Textliche Arbeit - format fashion show
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Textliche Arbeit - format fashion show
Format Fashion Show Vom linearen Catwalk zur komplexen Räumlichkeit. — 10 3 12 15 16 18 24 30 29 32 34 38 37 47 40 50 43 57 54 60 58 66 64 67 69 63 70 73 76 79 78 81 70 Inhaltsangabe 11 Teil 1 Vorwort Einführung in die anthropologischen, kulturtheoretischen, soziologischen, philosophisch- m edientheoretischen Hintergründe der Präsentation von Mode Die Geschichte und Etablierung des Catwalks im 20. Jahrhundert im Zuge der Herausbildung eines gefestigten Modesystems Die Anfänge der Haute Couture Die 20er Jahre und die Kriegszeit La Société du Spectacle Neoliberalismus Teil 2 Chanel kontextualisiert Coco Chanel Chanels Rolle in der Modewelt Karl Lagerfeld und seine Vision von Chanel Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt: Eine exemplarische Analyse am Beispiel von fünf Chanel Shows — Eine Einführung 1994/95AW Prêt-à-Porter #56 2001 SS Prêt-à-Porter #68 2006 SS Haute Couture #72 2010/11 AW Prêt-à-Porter #77 2014/15 AW Prêt-à-Porter #80 Fazit Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis 13 Vorwort Die Arbeit bewegt sich in geisteswissenschaftlichen Disziplinen, der Cultural Studies, Visual Studies und/oder der Bildwissenschaften – sie beschäftigen sich mit diversen Phänomenen moderner Kulturen. Die Auflösung von high- und low-culture ist dabei zentral: der Kunsthistoriker Willibald Sauerländer meinte zur zeitgenössischen Bildwissenschaft, dass die "Trennungslinien zwischen Bildern der Kunst und den Bildern des Konsums bei der Erforschung des Phänomens 'Bild' zu verwerfen"1 seien. Was mich an Mode insbesondere interessiert, wird in José Teunissens Aufsatz 'Fashion and Art' an der Beschreibung der Gemeinsamkeit von Modenschauen und Kunstperformances klar: "Kulturelle, politische und gesellschaftliche Aspekte werden verhandelt und Fragen zum Verhältnis von Umwelt und Individuum werden gestellt."2 Das Verhältnis von Mensch und Umwelt wird bei Modenschauen unter anderem in der Form des Kleides, der Models und in den Räumen, in welchen sich die Körper und Kleider bewegen, repräsentiert. Von besonderem Interesse ist in dieser Arbeit der Raum, an welchen ich mit der These herantrete, dass sich in den letzten zwanzig Jahren der Laufsteg von einer linearen Strecke zu einem komplexen räumlichen Konstrukt elaboriert hat. Um dieser These und den damit verbundenen Gründen nachzugehen, wählte ich die Methode der exemplarischen Analyse und werde in Kapitel 5 am Beispiel Chanel aufzeigen, wie differenziert die Shows im Verlauf der Jahre ausgearbeitet worden sind und welche Rückschlüsse sich daraus ziehen lassen. Der Nährboden dieser enormen Entwicklung bildet die Entstehungsgeschichte der Modenschau im Zuge der Industrialisierung. Um meine exemplarische Analyse der Chanel Modenschauen durchführen zu können, gehe ich in Kapitel 3 ausführlich auf die Entwicklung der räumlichen Aspekte von Fashion Shows seit ihrer Entstehung ein. Vorläufer der Modenschau war die Theaterbühne. Auch heute ist Mode Theater, Spektakel, eine Form der theatralischen Selbstdarstellung, der dramatischen Selbstinszenierung. Nach 1900 spielte die Modenschau eine zentrale Rolle in der Textilindustrie. Sie wurde in Couturehäusern, in Einkaufszentren – wo sie teilweise noch die Funktion der Spendengelder-Sammlung inne hatten – und erst später ab den 1960er Jahren in den Zentren der Modehauptstädte aufgeführt. Meine schriftliche Arbeit wird zur Veranschaulichung der historischen Aufarbeitung räumlicher Aspekte der Modenschau von einer Bildersammlung begleitet. Dafür wählte ich einerseits 1 Willibald Sauerländer, 2004. In: http://de.wikipedia.org/wiki/Bildwissenschaft, Zugriff: 24.04.2014.A 2 Lehnert Gertrud, 2012, S. 75. 14 eine Form, die es Bildern selbst – einzeln und in Kombination zu einem neuen Bild arrangiert – ermöglicht Sinn zu stiften. Dieses Anliegen ist inspiriert von der Äusserung des japanischen Grafikdesigners Makoto Saito: "I don't trust words. You can say anything with words. I prefer a visual means of communication because it allows the message to be more direct"3. Diese reiche, aussagekräftige Bildersammlung wird in Form einer Internetseite präsentiert, die auf einer Ebene als reine Bilderwelt existiert, auf einer zweiten Ebene kommentiert und auf einer dritten durch diesen Text vertieft wird. Mit # gekennzeichnete Zahlen weisen im folgenden Text auf die Nummer des entsprechenden Bildes auf der Internetseite hin. In der Printversion der Arbeit ist auf den ersten Seiten einer Selektion der Bilder Platz gewidmet. Inspiration für die Internetseite www.formatfashionshow. ch fand ich zudem bei Aby Warburgs (*1866-1929, Kunsthistoriker, Kulturwissenschaftler, Begründer der Ikonografie) Arbeitsweise, die er für sein Projekt "Mnemosyne, eine Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance"4 anwendete. Mit Hilfe von Bildern, die er auf mit schwarzem Stoff bespannte Holzrahmen anheftete, zu bestimmten Schwerpunkten gruppierte und umgruppierte, machte er das vielfältige Weiterleben der Antike in der europäischen Kultur anschaulich. Eine digitale Darstellungsform wählte ich, weil mir eine Internetseite im Gegensatz zu einer Druckversion die Einbettung bewegter Bilder erlaubte. Implizit lässt sich aus meiner Arbeit also auch ein Entwicklung der Medienformate ablesen. Abhängig davon, was man in welcher Zeitspanne als grosse Veränderung wertet und welches die einwirkenden Faktoren einer Zeit sind, kann Mode als Abbild der Gesellschaft gelesen werden. Neue Medien haben das System der Mode tiefgreifend verändert, mit teilweise schnell wirksamen Folgen. Einflüsse der Medien, aber auch Wirkungsmechanismen anderer kulturtheoretischer und soziologischer Hintergründe auf das Modesystem untersuche ich in Kapitel 2. Dabei interpretiere ich die Fashion Show vorwiegend als modernes Ritual mit entsprechend eingeprägten, trägen Ausformungen. Die Modenschau als Ritual kündigt einen Wechsel an, der durch formale Kriterien der Umsetzung, einer Aktion, Bewegungen mit einem Ziel zur Veränderung der Gruppe und des Individuums führen sollen. Die Modepräsentation ist u. a. eine zeitgenössische Form, um zeremoniell die Jahreszeitenwechsel zu 3 http://www.eyemagazine.com/feature/article/reputations-makoto-saito, Zugriff: 18.03.2014. 4 http://de.wikipedia.org/wiki/Aby_Warburg, Zugriff: 24.04.2014. Vorwort 15 feiern. Die Individuen, welche an dieser Transformation teilhaben, verknüpfen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Im Ritual wiederholt sich nicht nur stets das Alte, sondern es erneuert sich fortlaufend und provoziert Neues geradezu. Welche Veränderungen zeitgenössischere Modenschauen derzeit durchlaufen, werde ich in Kapitel 5 an der exemplarischen Analyse von fünf Chanel Shows zwischen 1994 und 2014 genauer analysieren. Als Vorbereitung dafür setze ich mich in Kapitel 4 näher mit Gabrielle Chanel, der Rolle der Marke Chanel im Modebusiness und der Person Karl Lagerfelds auseinander. Wie er Trends vorwegnimmt und wie sich sein Gefühl für den Zeitgeist räumlich bei der Präsentation von Mode auswirkt, bette ich anhand der fünf Exemplare auf der Internetseite chronologisch ein, untersuche sie aber differenzierter als andere Beiträge, weshalb ihnen in der Buchform im Anhang mehr Abbildungen gewidmet sind. 16 Einführung in die anthropologischen, kulturtheoretischen, soziologischen, philosophisch-medientheoretischen Hintergründe der Präsentation von Mode Wenn Kleider einer vergangenen Saison ausrangiert werden, bekommen alle Schaufenster hässlichen Charakter. Rauschartig werden die Berge von reduzierter Ware von zu Tieren mutierten Kunden durchforstet. Diese Transitionsphase zwischen alt und neu könnte man als dionysische Periode bezeichnen. Gleichzeitig finden in einer den schönen Schein wahrenden Traumwelt, exorbitante Modenschauen statt. Halbjährlich stattfindend muten diese appolinisch an.5 Diesem Vergleich würde ich nicht ganz zustimmen, da Nietzsches Begriffspaar Apollinisch-dyonisisch zwar gegenteilige Charakterzüge bezeichnet, nämlich Form und Ordnung vs. rauschhafter Schöpfungsdrang, diese aber nicht 1:1 auf neue Mode vs. vergangene Moden anwendbar sind. Die zeitgenössischen Fashion Shows sind trotzdem – möge der Begriff Nietzsches auch nicht direkt übertragbar sein – eine moderne Form mythischer, antiker sozialer Praktiken und Rituale. Im Gegensatz zum Ausverkauf, dessen Materie nach Ankunft der neuen Ware nicht wieder thematisiert werden will, wird die neue Kollektion jeweils Gesprächsstoff aller. Pierre Bourdieu umschreibt diesen Prozess in seinem Vortrag 'Haute Couture und Haute Culture' folgendermassen: "Das Feld der Produktion hat wie das Feld der sozialen Klassen und der Lebensstile eine Struktur, die das Produkt seiner früheren und das Prinzip seiner späteren Geschichte ist. Das Prinzip seiner Veränderung ist der Kampf um das Monopol der Distinktion, der Durchsetzung der neuesten, legitimen Differenz, der neuesten Mode, und dieser Kampf mündet in den fortwährenden Sturz des Überwundenen in das Gestern."6 Nicht nur die Kleidermode, sondern auch jene neuer Räume versucht stets vergangenes zu überwinden. Neue Kollektionen werden auf dem Laufsteg, in Modemagazinen, Zeitungsbeiträgen, Fernsehsendungen, Blogs und anderen Onlinepublikationen präsentiert. Roland Barthes beschreibt die Repräsentation von Mode in Modemagazinen und hält fest, dass die Studie von diesen die Studie des fetischistisch inszenierten, repräsentierten Kleides darstellt. Auch vergleicht er die Präsentation der Frühlingskollektionen direkt mit dem Erwachen der Natur aus ihrem Winterschlaf. 7 Aus anthropologischen Studien der Mythen antiker Religionen geht hervor, dass eine zentrale Errungenschaft des jüdisch-christlichen Glaubens die Würde und Verteidigung des un- 5 Vgl. Gruendl Harald, 2007, S. 9. 6 Bourdieu Pierre, 1974. In: Eismann Sonja, 2012, S. 122. 7 Vgl. Gruendl Harald, 2007, S. 19. Einführung in die anthropologischen, kulturtheoretischen,… 17 schuldigen Opfers ist. Die Haltung des Mitleids Opfern gegenüber unterscheidet sich deutlich von der antiken Sicht, die in archaischen Mythen deutlich wird. Die moderne Opfersorge hat einen weltweiten Siegeszug angetreten und gilt als Inbegriff der Humanität. In der Postmoderne ist jedoch ein Missbrauch der modernen Opfersorge und ihrer wachsenden Instrumentalisierung wahrzunehmen. Man kann darin eine neuheidnische Hinwendung zum alten Opferverständnis in den einst christianisierten Nationen erkennen. Diese Rückkehr, die bereits unter dem geistigen Einfluss Friedrich Nietzsches in der westlichen Philosophie Einzug gehalten hat, erreichte mit dem arischen Vernichtungsfeldzug gegen die Juden im Dritten Reich ihren historischen Tiefpunkt. Der Umgang damit könnte in der neuen Religion 'Mode' unserer Konsumgesellschaft durch das Ritualisieren des Jahres mit Opfergaben an Dionysos (alte Kollektion, Schlussverkauf) und Apollo (Aufführen von Modenschauen) interpretiert werden. In der Religionswissenschaft vermutet man, dass auch die Botschaft von der Kreuzigung und Auferstehung Jesu nur eine christliche Variante des in der Antike verbreiteten Mythos vom Tod und der Erweckung eines Gottes sei und man von daher die Entstehung des christlichen Zentralkultes erklären und verstehen müsse. Um die Modenschau in einem kulturtheoretischen Diskurs verorten zu können, muss man das Phänomen in einer westlichen Konsumkultur untersuchen. Gemäss Marshall Sahlins, einem amerikanischen Anthropologen, bezeichnet der Begriff Kultur die sinnhafte Ordnung von Personen und Dingen. Der Unterschied von Kultur zu sozialer Struktur bestehe darin, dass die Struktur das System der Interaktion selbst sei, wohingegen Kultur ein strukturiertes System von Bedeutungen und Symbolen ist.8 In Konsumgesellschaften sind soziale Praktiken eher von Konsum als von sozialen Dimensionen wie Religion oder Arbeit geprägt. Eine wichtige soziale Praxis darin stellt nun das Ritual dar, denn es stabilisiert soziale Beziehungen. Trends sind also Ritual, Kult und Fetisch basierend auf dem fundamentalen menschlichen Bedürfnis nach Sozialleben. Und diese Rituale manifestieren sich im Räumlichen und erzeugen dabei strukturierte, exklusive Räume. Axel Michaels untersucht seit 2002 mit über 90 involvierten Forschern – Geistes-, Kulturwissenschaftlern, Hirnforschern und Neurobiologen – an der Universität Heidelberg das Feld der 'Ritualdynamik'. Für ein gemeinsames Fundament ihrer Forschung ist eine Verständigung auf den Begriff 'Ritual' elementar. Ihre Definition von Ritual – vor allem dem Ausseralltäglichen, da ihrer Auffassung nach nicht jede alltäglich sich wiederholende Aktion gleich 8 Vgl. Gruendl Harald, 2007, S. 19. Ritual sein kann – prägt vier Merkmale: 18 9 Verkörperung (setzt handelnde Personen voraus, die einen Wechsel phy- sisch umsetzen) Förmlichkeit (Kommunikationscodes, ein formal ausgesprochenes Ziel, formale Kriterien der Umsetzung, stereotyp wiederholte Handlungen. Darin bestehen Riten aus Einzelelementen, den Ritemen, welche nach bestimmten Regeln zu Komplexen zusammengesetzt werden) Modalität (fast jede Handlung kann zu einer rituellen überhöht werden. Ist die Ritualhandlung gar durch eine höher gewertete Welt definiert, wird sie als 'religio' bezeichnet) Transformation (Wechsel, der auch zeitlich oder räumlich auf Status oder Kompetenzen einwirkt. Ritualisierung findet in strukturierten Räumen statt, welche einen begrenzten Zutritt mit sich bringen) Alltagsritualen fehlt die Überhöhung, die Komponente der kulturell geschaffenen Regelmässigkeit und sozialer Beziehungen. Rituale sind an historische, regionale oder sprachliche Kontexte gebunden. Sie verändern sich kaum, sind träge, weil sie dadurch Vertrauenskapital schaffen. Damit erzeugen sie soziale, wirtschaftliche und politische Stabilität, Sicherheit und Vertrauen. Unter Einfluss dieses Schwarmverhaltens ist ein Ausbruch umso schwieriger und kleinstes Fehlverhalten kann grosse Aufmerksamkeit, sowohl positiv als auch negativ gewertet, auf sich ziehen. Neurobiologen haben in Studien nachweisen können, dass lebenszyklische Übergangsrituale grundlegend mit biologischen Vorgängen zusammenhängen.10 In menschlichen Kulturen findet man Handlungen, welche auch in der Tierwelt vorkommen, nicht nur weil sie von derselben Umwelt umgeben sind. Respektbezeugung Ranghöheren gegenüber, Pfalzverhalten, Täuschungsmanöver. Es sind Akte der Kommunikation zwischen Darsteller und Publikum, welche Gemeinschaft bilden und Individuelles unterdrücken. Viele dieser beschriebenen Wesenszüge von Ritualen lassen sich auf das Modesystem und ihre periodisch wiederkehrenden Rituale übertragen. Die Merkmale nach Michaels lassen sich auch auf die exklusiven Räume der Modenschau übertragen, wo für Gewöhnlich ein Model durch stereotype Bewegungen dem Wechsel von Alt zu Neu Form verleiht. Rituale bezeichnen soziale, natürliche und/oder kulturelle Transitionen. Der Schlussverkauf kann wie die Modenschauen als Kalenderritus verstanden werden. Er stabilisiert und strukturiert die Zeit von einer Phase in die nächste auf verschiedenen Ebenen, von einer Micro-Ebene (Sprache und soziale Interaktion, kleines Publikum) bis hin zur Makro-Ebene (formale Zeremonien, grosses Publikum). 9 Vgl. Michaels Axel, 2011, S. 12. 10 Vgl. Michaels Axel, 2011, S. 13. Einführung in die anthropologischen, kulturtheoretischen,… 19 Symbolische Formen des Ausdrucks lassen einen auf die Realität Rückschlüsse ziehen und wirken auf kulturelle Erfahrungen ein. Die performative Dimension von ritueller Aktion spielt dabei eine zentrale Rolle. Durch den performativen Akt werden Symbole belebt und erzeugen Realität. Die Mode ist dafür ein geeignetes Gefäss, da sie das menschliche Bedürfnis nach Adaption, Anpassung (soziale Gleichheit) sowie jenes nach Abgrenzung und Individualität nährt. Rituale sind eine Reflexionsmethode von Natur und Umwelt des Menschen, um das System, in welchem sie wirken zu stabilisieren. Auch das Kalenderjahr der Mode bring Stabilität ins Leben des modernen Großstadtmenschen. Dabei sind die Konsumtempel die zeitgenössischen Orte der Religiosität. Die ideale Marketingstrategie entspricht religiöser Ikonenanbetung. Und dies ist Norbert Bolz zufolge gar nicht schlecht, denn Kapitalismus in Anlehnung an Walter Benjamins Religionsersatz betrachtet, macht alltäglichen Warenfetischismus und Konsumismus zu einem Immunsystem der Gesellschaft und vermindert Fanatismus (Bolz hält primitiven Konsumismus für das kleinere Übel als religiösen Fundamentalismus. Zudem meint er, Materielles liefere einen "spirituellen Mehrwert wie Freiheit, Geborgenheit, Gesundheit, Individualität, Liebe und Sinn"11). Dass die Modenschauen, die rituellen Überhöhungen des Kapitalismus, immer an denselben Orten stattfinden, hängt mit der Originalität von Kultlegenden zusammen, die Macht garantieren und Heilung heraufbeschwören. Vergleichbar mit dem Zauber, der von byzantinischen Ikonen ausgeht oder mit einem Ritus in Venedig, bei dem gewisse religiöse Bilder zur Dramatisierung und Exklusivitätssteigerung nur an gewissen Tagen des Jahres gezeigt wurden: Die Kultbilder wurden vom Blick der Betrachter durch einen Vorhang verhüllt, um einen stärkeren Eindruck an gewissen Festtagen zu erzielen.12 Heutzutage geht auch von Modenschauen, die nicht in einer Modemetropole gezeigt werden, eine kleinere – durch das System von Modejournalismus generierte – Faszination aus, als von Modenschauen in einer der 'Big Four' (New York, London, Mailand, Paris). Bei der Entwicklung des Kalenderritus Fashion Show spielt die einflussreiche Veränderung der Medien eine wichtige Rolle. Sich verändernde Medien wirken sich auf die Gesellschaft aus, wie Marshall McLuhan meinte, sei das Medium selbst die Botschaft, da es auf den Rezipienten direkt wie eine Massage einwirke ('The Medium is the Massage'13). Norbert Bolz und Walter Benjamin vergleichen beide in ihrer me- 11 http://de.wikipedia.org/wiki/Norbert_Bolz, Zugriff: 06.05.2014. 12 Vgl. Gruendl Harald, 2007, S. 65. 13 Vgl. McLuhan, 2001, S. 1. Einführung in die anthropologischen, kulturtheoretischen,… 20 dien- und kommunikations-theoretischen Philosophie Religion und Konsum im Zusammenhang mit Medien: "Medien bieten Ersatzformen von Allwissenheit und Allgegenwärtigkeit an. An die Stelle religiöser Kommunikation tritt heute Kommunikation als Religion… In der Vernetzung zum integralen Medienverbund ist uns eine stabile Umbesetzung der Transzendenz gelungen. Das Göttliche ist heute das Netzwerk."14 Die durchdringend vernetzte Allwissenheit, welche das WWW heute mit sich bring, wirkt sich in der Gesellschaft verstärkend auf die Macht der Bilder aus. Kapitalismus nutzt die Macht der Bilder ähnlich wie Religionen dies tun. Nebst den rituellen Wesenszügen der Modenschau spielt deshalb auch deren Kommunikation eine wichtige Rolle betreffend ihrer Antizipation und Wertung. Neue Medien haben die Rahmenbedingungen der Modebranche verändert. Die Massenmedien sind im 20. Jahrhundert zum Schauplatz der Öffentlichkeit geworden. Inwiefern sie das Modesystem über sich verändernde Kommunikationskanäle beeinflusst haben, werde ich in dieser Arbeit nicht vertieft untersuchen können. Dass neue Technologien und Medien nicht nur die Wahrnehmung neuer Moden beeinflussen, sondern diese auch direkt verändern, sollte im Bewusstsein behalten werden, da es im Verlauf der Arbeit wiederkehrend aufgegriffen wird. 14 http://de.wikipedia.org/wiki/Norbert_Bolz, Zugriff: 06.05.2014. 21 Die Geschichte und Etablierung des Catwalks im 20. Jahrhundert im Zuge der Herausblidung eines gefestigten Modesystems Um dieses Kapitel zu gliedern, habe ich es chronologisch aufgebaut: die Anfänge der Haute Couture begünstigten die Entwicklung der Modenschau bis 1920, es folgten dreissig Jahre, die sich mit den Weltkriegen auseinanderzusetzen hatten und in der Zwischen- bzw. Nachkriegszeit kaum eine Weiterentwicklung der Modenschau bewirkten. Dann überführe ich mit den wilden 1960ern in die Gesellschaft des Spektakels. Dieser folgen die Achtzigerjahre, die von fortdauerndem Glauben an Wirtschaftswachstum geprägt waren, die Ära des Neoliberalismus. Die jüngste Geschichte des Catwalks ist nicht wissenschaftlich aufgearbeitet. Ich untersuche sie in Kapitel 5 am Beispiel fünf zeitgenössischer Chanel Modenschauen zwischen 1994 und 2014. Vorbereitend dazu, kontextualisiere ich das Chanel Universum in Kapitel 4. Die Anfänge der Haute Couture Seine Wurzeln hat die Präsentation von Mode im Theater, wo man zu Zeiten Marie Antoinettes (*1755-1793) die neuesten Kreationen auf der Bühne zeigte. Die Hofschneiderin Antoinettes, Rose Bertin, stattete begleitend zu den Aufführungen hölzerne Modepuppen in halber Lebensgrösse mit verkleinerten Versionen der neuesten Kleider und Accessoires aus, und ließ sie in luxuriösen Kutschen an europäische Höfe ausliefern.15 Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts fand die Schau modischer Kleidung in den Geschäften der Schneidermeister statt. Auch in öffentlichen Räumen wie auf dem Boulevard, an Strandpromenaden oder unter den Arkaden von Paris (dafür möchte ich gerne auf das Passagen-Werk von Walter Benjamin verweisen) fand die modische Zurschaustellung vor der Jahrhundertwende statt, wie es Charles Baudelaires Gedicht 'À une passante' zu entnehmen ist. Dieses stammt aus der Gedichtsammlung 'Les Fleurs du mal' (zwischen 1857-1868 entstanden), in welcher sich der Schriftsteller mit dem entfremdeten, melancholischen Grossstadtmenschen beschäftigte: 15 Vgl. Catwalks, 2009, S. 10. — "La rue assourdissante autour de moi hurlait. Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse, Une femme passa, d'une main fastueuse Soulevant, balançant le feston et l'ourlet ; 22 Agile et noble, avec sa jambe de statue. Moi, je buvais, crispé comme un extravagant, Dans son oeil, ciel livide où germe l'ouragan, La douceur qui fascine et le plaisir qui tue. Un éclair… puis la nuit ! - Fugitive beauté Dont le regard m'a fait soudainement renaître, Ne te verrai-je plus que dans l'éternité ? Ailleurs, bien loin d'ici ! trop tard ! jamais peut-être ! Car j'ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, Ô toi que j'eusse aimée, ô toi qui le savais !" — Die Entstehung der Modenschau hängt direkt mit der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts zusammen und führte zur neuen Religion des Grossstadtmenschen: der Mode. Bereits 1868 wurde das 'Chambre syndicale de la Couture' gegründet, welches zunehmend die Mechanismen in der Textilindustrie zu regulieren begann. Die Couturiers erkannten, dass sie auf die durch die Industrialisierung ausgelösten Veränderungen eingehen, sie zu ihrem Vorteil nutzen mussten. Die Modehäuser veränderten sich so zu professionell organisierten Managements mit Arbeitsteilung, die nach dem Modell Frederick Winslow Taylors strukturiert waren. Dieses ging als Taylorismus, einer rationalisierten Arbeitswissenschaft, in die Geschichte ein. Taylor gelang es 1890 bei der Firma 'Simonds Rolling Machine Co.' bei einer Verkürzung der täglichen Arbeitszeit sowie zusätzlicher Verlängerung und Strukturierung der Pausenzeiten, insgesamt bei einer Verkürzung der Arbeitszeit um mehr als 20 %, die Produktivität der Arbeiterinnen zu steigern. In der Folge konnte er die Entlohnung der MitarbeiterInnen erheblich verbessern. Seine Hauptwerke 'Shop Management' und 'The Principles of Scientific Management' entstanden 1903 und 1911. Nicht nur die Industrialisierung, sondern auch die Eisenbahn veränderte die Wahrnehmung der Menschen. Die Eisenbahn ebnete den Weg für den amerikanischen Traum. Sie ermöglichte neue Formen von Lebensentwürfen und schnellere, bzw. grossflächigere Verbreitung von Ideen. In der Literatur schlug sich die- Die Geschichte und Etablierung des Catwalk 23 ses eilende Tempo ebenfalls nieder, so schrieb Jean Cocteau 1926: "La beauté est une dame qui marche".16 Der zunehmend schnellere Gang der Mannequins war auch durch aufkommende Sportmode beeinflusst. Im Film von Tony Lekain 'On demande un mannequin' aus dem Jahr 1923 wird klar, dass das Bedürfnis Mode in Bewegung zu sehen von den Erfindungen der Vorindustrialisierung und des Modernismus abhängig war, da sie alle zu einem schneller zu stillenden Nervensystem beitrugen: die Schreibmaschine (1874), das Telefon (1876), das Grammophon (1877), die Untergrundbahn (1890), das Kino (1895), der Bus (1897), das Flugzeug (1903). Diese veränderte Sensibilität für Geschwindigkeit veränderte auch die Perzeption und somit die alltäglichen Angewohnheiten der Bevölkerung, v.a. in Grossstädten. Die Präsentation von Mode war durch technische Innovationen und der sich damit verändernden Architektur geprägt. Eisenkonstruktionen und Glasfassaden zeichneten entstehende Einkaufshäuser aus, in denen die ersten Modenschauen, die sogenannten 'tango teas', in den Teesalons stattfanden. Dies allerdings vorerst in London bei Peter Robinson, Selfridge's und bei Harrod's. 1904 stellte das Einkaufszentrum Peter Robinson (an der Oxfordstreet in London, wurde später zu TopShop) seine breit diskutierte Schau als gesellschaftlichen Anlass dar, welcher dem traditionsreichen, britischen Pferderennen von Ascot nachempfunden war #10. Harrod's veranstaltete 1909 seine erste Show im 'Theater of Dress' und stuhlte dafür das Publikum auf drei Seiten um eine dreieckige Bühne, auf welcher die Models zwischen Pflanzen und Kanephoren umherschlenderten. Ebenfalls von London aus ging der Einfluss von Redfern #14. John Redfern begann 1855 als Schneider in London, eröffnete bald Shops in Paris, Edinburgh, New York und gilt als Pionier für Damensportmode bis 1940. In Paris kreierte er einen runden Raum, der vom hexagonalen 'Palais des illusions de l'Exposition Internationale de 1900' #3 auf dem Marsfeld beim Eiffelturm in Paris inspiriert war. Der Palais des Illusions war ein Spiegelsaal mit maurischer Dekoration, der mit einer Unzahl farbiger Lampen effektvoll beleuchtet werden konnte. Der Besitzer des 1882 eröffneten Wachsfigurenmuseums 'Grévin' beauftragte später den Architekten Eugène Hénard eine verkleinerte, verbesserte Variante des Spiegelsaales im Museum zu verwirklichen. Der Salon von Redfern war ebenfalls rundherum mit Spiegeln versehen, welche Modell und Klient mehrfach reflektierten. Auch bei Christophe Drécoll (*1851-1939) wurden die Umkleidekabinen seiner Pariser Niederlassung mehrfach mit Spiegeln ausgestattet und Gabrielle Chanel eröffnete 1928 ihre berühmte, noch existierende Niederlas16 Jean Cocteau, 1926. In: Showtime, 2006, S. 65. 24 sung an der Rue Cambon, welche durch eine mit vielen länglichen Spiegeln bestückte Rundtreppe berühmt wurde #30.Die Modelle wurden darin unendlich oft multipliziert, was sowohl die zukünftige Multiplikation der Kleidung durch Massenproduktion, als auch jene des Models als weibliches Ideal darstellt. Der Saal im Erdgeschoss, in welchen diese Treppe mündete, war ebenfalls verspiegelt #29. Diesem räumlichen Element der Täuschung werden wir in der Welt der Mode noch oft begegnen. Die Modepräsentation am bewegten Körper revolutionierte 'Lucile', die englische Schneiderin Lady Duff Gordon (geborene Lucy Christiana Sutherland) #7. Sie inszenierte die ersten sehr innovativen Mannequin-Paraden in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und brachte sie von London nach New York und Paris #17. Andere Häuser benutzten damals vorwiegend noch Waxund Holzpuppen oder hatten in ihren Boutiquen Verkäuferinnen angestellt, um der Mode Leben einzuhauchen. Luciles erste Show fand bereits 1897 in London beim 'Hanover Square No. 17' statt, wo die Modelle unter einem Gemälde von Angelica Kauffmann eine Treppe herabstiegen. Angelica Kauffmann gilt als Klassizistische Malerin des 18. Jahrhunderts, welche exemplarisch das 'Weibliche', das heisst das Empfindsame, Moralisch-Tugendhafte verkörperte #1. Sie wurde als den der Freundschaft, Melancholie und Grazie verpflichteten Künstlertyp wahrgenommen. Ihre Kunst wurde trotz grossen Talents nicht darüber hinaus rezipiert. Luciles kommende Shows wurden vorwiegend in privaten Räumen mit Kulissen im Stil der Innenausstattung einer neoklassizistischen Boutique inszeniert #10. Sie prägte die Fashion Show als multisensuelles Erlebnis, indem sie persönliche Einladungskarten versandte und ihren Entwürfen anstelle von Nummern (wie es damals gängig war) poetische Titel gab, welche sie beim Auftritt des Modells auf die Bühne rief. Weder lächelten noch sprachen ihre Modelle. Ein Orchester sorgte für musikalische Untermalung, dramatische Lichtblitze bereicherten die Show und Tee wurde serviert. Das ernsthafte Geschäft, Kleidung zu verkaufen wurde bei Lucile erstmals in eine soziale Angelegenheit verwandelt. Sie inszenierte in Paris die 'thé dansant' – 'tango teas', wo sich ihre Modelle zu Musik leicht tänzelnd in Bewegung präsentieren liessen. Zwischen 1908 und 1910 etablierte sich diese Art von Show bei den meisten Couturiers in Paris. Eine höhere Komplexität in der Dramaturgie gestaltete dann Lucile's Schwester Elinor Glyn (*18641943) aus #18. Sie war eine bekannte Novellistin und inszenierte 1909 für Lucile in sieben Akten den Kleidungszyklus der sieben Alter einer Frau. Luciles Shows fanden vor 800 bis 3000 Zuschauern statt, die eine neue Art von Performance gebaren. Diese war Die Geschichte und Etablierung des Catwalk 25 entscheidend beeinflusst von Tänzerinnen des späten 19. Jahrhunderts, wie beispielsweise Loie Fuller (1862-1928), welche weder durch ihr schönes Gesicht, noch ihre Figur erfolgreich wurde, sondern ihre Fähigkeit Textilien tänzerisch zu manipulieren #2. Sie beeinflusste den modernen Tanz mit ihrem Schlangentanz und erfundenen Lichtspielen auf der Bühne. Auch förderte sie Isadora Duncan (1877-1927), welche als Wegbereiterin des modernen, sinfonischen Ausdruckstanzes gilt #4. Durch sie entwickelten Frauen ein neues Körper- und Bewegungsempfinden, das sich am griechischen Schönheitsideal orientierte. Als Gegnerin des klassischen Balletts versuchte sie, den Tanz der Antike wieder zu beleben. Isadora trug bei ihren progressiven Aufführungen weder Korsett noch Schuhe. Lucile arbeitete auch für das Theater. In diesem Kontext etablierte sich das Modenschauspiel in London, ein neues Genre der Musikkomödie, das zwischen 1890-1914 entstand. Sie schreibt in ihrer Autobiographie: "Langsam formte sich die Idee der Mannequin Parade in meinem Kopf, welche so interessant wie eine Theateraufführung sein würde. Ich hätte glorreiche, göttliche Mädchen, welche in meinen Modellen gekleidet auf und ab gingen und sie möglichst vorteilhaft einem bewundernden Publikum von Frauen zeigten."17 In Amerika übrigens fand die erste Modenschau bereits 1903 im 'Madison Square Garden' statt, es war ein zweiwöchiger Event, 'the fashion show' genannt. Sie fand ihren Platz in einem zweistöckigen Gebäude und war für ein breites, öffentliches Publikum angelegt, was grundsätzlich der Unterschied zu den frühen Modenschauen in Europa war, welche lange einem geschlossenen Zielpublikum aus der Oberschicht vorenthalten blieben. Dabei wurden live ausschliesslich französische Modelle an amerikanischen Mannequins gezeigt, amerikanische Mode wurde erstaunlicherweise nur statisch ausgestellt, wie auch neueste technische Errungenschaften aus der Textilindustrie.18 1914 fand unter Sponsoring von Vogue die erste Wohltätigkeits-Modenschau in einem Einkaufszentrum in New York statt. Redfern, Drecoll, Lucile und Chanel waren wichtige Akteure in Europa und England, in der Welthauptstadt der Mode hatten jedoch Paul Poiret und Charles Frederick Worth den grössten Einfluss. Worth (*1826-1895) gilt als Begründer der Couture. 1845 wanderte er nach einer Lehre als Stoffverkäufer in England nach Paris aus, arbeitete dort bei der Schneiderei Gagelin und heiratete eine seiner Mitarbeiterinnen, das Mannequin Marie Vernet. Erste 17 Gordon Lucile Wallace Duff, 1932. In: Fashion Theory, 2001, S. 274. 18 Vgl. Evans Caroline, 2013, S. 78. 26 Erfolge verzeichnete er 1851 mit dem Gewinn einer Goldmedaille für seine an der ersten Weltausstellung präsentierten Entwürfe. Worth revolutionierte später mit seiner Art der Kleiderproduktion die Modeindustrie. Er war der erste Modeschöpfer, der mehr als Künstler denn als Handwerker verstanden wurde. Schon 1867 schuf Worth ein Vertriebsprogramm, das ausländischen Einkäufern den Erwerb seiner Schnittmuster ermöglichte. Entsprechend seinem künstlerischen Selbstverständnis war in Worths Modellen ein Namensschild eingenäht, welches das Kleid wie ein Gemälde durch die Unterschrift eines Künstlers auszeichnete. Er und Vernet eröffneten gemeinsam bereits 1858 ihr 'Maison de Couture' in Paris #15. In den ersten elf Jahren des Bestehens prägte Marie das Haus nicht nur als aktives Model, als 'Chef Mannequin', sondern auch als Verkäuferin. Anders als heute hatten Worths Kollektionen und deren Präsentation weder einen fixen Platz im Kalenderjahr, noch auf der Stadtkarte. Die Mode wurde entweder auf Verlangen und Vereinbarung mit wohlhabenden Kunden/-innen defiliert oder an sozialen Anlässen gezeigt. Dort nahm Frau Vernet die Rolle der Fashionista, des It-Girls, des Celebrity ein, da sie die Mode bei Longchamps Rennbahn und im Bois de Boulogne trug. Diese Auftritte wurden von Journalisten bzw. Literaten (z. B. in Alice Ivory's 'A women's guide to Paris') oder in der Zeitung kommentiert und gelangten durch Mund zu Mund Propaganda zu ihrer Verbreitung. Paul Poiret war eine weitere wichtige Figur. Er war Gabrielle Chanels grösster Konkurrent. Zur Präsentation seiner Mode begleitete er drei seiner Modelle in drei identischen, hellenistischen Kleidern zu einem Pferderennen und sorgte damit für grosse Aufregung, was sich sogar in den Tageszeitungen niederschlug. Bekannt wurde er durch seine orientalisch anmutenden, für Theaterproduktionen gefertigten Kleider #11 #13. Die Theatralisierung der Modenschau durch Paul Poiret und Lucile verschob den Fokus des weiblichen Konsums auf die Kleidung zum männlichen Blick auf das Modell. Mit dem Begriff Modell war zu Beginn des 20. Jahrhunderts übrigens nur das Kleidungsstück gemeint und verlagerte sich beim Gebrauch im Zusammenhang von Inszenierungen der Kleider am weiblichen Körper auf die Frau selbst. Dies bezeichnet indirekt die Verdinglichung der Frau, bzw. macht den Unterschied von Kleid und Körper unsichtbar. Ungleich heutiger Modenschauen dauerten diese Events nicht nur maximal 20 Minuten, sondern konnten sich über Tage oder Wochen hinwegziehen. Die einzelnen Elemente dauerten etwa drei Stunden und wurden über Tage oder Wochen hinweg mehrmals wiederaufgeführt, hatten also auch diesbezüglich theat- Die Geschichte und Etablierung des Catwalk 27 ralen Charakter. Meist wurden die Modelle in den Geschäften der auf Stühlen sitzenden Kundschaft präsentiert #9. Dann zeigte Poiret 1909 erstmals seine Kollektion an einem speziellen Ort, in seiner Privatvilla, in mehreren, durch rote Teppiche verbundene und durch Vorhänge voneinander abgetrennten Räumen. Zu diesen Räumen führte eine geschwungene Treppe hinab und zu Überraschungszwecken liess er manche seiner Modelle aus einer kleinen Seitentür hinaustreten. Spiegel und eine Öffnung in den formellen Garten erweiterten das Raumkonzept. Betreffend Zeitpunkt im Kalenderjahr war es erst nach 1918 üblich, dass die Shows ein fixes Gefäss erhielten, da mehr und mehr ausländische Käufer nach Paris kamen, um die neueste Mode einzukaufen. Davor wurden die Modelle von Poiret allenfalls zu wichtigen Kunden nach Hause geschickt. Bis heute sind die Fashion Weeks streng geregelt, damit die Presse an allen wichtigen Schauen vor Ort sein kann. Poiret fand weitere, alternative Mittel der Vermarktung. Er entschloss sich im Herbst 1911 für sechs Wochen in Europa auf Tournee zu gehen. An der Grenze zu Warschau wurde seine vorangegangene Sekretärin jedoch vom Zoll aufgehalten, da die Kleider als Ware und nicht als Teil einer theatralischen Inszenierung galten (mit angeblich nur zweitrangig marktwirtschaftlichen Absichten). Diese Art von Werbung oder Promotion war damals noch nicht bekannt. Zur Unterstützung des Verkaufs von Kopielizenzen zeigte Poiret Filme von den Modenschauen aus Paris #16. Seit Poiret 1911 auf seiner Tournee zu Promotionszwecken eine gefilmte Modenschau aus Paris mit sich führte, spielte der Film eine zentrale Rolle in der Modeindustrie. Wissen über exklusive, elitäre Modebewegungen wurde zunehmend auch einer breiteren Masse zugänglich. Pathé und Gaumont (ältestes noch tätiges Film-/Produktionsunternehmen der Welt) integrierten Ausschnitte aus Shows in ihren Newsreels. Diese waren für die Kinos wöchentlich neu produzierte Filmberichte über politische, gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse. In den Kinos wurde 1913 der erste Newsreel gezeigt, 'Kinemacolor Fashion Gazette', der sich alleine dem Thema Mode widmete. Chanel eröffnete als eine der Pionierinnen 1912 ihren ersten Laden in Deauville und kommunizierte dies den Bewohnern indem sie ihre Cousine und Tante in Chanel gekleidet auf die Strasse schickte. Die Idee, Mode an Frauen zu zeigen, manifestiert sich nicht nur in darauffolgenden Modenschauen, sondern auch in der Konvention, Kleider an Modevorbilder gratis abzugeben (ein solches Vorbild war Mrs. Reginald Daisy Fellows, die damals als bestgekleidete Frau Paris' galt) #20. Diese Praxis wird bei Chanel Die Geschichte und Etablierung des Catwalk 28 noch heute angewendet und findet in den 1980er Jahren mit der Herausbildung des Supermodels seinen Höhepunkt, in der Verschmelzung von Model und Celebrity. 1904 wurde der Treibhauseffekt der Modenschauen in der Presse als offensive Einladung an Männer verstanden, Frauen anzulächeln und anzustarren. Intellektuelle beurteilten die Schauen in diesem Sinne: sie würden ein nahes Verhältnis von Kleidung, Konsum und Versachlichung der Frau artikulieren, was die Rolle der Frau zu einer 'des Kaufens' und 'gekauft Werdens' verdammen würde. Trotz bereits ersten Errungenschaften der Frauenbewegung, herrschte ein zwiespältiges Bild von Frauen als Spektakel im Rahmen von Modenschauen vor. Denn die Modenschau ist eine Form der Objektivierung der Frau, aber eben auch ein komplexes Gebilde von Beziehungen, der Catwalk ermöglicht die Darlegung genderspezifischer Identität als kulturelles Konstrukt. Rhonda Garelick untersucht in ihrem Werk 'Rising star' die Idee des Dandys und zeigt auf, wie diese Rolle sich von seinen Ursprüngen Ende des 19. Jahrhunderts über die Fin-de-siècle-Performerinnen wie Loie Fuller zu popkulturellen Stars des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt hat. Dazu gehört auch das Supermodel im Zuge seiner Herausbildung auf dem Laufsteg, einem Ort besonders geeignet für die Projektion von Gender als Bild und Idee. Das Model geht als Gegenstück der metropolitischen Modefrau der Mittel- und Oberschicht hervor, als Arbeiterin, welche häufig durch einen kleinen Lohn bedingt, zur Prostitution gezwungen war. Walter Benjamin bezeichnete das Model (eine Prostituierte) als pivotales Emblem der Modernität, weil sie Verkäuferin und Ware in einem sei.19 Die ersten Models waren eine Mischung aus realer Frau und Schaufensterpuppe. Ihr Aussehen war homogen, um die Aufmerksamkeit der Kunden möglichst vom Körper auf das Kleid zu lenken, sie waren anonymisiert, erhielten Kunstnamen und trugen unter den Modellen ein uniformierendes Unterkleid, ähnlich einem Ganzkörperstrumpf. Sie waren zwischen Objekt und Subjekt einzuordnen, wurden quasi im Zuge der Industrialisierung mechanisiert, verdinglicht, gleich gemacht. Dass das Model als puppenhafter Geist gewertet wurde, belegt Paul Poirets Aussage in einem Interview mit dem Daily Mirror von 1920, als die Journalistin ein Model ansprechen wollte: "Non, mademoiselle, ne parlez pas à ces filles. Elle ne sont pas ici". 20 19 Gruendl Harald, 2007, S. 43. 20 Castle Charles, 1977, S. 14. 29 Die 20er Jahre und die Kriegszeit Luciles Schwester dramatisierte die wahre Geschichte eines Pariser Mannequins zu Zeiten des Krieges in dem Stück 'Fleurettes Traum' und inszenierte diese mit Hilfe einer Theatergruppe in einer zweieinhalbstündigen Performance #18. Die Erträge gingen an europäische Kriegshilfe. Weil Luciles Schauen derart erfolgreich waren, musste sie die Länge auf eine halbe Stunde kürzen, um alle 68 Kleider in 18 Städten und 6 Monaten zeigen zu können. Diese Kürze blieb aber bis zu den 1960ern eine Ausnahme, als der lineare Laufsteg, wie er in Amerika geläufig war, definitiv nach Europa importiert wurde.21 Der Begriff Catwalk ist im deutschen Sprachgebrauch sogar erst seit den 1990er Jahren üblich. Er ist aus dem Englischen entlehnt, wo er in der Seefahrt und dem Bau schmale Passerellen oder Brücken bezeichnete, über welche man mit einem so geschickten Gang wie ihn Katzen haben, gehen musste. Später wurde diese Analogie von der Modeindustrie erkannt. Noch mehr sogar passte der Begriff in das Business, da es in den 60ern üblich wurde den Models beizubringen, so elegant wie Katzen einen Fuss hinter den anderen zu setzen. Obschon bereits 1868 die Vereinigung 'Chambre syndicale de la Couture' gegründet worden war und ab 1910 den Couturiers empfahl an festen Daten zweimal jährlich ihre Kollektion zu zeigen, gab es noch kein erkennbares Modesystem. 1910 liest man in einer Magazinreportage: "…wenn im Februar und August Mode präsentiert wird, werden die Salons der Couturiers von einer Menschenmenge gestürmt…und es ist ein ganz herrliches Schauspiel…die Kollektion über den Laufsteg defilieren zu sehen…Die Modenschauen haben etwas beglückendes und traumhaftes, … diesen Augenblick und den kaleidoskopischen Eindruck, den er auf der Netzhaut hinterlässt."22 Die Schauen fanden jedoch unabhängig von einer Organisation in den Geschäften der Couturiers statt. Ein Modesystem begann sich erst im zweiten Weltkrieg um 1940 herauszubilden, als die deutsche Besatzung versuchte die Vormachtstellung der Pariser Modehäuser abzuschwächen. 1941 führten sie ein Bezugsberechtigungssystem für Stoffe ein und 1945 schrieben sie den Couturiers vor, die 400 Modelle je Saison auf 100 zu reduzieren.23 Die Bedingungen, um in den Berufsverband der 'Chambre syndicale de la Couture Parisienne' aufgenommen zu werden, waren damals die Herstellung von massgeschneiderter Ware, der Besitz eines Ateliers in Paris mit mindestens 15 Angestellten und die allhalbjährliche Schau von mindestens 50 originalen Modellen. Der Verband wurde 1945 offiziell anerkannt und erst 21 Evans Caroline, 2013, S. 152. 22 L.Roger-Milès, Les Créateurs de la Mode, Editorial de Figaro, 1910. In: Catwalks, 2009, S. 26. 23 Vgl. Catwalks, 2009, S. 30. 30 1973 wurde die Prêt-à-Porter Mode vom Verband institutionell integriert. Paris war vom Krieg geschwächt und versuchte 1944 mit dem 'Théâtre de la mode' in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Eliane Bonabel (*1920-2000) die Pariser Mode im Musée des Arts Décoratifs wieder attraktiv zu machen. Die Ausstellung wurde zum weltweiten Erfolg und bereitete den Weg für die Rückeroberung der Pariser Vormachtstellung und Diors 'New Look' von 1947.24 Die Räume der Modepräsentation waren ab 1910 in den Couturehäusern integriert. Dafür wurden spezielle Räume zur Präsentation der Kollektionen eingerichtet. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg waren diese meist im Empire Stil ausgestattet, mit Holztäferung, eingelassenen Spiegeln, Kronleuchtern, samtbezogenen Canapés, in neutralen Farben wie beige und grau gehalten #6. Erstmals richteten Chanel #29 und Madeleine Vionnet #24 (*18761976) ihre Geschäfte nach 1928 im modernistischen Stil ein. Dieser Mut und fortschrittliches Denken sind erste Anzeichen für sich abzeichnenden Erfolg beider Designerinnen, bedingt durch ein einzigartiges Gespür für Zeitgeist. Lucile führte ausgefeilte Bühnenbeleuchtung ein, die minutiös Tag- oder Nachtstimmungen simulierte und zwischen warmen und kalten Tönen changieren konnte. Zunehmend passten die Couturiers auch ihre Dekoration der Jahreszeit an. Lucien Lelong (*1989-1958) führte 1923 eine halbrunde Bühne in seinem Geschäft ein. Allen Bühnen dieser Zeit war jedoch die Verwendung eines Vorhangs gemeinsam, was auch im Spielfilm 'On demande un mannequin' von 1923 in einer Szene in Drecolls Geschäft sichtbar wird. Noch stärker als der Film beeinflusste die Erfindung der Fotografie die Verbreitung neuer Moden. Bei den Printmedien erweiterte sich die Berichterstattung vom Zeitungsjournalismus auf die Erfindung von Modemagazinen wie Femina #10 und zunehmend auch farbig abgedruckten Fotoaufnahmen. Dabei mussten DesignerInnen lernen mit dem Konflikt zwischen Schutz und Verbreitung ihrer Ideen und Kollektionen umzugehen. Leider sind deshalb beispielsweise Elsa Schiaparellis Werke aus den 1930er Jahren nicht fotografisch festgehalten, sondern nur schriftlich dokumentiert, da sie Raubkopien fürchtete. 1897 bereits mussten sich einige Pariser Modedesigner zusammenschliessen, um sich gegen das Kopieren zu schützen. Danach waren Skizzieren und Fotografieren bis zum Datum der Pressefreigabe für die Zuschauer bei den Modenschauen verboten, damit eine allfällige Kopie immerhin erst sehr viel später als das Original auf den Markt gelangen und imitiert werden konnte. 24 Vgl. Catwalks, 2009, S. 31. Die 20er Jahre und die Kriegszeit 31 1932 importierte der französische Architekt Pierre Patout (18791965), der später den französischen Pavillon an der Weltausstellung in New York 1939 entwarf, die Idee eines Präsentationssalons in Einkaufshäusern und schlug ein Amphitheater im sechsten Obergeschoss der 'Galeries Lafayette' vor. Dieser Salon wurde aufgrund der Wirtschaftskrise nicht umgesetzt. Die Idee verharrte hingegen und wurde 1933 vom Einkaufshaus 'Printemps' (existiert seit 1865 mit dem Ziel zu einem günstigen Preis innovative Qualität zu verkaufen) umgesetzt #32. Damit einhergehend wagte Pierre Laguionie, damaliger Manager, erstmals eine Kollaboration mit dem Haute Couturier Paul Poiret. Dieser zeigte vor einem Publikum von 300 Personen eine Prêt-à-Porter Kollektion, zweimal täglich über mehrere Wochen hinweg. Bei der Schau wirkten ein professioneller Maskenbildner, ein Orchester, modische Hunde, welche die Modelle begleiteten und Paul Poiret selbst in Begleitung seiner Frau mit #31. 'Printemps' versuchte also erstmals 1933 die Vermarktung einer Haute Couture Kollektion von Paul Poiret. Da diese nicht erfolgreich genug war, dauerte es 15 Jahre, bis diese Strategie durch das Grosswarenhaus 'Le Bon Marché' wieder erprobt wurde. 'Le Bon Marché' wurde bereits 1838 gegründet und initiierte 1935 seine erste Haute Couture Linie 'Atrémis' (damals noch kein geschützter Begriff). Man verwendete die Bezeichnung vermutlich, um ein reicheres Klientel anzuziehen und begann ab 1937 in jeder Saison die Aufführung von Mode in Begleitung klassischer Musik zu inszenieren. In diesem Jahr nutzte 'Le Bon Marché' die Anwesenheit vieler internationaler Touristen, welche Paris anlässlich der Weltausstellung besuchten. Die Strategie einer Kollaboration mit einem Haute Couturier wurde vom Grosswarenhaus 1948 mit Marcelle Chaumont, Mitarbeiterin von Madeleine Vionnet, wiederbelebt. Die damit einhergehende Präsentation der Kollektion wurde von der Presse als positiv gewertet, da das Konzept ehrenhafte Kleidung zu einem vernünftigen Preis anzubieten, von der französischen Kundschaft nach dem Krieg geschätzt wurde. Zwei Jahre später stiess diese Strategie in der Modewelt jedoch auf Ablehnung und führte zur Gründung der 'Couturiers associés' durch Jaques Fath, Robert Piguet, Paquin, Carven und Jean Dessès. Sie organisierten gemeinsam 1950 ein Défilé im Einkaufshaus 'Printemps'. Doch sollte es noch bis 1962 dauern, bis sich die Haute Couture in Warenhäusern etablieren sollte, nämlich bis Pièrre Cardin seine Boutique bei 'Printemps' installierte. Unter dem Markennamen 'Prisu' produzierte Printemps dann regelmässig "Gutes für wenig Geld"25 mit im Kalenderjahr festgesetzten Präsentationen. Diese 25 Showtime, 2006, S. 104. 32 als aufregend empfundenen Shows, zogen ein breiteres Publikum an und befriedigten das Bedürfnis des sich verbreitenden Modejournalismus. Elsa Schiaparelli (*1890-1973) die erste Designerin, welche ihrer Kollektion ein Thema im Sinne eines Konzeptes gab. Bei ihren zehn Shows zwischen 1936-39 beeinflusste das jeweils die Wahl der Musik, des Lichts, sowie Erweiterungen wie Tanz, Tricks und Witze, welche sie integrierte. 'Le Cirque' hiess ihre 1938 aufgeführte, sehr konzeptionelle Bühnenshow, die sich durch Kunststücke aufführende Zirkusleute auszeichnete. 1952 beauftragte sie eine Filmproduktionsfirma den Hof ihres Hauses in einen märchenhaften Schauraum, worin die Modelle sich dann zu Samba wogen, umzugestalten. Hinter den Fenstern des ersten Stocks wurden lebensgrosse chinesische Tiere in Ballkleidern aufgestellt, was die skurrile, traumhaft exotische Märchenwelt unterstrich. Der Raum, worin Dior 1947 eine Show inszenierte, war lediglich mit links und rechts linear bestuhlten Zuschauerreihen gestaltet. Prägend war nicht die Architektur, sondern der neue Laufstil der Modelle, den Bettina Ballard von Vogue so beschreibt: "…The first girl came out, stepping fast, switching with a provocative swinging movement, whirling in the close-packed room, knocking over ashtrays with the strong flair of her pleated skirt and bringing everyone to the edge of their seats."26 Wohingegen bis anhin die Bewegungen der Models auf der Bühne eher als passiv und ruhig anmutete, wie Paul Poiret 1931 in seiner Autobiographie beschrieb: "…like an anemone expanding in the sea under the influence of a great current.".27 Diors Show und der darin gezeigte Stil wurden prägnant 'The New Look' genannt #37. Diese Revolution der Bewegungen verlegte das Augenmerk von der aufwändig ausgearbeiteten Inszenierung für lange Zeit auf das Tempo und Temperament der Models, also vom Raum weg, zum Körper hin. Im Gegensatz zu Diors prahlerischem Laufstil wurden Chanels Modelle angewiesen, genauso kühl wie Coco zu gehen: Den Oberkörper zurück-, die Hüfte vorgeschoben, eine Hand (oder beide) in der Tasche. Ihre Gebärden waren kühl, zurückhaltend, gar apathisch oder leblos #48. Bis dahin war es bereits üblich, dass sich ein Modehaus über den ikonischen Status seiner Hausmodels definierte, also Gesichter und deren Aura direkt zur Stärkung ihrer Unternehmensidentiät einsetzten. In den 1950er Jahren bildeten sich folglich bei allen Häusern die 'Cabines' heraus, was die Bezeichnung für die Modelgruppe eines Modehauses war. Idealerweise bestand eine 'Cabine' aus verschiedensten Frauentypen, um einem 26 Ballard Bettina, 1947. In: The enchanted spectacle, 2001, S. 291. 27 Poiret Paul, 1931. In: The enchanted spectacle, 2001, S. 278. Die 20er Jahre und die Kriegszeit 33 möglichst breiten Publikum viele Andockpunkte offerieren und um sich mit der Marke identifizieren zu können. Vereint wurden die heterogenen Typen durch den gemeinsamen 'Modelingstyle'. Der Begriff 'Cabine' leitete sich vom Umkleide- und Schminkraum der Models ab, in welchem sie nicht nur Gehen übten, sonder sich unterhielten und Zeit miteinander verbrachten. Die meisten Shows wurden bis zu den 1950 oft in Geschäften der im Ancien-Régime-Stil gestalteten Räumlichkeiten präsentiert. Zwischen 1950 und 1970 fand diesbezüglich ein Umdenken statt: ähnlich der Marketingstrategie, das Image eines Models für eigene Zwecke zu nutzen, organisierten die Designer ihre Modenschauen an prestigeträchtigen Orten. So reservierte Balmain für seine Shows oftmals Hotelsuiten. Dort wurde den Gästen Champagner und Canapés angeboten, auf Musik wurde verzichtet, damit der Ton der raschelnden Textilien und die Schritte der angekündigten Models hörbar waren. Manchmal trugen die Models ihre Nummer auch ganz klassisch in Form von Tafeln in den Händen oder hatten sie an ihrer Kleidung befestigt. Die Form der meist leicht erhöhten Bühne, auf welcher die strikte komponierte Modellabfolge stattfand, war entweder T- oder D-förmig und wurde nur mit Vorhangsdekoration komplementiert. Nach dem Krieg bildete sich in dieser strengen Dramaturgie der Höhepunkt in Form des Brautkleides und anschliessendem Auftritt des Designers heraus. In den konservativen 1950er Jahren und dem damit einhergehenden starren Modesystem gilt als einzige Ausnahme die Engländerin Mary Quant (*1934), die bereits 1955 mit der Eröffnung ihres ersten Geschäfts 'Bazar' in London und einer Promotionstour britischer Mode mit Halt im St. Moritzer Palace Hotel herausstach. Ihre simple Mode hob sich durch extravagante Inszenierung von den sonst stark ornamental geprägten Kollektionen ab. So liess sie ihre Models zu Jazzmusik kicken, springen, hüpfen und somit eine elektrisierende Stimmung erzeugen. Geschwindigkeit und Bewegung unterstützte der Einsatz einer Windmaschine. Den Speed erhöhte sie auch durch die Verkürzung der Show: sie zeigte 40 Modelle in nur 14 Minuten, was der heutigen Fashion Show bereits sehr nahe kommt. Eine weitere Innovation war, dass sie die Models mit Accessoires ausstattete, um das Thema ihrer Kollektion oder gar ihr Frauenbild zu verdeutlichen #40. So gab sie den Models z. B. eine Waffe, einen Fasan (den ein Model über ihrem Kopf schwang und Blut über die frisch gemalten Wände verspritzte), oder Bücher von Marx und Engels mit auf den Weg. Die Shows waren nicht minutiös vorausgeplant, sondern liessen Improvisationsraum für theatrale Elemente (wie den Fasanschwung). Die 20er Jahre und die Kriegszeit 34 Die Fashion Show im Gefäss der Fashion Week war noch nicht geboren. Die von unternehmerischen Interessen getriebenen Couturiers wie Worth empfingen zwar bereits Ende des 19. Jahrhundert ihre Kundschaft jede Saison aus Übersee gerne zu einer gewissen Zeit, aber eine gemeinsame Organisationsstruktur pflegten sie nicht. Die erste reguläre Fashion Week fand in Amerika im Juli 1943 in New York statt – und war von da an ein fest im Kalender verankerter, halbjährlich stattfindender Event. Die erste europäische 'Semaine des defilees' fand erst 1973 in Paris statt und bildet mittlerweile den Höhepunkt der Big Four (New York, London, Milan, Paris). Weltweit finden mittlerweile in über 100 Städten Fashion Weeks statt. La Société du Spectacle Die Theatralisierung der Modenschau war mit Kunst, Theater, Film, Musik, Konsum, Erotik und Kommodifizierung der weiblichen Form in der breiten Masse eng verbunden. Weitgehend also auch für die Verbreitung von genderspezifischen Bildern in Zusammenhang mit Verlangen und Kommerz verantwortlich. Man kann von der Annahme ausgehen, dass eine komplexe Beziehung zwischen Modenschau und kapitalistischem Spektakel besteht. Guy Debord beschrieb die Gesellschaft des Spektakels als eine, in welcher Bilder bzw. Abbildungen die Realität überblenden. Er prognostizierte, dass Konsum zur treibenden Kraft in der Entwicklung der Wirtschaft werden würde.28 Mit den Mitteln des Spektakels operiert auch das Modebusiness, um ihre eigentliche Herkunft und Ziel, nämlich den Kommerz, zu verhüllen. Religion wird dabei nur als ältere Form und weitere Facette des Spektakels interpretiert. Unter anderem im Feld der Mode waren nach dem Zweiten Weltkrieg grosse Veränderungen der Gesellschaft im Gang. Die Sechzigerjahre markierten deshalb einen Umschwung in der Geschichte des Defilees. Pierre Bourdieu meinte zur Antriebskraft dieser Revolution folgendes: "So hat jedes Feld seine eigenen Formen von Revolution, seine eigene Zeitrechnung. Und die Schnitte in den verschiedenen Feldern verlaufen nicht unbedingt synchron. Dennoch haben die spezifischen Revolutionen einen Bezug zu externen Veränderungen. Warum hat Courrèges eine Revolution gemacht und wodurch unterscheidet sich dieser von ihm eingeleitete Wandel von dem Wandel, der jedes Jahr in Gestalt kürzerer oder längerer Röcke eingeläutet wurde? Courrèges Diskurs geht weit über die Mode hinaus: Er spricht nicht mehr von Mode, sondern von der modernen Frau, die frei sein soll, ungezwungen, sportlich, und sich wohl fühlen muss. Meiner Meinung nach ist eine spezifi- 28 Evans Caroline, 2003, S. 67 35 sche Revolution, also das, was in einem bestimmten Feld Epoche macht, in Wirklichkeit die Synchronisierung einer internen Revolution mit irgendeiner externen Veränderung in dem das Feld umgebenden Universum. … Der ständige Kampf im Inneren des Felds ist der Motor des Felds. Man sieht nebenbei, dass es zwischen Struktur und Geschichte keinerlei Antinomie gibt und dass das, was die Struktur des Felds ausmacht, wie ich sie sehe, auch das Prinzip seiner Dynamik ist."29 Diese beiden Positionen möchte ich vereinen, indem ich die Fashion Show als 'getarntes Kommerzspektakel' und als Bühne der zweiten Welle der Frauenbewegungen (Studentenbewegungen, 1960er Jahre) gleichwohl verstehe. Die Modenschau wurde Teil, bzw. Erweiterung des Kommunikationskanales des Esprits eines Couturiers. Designer wie Mary Quant, André Courrèges #42, John Bates (die drei Erfinder des Minis – Mary Quant benannte ihn nach dem Auto), Jacques Esterel, Emmanuelle Khan #38 oder Paco Rabanne #41 #44 entwickelten eine Ästhetik, die sich von allem zuvor Gesehenem abhob. Musik erhielt einen sehr viel wichtigeren Stellenwert und verhalf dem Defilee zum Spektakel, zum Happening, welches alle Sinne ansprechen sollte. Nebst den Entwürfen selbst entschied das Urteil über die Präsentation wesentlich über den Erfolg einer Kollektion, das Defilee als Marketinginstrument war geboren. Nach 1967 gewann die Modenschau derart an Bedeutung, dass ein neuer Berufszweig entstand: Die Regie der Modenschau. Der Fashion Show Produzent fand in Norbert Schmitt und Bernard Trux seine erste Verkörperung. Das revolutionär neue, aktive Frauenbild bedeutete gleichzeitig die Abwendung von einem älteren Etikett wie zum Beispiel jenem von Balmain oder Chanel #48. Bei Chanel verhinderte Cocos Ansicht, das Knie sei das hässlichste Körperteil einer Frau, den Gleichschritt mit dem Mini. Nach Gabrielles Tod suchte man eine Nachfolge, was auch Thema in Boulevardmagazinen wurde. Pierre Bourdieu analysierte diese und erwähnte das Thema in einem Vortrag über die Beziehung von 'Haute Couture und Haute Culture'. Das Thema der Nachfolge Chanels lässt sich auch auf das Wesen der Mode selbst übertragen (Verweis Zitat S. 18): "…und dieser Kampf mündet in den fortwährenden Sturz des Überwundenen in das Gestern. Damit kommen wir zu einem anderen Problem, nämlich dem der Nachfolge; … Wie verwandelt man das Auftreten des Einzigartigen, das die Diskontinuität in ein Universum bringt, in eine Dauereinrichtung? Wie macht man etwas Diskontinuierliches zu etwas Kontinuierlichem?"30 Gasthon Bertholot übernahm 29 Bourdieu Pierre, 1974. In: Eismann Sonja, 2012, S. 120. 30 Bourdieu Pierre, 1974. In: Eismann Sonja, 2012, S. 122. 36 nach Cocos Tod 1971 bis 1973 die künstlerische Verantwortung des Hauses Chanel, scheiterte jedoch nach kurzer Zeit, da er unter den konservativen Bedingungen, welche ihm von den Besitzern des Konzerns, der Familie Wertheimer, gestellt wurden, unvermeidlich scheitern musste (Ausführungen zu Chanel siehe Kapitel 4). Das Erschaffen von Neuem ist also zwangsläufig mit der Abwendung vom Alten verbunden. Pierre Cardin, als weiterer wichtiger Vertreter der Nachkriegszeit, durchbrach die strikten Regeln der Haute Couture mit seiner ersten Prêt-à-Porter Kollektion, die er 1959 im Einkaufszentrum 'Printemps' in Paris zeigte. Ein Jahr später folgte die erste Männerkollektion, welche eine völlig neue Silhouette vorschlug, 1961 die erste männliche Prêt-à-Porter Kollektion. Sie wurde von Studenten vorgetragen, da es den Beruf des Männermodels noch nicht gab. Die Ready-to-wear Mode und ihre aufstrebenden Designer verfügten nicht über Präsentationssalons, weswegen sie sich kollektiv organisieren mussten und häufig ungenutzte Orte wie Theater, den öffentlichen Raum oder Künstlerateliers besetzten #47. Die Prêt-à-Porter ist übrigens insofern Gegenpol zur Haute Couture, da sie nicht nur als Einzelstück gefertigt, sondern für ein breiteres Publikum von der Stange gekauft werden kann. Auch die Shows richteten sich nicht an ein exklusives Privatpublikum sondern an die Presse und professionelle Käufer. 1966 trat Pierre Cardin aus der Haute Couture Zunft 'Chambre Syndicale de la Haute Couture' aus, weil sie eine dreissigttägige Sperre auf die Veröffentlichung von Fotografien der neuen Kollektionen legten, um Modemagazinen exklusive Lizenzen für diese geben zu können. Die Dominanz von Mode in der Nachkriegsgesellschaft wird auch im Film von William Klein 1966 'Qui êtes vous Polly Maggoo?' reflektiert #43. Darin erzählt Klein, ursprünglich Modefotograf, die skurille Geschichte eines aus Amerika kommenden , erfolgreichen Models im Paris der 60er Jahre. In der Fernsehsendung 'Qui êtes vous' wird sie von verwirrten Medienleuten portraitiert. Auf oft sarkastische und melancholische Art und Weise wird der sinnentleerte Modezirkus im Rampenlicht der Medien beleuchtet. Was bereits Coco Chanel früh erkannt hatte, wurde zunehmend auch von anderen Modehäusern umgesetzt: Nebenprodukte wie Accessoires, Kosmetika und Parfums wurden für die Couture zur eigentlichen Einnahmequelle. Die Couture Shows entwickelten sich, v. a. im Zuge der Prêt-à-Porter zu einem Marketing – anstatt Verkaufszweig. Dies wirkte sich auf die Rolle des Models aus. SchauspielerInnen und Salonlöwen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Modefotografie wichtiger als professionell ausgebildete Mo- La Société du Spectacle 37 delle in den Modeboutiquen. Bis zu den 70er Jahren blieb dieser Unterschied zwischen Fotomodell und Laufstegmodell bestehen. Danach aber begann diese Grenze zu schwinden. Als Paradebeispiel hierfür gilt Jerry Hall, die ihre Performance von der Bühne ins reale Leben übertrug und ihre Person somit zu einem Gesamtbild stilisierte. Das Model als Showgirl wurde zum Idol mit Persönlichkeit. Die Models wurden auch auf dem Catwalk weitaus aktiver, zogen nicht nur Handschuhe an und aus, sondern tanzten und schauspielerten. Nebst den zwar dominierenden weissen Models heuerten Designer zunehmend exotische Frauen an, als wäre der Exotismus Luciles' und Poirets' orientalischer Fantasien vom Kleid auf den Körper übergegangen (wie auch der Begriff des Modells). Die Verkürzung der Modenschau stellte einen weiteren Bruch mit Konventionen der Modebranche dar und setzte sich nach der ersten Show Mary Quants in Paris 1963 durch. Quant war sowohl bzgl. der Inszenierungsart als auch des Modestils die Gegenspielerin von Coco Chanel. Ähnlich wie Chanel aber benutzte sie nicht nur Qualitätsware. Sie setzte als erste Designerin bei ihrer Wet-Collection PVC ein. Mit Twiggy führte sie passend zum revolutionären Mini einen neuen Frauentyp ein #39. In den späten 60er Jahren änderte sich mit ihr das Schönheitsideal der Frau, ihrer Kleidung und der Räume drastisch. Die Space Age Mode von Courrèges leitete spätestens ab 1964 auch in Paris diese neue Ästhetik ein #42. Die Modejournalistin Brigid Keenan fand sich beim Auftritt der Models an einer Modenschau in folgendem Raum wieder: "…a stark modern room with white vinyl walls and white boxes to sit on. Loud beat music …girls with cropped hair, freckles, suntans and wide grins came pounding out wearing skirts inches above the knees…".31 Extravagante Inszenierungen nahmen weiterhin ihren Lauf: Yves Saint Laurent liess 1968 ein Model laufen, dessen Brüste durch eine semitransparente Bluse sichtbar waren #45. Ossie Clark zeigte seine Kollektion auf einem Hausboot und die Models setzten sich zwischendurch zum Publikum auf die türkischen Teppiche am Boden, um einen Zug von einem Joint zu nehmen. Paco Rabannes Mode wurde von elektronischer Musik begleitet. Die spektakuläre Modenschau von heute hat ihre Anfänge deutlich in den 1960er Jahren und veränderte viele Mechanismen in der Modeindustrie, wie das Aufkommen von Prêt-à-Porter und Herrenmode. 1971 wurde die Vereinigung 'Créateurs et Industriels' gegründet. Ihr Anliegen, junge Talente und Fabrikanten zusammenzubringen, brachte eine neue Art von Kreativen hervor, der Designer löste den Couturier im Prêt-à-Porter Segment ab. 1973 brach Issey Miyake 31 Keenan Brigid, 1964. In: The enchanted spectacle, 2001, S. 280. La Société du Spectacle 38 weitere Regeln: er zeigte auf Einladung der 'Créateurs & Industriels C&I' seine Kollektion an einem Sonntag, es war ein 10- bis 17-stündiges Happening. In den 1970er Jahren brachten mehrere japanische Designer, beispielsweise Kenzo, eine neue Form der Show nach Paris: viermal grösser, runde Bühne, weisses Filmlicht, Fotomodelle anstelle von Runwaymodels #49. Ähnlich wie Mary Quant liebte Kenzo Improvisation und wies die Models lediglich an, Spass zu haben und glücklich auszusehen. In Japan waren derart grosse Spektakel seit Mitte der 1960er Jahre erprobt: so 1970 organisierte Miyake dort eine Show für 12'000 Zuschauer. Nach dieser oft auch kontrovers diskutierten Veränderungen waren viele Regeln gebrochen und die Modenschau konnte sich weiterhin expandieren. 39 Neoliberalismus Nach 1980 verhalf stetig wachsendes Wirtschaftswachstum und die Feier des Individuums den DesignerInnen weiterhin exklusive Kreationen als erstrebenswertes Gut in spektakulären Architekturinszenierungen erfolgreich zu vermarkten. Die Show und die Kleidung zusammen, das gesamte Erscheinungsbild erzeugten den 'Total Look'. Nebst positiven Möglichkeiten führten auch negative Aspekte zur Mehrinvestition in die Modepräsentationen. Die Multiplikation von Modenschauen, so waren es 1986 bereits 239 Shows an der Fashion Week in Paris,32 zwang die Modehäuser ihren Eindruck auf das Publikum zu erhöhen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Von da an wurde die räumliche Inszenierung mit Details wie Ortswahl, Rahmen, Bühnenbild, musikalische Illustration, Lichtstimmung und weiteren Elementen wie Gegenständen (Props), Accessoires und Projektionen so wichtig wie die Kollektion selbst. Das wirkte sich auch auf die Rolle des Designers aus, der vom Modeschöpfer zum Art Director und multimedialen Genie avancierte, mit für ihn in den entsprechenden Subkategorien arbeitenden Spezialisten. Die Demokratisierung der Modenschau erreichte ihren ersten Höhepunkt 1984 mit der hollywoodesquen Show Thierry Muglers im Zenith-Palast Paris, die als erste für eine Öffentlichkeit von 6000 Zuschauern wie ein Konzert buchbar war (Tickets waren bei FNAC erhältlich, Studentenrabatt wurde angeboten) #51. Damit wurde die Modenschau zur Massenunterhaltung und durchbrach die bis dahin noch weitgehend konforme Schranke der Exklusivität. 1995 setzte Thierry Mugler zum zwanzigjährigen Jubiläum ein weiteres Zeichen mit einer fast einstündigen, exorbitant teuren Show, die direkt über das Fernsehen übertragen wurde und damit für jeden gleichwertig zugänglich war. Ähnlich wie Muglers waren in den 1980ern und 90ern Claude Montanas Schauen mit Trockeneis und B-Movie Ästhetik überladen. So erhielten sie Rockkonzertcharakter und der Beruf des Modenschauenproduzenten gewann an Wichtigkeit. Yves Saint Laurent, die Verkörperung der französischen Mode schlechthin , schaffte es 1998 durch die Präsentation seiner Kollektion an einem Massenevent, dem Fussball Weltcupfinale im 'Stade de France' vor 80'000 Zuschauern – eigentlich sogar der ganzen Welt, da der Event ebenfalls im Fernsehen ausgestrahlt wurde – ein noch breiteres Publikum zu erreichen #61.33 Der starke Einfluss der Populärkultur und der Musik, zeigte sich auch bei der aus der Punkbewegung kommenden Vivienne 32 Vgl. Showtime, 2006, S. 168. 33 Vgl. Showtime, 2006, S. 169. 40 Westwood (*1941), die ihre Models vorwiegend in Nachtclubs entdeckte #50. Ihre Setdesigns waren entweder zurückhaltend, anarchistisch in ruinenartigen, verlassenen Räumen situiert oder sehr eklektisch ausgestattet. In den 90ern wurde auch Martin Margiela bekannt für seine speziell ausgewählten Örtlichkeiten, mit denen er vorwiegend Probleme der postmodernen Grossstadt thematisierte. An die urbane Umnutzung industrieller Gebäude angelehnt, wählte er ausgediente Theater, Supermärkte, Autoparkplätze oder Fabrikgebäude. Zudem entwickelte er die Promotion von Kleidung im öffentlichen Raum weiter, als er Models anonym in weissen Couturierkitteln auf die Strasse sandte oder bei seiner Kollaboration mit H&M Werbung in der Ästhetik von Protestbannern inszenierte. Anstelle von Models setzte er auch schon Dummys, Puppen oder schlichte Hänger, von Assistenten getragen, ein. Das bewegte Bild ermöglichte es Paul Poiret zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Modelle bei Modenschauen in Paris aufzunehmen und diese im Sinne von Werbefilmen bei Tourneen zur Vermarktung seiner Kollektion einzusetzen. Newsreels, Fernsehbeiträge bis hin zum Format der Modefernsehsendung #52 veränderten das Modebusiness nachhaltig. Heutzutage müssen die DesignerInnen mit dem Internet und YouTube genauso umzugehen lernen, wie Elsa Schiapparelli den Umgang mit dem Skizzieren während ihren Shows regulieren musste. Die Massenmedien sind die Nachfolger der Öffentlichkeit an und für sich. Helmut Lang folgte 1998 diesem Credo und zeigte als erster eine Modenschau nur übers Internet. Der Fashion Week erteilte er so eine Absage und versandte stattdessen seine Kollektion auf CD gebrannt (anstelle einer Einladung) weltweit an Journalisten. Sehr stark konzeptuell arbeitende Marken bilden oftmals auch Analogien zur Bildenden Kunst. Issey Miyakes Shows waren wie Happenings, die seit 1971 ausserhalb von Tokio zweimal jährlich auch in New York stattfanden. 1988 fand eine Unisex Show in einer Art Schwimmbecken statt, in welchem die Modelle zum Schluss herum planschten #54, und ein Jahr später inszenierte er eine Modenschau ausserhalb von Paris in der nicht mehr genutzten Metrostation 'Porte de Lilas'. Auf der einen Seite der Plattform standen dicht gedrängt die Zuschauer, auf der anderen Seite defilierten die Models. Zum Höhepunkt fuhr die Metro ein und trug die Modelle mit sich fort. Wie bereits im Kapitel 'La société du spectacle' beschrieben, stieg nach 1970 der Einfluss japanischer Mode in Europa, welche mit einer verstörend andersartigen Formensprache und einem irritierten aber auch faszinierten Blick wahrgenommen wurde. 1981 mischte Rei Kawakubo (*1942) mit ihrer ersten Comme des Garçons Kollektion die Pariser Modesze- Neoliberasmus 41 ne heftig auf. Ihre asexuelle Antimode korrumpierte das Grundprinzip der Mode, jenes der Verschönerung #58. Sie stiess mit ihrer dekonstruierten 'Armenmode' und einer verstörenden Inszenierung teilweise auf Anfeindung. In die Kategorie stark konzeptuell arbeitender Designer ist auch Alexander McQueen einzuordnen #67. Seine Show 'Voss' (AW 2000/01) war die Inszenierung von Mode in einem komplexen Zeichensystem (sub-)kultureller Codes. Er spielte darin in drei Szenen mit un-/gewohnten Sinneseindrücken: In der ersten war das Publikum gezwungen eine Stunde auf den Start der Show wartend sich selbst in einem verspiegelten Glaskubus zu betrachten. Das sich private Selbstbetrachten wurde zur öffentlichen Erfahrung, zum Sehen und Gesehen werden. In der zweiten Szene wurde der doppelt verspiegelte Raum hell erleuchtet und zeigte das eigentliche Bühnenbild mit einem Raum im Raum, einem weiteren Kubus aus Rauchglas darin. Models betraten nacheinander den Raum und dem Publikum wurde mit der Zeit klar, dass diese lediglich ihr Spiegelbild sahen. Damit überblendete McQueen Selbst- und Fremdbild ineinander. Die Mode selbst nahm Bezug auf die Natur, wie auch der Titel der Show 'Voss' (eine Gemeinde in Norwegen, bekannt für dort lebende exotische Vogelarten, aber auch das niederländische Wort für Fuchs) andeutet. Die Natürlichkeit als Ideal brach mit der räumlichen Kulisse, was vor allem in der dritten Szene zum Ausdruck gebracht wurde: nachdem die Models ihr Umherirren beendet und den Raum verlassen hatten, fiel der innere Raum auseinander. Dessen vier Wände fielen zur Seite, zerschellten am Boden und machten den Blick auf das It-Girl Michelle Olley frei. Das Bild referierte sowohl auf Joel Peter Witkins Gemälde 'Sanitarium' von 1983, als auch auf Tizians 'Venus von Urbino' und machte damit McQueens Statement deutlich, nämlich dass ästhetische Ideale immer wieder neu verhandelt werden müssen. Selbst- und Fremdwahrnehmung, Begehrensstrategien der Fashion Show und die Ästhetik der Vergänglichkeit wurden in einem höchst verdichteten, komprimierten Spektakel zusammengebracht.34 Auch John Galliano hatte die narrativen Elemente – ähnlich jener Luciles oder Paul Poirets Modenschauen – wiederentdeckt, indem er für jede Show fiktive Charaktere erfand und um diese ein Gedankengebäude errichtete. Er war nach 1984 aktiv und von 1997-2011 Chefdesigner bei Dior. Häufig auch als Kostümdesigner bezeichnet, wurde er zum Experten dramaturgischer, cinephiler Inszenierungen schlechthin. Seine Handschrift trägt deutlich jene des Theaters: sie erinnert an Kostümbälle, Themen34 Vgl. Lehnert Gertrud, 2012, S. 75-85. 42 parties und Opernaufführungen mit aufwändigen Kulissenbauten #73. In dieser Weiterführung von Spektakel und Exzess kann man John Gallianos auf Wasser gehenden, in Goldregen getauchten oder blut- und dreckverschmierten Models, sowie Alexander McQueens Shows der 90er in London sehen. Das Showgirl auferstand in den 1990ern vor allem durch Gianni Versaces (*1946-1997) Förderung der Supermodels. 1991 brachte er dies mit gleichzeitigem Laufstegauftritt von Naomi Campbell, Christy Turlington, Linda Evangelista und Cindy Crawford zu George Michaels Freedom mimend – wie auch im Musikvideo – zum Höhepunkt. Jean Paul Gaultier (*1952) schickte provokant, aber auch humorvoll Transvestiten, Models allen Alters oder ganz normale Menschen mit 'Body Modifications' auf den Laufsteg. Gaultier begann 1970 als Assisten bei Cardin, nach 1971 arbeitete er als Assistent des Chefdesigners bei Jean Patou, bis er 1978 sein eigenes Label gründete. Mit seiner oftmals untragbaren Mode (ausser vielleicht jene im Auftrag für den Discounter Target) wurde er schnell zum Enfant Terrible der Modebranche. Er entwarf auch für den Film #53 (z. B. 'The Fifth Element' von Luc Besson oder 'The cook, the thief, his wife and her lover' von Peter Greenaway) und für Prominente wie Madonna, Kylie Minogue oder Lady Gaga. Hussein Chalayan (*1970, britischer Designer mit türkischen Wurzeln) hingegen ist bekannt für seine architektonischen Bauten, Installationen mit Avantgardemusik und Chören #69 #74. In seiner Show für die Sommerkollektion 1998 thematisierte er das polemische Thema des Tschadors (persisch für Zelt; ein großes, meist dunkles Tuch in Form eines umsäumten Halbkreises, das von muslimischen Frauen als Umhang um Kopf und Körper gewunden wird und lediglich das Gesicht oder Partien des Gesichtes frei lässt. Er wird in der Öffentlichkeit über der übrigen Kleidung getragen, vorwiegend von konservativen Frauen). Am Anfang der Show waren seine Models nur am Kopf bedeckt – anonymisiert – und erst im Verlauf der Show zunehmend total bedeckt #57. Viktor & Rolf nehmen eine weitere Extremposition ein, da ihre Mode oft untragbar ist #66. Sie gelten als meisterhafte, zeitgenössische Regisseure des Modespektakels, bei welchem die Mode in Bezug auch Kommerzialisierung und Vermarktung eine dem Konzept untergeordnete Rolle spielt. Dabei untersuchten sie auch gerne unterschiedliche Modalitäten der Wahrnehmung, wie in ihrer Show 'Blacklight' SS 1999 #65. Ultraviolettes Licht liess in der ersten Hälfte der Schau nur weisse Teile der Kleidung erkennbar werden und wurde im zweiten Teil mit weissem Bühnenlicht völlig anders beleuchtet bzw. wahrgenommen. Walter Benjamins Begriff Neoliberasmus 43 der 'Aura' für Kunstwerke wurde in den 80er und 90er Jahren auch im Bereich Mode vom Materiellen losgelöst und verkam zur Vision des Designers. Aus dem Wort Défilé (dt: Defilee, Vorbeimarsch, Parade) zum heute weitaus gebräuchlicheren Ausdruck Fashion Show wird deutlich, dass die Modenschau sich von einem blossen Vorbeischreiten zu einem Spektakel entwickelt hat. Heutzutage werden für die Organisation einer Modenschau von 1 bis zu 10 Millionen Euro in die Hand genommen. Wichtig ist nicht nur die Mode, sondern das Ensemble von diversen Details wie Aufführungsort, Set Design, Schminke, Coiffure, Models, deren Körpersprache, Accessoires, Musik und der daraus resultierenden Atmosphäre. Somit liegt es an diesem Event, eine Marke zweimal jährlich als einzigartig von seiner Konkurrenz abzuheben und ihre Identität zu kommunizieren. Das Verhältnis von Mode und Spektakel ist nicht alleine von kommerziellem Belangen, sondern auch geprägt von der kumulativen Abhängigkeit von Image, Identität und Identifikation. Diese mobile, durchlässige, wandelbare Idee von Identität ist vor allem durch den 'flux of the crowd'35 der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt, die sich durch eine gewisse Amoralität und ein fehlendes Klassenbewusstsein auszeichnet. Die Modenschau des späten 20. Jahrhunderts kann gemäss Caroline Evans als Theatralisierung sozialer Realität interpretiert werden: "Social fluidity has been associated with metropolitan fashion since the eighteenth century, if not before, and the fluidity that has characterized the fashion audience since 1900 reflects the fluidity of fashion itself in this period. The amorality and lack of class consciousness that Marx ascribed to the nineteenth-century lumpenproletariat is also a characteristic of the twentieth-century fashion crowd. The flux of the crowd (a key trope of literary modernism in the writings of Baudelaire and Benjamin) can be identified in the heterogeneity of the fashion audience; and, I would argue, it was further played out in the 1990s in the form of a renewed interest in the idea of identity as fluid and mobile. In this context, the fashion show in the late 1990s, while continuing to function commercially as spectacle in an increasingly visualized global market, could, at the same time, be understood as a form of theatricalization of social reality and of the self."36 Über ein Jahrhundert hinweg entwickelte sich die Fashion Show aus dem kommerziellen Theater zu einem Event mit performativem Charakter (der Begriff der Performativität der Geschlech35 Evans Caroline, The enchanted Spectacle, S. 305. 36 Evans Caroline, The enchanted Spectacle, S. 305. Neoliberasmus 44 ter resultiert in Judith Butlers Theorien aus dem Zusammenspiel von politischen, performativen und theatralen Performances.) So Caroline Evans: "If the early twentieth century saw the fashion show evolve out of commercial theater, the close of the century saw commercial fashion evolving into an approximation of what the academic Judith Butler has termed 'performativity’. The fashion show, with its emphasis on novelty and spectacle, became a switching station for postmodern identities."37 Und eben diese Darstellung von Identität oder Geschlecht lokalisiert Foucault bereits bei Baudelaires Dandy. Rhonda Garelick und Caroline Evans interpretieren die Nachfolge des Dandys als Celebrity und schliesslich in der Rolle des Supermodels: "…who makes of his body, his behaviour, his feelings and passions, his very existence, a work of art. Modern man for Beaudelaire is not the man who goes off to discover himself … he is the man who tries to invent himself."38 Es geht also sowohl bei der Modenschau als auch bei Populärkultur allgemein um die Ästhetisierung des Selbst. Die Messlatte für Aufmerksamkeit erregende Inszenierungen von Mode ist gestiegen. In der kurzen Zeitspanne der Fashion Weeks, ein Monat je Saison, finden hunderte von Schauen statt. Die Rolle der Modenschau entwickelte sich von einem geschlossenen, sozialen Event zwecks direkten Verkaufs der Ware (oder der Lizenzen) zu einem medienwirksamen Ritual. Es prägt heute die Kommunikation, das Image einer Marke auf Lang- und Kurzzeitbasis. Die Schau wird strategisch geschickt für die Herausbildung der Markenidentität als live Event organisiert. Genauso wie der Dandy in den Strassen der modernen Grossstadt sein Selbstbild ästhetisierte, konstruiert eine Marke mystifizierte Persönlichkeiten, seien es nun Supermodels oder Designer. Diese verkörpern gleichermassen die Experten flüchtiger Vergnügungsmomente. Sie führen auf der zeitgenössischen Bühne des Catwalks eine Performance mittels mehr oder minder oberflächlichen Gesten und Details in der räumlichen Ausprägung auf. Wie aus Gabrielle Chanel die von Mysterien umworbene Marke wurde und wie Karl Lagerfeld die geheimnisvolle Aura dieses Werkes aufrecht erhält und vor allem räumlich übersetzt, werde ich in den kommenden beiden Kapiteln näher betrachten.39 37 Evans Caroline, The enchanted Spectacle, S. 305. 38 Foucault Michel. In: The enchanted spectacle, S. 306. 39 Anmerkung: Verweis auf die Ausstellung Mythos Chanel, Museum für Kunst und Gewerbe, 2014. Begleitende Publikation Spitz Maria, 2013. 45 Chanel kontextualisiert Die Anfänge von Chanel Letztes Jahr feierte das Haus Chanel sein hundertjähriges Bestehen mit der Eröffnung des ersten Geschäfts von Gabrielle Bonheur Chanel (*1883-1971) in Deauville in der Normandie 1913. Chanel gehört heute den Nachkommen ihres einstigen Geschäftspartners Pierre Wertheimer (*1888–1965). Angefangen hat Gabrielles Leidenschaft für das Nähen nach ihrem siebenjährigen Aufenthalt in einem Kloster, wo sie durch eine sehr strenge Erziehung stetig Nüchternheit und Disziplin ausgesetzt war. Diese Jahre prägten vermutlich vor allem ihr ästhetisches Empfinden und brachten ihre Vorlieben für Schwarz, Weiss, gerade Linien und Einfachheit hervor. Nach dieser asketischen Phase stürzte sie sich in das Grossstadtleben von Paris und liess sich zur Näherin ausbilden. 1909 eröffnete sie dort eine Hutboutique, die schnell an Beliebtheit in der High Society gewann. 1910 bezog sie ihr Atelier an der Rue Cambon 21 und nannte es 'Chanel Modes'. Nach Deauville eröffnete sie ihre zweite Boutique im mondänen Biarritz, 1918 folgte die erste Boutique in Paris an der Rue Cambon 31, wo Chanel noch heute den Hauptsitz und die Ateliers der Haute Couture hat. Bereits 1919 trat sie dem Schneidermeisterverband 'Chambre Syndicale de la Couture Parisienne' bei. Paul Poiret war ihr ärgster Rivale, der ihre Mode abschätzig als 'Armuts-Luxus' bezeichnete.40 Revolutionär waren für die damalige Zeit ihr Verzicht auf Korsette und die Fertigung androgyner Schnitte, deren Inspiration von Männerkleidung, Armeeuniformen, Sportbekleidung und maritimer Mode herrührte. 1925 ist das Geburtsjahr einer Cardiganjacke ohne Revers aus Tweed, welches bis heute als mit Bordüren besetztes Bouclé Kostüm endlos variiert wird, das Chanel Kostüm. 1926 folgte das 'Kleine Schwarze', 1924 ergänzt durch eine Schmuckkollektion und eine Parfumlinie (obschon Chanel No. 5 der meist verkaufte Duft aller Zeiten bereits 1922 in Zusammenarbeit mit dem Chemiker Ernest Beaux kreiert wurde). Als Chanel-Ikonen gelten bis heute folgende Produkte: die Chanel Jacke (der Tweedanzug), der Duft Chanel No. 5, diverser Modeschmuck (v. a. falsche Perlenketten), das Kleine Schwarze, Chanel 2.55 (ein abgesteppte Handtasche mit Kettenträger, im Februar 1955 lanciert), die Seglerhose, das Marineshirt, abgesteppte, zweifarbige Ballerinas, eine schwarze Schleife und das Cameliamotiv. Auch in der Modenschaueninszenierung werde ich immer wieder auf diese 'éléments éternels', wie sie Karl Lagerfeld nennt, zurückkommen. 40 Vgl. http://www.vogue.com/voguepedia/Chanel#cite_note-2, Zugriff: 02.05.2014. 46 1935 zählte Chanel bereits 4000 Angestellte und verkaufte trotz Weltwirtschaftskrise 28'000 Kleidungsstücke. 1939 stellte Coco die Haute Couture wegen des Krieges ein. Nach Vorwürfen der Kollaboration mit Nazideutschland zog Coco bis 1954 in die Schweiz. Nach Uneinigkeiten mit Wertheimer wurde deren Kollaboration erst 1947 erfolgreich fortgesetzt und bei ihrer Rückkehr nach Paris 1954 mit einer zuerst in Europa wenig erfolgreichen Kollektion eingeläutet. Wertheimer hatte jedoch Zuversicht und finanzierte weitere Kollektionen, die auch dank dem Erfolg in Amerika bald zunehmendes Gehör in Europa fanden. Wertheimer kaufte Coco die Firma nach seiner Exilzeit in Amerika für 350'000 Dollar und einer jährlichen Beteiligung am Umsatz von 2% ab. Auch Anteile von Théophile Bader kaufte er auf, womit das Haus Chanel rechtlich den Wertheimers alleine gehörte. Bis zu ihrem Tod im Alter von 87 Jahren war Coco Chanel für die Kreationen des Hauses verantwortlich. Danach übernahm Gaston Berthelot 1971, der zuvor bei Dior gearbeitet hatte, wenig erfolgreich ihren Platz. Er wurde bereits 1973 bis 1982 mit wechselnden Designern ersetzt. Die erste Prêt-à-Porter Modekollektion von Chanel, 'Chanel Boutique', wurde 1978 unter der Leitung von Philippe Guibourgé mit mäßigem Erfolg präsentiert. Ein grosses Anliegen Gabrielle Chanels war die enge, vertraute, stetig treue Beziehung zu ihren Angestellten und Mitarbeitern. Hohe Qualität, Einzigartigkeit und raffinierte Techniken waren und sind bis heute für die Haute Couture von Chanel unabdingbare Auszeichnungen. Ein extremes Beispiel stellte die 75-jährige Madame Pouzieux dar, Expertin für Posamenter, Borten und Litzen, die von 1947 bis zu ihrem Ableben 2011 im Alter von 82 für Chanel arbeitete. Ihr Schaffen wird im Film 'Signé Chanel' von Loïc Prigent dokumentiert.41 Sie wohnte weit weg von Paris, auf dem Land, ihrem Hof, wo das Einbringen des Heus und die Pflege der Tiere vor Chanels Auftragsarbeit kam. Ihre Hauskatze hiess Coco. Die von ihr erfundene Technik war einzigartig auf der Welt; um für einen Stoff passende Borten anzufertigen, dekonstruierte sie das Textil, um durch die Anzahl Fäden je Farbe die Proportion zueinander für die passenden Borten auszurechnen. 41 Vgl. Dokumentarfilm 'Signé Chanel, Prigent Loïc, 2005. Chanel kontextualisiert Chanels Rolle in der Modewelt 47 Chanel ist ein Modehaus, das es geschafft hat über ein Jahrhundert ein Unternehmen mit traditionsreichen Erkennungsmerkmalen erfolgreich aufrecht zu erhalten. Nach Cocos Tod 1971 drohten diese identitätsstiftenden Merkmale zu verstauben. Ohne die Anwesenheit der Designerin schien ihre Aura verflogen und die Marke verkörperte kein frisches, sondern morbides Universum. Kein anderer vermochte es wie Karl Lagerfeld ästhetische Tradition und geistige Herkunft auf unsere pulsierende, kurzweilige Umwelt zu übertragen, dies auf den Laufsteg zu bringen und in ausdifferenzierten Shows produktiv zu machen. Der Mythos, welcher von Gabrielle Coco Chanel ausgeht, wurde von Karl Lagerfeld meisterhaft wiederbelebt und gelungenermassen mit Strömungen des jeweiligen Zeitgeistes verbunden. Lagerfeld gibt in mehreren Interviews und Dokumentarfilmen kund, dass er sich nur indirekt für die Vergangenheit und die Zukunft interessiert. Was er mit seinem Schaffen kommunizieren möchte, ist die Gegenwart. Chanel ist ein riesiges Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 2 Milliarden Dollar. Die Marke ist bezüglich der Haute Couture Schauen nur zweitrangig auf Profitabilität angewiesen, sondern generiert seine Einnahmen vorwiegend durch den Absatz von Nebenprodukten wie Accessoires oder Parfums. Die Haute Couture Kollektion hat heutzutage vorwiegend die Funktion als Marketinginstrument inne, somit kann Karl Lagerfeld jedem einzelnen Modell der Kollektion, wie auch dem Set Design, vollste Aufmerksamkeit widmen. So aufwändig seine kapriziösen Modenschauenkulissen und die einfallsreichen Marketingstrategien sein mögen, lässt sich diese Stärke auch als Schwäche interpretieren, denn die Entwürfe sind oft bloss eine gute Mischung, von Variationen, Interpretationen, Verschnitte des Gestern und Heute. Wie bereits erwähnt ist Chanel die Zusammenarbeit mit Partnern zu Lebzeiten sehr wichtig gewesen. Dieses Erbe scheint Chanel respektvoll zu wahren, was in der näheren Vergangenheit zur Übernahme vieler Partner geführt hat. Elf Bezugsquellen, darunter Barrie Strickwaren, Stickwaren Maison Lesange, Schmuckhersteller Goossens Paris, der Schuhmacher Massaro, die Hutmacherei Maison Michel, der Federproduzent Lemarié, der Knopfspezialist Desrues, das Blumenhaus Guillet und der Handschuhfabrikant Causse gehören heute zum Chanel Konzern. Doch nicht nur diese rein wirtschaftlichen Partner begleiten Chanel, sondern auch eine Reihe von Testimonials wie Inès de la Fressange, Claudia Schiffer, Vanessa Paradis, Nicole Kidman, Audrey Tatou und Keira Knightley, deren Gesichter zur Ausprägung der eigenen Identität instrumentalisiert werden. 48 Chanel Produkte werden nur in den eigenen Läden und wenigen ausgewählten Kaufhäusern im Luxussegment vertrieben. Konzernzahlen sind höchst geheim, geschätzt wir der Jahresumsatz von Experten auf 2 Milliarden pro Jahr. Wie auch ich keinerlei Chance hatte an Insiderinformationen der Firma zu gelangen, finden die meisten Ausstellungen über Chanel, Gabrielle oder Karl Lagerfeld ohne Einblick in die firmeninternen Unterlagen statt. Interviews mit Karl Lagerfeld, von unabhängigen Journalisten durchgeführt, werden zunehmend seltener. Sie werden, wie die Fashion Shows, vom Modehaus selbst initiiert und inzeniert, auf ihrer Internetseite platziert und somit gesteuert in die Blutbahn der Massenmedien intraveniert. Karl Lagerfeld und seine Vision von Chanel Karl Lagerfeld wurde 1933 in Hamburg als Karl Otto Lagerfeldt geboren. Sein Vater war Kondensmilchfabrikant und die Familie konnte durch ihr Wohlhaben die Kriegszeit auf dem Land, ihrem fast 500 Hektar grossen Gut Bissenmoor bei Bad Bramstedt verbringen. 1949 brach seine Mutter Elisabeth mit ihm nach Paris auf. Dort besuchte er eine 'Montaigne' Privatschule. Seit dem Tod seines Partners Jacques de Bascher 1983 lebt Herr Lagerfeld bevorzugt alleine, in einer seiner Stadtwohnungen, seine Landsitze hat er weitgehend verkauft. Seinem Ruf als Workaholic wurde er auch privat gerecht, als er ums Jahr 2000 über 13 Monate hinweg mit Hilfe der eigens für ihn erdachten 3D-Diät (Designer, Doktor, Diät :-) die seit dem Tod seines Partners sich angesammelten 42 kg abspeckte. Als Motivation gab er an, nur für sich selbst wieder schlank sein zu wollen, v. a. um die schönen, schmal geschnittenen Anzüge von Hedi Slimane für Dior tragen zu können. Ähnlich wie Chanel hat er seinen eigenen Stil und unverkennbare Markenzeichen wie sein gepudertes, weisses, zurückgebundenes Haar, einen weissen Vatermörderkragen, eine korrigierte Sonnenbrille, Autofahrer-Handschuhe und schmal geschnittene Jeans.42 Sowohl die Modewelt als auch die Kunstwelt sind von ihm fasziniert. Der Modebaron war bereits an über 7643 Ausstellungen vertreten, ihm allein wurden folgende gewidmet: 1989 fand eine erste Einzelausstellung in der AMSA Galerie in Hamburg statt, 1990 zeigte der Berliner Hamburger Bahnhof eine Werkschau, 2005 war eine Fotoausstellung in Apolda, Thüringen zu sehen. 2006 zeigt auch die C/O Gallery in Berlin Fotografien "Karl Lagerfeld – one man show". 2007 stellt die Langen Foundation 'konkret abstrakte' 42 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Lagerfeld, Zugriff: 14.04.2014. 43 Vgl. Museum Folkwang, 2014, S. 316. Chanel kontextualisiert 49 Fotos seines Werkes aus und 2008 initiiert er eine Fotoausstellung mit Bildern seiner Sicht auf 'Versailles à l'omble du soleil'. Dieses Jahr findet nun eine Ausstellung zu Karls interdisziplinärem Schaffen im Museum Folkwang in Essen statt 'Karl Lagerfeld – Parallele Gegensätze' und seine Arbeiten werden in der Ausstellung 'Mythos Chanel' in der Hamburger Kunsthalle integriert. Viele Ausstellungen entstanden nicht nur wegen seiner Arbeit bei Chanel, sondern auch Dank seines panoptischen Schaffens, welches sich von einer Sammlung historischer Plakate, einem regen Interesse an Buchkunst, Innenarchitektur und Produktdesign bis über ein reiches fotografisches Werk erstreckt. Das fotografische Werk erfuhr seine Initialzündung, als er bei Chanel mit den Ergebnissen der Pressemappefotos unzufrieden war. Daraufhin kaufte sein Mitarbeiter Eric Pfrunder eine Kamera und sagte zu Karl: "Lass uns das doch selbst machen!"44. Es stellte sich heraus, dass er grosses Talent für die Modefotografie bewies – und noch heute führt er die Shootings selbst durch. Karl Lagerfeld führt ein Kunst- und Gestaltungsverständnis der Avantgardisten des frühen 20. Jahrhunderts weiter, welches den Gegensatz von Kunst und Ware im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jh. anzweifelt. Dieses Kunstverständnis ist sehr stark geprägt von Literatur. Das Hauptthema seiner Arbeit als künstlerischer Fotograf ist die Schönheit, welche durch die Lektüre sowohl von Märchen als auch moderner Lyrik inspiriert wird. Ein gewagtes Thema in einer Zeit, in welcher der Modefotografie das Nobilitierte durch Alltagsinszenierungen zu entnehmen versucht wird. Walter Keller beschreibt Lagerfeld gar als Pop-Aristokraten: "Mit seinem umfassenden Kreativ- und Lebensansatz ist Karl Lagerfeld die Antwort auf die amerikanische Pop Art, eine Art Andy Warhol europäischer Prägung. Freilich mit mehr Bildung und Tiefgang. Ein 'homme de lettre' sowohl der heutigen Kunst wie auch der zeitgenössischen Populärkultur."45 Sein Modeschaffen bei Balmain (1955-57), Jean Patou (1958 -1963), zwei Jahre freiberuflichen Schaffens für Marken wie Mario Valentino, Krizia und die Discounter-Kette Monoprix, Fendi (seit 1965), Chloé (1963-1978, Chefdesigner von 1992-1997 bis Stella McCartney ihn ersetzte) und Chanel (seit 1983) prägen die Modegeschichte nach wie vor nachhaltig. 1974 gründete Lagerfeld in Deutschland unter dem Namen 'Karl Lagerfeld Impression' sein erstes eigenes Unternehmen, 1984 gründete er mit dem französischen Textilhersteller Bidermann sein eigenes Label 'Karl Lagerfeld', was 1988 von 'KL by Karl Lagerfeld' abgelöst wurde. Er war 44 Lagerfeld Karl. In: Musuem Folkwang (Hrsg.), 2012, S. 11. 45 Keller Walter. In: Musuem Folkwang (Hrsg.), 2012, S.16. 50 auch als Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst in Wien tätig (1980 bis 1984), seine Nachfolgerin war Jil Sander. Des Weiteren ging er unzählige Kooperationen ein. Mitunter 2004 als erster Designer, der für H&M eine Spezialkollektion entwarf. Gemäss Wikipedia war Karl Lagerfeld 2012 für 20 Kollektionen verantwortlich: für 10 bei seinen eigenen Marken, für alle 8 bei Chanel und für 2 bei Fendi. Interessante Details aus seinem Leben sind, dass Karl Lagerfeld 2007 eine Klage vor Gericht gegen Alicia Drake wegen der Veröffentlichung ihres Buch "The Beautiful Fall" verlor, da der Richter die darin vorkommenden Enthüllungen nicht als Verletzung von Lagerfelds Privatsphäre einstufte, auch da das Buch in Frankreich nicht verlegt worden ist. KL soll daraufhin alle Ausgaben in Paris aufgekauft haben. Im Epilog beschreibt Alicia Drake Karl Lagerfelds Designstrategie in den 90er Jahren folgendermassen: "At one point in the 1990s it seemed as if Karl was deliberately pushing the clothes to the furthest point of banality in order to produce a creative tension to blow up all those long-held, authoritarian Chanel dictates – style over fashion , less is more – and make the house his own."46 Auch schildert sie die langjährige Konkurrenzsituation zwischen Karl und Yves Saint Laurant. Damals äusserte sich Yves gar der Presse gegenüber kritisch zu Lagerfelds Arbeit und meinte: "…I don't understand it. At Chanel they put chains everywhere, leather straps. That poor woman must be turning in her grave…."47 Dieses Statement wurde seither etliche Male, in fast jeder neuen Kollektion auf fast ironische Art und Weise heraufbeschwört. Doch Tatsache ist, dass Karls Vision von Chanel perfekt zur MTV Generation passte und einen neuen Berufstyp zu prägen half, das Supermodel. Seine Privatbibliothek umfasst laut eigenen Angaben ca. 300'000 Bücher und seine Hauskatze Choupette verfügt über einen eigenen Twitter- und Facebook-Account. Mit Intelligenz, Witz und gleichzeitig intuitivem Gespür für das Zeitgenössische hat es Lagerfeld vollbracht, der in den Sechzigerjahren angestaubten Marke Chanel neuen Glanz zu verleihen. Coco Chanels Ansicht, das Knie der Frau sei ihr hässlichstes Körperteil überhaupt, liess es nicht zu, der im Kontext von Hippiekultur und Psychodelika aufkommenden Minimode nachzugehen. Dies änderte Lagerfeld radikal. Ihm wird zwar häufig vorgeworfen, er interpretiere lediglich die Ideen von Coco zeitgemäss neu, anstatt sie mit Eigenem zu erweitern, doch offenbar auf eine unkonventionelle Weise, die das Modehaus wieder zunehmend für ein jüngeres Publikum inte46 Drake Alicia, 2006, S. 362. 47 Laurent Yves Saint, 1991. In: Drake Alicia, 2006, S. 362. Chanel kontextualisiert 51 ressant machte. Eine Mischung aus fast enzyklopädischem Wissen über die Geschichte, vor allem der europäischen Kultur, aber ganz und gar keiner nostalgischen Haltung, sondern einem unsentimentalen, leidenschaftlichen Leben und Beobachten im Hier und Jetzt machen Karl Lagerfelds Persönlichkeit für die Öffentlichkeit zum Faszinosum. Im Dokumentarfilm 'Lebensskizzen' von Loïc Prigent, gedreht 2012, wird deutlich wie scharfsinnig Lagerfelds Gedächtnis ist, und dass das Motto "Nulla dies sine linea – kein Tag ohne Linie"48 von Plinius dem Jüngeren direkt auf ihn übertragbar ist. Seinem Talent, Ideen durch sekundenschnell angefertigte Skizzen zu kommunizieren, verdankt er auch den Beginn seiner Karriere, als er 1954 beim 'Concours de la laine' einen Entwurf für einen Mantel einreichte, gewann und dieser prompt durch Balmain produziert wurde. Daraufhin stellte Balmain den jungen Lagerfeld als Assistenten ein. In dieser Zeit baute er zuerst eine Freundschaft zu Yves Saint Laurent auf, die sich aber allmählich in Konkurrenz verwandelte. Zuerst zeichnete er in einem Team von Assistenten, stieg aber bald zum ersten Zeichner auf, da er angeblich die Arbeit aller erledigte. Seine Skizzen wurden für Chanels Modeimperium instrumentalisiert, indem qualitative Reproduktionen zu Marketingzwecken der Pressemappe beigelegt wurden. Auch für andere Zwecke illustrierte er, so z. B. für die 2010 erschienene Biographie Coco Chanels. Lagerfelds Arbeit ist geprägt von Humor, Leichtigkeit und Spontaneität. Obwohl jedes Detail einer Kollektion und dazugehöriger Kampagne durch seine Hände geht, propagiert er keinen Geniekult. Denn zu den visionären Erneuerern des Modekosmos' – wie einer Coco Chanel, eines Yves Saint Laurent oder einer Rei Kawakubo – gehört er eher nicht. An die Stelle der Entwicklung eines ikonischen Stils hat er die Ikonisierung seiner eigenen Erscheinung und Person gesetzt und führt somit das Erbe Gabrielles facchkompetent weiter. 48 Vgl. Dokumentarfilm 'Karl Lagerfeld: Lebens-Skizzen, Prigent Loïc, 2012. 53 Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt: Eine exemplarische Analyse am Beispiel von fünf Chanel Shows — Eine Einführung Die räumlichen Elemente der Modenschau sind die Wahl des Ortes, der Rahmen der Show, die Architektur des Gebäudes, die Positionierung des Publikums im Raum, jene der Bühne, die Ausgestaltung der Bühne mit Accessoires und wie sich diese zueinander und den sich darin bewegenden Modellen verhalten. Diese Elemente werde ich in meiner Analyse zuerst möglichst objektiv beschreiben, dann in einen Kontext einbetten und schliesslich bewerten. Ginger Gregg Duggan teilt in ihrem Artikel über das Verhältnis von Bildender Kunst, Performance Kunst und Mode die Modenschauen und deren Designer in fünf Kategorien: (Spektakel), (Substanz), (Wissenschaft), (Struktur) und (Stellungnahme).49 Diese fünf Positionen werde ich im nächsten Absatz genauer erläutern, um das Verständnis von Chanels Rolle in der Modewelt zu erleichtern. Duggan spricht dabei von einer Modeszene, die vor allem in der Tradition von Performances der 1960er und 70er Jahre angesiedelt ist und einen Hybrid von Kunst und Performance, hervorgebracht hat.50 Bei steht das Konzept der Kollektion im Vordergrund51, welchem bei extravaganten Vorstellungen mit Hilfe von Musik, Gegenständen, Licht und Handlungen Ausdruck verliehen wird, das Kleid ist nur ein Teil der Schau. DesignerInnen dieser Kategorie erregen vorwiegend mittels dieser Aufsehen: "Designer shows that fall into the category of spectacle are closely connected to the performing arts of theater and opera, as well as feature films and music videos. As with stage performances, shows created by spectacle designers feature far more than garments. In most cases, they read as mini dramas, complete with characters, specific locations, related musical scores, and recognizable themes. Often, the only element setting fashion shows apart from their theatrical counterparts is their fundamental purpose—to function as a marketing ploy."52 Alexander McQueen und John Galliano sind nebst kommerzielleren und weniger dramaturgisch ausgearbeiteten Positionen wie Chanel namhafte Beispiele. zeichnen sich durch eine hohe Wertung von Prozess und Performance aus. Das Konzept und gesellschaftlich relevante Themen und Rituale manifestieren sich in sehr 49 50 51 52 Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 245ff. Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 243. Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 245ff. Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 244. 54 avantgardistischen Präsentationen. Diese DesignerInnen, z. B. Viktor & Rolf oder Hussein Chalayan werden vielmehr als KünstlerInnen wahrgenommen.53 Als gelten Junya Watanabe oder Issey Miyake, ebenfalls sehr konzeptionell arbeitende Kreateure, da ihre Werke aus technologischen oder wissenschaftlichen Errungenschaften hervorgehen. Auch neue Medien sind Teil ihrer Inspiration und begleiten deshalb oft deren Modenschauen. 54 Die Kategorie lässt sich räumlich bezüglich Präsentation im 'white cube' oder genereller formuliert in unbehandelten Räumen einordnen, um ihren formal oft ungewöhnlichen Kreationen höchsten Rang zu zugestehen und um auf das Verhältnis von Körper und Kleid zu fokussieren. Solche Designer wie Comme des Garçons oder Martin Margiela messen der Wertung von Form bei der Kreation ihrer Kleider mehr als der Funktion bei.55 Die letzte Kategorie der präsentieren politisch aufgeladene Shows, welche die Ideale der Marke zum Ausdruck bringen. Diese Shows sind Happenings und der Performance-Kunst der 1970er Jahre am nächsten. Auch damals wurden Happenings zu Vergnügungsevents trivialisiert und deshalb von Künstlern wie Alan Kaprow zu privaten, gar publikumslosen Events umgestaltet.56 Diese Strategie wählen auch Statement-Designer und verzichten allenfalls auf materielle Repräsentationsformen, wie Viktor & Rolf dies 1996 mit ihrem Statement "Viktor & Rolf on Strike” getan haben. Dafür versandten sie zum Anlass der AW Fashion Week in Paris Poster an die Medien und verteilten diese in der Stadt, anstatt eine Show aufzuführen. Seit der Übernahme der Art Direktion durch Karl Lagerfeld kann Chanel der Kategorie Spektakel zugeordnet werden: Obschon im grossen Stil geworben wird, oder gerade weil die Fashion Show Teil der Werbestrategie ist, steht bei der Inszenierung das Thema der Kollektion und die Leitlinien der Marke im Vordergrund. Mit diesen wird formal bewusst gespielt, auf eine dem Zeitgeist entsprechende Art und Weise. Karl Lagerfeld entwirft acht Damenkollektionen pro Jahr für Chanel, wobei nur sechs auf dem Laufsteg präsentiert werden. Seit 2006 zeigt Chanel zweimal jährlich auf dem Laufsteg zwei Haute Couture und vier Prêt-à-Porter Kollektionen des Hauses in Paris (zwei gewagtere, die nach sechs Monaten erhältlich sind und zwei klassischere, welche direkt in Verkauf gehen und nicht defiliert werden). 53 54 55 56 Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 250ff. Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 255ff. Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 260ff. Duggan Ginger Gregg, In: Fashion Theory, 2001, S. 263ff. Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt 55 Aufgrund der Größe und des Zuschauerfassungsvermögens des Grand Palais (die Shows finden im Nef, dem Hauptschiff des Grand Palais statt, es umfasst ca. 13'000 m2) gelten die Chanelschauen heute als Highlight der Pariser Modewoche. Die Fashion Week Paris markiert den Höhepunkt der Kalenderrituale in der Modewelt: die Defilees der Haute Couture Frauenkollektionen finden im Januar und Juli statt, jene der Prêt-à-Porter im Februar und September mit immer derselben Abfolge: New York, London, Mailand, Paris. Alle zwei Monate werden Chanel Boutiquen mit neuer Ware beliefert: die Marketingstrategie wird durch zwei weitere Kollektionen, die Cruise (Resort/Croisière, Pre-Spring) erweitert, die auf wohlhabende KundenInnen ausgerichtet ist, die es sich leisten können in den Wintermonaten auf Kreuzfahrt zu gehen (gezeigt im Mai, erhältlich im November) und die Métiers d’Art (Pre-Fall) Kollektion (gezeigt im Dezember, erhältlich im Mai). Diese Shows finden meist nicht in Paris statt, sondern ganz zeitgemäss verteilt über den Globus an Orten57, die nebst Paris eine starke Verbindung zum Leben von Mademoiselle Chanel haben. Solche Strategien verfolgen auch andere Marken wie Prada. Francesco Vezzoli (Konzeptkünstler und Filmemacher) beschreibt es folgendermassen in einem Interview mit Kaleidoscope: "I think it’s really fundamental for any kind of brand to be firmly grounded in the country where its roots are. That said, in order to exist and survive internationally, the brand must challenge its own creativity and strengths with different cultures. It’s the best way to start anew, explore new possibilities and constantly confront the new powers and ideas coming from different territories."58 Dieses Credo setzte Karl Lagerfeld in der jüngsten Modepräsentation der Cruise Collection im Mai 2014 in Dubai direkt um. Die gezeigten Modelle, die Musik und die Inszenierung vermengten Orientalismus mit Motiven des Chanel Universums. Von Chanel geht ein Mythos aus, der seit der Mystifizierung Gabrielles ihrer selbst Programm ist.59 Ihre Ikonen oder Markenzeichen sind kulturelle Zeichen, die in Bildern, Objekten und Orten oder Räumlichkeiten gelesen werden können. Diese Identifikationsmittel werden auch in den Bühnenbildern der Modenschauen verwendet, worauf ich jeweils in den folgenden fünf Exemplaren genauer eingehen werde. 57 Orte siehe Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Chanel, Zugriff, 01.04.2014. 58 http://kaleidoscope-press.com/issue-contents/prada-nicholas-cullinan-and-francesco-vezzoli-in-conversation/, Zugriff: 28.04.2014 59 Spitz Maria, 2013, S. 330 f. Anmerkung: Verweis auf die Ausstellung Mythos Chanel, Museum für Kunst und Gewerbe, 2014. 56 Vor 2006 fanden Chanels Modenschauen überwiegend im Hauptsitz an der Pariser Rue Cambon, danach im Grand Palais statt. Dieses Belle Epoque Gebäude entstand zwischen 1897 und 1900 für die Weltausstellung als Ausstellungshalle, die von einer Gruppe von Architekten mit der Leitung Charles-Louis Girault (*1851– 1932) erstellt wurde. Das Gebäude stellte den Ruhm französischer Kunst aus bzw. dar und wird heute noch für Wechselausstellungen genutzt. Karl Lagerfelds Schachzug Chanel dort zu präsentieren, stellt eine Rückkehr zu den Wurzeln der Modenschau dar. In einem grösseren Zusammenhang gesehen, kann die technische Errungenschaft der Glas-Stahl-Bauten als Wegbereiter der Modenschau gesehen werden. Walter Benjamin beschäftigte sich in seinem Passagenwerk, ein Fragment zwischen 1927 und 1940 entstanden, mit dem Pariser Stadtleben, welches sich vor allem in den von Glas-Eisen-Konstruktionen gedeckten Arkaden (in der erste Hälfte des 19. Jahrhunderts erbaut) abspielte. In diesen Passagen waren eine wachsende Anzahl von Geschäften angelegt. Das Werk handelt von der Großstadt, ihren Bedingungen, von ihrer Architektur des Konsums und von dem Menschen, der sich in ihr bewegt: dem Flaneur und somit dem Beobachter von Mode. Durch Haussmans Renovationen wurden die meisten dieser Passagen zwischen 1852 und 1870 zerstört. Bevor die Warenhäuser zu den Konsumtempeln der modernen Gesellschaft wurden, waren die Passagen die Flaniermeilen für Einkäufer. Die formale Ähnlichkeit des Grand Palais mit den Arkaden und seine gleichzeitige Entstehung mit dem modernen Kaufhaus machen ihn zum idealen Austragungsort für Chanels Fashion Shows. Nun komme ich konkret zum zweiten Teil meiner Arbeit, zur bereits im Vorwort erwähnten Analyse von fünf Chanel Modeschauen. Diese sind im ersten Teil der Arbeit, der chronologisch aufgebauten Internetseite www.formatfashionshow.ch eingebettet. Zum Verständnis dieser Analysen, ist es elementar, die dokumentierten Videoaufnahmen auf der Internetseite anzusehen. Ergänzend wird die Elaboration dieser Shows durch jeweils einen Grundriss und detailliertere Fotos der Shows auf den letzten Seiten des Buches veranschaulicht. Die Auswahl der fünf Schauen ist sehr lustvoll entstanden, gleichzeitig habe ich versucht, sie in möglichst regelmässigen Abständen zu verteilen. Des Weiteren ist mir bei der Durchsicht von den 64 von mir aufgefundenen Shows aufgefallen, dass sich Unterkapitel herauskristallisieren lassen, aus denen ich je eine Show ausgewählt habe. Deren räumliche Gegebenheiten sind kurz und knapp formuliert folgende: Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt 57 1. Linearer Catwalk mit Theaterbühnen-Kulissenmalerei (ca. 19901996) — 1994/95 AW Prêt-à-Porter #56 2. Erste minimal ausgearbeitete Sets, Abwendung vom geraden Catwalk, Experimente mit anderen Formen (ca. 1996-2003) — 2001 SS Prêt-à-Porter #68 3. Coole Architekturen ingrösser werdenden Inszenierugen ( 20032006, Einfluss von Etienne Russo/seiner Firma villa eugénie, die ab 2004 viele der Shows organisiert) — 2006 SS Haute Couture #72 4. Gigantische Sets, gegeben durch die räumlich kaum eingeschränkten Möglichkeiten im Grand Palais (2006-2010) — 2010/11 AW Prêt-à-Porter #77 5. Noch spektakulärere und detaillierter ausgearbeitet Schauen, die auch zunehmend eine Botschaft zu haben scheinen — 2014/15 AW Prêt-à-Porter #80 58 1994/95 AW Prêt-à-Porter #56 Den Auftakt bildet Claudia Schiffer. Es ist die Ära der Supermodels. Naomi Campbell, Kate Moss, Christy Turlington, Linda Evangelista, Helena Christensen, Carla Bruni und Brandi Quinones erkenne ich wieder. Die Kulisse stellt eine Pariser Hausfassade im Klassizistischen Stil dar. Mein erster Verdacht, es handle sich dabei um das Pariser Ritz Hotel, wo Coco Gabrielle Chanel von 1936 bis zu ihrem Tod 1971 wohnhaft war, lässt sich nicht bestätigen, da einige Details wie die halbkreisförmigen Ausbuchtungen mit darin platzierten Statuen nicht übereinstimmen. Diese Show dauert im Vergleich zu den heutigen doppelt so lange, 30 Minuten. Umso kürzer und kleiner ist die sandfarbig gehaltene, neutreale Bühne, etwa 2.5 x 8-10 Meter. Die Choreografie der Models ist immer dieselbe: Lauf an die Spitze des Catwalks, ein bis zwei Drehungen, Gang zurück, allenfalls mit zweiter Drehung. So wie das Bühnenbild ein Filmset imitiert, unterteilt Karl Lagerfeld die Show in etwa zehn Szenen mit jeweils durchschnittlich 25 Modellen, was insgesamt circa 250 Variationen an Modellen in dieser Schau ergibt. Die Wechsel werden vage durch sich verändernde Lichtsituationen, einem Wechsel von hell und dunkel oder einem Wechsel in der Musik untermalt. Oft wird die Szene von Claudia Schiffer eröffnet, sonst von Victoire de Castellanes, die Chefin der Schmuckabteilung bei Chanel von 1984 bis 1998. Insgesamt ziehen sich einige Models also etwa 10 mal um. Einziges Feature der Models bilden Accessoires wie Taschen oder ein Mobiltelefon; Karl Lagerfeld belebt in dieser Schau also Mary Quants Strategie wieder, das Frauenbild mit Hilfe von Accessoires zu verdeutlichen. In den von mir gesehenen Shows von 1990 bis 1997 steht das Supermodel und ihre Persönlichkeit im Zentrum, die räumliche Ausbildung der Schau beschränkt sich auf den immer gleichen beigen, rechteckigen Laufsteg und ein Hintergrundbild im Stil einer Theaterkulisse gemalt. Eventuell wird diese Kulisse durch Props ergänzt, wie in diesem Fall einem Regiestuhl (mit Coco angeschrieben und darüber gehängter Stepptasche), einer Scheinwerfer- und einer Filmkamera-Attrappe. Vermutlich spielt das Bild generell mit dem Strassenbild von Paris und inszeniert Coco Chanel als Regisseurin der Pariser Modewelt, deren Schauspiel sich schlussendlich in der Strasse abspielt. Die Supermodels sind die Stars dieses 'Broadways'. Das Frauenbild wird einerseits mittels Körpersprache zum Ausdruck gebracht – die Models wurden angeleitet, ihre Hüften stark von links nach rechts zu bewegen und hin und wieder zu lächeln, andererseits tragen sie sexy und spielerische Kleidung und Accessoires. In einer Szene lässt Lagerfeld die Models mit jeweils Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt 59 ihrer Landesflagge in Form eines Schals auftreten. Diese Elemente formen ein selbstsicheres, international erfolgreiches, aber zugleich sehr weibliches, einer der Männerwelt gefälliges und nicht in dieser Domäne tonangebendes Rollenbild. Architektonische Elemente, die im Zusammenhang mit Chanel stehen, werden oft in die Modenschauenszenerien integriert. Darunter findet man die Hausfassade oder Elemente des Interieurs der Rue Cambon und Elemente typischer Pariser Architektur, wie Karusselle, Springbrunnen, Strassenlaternen, Strassencafés oder Gärten (z. B. der Jardain du Luxembourg). Diesen Orten der Originalität haftet genauso ein Mythos an wie anderen Ikonen. In einer Liste der von mir gesehenen 64 Shows habe ich Unterkategorien der Shows erstellt und bemerkt, dass 19, also fast 1/3 dieser Shows in ihrer Szenografie eines der Wiedererkennungsmerkmale des Hauses Chanel als Hauptelement ausarbeiten. Interessant am räumlichen Layout ist die Positionierung der Medien. FotografenInnen tummeln sich leicht erniedrigt, dicht gedrängt, zu den Füssen der Models liegend (einige Medienleute sind tatsächlich über den Laufsteg gelehnt). Sie stehen an vorderster Front, ihre Position ist also am wichtigsten gewertet, um die gezeigten Kreationen bald in den Massenmedien zu verbreiten. Ihre Position verdeutlicht nochmals, wie zu dieser Zeit die Gesellschaft die idealisierten Supermodels bewunderte und welche Wichtigkeit dabei die Streuung ihres Abbildes durch die Medien war. Die Dramaturgie ist stark durch die Musik gelenkt: Der Auftakt macht 'Doop Doop', worüber ein Vocal gelegt ist ('Paris Hilton Vibe'), als zweites ertönt ein anonymes Stück, welches an Musik in einem Vergnügungspark erinnert. Dann folgt eine Coverversion von Bertolt Brechts 'Mandalay Song' von 'The flying Lizards', einer avantgardistischen Postpunkband, welche wie Lagerfeld häufig mit dem Mittel der Parodie spielte. Es folgen Klassiker wie von 'YMO – Firecracker' von 1979, 'Aretha Franklin – A deeper Love C&c Hot Mix', 'M People' mit ihrem grössten Hit 'Moving on Up' von 1993, beides Dance-Pop und eine hochgepinschte Version von 'Alpha Team – Speed Hardcore Mix' (Techno). Die Musik ist vielfältiger Mix, der ein möglichst breites Publikum anzusprechen versucht. Er nimmt also wenig Position ein, sondern ist einfach nur Mainstream tauglich. In der Schlussszene zeigt Lagerfeld kein Hochzeitskleid, sondern schillernd poppige Abendmode, der DJ kehrt zu 'Doop Doop' zurück und spielt erst mit dem Auftritt Karl Lagerfelds zum Höhepunkt Nino Ferrers Lied 'Je vends des robes'. Dieser Schlusskommentar kommuniziert Lagerfelds Position und die Strategie der Prêt-à-Porter Kollektion. Deren Absicht geht nicht über das Ziel hinaus, einen möglichst grossen Umsatz durch 60 die Vermittlung eines frohen, unbeschwerten Frauenbildes 'à la mode' zu generieren. 2001 SS Prêt-à-Porter #68 Nach 1997 rückt das Layout der Chanel Schauen vom linearen Catwalk ab und experimentiert mit alternativen Formen wie ZickZack-, Wellenformen, Halb- oder Kreisen, Quadraten, Brücken oder versucht sich gar an speziellen Orten, wie einer Boutique mit Verbindungstüren zwischen mehreren Räumen oder einem Innenhof einer Schule. Diese Ready-to-Wear Show dupliziert den Laufsteg und zerlegt ihn in sukzessiv grösser werdende Treppenstufen. Zwischen diesen zwei Treppen befindet sich eine schmale Aussparung, in welcher die von der Treppe gestiegenen Models zurück gehen. Das Motiv der Treppe ist in der Geschichte der Mode tief verankert, bei Chanel ist es zu einem oft wiederkehrenden Element durch die symbolische Repräsentation der Treppe in der Rue Cambon geworden #30. Die Show wird von sechs im Dunkeln vor einem riesigen, erleuchteten Chanel-Logo stehenden Models eröffnet. Die Konturen der Treppenstufen sind in Primärfarben mit Neonröhren beleuchtet. Alsbald die ersten zwei Models ihren Abstieg beginnen, wird der Raum durch weisse Neonröhren – linear oberhalb der Treppen platziert – erhellt und den Schritten der Models vorauseilend, wechseln die Treppenstufen ihre Farben zu Pastelltönen. Die länge der Treppe schätze ich auf 20 Meter, die Höhe der obersten Stufe beträgt etwa 2 Meter. Das Publikum ist links und rechts bestuhlt, die Medienleute stehen davor (sieht das Publikum überhaupt etwas?). Nach dem Start der zweiten Modelgruppe, es sind immer zwischen vier oder acht, wird klar, dass sie mittels einer Hebevorrichtung hinter der Treppe auf die zwei Meter Höhe herauf gehoben werden. Insgesamt werden etwa 90 Modelle in dieser Kollektion gezeigt. Bis zur dreizehnten Minute bleibt die Lichtstimmung dieselbe, eine Geschichte erzählt lediglich die Mode, die den Tagesablauf einer Frau in den Sommerferien beschreiben könnte: die Mode wechselt von Casual zu Bademode und schliesslich zu eleganteren Stücken. Die Treppe besteht aus 14 Stufen mit gradual abgestuftem, heller werdenden Farbverlauf: weiss rot orange gelb grün blau pink violett orange gelb hellgrün hellblau rosa weiss. In der dreizehnten Minute wird der Raum verdunkelt, die Neonröhren wechseln wieder zu den Grundfarben und flackern wie in einer Disco. Der Höhepunkt, vergleichbar einem Discobesuch, wird angetönt. Die ersten Models steigen die steilen Treppen hinter der Bühne hoch Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt 61 und defilieren alle nochmals; in einer Zweierreihe die Treppe hinunter. Die anonymen, vom Typ her sehr einheitlichen Models verschwinden im dunkeln Tunnel. Bezüglich Musik liessen sich die meisten Titel nachvollziehen, die Playlist ist bereits stärker bearbeitet als in der Show von 1994, die einzelnen Stücke sind komplexer ineinander gemischt: 1 Alpine Stars — Jump Jet (1999) 2 Lake Soul & Mathilde — Autour de toi (2000) 3 Carvelli — L'Etrange Dr. Personne (1977) 4 Francis Lai — Theme from Love Story (1970) 5 Beck — Mixed Bizness (1999) 6 Michael Jackson — Thriller (1982) 7 Lake Soul & Mathilde — Autour de toi (2000) Die Musik ist also im Gegensatz zur Modenschau von 1994 weniger Soul- und R&B-lastig, sondern kühler mit schnelleren Bässen oder melancholischeren, sphärischeren Melodien von Electronic Rock über Pop. Diese Coolness spiegelt sich in der Szenografie vor allem in der Materialität (glatte, weisse Oberflächen) und der Lichtstimmung, den kühlen Pastelltönen wider. Die Ästhetik oszilliert zwischen der Kunst Dan Flavins oder Sylvie Fleurys und jener von Discobeleuchtung. Die Show ist wie die Kunst sehr kühl, aber nicht zurückhaltend. Die Mode geht darin nicht über geläufige Trends hinaus, bedient sich lediglich einiger Elemente aus Subkulturen. Die Models haben beispielsweise COCO scheinbar auf ihre Wangen tättowiert und tragen Ketten mit Rasiermessern. In Zusammenarbeit mit Reebok ist der erste Turnschuh von Chanel, der 'Reebok Insta Pump Fury' entstanden, der aber nie auf den Markt kam. Das Chanel Logo, der Einsatz von Tweed und die klassische 2.55 Tasche erinnern einzig an das Erbe von Gabrielle. Ein Finale gibt es, abgesehen von dem nochmaligen Auftritt aller Modelle, nicht. Karl Lagerfeld bleibt erstaunlicherweise abwesend. Die Medien, welche wie beschrieben an vorderster Front stehen sind nun im Gegensatz zur Raumaufteilung von 1994 von der Bühne wenig entfernt. Am Ende der Show hingegen, stürmen sie diese und rennen in Richtung Backstage. Ob sich dort Karl Lagerfeld präsentierte, liess sich nicht nachvollziehen. 62 2006 SS Haute Couture #72 Nach 2006 fanden die Modeschauen von Chanel im Grand Palais statt, was dem Bühnendesign mehr Möglichkeiten eröffnete. Nebst der villa eugénie (Produktion) wirkte bei der räumlichen Umsetzung des Konzeptes von Karl Lagerfeld auch Stefan Lubrina, ein Szenograf, mit. Das Publikum ist hier in Form eines Amphitheaters angeordnet. Riesige Leuchten, vergleichbar mit Scheinwerfern, wie sie bei moderneren Veranstaltungsorten, z. B. Fussballstadien anzutreffen sind, erhellen das in weiss gehaltene, elegante Set. In der Mitte des Amphitheaters steht eine weisse, runde, leicht erhöhte Bühne auf der wiederum ein weisser Zylinder mit einer groben Gitternetz-Struktur platziert ist. Die sukzessive auftretenden Models betreten die Bühne, umkreisen den Zylinder in Formation einer Spirale und verschwinden dann in eine sich von Zauberhand öffnende Türe des Gitternetzes. Der Musikmix dieser Show ist sehr umfangreich und komplex abgemischt, sodass Shazam (eine Musikstück-Erkennungs-Applikation für Smartphones) die Originale nicht wieder erkennt. In einem Interview mit Michel Gaubert, der seit 1991 die Hintergrundmusik bei den Chanel-Schauen kreiert, gibt dieser kund, dass die Musik bei Haute Couture im Vergleich zu Prêt-àPorter Schauen ruhig "mondäner, merkwürdiger und experimenteller sein dürfe".60 Karl Lagerfeld erfand für ihn sogar einen neuen Beruf, den des Soundstylisten.61 Wie ein Film von Sophia Coppola, z. B. 'The Virgin Suicides', mutet die Stimmung in dieser atmosphärischen, avantgardistischen und himmlischen Inszenierung an. Im Vergleich zu den ersten zwei analysierten Shows hat die Presse eine weniger prominente Stellung sondern streut sich zurückhaltend kultiviert unter das Publikum oder befindet sich am äussersten Rande des Geschehens. Zum einen ermöglicht der Raum eine grossflächige Inszenierung, zum anderen lässt er Platz für eine von Medien emanzipierte Dokumentation der Show. Die filmische Aufnahme wird wie die Vorbereitungen zu einem Spielfilm oder Dokumentarfilm bewusst geplant und gesteuert, was an der hin und wieder sichtbaren Filmcrew sichtbar wird. Deutlich wird dabei, dass die Modenschau konkret die Funktion des Werbefilmes inne hat. Die Kollektion umfängt 50 Modelle und endet als einzige, da Haute Couture, ganz klassisch mit dem Brautkleid, von Model und Schauspielerin Lily Cole getragen. Die Glückliche betätigt einen Knopf beim Zylinder, was das Hochfahren dessen in den siebten Himmel auslöst. Nun wird der Blick auf die auf einer Wendelt- 60 http://www.sueddeutsche.de/leben/dj-michel-gaubert-der-soundstylist-1.100357, Zugriff: 01.05.2014. 61 Vgl. http://www.sueddeutsche.de/leben/dj-michel-gaubert-der-soundstylist-1.100357, Zugriff: 01.05.2014. Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt 63 reppe wartenden Models frei. Karl Lagerfeld betritt die Bühne und holt die Braut ab, worauf alle Modelle von der Treppe hinab defilieren. Das identitätsstiftende Motiv der Treppe wird als klassisches Element in die ansonsten wenig mit den Chanel-Ikonen spielende Schau eingebettet. Diese als einzige von mir ausgewählte Haute Couture Show ist sowohl in der Kleidung als auch der Inszenierung sehr elegant ausgearbeitet. Himmlisch schön soll auch das in weiss und silber gehaltene Set anmuten. Die Coutureschauen unterscheiden sich nicht grundsätzlich in einer differenzierter ausgearbeiteten Bühne oder einem eleganteren Stil, was eine Haute Couture Inszenierung von 2013 beweist. Sie zeigt ein dystopisches Bild einer Theaterruine, welche den Blick auf eine ultramoderne Grossstadt freigibt, könnte also im vom wirtschaftlichen Niedergang geprägten, zerfallenen Detroit angesiedelt sein – alles andere als chic also. Die Kleidung als Mischung aus Formen der Mode aus den 60er Jahren und feenartigen Elementen wird von einer wenig zugänglichen Frau getragen. Die in vorwiegend schwarz und weiss gehaltenen Kleidungsstücke sind inspiriert von einer asketischen Ästhetik aus Coco Chanels Zeit im Kloster (auch das passt zum Film 'The Virgin Suicides'), das dargestellte Bild zeigt eine kühle, verträumte und fast mädchenhafte Frau. Diese Show stellt meiner Meinung nach eine Flucht vor der Realität dar. Probleme auf der internationalen Politbühne, wie der Krieg im nahen Osten, der angeheizte Ost-West-Konflikt, ausgelöst durch Irans Atomprogramm und eine sich abzeichnende Finanzkrise, führen hier zu einer sehr nostalgischen und träumerischen Inszenierung. Die Inszenierung dieser Show ruft von der Musik über die zum Himmel führende Treppe und die verträumten, stark ornamental, aber in asketischem Schwarz und Weiss gehaltenen Kreationen, Bilder christlicher Weltflucht hervor. 2010/11 AW Prêt-à-Porter #77 Das zahlreich erschienene Publikum sitzt um ein Quader, der von einer weissen Membran umhüllt wird. Es ist klar, dass sich die Bühne dahinter befindet und die Neugierde des Publikums durch die Verhüllung erhöht wird. Gerüchte machen die Runde, dahinter befinde sich der auf der Einladungskarte abgebildete Eisbär. Die Membran fährt langsam hoch und gibt den Blick auf einen Eisberg frei. Zu sehen sind nun zwei Männer und zwei Frauen in yetimässiger Bekleidung (die Männer verkörpern vielleicht Big Foot). Ein von Skandinavien importierter 265 Tonnen schwerer, echter Eisberg wurde für dieses Bühnenbild von 35 Eisschnitzern während sechs Tagen bearbeitet. Die Bewilligung dafür erhielt Lagerfeld nur 64 unter der Bedingung, dass das Eis wieder zurückgeführt werden würde.62 Ein modernes Märchen, ein Gerücht von den Massenmedien verbreitet: denn in mehreren Beiträgen, beispielsweise jenem von Wallpaper, wird berichtet, der künstliche Eisberg sei aus Snice (gefrorenem Eisschnee) geformt worden.63 Der Teil mit den Eisschnitzern entspricht der Wahrheit. Der Grand Palais wurde für diese Show auf tiefste Temperaturen herunter gekühlt, bei den Kostümen wurde auf echtes Fell verzichtet. Die Spitze des Eisbergs ragt aus dem tiefblauen Meer hervor – dieser Eindruck wurde durch eine auf blauen Grund aufgefüllte Wasserschicht erzeugt. Insgesamt also alles mehr Schein als Sein. Die Modelle, vergleichbar wenige (ca. 60), umkreisen den Eisberg von links nach rechts, also im Gegenuhrzeigersinn in gewohnter Chanel-Haltung: Oberkörper zurückgelehnt, Hüfte vorgeschoben, Hände in den Taschen. Die Playlist ist ein komplex abgemischtes Stück, mit Geräuschen und Vocals ergänzt, welches wie alle anderen Chanel Shows ein Hauptthema (Nr. 1 und 6) hat, das vor dem Auftritt des Designers wiederholt eingespielt wird. Es wirkt sehr atmosphärisch, abwechselnd düster und bedrohlich, bzw. heiter und klar. 1 Simple Minds — Theme for great Cities + Windgebläse 2 Michel Gaubin — La Clairière Endormie + Vocal 3 Mechanic Slave & Micha — Crazy Rasta + verstörende Klänge 4 Simple Minds — Theme for great Cities + Harvenklang 5 Anny & Jean Marc Versini — Neige de Noël 6 Simple Minds — Theme for great Cities Ähnlich wie die anderer Journalisten, war meine Vermutung, Karl Lagerfeld habe mit dieser Inszenierung entweder auf die Erderwärmung aufmerksam machen wollen oder eine postapokalyptische, mystische Geschichte erzählen wollen. Der vor allem durch die Musik erzeugte Spannungsbogen dieser Show erinnert stark an die Stimmung und den Plot des 2013 erschienenen Science-Fiction-Actionfilms 'Snowpiercer’. Darin bringt die Menschheit ein künstliches Mittel gegen die globale Erwärmung in die Atmosphäre, bewirkt dadurch jedoch gleich das Anbrechen einer Eiszeit. Die noch wenigen lebenden Menschen überleben in einem Microsystem, einem um die Welt kreisenden Schnellzug. Das Happy End ist einem genauen Beobachter zu verdanken, dem die langsam zurückgehende Eismasse im Verlauf der Jahre aufgefallen ist. Das Finale der Chanel Show ist ähnlich hell, heiter und klar, wie das Ende des Filmes. Formal könnte Lagerfeld aber vielleicht auch ganz banal von einem Eishotel inspiriert worden sein. Auch bei einer Show von vor zwei Jahren (2012 SS Prêt-à-Porter) 62 Vgl. http://www.theguardian.com/lifeandstyle/2010/mar/10/chanel-fashion-show-iceberg-chic, Zugriff: 02.01.2014. 63 http://www.wallpaper.com/fashion/chanel-aw-2010-show/4344. Anmerkung: Gar in der Publikation Spitz Maria, 2013, S.298, hält sich das Gerücht. Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt 65 liesse sich vermuten, dass Chanel ein Statement zum vielbeachteten Thema 'Naturschutz' abgeben wollte. Sie wurde ebenfalls vom Modenschauen-Produzenten Etienne Russo und seinem Team bei villa eugénie konzipiert und organisiert (villa eugénie war übrigens nicht zur Kooperation mit mir bereit, da von ihnen keinerlei Informationen über Chanel herausgegeben werden dürfen). Für die effektive Architektur engagierten sie Zaha Hadid, die bereits 2008 einen Kunstpavillon für Chanel entworfen hatte. Das Konzept der Show bestand darin, eine Unterwasserlandschaft zu entwerfen. Die Szenografie der Modenschau zeichnet sich durch einen von Models gefluteten, puristisch weissen Meeresboden aus, der zauberhaft anmutet. Er scheint von feenartigen Wesen gereinigt worden zu sein (Vergleiche zum 1984 erschienenen Anime 'Nausicaä aus dem Tal der Winde' von Hayao Miyazaki liegen auf der Hand). Das Publikum wird von einem irisierenden Doppelvorhang umgarnt und dieser schliesst die Szenografie, wie Wellen an der Meeresoberfläche, von der Aussenwelt ab. Korallen und Kreaturen beheimaten die mystische Unterwasserwelt. Die Formensprache ist für Zaha Hadid reichlich atypisch, woraus ich eine Auftragsarbeit dominiert von Karl Lagerfelds Vision schliesse. Aus zahlreichen Statements von Karl Lagerfeld in Interviews schätze ich seine Motivation zum Unterwasserthema wie jene zur Arktislandschaft als primär lustvolle ein, sekundär beeinflusst von Themen wie der Verschmutzung der Weltmeere oder der globalen Erderwärmung. Wie auch in jener Show, die durch eine musikalische Einlage von Florence (der Gruppe 'Florence and the Machine' – eine von Lagerfelds Testimonials) mit einem Leibwächter erweitert wurde #78, setzt Karl Lagerfeld in dieser Show männliche Models ein, obwohl Chanel nur Damenkollektionen fertigt. Dies tut er, um die Lebenswelt der Frauen zu komplementieren und kleine Narrative einzubauen, wie hier die starken Yetis oder in der folgend analysierten Show, einen Lebens-/Einkaufspartner. 66 2014/15 AW Prêt-à-Porter #80 Im Februar diesen Jahres präsentierte Karl Lagerfeld die aufwändigst inszenierte Chanel Schau aller Zeiten. Im Grand Palais zeigt sich aus der Vogelperspektive ein symmetrisch geordneter Raum in Form eines Rechteckes. Am Rand ist die vierreihige Publikumszone eingeplant. In der mittleren Längsachse befinden sich sechs circa 5 x 1 x 2 Meter grosse Warenregale, dazwischen jeweils ein bis sieben kleinere Regale. Die Nachbildung des Chanel Supermarktes orientiert sich an gewohnten Strukturen von Lebensmittelgeschäften mit Abteilungen wie Frischwaren, Haushalt, Fleischwaren etc.. Spielerisch, poetisch und humorvoll werden in den an Carrefour erinnernden Werbebannern Worte des Chanel Imperiums oder Piktogramme integriert. An den randvoll in regenbogenfarben geordneten, mit Chanel Produktattrappen aufgefüllten Regalen laufen die Models mit dem Einsetzen der Musik selbstsicher vorbei. Sie tragen mit Chanel-Borten umflochtene Einkaufskörbe. Eigens für diese 14-minütige Show wurden im Auftrag der 'villa eugénie' 500 verschiedene Etiketten gestaltet und auf 100'000 Produkte angebracht. Um das Shopping Erlebnis möglichst authentisch zu gestalten, wurden hin und wieder Durchsagen gemacht à la "die junge Marie wartet bei der Kasse auf ihre Eltern" oder "Frau Martin wird in der Frischwaren-Abteilung verlangt". Mit dem Kommentar "Die Do-it-yourself-Abteilung ist Sonntags geöffnet" spielt Lagerfeld auf das kontroverse Gesetz in Frankreich an, welches es nur Bastelwarenläden erlaubt sonntags geöffnet zu haben. Die Musik ist ein Mix aus zeitgenössischer Discomusik – purer Pop, der Lebensfreude und Energie ausstrahlt. In dieser Show vermischt Michel Gaubert zuerst 'Azari & III (Azari and Third) – Reckless with your love (Tesnake Remix)' mit 'Jesper Dahlbäck – Tanken'. Beide sind in der Musiksparte Acid–House anzusiedeln. Dann folgt von 'Midnight Magic' das Stück 'Beam me up', kosmischer Disco. Die Gruppe referiert mit ihrem Namen auf die R&B Gruppe 'The Commodores', es war der Titel ihres siebten Albums. Der Spannungsbogen greift wie in allen Chanel Shows auf das Hauptthema zurück, hier das erste Lied 'Reckless with your love'. Das Publikum spielt seit etwa 2005 eine andere Rolle. Es befinden sich geladene Privatleute, welche Beziehungen zu Chanel haben, Celebrities, welche als Marketinginstrument verwendet werden und wichtige Einkäufer darunter (deren aber wenige, da Chanel fast ausschliesslich in den eigenen Geschäften verkauft). Als Phänomen des WWW mischen sich unter dieses Publikum nun auch ModeliebhaberInnen, welche mit dem Mobiltelefon oder einer handlichen Kompaktkamera unauffällig Bilder für ihre Blogs Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt 67 machen. Die Massenmedien nehmen eine untergeordnete, separierte Rolle ein, sie sind in einem sehr kleinen Bereich positioniert (gleich zu Beginn der Show oberhalb des als erstes auftretenden Models zu sehen). Chanel kontrolliert die Verbreitung qualitativ hochstehender Abbildungen und Videos der Shows selbst über die offizielle Internetseite und den eigenen YouTube Kanal. Lagerfeld reflektiert in dieser Show einerseits das Alltägliche im luxuriösen Leben reicher Leute, andererseits kommuniziert er, dass Mode für ihn ein in allen Lebensbereichen eingreifendes Thema ist. Diesem Statement verleiht Chanel auf humorvolle Weise Form: Piktogramme auf den Werbetafeln im Supermarkt sind im Chanel Kostüm gekleidet und die Produkte erhalten lustige Namen, die Taschentücher hiessen z. B. 'Der Ärger von Gabrielle'. Damit spielt Lagerfeld ein weiteres Mal sarkastisch auf den Kommentar seines ärgsten Rivalen YSL aus den 1990ern an und nimmt gleichzeitig seine humorvolle Antwort auf mögliche Kritik der Medien vorweg. Denn in dieser Kollektion präsentiert er eine bequeme Version des Korsetts, was von Kritikern als grobe Verletzung von Chanels Ideologie interpretiert werden könnte. Die Verschmelzung von High und Low, von aussergewöhnlich und alltäglich unterstreicht Karl Lagerfeld mit dem Auftritt eines Paares, vollgepackt mit Chanel Einkaufstaschen. Sie gehen scheinbar nach erfolgreichem Shopping bei Chanel für ein gemütliches Tête-à-tête beim Abendessen im Supermarkt einkaufen.64 Dass die Produkte mehrheitlich Attrappen sind, impliziert eine Haltung Lagerfelds der Modewelt gegenüber. Er spricht damit auch die Oberflächlichkeit, 'Schein und Sein' der Modewelt an. Ihm ist absolut bewusst, dass seine Produkte nicht lebensnotwendig sind65, trotzdem können sie durch das Schaffen eines bestimmten Anreizes für das Zielpublikum eine Bereicherung des Alltagslebens darstellen. Und Karl Lagerfeld meint, dass die Frauen insbesondere in grauen Zeiten wie heute, bunte Farben und Humor in ihr Alltagsleben bringen möchten.66 Dies zeigt sich auch in der Ausgestaltung des Sets, wie den mit Regenbogenfarben (eingefärbtem Wasser) gefüllten Flaschen. Fröhlich verhält sich auch das Model. Eins nach dem anderen betritt das Einkaufszentrum und folgt zuerst brav dem roten oder gelben Strich am Boden, mit der Zeit wird die Stimmung jedoch angeregter, lust- und humorvoller, bis die Models ihren zielgerichteten schnellen Schritt verlangsamen und mit träumerischem Blick beginnen, herum zu flanieren und Produkte auszuwählen. Dabei darf es auch zur Kommunikation untereinander und einem austauschenden Lachen kommen. Ein- 64 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=EUXkJivPPPM, Zugriff: 17.04.2014. 65 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=BxUGR1QRLMg, Zugriff: 29.04.2014. 66 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=EUXkJivPPPM, Zugriff: 17.04.2014. Vom linearen Catwalk zum komplexen räumlichen Konstrukt 68 kaufen bei Chanel macht Spass und lässt einen die Alltagssorgen vergessen. Mit der detaillierten Ausarbeitung jedes Produktes gibt Chanel seine Haltung bezüglich hoher Qualität preis. Grund für diese enorm aufwändige Inszenierung ist einerseits die offensichtliche Strategie von Chanel mittels extravaganten Inszenierungen Werbung für die Marke zu machen, andererseits das Überbieten der Konkurrenz. Ein erwartetes Highlight der Pariser Fashion Week 2014 sollte nämlich Nicolas Ghesquières Debut bei Louis Vuitton sein. Die Inszenierungen beider Prêt-à-Porter Schauen 2014 nehmen Position zur Rolle der Mode in der Gesellschaft. Lagerfeld vergleicht einerseits in der Sommerkollektion Mode mit Kunst #81, indem er die Mode in einer Ausstellung aufgeblasener Kunstwerker inszeniert. Diese sind lose Referenzen auf bekannte Werke der Kunstgeschichte und flechten die Chanel-Ikonen ein. Die Parallelen der beiden Welten werden aufgezeigt, nämlich wie sie mit Kommerz und Sehnsucht operieren. Des Weiteren wird klar, wie sie ineinander greifen und voneinander beeinflusst werden. Andererseits bettet Lagerfeld hier in der Winterkollektion das Label Chanel und seine Mode in die Alltagswelt ein. Am Ende dieser Show spielt Lagerfeld jedoch lediglich mit dem Verlangen des Publikums, alles mit dem Stempel Chanel besitzen zu wollen und bittet sein Klientel, die Einkäufe an der Kasse zu bezahlen – woraufhin das Publikum die Bühne stürmt, um die einzigartigen Produkte einzusacken. Unglücklicherweise wurden die Besucher der Show beim Ausgang gebeten diese wieder abzugeben (abgesehen von den Frischwaren), da sie zu Dekorationszwecken in den Chanelgeschäften vorgesehen waren oder an wohltätige Organisationen gespendet würden. Ob die Dramaturgie mit diesem Höhepunkt kalkuliert oder unvorhergesehen durch die Dynamik des Publikums entstanden ist, wäre interessant zu erfahren. Aufgrund des Verhaltens der Models gegen Ende der Show und des Auftritts einiger Testimonials wie Rihanna, tippe ich eher auf ersteres. Das Nachspiel der Show, welches nicht im offiziellen Video aufgenommen wurde, stellt eher eine Guerilla-Werbeaktion dar, welche die Mechanismen neuer Medien bewusste nutzt. Damit streut Karl Lagerfeld moderne Mythen. 1994 / 95 AW Prêt-à-Porter #56 D A B E C A http://3.bp.blogspot.com/_ZmaD1cNHmUc/Swyw5oIySCI/AAAAAAAAAgk/pmOlcSWhwmk/s1600/tumblr_kt4e9uyLjZ1qan898o1_400.jpg B http://37.media.tumblr. com/tumblr_lqq8yitwBk1qmbiswo1_1280.jpg C screenshot https://www.youtube.com/watch?v=XIOK-TF3ueAa D screenshot https://www.youtube.com/watch?v=XIOK-TF3ueA E http://www.mkd.mk/wp-content/uploads/2012/04/hotel-ritz-paris.jpg 70 71 2001 SS Prêt-à-Porter #68 C A B F D G E A hhttp://firstview.com/collection.php?p=0&id=6099&of=0 B http://firstview.com/collection.php?p=25&id=6099&of=32 C http://firstview.com/collection.php?p=200&id=6099&of=200 D http://firstview.com/collection.php?p=125&id=3056&of=130 E http://firstview.com/collection.php?p=100&id=3056&of=119 F http://firstview. com/collection.php?p=175&id=6099&of=197 G http://www.achenbach-art-consulting.com/uploads/pics/Hypo_Vereinsbank_Dan_Flavin.jpg 72 73 2006 SS Haute Couture #72 C E A B D A http://www.wicreations.com/Template/wicreations/BinaryResource/projectImages/Chanel%20-%20Haute%20Couture/02%20HC%202006/Chanel%20Haute%20Couture%20 2006%2003%20(T).jpg B http://www.wicreations.com/Template/wicreations/BinaryResource/projectImages/Chanel%20-%20Haute%20Couture/02%20HC%202006/Chanel%20Haute%20Couture%202006%2006%20(T).jpg C http://i.huffpost.com/gadgets/slideshows/227627/slide_227627_1000468_original.jpg D http://37.media.tumblr.com/ 7c8e3a58fa1a6e8d1a95928165b80457/tumblr_mj2mkyGKtR1s6ne6jo1_1280.jpg E Screenshot https://www.youtube.com/watch?v=aQfEN3YmNfE 74 75 2010/11 AW Prêt-à-Porter #77 C E A B D A http://4.bp.blogspot.com/_m4GIEmf-uWo/S7o6vXfO9TI/AAAAAAAACEU/oHHa0AvHBCg/s1600/CHANEL6.jpg B Screenshot https://www.youtube.com/watch?v=2MvmN2zQfBs C http://www.style.com/slideshows/2010/fashionshows/F2010RTW/CHANEL/DETAILS/00160m.jpg D http://blog.bergdorfgoodman.com/wp-content/uploads/2010/10/13pg_Chanel.jpg E Screenshot https://www.youtube.com/watch?v=2MvmN2zQfBs 76 77 2014/15 AW Prêt-à-Porter #80 C A B E D A http://wayfarerstyle.com/wp-content/uploads/2014/03/chanel-rtw-fw2014-runway-35.jpg B http://www.inspirationbycolor.com/wp-content/uploads/2014/03/chanel-rtwfw2014-details-lait-de-coco-1.jpg C http://www.dailymail.co.uk/femail/article-2572888/Chanel-does-supermarket-chic-Runway-turns-shopping-centre-muses-Cara-Delevingne-Kendall-Jenner-catwalk-DREADLOCKS-tracksuits.html#v-3291287779001 D http://1.bp.blogspot.com/-6v8rb14wnvc/UxhSMl4hH4I/AAAAAAAAUNo/s0-qdP0sQww/s1600/Paris+Fashion+Week+AW+2014+Chanel+Shopping+Center+supermarket+theme+runway+setting+021.jpg E screenshot https://www.youtube.com/watch?v=YLDUXZ4X5b8z 78 79 80 Fazit Im Verlauf dieser Arbeit habe ich gezeigt, wie sich das Format der Fashion Show nicht nur in den letzten zwanzig Jahren vom linearen Catwalk zum komplexen, raumübergreifenden Konstrukt entwickelt hat. In chronologischer Abfolge wird dies, ergänzend zur schriftlichen Arbeit, sowohl auf der Internetseite www.formatfashionshow.ch anhand der Bildersammlung als auch grafisch anhand der Grundrissdarstellungen der Fashion Shows verdeutlicht. Der historische Überblick diente der Verortung gegenwärtiger Moden (nicht nur Moden der Räume) und ermöglichte mir sowohl in der Bildersammlung als auch im Text eine differenziertere Auseinandersetzung mit der These: Es hat sich eindeutig erwiesen, dass insbesondere bei Chanel der lineare Laufsteg zu einem komplexen räumlichen Gebilde elaboriert worden ist. Diese Entwicklung führe ich vor allem auf Mechanismen der modernen Gesellschaft oder grundlegend soziale zurück. Dafür möchte ich nochmals Pierre Bourdieu zitieren (wie auch auf S. 16, 34, 35) : "Der Prozess, der mit der mechanischen Metapher der Verschiebung beschrieben wird, beruht auf zahllosen Strategien, die im Rahmen höchst komplexer Bezugssysteme entstanden sind. Man denkt viel zu oft in einfachen Dichotomien wie Veränderung/ Nicht-Veränderung, statisch/dynamisch. …Was ich zu zeigen versuche, ist, dass es etwas Invariantes gibt, das ein Produkt der Varianz ist."67 Im Feld der Modenschau stellt das Unveränderte das Zeigen von Mode dar, gespielt wird darin mit allen Komponenten, die in der Folge durch den ständigen Kampf um Distinktion, der Ablösung des Alten durch das Neue, Moden ausbilden. Die nuancierte Ausformung der Chanel Modenschauen stellt einerseits diese Distinktion dar, ist andererseits aber auch von externen Faktoren beeinflusst. In der Bildersammlung und der historischen Aufarbeitung von Modeschauen und ihren Räumen hat sich als einer dieser Faktoren die Veränderung der Medienlandschaft abgezeichnet. Die Neuen Medien ermöglichen zum einen den Modehäusern ihre Werte zielgerichteter zu platzieren. Durch veränderte Strukturen, Mechanismen und Akteure der Massenmedien ist zum andern die Kontrolle über die Verbreitung von Inhalten schwieriger als je zuvor geworden und stellt neue Anforderungen an ein Modehaus bezüglich geschickt geplanter und platzierter Werbestrategien. Bei der Untersuchung ausgefeilter Modenschauen hat sich gezeigt, dass sie erfolgreich die Rolle von Werbefilmen übernehmen. In Anbetracht der Neuen Medien und ihrer ökonomischen Effizienz ist die Relevanz von Modenschauen in den letzten Jahrzehnten auch oft in Frage gestellt worden. 67 Bourdieu Pierre, 1974, S.121. Caroline Evans' Meinung dazu, in einem Interview von 2012 kundgegeben, dass das Ritual Modenschau mit sozial stabilisierendem Zweck, nicht aussterben werde, pflichte ich hingegen bei: "I have a lot of colleagues who are interested in fashion films, as an emerging genre competing with fashion shows. However, I don’t think that fashion films and that whole new technology that designers and companies have played with in the last five years or so are ever going to replace the fashion show itself. It’s not just because of the immediacy and the excitement, the theatrical quality to it. It’s also about exclusivity: the fashion show really does always trade off that. Although it plays with opening up access through new media, it also periodically retrenches and pulls back. The new media haven’t replaced meeting people in the flesh."68 Diese physische Präsenz führt zu der Erschaffung und Aufrechterhaltung von Mythen – es sind Geschichten, die die Grundlage darstellen auf welcher Werte und Bewertungen, Sinn und Deutung für die Gesellschaft beruhen. Die Form der Medien und der damit einhergehenden Werbestrategien mag sich geändert haben, das Bedürfnis nach Sozialisierung ist jedoch nicht geschwunden und macht nach wie vor eine elementare Komponente der Modenschau aus. Die Elaboration der Fashion Shows von Chanel bestätigt, dass die Show nicht durch die Medien ersetzt wird, sondern fortwährend im Wechselspiel von Exklusion und Inklusion Bestehen darin hat und dies sich ähnlich verhält wie der Mechanismus der Verschiebung als Distinktionsstrategie, also lediglich ihre Rolle verändert. Die Relevanz der Schauen zeigt sich bei Chanel besonders deutlich, ist meinen Beobachtungen nach jedoch auch auf andere Marken übertragbar: Die Modenschau funktioniert als komplementäres Element der gesamten Werbestrategie zur Herausbildung eines erlesenen Images. Die scheinbar unaufhaltsame Ausformung der Bühnenbilder ist die Folge raffinierter werdender Werbekampagnen und bei Chanel auch im Zusammenhang mit scheinbar uneingeschränkten finanziellen Mitteln zu verstehen. Ein Kommentar Lagerfelds bestätigt dies in einem Interview: "We can play with everything and do whatever we want. Nobody tells us what to do, we are totally free and freedom is a good help for creativity if you know how to manage the creativity…"69 Die freie Hand, welche die Besitzer von Chanel Karl Lagerfeld lassen, ist als weiterer Umstand der exorbitanten Ausformung räumlichen Aspekte der Fashion Shows zu beachten. Die kokette Aussage Lagerfelds ermöglicht eine kritischere Wertung seiner kommerziellen Spektakel. 68 Evans Caroline, 2012. In: http://www.anothermag.com/current/view/1826/Caroline_Evans, Zugriff: 02.05.2014. 69 Lagerfeld Karl, 2014. In: http://www.youtube.com/watch?v=EUXkJivPPPM, Zugriff: 02.05.2014. 82 Konkreter hat sich vieles bei den räumlichen Aspekten der Modenschauen verändert: die Ortswahl, die Architektur, das Licht als auch der Ton haben sich nuancierter ausgeprägt. Sie müssen genau auf das Image einer Marke und das Konzept der Kollektion angepasst sein. Diese Entwicklung wird bestätigt und begleitet durch die Entstehung neuer Berufsbilder innerhalb der Branche, wie Location Scouts, Fashion Show Produzenten, Lichtdesigner oder Soundstylisten. Die in den Räumen der Modepräsentation erzählte Geschichte ist durch eine komplexer gewordene Dramaturgie gezeichnet, was sich auf die Anforderungen an die Models und die Rolle des Publikums auswirkt. Beide beeinflussen das Geschehen als Akteure live in der Show und in der Nachgeschichte – der Mythenbildung – welche von Art Direktoren wie Karl Lagerfeld und Show Produzenten gelenkt wird. Spektakuläre Inszenierungen stellen sowohl die Wiederbelebung von Modenschauformaten der 1910er und 20er Jahre dar, als auch ein Unterscheidungsmerkmal von gängigen Formaten der 1930er bis 50er Jahre und von der Steigenden Anzahl von Modeschauen in den 1980ern dar (die in der Masse lediglich den linearen Laufsteg ausformten), wo wir wieder beim Thema der stetigen Ablösung des Alten durch das Neue wären. Elaboriertere Dramaturgien können sich auf deren räumliche Implementierung auswirken. Bei Chanel hat sich deshalb nach 1996 das Zentrum des Geschehens, der Catwalk, zunehmend, scheinbar unaufhaltsam variierend verändert. Die Modifikation der Linie zu Zick-Zack-, Kreis, Quader, Schlangen, Spiralen-, Dreiecksformen etc. bis hin zu quasi Architekturen brachte eine Anpassung des darin arrangierten Publikums mit sich. Die veränderte Medienlandschaft strukturierte auch die Formation der Zuschauer um, was dem Celebrity, dem Blogger und Fashionista zugunsten eine nähere, grossen Medienkonzernen zuwider eine distanziertere Position im Spektakel einräumte. Nicht nur die Räume selbst, ihre materielle Wirklichkeit, sondern auch ihre Situation – eingebettet im System der Mode – haben sich verändert. Im Chanel Universum wäre dieser weit gefasste, abstraktere Raumbegriff im Kontext einer globalisierten Modebranche weitere interessante Untersuchungen wert. Den strukturellen, formalen Veränderungen stehen basale, konstante Aspekte gegenüber. Unverändert ist der grundlegende Wesenszug der Modenschau geblieben: Was gezeigt wird, braucht auch ein Publikum. In der historischen Aufarbeitung hat sich jedoch herausgestellt, dass Akteure und Zuschauer zur Manifestation des Spektakels nicht unbedingt räumlich voneinander abgetrennt, sondern fliessend ineinander greifend sein können. 83 In Bezug auf Chanel gedacht, bleibt diese Abgrenzung zwischen 1994 und 2014 bei der Modepräsentation hingegen vorwiegend bestehen. Die Shows bleiben ein Spektakel mit wenig Interaktion. Die von Bourdieu thematisierte Invarianz als Produkt der Varianz stellt am Beispiel Chanel das Aufrechterhalten, Verbreiten, Umwerten und Kreieren von Mythen dar. Die Kanäle haben sich zwar verändert, aber Karl Lagerfelds Strategie setzt nach wie vor auf die bereits zu Lebzeiten von Gabrielle Chanel gepflegte Praxis, sich in von Mythen geprägten Räumen zu bewegen. Dafür stattete Coco diese bewusst mit Gegenständen aus, welche sich in der Repetition zu Symbolen ausprägten. Ihre Freude über Nachahmungen ihrer Entwürfe wird die Tatsache gerecht, dass Chanel die am häufigsten kopierte Marke weltweit ist.70 Diese Tatsache ist eine Folge der Inszenierung von Mythen, die das Verlangen nach Identifikation beim Publikum steigert und zur Imitation anregt. Karl Lagerfeld führt aus den gesammelten Stilelementen von Coco Chanel die Ikonografie des Hauses gekonnt weiter. Dieses Erbe wird stetig mit subtilen Innovationen erweitert, die eine Neukomposition oder -interpretation darstellen. Die Präsentation der Kreationen findet im Rahmen eines sich formal stetig leicht verändernden, selbstabsorbierten, narzisstischen Spektakels statt, das den Zeitgeist verräumlicht. 70 Spitz Maria, 20014, S. 338. 84 85 Literaturverzeichnis i 86 Film Dokumentarfilm von Neuen Marti 87 Abbildungsverzeichnis 88