Freitag, 25. Februar 2011, 13.00 Uhr Andrea Rittersberger

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Freitag, 25. Februar 2011, 13.00 Uhr Andrea Rittersberger
Vortrag Andrea Rittersberger Symposion „Basiskompetenzen Zuhören und Sprechen“ 25. Februar 2011, 13:00 Uhr Zuhören, Kommunikation und Kreativität durch Elementares Musiktheater Der gesamte Vortrag kreist eigentlich um zwei eng miteinander verbundene Themen, deren komple‐
xe Interaktion das Leben schon vor der Geburt begleitet, in einem uns oft unbewußten Duo, dessen Facetten unendlich vielfältig sind und weit mehr sind als die Summe ihrer Definition. Gemeint sind Sprache und Musik, zwei wesenhafte Elemente des Menschseins und unserer Evolution. Aber – werden Sie sich nun fragen – was war denn zuerst – sicherlich das Wort, wie es ja auch in der Bibel steht? Weit gefehlt, wie der Hirnforscher Manfred Spitzer schon vor Jahren in „Musik im Kopf“ (Schattauer, Stuttgart 2003) eindrücklich dargelegt hat. Das Musizieren der Menschen ist zuerst nachgewiesen, das Formen von Lauten, der musikalische Ausdruck, der Tanz zur Mitteilung und zur Kommunikation. Sogar Musikinstrumente gab es schon zu einer Zeit, da die Menschen noch kaum eine phonetische Lautsprache entwickelt hatten. Flöten und Trommelfunde gehören zu den frühes‐
ten Funden bei Ausgrabungen rund um den Homo Sapiens. Rhythmus und Melodie, Tonhöhen und Emotionen sind Charaktereigenschaften von Musik, die da‐
mals offenbar weit bewußter als Kommunikationsmittel eingesetzt wurden als heute und damit eine Sprache bildeten, mit der man sich selbst über große Entfernungen austauschte . Wir wissen, dass sich das kognitive, logische Denken erst vor etwa 15.000 Jahren so entwickelt hat, wie wir es heute kennen. Das Stammhirn jedoch, mit einer ganzheitlichen, instinktorientierten Wahrnehmung ist ungleich älter, nämlich ca. 320.000 Jahre. Sprache hat sich auf dem Weg dahin vor etwa 40.000 Jahren entwickelt – aus einer ganzheitlichen Wahrnehmung heraus, in welcher Ratio und Gefühl nicht so getrennt wurden, wie wir es heute gerne versuchen. Unsere gesamten gesellschaftlichen Denkmodelle bauen auf der Trennung zwischen unseren Gehirnhälften auf. Wir teilen zwischen einer linken, „ logischen“ und eine rechten, „emoti‐
onalen“ Hirnseite ein. Die logische hilft uns, mit Wissen umzugehen und es zu strukturieren, die emotionale wird eher kreativen Prozessen zugeordnet. Das Gehirn verarbeitet Musik und Sprache einerseits in derselben Region, dem Broca‐Areal, jedoch werden in der Verarbeitung von Musik weit mehr Gehirnareale aktiviert als beim rein phonetischen Nutzen von Sprache. Melodie und Rhythmus werde, grob gesagt, in der rechten Gehirnhälfte verar‐
beitet, Sprache in der linken. Wissenschaftler des Max‐Planck‐Instituts für Neuropsychologische For‐
schung in Leipzig haben bei sechs Versuchspersonen das Musik‐Erleben mit Hilfe der so genannten Magnetoenzephalografie (MEG) analysiert. Aus ihren Experimenten, die im Fachmagazin "Nature Neuroscience" veröffentlicht wurden, ziehen Maess und seine Kollegen den Schluss, dass das Broca‐
Areal Sprache in einem abstrakteren Sinne verarbeitet und nicht auf Worte allein spezialisiert ist. Ein musikalisches Training müsste daher auch positive Auswirkungen auf die sprachliche Ausdrucksfähig‐
keit haben, da dabei die gleiche Gehirnregion angesprochen wird. (Spiegel online, 11.2. 2011) 1 Vortrag Andrea Rittersberger Symposion „Basiskompetenzen Zuhören und Sprechen“ 25. Februar 2011, 13:00 Uhr Bei Kindern mit einer musikalischen Ausbildung ist bereits eine verbesserte Sprachfähigkeit nachge‐
wiesen, was auf die ganzheitliche Verarbeitung von Sprache beim Musizieren zurückgeführt werden kann.
Aber wie geht’s denn nun los mit dem Hören, dem Zuhören, der Grundvoraussetzung für Sprache und Kommunikation?
Der erste entwickelte Sinn Der Mensch lernt mit allen Sinnen gleichzeitig, vor allem als kleines Kind, und der erste entwickelte dieser Sinne ist das Gehör, denn schon im 4. Schwangerschaftsmonat kann das Baby im Mutterleib differenziert hört. Dabei werden die Schallwellen über die Knochen der Mutter übertragen und das klingt so: (Hier wird eine CD von Prof. Dr. med. Eckard Altenmüller, Psychologe und Prof. an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Hannover, eingespielt). Erstaunlicherweise sind hier die Emotionen des Gesagten (für den Zuhörer) weitaus deutlicher zu erkennen als die Worte, die weder wir noch das Baby genau verstehen. Das wird letzteres auch noch eine ganze Weile nicht, wenn es auf der Welt angekommen sein wird. Es lernt zuerst die Melo‐
die, den Rhythmus und vor allem die Emotion des Gesagten, bevor es Laute zu Worten formt und schließlich zu Sätzen. Auf dem Weg dorthin wird das Baby nicht nur das Gehörte geistig und emotio‐
nal verarbeiten sondern auch genau beobachten, auf welche Art und Weise gesprochen wird, Gestik und Mimik der Mama oder eines anderen Gesprächspartners wird es sich genau merken und versu‐
chen wiederzugeben. Dafür sorgen die Spiegelneuronen im Gehirn, (ein neues Lieblingskind der Hirnforschung). Und – erinnern wir uns an den gerade gehörten Versuch – die Emotionen des Gesag‐
ten werden von Anfang an prägen, wie das Baby das Gehörte abspeichert. Offenbar wußten unsere Vorfahren schon instinktiv und durch positive Erfahrung, dass dies so ist und so gibt es Wiegenlieder, Kinderreime, Kinderlieder und Tänze schon seit wir denken können. Wickel‐
tischgymnastik ist zwar ein Modewort , aber Singen und rhythmische Bewegungen, gerade beim Wickeln haben nicht erst die modernen Mamis erfunden, und es bedurfte und bedarf auch keiner Musikausbildung, um mit den Kleinen zu singen und zu tanzen, es gehört einfach dazu. Wenn man mit Kindern altersgerecht musiziert, kann man beobachten, wie das Lernen in jeder Be‐
ziehung unterstützt wird, nicht nur musisch, sondern auch sprachlich, motorisch, emotional, sozial, das gesamte Denken wird angeregt, die Wahrnehmung sensibilisiert, die Ausdrucksfähigkeit auf vie‐
len Ebenen geschult. Da dieser Vortrag jedoch speziell um das Thema Hören in Kindergarten und Grundschule aufgebaut ist, stellt sich die Frage, wie dort aktuell das Verstehen des Gehörten auch zur Umsetzung führt. In einer Umgebung, in der Migrantenkinder die Eingewöhnungsphase im Kindergarten bestehen und gleichzeitig eine neue Sprache kompensieren müssen, und einer Schulausbildung, die sich bewußt werden muß, wie und warum sich die „Sprache“ unserer Kinder (digital und sozial) so sehr verändert hat, dass wir gezwungen sind, uns zu fragen, wie wir Unterrichtsmodelle darauf hin überdenken 2 Vortrag Andrea Rittersberger Symposion „Basiskompetenzen Zuhören und Sprechen“ 25. Februar 2011, 13:00 Uhr könnten, kann Musik ein guter Mittler sein, wie ich im folgenden Vortrag anhand einiger Beispiele darstellen möchte. Sprache und Musik in der Kinderstube Die Eingewöhnungsphase im Herbst in der Kinderstube eines Kindergartens mit 85% Kindern aus Migrantenfamilien. Lachen und vor allem Weinen in der Kinderstube, tröstende Worte, Kuscheln, neben Spielen und Musizieren kennzeichnen die ersten Monate mit den neuen Kleinkindern. Nach und nach werden alle Kinder in der Gruppe integriert sein. Aber es wird eine Weile dauern, denn neben der Trennung von zu Hause müssen die Kleinen in vielen Fällen auch noch mit einer für sie neuen Sprache zurechtkommen, Deutsch. Etwas viel auf einmal. Ein kleines russisches Mädchen, gerade zwei Jahre alt, steht im Kindergarten und schaut verschlossen und finster drein. Es spielt nicht mit den anderen Kindern und drückt seinen abgewetzten graubraunen Stoffhasen fest vor seine kleine Brust. Es läßt sich auch nicht auf die Kommunikation mit den ErzieherInnen ein, trotz deren liebevoller Bemühungen, läßt sie sich nur zögernd in den Kindergartenalltag integrieren. Sprechen möchte sie überhaupt nicht. Bis eines Tages die gesamte Kinderstube anfängt, gemeinsam mit einer professionellen Musikerin zu musizieren. Das kleine Mädchen ist wie verwandelt. Es hört zu, zunächst schaut sie ungläubig, er‐
freut, fast hoffnungsfroh. Und bald schon, in der zweiten Stunde macht es begeistert mit, singt, tanzt, lacht und redet wie ein Wasserfall mit den anderen Kindern ‐ zunächst auf russisch und mit phanta‐
sievoller mimischer Darstellung. Plötzlich ist die Kleine neugierig, probiert die Instrumente aus, alle Schüchternheit scheint abgelegt. Der kleine Stoffhase liegt bald unbeachtet in eine Ecke. Und das nicht nur während des Musizierens. Denn das kleine Mädchen fängt auch in der Gruppe an zu kom‐
munizieren, auf russisch, deutsch und mit ausdrucksreicher Zeichensprache. Die vorher so strenge kleine Dame ist lustig und oft genug der Chefkasper und kleine Feldwebel der Gruppe, einfach kaum wiederzuerkennen. Diese Verwandlung findet in allerkürzester Zeit statt. Wie ist das möglich? Die Musikerin, die mit den Kindern und den ErzieherInnen regelmäßig arbeitet, vermittelt die musi‐
schen Inhalte über mehrere Wege, es wird gesungen, getanzt, mimisch der Inhalt der Lieder darge‐
stellt, auf Orffinstrumenten gespielt und gemalt. Auf diese Weise wird nicht nur Musik erlebt (Singen, Rhythmus, Instrumentalspiel, Aufeinander‐ Hören etc.), sondern auch Sprache gelernt, Raumwahrnehmung und Zählen, geübt, Stimmungen erlebt, Sozialverhalten entwickelt, Selbstausdruck ausprobiert, Phantasie geschult. Gemeinsames Singen braucht nicht unbedingt eine gemeinsame Lautsprache, um zu uns zu spre‐
chen. Es erreicht unsere Seelen auch alleine durch die Sprache der Musik. Wenn dazu mimische Dar‐
stellung kommt, ist dies eine weitere Sprache, die unmißverständlich zu uns spricht, ohne Worte erzählt. Eine weitere musische Sprache ist das Instrumentalspiel. Um dieses, auch in den einfachsten Elementen sprechen zu lassen braucht es neben guter motorischer Handhabung des Instrumentes zuallererst gutes Hinhören. Alleine, wie ich die Tommel oder den Klangblock spiele sagt eine Menge aus darüber, was ich sagen will. Ist es lustig, traurig, müde, wütend, zärtlich? 3 Vortrag Andrea Rittersberger Symposion „Basiskompetenzen Zuhören und Sprechen“ 25. Februar 2011, 13:00 Uhr Werden immer wieder die Lieder durch diese musischen Elemente dargestellt, wird die Lautsprache, also deren Worte, den Kindern durch viele verschiedene Herangehensweisen wiederholt und nahe‐
gebracht, einmal durch Lautmalerei, dann durch Singen und Darstellen des Textes. Durch die in‐
strumentale Begleitung wird das Gesungene plastischer und allmählich wird der abstrakte Sinn der Sprache verstanden, gesungen und schließlich auch gesprochen. Man kann immer wieder beobachten, wie Kleinkinder ganze, oft komplexe Lieder singen können, rein gesprochene längere Sätze ihnen jedoch noch eine Weile schwerfallen. Werden die gesungenen und gespielten Lieder in den Kindergartenalltag integriert (und wenn sie im Morgenkreis „nur“ gesungen und mimisch dargestellt werden), werden ihre Bedeutung und ihre Worte von den Kindern zunehmend in ihren Sprachschatz übertragen. Und auch die sozialen Aspekte der Sprache, das Zugehörigkeitsgefühl durch die Fähigkeit, sich ver‐
ständlich zu machen sind, wie wir anhand des beschriebenen Beispiels sehen, durch die Musik ver‐
stärkt und vervielfältigt. Unser kleines Mädchen hat einen freudevollen und vor allem universell ver‐
ständlichen Zugang zu ihrem neuen sozialen Umfeld durch das Musizieren gefunden und sich begeis‐
tert darauf eingelassen. Binnen kürzester Zeit konnte es deutsch sprechen und kommt nun bald in die Schule, als wißbegieri‐
ges, sprachlich wie sozial kompetentes Kind. Jetzt stellen Sie sich mal vor, dieses Kind wäre nicht mit Musik, bzw. mit Kommunikation durch aktives Musizieren, im Kindergarten in Berührung gekom‐
men! Wir können nicht wissen, wie lange sie noch schüchtern und verschlossen geblieben wäre, das Fremde und Neue aus Angst abgelehnt und damit auch langsamer gelernt hätte. Vor allem hätte man noch lange, vielleicht für sehr, sehr lange, von ihr den Eindruck gehabt, dass sie unkommunikativ sei. Und wie schnell hat sie eine gegenteilige Natur gezeigt, als sie etwas aus ihrer persönlichen Erlebnis‐
welt in der neuen sozialen Umgebung erkannt hat! Die Eltern haben auf Nachfrage bestätigt, dass zu Hause musiziert wird und dass die Kleine gerne tanzt und singt. Und dieses Mädchen ist kein Einzelfall. Die Eingewöhnungszeit der gesamten Kinderstubengruppe hat sich deutlich reduziert, seit dort regelmäßig musiziert wird, mit und ohne professionelle Hilfe. Wir erinnern uns: Sprache wird schon im Mutterleib über Emotionen wahrgenommen und so bleibt es auch im späteren Leben. Und gleichzeitig ist Musik das manipulativste Mittel, das wir überhaupt kennen um Stimmungen zu erzeugen und/oder zu verändern und vor allem, das gesamte Gehirn zu aktivieren. Wie das genau vonstatten geht, wird noch erforscht. Die komplexen positiven Ergebnisse jedoch sind spätestens seit Günther Bastians Studie über Musik in der Schule deutlich aufgezeigt worden. Musik für Kleinkinder – eigentlich für alle Kinder ‐, kann überhaupt nicht vielfältig genug sein, in Cha‐
rakter, Ausdruck, Takt, Emotion Lautstärke etc… Aber wenn wir speziell über Sprachentwicklung durch Musik bei kleinen Kindern sprechen, ist es wichtig, bei der Auswahl der Musik/der Lieder auf die Verständlichkeit und Einfachheit dessen zu achten, was sie sprachlich ausdrücken. 4 Vortrag Andrea Rittersberger Symposion „Basiskompetenzen Zuhören und Sprechen“ 25. Februar 2011, 13:00 Uhr Eine Erzieherin singt z.B. mit Kleinkindern: „Spannenlanger Hansel, Nudeldicke Dirn, gingen in den Garten, pflückten sie die Birn….“. Sie singt mit Begeisterung, begleitet sich eventuell dabei auf der Gitarre und hat alle Kinder im Kreis um sich herum zum rhythmischen Klatschen animiert. Thema im Kindergarten ist Herbst, die Erzieherin hat also einen eigentlich sehr guten Plan. Nun ist das Singen sicherlich schön und lustig und anregend für die Kinder. Die Sprache von Melodie und Rhythmus verstehen die Kleinen sicherlich. Aber wie steht es mit den Worten? Kann ein Kleinkind, eventuell mit Migrantenhintergrund diesen Text schon erfassen? Mal abgesehen davon, dass die wenigsten Kinder heute mit Garten und in einer ländlichen Umgebung aufwachsen und somit den Sinn des Gesungenen nur schwer assoziieren können, ist der Text an sich auch recht schwierig: lange Worte und lange Sätze, die rhythmisch schön sind, aber nicht so leicht zu verstehen oder gar nachzusprechen/‐ zu singen. Wenn man gezielt die Sprachentwicklung fördern möchte, ist es sicherlich gut, zunächst sprachlich einfache Lieder zu wählen, die von den Kleinen mitgesungen werden und denen sie nicht nur mit offenen Mündern zuhören! Wenn die Erzieherin das Lied darüber hinaus mit ihnen gemeinsam mi‐
misch und gestisch darstellt, ist der direkte Lerneffekt oft beeindruckend. Wenn der Inhalt des Lie‐
des gemalt, gebastelt oder im Spiel mit Stofftieren etwa in den Alltag der Kinder integriert wird, wer‐
den auch die Worte in ihrer Bedeutung erkannt werden und in den Sprachschatz der Kinder überge‐
hen. In einer Kinderstube eines Kindergartens in Hamburg habe ich erlebt, wie die Kinder sogar zu For‐
schern wurden, nachdem das Thema „Tiere im Herbst“ sowohl in der Musikstunde als auch im ge‐
samten Tagesablauf mehrere Wochen von verschiedenen Seiten behandelt wurde. Als Musiklehrerin sang ich u.a. die sehr einfachen Liedvers „Regentröpfchen, Regentröpfchen, fall mir nur nicht auf mein Köpfchen“ und „Hörest Du die Regenwürmer husten“ mit den Kindern auf die oben beschrie‐
bene musisch vielfältige Art und Weise. Im Garten des Kindergartens konnten die Erzieherinnen und ich eines Tages beobachten, wie sich die Kinder nicht nur gegenseitig Regenwürmer zeigten sondern sich einen Eimer und Holzstecken organisierten und rhythmisch beide Lieder sangen und begleiteten! Darüber hinaus wechselten sie sich in Selbstorganisation und ohne Streit (!) an der selbsterdachten Trommel ab, um die sie im Halbkreis herumstanden. Und wir sprechen hier von Kindern der Kinder‐
stube! Die Kinder hatten nicht nur den Text der Lieder verstanden, sondern konnten die Bedeutung und den Spaß am (selbstständigen) Musizieren auf ihre Alltagssituationen übertragen. Lieder mit einer Geschichte umrahmen (mit Kindern ab 3‐4 Jahren) Je älter die Kinder werden desto komplexer kann das hier Beschriebene angewendet werden und desto phantasievoller kann eine ganze Welt um ein Lied herum entstehen – und zwar am besten gemeinsam mit den Kindern. Kinder entwickeln sich ganzheitlich, Lernen geschieht in spielerisch erdachten Welten, spannenden mühelos erzeugten Szenen, wie wir an der Regenwurmgeschichte deutlich sehen. Und auch Ge‐
schichten zu Liedern zu erfinden ist für Kinder kein Problem, vor allem, wenn sie motorisch und sprachlich so weit sind, diese auch zu artikulieren und in Gemeinschaft mit anderen Kindern sozial umzusetzen. 5 Vortrag Andrea Rittersberger Symposion „Basiskompetenzen Zuhören und Sprechen“ 25. Februar 2011, 13:00 Uhr Nehmen wir z.B. das Lied „Ich kann schwimmen, sagt das grüne Krokodil“ (Nykrin, Widmer, Grüner aus der Reihe „Musik und Tanz für Kinder“, Neuausgabe, Schottverlag, Mainz) Der Text und die Melodie sind einfach, der Rhythmus klar strukturiert. Das Lied hat Temperament und, trotz seiner Einfachheit, musikalische Spannung. Es spricht durchaus für sich allein. Aber ge‐
meinsam mit den Kindern kann man um das Lied herum auch die Phantasie spielen lassen, z.B. fol‐
gendermaßen: Wir fragen uns, wie das kleine Krokodil dazu kommt, immer wieder zu behaupten, dass es schwim‐
men kann? Eine Geschichte könnte so gehen: Das winzigkleine Krokodil ist gerade aus einem Ei geschlüpft, am Rande eines Flusses und schaut sich ein bisschen um, bis es plötzlich von einem riesengroßen Kroko‐
dil herausgefordert wird. „Wer bist denn Du?“ „Ich bin das kleine grüne Krokodil!“ „Und was machst Du hier?“ „Schwimmen natürlich!“ (Hintergrund ist, dass Krokodile von Geburt an schwimmen kön‐
nen, das müssen sie nicht erst lernen. Das haben wir vorab geklärt.) Und nun stellt sich das kleine Krokodil der Herausforderung, zu zeigen, dass es schwimmen kann, denn es ist kein bisschen feige und auch nicht auf den Kopf gefallen. Es beweist im Laufe der Geschichte, dass es sehr wohl schwimmen kann! Es muß einige Hindernisse überwinden, das Wasser ist kalt, brrrr! Und das mit dem Schwimmen in koordinierten Zügen will auch nicht sofort klappen aber unbeirrt weiterpaddelnd schafft es das Kleine bis zum anderen Ufer, wenn auch grade so. Müde, aber glücklich erzählt es den anderen, die es dort trifft, von seinem Erfolg. Und nun erfinden wir die ganze Geschichte mit neuen Tieren, die geben nämlich auch alle an, was sie so alles können. Ein Elefant, ein Tiger, eine Schlange, eine Maus, …alle möglichen Tiere treten auf und sagen/singen, was sie können…. Mal abgesehen davon, wie auf diese Weise musische Elemente gelernt werden, wie schnell und lang‐
sam, laut und leise, Melodie und Ausdruck (je nachdem, welches Tier dargestellt wird), und wie die‐
ser Ausdruck an Instrumenten dargestellt werden kann, sind die mimischen und gestischen Anstren‐
gungen, welche die Kinder unternehmen, ein gutes Mittel zur Selbstwahrnehmung und zur Fähigkeit, mental und körperlich in andere Rollen zu schlüpfen (großes und kleines Krokodil, Tiger oder Maus). Das alles muß authentisch dargestellt und musisch präzise ausgeführt werden, damit es Spaß macht, und ganz nebenbei wird durch die ausgedachte und dargestellte – erlebte Geschichte Sprache leben‐
dig für die Kinder. Sie wenden sie lustvoll an, denn das Spielen mit Worten macht nicht nur Spaß sondern führt ja auch direkt zu einem faßbaren Ergebnis. Zum Einstieg in die theatralische Musikwelt kann man auch zunächst einmal (im Morgenkreis z.B.) ein Begrüßungslied auf seine Darstellbarkeit hin anschauen. „Der Musikater“ (aus demselben Unterrichtswerk wie das Grüne Krokodil) ist nicht schwer zu singen und kann zu einer sprachlichen Übung werden, wenn man ihn folgendermaßen ausführt. Der Text ist: „Der Musikater schleicht herum, er schaut sich nach den Kindern um. Jeder weiß, dass er nicht beißt, will nur wissen, wie Du heißt.“ Danach sagt ein Kind seinen Namen, den die gesamte Gruppe zweimal nachsingt. Nach der Reihe werden so alle Kinder begrüßt. 6 Vortrag Andrea Rittersberger Symposion „Basiskompetenzen Zuhören und Sprechen“ 25. Februar 2011, 13:00 Uhr Wenn man nun ein kleines Stofftier nimmt und mit diesem den Musikater darstellt, erleben die Kin‐
der das Lied noch intensiver, als wenn es ausschließlich gesungen würde. Und wenn diese kleine Kat‐
ze auch noch Kontakt aufnimmt und verschiedene Bewegungsformen beim Singen ausführt („Der Musikater rennt/hüpft/tanzt…herum“), dann verändert sich automatisch auch die Art, wie das Lied gesungen wird. Wenn die Kinder diese Bewegungsarten wählen und selbst sich entsprechend mit dem Musikater im Kreis bewegen, ist es umso besser. Allerdings ist es wichtig, sowohl bei sich selbst als auch den Kindern darauf zu achten, dass sowohl die Bewegungen als auch die Art des Sin‐
gens der Bedeutung der gewählten Bewegungsart entsprechen. So werden nicht nur musische Ele‐
mente geübt (schnell, langsam, laut, leise, tänzerisch, verträumt, akzentuiert etc. singen), sondern das Ganze auch wird noch visualisiert und körperlich erfahrbar gemacht. Die Worte und die musikali‐
sche Sprache rutschen sozusagen zunächst in den kleinen Körper des Stofftieres und dann auch noch in die Körper der darstellenden Kinder, selbst wenn diese im Kreis sitzen und das Geschehen nicht im Raum darstellen. Die Ideen der Kinder sind oft sehr „wild“, z.B. ein Salto schlagender Musikater. Hier sollte man als Lehrkraft/ErzieherIn natürlich steuern, inwieweit diese Saltos nun im Raum zur Ausführung kommen. Ich überlasse es meist dem Musikater, im Kreis der Kinder, die gewagteren Bewegungen auszuführen und achte dabei darauf, dass die Kinder die Bedeutung des Wortes im Singen darstellen, anstatt ihnen zu erlauben, damit im Raum zu experimentieren. Auch werden in diesem Fall die Bedeutung der Worte und ihre musische Umsetzung klarer, wenn nur der Musikater in Bewegung ist und die Kinder sich aufs Singen konzentrieren. Elementares Musiktheater in der Grundschule Mit älteren Kindern, die schon etwas lesen und schreiben können, bietet es sich an, Geschichten zu entwickeln und dazu passende Lieder oder Musik zu suchen. Selbst Musik entwickeln (mit dem Orffinstrumentarium oder/und mit Tischen, Stühlen …), Tänze ausdenken – der Kreativität sollten hier nicht zu früh Grenzen gesetzt werden, ebensowenig wie der Experimentierfreudigkeit. Das gilt nicht nur für die Kinder sondern auch für die Lehrenden. Die Befangenheit, nicht professionell Musik zu machen oder zu tanzen, sollte nicht zu früh die eigene Phantasie auf die hintersten Plätze verwei‐
sen. In meinem Buch „Andreas LiederLeseMitmachbauch“, Beustverlag München 2002, habe ich rund um den Jahreskreis (und mit entsprechenden Volksliedern) Geschichten entwickelt und Anleitungen ge‐
schrieben, wie diese auch von musikalischen Laien in die Praxis umgesetzt werden könnten, und das besonders für die Altersgruppe 4‐7jährige Kinder. Dieses Buch kann man im Internet nach wie vor kaufen. Im regulären Buchhandel ist es derzeit vergriffen und muß neu aufgelegt werden. Man kann auch Geschichten nehmen, die es schon gibt, und diese von den Kindern verändern lassen und gemeinsam dazu Musik finden. Wenn dazu noch gemalt wird sind die Grundvoraussetzungen für szenisches Spiel und Bühnenbild schon gelegt. In jedem Fall ist es wichtig, dass sich die Kinder auf vielfältige Weise mit einem Text befassen. Ob daraus nun ein Elementares Musiktheaterstück wird oder kleine unzusammenhängende Szenen, ist weniger wichtig, als dass die Kinder von der Beschäfti‐
gung mit den Künsten zum Darstellen kommen und lernen, über die Künste zu kommunizieren, mit Stimme, Körper, Mimik/Gestik und Instrumenten, und seien diese noch so einfach. 7 Vortrag Andrea Rittersberger Symposion „Basiskompetenzen Zuhören und Sprechen“ 25. Februar 2011, 13:00 Uhr Dieses ganzheitliche Erleben ist ein indirekter Lernprozess, bei dem Verständnis, Wahrnehmung, Ausdrucksfähigkeit, Emotion, Konzentration und Kommunikation geübt werden. Wenn jedes Kind darüber hinaus eine Rolle findet, die es gerne spielt, ist die Motivation, gemeinsam am Entstehen eines komplexen Ganzen mitzuwirken besonders hoch. Das kann auch bedeuten, dass ein Kind lieber Regieassistent oder Bühnenbildner ist, als selbst auf der Bühne zu agieren. Oder einige Kinder spielen lieber statt zu tanzen, zu singen oder zu musizieren. Wenn die Organisation eines Theaterstückes personell mit so vielen verschiedenen Komponenten möglich ist, wird das Erlebnis besonders inten‐
siv. Im Hort wie in der Grundschule ist es deshalb wichtig, die Komplexität des Elementaren Musik‐
theaterstückes vorab so zu planen, dass in der Umsetzung keine Überforderung entsteht. Denn eines muß klargestellt sein: Kreative Theaterprozesse sind oft anstrengend und explosiv, vor allem dann, wenn die Kinder selbst mit entwickeln dürfen. Emotionen spielen eine wichtige Rolle und sollten nicht schon im Keim erstickt werden, wenn sie zu kurzfristigem Chaos führen. Der Wille, von der Idee zur Gestaltung zu kommen, führt früher oder später die Auseinandersetzung in eine kon‐
struktive Richtung. Diese Phasen von Enthusiasmus, übersprudelnden Ideen, Gestaltung von Szenen und schließlich einer gut geübten (!) Umsetzung muss die Lehrkraft zwar steuern, aber nicht diktie‐
ren. Kreative Prozesse sind weder logisch noch linear, sie scheinen oftmals zunächst chaotisch, wer‐
den aber erstaunlich schnell in klarer und authentischer Weise in eine sinnvolle Darstellung führen, wenn man sie nicht abwürgt. Es ist sinnvoll, die Themenfindung aus dem Alltag der Kinder oder um die Lehrinhalte herum anzu‐
setzen, denn damit das Gelernte wirklich erfaßt wird, sollte man Kinder (oder Menschen überhaupt) dort abholen, wo sie stehen. Aber wissen wir überhaupt noch, wo das ist? In der Hauptschule Pottendorf fanden 10‐12 jährige Kinder ein Thema zu dem sie ein Elementares Musiktheaterstück kreieren wollten. „Schule‐ Traum und Wirklichkeit.“ Das klang zunächst einmal auch für die Lehrer ganz verständlich, bis es zur Belebung der Überschrift mit Protagonisten kam. Die Kinder fanden über 22 Figuren, die sie spielen wollten, über Das Brot (KIKA), den Kürbis, Bart Simpson und einige Figuren aus Horrorfilmen und Computerspielen. Diese zombiartige, seltsame Besetzung wurde flankiert von einem (imaginären) Lehrer und einem Hausmeister. Schüler kamen zunächst keine vor. Die Lehrer waren gelinde gesagt, entsetzt, denn sie lasen in die Phantasie der Kinder und die Auswahl ihrer Figuren finstere und gewalttätige Gedanken. Aber eine wirkliche Vorstellung davon, wodurch die Figuren animiert worden waren, hatten sie nicht – bis auf einen sehr jungen Lehrer, der wußte, was die Kinder meinten, weil er die Serien und Filme kannte und die Computerspiele spielte. Er wuß‐
te, wie die Figuren agieren, wie sie sprechen, was sie können – kurz, wie die Welt funktioniert, in der diese oft absolut irreal überhöhten Wesen angesiedelt sind. Und er wußte das nicht nur theoretisch, sondern aus Erfahrung. Es waren jedoch nicht nur die Figuren für die meisten Lehrer etwas befremdlich sondern auch die Sprache der Kinder. In den Szenen, die sie mit den Figuren improvisierten kamen Worte wir Tod, Leben, Auslöschen, Wiedererwecken, Blut, Rache, Licht, Laser, vorgetragen in kanonadischen Wort‐
salven so häufig vor, dass die Lehrer sich schon wünschten den Deckel auf der Pandorabüchse gelas‐
sen und NICHT die Theatersache angeregt zu haben. Die schon philosophisch anmutende Diskussi‐
8 Vortrag Andrea Rittersberger Symposion „Basiskompetenzen Zuhören und Sprechen“ 25. Februar 2011, 13:00 Uhr on der Schüler zum Thema „Wann ist Töten gerechtfertigt?“ kann schon die Frage aufwerfen, ab wann man als Lehrer mit seiner eigenen Moralvorstellung dazwischen fahren sollte. Meiner Auffas‐
sung nach sollte man das überhaupt nicht, sondern ernsthaft mit den Schülern das Thema ausdisku‐
tieren und seine Ansichten energisch vertreten, jedoch nicht diktieren. In unserem Fall führte diese Arbeitsweise dazu, dass die Kinder das Thema Gewalt (nach anfänglichem „Posing“ und Angeben mit Floskeln sehr ernsthaft und vielfältig diskutierten und sehr reflektiert in ihre Szenen integrierten. Verletzt und getötet wurde letztlich Niemand, sondern es wurde vor allem die Hohlheit von einigen Moden in Frage gestellt (MTV‐Versteckte Kamera, Katy Perry, welche die Kinder als Person für un‐
glaubwürdig hielten, wurden thematisiert und szenisch sehr wirkungsvoll karikiert). Diese intellektu‐
elle Leistung, die aus einer Debatte (die, nebenbei bemerkt, sehr stark die Sprachkultur und Aus‐
drucksfähigkeit fördern kann, wenn der Diskussionsleiter/Lehrer darauf achtet) entsteht, die nicht zu früh abgewürgt wurde, führte zu sehr intelligent aufgebauten Szenen. Denn, da es nun einmal um ein Theaterstück ging, mußten Szenen entwickelt werden, und mit ei‐
nem Mal reduzierten sich die Debatten, die Figuren und ihre Surrealität auf (fast) ganz normale We‐
sen, die im Schulalltag in sehr clever erdachten Situationen zurechtkommen mußten. Passende Mu‐
sik wurde gefunden (wie das Simpsonsthema beim Auftritt von Bart oder Rockmusik bei Perrys Auf‐
tritt und dem von „MTV‐ Versteckte Kamera“). Die aus der Improvisation mit surrealen Figuren und überlebensgroßen Phantasiegestalten entstan‐
denen Theaterszenen wurden durch das Spielen recht schnell auf eine „reale“ Ebene gebracht, wel‐
che die Kinder, da sie ja nun keine Avatare, Zeichentrickfiguren oder gar Vampire sind, umsetzen konnten, und dies gelang ihnen unglaublich packend – und nun auch wieder für die Lehrer verständ‐
lich. Es ist an sich nicht so schwer, eine Brücke in die Welten der Kinder zu finden, man muß sich nur ein‐
mal mit dem auseinandersetzten, womit sie ihre Zeit verbringen. Wolfgang Bergmann, der bekannte Lernpsychologe, hat in seinen bahnbrechenden Buch „Digital Kids“ (Beustverlag München 2002) und im Folgebuch „Computersüchtig“ Beltz, Weinheim, 2010) u.a. anschaulich beschrieben, dass er ge‐
meinsam mit seinen Stiefsöhnen Computer gespielt hat, bis er gefühlt und erlebend verstanden hat, wie das Gehirn auf diese Spiele beim Spielen reagiert. Und Verständnis schafft Kommunikation und damit Verbindung ‐ in beide Richtungen. Die Ausei‐
nandersetzung mit der Sprache der Kinder führt zwangsläufig zu einer Beschäftigung mit digitalen Gadgets. Facebook, Twitter, sms, Blogs aller Art führen zu einer Kommunikation, bei der dialekti‐
sches Denken hinter analogem, schnellen Kommentieren verschwindet. Tempo und Zeit/Raum/Körperlosigkeit stehen im Gegensatz zu der in der realen Welt aufzuwendenden Energie, etwas zu erreichen. Aber das bedeutet nicht, dass unsere Kinder verdummen oder nicht für reale Themen zu begeistern wären, nur kommunizieren die Kinder dieses Interesse nicht dialektisch sondern eher analog und doch sehr komplex durch die Vernetzung die in der körperlosen, digitalen Welt so viel müheloser zu entstehen scheint, als in der physischen Welt. Kommunikationswolken entstehen online zu allen Themen, die für Kinder heute wichtig sind, und das sind erstaunlicherweise sowohl Umweltthemen wie „Superstarshows“ in allen möglichen Facetten. 9 Vortrag Andrea Rittersberger Symposion „Basiskompetenzen Zuhören und Sprechen“ 25. Februar 2011, 13:00 Uhr Wenn man Kinder zu aktuellen weltpolitischen Problemen befragt, oder auch zu Freundschaft, Zielen im Leben und Interessen bekommt man erstaunlich reflektierte Antworten. Versucht man diese Themen jedoch im Unterricht zu behandeln, ist die Aufmerksamkeitsspanne oft sehr gering. Und deshalb ist ein vernetztes, verdichtetes Lernen wie beispielsweise das Elementare Musiktheater, eine Chance, die Echtzeit und die Phantasie der Kinder erlebbar zu machen und wieder das Lernen und Erleben in der realen Welt ankommen zu lassen. Für Sprache gilt das ebenso wie für Körperwahrnehmung und das Verständnis von Kommunikation. Lesen und Schreiben sind langsame Prozesse im Vergleich zu den schnellen gesprochenen Welten, in denen sich viele Fernsehserien und Computerspiele bewegen. Um diesen zu folgen ist es wichti‐
ger, schnelle Instinkte zu entwickeln und blitzschnell auf Situationen zu reagieren (vor allem beim Computerspielen) als den Sinn des Erlebten zu reflektieren und dann zu entscheiden, wie man da‐
rauf reagieren soll. Aber genau letzteres ist beim Lesen – und Schreibenlernen wichtig. Dieser Pro‐
zess ist in viele Kinderhirne jedoch nicht eingeprägt. Eltern lesen nicht mehr vor, Kinder sitzen vor dem Fernseher (passiv) oder vor dem Computer (aktiv) und trainieren Hirnareale, die Tempo und analoge Prozesse verarbeiten. Eltern unterhalten sich oft auch nicht mehr, weder über das, was Kin‐
der erleben (beispielsweise in der Schule und dem sozialen Umfeld) oder über etwas, das die Familie gemeinsam unternimmt. Die Kinder leben in Cyberwelten, und das weitaus mehr, als wir uns oft ein‐
gestehen möchten. Doch sie müssen auch mit der realen Welt zurechtkommen, Und hier ist der Mensch eben nicht gotthaft und kann nach Belieben töten und wieder lebendig machen, Welten erschaffen oder zerstö‐
ren, in Lichtgeschwindigkeit überall hin reisen und überall gleichzeitig sein ‐ alles ohne körperliche und geistige Anstrengung ‐ über einen kleinen Mausklick. Doch das Denken hat sich generell unter dem Einfluss der digitalen Möglichkeiten wegbewegt vom dialektischen Gegenüberstellen von Gut und Böse, Leben und Tod, Zeit und Raum. Wie soll unter diesen Umständen eine Geschichte über Gut und Böse (Räuber Hotzenplotz) oder später in der Ent‐
wicklung ein Werk wie Goethes „Faust“ etwa die Kinder erreichen? Sie werden erreicht, jedoch nur, wenn sie von den Themen berührt werden. Und das geschieht besonders effektiv, wenn das eigene Erleben mit dem Geschriebenen Hand in Hand geht. Denn wird eine Geschichte einmal selbst darge‐
stellt gewinnt sie durch die körperliche Wahrnehmung genau die Dimension, die wir als Erziehende und Lehrende so oft vermissen. Das Erleben im Hier und Jetzt, das Bemühen um Darstellung und Ausdruck dessen, was die Kinder bewegt, läßt sie ein Verständnis gewinnen für die Sinnhaftigkeit der Mühe und Zeit des Erarbeitens und – wenn wir es schaffen, ihre Sprache zu sprechen, lernen sie auch unseren Argumenten als El‐
tern, Erzieher und Lehrer zu folgen. 10 Vortrag Andrea Rittersberger Symposion „Basiskompetenzen Zuhören und Sprechen“ 25. Februar 2011, 13:00 Uhr Weitere Literaturempfehlungen zu den Themen Musik und Sprache, Musik im Kindergarten, Ele‐
mentares Musiktheater, die nicht im Text vorkommen: Hrsg.: Andrea Rittersberger Musik & Rhythmik, Cornelsen Scriptor, Berlin, 2010 Beiträge verschiedener MusikerInnen und ErzieherInnen zu den Themen Musik im Kindergrippe, Kin‐
dergarten, Musiktheater, Projekte Andrea Rittersberger: Spot Musik „Kindergarten Heute“ Herder, Freiburg, 2006 Andrea Rittersberger: „Das Gespenst Heinrich findet Freunde“, Schott, Mainz 2006 (nur noch im In‐
ternet erhältlich) Manuela Widmer: „Spring ins Spiel“ Fidula, Boppard/Rhein, Elementares Musiktheater Wolfgang Bergmann: Das Drama des modernen Kindes, Belz, Weinheim, 2008 11