lösung mit Wasser durch zuspülen. Nach Informationen von Kyowa Kirin 59 Praxis konkret Galenus-Preis und CharityAward 2016 Innovationen ausgezeichnet Im Rahmen einer Gala in Berlin ist der von Springer Medizin gestiftete Galenus-von-Pergamon-Preis für pharmazeutische Innovationen verliehen worden. Mit dem CharityAward wurde auch ehrenamtliches Engagement gewürdigt. D ie Preisträger wurden am 20. Ok tober von Bundesgesundheits minister Hermann Gröhe und dem Jury-Vorsitzenden Professor Erland Erdmann bei der „Springer Medizin Gala“ in Berlin geehrt. Galenus-Preise wurden in vier Kategorien vergeben. Grundlagenforschung Den Preis in der Kategorie „Grundlagen forschung“ erhielt Dr. Michael Potente vom Max-Planck-Institut für Herz- und Lungenforschung, Bad Nauheim. Poten te und seine Arbeitsgruppe belegten, dass der Verlust des Transkriptionsfak tors FOXO1 zu einem unkontrollierten Wachstum des Endothels und einer Ver größerung von Blutgefäßen führt. Hin gegen bedeutet ein Funktionsgewinn die Ausdünnung des Endothels und ein ver ringertes Verzweigungsvermögen von Blutgefäßen. Potentes Forschung könnte zum Dreh- und Angelpunkt für zukünf tige therapeutische Ansätze werden. Primary Care In der Kategorie „Primary Care“ ging der Preis an Empagliflozin von Boehringer Ingelheim, das Typ-IIDiabetikern verordnet wird. Das Präpa rat verbessert aufgrund seines Wirkme chanismus die Blutzuckerkontrolle die ser Patienten. Zudem konnte für den Wirkstoff eine erhebliche Reduktion des kardiovaskulären Risikos bei entspre chender Erkrankung belegt werden. Specialist Care Den Preis in der Kategorie „Specialist Care“ hat die Jury in diesem Jahr an zwei Innovationen aus der Immunonkologie vergeben: Nivolumab von Bristol-Myers Squibb sowie Pembroli zumab ( ) von MSD Sharp & Dohme. Beide Antikörper gehören zur neuen Wirkstoffklasse der PD1 (Pro grammed Death 1)-Hemmer. Diese Im mun-Checkpoint-Hemmer versetzen das körpereigene Immunsystem in die Lage, Tumoren eigenständig wirksam zu bekämpfen. Pembrolizumab hat die The rapie von Patienten mit fortgeschritte nem, nicht resezierbarem oder metasta siertem Melanom vorangebracht, Nivo lumab darüber hinaus von Patienten mit lokal fortgeschrittenem oder metasta siertem nicht kleinzelligem Lungenkar zinom und von Patienten mit fortge schrittenem Nierenzellkarzinom. Ein therapeutisches Potenzial wird auch au ßerhalb der Immunonkologie vermutet. Orphan Drugs In der Kategorie „Orphan Drugs“ ging der Preis an Sebelipase alfa ( von Alexion. Dabei handelt es sich um die erste Enzymersatztherapie für Pati enten mit LAL-Defizienz, eine genetisch bedingte, seltene Stoffwechselerkran kung bei der sich Cholesterinester und Triglyzeride vermehrt in verschiedenen Geweben ansammeln und dort multiple Organschäden verursachen, die zum vorzeitigen Tod führen können. red CharityAward 2016 Bereits zum achten Mal in Folge würdigt Springer Medizin ehrenamtliches Engagement. Die drei Preisträger erhalten jeweils eine Kombination aus Preisgeld und Medienleistungen. Platz 1 ging an AGISRA, eine Informations- und Beratungsstelle in Köln, die sich seit 1993 für Menschenrechte und Interessen von Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen einsetzt. ©© David Vogt Platz 2 belegte die „Ambulante Sozialpädagogik Charlottenburg“ (AMSOC) in Berlin, bei der seit 2005 Paten die Verantwortung für Kinder psychisch erkrankter Eltern übernehmen. Gewinnerinnen des CharityAwards: Shewa Sinn (mit Trophäe) und Julia Schwieterjann (mit Urkunde) von AGISRA, im Bild mit (v.l.) Moderatorin Andrea Ballschuh, Verlagschef Joachim Krieger vom Stifter und Sponsor Springer Medizin und Minister Hermann Gröhe. 60 Mit dem 3. Platz ausgezeichnet wurde die „Sprechstunde für Menschen ohne Sozialversicherung“ von Dr. Klaus Harbig in Dortmund. Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Praxis konkret Kurz gemeldet Vorwurf: sexueller Missbrauch Beurteilungsspielraum bei Sonderbedarfsprüfungen Beratungsverhältnis nicht ausgenutzt Liegen dem Berufungsausschuss die von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) im Rahmen einer Sonderbedarfsprüfung eingeholten Auskünfte nicht vor, so kann er seinen Beurteilungsspielraum nicht richtig ausüben. Denn er muss stets in der Lage sein, die von der KV vorgenom mene Auswertung und Zusammenfas sung durch eigene Anschauungen zu überprüfen. Auch die am Verfahren Be teiligten müssen die Möglichkeit haben, Einsicht in die Unterlagen zu erhalten. Nur so sind sie in der Lage, gegebenen falls argumentativ Stellung zu nehmen. Somit kann sich der Berufungsausschuss nicht darauf berufen, die Unterlagen seien nicht Bestandteil seiner Verfahrens akte. Schließlich wird durch die Nichtof fenlegung der Unterlagen die gerichtli che Kontrolle eingeschränkt, wozu nur der Gesetzgeber berechtigt ist. Anony misierte Fragebögen können in e inem rechtsstaatlichen Zulassungsverfahren nicht verwandt werden. Nachdem ein psychiatrischer Gutachter vom Landgericht wegen sexuellen Missbrauchs einer Staatsanwältin verurteilt worden war, hat der Bundesgerichtshof ihn nun freigesprochen. D te entwickelte ein gesteigertes Interesse an der Nebenklägerin. Bei einem gemeinsamen Abendessen offenbarte die Nebenklägerin dem Angeklagten eine seit mehreren Jahren bestehende Alkoholabhängigkeit. Etwa zwei Jahre später wurde die Nebenklägerin, die nunmehr als Staatsanwältin tätig war, nach einem zwei wöchigen Klinikaufenthalt zwecks Behandlung der Alkoholabhängigkeit und weiterer Krankheitsbilder von ihrem Vorgesetzten mit dem Vorwurf des erheblichen Nachlassens ihrer Arbeitsleistung konfrontiert. Aufgrund dieser Drucksituation erstrebte sie die Einnah- ©© Sebastian Duda / Fotolia as Landgericht München II (LG) hatte den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Beratungs- oder Behandlungsverhältnisses in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Dagegen wandte sich der Angeklagte mit der Revision zum Bundesgerichtshof (BGH). Nach den Feststellungen des LG wurde der Angeklagte als Psychiater vom LG häufiger mit der Erstellung von Gutachten in Strafverfahren beauftragt. Dabei lernte er auch die Nebenklägerin kennen, damals Richterin am LG. Der Angeklag- Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Sozialgericht Marburg, Urteil vom 16. März 2016 – S 12 KA 345/15 Regress: Vergleichsanfechtung wegen Unwissenheit nicht möglich Ein Allgemeinmediziner erhob Wider spruch gegen Regressbescheide der KV für die Jahre 2008 und 2009. Im Jahr 2013 bot ihm die KV unter Hinweis auf den neuen Grundsatz „Beratung vor Re gress“, der auch für Altfälle Anwendung finde, eine einvernehmliche Aufhebung der beiden Regressbescheide gegen Be ratung an. Seine zunächst erteilte Zu stimmung ließ der Arzt anfechten. Mit der Beratung habe ihm die KV lediglich angeboten, was das Gesetz ohnehin vor schreibt (Täuschung). Er sei nun einem höheren Risiko ausgesetzt, einen Verord nungsregress zu erfahren (Irrtum über die Tragweite der Erklärung). Die Anfechtung war jedoch nicht erfolg reich. Denn die Unkenntnis darüber, dass bei künftiger, erneuter Überschreitung einer Richtgröße keine (weitere) indivi duelle Beratung festgesetzt werden wird, sondern das Risiko eines finanziellen Regresses im Falle der Richtgrößenüber schreitung droht, stellt keinen Inhalts irrtum i.S.d. § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB dar, entschied das Gericht. Sozialgericht Marburg, Gerichtsbescheid vom 22. März 2016 – S 16 KA 292/14 61 Kurz gemeldet Einschätzung des Suizidrisikos Eine sanktionswürdige Berufspflichtverletzung kann nicht allein deshalb angenommen werden, weil sich nach einem Suizid eines Patienten herausstellt, dass der Arzt im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung die Suizidalität falsch eingeschätzt hat. Maßgebend ist vielmehr, wie sich die Suizidgefahr für den Arzt ex ante dargestellt hat. Der Arzt ist im Rahmen der verfassungsrechtlich garantierten Therapiefreiheit berechtigt und verpflichtet, die ihm geeignet erscheinende diagnostische und therapeutische Behandlungsmethode auszuwählen. Gerade im Bereich psychiatrischer Behandlungen ist dem Arzt ein weiter diagnostischer und therapeutischer Beurteilungs- und Ermessensspielraums zuzubilligen. Oberverwaltungsgericht für das Land NRW, Beschluss vom 20. April 2016 – 6t E 927/14.T Ärztliche Schweigepflicht nach dem Tod eines Patienten Der Arzt hat zu Lebzeiten seiner Patienten die ärztliche Schweigepflicht zu beachten. Das bedeutet, dass er in einem Zivilprozess unter Berufung auf seine Schweigepflicht in Bezug auf die Pflegebedürftigkeit seiner Patienten das Zeugnis verweigern darf, so lange die Patienten ihn nicht von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbinden. Die ärztliche Schweigepflicht reicht über den Tod der Patienten hinaus. Nach dem Tod der Patienten ist zu prüfen, ob sie zu Lebzeiten geäußert haben, dass der Arzt nach ihrem Tod schweigen soll oder ob er Angaben machen darf. Gibt es eine solche Äußerung nicht, ist der mutmaß liche Wille der Verstorbenen heraus zufinden, also zu prüfen, ob sie die Offenlegung mutmaßlich gebilligt oder missbilligt hätten. Im Rahmen der Erforschung des mutmaßlichen Willens ist dem Arzt eine weitgehende eigene Entscheidungs befugnis einzuräumen. Er muss allerdings, wenn er sich zu einer Aussageverweigerung entschließt, eine gewissenhafte Prüfung vornehmen und im Einzelnen darlegen, auf welche Belange des Verstorbenen sich seine Verweigerung stützt. Oberlandesgericht Koblenz, Beschluss vom 23. Oktober 2015 – 12 W 538/15 62 Praxis konkret me von angstlösenden Benzodiazepinen. Während des Klinikaufenthalts war vor dem Hintergrund einer früher bestehenden Benzodiazepin-Abhängigkeit die langsame Reduzierung und schließlich die Absetzung zuvor verabreichter Benzodiazepine erfolgt. Die Nebenklägerin ging davon aus, ihr behandelnder Arzt werde ihr diese Medikamente nicht mehr verschreiben. In dieser Situation kam sie auf den Gedanken, sich an den Angeklagten zu wenden und sein Interesse an ihr auszunutzen, um ihn durch Aufnahme einer sexuellen Beziehung zur Verschreibung von Benzodiazepinen zu bewegen. In der Folgezeit erreichte die Nebenklägerin, dass der Angeklagte ihr mehrfach die begehrten Medikamente verschrieb oder Blankorezepte überließ. Der Angeklagte besorgte sich in diesem Zusammenhang frühere Arztberichte und beriet die Nebenklägerin über eine Änderung der Medikation. Weitergehende Avancen des Angeklagten, der mit der Nebenklägerin eine Lebenspartnerschaft beginnen und ein gemeinsames Kind haben wollte, wies sie zurück. Im Rahmen des mehrere Monate dauernden Verhältnisses kam es mehrfach zu einvernehmlichen sexuellen Handlungen. Das Urteil Die Revision des Angeklagten führte zur Aufhebung des Urteils des LG-München II und zum Freispruch durch den BGH. Der BGH hat, anders als das LG, das Verhalten des Angeklagten als nicht strafbar angesehen und ihn deshalb freigesprochen. Ein Missbrauch im Sinne des § 174c Abs. 1 StGB liegt nach Auffassung des BGH nicht vor, wenn eine sich bereits in ärztlicher Behandlung befindliche Patientin von sich aus das vorhandene Interesse eines mit ihr privat bekannten Arztes an ihrer Person dazu nutzt, um sich im Rahmen einer lockeren freundschaftlichen Beziehung sonst nicht erhältliche Medikamente verschreiben zu lassen. An einem Missbrauch des Behandlungsverhältnisses fehlt es demnach, wenn die Patientin dem Arzt aufgrund ihrer beruflichen Stellung und Persönlichkeit auf Augenhöhe begegnet und der Entschluss, mit dem Arzt sexuell zu verkeh- ren, nicht auf wesentlich krankheitsbedingte Willensmängel zurückzuführen ist. Deshalb lagen die Voraussetzungen von § 174c Abs. 1 StGB für eine Strafbarkeit des Angeklagten nicht vor, wenngleich zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin grundsätzlich ein tatbestandlich gefordertes Beratungsund Behandlungsverhältnis bestand. Dieses Verhältnis missbrauchte der angeklagte Psychiater nach Ansicht des erkennenden Senats jedoch nicht zur Vornahme sexueller Handlungen mit der Nebenklägerin. An einem Missbrauch in dem vom Gesetz vorausgesetzten Sinn fehlt es, wenn der Täter nicht eine aufgrund des Beratung-, Behandlungsoder Betreuungsverhältnisses bestehende Autoritäts- oder Vertrauensstellung gegenüber dem Opfer zu sexuellen Handlungen ausnutzt. Vorliegend begegnete die Nebenklägerin dem Angeklagten indessen aufgrund ihrer beruflichen Stellung als Staatsanwältin auf Augenhöhe. Der Angeklagte nahm demzufolge nicht illegitim eine Chance wahr, die das Vertrauensverhältnis mit sich brachte. Entscheidend für die Beurteilung, ob ein Missbrauch vorliegt, kommt es nach Auffassung des BGH ferner auf die konkrete Art und Intensität des Verhältnisses an. In diesem Fall ließ sich die Nebenklägerin vom Angeklagten nicht medizinisch behandeln, sondern holte dessen ärztlichen Rat auf freundschaftlicher Basis unentgeltlich ein. Da sich die Nebenklägerin bereits vor Beginn des Behandlungsverhältnisses entschlossen hatte, den Angeklagten zu instrumentalisieren, stellte sich ihr Vorgehen als Ausdruck ihrer sexuellen Selbstbestimmung dar und nicht als deren Missbrauch durch den Angeklagten. Literatur beim Verfasser Arno Zurstraßen M.A. Rechtsanwalt und Mediator Fachanwalt für Medizinrecht und Fachanwalt für Sozialrecht Aachener Straße 197-199, 50931 Köln [email protected] www.arztundrecht.de Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Impressum Ausgabe 1/17 erscheint am 1. Februar 2017 CME-Fortbildung Fortbildung Kongressbericht Palliative Sedierung zur Symptomkontrolle Akupunktur beim perioperativen Schmerz Interdisciplinary World Congress on Low Back Pain Alle Beiträge aus dieser Zeitschrift finden Sie auch im Internet unter www.springermedizin.de/ schmerzmedizin Fotos: © (v.l.n.r) CandyBox Images / fotolia.com; E. Zacherl / fotolia.com; Wavebreakmedia Ltd / Thinkstock Änderungen vorbehalten SCHMERZMEDIZIN Angewandte Schmerztherapie und Palliativmedizin Organ der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. (DGS) www.dgschmerzmedizin.de Organ der Deutschen A kademie für Ganzheitliche Schmerztherapie e. V. (DAGST) www.dagst.de Organ des Berufsverbands der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe e. V. www.bv-palliativmediziner.de Schriftleitung Oliver Emrich, Ludwigshafen; Johannes Horlemann, Kevelaer; Klaus H. Längler, Wegberg; Silvia Maurer, Bad-Bergzabern; Gerhard H. H. Müller-Schwefe, Göppingen; Michael A. Überall, Nürnberg; Ludwig Distler, Saarbrücken; Sven Gottschling, Homburg/Saar; Johannes Jäger, Homburg/Saar; Eberhard Albert Lux, Lünen Beirat Christoph Baerwald, Leipzig; Ralf Baron, Kiel; Wolfgang Bartel, Halberstadt; Klaus Borchert, Greifswald; Burkhart Bromm, Kiel; Thomas Cegla, Wuppertal; Peter Engeser, Pforzheim; Gideon Franck, Petersberg; Ingunde Fischer, Halle; Gerd Geißlinger, Frankfurt am Main; Astrid Gendolla, Essen; Hartmut Göbel, Kiel; Olaf Günther, Magdeburg; Winfried Hoerster, Gießen; Hilmar Hüneburg, Bonn; Uwe Junker, Remscheid; Bruno Kniesel, Hamburg; Marianne Koch, Tutzing; Torsten Kupke, Dresden; Michael Küster, Bonn; Christof Müller-Busch, Berlin; Norbert Schürmann, Moers; Joachim Nadstawek, Bonn; Hans-Günter Nobis, Bad Salzuflen; Thomas Nolte, Wiesbaden; Manfred Oberling, Bad Camberg; Michael Petermeyer, Diez; Robert F. Schmidt, Würzburg; Thomas Schindler, Berlin; Günther Schütze, Iserlohn; Hanne Seemann, St. Leon-Rot; Ralph Spintge, Lüdenscheid; Matthias Strittmatter, Merzig; Reinhard Thoma, München; Thomas Tölle, München; Roland Wörz, Bad Schönborn; Kati Thieme, Marburg; Hans-Joachim Willenbrink, Bremen; Walter Zieglgänsberger, München; Manfred Zimmermann, Schriesheim Schmerzmedizin 2016; 32 (6) Verlag: Springer Medizin Verlag GmbH, Berlin Ladungsfähige Anschrift und Kontaktdaten: Springer Medizin Verlag GmbH, Aschauer Str. 30, 81549 München, Tel.: 089 203043-1300, Fax: -1400, www.springerfachmedien-medizin.de Inhaber- und Beteiligungsverhältnisse: Die alleinige Gesellschafterin der Springer Medizin-Verlag GmbH ist die Springer-Verlag GmbH mit einer Beteiligung von 100 %. Die Springer-Verlag GmbH ist eine 100 %ige Tochtergesellschaft der Springer Science+Business Media GmbH. Die alleinige Gesellschafterin der Springer Science+Business Media GmbH ist die Springer Science+Business Media Deutschland GmbH, die 100 % der Anteile hält. Die Springer Science+ Business Media Deutschland GmbH ist eine 100 %ige Tochtergesellschaft der Springer SBM Two GmbH. Die Springer SBM Two GmbH ist eine 100 %ige Tochter der Springer SBM One GmbH. Die Springer SBM One GmbH ist eine 100 %ige Tochter der Springer SBM Zero GmbH. An der Springer SBM Zero GmbH hält die Springer Science+Business Media G.P. Acquisition S.C.A., Luxemburg, 47 % der Anteile und die GvH Vermögensverwaltungsgesellschaft XXXIII mbH 53 % der Anteile. Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Leitung Zeitschriften Redaktion: Markus Seidl (v. i. S. d. P.) Ressortleitung: Dr. rer. nat. Gunter Freese Redaktion: Dr. rer. nat. Gunter Freese (Leitung), Tel.: 089 203043-1435, Fax: -31435, E-Mail: gunter. [email protected], Dr. rer. nat. Thomas Riedel (-1327), Dr. rer. nat. Carin Szostecki (-1346), Monika Hartkopf (CVD, -1409), Christine Heckel (Assistenz, -1402, Fax: -31402, E-Mail: christine. [email protected]) Herstellung: Ulrike Drechsler (Leitung), Tel.: 06221 4878-662, E-Mail: ulrike.drechsler@ springer.com; Erik Dietrich (Produktion) Corporate Publishing: Ulrike Hafner (Leitung), Tel.: 06221 4878-104, E-Mail: ulrike.hafner@ springer.com Anzeigenverkauf: Odette Thomßen Tel.: 030 82787-5740, E-Mail: [email protected] Zurzeit gilt die Anzeigenpreisliste vom 1.10.2016. Vertrieb: Marion Horn (Leitung), Tel.: 06102 506-148, E-Mail: [email protected] Bezug: Bestellungen nimmt der Verlag entgegen. Abonnement: Kündigungsfrist bis 30 Tage vor Ende des Bezugszeitraums. Sollte die Zeitschrift aus Gründen, die nicht vom Verlag zu vertreten sind, nicht geliefert werden können, besteht kein Anspruch auf Nachlieferung oder Erstattung vorausbezahlter Bezugsgelder. 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