Textliche Arbeit - format fashion show

Transcription

Textliche Arbeit - format fashion show
Format Fashion Show Vom linearen Catwalk zur komplexen Räumlichkeit.
­­—
10
3
12
15
16
18
24
30
29
32
34
38
37
47
40
50
43
57
54
60
58
66
64
67
69
63
70
73
76
79
78
81
70
Inhaltsangabe
11
Teil 1
Vorwort
Einführung in die anthropologischen, kulturtheoretischen, soziologischen, philosophisch- m edientheoretischen
Hintergründe der Präsentation von Mode
Die Geschichte und Etablierung des Catwalks im 20. Jahrhundert
im Zuge der Herausbildung eines gefestigten Modesystems
Die Anfänge der Haute Couture
Die 20er Jahre und die Kriegszeit
La Société du Spectacle
Neoliberalismus
Teil 2
Chanel kontextualisiert
Coco Chanel
Chanels Rolle in der Modewelt
Karl Lagerfeld und seine Vision von Chanel
Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt: Eine exemplarische Analyse
am Beispiel von fünf Chanel Shows — Eine Einführung
1994/95AW Prêt-à-Porter #56
2001 SS Prêt-à-Porter #68
2006 SS Haute Couture #72
2010/11 AW Prêt-à-Porter #77
2014/15 AW Prêt-à-Porter #80
Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
13
Vorwort
Die Arbeit bewegt sich in geisteswissenschaftlichen Disziplinen, der
Cultural Studies, Visual Studies und/oder der Bildwissenschaften –
sie beschäftigen sich mit diversen Phänomenen moderner Kulturen. Die Auflösung von high- und low-culture ist dabei zentral: der
Kunsthistoriker Willibald Sauerländer meinte zur zeitgenössischen
Bildwissenschaft, dass die "Trennungslinien zwischen Bildern der
Kunst und den Bildern des Konsums bei der Erforschung des Phänomens 'Bild' zu verwerfen"1 seien. Was mich an Mode insbesondere
interessiert, wird in José Teunissens Aufsatz 'Fashion and Art' an der
Beschreibung der Gemeinsamkeit von Modenschauen und Kunstperformances klar: "Kulturelle, politische und gesellschaftliche Aspekte werden verhandelt und Fragen zum Verhältnis von Umwelt
und Individuum werden gestellt."2 Das Verhältnis von Mensch und
Umwelt wird bei Modenschauen unter anderem in der Form des
Kleides, der Models und in den Räumen, in welchen sich die Körper
und Kleider bewegen, repräsentiert.
Von besonderem Interesse ist in dieser Arbeit der Raum, an welchen ich mit der These herantrete, dass sich in den letzten zwanzig
Jahren der Laufsteg von einer linearen Strecke zu einem komplexen räumlichen Konstrukt elaboriert hat. Um dieser These und den
damit verbundenen Gründen nachzugehen, wählte ich die Methode der exemplarischen Analyse und werde in Kapitel 5 am Beispiel
Chanel aufzeigen, wie differenziert die Shows im Verlauf der Jahre
ausgearbeitet worden sind und welche Rückschlüsse sich daraus
ziehen lassen.
Der Nährboden dieser enormen Entwicklung bildet die
Entstehungsgeschichte der Modenschau im Zuge der Industrialisierung. Um meine exemplarische Analyse der Chanel Modenschauen durchführen zu können, gehe ich in Kapitel 3 ausführlich
auf die Entwicklung der räumlichen Aspekte von Fashion Shows
seit ihrer Entstehung ein. Vorläufer der Modenschau war die Theaterbühne. Auch heute ist Mode Theater, Spektakel, eine Form der
theatralischen Selbstdarstellung, der dramatischen Selbstinszenierung. Nach 1900 spielte die Modenschau eine zentrale Rolle in der
Textilindustrie. Sie wurde in Couturehäusern, in Einkaufszentren
– wo sie teilweise noch die Funktion der Spendengelder-Sammlung
inne hatten – und erst später ab den 1960er Jahren in den Zentren
der Modehauptstädte aufgeführt.
Meine schriftliche Arbeit wird zur Veranschaulichung der
historischen Aufarbeitung räumlicher Aspekte der Modenschau
von einer Bildersammlung begleitet. Dafür wählte ich einerseits
1 Willibald Sauerländer, 2004. In: http://de.wikipedia.org/wiki/Bildwissenschaft, Zugriff: 24.04.2014.A
2 Lehnert Gertrud, 2012, S. 75.
14
eine Form, die es Bildern selbst – einzeln und in Kombination zu
einem neuen Bild arrangiert – ermöglicht Sinn zu stiften. Dieses
Anliegen ist inspiriert von der Äusserung des japanischen Grafikdesigners Makoto Saito: "I don't trust words. You can say anything
with words. I prefer a visual means of communication because it
allows the message to be more direct"3. Diese reiche, aussagekräftige Bildersammlung wird in Form einer Internetseite präsentiert,
die auf einer Ebene als reine Bilderwelt existiert, auf einer zweiten
Ebene kommentiert und auf einer dritten durch diesen Text vertieft wird. Mit # gekennzeichnete Zahlen weisen im folgenden Text
auf die Nummer des entsprechenden Bildes auf der Internetseite
hin. In der Printversion der Arbeit ist auf den ersten Seiten einer
Selektion der Bilder Platz gewidmet.
Inspiration für die Internetseite www.formatfashionshow.
ch fand ich zudem bei Aby Warburgs (*1866-1929, Kunsthistoriker,
Kulturwissenschaftler, Begründer der Ikonografie) Arbeitsweise,
die er für sein Projekt "Mnemosyne, eine Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei
der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen
Renaissance"4 anwendete. Mit Hilfe von Bildern, die er auf mit
schwarzem Stoff bespannte Holzrahmen anheftete, zu bestimmten Schwerpunkten gruppierte und umgruppierte, machte er das
vielfältige Weiterleben der Antike in der europäischen Kultur anschaulich.
Eine digitale Darstellungsform wählte ich, weil mir eine
Internetseite im Gegensatz zu einer Druckversion die Einbettung
bewegter Bilder erlaubte. Implizit lässt sich aus meiner Arbeit also
auch ein Entwicklung der Medienformate ablesen.
Abhängig davon, was man in welcher Zeitspanne als grosse
Veränderung wertet und welches die einwirkenden Faktoren einer
Zeit sind, kann Mode als Abbild der Gesellschaft gelesen werden.
Neue Medien haben das System der Mode tiefgreifend verändert,
mit teilweise schnell wirksamen Folgen. Einflüsse der Medien, aber
auch Wirkungsmechanismen anderer kulturtheoretischer und soziologischer Hintergründe auf das Modesystem untersuche ich in
Kapitel 2. Dabei interpretiere ich die Fashion Show vorwiegend
als modernes Ritual mit entsprechend eingeprägten, trägen Ausformungen. Die Modenschau als Ritual kündigt einen Wechsel
an, der durch formale Kriterien der Umsetzung, einer Aktion, Bewegungen mit einem Ziel zur Veränderung der Gruppe und des
Individuums führen sollen. Die Modepräsentation ist u. a. eine
zeitgenössische Form, um zeremoniell die Jahreszeitenwechsel zu
3 http://www.eyemagazine.com/feature/article/reputations-makoto-saito, Zugriff: 18.03.2014.
4 http://de.wikipedia.org/wiki/Aby_Warburg, Zugriff: 24.04.2014.
Vorwort
15
feiern. Die Individuen, welche an dieser Transformation teilhaben,
verknüpfen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Im Ritual
wiederholt sich nicht nur stets das Alte, sondern es erneuert sich
fortlaufend und provoziert Neues geradezu. Welche Veränderungen zeitgenössischere Modenschauen derzeit durchlaufen, werde
ich in Kapitel 5 an der exemplarischen Analyse von fünf Chanel
Shows zwischen 1994 und 2014 genauer analysieren. Als Vorbereitung dafür setze ich mich in Kapitel 4 näher mit Gabrielle Chanel,
der Rolle der Marke Chanel im Modebusiness und der Person Karl
Lagerfelds auseinander. Wie er Trends vorwegnimmt und wie sich
sein Gefühl für den Zeitgeist räumlich bei der Präsentation von
Mode auswirkt, bette ich anhand der fünf Exemplare auf der Internetseite chronologisch ein, untersuche sie aber differenzierter als
andere Beiträge, weshalb ihnen in der Buchform im Anhang mehr
Abbildungen gewidmet sind.
16
Einführung in die anthropologischen, kulturtheoretischen,
soziologischen, philosophisch-medientheoretischen Hintergründe
der Präsentation von Mode
Wenn Kleider einer vergangenen Saison ausrangiert werden, bekommen alle Schaufenster hässlichen Charakter. Rauschartig
werden die Berge von reduzierter Ware von zu Tieren mutierten
Kunden durchforstet. Diese Transitionsphase zwischen alt und
neu könnte man als dionysische Periode bezeichnen. Gleichzeitig finden in einer den schönen Schein wahrenden Traumwelt,
exorbitante Modenschauen statt. Halbjährlich stattfindend muten
diese appolinisch an.5 Diesem Vergleich würde ich nicht ganz zustimmen, da Nietzsches Begriffspaar Apollinisch-dyonisisch zwar
gegenteilige Charakterzüge bezeichnet, nämlich Form und Ordnung vs. rauschhafter Schöpfungsdrang, diese aber nicht 1:1 auf
neue Mode vs. vergangene Moden anwendbar sind.
Die zeitgenössischen Fashion Shows sind trotzdem – möge
der Begriff Nietzsches auch nicht direkt übertragbar sein – eine
moderne Form mythischer, antiker sozialer Praktiken und Rituale.
Im Gegensatz zum Ausverkauf, dessen Materie nach Ankunft der
neuen Ware nicht wieder thematisiert werden will, wird die neue
Kollektion jeweils Gesprächsstoff aller. Pierre Bourdieu umschreibt diesen Prozess in seinem Vortrag 'Haute Couture und
Haute Culture' folgendermassen: "Das Feld der Produktion hat wie
das Feld der sozialen Klassen und der Lebensstile eine Struktur,
die das Produkt seiner früheren und das Prinzip seiner späteren
Geschichte ist. Das Prinzip seiner Veränderung ist der Kampf um
das Monopol der Distinktion, der Durchsetzung der neuesten, legitimen Differenz, der neuesten Mode, und dieser Kampf mündet
in den fortwährenden Sturz des Überwundenen in das Gestern."6
Nicht nur die Kleidermode, sondern auch jene neuer Räume versucht stets vergangenes zu überwinden.
Neue Kollektionen werden auf dem Laufsteg, in Modemagazinen, Zeitungsbeiträgen, Fernsehsendungen, Blogs und anderen Onlinepublikationen präsentiert. Roland Barthes beschreibt
die Repräsentation von Mode in Modemagazinen und hält fest,
dass die Studie von diesen die Studie des fetischistisch inszenierten, repräsentierten Kleides darstellt. Auch vergleicht er die Präsentation der Frühlingskollektionen direkt mit dem Erwachen der
Natur aus ihrem Winterschlaf. 7
Aus anthropologischen Studien der Mythen antiker Religionen geht hervor, dass eine zentrale Errungenschaft des jüdisch-christlichen Glaubens die Würde und Verteidigung des un-
5 Vgl. Gruendl Harald, 2007, S. 9.
6 Bourdieu Pierre, 1974. In: Eismann Sonja, 2012, S. 122.
7 Vgl. Gruendl Harald, 2007, S. 19.
Einführung in die anthropologischen, kulturtheoretischen,…
17
schuldigen Opfers ist. Die Haltung des Mitleids Opfern gegenüber
unterscheidet sich deutlich von der antiken Sicht, die in archaischen Mythen deutlich wird. Die moderne Opfersorge hat einen
weltweiten Siegeszug angetreten und gilt als Inbegriff der Humanität. In der Postmoderne ist jedoch ein Missbrauch der modernen
Opfersorge und ihrer wachsenden Instrumentalisierung wahrzunehmen. Man kann darin eine neuheidnische Hinwendung zum
alten Opferverständnis in den einst christianisierten Nationen erkennen. Diese Rückkehr, die bereits unter dem geistigen Einfluss
Friedrich Nietzsches in der westlichen Philosophie Einzug gehalten hat, erreichte mit dem arischen Vernichtungsfeldzug gegen die
Juden im Dritten Reich ihren historischen Tiefpunkt. Der Umgang
damit könnte in der neuen Religion 'Mode' unserer Konsumgesellschaft durch das Ritualisieren des Jahres mit Opfergaben an Dionysos (alte Kollektion, Schlussverkauf) und Apollo (Aufführen von
Modenschauen) interpretiert werden.
In der Religionswissenschaft vermutet man, dass auch die
Botschaft von der Kreuzigung und Auferstehung Jesu nur eine
christliche Variante des in der Antike verbreiteten Mythos vom Tod
und der Erweckung eines Gottes sei und man von daher die Entstehung des christlichen Zentralkultes erklären und verstehen müsse.
Um die Modenschau in einem kulturtheoretischen Diskurs
verorten zu können, muss man das Phänomen in einer westlichen
Konsumkultur untersuchen. Gemäss Marshall Sahlins, einem
amerikanischen Anthropologen, bezeichnet der Begriff Kultur die
sinnhafte Ordnung von Personen und Dingen. Der Unterschied
von Kultur zu sozialer Struktur bestehe darin, dass die Struktur das System der Interaktion selbst sei, wohingegen Kultur ein
strukturiertes System von Bedeutungen und Symbolen ist.8 In
Konsumgesellschaften sind soziale Praktiken eher von Konsum
als von sozialen Dimensionen wie Religion oder Arbeit geprägt.
Eine wichtige soziale Praxis darin stellt nun das Ritual dar, denn es
stabilisiert soziale Beziehungen. Trends sind also Ritual, Kult und
Fetisch basierend auf dem fundamentalen menschlichen Bedürfnis
nach Sozialleben. Und diese Rituale manifestieren sich im Räumlichen und erzeugen dabei strukturierte, exklusive Räume.
Axel Michaels untersucht seit 2002 mit über 90 involvierten Forschern – Geistes-, Kulturwissenschaftlern, Hirnforschern
und Neurobiologen – an der Universität Heidelberg das Feld der
'Ritualdynamik'. Für ein gemeinsames Fundament ihrer Forschung
ist eine Verständigung auf den Begriff 'Ritual' elementar. Ihre Definition von Ritual – vor allem dem Ausseralltäglichen, da ihrer Auffassung nach nicht jede alltäglich sich wiederholende Aktion gleich
8 Vgl. Gruendl Harald, 2007, S. 19.
Ritual sein kann – prägt vier Merkmale:
18
9
Verkörperung (setzt handelnde Personen voraus, die einen Wechsel phy-
sisch umsetzen)
Förmlichkeit (Kommunikationscodes, ein formal ausgesprochenes Ziel,
formale Kriterien der Umsetzung, stereotyp wiederholte Handlungen. Darin bestehen Riten aus Einzelelementen, den Ritemen, welche
nach bestimmten Regeln zu Komplexen zusammengesetzt werden)
Modalität (fast jede Handlung kann zu einer rituellen überhöht werden.
Ist die Ritualhandlung gar durch eine höher gewertete Welt definiert,
wird sie als 'religio' bezeichnet)
Transformation (Wechsel, der auch zeitlich oder räumlich auf Status oder
Kompetenzen einwirkt. Ritualisierung findet in strukturierten Räumen statt, welche einen begrenzten Zutritt mit sich bringen)
Alltagsritualen fehlt die Überhöhung, die Komponente der
kulturell geschaffenen Regelmässigkeit und sozialer Beziehungen. Rituale sind an historische, regionale oder sprachliche Kontexte gebunden. Sie verändern sich kaum, sind träge, weil sie dadurch Vertrauenskapital schaffen. Damit erzeugen sie soziale, wirtschaftliche und
politische Stabilität, Sicherheit und Vertrauen. Unter Einfluss dieses
Schwarmverhaltens ist ein Ausbruch umso schwieriger und kleinstes
Fehlverhalten kann grosse Aufmerksamkeit, sowohl positiv als auch
negativ gewertet, auf sich ziehen. Neurobiologen haben in Studien
nachweisen können, dass lebenszyklische Übergangsrituale grundlegend mit biologischen Vorgängen zusammenhängen.10 In menschlichen Kulturen findet man Handlungen, welche auch in der Tierwelt
vorkommen, nicht nur weil sie von derselben Umwelt umgeben sind.
Respektbezeugung Ranghöheren gegenüber, Pfalzverhalten, Täuschungsmanöver. Es sind Akte der Kommunikation zwischen Darsteller und Publikum, welche Gemeinschaft bilden und Individuelles
unterdrücken.
Viele dieser beschriebenen Wesenszüge von Ritualen lassen
sich auf das Modesystem und ihre periodisch wiederkehrenden Rituale übertragen. Die Merkmale nach Michaels lassen sich auch auf die
exklusiven Räume der Modenschau übertragen, wo für Gewöhnlich
ein Model durch stereotype Bewegungen dem Wechsel von Alt zu Neu
Form verleiht. Rituale bezeichnen soziale, natürliche und/oder kulturelle Transitionen. Der Schlussverkauf kann wie die Modenschauen
als Kalenderritus verstanden werden. Er stabilisiert und strukturiert
die Zeit von einer Phase in die nächste auf verschiedenen Ebenen,
von einer Micro-Ebene (Sprache und soziale Interaktion, kleines Publikum) bis hin zur Makro-Ebene (formale Zeremonien, grosses Publikum).
9 Vgl. Michaels Axel, 2011, S. 12.
10 Vgl. Michaels Axel, 2011, S. 13.
Einführung in die anthropologischen, kulturtheoretischen,…
19
Symbolische Formen des Ausdrucks lassen einen auf die Realität
Rückschlüsse ziehen und wirken auf kulturelle Erfahrungen ein.
Die performative Dimension von ritueller Aktion spielt dabei eine
zentrale Rolle. Durch den performativen Akt werden Symbole belebt und erzeugen Realität. Die Mode ist dafür ein geeignetes Gefäss,
da sie das menschliche Bedürfnis nach Adaption, Anpassung (soziale
Gleichheit) sowie jenes nach Abgrenzung und Individualität nährt.
Rituale sind eine Reflexionsmethode von Natur und Umwelt des Menschen, um das System, in welchem sie wirken zu
stabilisieren. Auch das Kalenderjahr der Mode bring Stabilität ins
Leben des modernen Großstadtmenschen. Dabei sind die Konsumtempel die zeitgenössischen Orte der Religiosität.
Die ideale Marketingstrategie entspricht religiöser Ikonenanbetung. Und dies ist Norbert Bolz zufolge gar nicht schlecht,
denn Kapitalismus in Anlehnung an Walter Benjamins Religionsersatz betrachtet, macht alltäglichen Warenfetischismus und Konsumismus zu einem Immunsystem der Gesellschaft und vermindert
Fanatismus (Bolz hält primitiven Konsumismus für das kleinere
Übel als religiösen Fundamentalismus. Zudem meint er, Materielles liefere einen "spirituellen Mehrwert wie Freiheit, Geborgenheit, Gesundheit, Individualität, Liebe und Sinn"11).
Dass die Modenschauen, die rituellen Überhöhungen des
Kapitalismus, immer an denselben Orten stattfinden, hängt mit
der Originalität von Kultlegenden zusammen, die Macht garantieren und Heilung heraufbeschwören. Vergleichbar mit dem Zauber,
der von byzantinischen Ikonen ausgeht oder mit einem Ritus in
Venedig, bei dem gewisse religiöse Bilder zur Dramatisierung und
Exklusivitätssteigerung nur an gewissen Tagen des Jahres gezeigt
wurden: Die Kultbilder wurden vom Blick der Betrachter durch
einen Vorhang verhüllt, um einen stärkeren Eindruck an gewissen
Festtagen zu erzielen.12 Heutzutage geht auch von Modenschauen, die nicht in einer Modemetropole gezeigt werden, eine kleinere – durch das System von Modejournalismus generierte – Faszination aus, als von Modenschauen in einer der 'Big Four' (New
York, London, Mailand, Paris).
Bei der Entwicklung des Kalenderritus Fashion Show spielt
die einflussreiche Veränderung der Medien eine wichtige Rolle.
Sich verändernde Medien wirken sich auf die Gesellschaft aus, wie
Marshall McLuhan meinte, sei das Medium selbst die Botschaft,
da es auf den Rezipienten direkt wie eine Massage einwirke ('The
Medium is the Massage'13).
Norbert Bolz und Walter Benjamin vergleichen beide in ihrer me-
11 http://de.wikipedia.org/wiki/Norbert_Bolz, Zugriff: 06.05.2014.
12 Vgl. Gruendl Harald, 2007, S. 65.
13 Vgl. McLuhan, 2001, S. 1.
Einführung in die anthropologischen, kulturtheoretischen,…
20
dien- und kommunikations-theoretischen Philosophie Religion
und Konsum im Zusammenhang mit Medien: "Medien bieten Ersatzformen von Allwissenheit und Allgegenwärtigkeit an. An die
Stelle religiöser Kommunikation tritt heute Kommunikation als
Religion… In der Vernetzung zum integralen Medienverbund ist
uns eine stabile Umbesetzung der Transzendenz gelungen. Das
Göttliche ist heute das Netzwerk."14 Die durchdringend vernetzte
Allwissenheit, welche das WWW heute mit sich bring, wirkt sich in
der Gesellschaft verstärkend auf die Macht der Bilder aus. Kapitalismus nutzt die Macht der Bilder ähnlich wie Religionen dies tun.
Nebst den rituellen Wesenszügen der Modenschau spielt deshalb
auch deren Kommunikation eine wichtige Rolle betreffend ihrer
Antizipation und Wertung.
Neue Medien haben die Rahmenbedingungen der Modebranche verändert. Die Massenmedien sind im 20. Jahrhundert
zum Schauplatz der Öffentlichkeit geworden. Inwiefern sie das
Modesystem über sich verändernde Kommunikationskanäle beeinflusst haben, werde ich in dieser Arbeit nicht vertieft untersuchen können. Dass neue Technologien und Medien nicht nur die
Wahrnehmung neuer Moden beeinflussen, sondern diese auch direkt verändern, sollte im Bewusstsein behalten werden, da es im
Verlauf der Arbeit wiederkehrend aufgegriffen wird.
14 http://de.wikipedia.org/wiki/Norbert_Bolz, Zugriff: 06.05.2014.
21
Die Geschichte und Etablierung des Catwalks im 20. Jahrhundert
im Zuge der Herausblidung eines gefestigten Modesystems
Um dieses Kapitel zu gliedern, habe ich es chronologisch aufgebaut: die Anfänge der Haute Couture begünstigten die Entwicklung der Modenschau bis 1920, es folgten dreissig Jahre, die sich
mit den Weltkriegen auseinanderzusetzen hatten und in der Zwischen- bzw. Nachkriegszeit kaum eine Weiterentwicklung der Modenschau bewirkten. Dann überführe ich mit den wilden 1960ern
in die Gesellschaft des Spektakels. Dieser folgen die Achtzigerjahre, die von fortdauerndem Glauben an Wirtschaftswachstum geprägt waren, die Ära des Neoliberalismus. Die jüngste Geschichte
des Catwalks ist nicht wissenschaftlich aufgearbeitet. Ich untersuche sie in Kapitel 5 am Beispiel fünf zeitgenössischer Chanel Modenschauen zwischen 1994 und 2014. Vorbereitend dazu, kontextualisiere ich das Chanel Universum in Kapitel 4.
Die Anfänge der Haute Couture
Seine Wurzeln hat die Präsentation von Mode im Theater, wo man
zu Zeiten Marie Antoinettes (*1755-1793) die neuesten Kreationen auf der Bühne zeigte. Die Hofschneiderin Antoinettes, Rose
Bertin, stattete begleitend zu den Aufführungen hölzerne Modepuppen in halber Lebensgrösse mit verkleinerten Versionen der
neuesten Kleider und Accessoires aus, und ließ sie in luxuriösen
Kutschen an europäische Höfe ausliefern.15
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts fand die Schau modischer Kleidung in den Geschäften der Schneidermeister statt.
Auch in öffentlichen Räumen wie auf dem Boulevard, an Strandpromenaden oder unter den Arkaden von Paris (dafür möchte ich
gerne auf das Passagen-Werk von Walter Benjamin verweisen) fand
die modische Zurschaustellung vor der Jahrhundertwende statt,
wie es Charles Baudelaires Gedicht 'À une passante' zu entnehmen
ist. Dieses stammt aus der Gedichtsammlung 'Les Fleurs du mal'
(zwischen 1857-1868 entstanden), in welcher sich der Schriftsteller
mit dem entfremdeten, melancholischen Grossstadtmenschen beschäftigte:
15 Vgl. Catwalks, 2009, S. 10.
—
"La rue assourdissante autour de moi hurlait.
Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,
Une femme passa, d'une main fastueuse
Soulevant, balançant le feston et l'ourlet ;
22
Agile et noble, avec sa jambe de statue.
Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,
Dans son oeil, ciel livide où germe l'ouragan,
La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.
Un éclair… puis la nuit ! - Fugitive beauté
Dont le regard m'a fait soudainement renaître,
Ne te verrai-je plus que dans l'éternité ?
Ailleurs, bien loin d'ici ! trop tard ! jamais peut-être !
Car j'ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,
Ô toi que j'eusse aimée, ô toi qui le savais !"
—
Die Entstehung der Modenschau hängt direkt mit der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts zusammen und führte zur
neuen Religion des Grossstadtmenschen: der Mode. Bereits 1868
wurde das 'Chambre syndicale de la Couture' gegründet, welches
zunehmend die Mechanismen in der Textilindustrie zu regulieren
begann. Die Couturiers erkannten, dass sie auf die durch die Industrialisierung ausgelösten Veränderungen eingehen, sie zu ihrem
Vorteil nutzen mussten. Die Modehäuser veränderten sich so zu
professionell organisierten Managements mit Arbeitsteilung, die
nach dem Modell Frederick Winslow Taylors strukturiert waren.
Dieses ging als Taylorismus, einer rationalisierten Arbeitswissenschaft, in die Geschichte ein. Taylor gelang es 1890 bei der Firma
'Simonds Rolling Machine Co.' bei einer Verkürzung der täglichen
Arbeitszeit sowie zusätzlicher Verlängerung und Strukturierung der
Pausenzeiten, insgesamt bei einer Verkürzung der Arbeitszeit um
mehr als 20 %, die Produktivität der Arbeiterinnen zu steigern. In
der Folge konnte er die Entlohnung der MitarbeiterInnen erheblich
verbessern. Seine Hauptwerke 'Shop Management' und 'The Principles of Scientific Management' entstanden 1903 und 1911.
Nicht nur die Industrialisierung, sondern auch die Eisenbahn veränderte die Wahrnehmung der Menschen. Die Eisenbahn
ebnete den Weg für den amerikanischen Traum. Sie ermöglichte
neue Formen von Lebensentwürfen und schnellere, bzw. grossflächigere Verbreitung von Ideen. In der Literatur schlug sich die-
Die Geschichte und Etablierung des Catwalk
23
ses eilende Tempo ebenfalls nieder, so schrieb Jean Cocteau 1926:
"La beauté est une dame qui marche".16 Der zunehmend schnellere
Gang der Mannequins war auch durch aufkommende Sportmode
beeinflusst. Im Film von Tony Lekain 'On demande un mannequin'
aus dem Jahr 1923 wird klar, dass das Bedürfnis Mode in Bewegung zu sehen von den Erfindungen der Vorindustrialisierung und
des Modernismus abhängig war, da sie alle zu einem schneller zu
stillenden Nervensystem beitrugen: die Schreibmaschine (1874),
das Telefon (1876), das Grammophon (1877), die Untergrundbahn
(1890), das Kino (1895), der Bus (1897), das Flugzeug (1903). Diese
veränderte Sensibilität für Geschwindigkeit veränderte auch die
Perzeption und somit die alltäglichen Angewohnheiten der Bevölkerung, v.a. in Grossstädten.
Die Präsentation von Mode war durch technische Innovationen und der sich damit verändernden Architektur geprägt.
Eisenkonstruktionen und Glasfassaden zeichneten entstehende
Einkaufshäuser aus, in denen die ersten Modenschauen, die sogenannten 'tango teas', in den Teesalons stattfanden. Dies allerdings
vorerst in London bei Peter Robinson, Selfridge's und bei Harrod's.
1904 stellte das Einkaufszentrum Peter Robinson (an der Oxfordstreet in London, wurde später zu TopShop) seine breit diskutierte
Schau als gesellschaftlichen Anlass dar, welcher dem traditionsreichen, britischen Pferderennen von Ascot nachempfunden war #10.
Harrod's veranstaltete 1909 seine erste Show im 'Theater of Dress'
und stuhlte dafür das Publikum auf drei Seiten um eine dreieckige Bühne, auf welcher die Models zwischen Pflanzen und Kanephoren umherschlenderten. Ebenfalls von London aus ging der
Einfluss von Redfern #14. John Redfern begann 1855 als Schneider
in London, eröffnete bald Shops in Paris, Edinburgh, New York
und gilt als Pionier für Damensportmode bis 1940. In Paris kreierte
er einen runden Raum, der vom hexagonalen 'Palais des illusions
de l'Exposition Internationale de 1900' #3 auf dem Marsfeld beim
Eiffelturm in Paris inspiriert war. Der Palais des Illusions war ein
Spiegelsaal mit maurischer Dekoration, der mit einer Unzahl farbiger Lampen effektvoll beleuchtet werden konnte. Der Besitzer des
1882 eröffneten Wachsfigurenmuseums 'Grévin' beauftragte später
den Architekten Eugène Hénard eine verkleinerte, verbesserte Variante des Spiegelsaales im Museum zu verwirklichen. Der Salon
von Redfern war ebenfalls rundherum mit Spiegeln versehen, welche Modell und Klient mehrfach reflektierten. Auch bei Christophe
Drécoll (*1851-1939) wurden die Umkleidekabinen seiner Pariser
Niederlassung mehrfach mit Spiegeln ausgestattet und Gabrielle
Chanel eröffnete 1928 ihre berühmte, noch existierende Niederlas16 Jean Cocteau, 1926. In: Showtime, 2006, S. 65.
24
sung an der Rue Cambon, welche durch eine mit vielen länglichen
Spiegeln bestückte Rundtreppe berühmt wurde #30.Die Modelle
wurden darin unendlich oft multipliziert, was sowohl die zukünftige Multiplikation der Kleidung durch Massenproduktion, als auch
jene des Models als weibliches Ideal darstellt. Der Saal im Erdgeschoss, in welchen diese Treppe mündete, war ebenfalls verspiegelt
#29. Diesem räumlichen Element der Täuschung werden wir in der
Welt der Mode noch oft begegnen.
Die Modepräsentation am bewegten Körper revolutionierte 'Lucile', die englische Schneiderin Lady Duff Gordon (geborene
Lucy Christiana Sutherland) #7. Sie inszenierte die ersten sehr innovativen Mannequin-Paraden in den ersten zwei Jahrzehnten des
20. Jahrhunderts und brachte sie von London nach New York und
Paris #17. Andere Häuser benutzten damals vorwiegend noch Waxund Holzpuppen oder hatten in ihren Boutiquen Verkäuferinnen
angestellt, um der Mode Leben einzuhauchen. Luciles erste Show
fand bereits 1897 in London beim 'Hanover Square No. 17' statt,
wo die Modelle unter einem Gemälde von Angelica Kauffmann eine
Treppe herabstiegen. Angelica Kauffmann gilt als Klassizistische
Malerin des 18. Jahrhunderts, welche exemplarisch das 'Weibliche',
das heisst das Empfindsame, Moralisch-Tugendhafte verkörperte
#1. Sie wurde als den der Freundschaft, Melancholie und Grazie
verpflichteten Künstlertyp wahrgenommen. Ihre Kunst wurde trotz
grossen Talents nicht darüber hinaus rezipiert. Luciles kommende
Shows wurden vorwiegend in privaten Räumen mit Kulissen im Stil
der Innenausstattung einer neoklassizistischen Boutique inszeniert
#10. Sie prägte die Fashion Show als multisensuelles Erlebnis, indem sie persönliche Einladungskarten versandte und ihren Entwürfen anstelle von Nummern (wie es damals gängig war) poetische
Titel gab, welche sie beim Auftritt des Modells auf die Bühne rief.
Weder lächelten noch sprachen ihre Modelle. Ein Orchester sorgte
für musikalische Untermalung, dramatische Lichtblitze bereicherten die Show und Tee wurde serviert.
Das ernsthafte Geschäft, Kleidung zu verkaufen wurde bei
Lucile erstmals in eine soziale Angelegenheit verwandelt. Sie inszenierte in Paris die 'thé dansant' – 'tango teas', wo sich ihre Modelle zu Musik leicht tänzelnd in Bewegung präsentieren liessen.
Zwischen 1908 und 1910 etablierte sich diese Art von Show bei den
meisten Couturiers in Paris. Eine höhere Komplexität in der Dramaturgie gestaltete dann Lucile's Schwester Elinor Glyn (*18641943) aus #18. Sie war eine bekannte Novellistin und inszenierte
1909 für Lucile in sieben Akten den Kleidungszyklus der sieben
Alter einer Frau. Luciles Shows fanden vor 800 bis 3000 Zuschauern statt, die eine neue Art von Performance gebaren. Diese war
Die Geschichte und Etablierung des Catwalk
25
entscheidend beeinflusst von Tänzerinnen des späten 19. Jahrhunderts, wie beispielsweise Loie Fuller (1862-1928), welche weder durch ihr schönes Gesicht, noch ihre Figur erfolgreich wurde,
sondern ihre Fähigkeit Textilien tänzerisch zu manipulieren #2.
Sie beeinflusste den modernen Tanz mit ihrem Schlangentanz und
erfundenen Lichtspielen auf der Bühne. Auch förderte sie Isadora
Duncan (1877-1927), welche als Wegbereiterin des modernen, sinfonischen Ausdruckstanzes gilt #4. Durch sie entwickelten Frauen
ein neues Körper- und Bewegungsempfinden, das sich am griechischen Schönheitsideal orientierte. Als Gegnerin des klassischen
Balletts versuchte sie, den Tanz der Antike wieder zu beleben. Isadora trug bei ihren progressiven Aufführungen weder Korsett noch
Schuhe.
Lucile arbeitete auch für das Theater. In diesem Kontext
etablierte sich das Modenschauspiel in London, ein neues Genre
der Musikkomödie, das zwischen 1890-1914 entstand. Sie schreibt
in ihrer Autobiographie: "Langsam formte sich die Idee der Mannequin Parade in meinem Kopf, welche so interessant wie eine
Theateraufführung sein würde. Ich hätte glorreiche, göttliche
Mädchen, welche in meinen Modellen gekleidet auf und ab gingen
und sie möglichst vorteilhaft einem bewundernden Publikum von
Frauen zeigten."17
In Amerika übrigens fand die erste Modenschau bereits
1903 im 'Madison Square Garden' statt, es war ein zweiwöchiger
Event, 'the fashion show' genannt. Sie fand ihren Platz in einem
zweistöckigen Gebäude und war für ein breites, öffentliches Publikum angelegt, was grundsätzlich der Unterschied zu den frühen
Modenschauen in Europa war, welche lange einem geschlossenen
Zielpublikum aus der Oberschicht vorenthalten blieben. Dabei
wurden live ausschliesslich französische Modelle an amerikanischen Mannequins gezeigt, amerikanische Mode wurde erstaunlicherweise nur statisch ausgestellt, wie auch neueste technische
Errungenschaften aus der Textilindustrie.18 1914 fand unter Sponsoring von Vogue die erste Wohltätigkeits-Modenschau in einem
Einkaufszentrum in New York statt.
Redfern, Drecoll, Lucile und Chanel waren wichtige Akteure in Europa und England, in der Welthauptstadt der Mode hatten jedoch Paul Poiret und Charles Frederick Worth den grössten
Einfluss. Worth (*1826-1895) gilt als Begründer der Couture. 1845
wanderte er nach einer Lehre als Stoffverkäufer in England nach
Paris aus, arbeitete dort bei der Schneiderei Gagelin und heiratete
eine seiner Mitarbeiterinnen, das Mannequin Marie Vernet. Erste
17 Gordon Lucile Wallace Duff, 1932. In: Fashion Theory, 2001, S. 274.
18 Vgl. Evans Caroline, 2013, S. 78.
26
Erfolge verzeichnete er 1851 mit dem Gewinn einer Goldmedaille für seine an der ersten Weltausstellung präsentierten Entwürfe.
Worth revolutionierte später mit seiner Art der Kleiderproduktion die Modeindustrie. Er war der erste Modeschöpfer, der mehr
als Künstler denn als Handwerker verstanden wurde. Schon 1867
schuf Worth ein Vertriebsprogramm, das ausländischen Einkäufern den Erwerb seiner Schnittmuster ermöglichte. Entsprechend
seinem künstlerischen Selbstverständnis war in Worths Modellen
ein Namensschild eingenäht, welches das Kleid wie ein Gemälde
durch die Unterschrift eines Künstlers auszeichnete. Er und Vernet eröffneten gemeinsam bereits 1858 ihr 'Maison de Couture' in
Paris #15. In den ersten elf Jahren des Bestehens prägte Marie das
Haus nicht nur als aktives Model, als 'Chef Mannequin', sondern
auch als Verkäuferin.
Anders als heute hatten Worths Kollektionen und deren
Präsentation weder einen fixen Platz im Kalenderjahr, noch auf der
Stadtkarte. Die Mode wurde entweder auf Verlangen und Vereinbarung mit wohlhabenden Kunden/-innen defiliert oder an sozialen
Anlässen gezeigt. Dort nahm Frau Vernet die Rolle der Fashionista, des It-Girls, des Celebrity ein, da sie die Mode bei Longchamps
Rennbahn und im Bois de Boulogne trug. Diese Auftritte wurden
von Journalisten bzw. Literaten (z. B. in Alice Ivory's 'A women's
guide to Paris') oder in der Zeitung kommentiert und gelangten
durch Mund zu Mund Propaganda zu ihrer Verbreitung.
Paul Poiret war eine weitere wichtige Figur. Er war Gabrielle Chanels grösster Konkurrent. Zur Präsentation seiner Mode
begleitete er drei seiner Modelle in drei identischen, hellenistischen Kleidern zu einem Pferderennen und sorgte damit für grosse Aufregung, was sich sogar in den Tageszeitungen niederschlug.
Bekannt wurde er durch seine orientalisch anmutenden, für Theaterproduktionen gefertigten Kleider #11 #13. Die Theatralisierung
der Modenschau durch Paul Poiret und Lucile verschob den Fokus
des weiblichen Konsums auf die Kleidung zum männlichen Blick
auf das Modell. Mit dem Begriff Modell war zu Beginn des 20. Jahrhunderts übrigens nur das Kleidungsstück gemeint und verlagerte
sich beim Gebrauch im Zusammenhang von Inszenierungen der
Kleider am weiblichen Körper auf die Frau selbst. Dies bezeichnet
indirekt die Verdinglichung der Frau, bzw. macht den Unterschied
von Kleid und Körper unsichtbar.
Ungleich heutiger Modenschauen dauerten diese Events
nicht nur maximal 20 Minuten, sondern konnten sich über Tage
oder Wochen hinwegziehen. Die einzelnen Elemente dauerten
etwa drei Stunden und wurden über Tage oder Wochen hinweg
mehrmals wiederaufgeführt, hatten also auch diesbezüglich theat-
Die Geschichte und Etablierung des Catwalk
27
ralen Charakter. Meist wurden die Modelle in den Geschäften der
auf Stühlen sitzenden Kundschaft präsentiert #9. Dann zeigte Poiret 1909 erstmals seine Kollektion an einem speziellen Ort, in seiner Privatvilla, in mehreren, durch rote Teppiche verbundene und
durch Vorhänge voneinander abgetrennten Räumen. Zu diesen
Räumen führte eine geschwungene Treppe hinab und zu Überraschungszwecken liess er manche seiner Modelle aus einer kleinen
Seitentür hinaustreten. Spiegel und eine Öffnung in den formellen
Garten erweiterten das Raumkonzept.
Betreffend Zeitpunkt im Kalenderjahr war es erst nach
1918 üblich, dass die Shows ein fixes Gefäss erhielten, da mehr und
mehr ausländische Käufer nach Paris kamen, um die neueste Mode
einzukaufen. Davor wurden die Modelle von Poiret allenfalls zu
wichtigen Kunden nach Hause geschickt. Bis heute sind die Fashion Weeks streng geregelt, damit die Presse an allen wichtigen
Schauen vor Ort sein kann.
Poiret fand weitere, alternative Mittel der Vermarktung.
Er entschloss sich im Herbst 1911 für sechs Wochen in Europa
auf Tournee zu gehen. An der Grenze zu Warschau wurde seine
vorangegangene Sekretärin jedoch vom Zoll aufgehalten, da die
Kleider als Ware und nicht als Teil einer theatralischen Inszenierung galten (mit angeblich nur zweitrangig marktwirtschaftlichen
Absichten). Diese Art von Werbung oder Promotion war damals
noch nicht bekannt. Zur Unterstützung des Verkaufs von Kopielizenzen zeigte Poiret Filme von den Modenschauen aus Paris #16.
Seit Poiret 1911 auf seiner Tournee zu Promotionszwecken eine gefilmte Modenschau aus Paris mit sich führte, spielte
der Film eine zentrale Rolle in der Modeindustrie. Wissen über
exklusive, elitäre Modebewegungen wurde zunehmend auch einer
breiteren Masse zugänglich. Pathé und Gaumont (ältestes noch tätiges Film-/Produktionsunternehmen der Welt) integrierten Ausschnitte aus Shows in ihren Newsreels. Diese waren für die Kinos
wöchentlich neu produzierte Filmberichte über politische, gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse. In den Kinos wurde 1913 der
erste Newsreel gezeigt, 'Kinemacolor Fashion Gazette', der sich
alleine dem Thema Mode widmete.
Chanel eröffnete als eine der Pionierinnen 1912 ihren ersten Laden in Deauville und kommunizierte dies den Bewohnern
indem sie ihre Cousine und Tante in Chanel gekleidet auf die
Strasse schickte. Die Idee, Mode an Frauen zu zeigen, manifestiert
sich nicht nur in darauffolgenden Modenschauen, sondern auch in
der Konvention, Kleider an Modevorbilder gratis abzugeben (ein
solches Vorbild war Mrs. Reginald Daisy Fellows, die damals als
bestgekleidete Frau Paris' galt) #20. Diese Praxis wird bei Chanel
Die Geschichte und Etablierung des Catwalk
28
noch heute angewendet und findet in den 1980er Jahren mit der
Herausbildung des Supermodels seinen Höhepunkt, in der Verschmelzung von Model und Celebrity.
1904 wurde der Treibhauseffekt der Modenschauen in der
Presse als offensive Einladung an Männer verstanden, Frauen anzulächeln und anzustarren. Intellektuelle beurteilten die Schauen
in diesem Sinne: sie würden ein nahes Verhältnis von Kleidung,
Konsum und Versachlichung der Frau artikulieren, was die Rolle
der Frau zu einer 'des Kaufens' und 'gekauft Werdens' verdammen
würde. Trotz bereits ersten Errungenschaften der Frauenbewegung, herrschte ein zwiespältiges Bild von Frauen als Spektakel
im Rahmen von Modenschauen vor. Denn die Modenschau ist eine
Form der Objektivierung der Frau, aber eben auch ein komplexes
Gebilde von Beziehungen, der Catwalk ermöglicht die Darlegung
genderspezifischer Identität als kulturelles Konstrukt. Rhonda
Garelick untersucht in ihrem Werk 'Rising star' die Idee des Dandys und zeigt auf, wie diese Rolle sich von seinen Ursprüngen Ende
des 19. Jahrhunderts über die Fin-de-siècle-Performerinnen wie
Loie Fuller zu popkulturellen Stars des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt hat. Dazu gehört auch das Supermodel im Zuge seiner
Herausbildung auf dem Laufsteg, einem Ort besonders geeignet
für die Projektion von Gender als Bild und Idee.
Das Model geht als Gegenstück der metropolitischen Modefrau der Mittel- und Oberschicht hervor, als Arbeiterin, welche
häufig durch einen kleinen Lohn bedingt, zur Prostitution gezwungen war. Walter Benjamin bezeichnete das Model (eine Prostituierte) als pivotales Emblem der Modernität, weil sie Verkäuferin
und Ware in einem sei.19
Die ersten Models waren eine Mischung aus realer Frau
und Schaufensterpuppe. Ihr Aussehen war homogen, um die Aufmerksamkeit der Kunden möglichst vom Körper auf das Kleid zu
lenken, sie waren anonymisiert, erhielten Kunstnamen und trugen
unter den Modellen ein uniformierendes Unterkleid, ähnlich einem Ganzkörperstrumpf. Sie waren zwischen Objekt und Subjekt
einzuordnen, wurden quasi im Zuge der Industrialisierung mechanisiert, verdinglicht, gleich gemacht. Dass das Model als puppenhafter Geist gewertet wurde, belegt Paul Poirets Aussage in einem
Interview mit dem Daily Mirror von 1920, als die Journalistin ein
Model ansprechen wollte: "Non, mademoiselle, ne parlez pas à ces
filles. Elle ne sont pas ici". 20
19 Gruendl Harald, 2007, S. 43.
20 Castle Charles, 1977, S. 14.
29
Die 20er Jahre und die Kriegszeit
Luciles Schwester dramatisierte die wahre Geschichte eines Pariser Mannequins zu Zeiten des Krieges in dem Stück 'Fleurettes
Traum' und inszenierte diese mit Hilfe einer Theatergruppe in einer zweieinhalbstündigen Performance #18. Die Erträge gingen an
europäische Kriegshilfe. Weil Luciles Schauen derart erfolgreich
waren, musste sie die Länge auf eine halbe Stunde kürzen, um alle
68 Kleider in 18 Städten und 6 Monaten zeigen zu können. Diese
Kürze blieb aber bis zu den 1960ern eine Ausnahme, als der lineare Laufsteg, wie er in Amerika geläufig war, definitiv nach Europa
importiert wurde.21 Der Begriff Catwalk ist im deutschen Sprachgebrauch sogar erst seit den 1990er Jahren üblich. Er ist aus dem
Englischen entlehnt, wo er in der Seefahrt und dem Bau schmale
Passerellen oder Brücken bezeichnete, über welche man mit einem
so geschickten Gang wie ihn Katzen haben, gehen musste. Später
wurde diese Analogie von der Modeindustrie erkannt. Noch mehr
sogar passte der Begriff in das Business, da es in den 60ern üblich
wurde den Models beizubringen, so elegant wie Katzen einen Fuss
hinter den anderen zu setzen.
Obschon bereits 1868 die Vereinigung 'Chambre syndicale de la Couture' gegründet worden war und ab 1910 den Couturiers empfahl an festen Daten zweimal jährlich ihre Kollektion
zu zeigen, gab es noch kein erkennbares Modesystem. 1910 liest
man in einer Magazinreportage: "…wenn im Februar und August
Mode präsentiert wird, werden die Salons der Couturiers von einer
Menschenmenge gestürmt…und es ist ein ganz herrliches Schauspiel…die Kollektion über den Laufsteg defilieren zu sehen…Die
Modenschauen haben etwas beglückendes und traumhaftes, …
diesen Augenblick und den kaleidoskopischen Eindruck, den er
auf der Netzhaut hinterlässt."22 Die Schauen fanden jedoch unabhängig von einer Organisation in den Geschäften der Couturiers
statt. Ein Modesystem begann sich erst im zweiten Weltkrieg um
1940 herauszubilden, als die deutsche Besatzung versuchte die
Vormachtstellung der Pariser Modehäuser abzuschwächen. 1941
führten sie ein Bezugsberechtigungssystem für Stoffe ein und 1945
schrieben sie den Couturiers vor, die 400 Modelle je Saison auf
100 zu reduzieren.23 Die Bedingungen, um in den Berufsverband
der 'Chambre syndicale de la Couture Parisienne' aufgenommen
zu werden, waren damals die Herstellung von massgeschneiderter
Ware, der Besitz eines Ateliers in Paris mit mindestens 15 Angestellten und die allhalbjährliche Schau von mindestens 50 originalen Modellen. Der Verband wurde 1945 offiziell anerkannt und erst
21 Evans Caroline, 2013, S. 152.
22 L.Roger-Milès, Les Créateurs de la Mode, Editorial de Figaro, 1910. In: Catwalks, 2009, S. 26.
23 Vgl. Catwalks, 2009, S. 30.
30
1973 wurde die Prêt-à-Porter Mode vom Verband institutionell integriert. Paris war vom Krieg geschwächt und versuchte 1944 mit
dem 'Théâtre de la mode' in Zusammenarbeit mit der Künstlerin
Eliane Bonabel (*1920-2000) die Pariser Mode im Musée des Arts
Décoratifs wieder attraktiv zu machen. Die Ausstellung wurde zum
weltweiten Erfolg und bereitete den Weg für die Rückeroberung
der Pariser Vormachtstellung und Diors 'New Look' von 1947.24
Die Räume der Modepräsentation waren ab 1910 in den
Couturehäusern integriert. Dafür wurden spezielle Räume zur
Präsentation der Kollektionen eingerichtet. Bis nach dem Zweiten
Weltkrieg waren diese meist im Empire Stil ausgestattet, mit Holztäferung, eingelassenen Spiegeln, Kronleuchtern, samtbezogenen
Canapés, in neutralen Farben wie beige und grau gehalten #6.
Erstmals richteten Chanel #29 und Madeleine Vionnet #24 (*18761976) ihre Geschäfte nach 1928 im modernistischen Stil ein. Dieser Mut und fortschrittliches Denken sind erste Anzeichen für sich
abzeichnenden Erfolg beider Designerinnen, bedingt durch ein
einzigartiges Gespür für Zeitgeist.
Lucile führte ausgefeilte Bühnenbeleuchtung ein, die minutiös Tag- oder Nachtstimmungen simulierte und zwischen warmen und kalten Tönen changieren konnte. Zunehmend passten die
Couturiers auch ihre Dekoration der Jahreszeit an. Lucien Lelong
(*1989-1958) führte 1923 eine halbrunde Bühne in seinem Geschäft
ein. Allen Bühnen dieser Zeit war jedoch die Verwendung eines Vorhangs gemeinsam, was auch im Spielfilm 'On demande un mannequin' von 1923 in einer Szene in Drecolls Geschäft sichtbar wird.
Noch stärker als der Film beeinflusste die Erfindung der
Fotografie die Verbreitung neuer Moden. Bei den Printmedien erweiterte sich die Berichterstattung vom Zeitungsjournalismus auf
die Erfindung von Modemagazinen wie Femina #10 und zunehmend
auch farbig abgedruckten Fotoaufnahmen. Dabei mussten DesignerInnen lernen mit dem Konflikt zwischen Schutz und Verbreitung
ihrer Ideen und Kollektionen umzugehen. Leider sind deshalb beispielsweise Elsa Schiaparellis Werke aus den 1930er Jahren nicht
fotografisch festgehalten, sondern nur schriftlich dokumentiert, da
sie Raubkopien fürchtete. 1897 bereits mussten sich einige Pariser
Modedesigner zusammenschliessen, um sich gegen das Kopieren
zu schützen. Danach waren Skizzieren und Fotografieren bis zum
Datum der Pressefreigabe für die Zuschauer bei den Modenschauen
verboten, damit eine allfällige Kopie immerhin erst sehr viel später
als das Original auf den Markt gelangen und imitiert werden konnte.
24 Vgl. Catwalks, 2009, S. 31.
Die 20er Jahre und die Kriegszeit
31
1932 importierte der französische Architekt Pierre Patout (18791965), der später den französischen Pavillon an der Weltausstellung
in New York 1939 entwarf, die Idee eines Präsentationssalons in
Einkaufshäusern und schlug ein Amphitheater im sechsten Obergeschoss der 'Galeries Lafayette' vor. Dieser Salon wurde aufgrund
der Wirtschaftskrise nicht umgesetzt. Die Idee verharrte hingegen und wurde 1933 vom Einkaufshaus 'Printemps' (existiert seit
1865 mit dem Ziel zu einem günstigen Preis innovative Qualität zu
verkaufen) umgesetzt #32. Damit einhergehend wagte Pierre Laguionie, damaliger Manager, erstmals eine Kollaboration mit dem
Haute Couturier Paul Poiret. Dieser zeigte vor einem Publikum
von 300 Personen eine Prêt-à-Porter Kollektion, zweimal täglich
über mehrere Wochen hinweg. Bei der Schau wirkten ein professioneller Maskenbildner, ein Orchester, modische Hunde, welche
die Modelle begleiteten und Paul Poiret selbst in Begleitung seiner
Frau mit #31.
'Printemps' versuchte also erstmals 1933 die Vermarktung
einer Haute Couture Kollektion von Paul Poiret. Da diese nicht
erfolgreich genug war, dauerte es 15 Jahre, bis diese Strategie
durch das Grosswarenhaus 'Le Bon Marché' wieder erprobt wurde. 'Le Bon Marché' wurde bereits 1838 gegründet und initiierte
1935 seine erste Haute Couture Linie 'Atrémis' (damals noch kein
geschützter Begriff). Man verwendete die Bezeichnung vermutlich,
um ein reicheres Klientel anzuziehen und begann ab 1937 in jeder
Saison die Aufführung von Mode in Begleitung klassischer Musik
zu inszenieren. In diesem Jahr nutzte 'Le Bon Marché' die Anwesenheit vieler internationaler Touristen, welche Paris anlässlich der
Weltausstellung besuchten. Die Strategie einer Kollaboration mit
einem Haute Couturier wurde vom Grosswarenhaus 1948 mit Marcelle Chaumont, Mitarbeiterin von Madeleine Vionnet, wiederbelebt. Die damit einhergehende Präsentation der Kollektion wurde
von der Presse als positiv gewertet, da das Konzept ehrenhafte
Kleidung zu einem vernünftigen Preis anzubieten, von der französischen Kundschaft nach dem Krieg geschätzt wurde. Zwei Jahre
später stiess diese Strategie in der Modewelt jedoch auf Ablehnung
und führte zur Gründung der 'Couturiers associés' durch Jaques
Fath, Robert Piguet, Paquin, Carven und Jean Dessès. Sie organisierten gemeinsam 1950 ein Défilé im Einkaufshaus 'Printemps'.
Doch sollte es noch bis 1962 dauern, bis sich die Haute Couture
in Warenhäusern etablieren sollte, nämlich bis Pièrre Cardin seine Boutique bei 'Printemps' installierte. Unter dem Markennamen
'Prisu' produzierte Printemps dann regelmässig "Gutes für wenig
Geld"25 mit im Kalenderjahr festgesetzten Präsentationen. Diese
25 Showtime, 2006, S. 104.
32
als aufregend empfundenen Shows, zogen ein breiteres Publikum
an und befriedigten das Bedürfnis des sich verbreitenden Modejournalismus.
Elsa Schiaparelli (*1890-1973) die erste Designerin, welche
ihrer Kollektion ein Thema im Sinne eines Konzeptes gab. Bei ihren zehn Shows zwischen 1936-39 beeinflusste das jeweils die Wahl
der Musik, des Lichts, sowie Erweiterungen wie Tanz, Tricks und
Witze, welche sie integrierte. 'Le Cirque' hiess ihre 1938 aufgeführte, sehr konzeptionelle Bühnenshow, die sich durch Kunststücke
aufführende Zirkusleute auszeichnete. 1952 beauftragte sie eine
Filmproduktionsfirma den Hof ihres Hauses in einen märchenhaften Schauraum, worin die Modelle sich dann zu Samba wogen,
umzugestalten. Hinter den Fenstern des ersten Stocks wurden
lebensgrosse chinesische Tiere in Ballkleidern aufgestellt, was die
skurrile, traumhaft exotische Märchenwelt unterstrich.
Der Raum, worin Dior 1947 eine Show inszenierte, war
lediglich mit links und rechts linear bestuhlten Zuschauerreihen
gestaltet. Prägend war nicht die Architektur, sondern der neue
Laufstil der Modelle, den Bettina Ballard von Vogue so beschreibt:
"…The first girl came out, stepping fast, switching with a provocative swinging movement, whirling in the close-packed room, knocking over ashtrays with the strong flair of her pleated skirt and
bringing everyone to the edge of their seats."26 Wohingegen bis
anhin die Bewegungen der Models auf der Bühne eher als passiv
und ruhig anmutete, wie Paul Poiret 1931 in seiner Autobiographie beschrieb: "…like an anemone expanding in the sea under the
influence of a great current.".27 Diors Show und der darin gezeigte
Stil wurden prägnant 'The New Look' genannt #37. Diese Revolution der Bewegungen verlegte das Augenmerk von der aufwändig
ausgearbeiteten Inszenierung für lange Zeit auf das Tempo und
Temperament der Models, also vom Raum weg, zum Körper hin.
Im Gegensatz zu Diors prahlerischem Laufstil wurden Chanels
Modelle angewiesen, genauso kühl wie Coco zu gehen: Den Oberkörper zurück-, die Hüfte vorgeschoben, eine Hand (oder beide)
in der Tasche. Ihre Gebärden waren kühl, zurückhaltend, gar apathisch oder leblos #48. Bis dahin war es bereits üblich, dass sich ein
Modehaus über den ikonischen Status seiner Hausmodels definierte, also Gesichter und deren Aura direkt zur Stärkung ihrer Unternehmensidentiät einsetzten. In den 1950er Jahren bildeten sich
folglich bei allen Häusern die 'Cabines' heraus, was die Bezeichnung für die Modelgruppe eines Modehauses war. Idealerweise bestand eine 'Cabine' aus verschiedensten Frauentypen, um einem
26 Ballard Bettina, 1947. In: The enchanted spectacle, 2001, S. 291.
27 Poiret Paul, 1931. In: The enchanted spectacle, 2001, S. 278.
Die 20er Jahre und die Kriegszeit
33
möglichst breiten Publikum viele Andockpunkte offerieren und
um sich mit der Marke identifizieren zu können. Vereint wurden
die heterogenen Typen durch den gemeinsamen 'Modelingstyle'.
Der Begriff 'Cabine' leitete sich vom Umkleide- und Schminkraum
der Models ab, in welchem sie nicht nur Gehen übten, sonder sich
unterhielten und Zeit miteinander verbrachten.
Die meisten Shows wurden bis zu den 1950 oft in Geschäften der im Ancien-Régime-Stil gestalteten Räumlichkeiten präsentiert. Zwischen 1950 und 1970 fand diesbezüglich ein Umdenken
statt: ähnlich der Marketingstrategie, das Image eines Models für
eigene Zwecke zu nutzen, organisierten die Designer ihre Modenschauen an prestigeträchtigen Orten. So reservierte Balmain für
seine Shows oftmals Hotelsuiten. Dort wurde den Gästen Champagner und Canapés angeboten, auf Musik wurde verzichtet, damit
der Ton der raschelnden Textilien und die Schritte der angekündigten Models hörbar waren. Manchmal trugen die Models ihre
Nummer auch ganz klassisch in Form von Tafeln in den Händen
oder hatten sie an ihrer Kleidung befestigt. Die Form der meist
leicht erhöhten Bühne, auf welcher die strikte komponierte Modellabfolge stattfand, war entweder T- oder D-förmig und wurde nur
mit Vorhangsdekoration komplementiert. Nach dem Krieg bildete
sich in dieser strengen Dramaturgie der Höhepunkt in Form des
Brautkleides und anschliessendem Auftritt des Designers heraus.
In den konservativen 1950er Jahren und dem damit einhergehenden starren Modesystem gilt als einzige Ausnahme die Engländerin Mary Quant (*1934), die bereits 1955 mit der Eröffnung
ihres ersten Geschäfts 'Bazar' in London und einer Promotionstour britischer Mode mit Halt im St. Moritzer Palace Hotel herausstach. Ihre simple Mode hob sich durch extravagante Inszenierung von den sonst stark ornamental geprägten Kollektionen ab.
So liess sie ihre Models zu Jazzmusik kicken, springen, hüpfen und
somit eine elektrisierende Stimmung erzeugen. Geschwindigkeit
und Bewegung unterstützte der Einsatz einer Windmaschine. Den
Speed erhöhte sie auch durch die Verkürzung der Show: sie zeigte 40 Modelle in nur 14 Minuten, was der heutigen Fashion Show
bereits sehr nahe kommt. Eine weitere Innovation war, dass sie die
Models mit Accessoires ausstattete, um das Thema ihrer Kollektion oder gar ihr Frauenbild zu verdeutlichen #40. So gab sie den
Models z. B. eine Waffe, einen Fasan (den ein Model über ihrem
Kopf schwang und Blut über die frisch gemalten Wände verspritzte), oder Bücher von Marx und Engels mit auf den Weg. Die Shows
waren nicht minutiös vorausgeplant, sondern liessen Improvisationsraum für theatrale Elemente (wie den Fasanschwung).
Die 20er Jahre und die Kriegszeit
34
Die Fashion Show im Gefäss der Fashion Week war noch nicht geboren. Die von unternehmerischen Interessen getriebenen Couturiers wie Worth empfingen zwar bereits Ende des 19. Jahrhundert
ihre Kundschaft jede Saison aus Übersee gerne zu einer gewissen
Zeit, aber eine gemeinsame Organisationsstruktur pflegten sie
nicht. Die erste reguläre Fashion Week fand in Amerika im Juli
1943 in New York statt – und war von da an ein fest im Kalender
verankerter, halbjährlich stattfindender Event. Die erste europäische 'Semaine des defilees' fand erst 1973 in Paris statt und bildet
mittlerweile den Höhepunkt der Big Four (New York, London, Milan, Paris). Weltweit finden mittlerweile in über 100 Städten Fashion Weeks statt.
La Société du Spectacle
Die Theatralisierung der Modenschau war mit Kunst, Theater,
Film, Musik, Konsum, Erotik und Kommodifizierung der weiblichen Form in der breiten Masse eng verbunden. Weitgehend also
auch für die Verbreitung von genderspezifischen Bildern in Zusammenhang mit Verlangen und Kommerz verantwortlich. Man kann
von der Annahme ausgehen, dass eine komplexe Beziehung zwischen Modenschau und kapitalistischem Spektakel besteht. Guy
Debord beschrieb die Gesellschaft des Spektakels als eine, in welcher Bilder bzw. Abbildungen die Realität überblenden. Er prognostizierte, dass Konsum zur treibenden Kraft in der Entwicklung
der Wirtschaft werden würde.28 Mit den Mitteln des Spektakels
operiert auch das Modebusiness, um ihre eigentliche Herkunft und
Ziel, nämlich den Kommerz, zu verhüllen. Religion wird dabei nur
als ältere Form und weitere Facette des Spektakels interpretiert.
Unter anderem im Feld der Mode waren nach dem Zweiten Weltkrieg grosse Veränderungen der Gesellschaft im Gang.
Die Sechzigerjahre markierten deshalb einen Umschwung in der
Geschichte des Defilees. Pierre Bourdieu meinte zur Antriebskraft
dieser Revolution folgendes: "So hat jedes Feld seine eigenen Formen von Revolution, seine eigene Zeitrechnung. Und die Schnitte
in den verschiedenen Feldern verlaufen nicht unbedingt synchron.
Dennoch haben die spezifischen Revolutionen einen Bezug zu externen Veränderungen. Warum hat Courrèges eine Revolution gemacht und wodurch unterscheidet sich dieser von ihm eingeleitete
Wandel von dem Wandel, der jedes Jahr in Gestalt kürzerer oder
längerer Röcke eingeläutet wurde? Courrèges Diskurs geht weit
über die Mode hinaus: Er spricht nicht mehr von Mode, sondern
von der modernen Frau, die frei sein soll, ungezwungen, sportlich,
und sich wohl fühlen muss. Meiner Meinung nach ist eine spezifi-
28 Evans Caroline, 2003, S. 67
35
sche Revolution, also das, was in einem bestimmten Feld Epoche
macht, in Wirklichkeit die Synchronisierung einer internen Revolution mit irgendeiner externen Veränderung in dem das Feld
umgebenden Universum. … Der ständige Kampf im Inneren des
Felds ist der Motor des Felds. Man sieht nebenbei, dass es zwischen Struktur und Geschichte keinerlei Antinomie gibt und dass
das, was die Struktur des Felds ausmacht, wie ich sie sehe, auch
das Prinzip seiner Dynamik ist."29 Diese beiden Positionen möchte
ich vereinen, indem ich die Fashion Show als 'getarntes Kommerzspektakel' und als Bühne der zweiten Welle der Frauenbewegungen
(Studentenbewegungen, 1960er Jahre) gleichwohl verstehe.
Die Modenschau wurde Teil, bzw. Erweiterung des Kommunikationskanales des Esprits eines Couturiers. Designer wie
Mary Quant, André Courrèges #42, John Bates (die drei Erfinder
des Minis – Mary Quant benannte ihn nach dem Auto), Jacques
Esterel, Emmanuelle Khan #38 oder Paco Rabanne #41 #44 entwickelten eine Ästhetik, die sich von allem zuvor Gesehenem abhob.
Musik erhielt einen sehr viel wichtigeren Stellenwert und verhalf
dem Defilee zum Spektakel, zum Happening, welches alle Sinne
ansprechen sollte. Nebst den Entwürfen selbst entschied das Urteil über die Präsentation wesentlich über den Erfolg einer Kollektion, das Defilee als Marketinginstrument war geboren. Nach 1967
gewann die Modenschau derart an Bedeutung, dass ein neuer Berufszweig entstand: Die Regie der Modenschau. Der Fashion Show
Produzent fand in Norbert Schmitt und Bernard Trux seine erste
Verkörperung.
Das revolutionär neue, aktive Frauenbild bedeutete gleichzeitig die Abwendung von einem älteren Etikett wie zum Beispiel
jenem von Balmain oder Chanel #48. Bei Chanel verhinderte Cocos Ansicht, das Knie sei das hässlichste Körperteil einer Frau, den
Gleichschritt mit dem Mini. Nach Gabrielles Tod suchte man eine
Nachfolge, was auch Thema in Boulevardmagazinen wurde. Pierre
Bourdieu analysierte diese und erwähnte das Thema in einem Vortrag über die Beziehung von 'Haute Couture und Haute Culture'.
Das Thema der Nachfolge Chanels lässt sich auch auf das Wesen
der Mode selbst übertragen (Verweis Zitat S. 18): "…und dieser
Kampf mündet in den fortwährenden Sturz des Überwundenen
in das Gestern. Damit kommen wir zu einem anderen Problem,
nämlich dem der Nachfolge; … Wie verwandelt man das Auftreten
des Einzigartigen, das die Diskontinuität in ein Universum bringt,
in eine Dauereinrichtung? Wie macht man etwas Diskontinuierliches zu etwas Kontinuierlichem?"30 Gasthon Bertholot übernahm
29 Bourdieu Pierre, 1974. In: Eismann Sonja, 2012, S. 120.
30 Bourdieu Pierre, 1974. In: Eismann Sonja, 2012, S. 122.
36
nach Cocos Tod 1971 bis 1973 die künstlerische Verantwortung des
Hauses Chanel, scheiterte jedoch nach kurzer Zeit, da er unter den
konservativen Bedingungen, welche ihm von den Besitzern des
Konzerns, der Familie Wertheimer, gestellt wurden, unvermeidlich scheitern musste (Ausführungen zu Chanel siehe Kapitel 4).
Das Erschaffen von Neuem ist also zwangsläufig mit der Abwendung vom Alten verbunden.
Pierre Cardin, als weiterer wichtiger Vertreter der Nachkriegszeit, durchbrach die strikten Regeln der Haute Couture mit
seiner ersten Prêt-à-Porter Kollektion, die er 1959 im Einkaufszentrum 'Printemps' in Paris zeigte. Ein Jahr später folgte die erste
Männerkollektion, welche eine völlig neue Silhouette vorschlug,
1961 die erste männliche Prêt-à-Porter Kollektion. Sie wurde von
Studenten vorgetragen, da es den Beruf des Männermodels noch
nicht gab. Die Ready-to-wear Mode und ihre aufstrebenden Designer verfügten nicht über Präsentationssalons, weswegen sie sich
kollektiv organisieren mussten und häufig ungenutzte Orte wie
Theater, den öffentlichen Raum oder Künstlerateliers besetzten
#47. Die Prêt-à-Porter ist übrigens insofern Gegenpol zur Haute Couture, da sie nicht nur als Einzelstück gefertigt, sondern für
ein breiteres Publikum von der Stange gekauft werden kann. Auch
die Shows richteten sich nicht an ein exklusives Privatpublikum
sondern an die Presse und professionelle Käufer. 1966 trat Pierre Cardin aus der Haute Couture Zunft 'Chambre Syndicale de la
Haute Couture' aus, weil sie eine dreissigttägige Sperre auf die Veröffentlichung von Fotografien der neuen Kollektionen legten, um
Modemagazinen exklusive Lizenzen für diese geben zu können.
Die Dominanz von Mode in der Nachkriegsgesellschaft
wird auch im Film von William Klein 1966 'Qui êtes vous Polly
Maggoo?' reflektiert #43. Darin erzählt Klein, ursprünglich Modefotograf, die skurille Geschichte eines aus Amerika kommenden ,
erfolgreichen Models im Paris der 60er Jahre. In der Fernsehsendung 'Qui êtes vous' wird sie von verwirrten Medienleuten portraitiert. Auf oft sarkastische und melancholische Art und Weise
wird der sinnentleerte Modezirkus im Rampenlicht der Medien
beleuchtet.
Was bereits Coco Chanel früh erkannt hatte, wurde zunehmend auch von anderen Modehäusern umgesetzt: Nebenprodukte
wie Accessoires, Kosmetika und Parfums wurden für die Couture
zur eigentlichen Einnahmequelle. Die Couture Shows entwickelten
sich, v. a. im Zuge der Prêt-à-Porter zu einem Marketing – anstatt
Verkaufszweig. Dies wirkte sich auf die Rolle des Models aus. SchauspielerInnen und Salonlöwen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts
für die Modefotografie wichtiger als professionell ausgebildete Mo-
La Société du Spectacle
37
delle in den Modeboutiquen. Bis zu den 70er Jahren blieb dieser
Unterschied zwischen Fotomodell und Laufstegmodell bestehen.
Danach aber begann diese Grenze zu schwinden. Als Paradebeispiel
hierfür gilt Jerry Hall, die ihre Performance von der Bühne ins reale
Leben übertrug und ihre Person somit zu einem Gesamtbild stilisierte. Das Model als Showgirl wurde zum Idol mit Persönlichkeit.
Die Models wurden auch auf dem Catwalk weitaus aktiver, zogen
nicht nur Handschuhe an und aus, sondern tanzten und schauspielerten. Nebst den zwar dominierenden weissen Models heuerten
Designer zunehmend exotische Frauen an, als wäre der Exotismus
Luciles' und Poirets' orientalischer Fantasien vom Kleid auf den
Körper übergegangen (wie auch der Begriff des Modells).
Die Verkürzung der Modenschau stellte einen weiteren
Bruch mit Konventionen der Modebranche dar und setzte sich
nach der ersten Show Mary Quants in Paris 1963 durch. Quant war
sowohl bzgl. der Inszenierungsart als auch des Modestils die Gegenspielerin von Coco Chanel. Ähnlich wie Chanel aber benutzte
sie nicht nur Qualitätsware. Sie setzte als erste Designerin bei ihrer Wet-Collection PVC ein. Mit Twiggy führte sie passend zum
revolutionären Mini einen neuen Frauentyp ein #39. In den späten
60er Jahren änderte sich mit ihr das Schönheitsideal der Frau, ihrer Kleidung und der Räume drastisch. Die Space Age Mode von
Courrèges leitete spätestens ab 1964 auch in Paris diese neue Ästhetik ein #42. Die Modejournalistin Brigid Keenan fand sich beim
Auftritt der Models an einer Modenschau in folgendem Raum wieder: "…a stark modern room with white vinyl walls and white boxes
to sit on. Loud beat music …girls with cropped hair, freckles, suntans and wide grins came pounding out wearing skirts inches above
the knees…".31
Extravagante Inszenierungen nahmen weiterhin ihren
Lauf: Yves Saint Laurent liess 1968 ein Model laufen, dessen Brüste
durch eine semitransparente Bluse sichtbar waren #45. Ossie Clark
zeigte seine Kollektion auf einem Hausboot und die Models setzten
sich zwischendurch zum Publikum auf die türkischen Teppiche am
Boden, um einen Zug von einem Joint zu nehmen. Paco Rabannes
Mode wurde von elektronischer Musik begleitet. Die spektakuläre
Modenschau von heute hat ihre Anfänge deutlich in den 1960er
Jahren und veränderte viele Mechanismen in der Modeindustrie,
wie das Aufkommen von Prêt-à-Porter und Herrenmode.
1971 wurde die Vereinigung 'Créateurs et Industriels' gegründet.
Ihr Anliegen, junge Talente und Fabrikanten zusammenzubringen,
brachte eine neue Art von Kreativen hervor, der Designer löste den
Couturier im Prêt-à-Porter Segment ab. 1973 brach Issey Miyake
31 Keenan Brigid, 1964. In: The enchanted spectacle, 2001, S. 280.
La Société du Spectacle
38
weitere Regeln: er zeigte auf Einladung der 'Créateurs & Industriels C&I' seine Kollektion an einem Sonntag, es war ein 10- bis
17-stündiges Happening. In den 1970er Jahren brachten mehrere
japanische Designer, beispielsweise Kenzo, eine neue Form der
Show nach Paris: viermal grösser, runde Bühne, weisses Filmlicht,
Fotomodelle anstelle von Runwaymodels #49. Ähnlich wie Mary
Quant liebte Kenzo Improvisation und wies die Models lediglich
an, Spass zu haben und glücklich auszusehen. In Japan waren derart grosse Spektakel seit Mitte der 1960er Jahre erprobt: so 1970
organisierte Miyake dort eine Show für 12'000 Zuschauer. Nach
dieser oft auch kontrovers diskutierten Veränderungen waren viele
Regeln gebrochen und die Modenschau konnte sich weiterhin expandieren.
39
Neoliberalismus
Nach 1980 verhalf stetig wachsendes Wirtschaftswachstum und
die Feier des Individuums den DesignerInnen weiterhin exklusive
Kreationen als erstrebenswertes Gut in spektakulären Architekturinszenierungen erfolgreich zu vermarkten. Die Show und die
Kleidung zusammen, das gesamte Erscheinungsbild erzeugten den
'Total Look'. Nebst positiven Möglichkeiten führten auch negative
Aspekte zur Mehrinvestition in die Modepräsentationen. Die Multiplikation von Modenschauen, so waren es 1986 bereits 239 Shows
an der Fashion Week in Paris,32 zwang die Modehäuser ihren Eindruck auf das Publikum zu erhöhen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Von da an wurde die räumliche Inszenierung mit Details wie
Ortswahl, Rahmen, Bühnenbild, musikalische Illustration, Lichtstimmung und weiteren Elementen wie Gegenständen (Props),
Accessoires und Projektionen so wichtig wie die Kollektion selbst.
Das wirkte sich auch auf die Rolle des Designers aus, der vom Modeschöpfer zum Art Director und multimedialen Genie avancierte, mit für ihn in den entsprechenden Subkategorien arbeitenden
Spezialisten.
Die Demokratisierung der Modenschau erreichte ihren
ersten Höhepunkt 1984 mit der hollywoodesquen Show Thierry
Muglers im Zenith-Palast Paris, die als erste für eine Öffentlichkeit von 6000 Zuschauern wie ein Konzert buchbar war (Tickets
waren bei FNAC erhältlich, Studentenrabatt wurde angeboten)
#51. Damit wurde die Modenschau zur Massenunterhaltung und
durchbrach die bis dahin noch weitgehend konforme Schranke
der Exklusivität. 1995 setzte Thierry Mugler zum zwanzigjährigen
Jubiläum ein weiteres Zeichen mit einer fast einstündigen, exorbitant teuren Show, die direkt über das Fernsehen übertragen wurde und damit für jeden gleichwertig zugänglich war. Ähnlich wie
Muglers waren in den 1980ern und 90ern Claude Montanas Schauen mit Trockeneis und B-Movie Ästhetik überladen. So erhielten
sie Rockkonzertcharakter und der Beruf des Modenschauenproduzenten gewann an Wichtigkeit. Yves Saint Laurent, die Verkörperung der französischen Mode schlechthin , schaffte es 1998 durch
die Präsentation seiner Kollektion an einem Massenevent, dem
Fussball Weltcupfinale im 'Stade de France' vor 80'000 Zuschauern – eigentlich sogar der ganzen Welt, da der Event ebenfalls im
Fernsehen ausgestrahlt wurde – ein noch breiteres Publikum zu
erreichen #61.33
Der starke Einfluss der Populärkultur und der Musik, zeigte sich auch bei der aus der Punkbewegung kommenden Vivienne
32 Vgl. Showtime, 2006, S. 168.
33 Vgl. Showtime, 2006, S. 169.
40
Westwood (*1941), die ihre Models vorwiegend in Nachtclubs entdeckte #50. Ihre Setdesigns waren entweder zurückhaltend, anarchistisch in ruinenartigen, verlassenen Räumen situiert oder sehr
eklektisch ausgestattet. In den 90ern wurde auch Martin Margiela
bekannt für seine speziell ausgewählten Örtlichkeiten, mit denen
er vorwiegend Probleme der postmodernen Grossstadt thematisierte. An die urbane Umnutzung industrieller Gebäude angelehnt,
wählte er ausgediente Theater, Supermärkte, Autoparkplätze oder
Fabrikgebäude. Zudem entwickelte er die Promotion von Kleidung
im öffentlichen Raum weiter, als er Models anonym in weissen
Couturierkitteln auf die Strasse sandte oder bei seiner Kollaboration mit H&M Werbung in der Ästhetik von Protestbannern inszenierte. Anstelle von Models setzte er auch schon Dummys, Puppen
oder schlichte Hänger, von Assistenten getragen, ein.
Das bewegte Bild ermöglichte es Paul Poiret zu Beginn
des 20. Jahrhunderts seine Modelle bei Modenschauen in Paris
aufzunehmen und diese im Sinne von Werbefilmen bei Tourneen
zur Vermarktung seiner Kollektion einzusetzen. Newsreels, Fernsehbeiträge bis hin zum Format der Modefernsehsendung #52
veränderten das Modebusiness nachhaltig. Heutzutage müssen die
DesignerInnen mit dem Internet und YouTube genauso umzugehen lernen, wie Elsa Schiapparelli den Umgang mit dem Skizzieren
während ihren Shows regulieren musste. Die Massenmedien sind
die Nachfolger der Öffentlichkeit an und für sich. Helmut Lang
folgte 1998 diesem Credo und zeigte als erster eine Modenschau
nur übers Internet. Der Fashion Week erteilte er so eine Absage
und versandte stattdessen seine Kollektion auf CD gebrannt (anstelle einer Einladung) weltweit an Journalisten.
Sehr stark konzeptuell arbeitende Marken bilden oftmals
auch Analogien zur Bildenden Kunst. Issey Miyakes Shows waren
wie Happenings, die seit 1971 ausserhalb von Tokio zweimal jährlich auch in New York stattfanden. 1988 fand eine Unisex Show
in einer Art Schwimmbecken statt, in welchem die Modelle zum
Schluss herum planschten #54, und ein Jahr später inszenierte er
eine Modenschau ausserhalb von Paris in der nicht mehr genutzten Metrostation 'Porte de Lilas'. Auf der einen Seite der Plattform standen dicht gedrängt die Zuschauer, auf der anderen Seite
defilierten die Models. Zum Höhepunkt fuhr die Metro ein und
trug die Modelle mit sich fort. Wie bereits im Kapitel 'La société
du spectacle' beschrieben, stieg nach 1970 der Einfluss japanischer
Mode in Europa, welche mit einer verstörend andersartigen Formensprache und einem irritierten aber auch faszinierten Blick
wahrgenommen wurde. 1981 mischte Rei Kawakubo (*1942) mit
ihrer ersten Comme des Garçons Kollektion die Pariser Modesze-
Neoliberasmus
41
ne heftig auf. Ihre asexuelle Antimode korrumpierte das Grundprinzip der Mode, jenes der Verschönerung #58. Sie stiess mit ihrer
dekonstruierten 'Armenmode' und einer verstörenden Inszenierung teilweise auf Anfeindung.
In die Kategorie stark konzeptuell arbeitender Designer
ist auch Alexander McQueen einzuordnen #67. Seine Show 'Voss'
(AW 2000/01) war die Inszenierung von Mode in einem komplexen Zeichensystem (sub-)kultureller Codes. Er spielte darin in
drei Szenen mit un-/gewohnten Sinneseindrücken: In der ersten
war das Publikum gezwungen eine Stunde auf den Start der Show
wartend sich selbst in einem verspiegelten Glaskubus zu betrachten. Das sich private Selbstbetrachten wurde zur öffentlichen Erfahrung, zum Sehen und Gesehen werden. In der zweiten Szene
wurde der doppelt verspiegelte Raum hell erleuchtet und zeigte
das eigentliche Bühnenbild mit einem Raum im Raum, einem weiteren Kubus aus Rauchglas darin. Models betraten nacheinander
den Raum und dem Publikum wurde mit der Zeit klar, dass diese lediglich ihr Spiegelbild sahen. Damit überblendete McQueen
Selbst- und Fremdbild ineinander. Die Mode selbst nahm Bezug
auf die Natur, wie auch der Titel der Show 'Voss' (eine Gemeinde
in Norwegen, bekannt für dort lebende exotische Vogelarten, aber
auch das niederländische Wort für Fuchs) andeutet. Die Natürlichkeit als Ideal brach mit der räumlichen Kulisse, was vor allem
in der dritten Szene zum Ausdruck gebracht wurde: nachdem die
Models ihr Umherirren beendet und den Raum verlassen hatten, fiel der innere Raum auseinander. Dessen vier Wände fielen
zur Seite, zerschellten am Boden und machten den Blick auf das
It-Girl Michelle Olley frei. Das Bild referierte sowohl auf Joel Peter Witkins Gemälde 'Sanitarium' von 1983, als auch auf Tizians
'Venus von Urbino' und machte damit McQueens Statement deutlich, nämlich dass ästhetische Ideale immer wieder neu verhandelt
werden müssen. Selbst- und Fremdwahrnehmung, Begehrensstrategien der Fashion Show und die Ästhetik der Vergänglichkeit
wurden in einem höchst verdichteten, komprimierten Spektakel
zusammengebracht.34
Auch John Galliano hatte die narrativen Elemente – ähnlich jener Luciles oder Paul Poirets Modenschauen – wiederentdeckt, indem er für jede Show fiktive Charaktere erfand und um
diese ein Gedankengebäude errichtete. Er war nach 1984 aktiv
und von 1997-2011 Chefdesigner bei Dior. Häufig auch als Kostümdesigner bezeichnet, wurde er zum Experten dramaturgischer,
cinephiler Inszenierungen schlechthin. Seine Handschrift trägt
deutlich jene des Theaters: sie erinnert an Kostümbälle, Themen34 Vgl. Lehnert Gertrud, 2012, S. 75-85.
42
parties und Opernaufführungen mit aufwändigen Kulissenbauten
#73. In dieser Weiterführung von Spektakel und Exzess kann man
John Gallianos auf Wasser gehenden, in Goldregen getauchten
oder blut- und dreckverschmierten Models, sowie Alexander
McQueens Shows der 90er in London sehen.
Das Showgirl auferstand in den 1990ern vor allem durch
Gianni Versaces (*1946-1997) Förderung der Supermodels. 1991
brachte er dies mit gleichzeitigem Laufstegauftritt von Naomi
Campbell, Christy Turlington, Linda Evangelista und Cindy
Crawford zu George Michaels Freedom mimend – wie auch im
Musikvideo – zum Höhepunkt.
Jean Paul Gaultier (*1952) schickte provokant, aber auch
humorvoll Transvestiten, Models allen Alters oder ganz normale
Menschen mit 'Body Modifications' auf den Laufsteg. Gaultier begann 1970 als Assisten bei Cardin, nach 1971 arbeitete er als Assistent des Chefdesigners bei Jean Patou, bis er 1978 sein eigenes
Label gründete. Mit seiner oftmals untragbaren Mode (ausser vielleicht jene im Auftrag für den Discounter Target) wurde er schnell
zum Enfant Terrible der Modebranche. Er entwarf auch für den
Film #53 (z. B. 'The Fifth Element' von Luc Besson oder 'The cook,
the thief, his wife and her lover' von Peter Greenaway) und für Prominente wie Madonna, Kylie Minogue oder Lady Gaga.
Hussein Chalayan (*1970, britischer Designer mit türkischen Wurzeln) hingegen ist bekannt für seine architektonischen
Bauten, Installationen mit Avantgardemusik und Chören #69 #74.
In seiner Show für die Sommerkollektion 1998 thematisierte er das
polemische Thema des Tschadors (persisch für Zelt; ein großes,
meist dunkles Tuch in Form eines umsäumten Halbkreises, das von
muslimischen Frauen als Umhang um Kopf und Körper gewunden
wird und lediglich das Gesicht oder Partien des Gesichtes frei lässt.
Er wird in der Öffentlichkeit über der übrigen Kleidung getragen,
vorwiegend von konservativen Frauen). Am Anfang der Show waren
seine Models nur am Kopf bedeckt – anonymisiert – und erst im
Verlauf der Show zunehmend total bedeckt #57.
Viktor & Rolf nehmen eine weitere Extremposition ein, da
ihre Mode oft untragbar ist #66. Sie gelten als meisterhafte, zeitgenössische Regisseure des Modespektakels, bei welchem die Mode
in Bezug auch Kommerzialisierung und Vermarktung eine dem
Konzept untergeordnete Rolle spielt. Dabei untersuchten sie auch
gerne unterschiedliche Modalitäten der Wahrnehmung, wie in ihrer Show 'Blacklight' SS 1999 #65. Ultraviolettes Licht liess in der
ersten Hälfte der Schau nur weisse Teile der Kleidung erkennbar
werden und wurde im zweiten Teil mit weissem Bühnenlicht völlig
anders beleuchtet bzw. wahrgenommen. Walter Benjamins Begriff
Neoliberasmus
43
der 'Aura' für Kunstwerke wurde in den 80er und 90er Jahren auch
im Bereich Mode vom Materiellen losgelöst und verkam zur Vision
des Designers.
Aus dem Wort Défilé (dt: Defilee, Vorbeimarsch, Parade) zum heute weitaus gebräuchlicheren Ausdruck Fashion Show
wird deutlich, dass die Modenschau sich von einem blossen Vorbeischreiten zu einem Spektakel entwickelt hat. Heutzutage werden für die Organisation einer Modenschau von 1 bis zu 10 Millionen Euro in die Hand genommen. Wichtig ist nicht nur die Mode,
sondern das Ensemble von diversen Details wie Aufführungsort,
Set Design, Schminke, Coiffure, Models, deren Körpersprache,
Accessoires, Musik und der daraus resultierenden Atmosphäre.
Somit liegt es an diesem Event, eine Marke zweimal jährlich als
einzigartig von seiner Konkurrenz abzuheben und ihre Identität zu
kommunizieren.
Das Verhältnis von Mode und Spektakel ist nicht alleine
von kommerziellem Belangen, sondern auch geprägt von der kumulativen Abhängigkeit von Image, Identität und Identifikation.
Diese mobile, durchlässige, wandelbare Idee von Identität ist vor
allem durch den 'flux of the crowd'35 der Gesellschaft des 19. und
20. Jahrhunderts geprägt, die sich durch eine gewisse Amoralität
und ein fehlendes Klassenbewusstsein auszeichnet. Die Modenschau des späten 20. Jahrhunderts kann gemäss Caroline Evans
als Theatralisierung sozialer Realität interpretiert werden: "Social
fluidity has been associated with metropolitan fashion since the
eighteenth century, if not before, and the fluidity that has characterized the fashion audience since 1900 reflects the fluidity of
fashion itself in this period. The amorality and lack of class consciousness that Marx ascribed to the nineteenth-century lumpenproletariat is also a characteristic of the twentieth-century fashion
crowd. The flux of the crowd (a key trope of literary modernism in
the writings of Baudelaire and Benjamin) can be identified in the
heterogeneity of the fashion audience; and, I would argue, it was
further played out in the 1990s in the form of a renewed interest in
the idea of identity as fluid and mobile. In this context, the fashion
show in the late 1990s, while continuing to function commercially
as spectacle in an increasingly visualized global market, could, at
the same time, be understood as a form of theatricalization of social reality and of the self."36
Über ein Jahrhundert hinweg entwickelte sich die Fashion
Show aus dem kommerziellen Theater zu einem Event mit performativem Charakter (der Begriff der Performativität der Geschlech35 Evans Caroline, The enchanted Spectacle, S. 305.
36 Evans Caroline, The enchanted Spectacle, S. 305.
Neoliberasmus
44
ter resultiert in Judith Butlers Theorien aus dem Zusammenspiel
von politischen, performativen und theatralen Performances.) So
Caroline Evans: "If the early twentieth century saw the fashion
show evolve out of commercial theater, the close of the century
saw commercial fashion evolving into an approximation of what
the academic Judith Butler has termed 'performativity’. The fashion show, with its emphasis on novelty and spectacle, became a
switching station for postmodern identities."37 Und eben diese
Darstellung von Identität oder Geschlecht lokalisiert Foucault bereits bei Baudelaires Dandy. Rhonda Garelick und Caroline Evans
interpretieren die Nachfolge des Dandys als Celebrity und schliesslich in der Rolle des Supermodels: "…who makes of his body, his
behaviour, his feelings and passions, his very existence, a work of
art. Modern man for Beaudelaire is not the man who goes off to
discover himself … he is the man who tries to invent himself."38 Es
geht also sowohl bei der Modenschau als auch bei Populärkultur
allgemein um die Ästhetisierung des Selbst.
Die Messlatte für Aufmerksamkeit erregende Inszenierungen
von Mode ist gestiegen. In der kurzen Zeitspanne der Fashion Weeks,
ein Monat je Saison, finden hunderte von Schauen statt. Die Rolle
der Modenschau entwickelte sich von einem geschlossenen, sozialen
Event zwecks direkten Verkaufs der Ware (oder der Lizenzen) zu einem medienwirksamen Ritual. Es prägt heute die Kommunikation,
das Image einer Marke auf Lang- und Kurzzeitbasis. Die Schau wird
strategisch geschickt für die Herausbildung der Markenidentität als
live Event organisiert. Genauso wie der Dandy in den Strassen der
modernen Grossstadt sein Selbstbild ästhetisierte, konstruiert eine
Marke mystifizierte Persönlichkeiten, seien es nun Supermodels oder
Designer. Diese verkörpern gleichermassen die Experten flüchtiger
Vergnügungsmomente. Sie führen auf der zeitgenössischen Bühne
des Catwalks eine Performance mittels mehr oder minder oberflächlichen Gesten und Details in der räumlichen Ausprägung auf.
Wie aus Gabrielle Chanel die von Mysterien umworbene
Marke wurde und wie Karl Lagerfeld die geheimnisvolle Aura dieses Werkes aufrecht erhält und vor allem räumlich übersetzt, werde
ich in den kommenden beiden Kapiteln näher betrachten.39
37 Evans Caroline, The enchanted Spectacle, S. 305.
38 Foucault Michel. In: The enchanted spectacle, S. 306.
39 Anmerkung: Verweis auf die Ausstellung Mythos Chanel, Museum für Kunst und Gewerbe, 2014. Begleitende Publikation Spitz Maria, 2013.
45
Chanel kontextualisiert
Die Anfänge von Chanel
Letztes Jahr feierte das Haus Chanel sein hundertjähriges Bestehen mit der Eröffnung des ersten Geschäfts von Gabrielle Bonheur
Chanel (*1883-1971) in Deauville in der Normandie 1913. Chanel
gehört heute den Nachkommen ihres einstigen Geschäftspartners
Pierre Wertheimer (*1888–1965).
Angefangen hat Gabrielles Leidenschaft für das Nähen nach ihrem
siebenjährigen Aufenthalt in einem Kloster, wo sie durch eine sehr
strenge Erziehung stetig Nüchternheit und Disziplin ausgesetzt
war. Diese Jahre prägten vermutlich vor allem ihr ästhetisches
Empfinden und brachten ihre Vorlieben für Schwarz, Weiss, gerade Linien und Einfachheit hervor. Nach dieser asketischen Phase
stürzte sie sich in das Grossstadtleben von Paris und liess sich zur
Näherin ausbilden. 1909 eröffnete sie dort eine Hutboutique, die
schnell an Beliebtheit in der High Society gewann. 1910 bezog sie
ihr Atelier an der Rue Cambon 21 und nannte es 'Chanel Modes'.
Nach Deauville eröffnete sie ihre zweite Boutique im mondänen
Biarritz, 1918 folgte die erste Boutique in Paris an der Rue Cambon
31, wo Chanel noch heute den Hauptsitz und die Ateliers der Haute Couture hat. Bereits 1919 trat sie dem Schneidermeisterverband
'Chambre Syndicale de la Couture Parisienne' bei. Paul Poiret war
ihr ärgster Rivale, der ihre Mode abschätzig als 'Armuts-Luxus' bezeichnete.40
Revolutionär waren für die damalige Zeit ihr Verzicht auf
Korsette und die Fertigung androgyner Schnitte, deren Inspiration von Männerkleidung, Armeeuniformen, Sportbekleidung und
maritimer Mode herrührte. 1925 ist das Geburtsjahr einer Cardiganjacke ohne Revers aus Tweed, welches bis heute als mit Bordüren besetztes Bouclé Kostüm endlos variiert wird, das Chanel
Kostüm. 1926 folgte das 'Kleine Schwarze', 1924 ergänzt durch eine
Schmuckkollektion und eine Parfumlinie (obschon Chanel No. 5
der meist verkaufte Duft aller Zeiten bereits 1922 in Zusammenarbeit mit dem Chemiker Ernest Beaux kreiert wurde). Als Chanel-Ikonen gelten bis heute folgende Produkte: die Chanel Jacke
(der Tweedanzug), der Duft Chanel No. 5, diverser Modeschmuck
(v. a. falsche Perlenketten), das Kleine Schwarze, Chanel 2.55 (ein
abgesteppte Handtasche mit Kettenträger, im Februar 1955 lanciert), die Seglerhose, das Marineshirt, abgesteppte, zweifarbige
Ballerinas, eine schwarze Schleife und das Cameliamotiv. Auch in
der Modenschaueninszenierung werde ich immer wieder auf diese
'éléments éternels', wie sie Karl Lagerfeld nennt, zurückkommen.
40 Vgl. http://www.vogue.com/voguepedia/Chanel#cite_note-2, Zugriff: 02.05.2014.
46
1935 zählte Chanel bereits 4000 Angestellte und verkaufte trotz
Weltwirtschaftskrise 28'000 Kleidungsstücke. 1939 stellte Coco die
Haute Couture wegen des Krieges ein. Nach Vorwürfen der Kollaboration mit Nazideutschland zog Coco bis 1954 in die Schweiz.
Nach Uneinigkeiten mit Wertheimer wurde deren Kollaboration
erst 1947 erfolgreich fortgesetzt und bei ihrer Rückkehr nach Paris 1954 mit einer zuerst in Europa wenig erfolgreichen Kollektion
eingeläutet. Wertheimer hatte jedoch Zuversicht und finanzierte
weitere Kollektionen, die auch dank dem Erfolg in Amerika bald
zunehmendes Gehör in Europa fanden. Wertheimer kaufte Coco
die Firma nach seiner Exilzeit in Amerika für 350'000 Dollar und
einer jährlichen Beteiligung am Umsatz von 2% ab. Auch Anteile
von Théophile Bader kaufte er auf, womit das Haus Chanel rechtlich den Wertheimers alleine gehörte. Bis zu ihrem Tod im Alter
von 87 Jahren war Coco Chanel für die Kreationen des Hauses verantwortlich. Danach übernahm Gaston Berthelot 1971, der zuvor
bei Dior gearbeitet hatte, wenig erfolgreich ihren Platz. Er wurde
bereits 1973 bis 1982 mit wechselnden Designern ersetzt. Die erste
Prêt-à-Porter Modekollektion von Chanel, 'Chanel Boutique', wurde 1978 unter der Leitung von Philippe Guibourgé mit mäßigem
Erfolg präsentiert.
Ein grosses Anliegen Gabrielle Chanels war die enge, vertraute, stetig treue Beziehung zu ihren Angestellten und Mitarbeitern. Hohe Qualität, Einzigartigkeit und raffinierte Techniken
waren und sind bis heute für die Haute Couture von Chanel unabdingbare Auszeichnungen. Ein extremes Beispiel stellte die 75-jährige Madame Pouzieux dar, Expertin für Posamenter, Borten und
Litzen, die von 1947 bis zu ihrem Ableben 2011 im Alter von 82
für Chanel arbeitete. Ihr Schaffen wird im Film 'Signé Chanel' von
Loïc Prigent dokumentiert.41 Sie wohnte weit weg von Paris, auf
dem Land, ihrem Hof, wo das Einbringen des Heus und die Pflege der Tiere vor Chanels Auftragsarbeit kam. Ihre Hauskatze hiess
Coco. Die von ihr erfundene Technik war einzigartig auf der Welt;
um für einen Stoff passende Borten anzufertigen, dekonstruierte
sie das Textil, um durch die Anzahl Fäden je Farbe die Proportion
zueinander für die passenden Borten auszurechnen.
41 Vgl. Dokumentarfilm 'Signé Chanel, Prigent Loïc, 2005.
Chanel kontextualisiert
Chanels Rolle in der Modewelt
47
Chanel ist ein Modehaus, das es geschafft hat über ein Jahrhundert
ein Unternehmen mit traditionsreichen Erkennungsmerkmalen
erfolgreich aufrecht zu erhalten. Nach Cocos Tod 1971 drohten
diese identitätsstiftenden Merkmale zu verstauben. Ohne die Anwesenheit der Designerin schien ihre Aura verflogen und die Marke verkörperte kein frisches, sondern morbides Universum. Kein
anderer vermochte es wie Karl Lagerfeld ästhetische Tradition
und geistige Herkunft auf unsere pulsierende, kurzweilige Umwelt
zu übertragen, dies auf den Laufsteg zu bringen und in ausdifferenzierten Shows produktiv zu machen. Der Mythos, welcher von
Gabrielle Coco Chanel ausgeht, wurde von Karl Lagerfeld meisterhaft wiederbelebt und gelungenermassen mit Strömungen des
jeweiligen Zeitgeistes verbunden. Lagerfeld gibt in mehreren Interviews und Dokumentarfilmen kund, dass er sich nur indirekt für
die Vergangenheit und die Zukunft interessiert. Was er mit seinem
Schaffen kommunizieren möchte, ist die Gegenwart.
Chanel ist ein riesiges Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 2 Milliarden Dollar. Die Marke ist bezüglich der Haute
Couture Schauen nur zweitrangig auf Profitabilität angewiesen,
sondern generiert seine Einnahmen vorwiegend durch den Absatz
von Nebenprodukten wie Accessoires oder Parfums. Die Haute
Couture Kollektion hat heutzutage vorwiegend die Funktion als
Marketinginstrument inne, somit kann Karl Lagerfeld jedem einzelnen Modell der Kollektion, wie auch dem Set Design, vollste
Aufmerksamkeit widmen. So aufwändig seine kapriziösen Modenschauenkulissen und die einfallsreichen Marketingstrategien sein
mögen, lässt sich diese Stärke auch als Schwäche interpretieren,
denn die Entwürfe sind oft bloss eine gute Mischung, von Variationen, Interpretationen, Verschnitte des Gestern und Heute.
Wie bereits erwähnt ist Chanel die Zusammenarbeit mit
Partnern zu Lebzeiten sehr wichtig gewesen. Dieses Erbe scheint
Chanel respektvoll zu wahren, was in der näheren Vergangenheit zur
Übernahme vieler Partner geführt hat. Elf Bezugsquellen, darunter
Barrie Strickwaren, Stickwaren Maison Lesange, Schmuckhersteller Goossens Paris, der Schuhmacher Massaro, die Hutmacherei
Maison Michel, der Federproduzent Lemarié, der Knopfspezialist
Desrues, das Blumenhaus Guillet und der Handschuhfabrikant
Causse gehören heute zum Chanel Konzern. Doch nicht nur diese
rein wirtschaftlichen Partner begleiten Chanel, sondern auch eine
Reihe von Testimonials wie Inès de la Fressange, Claudia Schiffer,
Vanessa Paradis, Nicole Kidman, Audrey Tatou und Keira Knightley, deren Gesichter zur Ausprägung der eigenen Identität instrumentalisiert werden.
48
Chanel Produkte werden nur in den eigenen Läden und wenigen
ausgewählten Kaufhäusern im Luxussegment vertrieben. Konzernzahlen sind höchst geheim, geschätzt wir der Jahresumsatz von
Experten auf 2 Milliarden pro Jahr. Wie auch ich keinerlei Chance
hatte an Insiderinformationen der Firma zu gelangen, finden die
meisten Ausstellungen über Chanel, Gabrielle oder Karl Lagerfeld
ohne Einblick in die firmeninternen Unterlagen statt. Interviews
mit Karl Lagerfeld, von unabhängigen Journalisten durchgeführt,
werden zunehmend seltener. Sie werden, wie die Fashion Shows,
vom Modehaus selbst initiiert und inzeniert, auf ihrer Internetseite platziert und somit gesteuert in die Blutbahn der Massenmedien
intraveniert.
Karl Lagerfeld und seine Vision von Chanel
Karl Lagerfeld wurde 1933 in Hamburg als Karl Otto Lagerfeldt
geboren. Sein Vater war Kondensmilchfabrikant und die Familie
konnte durch ihr Wohlhaben die Kriegszeit auf dem Land, ihrem
fast 500 Hektar grossen Gut Bissenmoor bei Bad Bramstedt verbringen. 1949 brach seine Mutter Elisabeth mit ihm nach Paris auf.
Dort besuchte er eine 'Montaigne' Privatschule. Seit dem Tod seines Partners Jacques de Bascher 1983 lebt Herr Lagerfeld bevorzugt alleine, in einer seiner Stadtwohnungen, seine Landsitze hat
er weitgehend verkauft.
Seinem Ruf als Workaholic wurde er auch privat gerecht, als er ums
Jahr 2000 über 13 Monate hinweg mit Hilfe der eigens für ihn erdachten 3D-Diät (Designer, Doktor, Diät :-) die seit dem Tod seines Partners sich angesammelten 42 kg abspeckte. Als Motivation
gab er an, nur für sich selbst wieder schlank sein zu wollen, v. a.
um die schönen, schmal geschnittenen Anzüge von Hedi Slimane
für Dior tragen zu können. Ähnlich wie Chanel hat er seinen eigenen Stil und unverkennbare Markenzeichen wie sein gepudertes,
weisses, zurückgebundenes Haar, einen weissen Vatermörderkragen, eine korrigierte Sonnenbrille, Autofahrer-Handschuhe und
schmal geschnittene Jeans.42
Sowohl die Modewelt als auch die Kunstwelt sind von ihm
fasziniert. Der Modebaron war bereits an über 7643 Ausstellungen
vertreten, ihm allein wurden folgende gewidmet: 1989 fand eine
erste Einzelausstellung in der AMSA Galerie in Hamburg statt,
1990 zeigte der Berliner Hamburger Bahnhof eine Werkschau, 2005
war eine Fotoausstellung in Apolda, Thüringen zu sehen. 2006 zeigt
auch die C/O Gallery in Berlin Fotografien "Karl Lagerfeld – one
man show". 2007 stellt die Langen Foundation 'konkret abstrakte'
42 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Lagerfeld, Zugriff: 14.04.2014.
43 Vgl. Museum Folkwang, 2014, S. 316.
Chanel kontextualisiert
49
Fotos seines Werkes aus und 2008 initiiert er eine Fotoausstellung
mit Bildern seiner Sicht auf 'Versailles à l'omble du soleil'.
Dieses Jahr findet nun eine Ausstellung zu Karls interdisziplinärem Schaffen im Museum Folkwang in Essen statt 'Karl
Lagerfeld – Parallele Gegensätze' und seine Arbeiten werden in
der Ausstellung 'Mythos Chanel' in der Hamburger Kunsthalle integriert. Viele Ausstellungen entstanden nicht nur wegen seiner
Arbeit bei Chanel, sondern auch Dank seines panoptischen Schaffens, welches sich von einer Sammlung historischer Plakate, einem
regen Interesse an Buchkunst, Innenarchitektur und Produktdesign bis über ein reiches fotografisches Werk erstreckt. Das fotografische Werk erfuhr seine Initialzündung, als er bei Chanel mit
den Ergebnissen der Pressemappefotos unzufrieden war. Daraufhin kaufte sein Mitarbeiter Eric Pfrunder eine Kamera und sagte zu
Karl: "Lass uns das doch selbst machen!"44. Es stellte sich heraus,
dass er grosses Talent für die Modefotografie bewies – und noch
heute führt er die Shootings selbst durch.
Karl Lagerfeld führt ein Kunst- und Gestaltungsverständnis der Avantgardisten des frühen 20. Jahrhunderts weiter, welches
den Gegensatz von Kunst und Ware im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jh. anzweifelt. Dieses Kunstverständnis ist sehr
stark geprägt von Literatur. Das Hauptthema seiner Arbeit als
künstlerischer Fotograf ist die Schönheit, welche durch die Lektüre sowohl von Märchen als auch moderner Lyrik inspiriert wird.
Ein gewagtes Thema in einer Zeit, in welcher der Modefotografie
das Nobilitierte durch Alltagsinszenierungen zu entnehmen versucht wird. Walter Keller beschreibt Lagerfeld gar als Pop-Aristokraten: "Mit seinem umfassenden Kreativ- und Lebensansatz ist
Karl Lagerfeld die Antwort auf die amerikanische Pop Art, eine Art
Andy Warhol europäischer Prägung. Freilich mit mehr Bildung und
Tiefgang. Ein 'homme de lettre' sowohl der heutigen Kunst wie
auch der zeitgenössischen Populärkultur."45
Sein Modeschaffen bei Balmain (1955-57), Jean Patou (1958
-1963), zwei Jahre freiberuflichen Schaffens für Marken wie Mario
Valentino, Krizia und die Discounter-Kette Monoprix, Fendi (seit
1965), Chloé (1963-1978, Chefdesigner von 1992-1997 bis Stella
McCartney ihn ersetzte) und Chanel (seit 1983) prägen die Modegeschichte nach wie vor nachhaltig. 1974 gründete Lagerfeld in
Deutschland unter dem Namen 'Karl Lagerfeld Impression' sein
erstes eigenes Unternehmen, 1984 gründete er mit dem französischen Textilhersteller Bidermann sein eigenes Label 'Karl Lagerfeld', was 1988 von 'KL by Karl Lagerfeld' abgelöst wurde. Er war
44 Lagerfeld Karl. In: Musuem Folkwang (Hrsg.), 2012, S. 11.
45 Keller Walter. In: Musuem Folkwang (Hrsg.), 2012, S.16.
50
auch als Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst in
Wien tätig (1980 bis 1984), seine Nachfolgerin war Jil Sander. Des
Weiteren ging er unzählige Kooperationen ein. Mitunter 2004 als
erster Designer, der für H&M eine Spezialkollektion entwarf. Gemäss Wikipedia war Karl Lagerfeld 2012 für 20 Kollektionen verantwortlich: für 10 bei seinen eigenen Marken, für alle 8 bei Chanel
und für 2 bei Fendi.
Interessante Details aus seinem Leben sind, dass Karl
Lagerfeld 2007 eine Klage vor Gericht gegen Alicia Drake wegen
der Veröffentlichung ihres Buch "The Beautiful Fall" verlor, da der
Richter die darin vorkommenden Enthüllungen nicht als Verletzung von Lagerfelds Privatsphäre einstufte, auch da das Buch in
Frankreich nicht verlegt worden ist. KL soll daraufhin alle Ausgaben in Paris aufgekauft haben. Im Epilog beschreibt Alicia Drake
Karl Lagerfelds Designstrategie in den 90er Jahren folgendermassen: "At one point in the 1990s it seemed as if Karl was deliberately
pushing the clothes to the furthest point of banality in order to
produce a creative tension to blow up all those long-held, authoritarian Chanel dictates – style over fashion , less is more – and
make the house his own."46 Auch schildert sie die langjährige Konkurrenzsituation zwischen Karl und Yves Saint Laurant. Damals
äusserte sich Yves gar der Presse gegenüber kritisch zu Lagerfelds Arbeit und meinte: "…I don't understand it. At Chanel they
put chains everywhere, leather straps. That poor woman must be
turning in her grave…."47 Dieses Statement wurde seither etliche
Male, in fast jeder neuen Kollektion auf fast ironische Art und Weise heraufbeschwört. Doch Tatsache ist, dass Karls Vision von Chanel perfekt zur MTV Generation passte und einen neuen Berufstyp
zu prägen half, das Supermodel.
Seine Privatbibliothek umfasst laut eigenen Angaben ca.
300'000 Bücher und seine Hauskatze Choupette verfügt über einen
eigenen Twitter- und Facebook-Account. Mit Intelligenz, Witz
und gleichzeitig intuitivem Gespür für das Zeitgenössische hat
es Lagerfeld vollbracht, der in den Sechzigerjahren angestaubten
Marke Chanel neuen Glanz zu verleihen. Coco Chanels Ansicht,
das Knie der Frau sei ihr hässlichstes Körperteil überhaupt, liess
es nicht zu, der im Kontext von Hippiekultur und Psychodelika
aufkommenden Minimode nachzugehen. Dies änderte Lagerfeld
radikal. Ihm wird zwar häufig vorgeworfen, er interpretiere lediglich die Ideen von Coco zeitgemäss neu, anstatt sie mit Eigenem
zu erweitern, doch offenbar auf eine unkonventionelle Weise, die
das Modehaus wieder zunehmend für ein jüngeres Publikum inte46 Drake Alicia, 2006, S. 362.
47 Laurent Yves Saint, 1991. In: Drake Alicia, 2006, S. 362.
Chanel kontextualisiert
51
ressant machte. Eine Mischung aus fast enzyklopädischem Wissen
über die Geschichte, vor allem der europäischen Kultur, aber ganz
und gar keiner nostalgischen Haltung, sondern einem unsentimentalen, leidenschaftlichen Leben und Beobachten im Hier und
Jetzt machen Karl Lagerfelds Persönlichkeit für die Öffentlichkeit
zum Faszinosum.
Im Dokumentarfilm 'Lebensskizzen' von Loïc Prigent,
gedreht 2012, wird deutlich wie scharfsinnig Lagerfelds Gedächtnis ist, und dass das Motto "Nulla dies sine linea – kein Tag ohne
Linie"48 von Plinius dem Jüngeren direkt auf ihn übertragbar ist.
Seinem Talent, Ideen durch sekundenschnell angefertigte Skizzen
zu kommunizieren, verdankt er auch den Beginn seiner Karriere,
als er 1954 beim 'Concours de la laine' einen Entwurf für einen
Mantel einreichte, gewann und dieser prompt durch Balmain produziert wurde. Daraufhin stellte Balmain den jungen Lagerfeld als
Assistenten ein. In dieser Zeit baute er zuerst eine Freundschaft
zu Yves Saint Laurent auf, die sich aber allmählich in Konkurrenz
verwandelte. Zuerst zeichnete er in einem Team von Assistenten,
stieg aber bald zum ersten Zeichner auf, da er angeblich die Arbeit
aller erledigte.
Seine Skizzen wurden für Chanels Modeimperium instrumentalisiert, indem qualitative Reproduktionen zu Marketingzwecken der
Pressemappe beigelegt wurden. Auch für andere Zwecke illustrierte
er, so z. B. für die 2010 erschienene Biographie Coco Chanels.
Lagerfelds Arbeit ist geprägt von Humor, Leichtigkeit und
Spontaneität. Obwohl jedes Detail einer Kollektion und dazugehöriger Kampagne durch seine Hände geht, propagiert er keinen
Geniekult. Denn zu den visionären Erneuerern des Modekosmos'
– wie einer Coco Chanel, eines Yves Saint Laurent oder einer Rei
Kawakubo – gehört er eher nicht. An die Stelle der Entwicklung
eines ikonischen Stils hat er die Ikonisierung seiner eigenen Erscheinung und Person gesetzt und führt somit das Erbe Gabrielles
facchkompetent weiter.
48 Vgl. Dokumentarfilm 'Karl Lagerfeld: Lebens-Skizzen, Prigent Loïc, 2012.
53
Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt:
Eine exemplarische Analyse am Beispiel von fünf Chanel Shows — Eine Einführung
Die räumlichen Elemente der Modenschau sind die Wahl des
Ortes, der Rahmen der Show, die Architektur des Gebäudes, die
Positionierung des Publikums im Raum, jene der Bühne, die Ausgestaltung der Bühne mit Accessoires und wie sich diese zueinander und den sich darin bewegenden Modellen verhalten. Diese
Elemente werde ich in meiner Analyse zuerst möglichst objektiv
beschreiben, dann in einen Kontext einbetten und schliesslich
bewerten.
Ginger Gregg Duggan teilt in ihrem Artikel über das Verhältnis von Bildender Kunst, Performance Kunst und Mode die
Modenschauen und deren Designer in fünf Kategorien:
(Spektakel),
(Substanz),
(Wissenschaft),
(Struktur) und
(Stellungnahme).49 Diese fünf Positionen werde ich im nächsten Absatz genauer erläutern, um das
Verständnis von Chanels Rolle in der Modewelt zu erleichtern.
Duggan spricht dabei von einer Modeszene, die vor allem in der
Tradition von Performances der 1960er und 70er Jahre angesiedelt ist und einen Hybrid von Kunst und Performance, hervorgebracht hat.50
Bei
steht das Konzept der Kollektion im
Vordergrund51, welchem bei extravaganten Vorstellungen mit Hilfe von Musik, Gegenständen, Licht und Handlungen Ausdruck
verliehen wird, das Kleid ist nur ein Teil der Schau. DesignerInnen dieser Kategorie erregen vorwiegend mittels dieser Aufsehen:
"Designer shows that fall into the category of spectacle are closely
connected to the performing arts of theater and opera, as well as
feature films and music videos. As with stage performances, shows
created by spectacle designers feature far more than garments. In
most cases, they read as mini dramas, complete with characters,
specific locations, related musical scores, and recognizable themes. Often, the only element setting fashion shows apart from
their theatrical counterparts is their fundamental purpose—to
function as a marketing ploy."52 Alexander McQueen und John
Galliano sind nebst kommerzielleren und weniger dramaturgisch
ausgearbeiteten Positionen wie Chanel namhafte Beispiele.
zeichnen sich durch eine hohe Wertung
von Prozess und Performance aus. Das Konzept und gesellschaftlich relevante Themen und Rituale manifestieren sich in sehr
49 50 51 52 Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 245ff.
Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 243.
Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 245ff.
Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 244.
54
avantgardistischen Präsentationen. Diese DesignerInnen, z. B.
Viktor & Rolf oder Hussein Chalayan werden vielmehr als KünstlerInnen wahrgenommen.53
Als
gelten Junya Watanabe oder Issey Miyake,
ebenfalls sehr konzeptionell arbeitende Kreateure, da ihre Werke
aus technologischen oder wissenschaftlichen Errungenschaften
hervorgehen. Auch neue Medien sind Teil ihrer Inspiration und
begleiten deshalb oft deren Modenschauen. 54
Die Kategorie
lässt sich räumlich bezüglich Präsentation im 'white cube' oder genereller formuliert in unbehandelten
Räumen einordnen, um ihren formal oft ungewöhnlichen Kreationen höchsten Rang zu zugestehen und um auf das Verhältnis von
Körper und Kleid zu fokussieren. Solche Designer wie Comme des
Garçons oder Martin Margiela messen der Wertung von Form bei
der Kreation ihrer Kleider mehr als der Funktion bei.55
Die letzte Kategorie der
präsentieren
politisch aufgeladene Shows, welche die Ideale der Marke zum
Ausdruck bringen. Diese Shows sind Happenings und der Performance-Kunst der 1970er Jahre am nächsten. Auch damals wurden Happenings zu Vergnügungsevents trivialisiert und deshalb
von Künstlern wie Alan Kaprow zu privaten, gar publikumslosen
Events umgestaltet.56 Diese Strategie wählen auch Statement-Designer und verzichten allenfalls auf materielle Repräsentationsformen, wie Viktor & Rolf dies 1996 mit ihrem Statement "Viktor &
Rolf on Strike” getan haben. Dafür versandten sie zum Anlass der
AW Fashion Week in Paris Poster an die Medien und verteilten diese in der Stadt, anstatt eine Show aufzuführen.
Seit der Übernahme der Art Direktion durch Karl Lagerfeld kann Chanel der Kategorie Spektakel zugeordnet werden:
Obschon im grossen Stil geworben wird, oder gerade weil die Fashion Show Teil der Werbestrategie ist, steht bei der Inszenierung
das Thema der Kollektion und die Leitlinien der Marke im Vordergrund. Mit diesen wird formal bewusst gespielt, auf eine dem
Zeitgeist entsprechende Art und Weise.
Karl Lagerfeld entwirft acht Damenkollektionen pro Jahr
für Chanel, wobei nur sechs auf dem Laufsteg präsentiert werden.
Seit 2006 zeigt Chanel zweimal jährlich auf dem Laufsteg zwei
Haute Couture und vier Prêt-à-Porter Kollektionen des Hauses in
Paris (zwei gewagtere, die nach sechs Monaten erhältlich sind und
zwei klassischere, welche direkt in Verkauf gehen und nicht defiliert werden).
53 54 55 56 Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 250ff.
Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 255ff.
Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 260ff.
Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 263ff.
Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt
55
Aufgrund der Größe und des Zuschauerfassungsvermögens
des Grand Palais (die Shows finden im Nef, dem Hauptschiff des
Grand Palais statt, es umfasst ca. 13'000 m2) gelten die Chanelschauen heute als Highlight der Pariser Modewoche. Die Fashion Week
Paris markiert den Höhepunkt der Kalenderrituale in der Modewelt:
die Defilees der Haute Couture Frauenkollektionen finden im Januar
und Juli statt, jene der Prêt-à-Porter im Februar und September mit
immer derselben Abfolge: New York, London, Mailand, Paris.
Alle zwei Monate werden Chanel Boutiquen mit neuer Ware
beliefert: die Marketingstrategie wird durch zwei weitere Kollektionen, die Cruise (Resort/Croisière, Pre-Spring) erweitert, die auf
wohlhabende KundenInnen ausgerichtet ist, die es sich leisten können in den Wintermonaten auf Kreuzfahrt zu gehen (gezeigt im Mai,
erhältlich im November) und die Métiers d’Art (Pre-Fall) Kollektion
(gezeigt im Dezember, erhältlich im Mai). Diese Shows finden meist
nicht in Paris statt, sondern ganz zeitgemäss verteilt über den Globus an Orten57, die nebst Paris eine starke Verbindung zum Leben
von Mademoiselle Chanel haben. Solche Strategien verfolgen auch
andere Marken wie Prada. Francesco Vezzoli (Konzeptkünstler und
Filmemacher) beschreibt es folgendermassen in einem Interview mit
Kaleidoscope: "I think it’s really fundamental for any kind of brand to
be firmly grounded in the country where its roots are. That said, in
order to exist and survive internationally, the brand must challenge
its own creativity and strengths with different cultures. It’s the best
way to start anew, explore new possibilities and constantly confront
the new powers and ideas coming from different territories."58 Dieses
Credo setzte Karl Lagerfeld in der jüngsten Modepräsentation der
Cruise Collection im Mai 2014 in Dubai direkt um. Die gezeigten
Modelle, die Musik und die Inszenierung vermengten Orientalismus
mit Motiven des Chanel Universums.
Von Chanel geht ein Mythos aus, der seit der Mystifizierung
Gabrielles ihrer selbst Programm ist.59 Ihre Ikonen oder Markenzeichen sind kulturelle Zeichen, die in Bildern, Objekten und Orten
oder Räumlichkeiten gelesen werden können. Diese Identifikationsmittel werden auch in den Bühnenbildern der Modenschauen verwendet, worauf ich jeweils in den folgenden fünf Exemplaren genauer
eingehen werde.
57 Orte siehe Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Chanel, Zugriff, 01.04.2014.
58 http://kaleidoscope-press.com/issue-contents/prada-nicholas-cullinan-and-francesco-vezzoli-in-conversation/,
Zugriff: 28.04.2014
59 Spitz Maria, 2013, S. 330 f. Anmerkung: Verweis auf die Ausstellung Mythos Chanel, Museum für Kunst
und Gewerbe, 2014.
56
Vor 2006 fanden Chanels Modenschauen überwiegend im Hauptsitz an der Pariser Rue Cambon, danach im Grand Palais statt.
Dieses Belle Epoque Gebäude entstand zwischen 1897 und 1900
für die Weltausstellung als Ausstellungshalle, die von einer Gruppe
von Architekten mit der Leitung Charles-Louis Girault (*1851–
1932) erstellt wurde. Das Gebäude stellte den Ruhm französischer
Kunst aus bzw. dar und wird heute noch für Wechselausstellungen
genutzt. Karl Lagerfelds Schachzug Chanel dort zu präsentieren,
stellt eine Rückkehr zu den Wurzeln der Modenschau dar. In einem
grösseren Zusammenhang gesehen, kann die technische Errungenschaft der Glas-Stahl-Bauten als Wegbereiter der Modenschau
gesehen werden. Walter Benjamin beschäftigte sich in seinem Passagenwerk, ein Fragment zwischen 1927 und 1940 entstanden, mit
dem Pariser Stadtleben, welches sich vor allem in den von Glas-Eisen-Konstruktionen gedeckten Arkaden (in der erste Hälfte des
19. Jahrhunderts erbaut) abspielte. In diesen Passagen waren eine
wachsende Anzahl von Geschäften angelegt. Das Werk handelt von
der Großstadt, ihren Bedingungen, von ihrer Architektur des Konsums und von dem Menschen, der sich in ihr bewegt: dem Flaneur
und somit dem Beobachter von Mode.
Durch Haussmans Renovationen wurden die meisten
dieser Passagen zwischen 1852 und 1870 zerstört. Bevor die Warenhäuser zu den Konsumtempeln der modernen Gesellschaft
wurden, waren die Passagen die Flaniermeilen für Einkäufer. Die
formale Ähnlichkeit des Grand Palais mit den Arkaden und seine
gleichzeitige Entstehung mit dem modernen Kaufhaus machen
ihn zum idealen Austragungsort für Chanels Fashion Shows.
Nun komme ich konkret zum zweiten Teil meiner Arbeit,
zur bereits im Vorwort erwähnten Analyse von fünf Chanel Modeschauen. Diese sind im ersten Teil der Arbeit, der chronologisch
aufgebauten Internetseite www.formatfashionshow.ch eingebettet. Zum Verständnis dieser Analysen, ist es elementar, die dokumentierten Videoaufnahmen auf der Internetseite anzusehen.
Ergänzend wird die Elaboration dieser Shows durch jeweils einen
Grundriss und detailliertere Fotos der Shows auf den letzten Seiten des Buches veranschaulicht.
Die Auswahl der fünf Schauen ist sehr lustvoll entstanden,
gleichzeitig habe ich versucht, sie in möglichst regelmässigen Abständen zu verteilen. Des Weiteren ist mir bei der Durchsicht von
den 64 von mir aufgefundenen Shows aufgefallen, dass sich Unterkapitel herauskristallisieren lassen, aus denen ich je eine Show
ausgewählt habe. Deren räumliche Gegebenheiten sind kurz und
knapp formuliert folgende:
Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt
57
1. Linearer Catwalk mit Theaterbühnen-Kulissenmalerei (ca. 19901996) — 1994/95 AW Prêt-à-Porter #56
2. Erste minimal ausgearbeitete Sets, Abwendung vom geraden Catwalk, Experimente mit anderen Formen (ca. 1996-2003) — 2001
SS Prêt-à-Porter #68
3. Coole Architekturen ingrösser werdenden Inszenierugen ( 20032006, Einfluss von Etienne Russo/seiner Firma villa eugénie, die ab
2004 viele der Shows organisiert) — 2006 SS Haute Couture #72
4. Gigantische Sets, gegeben durch die räumlich kaum eingeschränkten Möglichkeiten im Grand Palais (2006-2010) — 2010/11 AW
Prêt-à-Porter #77
5. Noch spektakulärere und detaillierter ausgearbeitet Schauen, die
auch zunehmend eine Botschaft zu haben scheinen — 2014/15 AW
Prêt-à-Porter #80
58
1994/95 AW Prêt-à-Porter #56
Den Auftakt bildet Claudia Schiffer. Es ist die Ära der
Supermodels. Naomi Campbell, Kate Moss, Christy Turlington,
Linda Evangelista, Helena Christensen, Carla Bruni und Brandi Quinones erkenne ich wieder. Die Kulisse stellt eine Pariser
Hausfassade im Klassizistischen Stil dar. Mein erster Verdacht, es
handle sich dabei um das Pariser Ritz Hotel, wo Coco Gabrielle
Chanel von 1936 bis zu ihrem Tod 1971 wohnhaft war, lässt sich
nicht bestätigen, da einige Details wie die halbkreisförmigen Ausbuchtungen mit darin platzierten Statuen nicht übereinstimmen.
Diese Show dauert im Vergleich zu den heutigen doppelt so lange,
30 Minuten. Umso kürzer und kleiner ist die sandfarbig gehaltene, neutreale Bühne, etwa 2.5 x 8-10 Meter. Die Choreografie der
Models ist immer dieselbe: Lauf an die Spitze des Catwalks, ein bis
zwei Drehungen, Gang zurück, allenfalls mit zweiter Drehung. So
wie das Bühnenbild ein Filmset imitiert, unterteilt Karl Lagerfeld
die Show in etwa zehn Szenen mit jeweils durchschnittlich 25 Modellen, was insgesamt circa 250 Variationen an Modellen in dieser
Schau ergibt. Die Wechsel werden vage durch sich verändernde
Lichtsituationen, einem Wechsel von hell und dunkel oder einem
Wechsel in der Musik untermalt. Oft wird die Szene von Claudia
Schiffer eröffnet, sonst von Victoire de Castellanes, die Chefin der
Schmuckabteilung bei Chanel von 1984 bis 1998. Insgesamt ziehen
sich einige Models also etwa 10 mal um. Einziges Feature der Models bilden Accessoires wie Taschen oder ein Mobiltelefon; Karl
Lagerfeld belebt in dieser Schau also Mary Quants Strategie wieder, das Frauenbild mit Hilfe von Accessoires zu verdeutlichen.
In den von mir gesehenen Shows von 1990 bis 1997 steht
das Supermodel und ihre Persönlichkeit im Zentrum, die räumliche Ausbildung der Schau beschränkt sich auf den immer gleichen
beigen, rechteckigen Laufsteg und ein Hintergrundbild im Stil
einer Theaterkulisse gemalt. Eventuell wird diese Kulisse durch
Props ergänzt, wie in diesem Fall einem Regiestuhl (mit Coco angeschrieben und darüber gehängter Stepptasche), einer Scheinwerfer- und einer Filmkamera-Attrappe. Vermutlich spielt das Bild
generell mit dem Strassenbild von Paris und inszeniert Coco Chanel als Regisseurin der Pariser Modewelt, deren Schauspiel sich
schlussendlich in der Strasse abspielt. Die Supermodels sind die
Stars dieses 'Broadways'.
Das Frauenbild wird einerseits mittels Körpersprache zum
Ausdruck gebracht – die Models wurden angeleitet, ihre Hüften
stark von links nach rechts zu bewegen und hin und wieder zu lächeln, andererseits tragen sie sexy und spielerische Kleidung und
Accessoires. In einer Szene lässt Lagerfeld die Models mit jeweils
Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt
59
ihrer Landesflagge in Form eines Schals auftreten. Diese Elemente formen ein selbstsicheres, international erfolgreiches, aber zugleich sehr weibliches, einer der Männerwelt gefälliges und nicht in
dieser Domäne tonangebendes Rollenbild.
Architektonische Elemente, die im Zusammenhang mit
Chanel stehen, werden oft in die Modenschauenszenerien integriert. Darunter findet man die Hausfassade oder Elemente des
Interieurs der Rue Cambon und Elemente typischer Pariser Architektur, wie Karusselle, Springbrunnen, Strassenlaternen, Strassencafés oder Gärten (z. B. der Jardain du Luxembourg). Diesen
Orten der Originalität haftet genauso ein Mythos an wie anderen
Ikonen. In einer Liste der von mir gesehenen 64 Shows habe ich
Unterkategorien der Shows erstellt und bemerkt, dass 19, also fast
1/3 dieser Shows in ihrer Szenografie eines der Wiedererkennungsmerkmale des Hauses Chanel als Hauptelement ausarbeiten.
Interessant am räumlichen Layout ist die Positionierung
der Medien. FotografenInnen tummeln sich leicht erniedrigt, dicht
gedrängt, zu den Füssen der Models liegend (einige Medienleute
sind tatsächlich über den Laufsteg gelehnt). Sie stehen an vorderster Front, ihre Position ist also am wichtigsten gewertet, um die gezeigten Kreationen bald in den Massenmedien zu verbreiten. Ihre
Position verdeutlicht nochmals, wie zu dieser Zeit die Gesellschaft
die idealisierten Supermodels bewunderte und welche Wichtigkeit
dabei die Streuung ihres Abbildes durch die Medien war.
Die Dramaturgie ist stark durch die Musik gelenkt: Der
Auftakt macht 'Doop Doop', worüber ein Vocal gelegt ist ('Paris
Hilton Vibe'), als zweites ertönt ein anonymes Stück, welches an
Musik in einem Vergnügungspark erinnert. Dann folgt eine Coverversion von Bertolt Brechts 'Mandalay Song' von 'The flying Lizards', einer avantgardistischen Postpunkband, welche wie Lagerfeld häufig mit dem Mittel der Parodie spielte. Es folgen Klassiker
wie von 'YMO – Firecracker' von 1979, 'Aretha Franklin – A deeper
Love C&c Hot Mix', 'M People' mit ihrem grössten Hit 'Moving on
Up' von 1993, beides Dance-Pop und eine hochgepinschte Version
von 'Alpha Team – Speed Hardcore Mix' (Techno). Die Musik ist
vielfältiger Mix, der ein möglichst breites Publikum anzusprechen
versucht. Er nimmt also wenig Position ein, sondern ist einfach
nur Mainstream tauglich. In der Schlussszene zeigt Lagerfeld kein
Hochzeitskleid, sondern schillernd poppige Abendmode, der DJ
kehrt zu 'Doop Doop' zurück und spielt erst mit dem Auftritt Karl
Lagerfelds zum Höhepunkt Nino Ferrers Lied 'Je vends des robes'.
Dieser Schlusskommentar kommuniziert Lagerfelds Position und
die Strategie der Prêt-à-Porter Kollektion. Deren Absicht geht
nicht über das Ziel hinaus, einen möglichst grossen Umsatz durch
60
die Vermittlung eines frohen, unbeschwerten Frauenbildes 'à la
mode' zu generieren.
2001 SS Prêt-à-Porter #68
Nach 1997 rückt das Layout der Chanel Schauen vom linearen
Catwalk ab und experimentiert mit alternativen Formen wie ZickZack-, Wellenformen, Halb- oder Kreisen, Quadraten, Brücken
oder versucht sich gar an speziellen Orten, wie einer Boutique mit
Verbindungstüren zwischen mehreren Räumen oder einem Innenhof einer Schule. Diese Ready-to-Wear Show dupliziert den Laufsteg und zerlegt ihn in sukzessiv grösser werdende Treppenstufen.
Zwischen diesen zwei Treppen befindet sich eine schmale Aussparung, in welcher die von der Treppe gestiegenen Models zurück
gehen. Das Motiv der Treppe ist in der Geschichte der Mode tief
verankert, bei Chanel ist es zu einem oft wiederkehrenden Element durch die symbolische Repräsentation der Treppe in der Rue
Cambon geworden #30.
Die Show wird von sechs im Dunkeln vor einem riesigen,
erleuchteten Chanel-Logo stehenden Models eröffnet. Die Konturen der Treppenstufen sind in Primärfarben mit Neonröhren beleuchtet. Alsbald die ersten zwei Models ihren Abstieg beginnen,
wird der Raum durch weisse Neonröhren – linear oberhalb der
Treppen platziert – erhellt und den Schritten der Models vorauseilend, wechseln die Treppenstufen ihre Farben zu Pastelltönen.
Die länge der Treppe schätze ich auf 20 Meter, die Höhe der obersten Stufe beträgt etwa 2 Meter. Das Publikum ist links und rechts
bestuhlt, die Medienleute stehen davor (sieht das Publikum überhaupt etwas?).
Nach dem Start der zweiten Modelgruppe, es sind immer
zwischen vier oder acht, wird klar, dass sie mittels einer Hebevorrichtung hinter der Treppe auf die zwei Meter Höhe herauf gehoben werden. Insgesamt werden etwa 90 Modelle in dieser Kollektion gezeigt. Bis zur dreizehnten Minute bleibt die Lichtstimmung
dieselbe, eine Geschichte erzählt lediglich die Mode, die den Tagesablauf einer Frau in den Sommerferien beschreiben könnte: die
Mode wechselt von Casual zu Bademode und schliesslich zu eleganteren Stücken.
Die Treppe besteht aus 14 Stufen mit gradual abgestuftem,
heller werdenden Farbverlauf: weiss rot orange gelb grün blau pink
violett orange gelb hellgrün hellblau rosa weiss. In der dreizehnten Minute wird der Raum verdunkelt, die Neonröhren wechseln
wieder zu den Grundfarben und flackern wie in einer Disco. Der
Höhepunkt, vergleichbar einem Discobesuch, wird angetönt. Die
ersten Models steigen die steilen Treppen hinter der Bühne hoch
Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt
61
und defilieren alle nochmals; in einer Zweierreihe die Treppe hinunter. Die anonymen, vom Typ her sehr einheitlichen Models verschwinden im dunkeln Tunnel.
Bezüglich Musik liessen sich die meisten Titel nachvollziehen, die Playlist ist bereits stärker bearbeitet als in der Show von
1994, die einzelnen Stücke sind komplexer ineinander gemischt:
1 Alpine Stars — Jump Jet (1999)
2 Lake Soul & Mathilde — Autour de toi (2000)
3 Carvelli — L'Etrange Dr. Personne (1977)
4 Francis Lai — Theme from Love Story (1970)
5 Beck — Mixed Bizness (1999)
6 Michael Jackson — Thriller (1982)
7 Lake Soul & Mathilde — Autour de toi (2000)
Die Musik ist also im Gegensatz zur Modenschau von 1994
weniger Soul- und R&B-lastig, sondern kühler mit schnelleren
Bässen oder melancholischeren, sphärischeren Melodien von Electronic Rock über Pop. Diese Coolness spiegelt sich in der Szenografie vor allem in der Materialität (glatte, weisse Oberflächen) und
der Lichtstimmung, den kühlen Pastelltönen wider. Die Ästhetik
oszilliert zwischen der Kunst Dan Flavins oder Sylvie Fleurys und
jener von Discobeleuchtung. Die Show ist wie die Kunst sehr kühl,
aber nicht zurückhaltend. Die Mode geht darin nicht über geläufige Trends hinaus, bedient sich lediglich einiger Elemente aus
Subkulturen. Die Models haben beispielsweise COCO scheinbar
auf ihre Wangen tättowiert und tragen Ketten mit Rasiermessern.
In Zusammenarbeit mit Reebok ist der erste Turnschuh von Chanel, der 'Reebok Insta Pump Fury' entstanden, der aber nie auf
den Markt kam. Das Chanel Logo, der Einsatz von Tweed und die
klassische 2.55 Tasche erinnern einzig an das Erbe von Gabrielle.
Ein Finale gibt es, abgesehen von dem nochmaligen Auftritt aller
Modelle, nicht. Karl Lagerfeld bleibt erstaunlicherweise abwesend.
Die Medien, welche wie beschrieben an vorderster Front stehen
sind nun im Gegensatz zur Raumaufteilung von 1994 von der Bühne wenig entfernt. Am Ende der Show hingegen, stürmen sie diese
und rennen in Richtung Backstage. Ob sich dort Karl Lagerfeld
präsentierte, liess sich nicht nachvollziehen.
62
2006 SS Haute Couture #72
Nach 2006 fanden die Modeschauen von Chanel im Grand Palais
statt, was dem Bühnendesign mehr Möglichkeiten eröffnete. Nebst
der villa eugénie (Produktion) wirkte bei der räumlichen Umsetzung des Konzeptes von Karl Lagerfeld auch Stefan Lubrina, ein
Szenograf, mit. Das Publikum ist hier in Form eines Amphitheaters
angeordnet. Riesige Leuchten, vergleichbar mit Scheinwerfern,
wie sie bei moderneren Veranstaltungsorten, z. B. Fussballstadien
anzutreffen sind, erhellen das in weiss gehaltene, elegante Set. In
der Mitte des Amphitheaters steht eine weisse, runde, leicht erhöhte Bühne auf der wiederum ein weisser Zylinder mit einer groben Gitternetz-Struktur platziert ist. Die sukzessive auftretenden
Models betreten die Bühne, umkreisen den Zylinder in Formation
einer Spirale und verschwinden dann in eine sich von Zauberhand
öffnende Türe des Gitternetzes.
Der Musikmix dieser Show ist sehr umfangreich und
komplex abgemischt, sodass Shazam (eine Musikstück-Erkennungs-Applikation für Smartphones) die Originale nicht wieder
erkennt. In einem Interview mit Michel Gaubert, der seit 1991 die
Hintergrundmusik bei den Chanel-Schauen kreiert, gibt dieser
kund, dass die Musik bei Haute Couture im Vergleich zu Prêt-àPorter Schauen ruhig "mondäner, merkwürdiger und experimenteller sein dürfe".60 Karl Lagerfeld erfand für ihn sogar einen neuen
Beruf, den des Soundstylisten.61 Wie ein Film von Sophia Coppola,
z. B. 'The Virgin Suicides', mutet die Stimmung in dieser atmosphärischen, avantgardistischen und himmlischen Inszenierung an.
Im Vergleich zu den ersten zwei analysierten Shows hat
die Presse eine weniger prominente Stellung sondern streut sich
zurückhaltend kultiviert unter das Publikum oder befindet sich
am äussersten Rande des Geschehens. Zum einen ermöglicht der
Raum eine grossflächige Inszenierung, zum anderen lässt er Platz
für eine von Medien emanzipierte Dokumentation der Show. Die
filmische Aufnahme wird wie die Vorbereitungen zu einem Spielfilm oder Dokumentarfilm bewusst geplant und gesteuert, was an
der hin und wieder sichtbaren Filmcrew sichtbar wird. Deutlich
wird dabei, dass die Modenschau konkret die Funktion des Werbefilmes inne hat.
Die Kollektion umfängt 50 Modelle und endet als einzige,
da Haute Couture, ganz klassisch mit dem Brautkleid, von Model
und Schauspielerin Lily Cole getragen. Die Glückliche betätigt einen Knopf beim Zylinder, was das Hochfahren dessen in den siebten Himmel auslöst. Nun wird der Blick auf die auf einer Wendelt-
60 http://www.sueddeutsche.de/leben/dj-michel-gaubert-der-soundstylist-1.100357, Zugriff: 01.05.2014.
61 Vgl. http://www.sueddeutsche.de/leben/dj-michel-gaubert-der-soundstylist-1.100357, Zugriff: 01.05.2014.
Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt
63
reppe wartenden Models frei. Karl Lagerfeld betritt die Bühne und
holt die Braut ab, worauf alle Modelle von der Treppe hinab defilieren. Das identitätsstiftende Motiv der Treppe wird als klassisches
Element in die ansonsten wenig mit den Chanel-Ikonen spielende
Schau eingebettet.
Diese als einzige von mir ausgewählte Haute Couture Show
ist sowohl in der Kleidung als auch der Inszenierung sehr elegant
ausgearbeitet. Himmlisch schön soll auch das in weiss und silber
gehaltene Set anmuten. Die Coutureschauen unterscheiden sich
nicht grundsätzlich in einer differenzierter ausgearbeiteten Bühne
oder einem eleganteren Stil, was eine Haute Couture Inszenierung
von 2013 beweist. Sie zeigt ein dystopisches Bild einer Theaterruine, welche den Blick auf eine ultramoderne Grossstadt freigibt,
könnte also im vom wirtschaftlichen Niedergang geprägten, zerfallenen Detroit angesiedelt sein – alles andere als chic also.
Die Kleidung als Mischung aus Formen der Mode aus den
60er Jahren und feenartigen Elementen wird von einer wenig zugänglichen Frau getragen. Die in vorwiegend schwarz und weiss
gehaltenen Kleidungsstücke sind inspiriert von einer asketischen
Ästhetik aus Coco Chanels Zeit im Kloster (auch das passt zum
Film 'The Virgin Suicides'), das dargestellte Bild zeigt eine kühle,
verträumte und fast mädchenhafte Frau.
Diese Show stellt meiner Meinung nach eine Flucht vor
der Realität dar. Probleme auf der internationalen Politbühne,
wie der Krieg im nahen Osten, der angeheizte Ost-West-Konflikt,
ausgelöst durch Irans Atomprogramm und eine sich abzeichnende
Finanzkrise, führen hier zu einer sehr nostalgischen und träumerischen Inszenierung. Die Inszenierung dieser Show ruft von der
Musik über die zum Himmel führende Treppe und die verträumten, stark ornamental, aber in asketischem Schwarz und Weiss gehaltenen Kreationen, Bilder christlicher Weltflucht hervor.
2010/11 AW Prêt-à-Porter #77
Das zahlreich erschienene Publikum sitzt um ein Quader, der von
einer weissen Membran umhüllt wird. Es ist klar, dass sich die Bühne
dahinter befindet und die Neugierde des Publikums durch die Verhüllung erhöht wird. Gerüchte machen die Runde, dahinter befinde
sich der auf der Einladungskarte abgebildete Eisbär.
Die Membran fährt langsam hoch und gibt den Blick auf einen Eisberg frei. Zu sehen sind nun zwei Männer und zwei Frauen in
yetimässiger Bekleidung (die Männer verkörpern vielleicht Big Foot).
Ein von Skandinavien importierter 265 Tonnen schwerer, echter
Eisberg wurde für dieses Bühnenbild von 35 Eisschnitzern während
sechs Tagen bearbeitet. Die Bewilligung dafür erhielt Lagerfeld nur
64
unter der Bedingung, dass das Eis wieder zurückgeführt werden würde.62 Ein modernes Märchen, ein Gerücht von den Massenmedien
verbreitet: denn in mehreren Beiträgen, beispielsweise jenem von
Wallpaper, wird berichtet, der künstliche Eisberg sei aus Snice (gefrorenem Eisschnee) geformt worden.63 Der Teil mit den Eisschnitzern entspricht der Wahrheit.
Der Grand Palais wurde für diese Show auf tiefste Temperaturen herunter gekühlt, bei den Kostümen wurde auf echtes Fell
verzichtet. Die Spitze des Eisbergs ragt aus dem tiefblauen Meer hervor – dieser Eindruck wurde durch eine auf blauen Grund aufgefüllte
Wasserschicht erzeugt. Insgesamt also alles mehr Schein als Sein.
Die Modelle, vergleichbar wenige (ca. 60), umkreisen den Eisberg
von links nach rechts, also im Gegenuhrzeigersinn in gewohnter
Chanel-Haltung: Oberkörper zurückgelehnt, Hüfte vorgeschoben,
Hände in den Taschen.
Die Playlist ist ein komplex abgemischtes Stück, mit Geräuschen und Vocals ergänzt, welches wie alle anderen Chanel
Shows ein Hauptthema (Nr. 1 und 6) hat, das vor dem Auftritt des
Designers wiederholt eingespielt wird. Es wirkt sehr atmosphärisch, abwechselnd düster und bedrohlich, bzw. heiter und klar.
1 Simple Minds — Theme for great Cities + Windgebläse
2 Michel Gaubin — La Clairière Endormie + Vocal
3 Mechanic Slave & Micha — Crazy Rasta + verstörende Klänge
4 Simple Minds — Theme for great Cities + Harvenklang
5 Anny & Jean Marc Versini — Neige de Noël
6 Simple Minds — Theme for great Cities
Ähnlich wie die anderer Journalisten, war meine Vermutung, Karl Lagerfeld habe mit dieser Inszenierung entweder auf die Erderwärmung
aufmerksam machen wollen oder eine postapokalyptische, mystische
Geschichte erzählen wollen. Der vor allem durch die Musik erzeugte
Spannungsbogen dieser Show erinnert stark an die Stimmung und
den Plot des 2013 erschienenen Science-Fiction-Actionfilms 'Snowpiercer’. Darin bringt die Menschheit ein künstliches Mittel gegen die
globale Erwärmung in die Atmosphäre, bewirkt dadurch jedoch gleich
das Anbrechen einer Eiszeit. Die noch wenigen lebenden Menschen
überleben in einem Microsystem, einem um die Welt kreisenden
Schnellzug. Das Happy End ist einem genauen Beobachter zu verdanken, dem die langsam zurückgehende Eismasse im Verlauf der Jahre
aufgefallen ist. Das Finale der Chanel Show ist ähnlich hell, heiter und
klar, wie das Ende des Filmes. Formal könnte Lagerfeld aber vielleicht
auch ganz banal von einem Eishotel inspiriert worden sein.
Auch bei einer Show von vor zwei Jahren (2012 SS Prêt-à-Porter)
62 Vgl. http://www.theguardian.com/lifeandstyle/2010/mar/10/chanel-fashion-show-iceberg-chic, Zugriff: 02.01.2014.
63 http://www.wallpaper.com/fashion/chanel-aw-2010-show/4344. Anmerkung: Gar in der Publikation Spitz
Maria, 2013, S.298, hält sich das Gerücht.
Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt
65
liesse sich vermuten, dass Chanel ein Statement zum vielbeachteten Thema 'Naturschutz' abgeben wollte. Sie wurde ebenfalls vom
Modenschauen-Produzenten Etienne Russo und seinem Team bei
villa eugénie konzipiert und organisiert (villa eugénie war übrigens
nicht zur Kooperation mit mir bereit, da von ihnen keinerlei Informationen über Chanel herausgegeben werden dürfen). Für die
effektive Architektur engagierten sie Zaha Hadid, die bereits 2008
einen Kunstpavillon für Chanel entworfen hatte. Das Konzept der
Show bestand darin, eine Unterwasserlandschaft zu entwerfen. Die
Szenografie der Modenschau zeichnet sich durch einen von Models
gefluteten, puristisch weissen Meeresboden aus, der zauberhaft
anmutet. Er scheint von feenartigen Wesen gereinigt worden zu
sein (Vergleiche zum 1984 erschienenen Anime 'Nausicaä aus dem
Tal der Winde' von Hayao Miyazaki liegen auf der Hand). Das Publikum wird von einem irisierenden Doppelvorhang umgarnt und
dieser schliesst die Szenografie, wie Wellen an der Meeresoberfläche, von der Aussenwelt ab. Korallen und Kreaturen beheimaten
die mystische Unterwasserwelt. Die Formensprache ist für Zaha
Hadid reichlich atypisch, woraus ich eine Auftragsarbeit dominiert
von Karl Lagerfelds Vision schliesse. Aus zahlreichen Statements
von Karl Lagerfeld in Interviews schätze ich seine Motivation zum
Unterwasserthema wie jene zur Arktislandschaft als primär lustvolle ein, sekundär beeinflusst von Themen wie der Verschmutzung
der Weltmeere oder der globalen Erderwärmung. Wie auch in jener Show, die durch eine musikalische Einlage von Florence (der
Gruppe 'Florence and the Machine' – eine von Lagerfelds Testimonials) mit einem Leibwächter erweitert wurde #78, setzt Karl
Lagerfeld in dieser Show männliche Models ein, obwohl Chanel
nur Damenkollektionen fertigt. Dies tut er, um die Lebenswelt der
Frauen zu komplementieren und kleine Narrative einzubauen, wie
hier die starken Yetis oder in der folgend analysierten Show, einen
Lebens-/Einkaufspartner.
66
2014/15 AW Prêt-à-Porter #80
Im Februar diesen Jahres präsentierte Karl Lagerfeld die aufwändigst inszenierte Chanel Schau aller Zeiten. Im Grand Palais zeigt
sich aus der Vogelperspektive ein symmetrisch geordneter Raum
in Form eines Rechteckes. Am Rand ist die vierreihige Publikumszone eingeplant. In der mittleren Längsachse befinden sich sechs
circa 5 x 1 x 2 Meter grosse Warenregale, dazwischen jeweils ein bis
sieben kleinere Regale. Die Nachbildung des Chanel Supermarktes
orientiert sich an gewohnten Strukturen von Lebensmittelgeschäften mit Abteilungen wie Frischwaren, Haushalt, Fleischwaren etc..
Spielerisch, poetisch und humorvoll werden in den an Carrefour
erinnernden Werbebannern Worte des Chanel Imperiums oder
Piktogramme integriert. An den randvoll in regenbogenfarben geordneten, mit Chanel Produktattrappen aufgefüllten Regalen laufen die Models mit dem Einsetzen der Musik selbstsicher vorbei.
Sie tragen mit Chanel-Borten umflochtene Einkaufskörbe. Eigens
für diese 14-minütige Show wurden im Auftrag der 'villa eugénie'
500 verschiedene Etiketten gestaltet und auf 100'000 Produkte
angebracht. Um das Shopping Erlebnis möglichst authentisch zu
gestalten, wurden hin und wieder Durchsagen gemacht à la "die
junge Marie wartet bei der Kasse auf ihre Eltern" oder "Frau Martin
wird in der Frischwaren-Abteilung verlangt". Mit dem Kommentar
"Die Do-it-yourself-Abteilung ist Sonntags geöffnet" spielt Lagerfeld auf das kontroverse Gesetz in Frankreich an, welches es nur
Bastelwarenläden erlaubt sonntags geöffnet zu haben.
Die Musik ist ein Mix aus zeitgenössischer Discomusik – purer Pop, der Lebensfreude und Energie ausstrahlt. In
dieser Show vermischt Michel Gaubert zuerst 'Azari & III (Azari
and Third) – Reckless with your love (Tesnake Remix)' mit 'Jesper
Dahlbäck – Tanken'. Beide sind in der Musiksparte Acid–House
anzusiedeln. Dann folgt von 'Midnight Magic' das Stück 'Beam me
up', kosmischer Disco. Die Gruppe referiert mit ihrem Namen auf
die R&B Gruppe 'The Commodores', es war der Titel ihres siebten
Albums. Der Spannungsbogen greift wie in allen Chanel Shows auf
das Hauptthema zurück, hier das erste Lied 'Reckless with your
love'.
Das Publikum spielt seit etwa 2005 eine andere Rolle. Es
befinden sich geladene Privatleute, welche Beziehungen zu Chanel haben, Celebrities, welche als Marketinginstrument verwendet
werden und wichtige Einkäufer darunter (deren aber wenige, da
Chanel fast ausschliesslich in den eigenen Geschäften verkauft).
Als Phänomen des WWW mischen sich unter dieses Publikum nun
auch ModeliebhaberInnen, welche mit dem Mobiltelefon oder einer handlichen Kompaktkamera unauffällig Bilder für ihre Blogs
Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt
67
machen. Die Massenmedien nehmen eine untergeordnete, separierte Rolle ein, sie sind in einem sehr kleinen Bereich positioniert
(gleich zu Beginn der Show oberhalb des als erstes auftretenden
Models zu sehen). Chanel kontrolliert die Verbreitung qualitativ
hochstehender Abbildungen und Videos der Shows selbst über die
offizielle Internetseite und den eigenen YouTube Kanal.
Lagerfeld reflektiert in dieser Show einerseits das Alltägliche im luxuriösen Leben reicher Leute, andererseits kommuniziert
er, dass Mode für ihn ein in allen Lebensbereichen eingreifendes
Thema ist. Diesem Statement verleiht Chanel auf humorvolle Weise Form: Piktogramme auf den Werbetafeln im Supermarkt sind
im Chanel Kostüm gekleidet und die Produkte erhalten lustige
Namen, die Taschentücher hiessen z. B. 'Der Ärger von Gabrielle'.
Damit spielt Lagerfeld ein weiteres Mal sarkastisch auf den Kommentar seines ärgsten Rivalen YSL aus den 1990ern an und nimmt
gleichzeitig seine humorvolle Antwort auf mögliche Kritik der Medien vorweg. Denn in dieser Kollektion präsentiert er eine bequeme Version des Korsetts, was von Kritikern als grobe Verletzung
von Chanels Ideologie interpretiert werden könnte.
Die Verschmelzung von High und Low, von aussergewöhnlich und alltäglich unterstreicht Karl Lagerfeld mit dem Auftritt
eines Paares, vollgepackt mit Chanel Einkaufstaschen. Sie gehen
scheinbar nach erfolgreichem Shopping bei Chanel für ein gemütliches Tête-à-tête beim Abendessen im Supermarkt einkaufen.64
Dass die Produkte mehrheitlich Attrappen sind, impliziert
eine Haltung Lagerfelds der Modewelt gegenüber. Er spricht damit
auch die Oberflächlichkeit, 'Schein und Sein' der Modewelt an. Ihm
ist absolut bewusst, dass seine Produkte nicht lebensnotwendig
sind65, trotzdem können sie durch das Schaffen eines bestimmten
Anreizes für das Zielpublikum eine Bereicherung des Alltagslebens
darstellen. Und Karl Lagerfeld meint, dass die Frauen insbesondere in grauen Zeiten wie heute, bunte Farben und Humor in ihr
Alltagsleben bringen möchten.66 Dies zeigt sich auch in der Ausgestaltung des Sets, wie den mit Regenbogenfarben (eingefärbtem
Wasser) gefüllten Flaschen. Fröhlich verhält sich auch das Model.
Eins nach dem anderen betritt das Einkaufszentrum und folgt zuerst brav dem roten oder gelben Strich am Boden, mit der Zeit
wird die Stimmung jedoch angeregter, lust- und humorvoller, bis
die Models ihren zielgerichteten schnellen Schritt verlangsamen
und mit träumerischem Blick beginnen, herum zu flanieren und
Produkte auszuwählen. Dabei darf es auch zur Kommunikation
untereinander und einem austauschenden Lachen kommen. Ein-
64 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=EUXkJivPPPM, Zugriff: 17.04.2014.
65 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=BxUGR1QRLMg, Zugriff: 29.04.2014.
66 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=EUXkJivPPPM, Zugriff: 17.04.2014.
Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt
68
kaufen bei Chanel macht Spass und lässt einen die Alltagssorgen
vergessen.
Mit der detaillierten Ausarbeitung jedes Produktes gibt
Chanel seine Haltung bezüglich hoher Qualität preis. Grund für
diese enorm aufwändige Inszenierung ist einerseits die offensichtliche Strategie von Chanel mittels extravaganten Inszenierungen
Werbung für die Marke zu machen, andererseits das Überbieten
der Konkurrenz. Ein erwartetes Highlight der Pariser Fashion
Week 2014 sollte nämlich Nicolas Ghesquières Debut bei Louis
Vuitton sein. Die Inszenierungen beider Prêt-à-Porter Schauen
2014 nehmen Position zur Rolle der Mode in der Gesellschaft. Lagerfeld vergleicht einerseits in der Sommerkollektion Mode mit
Kunst #81, indem er die Mode in einer Ausstellung aufgeblasener
Kunstwerker inszeniert. Diese sind lose Referenzen auf bekannte
Werke der Kunstgeschichte und flechten die Chanel-Ikonen ein.
Die Parallelen der beiden Welten werden aufgezeigt, nämlich wie
sie mit Kommerz und Sehnsucht operieren. Des Weiteren wird
klar, wie sie ineinander greifen und voneinander beeinflusst werden. Andererseits bettet Lagerfeld hier in der Winterkollektion das
Label Chanel und seine Mode in die Alltagswelt ein. Am Ende dieser Show spielt Lagerfeld jedoch lediglich mit dem Verlangen des
Publikums, alles mit dem Stempel Chanel besitzen zu wollen und
bittet sein Klientel, die Einkäufe an der Kasse zu bezahlen – woraufhin das Publikum die Bühne stürmt, um die einzigartigen
Produkte einzusacken. Unglücklicherweise wurden die Besucher
der Show beim Ausgang gebeten diese wieder abzugeben (abgesehen von den Frischwaren), da sie zu Dekorationszwecken in den
Chanelgeschäften vorgesehen waren oder an wohltätige Organisationen gespendet würden. Ob die Dramaturgie mit diesem Höhepunkt kalkuliert oder unvorhergesehen durch die Dynamik des
Publikums entstanden ist, wäre interessant zu erfahren. Aufgrund
des Verhaltens der Models gegen Ende der Show und des Auftritts
einiger Testimonials wie Rihanna, tippe ich eher auf ersteres. Das
Nachspiel der Show, welches nicht im offiziellen Video aufgenommen wurde, stellt eher eine Guerilla-Werbeaktion dar, welche die
Mechanismen neuer Medien bewusste nutzt. Damit streut Karl
Lagerfeld moderne Mythen.
1994 / 95 AW Prêt-à-Porter #56
D
A
B
E
C
A http://3.bp.blogspot.com/_ZmaD1cNHmUc/Swyw5oIySCI/AAAAAAAAAgk/pmOlcSWhwmk/s1600/tumblr_kt4e9uyLjZ1qan898o1_400.jpg B http://37.media.tumblr.
com/tumblr_lqq8yitwBk1qmbiswo1_1280.jpg C screenshot
https://www.youtube.com/watch?v=XIOK-TF3ueAa D screenshot
https://www.youtube.com/watch?v=XIOK-TF3ueA E http://www.mkd.mk/wp-content/uploads/2012/04/hotel-ritz-paris.jpg
70
71
2001 SS Prêt-à-Porter #68
C
A
B
F
D
G
E
A hhttp://firstview.com/collection.php?p=0&id=6099&of=0 B http://firstview.com/collection.php?p=25&id=6099&of=32 C http://firstview.com/collection.php?p=200&id=6099&of=200 D http://firstview.com/collection.php?p=125&id=3056&of=130 E http://firstview.com/collection.php?p=100&id=3056&of=119 F http://firstview.
com/collection.php?p=175&id=6099&of=197 G http://www.achenbach-art-consulting.com/uploads/pics/Hypo_Vereinsbank_Dan_Flavin.jpg
72
73
2006 SS Haute Couture #72
C
E
A
B
D
A
http://www.wicreations.com/Template/wicreations/BinaryResource/projectImages/Chanel%20-%20Haute%20Couture/02%20HC%202006/Chanel%20Haute%20Couture%20
2006%2003%20(T).jpg B http://www.wicreations.com/Template/wicreations/BinaryResource/projectImages/Chanel%20-%20Haute%20Couture/02%20HC%202006/Chanel%20Haute%20Couture%202006%2006%20(T).jpg C http://i.huffpost.com/gadgets/slideshows/227627/slide_227627_1000468_original.jpg D http://37.media.tumblr.com/
7c8e3a58fa1a6e8d1a95928165b80457/tumblr_mj2mkyGKtR1s6ne6jo1_1280.jpg E Screenshot https://www.youtube.com/watch?v=aQfEN3YmNfE
74
75
2010/11 AW Prêt-à-Porter #77
C
E
A
B
D
A http://4.bp.blogspot.com/_m4GIEmf-uWo/S7o6vXfO9TI/AAAAAAAACEU/oHHa0AvHBCg/s1600/CHANEL6.jpg B Screenshot https://www.youtube.com/watch?v=2MvmN2zQfBs C http://www.style.com/slideshows/2010/fashionshows/F2010RTW/CHANEL/DETAILS/00160m.jpg
D http://blog.bergdorfgoodman.com/wp-content/uploads/2010/10/13pg_Chanel.jpg E Screenshot https://www.youtube.com/watch?v=2MvmN2zQfBs
76
77
2014/15 AW Prêt-à-Porter #80
C
A
B
E
D
A http://wayfarerstyle.com/wp-content/uploads/2014/03/chanel-rtw-fw2014-runway-35.jpg B http://www.inspirationbycolor.com/wp-content/uploads/2014/03/chanel-rtwfw2014-details-lait-de-coco-1.jpg C http://www.dailymail.co.uk/femail/article-2572888/Chanel-does-supermarket-chic-Runway-turns-shopping-centre-muses-Cara-Delevingne-Kendall-Jenner-catwalk-DREADLOCKS-tracksuits.html#v-3291287779001 D http://1.bp.blogspot.com/-6v8rb14wnvc/UxhSMl4hH4I/AAAAAAAAUNo/s0-qdP0sQww/s1600/Paris+Fashion+Week+AW+2014+Chanel+Shopping+Center+supermarket+theme+runway+setting+021.jpg E screenshot https://www.youtube.com/watch?v=YLDUXZ4X5b8z
78
79
80
Fazit
Im Verlauf dieser Arbeit habe ich gezeigt, wie sich das Format der
Fashion Show nicht nur in den letzten zwanzig Jahren vom linearen Catwalk zum komplexen, raumübergreifenden Konstrukt entwickelt hat. In chronologischer Abfolge wird dies, ergänzend zur
schriftlichen Arbeit, sowohl auf der Internetseite www.formatfashionshow.ch anhand der Bildersammlung als auch grafisch anhand
der Grundrissdarstellungen der Fashion Shows verdeutlicht.
Der historische Überblick diente der Verortung gegenwärtiger Moden (nicht nur Moden der Räume) und ermöglichte mir
sowohl in der Bildersammlung als auch im Text eine differenziertere Auseinandersetzung mit der These: Es hat sich eindeutig erwiesen, dass insbesondere bei Chanel der lineare Laufsteg zu einem komplexen räumlichen Gebilde elaboriert worden ist. Diese
Entwicklung führe ich vor allem auf Mechanismen der modernen
Gesellschaft oder grundlegend soziale zurück. Dafür möchte ich
nochmals Pierre Bourdieu zitieren (wie auch auf S. 16, 34, 35) :
"Der Prozess, der mit der mechanischen Metapher der Verschiebung beschrieben wird, beruht auf zahllosen Strategien, die im
Rahmen höchst komplexer Bezugssysteme entstanden sind. Man
denkt viel zu oft in einfachen Dichotomien wie Veränderung/
Nicht-Veränderung, statisch/dynamisch. …Was ich zu zeigen versuche, ist, dass es etwas Invariantes gibt, das ein Produkt der Varianz ist."67 Im Feld der Modenschau stellt das Unveränderte das
Zeigen von Mode dar, gespielt wird darin mit allen Komponenten,
die in der Folge durch den ständigen Kampf um Distinktion, der
Ablösung des Alten durch das Neue, Moden ausbilden.
Die nuancierte Ausformung der Chanel Modenschauen
stellt einerseits diese Distinktion dar, ist andererseits aber auch
von externen Faktoren beeinflusst. In der Bildersammlung und
der historischen Aufarbeitung von Modeschauen und ihren Räumen hat sich als einer dieser Faktoren die Veränderung der Medienlandschaft abgezeichnet. Die Neuen Medien ermöglichen zum
einen den Modehäusern ihre Werte zielgerichteter zu platzieren.
Durch veränderte Strukturen, Mechanismen und Akteure der
Massenmedien ist zum andern die Kontrolle über die Verbreitung
von Inhalten schwieriger als je zuvor geworden und stellt neue Anforderungen an ein Modehaus bezüglich geschickt geplanter und
platzierter Werbestrategien. Bei der Untersuchung ausgefeilter
Modenschauen hat sich gezeigt, dass sie erfolgreich die Rolle von
Werbefilmen übernehmen. In Anbetracht der Neuen Medien und
ihrer ökonomischen Effizienz ist die Relevanz von Modenschauen in den letzten Jahrzehnten auch oft in Frage gestellt worden.
67 Bourdieu Pierre, 1974, S.121.
Caroline Evans' Meinung dazu, in einem Interview von 2012 kundgegeben, dass das Ritual Modenschau mit sozial stabilisierendem
Zweck, nicht aussterben werde, pflichte ich hingegen bei: "I have
a lot of colleagues who are interested in fashion films, as an emerging genre competing with fashion shows. However, I don’t think
that fashion films and that whole new technology that designers and
companies have played with in the last five years or so are ever going to replace the fashion show itself. It’s not just because of the
immediacy and the excitement, the theatrical quality to it. It’s also
about exclusivity: the fashion show really does always trade off that.
Although it plays with opening up access through new media, it
also periodically retrenches and pulls back. The new media haven’t
replaced meeting people in the flesh."68 Diese physische Präsenz
führt zu der Erschaffung und Aufrechterhaltung von Mythen – es
sind Geschichten, die die Grundlage darstellen auf welcher Werte
und Bewertungen, Sinn und Deutung für die Gesellschaft beruhen.
Die Form der Medien und der damit einhergehenden Werbestrategien mag sich geändert haben, das Bedürfnis nach Sozialisierung ist
jedoch nicht geschwunden und macht nach wie vor eine elementare
Komponente der Modenschau aus.
Die Elaboration der Fashion Shows von Chanel bestätigt,
dass die Show nicht durch die Medien ersetzt wird, sondern fortwährend im Wechselspiel von Exklusion und Inklusion Bestehen
darin hat und dies sich ähnlich verhält wie der Mechanismus der
Verschiebung als Distinktionsstrategie, also lediglich ihre Rolle
verändert. Die Relevanz der Schauen zeigt sich bei Chanel besonders deutlich, ist meinen Beobachtungen nach jedoch auch
auf andere Marken übertragbar: Die Modenschau funktioniert als
komplementäres Element der gesamten Werbestrategie zur Herausbildung eines erlesenen Images.
Die scheinbar unaufhaltsame Ausformung der Bühnenbilder ist
die Folge raffinierter werdender Werbekampagnen und bei Chanel
auch im Zusammenhang mit scheinbar uneingeschränkten finanziellen Mitteln zu verstehen. Ein Kommentar Lagerfelds bestätigt
dies in einem Interview: "We can play with everything and do whatever we want. Nobody tells us what to do, we are totally free and
freedom is a good help for creativity if you know how to manage
the creativity…"69 Die freie Hand, welche die Besitzer von Chanel
Karl Lagerfeld lassen, ist als weiterer Umstand der exorbitanten
Ausformung räumlichen Aspekte der Fashion Shows zu beachten.
Die kokette Aussage Lagerfelds ermöglicht eine kritischere Wertung seiner kommerziellen Spektakel.
68 Evans Caroline, 2012. In: http://www.anothermag.com/current/view/1826/Caroline_Evans, Zugriff: 02.05.2014.
69 Lagerfeld Karl, 2014. In: http://www.youtube.com/watch?v=EUXkJivPPPM, Zugriff: 02.05.2014.
82
Konkreter hat sich vieles bei den räumlichen Aspekten der
Modenschauen verändert: die Ortswahl, die Architektur, das Licht
als auch der Ton haben sich nuancierter ausgeprägt. Sie müssen
genau auf das Image einer Marke und das Konzept der Kollektion angepasst sein. Diese Entwicklung wird bestätigt und begleitet
durch die Entstehung neuer Berufsbilder innerhalb der Branche,
wie Location Scouts, Fashion Show Produzenten, Lichtdesigner
oder Soundstylisten.
Die in den Räumen der Modepräsentation erzählte Geschichte ist
durch eine komplexer gewordene Dramaturgie gezeichnet, was
sich auf die Anforderungen an die Models und die Rolle des Publikums auswirkt. Beide beeinflussen das Geschehen als Akteure
live in der Show und in der Nachgeschichte – der Mythenbildung
– welche von Art Direktoren wie Karl Lagerfeld und Show Produzenten gelenkt wird. Spektakuläre Inszenierungen stellen sowohl
die Wiederbelebung von Modenschauformaten der 1910er und
20er Jahre dar, als auch ein Unterscheidungsmerkmal von gängigen
Formaten der 1930er bis 50er Jahre und von der Steigenden Anzahl
von Modeschauen in den 1980ern dar (die in der Masse lediglich
den linearen Laufsteg ausformten), wo wir wieder beim Thema der
stetigen Ablösung des Alten durch das Neue wären.
Elaboriertere Dramaturgien können sich auf deren räumliche Implementierung auswirken. Bei Chanel hat sich deshalb nach
1996 das Zentrum des Geschehens, der Catwalk, zunehmend,
scheinbar unaufhaltsam variierend verändert. Die Modifikation der
Linie zu Zick-Zack-, Kreis, Quader, Schlangen, Spiralen-, Dreiecksformen etc. bis hin zu quasi Architekturen brachte eine Anpassung des darin arrangierten Publikums mit sich. Die veränderte
Medienlandschaft strukturierte auch die Formation der Zuschauer
um, was dem Celebrity, dem Blogger und Fashionista zugunsten
eine nähere, grossen Medienkonzernen zuwider eine distanziertere Position im Spektakel einräumte. Nicht nur die Räume selbst,
ihre materielle Wirklichkeit, sondern auch ihre Situation – eingebettet im System der Mode – haben sich verändert. Im Chanel
Universum wäre dieser weit gefasste, abstraktere Raumbegriff im
Kontext einer globalisierten Modebranche weitere interessante
Untersuchungen wert.
Den strukturellen, formalen Veränderungen stehen basale,
konstante Aspekte gegenüber. Unverändert ist der grundlegende
Wesenszug der Modenschau geblieben: Was gezeigt wird, braucht
auch ein Publikum. In der historischen Aufarbeitung hat sich jedoch herausgestellt, dass Akteure und Zuschauer zur Manifestation des Spektakels nicht unbedingt räumlich voneinander abgetrennt, sondern fliessend ineinander greifend sein können.
83
In Bezug auf Chanel gedacht, bleibt diese Abgrenzung zwischen
1994 und 2014 bei der Modepräsentation hingegen vorwiegend bestehen. Die Shows bleiben ein Spektakel mit wenig Interaktion.
Die von Bourdieu thematisierte Invarianz als Produkt der
Varianz stellt am Beispiel Chanel das Aufrechterhalten, Verbreiten,
Umwerten und Kreieren von Mythen dar. Die Kanäle haben sich
zwar verändert, aber Karl Lagerfelds Strategie setzt nach wie vor
auf die bereits zu Lebzeiten von Gabrielle Chanel gepflegte Praxis,
sich in von Mythen geprägten Räumen zu bewegen. Dafür stattete Coco diese bewusst mit Gegenständen aus, welche sich in der
Repetition zu Symbolen ausprägten. Ihre Freude über Nachahmungen ihrer Entwürfe wird die Tatsache gerecht, dass Chanel die am
häufigsten kopierte Marke weltweit ist.70 Diese Tatsache ist eine
Folge der Inszenierung von Mythen, die das Verlangen nach Identifikation beim Publikum steigert und zur Imitation anregt. Karl Lagerfeld führt aus den gesammelten Stilelementen von Coco Chanel
die Ikonografie des Hauses gekonnt weiter. Dieses Erbe wird stetig mit subtilen Innovationen erweitert, die eine Neukomposition
oder -interpretation darstellen. Die Präsentation der Kreationen
findet im Rahmen eines sich formal stetig leicht verändernden,
selbstabsorbierten, narzisstischen Spektakels statt, das den Zeitgeist verräumlicht.
70 Spitz Maria, 20014, S. 338.
84
85
Literaturverzeichnis
i
86
Film
Dokumentarfilm von Neuen Marti
87
Abbildungsverzeichnis
88