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Berliner Debatte Initial 2 20. Jg. 2009 Wege aus der Krise Krisenverlauf und Busch Krisendeutung Stroczan Gespenst Aktienkultur Grüner Willnow New Deal Scheer Energiewende international Sport, Geschlecht elektronische Sonderausgabe ISBN 978-3-936382-63-1 © www.berlinerdebatte.de und ‚Race‘ Boesenberg Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2 Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal © GSFP – Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Forschung und Publizistik mbH. Herausgegeben im Auftrag des Vereins Berliner Debatte INITIAL e.V., Präsident Peter Ruben. Berliner Debatte Initial erscheint alle drei Monate. Redaktion: Harald Bluhm, Ulrich Busch, Erhard Crome, Birgit Glock, Wolf-Dietrich Junghanns, Cathleen Kantner, Thomas Müller, Ingrid Oswald, Dag Tanneberg, Udo Tietz, Andreas Willisch, Rudolf Woderich Lektorat: Gudrun Richter, Produktion: Rainer Land Redaktionelle Mitarbeit: Karsten Malowitz Verantwortlicher Redakteur: Jan Wielgohs, verantwortlich für dieses Heft (V.i.S.P.): Ulrich Busch Copyright für einzelne Beiträge ist bei der Redaktion zu erfragen. E-Mail: [email protected] Internet: www.berlinerdebatte.de Preise: Einzelheft ab 2009 (160 Seiten): 15 €, bis 2008: 10 €, Doppelheft 20 € Einzelhefte werden per Post mit Rechnung verschickt. Jahresabonnement: 2009 unverändert: 39 €, Ausland zuzüglich Porto. Studenten, Rentner und Arbeitslose 22 €, Nachweis beilegen. Ermäßigte Abos bitte nur direkt bei Berliner Debatte Initial per Post oder per Fax bestellen. Das Abonnement gilt für ein Jahr und verlängert sich um jeweils ein Jahr, wenn nicht sechs Wochen vor Ablauf gekündigt wird. Bestellungen Einzelhefte, Abos und pdf-Dateien per Mail an: [email protected] Tel.: +49-39931-54726, Fax ...-54727 Post: PF 58 02 54, 10412 Berlin Abo-Bestellungen auch direkt bei INTER ABO, PF 360520, 10975 Berlin; Tel. (030) 61105475, Fax (030) 61105480. Autorenverzeichnis Eva Boesenberg, Prof. Dr., Dept. of English and American Studies, Humboldt-Universtät zu Berlin Ulrich Busch, Dr. habil., Finanzwissenschaftler, Berlin Mario Candeias, Dr., Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin. Michael Jäckel, Prof. Dr., Soziologe, Universität Trier Christian Kaiser, Dr., Sozialwissenschaftler, Hannover Daniel Kofahl, Dipl.-Soziologe, Universität Kassel David Kramer, PhD, Historiker, Professor, Alice-Salomon-Hochschule, Berlin Thomas Müller, MA, Erziehungswissenschaftler, Universität Erfurt Mariele Nientied, Dr. habil., Philosophin, Universität Frankfurt/Oder Andreas Pickel, Prof. Dr., Centre for the Critical Study of Global Power and Politics Trent University, Peterborough, Ontario, Canada Hermann Scheer, Prof. h. c., Dr. h. c., Dr., Mitglied des Deutschen Bundestags, Wirtschaftsund Sozialwissenschaftler Danny Schindler, Student der Politikwiss. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Thomas Schubert, MA, Philosoph, Einstein-Haus Caputh Katherine Stroczan, Dr. phil., Psychoanalytikerin, Frankfurt am Main Rainer Land, Dr. sc., Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler, Thünen-Institut e.V. Bollewick Camilla Warnke, Dr., Philosophin, Berlin Klaus Müller, Prof. Dr., Wirtschaftswissenschaftler, Glauchau/Chemnitz Andreas Willnow, Dr., Wirtschaftswissenschaftler, Leipzig Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2 1 Wege aus der Krise – Zusammengestellt von Ulrich Busch – Thomas Schubert „Abbau Ost“ – Bericht von einem Abend in Potsdam 87 2 Danny Schindler Repräsentation versus Partizipation? Demokratietheoretische Überlegungen 95 5 Eva Boesenberg Wie Sport Geschlecht und ‚Race‘ festschreibt 106 Michael Jäckel, Daniel Kofahl „Man hat etwas anderes vermutet ...“ Zur Phänomenologie des kulinarischen Geschmacks 117 SCHWERPUNKT: WEGE AUS DER KRISE Die Finanz- und Wirtschaftskrise – Chancen für Reformen und für eine globale Energiewende Editorial Andreas Pickel Kann der Keynesianismus die neoliberale Weltordnung retten? Mario Candeias Die letzte Konjunktur: Organische Krise und „postneoliberale“ Tendenzen 12 Ulrich Busch Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus 25 Klaus Müller Vom Marktversagen zum Staatsversagen – alles Krise oder was? 44 Katherine Stroczan Das Gespenst der Aktienkultur oder das Behagen in der Unkultur 55 Rainer Land Die globale Energiewende und die politische Agenda von Barack Obama 62 Energiewende international Rainer Land sprach mit Hermann Scheer 67 Andreas Willnow „Grüner New Deal“? 75 *** REZENSIONEN UND BESPRECHUNGEN Alfred Kosing: Innenansichten als Zeitzeugnisse. Philosophie und Politik in der DDR. Besprochen von Camilla Warnke 135 Günter Butzer, Joachim Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. 147 Rezensiert von Mariele Nientied Kurt Bayertz, Myriam Gerhard, Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. 150 Rezensiert von Thomas Müller Colin Crouch: Postdemokratie Rezensiert von Christian Kaiser 156 Roger Karapin: Protest Politics in Germany. Movements on the Left and Right. Besprochen von David Kramer 158 2 Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2 Editorial Die Finanz- und Wirtschaftskrise – Chancen für Reformen und für eine globale Energiewende Die Weltwirtschaft befindet sich in einer dramatischen Lage. Nach dem Zusammenbruch des US-Immobilien- und Hypothekenmarktes, dem Kollaps von Großbanken und der Krise auf den Finanzmärkten, welche im Herbst 2008 mit der Lehman-Pleite ihren Höhepunkt erreichte, verzeichnet nunmehr, in den Jahren 2009 und 2010, die Produktion von Gütern und Dienstleistungen ihren tiefsten Einbruch seit der Weltwirtschaftskrise 1929/33. Weltproduktion und Welthandel schrumpfen in einem bisher unvorstellbaren Ausmaß. Wie diese Krise letztlich historisch zu bewerten sein wird, steht heute noch aus. Auf jeden Fall aber wird sie als eine „große Krise“ in die Geschichte eingehen. Deutschland ist von der Finanz- und Wirtschaftskrise in besonderem Maße betroffen, durch den Exportrückgang ebenso wie durch den Rückgang der Produktion und nachfolgend der Unternehmensgewinne, der Investitionen, der Beschäftigung, der Produktivität, der Einkommen und des Konsums. Der Arbeitsmarkt zeigt bisher noch kaum Verwerfungen durch die Krise. Die Experten rechnen jedoch für 2010 mit einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Trotz massiver staatlicher Interventionen droht eine Deflationsspirale, deren wirtschaftliche und politische Folgen unabsehbar sind. Die Politik reagiert hierauf bisher vor allem mit Maßnahmen eines konservierenden Aktionismus. Sie will „eine Brücke“ bauen, die über die Untiefen der Krise hinwegführt, und danach weitermachen wie vor der Krise. Je tiefer die Krise jedoch das Leben der Menschen verändert, umso deutlicher wird, dass es danach kein Zurück zum Davor geben wird. Die Welt wird dann eine andere sein, in Deutschland wie im globalen Maßstab. Dies impliziert, die Krise nicht nur als Katastrophe, sondern zugleich auch als Chance zu begreifen, als Chance für wirtschafts- und gesellschaftspolitische Reformen sowie für die Lösung der anderen großen Krisen dieser Welt, der Umweltkrise vor allem, aber auch der Ernährungs-, der Wasser-, der Energie-, der Rohstoffkrise usw. Derzeit sind die Medien noch mit der Phänomenologie der Krise befasst. Ebenso wie die praktische Politik mit der Bewältigung der unmittelbaren Auswirkungen der Krise beschäftigt ist. Die geistige Aufarbeitung dessen, was da passiert ist und was die Krise eigentlich bedeutet, ihre theoretische und wirtschaftshistorische Interpretation, beginnt erst allmählich und wird einen großen Zeitraum in Anspruch nehmen. Die wirtschaftstheoretische Analyse der Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise, ihres Verlaufs und ihrer Wirkungen, ihrer tiefen, systemimmanenten Wurzeln, ihrer Transmissionsmechanismen, ihrer Psychologie, die Rolle der Theorie beim Zustandekommen der Krise und für deren Wahrnehmung bzw. Fehlwahrnehmung, die Rolle der Politik beim Krisenmanagement – das alles gilt es zu ergründen. Die Zeitschrift Berliner Debatte Initial hat bereits 2008 mit dem Schwerpunktheft „Endlose Depression“ (Heft 4/2008) einen viel beachteten Beitrag zur wissenschaftlichen Interpretation der Krise geleistet. Mit diesem Heft soll die Diskussion über die Hintergründe, die Deutungsversuche und die interdisziplinäre Erklärung der Krise im Lichte der aktuellen Editorial Ereignisse fortgesetzt werden. Dabei wird versucht, die wissenschaftliche Interpretation der Krise mit der Frage nach den Chancen für die „Energiewende“ – als dem wesentlichen Ausweg aus dieser Krise wie aus der krisenhaften Situation der Menschheit überhaupt – organisch zu verknüpfen. Das Heft ordnet sich damit ein in den Kanon zahlreicher Veröffentlichungen, welche gegenwärtig versuchen, über das bloße Entsetzten und Staunen über das Ausmaß und die Folgen der Krise hinauszugehen, indem sie Fragen und Konzepte aufgreifen, welche als Lösungsansätze für die Überwindung der Krise dienen. Im ersten Aufsatz beschäftigt sich Andreas Pickel mit dem gegenwärtig weltweit zu beobachtenden Rückgriff der Politik auf keynesianische Konzepte. Ohne massive öffentliche Ausgabensteigerungen scheint die Krise nicht beherrschbar zu sein. Die Rekapitalisierung von Banken und Konzernen hat jedoch mit Keynesianismus wenig zu tun. Dies wirft weitere Fragen auf: Bilden massive Staatsausgaben wirklich den Kern des Keynesianismus? Und unter welchen Bedingungen war keynesianische Politik erfolgreich und unter welchen nicht? Die Krise des Weltfinanzsystems und der Weltwirtschaft ist eine systemische Krise, die zu ihrer Überwindung grundlegender Veränderungen bedarf. Eine Rückkehr zum Keynesianismus erscheint als die bestmögliche Lösung. Die Bedingungen dafür sind heute jedoch andere als vor 50 Jahren. Folglich werden auch die Ergebnisse andere sein. Mario Candeias behandelt die aktuelle Krise als eine organische Krise des Neoliberalismus, in deren Verlauf sich „postneoliberale Tendenzen“ andeuten. Ökonomische, ökologische, politische und soziale Krisenerscheinungen verdichten sich gegenwärtig zu einer strukturellen, einer organischen Krise. Staatsinterventionismus, Reregulierung, Initiativen für einen Green New Deal und andere Projekte markieren ein neues Feld „postneoliberaler“ Strategien. Der Neoliberalismus wird nach wie vor als dominant angesehen, jedoch nicht mehr als hegemonial. Die Welt beginnt sich zu verändern. Im folgenden Aufsatz wird die Finanz- und Wirtschaftskrise in ihrem Kern als eine Über- 3 akkumulations- und Überproduktionskrise behandelt, die jedoch Besonderheiten aufweist. Diese erschließen sich, schreibt Ulrich Busch, am besten, wenn man die gegenwärtige Wirtschaftsordnung als Finanzmarktkapitalismus begreift und die Krise als Ausdruck der Grenzen einer bestimmten Regulationsweise interpretiert. Die Krise bietet Chancen für Reformen und befördert damit den gesellschaftlichen Evolutionsprozess. Realisiert werde diese Entwicklung jedoch auch künftig noch im ordnungspolitischen Rahmen des globalen Finanzkapitalismus, womit der Autor postkapitalistischen Utopien eine Absage erteilt. Hieran an schließt sich eine ebenfalls volkswirtschaftlich argumentierende Arbeit von Klaus Müller. Ausgehend vom inflationären Gebrauch des Krisenbegriffs (Konjunktur-, Banken-, Finanz-, Börsen-, Immobilien-, Kredit-, Armuts-, Umwelt-, Wachstums-, Vertrauens-, Sinnkrise usw.) fragt er, ob sich das kapitalistische Gesellschaftssystem gegenwärtig als Ganzes in einem akuten Krisen- und Auflösungszustand befinde oder was diese Häufung von „Krisen“ eigentlich rechtfertige? Hat der Markt versagt? Oder der Staat? Gibt es eine Wachstumskrise? Vollziehen Staat und (neoliberale) Theorie momentan einen Sinneswandel? Das sind die Fragen, die einige Autoren angesichts der Synchronität mehrerer Krisen nicht nur für berechtigt halten, sondern auch bejahen. Der Autor ist anderer Auffassung und versucht, dies ökonomisch zu begründen. Die Krise besitzt mehrere Facetten und Ursachen, keineswegs nur ökonomische. Dies zeigt sich insbesondere in ihrer Erscheinungsform als Finanzmarktkrise sowie im irrationalen Verhalten der Akteure an den Finanzmärkten, an der Börse. Aber letztlich war es nicht die Irrationalität der Akteure, welche in die Krise geführt hat, sondern die Irrationalität der Logik der Finanzmärkte und des Finanzmarktkapitalismus, welcher sich die Akteure, die Broker und Banker wie die Anleger, nicht entziehen konnten. Eine Analyse des Funktionierens der Börse lässt dies augenscheinlich werden. Katherine Stroczan setzt sich mit der Funktionsweise der Finanzmärkte und dem Handeln der dort agierenden Akteure aus psychoanalytischer Sicht auseinander. Sie zeigt, dass wie in vorge- 4 Editorial schichtlicher Zeit die Vorhersage von Naturerscheinungen aus Mangel am Instrumentarium scheitern musste, heute die Prognosen an den Finanzmärkten scheitern. Es ist kein Zufall, dass die Bewegungen der Märkte wie Naturphänomene erlebt werden, wobei einem „Krach“ der Stellenwert einer Naturkatastrophe zukommt. Da Finanzmärkte wie die unbeherrschte Natur funktionieren, ist es einleuchtend, dass die Prognose der Fetisch der Börsen ist. Dabei kommt es zur Verwechslung von Spekulation mit Kultur. Letztlich erweise sich die „neue Aktienkultur“ als Unkultur. Bereits in den analytischen Texten zeigen sich Ansätze für eine Lösung der Probleme, wird die Krise als Chance für Reformen und Entwicklungsfortschritt begriffen. Die „globale Energiewende“ ist ein notwendiger Beitrag, um das Überleben der Menschheit sicher zu stellen. Zugleich ist sie der Schlüssel zu einem neuen Industrialisierungs- und Entwicklungspfad. Rainer Land zeigt, dass wir heute an einer ähnlichen Wegscheide stehen wie vor 80 Jahren. Wie damals kann auch heute die Finanz- und Wirtschaftskrise zum Katalysator eines politischen Prozesses werden, der zu einem neuen Typ wirtschaftlicher Entwicklung führt. Damit würde ein „neues Paradigma sozioökonomischer Entwicklung“ eingeleitet werden. Im Interview skizziert Hermann Scheer den Weg zu einem vollständigen Ersatz der fossilen Energieträger durch Erneuerbare Energien international und national, zeigt, daß dieser Weg gangbar und wirtschaftlich vernünftig ist. Die Energiewende ist Kern einer industriellen und wissenschaftlich-technischen Revolution, die die Welt auch sozialökonomisch und politisch grundlegend verändern wird. Scheer erzählt von den Auseinandersetzungen, Fortschritten und Widerständen bei der Gestaltung dieses Prozesses und erklärt, auf welche Weise neue internationale Organisationen, wie die jetzt gegründete Internationale Agentur für Erneuerbare Energien (IRENA) wirken werden. Andreas Willnow gibt einen informativen Überblick über den Stand der aktuellen Diskussion zur Energiewende. Er zeigt anschaulich, wie sich vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise die Debatte um einen „Grünen New Deal“ als Lösungsvorschlag verstärkt hat, welche Kräfte eine solche Lösung unterstützen und welche sie zu blockieren versuchen. Außerhalb des Schwerpunktes enthält das vorliegende Heft weitere Beiträge sowie zahlreiche Besprechungen und Rezensionen. Thomas Schubert berichtet von einer bemerkenswerten Diskussionsveranstaltung über den „Aufbau Ost“ und dessen Reflexion als „Abbau Ost“. Danny Schindler diskutiert demokratietheoretische Überlegungen zum Wechselverhältnis politischer Prinzipien. Michael Jäckel und Daniel Kofahl entwickeln eine „Phänomenologie des kulinarischen Geschmacks“ und Eva Boesenberg stellt am Beispiel des nordamerikanischen Basketballs dar, wie Sport Geschlecht und ‚Race‘ festschreibt. Ulrich Busch Corrigendum Im Heft 1/2009 „Konsumzeit - Zeitkonsum“ wurde versehentlich eine vorläufige Version des Artikels von Hartmut Rosa und Stephan Lorenz „Schneller kaufen!“ (S. 10–18) abgedruckt. Die Redaktion bedauert diesen Fehler und bittet die Autoren um Entschuldigung. Die korrekte Fassung steht auf der Homepage der Berliner Debatte Initial (www.berlinerdebatte. de) zum Download zur Verfügung. Die Redaktion Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2 5 Andreas Pickel Kann der Keynesianismus die neoliberale Weltordnung retten? Kann der Keynesianismus die neoliberale Weltordnung retten? Um diese Frage drehen sich seit Herbst 2008 die Versuche, die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise unter Kontrolle zu bringen. Die Frage wird nicht immer so explizit formuliert wie hier, doch scheint unter den globalen Eliten ein Konsens darüber zu bestehen, dass der ökonomische Status quo nur durch massive staatliche Ausgabenprogramme gerettet werden kann. Die Frage selbst wirft weitere Probleme auf: Waren massive Staatsausgaben der Kern des Keynesianismus? Unter welchen Bedingungen war keynesianische Politik erfolgreich, und unter welchen Bedingungen wurde sie aufgegeben? Inwieweit sind heutige Rahmenbedingungen anders, und was bedeutet das für den Erfolg oder das Fehlschlagen gegenwärtiger quasi-keynesianischer Politik? Inwieweit ist die neoliberale Weltordnung für die jetzige Systemkrise verantwortlich? Lässt sich diese Weltordnung als ganze retten? Wenn nicht, welche Elemente müssen verabschiedet werden? Die hier vorgelegte Analyse wird politische und ideologische Fragen wie die nach der Machbarkeit bestimmter Reformen unter den gegebenen politischen und ökonomischen Machtverhältnissen oder die nach dem für weitreichende Reformen notwendigen Bewusstseinswandel innerhalb der Eliten und der öffentlichen Meinung ausklammern. Politische und ideologische Kontinuität und Wandel werden bei den Versuchen zur Bewältigung der kapitalistischen Systemkrise zweifelsohne entscheidend sein. Auch nach nun bereits mehr als einem halben Jahr befinden wir uns immer noch am Anfang eines Umbruchs, auf den niemand vorbereitet war. Eine Rückkehr zu einer Art Keynesianismus erscheint gegenwärtig noch als die bestmögliche Lösung, auch wenn es sich dabei nicht um einen großen Wurf handelt. Waren massive Ausgabenprogramme der Kern des Keynesianismus? Ein Großteil der von Regierungen in der ganzen Welt seit Herbst 2008 vergebenen Billionen Dollar besteht aus Kapitalausgaben. In einer ersten Welle wurden Investmentbanken, deren Marktwert eingebrochen war, massiv rekapitalisiert, um ihren völligen Zusammenbruch sowie einen Dominoeffekt in der privaten Wirtschaft zu verhindern. Während die meisten Großbanken auf diese Weise bisher geschützt werden konnten, kam es trotz dieser massiven Kapitalinfusion zu einer Verengung auf den Kreditmärkten, wodurch Großkonzerne wie auch der Rest der Wirtschaft ernsthaft beeinträchtigt wurden. In einer zweiten, im Frühjahr 2009 noch anhaltenden Welle versuchen einige Regierungen nun, die bei ihnen ansässigen Großkonzerne der Automobilindustrie vor dem Bankrott zu bewahren. Es handelt sich hierbei um Maßnahmen, die dem Rest der Wirtschaft nicht zur Verfügung stehen. Eine dritte Welle öffentlicher Ausgaben gilt Infrastrukturprojekten, Steuersenkungen und national unterschiedlich gestalteten Ausgabenprogrammen. Es besteht die Erwartung, dass nach der Rettung von Banken und ausgewählten Konzernen die eingebrochene Konsumnachfrage und negative 6 Wachstumsraten in der nahen Zukunft durch den Stimulus staatlicher Ausgaben schnell überwunden werden könnten. Hierbei ist zu beobachten, dass der Zeithorizont dieser Erwartungen im Laufe der letzten Monate immer weiter in die Zukunft gerückt ist; ein Trend, der trotz immer wieder kurzzeitigen Aufflammens optimistischer Börsenwerte noch nicht abgeschlossen ist. Es sind insbesondere die Aktivitäten der dritten Welle, die stark an die antizyklische keynesianische Finanzpolitik während der drei ersten Nachkriegsjahrzehnte erinnern. Rekapitalisierung von Banken und Konzernen dagegen haben mit Keynesianismus nichts zu tun. Je nachdem, wo man die Grenze ziehen will, kann keynesianische Politik in engerem Sinne als nur antizyklisches Nachfragemanagement definiert oder aber, weiter gefasst, als staatliche Intervention in die Lohn- und Preispolitik, die Wechselkurse und die Geldpolitik angesehen werden. Die erste, begrenzte Art von Keynesianismus wird bereits heute wieder praktiziert, während weitergehende Interventionspolitik (noch) nicht auf der Tagesordnung steht. Die Rekapitalisierung von Banken und Großkonzernen dagegen war nie Teil des keynesianischen Politikrepertoires. Sie muss darum als neu und unerprobt gelten. Es handelt sich hierbei um quasi-keynesianische, das heißt defizitäre, Staatsausgaben in immenser Größenordnung, die allerdings keinen Antrieb für neues Wachstum geben, sondern bestenfalls eine temporäre Restabilisierung der neoliberalen Ordnung mit sich bringen. Es handelt sich übrigens um genau die Art von Staatsausgaben, welche internationale Geldgeber den postkommunistischen Regierungen nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung und den davon ausgelösten tiefen Rezessionen bei Strafe von Kreditentzug ausdrücklich verboten haben, um die heilende Wirkung von Marktkräften nicht künstlich zu unterbinden. In der heutigen Krise, so die weitverbreitete Hoffnung, wird die Staatsverschuldung in Billionenhöhe dagegen keine weiteren Probleme für eine bald wiederhergestellte neoliberale Wirtschaftsordnung schaffen. Diese hoffnungsvolle Erwartung basiert insbesondere auf zwei Annahmen: erstens, dass sich die neoliberale Andreas Pickel Ordnung auf diese Weise wiederherstellen lässt, und zweitens, dass die starken quasikeynesianischen Stimulusmaßnahmen von einem restabilisierten System auch absorbiert werden können. Ein kurzer Rückblick auf die keynesianische Ära und ihren Untergang zeigt jedoch, wie problematisch diese Annahmen tatsächlich sind. Unter welchen Bedingungen hat Keynesianismus funkioniert, und unter welchen Bedingungen wurde er verworfen? Der Aufstieg des Keynesianismus zur dominanten Form der Wirtschaftspolitik in der außersozialistischen Welt nahm seinen Anfang in der Großen Depression der 1930er Jahre. Er avancierte zu einem übergreifenden gesellschaftlichen Konsens als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs, dessen Ausbruch mit der ihm vorangehenden Krise des Kapitalismus und der systemischen Herausforderung durch den sowjetischen Sozialismus verbunden wurde. Verstaatlichung der Großindustrie, staatliche Planung und Marktregulierung, bereits während der Kriegszeit erprobt, wurden in der Nachkriegszeit selbst von liberalen und konservativen Parteien befürwortet. Diese im Angelsächsischen oft als „postwar ideological consensus“ bezeichnete Grundorientierung war der Anfang der keynesianischen Wirtschaftsperiode, die drei Jahrzehnte bis in die späten 1970er Jahre andauerte. Keynesianische Wirtschaftspolitik bewährte sich in ganz unterschiedlichen institutionellen Kontexten – von Nordamerika und Westeuropa bis nach Ostasien und vielen anderen Ländern der Dritten Welt, in denen sie Bestandteil umfassenderer Entwicklungsstrategien war. Diese Behauptung ist empirisch relativ leicht zu erhärten, wenn man wirtschaftliche und soziale Indikatoren der drei keynesianischen Jahrzehnte mit denen der darauf folgenden drei neoliberalen Dekaden vergleicht. Die Geschichte vom Untergang des Keynesianismus ging zusammen mit dem Entstehen der OPEC und mit einer Reihe massiver Ölpreissprünge, die zu weltweiter Inflation, verringertem Wirtschaftswachstum und ver- Kann der Keynesianismus die neoliberale Weltordnung retten? schärften Arbeitskämpfen führten. Die Ideologie des Neoliberalismus, deren Grundlagen bereits in den 1960er Jahren von Ökonomen wie Friedrich von Hayek und Milton Friedman entwickelt und verbreitet wurden, gewannen innerhalb der Wirtschaftseliten zunehmend an Einfluss, auf Kosten des keynesianischen Konsenses. Die Wahlerfolge von Margaret Thatcher in Großbritannien 1979 und Ronald Reagan in den USA 1980 waren klare Anzeichen für die – zunächst in den angelsächsischen Ländern – wachsende politische Legitimität des im Entstehen begriffenen neoliberalen Politikregimes. Der kapitalistischen Klasse, die den postwar consensus als zunehmende Einschränkung ihrer Entscheidungs- und Profitinteressen wahrnahm, gelang es nunmehr, mit dem neoliberalen Projekt der Befreiung von Individuum und Markt von staatlicher Bevormundung die politische Initiative wieder an sich zu bringen. Wenn der Keynesianismus über lange Strecken so gut funktioniert hat, wäre eine Neuauflage eine Antwort auf die heutige Krise? Keynesianismus bestand aus Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, aber er war mehr als das: ein Politikregime, das auf spezifischen Institutionen und für deren Funktion notwendigen Ideologien beruhte, insbesondere auf dem für Regierungen und kollektive Akteure verbindlichen Imperativ, die Arbeitslosigkeit auf niedrigstem Niveau zu halten. Richten wir unseren Blick nun auf die Gruppe von Institutionen, welche die gegenwärtige Krise hervorgerufen haben, das heißt, auf die globalen Finanzinstitutionen. Die „Befreiung“ des Marktes durchlief mehrere Stufen und betraf verschiedene Teilgebiete, darunter Privatisierung, Deregulierung, interne und externe Liberalisierung, die Aufkündigung von Arbeitsmarktgesetzen und die Ausdünnung sozialstaatlicher Institutionen. All diese Veränderungen fanden jedoch ihren Höhepunkt in dem grundlegenden Umbau der globalen Finanzarchitektur seit den 1990er Jahren. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde 7 unter Führung der Vereinigten Staaten von den westlichen Alliierten eine finanzielle Weltordnung, das Bretton-Woods-System, errichtet. Dieses verfolgte das Ziel der Regulierung internationaler Kapitalbewegungen mit im Goldstandard verankerten festen Wechselkursen. Deren temporäre Fluktuationen sollten durch eine neue Finanzinstitution, den Internationalen Währungsfonds (IWF), beschränkt werden. Als die USA das BrettonWoods-System fester Wechselkurse 1971 eigenmächtig aufkündigten und damit den vom Goldstandard befreiten US-Dollar als Währung der größten Weltwirtschaftsmacht de facto zur globalen Leitwährung machten, schaffte sich das Land für seine militärische, politische und wirtschaftliche Vormachtstellung ein immenses finanzielles Machtpotenzial. In den folgenden drei Jahrzehnten wurde mit Unterstützung durch die anderen westlichen Länder ein globales neoliberales Politikregime errichtet, das auf eine alle Lebensbereiche umfassende Marktideologie und eine politische Strategie der hemmungslosen wirtschaftlichen Ausbeutung der Welt ausgerichtet war. Praktisch bedeutete dies die Ausgestaltung eines globalen Handels- und Finanzsystems, welches einseitig den Kapitalinteressen diente, auf Kosten großer Teile der Weltbevölkerung. Es wäre falsch, das Handeln von politischen und wirtschaftlichen Eliten allein für diesen unter dem Neoliberalismus stattfindenden Regimewechsel verantwortlich zu machen. Zweifellos wurden die meisten politischen Maßnahmen ganz zielbewusst verfolgt, doch waren die systemischen Folgen neoliberaler Politik außerhalb des Verständnisses und der Kontrolle dieser Eliten. Der die Neoliberalen beflügelnde Glaube an freie Märkte war, wenn auch offensichtlich eigennützig, real: Das auf freien Märkten basierende Weltwirtschaftssystem war in der Lage, immer mehr Reichtum zu schaffen, und das scheinbar ohne Risiko. Doch mit dem exponentiellen Wachstum eines insgesamt unregulierten globalen Finanzsystems, in dem täglich auf globaler Ebene Billionen von Dollars auf der Jagd nach neuen Profitmöglichkeiten waren und immer neue, hypertrophe Finanzprodukte auf den Markt kamen, waren schließlich im Herbst 2008 die 8 systemischen Grenzen erreicht. Führende Investmentbanken kollabierten, wodurch eine Lawine nicht intendierter und insgesamt unvorhergesehener Konsequenzen losgetreten wurde, welche die Regierungen in der ganzen Welt nun versuchen, für ihr eigenes Land unter Kontrolle zu bringen. Das hierbei befolgte Gesamtrezept ist einfach: Erstens, rette die wichtigsten Banken des Landes durch großzügige Zufuhr öffentlicher Mittel. Zweitens, pumpe weitere öffentliche Gelder in das Finanzsystem, um den Kreditstau bei den Banken aufzulösen, die von dem allgemeinen Vertrauensverlust unter Produzenten und Konsumenten erfasst worden sind und diesen Prozess weiter verstärken. Drittens, stelle weitere staatliche Mittel zur Nachfragestimulierung bereit. Wenn alles gut geht, so die damit verbundene kollektive Hoffnung, sollten sich die Finanz- und Wirtschaftssysteme schon bald wieder erholen und eine Rückkehr zum neoliberalen Regime möglich machen. Einige dieser Krisenmaßnahmen sehen tatsächlich ihren keynesianischen Vorläufern sehr ähnlich, doch sind die institutionellen Bedingungen, unter denen sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts zur Wirkung kamen, heute nicht mehr existent. Inwieweit sind gegenwärtige Bedingungen anders, und welche Bedeutung hat dies für Erfolg oder Misserfolg quasikeynesianischen Staatshandelns in der heutigen Zeit? In der keynesianischen Ära waren Banken noch keine börsengetriebenen, profitbesessenen Konzerne in einem riesigen und rasch expandierenden globalen Finanzmarkt. Ihre internationalen Aktivitäten waren vergleichsweise gering und streng reglementiert. Sie hatten nicht das Recht, sich als Investment-Broker zu betätigen. Banken erhielten öffentliche Mittel auf der Grundlage einer staatlichen Geldpolitik, die auf einen hohen Grad von Kontrolle über die Binnenwirtschaft zählen konnte. Unter dem neoliberalen Regime dagegen entstand eine völlig neue Logik: Regierungen, die große Mengen von Geldzuflüssen in den eigen Markt Andreas Pickel sowie hohe Haushaltsdefizite und einen großen Schuldenberg erlaubten, wurden umgehend über ihren Wechselkurs und ausbleibende ausländische Direktinvestitionen bestraft. Je schwächer bzw. unbedeutender die Wirtschaft eines Landes, desto härter die Bestrafung durch globale Akteure, was einer großen Anzahl unterentwickelter Staaten dazu noch verschärfte Kreditbedingungen von Seiten des IWF und der Weltbank eintrug. Die große Ausnahme bilden die Vereinigten Staaten, die an diese Verhaltensregeln aufgrund ihrer Kontrolle der Leitwährung nicht gebunden sind. Unter dem keynesianischen Regime konnte vorausgesetzt werden, dass der Finanzstimulus durch stattliche Ausgaben für Infrastruktur, wirtschaftliche und soziale Subventionen primär heimischen Produzenten zugute kommen würde. In einer globalisierten Weltwirtschaft ist dies nicht mehr der Fall – und das gilt auch für die USA. Angesichts beträchtlicher Unterschiede in den Rahmenbedingungen muss die Annahme, dass die jetzt beschlossenen quasi-keynesianischen Konjunkturprogramme gute Erfolgsaussichten haben, mit Skepsis betrachtet werden. Es ist zwar bekannt, wie keynesianische Politik vor der Globalisierung funktioniert hat, doch wissen wir nicht, ob und wie diese unter neoliberalen Bedingungen wirkt. Neoliberale Kritiker, die bereits vor dem Untergang des Keynesianismus Zweifel an seiner Effektivität geäußert hatten, sollten heute wieder befragt werden, was sie von den kurzfristigen konjunkturellen und längerfristigen systemischen Wirkungen der jetzigen quasi-keynesianischen Staatsinterventionen halten. Es stimmt, dass in ihrem Glauben unerschütterte Neoliberale, wie zum Beispiel die konservative kanadische Minderheitsregierung von Stephen Harper, durch Drohungen einer kurzfristig vereinten Opposition erst zu neuen defizitären Staatsausgaben gezwungen werden mussten. Aber diese Glaubensfestigkeit beruht nicht auf einem alternativen Verständnis der gegenwärtigen Krise, sondern resultiert aus der mangelnden Bereitschaft, sich ihrer Realität und tatsächlichen Tiefe zu stellen. Freilich sollten neoliberale Ideologen und ihre Lehren vom „Übel“ der Staatsausgaben nicht wörtlich genommen werden. In der Kann der Keynesianismus die neoliberale Weltordnung retten? gesamten neoliberalen Periode ergingen sich die Vereinigten Staaten in massiven keynesianischen Ausgabeprogrammen, in deren Licht heutige Ausgaben für Infrastruktur, Soziales und ökonomische Subventionen verblassen. Das Multibillionen Dollar schwere Militärbudget, das von einem tief verwurzelten militaryindustrial-Congressional complex garantiert wird und unter Präsident Barack Obama weiter wächst, muss als das größte Beispiel von ungehemmter keynesianischer Ausgabenpolitik in der modernen Geschichte gelten.1 Als Inhaber der wichtigsten Weltreservewährung sind die USA nie von denselben globalen Finanzmechanismen gehemmt worden, die andere Länder in der neoliberalen Ära diszipliniert bzw. ökonomisch geknebelt haben. In welchem Sinne ist die neoliberale Weltordnung für die gegenwärtige systemische Krise verantwortlich? Dies ist eine Kernfrage, denn von ihrer Beantwortung hängt im Großen und Ganzen ab, mit welchen Mitteln die Krise behandelt werden kann. Aus einer radikalen Perspektive betrachtet, sind kapitalistische Krisen nicht nur nicht überraschend, sondern, da zyklisch, zumindest in groben Zügen sogar vorherzusehen. Die auf Karl Marx zurückgehende theoretische Tradition unterscheidet zwischen zwei Arten von Krisen, der konjunkturellen und der systemischen. Eine konjunkturelle Krise kann zwar ernste Ausmaße annehmen, geht aber ohne grundlegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen vorüber. Kleinere Reform- und Anpassungsprogramme und ein Aussitzen der Krise genügen in der Regel, um das System wieder zu stabilisieren. Systemische Krisen dagegen gehen tiefer, halten länger an und können politische, wirtschaftliche und soziale Katastrophen auslösen. Die imperialistischen Rivalitäten des 19. Jahrhunderts, die in den Ersten Weltkrieg mündeten, sowie die weltweite Depression 1929–1933, welche die weiterhin ungelösten geopolitischen Konflikte im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs verschärfte, müssen als systemische Krisen gelten. Eine Antwort auf die systemische Krise des Kapita- 9 lismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand im Übergang zum keynesianischen Politikregime. Die Frage, ob die Krise dieses Regimes in den 1970er Jahren, die den Aufstieg des neoliberalen Regimes einleitete, lediglich eine länger währende konjunkturelle oder aber eine systemische Krise war, scheint im Nachhinein müßig, denn wurde sie in letzterem Sinne erfolgreich stilisiert und genutzt. Die vielfachen grundlegenden Veränderungen im Laufe dreier neoliberaler Jahrzehnte dagegen deuteten bereits geraume Zeit vor den Ereignissen des Herbstes 2008 auf das Entstehen einer systemischen Krise hin. Der Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus, sich immer deutlicher abzeichnende Umweltkatastrophen, wachsende Ungleichheit und Armut als Resultat der Globalisierung sowie von den Vereinigten Staaten geführte imperialistische Angriffskriege zählen zu den Hauptentwicklungen der letzten zwanzig Jahre, die als Quellen systemischer Instabilität entstanden sind.2 Die größte Bedrohung für die systemische Stabilität der neoliberalen Weltordnung stellt jedoch das globale Finanzsystem dar, das trotz seiner zentralen Rolle innerhalb dieser Ordnung jenseits von institutioneller und politischer Kontrolle existiert. Durch die weitreichenden Auswirkungen des globalen Finanzsystems auf die gesamte globale politische Ökonomie führt seine Implosion zu tiefen Verwerfungen in Nationalstaaten und deren Volkswirtschaften. Aus einer im Status quo verhafteten Perspektive erscheint die gegenwärtige Krise so tief, dass die Mobilisierung staatlichen Kapitals zur Rettung privater Finanz- und Wirtschaftsorganisationen unabdingbar ist. Doch nach der auf dieser Perspektive gründenden optimistischen Sicht ist es nur eine Frage von einem Jahr, höchstens von zwei Jahren, bis die Notstandsprogramme fruchten und eine Rückkehr zum Status quo ante erlauben. Diese hoffnungsvolle Sicht bleibt innerhalb der Eliten vorherrschend, wenn es sich hierbei auch nicht um das Resultat ernsthafter Analyse, sondern um reinen Zweckoptimismus aufgrund des Mangels an alternativen Erklärungsmustern für die Krise des Neoliberalismus handelt. Hier sei die Vorhersage gewagt, dass diese verhalten 10 positive Zukunftshaltung zunehmend einer negativen Sicht der Dinge weichen wird, denn die Krisenerscheinungen werden sich weder als leicht zu bewältigende noch als lediglich vorübergehende Probleme erweisen. Zwischen der radikalen und der Status quo-Position lassen sich eine Reihe von reformistischen Akteuren und Ideen ausmachen, die zwar den einen oder anderen Punkt der radikalen Neoliberalismuskritik teilen, aber überzeugt sind, dass die von ihnen präferierten Teilreformen eine post-neoliberale kapitalistische Ordnung wiederherstellen können. Ihre Zahl wird mit der dringlicher werdenden Suche nach einfachen, schmerzlosen und effektiven Lösungen weiter wachsen, während die meisten Politiker und Meinungsmacher die Zwischenzeit mit Schuldzuweisungen an neoliberale Exzesse zu überbrücken suchen. Ist es möglich, die neoliberale Ordnung als ganze zu retten? Wenn nicht, welche Teile müssen aufgegeben werden? Überraschte und schockierte Eliten in der ganzen Welt versuchen, das angeschlagene neoliberale Weltsystem wieder aufzurichten, denn nur wenige von ihnen hegen ernste Zweifel an seiner Lebensfähigkeit.3 Es handelt sich schließlich um ein System, das ihren Interessen über mehrere Jahrzehnte gedient hat und das von vielen sowieso als „natürliches“ System erlebt wird. Dies erklärt auch die Hoffnung, dass beschränkte Maßnahmen wie die striktere Reglementierung globaler Finanzmärkte, größere Transparenz und Verantwortlichkeit der großen Investmentbanken und Umweltschutzsubventionen die neoliberale Ordnung wieder funktionsfähig machen, sobald die gegenwärtige Rezession vorüber ist. Eine solche Rückkehr zum alten System als ganzem ist jedoch unwahrscheinlich, denn der politische Druck auf Regierungen bedeutet kurzfristige Maßnahmen und Interventionen, die zwar gar nicht auf eine Restrukturierung der neoliberalen Ordnung abzielen, nichtsdestoweniger aber ebensolche grundlegenden Veränderungen bewirken werden. In der Unübersichtlichkeit der gegenwärtigen, von vielen Andreas Pickel Einzelmaßnahmen geprägten Situation lassen sich die Umrisse der entstehenden „neuen“ Ordnung noch nicht ausmachen. Die noch offene Zukunft kann die eines weiter militarisierten und repressiven kapitalistischen Weltsystems4 oder aber auch die eines weniger rücksichtslosen und mehr institutionell gezähmten Kapitalismus sein, wie Joseph Stiglitz und die neoliberalisierten Mitte-Links-Parteien der Welt ihn anstreben. Kurz: improvisierte, das heißt planlose und unkoordinierte Versuche, das bestehende System als ganzes zu retten, werden weitreichende nichtintendierte Folgen zeitigen, die eine post-neoliberale Ordnung der einen oder anderen Art produzieren. Wie auch die Globalisierung selbst, so wird die gegenwärtige Krise des Weltkapitalismus je nach Beschaffenheit der nationalen politischen Ökonomien unterschiedliche Wirkungen auf einzelne Staaten haben. Wenn es also nicht möglich ist, den Status quo zu retten, welche Elemente der neoliberalen Weltordnung müssen dann der Schaffung eines „besseren“ Systems weichen? Ein Hauptkandidat wäre das globale Finanzsystem, das durch grundlegende Reformen5 so zu reformieren wäre, dass Krisen der heutigen Art erst gar nicht entstehen könnten. Andere Elemente für ein reformiertes System, die weiteren Auftrieb erhalten werden, zielen auf eine zunehmend „grüne“ Ökonomie. Von einer radikaleren Position könnte der corporate capitalism insgesamt als der wahre Sündenbock ausgemacht werden6, und je mehr es um grundlegendere und weiterreichende Veränderungsprojekte geht, desto weniger können lediglich Anpassung oder Ersetzung einzelner Elemente der neoliberalen Ordnung genügen. Da die vorliegende Analyse spezifische politische und ideologische Dimensionen der gegenwärtigen Krise ausgeklammert hat, die für den Verlauf des Reformprozesses ausschlaggebend sein werden, bleibt zum Abschluss noch eine theoretische Überlegung zum anstehenden Wandlungsprozess der neoliberalen Ordnung. Ein Politikregime wie das keynesiansische oder das neoliberale besteht nicht nur aus für sie typischer Finanz- und Wirtschaftspolitik, sondern es ist eingebettet in Institutionen wie Kann der Keynesianismus die neoliberale Weltordnung retten? die internationalen Finanzorganisationen, Banken, multinationalen Konzerne usw., die innerhalb und aufgrund des herrschenden Politikregimes zu einflussreichen und mächtigen nicht-staatlichen Akteuren werden. Freilich entwickeln Staaten und Regierungen selbst zu ihrer gesetzgeberischen Rolle auch ihr eigenes Profil sowie organisatorische Spezialisierungen und Routinen im Rahmen eines entstehenden Politikregimes. Dazu gibt es viele weniger einflussreiche Akteure, wie zum Beispiel Gewerkschaften, Verbände, kleinere und ärmere Länder, mittelständische Unternehmen, Wähler, Konsumenten usw., die kleinere Rollen in einem bestimmten Regime spielen. Weiterhin gehören etablierte öffentliche Diskurse und entsprechende Formen öffentlichen Bewusstseins und Lebensweisen zu einem Politikregime. Sie alle bilden gemeinsam die Infrastruktur etablierter, stabiler Politikregime. Sie alle werden in ihrer Existenz bedroht und infrage gestellt, wenn eine tiefe und längere Krise auftritt. Deshalb wird es nicht so sehr um die Frage gehen, welche Elemente der neoliberalen Ordnung aufgegeben werden müssen, um das System zu restabilisieren. Vielmehr ergeben sich Strukturveränderungen als Resultat neuer und unerwarteter kollektiver und individueller Handlungen auf allen gerade benannten Gebieten. Diese Reaktionen auf die Krisenbedingungen eröffnen politische und ideologische Konflikte, die bis dahin unterdrückt oder ignoriert werden konnten, weil das Regime als stabil und unter der festen Kontrolle vereinigter globaler Eliten zu sein schien. Aber selbst die dominanten 11 Welteliten werden bei ihren jetzigen Versuchen, den Status quo wiederherzustellen, systemische Veränderungen auslösen, die sie niemals angestrebt haben. Für die weniger Mächtigen und die Machtlosen der Welt, welche die Begeisterung für den Neoliberalismus nie geteilt haben, wird die gegenwärtige Krise neue Möglichkeiten eröffnen, für eine andere ökonomische und politische Ordnung zu mobilisieren, in der ihre Werte, Ziele und Hoffnungen einen zentralen Platz einnehmen. Alte Machtkonstellationen können aufbrechen und neue politische Konfigurationen zusammenkommen; Prozesse, die im nächsten Jahrzehnt zu erwarten sind. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 Chalmers A. Johnson: The Sorrows of Empire: Militarism, Secrecy, and the End of the Republic. New York: Metropolitan Books 2004. Michael Mann: Incoherent Empire. London: Verso 2003. Eine der kritischeren Stimmen aus der globalen Wirtschaftselite ist George Soros: The New Financial Paradigm for Financial Markets. The Credit Crisis of 2008 and What It Means. New York: Perseus Books 2008. So z.B. Naomi Klein: Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Übersetzt von Michael Bischoff, Hartmut Schickert und Karl Heinz Siber. Frankfurt a.M.: Fischer 2008. Vgl. beispielsweise Ngaire Woods: The Globalizers: The IMF, the World Bank, and Their Borrower. Ithaca, NY: Cornell University Press 2006; Joseph Stiglitz: Making Globalization Work. New York: Norton 2006. David C. Korten: Agenda for a New Economy: From Phantom Wealth to Real Wealth. Williston, VT: Berrett-Koehler Publishers 2009. 12 Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2 Mario Candeias Die letzte Konjunktur: organische Krise und „postneoliberale“ Tendenzen Mittlerweile, mehr als zwanzig Jahre nach Reagan und Thatcher, ist weithin anerkannt, dass die Ära des Fordismus passé ist und sich – je nach theoretischem Ansatz – ein „neues Produktionsregime“ (Dörre), ein finanzmarktgetriebenes Akkumulationsregime bzw. sogar ein Finanzmarktkapitalismus (Aglietta, Chesnais), eine postfordistische Gesellschaftsformation (Hirsch), ein globales Empire (Hardt/Negri) bzw. ein transnationaler Hightech-Kapitalismus (Haug) als neue Produktions- und Lebensweise herausgebildet haben, die jeweils wesentlich durch den Neoliberalismus (Harvey) geprägt sind. Ein Versuch, diese Konstellation umfassend zu begründen, endete aber 2004 bereits mit den Hinweis: „Es mehren sich Zeichen für eine organische Krise des Neoliberalismus [...] Damit deutet sich bereits der ,Postneoliberalismus‘ an.“ (Candeias 2004: 357 ) Und tatsächlich: Seit einiger Zeit mehren sich die Krisenzeichen auf den unterschiedlichsten Feldern, es deutet sich eine in immer kürzeren Perioden stattfindende Häufung und Verdichtung der verschiedenen Krisen an, nicht an den Rändern der inneren und äußeren Peripherien, sondern in den Zentren des neoliberalen Kapitalismus – dies wird gegenwärtig besonders deutlich an den sich überstürzenden Ereignissen im Zuge der Weltwirtschafts- und Finanzkrise (vgl. Candeias 2009b). Es deuten sich „unheilbare Widersprüche“ (Gramsci, Gef. 7: 1557) in der Struktur der Gesellschaft an, die zu Widersprüchen und Blockierungen innerhalb des herrschenden Blocks an der Macht führen. Der Neoliberalismus konnte mitnichten als reine Destruktivkraft (Bourdieu) oder „konservative Restauration“ (Bischoff et al. 1998) begriffen werden. Marx hatte immer die widersprüchliche Verschmelzung von Destruktiv- und Produktivkräften in der kapitalistischen Entwicklung betont. Auch mit dem neoliberalen Management im Übergang zur transnationalen informationstechnologischen Produktionsweise – seiner zentralen, die Gesellschaft vorantreibenden Funktion, die ihm zugleich als hegemoniale Basis diente – entfalteten sich durchaus produktive Kräfte: die Rücknahme extremer (tayloristischer) Arbeitsteilung in der Produktion konnte die Arbeit der Beschäftigten von Monotonie befreien, neue Produktionsformen konnten deren Wissen integrieren, Computerisierung und Automatisierung von schwerer körperlicher Arbeit entlasten. Die Internationalisierung von Kultur- und Warenwelt brach nationale Borniertheiten auf, Entstaatlichung die Bevormundung durch den Staat. So griff der Neoliberalismus beispielsweise Forderungen der Frauenbewegung auf, „befreite“ die Hausfrauen aus patriarchalischen Familienverhältnissen und zwang sie auf den Arbeitsmarkt. Die Früchte dieser Kräfte wurden und werden jedoch ungleicher verteilt als jemals zuvor seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Seine progressiv-vorantreibende gesellschaftliche Funktion im Management des Übergangs zur transnationalen informationstechnologischen Produktionsweise hat der Neoliberalismus bereits verloren. Letztere bietet unter neoliberalen Bedingungen kaum noch ausreichend Expansions- und Entwicklungsmöglichkeiten, um sowohl den Akkumulationsbedürfnissen wie den gesellschaftlichen Bedürfnissen der Bevölkerung nach Verbesserung ihrer Lage Die letzte Konjunktur nachzukommen. Die Potenziale sind da, ihre Realisierung scheint blockiert zu sein. Den aufbrechenden Krisenerscheinungen und ihrer Verschränkung hat der bestehende Block an der Macht keine produktiven Lösungen mehr entgegenzusetzen, die die Interessen der Subalternen und damit den aktiven Konsens zum neoliberalen Projekt wiederherstellen könnten: beginnend mit der weitestreichenden Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren, eng verbunden mit Ernährungs- und Energiekrisen, mit der Vernichtung von Arbeitsplätzen und damit der weiteren Verschärfung einer Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen, die große Teile der Gesellschaft in wachsende Unsicherheiten stößt und zunehmend zu Revolten unter den am stärksten Betroffenen an den äußeren und inneren Peripherien führt. Protest und Widerstand formiert sich auf allen Ebenen, noch fragmentiert und ohne klare Richtung, aber periodisch wachsend. Bereits im Alltag manifestiert sich die ökologische Krise, die in Form von Katastrophen nicht nur das Leben von Millionen Menschen durch Stürme, Überschwemmungen und Dürren bedroht, sondern auch zu einer massiven Kapitalvernichtung führt. Insbesondere an den Peripherien, hier vor allem in Südamerika, haben sich ganze Bevölkerungsmehrheiten und Regierungen vom Neoliberalismus losgesagt und suchen nach neuen Wegen einer autonomen Entwicklung. Der sog. Washington Consensus und seine Institutionen, aber auch Ansätze der Good Governance werden von immer mehr Staaten des globalen Südens offen abgelehnt – wer es sich leisten kann, zahlt vorzeitig seine Schulden zurück und verabschiedet sich von der Einflussnahme des IWF. Damit verbunden sind globale politische und ökonomische Verschiebungen in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, mit den sog. BRIC- [Brasilien, Russland, Indien, China] und Golf-Staaten entwickeln sich neue kapitalistische Zentren. In den alten Zentren wiederum wenden sich wachsende Teile der Bevölkerung von Parteien und Regierungen ab, zum Teil sogar von der formalen Demokratie als solcher, was zu einer anhaltenden Krise der Repräsentation führt, die seit Längerem 13 ungelöst bleibt. International sind die Grenzen der zwangs- und gewaltförmigen Sicherung neoliberaler Globalisierung und die Überlastung der USA als globalem Gewaltmonopolisten, der diese Aufgabe im Interesse des transnationalen Blocks und des eigenen wahrnimmt, längst sichtbar geworden: Die Niederlage im Irak ist nur das deutlichste Beispiel. Auch im Inneren der Staaten erweisen sich Verstärkung von Sicherheitsdiapositiven, Verpolizeilichung und prisonfare (Wacquant) als unzureichend, um die gesellschaftliche Ordnung zu gewährleisten, geschweige denn Zustimmung der Subalternen zu organisieren. Ökonomisch für den Block an der Macht am problematischsten ist vielleicht, dass die Akkumulation auf erweiterter Stufenleiter seit einigen Jahren nicht mehr gewährleistet ist: Eine Studie der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zeigt, dass das Wachstum nach jeder Krise niedriger ausfiel als nach der letzten Krise. Beispielsweise wurde in den USA erst 2006 wieder die ökonomische Wirtschaftskraft erreicht, die vor der Krise der New Economy 2001 erzielt worden war. Die BIZ spricht vom „Mythos ökonomischer Erholung“: „Wenn die Wirtschaftsleistung sinkt, tendiert sie dazu, nach der Erholung weit unter ihrem vorherigen Niveau zu bleiben“ (Cerra/Saxena 2007: 16). Insbesondere in Ländern mit starker Liberalisierung von Kapitalverkehr und Finanzmärkten vollzog sich die wirtschaftliche Erholung langsamer. Nach jeder Finanzkrise müsse mit langen Erholungsphasen gerechnet werden, oft zu lang, um zum alten Niveau zurückzukehren, bevor die nächste Krise hereinbricht. Dieser Mythos bringt es mit sich, dass steigende Renditen nur noch durch fortwährende Umverteilung des Mehrwerts zulasten der Lohnabhängigen, des Staates und der national oder regional beschränkten Kapitale realisierbar sind und immer größere Bereiche der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, der öffentlichen Infrastruktur, der sozialen Dienste austrocknen. Während die Überakkumulation nicht nachhaltig abgebaut werden kann, sich nicht ausreichend neue Investitionsfelder eröffnen, spitzt sich eine Reproduktionskrise des Gesellschaftlichen zu, die auch die Grundlagen 14 kapitalistischer Akkumulation selbst gefährdet (mangelnde Infrastrukturen, mangelnde Qualifikationen, mangelnder Zusammenhalt, mangelnde Profitaussichten etc.). Angesichts dieser Verschränkung tief greifender Krisenprozesse ist von einer strukturellen bzw. organischen Krise auszugehen. Die Reserven des nach wie vor dominierenden Neoliberalismus als organisierender Ideologie im Übergang zur informationstechnologischen transnationalen Produktionsweise sind erschöpft – weder ein neuer Akkumulationsschub noch ein neuer gesellschaftlicher Konsens sind von ihm zu erwarten. Seine Institutionen werden noch lange fortwirken (ähnlich wie nach dem Ende des Fordismus), ihre Position ist nur noch eine „herrschende“, keine „führende“ (Gramsci, Gef. 2: 354). Ähnlich wie in der Krise des Fordismus seit 1968 verdichten sich unterschiedliche Krisenmomente, denen mit einer Intensivierung der alten Regulationsmechanismen begegnet wird, während bereits Neues am Entstehen ist: Der Keynesianismus kam erst im Moment der Krise zu seiner vollen Entfaltung, während von neoliberaler Seite bereits das Ende des „embedded liberalism“ und seiner Institutionen (Regime der festen Wechselkurse, Kapitalverkehrskontrollen etc.) vorbereitet und der alte Klassenkompromiss aufgekündigt wurde. In ähnlicher Weise werden nun die Folgen von mehr als 30 Jahren Liberalisierung und Umverteilung von „unten“ nach „oben“ mit einer Intensivierung dieser Umverteilung durch die Rettung der Banken und die Sozialisierung von Schulden und Risiken bekämpft. Zugleich zeichnet sich noch im Krisenmanagement ein neuer Staatsinterventionismus ab, der bereits das Konfliktfeld um „post-neoliberale“ Regulationsformen eröffnet, denn das Krisenmanagement innerhalb des Neoliberalismus kommt an seine Grenzen. Auch wenn der Block an der Macht Regierungspositionen hält – die kulturelle Hegemonie jenseits eines passiven Konsenses und Konsumismus droht er zu verlieren. Darüber vertiefen sich Widersprüche innerhalb des Machtblocks, die eine Neukonfiguration erwarten lassen und Anknüpfungs- und Interventionsmöglichkeiten für linke Positionen Mario Candeias eröffnen können. Denn die Ablösung des Neoliberalismus wird global durch heftigste gesellschaftliche Kämpfe geprägt sein. Doch es wäre vermessen, auf den Sturz des Neoliberalismus zu vertrauen und zu denken, die Krise würde der Linken in die Hände spielen. Von unterschiedlichster Seite wird an Projekten, Tendenzen, Szenarien zu Wiederherstellung und/oder Entwicklung bürgerlich kapitalistischer Herrschaft gearbeitet. Folgende Tendenzen innerhalb des Neoliberalismus, die zugleich über ihn hinausweisen, entwickeln sich derzeit parallel: – Neuer Staatsinterventionismus: Die Finanzkrise brachte das Ende von Deregulierung und Liberalisierung und gibt der Staatsintervention eine andere Richtung und Bedeutung. Angesichts der drohenden „Kernschmelze“ des Finanzsystems werden neoliberale Glaubenssätze reihenweise über Bord geworfen: Aufblähung der Geldmenge, Verstaatlichung von Banken, Staats- und Zentralbankkredite ohne Sicherheiten, antizyklische Konjunkturprogramme, Aufhebung aller staatlichen Verschuldungsgrenzen einschließlich des ehemals sakrosankten Stabilitätspakts und der Maastricht-Kriterien, schärfere Kontrollen, Begrenzung von Managergehältern und Eingriff in die Bonussysteme, vor allem aber in Investitions- und Kreditpolitik, eventuell Teilverstaatlichung von Industrieunternehmen etc. Für „harte“ Neoliberale ist dies gleichbedeutend mit Sozialismus. Tatsächlich handelt es sich eher um den Versuch des „ideellen Gesamtkapitalisten“, für den Kapitalismus einzuspringen. In den Worten der F.A.Z.: „Der Staat rettet den Kapitalismus“ (5.10.2008: 38f.) – nicht ganz freiwillig, eher gezwungenermaßen, durch den Druck von Märkten, Kapital und die Angst vor Legitimationsverlusten. Dieser Staatsinterventionismus funktioniert zwar nicht mehr im Sinne neoliberaler Dynamisierung der Märkte, aber doch in guter alter Manier eines flexiblen liberalen Keynesianismus, der Marktversagen kompensiert und die Umverteilung und Aneignung von Mehrwert für die Vermögenden (über die Sozialisierung von Schulden und Risiken) zunächst weiter befördert, zugleich aber in die Investitions- und Akkumulationsstrategien Die letzte Konjunktur des Kapitals direkt eingreift, insbesondere über Kapitalbeteiligungen. Der Kampf um die Rolle der Staatsintervention ist voll entbrannt: die Regierenden – besonders in Deutschland – sind unentschieden, ob die aktivere Rolle des Staates nur vorübergehend einzusetzen sei oder dauerhaft; die beteiligten Kräfte drängen in unterschiedliche Richtungen. Zweifelhaft ist, ob etwa die weitgehenden Verstaatlichungen im Banken- und Versicherungssektor der USA überhaupt mittelfristig rückgängig zu machen wären; langfristige Konzepte für staatlich geführte Finanzinstitute existieren dort aber noch nicht. – Relegitimierung des Neoliberalismus oder ein Bretton Woods II: Besonders deutlich zeigen sich Kämpfe um die Zukunft in der Suche um Formen der Re-Regulierung des globalen Finanzsystems: Hier greifen restaurative Kräfte, die den Staat zur Wiederherstellung der alten Ordnung nutzen, seine Finanzen ausplündern wollen, ineinander mit reformerischen Initiativen, die deutlich über den Status quo ante hinausgehen. Darin manifestiert sich zugleich der Versuch der Relegitimierung neoliberaler Weltfinanzmärkte wie ihrer regulativen Einhegung. Als Hauptverursacher der Krise haben die USA, aber auch die G7/G8, ihre Legitimation bei der Schaffung einer neuen globalen Finanzarchitektur eingebüßt. Daher musste der Kreis der Beteiligten erweitert werden: die G20. Auch wenn es diesen nach wie vor an einer demokratischen Legitimation (etwa durch die UNO) fehlt, ist dies gegenüber der kleinen Gruppe der G7/G8 doch ein erheblicher Fortschritt: Immerhin stellen die G20 nicht nur fast 90 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung, sondern vor allem 63 Prozent der Weltbevölkerung und ca. 50 Prozent der Armen dieser Welt. Klar scheint, dass die USA nach diesem Debakel nicht mehr länger allein die Regeln des Spiels dominieren können. Ökonomisch wird sich das Modell hoher Konsumraten, auf Pump finanziert durch massive Kapitalimporte aus aller Welt, nicht restaurieren lassen (ebenso wenig wie das deutsche oder chinesische Modell, die einseitig auf Exportwachstum setzten und die Binnennachfrage vernachlässigten). Der Washington Consensus für freien Kapitalverkehr nach US-Vorbild ist diskreditiert. 15 Die Europäer wiederum sind sich uneinig: Vor allem die Deutschen bleiben immer noch weitgehend den neoliberalen Vorstellungen verhaftet, während die Franzosen für autoritäre Staatseingriffe plädieren. Darüber hinaus werden nun die neuen kapitalistischen Zentren China, Indien, Brasilien und die arabischen ÖlStaaten ein Wort mitreden – sie alle plädieren auf unterschiedliche Art für offene, aber kontrollierte Finanzmärkte. Mit ihrer offiziellen Einbeziehung erkennt der Westen endlich die veränderten ökonomischen und politischen Machtverhältnisse in der Welt an. Der IWF hat es in diesem Prozess nicht geschafft, sich zu relegitimieren und die zentrale Rolle bei der Neuordnung der Finanzmärkte zu übernehmen – die BRIC-Staaten verweigern, gestützt von den kleineren Ländern des Südens, die Gefolgschaft. Auch wenn die Beschlüsse der G20 bislang bescheiden ausfallen und noch unklar ist, wie weit tatsächlich ein Bruch mit dem Neoliberalismus vollzogen wird, stehen die umfassendsten Reregulierungen seit 30 Jahren an. Die Unwägbarkeiten der Weltwirtschaftskrise lassen erwarten, dass der Druck die bisher nur leichten Verschiebungen hin zur Re-Regulierung weiter vorantreiben wird, ebenso wie die Widersprüche zwischen den beteiligten Staaten und Kapitalgruppen. Obama hat sich vorgenommen, dabei die treibende Kraft zu werden – das Ergebnis ist offen. Die transnationalen Kapitalfraktionen fühlen sich herausgefordert und gründen die B20, als Versuch, eine Führungsrolle bei der Lösung der Krise und der Gestaltung der Nachkrisenordnung zu reklamieren. Vergleichbare Kämpfe um die Restauration des Neoliberalismus mit nur kleinen Zugeständnissen und minimalen politischen Veränderungen (dominant etwa in Deutschland) versus weitergehender ReRegulierungsversuche lassen sich auch auf nationaler Ebene beobachten. Gelingt es, den Neoliberalismus mit nur leichten Anpassungen und Regulierungen (auch nur vorübergehend) zu relegitimieren und zu restaurieren und damit eine weitergehende Neukonstruktion der Weltwirtschafts- und -finanzverhältnisse, der Produktion und Konsumption, zu blockieren, so wird sich die Krise weiter verschärfen. – New Public Deal: Über den Finanzsektor 16 hinaus greift das Projekt eines New Public Deal unterschiedliche Krisenprozesse auf. Mit der Erneuerung und dem Ausbau des Öffentlichen, vor allem durch die neuen Investitionsprogramme in öffentliche Infrastrukturen, Bildungs- und Gesundheitssysteme und die Schaffung neuer Jobs in den betreffenden Branchen, versuchen bestimmte Gruppen um Präsident Obama den Absturz der US-Ökonomie aufzufangen und zugleich die (in den USA besonders tiefe) Reproduktions- und Jobkrise anzugehen, als auch neue Konsensangebote an die Subalternen zu unterbreiten. Die Stärkung des Staates, Steuerreformen und leichte Umverteilung nach unten sollen Unmut, gar Revolten im Zaum halten, die Hoffnung auf Wandel befördern und Zustimmung sichern. Darüber hinaus dienen die Maßnahmen der Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen durch Infrastrukturen und Requalifizierung sowie der Profitmöglichkeiten durch privat-öffentliche Partnerschaften (sog. PPPS, bei denen der Staat als Finanzier und Eigentümer fungiert, private Investoren den Bau und Betrieb übernehmen, während der Staat ihre Rendite garantiert). Unklar erscheint, wer die Träger eines solchen Projektes sein mögen. Geht es nur um eine neue Konjunktur des Neoliberalismus mit nur leichten Veränderungen und Zugeständnissen oder um ein Element „postneoliberaler“ Projekte (was mit dem Begriff New Deal ja nahegelegt wird)? Werden die Investitionen angesichts eines fehlenden gesellschaftlichen Drucks von links ausreichen, auch um die Überakkumulation ausreichend zu absorbieren? – Green New Deal: Die allgemeine Umorientierung von Investitionen in Richtung Energieeffizienz und Reduzierung von CO2Emissionen wäre die notwendige technologische und Akkumulationsbasis zur Schaffung von Millionen von Arbeitsplätzen und für einen neuen gesellschaftlichen Konsens, einen bereits lautstark geforderten „grünen New Deal“ als Antwort auf Finanz- und Wirtschaftskrise, Reproduktions-, Job- und ökologische Krise – und zur Relegitimierung der Marktwirtschaft (ausführlich Candeias/Kuhn 2008). Dieses Projekt wurde u.a. von der Green New Deal Group, einem Zusammenschluss von Publizisten, Partei- und NGO-Funktionären, als Mario Candeias Lösung einer „dreifachen Krise“ vorgeschlagen, einer „Kombination aus kreditgetriebener Finanzkrise, dem beschleunigten Klimawandel und steigenden Energiepreisen vor dem Hintergrund von peak-oil“.1 Befördert wurden diese Vorstellungen nicht zuletzt durch den Stern-Report zum Klimawandel 2006, die Analysen des IPCC und transnationaler Forschungsgruppen sowie die populären Aktivitäten des Nobelpreisträgers Al Gore. Verfechter sind neben den europäischen Grünen Parteien (die deutschen Grünen fassten im November einen Parteitagsbeschluss, der einen grünen New Deal zur Überwindung der Finanzkrise forderte; zur Kritik des Konzepts vgl. Candeias 2007) große NGOs wie der WWF oder Friends of the Earth, transnationale Netze von Umweltwissenschaftlern und die UN – und Obama, der die drei Posten des Energieministers, der Umweltministerin und der Vorsitzenden des Umweltrates im Weißen Haus mit ausgewiesenen Bekennern einer ökologischen Wende besetzte. Dahinter stehen auch Kapitalgruppen wie Internet- und IT-Unternehmen (Google, MySpace oder Microsoft, die zu den wichtigen Beratern des neuen Präsidenten in diesen Fragen zählen), Pharma-, Bio- und GentechUnternehmen, die Branche der regenerativen Energien (einschließlich der „grünen“ Ableger der großen Energieversorger und des Maschinenbaus), die großen Versicherungskonzerne, Automobilkonzerne wie Toyota oder Renault, Nanotech- und Chemieunternehmen wie BASF (die neue, leichte und energieeffiziente Werkstoffe entwickeln), selbst Ölkonzerne wie BP (die sich in ‚Beyond Petrol‘ umbenannt haben) sowie Venture-Capital Fonds oder die kleine, aber wachsende Branche der ethischen Investoren (einschließlich großer Pensionsfonds und anderer Fondsgruppen).2 Ein grüner New Deal könnte mehr sein als ein ökologisch konnotiertes, kurzfristiges Programm zur Einhegung der Krise. Er beinhaltet vielmehr einen staatlich initiierten und massiv subventionierten Übergang (Transformation) zu einer „ökologischen“ Produktionsweise, die neue Akkumulationsfelder für das nach Investitionsmöglichkeiten suchende Kapital erschließt: das weitere Zur-Ware-Machen von natürlichen Ressourcen im Bereich von Die letzte Konjunktur Biodiversität oder Gentechnologie; Technologien zur ökologischen Effizienzsteigerung in Produktion und Energieversorgung; neue Investitions- und Absatzmärkte im Zertifikatsbzw. Emissionshandel und im ökologischen Konsum (Bio-Lebensmittel, ökologischer Hausbau, umweltfreundlichere Autos usw.). Der Markt für Investitionen in emissionsarme Energien und grüne Technologien verspricht auf etliche Billionen Dollar anzuwachsen. Naturund Umweltschutz werden zur Ware, was die Möglichkeiten zur Lösung der ökologischen Krise beschränkt.3 Der grüne Kapitalismus ist also nicht die Lösung der ökologischen Krise, sondern vielmehr ihre Bearbeitung im Sinne der Wiederherstellung von erweiterter kapitalistischer Akkumulation und Hegemonie unter Einbeziehung progressiver oppositioneller Gruppen und Interessen der Subalternen. Eine Umwälzung der gesamten Produktionsstruktur, der Praxis und Kultur des Konsumismus, der Ökonomie der Autogesellschaft, der Struktur unserer Städte, unseres gesellschaftlichen Verhältnisses zur Natur, ohne die kapitalistische Produktionsweise als solche anzutasten, reproduziert deren Widersprüche (z.B. die Gefahren einer „grünen“ Finanzblase; Janszen 2008). Probleme: Angesichts der zu bewältigenden Aufgaben, der schnellen Überwindung einer Weltwirtschaftskrise und der noch gewaltigeren Aufgabe für Industriestaaten, bis 2050 die Treibhausemission um 80 Prozent zu reduzieren, also die gesamte Wirtschaft binnen drei Jahrzehnten vom über 150 Jahre alten fossilistischen Zeitalter in eine solare Zukunft zu katapultieren, wird dies außerdem nicht ohne Brüche und Krisen möglich sein. Dieser Zeitfaktor produziert zum Beispiel Entscheidungsprobleme zwischen einer konsequenten Umstellung bei Vernichtung alter Branchen/Kapitale, der Gefahr ökonomischer Krisen oder einer zu langsamen Umstellung bei Verschärfung von Umwelt- und sozioökonomischen Folgekrisen. Darüber hinaus führt die Einschließung der Ökologisierung in die Wertform zur Begrenzung der Lösungsmöglichkeiten der Krise durch Konzentration auf weitere Verwertung, weiteres Wachstum, weiteren Ressourcenverbrauch und zugleich Vernachlässigung der nicht-profitablen Bereiche. 17 – Varieties und Konkurrenz der Postneoliberalismen: Der Washington Consensus war schon vor der Krise delegitimiert, nach der Krise wird er verschwunden sein. Weder können die USA oder Europa weiter allein die Spielregeln bestimmen, noch ist ein transnationaler Konsens erkennbar. Zu deutlich haben sich sowohl südamerikanische Länder wie die BRIC-Staaten (jeder für sich) schon länger auf die Suche nach „postneoliberalen“ Formen der Integration in den Weltmarkt und der ökonomischen und sozialen Politik in den betreffenden Ländern gemacht. In Südamerika haben starke soziale Bewegungen Regierungen gestürzt, Mitte-Links-Regierungen an die Macht gebracht, Ansätze partizipativer Politiken und solidarischer Ökonomien etabliert, indigene Bewegungen einen anderen Umgang mit Repräsentation, Öffentlichkeit und Eigentum erzwungen. Initiativen, die auf unterschiedliche und widersprüchliche Weise von den betreffenden Regierungen aufgenommen wurden: von Venezuelas Öl-Sozialismus des 21. Jahrhunderts über die stark von Indigenen getragenen linken Staatsprojekte in Bolivien und Ecuador, die links-sozialdemokratischen Projekte von Lula und Kirchner etc. Auf sehr verschiedene Weise setzen sie alle – trotz zum Teil verschärfter Exportorientierung – im Inneren auf Verschiebung der Kräfteverhältnisse, mehr Partizipation, progressive Reformen und stärkere Politiken des sozialen Ausgleichs, die die Handlungsfähigkeit subalterner Gruppen partiell erweitern – auch wenn die Probleme von Ungleichheit, Armut und beschränkten Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen fortbestehen. Auch in Indien haben sich starke Bewegungen formiert, der Bauern, der Landlosen, der Dalits, globalisierungskritische Netzwerke. Sie sind jedoch, abgesehen von sehr widersprüchlichen Erfahrungen in den maoistisch kontrollierten Gebieten oder in kommunistisch regierten Bundesstaaten wie Kerala, nicht in Verbindung zu einem linken Staatsprojekt. Dennoch nimmt der Staat in Indiens Hightech-Mixed-Economy eine andere Rolle ein als in den Neoliberalismen der USA oder Europas. Noch deutlicher versuchen Chinas Staatskapitalismus oder die staatlichen Investitionspolitiken der Golfstaaten 18 – sozusagen von oben – kapitalistische Dynamik und staatlich kontrollierte Entwicklung mit selektiver Öffnung in ein anderes Verhältnis zu bringen und damit eigenständig(er) über die Zukunft des Landes zu bestimmen. Auch in Skandinavien haben sich trotz neoliberaler Hegemonie unterschiedliche Ansätze eines anderen Typus von Kapitalismus entwickelt. Dieser hat sich dem Trend zur Liberalisierung nicht verschlossen, ist vielmehr außergewöhnlich erfolgreich auf dem Weltmarkt und hat zugleich zumindest höhere Arbeits- und Sozialstandards aufrechterhalten. Er legt einen stärkeren Fokus auf öffentliche und soziale Infrastrukturen, Bildung und staatliche Intervention als andernorts und garantiert so für große Teile der Bevölkerung einen höheren Lebensstandard. Die skandinavischen Erfahrungen sind mit Blick auf verallgemeinerbare „postneoliberale“ Reformen in den Industriestaaten – auch kritisch – aufzunehmen. International formierte sich schon vor Jahren innerhalb der WTO eine andere G20+, als lockerer Verbund von Ländern des „globalen Südens“, um der Verhandlungsmacht Europas, der USA und Japans etwas entgegenzusetzen, durch Stärkung der Position des globalen Südens zu befördern. Nach dem Scheitern der WTO-Verhandlungen in Cancun/Mexiko 2003 setzten Brasilien, China oder Südafrika verstärkt auf sog. Süd-Süd-Kooperationen. Sie wollen sich nicht abkoppeln, sondern eigenständig über die Bedingungen und Formen der weiteren Integration ihrer Volkswirtschaften in den Weltmarkt mitbestimmen und zugleich die Abhängigkeit von den alten kapitalistischen Zentren reduzieren. Durch Diversifizierung des Außenhandels konnte etwa Brasilien den Anteil des Exports in die USA, in die EU und nach Japan in nur fünf Jahren um 12 Prozent verringern, obwohl der Export auch in diese Länder deutlich zunahm. Dieses Vorgehen strahlt aus auf die kleineren, zum Beispiel afrikanischen Länder, die sich durch Kooperationen mit China oder Brasilien von einseitiger Abhängigkeit gegenüber der EU, den USA oder dem IWF befreien wollen. Als Gegengewicht zu den transnationalen Institutionen wie IWF, Weltbank oder WTO werden darüber hinaus regionale Integrationsprojekte wie der Mercosur oder die ALBA in Mario Candeias Lateinamerika vorangetrieben, Kooperationen zwischen China, Japan und Südkorea oder den Asean-Staaten schrittweise vertieft, regionale Entwicklungsbanken wie die Banco del Sur gegründet. Nicht in jedem Fall funktionieren die transregionalen Institutionen bereits, vor allem in Afrika stehen Integrationsprojekte vor schier unüberwindlichen Hürden. Gelingende Projekte werden jedoch andere nach sich ziehen. Die Krise der Weltwirtschaft und des Neoliberalismus befördern die Abwendung von blinder Liberalisierung, Privatisierung und extremer Exportorientierung sowie die Suche nach alternativen Entwicklungsweisen. Wie allen stark exportorientierten Ökonomien setzt die Krise auch den genannten Ländern massiv zu: Rückgang der globalen Nachfrage, Verfall von Rohstoff- und Ölpreisen, Abziehen von Kapital aus den alten kapitalistischen Zentren etc. Umso mehr wird entscheidend sein, ob es ihnen gelingt, den sozialen Ausgleich mit einer Reorientierung auf die Binnenwirtschaft voranzutreiben, deren produktive Potenziale zu entfalten, sie zu einem selbsttragenden ökonomischen Faktor zu entwickeln und dafür – sofern vorhanden – ihren Ressourcenund Ölreichtum zu nutzen. Dafür bedarf es – insbesondere in China und Venezuela (oder den Golfstaaten) – auch einer Stärkung der Elemente der Selbstorganisation, der Zivilgesellschaft und Demokratie. Die BRIC-Staaten und die Länder der Peripherien müssen dies mit Politiken der Gewährleistung von Ernährungssicherheit, konsequenten Landreformen und ökologischer Umorientierung verbinden. Andernfalls drohen die ohnehin scharfen gesellschaftlichen Spannungen, ob in China, Indien, Südafrika oder Bolivien, zu eskalieren. Zugleich soll die Neuorientierung aus Sicht der Regierenden erfolgen, ohne die weltmarktorientierten Kapitalgruppen und Investoren vor den Kopf zu stoßen – angesichts der Wachstumsaussichten der BRIC-Staaten stehen die Chancen dafür gar nicht schlecht. – Autoritarismus: Die letzte Konjunktur wurde bereits als autoritärer Neoliberalismus bezeichnet: Seit Jahren lässt sich eine Hinwendung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen nach „rechts“ beobachten (Evangelikale in den Die letzte Konjunktur USA oder Rechtsextreme in Europa). Mit der Prekarisierung von Arbeits- und Lebensweisen und der Ausdünnung der Mittelklassen ist die Rückkehr von harten Abgrenzungsund Respektabilitätsgrenzen, autoritären Erziehungs- und Leistungsvorstellungen, mit der Verschärfung von Migrationspolitk und Ausgrenzung verbunden. Mit der Regierungsübernahme durch rechtsextreme Regierungen (Österreich, Frankreich, Italien, USA unter Bush) wird über nationalistische Anrufungen versucht, einen gesellschaftlichen Konsens zwischen oben und unten zu schmieden, der auf Abgrenzung von anderen setzt und zulasten von Minderheiten aller Art geht. Nach außen werden imperiale Politiken, der Kampf gegen den Terror als Kampf der Kulturen betont und mit der Verschärfung von Sicherheitsund Kontrollpolitiken verbunden. Repressive Maßnahmen werden gegen Oppositionelle (Gewalt und strafrechtliche Verfolgung) wie in der Sozialpolitik („fordern statt fördern“) verstärkt eingesetzt: Verpolizeilichung und „Bestrafung der Armen“ (Wacquant) sollen ihre Anpassung gewährleisten und Unruhen unterbinden. Bei Krisen und wachsenden sozialen Spannungen wächst die Neigung, sie durch autoritäre Maßnahmen und einen national-chauvinistischen Konsens einzudämmen bzw. international militärisch einzuhegen. Angesichts der Schwierigkeiten einer Restauration des Neoliberalismus, aber auch von New Public Deal und Green New Deal, vor allem mit Blick auf globale Konkurrenzen und ungeahnte Folgen der Krise, ist nicht auszuschließen, dass autoritäre Tendenzen an Bedeutung gewinnen werden – bei gleichzeitiger Rücknahme der imperialen, kulturkämpferischen oder antiterroristischen Rhetorik. Allerdings wird die imperiale Absicherung der ungehinderten Aneignung von Öl und Ressourcen wesentliches Ziel der alten und neuen kapitalistischen Kernländer bleiben. Die ungleiche Verteilung der unvermeidlichen Folgen von Weltwirtschaftskrise wie Klimakrise auf die gesellschaftlichen Klassen und Gruppen sprechen für eine Betonung von Sicherheitspolitiken von Seiten der Herrschenden: „Niemand hat eine Ahnung“, so Mike Davis (2008), wie „ein Planet voller Slums4 mit wachsenden Er- 19 nährungs- und Energiekrisen [...] sein reines Überleben sichern kann“, noch wie die Menschen in den Slums reagieren werden. Er geht eher von einer „selektiven Anpassung“ aus, die „den Erdenbewohnern der ersten Klasse auch weiterhin einen komfortablen Lebensstil ermöglicht“, in „grünen, streng eingezäunten Oasen des permanenten Überflusses auf einem ansonsten öden und unwirtlichen Planeten“. Für ein eigenes hegemoniales Projekt ist der Autoritarismus sicher nicht ausreichend, da Attraktivität und ökonomisches Potenzial begrenzt bleiben. Schon jetzt belasten die enormen Kosten der Sicherheitsapparate, die imperiale Überdehnung und die voraussichtlichen Kosten von Naturkatastrophen die Haushalte mindestens so stark wie die globale Finanzkrise. Insofern sind die Möglichkeiten eines neuen Militärkeynesianismus für die Entfaltung einer neuen Dynamik begrenzt. Ebenso wie ökodiktatorische Maßnahmen nur als Tendenz innerhalb anderer hegemonialer Projekte oder für begrenzte und umgrenzte Räume vorstellbar sind, können Militärkeynesianismus oder generell Autoritarismen aber komplementär zu anderen Projekten Wirkung entfalten, indem sie diese stützen. Keine wünschenswerte Entwicklungstendenz, aber rechnen muss die Linke mit ihr, um sich frühzeitig dagegen zu positionieren und emanzipative Antworten zu finden. Sozialistische Transformation und revolutionäre Realpolitik Angesichts der Blockierung innerhalb und der Ausfransung an den (globalen) Rändern der Machtblöcke wird sich aus den unterschiedlichen, sich parallel entwickelnden Tendenzen und Projekten voraussichtlich eine Konstellation des Übergangs ergeben, in der sich die Krise über längere Zeit, vielleicht ein Jahrzehnt lang, hinziehen kann, bis sich aus der Konkurrenz der Bearbeitungs- und Lösungsversuche eine hegemoniale Richtung herauskristallisiert, die eine gewisse Bandbreite von differenten Wegen einschließt, jedoch Terrain und Entwicklungsrichtung der varieties weitgehend bestimmt. „Postneoliberalismus“ 20 (vgl. Brand et al. 2009) bezeichnet also keine neue Periode kapitalistischer Entwicklung, sondern vielmehr eine Übergangsperiode, in der vielfältige Suchprozesse stattfinden und in welcher um die zukünftige Gestaltung der Gesellschaft gestritten wird. Sobald sich eine hegemoniale Richtung andeutet, muss ein neuer Begriff gefunden werden. Meiner Ansicht nach scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur ein Projekt hegemoniefähig, das die dafür nötigen Ressourcen, Akkumulationsdynamiken und Konsenspotenziale hervorbringen könnte: ein Green New Deal, eine Periode grünen Kapitalismus’ An seiner Kritik gilt es bereits jetzt zu arbeiten, von links Positionen zu entwickeln, die interventionsfähig sind, und zugleich eine radikale Realpolitik in Richtung auf sozialistische Transformation zu entwickeln. Denn noch sind wir in einer relativ offenen geschichtlichen Situation, in der noch keine hegemoniale Richtung eingeschlagen wurde. Gegenüber verkürzten Vorstellungen von Reformen auf der Ebene der Zirkulation des Geldes warnte bereits Marx: Es sei „unmöglich“, die „Verwicklungen und Widersprüche, die aus der Existenz des Geldes“ hervorgehen, aufzuheben, „solange der Tauschwert die gesellschaftliche Form der Produkte bleibt. Es ist nötig, dies klar einzusehen, um sich keine unmöglichen Aufgaben zu stellen und die Grenzen zu kennen, innerhalb deren Geldreformen und Zirkulationsumwandlungen die Produktionsverhältnisse und die auf ihnen ruhenden gesellschaftlichen Verhältnisse neu gestalten zu können“ (Marx 1983: 80). Es genügt also nicht, länger nur eine wichtige und unverzichtbare Re-Regulierung der Finanzmärkte zu fordern.5 Auch die Ausweitung der Akkumulation in neue Räume, neue Branchen etc. hat in den vergangen 30 Jahren nicht gereicht, um die Überakkumulation nachhaltig abzubauen. Ein marktförmiger und finanzgetriebener „grüner Kapitalismus“ wird mit neuen Spekulationswellen einhergehen, vermutet Susan George. Auch das deutsche Wachstumsmodell immer weiter steigender Exporte bei dahinsiechender Binnennachfrage wird sich ebenso wie das chinesische oder US-amerikanische nicht einfach restaurieren lassen. Hier bedarf es deutlich weitergehender Projekte, mithin Schritten zu Mario Candeias einer sozialistischen Transformation (Beispiele in Candeias/Kuhn 2008), um dem Problem von Überakkumulation und zahlreichen gesellschaftlichen Krisen zu begegnen. Das Vertrauen der Bevölkerung in Märkte und Regierungen ist deutlich angekratzt, der Neoliberalismus ist diskreditiert, seine Dogmen zerbröckeln. Dies eröffnet diskursiven Raum für linke Alternativen im Sinne radikaler Realpolitik, die bisher aber kaum genutzt werden konnten. Die Linke hat in den letzten Jahren von der sozialen Krise profitiert, von der Finanzkrise jedoch nicht. Die globalisierungskritische Bewegung der Bewegungen, die zu Beginn der 1990er Jahre einen neuen Zyklus transnationaler Kämpfe und eine Suche nach Wegen einer anderen Globalisierung anstieß, scheint ihren Zenit überschritten zu haben bzw. befindet sich im Moment der Krise neoliberaler Herrschaft selbst in einer Krise (beispielhaft etwa die Stagnation bzw. Erosion von Aktiven bei Attac). Auch konnten zumindest in Europa bislang in zahlreichen Ländern die alten linkssozialistischen oder kommunistischen Parteien nicht wesentlich von den Schwierigkeiten der Parteien des neoliberalen Blocks an der Macht profitieren: in Frankreich, Italien oder Spanien werden sie mit der Sozialdemokratie in den Abgrund gerissen oder an den Rand gedrängt und zermürbt. Eine Ausnahme bilden vielleicht einige kleinere Länder wie die Niederlande oder Norwegen – und die Bundesrepublik: Auf die Erfolge der Partei Die Linke beziehen sich zahlreiche Hoffnungen der Linken in Europa. Insofern steht das Verständnis eines produktiven Verhältnisses von Partei und Bewegung, von Selbstorganisation, Partizipation und Repräsentation bzw. Zivilgesellschaft und Staat vor ungelösten und neuen Fragen. Doch ein „Weiter so“ mit den alten Forderungen kann es angesichts der Verwobenheit von Krisenprozessen, der drohenden Verschlimmerung der Krise, aber auch der vielfältigen Initiativen zur Bearbeitung der Krise von herrschender Seite, nicht geben.6 Die Forderungen nach mehr Geld oder simpler Verstaatlichung tragen nicht, wenn sie nicht stärker inhaltlich gefüllt werden: zum Beispiel mit einer Forderung nach Bindung der Rettungs- und Konjunkturpakete an ökologische Konversion, Die letzte Konjunktur Ausweitung der Partizipation, Ausbau des Öffentlichen, Verbot von Entlassungen etc. Sie muss den Zusammenhang zwischen den multiplen Krisen deutlich machen, zwischen Finanz- und sozialer Krise, zwischen ökonomischer und ökologischer Krise, zwischen all diesen Krisen und der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Ein Zusammenhang, der vom herrschenden Block immer wieder parzelliert wird, um gesellschaftliche Probleme und Veränderungen zu trennen, die Probleme und sozialen Gruppen zu vereinzeln. Darüber hinaus muss die Linke sich strategisch neu ausrichten auf die veränderte Situation, die weitergehende Entwürfe und Fantasie verlangt und zugleich – aus einer Minderheitenposition heraus – realisierbare Einstiegsprojekte benennt. Andernfalls werden die Forderungen der Linken von den Regierenden überholt. Vor allem muss jenseits der Größenordnungen über inhaltliche Vorstellungen und Perspektiven in der öffentlichen Debatte interveniert werden. – Sozialisierung der Investitionsfunktion: Wer entscheidet eigentlich über den Einsatz der Ressourcen in der Gesellschaft und darüber, welche Arbeiten gesellschaftlich notwendig sind? Der Markt als effizientester Allokationsmechanismus für Investitionen hat sich blamiert. Das neoliberale Kredit- und Finanzsystem sammelt zwar noch die vereinzelten (latent produktiven Geld-)Kapitale ein, es gelingt jedoch nicht mehr, sie in ausreichend produktive Investitionen zu lenken. Stattdessen produziert die Überakkumulation von Kapital Wellen spekulativer Blasen, gefolgt von Kapital- und Arbeitsplatzvernichtung, während immer größere Bereiche gesellschaftlicher Reproduktion (Erziehung und Ausbildung, Umwelt, Hungerbekämpfung, Infrastrukturen und öffentliche Dienstleistungen) liegenbleiben bzw. kaputtgespart werden. Dann muss auch die Investitionsfunktion stärker zur öffentlichen Aufgabe werden. – Um- und Ausbau des Öffentlichen: Privatisierung als effiziente Form der Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen hat sich als untauglich erwiesen. Sie bewirkte die Ausdünnung öffentlicher Beschäftigung, Umwandlung von regulären in prekäre Ar- 21 beitsverhältnisse, Verteuerung notwendiger, ehemals erschwinglicher öffentlicher Dienstleistungen, Einschränkung sozialer Rechte und demokratischer Entscheidungsmöglichkeiten (vgl. Candeias et al. 2009). Um der Reproduktionskrise zu begegnen bedarf es daher des Ausbaus physischer und sozialer Infrastrukturen. Um einen Beitrag der Entprekarisierung von Beschäftigten und Arbeitslosen zu leisten, bedarf es der Ausdehnung öffentlicher Beschäftigung. – Radikale Ökologisierung: Beim ökologischen Umbau der Produktion und Beschäftigungssicherung hat die private Wirtschaft versagt, insbesondere im Verkehrs- und Energiesektor. Daher bedarf es einer radikalen Ökologisierung der Produktions- und Lebensweise, nicht durch Inwertsetzung und damit Privatisierung von natürlichen Ressourcen, sondern durch Erhalt des allgemeinen und öffentlichen Charakters der natürlichen Commons und anderer grundlegender Reproduktionsbedingungen (public goods) sowie den Ausbau kollektiver kostenloser/kostengünstiger öffentlicher Leistungen (Ausbau eines kostenlosen ÖPV statt einfacher Stützung der Autokonzerne). – Solidarische Care Economy: Bildungsmisere und mangelnde Kindergartenplätze, wachsende Armut und ökologische Degradierung wurden weithin beklagt, aber über Jahrzehnte verschlimmert. Die bereits angedeutete Reorientierung auf Ausbau des Öffentlichen mit Blick auf Gesundheit, Erziehung und Bildung, Forschung, soziale Dienste, Pflege, Naturschutz etc. ist zugleich ein Beitrag zur Ökologisierung unserer Produktionsweise (da diese Arbeit mit Menschen und am Erhalt der Natur selbst wenig Umweltzerstörung mit sich bringt) wie zur Bearbeitung der Krisen von Arbeit und Reproduktion, ihrer Dekommodifizierung und zur Zurückdrängung des Marktes, wie auch zur emanzipativen Gestaltung von Geschlechterverhältnissen durch den zentralen Blick auf reproduktive Funktionen. Die damit verbundene Binnenorientierung, die partielle Tendenz zu Deglobalisierung und Regionalisierung der Wirtschaft tragen auch zum Abbau der Exportfixierung sowie von Leistungsbilanzungleichgewichten bei. 22 – Solidarische Sozialversicherung und globale soziale Rechte: Die staatliche Rente im Umlagesystem ist ineffizient und teuer, daher muss auf Kapitaldeckung umgestellt und privat vorgesorgt werden (Riester-Rente), predigten die Neoliberalen – die Verluste der Pensionsfonds in den USA sind allerdings noch höher als zu Zeiten des Enron-Skandals und des Crashs der New Economy. In Deutschland hat ohnehin nur eine Minderheit privat vorgesorgt, und die Euphorie über „Volksaktien“ wie Telekom oder Deutsche Bahn ist längst verflogen. Benötigt wird ein Rettungspaket für eine erneuerte solidarische Sozialversicherung für alle statt privater Eigenvorsorge, und zwar im Sinne einer umfassende Idee eines sozialen Europa und transnationaler sozialer Rechte, nicht nur im nationalen Rahmen. – Demokratisierung des Staates: Der Ausbau des Öffentlichen muss zugleich eine partizipative Veränderung des Staates sein. Weder der wohlmeinende paternalistische und patriarchalisch-fordistische Wohlfahrtsstaat noch der autoritäre Staatssozialismus und schon gar nicht ein neoliberaler Umbau von öffentlichen Diensten auf Wettbewerb und reine betriebswirtschaftliche Effizienz waren besonders emanzipativ. Ein linkes Staatsprojekt muss also die Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten und Transparenz realisieren (hin zur Absorption des Staates in die Zivilgesellschaft). Die Entscheidungen über öffentliche Haushalte und Finanzen müssen stärker demokratisiert werden; partizipative Haushalte sind ein möglicher Ansatz hierfür. Die Repräsentations- und Legitimationskrise des politischen Systems hat viel damit zu tun, dass wesentliche Bedürfnisse der Bevölkerung nicht berücksichtigt werden, die Menschen selbst nicht mitwirken können. Daher geht es um die Neudefinition und Neuverteilung dessen, was wir als gesellschaftlich notwendige Arbeit verstehen – nicht durch immer weitere Ausdehnung warenförmiger Lohnarbeit, sondern durch Ausdehnung kollektiver, öffentlich finanzierter Arbeit, orientiert an der Effizienz zum Beitrag menschlicher Entwicklung, dem Reichtum allseitiger Beziehungen, nicht an der Produktion von Mehrwert. Wofür wollen wir unsere gesellschaftlichen Ressourcen ein- Mario Candeias setzen, was halten wir für eine unverzichtbare Grundlage, die jeder und jedem kostenlos oder preisgünstig zur Verfügung gestellt werden sollte, die gemeinschaftlich genutzt werden müsste etc. – darüber sollte möglichst alltagsnah gemeinsam debattiert und entschieden werden. – Demokratisierung der Wirtschaft: Die Politik sollte sich aus der Wirtschaft weitgehend heraushalten, hieß es jahrelang. Doch die „Leistungen“ von Management und shareholder value-Konzepten in der Unternehmensführung sind angesichts von Kurzfristdenken, Skandalen um Managergehälter, Steuerhinterziehung, Pleiten und Massenentlassungen in Zweifel geraten. Auch die klassische Mitbestimmung konnte dem Druck transnationaler Konkurrenz, finanzdominierter Kontrolle nicht ausreichend begegnen, geriet manchmal selbst in Verwicklungen von Kollaboration und Korruption. Die Umverteilung von Reichtum durch stagnierende Reallöhne und soziale Leistungen in Richtung Unternehmen und Vermögende hat erst die enorme Überakkumulation befördert, die zur Finanzkrise führte. Es ist also Zeit für eine über die klassische Mitbestimmung hinausgehende Demokratisierung der Wirtschaft, für eine echte Partizipation von Beschäftigen, Gewerkschaften, Bevölkerung/Konsumenten und anderen Stakeholdern an Entscheidungen in Betrieben (und zwar entlang der gesamten, transnationalen Produktionskette). Denn Unsicherheit und Kurzfristigkeit, mangelnde Mitsprache blockieren Produktivität, Kreativität und Entwicklung der Einzelnen und damit der Gesellschaft. Die Tiefe der Krise sowie der Kampf um die Form ihrer Bewältigung werden für die nächsten Jahre bestimmend sein. Mithin markiert die Krise erneut einen historischen Bruch in der kapitalistischen Entwicklung. Daher geht es im Sinne radikaler Realpolitik um das Ganze, um die Frage der gemeinsamen Verfügung über die unmittelbaren Lebensbedingungen. Diese Ausrichtung auf das Ganze ist dabei mehr als ein Fernziel; vielmehr ist sie ein notwendiges Element, um die Verengung oder den Rückfall auf korporativistische, also enge Gruppeninteressen, oder auf Einzelreformen, zu vermeiden, was regelmäßig zur Verschärfung Die letzte Konjunktur der Subalternität führt, die immer dann droht, wenn Kämpfe nicht als Hegemonialkonflikte um die gesellschaftliche Anordnung selbst begriffen werden. Dann passiert, wie so oft, die partikulare kompromissförmige Integration in den herrschenden Block. Das lässt sich auch schwer vermeiden. Bedingungen für zumindest partielle Schritte nach links sind jedoch günstig in Momenten wie diesen, wenn der aktive Konsens erodiert ist und Brüche zwischen den Gruppen im herrschenden Machtblock seine Handlungsfähigkeit blockieren oder reduzieren und die Suche nach neuen gesellschaftlichen Koalitionen begonnen hat. Eine Chance und zugleich ein besonders schwieriger und gefährlicher Moment für linke Kräfte. Anmerkungen 1 2 3 Das Schlagwort des „grünen New Deal“ bezeichnete in der BRD allerdings schon vor mehr als 15 Jahren den Versuch, „zu einer ‚nachhaltigen‘ ökonomischen Expansion zu kommen, ohne die kapitalistische Akkumulation [...] als solche aufzuheben“ (Brüggen 2002: 1063). Anfang der 1990er Jahre hofften sowohl die Grünen als auch der sozialökologische Flügel der SPD, mit dem grünen New Deal eine reformpolitische Lösungsstrategie für die auch damals manifeste ökologische Krise zu entwickeln, die außerdem die Grundlage für ein „neues Bündnis zwischen verteilungspolitisch orientierter Arbeiterbewegung und eher lebensweltlichen Interessen von Mittelschichten“ schaffen sollte (ebd.: 1064). Zentral für damalige Entwürfe eines grünen New Deal waren neben ökologischen Investitionsprogrammen und Effizienzsteigerungen wachstumskritisch motivierte Vorschläge einer radikalen Arbeitszeitverkürzung. Heutige Entwürfe verzichten weitgehend auf solche Ansätze und konzentrieren sich auf Strategien der Kapitalisierung ökologischer Ressourcen zur Erschließung neuer Akkumulationsfelder und auf Steigerung der Ressourceneffizienz in der Produktion zur Verringerung der Umweltzerstörung. Die Finanz- und Wirtschaftskrise senkt zwar vorübergehend die Emissionen und den Rohstoff- und Ölverbrauch, blockiert jedoch zugleich die ökologische Modernisierung durch fehlende Kredite, stornierte Börsengänge, Rücknahme von Investitionen gerade in den Bereichen von Umwelttechnologien. So sagte z.B. Toyota ausgerechnet den Bau einer Fabrik für Hybrid-Fahrzeuge in den USA ab, und die Aktienkurse im Bereich der Öko-Energien fielen schneller als der Aktienmarkt insgesamt – vor allem aber durch Verzicht der Regierungen auf verschärfte Umweltgesetze und Rückfall in klassische Industrie- und Wachstumspolitiken. Die „Lösung“ ist auch gar nicht beabsichtigt: Das allgemeine Ziel der G8, den Anstieg der globalen 23 4 5 6 Temperatur auf ein akzeptables Maß von zwei Grad zu beschränken, bedeutet laut „Stern-Report“, allein in Afrika 40 bis 60 Millionen Opfer in Kauf zu nehmen – „Opfer mit minderem ökonomischen Wert“ (Kaufmann 2008: 2). In den nächsten 40 Jahren wird laut Prognosen die Hälfte der Weltbevölkerung in Slums leben; heute sind es bereits mehr als eine Milliarde Menschen. Bei Fragen der Reregulierung ist die globalisierungskritische Linke inhaltlich am weitesten (vgl. Wahl 2009) – von der Beendigung weiterer Liberalisierungsvorhaben etwa im EU-Rahmen, der Verschärfung und Deprivatisierung von Banken- und Finanzkontrollen, der Schließung von Steuerparadiesen und OffshoreZentren oder der Einführung von Börsenumsatzsteuern und Kapitalverkehrskontrollen bis zur Etablierung einer Internationalen Clearing-Union, Konzepten für zukunftsorientierte Konjunktur- und Investitionsprogramme oder einem neuen UN-basierten Bretton-Woods-Abkommen, das Kapital- und Technologietransfers, einen Ausgleich der Leistungsbilanzen, nachhaltige Entwicklung, soziale und politische Mindeststandards global gewährleistet. Noch vor Kurzem diskutierte die Partei Die Linke heftig, ob ein 20 Mrd.-Investitionsprogramm sinnvoll ist oder doch die Haushaltsdisziplin wichtiger, und Attac stritt sich über Reregulierungskonzepte. Nun sind die Neoliberalen, die heute keine mehr sein wollen, vorbeigeprescht, haben quasi links überholt. Rhetorisch wie praktisch kann die Linke gar nicht so schnell etwas entgegensetzen, wie von den Regierenden Altes über den Haufen geworfen wird: restriktive Geld- und Hochzinspolitik – passé; Stabilitätspakt und Maastrichtkriterien – nicht so wichtig; Verstaatlichung von Risiken und Banken – warum nicht?; Bürgschaften höher als die Staatshaushalte – machen wir; Konjunkturprogramme – wie viel darf‘s sein?; ein neues Bretton-Woods – mindestens; europäische Wirtschaftsregierung – wird Zeit; Verstaatlichung von Schlüsselindustrien – war das nicht irgendwie sozialistisch? Die Herrschenden präsentieren sich als Kapitalismuskritiker und beherzte Retter, scharen die von Job- und Vermögensverlust verängstigte Bevölkerung um sich und predigen eine globale soziale Marktwirtschaft – oder eben den grünen New Deal. Literatur Bischoff, Joachim/Deppe, Frank/Kisker, Klaus-Peter (1998): Das Ende des Neoliberalismus? Hamburg Brand, Ulrich et al. (2009): Postneoliberalism – A beginning debate. In: Development Dialogue 51 (1), 1-212 Brüggen, Willi (2002): Grüner New Deal. In: HistorischKritisches Wörterbuch des Marxismus, hg. von W. F. Haug, Bd. 5. Berlin Candeias, Mario (2004): Neoliberalismus. Hochtechnologie. Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Berlin/Hamburg Candeias, Mario (2007): Die Natur beißt zurück. Kapitalismus, ökologische Marktwirtschaft und Krise. In: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Geschäftsbericht. Berlin, 38-45 24 Candeias, Mario (2008): Prekarisierung als Kampf um soziale Rechte und Perspektiven feministisch-sozialistischer Transformation. In: R. Klautke/B. Öhrlein (Hg.): Globale Soziale Rechte. Hamburg, 175-205 Candeias, Mario (2009a): „This party is so over ...“. Krise, neuer Staatsinterventionismus und grüner New Deal. In: Candeias/Rilling (Hg.), 10-37 Candeias, Mario (2009b): Krise des Neoliberalismus – Ankunft des grünen Kapitalismus. Berlin (i. E.) Candeias, Mario/Kuhn, Armin (2008): Grüner New Deal. Ein kapitalistischer Weg aus der Krise? In: Das Argument 50, Nr. 279, 805-812 Candeias, Mario/Rilling, Rainer (Hg.) (2009): Krise. Neues vom Finanzkapitalismus und seinem Staat (Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung 55). Berlin Candeias, Mario/Rilling, Rainer/Weise, Katharina (Hg.) (2009): Krise der Privatisierung – Rückkehr des Öffentlichen. Berlin (i.E.) Cerra, Valerie/Saxena, Sweta Charman (2007): Growth Mario Candeias dynamics: the myth of economic recovery. BIZ Working Papers, No. 226. Basel Davis, Mike (2008): Wer wird die Arche bauen? Das Gebot zur Utopie im Zeitalter der Katastrophen. In: Telepolis, 11.12.; www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29329/1.html Gramsci, Antonio (1991ff.): Gefängsnishefte, hg. v. Wolfgang Fritz Haug, Klaus Bochmann u. Peter Jehle. Hamburg/Berlin Janszen, Eric (2008): Die Bubble-Ökonomie. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 53 (5), 49-62 Kaufmann, Stephan (2008): Jenseits aller Naturromantik. Die G8 und die Ökonomie des Klimaschutzes. In: analyse & kritik 38, Nr. 530; www.linksnet.de/de/ artikel/23444 Marx, Karl (1983): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: MEW 42. Berlin Wahl, Peter (2009): Radikaler Realismus. Positionierung emanzipatorischer Politik in der kommenden Reformperiode. In: Candeias/Rilling (Hg.), 130-142 Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2 25 Ulrich Busch Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus 1. Krisenwahrnehmung und -interpretation Während Politik und Medien keine Scheu davor haben, die Turbulenzen an den Finanzmärkten und den aktuellen Konjunkturabschwung superlativisch als „Jahrhundertereignis“ (Alan Greenspan), „Mega-Krise“ (Börsen-Zeitung) und „größtes Desaster seit 1929/33“ (Handelsblatt) zu hypertrophieren, ist von Seiten der Wissenschaft hierzu bisher wenig Verbindliches zu hören. Diese Zurückhaltung ist in bestimmtem Maße der Tatsache geschuldet, dass die Krise noch andauert, ihren Tiefpunkt noch nicht erreicht hat. Die wissenschaftliche Aufarbeitung hat also gerade erst begonnen. Die Vorsicht der Wissenschaftler spricht aber auch für eine gewisse Unsicherheit der professionellen Beobachter, was die Beurteilung und Wertung der Krisenphänomene und des Krisenverlaufs anbetrifft. Allzu viel ist diesmal anders als bei früheren Finanz- und Wirtschaftskrisen. Dies betrifft vor allem die globale Dimension der Krise, das gigantische Ausmaß der Kapitalentwertung, die Verquickung monetärer und realwirtschaftlicher Prozesse, den Vertrauensschwund und kaum wiedergutzumachenden Legitimationsverlust, wovon nicht nur einzelne Investmentfonds, Finanzakteure, Banken und Finanzplätze betroffen sind, sondern zunehmend das finanzkapitalistische System als Ganzes, die marktwirtschaftliche Ordnung und die neoliberalen Ideologie. Ungewöhnlich ist diesmal auch die Krisenintervention, indem Staat und Notenbank direkt und massiv in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen und dadurch die ordnungspoli- tischen Grundlagen infrage stellen. Roland Tichy, Chefredakteur der Wirtschaftswoche, bringt das Entsetzten darüber zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Was haben wir doch alle Angst gehabt vor Linken, vor Sozialismus und Sozialisierung. Und jetzt? Nicht die Linke siegt, sondern Wirtschaft und Manager kapitulieren. Ausgerechnet zum 60. Jahrestag der Bundesrepublik steht die soziale Marktwirtschaft, Deutschlands wirtschaftliches und ordnungspolitisches Kerninventar, vor dem Ausverkauf …“ (Tichy 2009: 5). Dies lässt ahnen, warum sich der wirtschaftswissenschaftliche Mainstream so schwer tut, klare Aussagen über die Krise, deren Verlauf und ihre Folgen zu treffen. Die gewohnten Erklärungsmuster und Interpretationsschemata greifen nicht. Eine Krise dieses Ausmaßes kommt in den Lehrbüchern der Orthodoxie nicht vor. Ja, streng genommen hätte es sie nach den Regeln der neoklassischen und neomonetaristischen Theorie gar nicht geben dürfen. Also spielt man sie herunter, sieht in ihr lediglich eine unglückliche „Mischung von Staats- und Marktversagen“, das Ergebnis „schlecht organisierter Deregulierungsprozesse im Bankensektor“ und den Preis für „Habgier und überbordende Spekulation“ (Hüther 2009: 128). Diese Auslegung unterscheidet sich kaum von einer rein psychologischen Interpretation, welche die Krise als „Resultat der Habsucht“ auslegt, erzeugt von geldgierigen Bankern und Spekulanten, die „nicht genug“ bekommen konnten (Dahlke 2009: 26). Auch für Attac und viele Linke ist die Krise eine „direkte Folge der Gier und der 26 Skrupellosigkeit der Banker und Fondsmanager“ sowie der „Tatenlosigkeit der Politik“ (Attac 2008). Mehr nicht! Eine derartige Argumentation erlaubt es, die Krise, statt sie ökonomisch und systemisch zu begründen, politisch und moralisch zu werten, sie als Ausdruck des „kulturellen Werteverfalls“ oder als „Kulturkrise“ (Richter 2009) zu deuten. Dadurch wird ihr Charakter als „Systemkrise“ der deregulierten Marktwirtschaft und des Finanzkapitalismus unterschätzt. Typisch für die politische und mediale Deutung der Krise ist auch, dass sie zunächst nur als Krise am US-Immobilienmarkt und im Hypothekenbankensektor wahrgenommen wurde. Damit wurde der Eindruck erweckt, es handele sich nur um eine Krise der USA. Dass ähnliche Probleme auch in anderen Ländern auftraten, insbesondere in Großbritannien, Irland und Spanien, blieb ausgeblendet. Ebenso die weltweite Vernetzung der Finanzierungsstrukturen, welche zwangsläufig die Ausbreitung der Krise auf andere Länder nach sich zog. Seit dem Frühjahr 2008, als die Krise bereits bedrohliche Ausmaße angenommen hatte, ist in den Medien von einer weltweiten Finanzmarktkrise die Rede, mitunter auch von einer Banken- und Finanzkrise. Obwohl viele Volkswirtschaften, darunter auch Deutschland, zu diesem Zeitpunkt bereits in einer Rezession steckten, wurden die Begriffe Wirtschaftskrise und Weltwirtschaftskrise noch eine Zeit lang tunlichst vermieden. Ganz so, als ob die Finanzsphäre außerhalb der Wirtschaft und unabhängig von der realen Ökonomie existierte und eine Finanzkrise für die Realökonomie ohne Bedeutung sei. Erst nach der Lehman-Pleite (15.09.2008), als das Bankensystem der USA zusammenbrach und das Weltfinanzsystem zu kollabieren drohte, ging man dazu über, von einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise zu sprechen. In Bezug auf Deutschland blieb es jedoch bei einer Konjunkturschwäche. Erst nachdem die Statistik keinen Zweifel mehr daran ließ, dass sich auch die deutsche Wirtschaft in einer Rezession befindet, wurde dies auch sprachlich eingeräumt. Dass die Krise länger dauern und möglicherweise in eine Depression münden könnte, wird aber auch jetzt noch nur von wenigen realisiert. Entsprechend dürftig fiel Ulrich Busch das erste Konjunkturpaket der Regierung vom 05.11.2008 aus.1 Bereits am 13.01.2009 musste nachgelegt werden. Ein zweites, wesentlich umfangreicheres Konjunkturpaket wurde zur Dämpfung der Rezession beschlossen. Dieses umfasst 50 Mrd. €, darunter 16,9 Mrd. € für öffentliche Investitionen, ferner Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung, Beitragszuschüsse zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung, die „Abwrackprämie“, einen Kinderbonus und die Neuregelung der Kfz-Steuer. Gemessen an den Herausforderungen der Krise, erweist sich aber auch dieses Paket als entschieden zu klein. Zudem kommt es zu spät, da es größtenteils erst im zweiten Halbjahr 2009 zu wirken beginnt. In Medienberichten wird häufig unterstellt, die Krise sei allein der Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft und ihrer Einbindung in den Euro-Raum geschuldet. Wäre die deutsche Wirtschaft weniger vom Ausland abhängig, so würde sie nicht so stark von der Krise betroffen sein. Dieser Argumentation, wonach die Krise quasi importiert wurde oder durch „Ansteckung“ über den Export- und Finanzkanal nach Deutschland gelangt sei, die deutsche Wirtschaft selbst aber kerngesund gewesen wäre und keinerlei Veranlassung für eine Krise geliefert hätte, kommt nicht von ungefähr. Sie findet sich auch in wissenschaftlichen Stellungnahmen. So sehen zum Beispiel der Sachverständigenrat und dessen Vorsitzender Wolfgang Franz in den „Verwerfungen an den globalen Finanz- und Immobilienmärkten“ die entscheidende Ursache für die Wirtschaftskrise. Die dadurch ausgelöste Vermögenspreisdeflation sowie der Anstieg der Energiepreise seien „externe Schocks“ für die Weltwirtschaft, in deren Gefolge es „zu einer abrupten und allgemeinen Wirtschaftsschwäche“ gekommen sei. Deutschland sei „über außenwirtschaftliche Kanäle“ davon betroffen (Franz 2008: 792). Da „externe Nachfrage- und Angebotsschocks“ als die eigentliche Ursache für die Krise angesehen werden, diese jedoch von den Finanzmärkten ausgegangen sind, gilt die Krise als im Wesentlichen finanzmarktinduziert (vgl. SVR 2008). Im Gegensatz hierzu betonen Forscher des ifo-Instituts München, dass die Bankenund Finanzkrise als Begründung für den dramatischen Abwärtstrend der Wirtschaft Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus nicht ausreiche: „Aus zyklischer Sicht war ein Abschwung nach einem fast fünf Jahre währenden weltweiten Boom zu erwarten.“ Konjunkturtheoretisch erkläre sich dieser als „Folge einer Überhitzung“ (Büttner/Carstensen 2008: 787). Die Krise am US-Immobilienmarkt war hierfür nur der zufällige Auslöser. Letztlich sei diese selbst nur „Symptom einer strukturellen Fehlentwicklung“, sowohl im privaten Bereich, wo der Konsum schuldenfinanziert und auf Kosten der Ersparnisbildung über Gebühr ausgeweitet worden war, als auch staatlich, wofür das Doppeldefizit, das Budget- und das Leistungsbilanzdefizit der USA, stehe. Damit werden fundamentale wirtschaftliche Fehlentwicklungen und globale Ungleichgewichte als krisenverursachend angesprochen, wobei die Export- und Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands, Japans und Chinas lediglich das spiegelbildliche Pendant des Importüberschusses der USA sind und damit ebenso eine Fehlentwicklung wie dieser. Die Finanzkrise erscheint in dieser Analyse weniger als Ursache denn als Folge realwirtschaftlicher Prozesse, was die Erklärung vielschichtiger macht und Wechselwirkungen zwischen monetären und realökonomischen Faktoren impliziert. Andere Erklärungsansätze thematisieren vor allem die psychologische Seite der Krise. So machen IWH-Ökonomen darauf aufmerksam, dass die gegenwärtige Krise eine „starke Stimmungskomponente“ aufweise. Zunächst sei amerikanisches „Vertrauenskapital“ vernichtet worden. Mit der Insolvenz von Lehman Brothers schlug die psychologische Krise aber international und „real durch“. In der Folge werde „permanentes und globales Misstrauen“ gesät, wodurch „die vom Finanzsektor ausgehende Vertrauenskrise auf die reale Ökonomie über[schwappe]“ (Blum/Ludwig 2008: 784). Damit wird der einseitigen Kausalerklärung noch eine außerökonomische Begründung hinzugegeben. Phänomenologisch mag dies angehen, aber genügt es als wirtschaftstheoretische Erklärung? War die Lehman-Pleite nicht deshalb von so verhängnisvoller Wirkung für Deutschland und Europa, weil Lehman Brothers diejenige Bank war, worauf sich der größte Teil des Europa-Geschäfts der USA konzentrierte? Mit der Insolvenz gerade dieser 27 Bank wurde daher nicht nur „globales Misstrauen“ gesät, sondern es wurden auch Verluste weitergegeben, echte Kosten exportiert. Was hier stattfand, war eine Kapitalvernichtung in großem Stil. Dabei gingen Milliarden USDollar und Euro verloren, keineswegs nur „Vertrauenskapital“. Es ist auch fraglich, ob die Rezession in Deutschland tatsächlich „ein Import der Konjunkturschwäche im Ausland“, also „nicht hausgemacht“ ist, wie Blum und Ludwig schreiben (2008: 786). Analysiert man den Konjunkturzyklus der deutschen Volkswirtschaft und stellt dabei in Rechnung, dass der Exportüberschuss Deutschlands ein Teil des globalen Ungleichgewichts ist, welches weltwirtschaftlich krisenverursachend wirkt, so kommt man zu einem etwas anderen Ergebnis.2 Hinter der auffällig hinter den Ereignissen zurückbleibenden Begrifflichkeit der meisten Krisenkommentare verbirgt sich ein Wahrnehmungsproblem. Dieses hat seine Ursache im Scheitern des neoliberalen Marktfundamentalismus, aber auch in Erklärungsdefiziten der neoklassischen Ökonomie, welche die wirtschaftliche Entwicklung als realen Wachstumsprozess auffasst, der sich wellenartig, getragen von exogenen Schocks, um einen Trend schwankend vollzieht. In diesem Modell findet weder die endogene Zyklizität der Wirtschaftsentwicklung noch die funktionale Einheit realökonomischer und monetärer Prozesse hinreichend Berücksichtigung. Es muss daher als Erklärungsansatz für die gegenwärtige Krise versagen, ähnlich wie 1929/33, angesichts der Weltwirtschaftskrise, die klassische Theorie versagt hat. Andere Ansätze, marxistische, keynesianische, schumpeterianische, besitzen hier möglicherweise eine größere analytische Schärfe und Reichweite und erweisen sich damit als geeigneter für die Formulierung wirksamer Konjunkturprogramme. So verstehen die Forscher des IMK (Horn et al. 2008) die Krise vor allem als Ausdruck einer Nachfrageschwäche und Folge einer die Bezieher von Masseneinkommen jahrelang benachteiligenden Verteilungspolitik. Ähnlich wird von marxistischer Seite argumentiert, indem die gegenwärtige Krise in ihrem Kern als „Unterkonsumtions- 28 krise“ gedeutet wird (Sohn 2009: 51). Damit erscheint sie durchaus als „hausgemacht“ und mittels geeigneter Konjunkturprogramme überwindbar. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass sich die momentane Krise in zentralen Punkten von früheren Krisen unterscheidet. Waren die Krisen in der Vergangenheit überwiegend auf Angebotsschocks zurückzuführen, so resultiert die jetzige Krise aus einer gegenüber der Produktion zurückgebliebenen Nachfrage sowie einem „Abheben“ der Finanzsphäre. Das sieht die Mehrheit der Ökonomen inzwischen ähnlich und plädiert deshalb für nachfrageerhöhende Maßnahmen, insbesondere für eine expansive Fiskalpolitik mit der Konsequenz explodierender Staatsverschuldung. Was wie ein Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik aussieht, ist einem Wechsel der volkswirtschaftlichen Herausforderungen geschuldet, der zu veränderten wirtschaftspolitischen Empfehlungen führt (vgl. Bräuninger 2009: 2f.). Eine gleichfalls auf eine expansive Geldund Fiskalpolitik abzielende Position vertritt die AG Alternative Wirtschaftspolitik. Im jüngsten Memorandum wird davor gewarnt, dass „ohne außergewöhnlich umfangreiche und intensive wirtschaftspolitische Gegensteuerung“ die reale Gefahr bestehe, dass sich die Krise „zu einer lang anhaltenden und tiefen Depression ausweitet“ (2009: 15). Dem hält Klaus F. Zimmermann (DIW) entgegen, dass ein Wirtschaftsabschwung „noch nie“ durch antizyklische Maßnahmen gestoppt worden sei. Konjunkturprogramme hätten „nur symbolischen Charakter“: Sie seien entweder „unnötig“, wirkten „zu spät“ oder seien „im Falle der konjunkturpolitischen Kernschmelze nicht umfangreich genug“ (Zimmermann 2008: 803). Gleichwohl hält er angesichts der Nachfrageschwäche auf den Märkten „keynesianische Maßnahmen [für] vertretbar“ (802). Zwischen Finanz- und Wirtschaftskrise sieht Zimmermann jedoch keinen Zusammenhang: Erstere beruhe auf einem dreifachen Staatsversagen in den USA (Niedrigzinspolitik der Notenbank, fehlende Regulierung der Finanzmärkte und Verzicht auf die Rettung von Lehman Brothers) und sollte durch „strukturelle Reformen“ be- Ulrich Busch kämpft werden. Letztere dagegen sei vor allem konjunkturell bedingt. Diese Position teilen auch andere Forscher, indem sie betonen, dass der konjunkturelle Abschwung im Euroraum bereits 2007 eingesetzt habe, also noch bevor die Auswirkungen der Finanzmarktkrise überhaupt sichtbar geworden sind (vgl. Scheide 2008: 798). 2. Finanzmarktkapitalismus und Krise Die Besonderheit der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise erschließt sich am besten, wenn man die gegenwärtige Wirtschaftsordnung als Finanzmarktkapitalismus begreift. Geld war für die bürgerliche Gesellschaft bekanntlich von jeher von essentieller Bedeutung. Als „letztes Produkt der Warenzirkulation“, schrieb Karl Marx, ist es zugleich die „erste Erscheinungsform des Kapitals“ (Marx 1968: 161). In ihm manifestiert sich mithin, so Max Weber, der „Geist des Kapitalismus“ (Weber 1988). Dies zeigte sich zuerst im Handelskapitalismus des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, als man im Geld den Reichtum an sich erblickte und die auf dem Kapital beruhende Wirtschaft uneingeschränkt als Geldwirtschaft galt (vgl. Sombart 1916; Kuczynski 1960–1972, Bd. 26: 5ff.). Im 19. Jahrhundert, mit dem Aufkommen der Industrie, prägte sich der monetäre Charakter der Wirtschaft weiter aus. An die Stelle von Münz- und Papiergeld traten jetzt aber Kredit und Kreditgeld: Die Kreditwirtschaft entwickelte sich zur adäquaten Geldform des Industriekapitalismus. Institutionell dokumentierte sich dies im Niedergang des traditionellen Kaufmanns- und Wucherkapitals und im Aufstieg der Banken (vgl. Marx 1970: 451ff.; Bagehot 1920). Dabei zeichneten sich bereits frühzeitig länderspezifische Unterschiede ab. So waren für Deutschland Kartelle und Korporationen typisch sowie Universalbanken, die sich am stakeholder-Prinzip nachhaltiger Gewinnerzielung und Kapitalvermehrung orientierten. Im Unterschied dazu entwickelten sich die USA zum „Land der Trusts und der anarchischen Konkurrenz“ (Windolf (Hg.) 2005: 13), wo sich die Unternehmen vor allem am Kapitalmarkt über Aktien und Anleihen Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus finanzieren und das shareholde-value-Prinzip vorherrscht. Beide Finanzierungsmodelle, das deutsche bzw. kontinentaleuropäische bankbasierte und das angloamerikanische kapitalmarktorientierte, bildeten eigene Strukturen, Institutionen und Instrumente heraus, die vom Grundsatz her bis heute gelten. Anfangs besaß das bankbasierte System die größere Strahlkraft und wurde daher, ausgehend von Deutschland, in Nord-, Mittel und Osteuropa kopiert. Seit den 1980er Jahren gilt jedoch das marktorientierte System als das für die Kapitalverwertung effizientere. Die Entwicklung tendierte deshalb zuletzt stärker in diese Richtung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte eine weitere bedeutsame Veränderung: Im Ergebnis der Großen Depression (1875–1893) und unterstützt durch die elektrotechnische Revolution der Produktivkräfte sowie die damit einhergehende Konzentration und Zentralisation des Kapitals, wandelte sich der Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus. Damit trat der Industriekapitalismus in ein neues Stadium ein, in dem Kartelle, Syndikate und Konzerne den Wirtschaftsprozess dominierten. Im Zusammenhang damit vollzog sich die wirtschaftliche und machtpolitische Verschmelzung des Industrie- und Bankkapitals zum Finanzkapital. Rudolf Hilferding hat diesen Prozess 1910 eingehend beschrieben3; Lenin führte die Analyse 1916 fort und konstatierte schließlich ein „Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals“, woraus er „die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie“ ableitet. Ferner „die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle ‚Macht‘ besitzen“ – als charakteristisches Merkmal des „Imperialismus“ (Lenin 1981: 242). Mit der Herausbildung des Finanzkapitals4 und dessen Omnipotenz in Wirtschaft und Gesellschaft mutierte der Industriekapitalismus zum „Finanzmonopolkapitalismus“ (Klein 2008: 103). Ausgehend von den genannten institutionellen Unterschieden, führte dieser Wandel zur Etablierung zweier Varianten finanzkapitalistischer Regulation: Einmal beteiligen sich die Geldkapitalbesitzer durch den Kauf von Aktien direkt am industriellen Kapital. Die Rolle der Banken ist hier auf die 29 Vergabe von Zirkulationskrediten und die Organisation der Geldzirkulation beschränkt. Dies ist für Großbritannien und die USA typisch. Im zweiten Fall verfügen die Banken über das Geld der Anleger (Sparer) und verwandeln dieses indirekt, als zinstragendes Geldkapital, in industrielles Kapital. In der Folge verschmelzen Bank- und Industriekapital miteinander, und es bildet sich eine von den Banken dominierte Wirtschafts- und Machtstruktur heraus. Praktisch bedeutete dies die Kontrolle der Wirtschaft durch Großbanken, zugleich aber auch deren geld- und kreditgesteuerte Regulierung und Tendenz zur „Umwandlung der anarchisch-kapitalistischen in eine organisiert-kapitalistische Wirtschaftsordnung“ (Hilferding 1915: 322), wie dies seit dem Ersten Weltkrieg in Deutschland zu beobachten war. Der damit beschrittene Entwicklungspfad bildete zugleich aber auch einen Baustein für die Formierung des Rheinischen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Retrospektiv betrachtet, hat sich das kreditund bankbasierte Modell des Finanzkapitalismus für den forcierten, politisch gesteuerten und kontrollierten Aufholprozess Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg als außerordentlich effizient erwiesen. Mit der Öffnung der Märkte jedoch, der Liberalisierung des Güter-, Personen- und Kapitalverkehrs, der Einführung frei konvertierbarer Währungen und flexibler Wechselkurse, kam es zunehmend zu „Reibungsverlusten“. Zunächst international, dann auch national. Als Reaktion hierauf wurden wirtschaftspolitische Veränderungen vorgenommen, die, so kompliziert und vielgestaltig sie im Einzelnen auch waren, im Wesentlichen eine Aufwertung marktlicher Koordinierungsmechanismen beinhalteten. Immer mehr Bereiche der Gesellschaft wurden „marktförmigen Steuerungsmechanismen und Finanzkalkülen“ (Dörre/Brinkmann 2005: 86) überantwortet. Damit einher ging die Umgestaltung der Produktionsweise von der fordistischen Massenproduktion zur flexiblen Fertigung diversifizierter Qualitätsprodukte (vgl. Abelshauser 2004: 432ff.). Dieser übergreifende wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbruch vollzieht sich seit mehr als drei Jahrzehnten. Ausgelöst wurde er durch die 30 Weltwährungs- und Wirtschaftskrise während der 1970er Jahre. Die Politik in den folgenden Jahrzehnten trug in unterschiedlichem Maße dazu bei, die Volkswirtschaft der Bundesrepublik entsprechend umzugestalten, das heißt, das „deutsche Modell“ des Kapitalismus in eine stärker kapitalmarktbestimmte Form des Finanzkapitalismus zu überführen. Gegenüber dem traditionellen Finanzkapitalismus, wie er sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Zusammenschluss von Bank- und Industriekapital herausgebildet hatte, aber auch gegenüber dem bank- und kreditbasierten, korporatistischen und staatlich regulierten Kapitalismus der fordistischen Ära der 1950er bis 1970er Jahre verkörpert der heutige Finanzkapitalismus durchaus etwas Neues. Sein Auftreten markiert „eine weitere Stufe in der Evolution kapitalistischer Produktionsregime“ (Windolf 2005: 52). Ausschlaggebend dafür ist eine veränderte institutionelle Konfiguration: Die ökonomischen Beziehungen werden nicht mehr durch den Kredit als einen Vertrag zwischen Bank und Unternehmen dominiert, sondern durch die Aktie und damit durch die Funktionsweise des Kapitalmarktes (Börse). Zentrale Akteure in diesem System sind mithin nicht mehr Kreditbanken, sondern Aktionäre, insbesondere institutionelle Anleger wie Investmentgesellschaften, Pensionsfonds und Versicherungen. Zentrales Kontrollinstrument sind die Eigentumsrechte der Aktionäre, welche sich bei ihren Entscheidungen von kurzfristigen Renditeerwartungen und den Vorgaben internationaler Rating-Agenturen leiten lassen. Sie folgen damit dem shareholder-value-Prinzip. Zugleich trägt diese Entwicklung ausgesprochen globale Züge und ist folglich mit einer Entnationalisierung des Kapitals sowie der Kapitalver- und -entwertung verbunden. Dies impliziert, dass die Machtpositionen der Kreditbanken, der Finanzaufsicht und des Fiskus gegenüber früher geschwächt sind. Die starken Positionen haben nunmehr die Akteure an den internationalen Finanzmärkten inne, insbesondere große und international operierende Kapitalgesellschaften, also Nichtbanken. Dies wird auch quantitativ sichtbar, indem die Finanzvolumina, die von diesen Akteuren Ulrich Busch bewegt und kontrolliert werden, den Umfang des Budgets, ja, sogar des Nationaleinkommens mancher Staaten übersteigen. Mit dem Übergang zu flexiblen Wechselkursen, der Internationalisierung der Märkte, dem Handel auf Offshore-Märkten, der Emission immer neuer Finanzprodukte (Derivate) und der Verbriefung von Krediten erfolgte eine Transformation des Finanzmechanismus, wodurch der Finanzpolitik der Staaten zunehmend der Boden entzogen wurde. Die Rolle des Staates schien im Schwinden begriffen zu sein. Mit dem Eintritt der Krise änderte sich dies jedoch wiederum: Die wirtschaftliche Macht des Staates ist heute größer denn je. Inwieweit dies von nachhaltiger Wirkung sein wird und den Finanzkapitalismus substanziell verändert, bleibt jedoch abzuwarten. Die seit den 1990er Jahren eingetretenen Veränderungen jedenfalls waren mehr als ein bloßer Modellwechsel. Sie wurden bestimmend für das Produktions- und Akkumulationsregime, für die Art und Weise der Regulierung der gesamtwirtschaftlichen Reproduktion, für das Verhältnis von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Mit ihnen ging eine Machtverschiebung einher, sowohl innerhalb einzelner Staaten und Staatengruppen als auch zwischen diesen, zwischen Institutionen, Branchen, Interessengruppen, Klassen und Schichten. Die Stichworte hierfür lauten Globalisierung, nicht nur des Handels, sondern auch der Produktion, Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, Kommerzialisierung und Monetarisierung – so ziemlich aller Bereiche der Gesellschaft. Es handelt sich hierbei um eine Transformation der gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Im Lichte des Varieties-of-Capitalism-Ansatzes erscheint dieser Umbruch als Übergang von einer „koordinierten“ zu einer „liberalen“ Marktökonomie (vgl. Hall/Soskice 2001). Im Kontext komparativer Untersuchungen, die zwischen kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen Varianten des Finanzkapitalismus unterscheiden, erscheint er als „erdrutschartige Gewichtsverschiebung“, welche dazu führt, dass ersteres System faktisch von der Weltkarte verschwindet und letzterem die Alleinherrschaft zufällt (vgl. Albert 1992). Die finanzmarktkapitalistische Transfor- Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus mation impliziert einen bisher nicht gekannten Bedeutungszuwachs des geld- oder zinstragenden Kapitals gegenüber dem produktiven Kapital. Der springende Punkt dabei ist, dass das Finanzkapital, obwohl es im Wirtschaftsprozess agiert, Geldkapital ist – und zwar auch seiner Verwertungslogik nach, was in der Marx’schen Formel G – G’ prägnanten Ausdruck findet. Indem das Geldkapital im volkswirtschaftlichen Kreislaufprozess zur bestimmenden Größe wird, wird der Gesamtprozess der Verwertungslogik des Geldes unterworfen. Geld und Zins bestimmen nunmehr die Funktionsweise des Kapitalkreislaufs insgesamt, das Akkumulationsregime und die Entwicklung der Wirtschaft. Damit sind eine Reihe substanzieller Veränderungen im Verwertungsprozess verbunden. So kommt es zu einer relativen und temporären „Entkopplung von Produkt- und Kapitalmarkt“ (Kühl 2003: 78) bzw. zu Erscheinungen einer relativen „Verselbstständigung“ der monetären gegenüber der realwirtschaftlichen Sphäre.5 Ausdruck dessen ist eine Ausdifferenzierung der Finanzsphäre in eine Vielzahl unterschiedlicher Märkte, von denen die abgeleiteten, die sekundären und tertiären Segmente ein immer größeres Gewicht erhalten. Ursprünglich umfasste der Begriff Finanzmarkt den Geldmarkt als Markt für kurzfristige Transaktionen von Liquiditätstiteln und den Kapitalmarkt als Markt für langfristige, vor allem der Investitionsfinanzierung dienende Geldanlagen bzw. Kredite. Heute fächert sich bereits der Geldmarkt weit auf, indem bei den Liquiditätstiteln zwischen verschiedenen Liquiditätsgraden und -fristen unterschieden wird. Hinzu kommen die Devisen- und Sortenmärkte, welche den Währungsmarkt bilden.6 Zum Kapitalmarkt zählen neben den klassischen Kreditmärkten für Unternehmen, Regierungen und Privatpersonen der Primärmarkt für Wertpapiere, auf dem sich Unternehmen und Regierungen durch die Ausgabe von Aktien oder die Auflage von Anleihen über die Börse direkt beim Publikum finanzieren, der bedeutend größere Sekundärmarkt, auf welchem bereits emittierte Papiere gehandelt, be- und verliehen sowie besichert werden, und der Markt für abgeleitete Finanzprodukte (Derivate), welche 31 sich auf Forderungen und Verbindlichkeiten in der Zukunft beziehen bzw. der Immunisierung gegen Zins- und Wechselkursänderungen dienen (vgl. Huffschmid 2002: 25). Auf diese Weise entsteht neben dem primären, produktiven Verwertungsprozess ein sekundärer, spekulativer und größtenteils fiktiver Prozess, der sich durch die Emission und Zirkulation von Derivaten zudem „reflexiv vervielfältigt“ und inzwischen den primären Prozess volumenmäßig weit übersteigt (Deutschmann 2005: 63). Es ist dies ein Phänomen, worin sich die fortgeschrittene Trennung von Kapitaleigentum und Kapitalfunktion zeigt, ebenso aber auch der Vorrang des Rentiers und Finanzinvestors gegenüber dem produktiven Unternehmer als Charakteristikum der gegenwärtigen Geld- und Vermögenswirtschaft (vgl. Deutschmann 2006; Fiehler 2000). Erscheinungsformen des fiktiven Kapitals sowie Finanzinnovationen und Derivate wie Optionen, Swaps, Futures, Junkbonds, Commercial Paper, Asset Backed Securities (ABS), Credit Default Swaps (CDS), Discount-, Basket-, Index- und Bonus-Zertifikate, Aktienanleihen usw. werden zu Schlüsselgrößen im Finanzgeschehen und ihre Bewegungen, Kursänderungen usw. zu Auslösern ökonomischer Ver- und Entwertungsprozesse.7 Sie sind der „Stoff“, aus dem heutzutage die Krisen erwachsen. Hiervon ausgehend kommt es zu signifikanten Veränderungen in den Macht- und Entscheidungsstrukturen: Aktionäre und Finanzinvestoren gewinnen an Einfluss, ebenso Analysten, Rating-Experten und Fondsmanager, während Industrie-Manager, Kreditbanker und Finanzpolitiker an Macht, Einfluss und Ansehen verlieren. Trotz rückläufigen externen Finanzbedarfs steigt die Abhängigkeit der Unternehmen von den Finanzmärkten. Dabei tritt das Finanzinvestment in den Vordergrund und verdrängt die Investitionsfinanzierung im Produktionsbereich. Dies tangiert selbstverständlich die Einkommensströme, mehr aber noch die Vermögensverhältnisse. Es kommt zu massiven Vermögensumschichtungen und zu einer strukturellen Neuordnung der betrieblichen und privaten Vermögen. Dabei spielen spekulative Verwertungsprozesse, die 32 zur Reichtumskonzentration beitragen, aber auch enorme Entwertungen in und durch Finanzkrisen, wie sie früher nur durch Kriege ausgelöst wurden, eine große Rolle. Zugleich wird die finanzielle Vermögenssituation der privaten Haushalte, deren Liquidität und Performance, immer mehr zur bestimmenden Größe für die soziale Differenzierung und Polarisierung, für gesellschaftlichen Auf- und Abstieg, für Wohlstand und Sicherheit. Der gesamte Wirtschaftsprozess erhält einen grundlegend veränderten Charakter: Er wird zur „Bubble-Ökonomie“ (Brenner 2003; Orlowski 2008), worin das Entstehen und Platzen von Spekulationsblasen gewissermaßen den Konjunkturzyklus „ersetzt“, wie Eric Janszen schreibt (2008: 49), auf jeden Fall aber überformt. Charakteristisch hierfür ist ein Inflationieren der Vermögenspreise (asset-price inflation), wodurch eine fiktive Wertsteigerung ausgelöst wird, eine wahnwitzige Aufblähung von fiktivem Reichtum im Umfang von zig Billionen US-Dollar, die sich regelmäßig als Spekulationsblase erweist, schließlich platzt und Finanzvermögen von gigantischem Ausmaß vernichtet. Bei der Internet-Blase waren es sieben Billionen US-Dollar, die sich mit dem Platzen der Blase (2000/2002) in Luft auflösten. Dass sich die dadurch ausgelöste Krise nicht zu einer finanz- und realwirtschaftlichen Katastrophe entwickelte, ist der expansiven Geldpolitik der FED und anderer Zentralbanken zu verdanken. Damit wurde aber zugleich der Grundstein für den nächsten Crash gelegt: Ermöglicht durch die Kreditexpansion und den Anstieg der privaten und öffentlichen Verschuldung, stiegen die nominalen Werte der Immobilienvermögen, Aktien, Staatspapiere, Zertifikate und Derivate in ungeahnte Höhen. Der Immobilienboom schuf einen Reichtum von zwölf Billionen US-Dollar. Dieser wird nun im Krisenprozess größtenteils entwertet. Von den Folgen dieser Entwertung sind nicht nur Hausbesitzer und Banken betroffen, sondern in noch viel größerem Maße Investmentgesellschaften, Versicherungen und Finanzintermediäre. Paul Krugman sieht im Platzen der Immobilienblase deshalb den Auslöser für den „Zusammenbruch des Schattenbankensystems“ und in der Finanz- Ulrich Busch krise vor allem eine „Nichtbank-Bankenkrise“ (Krugman 2009: 198). Zugleich drängt die ökologische Situation auf eine Energiewende, welche nur herbeigeführt werden kann, wenn es gelingt, Billionen und Aberbillionen US-Dollar, Euro, Yen und Renminbi dafür aufzubringen. Der gewaltige Kapitalbedarf, den der ökologische Umbau erfordert, die weltweite Umstellung von fossilen Energieträgern auf alternative Formen der Energieproduktion und -nutzung, bildet aber aller Voraussicht nach die Grundlage für die kommende Blase. Diese muss groß genug sein, um die Verluste der geplatzten Immobilienblase zu kompensieren und darüber hinaus den Umbau des Energiesektors und der Infrastruktur zu finanzieren. Janszen veranschlagt den Umfang des erwarteten fiktiven Spekulationsvermögens auf mindestens 20 Billionen US-Dollar, was gegenüber der Internet-Blase eine Verdreifachung und gegenüber der Immobilienblase eine Erhöhung auf mehr als das Anderthalbfache bedeuten würde. Wenn auch diese Blase schließlich platzt und die Weltwirtschaft erneut in eine globale, noch größere als die jetzige Krise gestürzt wird, „werden wir wiederum vor der Aufgabe stehen, die Trümmer einer verwüsteten Branche abzuräumen“. Gleichzeitig wird die nächste Blase im Entstehen begriffen sein, denn angesichts des Zustandes der finanzkapitalistisch geprägten Weltwirtschaft und der globalen Herausforderungen, vor welchen die Welt steht, „wäre nur eines schlimmer als eine neue Blase: keine Blase“ (Janszen 2008: 59f.). 3. Konjunkturverlauf und Krise Folgt man dem Mainstream, so handelt es sich bei der gegenwärtigen Krise um eine Krise der Banken und der Finanzmärkte, welche „durch Ansteckung“ auf die eigentlich robuste und kerngesunde Realwirtschaft übertragen wurde. Dies gelte insbesondere für Deutschland, wo die Wirtschaft im ersten Quartal 2008 noch kräftig gewachsen ist und wo es keine exzessive Überschuldung der privaten und öffentlichen Haushalte und auch keine spekulative Überhitzung der Märkte gegeben habe. Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus Richtig ist, dass die Krise zuerst in den USA ausbrach, infolge des Platzens der Immobilienblase, und dass sie sich über international agierende Banken und die Finanzmärkte ausgebreitet hat. Falsch ist jedoch, die deutsche Wirtschaft substanziell als krisenresistent zu betrachten. Dies schon deshalb, weil es sich bei der aktuellen Krise um eine globale Krise handelt und Deutschland integraler Bestandteil der Weltwirtschaft ist. Darüber hinaus gilt es zu beachten, dass Deutschland eine finanzkapitalistische Wirtschaftsstruktur aufweist und die Krise deshalb auch hier zuerst und vor allem als Finanzkrise in Erscheinung trat. Finanzmärkte und Banken bilden nun mal das „Herz“ des finanzkapitalistischen Wirtschaftssystems. Weist dieses ernstliche Funktionsstörungen auf, so funktioniert auch der übrige „Körper“ nicht mehr, und es droht ein Kollaps. Andererseits bilden sich Turbulenzen auf den Finanzmärkten nicht unabhängig von der Realökonomie. So belegt eine Analyse des Konjunkturverlaufs, dass die gegenwärtige Krise ursächlich durchaus als eine Wirtschaftskrise, eine Überproduktions- und Überakkumulationskrise, anzusehen ist (vgl. Leibiger 2009), auch wenn ihr Anlass ein finanzwirtschaftlicher war, die auffälligsten Krisenphänomene finanzieller Natur sind und ihre Dimension weit über eine normale Konjunkturkrise hinausreicht. Dieser Aspekt soll in Folgendem etwas genauer beleuchtet werden: Bedingt durch den Rhythmus der Reproduktion des industriellen 33 Kapitals, insbesondere der Entwertung und periodischen Neuanlage von fixem Kapital (Maschinen und Anlagen), vollzieht sich die Wirtschaftsentwicklung seit der industriellen Revolution nicht kontinuierlich und linear, sondern wellenartig und zyklisch. Die entscheidende Grundlage dafür bildet der Umschlag des fixen Kapitals (vgl. Marx 1969: 169ff.). John Maynard Keynes behandelt den Konjunkturzyklus als „Folge einer zyklischen Veränderung in der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals“ (Keynes 1936: 265), Joseph A. Schumpeter begreift ihn als Innovations- und Investitionszyklus (vgl. Schumpeter 1961). Im Zeitverlauf lassen sich verschiedene Phasen und sich periodisch wiederholende Zyklen unterscheiden. Der erste Zyklus endete 1825 mit einer Wirtschaftskrise in England, der ersten Krise dieser Art überhaupt (Kuczynski 1960–1972, Bd. 23: 108). In Deutschland setzte die Industrialisierung bekanntlich später ein, sodass die erste Krise hier auf das Jahr 1857 datiert wird. Seitdem vollzieht sich die Wirtschaftsentwicklung über das Auf und Ab konjunktureller Wechsellagen. Dabei lassen sich Expansions- oder Prosperitätsphasen einerseits und Kontraktions-, Rezessions- und Depressionsphasen andererseits unterscheiden. Der Konjunkturprozess folgt einem Schema von „mittlerer Lebendigkeit, Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation“ (Marx 1968: 476). In Anlehnung an Joseph A. Schumpeter werden die Phasen des Konjunkturzyklus als Tabelle 1: Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in Konjunkturzyklen, in Prozent Zeitraum (I) (II) (III) (IV) (V) (VI) (VII) (VII) * 1951–1958 1959–1967 1968–1975 1976–1982 1983–1993 1994–2003 2004–2008** 2004–2010*** Jahresdurchschnittliche Zuwachsrate nominal preisbereinigt 11,64 8,26 8,08 4,79 9,66 3,78 6,58 2,43 5,60 2,71* 2,48 1,56 2,86 1,72 1,63 0,31 Ohne den Effekt der Wiedervereinigung, welcher 1990 bis 1992 mehr als die Hälfte des Zuwachses des BIP ausmachte, hätte der Zuwachs im fünften Zyklus nur ca. 2,5% betragen. ** Der Zyklus ist nicht abgeschlossen. *** Schätzung auf Grundlage der Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute für 2009 und 2010. 34 Ulrich Busch Recovery (Erholung), Prosperität, Rezession und Depression bezeichnet. Neuere Theorien fassen den Wirtschaftsverlauf weniger streng phasenstrukturiert auf, sondern eher als einen Prozess konjunktureller Schwankungen, als zyklische Bewegung um einen exponentiellen Wachstumstrend. Dabei erscheinen Erholung und Aufschwung als wirtschaftliche Expansion und der obere Wendepunkt im Konjunkturverlauf als Boom. Es folgen Abschwächung und Entspannung sowie Rezession und Depression als Phänomene wirtschaftlicher Kontraktion. Als maßgeblicher Indikator gilt die jährliche bzw. die quartalsbezogene Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts. In der Konjunkturtheorie wird zwischen verschiedenen Typen von Konjunkturzyklen unterschieden: a) Kitchin-Zyklen (3–4 Jahre), b) Juglar-Zyklen (7–11 Jahre) und c) Kondratieff-Zyklen (50–60 Jahre).8 Ein Zyklus bezeichnet jeweils den Zeitabschnitt zwischen dem Beginn der ersten Phase (Erholung bzw. Aufschwung) und dem Ende der letzten Phase (Depression). Das Muster der konjunkturellen Zyklizität der Wirtschaftsentwicklung lässt sich auf die Bundesrepublik Deutschland anwenden.9 Bisher lassen sich sieben (Juglar-)Zyklen unterscheiden10: (I) 1950–195811, (II) 1959–1967, (III) 1968–1975, (IV) 1976–1982, (V) 1983–1993, (VI) 1994–2003 und (VII) 2004–201012; wobei der siebente Zyklus zum gegenwärtig Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen und daher nur unvollständig darstellbar ist. Es spricht aber vieles dafür, dass der obere Wendepunkt im Jahr 2006 lag13 und der Tiefpunkt der Krise 2010 erreicht wird. Die Prognosen der Ökonomen stützen diese Sicht (vgl. Projekt Gemeinschaftsdiagnose 2009; Deutsche Bundesbank 2/2009: 43ff.), während die Bundesregierung von einer Beendigung der Krise noch im Jahr 2009 ausgeht. Die Daten für die Jahre 1950 bis 1969 sind wegen konzeptioneller und definitorischer Unterschiede mit den Daten für 1970 bis 1990 (früheres Bundesgebiet) und den Angaben für 1991 bis 2009 (Deutschland) nur eingeschränkt vergleichbar. Für 2009 wurde ein Schätzwert der Wirtschaftsforschungsinstitute verwendet. Aus Abbildung 1 ist ersichtlich, dass die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik zyklisch, das heißt in mehr oder weniger Abbildung 1: Veränderung des preisbereinigten BIP gegenüber dem Vorjahr, 1951–2009 Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts real 14 13 12 11 10 Jährliche Veränderung in Prozent 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 2008 2006 2004 2002 2000 1998 1996 1994 1992 1991 1989 1987 1985 1983 1981 1979 1977 1975 Quelle: Statistisches Bundesamt. 1973 -6 1971 -5 1969 -4 1967 -3 1965 1963 1961 1960 1958 1956 1954 1952 -2 1950 -1 Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus regelmäßigen konjunkturellen Bewegungen, verläuft. Die durchschnittliche Länge eines Zyklus beträgt achteinhalb Jahre. Abweichungen von dieser Regel sind durch Sonderbedingungen wie zum Beispiel die Wiedervereinigung erklärbar, welche der (west-)deutschen Wirtschaft 1990 und 1991 eine Sonderkonjunktur bescherte. Es ist unschwer auszumachen, dass es in der Wirtschaftsentwicklung der Nachkriegszeit bisher sieben Abschwungphasen gab: 1957/58, 1966/67, 1974/75, 1980/82, 1992/93, 2001/03 und 2007/09. Diese mündeten außer 1958 immer in eine Rezession. Am stärksten war dies 1975 und 1993 der Fall, als das BIP um 0,9 bzw. 0,8 Prozentpunkte zurückging. Daran gemessen weist die gegenwärtige Krise zweifelsohne eine andere Dimension auf: Der Abschwung verlief heftiger und der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung fällt weit höher aus als in allen vorherigen Krisen. Dies lässt sich an der Dynamik der Quartalswerte für das BIP und für die Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe ablesen (Tabelle 2). Insgesamt vermittelt der Konjunkturzyklus folgendes Bild: Erstens ist ein langfristiger Trend des Rückgangs der Wachstumsraten des BIP und darüber hinaus der Arbeitsproduktivität, der Investitionen und des Konsums zu konstatieren. Dadurch fallen die Aufwärtsbewegungen von Mal zu Mal schwächer aus, so dass sich die einzelnen Zyklen tendenziell „abflachen“. Zweitens treten die Krise 1974/75 und die gegenwärtige Krise klar als Zäsuren hervor. Eine Analyse im Kontext des Ansatzes von Kondratieff und Schumpeter14 führt zu der 35 Schlussfolgerung, dass sich hier zwei historische Phasen unterscheiden lassen. Die erste reicht von 1949/1950 bis Anfang der 1970er Jahre und ist durch eine beschleunigte Kapitalakkumulation charakterisiert, die zweite beginnt Mitte der 1970er Jahre und ist durch strukturelle Überakkumulation und tendenzielle Stagnation gekennzeichnet. Während die ersten drei Zyklen in einem übergreifenden Megazyklus als Prosperitätszyklen erscheinen, sind die folgenden vier als Abstiegs- und Depressionszyklen charakterisiert. Ob der Aufschwung 2004–2006 bereits den Beginn eines neuen Zyklus einleitete oder ob es sich dabei nur um „ein Zwischenhoch in einer verschleppten Depression“ (Land 2008) handelte und erst die nächste Erholung den Beginn eines neuen Megazyklus, des dann fünften „Kondratieff“, markiert, ist eine offene Frage. Im Unterschied zu dieser Interpretation folgt die säkulare Stagnationstheorie von Keynes einer anderen Vorstellung von Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung. Der von Keynes 1943 für die Nachkriegszeit entworfene Ansatz unterscheidet drei Phasen, die jeweils durch ihr Verhältnis von freiwilliger Investition (I) und freiwilliger Ersparnis (S) auf Vollbeschäftigungsniveau gekennzeichnet sind. Während für die erste Phase aufgrund inflationärer Übernachfrage im Zuge des Wiederaufbaus und des Nachholbedarfs nach dem Krieg I > S gilt, ist die zweite Phase durch ein ausgeglichenes Verhältnis beider Größen charakterisiert: I = S. Die Investition absorbiert auf Vollbeschäftigungsniveau die Ersparnis, wodurch der Inflationsdruck schwindet. In der dritten Phase Tabelle 2: BIP und Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe, jeweilige Preise und preisbereinigt, verkettet (2000 = 100); Veränderung gegenüber Vorquartal in Prozent 2007 2008 2009* 1. Vj . 2. Vj. 3. Vj. 4. Vj. 1. Vj. 2. Vj. 3. Vj. 4. Vj. 1. Vj. 2. Vj. BIP jeweilige Preise 1,5 0,7 0,9 0,5 2,0 0 -0,3 -1,3 -3,8 X BIP preisbereinigt 0,4 0,4 0,6 0,3 1,5 -0,5 -0,5 -2,2 -3,8 -0,9 Verarbeitendes Gewerbe preisbereinigt 2,8 0,3 1,4 1,0 1,2 -0,5 -1,9 -7,1 -14,0 -3,0 Quelle: StatBA: Pressemitteilung Nr. 185 (www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/DE/Content/Statistik...15.05.2009); Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2007: 44; Herbst 2008: 55, Frühjahr 2009: 49 (* Prognose) 36 Ulrich Busch jedoch fällt die Investitionstätigkeit unter die Ersparnis, sodass Unterbeschäftigung und Überliquidität herrschen: I < S. Hohe Ersparnis, abnehmende Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals, rückläufige Wachstumsraten und sinkende Konsumneigung – eben Stagnation prägen diese Phase (Keynes 1943; Zinn 2007). Ihr Beginn datiert Mitte der 1970er Jahre, und ihr weiterer Verlauf findet im Finanzmarktkapitalismus Bestätigung. 4. Kosten und Verluste Dass die gegenwärtige Krise gewaltige Kosten verursacht, Kosten, deren Umfang alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt, gilt als ausgemacht und wird inzwischen nicht einmal mehr von denen bestritten, die vor Kurzem noch die „reinigende Kraft“ der Krise hervorhoben und ihre stabilisierende Rolle im Wirtschaftsprozess betonten. Die Frage ist nur: Wie hoch sind diese Kosten, und wer wird sie letztlich tragen? Eine Antwort auf diese Frage fällt naturgemäß nicht leicht. Zum einen ist bisher kein Ende der Krise in Sicht. Und eine Bilanz, selbst eine vorläufige, lässt sich erst nach Beendigung der Krise und dem Beginn der wirtschaftlichen Erholung erstellen. Zum anderen fehlt es an einer sinnvollen Abgrenzung dessen, was hier als Kosten anzusehen ist. Die Krise verursacht fiskalische, wirtschaftliche, soziale, ordnungspolitische, innen- und außenpolitische, kulturelle, ideologische und andere Kosten. Dies gilt weltweit, aber auch national, bezogen auf Volkswirtschaften, Regionen, Branchen, Industriezweige, Staaten, Länder, Kommunen, Unternehmen, soziale Schichten und Gruppen, private Haushalte usw. Es ist unmöglich, die ganze Vielfalt dieser Kosten in ihrer strukturellen Gliederung und Verästelung auch nur annähernd zu erfassen. Zumal nicht klar ist, welche davon absolute und welche relative Kosten sind, welche vollständig ins Gewicht fallen und welche sich gegen Gewinne aufrechnen lassen, welche tatsächliche Kosten und welche Opportunitätskosten sind, usw. usf. Grenzt man die Frage auf die ökonomischen Kosten und weiter auf finanziell erfassbare Größen ein, so scheint es schon eher möglich, zu einer validen Aussage zu gelangen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) veranschlagte im April 2008 „die potenziellen Verluste und Ab- BIP-Produktivität, Wachstum (real), Erwerbslosenquote und Inflation in Zyklen Abbildung 2: BIP-Produktivität, Erwerbslosenquote und Inflationsrate 1950–2009 (bis 1960 ohne Saarland, bisWachstum, 1991 alte Bundesländer, ab 1991 Deutschland insgesamt 2009 geschätzt) 16 BIP pro Stunde (Produktivität) BIP-Wachstum Erwerbslose an Erwerbspersonen Inflation (BIP-Deflator) 14 Beitritt Saarland Veränderung zum Vorjahr in Prozent 12 10 Deutsche Einheit 8 6 4 2 0 2008 2006 2004 2002 2000 1998 1996 1994 1992 1991 1989 Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechungen. 1987 Jahr 1985 -6 1983 -4 1981 1979 1977 1975 1973 1971 1969 1967 1965 1963 1961 1960 1958 1956 1954 1952 1950 -2 Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus schreibungen“ durch die Finanzkrise weltweit auf bis zu 945 Mrd. USD. Die direkten Verluste aus den Subprime-Hypotheken wurden mit 45 Mrd. USD angegeben, die Ausfälle bei anderen Kreditsegmenten mit 225 Mrd. USD. Der Löwenanteil entfiele auf Abschreibungen und bilanzielle Wertberichtigungen: insgesamt 720 Mrd. USD (Börsen-Zeitung vom 09.04.2008). Anderen Berechnungen weisen die Verluste am Subprime-Hypothekenmarkt höher aus, mit ca. 200 Mrd. USD (Sommer 2008). Ein paar Monate später legte der IWF eine neue Berechnung vor. Danach belaufen sich die zu erwartenden Verluste auf 1,4 Billionen USD (IWF 2008). Joseph Stiglitz erwartet „einen Schaden von mehr als zwei Billionen Dollar“ (FAS vom 21.09.2008), Nouriel Roubini schätzt die weltweiten Kreditausfälle bereits auf drei Billionen USD (Faz.net, 28.01.2009). Inzwischen korrigierte der IWF seine Schätzung der erwarteten Verluste der Banken und Finanzinstitutionen nach oben, auf vier Billionen USD (IWF 2009). Fast täglich erreichen uns neue, immer höhere Schätzungen. Bemerkenswert an diesen Projektionen ist der hohe Anteil der Abschreibungen und Wertberichtigungen. Diese machen mindestens zwei Drittel der Gesamtverluste aus. Die Relationen verschieben sich noch weiter, wenn die Kursverluste von Aktien und anderen börsennotierten Papieren in die Rechnung einbezogen werden. Zwischen Oktober 2007 und Oktober 2008 verringerte sich der Börsenwert aller Aktien von 62,57 Billionen auf 32,25 Billionen USD. Das entspricht einem „Verlust“ von 30,32 Billionen USD.15 Rechnet man den zwischen 2006 und 2008 verzeichneten Wertverlust bei US-Immobilen in Höhe von 4,1 Billionen USD hinzu, so erhält man eine Größe von 39,4 Billionen USD. Aber das ist noch nicht alles. Berechnungen der Asiatischen Entwicklungsbank zufolge vernichtete die Krise 2008 weltweit Finanzaktiva im Umfang von 50 Billionen US-Dollar. Das sind 50.000 Milliarden, also 5012 oder 50.000.000.000.000 US-Dollar (ADB 2009). Die wirtschaftlichen und politischen Folgen dieser ungeheuren Devaluation sind unabsehbar. Auf jeden Fall aber kommt es dadurch zu massiven Verschiebungen in den 37 Vermögensstrukturen, Wirtschaftspotenzialen und Machtverhältnissen weltweit. Die Zahlen sind das eine, ihre ökonomische Bewertung aber ist etwas anderes. Um hier zu einem vernünftigen Ergebnis zu gelangen, ist es unerlässlich, eine Bezugsgröße für die ermittelten Kosten zu bestimmen. Ohne eine solche besitzen Zahlen keine ökonomische Aussage. Als Bezugsgrößen bieten sich an: das Finanz- oder Geldanlagevermögen, die Summe aller Finanzaktiva oder das Gesamtvermögen der Welt, ausgewiesen in US-Dollar. Über letztere gibt es keine zuverlässige Information, die weltweit ausstehenden Finanzaktiva aber werden für 2008 mit ca. 200 Billionen USD veranschlagt.16 Daran gemessen, belaufen sich die Verluste durch die Finanzkrise lt. IWF auf 0,5 beziehungsweise 0,7 Prozent. Legt man der Rechnung jedoch den Verlust von 50 Billionen USD zugrunde, so wären es 25 Prozent! Für das Verständnis dessen, was ein Verlust dieser Größenordnung volkswirtschaftlich bedeutet, ist es erforderlich, sich klarzumachen, was sich dahinter verbirgt. Denn Kursverluste bei Aktien, Wertberichtigungen bei Wertpapieren, Abschreibungen auf Buchwerte, Kreditausfälle, Einbußen infolge von Wechselkursänderungen, Spekulationsverluste usw. sind nicht gleichzusetzen etwa mit einer Annullierung von Guthaben, der Sperrung von Bankkonten, dem Einzug von Bargeld oder dem Verruf von Münzen. Während erstere Vorgänge Geldkapital betreffen, größtenteils fiktives Kapital, beziehen sich letztere auf Geld und tangieren daher die Liquidität der Wirtschaftssubjekte. Zwischen beiden Ereignissen ist sorgfältig zu unterscheiden. Hinter den Begriffen „Kosten“ und „Verluste“ verbergen sich ökonomisch durchaus differente Kategorien und Größen, deren additive Aufrechnung sich eigentlich verbietet. Trotzdem aber wird gerade dies immer wieder versucht, wie ein Blick in die Literatur zeigt. Da die „Kosten“ der Krise sich bisher überwiegend als Verluste von Geldkapital und fiktivem Kapital darstellen, ist es nicht verwunderlich, dass die Hauptbetroffenen Banken, Investmentfonds und Finanzinstitutionen sind. Lt. IWF entfallen 49 Prozent der Kosten auf Banken, 15 Prozent auf Hedgefonds, 13 Prozent auf Pensionsfonds 38 und 12 Prozent auf Versicherungsunternehmen. Der Staat ist unmittelbar nur mit elf Prozent beteiligt (IWF 2008). Dem steht allerdings entgegen, dass Regierung und Notenbank (FED) in den USA bis März 2009 bereits 12,75 Billionen USD eingesetzt haben, um die Finanz- und Wirtschaftskrise zu bekämpfen. Einen Teil dieser Kosten trägt letztlich, direkt oder indirekt, gewiss der Steuerzahler. Der wichtigste Punkt für das Verständnis betrifft in diesem Kontext den Begriff des fiktiven Kapitals und seine Abgrenzung gegenüber den Termini Geld, Geldkapital, Kapital und Finanzvermögen. Dabei wird unter Geld Liquidität im engeren Sinne (Bargeld und Sichteinlagen) verstanden, sowie geldnahe Aktiva (Termineinlagen bis zu zwei Jahren, Spareinlagen mit dreimonatiger Kündigungsfrist, Geldmarktpapiere, -fondsanteile und Ähnliches). Dies entspricht der Definition des Geldmengenaggregats M 3 im Europäischen Währungssystem. Demgegenüber umfasst das Geldkapital alle Bankeinlagen und finanziellen Forderungen mit einer Laufzeit von mehr als zwei Jahren sowie Aktien, Anleihen, Pfandbriefe, Obligationen, Zertifikate und andere Verbindlichkeiten der Finanzinstitute. Beide Größen zusammen bilden das Geld- oder Finanzvermögen, die Finanzaktiva einer Volkswirtschaft. Quantitativ entspricht diese Größe dem Kreditvolumen, das heißt der Summe aller Verbindlichkeiten. Es saldiert sich daher volkswirtschaftlich, sofern man von den Auslandsbeziehungen absieht, auf Null. In einer offenen Volkswirtschaft entspricht das Finanzvermögen den finanziellen Forderungen gegenüber dem Ausland. Im Unterschied hierzu ist Kapital eine materielle und funktionale Kategorie: Als Produktionsfaktor dient es der Güter- und Dienstleistungsproduktion, als Produktionsverhältnis bildet es das Pendant zur Arbeit innerhalb des sozialökonomischen Grundverhältnisses. Fiktives Kapital ist nun weder Geld noch Kapital. Gleichwohl aber ist es bilanzieller Bestandteil des Geldkapitals wie des Finanzvermögens. Und das in beträchtlichem Umfang. Es existiert in Form von Aktien, Anleihen und anderen Titeln. Der Marktwert dieser Papiere ändert sich mit der Lage am Markt, ihr Besitz Ulrich Busch aber bildet die Grundlage für regelmäßige Revenuen. Kapitalisiert man diese Erträge, so erhält man den „Wert“ des fiktiven Kapitals. Es ist damit nichts anderes als der „Preis einer Revenue“ (Hilferding 1955: 143), das heißt „rein illusorisches Kapital“; sein Wert ist „stets nur der kapitalisierte Ertrag, d.h. der Ertrag, berechnet auf ein illusorisches Kapital nach dem bestehenden Zinsfuß“ (Marx 1970: 484, 485).17 Da die verschiedenen Formen des fiktiven Kapitals einen gewichtigen Teil des Bankund Finanzkapitals sowie des gesamtwirtschaftlichen Finanzvermögens ausmachen, erscheint dieses selbst als größtenteils fiktiv und substanziell durch nichts untersetzt. Es steht daher auch quantitativ in keinem wie auch immer konstituierten Verhältnis zum Umfang der Produktion. Dies war bereits im 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts so, wie sich bei Marx und Hilferding nachlesen lässt, und gilt erst recht für den Finanzkapitalismus der Gegenwart, wo inzwischen die inflationäre Aufblähung und spekulative Vervielfachung der nominalen Finanzvermögen jedes nachvollziehbare Maß überschritten hat. Unter der „Akkumulation des Geldkapitals“ aber, schrieb Marx, „ist zum großen Teil nichts zu verstehn“ als die Akkumulation von Zins- und Renditeansprüchen, die „Akkumulation des Marktpreises, des illusorischen Kapitalwerts dieser Ansprüche“ (ebd.: 486). Es wäre daher unsinnig, zwischen der Höhe der Finanzvermögen und dem Umfang der jährlichen Produktion einen quantitativen Zusammenhang herzustellen. Geradezu absurd mutet die Forderung an, die über Jahrzehnte aufgetürmten Finanzvermögen auf den Umfang des jährlichen Sozialprodukts begrenzen zu wollen. Der einzige ökonomisch relevante Zusammenhang, der hier auszumachen ist, besteht in der Deckung der Zins- und Renditeansprüche des Geldkapitals durch die Gewinne der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Gelingt diese nicht vollumfänglich, so sinkt die Durchschnittsrendite am Kapitalmarkt, wie die Entwicklung der letzten Jahre demonstriert: Seit den 1990er Jahren verringert sich der reale Kapitalmarktzins, von durchschnittlich vier auf ca. zwei Prozent. Hinzu kommt, dass zudem die Rate des Wirtschaftswachstums langfristig Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus sinkt, womit sich die Verwertungsbedingungen tendenziell spürbar verschlechtern (vgl. Abb. 3). Mit dem Ertragsrückgang wird zugleich das fiktive Kapital entwertet – ein Vorgang, der jedoch volkswirtschaftlich relativ unerheblich ist, ebenso wie die nominalen Wertverluste, die sich derzeit als „Kosten“ der Krise in den Wertberichtigungen und Abschreibungen der Banken niederschlagen. Selbst wenn diese zweistellige Billionenbeträge erreichten, würde die Welt „durch das Zerplatzen dieser Seifenblasen von nominellem Geldkapital […] um keinen Heller ärmer“ werden. Ebenso wenig wie sie durch die fiktive Wertsteigerung an den Finanzmärkten, durch die Zunahme des nominalen Finanzvolumens, reicher geworden ist. „Soweit die Entwertung oder Wertsteigerung dieser Papiere unabhängig ist von der Wertbewegung des wirklichen Kapitals, das sie repräsentieren, ist der Reichtum einer Nation gerade so groß vor wie nach der Entwertung oder Wertsteigerung.“ (Ebd.) Woraus folgt, dass sowenig wie das fiktive Kapital wirkliches Kapital ist, die Wertkorrekturen desselben wirkliche Wertverluste sind. Sie sind deshalb als „fiktive Kosten“ akkurat von den echten Kosten der Krise zu unterscheiden. Nichtsdestotrotz aber haben Wertkorrekturen an den Finanzmärkten Einfluss auf die reale Ökonomie. Dies gilt verstärkt im entwickelten Finanzkapitalismus. Die Entwertung 39 von Geldkapital bedeutet heute „wirklichen Stillstand der Produktion und des Verkehrs“ (ebd.), die massenhafte Insolvenz von Unternehmen, den Anstieg von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialem Elend. Infolge der Dominanz der Finanzmärkte gegenüber Wirtschaft und Gesellschaft bleibt die Krise nicht auf die Finanzsphäre beschränkt, auch nicht auf die nationale Wirtschaft, sondern wird zur globalen Krise, zur Weltwirtschaftskrise, mit gravierenden ökonomischen, sozialen und politischen Folgen, welche sich als „echte“ Kosten der Krise darstellen. 5. Folgen und Konsequenzen Die Folgen der aktuellen Wirtschaftskrise sind derzeit nicht abzusehen. Dies gilt insbesondere für die weltpolitischen und -wirtschaftlichen Konsequenzen, aber auch für die Höhe der finanziellen, ökonomischen und sozialen Kosten sowie die Art und Weise, wie und durch wen diese Kosten letztlich beglichen werden. So viel aber steht fest: Nach der Krise wird die Welt nicht mehr dieselbe sein wie vor der Krise. Es wird gravierende Veränderungen in den finanz- und volkswirtschaftlichen Strukturen geben, Machtverschiebungen zwischen den Wirtschafts- und Währungsgebieten, Korrekturen in der Weltfinanzordnung. Dies impliziert die Hoffnung, dass es im Ergebnis der Krise Differenz BIP-Wachstum und Kapitalmarktzins Abbildung 3: BIP-Wachstum undzwischen Kapitalmarktzins Deutschland 1950 bis 2008 12 10 8 Prozent 6 4 2 0 -2 Kapitalmarktzins real -4 10 Per. Gleitender Durchschnitt (Kapitalmarktzins real) BIP-Wachstum real Polynomisch (BIP-Wachstum real) -6 2008 2006 2004 2002 2000 1998 1996 1994 1992 1991 1989 1987 1985 1983 1981 1979 1977 1975 1973 1971 1969 1967 1965 1963 1961 1960 1958 1956 1954 1952 1950 Quelle: Deutsche Bundesbank, eigene Berechnungen. 40 zu einer Wende in der weltwirtschaftlichen Entwicklung kommt, zu einer historischen Neuorientierung, welche die Bewältigung der ökonomischen und ökologischen Herausforderungen der Zukunft möglich macht und so der Menschheit das Überleben garantiert. Sicher ist dies jedoch keineswegs. Es kann auch anders kommen: zu totalitären Regimen, zu Kriegen und Machtkämpfen um die knappen Ressourcen. Ob es gelingt, die Chance der Krise für einen Neuanfang zu nutzen, hängt wesentlich von den politischen Akteuren ab, deren Aufgabe es ist, die Weltwirtschaft aus der Krise zu führen. Obwohl dies alles offene Fragen sind, lassen sich einige Konsequenzen der Krise schon heute ausmachen. Diese sollen hier, soweit sie die Wirtschaft betreffen, skizziert werden: – Die Krise ging nicht nur von den USA aus; sie trifft die US-Wirtschaft auch in besonderem Maße. Damit setzt sich der seit den 1970er Jahren zu beobachtende Niedergang der Vereinigten Staaten fort, der Verlust ihrer Hegemonialposition in der Welt. Andere Regionen und Staaten dagegen, insbesondere Europa, China und Indien, werden erstarken, sodass wir im Ergebnis der Krise „in die Normalität einer multipolaren Welt eingetreten“ sein werden (Wallerstein 2008: 5). – Die marktradikale Ausrichtung der Weltwirtschaft wird sich so nicht fortsetzen. Es ist mit Prozessen von Re-Regulierung, Dekommodifizierung und Deprivatisierung zu rechnen, mit einem stärkeren Engagement des Staates in der Wirtschaft und mit Protektionismus. Die Krise, welche die tiefste Zäsur im Wirtschaftsleben seit dem Zweiten Weltkrieg ist, bildet möglicherweise einen Wendepunkt in der historischen Entwicklung des Kapitalismus. Sie könnte sich als „Übergangskrise“ zu einer veränderten Regulationsweise des Finanzkapitalismus erweisen, möglicherweise sogar als Ausgangspunkt für einen „globalen Neustart“, für eine Entwicklung zu einer „Wirtschaftsdemokratie jenseits des Finanzkapitalismus“ (Hengsbach 2009: 60). – Die neoliberale Ideologie und die einseitig Ulrich Busch die ökonomische Theorie dominierende neomonetaristische Doktrin sind durch die Krise erheblich desavouiert und haben an Glaubwürdigkeit verloren. Es zeichnet sich daher eine stärkere Beachtung anderer, insbesondere keynesianischer Ansätze im wirtschaftswissenschaftlichen Denken ab und damit die Möglichkeit einer breiteren Diskussion alternativer Ideen und Vorschläge. – Die gegenwärtige Krise ist eine systemische Krise des Finanzmarktkapitalismus und eine organische Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft. In ihr treffen konjunkturzyklische Momente mit strukturellen Verwerfungen zusammen, Wachstums- mit Verwertungsproblemen, Integrationsprobleme mit globalen Ungleichgewichten. Die Wirtschaftskrise ist nicht zu trennen von der Umweltkrise, der Energiekrise, der Klimakrise, der Ernährungskrise und anderen Krisenerscheinungen. Ihr ökonomischer Kern ist jedoch in einer Überakkumulation von Kapital und in der spekulativen Aufblähung der Finanzsphäre zu sehen. Deshalb besteht der entscheidende Beitrag zur Entschärfung und Lösung der Krise in einer massiven Kapitalentwertung, was in den enormen Kosten der Krise seinen Niederschlag findet. Wie diese Kosten verteilt werden, wer sie letztlich trägt und ob es gelingt, mit dieser Frage eine grundsätzlich andere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu verbinden, ist von entscheidender Bedeutung für die Zukunft. – Die Krise und die Strategien zu ihrer Überwindung ziehen einen enormen Anstieg der Staatsschulden nach sich. Daraus ergeben sich langfristig neue Zwänge, aber auch neue Handlungserfordernisse und -möglichkeiten für den Staat, insbesondere in verteilungs- und steuerpolitischer Hinsicht. – Ein Symptom für die Tiefe der Wirtschaftskrise ist die Tendenz zur Deflation. Wird diese Realität, so würde die Rezession in eine Depression übergehen, und die Gefahr einer lange währenden Abwärtsspirale wäre gegeben. Eine andere Gefahr geht von der Strategie der Notenbanken zur Bekämpfung Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus der Krise aus: die Inflation. So rechnet zum Beispiel Thomas Straubhaar (HWWI) damit, dass auf Deutschland „eine gewaltige Teuerungswelle“ zukommt: „Für die Zeit nach 2010 sei eine Geldentwertung von bis zu zehn Prozent pro Jahr zu erwarten.“ (Berliner Zeitung vom 21./22.02.2009) – Die Krise bietet Chancen für neue Lösungsansätze und Reformen. Sie befördert damit den gesellschaftlichen Evolutionsprozess. Realisiert wird dieser Prozess zunächst jedoch noch im ordnungspolitischen Rahmen des globalen Finanzkapitalismus. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 Das Konjunkturpaket „Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstärkung“ hat einen Umfang von 23 Mrd. Euro. Es umfasst die befristete Wiedereinführung der degressiven Abschreibung, die höhere steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerleistungen, Investitionen in den Bereichen Verkehr und Gebäudesanierung und ähnliche Maßnahmen. Die Kosten dafür verteilen sich zu etwa gleichen Teilen auf Bund, Länder und Gemeinden. Bezeichnenderweise ist der für den Konjunkturverlauf maßgebende ifo-Geschäftsklima-Index bereits seit Juni 2007 kontinuierlich gefallen (www.cesifo-group. de/portal/page/portal/ifoHome/a-winfo/d6zeitreihen... 15.05.2009). „Ein immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie gehört nicht den Industriellen, die es anwenden. Sie erhalten die Verfügung über das Kapital nur durch die Bank, die ihnen gegenüber den Eigentümer vertritt. Andererseits muß die Bank einen immer wachsenden Teil ihrer Kapitalien in der Industrie fixieren. Sie wird damit in immer größerem Umfang industrieller Kapitalist. Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital.“ (Hilferding 1955: 335). Der von Hilferding und Lenin verwendete Begriff des Finanzkapitals ist vom umgangssprachlichen Verständnis zu unterscheiden. So fasst Wikipedia unter „Finanzkapital“ wenig präzise die Gesamtheit der Banken, finanziellen Kapitalgesellschaften und Aktieninhaber; Institutionen und Personen also, die eine Rendite erzielen, indem sie Geld verleihen bzw. anlegen oder vergleichbare Kredit- und Geldgeschäfte tätigen. In einer noch weiter gehenden Bestimmung wird jegliches Geldvermögen bzw. jede Geldforderung als Finanzkapital definiert. Inwieweit eine solche Verselbstständigung der Geldsphäre gegenüber der realen Ökonomie möglich bzw. tatsächlich zu konstatieren ist, ist umstritten; vgl. dazu Heine/Herr 1996. Allein hier belaufen sich die täglich getätigten Um- 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 41 sätze auf eine Summe von 1,5 Billionen USD, einem Vielfachen des transnationalen Güterhandels. Während die Wirtschaftsleistung in der Welt gegenwärtig auf rund 60 Billionen USD geschätzt wird, liegt die globale Aktienmarkt-Kapitalisierung bei ca. 55 Billionen USD, handelbare Schuldverschreibungen sind etwa 70 Billionen USD wert, und das Volumen der Derivate umfasst nominal 1.600 Billionen USD, das 27fache der realen Wirtschaftsleistung (Berliner Zeitung vom 01.02.08). Vgl. dazu Schumpeter 1961; Tichy 1976; Kromphardt 1977; Ruben 2008. Für die Wirtschaft der DDR gilt dies nur mit großen Einschränkungen. Andere Autoren wie zum Beispiel Stephan Krüger datieren die Zyklen kürzer, sodass es insgesamt zehn sind (vgl. Krüger 2007: 113). Abelshauser unterteilt die beiden ersten Zyklen noch einmal, sodass er bis heute neun zählt (Abelshauser 2004: 297). Der Tiefpunkt der Kriegs- und Nachkriegsentwicklung wurde 1947 erreicht. Eigentlich beginnt also bereits hier, beziehungsweise 1948, der erste Zyklus. Verlässliche statistische Daten liegen aber erst seit 1950 vor. Einiges spricht dafür, den sechsten Zyklus erst 2004 als beendet anzusehen, da die Erholung zunächst wenig stürmisch verlief und die konjunkturelle Entwicklung durch eine Seitwärtsbewegung gekennzeichnet war. Eine Analyse der Quartalszahlen zeigt jedoch, dass der untere Wendepunkt des Zyklus bereits Mitte 2003 auszumachen ist, was die hier vorgenommene Datierung rechtfertigt. Im zweiten Quartal 2006 betrug das Wachstum des BIP preisbereinigt 1,5%, im dritten Quartal aber nur noch 0,7%. Im produzierenden Gewerbe halbierte sich die Wachstumsrate im zweiten Halbjahr ebenfalls gegenüber dem ersten Halbjahr 2006. Dies spricht dafür, das Ende des Aufschwungs bereits Mitte 2006 anzusetzen. Dieser geht davon aus, dass sich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in langen Zyklen („Wellen“) von ca. 55 Jahren vollzieht und dass jeder Zyklus einem technologisch begründeten Schema von „Aufschwung“, „Ernte“, „Abschwung“, „Krise“ und „Erholung“ folgt (vgl. Hedtke 1990; Gebicke 1997; Ruben 2008). Hiervon ausgehend lässt sich mühelos eine Periodisierung der kapitalistischen Ära, nach Auffassung einiger Autoren sogar der Weltgeschichte, vornehmen: Der erste Zyklus (ca. 1790–1844) wäre danach die Etappe der Industrialisierung, der zweite Zyklus (ca. 1845–1896) die Etappe des klassischen Industriekapitalismus. Den dritten Zyklus (ca. 1897–1951) könnte man mit Rosa Luxemburg als „Kolonialisierungskapitalismus“ bezeichnen. An ihn schließt sich ein vierter Zyklus an (1952–2007), die „fordistische“ Etappe des Kapitalismus. Die Aufstiegsperiode umfasst den Zeitraum bis 1974, die Abstiegsphase die Zeit danach bis etwa 2008. Von den 30,32 Billionen USD Marktkapitalisierungsverlust entfallen 8,2 Billionen auf die USA, 2,84 Billionen auf China, 2,06 Billionen auf Großbritannien und 1,05 Billionen USD auf Deutschland („Verbranntes Aktienvermögen“, 18.10.2008; nach „http://wirtschaftsquerschuss.blogspot.com/search?q“). Die Finanzaktiva umfassen Bankeinlagen, Schuld- 42 verschreibungen und Aktien. Die Bankaktiva und die Schuldverschreibungen werden jeweils auf rund 75 Billionen USD geschätzt, die Börsenkapitalisierung betrug Ende 2007 rund 50 Billionen USD (vgl. Deutsche Bundesbank 2008: 16). Darüber hinaus zirkulieren auf den Finanzmärkten verschiedene Formen von Derivaten. Ihr Gesamtumfang wird für Ende 2007 auf rund 600 Billionen USD geschätzt (Bischoff 2008: 42). Hierbei handelt es sich um abgeleitete Finanzprodukte, die weder Geld noch Geldkapital sind, aber mitunter einem sehr weit gefassten Liquiditätsbegriff zugerechnet werden. 17 „Alle diese Papiere“, schreibt Karl Marx, „stellen in der Tat nichts vor als akkumulierte Ansprüche, Rechtstitel, auf künftige Produktion, deren Geld- oder Kapitalwert entweder gar kein Kapital repräsentiert, wie bei den Staatsschulden, oder von dem Wert des wirklichen Kapitals, das sie vorstellen, unabhängig reguliert wird“ (Marx 1970: 486); was für Aktien gilt. Literatur Abelshauser, Werner (2004): Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München Abelshauser, Werner (2005): Die Wirtschaft des deutschen Kaiserreichs: Ein Treibhaus nachindustrieller Institutionen. In: Windolf (Hg.), S. 172-195 Aglietta, Michel (2000): Ein neues Akkumulationsregime. 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Einige sind davon überzeugt, manche hoffen, andere befürchten es. Krise, vom altgriechischen Verb „krinein“ abgeleitet (trennen, unterschieden), bedeutet, dass ein Wendepunkt erreicht ist, die Situation schwieriger und gefahrvoller wird. Zu Beginn des Jahres 2009 häufen sich die Alarmzeichen: Mehr als 20 Prozent gehen die Umsätze des verarbeitenden Gewerbes im Februar 2009 im Vergleich zum Vorjahr zurück. Der Umsatz der Autohersteller und ihrer Zulieferer sinkt sogar um 40 Prozent. Die Zahlen markieren einen tiefen Einschnitt. Nicht wenige meinen, dass die Häufung missliebiger Zustände und deren Dimensionen eine allgemeine Krise des kapitalistischen Marktsystems anzeigen. Der Kapitalismus sei zwanzig Jahre nach dem Ende des sich „real existierend“ nennenden Sozialismus ebenfalls gescheitert. Zumindest treffe dies auf die gegenwärtig dominierende Art des Kapitalismus zu. Jeder könne sehen, dass die Marktwirtschaft Probleme hervorbringe, die sie nicht lösen kann. Wie oft schon wurden angesichts zyklischer Überproduktionskrisen Grabreden auf das System verfasst? Ebenso häufig, wie Jubelgesänge über das Ende jeglicher Krisen erklangen, wenn sich die Wirtschaft nach den großen Flauten periodisch erholte, Investitionen, Produktion und Beschäftigung wieder anzogen. Schwankungen der Wirtschaftsaktivität sind so alt wie das kapitalistische System. Das Auf und Ab der Produktion, der Beschäftigung und der Preise, die Purzelbäume der Börsenkurse werden seit jeher begleitet vom Wechsel der Gemütslage. Dem euphorischen Übermut der Aufschwungzeiten (der Konjunkturzyklus ist endgültig tot) folgt der Katzenjammer. Von „himmelhoch jauchzend“ bis „zu Tode betrübt“ ist der Weg kurz. Auch diesmal sei alles anders! Und es werde nie wieder so, wie es war! Jede Krise ist auf eine spezifische Weise neu. Sie weist Merkmale auf, die vorangegangene nicht besaßen. Und doch wiederholen sich in ihr nur die alten, bekannten Vorgänge. Beim „einfachen“ Bürger kam die Krise, wie in den Jahren zuvor der Aufschwung, zunächst (noch) gar nicht an. Das Weihnachtsgeschäft 2008 lief nicht schlechter als sonst. Buch- und Automobilmessen spürten keinen Einbruch. Die Cebit verzeichnete zwar einen Besucherrückgang, die Jecken in den Fastnachtshoch- Vom Marktversagen zum Staatsversagen – alles Krise oder was? burgen aber feierten ausgelassen wie eh und je. Nichts war zu spüren von einer Karnevalskrise, es sei denn, man betrachtet das Treiben der Narren selbst als Teil eines kulturellen Tiefstandes. Dass die Blasen an den Warenbörsen platzten, hatte zeitweilig sogar sein Gutes. An den Tankstellen zahlte man wieder moderate Preise. Doch Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit nahmen zu, die Auftragseingänge gingen dramatisch zurück; die Frühindikatoren der Konjunkturentwicklung ließen Schlimmes erahnen. Was am aktuellen Krisenkonglomerat ist neu? Sicher nicht die weltweite Vernetzung der Krisenerscheinungen. Anderenfalls hätte man die Rezession 1929–1933 nicht Weltwirtschaftskrise nennen dürfen. Neu scheinen die synchrone, auf den ersten Blick zufällige Häufung der wechselseitig miteinander verbundenen Krisen, deren Ausmaße sowie die vermeintliche Radikalität und Konsequenz staatlicher Gegensteuerung zu sein. Kern der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise ist die zyklische Überproduktion. Abgesehen von diversen Besonderheiten ist jene auch die Wurzel der Finanzkrise: Bei einem Wachstumsbedarf im güterwirtschaftlichen Bereich hätte es vermutlich nicht zu einer Überschwemmung der Finanzmärkte kommen können. Die von renditegierigen Anlegern kreditfinanzierten Investitionen in den Immobilienmarkt führten zu Überangebot und Preissturz, der bewirkte, dass Schuldner ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen konnten. Nicht benötigtes Warenkapital überflutet die Märkte. Auch deshalb mussten Immobilien- und Rohstoffblasen platzen. Rückwirkend erhöhen die Kurseinbrüche an den Börsen die Überproduktion, weil sie Lust und Möglichkeiten der Investition und des Konsums beschränken. Über kaum ein anderes wirtschaftswissenschaftliches Problem schrieben die Ökonomen so viel und so viel Unterschiedliches wie über das Konjunkturphänomen. Die Ansichten über dessen Ursachen reichen von diversen monokausalen Begründungen über multikausale Erklärungen bis zur Meinung, wirtschaftliche Schwankungen seien ein stochastischer Prozess, der sich tiefgründigen Deutungen entziehe. Die phänomenalistischen Krisenbeschreibungen 45 bewegen sich in der Welt des sinnlich Wahrnehmbaren, erfassen dort kausale Ketten, scheitern aber daran, die vielfältigen Erscheinungen auf ihr Wesen zurückzuführen. Immerhin sind die Deutungsversuche so zahlreich, dass sich Systematisierungen lohnen. Neben exogenen (außenwirtschaftlichen, nichtökonomischen) werden endogene (innenwirtschaftliche, ökonomische) Krisenursachen unterschieden. Es gibt güter- und geldwirtschaftliche Theorien, psychologische und mechanistische Auffassungen, Überinvestitions- und Unterkonsumtionsmodelle sowie (wahl-)politische Deutungen. Woran liegt es, dass die theoretische Ökonomie das Problem derart kontrovers diskutiert? Offenbar bereiten ihr die Totalität und Komplexität ihres Untersuchungsgegenstandes Schwierigkeiten. Sie fördert zuhauf brauchbares Partialwissen zutage, vermag dieses aber nur selten in ganzheitliche Betrachtungsweisen einzubinden. Die Welt ist komplex, unsere Vorstellungen von ihr sind es nicht. Die Naturwissenschaften haben nach einfachen, universalen und zeitlosen Gesetzen gesucht. Die Wirtschaftswissenschaften ahmten dies nach. Auch sie wollten im Glanz eleganter Modelle erstrahlen und beweisen, dass sie an Exaktheit anderen Wissenschaften in nichts nachstehen. Die dabei in Kauf genommene Reduktion führte sie in eine Sackgasse. Man kann darüber streiten, ob Überproduktionskrisen ein Defekt im Regulierungssystem sind. Ganz bestimmt aber sind sie ein notwendiges Element des Marktmechanismus. Sie resultieren letztlich daraus, dass der gesellschaftliche Charakter der Produktion sich im Widerspruch zur privaten Gestaltung dieses Prozesses befindet. Der Verwertungsdrang zieht Überakkumulation zwangsläufig nach sich. Überakkumulation und Überproduktion sind nicht Ausdruck des Versagens der Märkte, sondern sie sind untrennbarer und notwendiger Bestandteil privatkapitalistischer Marktregulierung. Von einem Versagen ließe sich nur sprechen, wenn der Marktmechanismus Ungleichgewichte a priori ausschließen könnte. Genau das aber kann er nicht. Das Ergebnis von Prozessen kann man nur daran messen und bewerten, was erreichbar ist, nicht an Unerreichbarem. Das Ziel der maximalen 46 privaten Kapitalverwertung führt selbst bei akkurater Marktforschung der Unternehmen zu periodischen Angebotsüberschüssen. Spontan und nachträglich werden gesamtwirtschaftliche und zweigliche Ungleichgewichte durch massenhafte Kapitalentwertung tendenziell beseitigt. Dualität und Funktionalität des marktwirtschaftlichen Regulierungsmechanismus sind offensichtlich: Einerseits zeigen zyklische Krisen, wie ökonomische Widersprüche eskalieren. Andererseits stellen sie die Art und Weise dar, wie diese Disproportionen für eine gewisse Zeit überwunden werden. Die Krise ist nicht nur ein Indiz dafür, dass sich Ungleichgewichte verschärft haben. Sie ist auch die Form, in welcher der Marktmechanismus zum Gleichgewicht zurückzukehren versucht. Die temporäre Beseitigung oder Minderung der Disproportionalität in der Rezession ist eine Voraussetzung für den Neubeginn und die Anpassung der Strukturen. Insofern haben diejenigen recht, die in der Krise auch die Chance sehen, verkrustete, überholte Ordnungen aufzubrechen und Neues zu wagen. Schumpeters pastorales Wort von der „schöpferischen Zerstörung“ erhält hieraus seinen rationalen Sinn. Man sollte jedoch nicht übersehen, dass Zerstörung zunächst keineswegs „schöpferisch“ ist. Denn sie verwüstet Industrien, vernichtet Unternehmen und ruiniert Existenzen. Manchmal kann sie den Boden für Neues und Besseres bereiten. Dies kann lange dauern und auch misslingen, wie die Entwicklung in Ostdeutschland nach der Wende zeigt (vgl. Busch 2002; Busch et al. 2009). Wachstumsverlangsamung = Wachstumskrise? Überproduktion und Überakkumulation bedeuten, dass die zahlungsfähige Nachfrage zu gering ist, das Produzierte zu übernehmen. Insofern scheint der Gedanke sinnvoll zu sein, die Krise zu überwinden und langfristiges Wachstum zu garantieren, indem die Nachfrage gestützt wird. Die „Abwrackprämie“, Instrument organisierter Vergeudung und ökologisch ein Fehlgriff, ist bereits eine Klaus Müller konjunkturpolitische Erfolgsgeschichte. Mit ihr konnte der Neuwagenkauf angekurbelt, der Einbruch in der Automobilbranche aber nicht verhindert werden. Das Problem besteht darin, dass die weltweiten Automobilbaukapazitäten viel größer sind als die Nachfrage nach Fahrzeugen. An diesem Widerspruch ändert auch die „Abwrackprämie“ nichts. Sie kann die Nachfrage nicht erhöhen, sondern nur zeitlich vorziehen. In den Konjunkturprogrammen sind alle den Verbrauch stützenden Maßnahmen geeignet, den Weg aus der Rezession zu finden. Mehr soziale Konsequenz wäre jedoch wünschenswert gewesen. Angemessene Mindestlöhne, die Aufstockung der Hartz IV-Bezüge und des Arbeitslosengeldes, Rentenerhöhungen, generell die Anhebung der konsumstarken Niedrigsteinkommen hätten die Nachfrage beleben können. Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen zwischen 900 € und 1.300 € konsumieren davon 97 Prozent, Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen zwischen 5.000 € und 18.000 € nur 59 Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt, Gruppe VIII: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003). Da niedrige Einkommen hochgradig konsumtiv sind, liegt der Gedanke nahe, durch Umverteilung zu deren Gunsten die Nachfrage-, Konsum- und Wachstumsschwäche zu mildern (vgl. Hickel 1999). Das Volkseinkommen stieg von 1991 bis 2007 von 1.192,57 Milliarden € auf 1.823,66 Milliarden €, das heißt um 53 Prozent. Die Nettolohnquote (Anteil der Löhne nach Abzug der Steuern und Sozialabgaben am Volkseinkommen) ging in den Jahren 1991 bis 2006 von 40,3 Prozent auf 34,6 Prozent zurück, während die Nettogewinnquote1 von 25 Prozent auf 28,8 Prozent stieg (Schäfer 2007: 580). Wäre die Nettolohnquote im angegebenen Zeitraum konstant geblieben, hätte der Zuwachs des privaten Verbrauchs bis zu etwa 100 Milliarden € höher ausfallen können. Dies wäre ein nicht zu unterschätzender Wachstumsimpuls gewesen. Konjunkturelle Schwankungen verbinden sich in hoch entwickelten Volkswirtschaften mit einem tendenziellen Rückgang des langfristigen Wirtschaftswachstums. Dies wird in Wirtschaftskommentaren als besorgniserre- Vom Marktversagen zum Staatsversagen – alles Krise oder was? 47 gend beklagt. Man kann das verstehen. Vielen unrealistisch. Je stärker die Volkswirtschaft gilt das Wirtschaftswachstum, gemessen am eines Landes ist, desto höher muss der absoAnstieg des realen Bruttoinlandsprodukts pro lute Zuwachs sein, um das gleiche prozentuale Kopf der Bevölkerung, als Deus ex machina der Wachstum zu erreichen, bzw. desto kleiner Moderne. Man glaubt, mit ihm die brennenden wird der prozentuale Zuwachs, um konstante absolute Zuwächse zu produzieren. Daher Probleme der Zeit lösen zu können. In einer jüngeren McKinsey-Studie wird muss das Wachstumspotenzial im Verlaufe behauptet, die BRD könne die Wende „zu einer des Wachstums abnehmen. Die abnehmenden Wachstumsraten dieser dynamischen Volkswirtschaft“ schaffen. Dazu werde ein Wachstum von drei Prozent pro Volkswirtschaften sind kein Krisensignal oder Jahr benötigt, was nicht unrealistisch sei. Eine Anlass zur Beunruhigung. Sie zeigen, dass die Weltwirtschaft mache mit rund vier Prozent gestiegene Wirtschaftskraft, die sich im BIPNiveau äußert, Folge hoher Wachstumsraten Wachstum vor, was geht.2 Deutschland erzeugt ein Bruttoinlandspro- der Vergangenheit, selbst zur Ursache des dukt (BIP) von rund 2,5 Billionen €.3 Ein jähr- Rückgangs dieser Raten wird. liches Wirtschaftswachstum von drei Prozent Es fehlt nicht nur zunehmend der (Umentspricht einem Zuwachs von 75 Milliarden €. Dieser könnte sich z.B. in einer zusätzlichen (!) Produktion von drei Millionen Mittelklassewa- Tabelle 1: Durchschnittliche jährliche Wachsgen äußern. Stoßstange an Stoßstange gereiht, tumsraten des preisbereinigten Bruttoinlandsbeanspruchte diese Menge eine Strecke von produkts Deutschlands, in Prozent 12.000 km. Selbst in Viererreihe aufgestellt, 1951–1959 8,1 würde dafür die Entfernung zwischen Berlin 1960–1969 4,8 und Lissabon nicht reichen. 1970–1979 3,2 Weshalb und wozu sollte eine alternde, 1980–1989 1,9 konstante oder schrumpfende Bevölkerung bei 1990–1999 2,3 sinkenden oder stagnierenden Realeinkommen 2000–2007 1,4 der abhängig Beschäftigten und zunehmender 2008 1,3 konsumtiver Übersättigung der Bezieher von 2008, 4.Vj. -1,6 hohen, vor allem Gewinneinkommen4 diesen Quelle: (http://www.bundesbank.de/statistik/ gewaltigen Zuwachs benötigen? Bei einem jährstatistik_zeitreihen.php?open=&func=row&t lichen Wachstum von drei Prozent verdoppelt r=JJ5000& year= (14.07.2008; eigene Berechsich die Ausgangsgröße in rund 24 Jahren (das in nungen); Deutsche Bundesbank: Monatsbericht Deutschland erwirtschaftete BIP betrüge dann März 2009, S. 61* fünf Billionen €) und steigt in 72 Jahren auf das Achtfache Abbildung 1: Konjunkturwellen in der Bundesrepublik Deutsch(BIP = 20 Billionen €). Selbst land. Jährliche Wachstumsraten des preisbereinigten Bruttowenn es gelänge, die über die inlandsprodukts, in Prozent ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung erzwungene Unterkonsumtion5 eines 20,0% Teils der Bevölkerung noch 15,0% als Wachstumspotenzial zu 10,0% mobilisieren, wozu eine Umverteilung von oben nach 5,0% unten erforderlich wäre: Die 0,0% Vorstellung vom prozentual -5,0% konstanten und damit expo1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 nentiellen Wachstum ist für die hoch entwickelten Länder 48 welt-)Raum, sondern auch die (Konsum-)Zeit, um immer mehr Güter immer schneller zu benutzen und zu verbrauchen. Der Vergleich mit wirtschaftlich zurückgebliebenen Ländern, die relativ stärker wachsen, ist wenig aussagekräftig. Bei geringeren Ausgangswerten genügen schon kleine absolute Zuwächse, um hohe Wachstumsraten zu erreichen. Wächst das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um ein Prozent, müsste es in Ländern wie Nigeria, Rumänien, Chile, Israel z.B. jeweils um etwa zwanzig Prozent steigen, damit sich der gleiche absolute Zuwachs ergibt (berechnet nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_ L%C3%A4nder_nach_Bruttoinlandsprodukt). Eine Sortierung der Länder auf der wirtschaftlichen Erfolgsskala anhand der Wachstumsraten ist daher unsinnig.6 Deshalb sind übertriebene Erwartungen an die Folgen einer notwendigen Stärkung der Massenkaufkraft und Umverteilung zu niedrigen, konsumintensiven Einkommen für Wachstum und Beschäftigung unangebracht. Je höher Einkommen und Konsum, desto näher rücken die Sättigungsgrenzen. Mit zunehmendem Einkommen schwächt sich der Konsumeffekt ab. Die steigende Ersparnis wird dann nicht mehr durch Investitionen auf einem zur Vollbeschäftigung erforderlichen Niveau absorbiert. Dies ist für die Stagnationstheoretiker der 1940er Jahre John Maynard Keynes und Jean Fourastié der Kern der unvermeidlichen Wachstumsschwäche (vgl. Zinn 2000: 112). Die Nachfrage künstlich zu erhöhen, indem die Geldschleusen des Wirtschaftskreislaufs geöffnet werden, kann dieses Problem nicht lösen. Geld- bzw. Einkommenszuwachs können die Nachfrage bis zur Sättigungsgrenze, aber nicht darüber hinaus anheben. Nachfrageerhöhungen durch die Vergrößerung des verfügbaren Einkommens sind ein wirksames kurzfristiges Instrument, um konjunkturelle Angebotsüberschüsse bei unbefriedigten Bedürfnissen abzubauen. Die Vorstellung einer langfristig vorauseilenden Nachfrage, die Angebotswachstum auslösen und erhalten könnte, übersieht akkumulations- und kreislauftheoretische Zusammenhänge. „Gleichgültig, wie sich die Nachfrage als Folge bestimmter Arbeitsmarktsituationen, von Tarifabschlüssen Klaus Müller oder staatlichen Einflüssen entwickelt, die Unternehmen investieren oder steigern, solange die Produktion, bis am Markt eine Überproduktion wirksam wird.“ (Leibiger 2005: 9) Einkommenszuwachs und Nachfrageanstieg können nur kurzfristig Angebotsüberschüsse ausgleichen. Langfristig kann dies nicht die Lösung sein, weil die Kapitalakkumulation immer wieder über die Nachfrageentwicklung hinausschießt. In weitgehend gesättigten Nationalökonomien mit alternden und schrumpfenden Bevölkerungen sowie angesichts zunehmender Belastung der natürlichen Umwelt und der Endlichkeit verfügbarer Ressourcen ist die ständige Erhöhung der Gütermenge einer Volkswirtschaft, gemessen am realen Bruttoinlandsprodukt, weder notwendig noch wünschenswert. Die globalen makroökonomischen Bedingungen für unternehmerisches Wachstum verschlechtern sich tendenziell. Gegen den Trend können sie sich aber temporär auch verbessern. Beispielsweise könnte eine neue Basisinnovation, die einige Autoren ausgehend vom Grundbedürfnis nach ganzheitlicher Gesundheit in der Bio-/Nanotechnologie sehen (Siemon 2007: 571), die Wirtschaft auf einen langfristigen Aufwärtspfad führen, der nur zeitweise von rezessiven Abschwüngen unterbrochen wird. Andere halten es für möglich, dass Bemühungen zur Verhinderung der Klimakatastrophe den Übergang in eine solare, schadstoffarme und nachhaltige Energiephase einleiten, die zugleich einen länger anhaltenden Wirtschaftsaufschwung auslösen könnte. Stünde ein sechster Kondratieff-Zyklus7 unmittelbar bevor – und nur dann –, wäre die Aussicht auf zunehmende Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts für eine gewisse Zeit nicht abwegig, wenn auch keineswegs gesichert. Bis sich die vielleicht trügerische Hoffnung erfüllt, dass Basisinnovationen eine neue lange Welle entfachen, sind die Steigerung der Nachfrage durch eine Umverteilung der Einkommen zugunsten der Lohneinkommensbezieher und staatliche Investitionen zur Kompensation des Ausfalls privater Investitionen sinnvoll. Langfristig reicht dies jedoch nicht aus, um Vollbeschäftigung zu erreichen. In den jüngeren Arbeiten von Karl Georg Zinn, Norbert Reuter und anderen Autoren, auf Vom Marktversagen zum Staatsversagen – alles Krise oder was? der Basis der Stagnationsprognose von Keynes begründet und gefordert, gibt es neben temporär wirkenden Maßnahmen der Nachfragebelebung und einer gerechteren Einkommens- und Kaufkraftverteilung, eine „einzige auf Dauer wirksame beschäftigungspolitische Strategie: die Verkürzung der Arbeitszeit“ (Zinn 2008: 16f.). Die langfristige Lösung der Divergenz zwischen Wirtschaftskraft und Produktivität einerseits und sättigungsbedingten Absorptionsgrenzen andererseits zwingt dazu. Schon Karl Marx hatte gegen Zustände gefochten, unter denen die einen zu Überarbeit und die anderen zum Müßiggang gezwungen sind (Marx 1972: 665f.). Eine tägliche Arbeitszeit von drei Stunden (15-Stunden-Arbeitswoche), wie sie Keynes erwartete, ist schon heute trotz schwieriger Umstellungs- und Umstrukturierungsaufgaben prinzipiell möglich. Vor allem ist sie auch unter Wohlstandsgesichtspunkten sinnvoll. Das Ziel muss darin bestehen, eine kurze Vollarbeit und Freizeit für alle zu erreichen. Automatisch wird sich dies nicht einstellen. Aus Kostengründen tendieren Unternehmer dazu, tägliche und Wochenarbeitszeit zu verlängern. Sind Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Vollbeschäftigung ernsthaft gewollt8, bedarf es eines wirtschaftspolitischen strategischen Konzepts, das neue gesetzliche Rahmenbedingungen für Unternehmen setzt. Nur so viel: Es existieren Modelle, die zeigen, dass Arbeitslosigkeit mit Hilfe der Verkürzung der Arbeitszeit reduziert werden kann – ohne Verlust von Nettolohn für die Beschäftigten, ohne Belastung für die Unternehmen und mit Vorteilen für die öffentlichen Kassen (vgl. Ebel/Kühn 2003; Bontrup 2005). Arbeitszeitverkürzung kann bei vollem Lohnausgleich erfolgen.9 Staat und Wirtschaft Ist angesichts lautstarker Forderungen vor allem aus dem Bankenbereich nach staatlichen Rettungsschirmen die neoliberale Mär grandios gescheitert, wonach die Wirtschaft am besten funktioniere, wenn sich der Staat möglichst wenig in deren Abläufe einmische? Man erinnere sich der Häme, mit der Monopole und ihre Apologeten den Staat 49 überhäufen, solange es ihnen gut geht. Man denke an die regelmäßigen Vorwürfe an den Staat: Er sei der schlechtere Unternehmer, ihm mangele es an wirtschaftlicher Kompetenz und an Unternehmergeist. Inmitten des Desasters nun der Hilfeschrei: Staat, rette uns, sonst bricht alles zusammen! Der Gerufene reagiert: Wann jemals hat es seit Roosevelts „New Deal“ in den 1930er Jahren eine derart rasche Verabschiedung von Konjunkturprogrammen gegeben? Seitdem hatte der wirtschaftswissenschaftliche Mainstream solche Maßnahmen stets als Beleg wirtschaftspolitischer Unvernunft verunglimpft. Der Markt werde es schon richten. Und nun scheint ohne den Staat nichts zu gehen. Ein dreister Sinneswandel? Da ist von Beginn an viel Heuchelei im Spiel: Die Eliten der Privatwirtschaft dominieren den Staat längst, auch in Aufschwungzeiten. Der Staat muss stets die Bedingungen der Profitaneignung gewährleisten. Personalunion, Lobbyisten, Vertreter der Wirtschaft in den Parlamenten, Parteienfinanzierung, Politiker in Aufsichtsräten und Vorständen, als hochdotierte Unternehmensberater und Anteilseigner an großen Unternehmen, und „freundschaftliche“ Beziehungen zwischen den Granden aus Politik und Wirtschaft – das ist das Beziehungsgeflecht, das Interessendurchsetzung sichert. So entwickelt die Rüstungsindustrie neue Waffensysteme und drückt sie beim Gesetzgeber durch. So wurde auch die Finanzkrise erst wirtschaftspolitisch ermöglicht. Denn die „maßlose Renditejagd des Kapitals und (der) Bruch zwischen Finanz- und Realwirtschaft“ wurden durch die Gesetzgebung der Staaten geduldet und stimuliert (Luft 2008: 6). Sozialstaatliches Engagement dagegen wird als unzulässiger Eingriff in die Hoheitsrechte des freien Unternehmertums angeprangert, als sozialistische Misswirtschaft verteufelt und als unrealistische Sozialromantik gegeißelt. Die staatliche Unterstützung der Profitaneignung dagegen kann nicht groß genug sein. Sie wird unter dem Vorwand des Gemeinwohls unverblümt gefordert. Auch in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs setzen Großkapitale ihre Absichten mittels staatlicher Autorität um. Nur redet man nicht gern darüber: Lohn- und Steuersenkungen, 50 Subventionen für Unternehmen, Sonderabschreibungsmodelle, Disziplinierung der Arbeitslosen und Investitionsförderung verhelfen Großunternehmen zu Rekordgewinnen, retten aber keine oder nur selten Arbeitsplätze, allenfalls solche, von denen niemand leben kann (Minijobs). Die großen Konzerne, ausgestattet mit überreichlicher Liquidität, werden bei jeder Investition, die sie durchführen, mit großzügigen Subventionsgeschenken bedacht. An den damit erwirtschafteten Gewinnen beteiligt sich der von ihnen abhängige und gesteuerte Staat generös nicht. Auch in konjunkturellen Aufschwungphasen hilft er den Monopolen, Profite zu erwirtschaften. Für die engen Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen gibt es objektive Gründe. Selbst die neoliberale Wirtschaftstheorie, die unentwegt für „mehr Markt“ und „weniger Staat“ einzutreten scheint, wartet mit theoretischen Begründungen der wirtschaftspolitischen Funktion des Staates auf. Dieser müsse die bestmögliche Allokation der Ressourcen unterstützen und die wirtschaftliche Stabilität sichern helfen. Darin zeigt sich im Gegensatz zu den vordergründigen Verlautbarungen über die wundersame Heilungskraft des Marktes das Eingeständnis, dass der Markt seine Hausaufgaben schlecht und unvollkommen erledigt. Die Anforderungen an die ökonomische Funktion des Staates sind deshalb über alle Konjunkturphasen hinweg größer geworden. Erstens: Der wissenschaftlich-technische Fortschritt wirbelt volks- und betriebswirtschaftliche Strukturen durcheinander. Aussichtsreiches ist in der Regel mit Risiken behaftet. Der Staat unterstützt Strukturwandel und Produktivkraftentwicklung, indem er den Unternehmen finanzielle Mittel zuleitet und Risiken abfedert. Zweitens: Mit dem Strukturwandel wächst das Erfordernis nach einer vorausschauenden ausgewogenen Entwicklung. Wachsende Anforderungen an eine harmonische Gesamtentwicklung erhöhen den Bedarf an zentraler Steuerung und Abstimmung. Drittens: Die zunehmende Bedeutung der Wissenschaft für eine moderne, effiziente Produktion ist damit verbunden, dass die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung Klaus Müller steigen. Das Risiko dieser Aufwendungen ist vergleichsweise hoch. Unternehmen fordern staatliche Unterstützung dieser Prozesse. Viertens: Auch die Investitionstätigkeit unterliegt neuen Bedingungen und Anforderungen. Die Zunahme des Anlagekapitals erhöht den Sicherungsbedarf. Die Verwertung der steigenden Kapitalvorschüsse soll den Zufälligkeiten der Schwankungen von Angebot und Nachfrage weitgehend entzogen werden. Staatliche Investitionshilfe für Unternehmen ist so zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Fünftens: Strukturwandel und Produktivitätsfortschritte stellen neue Anforderungen an die Arbeitskräfte. Soziale Absicherungen, Qualifikationen, Umschulung, Fortbildung, Mobilität und Disponibilität gewinnen an Bedeutung und überfordern das Privatkapital. Sechstens: Die Bedeutung der allgemeinen Grundlagen der gesellschaftlichen Produktion, der sogenannten Infrastruktur, für das Funktionieren der kapitalistischen Reproduktion wächst: Wasserversorgung, Energiewirtschaft, Kommunikation, Bildung, Wissenschaft, Gesundheitswesen, Umweltschutz, Raum- und Stadtordnung, Entsorgungsprozesse ... Das sind Zweige, die mit staatlicher Hilfe für die Kapitalverwertung in anderen Bereichen entwickelt werden müssen, solange sie selbst nicht oder nur wenig profitabel sind. Der Staat saniert und fördert ihre Entwicklung im Interesse des Gesamtkapitals und reprivatisiert sie, wenn sie genügend Profite abwerfen. Die Sozialisierung der Risiken, Schulden und Verluste sowie die Privatisierung der Profite sind keine neuen Erscheinungen und nicht nur auf Krisenphasen beschränkt. Siebentens: Die zunehmende internationale Verflechtung der Volkswirtschaften erhöht den staatlichen Gestaltungs- und Koordinierungsbedarf. Wozu die absolute Freizügigkeit auf den Geld- und Kapitalmärkten führen kann, zeigt die jüngste Finanzmarktkrise eindrucksvoll. Insgesamt führen die genannten Prozesse zu einer höheren Komplexität und Kompliziertheit der gesellschaftlichen Reproduktion. Unter diesen Bedingungen wird der Verwertungsanspruch des privaten Kapitals nicht den spontanen Marktmechanismen allein überlassen. Seine Einlösung wird bewusst und dauerhaft Vom Marktversagen zum Staatsversagen – alles Krise oder was? mit staatlicher Hilfe abgesichert. Dass der Staat in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten um Hilfe gebeten wird und diese auch gewährt, ist kein Sinneswandel, sondern folgerichtige Reaktion seines objektiven Eingebundenseins in die privatmonopolistische Produktion und Interessensphäre. Überforderte Geldpolitik Dreistellige Milliardenzuwendungen an die Verliererbanken des spielwütigen Casinokapitalismus erwecken den Eindruck, der Staat glaube, mit Geld ließe sich alles Übel beseitigen. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 2008, der eloquente, originelle und witzige Querdenker Paul Krugman meint, wenn die Wirtschaft in eine Rezession gerät, dann habe das „schlicht und einfach mit einem technischen und folglich reparierbaren Versagen zu tun ..., nämlich damit, dass der Staat nicht genug Geld druckt“. Und er fügt hinzu: „Ich weiß, dass man diese These leicht für einen Scherz halten mag – nur ist es eben keiner.“ (Krugman 1998: 18, 25, 45, 130, 160). Nein, ein Scherz ist das nicht. Im Versagen des Staates die Krisenursache zu sehen, ist schlicht und ergreifend eine Fehldiagnose. Mangelnde Liquidität allein ist nicht der Hauptgrund der rezessiven Einbrüche. Es reicht deshalb auch nicht, lediglich den Zins zu senken und die Geldschleusen weit zu öffnen, um zu erreichen, dass wieder wirtschaftlicher Frühling einzieht. Entstehen Rezessionen, weil fehlerhafte Unterlassungen geschehen? Wäre es so, müsste man nur alles richtig machen, um konjunkturelle Schwankungen zu vermeiden! Mit derart grobschlächtigen Auffassungen gesellt sich Krugman zu denen, die er zu Recht kritisiert, zu den neoliberalen Schmalspurökonomen, den großen Vereinfachenden. Doch weiß er auch – ohne je auf den Gedanken zu kommen, dies auf sich selbst zu beziehen: „Wir sollten freilich nie überrascht sein, aus Prominentenmund ökonomischen Unfug zu vernehmen“ (ebd.: 62). Der große John K. Galbraith hat nicht glauben können, dass man nur an den Stellschrauben Geldmenge und Zins drehen müsse, 51 um die Volkswirtschaft auf Wachstumskurs, Wohlstand und sozialen Ausgleich zu justieren. Ja, mehr noch, ihm war bewusst, dass die Zentralbank gar nicht in der Lage ist, Zins und Geldmenge virtuos zu steuern. „Der Glaube, etwas so Komplexes, Heterogenes und seinem Wesen nach für jeden einzelnen Menschen so Wichtiges wie Geld lasse sich durch gründlich erörterte, aber einfache Entscheidungen beeinflussen, die in einem gefälligen und unauffälligen Gebäude der amerikanischen Hauptstadt unter den ehrfurchtgebietenden Porträts der Amtsvorgänger gefällt werden [gemeint sind die Präsidenten der US-Zentralbank – Verf.] entspringt nicht nüchternem Realitätssinn, sondern frommem Wunschdenken. So viel inbrünstige Realitätsverleugnung ist schier unglaublich.“ (Galbraith 2005: 89; vgl. auch Müller 2007; 2008). Zins und Geldmenge sind die Wirkung einer langen Kette von Ursachen und sie sind die Ursache einer großen Kette von Wirkungen. Sie sind eingebunden in das ökonomische Geflecht von ökonomischen Variablen. Multikausalität und Komplexität überfordern die theoretische Ökonomie. Diese wurstelt sich monokausal durch die selbstkonstruierte ökonomische Scheinwelt. Sie ignoriert die typischen Eigenschaften komplexer volkswirtschaftlicher Systeme, deren Funktionsweise sie zu beschreiben und zu erklären vorgibt. Eine in sich geschlossene Geldtheorie, die das komplexe, widersprüchliche und wechselseitige Zusammenwirken von monetären und nichtmonetären Faktoren erklärt, existiert nicht. Sie ist in absehbarer Zeit auch nicht zu erwarten. Dabei widerspiegelt der unbefriedigende Zustand der Geldtheorie nur den beklagenswerten Zustand der Wirtschaftstheorie überhaupt. Transmissionskonzepte verfolgen einseitig den Weg eines zentralbankpolitischen Geldmengen- oder/und Zinsimpulses hinein in den güterwirtschaftlichen Bereich. Erstaunlich dabei ist, dass die Frage, wie umgekehrt autonome Veränderungen im letzteren auf die monetäre Sphäre wirken, dass diese „umgekehrte“ Kausalität schlichtweg ausgeblendet wird. Bedenklich muss dies auch deshalb sein, weil im Wechselspiel zwischen monetären und nichtmonetären Bereichen 52 dem letzteren auch in einer Geldwirtschaft Priorität gebührt. Am Beispiel einer konjunkturellen Krise soll der Anpassungsprozess zwischen beiden Sphären gezeigt werden, ohne dabei den rationalen Kern der herkömmlichen Geldwirkungslehren zurückzuweisen und zu behaupten, dass Aufeinanderfolge und zeitlicher Ablauf ausschließlich auf die zu zeigende Weise vonstatten gehen müssten. Erstens: Zyklische Überproduktion von Gütern, Überakkumulation von Kapital, das relative Zurückbleiben der zahlungsfähigen Nachfrage (Reallohnrückgang) bei hohem Zinsniveau (der Aufschwung wurde vor allem durch Kredite finanziert) führen dazu, dass die Umsätze zurückgehen und die Produktion eingeschränkt wird. Zweitens: Die zurückbleibende Nachfrage nach Konsumgütern und Dienstleistungen führt dazu, dass auch die Nachfrage nach Investitionsgütern, Vorprodukten bzw. Vorleistungen abnimmt. Investitionen sinken, und dies, ist die Multiplikatortheorie richtig, sogar überproportional. Drittens: War der zu Ende gegangene Aufschwung mit einer spekulativen Blasenbildung an den Warenbörsen verbunden (wie bis 2008), so sind die negativen Signale aus dem Güterbereich ein Grund dafür, dass die Spekulanten Angst vor der eigenen Courage bekommen und verstärkt verkaufen. Der „Herdentrieb“ setzt ein und bewirkt, dass die Blasen platzen. Der Verlust an Börsenwerten wirkt negativ auf Konsumund Investitionsbereitschaft zurück. Viertens: Die flächendeckenden Überschüsse auf den Güter- und Faktormärkten bewirken, dass die Nachfrage der produktiven Investoren nach Bankkrediten sinkt. Der gesunkene Bedarf an fremden Finanzierungsmitteln resultiert aus dem Mengenrückgang auf den Gütermärkten und daraus, dass die Abnahme der wirtschaftlichen Aktivität damit verbunden ist, dass die Preissteigerungen geringer werden, Preise partiell auch sinken. Kredite werden nicht nachgefragt, weil mehr Geld in dieser Situation nicht benötigt wird. Fällt dies alles mit einer Kredit- bzw. Subprime-Krise10 wie gegenwärtig zusammen, können faule Kredite von den Schuldnern nicht zurück- Klaus Müller gezahlt werden. Zugleich gibt es allerdings einen hohen Geldbedarf im Finanzbereich. Die den angeschlagenen Banken vom Staat zugeschanzten Milliardenbeträge werden von Kapitaldienstverpflichtungen aufgesaugt. Das güterwirtschaftliche Problem lösen sie nicht. Produktive Geldkreisläufe kommen so nicht in Gang. Fünftens: Auf die abgeschwächte Nachfrage der Nichtbanken nach Krediten reagieren die Geschäftsbanken, indem sie die Sollzinsen senken. Der Rückgang dieser Zinsen ist Wirkung der gesunkenen Kreditnachfrage. Mit ihm mögen die Banken die Hoffnung verbinden, den Nachfragerückgang abbremsen zu können, denn je niedriger die Nachfrage nach Krediten, desto geringer der Bankenertrag. Sechstens: Die abnehmende Möglichkeit, bei sinkenden Sollzinsen Kredite gewähren zu können, senkt den Refinanzierungsbedarf der Banken. Siebentens: Der rückläufige Refinanzierungsbedarf der Geschäftsbanken, hervorgerufen durch das Nachlassen der Investitionstätigkeit, muss bei gegebenem Angebot am Geldkapitalmarkt die Kapitalmarktzinsen sinken lassen. Achtens: Der Rückgang der Zinsen am Geldkapitalmarkt kann durch Arbitragevorgänge auf den Geldmarkt überschwappen. In dem Maße, wie die Kapitalmarktzinsen sinken, wird es lohnenswert, Überschüsse am Geldmarkt anzubieten, wodurch auch die Zinsen dort sinken werden. Neuntens: Der Rückgang der Marktzinsen verbessert die Refinanzierungsbedingungen an den Geld- und Kapitalmärkten. Er veranlasst die Geschäftsbanken, verstärkt das Kreditangebot dieser Märkte zu nutzen und Angebotsüberschüsse zur Zentralbank zu verlagern. Diese Veränderungen führen dazu, dass sich die Zentralbanken früher oder später zur Senkung ihrer Zinsen entschließen werden. Die Leitzinssenkungen der Zentralbanken sind eine Reaktion auf Impulse, die von den Märkten kommen. Die Leitzinsen in den USA und Japan sind inzwischen faktisch bei null Prozent angekommen. Sie bewirken trotzdem zunächst nichts, weil sie am Ende einer Wirkungskette stehen, also das Ergebnis Vom Marktversagen zum Staatsversagen – alles Krise oder was? von Anpassungen sind. Die Hoffnung, dass die Banken mehr Kredite vergeben, nur weil sie sich zu null Prozent bei ihren Notenbanken refinanzieren können, erfüllt sich so lange nicht, wie die Bedingungen für eine Kreditaufnahme im güterwirtschaftlichen Bereich noch nicht herangereift sind. Zehntens: Während des Abschwungprozesses kommt es zu positiven (die Rezession abschwächenden) Rückkopplungseffekten. Die Verringerung der Zinssätze und damit der Renditen für Zinspapiere bei wieder steigenden Wertpapierkursen (abnehmende Kreditnachfrage = abnehmendes Wertpapierangebot) führt irgendwann dazu, dass die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage aufhört, weiter zu sinken. So (und im Zusammenhang mit anderen Faktoren) erzeugt die Rezession die Voraussetzung für ihr Ende. Zeitliche Voraussagen, wann dies diesmal der Fall sein wird, sind derzeit noch nicht möglich. Hin und wieder wird die manchmal als trübsinnig bezeichnete ökonomische Wissenschaft durch heitere Bonmots aufgehellt; so, wenn Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Voraussagen über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung für mehrere Monate in Zehntelprozentpunkten treffen. Das ist lustig, weil jeder weiß, dass man quantitative Entwicklungen komplexer Systeme nicht antizipieren kann. Die Trefferwahrscheinlichkeit der Prognosen über das Bruttoinlandsprodukt entspricht der eines Blinden beim Tontaubenschießen. Angesichts des momentanen Desasters haben die Spaßvögel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) erstmals die Lust am heiteren Ratespiel verloren. Sie verzichteten darauf, das Wachstum für das Jahr 2010 vorherzusagen. Ein herber Schlag für die Konjunktur! Was soll die Wirtschaft davon halten, wenn schon deren „Experten“ resignieren? Elftens: Irgendwann wird sich die Rezession abschwächen und schließlich zu Ende gehen. Dies wird auch dadurch bewirkt, dass in dem Maße, wie Rezession und Kaufzurückhaltung noch dominieren, das anwachsende Antirezessionspotenzial an materiellen und finanziellen Ressourcen, verbunden mit einem relativ niedrigem Preisniveau auf den Güter- und 53 Faktormärkten, die Nachfrage der Nichtbanken auf diesen Märkten und zeitlich verzögert auch die Nachfrage auf den Geld- und Geldkapitalmärkten wieder steigen lassen wird. Der Neoliberalismus am Ende? Wieso? Woran soll er gescheitert sein? Dass er in seinen Modellen keine großen Krisen kennt, die ökonomische Welt einseitig beschreibt, falsch interpretiert und im Kapitalinteresse (v)erklärt, hat ihm auch bisher nicht geschadet oder seiner Deutungshoheit etwas anhaben können. Nun werden die Bedingungen für die Profitaneignung neu formuliert. Nie hatte der Neoliberalismus etwas anderes gewollt. Einzige Hoffnung: Vielleicht wird nun wieder stärker nachgedacht über wirtschaftliche Regulierungssysteme, die weniger Ressourcen vergeuden und die nicht so zerstörerisch sind, sondern sozial verträglicher funktionieren als die staatlich sanktionierten freien, wilden Märkte. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 Gewinne in Prozent des Volkseinkommens aller Sektoren vor der öffentlichen Umverteilung. McKinsey & Co. versteht sich als weltweit führendes Beratungsunternehmen, zu dessen Klienten die 100 größten Industrieunternehmen der Welt, der wachstumsstarke Mittelstand, viele Banken und Versicherungen, Regierungen, private und öffentliche Institutionen zählen. (Freie Presse, Chemnitz, 5. Mai 2008: 3) Der vorläufige Wert für das Jahr 2008 betrug genau 2.492,0 Milliarden €. (Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Mai 2009: S. 61*) Dafür spricht, dass die Sparquote der Haushalte mit wachsendem verfügbarem Einkommen steigt. So spart beispielsweise ein Haushalt mit über 6.000 € Monatseinkommen mit mehr als 20 Prozent bereits doppelt so viel wie ein Durchschnittshaushalt; http://www. verdi-bub.de/wirtschafts_abc/archiv/sparquote Mit Unterkonsumtion ist nicht nur die absolute Armut gemeint, die nach Definition der Vereinten Nationen vorliegt, wenn ein Mensch mit weniger als einem USDollar am Tag auskommen muss, und die tausendfach in den Hungertod führt. Als relativ arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat. Das entspricht in Deutschland 781 € pro Monat und betrifft lt. Armutsbericht der Bundesregierung 13 Prozent der Bevölkerung. Die relative Armut oder Unterkonsumtion macht den Betroffenen das Leben schwer, weil sie von vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt sind; http:// www.sueddeutsche.de/politik/411/302407/text/ Unter den EU-Mitgliedstaaten verzeichneten 2007 ökonomisch schwächere Länder wie die Slowakei, Lettland, Litauen und Estland die höchsten Wachstumsraten; http://www.economic-growth.eu/# 54 7 Der russische Ökonom Nikolai Kondratieff hat als erster im Jahre 1926 das Phänomen der „Langen Wellen“ wirtschaftlichen Wachstums beschrieben. Diese begännen jeweils mit Basisinnovationen, welche die gesamte Volkswirtschaft revolutionierten. Die Tatsache langfristiger, überkonjunktureller Schwingungen der Wirtschaftsaktivität war auch Ökonomen wie Karl Marx, Werner Sombart, Arthur Spiethoff, Wilfredo Pareto u.a. bekannt. (Kondratieff 1926: 573 -609). Bis heute soll es fünf lange Wellen gegeben haben. Doch einig ist man sich nicht; Anzahl, Datierungen und Systematisierungen weichen voneinander ab. Selbst die Begründungen unterscheiden sich (siehe auch Ruben 2008; Hedtke 2008). 8 Das Stabilitätsgesetz aus dem Jahre 1967 verpflichtet die wirtschaftspolitischen Akteure auch zu Maßnahmen, die der Vollbeschäftigung dienen. 9 „Würde die volle jeweils realisierte Produktivitätssteigerung für Arbeitszeitverkürzung verwendet, so wäre sie für die Arbeitgeber stückkostenneutral. Hierdurch bliebe(n) die gesamtwirtschaftliche Gewinnquote und damit die Lohnquote konstant. Es gibt also keinen vernünftigen Grund, warum die Arbeitszeit nicht bei vollem Lohnausgleich in Höhe der jährlichen Produktivitätssteigerungen verkürzt werden soll.“ (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2008: 123) 10 Subprime-Kredite sind Darlehen an Kreditnehmer mit geringer Bonität. Regelmäßig gibt es Ausfälle. Aber diese „normalen“ Verluste der „faulen“ Kredite sind einkalkuliert und rechnerisch durch höhere Zinsen und andere Tilgungsmodalitäten gegenfinanziert. Weil auf dem US-Immobilienmarkt zu viele derartiger Kredite vergeben wurden und die Preise drastisch sanken, kam es im Sommer 2007 zu Rekordausfällen. Kreditgebende Banken hatten die Darlehen vorher an eigens dafür gegründete Zweckgesellschaften verkauft, die sie verbrieften und die festverzinslichen Wertpapierpakete weiterveräußerten. Die Erwerber dieser Titel waren ausschließlich von den Zahlungseingängen aus den Krediten abhängig. Als diese nicht mehr getilgt wurden, brach die wacklige Finanzierungskette auseinander. Immobilienbanken, Investmentbanken, Hedgefonds und zahlreiche „seriöse“ Banken, die zu stark in die Subprime-Wertpapiere der US-Baufinanzierer investiert hatten (in Deutschland z.B. die Sachsen LB, die IKB Deutsche Industriebank oder die HypoReal Estate), erlitten milliardenschwere Verluste. Literatur Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2008): Memorandum 2008. Neuverteilung von Einkommen, Arbeit und Macht. Alternativen zur Bedienung der Oberschicht, Köln Bontrup, Heinz J. (2005): Alternative Arbeitszeitverkürzung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 3, S. 347-355 Klaus Müller Busch, Ulrich (2002): Am Tropf. Die ostdeutsche Transfergesellschaft, Berlin Busch, Ulrich/Kühn, Wolfgang/Steinitz, Klaus (2009): Entwicklung und Schrumpfung in Ostdeutschland, Hamburg Ebel, Jochen/Kühn, Berthold (2003): Reduzierung der Arbeitslosigkeit durch Verkürzung der Arbeitszeit, in: UTOPIE kreativ, Heft 155, S. 819-829 Galbraith, John K. (2005): Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs, München Hedtke, Ulrich (2008): Schumpeter und das Jahr 2008. Bemerkungen zur Erstveröffentlichung eines Briefes von Joseph A. Schumpeter an George Garvy, in: Berliner Debatte Initial 19 (4), S. 66-78 [Heft 4/2008] Hickel, Rudolf (1999): Angebotsdoktrin in der Krise: Gründe für die Revitalisierung der Keynesschen Makroökonomik, in: Helmedag, Fritz/Reuter, Norbert: Der Wohlstand der Personen, Festschrift zum 60. Geburtstag von Karl Georg Zinn, Marburg, 329-361 Kondratieff, Nikolai D. (1926): Die langen Wellen der Konjunktur, Tübingen Krugman, Paul (1998): Schmalspurökonomie, Frankfurt a.M. Leibiger, Jürgen (2005): Ursachen der Massenarbeitslosigkeit und alternative Beschäftigungspolitik, in: Helle Panke e.V., Heft 73, Berlin Luft, Christa (2008): Blamage der Experten, in: Neues Deutschland vom 24.10. Marx, Karl (1972): Das Kapital. Erster Band, Berlin [MEW 23] Müller, Klaus (2007): Alternative Geldpolitik – Irrweg oder Chance, in: Draheim, Hans-Georg/Janke, Dieter (Hg.): Legitimationskrise des Neoliberalismus – Chance für eine neue politische Ökonomie (Diskurs. Streitschriften zu Geschichte und Politik des Sozialismus, Heft 25), Leipzig, S. 71-104 Müller, Klaus (2008): Geldpolitik und solidarische Ökonomie, in: Draheim, Hans-Georg/Janke, Dieter (Hg.): Neoliberalismus, regulierter Kapitalismus, Sozialismus (Diskurs. Streitschriften zu Geschichte und Politik des Sozialismus, Heft 30), Leipzig, S. 44-76 Ruben, Peter (2008): Vom Kondratieff-Zyklus und seinem Erklärungspotenzial, in: Berliner Debatte Initial 19 (4), S. 50-65 [Heft 4/2008] Schäfer, Claus (2007): Erste Reue über Verteilungssünden? Zur Einkommensverteilung 2006, in: WSI-Mitteilungen, Heft 11, Düsseldorf Siemon, Cord (2007): Schumpeter + Humboldt = 6. Kondratieff?, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WiSt), Heft 12, München und Frankfurt a.M. Zinn, Karl-Georg (2000): Zukunftswissen. Die nächsten zehn Jahre im Blick der Politischen Ökonomie, Hamburg Zinn, Karl-Georg (2008): Keynes als Alternative(r)?, in Draheim, Hans-Georg/Janke, Dieter (Hg.): Neoliberalismus, regulierter Kapitalismus, Sozialismus (Diskurs. Streitschriften zu Geschichte und Politik des Sozialismus, Heft 30), Leipzig Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2 55 Katherine Stroczan Das Gespenst der Aktienkultur oder das Behagen in der Unkultur1 Die Börse führt uns an den Anfang, an die Urszene der Naturbeherrschung zurück, in die vorgeschichtliche Zeit, deren Leitstruktur in der Prognose der Naturerscheinungen lag. In der prähistorischen Ära musste aus Mangel an Instrumentarium die Naturprognose scheitern. Nicht anders verhält es sich mit der Prognose an den Finanzmärkten; und es ist kein Zufall, dass Bewegungen der Märkte wie Naturphänomene erlebt werden, wobei einem Krach der Stellenwert einer Naturkatastrophe zukommt. Denn die Anlegerhorde funktioniert nach den Gesetzmäßigkeiten der Urhorde. Analog zum Urmenschen, der hinter einem Busch versteckt ununterbrochen Gefahren auflauerte, ist der Homo Investor mit seiner chronischen Bedrohtheit beschäftigt. Fehlte dem Urmenschen eine ausgebaute Naturbeherrschung und die Beherrschung der inneren Natur, nämlich der Triebhaftigkeit, so verfügte er immerhin über diverse Ersatzstrukturen in Form von Magiern, Regenmachern und Ereignisbeschwörern. Alle diese das Überleben sichernden Funktionen, mit denen eine Matrix der Transparenz und Ordnung in einer unverständlichen, eigenwilligen und unkontrollierbaren Welt hergestellt werden sollte, dienten der Voraussage von Ereignissen und deren Bedingungen. Da sich Finanzmärkte wie die unbeherrschte Natur benehmen, ist es einleuchtend, dass die Prognose der Fetisch der Börsenhorde ist. Der Schutz gegen die Natur, die Regelung der zwischenmenschlichen Beziehungen und die Pflege der höheren psychischen Tätigkeiten im intellektuellen, wissenschaftlichen und künstlerischen Bereich gehören zu Leistungen, die generell als fundamentale Kulturanforde- rungen verstanden werden. Triebökonomisch betrachtet, ist Kultur auf Versagungen aufgebaut. Triebverzicht bedeutet in diesem Kontext nichts anderes, als dass Triebziele im kulturerhaltenden und -stiftenden Sinne transformiert werden. So bildet laut Freud2 die Sublimierung der Triebziele das von der Kultur erzwungene Triebschicksal. Im Gegensatz zur Verdrängung, die zu einer in Kompromissbildungen gipfelnden Lähmung, bzw. zum Schwund der Triebenergie führt, ermöglichen die transformatorischen Mechanismen der Sublimierung deren Erhalt und damit einen umgeleiteten und gerichteten Einsatz. In seiner Schutzfunktion als Garant des Triebverzichts fungiert das Über-Ich als Regulativ der Triebregungen. Im Gegensatz dazu ist das dem Börsianer aufgedrängte Über-Ich nicht nur auf unmittelbare Triebbefriedigung fixiert, sondern in erster Linie dem Imperativ des Erfolgs und damit dem unentrinnbaren Genießen verpflichtet. Das einzige Verbot betrifft das erfolglose Handeln. Unter der Voraussetzung, dass er keinen Verlust macht, ist dem Anleger alles erlaubt. Dem Imperativ des Über-Ich verschrieben, soll der Börsianer spekulieren und muss das Spekulieren auch noch genießen. Wenn autonome Moral ihrer Existenz enthoben wird, verschwindet auch jegliche Sicherung. Weil der Börsianer in seiner Moral heteronom ist, bleibt die Heilsvorstellung auf Zukunftsvoraussage beschränkt. Geht die Schutzfunktion des Über-Ich verloren, übernimmt die Prognose die Funktion des Korrektivs: Eine „schlechte“ Handlung kann dann nur am späteren Misserfolg abgelesen werden. Infolge dieser regressiven Bewegung, bei der ein externalisierter Ersatz für das Über-Ich 56 Handlungen determiniert, wird der herkömmliche Druck des Über-Ich durch Anforderungen des Ich-Ideals ersetzt. Ausreichend bekannt ist der Prototyp des Börsianers, der seinen Broker erschießt oder aus dem Fenster springt. Dies geschieht, wenn seine Gewissensersatzfunktion – die Prognose – an der Realität des Marktes scheitert oder ungebremst in einen archaischen Konflikt mündet. An dieser Stelle werden Scham und ohnmächtige Rage als leitende Affekte zum Korrektiv erhoben. Das von seiner Schutzfunktion entbundene, externalisierte und zeitlich auf die Zukunft verschobene Über-Ich wird im modellhaften Bild des „cleveren Anlegers“ festgehalten. In der erstenEntwicklungsphase des Über-Ich bleibt das Richtmaß des moralischen bzw. außermoralischen Handelns außen vor und wird mittels Strafmaßnahmen reguliert. Erst in der weiteren Entwicklung werden Gebote und Verbote in Gestalt des autonomen Über-Ich internalisiert. Im Zuge der Regression der moralischen Instanzen ist der „clevere Anleger“ auf die heteronome Entwicklungsstufe des Über-Ich gerutscht und muss darin verhaftet bleiben, um erfolgreich handeln zu können. Auf diese Weise verwandelt sich an der Börse der kategorische in den perversen Imperativ – in den Befehl zum Genießen und zum Erfolg. Die von den Medien täglich angebotene Nahrung ermöglicht der Anlegergemeinde ein behagliches Verweilen in den Auswüchsen der Unkultur, die mit ihren weitreichenden Tentakeln alle Partialtriebe domestiziert hat und die Hegemonie der Entsublimierung proklamiert. Paradigmatisch kann dies anhand des Umgangs mit dem Begriff Gier nachgezeichnet werden, dem eine zentrale Bedeutung zukommt. Von Scham und Schuld saniert, seiner konfliktstiftenden Komponenten entkleidet, gilt dieses Affektdestillat als anmutig, mondän und erstrebenswert. Mit ihrem nobilitierten Status ist Gier längst als zentrale Determinante des Handels sozialisiert worden. Sie gehört zur Grundausstattung des „cleveren“ Anlegers, der weiß, wie er sich Vorteile zu verschaffen hat und erfolgreich an den Märkten agiert. Damit wird ein archaischer Affekt mit Intelligenz gleichgesetzt, geadelt und vom Ichideal integriert. Im Zuge der Idealisierung wird Gier zum Hauptbestandteil der „Klugheitsregel“. So Katherine Stroczan kann die Anlegergemeinde dem Mythos der allmächtigen, abwehrunfähigen Gier huldigen, die als allgemeingültige Handlungsmaxime fungiert. Gegen diesen Universalkonsens konzediert Chancellor3 in seinem Buch zur Geschichte der Spekulation, dass diese nicht einfach auf Gier basiert. Als Essenz einer spekulativen Manie sieht er „das utopische Streben nach Freiheit und Gleichheit, das ein Gegengewicht zum fahlen rationalistischen Materialismus des modernen ökonomischen Systems darstellt“. Deshalb bezeichnet er den spekulativen Exzess als Karneval des Kapitalismus, der auf der Aufhebung der geltenden Normen und gesellschaftlichen Grenzen basiert und vorübergehend unmittelbare Erregungsabfuhr ermöglicht. Im Rausch der kollektiven Regression gefeiert, subvertierte der Karneval die Macht der Kirche und frönte der gleichen Vorstellung von Gleichheit, die die regressive Dynamik einer Spekulationswelle erzeugt: Auf dem „Fest der Narren“ wird der Dorfidiot zum Prinzen gekürt. Damit erschöpft sich der Karneval in der engen Konvention der Anarchie. Er stellt eine zyklisch auftretende und festgelegte Auszeit dar, die zum Feiern verpflichtet und den Realitätsverlust vorschreibt. Mit dem institutionalisierten Aufruf zur Anarchie erzwingt er genauso bindende Gesetze wie die Kirche. Versucht der Karneval, die Strenge der kirchlichen Ver- und Gebote zu unterminieren, so schafft er letztlich nur, diese zu invertieren. Das christliche Gebot der Versagung und des Verzichts wird, wie im spekulativen Rausch, zum Befehl des Genießens. Neben der Gier, die als Hauptdarstellerin das Börsenspektakel schmückt, werden andere archaische Affekte und pathologische Formationen implizit kultiviert und demselben Veredelungsvorgang unterzogen. Die Gesamtheit dieser abwehrunfähigen, kollektiv gepflegten Erscheinungen konstituiert dann zwangsläufig die „Aktienkultur“. Die Geburt dieses Begriffs geht auf die Erstemission der Telekom-Aktie zurück. Im November 1996 zeichneten 1,4 Millionen Privatanleger das Papier, dessen Marktauftritt von einer massiven medialen Begleitung unterstützt wurde. Die Werbekampagne hat die Deutsche Telekom 900 Millionen DM gekostet. Aus dem gewöhnlichen Börsengang Das Gespenst der Aktienkultur oder das Behagen in der Unkultur eines Unternehmens wurde ein Volksfest, mit dem das allgemeine Begehren für die Gattung Aktie ausgelöst wurde. Das als Volksaktie, als „Witwen und Waisen“ deklarierte Papier erreichte sogar hartgesottene Sparbuchinhaber, die nie eine Aktie besitzen wollten, sowie unzählige börsenfremde Menschen, die nicht einmal genau wussten, was eine Aktie ist. Bis zur Emission der dritten Tranche im Juni 2000 hatt sich die Zahl der Begierigen verdoppelt. Als die Aktie im März 2000 auf exorbitanten Höhen schwebte, war das Papier die Verkörperung der „neuen deutschen Aktienkultur“, der stolze Kurs von ca. 100 Euro galt als Beweis der Akkulturation. Da der jeweilige Aktienkurs das Ausmaß des Begehrens der Marktteilnehmer widerspiegelt, heißt das: Kultur ist wohl nichts anderes als Ausdruck der kollektiven Erregungsmasse. So entfaltet sich die Kultur in linearem Verhältnis zur Triebstärke und zum Triebdruck: Wächst der Letztere, haben wir es mit kultureller Entwicklung zu tun. Erreicht er solche Höhen wie im Frühling 2000, befinden wir uns auf dem Gipfel der Kulturleistungen. Und umgekehrt: Weil das einst wertvollste Unternehmen im Deutschen Aktienindex inzwischen über 70 Prozent seines Wertes seit dem Höchststand verloren hat, verbreitet sich in den Medien die Furcht vor dem drohenden Kulturverlust. Wut und Enttäuschung schlagen sich in verbalen Entwertungskampagnen nieder: So konstatiert beispielsweise Die Telebörse (22.02.2001), die Telekom-Aktie sei zum „Zockerpapier“ verkommen, was der schlimmsten Beleidigung gleichkommt, denn „Zockerwerte“ sind die Psychopathen der Börse. Die Überschrift des Artikels lautet: „Volksaktie? Kasinopapier!“ Gleich darunter liest man, dass der tiefe Fall der Telekom die Aktienkultur beschädigt. Dem Begriff ‚Kasino‘ kommt der gleiche Stellenwert zu wie dem „Zockerpapier“. Die Sachlage ist klar: Verwandelt sich die Volksaktie in ein Kasinopapier, droht Kulturschwund. Vor allem dann, wenn sich die Aktionäre abwenden und zu ihren Sparbüchern und Schatzbriefen zurückkehren, was viele befürchten. Dieses kulturelle Desaster stellt sich als Naturkatastrophe dar, als plötzliche Eruption des Bösen, die unübersehbaren Schaden anrichtet und der man hilflos ausgeliefert ist. Die Telekom ist zwar nicht die 57 einzige Volksaktie, andere Papiere haben sich inzwischen um diesen Status bemüht und ihn auch erlangt, nur ist sie die erste und die prominenteste, an deren Kabel die ganze Kultur hängt. Angesichts dieser Katastrophe konnte auch die F.A.Z. dem Sog nicht widerstehen und hat einen Ton angeschlagen, der sonst zum Monopol der Anlegerzeitschriften gehört: „Und mit der zuletzt desaströsen Kursentwicklung wird die noch junge Aktienkultur in Deutschland, die die Telekom selbst maßgeblich entwickelt hat, einem Test mit unbekanntem Ausgang ausgesetzt. So ist nicht auszuschließen, daß enttäuschte Telekom-Aktionäre, die zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt Aktien kauften, dem Aktienmarkt für immer den Rücken kehren“ (26.02.2001: 20). Im Kontext der postspekulativen Tristesse wird hier die Frage aufgeworfen, ob es sich um eine vorübergehende oder chronische Depression handelt. Letztere, die mit Impotenz einhergeht, könnte den Ausbruch des nächsten Erregungszyklus verhindern. Hier lauert die Gefahr der Ansteckung des ganzen Marktes mit einem übergreifenden depressiven Affekt, der womöglich das gesamte Wirtschaftssystem ins Wanken bringt. Denn viele Ökonomen sehen in der Spekulation einen zum Erhalt der Vitalität des Kapitalismus unentbehrlichen Bestandteil. Diesem Kulturpessimismus wird am Schluss des Artikels ein durch tiefe Besorgnis evozierter Heilungsansatz entgegengesetzt: „Nur wenn die Anleger jetzt der T-Aktie und dem Aktienmarkt insgesamt treu bleiben, kann man von einer gewachsenen Aktienkultur in Deutschland sprechen“. Dass an dieser Stelle Treue beschworen wird, ist an sich äußerst verdächtig und kann nur durch die Tiefe des regressiven Abgleitens erklärt werden. Vielleicht ist es aber der einzige wirksame Griff, auch wenn er unter den Gürtel reicht, mit dem der Kulturverfall noch verhindert werden kann. Möglicherweise handelt es sich gar nicht um einen verzweifelten Appell an die Aktionäre, die Kultur durch Aussitzen zu retten, sondern um eine rein sachliche Ausgestaltung des Kulturbegriffs, die dem Leser verdeutlichen soll, dass die Reife der Aktienkultur in Deutschland nur durch eine urdeutsche Errungenschaft – die Treue – determinierbar ist. Die Geschichte von Aufstieg und Fall der 58 Telekom-Aktie ähnelt in ihren Grundzügen unzähligen aus der Spekulationsgeschichte bekannten manischen Exazerbationen, die alle gleich enden – im unvermeidlichen Krach. Zu den prominentesten gehören die Anleihe der französischen Mississippi Company um 1719, unmittelbar abgelöst durch die Aktien der englischen South Sea Company, die Eisenbahnmanie in der Mitte des 19. Jahrhunderts, und natürlich die Tulpenmanie, die die nüchternen und sparsamen Holländer in den 1630er Jahren in Aufruhr versetzte. Ist die Dynamik der spekulativen Erregung immer die gleiche, so verdeutlicht der Tulpenwahn, dass alles, was sich quantifizieren und in Bewegung bringen lässt, unter bestimmten Umständen zum Spekulationsobjekt werden kann. Entscheidend ist das Ausmaß der kollektiv angeheizten Leidenschaft, die sich eines jeden Gegenstandes bedienen kann. Ob in der gewöhnlichen Verliebtheit oder im spekulativen Begehren – die sich im euphorischen Glück entfesselnde Erregung weist, trotz divergenter Triebziele, die gleichen psychoseähnlichen Begleiterscheinungen auf. Zu den geläufigsten gehören narzisstische Aufwertung und Selbstüberschätzung, Überbewertung des Objekts, monomanisches, realitätsfernes Denken bzw. vorübergehender Verlust des Realitätsbezugs, sowie Rausch und Entzückung. Spekulationsmanien entstehen in Perioden wirtschaftlichen Aufschwungs und sind durch einen Verlauf gekennzeichnet, der eine physiologische Parallele aufweist: Spekulationswellen entsprechen deckungsgleich den Zyklen der sexuellen Erregung. Daher liegt das besondere Merkmal der Tulpenmanie weder im Zeitpunkt noch im Verlauf, sondern im Gegenstand selbst. Tulpen können als das betrachtet werden, was Lacan den „point de capiton“ nennt, den Überschneidungspunkt unterschiedlicher Signifikantenketten. In den Niederlanden waren Tulpen schon seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bekannt und genossen im Land der Blumenliebhaber hohes Ansehen bei Adel und Sammlern. Beliebt waren sie auch deshalb, weil sie sich pflegeleicht und als einzige Blumengattung in einer Vielzahl unterschiedlicher Sorten züchten ließen. Vor dem Ausbruch der Spekulationswut waren es einige Hundert, und dass die Vielfalt einem Virus zu verdanken war, Katherine Stroczan konnte erst Jahrhunderte später nachgewiesen werden. Zum ästhetischen Faktor fügte sich die lustvolle Besetzung der Darstellung, die die Kunst des goldenen Zeitalters dokumentiert. Und schließlich: Angesichts der Tatsache, dass in Holland nicht nur die Tulpe, sondern auch der Handel blühte und ein entsprechendes Selbstbewusstsein erweckte, ist es nicht verwunderlich, dass sich eine Blume als Objekt mehrfach determinierten Begehrens in ein Spekulationsobjekt verwandeln konnte. Die aufkeimende Leidenschaft machte sich in der ausgefeilten Namensgebung bemerkbar, in der sich die hierarchische Ordnung widerspiegelte: Besonders prächtige Exemplare wurden zu Admirälen und Generälen. Mit dem Fortschreiten der Euphorie wuchs zwangsläufig die Kluft zwischen dem realen Wert der Tulpenzwiebel und den auf der Blumenbörse erreichten Notierungen, bis auf dem Gipfel der Spekulation der ultimative Diamant unter den Tulpen, Semper Augustus getauft, den Preis von 6.000 Gulden erreichte, d.h. den Gegenwert eines Hauses samt Garten. Einige Interventionen des Staates, die den Exzess einzudämmen versuchten, erzielten gegenläufige Resultate und feuerten die Spekulation nur an, denn zu den kollektiv geteilten psychosenahen Vorstellungen gehört die unkorrigierbare Überzeugung, dass Preise nur wachsen können. Ohne diese jeder Spekulationswelle inhärente Überzeugung hätte sich keine Manie entfachten können. Der Tulpenwahn war nicht etwa eine örtlich eingegrenzte Erscheinung, sondern er breitete sich im ganzen Land aus und erreichte alle Gesellschaftsschichten. Während die Tulpenzwiebeln überwinterten, florierte im letzten Winter der Manie der Handel mit Termingeschäften, die erst im darauffolgenden Frühling realisiert werden sollten. Besiegelt wurden diese Transaktionen nicht mit Geld, sondern mit privaten Schuldverschreibungen. Das Frappierende an dieser Konstruktion ist, dass mit nicht vorhandenem Geld Wetten auf nicht existierende Ware geschlossen wurden. Begann die Spekulation noch mit realem Warentausch, bei dem gegen Geld Tulpen geliefert wurden, so erreichten auf dem Höhepunkt der Manie nicht nur Preise paradoxe Höhen, sondern die gesamte Geschäftsstruktur schoss auf ein surreales Abstraktionsniveau und gewann Das Gespenst der Aktienkultur oder das Behagen in der Unkultur virtuelle Dimensionen. Als die Tulpenmanie schon abflaute, wurde ein Gesetz erlassen, mit dem der Tulpenpreis festgelegt und die offenen Termingeschäfte annulliert wurden. Dies mag das Ende zwar beschleunigt haben, hat es aber nicht verursacht. Zu den Gesetzmäßigkeiten des Spekulationszyklus sowie des Zyklus der sexuellen Erregung gehört sowohl die primäre Entfesselung der Leidenschaft wie auch das triebökonomisch bedingte Abflauen des Begehrens. Am Ende bleibt, ebenfalls naturgemäß, eine depressive Verstimmung, die im sexuellen Bereich postkoitale Tristesse heißt. An der Börse führt der Krach zur Enttäuschung und Entidealisierung, bzw. zum puren Hass auf das verräterische Objekt: „Das war die schicksalhafte, regelmäßig wiederkehrende Seuche, deren Verwüstungen alle zehn bis fünfzehn Jahre an den schwarzen Freitagen, wie man sie nennt, den Markt ausfegen und den Boden mit Trümmern übersäen. Es braucht Jahre, bis das Vertrauen zurückkehrt [...] – bis eines Tages die Spekulationswut, allmählich neu belebt, wieder aufflammt, das Abenteuer von vorn beginnt, eine neue Krise herbeiführt und in einem neuen Desaster alles zum Einsturz bringt“, schreibt Zola.4 Als im Winter 1638 der Tulpenmarkt krachte, verschwand das Spekulationsobjekt keineswegs aus dem kollektiven Bewusstsein. Der Tulpe wurde die Besetzung nicht entzogen und auf kein anderes Objekt umgeleitet. Es geschah das Gegenteil: Vom Liebesobjekt ist sie zu einem hoch besetzten phobischen Objekt transformiert worden. Mit dieser Bewegung konnte die starke Bindung an die Blume aufrechterhalten werden. Infolge dieser Umbesetzung erlangte sie den edlen Status als Symbol des Verderbens und des Unheils und durfte seitdem in Gesellschaft von Totenschädeln, Büchern und Uhren an Vanitas-Darstellungen partizipieren. Eines derart erhebenden und raren Schicksals können sich üblicherweise „gefallene Engel“, das heißt innig geliebte Unternehmen, die den Großteil ihres überbewerteten Börsenwertes verloren haben, nicht erfreuen. Normalerweise sinken sie um so tiefer, je höher sie vorher schwebten. Und je höher sie verweilten, desto schwerer wird ihnen eine Wiederauferstehung fallen, weil der Grad der erlittenen Kränkung der Anlegerhorde in der 59 Regel das Ausmaß des Entzugs der libidinösen Besetzung bestimmt. Jede Spekulationswelle wird von entsprechenden Publikationen begleitet, mit denen die Manie ihre Legitimation und Affirmation erlangt. Ebenso in der Tulpenaffäre. In vielfältigen Blättern meldeten sich damals Experten zu Wort und erteilten Ratschläge eines fast unheimlich vertraut anmutenden Inhalts, nämlich zur erfolgreichen Spekulation. Mit Recht betrachtet Herbert5 in diesem Kontext die Einweihungen der Experten in die Geheimnisse der Spekulation als eine Wiederbelebung der archaischen Initiationsrituale, die in unseren Breiten sonst nur der Adoleszenz vorbehalten bleiben, sieht man von religiösen und Randgruppenphänomenen ab. Am Beispiel der Tulpenmanie sollte verdeutlicht werden, dass der glorreiche Aufstieg und der weniger glorreiche Fall der Deutschen Telekom wahrlich kein Novum darstellt, sondern lediglich eine, wenn auch dem Zeitgeist angepasste, Wiederholung des Identischen. Mit Hilfe einer aufwendigen Werbekampagne bot sich die T-Aktie als dankbares Objekt des Begehrens an und evozierte in kürzester Zeit die gleichen Erregungswellen, kognitiven Entgleisungen, Selbsterhöhungsfantasien und magischen Vorstellungen von Reichtum wie einst die Tulpen; auch an der Dynamik und der Reichweite der Veranstaltung hat sich seit Jahrhunderten nichts geändert. Nur in einer Hinsicht überbietet der gegenwärtige Exzess die Tulpenmanie, nämlich in der Verwechslung von Spekulation mit Kultur. In den Niederlanden des 17. Jahrhunderts, einem Land, das auf seine herausragenden Kulturleistungen stolz sein konnte und auch war, kam interessanterweise niemand auf den Gedanken, der Tulpenspekulation den Namen „neue niederländische Tulpenmaniekultur“ zu verleihen. Im Editorial einer Anlegerzeitschrift6 sinniert ein leitender Redakteur über die Entfaltung der Aktienkultur und bezweifelt, ob bereits von einer blühenden Aktienkultur gesprochen werden könne. Als Fazit seiner Überlegungen kann sein Neujahrsspruch gelesen werden, mit dem der Artikel endet: „Auf dass aus der gerade aufkeimenden Aktienkultur 2000 doch noch eine Aktienkultur 2001 wird, die in vol- 60 ler Blüte steht“. Wir haben es hier mit einer subtilen Differenzierung zu tun, die sich einer botanischen Wachstumsmetapher bedient und darauf zielt, den aktuellen Entwicklungsstand einer als kulturell vorausgesetzten Größe genauestens zu bestimmen. Der Neujahrsspruch wird mit einem Aufruf eingeleitet, in dem der Autor feststellt: „Vor allem aber brauchen wir aufgeklärte Börsianer, die die Zusammenhänge der Wirtschafts- und Finanzwelt verstehen. Dabei hilft Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, ,Ihre Erfolgsstrategie 2001‘. Wir sagen Ihnen, welche Trends die Börse 2001 bewegen werden [...] und wie Sie mit einer auf Ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnittenen Anlagestrategie profitieren“. Die Konstruktion der Argumentationslogik kann folgendermaßen nachvollzogen werden: Zunächst wird der Bedarf an Aufklärung attestiert, womit auch aufklärerische Mängel festgehalten werden. In der unmittelbar darauf folgenden persönlichen Ansprache an die Leserschaft wird deutlich, dass Aufklärung als Synonym erfolgbringender Strategien gebraucht wird. Das Ergebnis aufklärerischer Arbeit, die bei der empirischen Anwendung auf individuell zugeschnittene Strategien Erfolg bringt, heißt dann Aktienkultur. Und der ganze Prozess, den der Anleger durchlaufen muss, von mangelnder Aufklärung zur erfolgreichen Anlagestrategie, beschreibt nichts anderes als die Entfaltung einer keimenden Aktienkultur zu einer blühenden. Eine andere Auffassung dieses Kulturbegriffs bietet die Financial Times Deutschland (13.03.2001): „In den USA, wo die Aktienkultur viel älter und intensiver ist als in Deutschland, investieren die meisten Privatanleger ohnehin nicht direkt in Aktien, sondern in Fonds. Sie gehen vermeidbaren Risiken eher aus dem Weg. Auch deutsche Privatanleger werden in Zukunft wohl vorsichtiger sein – allerdings vermutlich nur bis zur nächsten Euphorie.“ Hier wird der Stand der deutschen Aktienkultur per Negativdefinition eruiert, über einen wehmütigen Vergleich mit Amerika. Nicht nur wird der Mangel an heimischer kultureller Tradition beklagt, sondern auch der Kulturbegriff selbst wird inhaltlich expliziert. Laut dieser Auslegung entfaltet sich die Kultur im linearen Verhältnis zu Charaktereigenschaften. So resultiert die minderwertige Kulturleistung der deutschen Katherine Stroczan Aktionäre aus Risikolust und dürftiger Pflege von Vorsichtsmaßnahmen. Die Exemplifizierung solcher bizarren Bemühungen zur Begriffsbestimmung könnte unendlich fortgeführt werden, wird aber nicht, weil schon aus den hier aufgeführten Zitaten wird das Milieu, in dem sich das Ungeheuer der Aktienkultur bemerkbar macht, ausreichend deutlich. Nicht zufällig taucht dieser Begriff, manchmal auch als „die neue deutsche Aktienkultur“ spezifiziert, mit besonderer Vorliebe an Stellen auf, die durch den Mangel an Kultur hervorstechen. Vielleicht muss in Ermangelung von Kultur die Aktienkultur als Ersatz bemüht werden, um die Lücke zu schließen, die die Abwesenheit der Kultur hinterlassen hat. Möglicherweise handelt es sich um eine Beschwörungsformel, die bewirken soll, dass sich ein gewöhnlicher, wenn auch besonders unüberschaubarer und risikobehafteter Handelsplatz magisch in eine Kult(ur)stätte verwandelt. Ist die Börse eine Kulturanstalt, so kommt dem Aktienhandel der Rang einer veritablen Kulturleistung zu. Warum das Gespenst der Aktienkultur zunehmend durch das Börsenumfeld geistert, ist schwer zu sagen. Vermutlich ist die Ursache dieses Phänomens ganz simpel und lässt sich mit marktstrategischen Maßnahmen ausreichend erklären. Denn auf die Idee, bei einer exorbitanten, das Angebot mehrfach übersteigenden Nachfrage nach Würstchen von einer neuen Würstchenkultur zu sprechen, kämen nicht einmal die Medien. Eher ist anzunehmen, dass sie ein solches Ereignis mit der Überschrift: „Die Deutschen werden dick“ quittiert hätten. Wenn dagegen Neuemissionen mehrfach überzeichnet werden und die Anzahl der Kunden von Online-Brokern sowie der Aktienbesitz überhaupt rasant wachsen, so haben wir es plötzlich mit einer genuinen Kulturleistung zu tun. Immer wieder kann man lesen, dass im Jahr 2000 mehr als drei Millionen Bürger Neuemissionen gezeichnet haben. Nicht lesen kann man hingegen, dass die meisten nicht wissen, was sie eigentlich zeichnen. Während des massenhaften Sturms auf die Banken zwecks Zeichnung des zur zweiten Volksaktie deklarierten InfineonPapiers wurden einige Zeichnungsbegierige nach Gründen ihrer Begierde befragt. Den Das Gespenst der Aktienkultur oder das Behagen in der Unkultur Interviews konnte man entnehmen, dass das Interesse an der Aktie keineswegs der Verliebtheit in Speicherchips, beziehungsweise der Überzeugung hinsichtlich des Geschäftsmodells des Unternehmens entsprang, zumal keiner wirklich wusste, was Infineon herstellt. Worüber allerdings die Befragten ganz genau informiert zu sein schienen, war, dass alle zeichnen; und sie selbst wollten aus dieser Volkslotterie nicht ausgeschlossen werden. Lotterie deshalb, weil von Anfang an bekannt war, dass die Aktie erheblich überzeichnet war, was heißt, dass nur wenige Glückliche in den Genuss dieses begehrten Objekts kommen konnten. Dass das Begehren im inversen Verhältnis zum Angebot steigt, ist bekannt. Während der Zeichnungsperiode unterhielten sich zwei erregte ältere Damen in einer Supermarktschlange über ihre Chancen, Infineon-Aktien zu erwerben. Die offenbar mit der Zeichnungsprozedur Vertrautere versuchte, ihre „unaufgeklärte“ Freundin in die Gepflogenheiten des Zeichnens einzuweihen und legte ihr dar, wie man vorgehen sollte. Sie berichtete, dass ihre ganze Familie getrennte Depots eröffnet hatte, um die Chancen zu erhöhen, und dass sich ein besonders gewiefter Schwiegersohn gleich mehrere Depots bei Direktbrokern zugelegt hatte, womit er sich nach den geläufigen Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine Zuteilung sicherte. Die Schlange hörte gebannt zu. Wenn Gelüste, die sonst verpönt und mit Scham besetzt eher im privaten Bereich heimlich Befriedigung finden, geradezu in die Öffentlichkeit hinausgetragen und zum leitenden Imperativ erhoben werden, und wenn in einem derart gestalteten Universum der Aufklärungsbegriff zum kalkülgesteuerten zweckrationalen Handeln verkommt und kaufmännische Schläue definiert, dann ist es kein Wunder, dass ein Massenphänomen, das sämtliche Pathologien integriert und sozialisiert, zwingend zu einem eigenständigen Kulturgut nobilitiert werden muss. So kann sich die sachkundige, „Erfolgsstrategien“ befolgende, den Verheißungen der nächsten „Rallye“ und der daraus erhofften Geldvermehrung entgegenfiebernde Anlegermasse daran erfreuen, mit ihren Börsenaktivitäten nicht nur zu eigener Bereicherung, sondern vor allem zur Bereicherung 61 der Kultur beitragen zu dürfen. Berücksichtigt man die demokratische Grundausrichtung des Megasupermarkts der Börse, die allen gleiche Handelsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, kann jeder, dem Kulturgüter bisher verschlossen blieben, durch den Kauf einiger Aktien mit seinem bescheidenen Handel an der Kultur partizipieren und ihr Aufblühen fördern. Der mit dem Gütesiegel „Kulturmensch“ geadelte Anleger kann an keinem anderen Ort mit so geringen Einsätzen in den Genuss einer Kulturleistung gelangen und sich einer solchen narzisstischen Aufwertung erfreuen. Aber inzwischen wissen wir: „Börse ist alles“. Vor vielen Jahren hat der polnische Philosoph Leszek Kołakowski in der Jugendzeitung „Sztandar Mlodych“ (Mai 1957) in 47 Thesen festgehalten, was Sozialismus nicht ist. Die daraus abgeleitete Schlussfolgerung seines Aufsatzes lautete: „Sozialismus ist eine gute Sache“. Mit Kultur hat man es wesentlich leichter als mit Sozialismus; sie bedarf weder Negativthesen noch Rechtfertigungen. Ganz unaufdringlich, aber deutlich hat es schon Ad Reinhardt in Bezug auf Kunst formuliert: „Kunst ist Kunst, und alles andere ist alles andere“. Die Barbarei in der Kunst trägt den Namen Kitsch; der Kitsch, der an die Stelle der Kultur tritt, ist einfach die Unkultur. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 Dieser Aufsatz ist die leicht gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Schlusskapitels des Buches Der schlafende DAX oder das Unbehagen in der Unkultur, welches 2002 als Band 67 in der Reihe „Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek“ im Verlag Klaus Wagenbach Berlin erschienen ist. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, diesen Text in der vorliegenden Form in der Zeitschrift Berliner Debatte Initial abdrucken zu dürfen. (Anm. d. Red.) Freud, Sigmund (2000 [1930]): Das Unbehagen in der Kultur, Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 267-286. Chancellor, Edward (1999): Devil Take The Hindmost. A History of Financial Speculation, London: Macmillan, p. 29. Zola, Emile (1995 [1891]): Das Geld, Berlin: Aufbau Verlag, S. 464f. Herbert, Zbigniew (1994): Stilleben mit Kandare. Skizzen und Apokryphen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Börse Online Spezial, Nr. 1/2001, S. 3. 62 Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2 Rainer Land Die globale Energiewende und die politische Agenda von Barack Obama Ein neues Paradigma sozioökonomischer Entwicklung Der New Deal der 1930er Jahre und der Nachkriegskapitalismus Der New Deal, der in den 1930er Jahren aus der Weltwirtschaftskrise (1929–1938) führte, basierte auf der Kombination eines neuen technisch-ökonomischen mit einem neuen sozial-ökonomischen Modell. Das technischökonomische Modell war die fordistische Massenproduktion, die economy of scale und das dazu gehörige Muster industrieller Forschung, Entwicklung, Produktion und Nutzung der Natur. Das sozialökonomische Modell war die Teilhabe der Arbeiter an der wirtschaftlichen Entwicklung in Form steigender Einkommen, wachsenden Konsums und besserer sozialer Absicherung: die produktivitätsorientierte Lohnpolitik und der Wohlfahrtsstaat. Natürlich war dieses Resultat nicht Ergebnis absichtsvoll geplanter politischer Entscheidungen – weder des Präsidenten Roosevelt noch der US-amerikanischen Wirtschaftsbosse noch der Wähler oder der Bevölkerung. Es war das Ergebnis sozio-ökonomischer und politischer Entwicklung (im Sinne Schumpeters), also eines Evolutionsprozesses unter den Bedingungen einer tiefen Weltwirtschaftskrise, einer – wenn man so will – systemischen Krise des Kapitalismus, der zweiten systemischen Krise nach dem Ersten Weltkrieg, den Revolutionen und der deutsch-österreichischen Inflation. Bekanntlich hatte dieser Prozess des institutionellen Wandels, der Suche nach einem Weg aus der Krise in den 1930er Jahren zunächst zu differenten Entwicklungspfaden geführt – wenn man etwa Deutschland (eine nationalistische Sozialpolitik, kombiniert mit Protektionismus, Abschottung, Eroberung und Ausbeutung anderer Völker), die anderen europäischen Mächte (vor allem Großbritannien, das mittels protektionistischer Strategien aus der Krise kommen wollte und erst nach dem Zweiten Weltkrieg eine sozial orientierte Wirtschaftspolitik übernahm), die stalinistische Industrialisierungspolitik in der Sowjetunion und die USA vergleicht. Unstrittig ist, dass sich im Ergebnis der amerikanische Weg aus der Krise durchgesetzt hat, aber erst im Verlauf des Zweiten Weltkriegs und danach, während sich der britische und der deutsche Weg bald, der sowjetische erst in den 1970er Jahren als nicht lebensfähig herausstellten. Der Take off dieses amerikanischen Entwicklungspfads war die Kombination des New Deal des Präsidenten Roosevelt mit der fordistischen Massenproduktion. Ersterer beinhaltete staatliche Konjunkturprogramme gegen die Not der Arbeiter, die Arbeitslosigkeit und zur Belebung der Wirtschaft. Der New Deal bewirkte eine Neuverfassung des Sozialen im Kontext des US-amerikanischen Kapitalismus. Es ist nicht unangemessen, einige Maßnahmen hier aufzuzählen: staatliche Überwachung der Börsen, Preiskontrolle für Agrarprodukte (heute wäre an Energieprodukte zu denken), Arbeitszeitverkürzung, freiwilliger Arbeitsdienst, kommunale Investitionen, Rechtsgrundlage für Gewerkschaften und Streikrecht, Einführung einer staatlichen Rente, einer Arbeitslosenversicherung und von Mindestlöhnen, Einführung der progressiven Einkommenssteuer (einer Reichensteuer!), Verbot des privaten Besitzes von Gold und Silber. Später kamen Freihandel und das Prin- Die globale Energiewende und die politische Agenda von Barack Obama zip der Meistbegünstigung im internationalen Handel hinzu.1 Der New Deal war eine Neuverfassung des Sozialen im US-amerikanischen Kapitalismus; er unterschied sich definitiv von anderen Arten der Krisenbewältigung. Der deutsche Faschismus versuchte eine Neuverfassung des Sozialen auf eine im Kern ganz andere Art.2 Allerdings waren die Wirkungen des New Deal zunächst sehr begrenzt; erst seine Kombination mit dem bis dahin größten kreditfinanzierten Investitionsschub aller Zeiten – ausgelöst durch den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg und den Beginn der Kriegsvorbereitungen – brachten den Auftakt zur längsten und umfassendsten Phase wirtschaftlicher Entwicklung im Kapitalismus, von 1941 bis 1975. Denn infolge dieses Investitionsschubs boomte nicht nur die Rüstungsindustrie. Die Löhne stiegen in bis dahin ungeahnte Höhen, und dem Boom der Rüstungs- und Investitionsgüterindustrie folgte ein Boom der Konsumgüterindustrie. Der Krieg führte in den USA nicht zu einer Politik des „Gürtel-enger-Schnallens“, bezogen auf Löhne und Konsum; im Gegenteil. Die USA versorgten auch Großbritannien, lieferten Rüstungs- und Investitionsgüter, Lebensmittel und Konsumgüter an die Sowjetunion und versorgten nach Kriegsende halb Europa wie nebenher mit. Das Wirtschaftswunder war immer zugleich ein Konsumwunder, das dann auch ohne Krieg und bei erheblich geringeren Rüstungsausgaben weiter funktionierte, also im Ergebnis keine Kriegswirtschaft war. Wichtig ist diese Kombination: Neuverfassung des Sozialen und Einstieg in einen neuen Industrialisierungs- und Investitionszyklus, die fordistische Massenproduktion, wodurch die entscheidenden Kombinationen möglich wurden: Massenproduktion und Massenkonsum, Kapitalverwertung und Teilhabe der Lohnarbeit am wachsenden Reichtum. Der Weg aus der Krise war ein neuer Pfad wirtschaftlicher Entwicklung, der auf der Grundlage des Kapitalismus ein neues Prinzip der industriellen Entwicklung mit einem neuen Prinzip der sozialen Entwicklung kombinierte. Der Weg aus der Krise war nicht die nationale und soziale Diktatur, wie in Deutschland, auch nicht die direktive Planwirtschaft, aber 63 auch nicht eine Politik der Einschränkungen auf Kosten der Arbeiter, wie sie in den konservativen westeuropäischen Ländern versucht wurde, sondern die Neuorientierung des Kapitalismus durch die politisch induzierte Neuverfassung seines sozialen Kontextes und die Konstruktion eines darauf basierenden neuen Pfads industrieller Entwicklung, der bekanntlich während des Zweiten Weltkriegs und danach auf ganz Westeuropa und Japan ausgeweitet wurde und sich schließlich auch in weiten Teilen Asiens etablierte. Erst als dieser Pfad selbst erschöpft war und in die Krise geriet (in den 1970er und 1980er Jahren), führte der Zusammenbruch der staatssozialistischen Wirtschaftssysteme auch diese Länder auf den Pfad eines fordistischen Wohlfahrtskapitalismus – freilich zu einem Zeitpunkt, als dieses Modell schon nicht mehr besonders gut funktionierte. Man mag diese Art wirtschaftlicher Entwicklung, dieses an die Konsumtion der Massen – also vor allem die der Arbeiter – gekoppelte Modell der Kapitalverwertung aus heutiger Sicht kritisieren. Erstens schloss sie die extraordinäre Luxuskonsumtion der ganz Reichen nicht aus, blieb also „ungerecht“, auch wenn sie die Arbeiter am wirtschaftlichen Ergebnis beteiligte. Zweitens löste sie zwar das Problem des Hungers und des Elends für die Bevölkerungsmehrheit in den entwickelten kapitalistischen Ländern, aber kleine Teile der inländischen Bevölkerung und große Teile der Menschen in der sogenannten Dritten Welt blieben von der Teilhabe an der Konsumgesellschaft ausgeschlossen. Drittens aber musste dieser Typ wirtschaftlicher Entwicklung seine eigene Grundlage zerstören, denn er beruhte zwar auf permanenter Steigerung der Arbeitsproduktivität, aber eben nicht auf einer ebenso schnellen Steigerung der Ressourcen- und Energieeffizienz. Die wirtschaftliche Entwicklung ging also mit einer ständig steigenden Belastung der Naturressourcen, des Energie- und Rohstoffverbrauchs, der Abprodukte und der Emissionen einher. Irgendwann mussten die Tragfähigkeitsgrenzen erreicht werden – und sie wurden in mehrerer Hinsicht in den 1970er Jahren erreicht. Man erinnere sich an die 1970er und 1980er Jahre: die Ölkrisen, das Ozonloch, 64 die Versauerungsgase, das Waldsterben, die Vergiftung der Flüsse und Seen – einige dieser frühen Probleme sind heute mehr oder weniger gelöst oder gemildert; man kann hoffen. Aber es bleiben solche, die ungelöst sind und unlösbar scheinen: die CO2-Emissionen, die Erderwärmung, die Klimaprobleme, die Belastung der Weltmeere mit CO2, die Überlastung der Umwelt mit naturfremden Chemikalien, die Probleme der langfristigen sicheren Lagerung der Nuklearabfälle, der dramatische Verlust der Biodiversität und die Destabilisierung wichtiger Ökosysteme der Erde, z.B. der Regenwälder und der Gletscher. Meine These lautet: Seit den 1970er Jahren fressen die negativen Skaleneffekte sinkender Ressourceneffizienz die positiven Skaleneffekte der Massenproduktion, der steigenden Arbeitsproduktivität auf; weltwirtschaftlich haben wir per Saldo wahrscheinlich eine Stagnation der Gesamteffizienz (der Synthese von Arbeitsproduktivität, Ressourceneffizienz und Grundfondseffizienz resp. Kapitalproduktivität) zu konstatieren. Seit den 1970er Jahren kann die Verwertung des Gesamtkapitals also nicht mehr durch steigende Gesamteffizienz der industriellen Produktion erreicht werden, sondern nur noch auf drei anderen Wegen: Erstens durch Umverteilung zulasten der Bevölkerung, also durch partielle Rücknahme des Teilhabeprinzips, der produktivitätsorientierten Lohnpolitik und des Sozialstaats – also der Voraussetzungen, auf denen der Erfolg des Nachkriegskapitalismus beruhte. Zweitens durch Standortwettbewerb, Umverteilung zulasten der Konkurrenten, verwirklicht insbesondere im Modell des Wettbewerbsstaates, mit dem ein Welthandelssystem komparativer Vorteile im Handel mit fordistischen Massenproduktionsgütern und den dafür benötigten Investitionsgütern und Rohstoffen zerstört wurde. Eingeschlossen war die systematische Zerstörung des dazu gehörigen Weltfinanzsystems, beginnend mit dem Ende des Bretton Wood-Modells. Drittens schließlich durch eine Verselbstständigung der Verwertung des Finanzkapitals, der Entstehung eines Finanzmarktkapitalismus, dessen Wirkung in einer Umverteilung des realen Bruttoinlandsprodukts zulasten der Allgemeinheit und zugunsten Rainer Land erfolgreicher Finanzmarktakteure besteht, vor allem aber in der zeitlich befristeten Fiktion eines monetären Wachstums, hinter dem allerdings kein realwirtschaftliches steht. Der Weg der fortgesetzten Deregulierung des Finanzsystems und der Aufblähung des Geldkapitals musste zu Finanzkrisen wie der gegenwärtigen führen. Klar ist, dass alle drei Wege das Problem der Grenzen des fordistischen Typs wirtschaftlicher Entwicklung nicht lösen können, sondern nur hinausschieben. Die einzige logisch mögliche Lösung wäre der Übergang zu einem ressourceneffizienten und umweltkompatiblen Typ wirtschaftlicher Entwicklung. Der Verzicht auf wirtschaftliche Entwicklung wäre aber kein Ausweg, denn er würde den Status quo festschreiben. Die bis heute gegebenen und ohne einen anderenTyp von Industrie unlösbaren Umweltprobleme würden weiter bestehen und den Tod der heutigen Menschheit zur Folge haben. Verzicht auf wirtschaftliche Entwicklung würde bedeuten, auf die künftigen Technologien zu verzichten, mit denen Umweltzerstörung vermieden und die schon bestehenden Umweltprobleme wenigstens teilweise repariert werden könnten. Auch der immer wieder geforderte Verzicht auf Wachstum wäre keine Lösung. Der einmal gegebene Pfad des Bevölkerungswachstums wird frühestens 2050 zu einer Stabilisierung der Weltbevölkerung bei neun bis zehn Mrd. Menschen führen (derzeit knapp sieben Mrd.). Verzicht auf wachsende Produktion von Lebensmitteln, Konsumgütern und Dienstleistungen hätte zur Folge, dass Jahr für Jahr pro Kopf immer weniger verbraucht werden müsste, die Menschen der entwickelten Länder also erheblich mehr abgeben müssten, als die Menschen in der Dritten Welt hinzugewännen. Am Ende litten alle Not. Die einzige Alternative ist eine neue Kombination von Entwicklung und Wachstum, eine wirtschaftliche Entwicklung, bei der eine wachsende Produktion mit sinkendem Ressourcenverbrauch (Energie, Rohstoffe und Emissionen) einhergeht und eine umweltkompatible Industrie entsteht. Verzicht auf Entwicklung und Verzicht auf Wachstum wären tödlich, ebenso wie ein Wachstum ohne Entwicklung oder eine Ent- Die globale Energiewende und die politische Agenda von Barack Obama wicklung ohne Wachstum. Die Alternative ist ein anderer Pfad wirtschaftlicher Entwicklung, Wachstum, basiert auf einem anderen Prinzip wirtschaftlicher Entwicklung, und die Erfindung wie der Aufbau eines entsprechenden neuen Typs von Industrie, natürlich weltwirtschaftlich. Wenn ein solcher Pfadwechsel gelänge, hätte dies weltwirtschaftlich einen noch größeren Investitionsboom und Entwicklungsschub zur Folge als den, der nach dem Zweiten Weltkrieg zur Entstehung des fordistischen Teilhabekapitalismus geführt hat. Die politische Agenda von Barack Obama kann Ausgangspunkt eines neuen Entwicklungspfads werden Die globale Energiewende ist der Schlüssel zu einem neuen Entwicklungs- und Industrialisierungspfad. Dabei handelt es sich nicht um einen einfachen Strukturwandel, sondern um eine industrielle Revolution, die zugleich auch eine wissenschaftlich-technische und eine sozialökonomische Revolution, ein Paradigmenwechsel wirtschaftlicher Entwicklung sein wird. Wir stehen global an einer ähnlichen Wegscheide wie vor 80 Jahren. Die alte Welt der fordistischen Wohlfahrtsökonomie ist am Ende, seit etwa 30 Jahren im Niedergang, und nun zeigt die Weltwirtschaftskrise auch, dass die Auswege – der Weg des Finanzmarktkapitalismus und des Wettbewerbsstaats – Sackgassen waren, die alles nur noch schlimmer gemacht haben. Nötig ist eine neue Kombination: ein anderer Industrialisierungspfad (eine energieeffiziente und ressourceneffiziente Weltwirtschaft) und ein dazu passendes neues Prinzip sozialer Teilhabe, die global zu verfassen wäre (also Indien, China, Afrika und Lateinamerika nicht ausschließen kann). Nötig wäre ebenso eine neue Form globaler Kooperation, die das neoliberale Modell der Exklusion der Überflüssigen und das Prinzip des Wettbewerbsstaates ablöst. Wie damals kann die Krise der Katalysator eines politischen Prozesses werden, der zu einem neuen, auf Zeit (nicht für immer) wieder funktionsfähigen Entwicklungsweg führt. Diesmal geht es nicht nur darum, einen Typ wirtschaftlicher Entwicklung durch politische 65 Evolution, durch politische Auseinandersetzung hervorzubringen, der Kapitalverwertung und soziale Entwicklung bis auf Weiteres wieder miteinander vermittelt (also auf Zeit in Übereinstimmung bringt); diesmal geht es zusätzlich um ein neues Prinzip der Vermittlung von Industrie und Umwelt. Eingeschlossen ist aber die Wiederherstellung des Sozialen, die Aufhebung der neoliberalen Deregulation zulasten der Arbeit – aber nicht durch einfache Wiedereinsetzung der fordistischen Lohn- und Konsumregulation, sondern durch ein Sozialprinzip, das zu einem neuen Naturverhältnis und einer neuen Industrie passt, also Erwerbsarbeit und Massenkonsum bei sinkenden Ressourcenbelastungen ermöglicht. Eingeschlossen ist auch die Wiederherstellung eines auf komparativen Vorteilen basierten Weltmarkts und eines dazu passfähigen globalen Finanzsystems, also die Beendigung des Systems des Wettbewerbsstaates und der Gewinne zulasten der anderen Weltmarktakteure. „Komparative Vorteile“ bedeutet, dass Strategien industrieller Entwicklung dominieren, bei denen potenziell alle profitieren, jedenfalls die Summe aller Gewinne größer ist als die aller Verluste (sogenannte WinWin-Szenarien, von denen in den vergangenen Jahren viel geredet wurde, die aber durch das gegebene Welthandels- und Finanzsystem nicht begünstigt werden). Das bedeutet heute vor allem, nach Strategien einer globalen Energiewende zu suchen, bei denen die Lösung der Energiefrage für die nachholende Entwicklung (also der Ausbau der Energiesysteme in China, Indien, Lateinamerika und Afrika) und der Umbau der Energiesysteme in den entwickelten Industrieländern als eine gemeinsame Aufgabe mit komparativen Vorteilen für alle in Angriff genommen wird; also gerade nicht durch Abwälzung der Lasten auf andere gelöst werden soll. Bis vor wenigen Monaten waren die USA – jedenfalls ihre Regierung und große Teile ihrer Unternehmen und Finanzmarktakteure – der Garant dafür, dass ein politischer Paradigmenwechsel, der längerfristig auf den evolutionären Pfad eines anderen Industrialisierungsmusters und einer anderen sozioökonomischen Konfiguration führt, nicht stattfindet. 66 Doch innerhalb weniger Monate hat sich das Blatt gewendet – vielleicht. Man weiß nicht, ob es gelingen wird, und auch nicht, wie dieser Pfad am Ende genau aussehen wird (so wenig, wie Roosevelt den Wohlfahrtskapitalismus der 1960er Jahre schon 1933 vor Augen hatte). Aber nun ist ein „Wunder“ geschehen. Zu der Agenda des neuen Präsidenten Barack Obama gehören die drei Kernelemente, die nötig wären, um auf einen neuen Pfad sozioökonomischer Entwicklung einzuschwenken. Sie deuteten sich bereits im Wahlkampf an, sind noch deutlicher geworden in der Agenda des Weißen Hauses und in der Politik zur Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise seit Februar 2009. Die Notwendigkeiten, unter großem Zeitdruck die Rezession in den USA zu begrenzen und die sozialen Folgen abzufedern, haben – ganz anders als in Deutschland – nicht zu einer Aufweichung bei der Suche nach einer neuen Strategie geführt, sondern die neue Orientierung auf einen neuen Entwicklungspfad eher verstärkt. Es sind diese drei Komponenten: Erstens die Wiederherstellung und Erweiterung des sozialen Prinzips. Zweitens die Etablierung eines neuen Prinzips wirtschaftlicher Entwicklung, für das die Energiewende den Schlüssel darstellt. Drittens der Übergang zu einem neuen Prinzip der Außenpolitik und der Weltwirtschaftspolitik, bei dem es nicht darum geht, die eigenen Interessen zu vergessen oder zurückzustellen (wer so messen würde, müsste feststellen, dass Obamas Politik nach wie vor Interessenpolitik ist, aber das ist sie wie jede andere Politik auch!), sondern darum, die eigenen Interessen durch Kooperation und Verständigung zu verfolgen, also Positivsummenspiele in der Weltwirtschaft und der Weltpolitik zu suchen. Daher kann es auch nicht um Protektionismus gehen, aber es geht sehr wohl um eine neue Weltwirtschaftspolitik, bei der Gewinne nicht durch Monopole zulasten anderer, sondern durch Kooperation und komparative Vorteile erwirtschaftet werden. Dann, aber auch nur dann ist Freihandel gut. Genau diese Unterschiede müssen durch die Regulation des Weltfinanzsystems und der Weltwirtschaft wieder zu Geltung gebracht werden. Obamas große Leistung ist es heute schon, Rainer Land die Notwendigkeit einer Überwindung der Wirtschaftskrise nicht gegen das soziale Prinzip zu kehren, die Notwendigkeit einer Erneuerung des Sozialen nicht gegen eine Energiewende ins Feld zu führen, und schließlich, die Erneuerung der Stärke Amerikas nicht gegen die gemeinsame Arbeit an einer besseren Weltordnung zu wenden. Wir wissen nicht, ob dies gelingen kann, aber wenn wir wollen, können wir Konturen einer Politik erahnen, die der des New Deal ebenbürtig werden kann. Anmerkungen 1 − − − − − − − − − − − − − − 2 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/New_Deal, 14.3.2009, 14:00. Genannt werden folgende Maßnahmen: staatliche Überwachung der Börsen, Mindestpreise für Agrarprodukte. Die Gewerkschaftsforderung nach einer 40-Stundenwoche fand Unterstützung bei den Unternehmern und wurde eingeführt. Ein freiwilliger Arbeitsdienst (Civilian Conservation Corps – CCC) wurde organisiert, der für die Aufforstung und Bodenverbesserung eingesetzt wurde. Zur Wirtschaftsbelebung wurden 122.000 öffentliche Gebäude, eine Mio. km Straßen und 77.000 Brücken gebaut. Verantwortlich dafür waren verschiedene Behörden (u.a. Civil Works Administration – CWA, Works Progress Administration – WPA). Die Tennessee Valley Authority (TVA) baute 20 Staudämme im Tennesseetal. Die landwirtschaftliche Produktion wurde reduziert, um den Farmern rentable Preise zu schaffen. Die Bundesregierung gewährte den Farmern dafür Geldmittel aus dem Agricultural Adjustment Act (AAA) vom 12. Mai 1933. Den Gewerkschaften wurde eine feste rechtliche Grundlage gegeben, ein formelles Streikrecht wurde eingeführt. Kinderarbeit wurde verboten. Eine staatliche Rente wurde eingeführt. Eine Arbeitslosenversicherung wurde ins Leben gerufen. Für Industriearbeiter wurden Mindestlöhne eingeführt. Ein Steuersystem mit niedrigen Sätzen für Arme und hohen Sätzen für Reiche wurde eingeführt. Der private Gold- und Silberbesitz wurde verboten (von 1933 bis 1974). Ebenfalls bedeutend wurde – jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt – der Reciprocal Trade Agreement Act, bei dem die US-Regierung erste Grundlagen für Freihandel nach dem Prinzip der Meistbegünstigung legte. Vgl. Manfred Lauermann: Das Soziale im Nationalsozialismus, in: Berliner Debatte INITIAL 9 (1998) 1; Wolfgang Schivelbusch: Entfernte Verwandtschaft – Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939. München, Wien 2005. Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2 67 Energiewende international Mit Hermann Scheer sprach Rainer Land Rainer Land: Vor einigen Jahren schilderten Sie Ihre Eindrücke von einer Reise durch die USA. Das Fazit: Energieverschwendung, wohin man sah. Und dazu eine USA-Administration, die ein neues Herangehen an das Thema Klima und Energie systematisch auszubremsen versuchte, das Faktum des industriell verursachten Klimawandels selbst bestritt und national wie international gegen eine neue Energiepolitik wirkte. Die Obama-Regierung hat einen grundlegend anderen Kurs eingeschlagen. Aber schon seit einigen Jahren wird insbesondere aus Kalifornien von beispielhaften Projekten in Unternehmen und Kommunen berichtet, z.B. über Elektroautos, Solaranlagen auf öffentlichen Gebäuden und energieeffizientes Bauen. Bemerkenswert ist auch das Bürgerengagement für eine Energiewende.1 Offensichtlich sind dies nicht nur Einzelbeispiele. Kann man schon von einer Bürgerbewegung für eine Energiewende in den USA sprechen? Hermann Scheer: Mein Eindruck ist, dass die Länder, die überreich sind an nicht erneuerbaren Ressourcen, am weitesten zurückliegen. Das gilt für Brasilien, für Kanada, die USA, für Australien und Russland. Da ist der Druck nicht besonders groß. Wenn man von Öl und Gas absieht, sind die USA von Importen unabhängig, und sie sind auch bei Öl und Gas noch heute weniger importabhängig als die EU oder Japan. Die USA haben eine Importabhängigkeit von etwa 60 Prozent, fast ausschließlich Öl und Gas betreffend. Australien ist Kohleexporteur und Uranexporteur. Kanada hat 30 Millionen Einwohner auf zehn Millionen Quadratkilometern, Brasilien hat acht Millionen Quadratkilometer und 188 Millionen Einwohner, Russland 17 Millionen Quadratkilometer und gut 140 Millionen Einwohner. Überall dort ist der Druck nicht so unmittelbar zu spüren, und es wird sehr viel am Rohstoffgeschäft verdient. Das sind ganz andere Verhältnisse als bei uns mit gut 80 Millionen Einwohnern und 0,35 Millionen Quadratkilometern. Aus diesem Grund sind nicht nur die USA rückständig. Die USA sind aber ein besonderes Problem, weil sie pro Kopf ein Vielfaches der Energie verbrauchen; wegen des amerikanischen „Way of Life“ und des langjährigen Wohlstands sind die Konsumstandards ganz andere als in Russland. Aber sie sind nicht anders in Australien oder Kanada. Interessant ist aber, dass die Basis für erneuerbare Energien in der Bevölkerung der USA viel größer ist, als man hier zumeist annimmt. Das hat sich schon in den 1970er Jahren gezeigt. Damals waren die USA eigentlich das treibende Land bei der Umorientierung auf erneuerbare Energien. Es begann mit den Erfahrungen aus der Ölkrise von 1973. Das hat sie mehr geschockt als die Europäer. Noch unter Nixon gab es 1974 das Energy Independence Project. Dann kam Carter, der hat noch mehr auf die Tube gedrückt. 1978 gab es das Energieautonomie-Gesetz, und in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre hatten die Amerikaner das mit Abstand ambitionierteste Forschungs- und Entwicklungsprogramm für erneuerbare Energien. Und es gab eine richtige Bewegung dafür, ausgehend von Kalifornien. Mit dem Wechsel von Jimmy Carter zu Ronald Reagen brach das 1981 abrupt ab. Die Ölindustrie war der wich- 68 tigste Geldgeber von Reagans Wahlkampagne. Das Forschungs- und Entwicklungsprogramm wurde innerhalb eines Jahres um 80 Prozent rasiert. Viele Institute brachen ein, und die kleinen Firmen, die entstanden waren, wurden aufgekauft – nicht, um sie weiterzuführen, sondern um sie kaltzustellen. Das führte zu einem Hearing im amerikanischen Kongress, aber da war die Messe schon gesungen. In den 1980er Jahren wurde dann überall Entwarnung gegeben, weil die Ölpreise wieder runtergingen – als ob die Ölpreise das einzige Motiv für erneuerbare Energien seien. Diese erste Welle für erneuerbare Energien, in der die USA der Vorreiter waren, hatte mit dem Klimaproblem noch gar nichts zu tun; es ging um Energieunabhängigkeit und saubere Luft. Die 1980er Jahre waren für die erneuerbaren Energien ein verlorenes Jahrzehnt – mit einer einzigen Ausnahme, das war die Bioalkoholstrategie in Brasilien. Die wurde weitergetrieben, weil man merkte, dass man damit unabhängig vom Öl werden könnte. Was wir jetzt erleben, ist ein langer zweiter Anlauf, der von Deutschland ausging. Daran war ich ja maßgeblich beteiligt – nicht zuletzt beim systematischen Widerlegen der Desinformationskampagnen der herkömmlichen Energiewirtschaft: den Behauptungen, dass regenerative Energien vom Potenzial her nicht ausreichten, viel zu teuer seien und über eine Nische nie hinauskommen könnten. Das wurde in Deutschland durch viele außerparlamentarische lokale Initiativen letztlich überwunden, der Weg führte vom „Nein“ zur Atomenergie zum „Ja“ zu erneuerbaren Energien. Im Parteiensystem war die allmähliche Veränderung der SPD-Position in dieser Frage entscheidend. Als Rot-Grün 1998 begann, kamen die weitgehenden Forderungen dazu von uns. R.L.: Lag das daran, dass die Grünen mit „Wachstum“ nichts zu tun haben wollten, regenerative Energien aber eine Strategie für eine andere Art wirtschaftlicher Entwicklung sind, also wirtschaftliches Wachstum nicht ausschließen? H.S.: Man muss bei dieser Frage natürlich das Spannungsfeld zwischen Naturschutz im engeren Sinne und Ökologie im weiten Sinne sehen, das auch vielen Umweltorganisationen Gespräch mit Hermann Scheer zu schaffen macht. Das merkt man ja auch daran, dass Naturschutzargumente für den Widerstand zum Beispiel gegen kleine Wasserkraftanlagen oder gegen Windkraftanlagen angeführt werden. Die administrativen Barrieren, die da aufgerichtet sind, könnten als Stoff für einen Kafka-Roman dienen. Über derartige Maßstabslosigkeit kann man nur mit dem Kopf schütteln. Das Erneuerbar-Energien-Gesetz EEG (ursprüngliche Fassung im April 2000 in Kraft getreten, letzte Fassung vom April 2009) hat in seinem Vollzug alle diese Gegenargumente, alle Desinformationen Zug um Zug widerlegt. Das hat auch geholfen, die internationale Diskussion wieder aufzubrechen. Es geht nicht nur um die Klimadebatte; die Beschränkung oder Fokussierung darauf wäre ein Fehler, der in der gegenwärtigen Debatte häufig gemacht wird. Natürlich ist das Klimaproblem schon für sich genommen ein ausreichender Grund für eine Energiewende. Aber es ist eben nicht nur das. Die Dritte Welt sagt, das Klimaproblem hätten die entwickelten Länder zu verantworten: „Für uns ist wichtig, dass wir überhaupt genug Energie haben, um uns entwickeln zu können.“ Dieses Bedürfnis kollidiert aber mit der Tatsache, dass die konventionelle Energie perspektivisch gar nicht für alle reicht und heute schon immer weniger für alle reicht. Wir sind schon in der Phase der beginnenden Erschöpfung dieser Vorkommen, was ja bedeutet, dass fossile Energien immer teurer werden. Die internationale Energiewirtschaft wird immer mehr zur Angebotswirtschaft, weil die Nachfrage größer ist als das mögliche Angebot. In jedweder Anbieterwirtschaft steigen die Preise. Die Monopolisierung der internationalen Energiewirtschaft ist schon quellenbedingt. Wenige Länder, wenige Eigentümer verfügen über die Vorkommen, aber verbraucht wird Energie überall. R.L.: Es geht also nicht nur um das Klimaproblem, sondern um einen neuen Typ wirtschaftlicher Entwicklung … H.S.: Ja. Auch wenn es das Klimaproblem nicht gäbe, müssten wir erneuerbare Energien beschleunigt nutzen. Wenn man alles Energiewende international dem Klimaproblem zuordnet, dann kommt zwangsläufig der Vorschlag, die Atomenergie auszubauen. Oder solche merkwürdigen Vorschläge wie „clean coal“, die nichts weiter sind als ein Rettungsring für das Weiterführen großer Kohlekraftwerke. R.L.: Das ist die Technologie zur Abscheidung und Speicherung von CO2 unter der Erde (CCS) … H.S.: Unverantwortlich. Denn das darf ja nie wieder raus. R.L.: Zudem würde sich die Abhängigkeit der Dritten Welt von der Weltenergiewirtschaft sowohl bei der Kernkraft als auch bei der Weiterführung der fossilen Energiewirtschaft weiter fortsetzen. Dezentrale Lösungen wären sicher besser, sowohl für die Chancen der Entwicklungsländer, die keine Energieexporteure sind, als auch für die vielen kleinen lokalen Akteure, die neue nachhaltige Entwicklungen begonnen haben und die vielleicht nicht bestehen könnten, wenn die großen Energiekonzerne ihre Monopole behalten. Aber ist eine dominant dezentrale Lösung beim Aufbau regenerativer Energien realistisch? Die internationalen Energiekonzerne leisten ja jetzt schon massiven Widerstand, auch wenn sie gleichzeitig versuchen, selbst in das Geschäft mit den regenerativen Energien einzusteigen. Muss man nicht einen Interessenausgleich, einen Kompromiss mit den großen Energiekonzernen suchen, um Blockaden zu verhindern und den regenerativen Energien zum Durchbruch zu verhelfen? H.S.: Das glaube ich eben gerade nicht. Das ist der Irrtum der Energiepolitik, die über Jahrzehnte von der Energiewirtschaft gesteuert wurde. Es ist ein großer Irrtum, dass man die heutigen großen Energieversorger für den Ausbau der regenerativen Energie zwingend brauchen würde. Sie sind sogar das größte Hindernis. Wozu braucht man sie? Sie sind die einzigen Verlierer dieser Entwicklung! R.L.: Vielleicht braucht man sie nicht, aber werden sie ihren Niedergang stillschweigend hinnehmen? H.S.: Natürlich nicht; aber deshalb braucht man eine Politik, die die Energieversorgung unabhängig von den heutigen Energieversor- 69 gern zu organisieren versucht und dafür die politischen Instrumente bereitstellt. Wir sind auch in Deutschland noch lange nicht über den Berg, und wir haben noch längst nicht alle Privilegien der herkömmlichen Energiewirtschaft beseitigt, auch nicht die der Atomwirtschaft. Dazu gehört die weitestgehende Freistellung von Haftpflichtversicherungen. Es gibt keine Atombrennstoffsteuer. Die widerliche Praxis der steuerfreien Rückstellung für die atomare Entsorgung, die über Jahrzehnte für freie Investitionen verwendet werden können, führt zu ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteilen, wird zur Monopolisierung ausgenutzt. Dann die Planungsprivilegien im Leitungsbau. Jetzt soll ein Planungsprivileg für CCS, für Endlagerstätten und den Bau von Pipelines geschaffen werden. Das ist jetzt in der Gesetzesvorlage. Zu den Privilegien der herkömmlichen Energiewirtschaft gehören auch die Restriktionen gegen erneuerbare Energien; administrative Hemmnisse, die auf der bundespolitischen Ebene meistens gar nicht aufzuknacken sind, weil es sich um Länderangelegenheiten handelt. Beispielsweise die Raumordnung. In der Raumordnungspolitik gibt es die sogenannten öffentlichen Belange, die Vorrang haben. Erneuerbare Energien erscheinen nirgendwo, in keinem Raumordnungsgesetz, als öffentlicher Belang. Damit ist der willkürlichen Verweigerung von Standortgenehmigungen Tür und Tor geöffnet. Das für Hessen 2008 konzipierte Energieprogramm2 baute darauf auf, dass diese Planungswiderstände aufgehoben werden. Diese sind das zentrale Hemmnis, das einem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland entgegensteht. R.L.: Sehen Sie denn in den USA die Chance, dass sich dezentrale Lösungen gegen die herkömmliche Energiewirtschaft durchsetzen? H.S.: Die haben sogar eine größere Chance als wir, wenn sie sie ergreifen, weil in den USA die Staaten größere eigene Gestaltungsspielräume haben. Nicht nur größere Gestaltungsspielräume als die Bundesländer in Deutschland, sondern auch größere Gestaltungsspielräume als die Nationalstaaten innerhalb der EU. Wenn Kalifornien oder Colorado ein Fördergesetz 70 für erneuerbare Energien machen – es gibt keine amerikanische Bundesbehörde, die sagt: „Das dürft ihr nicht, das verstößt gegen das Marktgleichheitsprinzip, gegen die Binnenmarktordnung.“ Hier würde sofort der EU-Wettbewerbskommissar zugreifen. Also die USA haben von der Verfassungsordnung her größere Spielräume für dezentrale Lösungen. R.L.: Und von den Akteurskonstellationen her? Gibt es genügend kleine Unternehmen, Institute, Vereine, Initiativen? H.S.: Das bildet sich dann relativ schnell, sobald der Rahmen dafür da ist. Bislang aber haben sie in den USA noch nicht die adäquate Gesetzgebung dafür. Nur ein einziger Staat hat ein Einspeisegesetz, das mit unserem vergleichbar wäre: Washington. Und Kalifornien arbeitet daran. Davon unterscheiden muss man allerdings, was auf dem Bioenergiesektor passiert. Das ist aber sehr problematisch, weil man der bisherigen Tradition der Monokultur weiter den Weg ebnet. Der Bioalkohol-Boom hat schon unter der Bush-Administration die US-amerikanische Landwirtschaft voll erfasst. Das ist sehr ambivalent, weil es ohne die notwendigen vertieften Überlegungen geschieht. Der Bioenergieansatz gehört dem Spektrum der erneuerbaren Energien an, aber er ist mit Abstand der komplizierteste. R.L.: In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern wurden in den vergangenen Jahren große Biogasanlagen gebaut, die massenhaft Mais benötigen, der eben doch in Konkurrenz zu Nahrungsmitteln erzeugt wird. Andererseits gibt es Landwirte, die Biomasse aus Abprodukten, aus Gülle, Stroh, Mist, Schalen, Reststoffen und biologischen Abfällen, zu Biogas verarbeiten wollen. Dies setzt aber voraus, dass es kleine, lokal einsetzbare Biogasanlagen sind, die mit unterschiedlichen Arten von Biomasse klarkommen und deren Abprodukt (vor allem die in der Biomasse enthaltenen Mineralstoffe) wieder dem landwirtschaftlichen Kreislauf zugeführt werden können. Genau diese Biogasanlagen aber sind die Ausnahme geworden. H.S.: Zum Bioenergieansatz gehört zwingend die Reorganisation der Landwirtschaft Gespräch mit Hermann Scheer insgesamt, und zwar auf der Basis integraler Ansätze: Integration der Nahrungsmittelerzeugung, der Energieerzeugung und der Rohstofferzeugung, und zwar auf eine Weise, dass die Reststoffe, die in jedem dieser drei Bereiche anfallen, jeweils wieder in die landwirtschaftlichen Kreisläufe zurückgeführt werden. Dadurch wird ein mehrfacher Nutzen erreicht, der die Sache rentabel machen kann. Das läuft heute falsch, nach einer linearen ökonomischen Logik. Alles, was man anbauen kann, Nahrungsmittel oder Energie, kann man in desaströser Weise tun; man kann es aber auch nachhaltig machen. Wenn man zu integrierten landwirtschaftlichen Konzepten kommt, dann fällt die Ökologisierung der Landwirtschaft – auch der Nahrungsmittelwirtschaft – viel leichter. Aber dann muss man es integriert tun. Auch die vorliegenden Analysen erfassen das nur unzureichend. Bei Energiebilanzen für den Raps beispielsweise muss man berücksichtigen, dass die Ölkuchen den Import von Soja reduzieren, und auch das trägt zur Verbesserung der Energiebilanz bei. Dann fällt Glycerin an, ein Rohstoff für die chemische Industrie. Auch das Rapsstroh ist ein landwirtschaftlicher Reststoff mit hohem Energiegehalt, den man in der Wärmeproduktion nutzen kann. Und auch die Aschen müssen als Düngemittel berücksichtigt werden. Das alles zwingt zur Dezentralisierung, weil sonst die Transporte zu weit und zu teuer werden. Dies bedeutet, dass man über die landwirtschaftliche Produktionsstruktur und Vermarktung insgesamt diskutieren muss, nicht über Bioenergie isoliert. Nur dann kann man die neuen ökologischen Möglichkeiten erkennen und ergreifen. R.L.: Noch eine Frage zu internationalen Aspekten. Die Internationale Agentur für erneuerbare Energien IRENA3 soll im laufenden Jahr noch mit dem Beitritt der USA rechnen können. Kann IRENA dazu beitragen, den Streit zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern um die Verteilung der Emissionsrechte zu entschärfen? H.S.: Die IRENA ist ja etwas anderes als das Kyoto-Protokoll. Sie ist nicht aus den Weltklimaverhandlungen hervorgegangen. Sie ist ein Ansatz, der von mir entwickelt und Energiewende international seit dem Januar 1990 immer wieder ins Spiel gebracht worden ist, lange bevor von Klimaverhandlungen die Rede war. Bei den Klimaverhandlungen, dem Kyoto-Protokoll, gibt es zwei grundlegende Probleme, die eng miteinander zusammenhängen. Wenn man eine KonsensLösung versucht, auch jetzt bei Kyoto II, wo alle Länder in einen Verpflichtungsrahmen einbezogen werden, dann kann das Ergebnis immer nur eine Minimalverpflichtung sein. Nun kann man pragmatisch und zu Recht sagen, eine Minimalverpflichtung ist besser als gar keine. Wer Konsens haben will, kann aber nicht wirklich beschleunigen. Wer beschleunigen will, darf nicht auf Konsens warten. Wenn man sich auf Minimalverpflichtungen einigt – gut. Aber das darf nicht bedeuten, dass alle bei Minimalverpflichtungen stehen bleiben. Aber indem beides verknüpft wird – und zwar durch die sogenannten flexiblen Instrumente, den Emissionsrechtehandel, die Joint Implementation und den Clean Development Mechanism (CDM) – wird die Minimalverpflichtung faktisch zur Obergrenze, weil anders eine Preisbildung für die Emissionsrechte gar nicht möglich wäre. Jedes Unterschreiten der Obergrenze würde durch sinkende Preise für Emissionen dazu führen, dass die Anreize zur weiteren Senkung der Emissionen wieder vermindert würden, der Ausbau der regenerativen Energien also abgebremst würde. Weil die Minimalverpflichtung zur Obergrenze wird, kommt mehr Lähmung als Dynamik in die Entwicklung. Niemand macht dann mehr, als diese erzwingt. Die Verpflichtungen allgemein höher zu setzen, also das Gesamtvolumen der erlaubten Emissionen schneller zu senken, ist aber schwierig, weil auch unterschiedliche nationale, regionale, wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen und Möglichkeiten berücksichtigt werden müssten. Das alles steht unter der falschen Überschrift, die CO2-Minderung als Last zu empfinden (nicht als Chance). Und dann beginnt der Basar der Lastenverteilung – mit den bekannten Ergebnissen. Der Ansatz, der zu einer Lösung führt, muss im Verständnis einer technologischen Revolution erarbeitet und diskutiert werden. Wenn wir uns die verschiedenen technologischen Revolutionen an- 71 sehen – unabhängig davon, ob sie positive oder negative Ergebnisse hatten – sehen wir: Es gab keine einzige, die durch einen internationalen Vertrag zustande gekommen wäre. In allen technologischen Revolutionen haben diejenigen, die die Notwendigkeiten und Chancen für die Zukunft gesehen haben, gesagt: Wir machen das jetzt. Schneller sein als andere, darauf kam es an, nicht auf ein Abkommen, das sicherstellt, dass alle im Gleichschritt vorgehen und sich am Tempo des Langsamsten orientieren. Wir gehen voran und die anderen werden folgen. Darauf komm,t es an. Wenn ich die zahllosen Initiativen und internationalen Konferenzen bewerte, die fast immer mit einem einzigen Beschluss enden, nämlich der Durchführung einer Folgekonferenz nach dem Motto: global reden, national aufschieben – dann muss ich heute sagen: Dies hat dazu geführt, dass man mit hängender Zunge hinter der Problementwicklung herläuft. Nach 20 Jahren Klimaverhandlungen haben wir heute die Situation, dass der negative Klimaeffekt trotzdem immer größer geworden ist. Der IRENA-Ansatz folgt einer gänzlich anderen Logik. Prämisse ist, die einzelnen Länder zu bewegen, zu befähigen und zu unterstützen, sich die Technologien zur Nutzung der erneuerbaren Ressourcen, die sie jeweils haben, anzueignen und den Ausbau erneuerbarer Energien nach eigenem Gusto voranzutreiben. Und zwar ohne Mengenbegrenzungen. IRENA wird die Aufgabe haben, Regierungen bei der Entwicklung von Politikansätzen für erneuerbare Energien zu beraten. Es muss ja nicht jeder seine Lernkurve von vorn anfangen, man kann von den bisher vorliegenden Erfahrungen lernen. Für erneuerbare Energien gibt es sehr unterschiedliche Konzepte, aber die sind nicht beliebig. Sie müssen zugeschnitten sein auf die jeweilige Situation der Länder, auf die Geografie, die wirtschaftlichen Gegebenheiten, den sozialen und kulturellen Kontext. Erneuerbare Energie führt zu einer breiten Diversität von Energieversorgungssystemen. Einige Länder haben beispielsweise deutlich mehr Wasserkraftpotenzial als andere. Für Länder wie Österreich wäre es ein Kinderspiel, innerhalb von zwei Jahren zu 100 Prozent erneuerbaren Energien zu kommen. Man braucht 72 nur die fast 70% Wasserkraft, über die Österreich verfügt, mit Windkraft zu kombinieren. Die Wasserkraft würde dann als Backup-System fungieren in den Zeiten, in denen nicht genug Wind weht. Wenn nicht genug Wind weht, springt die Wasserkraft ein, wenn viel Windenergie verfügbar ist, drosselt man die Wasserkraftwerke und spart die Energie der Wasserreservoirs für Zeiten mit wenig Wind. Da braucht man keinen Dampf vorhalten wie bei Kondensationskraftwerken, und es gibt kein Speicherproblem. In allen Ländern, die über erhebliche Wasserkraftpotenziale verfügen, ist die Umstellung auf 100 Prozent regenerative Energien ein Kinderspiel. R.L.: Und warum macht die Regierung in Österreich das nicht? Ist das die Energieversorgerlobby … H.S.: Ja sicher. Da es sich zudem in Österreich um öffentliche Gesellschaften handelt, haben die noch einen zusätzlichen Einfluss auf die Politik. Sie denken in alten Kategorien, haben das Neue noch nicht begriffen, sind verschachtelt mit den übrigen alten Energieinteressen. Und sie wollen ihre Wasserkraft gut verkaufen, statt zunächst einmal ihr eigenes Energiesystem zukunftsfähig umzubauen. Die Norweger haben das jetzt eher begriffen. Norwegen hat ja praktisch 100 Prozent Wasserkraft. Aber jetzt gibt es von anderen Ländern Interesse, Energie aus norwegischer Wasserkraft zu importieren. Und natürlich wollen die Norweger exportieren. Dann braucht man aber zusätzliche Kapazität. Vor ein paar Jahren haben die Norweger noch gedacht, Gaskraftwerke zu bauen, um dann mehr Energie aus Wasserkraft ans Ausland verkaufen zu können. Jetzt sind sie endlich so weit zu sagen, das machen wir mit Windkraft. Sie haben ja viele Fjorde, wo üppig Wind weht und ganz wenig Leute wohnen. Das ist die ideale Kombination. Sie könnten zu 50, 60 oder 70 Prozent Wasserkraftenergieexport kommen, wenn sie das Übrige durch Windkraft auffüllen. Dazu muss aber im energiewirtschaftlichen und im energiepolitischen Denken etwas Grundlegendes passieren: Man muss die Strukturen der Energiewirtschaft an den erneuerbaren Energien ausrichten und nicht umgekehrt. Das geht nicht, solange man die Gespräch mit Hermann Scheer herkömmlichen Energien als Grundlage und die erneuerbaren als Ergänzung behandelt; umgekehrt wird ein Schuh draus. Das ist die wichtigste Auseinandersetzung heute. Die meisten Energieexperten sind deshalb fast alle ein Teil des Problems. Das kann man sehr deutlich machen an der Grundlastdiskussion. Man muss von dem Begriff „Grundlast“ weg und zu dem Begriff „Grundversorgung“ kommen. Die Grundversorgung ist die erneuerbare Energie. Das, was sie derzeit noch nicht leisten kann, das machen andere, aber nur, solange erneuerbare Energien es noch nicht können. Also genau umgekehrt denken. Der Begriff „Grundlast“ ist ein Totschlagargument gegen erneuerbare Energien. Dabei wird völlig übersehen, dass die Windkraft beispielsweise in Deutschland schon jetzt zu 60 Prozent in die sogenannte Grundlast geht. Aber das will in die Köpfe nicht rein, weil viele sich nicht vorstellen können, dass etwas, was heute noch 80 Prozent ausmacht, die Reservefunktion ist (lacht), und das, was neu dazu kommt, die Hauptfunktion. Aber genau das ist zukunftsfähiges neues Denken. R.L.: Gehen wir davon aus, dass die erneuerbaren Energien der Beginn und der Schlüssel einer technischen, einer wissenschaftlichtechnischen und industriellen Revolution sind, die zu einem neuen Typ von Industrie führen kann und führen muss, wenn wir überleben wollen. Dabei handelt es sich um eine globale Revolution. Sehen Sie eine Chance, solche Länder wie China und Indien, die heute schon und in Zukunft noch mehr den größten Anteil am Weltwirtschaftswachstum haben und bald die größten Energieverbraucher sein werden, auf diesen Weg mitzunehmen? H.S.: Wenn einzelne Länder beginnen, erneuerbare Energien aufzubauen, dann haben sie in ihrem Energieprogramm vielleicht fünf oder drei Prozent erneuerbare Energien vorgesehen. Daraus macht man heute oft eine falsche Diskussion, weil man diese Zahl als unveränderliche Größe auffasst, die für alle Zukunft festgeschrieben wäre. Daraus werden dann unsinnige Schlussfolgerungen gezogen, beispielsweise bei der Hochrechnung künftiger Energiewende international Emissionen bei diesem oder jenem künftigen Wirtschaftswachstum in China und Indien. Diese Rechnungen stimmen aber nicht. Sehen wir uns die deutschen Energieprogramme vor zehn Jahren an. Da waren erneuerbare Energien minimal. Eine Hochrechnung auf dieser Basis wäre heute schon völlig falsch. Damals haben wir gesagt, 12,5 Prozent bis zum Jahr 2010. Da haben einige aufgeschrien, das sei eine völlige Illusion. Dann haben wir 2004 ausgeweitet auf mindestens 20 Prozent bis 2020. Da gab es wieder Aufschreie. Jetzt sind wir schon bei 18 Prozent und haben erst das Jahr 2009. Und das trotz der Planungswiderstände, die es in zahlreichen Bundesländern gibt. Ich habe das mal ausgerechnet, nur bezogen auf die Windkraft: Wir haben derzeit 24.000 Megawatt installiert in 21.000 Anlagen. Der Kapazitätsdurchschnitt ist 1,2, MW pro Anlage. Würde man bei diesem Bestand durch Repowering (Ersatz der alten durch neue, leistungsfähigere und effizientere Anlagen), was schon lange gefördert wird, aber wegen der Planungswiderstände nicht richtig in die Gänge kommt, den Durchschnitt von 1,2 auf 2,5 MW pro Anlage erhöhen, hätte man eine Verdreifachung der Stromproduktion. Das heißt, wir könnten innerhalb kürzester Zeit von zehn Prozent Windstrom auf 30 Prozent kommen, mit 21.000 Anlagen – das ginge ganz schnell. Zweite Rechung: Wenn alle Bundesländer die gleichen Genehmigungskriterien hätten wie Sachsen-Anhalt – da gibt es eine Anlage pro elf Quadratkilometer – dann hätten wir heute schon 20 Prozent Windkraft. Dies repowert, hätten wir schon 60 Prozent. Das könnte man sehr schnell machen, in fünf Jahren, wenn man will. Also wo ist das Problem? Es sind Planungswiderstände, willkürlich begründet, politisch und ideologisch motiviert. In Bayern, BadenWürttemberg und Hessen haben wir nur 0,5 bzw. 0,46 und 1,8 Prozent Anteil der Windkraft. Das ist offensichtlich politisch begründet, denn Sachsen-Anhalt ist auch kein Küstenland und Brandenburg auch nicht. Ich habe vorgeschlagen, die gesamte A7 – das ist die längste Autobahn Deutschlands von Flensburg bis nach Bayern, davon sind 80 Prozent der Strecke für Windenergie geeignet 73 – für Windkraftanlagen zu nutzen. Das allein würde weitere zehn Prozent ausmachen. Und es gibt kein Problem für die öffentlichen Kassen, es wäre ein Investitionsprogramm von 50 Milliarden, für das es genügend private Investoren gibt. Es hängt nur an den Genehmigungsverfahren der Länder. Man brauchte nur den Vorrang für die Genehmigung. In China ist man im Jahr 2001 noch von drei Prozent erneuerbaren Energien bis 2020 ausgegangen, jetzt geht man schon von 17 Prozent aus. Sobald man mal angefangen hat, darüber ernsthaft nachzudenken, schnellen die Zahlen nach oben. Die 17 Prozent sind also auch nicht das letzte Wort. Das ist ein Prozess zunehmender Erkenntnis der Möglichkeiten. Aber in der Diskussion wird immer so getan, als seien das objektiv berechnete unveränderliche Zahlen. Dabei ist keine einzige objektiv berechnet, auch in Deutschland nicht. Der Entwurf der SPD für das Wahlprogramm sagt: 35 Prozent bis 2020. Auch das ist willkürlich. Warum nicht 50 Prozent? Warum nicht 80? Ich habe es doch vorgerechnet. Ich hatte eine Diskussion mit der chinesischen Staatsplanungskommission und habe denen gesagt, ihr müsst anders rechnen. Bei den vielen Kohlekraftwerken habt ihr doch einen riesigen Wasserbedarf. Das sind ja alles Kondensationskraftwerke. Da sind viele Investitionen erforderlich, um genügend Wasser nach Peking und Schanghai zu bekommen. Meerwasserentsalzungsanlagen, Pipelines und so weiter. Rechnet aus, wie viele Investitionen gespart werden können, wenn man statt Kohle Windkraft nutzt. Da braucht man keinen Tropfen Wasser. Das gehört auch in die Planung. Dasselbe habe ich in Phoenix, Arizona, vorgetragen. Die Stadt hat eine schnell wachsende Bevölkerung, derzeit sind es fünf Millionen Einwohner. Alle leben vom Wasser des Colorado. Das reicht natürlich nicht. Um die Wasserversorgung sicherzustellen, muss zusätzliches Wasser rangeholt werden, zum Beispiel durch Meerwasserentsalzung aus dem Pazifik, verbunden mit Pipelines über eine ziemlich lange Entfernung. In der Nähe von Phoenix stehen aber 4000 Megawatt Atomkraft. Ich habe ihnen gesagt: Überlegt mal, 74 wie viel Wasser ihr sparen könnt, wenn ihr die Atomkraft durch Solar- und Windkraftanlagen ersetzt. Da waren sie völlig erstaunt, haben gesagt, daran haben wir noch gar nicht gedacht. Für eine Kilowattstunde Atomstrom braucht man 3,2 Liter Wasser. Für eine Kilowattstunde Kohlestrom aus einem Kondensationskraftwerk bracht man 2,6 Liter Wasser. Was das bedeutet! 4.000 MW Atomstrom sind ungefähr 30 Mrd. Kilowattstunden. Das wären fast 100 Mrd. Liter Wasser pro Jahr, die benötigt werden, um dieses Atomkraftwerk zu betreiben. R.L.: Und solche Probleme und Lösungsansätze soll IRENA aufzeigen? H.S.: Ja. Sie würde genau solche Wege aufzeigen. Sie soll helfen, Politikkonzepte ausgehend von den geografischen und industriellen Gegebenheiten zu entwickeln – auf der Basis optimalen Wissens über solche Zusammenhänge. R.L.: Und woher kommt das Know-how? H.S.: Dafür wird dann die Organisation aufgebaut. Das wird eine Organisation, die systematisch Informationen auswertet und in Anwendungskonzepte umgießt. Es gibt bei erneuerbaren Energien ein riesiges Informationsdefizit, bis in die Wissenschaft hinein. Die laufende Entwicklung, der Stand der Technik, ihre Anwendungsmöglichkeiten in systemischen Zusammenhängen, darüber wird es systematische Auswertungen und Informationen geben. Das ist eine harte Arbeit, die wird gegenwärtig von niemandem gemacht. Gespräch mit Hermann Scheer Ein wichtiger Gesichtpunkt ist der Aufbau von Manpower. Die meisten Länder haben gar keine Fachleute dafür. Die haben sich nie drum gekümmert. Das sogenannte human capacity-Problem ist riesig. Das wichtigste ist wahrscheinlich, Postgraduierten-Studiengänge dafür aus dem Boden zu stampfen. R.L.: Der kalifornische Gouverneur hat gerade ein Programm finanziert, um arbeitslose Jugendliche für grüne Berufe auszubilden. H.S.: Ja, aber es geht auch um ausgebildete Ingenieure und Architekten, die mit diesen Fragen noch nicht in Berührung waren. Dafür muss man Postgraduierten-Ausbildungsgänge anbieten, dafür muss man die Ausbildungskapazitäten aufbauen. Das sind Grundaufgaben. Und natürlich auch, den Ländern andere Finanzierungsansätze nahezulegen. R.L.: Es sind jetzt 77 Länder, weitere werden dazu kommen. Wie geht es dann weiter? H.S.: Ende Juli fällt die Entscheidung über den Sitz und über den Generaldirektor. Und dann geht die Arbeit los. R.L.: Dann viel Erfolg! Danke für das Gespräch. Anmerkungen 1 2 3 Geo 08/2007, S. 74ff. Nach dem Wahlsieg der SPD 2008 wurde eine rot-grüne Regierung mit Andrea Ypsilanti als Ministerpräsidentin und Hermann Scheer als Minister für Wirtschaft und Umwelt angestrebt. http://www.irena.org (6.4.2009; 10:00 Uhr) Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2 75 Andreas Willnow „Grüner New Deal“? Die Bewältigung der Klimaschutzproblematik vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist eine Realität, die die westeuropäischen Regierungen dazu zwingt, Milliardenpakete zur Rettung der Banken und der Unternehmen des produzierenden Gewerbes sowie zur Ankurbelung der Konjunktur aufzulegen. Gleichzeitig hat die Finanzkrise verdrängt, dass es eine noch viel größere Krise gibt, welche die natürlichen Lebensgrundlagen viel stärker bedroht als die Finanzkrise: die Klimakrise. In diesem Aufsatz sollen die verschiedenen Positionen im Hinblick auf mögliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Suche nach einem Herangehen an Finanz- und Klimakrise geordnet und strukturiert werden. Es wird gefragt: Welche Ansätze werden zur Bewältigung der Klimaschutzproblematik vorgeschlagen, die vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise verfolgt werden sollen? Welche Position ist vor dem Hintergrund der schwelenden Klima- und Finanzkrise ökonomisch und ökologisch am ehesten tragbar? 1. Die globale Erderwärmung und der Klimaschutz als vorrangig politische Probleme Bei der Problematik der globalen Erderwärmung handelt es sich um eine weltweite Herausforderung, der sich die Politik stellen muss. Der vierte Bericht des Weltklimarates lässt keinen Zweifel daran, dass die globale Erderwärmung irreversibel ist und die Folgen gravierend sein werden. Aufgrund der Trägheit des Klimasystems und des langen Zeitraums, in dem die globale Erderwärmung überhaupt abgebremst werden kann, wird die Zeit knapper, um eine deutliche Umkehr in der Klimaschutzpolitik vorzunehmen (vgl. Roth 2007). Spätestens seit der im Oktober 2006 vorgelegten Studie des Chefökonomen bei der Weltbank, Nicholas Stern, ist der weltweiten Öffentlichkeit bekannt, dass die Folgen des Treibhauseffektes drastisch sein werden. Stern wies nach, dass es langfristig kostengünstiger ist, den CO2-Ausstoß zu verringern, als einige Jahre später die Folgen des ungebremsten Klimawandels zu bewältigen. Für den Fall, dass die globale Erderwärmung nicht gestoppt werden könne, sagt der britische Ökonom wirtschaftliche Schäden in Höhe von weltweit 1,8 Billionen Dollar pro Jahr voraus (vgl. Hagelüken 2006). 2. Positionen zur Meisterung der Klimaschutzproblematik vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise Vor dem Hintergrund der schwelenden Bankenund Finanzkrise dachten Vertreter der Politik und der Wirtschaft darüber nach, welche Maßnahmen eingeleitet werden müssen, um dieser Krise Herr zu werden. Sie hatte sich zu stark ausgeweitet, als dass einfach zur Tagesordnung übergegangen werden konnte. Im Folgenden werden die verschiedenen Positionen, welche Ansätze zur Lösung der Klimaschutzproblematik verfolgt werden sollten, ausführlicher erläutert. 76 2.1. Weniger Klimaschutz und eine geringere Belastung mit Umweltabgaben und -steuern Mit der vermuteten Zielkonkurrenz zwischen den Gewinn- und Umsatzzielen auf der einen Seite und dem Umweltschutz als Unternehmensziel auf der anderen ist es zu erklären, weshalb viele Unternehmen vor einem „Diktat der Ökologie vor der Ökonomie“ warnen. Besonders die energieintensiven Unternehmen, die für ihre Produktion viel Energie benötigen, befürchten, dass durch die Verknappung ihrer CO2-Emissionsrechte ihre Kosten deutlich ansteigen werden (vgl. Rubner 2007). So ist Hartmut Bunsen, Sprecher der ostdeutschen Unternehmerverbände, der Auffassung, die deutsche Wirtschaft hätte durch die hohe Ökosteuer und die Umlage der Mehrkosten aus der Förderung der erneuerbaren Energien eine viel zu hohe Bürde zu tragen. Die zusätzlichen Aufwendungen seien drastisch, und die Folge wären der Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und horrende Energiekosten. Auch der Hauptgeschäftsführer des DIHK, Martin Wansleben, ist dieser Auffassung: „Angesichts der aktuellen Finanzmarktkrise, die die reale Wirtschaft erreicht hat, muss Europa die bisherige Energie- und Klimapolitik auf den Prüfstand stellen. Notwendig ist eine umfassende Bestandsaufnahme mit dem Ziel: Entlastung der Unternehmen statt Belastung“ (zit. bei Boss 2008a). Obwohl sich der BDI formal zum Klimaschutz und zum Emissionshandel bekennt, macht sich dieser Verband nach eigenen Angaben dafür stark, dass die Energie für Wirtschaft und Verbraucher bezahlbar bleibt. So forderten die Spitzenverbände in einem Positionspapier die Verdopplung der Mittel für die Energieforschung auf eine Milliarde Euro, die Steigerung der Energieeffizienz, die größere Diversifizierung der Transportquellen fossiler Energieträger sowie die Beibehaltung der kostenlosen Zuteilung der Emissionsrechte an Industrie und Energieversorger. Notwendige Investitionsvorhaben in Kraftwerke und Netze dürften auf der nationalen Ebene nicht mehr durch die Politik blockiert werden, und der Atomausstieg müsse zurückgenommen werden (vgl. ebd.). Andreas Willnow Auch einige Wissenschaftler und Politiker raten strikt davon ab, die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die Klimaschutzproblematik gleichzeitig bewältigen zu wollen. Die Unternehmen seien aufgrund der Wirtschaftskrise ohnehin schon in ihrer Existenz bedroht. Um ihr Überleben zu sichern, sollten diese nicht durch weitere Umweltschutzvorgaben belastet werden. Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Michael Glos ist der prominenteste Vertreter dieser Denkrichtung; er warnt zugleich vor einem riesigen Subventionsprogramm für die gesamte Automobilindustrie. Die weitere Belastung der Wirtschaft mit überzogenen Umweltzielen würde dieser „Hilfe zur Selbsthilfe“ entgegenstehen und die Unternehmen in dieser Krisensituation nur unnötig belasten. Vielmehr müssten die Vorgaben für die Automobilindustrie, den CO2-Ausstoß ihrer Fahrzeuge zu verringern, realistisch sein. Auch der Emissionshandel müsse ab 2013 so ausgestaltet werden, dass die Industrie nicht unnötig belastet oder gar aus Europa vertrieben wird. Deshalb sei es auch notwendig, die Maßnahmen der Bundesregierung zur Stabilisierung der Konjunktur EU-weit abzustimmen (vgl. Pfister/Sauga 2008). 2.2. Rein marktwirtschaftliche Reformen zur Meisterung der Klimaschutzproblematik Von den Wissenschaftlern ist der Ökonom Hans-Werner Sinn am ehesten dieser Denkrichtung zuzuordnen (vgl. Sinn 2008). Seine Hauptkritik an (fast) allen Klimaschutzmaßnahmen speist sich aus seiner Ansicht, das (reine) Marktsystem, welches Sinn offenbar in allen Punkten für überlegen hält, werde einer „grünen Ideologie“ geopfert. Offenbar meint Sinn, es sei für Deutschland am besten, wenn es zur Ideologie zurückkehre, wonach „der Markt alles richte“. Jedenfalls sei das Klimaproblem am besten zu lösen, wenn „das Land die Zukunft dem Markt anvertraut, weil dieser eben ein ‚überlegenes Organisationssystem‘ sei“ (Lölhöffel 2008). Dagegen sei in Deutschland grüne Politik zur Staatsdoktrin mutiert, der aus taktischen Gründen zuweilen auch die Bundeskanzlerin Merkel anheimgefallen sei. „Grüner New Deal“? Auch Sinn muss einräumen, dass die Politik angesichts der Klimakrise neue Wege gehen müsse; er verwirft aber fast alle bisher gewählten Wege als ketzerischen Verstoß gegen ordnungspolitische Grundprinzipien. Er lehnt sowohl die Ökosteuer, das Erneuerbare-Energien-Gesetz als auch das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz ab, die er als systemwidrige Eingriffe in das Marktgeschehen betrachtet. Einzig und allein den Handel mit Treibhausgas-Emissionsrechten befürwortet der Ökonom, da dieses ein marktwirtschaftlich sinnvolles Instrument darstelle. Andererseits ist Sinn der Auffassung, dass die einseitige Ausrichtung auf ökologische Technologien und ökonomische (Fehl-)Anreize die deutsche Wirtschaft hemmten, wie das in keinem anderen Land der Welt der Fall sei. Sinn ist der Auffassung, dass zwar eine ökologische Politik erforderlich sei und die Bundesregierung tatsächlich Maßnahmen einleite; diese lehnt er aber als ökologische Interventionen des Staates ab. Die Politik gebe zwar Milliarden für den Umwelt- und Klimaschutz aus. Es sei jedoch illusorisch, davon auszugehen, dass Klima, Natur und die zukünftigen Generationen tatsächlich davon profitieren würden. Die Politik gaukle nur vor, durch die Förderung von regenerativen Energien wie zum Beispiel Strom aus Solarzellen oder die Windkraft die CO2-Emissionen zu verringern oder gar den Klimawandel zu verlangsamen. Er widerlegt die Vorstellung, wonach durch die Förderung von regenerativer Energie über hohe Einspeisevergütungen für Wind- und Solarenergie-Produzenten CO2-Emissionen vermieden würden. Dieses funktioniere deshalb nicht, weil der EU-weite Handel mit Emissionszertifikaten die Erfolge der Wind- und Solarförderung komplett kompensiere (o.V. 2008b; Lölhöffel 2008). Sinn schreibt: „Jeder weitere Windflügel, der auf deutschen Dächern errichtet wird, und jede Solaranlage, die auf deutschen Dächern glitzert, kurbelt im gleichen Umfang, wie hier Strom erzeugt und die Emission von Treibhausgasen vermieden wird, die Produktion entsprechender Treibhausgase im Rest Europas an. Es hilft zwar dem Geldbeutel, nicht aber dem Klima, wenn man den Fernseher von Standby auf Off schaltet ...“ (Sinn 2008: 177) Und auch von der Umstellung von 77 Glühlampen auf Energiesparlampen profitiere der Klimaschutz in Wirklichkeit nicht. Das Buch von Hans-Werner Sinn ist einerseits eine interessante Streitschrift; andererseits ist das Bemühen des Wissenschaftlers offenkundig, aus ideologischen Gründen und seinem Dogma der „reinen Marktwirtschaft“ (fast) jede sinnvolle Maßnahme zur Umkehr in der Klimaschutzpolitik zu negieren. Der Ökonom hält fast dogmatisch an seiner tradierten Vorstellung fest, Deutschland solle nicht aus der Atomenergie aussteigen, weil von ihrer Strahlung „keine akute Gefährdung“ ausginge. Er kann lediglich dem Argument etwas abgewinnen, dass Deutschland durch die massive Förderung regenerativer Energien eine Technologieführerschaft in einer eingeschränkten Branche erreicht habe. Die Tatsache, dass diese Förderung Arbeitsplätze schaffe, sei angesichts der Milliarden-Förderung nicht zu vermeiden. Allerdings wären diese Arbeitsplätze Folge einer ansonsten wenig sinnvollen MilliardenSubvention. Dagegen muss seine kritische Frage, inwieweit Deutschlands Umweltprogramme mehr den Profitinteressen einer speziellen Gruppe von Unternehmen und ihren Eigentümern als dem Klimaschutz dienten, tatsächlich ernst genommen werden. Hier trifft sich die Argumentation von Sinn nicht nur mit der der Ökonomen Hans-Christian von Weizsäcker und Jochen Weimann (2008: 1ff.), sondern auch mit den Argumenten linker Klimaschutzaktivisten. Es hört sich zunächst alles gut an: Mit einem ökologischen Investitionsprogramm werde sowohl etwas für den Klimaschutz als auch etwas für Konjunktur und Arbeitsplätze bewirkt. Man setzt die Wirtschaft mit zusätzlichen Kosten und Auflagen auf ein anderes Produktionsgleis und bewirkt so einen selbsttragenden Aufschwung. Genau diese Logik ist aber umstritten. Es wird hinterfragt, ob die „grünen“ Technologien überhaupt die Kapazität haben, Investitionen von der Größenordnung umzusetzen, die notwendig wären, um allein der Klimakrise Herr zu werden. Zudem würden die Investitionen in „grüne Technologien“ ertragreich sein und später Gewinne abwerfen. Gerd Held hat 78 diese Kritik in folgende Worte gekleidet: „Der kritische Punkt ist nämlich: Eine Umweltinvestition ist noch keine Anlageinvestition. [...] Die Ausgaben für den Erhalt eines bestimmten Klimazustandes verbessern nicht automatisch die Wertschöpfung von Unternehmen. [...] Nur wenn ein Stück Umwelt in eine nachhaltig nutzbare Anlage verwandelt wird, gewinnt das Wirtschaftsleben. Eine teure Wärmedämmung in Gebäuden, in denen spätere Generationen gar nicht mehr leben, verbrennt mühsam verdientes Geld. Ob eine Investition in dem riesigen Heuhaufen ‚Umwelt‘ den richtigen Punkt getroffen hat, stellt sich erst auf längere Dauer heraus.“ (Held 2009) Lediglich das System für den Handel mit Treibhausgas-Emissionsberechtigungen der Europäischen Union, das als eine „marktgerechte Lösung“ der Klimaschutzproblematik betrachtet wird, stößt auf die Zustimmung der Verfechter der „reinen“ Marktwirtschaft. Und in der Tat scheint der Ansatz dieses Lizenzsystems, dessen Funktionsweise zunächst in den USA erprobt wurde, auf den ersten Blick sehr erfolgversprechend zu sein: Die Politik legt die Menge an erlaubten CO2-Emissionen für die Wirtschaft fest; in dieser Höhe werden Rechte, die gehandelt werden können, vergeben oder versteigert. Dadurch erhält der CO2-Ausstoß einen Preis, die Kosten des Klimaschutzes werden sichtbar, und überschüssige Emissionsrechte können gekauft bzw. verkauft werden, sodass CO2-Emissionen dort reduziert werden, wo es am kostengünstigsten ist. Nur hat dieses System andererseits eine Reihe von Problemen. Der erste Denkfehler besteht darin, dass die Existenz eines EU-weiten Systems für den Handel mit TreibhausgasEmissionsberechtigungen schon per se eine Garantie für mehr Klimaschutz sei. Genau das ist der EU-Emissionshandel nicht. Entscheidend sind allein die Knappheit der Zertifikate und die Festlegung der Obergrenze für die Berechtigung zum Ausstoß der Treibhausgase. Mit der Festlegung der Obergrenze an Treibhausgasemissionsberechtigungen kann die Politik darauf Einfluss nehmen, wie viel Emissionen in einer Handelsperiode ausgestoßen werden dürfen bzw. wie stark die Emissionen in einer Handelsperiode sinken (vgl. Mrusek 2008). Andreas Willnow Des Weiteren ist darauf zu achten, dass die Zertifikate in den folgenden Handelsperioden weiter verknappt werden, damit auch der Kohlendioxid-Ausstoß weiter reduziert sowie der Handel an der Strombörse EEX nicht durch Absprachen manipuliert und der Preis der Emissionsberechtigung für eine Tonne CO2 nicht beliebig gedrückt wird. Zudem gibt es eine Reihe weiterer Systemmängel: Erstens gibt es Branchen, für die Ausnahmeregelungen erdacht wurden. Zweitens kommt es zu kostenmäßigen Verschiebungen zwischen den Branchen. Drittens haben die Konzerne die Emissionsrechte in ihrer Bilanz verbucht und damit Milliardengewinne erzielen können, was eigentlich nicht der Sinn des EU-Emissionshandels ist. Die Emissionsberechtigungen sollten trotzdem in den Folgeperioden nicht mehr kostenlos abgegeben, sondern versteigert werden. Lediglich für die energieintensiven Industriezweige könnte über eine kostenlose Abgabe der TreibhausgasEmissionsberechtigungen nachgedacht werden, weil diese ihre Klimakosten nicht überwälzen können und mit ihren Industrieprodukten im globalen Wettbewerb stehen. 2.3. Rücknahme des Ausstiegs aus der Kernenergie als eine vermeintliche „klimaschonende“ Alternative Daneben gibt es eine (kleine) Gruppe von Vertretern aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, die den Klimawandel anerkennt, vor diesem Hintergrund aber den Ausstieg aus der Atomenergie rückgängig machen möchte. Der Ausstieg aus der Kernenergie sei falsch, weil es keine bezahlbare, klimafreundliche Alternative dazu im Grundlastbereich gäbe. Jedenfalls bestünde bei der Atomkraft nicht das Problem der riesigen CO2-Emissionen, das bei den Kohlekraftwerken bestünde. Die Forderung nach bezahlbaren Energiequellen und einer sicheren, stabilen Energie- und Stromversorgung mache es notwendig, die Kernenergie zu behalten (Cornelius-Gaus 2008; o.V. 2008c). Unter dem Vorwand des Klimawandels versuchen einflussreiche Kreise der Wirtschafts- und Atomlobby, den Ausstieg aus der „Grüner New Deal“? Kernenergie rückgängig zu machen. Dabei geben sie auf wichtige Fragen wie das Risiko des Betriebes und die Atommüllendlagerung keine Antwort. Zwar gibt es das Problem des Klimawandels, dem auch eine Umstellung der Energieversorgung folgen muss. Allerdings ist Deutschland mit der Modernisierung des Kraftwerksparks schon dabei, diese Umstellung vorzunehmen. Zwar müsse Deutschland seine Abhängigkeit von knapper und teurer werdenden Rohstoffen verringern. Dazu müsse man allerdings nicht nur aus den Kohlekraftwerken mit den hohen CO2-Emissionen, sondern auch aus den risikoreichen Atomkraftwerken aussteigen. Abschließend ist festzustellen, dass ein Ausstieg aus dem Atomausstieg aufgrund des hochriskanten Betriebs der Kraftwerksblöcke und der ungelösten Probleme im Zusammenhang mit der Endlagerung des Atommülls abzulehnen ist. Die Fristen für den Atomausstieg müssen auch ohne negative Auswirkungen im Grundlastbereich eingehalten werden können, soweit der Bau der Gaskraftwerke bis dato ohne Probleme fortgeschritten ist. 2.4. Eine ökologische Neuausrichtung des Kapitalismus ohne Veränderung der Weltfinanzarchitektur Jeanne Rubner geht sogar noch weiter, wenn sie einen neuen „Öko-Kapitalismus“ ausruft. Das ist auch gar nicht anders möglich, weil im Gegensatz zu den 1970er Jahren, in denen das Öl (trotz der Ölkrise) noch recht „preiswert“ blieb, nun mit dem Rückgang der Rohstoffvorräte und einem deutlichen Preisauftrieb der Rohstoffe zu rechnen ist. „Der Klimawandel trifft zusammen mit einer Energiekrise. Weil sich aber die Lösungen für beide ähneln – wer Energie spart, schont das Klima –, kann der Kampf gegen die Erderwärmung ökonomisch so unsinnig nicht sein.“ (Rubner 2007: 16) Obwohl viele Bosse Sterns Prognosen noch als „Angstmache“ verteufelten und vor einem „Diktat der Ökologie vor der Ökonomie“ warnten, sind sie doch schon längst dabei, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren. Auch wenn sie hier eher als Getriebene denn als Handelnde agieren, denn ihre Klimapolitik 79 dürfte weniger von Visionen und Sorge um den Umweltschutz als von Eigeninteresse getrieben sein. Den betrieblichen Führungskräften ist klar, dass es auf jeden Fall eine Begrenzung des Ausstoßes von Treibhausgasen geben wird; doch das Instrumentarium, mit dem das geschehen soll, ist noch unklar (vgl. Piper 2007). Auch wenn die Industrie so sehr vor zu ehrgeizigen Zielen warnt, wittert sie zugleich in der „grünen Konjunktur“ ein besseres Unternehmensimage und neue Geschäfte. So hat General Electric bereits 2002 Zahlen vorgelegt, wie viele Millionen Tonnen CO2 das Unternehmen emittiert hat. Genauso können die Unternehmen auch mit dem Umweltschutz werben, auch wenn offenbleibt, ob das deklarierte ökologische Engagement immer durch Taten gedeckt ist. Allerdings muss davor gewarnt werden, nun auch noch neue, effizientere Kohlekraftwerke als Beitrag zum Umweltschutz zu deklarieren. Die grüne Welle hat dazu geführt, dass neue Geschäftsbereiche entstanden und Kunden gewonnen wurden, was zu Wirtschaftswachstum und mehr Arbeitsplätzen führen kann. Der Trend zur „grünen Wirtschaft“ lässt inzwischen auch die Versorgerunternehmen nachdenken. Die großen Energieversorger sind dabei, die Effizienz ihrer Kraftwerke zu erhöhen und in neue Energien zu investieren. Beispielhaft sollen hier die Milliardeninvestitionen der großen Energiekonzerne in Offshore-Windparks in der Nord- und Ostsee sowie in Geothermie-Projekte genannt werden. Diejenigen Unternehmen, die sich nicht rechtzeitig mit den nötigen Strategien und Technologien beschäftigen, laufen Gefahr, wichtige Marktanteile zu verlieren (vgl. Werthschulte 2008). Auch das Interesse von Investoren an Firmen, die Biosprit herstellen, hat stark zugenommen. In Deutschland haben die regenerativen Energien mittlerweile 15 Prozent Marktanteil am gesamten Strommarkt erreicht (vgl. Schanzmann-Weg 2008). Die Energie-Expertin Claudia Kemfert vom DIW verweist vor allem auf zwei Bereiche, in denen die Unternehmen weitere Innovationen schaffen sollten: auf den Mobilitäts- und den Heizungsbereich. Im Mobilitätsbereich gehe es darum, neue Automobile mit einer besseren Nutzung von Benzin oder Öl sowie 80 neue Antriebssysteme zu entwickeln; im Heizungsbereich darum, neue Heizsysteme zu entwickeln, die Gebäude besser zu dämmen und zu isolieren sowie ihre Energiebilanzen zu verbessern. Auch damit könne die deutsche Volkswirtschaft unabhängiger von den Rohstofflieferungen anderer Länder werden (vgl. Kollenberg 2008). Letztlich geht es um massive Investitionen in neue Technologien für mehr Energieeffizienz, um die Abhängigkeit Deutschlands von den erdöl- und erdgasexportierenden Ländern zu verringern und den technologischen Vorsprung Deutschlands in dieser Branche auf den Weltmärkten zu halten und auszubauen. Diese Projekte versprechen gerade dem Mittelstand wie auch dem Handwerk neue Ertragschancen und der Bevölkerung neue Arbeitsplätze. Jetzt gehe es bloß noch um die unternehmerische Umsetzung dieser Projekte und um ihre Finanzierung. Schumann und Grefe haben sich mit der Frage auseinandergesetzt, in welchem Umfang ein notwendiger Bewusstseinswandel in Wirtschaft und Gesellschaft stattgefunden hat, um dem Klimawandel zu begegnen. Statt den Fokus darauf zu legen, wie man der Umweltund Klimazerstörung am besten Herr werden könne, haben die weltweiten Wirtschaftsführer nun entdeckt, dass man aus Ökologie Geld machen kann. Falls das Motiv, mit dem Klimawandel Geld zu verdienen, zur Umkehr des Klimawandels führen würde, könnte man darüber diskutieren. Dass der globale Markt für Umwelt- und Klimaschutztechnologien expandiert und jährlich um acht Prozent wächst (HWWI/Berenberg-Bank 2007), ist das eine. Aber wird hier wirklich etwas zur Begrenzung des Flächenverbrauchs getan? Oder entsteht hier nicht eine neue Blase, wenn die Finanzindustrie jetzt dabei ist, diesen Sektor zu pushen? (Vgl. Schumann/Grefe 2008: 229ff.) Dass es in Deutschland mittlerweile einen Machtkampf um den Klimaschutz zwischen den energieintensiven und den neuen „grünen“ Industrien gibt, ist erst einmal eine Tatsache. Hier steht tatsächlich „Kapital gegen Kapital“. Und dass sich dieses Kräfteverhältnis zugunsten der „grünen“ Industrien verschiebt, ist politisch zu begrüßen. Aber zum einen darf Andreas Willnow dieser Umstieg in der Klimapolitik nicht auf Kosten der sozial Schwachen ausgetragen werden, die diese Katastrophe nicht verursacht haben. Zum anderen wird zunehmend mehr über den Klimaschutz geredet, als tatsächlich getan wird. Wenn beispielsweise über die neue CCS-Abscheidetechnik oder über effizientere Kohlekraftwerke nachgedacht wird, hat das nichts mit einem Wechsel in der Klimaschutzpolitik, sondern mit weiterem Beharren zu tun (ebd.: 243ff.). Richtig problematisch wird es allerdings, wenn sich zunehmend auch die Renditejäger auf den Ökotrip begeben: „Denn im Gleichklang mit Stern widmet auch die mächtigste aller Wirtschaftsbranchen dem Thema Erderwärmung größte Aufmerksamkeit: die Finanzindustrie. Während deren Manager und Händler mit ihrer atemlosen Jagd nach Rendite an den Kapitalmärkten in aller Welt Instabilität verursachen, zählen die gleichen Akteure an der Klimafront zu den hartnäckigsten Antreibern für den schnellen ökologischen Umbau. [...] Nicht nur die drohenden Katastrophen entziehen sich der Berechnung, noch unkalkulierbarer sind die möglichen politischen Reaktionen und damit die Rahmenbedingungen für Geschäfte jeder Art. Nicht zufällig sind die Lenker der Weltfinanzströme darum für schnelles Handeln, damit sie die [...] Veränderungen ‚einpreisen‘ können.“ (Ebd.: 229). Die Finanzindustrie pusht neue Umweltund „Klimaanlagen“, ohne dass klar ist, ob die Unternehmen und Investitionen tatsächlich die erwarteten Renditen erzielen. Wird hier eine neue Renditejagd gestartet, und kann so die Bewältigung der Klima- und Umweltkrise gelingen? Die steigenden Lebensmittel- und Energiepreise sowie die Fehlkalkulation beim Biosprit, die durch die Flächenkonkurrenz zum weltweiten Anstieg der Lebensmittelpreise geführt hat, mögen hier einen ersten Vorgeschmack geben. Eine Reduzierung des Ressourcenverbrauches ist zwar notwendig; ein neuer Ökokapitalismus ohne die Lösung der Verteilungsfrage, der Ernährungsfrage und ohne die Regulierung der Finanzmärkte reicht aber nicht aus. Soweit deshalb nur eine ökologische Neuausrichtung des Kapitalismus gemeint ist, ohne dass sozial- und wirtschaftspolitische „Grüner New Deal“? Leitplanken gesetzt werden, muss diesem Ansatz widersprochen werden. Tadzio Müller ist zuzustimmen, wenn er eine solche Politik der „Ökologisierung des Kapitalismus“, die soziale Leitplanken (Einführung von Mindestlöhnen, geringere Eigenkapitalrenditen) vernachlässigt und kein anderes Wachstumsmodell anstrebt, alles andere als sozial oder ökologisch fortschrittlich nennt. Emanzipatorisch sei eine solche Politik schon gar nicht. Ohne eine starke Arbeiterbewegung, die hohe Löhne erzwingt, werden diese niedrig bleiben, während andererseits die Lebenshaltungskosten deutlich steigen werden. Eine progressive Politik dürfe nicht von den sozialen Bewegungen abgekoppelt sein, müsse neoliberaler Umstrukturierung widerstehen und dem Grundgedanken der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit folgen (Müller 2009). Auch Oliver Wendenkampf vom BUND setzt sich mit der These auseinander, wonach die Klimakrise und weitere Umweltprobleme nur über technologische Innovationen gelöst werden könnten. Notwendig seien vielmehr die Festlegung sozialer und ökologischer Leitplanken sowie eine Gesellschaft der Teilhabe. Wendenkampf verlangt in seinem Plädoyer deutliche politische Veränderungen auf globaler und lokaler Ebene sowie soziale und ökologische Verantwortung, fordert aber in der Endkonsequenz keinen Systemwechsel weg von der ökokapitalistischen Wirtschaftsordnung (vgl. Wendenkampf 2008/09). Häufig wird versprochen, die Wirtschaftskrise in Deutschland dadurch überwinden zu können, dass durch erhebliche Investitionen in „grüne“ Technologien (zum Beispiel in erneuerbare Energien und umweltfreundliche Autos) neue Produktivitäts- und Profitpotenziale erschlossen und damit neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Dass mehr Gelder in erneuerbare Energien gesteckt werden sollen, ist mittlerweile fast konsensfähig geworden. Strittig ist lediglich noch die Frage, ob die erneuerbaren Energien Teil eines neuen Energie-Mix sein sollen oder, wie der „Solarpapst“ Hermann Scheer meint, damit perspektivisch tatsächlich der gesamte Energiebedarf in den westlichen Industriestaaten abgedeckt werden kann (vgl. Voosen 2008). Dagegen verweist Bernd Hilder 81 darauf, dass (gerade in der Krise) regenerative Energieträger wie Wasser, Sonne und Wind noch kein Garant für die Sicherheit der Energieversorgung und moderate Preise sind. Dafür wären riesige Investitionen notwendig, die die Staatsverschuldung in die Höhe treiben würden. Hilder (2008) zieht diesem Szenario den Ansatz eines „wirtschaftlich gesunden Energie-Mix“ vor. Stephan Kohler, Chef der Deutschen Energieagentur, ist der Auffassung, dass jetzt in großem Umfang in neue Energien investiert werden müsse, um die Wirtschafts- und die Klimakrise in den Griff zu bekommen. Es sei notwendig, Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz einzuleiten und in großem Maßstab in die Modernisierung der Energieinfrastruktur zu investieren. Damit könnte ein Konjunkturimpuls gesetzt und ein Beitrag zur Senkung der CO2-Emissionen geleistet werden. Gleichzeitig würden auf diesem Weg zahlreiche neue Arbeitsplätze entstehen. Notwendig sei an erster Stelle ein (ökologisches) Gebäudesanierungsprogramm. Es bestehe ein enormer Sanierungsstau bei Schulen, Krankenhäusern und Verwaltungsgebäuden. Diese sollten jedoch nicht nur saniert, sondern auf energiesparende Weise instandgesetzt werden. Damit würden zum einen wichtige Arbeitsplätze in Mittelstand und Handwerk geschaffen werden. Zum anderen könnte man durch diese Investitionen in die Energieeffizienz die Abhängigkeit der Volkswirtschaft von Erdöl und Erdgas verringern. Deshalb sei die Bundesregierung dazu angehalten, mit ihrem Konjunkturprogramm vor allem Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz im Bereich der Gebäudesanierung zu fördern. Weiter schlägt der Chef der Deutschen Energieagentur vor, in die Modernisierung der Energieinfrastruktur zu investieren. Die Erhöhung des Anteils der regenerativen Energien sei notwendig, um die Abhängigkeit vom Erdöl und den erdölexportierenden Ländern zu reduzieren. Allerdings ist Energie aus Wind und Sonne nicht zu jedem Zeitpunkt verfügbar, weil Windstärke und Sonneneinstrahlung schwanken. Deshalb sei die Modernisierung des deutschen Stromnetzes unabdingbar, um die schwankende Energieerzeugung aus Wind und Sonne besser 82 aufnehmen, speichern und transportieren zu können (vgl. Kohler 2009). Ullrich Heilemann spricht in diesem Zusammenhang von einem Investitionsstau in der deutschen Energiewirtschaft; er beziffert diesen auf bis zu 80 Milliarden Euro. Seine Ursachen lägen laut Heilemann in langwierigen Genehmigungsverfahren, Unsicherheiten bezüglich der Gestaltung des Emissionshandels sowie in Akzeptanzproblemen der Bevölkerung gegenüber notwendigen Kraftwerksneubauten (vgl. Boss 2008b). Laut Kohler sei zudem die Transparenz des Energieverbrauchs bei den Konsumenten zu erhöhen, indem intelligente Stromzähler entwickelt und eingeführt werden, die den aktuellen Stromverbrauch anzeigen. Transparenz bei den Endverbrauchern sei eine wesentliche Voraussetzung für die Einsparung von Energie. Des Weiteren sollten Pilotprojekte für Gewerbe und Industrie eingeführt werden, mit denen gezeigt werden könnte, wie Unternehmen zu „Niedrig-Energie-Unternehmen“ umgebaut werden können. Mit diesem Begriff meint Kohler Unternehmen, die mit nur halb soviel Energie wie bisher produzieren. Der Chef der Deutschen Energieagentur verweist hier auf die mit den ökologischen Effekten einhergehenden ökonomischen Vorteile: Mit der Einsparung von Energie könnten die Unternehmen ihre Produktionskosten deutlich senken und damit auch ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Kohler ist dahingehend zuzustimmen, dass die deutschen Unternehmen mit ihren Investitionen in die regenerativen Energien und der Erhöhung der Energieeffizienz auf diesem Gebiet eine weltweite Technologieführerschaft erreichen und den Ruf der deutschen Unternehmen, die für Innovationen, technisches Wissen und Qualitätsprodukte bekannt sind, stärken können (vgl. Kohler 2008: 24). Der Ansatz von Kohler erscheint auch und gerade in der Zeit der Wirtschaftskrise als sehr vernünftig. 2.5. Ein „Grüner New Deal“ zur Bewältigung von Finanzkrise und Klimaschutz Das Konzept des „Grünen New Deals“ knüpft an die grundlegende Umkehr der US-ameri- Andreas Willnow kanischen Wirtschaftspolitik in den 1930er Jahren an. Präsident Franklin D. Roosevelt war durch die Weltwirtschaftskrise dazu gezwungen, ein Paket zu verabschieden, das unter anderem milliardenschwere Investitionen in Zukunftsprogramme und die Neuregelung der Finanzmärkte enthielt. Dieses Paket wurde von zahlreichen Maßnahmen wie der Einführung von Mindestlöhnen, der Arbeitslosenversicherung und einer progressiven Einkommensteuer begleitet, um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken (vgl. Schick 2009). In Anlehnung an die Politik Roosevelts wird nun eine Neuauflage des „New Deal“ gefordert, also ein milliardenschweres Investitionsprogramm in Zukunftsprojekte. Allerdings sollen durch ein solches Programm laut Ansicht der Verfechter des „Grünen New Deals“, keine großen Straßenbauprojekte, sondern der Ausbau der Energieinfrastruktur und der Umbau auf regenerative Energieträger gefördert werden. Durch ein ökologisches Investitionsprogramm sollen eine neue Energiebasis (weg von Atom, Kohle, Öl und Gas) geschaffen, der Anteil der regenerativen Energieträger ausgebaut und eine höhere Energieeffizienz erreicht werden. Beispielsweise könnte dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien durch Investitionen in Stromnetze der Weg geebnet werden. Durch solche Reformen wäre der Übergang zu einer neuen, nachhaltigen Wirtschaftsweise zu erreichen, die durch die Klimakrise und die Bedrohung der Biodiversität notwendig geworden ist. Die Diskussion um einen „Grünen New Deal“ erscheint zumindest insofern als sinnvoll, als intensiv über die Ausrichtung des Konjunkturprogramms und die zu tätigenden Investitionen nachgedacht wird. So meint Bundesumweltminister Sigmar Gabriel: „Das zweite Konjunkturprogramm, über das wir diskutieren, muss daher die Bereiche Bildung, Arbeit und Umwelt voranbringen. [...] Eine neue Straßenausbau-Orgie wäre falsch. Aber es gibt viele Bereiche, wo Investitionen bitter notwendig sind. Umgehungsstraßen, Lärmschutz, Straßensanierung. Dass die Schiene mehr Geld braucht, ist klar.“ (Gabriel 2008) Gabriel plädiert ferner für den Umbau zu einer modernen, CO2-armen Energiepolitik „Grüner New Deal“? und bekennt sich zu weiteren Investitionen in eine moderne, effiziente, ökologische Energienutzung. Um das Ziel der 40-prozentigen Reduzierung der Treibhausgasemissionen bis 2020 zu erreichen, soll intensiv in die Wärmedämmung öffentlicher Gebäude oder in den Mietwohnungsbau sowie in das Stromsparen investiert werden. Weiter setzt sich der Bundesumweltminister für die Begrenzung der steuerlichen Absetzbarkeit von Kraftstoff für Dienstfahrzeuge, mehr Anreize für den Umstieg auf Bus und Bahn sowie die Produktion sparsamer Autos mit Hybrid- oder Elektroantrieb ein. Außerdem denkt er über Bürgschaften nach, um die Risiken des kräftigen Ausbaus der Windkraft abzusichern. Auf diesem Weg soll die Finanzierung der durch die Finanzkrise bedrohten Offshore-Parks gewährleistet werden. Hauptverfechter eines „Grünen New Deals“ ist gegenwärtig die Partei Bündnis 90/Die Grünen. Die Partei, die seit der Hessen-Wahl neues Selbstbewusstsein verspürt, will den „Green New Deal“ nicht nur zum Programmpunkt, sondern zum Motto für das Wahljahr 2009 ausgeben. Allerdings meint dieser Punkt bei den Grünen nicht nur ein ökologisches Investitionsprogramm, sondern er verheißt in der Diktion der Partei einen völlig neuen Lebensstil für alle. Flankiert werden soll ein ökologisches Investitionsprogramm durch strenge Regulierung der internationalen Finanzmärkte, nationale Mindestlöhne in den EU-Staaten und weitere ökologische Mindestanforderungen (Festhalten am Atomausstieg und Ablehnung des Neubaus von Kohlekraftwerken; vgl. dpa 2009) Inwieweit der politische formulierte Anspruch dieser Partei ernst gemeint ist, daran bestehen zumindest Zweifel. Der Globalisierungsaktivist Tadzio Müller vermutet, dass der „Green New Deal“ nur den Kapitalismus in seiner alten Struktur verlängere, technokratisch und sogar autoritär sei und auf dem Rücken der Schwächsten, der Arbeitnehmer und der Erwerbslosen, ausgetragen werde (vgl. Müller 2009). Gerhard Schick widerspricht der Auffassung, der „Grüne New Deal“ sei nur auf eine ökologische Ausrichtung des Kapitalismus gerichtet, da eine Neuordnung der Weltfi- 83 nanzarchitektur und ein sozialer Ausgleich als flankierende Maßnahmen vorgesehen seien. Die Neuordnung der Weltfinanzarchitektur könne unter anderem durch eine grundlegende Reform des Währungssystems und einen UNWirtschaftsrat, die Übernahme von Risiken durch die Banken sowie die Rückführung des Zwecks der Banken auf die Finanzierung von Investitionen und die Bereitstellung von Liquidität (und in Grenzen auf die Übernahme von Risiken) erreicht werden. Der soziale Ausgleich solle durch die Einführung einer Bürgerversicherung und eines gesetzlichen Mindestlohnes sowie durcheine Antwort auf die weltweite Hungerkreise hergestellt werden. Durch eine solche Politik, die auf den drei genannten Säulen (Neuordnung der Weltfinanzarchitektur, ökologisches Investitionsprogramm in die Energieinfrastruktur und sozialer Ausgleich) beruht, könnte eine Wende hin zu einer neuen Wirtschaftsweise erreicht werden, bei der dezentrale Produktionsweisen und Formen solidarischer Ökonomie einen neuen Stellenwert einnehmen. Zugleich gebe sie eine Antwort auf drei Krisen, die Finanz-, die Klima- und die Ernährungskrise. Mit der damit verbundenen Verschiebung von Wirtschaftsstruktur, Eigentumsformen, Einkommensverteilung und Unternehmensformen könne dem Kritikpunkt entgegengetreten werden, es handele sich bei dem „Grünen New Deal“ lediglich um eine Fortsetzung des Kapitalismus mit „ökologischem Mantel“ (Schick 2009). Ein Kritikpunkt am „Grünen New Deal“ besteht darin, dass hinterfragt wird, ob und inwieweit die „grünen“ Technologien heute noch gar nicht die Kapazität haben, Investitionen von der Größenordnung zu umzusetzen, die notwendig wären, um allein der Klimakrise Herr zu werden. Die für die Entwicklung „grüner Technologien“ benötigten Investitionen würden sich zudem erst relativ spät amortisieren und kaum Arbeitsplätze retten. Eng damit verbunden ist die Frage, ob ein „Grüner New Deal“ tatsächlich dem Klima- und dem Umweltschutz dienen würde, oder, wie der Globalisierungskritiker Müller schreibt, ob die Vorschläge eines „Grünen New Deals“ nur einen neuen Versuch darstellten, „einer kleinen, aber wortgewaltigen ‚grünen‘ Kapital- 84 fraktion ihre Profitmargen aufzubessern. Und natürlich darum, die Zukunft der politischen Erfüllungsgehilfen dieser Fraktion, also der grünen Partei, zu sichern.“ (Müller 2009) Eine solche Politik sei technokratisch, würde die Ausbeutung der Menschen über Niedriglöhne fortsetzen, zu mehr sozialer Unruhe und mehr staatlicher Repression führen. Eine solche Politik würde wiederum auf dem Rücken der sozial Schwächsten ausgetragen werden, die den Klimawandel nicht verursacht haben, aber als erste unter ihm leiden würden. Die Kritikpunkte an dem Konzept des „Grünen New Deals“ können schnell skizziert werden. Erstens scheint die auf fossilen Energieträgern basierende Konsumweise innerhalb der Bevölkerung, besonders in der Mittelklasse, stark verankert zu sein, sodass eine Umkehr nur schwer möglich ist. Zweitens setzt dieses Konzept mehr als ein Konjunkturpaket voraus, nämlich einen grundlegenden ökologischen Umbau der Industriegesellschaft. Es sind neue Technologien, Produktionsformen, staatliche Politiken und eine Umkehr der Konsumund Lebensweise notwendig, ehe ein neues Wachstumsmodell kreiert werden kann. Und drittens würden mit einer Ökologisierung des Kapitalismus die Strukturprobleme des Finanzmarktkapitalismus nicht beseitigt werden (vgl. Brand 2009). 2.6. Wandel in der Konsum- und Wirtschaftsweise statt „Grüner New Deal“ oder Ökologisierung des Kapitalismus Andere linke bis linksradikale Politiker lehnen den „Grünen New Deal“, wie er auch von der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen angedacht wird, ab. So ist der Globalisierungskritiker Müller der Auffassung, durch einen „Grünen New Deal“ und ein ökologisches Investitionsprogramms würden die Strukturen, die zur Finanz- und Klimakrise geführt haben, aufrechterhalten. Dieses Konzept würde nur dazu führen, dass der Kapitalismus ein „ökologisches Mäntelchen“ umgehängt bekommt. Damit werde keine tief greifende Erneuerung der Wirtschaftsordnung erreicht. Vielmehr müsse vor dem Hintergrund der Klimakrise „der grundsätzliche Wachstumskompromiss Andreas Willnow gebrochen werden“ (Müller 2008), und über ein neues ökonomisches Wachstumsmodell nachgedacht werden. Eine Revitalisierung der kapitalistischen Strukturen einschließlich der Fortsetzung der Renditejagd der Fondsmanager, nur diesmal in „grüne Fonds“, lehnt Müller ab. Der „Grüne New Deal“, wie er von der Partei Bündnis 90/Die Grünen vertreten werde, sei nichts anderes als die Fortsetzung des kapitalistischen Wachstums, das nun ‚nachhaltig‘ vonstatten gehen solle. Bisher werde zwar immer mehr von Klima- und Umweltschutz geredet – auf mehr als vierzehn Weltklimakonferenzen – und dennoch seien die Treibhausgas-Emissionen weltweit immer mehr und schneller gestiegen. Ganz gleich, ob mehr Emissionshandel, mehr internationale Abkommen oder die Erhöhung des Anteils regenerativer Energien am Energiemix – nichts davon habe wirklich zum deutlichen Rückgang von Treibhausgasemissionen geführt. Mittlerweile würden die globalen CO2-Emissionen sogar die düstersten Prognosen des Weltklimarates übertreffen. Ohne einen grundlegenden Bruch mit der Politik des ungebremsten ökonomischen Wachstums und der dramatischen Übernutzung ökologischer Ressourcen, die seit mehr als 250 Jahren bestehe, sei in der kurzen Zeit, die wir noch haben, keine effektive Bekämpfung des Klimawandels mehr möglich. Stattdessen werde mit dem „Grünen New Deal“ ein neues kapitalistisches Wachstumsprojekt aufgelegt, mit dem die Klimakrise und die sonstigen Umweltkrisen nicht zu meistern seien. Eine wirkliche sozial und ökologisch fortschrittliche Politik sehe anders aus (vgl. Müller 2009). Dieser Überlegung schließt sich grundsätzlich auch die Bundestagsabgeordnete Katja Kipping (Die Linke) an. Sie verweist darauf, dass eine neue Klimakultur notwendig sei, denn vor allem die ärmeren Staaten wären von den Folgen des Klimawandels besonders betroffen. Dazu reichten aber eine Effizienzsteigerung bei der Energienutzung und der Ausbau des Anteils der erneuerbaren Energien nicht aus. Vielmehr gehöre die gesamte Wachstumslogik (und damit auch der Lebensstandard der Menschen in den Industrieländern) auf den Prüfstand (o.V. 2008a). „Grüner New Deal“? Eine Veränderung der Verhaltensweisen der Bevölkerung verlangt auch der Journalist Wolfgang Roth, wenn er fordert: „Technik kann und muss vieles leisten; die effizientere Nutzung der Energie hat ein riesiges Potenzial, erneuerbare Ressourcen werden eines Tages zwangsläufig alle Bedürfnisse befriedigen. Aber die Bevölkerung der Industriestaaten wird auch in mancher Hinsicht ihr Verhalten ändern müssen. Sie muss andere Formen der Mobilität, der Siedlungspolitik, ihrer Wohnund Konsumwelt finden, und, so tabuisiert eine solche Aussage ist, auf manches verzichten.“ (Roth 2007) 3. Zusammenfassung Vor dem Hintergrund der Klima- sowie der Finanz- und Wirtschaftskrise ist es notwendig, über eine Wende in der Energiepolitik nachzudenken. Deshalb erscheint es durchaus als sehr sinnvoll, jetzt verstärkt Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz einzuleiten und in großem Umfang in die Modernisierung der Energieinfrastruktur zu investieren. Mit einem (ökologischen) Gebäudesanierungsprogramm könnten die Energieeffizienz erhöht und zahlreiche neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Mit der Erhöhung des Anteils regenerativer Energien und der Modernisierung des Stromnetzes könnte die Abhängigkeit von den erdölexportierenden Ländern reduziert werden. Gleichzeitig könnten diese Investitionen in die Energieeffizienz und in neue Energien einen Konjunkturimpuls setzen und einen Beitrag zur Senkung der CO2-Emissionen leisten. Damit könnten ein gangbarer Weg aus der Krise aufgezeigt und es viele neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Internationale Weltenergieagentur hat ein Alternativszenario entworfen, wonach gegenüber dem Referenzszenario im Jahre 2030 rund sechs Milliarden Tonnen Kohlendioxid weniger in die Atmosphäre gelangen. Rund 65 Prozent dieser Ersparnis wären auf verbesserte Energieeffizienz, 13 Prozent auf den Brennstoffwechsel in Kraftwerken und 12 Prozent auf die verstärkte Nutzung regenerativer Energien bei der Energieerzeugung zurückzuführen (o.V. 85 2006). Allerdings erfordert die Ökologisierung der Industriegesellschaft, dass gleichzeitig andere soziale und wirtschaftspolitische Leitplanken gesetzt werden. Hierzu gehören die Re-Regulierung der Weltfinanzarchitektur und die Einführung von Mindestlöhnen. Außerdem sind Maßnahmen zu ergreifen, um die Renditejagd einzuschränken, damit die Bewältigung des Klimawandels nicht wieder auf Kosten der sozial Schwächsten erfolgt. Inwieweit zusätzlich zu den Investitionen in die Energieinfrastruktur und die Erhöhung der Energieeffizienz Konsumverzicht und der Übergang zu einem anderen Wachstumsmodell nötig sein werden, um die Klimakatastrophe zu verhindern, wird weiter zu diskutieren sein. Über neue Formen der Mobilität, der Wohnund Konsumwelt sowie der Siedlungspolitik ist zumindest nachzudenken. Der Hinweis, wonach die Strukturreformen nicht zur einseitigen Stärkung eines Teils einer kleinen „grünen“ Kapitalfraktion führen dürfen, erscheint insofern als berechtigt, als auf faire Ausschreibungsbedingungen zu achten ist und die Fördermittel in grüne Technologien auf ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen sind. Einige Fragen sind noch ungeklärt. Zum einen ist unklar, ob der bestehende Zeitraum ausreicht, das notwendige Umsteuern in der Klimaschutzpolitik noch zu realisieren. Probleme bereitet der „Bremsweg“ von 30 bis 50 Jahren, um die globale Erderwärmung zu verringern. Damit bleibt offen, ob es gelingt, den als kritisch geltenden Anstieg der Erderwärmung um 2° C zu verhindern. Literatur Boss, Thilo (2008a): Wirtschaft fürchtet Milliardenkosten. Verbände warnen vor explodierenden Energiepreisen durch Verschärfung des Emissionshandels, in: Leipziger Volkszeitung vom 09.12, Verlagsbeilage, S. 1. Boss, Thilo (2008b): Drei Fragen an Ullrich Heilemann, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Leipzig, in: Leipziger Volkszeitung vom 09.12., Verlagsbeilage, S. 1. Brand, Ulrich (2009): Gegenwehr der Chefs, in: tageszeitung vom 29.01., S. 12. Cornelius-Gaus, Hildegard (2008): Ausstieg aus dem Ausstieg?, in: Deutsches Atomforum e.V.: Zukunfts!Fragen, Eigenverantwortung für Deutschland. Sonderver- 86 öffentlichung in zahlreichen deutschen Zeitungen, September, S. 8. Dpa (2009): Alles anders – Grüne kämpfen für „Green New Deal“, in: Online-Angebot von AOL Deutschland, 25.01. Gabriel, Sigmar (2008): „Eine neue Straßenausbau-Orgie wäre falsch“. Interview mit dem Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) über das zweite Konjunkturpaket und den grünen New Deal, in: Frankfurter Rundschau vom 23.12., S. 15. Hagelüken, Alexander (2006): Heldenhafte Provokation. Was EU-Kommissar Dimas plant, in: Süddeutsche Zeitung vom 20.12., S. 2. Held, Gerd (2009): Eine teure Illusion. Umweltschutz ist kein Ausweg aus der Finanz- und Wirtschaftskrise, in: Die Welt vom 10.01., S. 8. Hilder, Bernd (2008): Weniger Träume, mehr Pragmatismus in der Krise, in: Leipziger Volkszeitung vom 09.12., Verlagsbeilage, S. 1. HWWI [Hamburger Weltwirtschaftsinstitut] und Berenberg-Bank (2007): Strategie 2030 – Vermögen und Leben in der nächsten Generation, Hamburg. Kohler, Stephan (2008): Energiesicherheit und Klimaschutz: Wirtschaft und Politik an einem Strang? Vortrag bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin, 15.10. Kohler, Stephan (2009): Jetzt in neue Energien investieren, in: BILD vom 31.01., S. 2. Kollenberg, Kai (2008): „Preisverfall ist temporäre Reaktion“. Interview mit der Energie-Expertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), in: Leipziger Volkszeitung vom 09.12., Verlagsbeilage, S. 8. Lölhöffel, Helmut (2008): Gefühlsblind in der Klimafalle. Rezension zu Hans-Werner Sinn: Das grüne Paradoxon, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.10., S. 33. Mrusek, Konrad (2008): Das ungeliebte Instrument, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.09., S. 11. Müller, Tadzio (2008): Antirassismus- und Klimacamp in Hamburg, Interview mit Tadzio Müller: Der grundsätzliche Wachstumskompromiss muss gebrochen werden, in: Neues Deutschland vom 15.08., o.S. Müller, Tadzio (2009): Neuauflage einer populären Mär, in: Neues Deutschland vom 30.01., S. 14. o.V. (2006): Zwischenruf: Falscher Dreh, in: DIE ZEIT vom 09.11., S. 35. o. V. (2008a): Brauchen wir eine Klimakultur? Eine Umfrage unter Politikern, in: tageszeitung vom 06.12., S. 3. o. V. (2008b): Ökostreber im Schrebergarten. Rezension zu Andreas Willnow Hans-Werner Sinn: Das grüne Paradoxon, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 09.11., S. 47. o. V. (2008c): „Mit den alten Ideologien kann unsere Generation nichts anfangen“. Ein Gespräch mit jungen Frauen und Männern, die in der Kernenergie eine echte Option sehen – und ihre berufliche Zukunft, in: Deutsches Atomforum e.V.: Zukunfts!Fragen, Eigenverantwortung für Deutschland. Sonderveröffentlichung in zahlreichen deutschen Zeitungen, September, S. 4. Pfister, René/Sauga, Michael (2008): Regierung: „Jetzt die Steuern senken“. Interview mit dem Bundeswirtschaftsminister Michael Glos, in: Der Spiegel Nr. 48 vom 24.11., S. 35f. Piper, Nikolaus (2007): Grüne Konzerne, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.09., Beilage „Thema Weltklima“, S. 14. Roth, Wolfgang (2007): Der heiße Befund, in: Süddeutsche Zeitung vom 3./4.02., S. 4. Rubner, Jeanne (2007): Klima und Wirtschaft: Der neue Öko-Kapitalismus, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.09., Beilage „Thema Weltklima“, S. 16. Schanzmann-Weg, Sabine (2008): „Wir sind bis 2018 ausgelastet“. Interview mit Frank Asbeck, Vorstandsvorsitzender der SolarWorld, in: Leipziger Volkszeitung vom 09.12., Verlagsbeilage, S. 5. Schick, Gerhard (2009): An die Politik Roosevelts anknüpfen, in: Neues Deutschland vom 30.01., S. 14. Schumann, Harald/Grefe, Christiane (2008): Der globale Countdown. Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung – Die Zukunft der Globalisierung, Köln. Sinn, Hans-Werner (2008): Das grüne Paradoxon. Plädoyer für eine illusionsfreie Klimapolitik, Berlin. Voosen, Jan (2008): „Chance zu einer industriellen Revolution“. Interview mit dem „Solarpapst“ Hermann Scheer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.09., Verlagsbeilage, S. B3. Weizsäcker, Hans-Christian/Weimann, Jochen (2008): Die Klimapolitik-Katastrophe. Deutschland im Dunkel der Energiesparlampe, Marburg. Wendenkampf, Oliver (2008/09): Zukunftsfähiges Deutschland? Neue Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, in: neuland, hg. vom Freundeskreis attacVilla in Könnern e.V., Heft 1/2009, S. 1 (Beilage der Zeitung Neues Deutschland vom 30.12.2008). Werthschulte, Stephan (2008): Umdenken in der Energiebranche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.09., Verlagsbeilage, S. B1. Berliner Debatte Initial 20 (2009) 2 87 Thomas Schubert Unwillkommene Wahrheiten oder maßlose Übertreibungen? „Abbau Ost“ – Bericht von einem Abend in Potsdam Am 22. Oktober 2008 war ich Gast einer Veranstaltung in der Stadt- und Landesbibliothek Potsdam, zu der diese und die Friedrich-Naumann-Stiftung eingeladen hatten. Mit Sicherheit war ich nicht der Einzige, der sich noch im Nachhinein darüber wunderte, wovon er an diesem Abend Zeuge wurde. Die Veranstaltung war in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert; was damals zur Sprache kam, ist heute nicht weniger aktuell. Im Vorausblick auf das anstehende Gedenken an Revolution, Systemtransformation und deutsche Einheit möchte ich diesen Abend nochmals vergegenwärtigen. Um die wichtigste Beobachtung vorwegzuschicken: Für ein gelungenes Gespräch über die Erfahrungsgrenzen von vierzig Jahren deutscher Teilung hinweg scheint vor allem eines noch auszustehen – das Gespräch der Ostdeutschen untereinander über ihre Revolution 1989 und die Folgen. Ein Abend, von seinem Ende her betrachtet Anlässlich der Jahrestage von deutscher Einheit und Mauerfall sollte eine Lesung mit Olaf Baale aus seinem Buch „ABBAU OST. Lügen, Vorurteile und sozialistische Schulden“ stattfinden. Weil der Potsdamer Historiker Prof. André Steiner als Kommentator verhindert war, forderte die Moderatorin von der Friedrich-Naumann-Stiftung das sehr zahlreich erschienene Publikum auf, dafür umso mehr das Gespräch mit dem Autor zu suchen. Von diesem Angebot wurde auch ausgiebig Gebrauch gemacht, – bis die, von dem kontroversen Verlauf der Debatte sichtlich überraschte, Moderatorin die Lesung nach nicht ganz zwei Stunden beendete. Vergeblich brachte der Autor zum Ausdruck, dass er sich den Fragen gern noch weiter stellen wolle. Ihm wurde jedoch bedeutet, dass man seitens der Veranstalter kein Interesse an einer Weiterführung der Debatte habe und man sich ja auch draußen weiter unterhalten könne. In der Eile des Aufbruches unterblieb nicht nur der Dank an den Autor, sondern auch der Hinweis auf die Möglichkeit, gegebenenfalls ein Buch zu erwerben und signieren zu lassen. Interessant an dieser Veranstaltung war nicht zuletzt ihr abruptes Ende. Was dem vorausging und was eine deutliche Distanzierung seitens der Moderation provozierte, bedarf nun einer genaueren Betrachtung. In ihrer Schlussbemerkung sah sich die Moderatorin, statt der üblichen Dankesworte, zu einem interessanten Statement veranlasst. Sie erklärte, dass sie angesichts der vom Autor am Verlauf des deutschen Einigungsprozesses geübten pauschalen Kritik und seines Anspruchs, für alle Ostdeutschen zu sprechen, nicht umhin komme, folgendes festzustellen: Sie sei – trotz aller Probleme – „froh und dankbar für die deutsche Widervereinigung, welche den Ostdeutschen die Freiheit und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung gebracht hat“. Darauf folgten Zwischenrufe, die im allgemeinen Aufbruch jedoch nicht mehr erwidert wurden. Das beschriebene, etwas hektische Ende, in Verbindung mit dem Bekenntnis zur Staaträson der Bundesrepublik, lässt vermuten, dass diese tatsächlich infrage gestellt worden war. Konnte ein solcher Eindruck wirklich entstehen, noch dazu auf einer Veranstaltung der FDP-nahen 88 Friedrich-Naumann-Stiftung? Tatsächlich konnte man sich an diesem Abend streckenweise eher bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung wähnen. Doch die hohe Anzahl von aus den alten Bundesländern stammenden Gästen und der Dresscode des Publikums ließen eindeutig auf eine Stiftung aus dem bürgerlichen Milieu schließen. Die Bruchlinien in der Debatte verliefen allerdings quer zu parteipolitischen Überzeugungen, und auch zu sozialen Status symbolisierenden Kleiderordnungen. Wie gesagt: Etwas Ungehöriges war geschehen; und im Falle einer Lesung könnte das heißen, etwas bislang so nicht Gehörtes war zu Sprache gekommen. Worauf zielte die Provokation? Sicher, Olaf Baale provozierte in einer Weise, als wüsste er nicht, wo er sei. Vielleicht dachte er zunächst wirklich, nur „ungeliebte Wahrheiten“ über den „missratenen Aufbau Ost“ auszusprechen, und hoffte, dabei auf ein überwiegend zustimmendes Publikum zu treffen, wie bei vorherigen Lesungen im Osten Deutschlands eben auch. Seine zum Teil schnippischen und gereizt wirkenden Bemerkungen gegenüber geäußerter Kritik zeugten jedoch von einer Empfindlichkeit, die wiederum vermuten ließ, dass ihm die Vorbehalte gegenüber seiner Sicht der Dinge nicht gänzlich unbekannt gewesen sein konnten. Baale rechnete, gerade in Potsdam, vielleicht nicht mit so massiver Kritik und wirkte ein wenig überrascht und unvorbereitet auf die Entgegnungen aus dem Publikum. Dem Autor ist vorgeworfen worden, in der Analyse zu oberflächlich, zu pessimistisch in den Aussichten sowie zu optimistisch in der Perspektive auf eine hypothetische Eigenständigkeit der DDR-Wirtschaft nach 1990 zu sein. Seitens der Kritiker wurden vor allem Lösungen für die damaligen und heute angemahnten Missstände eingefordert – ganz so, als ob hierin ein Kriterium für berechtigte Kritik zu sehen wäre und deren etwaiges Fehlen jede Analyse von vornherein desavouierte. Als Baale daraufhin auf das Projekt einer „Bürgerstiftung Ostdeutschland“ zur Problembenennung und Interessenvertretung dieser Region zu Thomas Schubert sprechen kam und einen Entwurf zu deren Gründungsaufruf vorstellte, wurde er von der Moderation wiederum ermahnt, nicht so viel Eigenwerbung zu machen. So konkret sollte es dann doch nicht sein. Für Widerspruch sorgte vor allem sein überwiegend düster gezeichnetes Bild eines hinter die Entwicklung der alten Bundesrepublik immer weiter zurückfallenden „Beitrittsgebietes“. An Baales Selbstbeschreibung – „DDR-Bürger“ – wurde das Fehlen des Attributs „ehemaliger“ bemängelt. Auf zunächst nur Unverständnis stieß seine Forderung nach einem Geschichtsbild, in dem sich Ost- wie Westdeutsche gleichermaßen wiederzuerkennen vermögen und nicht genötigt werden, sich darin selbst als Fremde zu begegnen. Laut Baale ist letzteres nicht nur ein Problem von Geschichtsdarstellungen, sondern vielmehr ein allgemeines Fremdheitsgefühl vieler ehemaliger DDR-Bürger im (ehemals) eigenen Land. Mit der Zuspitzung dieser These, dass mit der Einheit als Einheit West nicht nur eine Bereicherung West einherginge, sondern auch das, was Baale als „Abbau Ost“ bezeichnet, begann es im Publikum zu rumoren. Als er dann noch andeutete, die fortlaufenden und den Bundeshaushalt belastenden Transferleistungen können möglicherweise auch als eine Art gerechter Strafe für politische Kurzsichtigkeit und ökonomische Arroganz angesehen werden, hielt es manchen kaum mehr auf seinem Sitz. Ein Gespräch, das noch nicht geführt wurde? Nun vermag ich hier die Baal’schen Thesen nicht im Einzelnen zu kommentieren und muss stattdessen auf die Lektüre des Buches verweisen.1 Auch wäre zu fragen, wie sehr die Thesen und die Auswahl der Argumente von eigenen Erfahrungen und Verletzungen des Autors gefärbt sind – zumal dies seinerseits mehrfach und ungefragt bestritten wurde. Stattdessen möchte ich auf die Reaktionen des Potsdamer Publikums zu sprechen kommen. Denn in den Reaktionen und Bezugnahmen auf den Autor, und im Verlauf des Abends auch zunehmend innerhalb des Publikums selbst, Unwillkommene Wahrheiten oder maßlose Übertreibungen? kam etwas Charakteristisches zum Ausdruck. Ich meine eine Art des Gesprächs, das so noch nicht geführt wurde, für das die Zeit jedoch reif zu schein scheint. Dieses Gespräch für einen Augenblick angestoßen zu haben, war das Verdienst von Autor und Veranstalter – wenn dies auch in verschiedener Weise beabsichtigt gewesen sein dürfte. Während Baales Kritiker mehrheitlich in den alten Bundesländern gebürtig waren, gaben sich jene, die den Autor und seine Thesen zu stützen suchten, sämtlich als aus der DDR stammend zu erkennen. Letztere meldeten sich zunächst gar nicht, dann nur ganz vereinzelt zu Wort, später jedoch immer zahlreicher. Unvermittelt hatte sich plötzlich ein Ost-West-Konflikt aufgetan, der die Moderation sichtlich überraschte und mit kaum zu verbergendem Unbehagen erfüllte. Die Diskussion wurde in dem Augenblick abgebrochen, als die gewohnte Rollenverteilung bei solchen Anlässen zwischen Moderation, Vortragendem, Zuhörern und Disputanten sich aufzulösen begann und die Stimmung im Saal zugunsten des Autors kippte. Als weiterer Gesprächsbedarf angemeldet wurde, war kaum verholen im Publikum auch von „Undankbarkeit“ die Rede. „Was wollt ihr denn, das war doch alles marode hier. Wie hättet ihr euch denn ernähren wollen, wenn die DDR weiter bestanden hätte?“, entfuhr es jemandem, der noch hinterherschob, dass er ja gern hier im Osten wohne, aber was er sich hier anhören müsse, das ginge entscheiden zu weit. Wer Baale zugehört oder zuvor einen Blick in sein Buch geworfen hatte, durfte von dieser Entwicklung nicht überrascht gewesen sein. Ist es doch sein ausdrücklicher und eigentlicher Wunsch, denjenigen seine Stimme zu leihen, welche die ihre im deutschen Einigungsprozess verloren oder noch gar nicht gefunden haben. In diesem Sinne hat der Autor auch sein Buch „den ehemaligen Bürgern der DDR“ gewidmet – und zwar unabhängig von den politischen, sozialen und sonstigen Rollen, welche sie heute angenommen haben. Das Verlagern der Debatte ins Publikum selbst war so gesehen kein Zufall oder Ergebnis einer verunglückten Lesung. Vielmehr lag darin eine logische Konsequenz des Buches, indem gerade der Verlauf der Debatte das Thema des Buches am besten verkörperte. 89 Entgegen allen klugen Argumenten wurde somit der faktische Beweis für die Relevanz des im Buch angemeldeten Gesprächsbedarfs gleich mitgeliefert. Worum es Baale also neben seiner Sorge um die Zukunftsfähigkeit der neuen Bundesländer geht, ist letztlich die Einforderung eines Gespräches zwischen den damaligen und heutigen Akteuren der deutschen Einheit – nun allerdings erstmals auf Augenhöhe und unter Zurkenntnisnahme aller auf dem Tisch liegenden Daten. Für einige im Saal war dies freilich zuviel – hieße das doch, dass nicht nur noch etwas unter anderem zu besprechen ist, sondern dass dieses Gespräch bislang noch gar nicht stattgefunden hat. Manche gingen. Andere wurden laut. Ungewöhnlich ist, dass Baale ohne die aus diesen Debatten sattsam bekannte nostalgische Haltung des „es war doch nicht alles schlecht an der DDR“ auszukommen scheint und sich, statt zu moralisieren, lieber auf Statistiken und entlarvende Zitate politischer Akteure verlässt. Zweifellos ist deren Arrangement in seinem Buch „Abbau Ost“ aber auch anzumerken, dass es vom Autor durchaus nicht beabsichtigt war, eine Erfolgsgeschichte zu schreiben. Doch machte das Material es ihm auch nicht gerade schwer. Zudem lässt Baale keinen Zweifel daran, dass er ganz und gar nicht gewillt ist, irgendetwas milder zu beurteilen, bloß weil seine Freude über die gewonnene Einheit ihn den einen oder anderen Makel daran vergessen lässt. Ganz im Gegenteil; und hier wäre dann doch, wenn nicht von Ostalgie, so jedenfalls von einem unverkennbaren Hang zum Nachkarten mit einem gewissen Schuss Schadenfreude zu sprechen. Die Geschichte rückwärts erzählt? Es bleibt festzustellen, dass das Thema „deutsche Einheit“ zwischen Ost- und Westdeutschen ein kontroverses Thema bleibt. Vor allem aber unter Ostdeutschen ist hierzu noch lange nicht alles gesagt. In diesen Debatten geht es im Streben um persönliche Anerkennung und historische Aufrechnung noch immer um die Abarbeitung von Reflexen aus der Zeit der deutschen Teilung und des Kalten Krieges. 90 Dabei fällt heute insbesondere eines auf: Ich meine das Kleinreden und Vergessen eines Teiles der Ereignisse, die uns überhaupt erst ermöglichten, diese Probleme miteinander zu haben – die sogenannte Wende. Doch ohne einen selbstbewussten Bezug auf die Selbstbefreiung von 1989 – ein Jahr vor der deutschen Einheit – wird dieses Gespräch über Zustandekommen, Verlauf und Zukunft der deutschen Einigung kaum stattfinden können. Was noch aussteht, ist zunächst eine Debatte unter den Ostdeutschen selbst über die Ziele, das Glück, das Scheitern oder die Folgen dieser erlittenen oder gestalteten, aber zumindest erlebten gesellschaftlichen Umwälzung im Herbst 1989. Die weit verbreitete Vermeidung des emphatischen Begriffes der Revolution unter den ehemaligen Bewohnern der DDR zeugt weniger von sachlich begründeten Skrupeln als vielmehr von einer tiefen Verunsicherung über die eigene Geschichte, speziell über dieses Ereignis und die eigene historische Tat. Wer heute von „Wende“ spricht, sieht sich seitens gutmeinender Sprachpolizisten schnell dem Vorwurf ausgesetzt, die friedliche Revolution zu negieren oder doch zumindest in ihrer Bedeutung gering zu schätzen. Regelmäßig wird dabei übersehen, dass der Begriff „Wende“ heute weder in dem Sinne gebraucht wird, den ihm Helmut Kohl oder Egon Krenz gaben, noch dass er den Begriff „Revolution“ ersetzen soll. Er umfasst alltagssprachlich vielmehr einen Zeitraum vom September/Oktober ’89 bis zum 3. Oktober ’90, in dem sich Revolution, Mauerfall, Demokratisierung und deutsche Einheit als eine zeitliche, aber nicht teleologische Folge von außerordentlichen Ereignissen abspielten. Was an dem Begriff zu stören scheint, ist seine relative Sachlichkeit und Wertfreiheit. Das mag vielleicht überraschen; aber das Wort „Wende“ negiert als deskriptiver Sammelbegriff weder ein einzelnes Ereignis, noch wird eines gegenüber einem anderen hervorgehoben. Wer dieses Wort aus dem Sprachgebrauch verbannen will, macht sich nicht nur einer weiteren Bevormundung der es gebrauchenden Bevölkerung schuldig. Er sollte fairerweise auch sagen, welchen Begriff er sich stattdessen wünscht, und welchem Teilereignis in der Erinnerung das Primat zukommen soll. Von derartigen Thomas Schubert Verdächtigungen und Verboten bzw. solcher Hierarchisierung ist nichts zu halten. Statt jedem, der „Wende“ sagt, im besserwisserischen Brustton eines Moralapostels über den Mund zu fahren und somit jedes gleichberechtigte Gespräch zumindest zu erschweren, könnte man auch genauer hinzuhören versuchen, was jemand wirklich meint, wenn er von „Wende“ spricht. Zwar steht der Selbstverständigung einer Bevölkerung, die als solche heute kaum mehr in Erscheinung tritt und auch kaum über geeignete Medien verfügt, manches entgegen. Fällt diese jedoch aus, wird auch kein Subjekt in Erscheinung treten, welches die Erinnerung an die Revolution von 1989 für sich positiv zu reklamieren vermag und diese jenseits von Sonntagsreden in die deutsche Einheit und das gemeinsame Erbe mit einbringt. Bis dahin, so steht zu vermuten, wird die Erinnerung an den Herbst ’89 weiterhin den politischen Institutionen und Medien der alten Bundesrepublik überlassen bleiben, wo man letztlich wenig damit anzufangen weiß. In dem dort nicht ausschließlich, aber doch vorherrschend anzutreffenden Konsens aus Bequemlichkeit, Halbwissen und politischer Korrektheit kommt die Erinnerung an ’89 nicht über eine Würdigung als der Beitrag der Ostdeutschen zur deutschen Einheit hinaus. Solange jedoch der 3. Oktober 1990 als das bestimmende Ereignis in der Geschichte der Ostdeutschen firmiert, auf das hin der Rest der Geschichte als Vorund als Nachgeschichte zu verstehen ist, so lange wird die gewonnene Freiheit, wenn nicht als Geschenk an die Ostdeutschen, so doch als Frucht der deutschen Einheit erscheinen – und somit entwertet. Das heute vor allem in Ostdeutschland zu beobachtende Unbehagen an der eigenen Geschichte entspringt neben gewichtigen internen Gründen auch dem Gefühl, dass an dieser Geschichte etwas nicht stimmt. In der DDR wurden mit der Begradigung historisch gewundener Verläufe und dem gutmeinenden Umlügen der erlebten Geschichte zu mannigfache Erfahrungen gemacht, als dass man annehmen könnte, man sei in den beigetretenen Ländern in solchen Dingen alles andere als unempfindlich. Die flächendeckende und als solche erkannte Falschinformation führte Unwillkommene Wahrheiten oder maßlose Übertreibungen? damals zu einer breiten inneren Teilnahmslosigkeit der Bevölkerung. Im Vergleich zur DDR-Propaganda nehmen sich die heutigen Glättungen im öffentlichen Geschichtsbild als nicht vergleichbar, verschwindend gering, ja irrelevant aus. Schon die Andeutung eines Vergleiches wirkt – zu Recht – als Zumutung. Doch wer möchte noch leugnen, dass die alte, aus der DDR stammende Teilnahmslosigkeit gegenüber öffentlichen und staatlichen Belangen heute wieder neue Nahrung bezieht. Selbstverständlichkeiten der Art, wonach das System der alten Bundesrepublik alternativlos zu übernehmen gewesen sei, nur ein historisch kleines Zeitfenster offenstand und die sich ergebende Möglichkeit so und nicht anders ergriffen werden musste, sodass der Beitritt nach Art. 23 GG die beste Lösung war, wofür sich die Ostdeutschen am 18. März 1990 auch mehrheitlich entschieden hätten, erschweren nicht nur die Ankunft in einer gemeinsamen Gegenwart. Sie stehen als Vorurteile auch der kritischen Aneignung der eigenen Geschichte entgegen, gleich, ob der gemeinsam oder der getrennt erlebten. Was Bücher wie das von Baale unbequem macht, sind nur zu einem geringeren Teil die darin enthaltenen Fakten oder die Offenlegung von Fehlentscheidungen. Es ist der Angriff auf den nirgends festgeschriebenen, aber allerorts anzutreffenden Nationalmythos der neuen Bundesrepublik und dem darin der DDR zugewiesenen Platz. Die Beteuerung, eines solchen Mythos aufgrund der demokratischen Verfasstheit und der Rationalität des politischen Systems nicht zu bedürfen und in der pluralen Öffentlichkeitsstruktur der Bundesrepublik für so etwas auch gar keinen Platz zu haben, kann man geradezu als eine seiner Kernaussagen verstehen. Ganz nebenher führen diese Glaubenssätze in Verbindung mit einer radikalen Delegitimierung der DDR zu einem Bild, als sei die – heute nicht zu Unrecht gefeierte – Bundesrepublik immer schon so dagewesen. Das sah jedoch in den Jahren nach dem Krieg und bis zu ihrer Gründung noch ganz anders aus. Der Weg einer strikten Westbindung des Landes, mit allen Konsequenzen, war nur einer der damals möglichen. 1949 wurden aus einer 91 konkreten historischen Situation heraus Entscheidungen getroffen, die unter anderem die Teilung Deutschlands zur Folge hatten. Für den Fall der deutschen Einheit, unter günstigeren Bedingungen, sahen die Schöpfer des Grundgesetzes eine verfassungsmäßige Neugründung vor. Die in Kauf genommene und damals nicht unumstrittene Teilung des Landes und der Nation sollte auf diese Weise verfassungsgemäß rückgängig gemacht und in ihren noch nicht absehbaren Folgen überwunden werden. Dieser klug vorgegebene Weg wurde nicht beschritten. Die beispiellose Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik ließ nicht nur eine Debatte über die Zukunft das nun wieder gemeinsamen Landes als überflüssig erscheinen; auch die Vorgeschichte der unmittelbaren Nachkriegszeit sollte wohl nicht mehr so genau erinnert werden. Darüber wäre aber zu sprechen gewesen, hätte man sich nach 1990 wirklich zusammengefunden. Am effektivsten werden Dinge, die nicht existieren, wie solche unbewussten und letztlich auch nur halben Nationalmythen, infrage gestellt, indem man den (nicht-)existenten Sprachregelungen nicht folgt. Einer bis dato fremden oder nicht bekannten Geschichtserzählung kann man problemlos beitreten; allerdings nur so weit, wie diese einem nicht die selbst erlebte Geschichte und somit auch die Umstände des eigenen Beitrittes erzählt. Die Schwierigkeiten bei der Inkorporation der ostdeutschen Geschichte(n) in das Set bundesdeutscher Master-Narrative deuten dabei nicht nur auf das Nachwirken teilungsbedingter Differenzen hin. Was darin auch zum Tragen kommt, ist der Versuch, einer bestimmten Sicht auf das ganze deutsche 20. Jahrhundert den hegemonialen Platz in der gesamtdeutschen öffentlichen Erinnerung zu sichern. Wer die sich daraus ergebenden Gewichtungen der Ereignisse zwischen Oktober 1989 und Oktober 1990 in Zweifel zieht, oder auch deren teleologisch-deterministische Deutung, der rührt an etwas, das weder 1990 zur Debatte stand noch heute zur Debatte stehen soll – er rührt an den Selbstverständnissen der alten und neuen Bundesrepublik. Andere Beispiele betreffen den Umgang mit den Begriffen „ehemalige DDR“ oder „zweite deutsche Diktatur“. 92 Die Einheit bleibt zweisprachig? Selbstverständlich besteht bei der Deutung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts in Politik, Medien und Wissenschaft weder eine Gleichheit der Mittel noch der Möglichkeiten zwischen den ehemals zwei deutschen Bevölkerungen. Diese Beobachtung sucht man nur allzu schnell mit dem Argument wegzuwischen, dass es gar keine einheitlich ostdeutsche Deutung gäbe, wie es auch keine solche westdeutsche, bundesrepublikanische (ja, wie soll man diese nennen?) geben kann. Auch wird entgegnet: Jetzt, da wir alle Deutsche sind, gibt es per se keine Unterschiede mehr, die nicht zu artikulieren und ohne Mühe zu verstehen wären. Oder es wird empfohlen, sich in der reich ausdifferenzierten politischen Kultur der Bundesrepublik nur recht umzusehen, bis man den passenden Platz für sich und die dazu passende Zeitung findet. Diese Entgegnungen bestreiten letztlich die Existenz des Problems, indem sie dessen Formulierung auf eine falsche Wahrnehmung, eine Einbildung oder einen zu engen Horizont des Betrachters zurückführen. Gemeinsam ist ihnen der Zweifel an einer sinnvollen Aussage über das Problem. Dies freilich nur in einer der zugelassenen Sprachen, gerade derjenigen politischen Kultur, welche durch das Aufzeigen des Problems implizit infrage gestellt wird. Früher nannte man so etwas kulturelle Hegemonie, später Diskursmacht. Wie nennt man das heute, und wer mag als Spielverderber auftreten? In der DDR machten die politischen Verhältnisse die Mehrheit der Bevölkerung zum gesellschaftlichen Außenseiter, und sie ließen diesen verstummen. Ein paar mutige Oppositionelle wurden zu Wortführen der Mehrheit, erstritten ihr Rederecht und das Recht, gehört zu werden, für alle und jeden Einzelnen. Heute sind die meisten ehemaligen Sprecher verstummt oder als offizielle Zeitzeugen nun selbst Teil einer Mehrheit, die jetzt nicht mehr aus Außenseitern besteht. Die ehemalige Mehrheit ist heute eine Minderheit, der nicht nur die Existenzberechtigung, sondern gelegentlich auch gleich die Existenz abgesprochen wird. Es wird ihr nichts anderes übrig bleiben als zu beginnen, selbst zu sprechen – wenn sie gehört Thomas Schubert werden will. Doch bedarf es hierzu einer selbstbewussten Besinnung auf eine Sprache, in der man sich zunächst untereinander versteht und in der das Vokabular der öffentlichen Rede, der Political Correctness und aller Codes, die man angenommen hat, um in der Bundesrepublik zu bestehen, für einen ernsten Augenblick suspendiert sind. Dabei wird sich zeigen, dass die ostdeutsche Stimme gerade nicht einstimmig ist und sein muss, um sich ihrer Eigenart bewusst zu werden und um ihren spezifischen Charakter zu wahren. Unwissen als Statement? Die relative Ruhe, welche derzeit in die Zunft der professionellen Zeitgeschichtsschreibung eingekehrt zu sein scheint, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier noch etwas unerledigt und noch manches ungehört ist. Auch sollte man genau hinschauen, wer denn da für wen Geschichte schreibt, was sich an den dortigen Debatten wirklich auf historische Geschehnisse bezieht und was daran einen Reflex auf ältere Debatten darstellt, welche bereits in der alten Bundesrepublik geführt wurden, als die überwiegende Mehrheit der heutigen Akteure im akademischen Streit um die DDR-Geschichte dort ihre Ausbildung erfuhr. Es scheint fast so, als sei die DDR-Geschichte inzwischen das bevorzugte Schlachtfeld überkommener alt-bundesdeutscher Parteiinteressen und Wissenschaftsverständnisse. Diese Historiker werden von der Politik in letzter Zeit wiederholt aufgefordert, durch bessere Bücher und eingängigere Methoden der vor allem unter ostdeutschen Schülern grassierenden Unwissenheit über die „zweite deutsche Diktatur“ und das Leben ihrer Eltern darin zu begegnen. Konstatiert wurden diese Defizite wiederum durch Historikerkommissionen, wobei man sich schon fragen muss, was eigentlich mit dem bisher erarbeiteten Material nicht stimmt, warum es nicht zur Kenntnis genommen wird oder was daran etwaige Resistenzen bei den möglichen Rezipienten ausbildete. Aber wen interessieren solche Antworten, wenn man im Schweigekartell von sich der Erinnerung verweigernden Eltern, Unwillkommene Wahrheiten oder maßlose Übertreibungen? Großeltern und Lehrer schon das Übel erkannt zu haben meint? Was, wenn die Fragen falsch gestellt sind und man bei den Antworten nicht richtig hingehört hat? In deutschen Medien haben weder dumme Leute noch ehemalige Schüler aus der DDR die Verantwortung inne. Solange man aber Sätze vernimmt wie: „Die Freundschaft Gorbatschows mit Helmut Kohl brachte die Mauer zu Fall“2, brauchen wir über das Problem der historischen Unwissenheit als eines spezifisch ostdeutschen Phänomens gar nicht erst anfangen zu reden. Die Unwissenheit ist ja unbestritten, aber sie muss endlich selbst als Teil der zu verstehenden Geschichte begriffen werden. Eine neue Runde im Belehren, Überwältigen und Moralisieren hilft hier nicht weiter. Die Geschichte der DDR ist in den Schulen, bei den Lehrern und den Schülern bereits da – zumindest in Ostdeutschland. Sie zum Sprechen zu bringen, braucht es 20 Jahre nach der Bürgererhebung keine neuen Lehrmittel oder Ad-hoc-Programme. Stattdessen bedarf es bis zu einem gewissen Grad einer Entkopplung von derzeitiger politischer und pädagogischer Kultur. Räume sind zu schaffen, in denen sich die verschiedensten Stimmen ohne Rechtfertigungsdruck, Zwang zu Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit zu artikulieren vermögen. Nicht die Vermittlung eines richtigen und möglichst vollständigen Geschichtsbildes kann hier das Ziel sein, sondern die Fähigkeit, die eigene Sicht auf historische Zusammenhänge zu einem als offiziell wahrgenommenen Geschichtsbild in Bezug zu setzen. Zur paradoxen Erinnerung von Einheit und Freiheit Wie zur Beglaubigung des offensichtlich falschen, aber doch zu verstehenden Satzes „Die Freundschaft Gorbatschows mit Helmut Kohl brachte die Mauer zu Fall“, wurde dieser im „Heute-Journal“ mit einigen Bildern unterlegt. Zuerst mit einer Sequenz vom Strickjackentreffen zwischen Gorbatschow und Kohl im Kaukasus. Darauf folgte ein Ausschnitt von der Öffnung des Grenzüberganges am Brandenburger Tor. Auf die Maueröffnung hatten weder 93 Kohl noch Gorbatschow direkten Einfluss; auch konnte zu diesem Zeitpunkt von Freundschaft keine Rede sein. Die unterlegten Bilder zeigen Ereignisse, welche erst Tage und Monate nach dem Mauerfall stattfanden. Was ist nun die Nachricht? Und will man das überhaupt noch so genau wissen? Als Kohl und Gorbatschow sich damals trafen, wurde über zentrale Modalitäten der deutschen Vereinigung letzte Einigkeit erzielt. Die message bezieht sich also auf die Einheit, welcher in der öffentlich-rechtlichen Erinnerung eine solch zentrale Bedeutung zukommt, dass sie den Fall der Mauer gleich noch mit verursacht hat – oder diesen zumindest verursacht haben könnte. Das hört sich absurd an? In dem eingangs zitierten Statement, mit dem eine bemerkenswerte Potsdamer Lesung ihr offizielles Ende fand, kam ein ganz ähnlich schiefes Verhältnis von Einheit, Freiheit, Mauerfall und Revolution zum Ausdruck. Der Satz: Man sei „froh und dankbar für die deutsche Widervereinigung, welche den Ostdeutschen die Freiheit und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung gebracht hat“, bringt zwei persönliche und leicht nachvollziehbare Aussagen in eine falsche historische Beziehung zueinander. Dies ist einer Erwähnung nicht weiter wert, wäre nicht der Ausspruch in seiner Falschheit alles andere als sinnlos, oder würde er eine ganz vereinzelte sprachliche Fehlleistung darstellen. Die Sprache des Zitats verweist auf ein Wissen von einer geschichtlichen Abfolge, von der man doch – zumal als Ostdeutsche – wissen müsste, dass es so nicht gewesen ist. Aber die Frage in der derzeitigen geschichtspolitischen Darstellung ist vielleicht nicht, ob es so oder so war, sondern, ob es so oder so gewesen sein soll. Letztlich war es so, wie es die Sprache sagt, wie es die Bilder zeigen, und vor allem, wie manche es gern hätten. Ein solches Beispiel lässt nur vermuten, wie weit verbreitet solche gedankenlosen, aber nicht folgenlosen Sprachregelungen auch bei Ostdeutschen schon sind – zumindest, wenn sie sich innerhalb etablierter Institutionen und des darin herrschenden Diskurses der alten Bundesrepublik bewegen. Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle aber noch angemerkt werden, dass es durchaus auch eine Perspektive gibt, von der 94 her dieser Satz nicht nur etwas Selbstverständliches sagt, sondern dies auch noch zutreffend tut – zumindest in einem juristischen Verständnis. Solange nämlich die deutsche Einheit und die Erweiterung des Geltungsbereiches des Grundgesetzes, dabei insbesondere der politischen und die Freiheit der Person betreffenden Grundrechte, in der Bundesrepublik als Verfassungsgebot und als Staatsziel firmierten, so lange waren Freiheit und Selbstbestimmung in der DDR eben erst dann denkbar, wenn dort das Grundgesetz mit seinen verbrieften Grundrechten in Kraft gesetzt wurde. Und das geschah bekanntlich am 3. Oktober 1990. Formaljuristisch stimmt es also doch – die Freiheit und das Recht auf Selbstbestimmung sind mit der Einheit nach Ostdeutschland gekommen? Somit würde zumindest verständlich, warum die revolutionären Ereignisse in der DDR – also noch vor der richtigen Freiheit – so gedeutet werden müssen, als ob sie dieses Ende bereits intendierten. Die DDR war als wirklich eigenständiger – sprich: freier – Staat erst anzuerkennen, wenn in ihr das Grundgesetz gilt. Wo das Grundgesetz gilt, ist jedoch die Bundesrepublik. Wollte man in der DDR also frei sein, so war dies vom Standpunkt des Grundgesetzes aus immer nur innerhalb von dessen Geltungsbereich möglich, also Thomas Schubert erst außerhalb der DDR oder eben nach ihr – Revolution hin oder her. Letztlich bleibt jedoch festzuhalten: Die Zugehörigkeit zu der in der Bundesrepublik vorherrschenden Meinung betreffs des Verhältnisses von Einheit und Freiheit – ganz gleich ob in ihrer paradoxen oder juristischen Gestalt – ist in Ostdeutschland häufig nur mittels einer historischen Enteignung möglich. Diese kann unbewusst oder selbst gewählt sein. Wenn darin ein Ausweis von Freiheit wahrgenommen wird, dann sollte es nicht verwundern, dass der Begriff Freiheit seinen unzweideutigen Klang, mit dem er 1989 in der DDR formuliert wurde, heute verloren hat. Paradoxerweise hat eine stilisierte, anschlussfähig gemachte und urbanisierte Erinnerung an die DDR gerade in ihrem Wertvollsten auch ihr prominentestes Opfer – in der Revolution vom Herbst ’89. In Potsdam ging eine abendliche Debatte früh zu Ende. Dies kann aber nur ein vorläufiges Ende gewesen sein. Anmerkungen 1 2 Olaf Baale: ABBAU OST. Lügen, Vorurteile und sozialistische Schulden, München: dtv 2007. „Heute-journal“ vom 1. August 2008.