Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück

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Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück
Minna von Barnhelm
oder
Das Soldatenglück
Gotthold Ephraim Lessing
15 +
B E G L E I T M AT E R I A L Z U M S T Ü C K
Minna von Barnhelm
Es spielen:
Anton Berman
Birgit Berthold Katrin Heinrich Stefan Kowalski Hagen Löwe Thomas Pasieka Franziska Ritter Andrej von Sallwitz Danielle Schneider ein Musiker
Franziska, Minnas Mädchen
Friedrich der Große
Major von Tellheim, verabschiedet
der Wirth
Paul Werner, gewesener Wachtmeister des Majors
Minna von Barnhelm
Just, Bedienter des Majors von Tellheim
eine Dame in Trauer
Regie: Sascha Bunge Bühne + Kostüme: Angelika Wedde Komposition + Musik: Anton
Berman Dramaturgie + Theaterpädagogik: Stephan Behrmann Licht: Rainer Pagel Ton: Sebastian Köster Regieassistenz: Susann Ebert, Johanna Thomas Inspizienz: Anne Richter
Soufflage: Jutta Rutz Technischer Direktor: Eddi Damer Bühnenmeister: Henning Beckmann
Maske: Karla Steudel Requisite: Jens Blau Ankleiderei: Birgit Wilde, Lotta Hackbeil Kostümassistenz: Clemens Leander Dramaturgiehospitanz: Marit Buchmeier Herstellung der Dekoration: Werkstätten des Bühnenservice der Stiftung Oper in Berlin unter der Leitung von
Jörg Heinemann Herstellung der Kostüme: Firma Gewänder Maren Fink-Wegner
Premiere: 8. März 2012 im Rahmen von
TUGEND, EHRE – SOLL & HABEN
EMILIA. MINNA. LESSING. EIN SPEKTAKEL
Bühne 2
ca. 90 Minuten
Die Aufführungsrechte liegen bei THEATER AN DER PARKAUE.
Premierenklasse: Kurs Darstellendes Spiel JG 11 der Ellen-Key-Schule, Berlin-Friedrichshain
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Minna von Barnhelm
Inhalt
Vorbemerkung
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Zugänge zur Inszenierung
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Lessing – ein biografischer Querschnitt
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Inszenierungsschwerpunkt I: Die Nachkriegszeit
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Dieter Hildebrandt: Historische Hintergründe
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Hugh Barr Nisbet: Die Zeit nach dem Siebenjährigen Krieg
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Inszenierungsschwerpunkt II: Ökonomie
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Die Spur der Ringe
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Joseph Vogl: Die Ringe als Symbol
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Inszenierungsschwerpunkt III: Klassische Geschlechterrollen
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Rudolf Walter Leonhardt: Die Macht des pudor sexus 27
Juliane Härtwig: Traditionelle Geschlechterrollen
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Exkurs 31
Klaus Wiegrefe: Der kleine König
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Heinrich Himmler: Posener Rede vom 04.10.1943 in Auszügen
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Anregungen für den Unterricht
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Literatur
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Hinweise für den Theaterbesuch
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Impressum
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Minna von Barnhelm
Vorbemerkung
Mit seinen dramatischen Texten und kritischen Essays prägte Lessing die deutsche Literatur
nachhaltig und wurde zum Vorbild vieler nachfolgender Schriftsteller. Der Toleranzgedanke,
den Lessing in vielen seiner Schriften vertritt, macht ihn für alle Zeiten relevant. So ist Lessing
auch der einzige deutsche Autor der seit Lebzeiten durchgehend in den Spielplänen der Theater vertreten ist.
Minna von Barnhelm spielt im Nachkriegs-Berlin. 1763 war der Siebenjährige Krieg gerade
zu Ende gegangen, Preußen ging als Sieger hervor. Berlin war schon damals eine Weltstadt,
wenn auch nicht mit dem heutigen Berlin vergleichbar. Hier sammelten sich alle Gewinner
und Verlierer des Krieges. So zum Beispiel Major von Tellheim, der an seiner verlorenen Ehre
verzweifelt und Minna von Barnhelm, der die Liebe zu ihrem Major wichtiger ist als dessen
Ehre. Lessing stellte das Stück 1767 fertig, der Krieg lag folglich noch nicht lange zurück. Er
schilderte eine Zeit, die dem damaligen Publikum noch wohl bekannt war.
Als Berliner Stoff interessierte uns Minna von Barnhelm besonders. Es gilt als die erste deutsche Komödie, die schon zu Lessings Zeiten auf allen Bühnen gespielt wurde und auch heute
noch eines der meistgespielten Stücke auf deutschen Bühnen ist.
Als Theater liegt unser Auftrag in der Heranführung Kinder und Jugendlicher an das Format
Theater. Inszenierungen sind immer Interpretationen eines Stoffes. Mit jeder Inszenierung entsteht ein neues Kunstwerk mit eigener Lesart und eigener Gesetzmäßigkeit, das wiederum
die Theaterzuschauer zu eigenen Deutungen und Sichtweisen einlädt. Großes Gewicht liegt,
gerade auch bei den beiden Stücken Lessings auf der Erschließung des Materials aus heutiger Perspektive.
Das vorliegende Begleitmaterial zur Inszenierung Minna von Barnhelm richtet sich an Lehrer,
die mit ihren Schülern eine Vorstellung besuchen und diese vor- oder nachbereiten möchten.
Im Folgenden finden Sie kurze Erläuterungen zu den Inszenierungsschwerpunkten, verschiedene Zusatztexte, sowie Anregungen zur Vor- und Nachbereitung des Theaterbesuchs im
Unterricht.
Wenn Sie Fragen zum theaterpädagogischen Begleitmaterial oder zur Inszenierung Minna von
Barnhelm haben oder wenn Sie Ihre Kritik und Anmerkungen mitteilen möchten, können Sie
sich gerne mit dem betreuenden Dramaturgen Stephan Behrmann in Verbindung setzen.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Schülern einen anregenden Theaterbesuch und interessante
Diskussionen danach.
Marit Buchmeier
Betreuender Dramaturg und Theaterpädagoge: Stephan Behrmann
Tel: 030 – 55 77 52 -45 / E-Mail: [email protected]
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Minna von Barnhelm
Szenenfoto mit Birgit Berthold, Franziska Ritter, Stefan Kowalski
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Minna von Barnhelm
Zugänge zur Inszenierung
Mit Tellheim, seinem Bediensteten Just und seinem gewesenen Wachtmeister Werner stehen
Menschen im Mittelpunkt, die mit Ende des Krieges ihre gesellschaftliche Rolle und Funktion
verloren haben. Major von Tellheim ist einer der Verlierer des Siebenjährigen Krieges. Im Krieg
noch ein Held, ein Frauenschwarm, ein Vorbild für viele junge Soldaten, hat Tellheim nun aufgrund eines Missverständnisses inklusive seiner Ehre alles verloren und strandet völlig pleite
in einem Gasthof. Er ist ausgebrannt, hat eigentlich alles richtig gemacht und damit im Endeffekt zu menschlich gehandelt. Er kann sich seinen plötzlichen Fall nicht erklären, seine gesellschaftliche Position hat sich vom Leistungsträger zum Bettler gewandelt und das ohne, dass
er erkennbar selbst schuld daran trägt. In der Ehre sucht er Rechtfertigung für sein Verhalten,
nach dem Motto: ein Mann ohne Ehre, ist gar kein Mann. Das macht ihn schwach, angreifbar,
verletzlich. Die komplexe Geschichte seines gesellschaftlichen Falls wird geordnet und löst
sich im Laufe der Komödie auf, sie wird so auch für Tellheim verständlich.
Die weiblichen Figuren der Komödie, Minna von Barnhelm, die sich während des Krieges in
Sachsen mit Tellheim verlobte und ihr Mädchen Franziska sind beide, für ihr Alter unüblich, noch
unverheiratet, so verschließt sich auch ihnen ein Teil der Gesellschaft. Im Verlaufe des Probenprozesses wurde daher die Frage erörtert, wie sich Menschen und Energien organisieren, die
aus dem System „aussortiert“ wurden. Kann das eine Keimzelle für Terror sein? Verliert man sich
in seinem jeweiligen Leiden, in diesem Fall im Liebesleiden? Oder stürzt man sich kopfüber in
etwas Neues, in der Hoffnung wieder Boden unter die Füße zu bekommen?
Alle Figuren treffen im Gasthof „König von Spanien“ in Berlin aufeinander. Der Schauplatz
mutet recht desolat an, geprägt von emotionalen und wirtschaftlichen Problemen.
Die ökonomischen Aspekte bilden einen weiteren Inszenierungsschwerpunkt.
Geld ist bei nahezu allen Figuren des Stückes Thema. Minna ist eine reiche Adelige, die sich
alles leisten kann und unproblematisch ihren Reichtum teilt. Tellheim war reich, hat alles verloren und lebt mittlerweile über seine Verhältnisse. Auch die „Dame in Trauer“, Witwe des ehemaligen Rittmeister Marloffs, kann sich kaum über Wasser halten, nachdem ihr Mann im Krieg
gefallen ist. Der Wirt versucht in Nachkriegszeit und Wirtschaftskrise nicht zu kurz zukommen
und schlägt keine Gelegenheit aus, um an Geld zu kommen.
Geld steht dabei immer im direkten Zusammenhang mit Ehre. Tellheim weigert sich Minna zu
heiraten, da ihm sein Geld und seine Ehre geraubt wurden. Dasselbe Spiel spielt Minna später,
als sie den Spieß umdreht. Und die „Dame in Trauer“ würde lieber verhungern, als dass sie
nicht für ihre Schulden aufkommt, alles eine Frage der Ehre.
Selbst die Ringe, die eine große Rolle in der Beziehung zwischen Minna und Tellheim, spielen,
werden zum Symbol für ökonomische Prinzipien.
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Minna von Barnhelm
Ein dritter Inszenierungsschwerpunkt ist Lessings „Neuerfindung“ des Frauenbildes. Minna
und Franziska müssen zu Lessings Zeiten alle Rollenbilder der Frau unterlaufen haben. In der
Beziehung zu Tellheim ist Minna eindeutig die ‚Macherin‘, während Tellheim sich zurückzieht
und die Verantwortung abgibt. Zuschreibungen und Erwartungen an typische Geschlechterrollen werden nicht erfüllt, was einiges an komödiantischem Potenzial liefert.
In Sascha Bunges Inszenierung werden die Nebenfiguren wie Just und der Wirt, Franziska
und der Musiker zu den Trägern der Komödie. Eine besondere Rolle nimmt dabei der Wirt ein.
Er ist Dreh- und Angelpunkt aller Geschehnisse. Im Nachkriegspreußen wurden Wirte tatsächlich von der Polizei instrumentalisiert, Reisende und Fremde zu bespitzeln. Daher taucht der
Wirt in nahezu jeder Situation auf und bildet das Zentrum des Figuren-Netzwerkes.
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Minna von Barnhelm
Lessing – ein biografischer Querschnitt
Als Lessing 18 war, feierte sein erstes Stück
Der junge Gelehrte Premiere.
Er wurde in kürzester Zeit der bekannteste
Schriftsteller im deutschsprachigen Raum.
Lessing übertrug das französische Modell
des bürgerlichen Trauerspiels nach Deutschland.
1748 musste Lessing Leipzig verlassen, da
ihm als Bürge für diverse Schauspieler die
Gläubiger im Nacken saßen.
Als freier Schriftsteller litt er unter ständigem
Geldmangel und war abhängig von Almosen
von Freunden und Verwandten.
Der Versuch, das „Deutsche Nationaltheater“ über einen längeren Zeitraum hinweg zu
etablieren, scheiterte unter anderem wegen
Geldmangels.
Als Dramaturg am neugegründeten
„Deutschen Nationaltheater“ in Hamburg
revolutionierte er mir seiner „Hamburgischen
Dramaturgie“ das (Nach-)Denken über
Lessing heiratete erst mir 47 Jahren, seiTheater.
ne Frau Eva König starb im Kindbett, wenige Tage nach der Geburt des gemeinsamen
Sohnes.
An seinen Freund Johannes Joachim Eschenbach schrieb er in dieser Zeit: „Ich wollte es
auch einmal so gut haben, wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen.“
nach D. Hildebrandt
Im Folgenden eine Sammlung an Aspekten aus Lessings Leben, die das Inszenierungsteam
während der Arbeit beschäftigt hat und die teilweise einen ganz anderen Blick auf den großen
Klassiker Lessing werfen.
Ein Leben zwischen künstlerischem Anspruch
und der ökonomischen Lebenswirklichkeit
Gotthold Ephraim Lessings Leben liest sich als großartige Erfolgsgeschichte, aber auch als
Leidensgeschichte. Lessing gilt nach wie vor als einer der bedeutendsten Dichter der deutschen Aufklärung. Es gelang ihm, die in vielen Bereichen überlieferten Anschauungen in Frage
zu stellen. Bei ihm standen der Glaube an die Toleranz, die Freiheit, das „Ich“ als Individuum
im Mittelpunkt. Dies wird in seinen Theaterstücken deutlich, in denen er den Privat- den Familienraum in den Mittelpunkt stellte. Ein weiteres Beispiel sind seine theologischen Schriften,
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Minna von Barnhelm
in denen er zu mehr Toleranz gegenüber anderen Religionen aufruft. Vieler dieser Ansätze
bringt Lessing in seinem philosophischen Werk „Die Erziehung des Menschengeschlechts“
zusammen.
Auch zu Lebzeiten war Lessing der bekannteste, am meisten geschätzte Autor im deutschsprachigen Raum, ein prägendes Vorbild für junge Schriftsteller. Die große öffentliche Resonanz ging einher mit einer wachsenden Zahl bürgerlichen Publikums, die Schicht also, für die
Lessing hauptsächlich schrieb.
Abgesehen von wenigen Festanstellungen verdingte Lessing sich sein Brot als freier Schriftsteller, als einer der ersten Auftragsautoren. So war sein Leben trotz seines Erfolges und Bekanntheitsgrades immer auch von Geldnöten geprägt, die Lessing dazu zwangen über Jahre
hinweg Anstellungen anzunehmen, die vor allem dem Broterwerb dienten. So war er unter
anderem Sekretär des Generals Tauentzien, dem Kommandanten von Breslau und späteren
Gouverneur Schlesiens und Hofbibliothekar des Herzogs von Braunschweig in Wolfenbüttel.
Es war ihm unmöglich, bedingt sowohl durch die ungünstige Marktlage für freie Schriftsteller,
als auch durch seine Unfähigkeit vorauszuplanen, als Autor seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, „ohne auf die Möglichkeit zu verzichten, die Überzeugungen zu Papier zu bringen,
die für ihn die wichtigsten waren.“ (Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008).
Lessing – der Spieler
Lessing hatte eine große Leidenschaft für das Glückspiel, er schrieb dem Spielen schon beinahe therapeutische Wirkung zu. Karl Lessing beschrieb diese Spielsucht ausführlich in der
Biografie über seinen Bruder.
Zitiert nach: Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008
Allein seinen Freunden ist doch nichts so aufgefallen, wie seine Spielsucht, die in Breslau ihren
Anfang und zu Wolfenbüttel ihr Ende genommen haben soll. Sein liebstes Spiel war Pharao,
das seinen ganzen Reiz vom hohen Gewinne zu haben scheint. [...] Dem, der es nicht selbst
gespielt, muß es der fadeste Zeitvertreib dünken; und wer gar nur pointiert, um zu gewinnen,
wird das Gegenteil von dem bezwecken, worauf er ausgeht.
Was vermochte Lessing also dazu? Die Sorge um seine Gesundheit. – Wird man nicht lachen?
Und noch mehr, wenn man bedenkt, daß er mit großer Leidenschaft spielte. Einer seiner
Freunde, der ihn bei dem Pharaotische beobachtete, sah einmal, wie ihm die Schweißtropfen vom Gesichte herunterliefen. Er sah auch, daß er nicht im Unglücke war, sondern diesen
Abend sehr glücklich spielte. Als sie miteinander nach Hause gingen, tadelte er ihn, daß er
nicht bloß seine Börse, sondern noch etwas Wichtigeres, seine Gesundheit ruinieren würde.
Gerade das Gegenteil, antwortete Lessing. Wenn ich kaltblütig spielte, würde ich gar nicht
spielen; ich spiele aber aus Grund so leidenschaftlich. Die heftige Bewegung setzt meine stockende Maschine in Tätigkeit, und bringt die Säfte in Umlauf; sie befreit mich von einer körperlichen Angst, die ich zuweilen leide. – Dem Boshaften wird dabei der ehrliche Basedow einfallen, welcher seine Trunkenheit fast ebenso verteidigte. Spielte Lessing zum Zeitvertreibe und
gleichgültig, so mußte der Schweiß, den man an ihm bemerkte, aus ganz andern Ursachen
entstehn; entstand er durch die Gefahr des Spiels, so konnte er, nach dem ordentlichen Laufe
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Minna von Barnhelm
der Natur, wohl nicht zur Gesundheit gereichen. Es scheint vielmehr, daß diesen Schweiß das
warme Zimmer, welches voller Menschen und Tabakraucher war, veranlaßt habe.
[...] Ist Lessings eigne Aussage von Gewicht, so gestand er, in Breslau oft und hoch gespielt,
aber im Durchschnitte wenig oder gar nichts verloren zu haben. Sein General habe ihm sogar
sein hohes Spielen vorgehalten; er habe ihm aber stets erwidert: es sei einerlei, ob man hoch
oder niedrig spiele; ja, das hohe Spiel habe den Vorteil, daß es die Aufmerksamkeit erhalte,
das kleine aber zerstreue sehr leicht.
Lessing und das Theater
Im 18. Jahrhundert wurde das deutsche Theater stark von Entwicklungen anderer Länder
geprägt, eine typisch deutsche Ausprägung, deutsche Stücke fehlten. Neben den Hoftheatern, gab es zahlreiche Wandertruppen. Den Schauspielern als wanderndes Volk wurde in der
Bevölkerung meist großes Misstrauen entgegen gebracht. Die Stücke dieser Truppen hatten
volkstümlichen Inhalt, große Teile bestanden aus Improvisationen. Für diejenigen, die nicht
dem Adel angehörten und dadurch keinen Zugang zu einem Hoftheater hatten, war das Wandertheater der einzige Berührungspunkt mit dem Theater.
Lessing folgte 1767 dem Ruf nach Hamburg, wo die Idee eines bürgerlichen Hoftheaters in
Form eines Nationaltheaters in die Tat umgesetzt werden sollte. Lessing wurde dort als Dramaturg eingesetzt. Obwohl das Projekt bereits nach zwei Jahren scheiterte, schrieb Lessing
dort seine „Hamburgische Dramaturgie“, die er in 104 Teilen veröffentlichte. Neben Stück- und
Inszenierungsbesprechungen, beschäftigte sich Lessing unter anderem ausführlich mit der
Dramentheorie und beschrieb, welche Wirkung das Theater auf das Publikum haben solle.
Lessing kritisierte die Volkstümlichkeit der Wandertruppen, er plädierte für das Literaturtheater. Im Gegensatz zu Johann Christoph Gottsched allerdings, wollte Lessing dabei nicht an
der französischen Klassik festhalten. Ganz entscheidend war auch, dass sich Lessing gegen
Gottsched Idee der Ständeklausel stellte. Gottsched war der Meinung, dass in der Tragödie
die Schicksale von Königen, Fürsten und hohen Standespersonen verhandelt werden sollten,
dem Leben der Bürgerlichen fehle es an Größe, an Bedeutung und an „Fallhöhe“. Im Gegensatz dazu sollten die Geschichten bürgerlicher Personen nur in Komödien auf die Bühne
gebracht werden.
Lessing entwarf ein Gegenmodell mit der Veröffentlichung des Stücks „Miss Sara Sampson“
im Jahr 1755, das als das erste bürgerliche Trauerspiel gilt. Er vertrat die Meinung, dass das
Publikum nur dann mitleide, wenn es sich selbst auf der Bühne wieder erkennt, wenn die auf
der Bühne verhandelten Geschichten, auch die Geschichten des Publikums sein könnten. Er
orientierte sich an den aristotelischen Begriffen ‚eleos‘ und ‚phobos‘ und prägte sie mit seiner
Übersetzung in ‚Furcht‘ und ‚Mitleid‘ neu. „Furcht erweckt nach Lessing all das, was, wenn
sie es an anderen sehen, Mitleid weckt. Und umgekehrt erweckt das in uns Mitleid, was, wenn
es uns selbst treffen würde Furcht macht.“ [Stegemann, Bernd: Lektionen 1 – Dramaturgie.
Berlin: Theater der Zeit, 2009]. Dieses Prinzip setzt voraus, dass Bürger die Protagonisten des
Dramas sind. So fürchtet der Zuschauer, dass ihm das gleiche Schicksal widerfahren könnte,
wie den Protagonisten auf der Bühne. Daraus resultiert, dass der Zuschauer mit sich selbst
Mitleid empfindet. Ohne die Furcht ist dieses Mitleid nicht möglich. Lessing schrieb darüber:
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Minna von Barnhelm
„Die Tragödie soll unsere Fähigkeit erweitern, Mitleid zu fühlen… Sie soll uns fühlbar machen,
dass der Unglückliche zu allen Zeiten und unter allen Gestalten rühren und für sich einnehmen
kann.“
(Für eine detaillierte Beschreibung siehe u.a. Fick, Monika: Lessing Handbuch: Leben-Werk-Wirkung.
Stuttgart: J.B. Metzler, 2000. Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.)
Lessing – der Journalist
Neben den philosophischen Texten und seinen Dramen wird gerne vergessen, dass Lessing
auch Journalist war. Er prägte eine Sparte, die bis heute in keiner Zeitung fehlen darf, das
Feuilleton. 1722 wird die ‚Berlinische Privilegierte Zeitung‘ (BPZ) gegründet, Lessing war für
den „Gelehrten Artikel“, den Rezensionsteil zuständig. Zudem führte Lessing einen weiteren
Rezensionsteil ein, „Das Neueste aus dem Reiche des Witzes“, das sowohl aus Rezensionen
von Veröffentlichungen aller Art, als auch aus eigenen Texten Lessings bestand.
Jakob Augstein berichtete in der ‚Süddeutschen Zeitung‘ vom Journalisten Lessing.
Die gelehrten Sachen
Gottfried Ephraim Lessing: der erste Großkritiker der Presse
Von Jakob Augstein: Die gelehrten Sachen - Gottfried Ephraim Lessing: der erste Großkritiker der Presse /
Serie, Teil V. In: Süddeutsche Zeitung, 7. Januar 2003.
[…]
Einer seiner [Lessings] ersten Zeitungsartikel, den Gedichten von Johann Christoph Gottsched gewidmet, endet 1751 mit den Worten: „Diese Gedichte kosten in den Vossischen
Buchläden zwei Taler und vier Groschen. Mit zwei Talern bezahlt man das Lächerliche und mit
vier Groschen ungefähr das Nützliche.“
Das ist erstens immer noch ziemlich lustig, was ja etwas heißen will, weil nicht viele Witze 250
Jahre halten, und zweitens ist es für Lessings Modernität kennzeichnend, weil Gottsched selber die Kritik erst ein paar Jahrzehnte zuvor in Deutschland etabliert hatte, gleichsam wie ihr
Papst in Leipzig thronte und nun von seinem eigenen Epigonen rücksichtslos wegrasiert wurde. Gotthold Ephraim Lessing, geboren 1729 in Kamenz, Sachsen, gestorben 1781 in Berlin,
war nicht der erste, aber der erste vernichtende Kritiker deutscher Sprache.
[...]
Unter dem Dach des aufgeklärten Absolutismus wuchs eine autonome bürgerliche Sphäre
heran. Und die Menschen lernten das Lesen: Der Analphabetismus ging zurück, Bücher und
Zeitschriften wurden zur bürgerlichen Unterhaltung.
[...]
Eine Reihe junge Leute ist in den letzten 250 Jahren Journalist geworden, bevor sie später
was Anständiges gemacht haben. Lessing hat damit den Anfang gemacht. Von seinen Rezensionen und Kritiken in der Vossischen Zeitung sind es 20 Jahre bis zur Hamburgischen Dramaturgie und 30 bis zum Nathan. Und als er 1748 bei seinem Vetter Mylius vorstellig wurde,
begründete er nebenbei eine Existenzform, die gerade für Berlin bis heute typisch ist: Die des
freischaffenden Schriftstellers und Journalisten.
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Minna von Barnhelm
Viel verdienen konnte man damit schon damals nicht - aber viel brauchte er auch nicht: „Was
tut mir das, ob ich in der Fülle lebe oder nicht, wenn ich nur lebe“, schrieb Lessing an seinen
Vater. Noch so ein Satz, der Goethe nicht eingefallen wäre.
[...]
Als Lessing 1750 das Angebot bekam, so etwas wie der Chefredakteur der Berlinischen privilegierten Zeitung zu werden, lehnte er wegen der Zensur ab; er habe keine Lust, seine Zeit
„mit solchen politischen Kleinigkeiten zu verderben“.
Die Berlinische privilegierte erschien dreimal wöchentlich, dienstags, donnerstags und am
Samstag. 1751 wurde das Blatt nach einem Verlegerwechsel in Vossische Zeitung umbenannt
und hieß so bis zur letzten Ausgabe am 31. März 1934. Die Vossische hat einen guten Anteil
am Ruf Berlins als Zeitungsstadt.
Der Verleger und Buchhändler Johann Heinrich Voß fügte seiner Neuerwerbung schnell ein
Ressort hinzu, das er „Die gelehrten Sachen“ nannte, man würde heute sagen ein Feuilleton.
Aus dem bis dahin offiziösen Nachrichtenorgan für Staats- und Hofangelegenheiten wurde ein
„Intelligenzblatt“, mithin eine Art moderner Tageszeitung.
In erstaunlicher Parallele zu heutigen Verhältnissen bot das Feuilleton schon damals dem
abweichenden Denken mehr Raum als der politische Teil und darum wurde Lessing 1751 der
erste Feuilleton-Ressortleiter. Und weil er offenbar nicht nur ein begnadeter Kritiker war, sondern auch ein geschickter Blattmacher, erfand er eine neue monatliche Beilage: „Das Neueste
aus dem Reich des Witzes“.
In späteren Jahre legte sich Lessing ein Kürzel zu: „Fll“. Seine Opfer leiteten das von „Flegel“
ab, er selbst meinte das Lateinische „flagellum“, Geißel. Man ahnt schon, dass es kein Vergnügen war, diesem Mann unter die Feder zu fallen.
Ein typischer Artikel Lessings begann etwa so: „Man dachte, die Hudemannische Muse wäre
gar vollends eingeschlafen. Aber sie hat sich noch einmal aufgerichtet, sich ausgedehnt und
gegähnet. Sie muss aber doch sehr schlaftrunken gewesen sein, weil sie gleich wieder eingeschlafen ist.“ Wer dem Kritiker das Recht gibt, so mit dem Autor zu verfahren? Er sich selbst.
Nur geschundene Autoren können auf die Idee kommen, der Kritiker müsse sich rechtfertigen. Lessings Biograph Willi Jasper schreibt ein bisschen enttäuscht: „Ein neues Literaturprogramm hatte er nicht zu bieten...Er dachte und formulierte überspitzt, undogmatisch und
scharf - aber wenig programmatisch.“ Lessing hatte seinen Geschmack und sonst keine Maßstäbe. Auch da war er ein Heutiger.
Das Bemerkenswerte an Lessing ist, dass er seinen Ruhm trotz seiner Polemik und Kritik errungen hat. Seine Landsleute konnten damit nämlich bald nicht mehr viel anfangen: Das deutsche Gemüt des 19. Jahrhunderts hatte es lieber waldig-raunend als spöttisch-schneidend.
Seinen Platz im Pantheon der Klassik erhielt Lessing als Trauerspieldichter der Emilia und als
Moral-Dramatiker des Nathan. Der andere Lessing, der eines Voltaire und Diderot würdig war,
den retuschierten die Deutschen lieber weg.
So wie 1929 jener Braunschweiger Mediziner, der die Ferndiagnose anstellt, Lessings widersprüchlicher Charakter sei eine typische Eigenschaft des „cyklothymen Pyknikers“, und solche Menschen neigten nun mal zu jener Krankheit, „die man als manisch-depressives Irresein
bezeichnet.“
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Minna von Barnhelm
Lessing und Friedrich der Große
Obwohl Lessing einige Zeit als Gouvernementssekretär für die preußische Armee arbeitete
und viele Jahre in Berlin lebte, kam Lessing nie in direkten Kontakt mit Friedrich dem Großen.
Ein deutscher Schriftsteller, der deutsche Texte schrieb, war Friedrich dem Großen, der lieber
auf Französisch parlierte, zu banal. Kulturpolitik unter Friedrich bedeutete, sich an Frankreich
zu orientieren. So kam es auch, dass Voltaire als Königlicher Kammerherr an den Hof beordert
wurde, wodurch er zu Friedrichs engstem Zirkel gehörte. Lessings Freundschaft mit Voltaires
Sekretär Richier de Louvain verschaffte ihm Zugang zum Manuskript von ‚Le Siècle de Louis
XIV‘, Voltaires Geschichtsbuch. Lessing vergaß die Bögen zurückzugeben und reiste nach
Wittenberg ab. Es wird vermutet, dass Voltaire sich gegenüber Friedrich negativ über Lessing
äußerte, was Lessings Chancen bei Friedrich natürlich verringerte.
(nach Monika Fick: Lessing Handbuch: Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler, 2000)
Lessing übte nie öffentlich Kritik an Preußen und seinem König. Seine Komödie Minna von
Barnhelm ist bei genauerer Betrachtung aber gespickt mit kleinen Angriffen auf das Königreich, was später noch genauer erläutert wird.
Wahrheitssucher
Ein Wahrheitssucher wurde Lessing gern genannt, ein Wahrheitssucher allerdings, der seine
Aussagen nie als dogmatisch begriff, sondern der eine gewisse Skepsis gegenüber allem
bewahrte. Hannah Arendt erhielt am 28. September 1959 den Lessing-Preis der Freien und
Hansestadt Hamburg. In ihrer Rede sprach sie auch über Lessing:
„Was Lessing betrifft, so hat ihn das gefreut, was die Philosophen seit eh und je [...] so bekümmert hat, nämlich daß die Wahrheit, sobald sie geäußert wird, sich sofort in eine Meinung
unter Meinungen verwandelt, bestritten wird, umformuliert, Gegenstand des Gesprächs ist
wie andere Gegenstände auch. Nicht nur die Einsicht, daß es die eine Wahrheit innerhalb der
Menschenwelt nicht geben kann, sondern die Freude, daß es sie nicht gibt und das unendliche Gespräch zwischen den Menschen nie aufhören werde, solange es Menschen überhaupt gibt, kennzeichnet die Größe Lessings.“
Hannah Arendt: Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises
der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1999
Der Lessing-Biograf Hugh Barr Nisbet hat sich die Mühe gemacht, einmal alle Betätigungsfelder Lessings aufzuzählen, wie das folgende Zitat eindrücklich beweist:
„Lessing war Dichter und Dramatiker, Literaturtheoretiker, Kritiker, Historiker der Literatur,
Kunst und Religion, klassischer und mediävistischer Philologe, Paläograph, Bibliothekar und
Archivar, Philosoph und Ästhetiker, gut informierter Amateur in Theologie und Patristik, Übersetzer aus mehreren Sprachen und außerordentlich produktiv als Rezensent und Herausgeber. Zu den Literaturgattungen, in denen er sich auszeichnete, gehören die Ode, das Lied,
das Lehrgedicht, die Verserzählung, das Epigramm, die Fabel, der Aphorismus, die Komödie
und Tragödie, das Parabelstück, Dialog, Satire und Polemik; die einzigen seinerseits gängigen
Gattungen, in denen er sich auffälligerweise nicht versuchte, waren der Roman und das Versepos.“
Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.
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Minna von Barnhelm
Inszenierungsschwerpunkt I:
Die Nachkriegszeit
Historische Hintergründe
Die preußische Armee galt unter Friedrich dem Großen als eine der stärksten und gutausgebildetsten Armeen Europas. Während Preußen als Sieger und neue europäische Großmacht aus
dem Siebenjährigen Krieg herausging, hatte Sachsen alles verloren und wurde von Preußen
besetzt. Das Misstrauen des Wirtes gegenüber den beiden sächsischen Frauen, die ohne
großes Aufheben nach Berlin gereist waren, kommt also nicht von ungefähr.
Der sächsische und der preußische Soldat
Kleine Wanderungen durch Deutschland in Briefen an den Doctor K.
aus dem Teutschen Merkur 1785
Zitiert nach: Dieter Hildebrandt: Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm. Frankfurt/M: Ullstein, 1969.
Man stelle einen gemeinen sächsischen Soldaten neben einen preußischen, man vergleiche
einen sächsischen mit einem preußischen Officier, eine sächsische mit einer preußischen
Wachparade, und man wird erstaunen. Der Donner der preußischen Trommeln und der heisere Klang der kleinen sächsischen, die den Takt mit der Musik halten; der hüpfende Marsch
eines sächsischen Regiments und der feste, erderschütternde Tritt eines preußischen; der
sogenannte Regimentstambour, der mit seinem silberbetrottelten Stabe vor der preußischen,
den Mars im Gesicht und im Herzen, ehrwürdig voran reitet – das sind eben so viele Beweise,
daß Preußen ein kriegerischer Staat und das es Sachsen nicht ist.
Die sächsische Uniform ist schon an sich, wegen ihrer Farbe, nicht männlich genug. Ein sächsisches Regiment verliert sich in der Entfernung wie Nebel, während ein preußisches dasteht
wie ein dichter, schwarzer Wald. Die sächsische Evolutionen und Exercitien haben nicht die
Festigkeit, Einheitlichkeit und Raschheit der preußischen. Selbst wenn ein sächsisches Regiment in Parade steht, bemerkt man die ganze Reihe hinunter ein Wimmeln; die Köpfe stehen
nicht wie eingerammt, die Füße nicht wie eingewurzelt, und die Kunst des Richtens, in welcher
der preußischen Armee keine andere in der Welt gleichkommt, ist bei der sächsischen nur ein
Schatten.
Und nun gar der innere Zustand der sächsischen Armee, verglichen mit dem der preußischen!
Die sächsischen Soldaten sind im Durchschnitt um einen Kopf kleiner, als die preußischen; sie
haben ein gewisses kleinliches Äußere, wozu ihre Uniformen, die zu lang sind und nicht knapp
anschließen, nebst den unleidlichen kleinen Hüten, die nur den halben Scheitel bedecken und
auf ein Ohr gesetzt werden, das ihrige in vollem Maße beitragen; aber sie sind auch wirklich
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Minna von Barnhelm
im ganzen genommen um fünfzehn Jahre jünger als die preußischen. Einen alten Graubart –
wie es deren in der preußischen Armee unzählige giebt, die den Schlachten der schlesischen
Kriege beigewohnt und mit ihrem Friedrich Hunger und Durst, Frost und Hitze ertragen haben
– würde man in Sachsen vergebens suchen. Wie selten dort solche unverwüstlichen alte Krieger sind, können Sie zum Teil schon daraus abnehmen, daß in Dresden vor ein paar Jahren
einem Unterofficier der Leibgarde, welcher vierzig Jahre gedient hatte, ein Fest gegeben wurde, an welchem Generale teilnahmen und Gedichte vorgetragen wurden. Was für eine Menge
Feste müßte Friedrich geben, wenn er alle seine Graubärte so auszeichnen würde.
Berlin damals
Lessing bezog sich in seiner Komödie stark auf das Berlin seiner Zeit. Wie eingangs erwähnt,
schon damals eine Weltstadt. Um einen Überblick über das damalige Berlin zu bekommen,
lohnt die Lektüre dieser Darstellung. Insbesondere wird hier auch die Rolle der Wirte im Bespitzelungssystem deutlich gemacht, was einen guten Anhaltspunkt für das Verständnis der
Rolle des Wirtes bietet.
Dokumentation VIII
Aus: Berlin oder Darstellung der interessantesten Gegenstände dieser Residenz
Zitiert nach: Dieter Hildebrandt: Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm. Frankfurt/M: Ullstein, 1969.
1. Gasthöfe
Bequeme und reinliche Wohnung, prompte und gefällige Bedienung mit der möglichen Billigkeit in den Preisen der Lebensmittel verbunden, sind die vornehmsten Gegenstände, die
einem Fremden den Aufenthalt in den Gasthöfen angenehm machen. Die hiesigen Hotels
haben schon lange diesen Vorzug behauptet, und nach dem Ausspruch alle Reisenden, daß
man nirgends so nach seinem Verlangen und mit eben so viel Artigkeit als Billigkeit bewirthet
werden könne, gebührt ihnen dieser Ruhm noch immer mit vielem Recht. Die Stadt Paris in
der Brüderstraße wegen ihrer Größe und innern guten Einrichtung; der goldene Adler am Dönhoffischen Platz, au Parlament d’Angleterre, die Gasthöfe unter den Linden; die Sonne oder
das Hotel de Russie, der silberne Mond, der goldene Hirsch, und die Stadt Rom, gewähren
den Fremden neben ihren innern Vorzügen noch eine angenehme und lebhafte Aussicht. Außer vorgeführten Gasthöfen, giebt es in allen Theilen der Stadt noch eine Menge anderer zwar
minder größer, jedoch in obiger Rücksicht gleichfalls sehr empfehlenswerte Gasthöfe, z.B. der
König von Portugal, in der Burgstraße, der schwarze Adler in der Poststraße.
Wenn ein Passagier einen Monath oder länger in einem Gasthofe logiren will, so stehet ihm
frey, sich mit dem Wirthe über den Preiß der Zimmer und Speisen besonders zu verstehen,
und mit ihm überhaupt zu accordiren.
Auch ist dies der Fall, wenn die Fremden nicht an der Table d’hôte speisen, sondern auf ihren
zimmern Portionsweise oder im ganzen servirt seyn wollen.
Ein jeder Fremder wird, sogleich nach seiner Ankunft, nach seinem Nahmen, Karakter, und wo
er herkommen, befragt, und es ist bei Strafe verboten, sich einen falschen Namen zu geben.
Hierauf wird der Fremde bey dem Herrn Kommandanten und in der Wohnung des Herrn Stadt15
Minna von Barnhelm
präsidenten schriftlich gemeldet. Trift der Reisende aber erst Abends um 8 Uhr oder später ein,
so muß die Meldung gleich des folgenden Morgens geschehen, es sey denn, daß besondere
Umstände, als hoher Stand des Ankommenden, oder daß irgend ein Verdacht das schleunige
Melden erforderte, in welchen Fällen solches dann zu jeder Zeit und Stunde geschehen muß.
Fremde, für die ein langer Aufenthalt in einem öffentlichen Gasthofe zu kostbar fallen sollte,
finden in allen Gegenden der Stadt Wohnungen in Privathäusern, welche Tage, Wochen und
Monatsweise miethen können. Die Intelligenzblätter und die Zettel, welche unterm Thorweg
des Posthauses angeschlagen werden, geben hiervon augenblickliche Nachricht.
2. Die Wirte und die Polizei
Anno 1768 war ich in Berlin und wurde sehr vertraut mit jemandem, der bei der Kgl. Geheimen
Polizei angestellt war. Dieser eröffnete mir im Vertrauen, daß des Königs allerbeste geheime
Spione in den großen Städten Wirthe, Traiteurs und Eigenthümer des Hotels garni wären, für
welche der König zum Theil ganz, zum Theil die Hälfte des Zünßes bezahle, und wenn sie
sonach etwas wichtiges entdecken, ihnen nebst diesen noch eine angemessene Belohnung
ertheilt, durch welche Einrichtung in diesen Häußern allen Freunden ihr Haab und Gut sicher
und heylig ist, da die Würthe dem König mit dem Kopf dafür haften müssen, dahero auch
von keinem Diebstahl in diesen Häußern etwas zu hören ist. Für das aber, daß der König für
diese Würthe den Zünß zahlet, sind sie verbunden, von allen Zusammenkünften, Gesprächen
und sogar – wenn jemand bei ihnen wohnt, der dem Staat verdächtig scheinet – von seinen
bey sich habenden Briefschaften täglich einen verlässlichen Prothocoll-Auszug der Geheimen
Polizei einzuschicken, wodurch Friedr. der Große weit verläßlicher als durch die Wiener Tagzetterln täglich erfahren hat, wer in seinen Hauptstädten angekommen und allda seine Beschäftigung seye.
Bericht des Barons Scherzer vom 17. November 1794 an den Wiener Polizeiminister von Pergen
16
Minna von Barnhelm
Szenenfoto mit Andrej von Sallwitz und Hagen Löwe
Ungewöhnlich an Lessings Minna von Barnhelm ist vor allem der direkte Bezug zur Situation
in Berlin nach dem Krieg. Dass jemand die Gegenwart zum thematischen Hintergrund eines
Stückes machte, war im 18. Jahrhundert selten. Aus diesen Gründen verwundert es, dass das
Stück, trotz der Anspielungen, nicht der Zensur zum Opfer fiel.
Die Zeit nach dem Siebenjährigen Krieg
Von Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.
Das folgende Beispiel mag die Bedeutung historischer Ereignisse für das Stück beleuchten
– und zugleich zu erkennen geben, was Lessing veranlaßte, es zu schreiben. Offizieren der
preußischen Armee war es nicht gestattet, ohne königliche Erlaubnis zu heiraten – die selten
erteilt wurde und nur unter strikten Bedingungen (wie etwa, daß die Braut wohlhabend genug
sein müsse, um im Fall des Todes oder der Invalidität ihres Mannes die ganze Familie versorgen zu können). Armeevorschriften stellten ausdrücklich fest, daß der König unverheiratete
Offiziere bevorzuge, und das Gesuch eines glücklosen Husaren wies Friedrich ab mit dem
zynischen Wortspiel, „daß die Husaren nicht durch die Scheide, sondern durch den Säbel ihr
17
Minna von Barnhelm
Glück machen müssen“. Doch bald nachdem der Krieg im Februar 1763 zu Ende war, erließ
er eine erstaunliche Instruktion an seine Truppen in Sachsen. Mit den Worten eines Offiziers
in preußischen Diensten:
„Friedrich, um in seinen Staaten den großen Verlust an Menschen zu ersetzen, befahl, die Soldaten zum Heiraten zu nötigen. Die gute Bildung des weiblichen Geschlechts in Sachsen lud
ohnehin zum Ehestande ein. Die Befehlshaber, deren Interesse ein großer Troß Weiber zuwider war, und die überdem Unordnung befürchteten, waren daher mit ihrer Aufmunterung nur
sehr sparsam, bis der König von den Regimentern die Listen der Neuverheirateten verlangte.
Nun gaben die Befehlshaber den Soldaten das Signal zum Ehestande, und scharenweise
eilten diese zum Altar. Eine große Menge Weiber zogen mit den Preußen aus dem Lande fort,
und fast eben so viele Mädchen folgten ihnen nach. Sie trugen das ihrige bei, die verheerten
Provinzen wieder zu bevölkern.“
Leicht kann man sich vorstellen, wie Lessing, in Sachsen notorisch als Verteidiger Preußens
und in Preußen als Verteidiger Sachsens, auf diese Nachricht reagierte, daß also Preußen,
nachdem es Sachsen ausgeblutet hatte, jetzt auch seine Frauen beanspruchte. Er würde
die Situation mit ihrem imperialistischen Subtext umgekehrt und den sächsischen Frauen
die Oberhand gegeben haben. In Minna von Barnhelm kommen zwei solche Frauen in der
erklärten Absicht nach Berlin, „dem Könige einen Offizier wegzukapern“, und kapern schließlich gleich zwei. Auch ist nicht zu vergessen: als Minna und Tellheim sich zum ersten Mal
begegneten, war es Minna, die die Begegnung herbeiführte in der Absicht, ihn zu heiraten;
und ebenso ist es ihre Bediente Franziska, die dem ehemaligen Wachtmeister Werner einen
Heiratsantrag macht. Lessing muß seine besonderen Gründe dafür gehabt haben, daß er sie
so handeln ließ, schließlich ist ihr Verhalten höchst unkonventionell und paßt auch nicht zu
seiner Erklärung ein paar Jahre später, er „kenne an einem unverheirateten Mädchen keine
höheren Tugenden, als Frömmigkeit und Gehorsam“. Kurz gesagt, dieser Rollentausch ist
einer der „viele Stiche auf die Preußische Regierung“, die Nicolai und andere sofort in Minna
von Barnhelm erkannten.
Zeit und Ort der Handlung sind sehr genau bestimmt, und von Hinweisen auf zeitgenössische
Vorkommnisse und wirkliche Personen wimmelt das Stück nur so. Berlin wird zwar nie mit
Namen genannt, doch ist der Ort unverkennbar: der Gasthof, wo Tellheim und Minna wieder
zusammenfinden – der „König von Spanien“ – hat eindeutig den „König von Portugal“ in
der Burgstraße zum Vorbild, gegenüber dem königlichen Palast auf der anderen Flußseite,
während seine Rückseite an die Straße grenzte, in der Lessing bis zur Übersiedelung nach
Breslau wohnte. Sogar der Straßenlärm von Soldaten und Zivilisten, über den Franziska sich
beschwert, trifft auf diese Lage zu. Das Datum ist der 23. August 1763, Minna ist am Abend
zuvor angekommen; der Friede von Hubertusburg liegt also etwas mehr als sechs Monate
zurück, und es ist genau die Zeit, als Lessing mit Tauentzien in Potsdam war. Außerdem ist
mehrfach bemerkt worden, daß der 22. August der Tag war, an dem, nachdem eine Flut von
Bankrotterklärungen von Amsterdam über Hamburg nach Berlin übergeschwappt war, Friedrich eine Kommission ins Leben rief, die die Schulden regulieren und die Wirtschaft stabilisieren sollte; von der Bedeutung dieser Maßnahme für das Stück ist noch zu sprechen. Zu den
Anspielungen auf wirkliche Personen gehört der Name Paul Werner, den Lessing dem ehemaligen Wachtmeister in Tellheims Kavallerie-Kompanie gibt. Wie den Zeitgenossen gleich
auffiel, deutet der Name auf Paul von Werner, einen österreichisch-ungarischen Offizier, der, in
österreichischen Diensten als Protestant nicht befördert, in die preußische Armee überwech18
Minna von Barnhelm
selte und es in kürzester Zeit zum General brachte; der Name betont also die militärischen
Ambitionen der Bühnenfigur. Für Tellheim sind verschiedene Vorbilder namhaft gemacht worden, u.a. Lessings verstorbener Freund Ewald von Kleist, Major auch er, dessen Charakter Nicolai in Tellheim wiederentdeckte. Daß Tellheims Melancholie und Pessimismus, sein verwunderter Arm, seine Bescheidenheit, seine Großzügigkeit und Ehrenhaftigkeit und allerlei andere
Einzelheiten tatsächlich an Kleist erinnern (wenn auch nicht nur an ihn), hat man mehrfach
bemerkt.
Die meisten der bisher erwähnten Anspielungen dienen dazu, einen authentischen Eindruck
von der Atmosphäre und den Lokalverhältnissen zu vermitteln; andere jedoch, die zum Teil
erst in neuerer Zeit ermittelt wurden, sind politisch riskant und üben manchmal auch zwischen
den Zeilen Kritik am preußischen Regime. Dahin gehört schon Tellheims großzügiges Verhalten in Sachsen, das schließlich durch Friedrichs drakonische Kontributionsforderungen veranlaßt war, deren Gerechtigkeit unausgesprochen in Frage gezogen wird. Indem Tellheim das
absolute Minimum annahm, statt auf mehr zu bestehen, verstieß er gegen den Befehl, „mit
der äussersten Strenge“ vorzugehen. Seine Nachsicht wirft auch erneut eine Frage auf, über
die es zwischen Friedrich und mehreren seiner Untergebenen zu einer Auseinandersetzung
gekommen war, nicht zuletzt mit seinem Bruder Heinrich, der seinen Rücktritt anbot, nachdem er erfolglos um mehr Milde für die Sachsen eingetreten war. Auch andere Offiziere, etwa
die Majore Adolf von Baczko und Anton Rudolf Marschall von Bieberstein, hatten wie Tellheim
eigenes Geld vorgeschossen, und in Baczkos Fall verweigerten die preußischen Behörden die
Rückerstattung – ein riskantes Thema, auf das sogar der fiktive Brief anspielt, den Tellheim
vom König erhält, worin dieser unter Verweis auf seinen eigenen Bruder (Prinz Heinrich), der
ihn über die näheren Umstände aufgeklärt habe, nicht eben plausibel anerkennende Worte
für das Verhalten des entlassenen Tellheim findet und die restlose Rückzahlung zusagt. Nicht
nur wird der preußische König derart zum ersten Mal ins deutsche Drama eingeführt, Lessing
kommt auch der Indiskretion gefährlich nahe: daß Minna von Barnhelm nicht verboten wurde, mag lediglich Friedrichs Gleichgültigkeit gegenüber der deutschen Literatur zu verdanken
sein.
Verstärkt werden diese kritischen Andeutungen durch eine Reihe von Fingerzeigen auf die
Lage der ehemaligen Soldaten und der Bevölkerung insgesamt im Preußen der Nachkriegszeit. In erster Linie gehört das Schicksal der sogenannten Freibataillone dazu, von denen
während des Kriegs mehr als zwanzig und überdies auch Kavallerie-Schwadronen zur Ergänzung der regulären Armee rekrutiert worden waren. Diese Einheiten, in die gelegentlich
Deserteure, Sträflinge und Gefangene der Gegenseite eingezogen wurden, fanden für Einsätze von zweifelhafte Legalität Verwendung wie auch, wie die Strafbataillone mancher Armeen
im zwanzigsten Jahrhundert, bei Frontalangriffen, um die Verluste der regulären Truppen in
Grenzen zu halten, deren Bajonette sie von hinten antrieben; ihre Offiziere, unter ihnen viele
vorbildliche Soldaten, waren zum großen Teil Ausländer. Die meisten dieser Einheiten, und
besonders ihre Offiziere, wurden im März 1763 entschädigungslos entlassen, so daß Berlin
bald von verarmten Offizieren ohne Einkommen oder Pension wimmelte, von denen einige
früher oder später auf irgendeine untergeordnete Arbeit angewiesen waren. Noch schlimmer
war die Lage der Invaliden, die nur minimal versorgt wurden und für Beschäftigung nicht in
Frage kamen. Viele verlegten sich aufs Betteln, obwohl Betteln offiziell verboten war – Minnas
Worte über bettelnde Invaliden und Tellheims (wenn auch übertriebene) Selbstbeschreibung
19
Minna von Barnhelm
als Bettler erinnerten das Publikum unmißverständlich an diese unerfreulichen Tatsachen.
Angespielt wird auch auf das unzureichende Versorgung der Verwundeten: Tellheims Diener
Just wäre im Feldlazarett gestorben, wenn Tellheim nicht für seine medizinische Behandlung
und Rekonvaleszenz aufgekommen wäre. Und was die Angehörigen der Gefallenen angeht,
so wurden Pensionen von König persönlich genehmigt – oder häufiger abgelehnt; Tellheims
Großzügigkeit gegenüber der Witwe seines gefallenen Kameraden Marloff wirft ein Licht auf
die schwierigen Verhältnisse einer solchen Familie.
Geldsorgen und finanzielle Ungesichertheit machen nicht nur Tellheim zu schaffen, sondern
durch das ganze Stück hindurch auch der Bevölkerung überhaupt. Ob das Datum von Minnas
Ankunft auf die Maßnahme anspielt, die Friedrich an dem Tag verfügte, um die wirtschaftlichen
Verhältnisse zu stabilisieren, ist keineswegs sicher, obwohl man das mit großem kritischen
Aufwand nachzuweisen versucht hat. Minnas flüchtige Erwähnung des Bankrotts dieser oder
jener Bank erinnert natürlich an die Finanzkrise dieses Jahres, und die neue Krise von 1766
wird noch in frischer Erinnerung gewesen sein, als das Stück 1767 erschien. Das muß aber
nicht auf Kritik am preußischen Regime hinauslaufen, zumal die Krisen ihren Ursprung außerhalb Preußens hatten. Wohl aber gibt sich eben solche Kritik zweifellos zu erkennen, wenn
der Wirt Minna und Franziska nach ihren Personalien sowie der Dauer und dem Zweck ihres
Besuchs ausfragt: Hoteliers waren Schlüsselfiguren in Friedrichs polizeilichem Bespitzelungssytem.
All dies ergibt ein negatives Bild vom Preußen der Nachkriegszeit; deutlich ist auch, daß Tellheim das Land sobald möglich verlassen will. Die Entlassung seines Bataillons hat dabei
jedoch keine Rolle gespielt, da er sich bereits vorher entschlossen hatte, den Dienst zu quittieren. Was ihn veranlaßte, in Friedrichs Dienste zu treten, dürfte kaum preußischer Patriotismus
gewesen sein, denn Tellheim ist kein Preuße, sondern ein deutschsprachiger Kurländer (also
im heutigen Lettland zu Hause); wie andere Kurländer deutscher Abstammung schlug er sich
wahrscheinlich auf die preußische Seite, weil die Unabhängigkeit seines Landes damals von
Preußens Feind Rußland bedroht wurde. Zweimal spricht er von seiner Enttäuschung über
„die Großen“ (Friedrich hieß bereits „der Große“) und erklärt: „Die Dienste der Großen sind
gefährlich, und lohnen der Mühe, des Zwanges, der Erniedrigung nicht, die sie kosten.“ Eine
wichtige Funktion von Friedrichs Brief ist in diesem Zusammenhang, daß er Tellheim Gelegenheit gibt, das Angebot der Wiedereinstellung abzulehnen.
Wie die kritischen Anspielungen auf preußische Verhältnisse beruht auch Tellheims Enttäuschung durchaus auf der Wirklichkeit, sofern sie Lessings eigene Stimmung im Winter 176677 wiedergibt, als er das Stück abschloß und sich auf die Übersiedelung nach Hamburg vorbereitete. Ja, Tellheims Charakter und Lebensverhältnisse entsprechen weitgehend denen
Lessings: auch Lessing hatte kurz zuvor den Militärdienst verlassen, er hatte lange um ihm
geschuldetes Geld kämpfen müssen, er war in großen finanziellen Schwierigkeiten, er war
großzügig bis zur Fahrlässigkeit, neigte zu Verzagtheit und zynischen Gefühlsausbrüchen und
reagierte wütend (wie in der Lange-Affäre) auf jede Verdächtigung seiner Redlichkeit. Wie
Tellheim war er aus freien Stücken nach Preußen gekommen und steht jetzt im Begriff es enttäuscht zu verlassen; und Tellheims eskapistischer Wunschtraum von einem ländlichen Idyll
ist, wie auch Werners Hoffnung auf ein neues Leben in Persien [...] vergleichbar mit Lessings
eigenen Träumen damals von Rückzug aus der Gesellschaft oder Flucht in den klassischen
Süden. Sogar das Happy End deutet auf ähnliche Wunscherfüllung: Ende 1762 hatte Lessing,
20
Minna von Barnhelm
wie erwähnt, angedeutet, er würde sich gern verheiraten, und man kann schon annehmen,
daß Minna seinem Frauenideal nahekommt; bekanntlich waren alle Frauen, die er bewundert
hat, von Caroline Neuber bis Eva König, Ernestine Reiske und Elise Reimarus, tatkräftig und
tüchtig, charakterfest und, wie Minna, traditionell männlichen Aufgaben durchaus gewachsen.
[...]
Ist das Stück also „eine schneidende Satire auf das friderizianische Regiment“, wie der Marxist Franz Mehrung bekanntlich 1893 behauptete und wie manche Kritiker seither zu verstehen
gegeben haben? Wenn man nur die Anspielungen auf Zeitereignisse in Betracht zieht, spricht
vieles für Mehrings Urteil (obwohl „Satire“ ein viel zu starker Ausdruck ist; die eigentliche Satire ist auf Nebenfiguren wie den Wirt und den Franzosen Riccaut beschränkt). So wie Philotas
den preußischen Militarismus anprangert, so Minna von Barnhelm seine negativen Folgen.
Doch diese Kritik als Kern des Stücks hinstellen heißt die ebenso wichtigen positiven Elemente übersehen. Wie Karl Lessing feststellt, war Lessings Absicht u.a., den Soldatenstand
in ein besseres Licht zu rücken, als es seit der Antike üblich gewesen war (als miles gloriosus,
Bramabas, Capitano usw.), mit anderen Worten: Lessing behandelt die Soldaten genau so,
wie er in seiner frühen Komödie Die Juden eine andere ausgegrenzte Gruppe behandelt hat.
Tellheim bezeugt Tugenden wie Tapferkeit, Treue, Selbstdisziplin und Mitgefühl, und wie Kleist
und zahlreiche andere Offiziere, die Lessing kannte, hat er diese in der preußischen Armee
entwickelt und ausgeübt. Zu weiteren positiven Elementen gehören die Liebe und standfeste
Entschlossenheit Minnas, durch die Tellheim jene selbstlose Menschlichkeit wiedergewinnt,
die sie gleich anfangs zu ihm hingezogen hatte. Wohl war die Kritik des Stücks an unannehmlichen Verhältnissen in Preußen so deutlich, daß die preußischen Behörden die ersten
Aufführungen verzögerten, doch was das Publikum, das in die Berliner Aufführungen strömte,
begeisterte, waren nicht diese Verhältnisse, sondern das menschliche Drama, das sich in ihnen abspielt und das sie dann hinter sich läßt. Bedeutsam sicherlich, daß Prinz Heinrich und
andere Angehörig der königlichen Familie sich das Stück ansahen – wenn auch natürlich nicht
der König selbst. [...]
21
Minna von Barnhelm
Inszenierungsschwerpunkt II: Ökonomie
Die Spur der Ringe – Minnas Ring-Strategie
Wie eingangs erwähnt, ist der Ringkreislauf Symbol für ökonomische Kreisläufe. Da es schwer
fällt, nachzuvollziehen, bei welcher Person sich welcher Ring wann befindet, hier eine kleine
Zusammenfassung.
Vorgeschichte
Tellheim und Minna haben sich in Sachsen verlobt.
Beide haben je einen Verlobungsring. Die Ringe gleichen einander.
1. Akt
Tellheim bittet den Bedienten Just, seinen Ring zu versetzen um die Miete und weitere laufenden Kosten bezahlen zu können. Die Miete kostet 30, der Ring bringt 80 Taler. Bleiben 50
Gewinn. Der Ring befindet sich bis auf weiteres im Beutelchen des Wirts.
2. Akt
Minna – die inzwischen in Berlin und im Gasthaus eingetroffen ist – trägt ihren Ring am Finger.
Der Wirt entdeckt die Ähnlichkeit mit jenem Ring den er von Tellheim erhalten hat.
Er befragt Minna zum Wert ihres Ringes. Er versucht abzuschätzen, ob er ein gutes Geschäft
gemacht hat. Seine forsche Annahme: Der Ring könnte seine 1500 Taler wert sein. Bliebe ein
Gewinn von 1420 Talern. Minna erkennt den Ring wieder, den der Wirt vorzeigt. Er kann nur
von Tellheim stammen, dessen Spur sie nun gefunden hat.
Minna übernimmt den Ring. Als Mädchen aus gutem Hause kann sie es sich auch leisten,
den Ring beim Wirt auszulösen. Vermutlich zahlt sie einen viel zu hohen Preis. Der Wirt macht
einen satten Gewinn. Nun hat sie beide Ringe. Ihren eigenen trägt sie am Finger.
Den Ring von Tellheim – welcher nichts von dem Geschäft erfährt – verwahrt Minna in ihrer
Schatulle.
4. Akt – Minnas eigentliche Intrige
Minna versucht Tellheim mit einer geschickten Strategie zurückzugewinnen. Sie vertauscht
beide Ringe. Ihr eigener kommt in die Schatulle und der Ring, den Tellheim getragen hat,
kommt an ihren Finger.
In einer Auseinandersetzung gibt Minna Tellheim seinen Ring zurück.
Tellheim (der nicht weiß oder ahnt, dass sie im Besitz beider Ringe ist), muss denken, dass sie
durch Rückgabe des Rings symbolisch ihre Verbindung zu ihm auflöst. Sie behauptet zudem,
dass sie von ihrem Oheim enterbt worden ist, weil sie – aus Liebe zu Tellheim – alle vom Oheim
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Minna von Barnhelm
für sie vorgesehenen Männer abgewiesen und nicht habe heiraten wollen. Was bedeutet, dass
Tellheim glaubt, dass Minna durch ihre Liebe zu ihm und ihre Weigerung, einen anderen Mann
zu ehelichen gewissermaßen die Ehre verloren hat. Hat er sich zuvor beharrlich geweigert –
sich selbst und Minna – seine Liebe einzugestehen, kippt seine Haltung nun. Minnas Ehre
kann nur widerhergestellt werden, indem er sie heiratet.
5. Akt
Tellheim will die Verlobung bekräftigen und Minna ihren Ring symbolisch erneut an den Finger
stecken. Tatsächlich handelt es sich dabei jedoch nicht um ihren Ring. Der Ring, den er ihr
anstecken will, ist sein eigener.
Minna trägt ihren Ring am Finger und verweigert die Annahme von Tellheims Ring.
Bei Lichte besehen ist die Ringfrage eigentlich bereits gelöst: Minnas Ring ist bei Minna,
Tellheims Ring ist bei Tellheim. Das Problem entsteht, weil Tellheim die Vertauschung nicht
erkennt. Er wähnt seinen Ring beim Wirt und interpretiert Minnas Verweigerung als Zurückweisung.
Die Situation ist verwirrter denn je und es wird noch komplizierter…
Just hat den Auftrag bekommen Tellheims Ring, vom Wirt zurückzuholen, kommt aber zurück
mit der Nachricht, dass Minna den Ring bereits vom Wirt gekauft habe und ihn nicht mehr
zurückgeben wolle. Tellheim interpretiert die Situation falsch: Er glaubt, Minna sei nur nach
Berlin gekommen, um die Verbindung mit ihm zu lösen – ein Missverständnis. Noch immer
durchschaut Tellheim die Strategie seiner Minna nicht und ist zutiefst verletzt.
Die Lage ist derart vertrackt, dass Minna sich gezwungen sieht, ihre Karten auf den Tisch zu
legen und die komplizierte Situation aufzulösen. Sie gesteht Tellheim ihrer Liebeslist und zur
Beglaubigung lässt sie sich den Ring geben, den Tellheim bei sich trägt. Jetzt erkennt er, dass
der Ring seiner ist.
Sie nimmt ihn, um ihn Tellheim erneut an den Finger zu stecken. Die Ring-Frage ist geklärt und
die Verlobung von beiden bekräftigt. Aber ist damit auch das Glück von Minna und Tellheim
wiederhergestellt? Wird mit der Klärung tatsächlich ein „Happy End“ besiegelt?
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Minna von Barnhelm
Szenenfoto mit Franziska Ritter und Stefan Kowalski
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Minna von Barnhelm
Die Ringe als Symbol
Ringe, symbola
Von Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft – Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich: diaphanes, 2011.
Verbindliche und vertragsähnliche Beziehungen einerseits und ihre Unterbrechung durch
kontingente Ereignisse andererseits ergaben also das Grundmuster für ihre Konfliktfälle und
Lösungsversuche dieses Theaters. Dies führte zur Frage nach einer Erkennung und einer
verlässlichen Gegenseitigkeit im sozialen Verkehr, die als Ausgangspunkt und Zweck der inszenierten Kommunikationen erscheint; dies führte zur Frage nach Bestimmung und Steuerung von bloßen Zufallsereignissen wie am Beispiel des Spiels; und dies führte zu dem Versuch, beide Fragen in einem zu lösen und mit einem Exempel der Mitleidspoetik, mit einem
tragischen Einschlag in der Komödie die Zufälligkeit des Zustoßenden in eine Symmetrie der
Erwartungen zu integrieren und damit ein stabiles Verhältnis zwischen ‚gleichen‘ Personen gegen die Kontingenz der Verhältnisse zu sichern. Wenn allerdings Lessings Stück auch an dieser Stelle noch nicht zu Ende gekommen ist, so liegt es nicht zuletzt daran, dass die Order des
Königs, deren Ausbleiben das Drama ausgelöst hat und die nun endlich Ehre und Vermögen
des Majors exmachina restituiert, die gespielte Gleichheit wiederum auflöst und die Zu- und
Anfälligkeiten der Relation gerade dadurch dokumentiert, dass sie als Glücksfall nur kommendes Unglück heraufbeschwört. War Minna von Barnhelms gespieltem Trauerspiel vorübergehend ein glücklicher Ausgang beschert, so macht das erneute Soldatenglück, jener von Tellheim erhoffte „glücklich[e] Wurf“, nur eine weitere Wendung ins Unglück aus. Denn tatsächlich
ist die „Gleichheit“, mit der die Liebenden einmal begonnen haben, zu diesem Augenblick
noch nicht wirklich gewonnen. Das zeigt sich insbesondere am Schicksal jener Ringe, deren
Tausch zu Beginn diese Gleichheit besiegelt hat und deren Zirkulation als genauer Indikator
nun alle Stationen und Peripetien des Geschehens begleitet: In seiner Zwangslage hat Tellheim den von Barnhelm erhaltenen Verlobungsring versetzt, durch Zufall geriet er über den
Wirt an diese zurück, fast unwillkürlich und absichtslos tauscht sie in gegen den eigenen aus,
gibt ihn Tellheim zurück, der ihn für das Gegenstück und damit für ein Zeichen der Aufkündigung hält und bis zur geradezu gewaltsamen Aufklärung am Schluss verkennt: „Daß der Zufall
so gern den Treulosen zu Statten kömmt! Er führte Ihnen Ihren Ring in die Hände. Ihre Arglist
wußte mir den meinigen zuzuschanzen“. Gerade am Zeichen der Treue wird Treulosigkeit konstatiert, und während also Tellheim den richtigen, d.h. den getauschten Ring nur durch Täuschung zurückerhält, glaubt er sich durch ebendiesen Austausch an den getauschten Ringen
getäuscht. Die beiden verwechselbaren und zusammengehörigen Ringe werden hier entsprechend als Symbol verhandelt als symbolon im strengen Sinn. Des wie im Vertragswesen des
archaischen Griechenland symbola, d.h. bestimmte Gegenstände wie etwa Ringe – oder entzweigebrochene Münzen oder Tonstücke – als Bürgschaft oder Pfand, d.h. als sichtbare Zeugen einer Vereinbarung zum Zweck eines späteren Vergleichs getauscht wurden, so fungieren
auch die identischen, aber mit den jeweiligen Namen gezeichneten Ringe von Barnhelm und
Tellheim als Teile eines Zusammengefügten, als symbolon und Kennzeichen ebendieser Fügung, dessen Umlauf das Spiel von Erkennung und Verkennung, von „Treue“ und „Untreue“
symbolisiert. Und so sehr die anfangs getauschten Ringe damit das Medium sind, das die
Zufälle, Transaktionen und Tauschakte, die Verbindungen wie die Auflösungen gleichermaßen
kodiert, so sehr stehen sie für die anfängliche und endgültige Gegenseitigkeit, für jenen Vertrag oder Quasi-Vertrag, dessen Erinnerung, Wiederholung und Wiederherstellung der Zweck
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Minna von Barnhelm
der im Lustspiel gespielten Spiele war: in der endlichen Einsicht Tellheims nämlich, dass der
Ring immer schon am richtigen Finger und dass die Verbindung und die Verbindlichkeit nie
wirklich auflösbar waren. Das Drama organisiert sich also um das in den getauschten Ringen
artikulierte Verhältnis von Symmetrie und Asymmetrie, von Verbindung und Auflösung, es
organisiert sich um die Bewegung und das Verhältnis jener Teile oder symbola, die gleichermaßen als Zeugen einer Verbindlichkeit und Kennzeichen einer Verkennung, d.h. Auflösung
erscheinen. Diese Ringe stehen damit im Zentrum des komplexen Motivationsgefüges von
Lessings Drama. Sie sind Marke für eine stabile Ordnung der Gegenseitigkeit und werden
doch als Spielmarke in der Dynamik ökonomischer Transaktionen konvertiert; sie sind Kennzeichen einer Vereinigung und repräsentieren in der Verkennung doch die Unvereinbarkeiten
von Perspektiven; und sie bringen damit die verschiedenen Momente und Motive des Dramas
in einen elementaren Zusammenhang: das Verhältnis der Liebenden und die Politik der Generalkriegskasse, das Spiel der Minna von Barnhelm und die Zirkulation ökonomischer Werte,
die Welt der Zufälle und die der personalen Verbindlichkeiten.
Die Ringe kodieren also Vereinigung wie Trennung, Erkennung wie Verkennung und sind
als Zeichen demnach symbolisch und dia-bolisch zugleich. Wie kommt es nun, dass diese
Ringe zu diesem sehr doppeldeutigen Ding werden und sowohl scheiden wie auch verbinden, Scheidungen und Allianzen anzeigen? Zunächst geschieht das dadurch, dass sich die
Doppelbedeutung der Ringe in der le auf eine doppelte Funktion, auf eine zweifache Verwendungsweise gründet. Denn einerseits treten sie in den Verhandlungen zwischen Barnhelm und
Tellheim ja als getauschtes „Unterpfand“ einer ersten Übereinkunft, als Teile eines Geteilten,
die als eine Art Erinnerung und Appell diesen ersten Akt immer von neuem festhalten: „Hier,
empfangen Sie es zum zweytenmale, das Unterpfand meiner Treue. Als dieses Pfand stehen
die Ringe am Anfang und am Ende des Stücks, am Anfang und Ende des Kreislaufs und markieren damit eine vollendete Gegenseitigkeit, ein Verhältnis von Gabe und Gegen-Gabe und
einen Tausch, der sich durch einen Gegen-Tausch kompensiert. Geschlossener Kreis, Gegenseitigkeit, Übereinkunft und reziproker Tausch – gerade diese Verbindlichkeit wird durch
die andere, aber ebenso klare und inhärente Verwendung der Ringe aufgebrochen, und zwar
durch eine Operation, in der sich – wie im Handel zwischen Wirt und Tellheim – einer der
Ringe als ein Ding offenbart, das seinen Preis hat und dessen Preis sich überdies als sehr
wechselhaft erweist, mit „achtzig“, „neunzig“ oder „hundert Pistolen“ beziffert wird und somit
einer Gewinn- und Verlustrechnung und einer Konjunktur der Nachfrage unterliegt. Der Ring
ist hier nicht mehr Besiegelung eines Vertrags, sondern Gegenstand eines Tausches, nicht
mehr solide Erinnerung eines gegebenen Worts und eines ‚Datums‘, sondern wechselhaftes
und verwechselbares Versatzstück. Am Beispiel der Ringe werden also unterschiedliche und
konträre Bewegungen vollzogen, die dennoch am selben Gegenstand zusammentreffen: einerseits die unendlich schnelle Bewegung eines unmittelbaren Tausches, ein Zirkel, der sich
sozusagen auf der Stelle vollzieht; andererseits aber eine weitläufige Zirkulation, ein Wandern
von Hand zu Hand, das Zufällen und Schwankungen ausgesetzt ist und erst nach Umwegen
seinen Anfangs- und Endpunkt erreicht.
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Minna von Barnhelm
Inszenierungsschwerpunkt III:
Klassische Geschlechterrollen
„Ich bin Ihre Gebietherinn, Tellheim; Sie brauchen weiter keinen Herrn“ - Minna von Barnhelm
ist eine Frau mit unerschütterlichem Selbstvertrauen und der Überzeugung, dass sie, mit ihrer
Liebe, die Lösung für alle Probleme Tellheims sei. Für damalige Verhältnisse ist Minnas Verhalten allerdings recht ungewöhnlich. So oblag zum Beispiel die Wahl eines Ehemannes den
Eltern oder, im Falle Minnas, ihrem Onkel als Vormund.
Die Macht des pudor sexus
Von Rudolf Walter Leonhardt: Die Zeit, 1993, Nr.22
[…]
Am stärksten berührt hat mich der 1798 datierte Brief einer Elisabeth Eleonore Bernhardi:
„Von unserer ersten Jugend an, haben sie [vermutlich: die Eltern] kein größeres Intereße als
uns zu verheirathen; und wenn die Anträge ausbleiben, auf welche sie hofften, wenn sich die
Wahrscheinlichkeit zur Erfüllung ihrer und unserer Wünsche vermindert, sind wir ihnen eine
Last und der Gegenstand ihres drückendsten Kummers“ Rudimente solcher Gefühle soll es
immer noch geben. Auch ist „alte Jungfer“ noch heute kein Schmeichelwort. Aber wie sehr
eine Frau ohne Mann und Kinder damals als Naturkatastrophe galt, können wir uns Gott sei
Dank nur noch schwer vorstellen, „Alte Jungfer“ war das Schlimmste. Aber auch das Dasein
einer Witwe oder einer geschiedenen Frau war schlimm. Vor allem lag das an der inzwischen
ja ausreichend diskutierten ökonomischen Stellung der Frau ohne Rente, ohne Alimente, ohne
eigenen Beruf. Mit dem Beruf fing es allerdings gerade im 18. Jahrhundert an, sich zu ändern
- wahrscheinlich die für jene Zeit spezifischste Änderung gesellschaftlichen Denkens. Die ersten staatlichen Schulen wurden eingerichtet; Lehrerinnen wurden eingestellt. Unter den von
Andrea van Dülmen Aufgespürten gab es sogar schon eine Vizedirektorin. Und am 25. August
1787 wurde Dorothea Schlözer von der Universität Göttingen zum Dr. phil promoviert.
Joachim Christian Blum legte sich mächtig ins Zeug. 1776 schrieb er: „Was hat die schöne
Hälfte des Menschengeschlechts gesündigt, daß wir ihre Bildung immer noch nicht zu einem
Staatsinteresse gemacht, immer noch nicht öffentlich genug und allgemein betrieben haben?“
Inzwischen ernährten sich Frauen auch als Schriftstellerinnen. Die Literatur ist ihnen ja bis
heute die zugänglichste aller schönen Künste geblieben. Um 1783 schrieb eine heute nur
noch Spezialisten bekannte Isabella von Wallenrodt ganz zufrieden, „daß ich mich damals,
wie ich mich von allem entblöst sähe, beschloß, als Schriftstellerin etwas zu erwerben“. Das
ist ihr offenbar gelungen.
Frauen konnten Gouvernanten und Hebammen werden, geachtete und gutbezahlte Berufe.
Aber so sehr sich die katholische Kirche querstellte und sie war es vor allem, die den Berufs27
Minna von Barnhelm
weg von Frauen blockierte: Frauen wurden auch Ärztinnen. Die 1730 in Europa bekannteste
Zahnärztin war eine Madame Prinz. Bei den Zähnen mochte das noch angehen. Sobald es
jedoch um andere Körperteile ging, trat auf einmal jene Vorstellung von „Schamlosigkeit“ hervor, die in der Geschichte der Kirche eine so fragwürdige Rolle gespielt hat „Der erste Grund,
warum kein Frauenzimmer zur medicinischen praxi soll gelassen werden, ist pudor sexus“,
schrieb Christian Polycarp Leporin 1742. Und er verdeutlichte: „Ein Frauenzimmer, die curiren
will, thue wohl, wenn sie Mannes Personen gar nicht, oder doch wenigstens bey gewissen
Fällen nicht in die Cur nehme.“
Die Beispiele dafür, wie der pudor sexus die katholische Kirche dazu verführt hat, die Realitäten menschlichen Lebens zu malträtieren, und wie das immer wieder vor allem auf Kosten
der Frauen ging, auch nachdem sie nicht mehr als Hexen verbrannt werden konnten, füllen
Bibliotheken. […]
Zu den wenigen Beschäftigungen, die bei höheren Töchtern „damals“ (sagen wir: bis 1930)
besonders gern gesehen waren, gehörte das Klavierspiel. Eine Angelika Rosa begeisterte den
Fürsten mit ihrer Art, das Pianoforte zu schlagen, derart, daß sie mit einem stattlichen Gehalt
bei den Hofmusikern eingestellt wurde. Ihr Kommentar: „Die Geistlichen rannten sich bald die
Beine ab bei meiner Mutter, sie sollte mich doch nicht zu dem gottlosen Leben hingeben, auf
welches nichts als Fluch und Verdammniß folgen könnte“.
Es scheint mir fair, mit dem Satz zu enden, der mir in dem Buch am besten gefallen hat, weil
auch er von einem Geistlichen stammt, freilich nicht von irgendeinem: „Ich glaube an die
unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und der Weiblichkeit
annahm“ (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher).
Traditionelle Geschlechterrollen
Von Juliane Härtwig: Freundschaft im Wandel der Geschlechterrollen, 2005.
Es gibt gesellschaftliche Strukturen, in die Mann und Frau eingebettet waren, die die oben
beschriebenen Geschlechterrollen und die damit niedrigere Stellung der Frau fördern bzw.
beibehalten. Die traditionellen Geschlechterrollen bewirkten, dass Freundschaft als MännerDomäne gesehen, und den Frauen ein solch geistiges Verhältnis in der Vergangenheit abgesprochen wurde.
Dieses Geschlechterverhältnis von dem hier die Rede ist, wird durch den Begriff Patriarchat
charakterisiert und bedeutet eine gesellschaftliche Vorrangstellung der Männer gegenüber
Frauen in allen Bereichen durch androzentrische Vorstellungen. Die natürliche Überlegenheit
des Mannes begründet seinen gesellschaftlichen Herrschaftsanspruch.
Diese Höherstellung der Männer beruhten u. a. auf der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, die lange Zeit mit der biologischen Andersartigkeit der Frau begründet wurde.
[Jurczyk skizziert] auf der Basis von folgenden fünf Elementen die Verankerung der traditionellen Geschlechterverhältnisse:
Zum ersten wurden die Geschlechterverhältnisse durch die strukturelle, räumliche und zeitliche Trennung der Gesellschaft in die „Frauenwelt“ und „Männerwelt“ verankert. Die „Frau28
Minna von Barnhelm
enwelt“ beinhaltete die Familie, in der die Frau der arbeitsintensiven Aufgabe der physischen
und psychischen Versorgung der Familienmitglieder nachging. Die „Männerwelt“ beinhaltete
den Beruf. Sie wurde zur Sachwelt, ein Bereich von Tätigkeit und Arbeit, in der das notwendige Geld zum Leben verdient wurde. Daraus entstand dann die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung. Es polarisierten sich Zuständigkeitsbereiche, in denen die Frauen „verhäuslicht“
wurden, obwohl es immer auch Frauen gab, die zusätzlich zu ihrer familialen Arbeit erwerbstätig waren. Männer waren dann demzufolge für die außerhäuslichen Tätigkeiten zuständig.
Damit waren die Frauen sozial und ökonomisch an die Existenz des Mannes gebunden und
in allen öffentlichen und privaten Bereichen dem Manne untergestellt. Diese Hierarchie der
Geschlechter war auch juristisch festgelegt.
In Folge konnten sich Geschlechtercharaktere durch die Zuordnung der Geschlechter zu bestimmten gesellschaftlichen Sphären und Tätigkeiten bilden. Es wurden den beiden Geschlechtern vermeintliche typische und naturbedingte Eigenschaftskonstellationen zugeschrieben,
die als polar, einander ausschließend und sich wechselseitig ergänzend verstanden wurden.
Eine typische weibliche Eigenschaft war z.B. Emotionalität, eine typische männliche Vernunft.
Das Zusammenleben von Eheleuten basierte bis zur Moderne auf der Ehegattenwahl bedingt
durch ökonomische Voraussetzungen. Das heißt, dass die Liebe nicht das Motiv der Heirat
war, sondern viel mehr der Stand, die Einkünfte und die Arbeitsfähigkeit des Mannes eine
Rolle spielten, damit er die Familie versorgen konnte, besonders in bäuerlichen Lebenszusammenhängen.
Ein Blick in die kleinbürgerliche Familie des 18. Jahrhunderts kann die damaligen Geschlechterrollen gut veranschaulichen:
Die Frau hatte in Bezug auf die Geschlechterhierarchie in der Familie die untergeordnete Rolle.
Es war normal, dass der Mann das Oberhaupt der Familie ist, und die Frau sich nach ihm zu
richten hatte. Das Einzige, das man ihr uneingeschränkt überließ, war der Haushalt und die
Erziehung der Kinder. Möller beschreibt die „Ordnung des Hauses“, die von Sintenis verfasst
wurde. Darin kommt zum Ausdruck, dass die Frau ein Muster jeder weiblichen Tugend zu sein
hat und Vorbild für die Kinder. Der Abstand zwischen Mann und Frau sei groß. Er hat sie für
die Herrin des Hauswesens erklärt und der innere Haushalt sei die Sphäre ihres Lebens. Zu
großweltlichem Verkehr und geräuschvollen Gesellschaften habe sie sich nicht hingezogen zu
fühlen. Sie solle ohne großen Aufwand bescheidend, zurückhaltend und still leben.
[…]
Die Stellung des Mannes war entsprechend der Gesellschaftsordnung des Patriarchats vorherrschend. In der Familie war er das Oberhaupt, traf alle wichtigen Entscheidungen, hatte
Vorbildfunktion, war Beschützer und Ernährer seiner Familie. Außerdem war er Repräsentant
seiner Familie gegenüber der Außenwelt. Er galt in der Familie als der Wissende, Erfahrene,
Starke, der, der den Rang der Familie durch seine außerfamiliäre Stellung bestimmte.
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Minna von Barnhelm
Szenenfoto mit Birgit Berthold und Andrej von Sallwitz
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Minna von Barnhelm
Exkurs
Friedrich der Große und Preußen
Mit dem Brief Friedrichs an Tellheim und Tellheims damit verbundener Rehabilitation löst Lessing alle Probleme, das Happy End kann eingeleitet werden. Das Inszenierungsteam sah es
allerdings als Schwäche, dass Friedrich nie physisch präsent ist und nutzte die Vorteile der
Komödie. Friedrich betritt die Bühne als skurrile Überfigur, als eine Art Erscheinung, die man
nicht richtig einordnen kann. Daher auch die Idee, Friedrich mit einer Frau zu besetzen.
Friedrichs Rede ist eine Collage aus „Durchhalteparolen“. Es handelt sich um Ausschnitte aus
Heinrich Himmlers „Posener Reden“ und Briefen Joseph Goebbels. Es zeigte sich, dass die
Rhetorik von Kriegsreden über die Jahrhunderte starke Ähnlichkeiten aufweist, der perpetuierte Ehrbegriff steht immer im Mittelpunkt.
Der kleine König
Von Klaus Wiegrefe: Der kleine König. In: Der Spiegel, 7. November 2011, Nr. 45
Vor 300 Jahren wurde der populärste Herrscher der Deutschen geboren: Friedrich der
Große. Das Leben des Hohenzollern ist reich an Mythen, Legenden und Widersprüchen.
Doch wer war er wirklich: Dämon oder Wohltäter, Despot oder Aufklärer?
Wie muss ein Monarch sein, damit ihm sein Volk den Beinamen „der Große“ verleiht? Kühn,
gerecht, gütig, großherzig?
Als König Friedrich II. von Preußen in den frühen Morgenstunden des 17. August 1786 im Alter
von 74 Jahren starb, zündeten die Menschen in vielen Häusern Berlins vor Freude Kerzen an,
und auf den Straßen machte das Wort die Runde, man solle Gott danken, das „alte Ekel“ sei
endlich tot.
Auch unter den oberen Zehntausend trauerten nur wenige, wie der französische Abgesandte Honoré Graf de Mirabeau erstaunt registrierte. Alle Gesichter hätten „Erleichterung und
Hoffnung“ gezeigt, nicht „ein Bedauern, nicht ein Seufzer, nicht ein Wort des Lobes“ sei zu
vernehmen gewesen.
[…]
Zum „Liebgewinnen“ eignete sich der Preußenkönig mit den vorstehenden Augen in der Tat
wenig. Die Ärzte diagnostizierten bei dem 1,60 Meter kleinen Mann „temperamentum cholerico-melancholicum“ - er war ein Leuteschinder, der seine Untergebenen mit Stockschlägen
und Flüchen („Esel“, „Windbeutel“, „Halunken“) traktierte; ein Despot, der sich amüsierte,
wenn Soldaten unter seinem Fenster Spießrutenlaufen mussten und ihnen die blutigen Hautfetzen vom Rücken hingen.
31
Minna von Barnhelm
Erschien er auf seine alten Tage bei Festen, erstarben die Gespräche und erstarrten die Gesichter. Ein kalter Intrigant, durchtrieben und verschlagen. Thomas Mann wird später über ihn
schreiben, er sei ein „boshafter Troll“ gewesen.
Und doch vermochten sich die Deutschen schon wenige Jahrzehnte nach seinem Ableben
in einer Weise für ihn zu begeistern wie für keinen anderen deutschen Herrscher. Es gibt ja
schließlich auch den anderen Friedrich, dessen Bilanz sich so eindrucksvoll liest: den aufgeklärten Reformer mit der Querflöte, der Schloss Sanssouci in Potsdam bauen ließ und mit Geistesgrößen wie dem Dichter Voltaire auf Augenhöhe verkehrte. Und den Feldherrn, der Preußen in drei Schlesischen Kriegen als Großmacht etablierte. Ohne diese Waffengänge wäre der
deutsche Nationalstaat vermutlich unter der Führung Österreichs gegründet worden, mit Wien
als Hauptstadt.
Friedrich der Große: Apostel der Aufklärung und Machtmensch zugleich.
[…]
Schon gleich am Anfang steht ja der berühmteste Vater-Sohn-Konflikt der deutschen Geschichte, und man kann die Widersprüchlichkeit Friedrichs nicht erklären ohne die traumatische Kindheit, von der er sagen wird, sie sei eine „Schule der Widerwärtigkeiten“ gewesen.
Friedrich Wilhelm I., genannt der Soldatenkönig, ist ein autoritärer Knochen. Er glaubt, wenn
der Sohn nicht zu seinem Ebenbilde reife, werde Preußen untergehen. Das freudlose Lebensmotto des calvinistischen Herrschers lautet, „Parol auf dieser Welt ist nichts als Müh‘ und
Arbeit“, und sein Nachfolger soll daher praktisch werden, fleißig und fromm. Außerdem natürlich dem Militär so zugeneigt wie der väterliche Regent, der seine Armee zur viertgrößten
Streitmacht Europas aufrüstet, obwohl das kleine Preußen von der Einwohnerzahl her nur an
13. Stelle steht. Auf dem Erziehungsplan für den Kronprinzen findet sich die „wahre Liebe zum
Soldatenstande“ ganz oben.
Doch der kleine Friedrich will nicht mit Zinnsoldaten spielen, er fürchtet sich vor Kanonendonner und fällt beim Reiten vom Pferd. Er ist ein verträumtes, scheues Kind, das gern liest
und bei Mutter und Schwester hockt, was den Vater ergrimmt: „Ich weiß wohl, dass Fritz nicht
dieselben Neigungen hat wie ich.“
Der jähzornige König macht fortwährend Druck. Als er eines Tages das Zimmer betritt, in dem
der Junge mit seinem Privatlehrer lernt, fragt er streng, was sie gerade durchnähmen. Freudestrahlend berichtet Friedrich, er dekliniere das Wort „mensa“. Der Sohn ahnt nicht, dass sein
Vater Latein als unnütz erachtet.
Und Friedrich Wilhelm, ein Mann von zweieinhalb Zentnern, verliert die Beherrschung. Er prügelt den Erzieher in den Nebenraum, packt den verängstigten, unter den Tisch geflüchteten
Prinzen bei den Haaren, zieht ihn hervor und schleift ihn in die Mitte des Zimmers, wo er ihm
von links und rechts ins Gesicht schlägt: „Komm mir wieder mit deiner mensa, und du wirst
sehen, wie ich dir den Kopf zurechtsetze.“
[…]
Bald befeuern geradezu modern anmutende Teenager-Themen den Konflikt. Friedrich Wilhelm schimpft über die Musik des Sohnes („Querpfeiferei“), dessen Haarschnitt („wie ein Narr
sich frisiret“), den Eigensinn („zu nichts Lust als seinem Kopf zu folgen“). Er demütigt den
Prinzen öffentlich und höhnt: „Wenn mein Vater mich so behandelt hätte, so hätte ich mich
längst umgebracht.“
32
Minna von Barnhelm
1730 eskaliert die Situation. Der verzweifelte Friedrich plant eine Flucht nach England, wo sein
Onkel König Georg II. regiert. Es ist eine ungeheuerliche Idee, die eine Staatskrise auslösen
muss, wenn sie gelingt. Während einer Reise mit dem Vater an die Höfe im Westen und Süden
Deutschlands will er sich im Dorf Steinsfurt bei Mannheim absetzen - doch der Plan fliegt auf.
Friedrich Wilhelm lässt den Sohn unter scharfer Bewachung auf preußisches Territorium nach
Wesel bringen, wo er ihn persönlich verhört.
[…]
Friedrich kommt auf die Festung Küstrin in Isolationshaft. Er muss die braune Strafgefangenenkluft tragen, um 19 Uhr wird die Zelle verdunkelt. Wochenlang wartet er auf ein Verdikt des
Vaters, der ihn der Fahnenflucht bezichtigt. Friedrich droht die Todesstrafe.
Wie der führende Friedrich-Biograf Johannes Kunisch schreibt, will der Vater den Sohn endgültig „auf die Knie zwingen“. Den Preis dafür muss Leutnant Hans Hermann von Katte zahlen, der in die Fluchtpläne eingeweiht war. Der gebildete Offizier ist Friedrichs engster Freund;
ein Zeitgenosse berichtet, sie seien miteinander umgegangen „wie ein Liebhaber mit seiner
Geliebten“.
Das in Köpenick tagende Kriegsgericht verurteilt Katte zu lebenslanger Festungshaft, aber
Majestät verlangt dessen Tod: „Das Kriechgericht soll wieder zusammen kommen und ein
anderes (Urteil - Red.) sprechen.“ Den Bewachern des Sohnes befiehlt er, den Häftling zu
zwingen, die Hinrichtung von der Zelle aus „mit anzusehen“.
Für den Kronprinzen ist das die Höchststrafe. Vergebens bietet er sein Leben für das des
Freundes, eine der wenigen selbstlosen Gesten Friedrichs.
Am 6. November 1730 betritt der um Haltung ringende Katte den Hinrichtungsort unterhalb
des Gefängnisses. „Mon cher Katte, ich bitte Sie tausendmal um Vergebung“, ruft Friedrich
noch. Der Freund nimmt die Perücke ab, reißt sich das Hemd von der Brust und legt den Kopf
auf den Block. Da bricht der Kronprinz ohnmächtig zusammen. Der Anblick des Schlages, mit
dem der Scharfrichter seinen Freund köpft, bleibt ihm erspart.
Der Tod Kattes markiert den blutigen Höhepunkt des Vater-Sohn-Konflikts, und Friedrich steht
vor der wichtigsten Entscheidung seines Lebens. Er könnte dem Thron entsagen, sich zurückziehen, dem Druck ausweichen.
Doch er geht den anderen Weg, er fügt sich zum Schein dem Vater. Knapp zwei Wochen nach
der Hinrichtung legt er einen Eid ab, künftig zu gehorchen. Als ihn der König erstmals wieder
empfängt, fällt er vor ihm auf die Knie und küsst die Stiefel. Friedrich Wilhelm entlässt den
Sohn aus der Haft. Der Kronprinz muss in Küstrin in der Verwaltung hospitieren, ein Jahr später übernimmt er ein Infanterieregiment in Ruppin.
Die seelischen Verletzungen aber bleiben. Aus Friedrich, dem Opfer, wird peu à peu Friedrich,
der Täter. In den Berichten der Zeitgenossen häufen sich Hinweise auf wenig sympathische
Charakterzüge. Der geistreiche, schlagfertige, außergewöhnlich belesene junge Mann entpuppt sich als Besserwisser, verletzend in seinem Spott und süchtig nach Geltung.
Auf Geheiß des Vaters heiratet er die drei Jahre jüngere Elisabeth Christine von BraunschweigBevern; insgeheim hofft er, der König werde ihn dann in Ruhe lassen. Elisabeth langweilt ihn,
aber er behandelt sie freundlich und kümmert sich angeblich auch um die Nachfolge: „Sie
kann sich nicht beklagen, dass ich nicht mit ihr zu Bette gehe.“
33
Minna von Barnhelm
Viel Spaß können die beiden nicht miteinander gehabt haben; nach dreijähriger Ehe vertraut
Friedrich einem Freund an, er liebe „mehr pflichtmäßig als aus Neigung“. Später schiebt er
Elisabeth nach Schönhausen ab, ein Schloss vor den damaligen Toren Berlins. Sie übernimmt
einen Teil der Repräsentationsaufgaben, die in der Hauptstadt anfallen; die Eheleute kommen
nur noch zu offiziellen Anlässen zusammen. Die Verbindung bleibt kinderlos.
[…]
Das Kronprinzenpaar wohnt nun im Schloss Rheinsberg nordwestlich Berlins. Er sammelt einen Kreis Gleichgesinnter um sich, sie diskutieren, feiern, musizieren. Zudem verschlingt der
bildungshungrige Prinz die Werke der Aufklärung.
Das neue Denken beeindruckt ihn: dass man sich von der Vernunft leiten lassen solle, dass
Kritik Fortschritt verheiße, dass den Menschen von Natur aus gleiche Rechte zukämen. Es ist
das Kontrastprogramm zur Willkür des Vaters, und Friedrich schreibt lange Traktate, die heute selbst als Klassiker gelten. Sein literarisches Werk wird am Ende mehrere Dutzend Bände
umfassen.
[…]
Friedrich, der Widersprüchliche. Was für ein Tribun er gern sein will, zeigt sich schon kurz
nach dem Tode des Vaters. Friedrich Wilhelm stirbt am 31. Mai 1740 im Alter von 51 Jahren.
Und gleich in den ersten Wochen zündet Friedrich II., wie der Nachfolger nun genannt wird,
ein Feuerwerk an Reformen.
Der König ist tot, lang lebe der König.
Eine Auswahl seiner ersten Ankündigungen:
• 3. Juni: „Seine Königliche Majestät haben resolviret, in Dero Landen
bei den Inquisitionen die Tortur gänzlich abzuschaffen.“
• 5. Juni: „Dem hiesigen Berlinischen Zeitungsschreiber (soll) eine unbeschränkte
Freiheit gelassen werden zu schreiben, was er will, ohne dass solches zensiert
werden soll.“
• 22. Juni: „Die Religionen müssen alle tolerirt werden, denn hier muss ein jeder
nach seiner Façon selig werden.“
Das klingt fortschrittlich, und bis heute neigt das bildungsbürgerliche Publikum dazu, in der
Person des sogenannten Philosophenkönigs die Aufhebung des Gegensatzes von Geist und
Macht zu sehen.
Er sei „fritzisch gesinnt“ gewesen, schreibt später Johann Wolfgang von Goethe, das habe
bedeutet, gegen den „alten Zopf“ zu sein.
Aber schon nach wenigen Wochen zeigt der janusköpfige Friedrich seine andere, dunkle Seite.
Am 20. Oktober 1740 stirbt in Wien Karl VI., Habsburger und Kaiser des Heiligen Römischen
Reiches deutscher Nation, und die Mächte Europas hadern, ob der Anspruch seiner Tochter,
der 23-jährigen Maria Theresia, rechtmäßig sei - oder ob ein Mann auf den Thron folgen müsse.
34
Minna von Barnhelm
Die Herrscher wollen den sogenannten österreichischen Erbfolgestreit nutzen, um die eigene
Position zu verbessern. Ideologien und Nationen spielen noch keine Rolle. Europas Royalties
teilen Länder und Regionen auf, wie es ihnen beliebt.
Doch ausgerechnet der Neue in Berlin setzt den ersten Schlag und überrollt im Dezember
1740 mit 20 000 Soldaten das wohlhabende und strategisch wichtige Schlesien, das zum
Reich des Hauses Habsburg gehört. Es ist ein Coup, der Friedrich in die Geschichtsbücher
bringen soll. Aber es ist auch ein für die Zeit ungewöhnlich brutaler Rechtsbruch.
Einem Freund schreibt der König: „Die Genugtuung, meinen Namen in den Zeitungen und
später in der Geschichte zu sehen, hat mich verführt.“
Beim Abmarsch der Offiziere der Berliner Regimenter nach Schlesien rief er den Soldaten
zu: „Brechen Sie auf zum Rendezvous mit dem Ruhm.“ Chauffiert von seinem Leibkutscher
Pfund und begleitet von den elf Wagen der Königlichen Feldequipage, folgte er den eigenen
Truppen.
[…]
Und wie ein Spieler führt er auch die Schlesischen Kriege: Er besiegt die österreichische Armee, findet in Frankreich einen Verbündeten, lässt diesen im Stich, schließt einen Waffenstillstand mit Wien, bricht diesen, siegt erneut gegen die Österreicher, schließt Frieden mit Wien,
verbündet sich wieder mit Frankreich, überfällt erneut Österreich - und gewinnt ein weiteres
Mal.
Krieg und Frieden, das ist Friedrichs Hauptbeschäftigung in den ersten fünf Jahren auf dem
Thron. Und er hat Glück, dass er diese Zeit überlebt, denn im Gegensatz zu den anderen Monarchen kommandiert er seine Soldaten persönlich.
Mehrfach wird ihm im Getümmel das Pferd unter dem Sattel weggeschossen. In der Schlacht
von Mollwitz fällt er feindlichen Husaren beinahe in die Hände. In einer anderen Schlacht prallt
eine Kugel an seiner Tabakdose ab. Genießt er den Nervenkitzel?
Friedrich sammelt Erfahrungen als Feldherr, er sucht das Risiko und die Nonchalance, mit der
er Niederlagen hinnimmt, lässt Beobachter glauben, er sehe in der Welt nur eine Bühne - mit
sich selbst in der Hauptrolle. Es klingt ja auch theatralisch, wenn er verkündet, er wolle „lieber
in Ehren untergehen, als für mein ganzes Leben Ruhm und Reputation verlieren“.
[…]
Am 8. Dezember 1745 zieht der König als Sieger in Berlin ein, vermutlich wird die Jubelveranstaltung von oben gesteuert. Entsprechende Hinweise hat der Historiker Luh jüngst gefunden.
Demnach holen Offiziere die Claqueure an Treffpunkten ab und bringen sie zu vorab festgelegten Plätzen entlang der Straße, die vom Schloss zum Kottbusser Tor führt. Als der König
auftaucht, ruft die Menge: „Vivat Fridericus Magnus“.
Friedrich der Große ist geboren. Schlesien gehört nun zu Preußen, das sich als zweite deutsche Großmacht etabliert hat. Jedoch ist der Preis hoch: Habsburg ist nicht gewillt, den Verlust
hinzunehmen. Friedrich muss sich auf einen dritten Krieg vorbereiten, und manchmal scheint
er in diesen Friedensjahren selbst daran gezweifelt zu haben, ob die Eroberung Schlesiens
unter dem Strich ein lohnendes Unterfangen gewesen ist.
Im Kernland der Hohenzollern ist die Bilanz der Friedrich-Jahre rundweg positiv. Regionen wie
der Oderbruch profitieren vom neuen Herrscher. Der König begradigt die Oder, lässt Deiche
35
Minna von Barnhelm
bauen und gewinnt 56 000 Hektar Bauernland, die zuvor mehrfach im Jahr von Hochwasser
überflutet wurden.
Er gründet neue Dörfer wie Neulietzegöricke, einen langgestreckten Ort, durch den zwei Straßen verlaufen mit einem Wasserabzugsgraben in der Mitte. Mit der ausgehobenen Erde erhöhten die Arbeiter die Bauplätze für die Häuser der Siedler.
Friedrich treibt seine Beamten ordentlich an, und so entsteht der Mythos vom selbstlosen König, der sich für das Allgemeinwohl aufreibt. Historische Dokumente, die seit kurzem sogar im
Internet einsehbar sind, erzählen allerdings eine andere Geschichte. Derzufolge liebt Friedrich
kostbar bestickte Seidenhemden und vergoldete Tabatiéren, er schätzt Champagner und italienische Polenta, Boeuf à la Russe und englische Johannisbeertorte. Um zu jeder Jahreszeit
die von ihm so begehrten Kirschen knubbern zu können, gibt Friedrich ein kleines Vermögen
aus.
Es ist ein ziemlich lockeres Leben; den Sommer verbringt der König in Sanssouci, einem luftigen Rokokobau oberhalb der berühmten Weinbergterrassen, von denen der Blick über den
herrlichen Park geht. Er spielt Flöte, reitet, plaudert. Wie Voltaire berichtet, erledigt Friedrich
die täglichen Dienstgeschäfte „in einer Stunde“.
Voltaire ist Frankreichs damals berühmtester Aufklärer, er zählt zum kleinen Kreis großer Männer, die der Monarch an die Spree gelockt hat. Friedrich sucht Entspannung in (französisch
geführter) Unterhaltung über Mathematik und Metaphysik, Literatur und Philosophie. So lautet
zumindest die freundliche Version.
Vermutlich geht es auf dem idyllisch anmutenden Olymp der Künste jedoch mehr als einmal
derbe zu. Die Herren schätzen schlüpfrige Witze. Zu Friedrichs Gästen zählen Autoren von
Werken wie „Die Kunst des Fickens“ oder „Der kleine Mann mit dem großen Schwanz“.
Und über der Runde liegt ein penetranter Geruch, denn Körperhygiene ist im 18. Jahrhundert
allseits verpönt. Auch Friedrich wechselt ungern die Kleidung. Da es keine Aborte für Gäste
oder Personal auf Sanssouci gibt, erleichtern sich die Menschen in Ecken und hinter Vorhängen. In Vasen deponierte Duftstoffe sollen die Folgen mindern.
[…]
Es sind Friedrichs beste Jahre. Er fördert die Wirtschaft, reformiert die Justiz, kümmert sich
um Forschung und Wissenschaft und treibt in Berlin den Ausbau des Forum Fridericianum
voran, jenes eleganten Ensembles an dem Boulevard „Unter den Linden“ aus Oper, der Alten
Bibliothek, der St.-Hedwigs-Kathedrale und dem Prinz-Heinrich-Palais, heute das Hauptgebäude der Humboldt-Universität.
Doch den Fluch der bösen Tat - des Raubes Schlesiens - wird der Preußen-König nicht los.
Österreichs Kaiserin Maria Theresia und ihr Staatskanzler Kaunitz sinnen auf Rache und
wollen den Rivalen Preußen „zurückführen auf seinen ursprünglichen Zustand einer kleinen,
zweitrangigen Macht“. Obwohl Friedrich um diese Absicht weiß, begeht er im Sommer 1756
einen kapitalen Fehler, der zu einem ersten Weltkrieg führt.
[…]
„Wie sausten da die Eisenbrocken ob unsern Köpfen hinweg, fuhren bald vor, bald hinter uns
in die Erde, bald mitten ein und spickten uns die Leute weg, als wenn‘s Strohhalme wären“,
notiert Ulrich Bräker, ein Schweizer in preußischen Diensten, „da mussten wir über Hügel von
36
Minna von Barnhelm
Toten und Verwundeten hinstolpern. Preußen und Panduren lagen überall durcheinander; und
wo sich einer von diesen letzten noch regte, wurde er mit dem Kolbe vor den Kopf geschlagen
oder ihm ein Bajonett durch den Leib gestoßen.“
In Relation zur Gesamtbevölkerung hat Preußen in diesem Inferno mehr Opfer zu beklagen als
Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Jeder zehnte Untertan Friedrichs stirbt.
Ein Ende findet das Gemetzel eher unverhofft durch das sogenannte „Mirakel des Hauses
Brandenburg“. 1762 stirbt Zarin Elisabeth, und der nachfolgende, etwas einfältige Zar Peter
III. bewundert den Preußen-König glühend; er wechselt die Seiten und rettet Friedrich vor
dem sicheren Untergang. Im Jahr darauf schließen alle Frieden. Schlesien bleibt endgültig bei
Preußen.
Das sieht aus wie ein Sieg, aber Friedrichs Reich ist am Boden: verwüstete Felder, zerstörte
Dörfer, ruinierte Finanzen. Und der 51-jährige König klagt, er sei „grau wie ein Esel“ und halblahm von der Gicht.
Doch in dieser Lage reißt sich der Monarch zusammen - und glänzt als Krisenmanager.
Er lässt die Schäden registrieren, um herauszufinden, welchen Untertanen „zu helfen und solche vorerst wieder auf die Beine zu bringen seyndt“. Er stellt kostenlos Bauholz zur Verfügung,
gewährt Bauern Steuernachlässe, fördert Handel und Gewerbe, wirbt in Südwestdeutschland
und anderswo Hunderttausende Einwanderer an.
Rastlos reist er jetzt durch das Land, treibt Beamte an, straft faule Handwerker, denen er das
montägliche Blaumachen verbietet. Wiederholungstätern drohen vier Wochen Zuchthaus.
Friedrich jammert nicht, er kümmert sich. Wahr ist aber auch, dass er sich damit in die lange
Liste jener Staatsmänner einreiht, die jene Probleme lösen, die sie zuvor geschaffen haben.
Reuevoll schreibt er an einen Freund: „Unser Kriegsruhm ist aus der Ferne betrachtet sehr
schön, aber wer Zeuge ist, mit welchem Jammer und Elend dieser Ruhm erkauft wird, ... der
lernt über den ,Ruhm‘ ganz anders zu urteilen.“
Immerhin bietet sich dem König jetzt die Möglichkeit, endlich jene fortschrittlichen Ideale seiner Kronprinzenzeit zu verwirklichen, die er weiterhin bejaht. Denn die Zeichen stehen auf
Wandel. In Großbritannien bahnt sich die industrielle Revolution an, die Vereinigten Staaten
von Amerika bekennen sich in ihrer Unabhängigkeitserklärung 1776 zu den unveräußerlichen
Menschenrechten, zur Volkssouveränität, zum Recht auf Widerstand. Und zwischen Friedrichs Tod und der Französischen Revolution 1789 liegen nur knapp drei Jahre.
In der preußischen Praxis ist die von Friedrich gewährte Freiheit sehr relativ: „Lassen Sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der Unterthanen seine Stimme erheben wollte und
Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land das sklavischste Land von Europa ist“,
schreibt der Dichter Gotthold Ephraim Lessing.
Bei Verbrechen wie Majestätsbeleidigung wird weiterhin gefoltert, um Geständnisse zu erpressen. Zeitungen werden weiterhin zensiert. Selbst die famose Religionsfreiheit hat ihre
Grenzen: Der Atheist Friedrich braucht katholische Einwanderer für das protestantische Preußen, da muss er großzügig sein. Doch volle Gleichberechtigung garantiert er weder ihnen
noch den Juden, über die er schreibt, sie seien von allen „Sekten die gefährlichste“ und man
müsse „verhindern, dass ihre Zahl wächst“.
[…]
37
Minna von Barnhelm
Am Ende scheitert er auch an den eigenen Ressentiments. Um Preußen nachhaltig voranzubringen, müsste er sich mit den oft überschuldeten 20 000 Adelsfamilien des Landes anlegen,
die ihre Bauern in Leibeigenschaft halten und Preußens Start in die Moderne behindern.
Friedrich weiß um dieses Problem. Die Leibeigenschaft bezeichnet er als „barbarische Unsitte“, kein Mensch sei dazu geboren, „Sklave seinesgleichen zu sein“. Mutig erklärt er, er wolle
solche Zustände abschaffen. Allerdings stößt er bei seinen Standesgenossen auf Widerstand,
und da Friedrich das Bürgertum verachtet („Hin und wieder kommt auch Verdienst und Talent
bei Nichtadeligen vor, aber das ist doch recht selten“), steht er in diesem Konflikt weitgehend
allein. Er gibt nach: Mit einer echten Reform „würde man die ganze Landwirtschaft über den
Haufen werfen“, rechtfertigt er sich 1777.
Adelige in Schlesien und Ostpreußen können weiterhin ihre Bauern verkaufen, darüber entscheiden, was deren Kinder zu lernen haben, wen sie heiraten. Angeblich „faules und widerspenstiges Gesinde“ darf man sogar züchtigen.
So ist die Geschichte von Friedrich dem Großen auch die Geschichte einer großen verpassten
Chance. Und daher wundert es nicht, dass am Ende viele Preußen dem Tod ihres greisen Königs ohne Bedauern entgegensehen.
Für den inzwischen gut 70-jährigen Friedrich ist es eine quälende Zeit. Er wird von Koliken und
Gichtanfällen geschüttelt, meidet das Bett, denn im Liegen fällt ihm das Atmen schwer. Oft
döst er Tag und Nacht in seinem Lehnstuhl. Nicht einmal Flöte kann er mehr spielen, weil die
Vorderzähne ausgefallen sind.
Am 17. August 1786 ist es vorbei, und Mirabeau beobachtet: „Alle Welt beglückwünscht
sich.“ Schon wenige Jahre später ist diese Art Freude vergessen. Die Legendenbildung kann
beginnen.
Posener Rede vom 04.10.1943 in Auszügen
Von Heinrich Himmler: Posener Reden vom 04.10.1943
[...]
Ein Teil der Tapferkeit ist auch der Glaube, und hier, meine Gruppenführer, wollen wir uns von
niemandem in der Welt übertreffen lassen. Der Glaube gewinnt die Schlachten und der Glaube
schafft die Siege. Menschen, die pessimistisch sind, oder die den Glauben verlieren, wollen
wir in unseren Reihen nicht haben. Es ist dabei ganz gleichgültig, wo der einzelne steht, sei er
irgendwo als Angehöriger der Allgemeinen-SS im wirtschaftlichen Leben oder in einer staatlichen Stellung, sei er in der Waffen-SS, an der Front (da kommt das meistens nicht vor), sei er
in einem Stab an der Front oder sonst irgendwo in der Etappe, in der Heimat, in der Polizei, in
der Sicherheits- oder Ordnungspolizei. Leute, die so schwach sind, dass sie keinen Glauben
mehr haben, die tun wir von uns weg, die wollen wir nicht haben. Denn wer die Kraft zum
Glauben nicht mehr hat, der soll auch bei uns, in unseren Reihen nicht leben.
[...]
Was die Beendigung und das Gewinnen des Krieges anlangt, so müssen wir insgesamt eine
Erkenntnis in uns aufnehmen: Ein Krieg muss geistig, willensmässig, seelisch gewonnen wer38
Minna von Barnhelm
den, dann ist die körperliche, leibliche, materielle Gewinnung nur eine Folgeerscheinung. Nur
derjenige, der kapituliert, der da sagt: ich habe den Glauben und den Willen zum Widerstand
nicht mehr, — der verliert, der legt nämlich die Waffen nieder. Derjenige, der stur bis zum letzten, bis eine Stunde nach Friedensschluss ficht und steht, der hat gewonnen. Hier wollen wir
unseren ganzen Dickkopf, den wir haben und durch den wir uns absolut auszeichnen, unsere
ganze Zähigkeit, Hartnäckigkeit und Sturheit einsetzen. Wir wollen einmal den Engländern,
Amerikanern und russischen Untermenschen zeigen: Wir sind härter, wir, gerade wir, die SS,
wir werden diejenigen sein, die immer stehen. Wir werden diejenigen sein, die auch im 5. und
6. Kriegsjahr mit guter Stimmung, nicht mit Leichenbittermiene, mit Humor, mit Willen und
Auftrieb immer wieder antreten, wann die Gelegenheit zum Antreten gegeben ist. Wenn wir
das tun, dann werden viele sich ein Beispiel an uns nehmen und werden auch stehen. Wir
müssen letzten Endes den Willen haben und wir haben ihn, denjenigen, der an irgendeiner
Stelle nicht mehr mittun will in Deutschland, — das könnte bei einer Belastung einmal eintreten — kühl und nüchtern umzubringen. Lieber stellen wir so und so viele an die Wand, als
dass an irgendeiner Stelle ein Bruch entsteht. Wenn wir seelisch, willensmäßig und geistig
in Ordnung sind, dann werden wir diesen Krieg nach den Gesetzen der Geschichte und der
Natur gewinnen, weil wir die höheren menschlichen Werte, die höheren und kräftigeren Werte
in der Natur verkörpern.
39
Minna von Barnhelm
Anregungen für den Unterricht
Zur hier vorgeschlagenen Vor- bzw. Nachbereitung der Komödie Minna von Barnhelm oder
das Soldatenglück sind keine Textkenntnisse nötig. Um einen kurzen Überblick über den Inhalt zu bekommen, empfiehlt sich die Lektüre folgender Inhaltsangabe:
Am Ende des Siebenjährigen Krieges reist Minna von Barnhelm aus Sachsen nach Berlin. Voller Entschlossenheit sucht sie ihren Verlobten Major Tellheim, Offizier der Preußischen Armee.
Sie findet ihn in einem heruntergekommenen Hotelgasthof inmitten der Berliner City. Doch
Wiedersehensfreude will sich nicht so recht einstellen. Tellheims Ehrgefühl ist aufs Tiefste verletzt. Zu Unrecht wird er der Veruntreuung von Geldern beschuldigt und unehrenhaft aus der
Armee entlassen. Eine schwere Kriegsverletzung tut ihr Übriges, sein Selbstbild nachhaltig zu
erschüttern. Minna erfindet eine listige Strategie, um Tellheim aus seiner Depression zu reißen
und das gemeinsame Glück wieder zu regenerieren. Zu guter Letzt trifft die Nachricht von der
Rehabilitation Tellheims durch den Preußenkönig ein, was die Situation in neuem Licht erscheinen lässt. Bei dem Vorhaben, ihr eigenes Lebensglück durchzusetzen, zeigt die Titelfigur
großen Durchhaltewillen. Mit großem Erfindungsreichtum zieht sie gegen einen manifesten
männlichen Tugend- und Ehrbegriff zu Felde.
Teil I
„Ich bin Ihre Gebietherinn, Tellheim; Sie brauchen weiter keinen Herrn.“
Minna von Barnhelm
Minna von Barnhelm ist eine Frau mit Selbstvertrauen und sie ist der Überzeugung, dass sie
selbst mit ihrer unerschütterliche Liebe die Lösung für alle Probleme Tellheims sei. Für damalige Verhältnisse ist Minnas Verhalten allerdings ungewöhnlich. So oblag zum Beispiel die
Wahl eines Ehemannes eigentlich den Eltern oder, im Falle Minnas, ihrem Onkel als Vormund.
Dass sich eine Frau so offensiv auf den Mann ihrer Träume stürzt, dürfte damals für einige
Verwirrung gesorgt haben.
In folgender Übung setzen sich die Schülerinnen und Schüler mit Geschlechterrollen auseinander. Was sind „klassische Geschlechterrollen“? Welche Stereotype gibt es heutzutage
noch? Welche sind komplett veraltet?
Im Raum werden 2 Linien in V-Form auf den Boden geklebt. Das linke Ende steht für typisch
Mann, das Rechte für typisch Frau, die Spitze für weder noch. Nun werden verschiedene Tätigkeiten oder Eigenschaften genannt, bzw. Bilder gezeigt. Jeder stellt sich auf die Position
an die geklebte Skala, wo er die entsprechende Tätigkeit bzw. Eigenschaft ansiedeln würde.
Anschließend soll die eigene Position begründet und diskutiert werden.
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Beispiele für Tätigkeiten und Eigenschaften sind:
- Handwerkliches Arbeiten
- Shoppen
- Fußball spielen
- Stark sein
- Kochen
- Einfühlsam sein
- Weinen
- Mutig sein
- Babysitten
- Reparieren
- Tanzen
- …..
Teil II
„Wohl denn; so hören Sie, mein Fräulein. – Sie nennen mich Tellheim; der Name trifft ein. – Aber
Sie meinen, ich sei der Tellheim, den Sie in Ihrem Vaterlande gekannt haben; der blühende
Mann, voller Ansprüche, voller Ruhmbegierde; der seines ganzen Körpers, seiner ganzen
Seele mächtig war, vor dem die Schranken der Ehre und des Glückes eröffnet standen, der
Ihres Herzens und Ihrer Hand, wenn er schon Ihrer noch nicht würdig war, täglich würdiger
zu werden hoffen durfte. – Dieser Tellheim bin ich ebensowenig, als ich mein Vater bin. Beide sind gewesen. – Ich bin Tellheim, der Verabschiedete, der an seiner Ehre Gekränkte, der
Krüppel, der Bettler.“
Major von Tellheim
Major von Tellheim befindet sich in einer für ihn völlig unbekannten Situation, mit der er nicht
umzugehen weiß. Er definiert sich über seine Stellung als Major, die unehrenhafte Entlassung
entzieht ihm die Grundlage seines Selbstbildes. Aus heutiger Sicht ist das Verhalten Tellheims
nur schwer verständlich, hat er doch Minna, die ihn in seinem Leiden unterstützen will.
Die folgende Übung setzt sich mit solchen Situationen aus heutiger Perspektive auseinander.
Die Klasse wird in Arbeitsgruppen à 4-5 Personen geteilt. Jede Gruppe soll eine Situation
erfinden und beschreiben, in denen sich jemand komplett zurückzieht. Dies kann mit dem
Verlust von Selbstvertrauen zu tun haben, mit dem Verlust einer gesellschaftlichen Position,
mit der Veränderung des Selbstbildes oder völligen Ratlosigkeit, dem Fehlen einer Lösung.
Wie verändert sich die Situation, wenn es jemanden gibt, der seine Hilfe anbietet? Was muss
passieren, damit man diese Hilfe annimmt?
Die Schülerinnen und Schüler sollen hierzu eine Szene erfinden und verschriftlichen. Fragen
wie und wo die Geschichte stattfindet, sowie wer daran beteiligt ist, sollen dabei immer mitgedacht werden.
Anschließend präsentieren die Gruppen ihr Ergebnis. Der Lehrer, als Moderator, sollte dabei
die Umsetzung nicht bewerten oder kommentieren, da es hierbei kein „richtig“ oder „falsch“
geben kann, sondern eher Ansätze, die verständlicher und klarer sind als andere.
Als Höhepunkt kann man der Klasse weitere 15-20 Minuten Zeit geben, in denen die Arbeitsgruppen ihr Ergebnis szenisch umsetzen. Danach wird ihre Szene gespielt und in der Gruppe
diskutiert.
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Teil III
Tellheims Handeln wird sehr von seiner Ehre gesteuert. Sein Tun und seine Aussagen stehen
und fallen mit der Vereinbarkeit mit diesem Ehrbegriff. Trotz akuter Geldnot lässt Tellheim sich
nicht von Minna, die sehr wohlhabend ist, aushalten. Er verliert sich in seiner Situation, seine
einzige Rettung wäre die Wiederherstellung seines Status. Die Möglichkeit sich umzuorientieren, sich ein neues Standbein zu suchen, wird von Tellheim dabei nicht in Betracht gezogen.
Über die Definition von Maßstäben, die das Tun und Handeln der Schülerinnen und Schüler
bestimmen, kann man sich vorsichtig an die Motivation Tellheims herantasten. Welche Regeln
bestimmen unser Leben? Dabei sollen die Schüler auch ungeschriebene Gesetze innerhalb
der Schule oder ihres Jugendcodex einfließen lassen.
Diese Sammlung kann individuell aufgeschrieben und danach offen im Klassenverband zusammengetragen werden.
In einem zweiten Schritt geht es darum zu schauen, welche dieser Leitbilder allgemein gültig
sind und welche nur in bestimmten Kontexten funktionieren.
Vielleicht gibt es bereits Maßstäbe, die innerhalb des Klassenverbandes nicht in Frage gestellt
werden, auf die sich alle, ohne eine Absprache getroffen zu haben, verständigt haben. Gibt
es in den jeweiligen Freundeskreisen solche Regelungen? Nach welchen ungeschriebenen
Maßstäben funktioniert die Gesellschaft? Und wann werden diese Regelungen so stark, dass
sie rationale Entscheidungen verhindern, dass der Stolz es gebietet nach ihnen zu leben?
Vielleicht gelingt es sogar, ein loses Regelsystem für den Klassenverband aufzustellen. Ohne
dass dieses als Vorschrift gelten muss, kann man damit einen Maßstab für die Gemeinschaft,
als auch für ein Individuum setzen.
Dieser Baustein sollte vom Lehrer angeregt und moderiert werden. Das Leitbild oder die Maxime kann dann, nach Diskussion der einzeln vorgeschlagenen Aspekte, auf einem Flip Chart
festgehalten werden oder als ein Tafelbild entworfen werden.
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Szenenfoto mit Anton Berman, Birgit Berthold, Danielle Schneider, Hagen Löwe, Stefan Kowalski,
Andrej von Sallwitz, Thomas Pasieka und Franziska Ritter
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Literatur
• Arendt, Hannah in Normann, Ingeborg (Hrsg.): Rede am 28. September 1959 bei der
Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg:
Europäische Verlagsanstalt, 1999. 48
• Augstein, Jakob: Die gelehrten Sachen - Gotthold Ephraim Lessing: der erste
Großkritiker der Presse / Serie, Teil V. In: Süddeutsche Zeitung, 7. Januar 2003.
Link: http://www.sueddeutsche.de/kultur/sz-serie-grosse-journalisten-die-gelehrtensachen-1.416212
• Fick, Monika: Lessing Handbuch: Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler, 2000.
14, 259ff, 279ff
• Härtwig, Juliane: Freundschaft im Wandel der Geschlechterrollen, 2005.
Link: http://www.freundschaft-diplomarbeiten.de/3.3-Traditionelle-Geschlechterrollen.
htm
• Hildebrandt, Dieter: Lessing – Biographie einer Emanzipation. München: Hanser, 1979.
8ff, 289ff
• Hildebrandt, Dieter: Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm. Frankfurt/M:
Ullstein, 1969. 170ff
• Himmler, Heinrich: Posener Rede vom 04.10.1943.
Link: http://www.nationalsozialismus.de/dokumente/texte/heinrich-himmler-posenerrede-vom-04-10-1943-volltext.html
• Leonhardt, Rudolf Walter: Die Macht des pudor sexus. In: Die Zeit, 1993, Nr. 22
Link: http://www.zeit.de/1993/22/die-macht-des-pudor-sexus/komplettansicht
[Stand: 28. August 2012]
• Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.
12, 377f, 444ff, 872
• Stegemann, Bernd: Lektionen 1 – Dramaturgie. Berlin: Theater der Zeit, 2009.
139
• Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft – Poetik des ökonomischen Menschen.
Zürich: diaphanes, 2011. 116ff
• Wiegrefe, Klaus: Der kleine König. In: Der Spiegel, 7. November 2011, Nr. 45
Link: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-81562344.html
Internetquellen Stand: 30.09.2012
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Hinweise für den Theaterbesuch
Liebe Lehrerin, lieber Lehrer,
viele Kinder und Jugendliche besuchen zum ersten Mal ein Theater oder haben wenig
Erfahrung damit. Wir bitten Sie, im Vorfeld eines Besuches sich mit Ihrer Klasse die besondere
Situation zu vergegenwärtigen und die nachfolgenden Regeln zu besprechen. Damit eine Vorstellung gelingt, müssen sich Darsteller und Zuschauer konzentrieren können. Dafür braucht
es Aufmerksamkeit. Alle Beteiligten müssen dafür Sorge tragen. Wer die Regeln nicht einhält,
beraubt sich selbst dessen, wofür er Eintritt gezahlt hat – und natürlich auch alle anderen
Besucher.
Folgende Regeln tragen zum Gelingen eines Theaterbesuchs bei:
1. Wir bitten, rechtzeitig im Theater einzutreffen, so dass jeder in Ruhe den Mantel und seine
Tasche an der Garderobe abgeben und ohne Eile seinen Platz aufsuchen kann. Unsere Garderobe wird beaufsichtigt und ist im Eintrittspreis enthalten.
2. Während der Vorstellung auf die Toilette zu gehen, stört sowohl die Darsteller als auch
die übrigen Zuschauer. Wir bitten darum, sich entsprechend zu organisieren. In unseren
Programmzetteln lässt sich auch nachlesen, ob es eine Pause in der Vorstellung gibt.
3. Es ist nicht gestattet, während der Vorstellung zu essen und zu trinken, Musik zu hören und
Gespräche zu führen. Mobilfunktelefone und mp3-Player müssen vollständig ausgeschaltet
sein. Während der Vorstellung darf weder telefoniert noch gesimst oder fotografiert werden.
4. Der Applaus am Ende einer Vorstellung bezeugt den Respekt vor der Arbeit der Schauspieler und des gesamten Teams unabhängig vom Urteil über die Inszenierung. Wem es gut
gefallen hat, der gibt mehr Beifall – wem nicht, entsprechend weniger. Wichtig ist, erst nach
dem Ende des Applauses den Saal zu verlassen.
Unser Einlasspersonal der ARTService GmbH steht den Zuschauern als organisatorischer Ansprechpartner am Tag der Vorstellung zur Verfügung.
Wir sind an den Erfahrungen des Publikums mit den Inszenierungen interessiert. Für
Gespräche stehen wir zur Verfügung. Unter www.parkaue.de können unsere Zuschauer einen
Kommentar zu den Inszenierungen abgeben.
Wir freuen uns auf Ihren Besuch.
Ihr THEATER AN DER PARKAUE
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Minna von Barnhelm
Impressum
Impressum
Spielzeit 2011/2012
THEATER AN DER PARKAUE
Junges Staatstheater Berlin
Parkaue 29
10367 Berlin
Tel. 030 – 55 77 52 -0
www.parkaue.de
Intendant: Kay Wuschek
Redaktion: Marit Buchmeier
Redaktionelle Mitarbeit: Michael Isenberg
Anregungen für den Unterricht: Susann Apelt
Gestaltung: pp030 – Produktionsbüro Heike Praetor
Fotos: Christian Brachwitz
Titelfoto mit Franziska Ritter und Stefan Kowalski
Abschlussfoto mit Katrin Heinrich
und Stefan Kowalski
Kontakt Theaterpädagogik:
Stephan Behrmann
Telefon: 030 – 55 77 52 -45
[email protected]
theater
an
der
parkaue
Junges Staatstheater Berlin
w w w. p a r k a u e. d e
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