Sand im Getriebe der Zeit

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Sand im Getriebe der Zeit
Sand im Getriebe der Zeit
Säkulare Akzeleration des Mondes
Bernd Pfeiffer
Mitglied im Arbeitskreis Astronomiegeschichte
in der Astronomischen Gesellschaft
And if any curious Traveller, or Merchant residing there, would please to observe, with the care,
the Phases of the Moon's eclipses at Bagdat, Aleppo and Alexandria, thereby to determine their
Longitudes, they could not do the Science of Astronomy a greater Service:
For in and near these Places were made all the Observations whereby the Middle Motions of the
Sun and Moon are limited: And I could then pronounce in what Proportion the Moon's motion does
Accelerate; which that it does, I think I can demonstrate, and shall (God willing) one day make it
appear to the Publick.
Edmond Halley 1695
Some account of the ancient state of the city of Palmyra; with short remarks on the inscriptions
found there.
Phil. Trans. R. Soc. Lond. XIX, 160-175
1
AAG-Mitgliedertreff, Mainz, 12.4.2002
Einleitung / Motivation
An(auf)geregt durch Nachfragen nach Illigs verschwundenen Jahrhunderten (inklusive Karl den
Grossen) [H. Illig "Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte"] und einer
nano-Sendung am 28.01.2002 mit gleich unterschlagenen 1000 Jahren, befasste ich mich mit der
Beziehung der Astronomie mit der Zeit:
[Anmerkung vorweg: Vergessen wir die ganze moderne Physik für heute Abend und nehmen den
klassischen Begriff der absolut und gleichmässig verfliessenden Zeit.]
Uhren, Zeitmassstab
Kalenderproblem, z.Bsp. Ostertermin
Chronologie
Periodische Bewegungen von Himmelskörpern wurden zu allen Zeiten als Maß für die Zeit verwandt, seien es die Rotation der Sternensphäre, der tägliche und jährliche Lauf der Sonne oder die
Phasen des Mondes. Bis etwa 1700 zweifelte niemand an der Gleichförmigkeit dieser Bewegungen,
bis vor etwa 50 Jahren gab es jedoch eh keine Alternative zu diesen astronomischen Zeitgebern.
Neben diesen gewohnten periodischen Abläufen gab es jedoch noch unerwartete Himmelserscheinungen, die die Menschen oft in panischen Schrecken versetzten, wie z.B. Kometen oder insbesondere Finsternisse.
Zum Glück für heutige Astronomen und Historiker wurden diese Ereignisse in allen Kulturen mit
einer Schrift aufgezeichnet. Vorteilhaft war dabei sicher, dass zumeist allein schriftkundige Priesterastronomen zur Beobachtung (und möglichst Vorhersage) dieser Himmelserscheinungen eingesetzt
wurden. Und obwohl nur ein kleiner Teil dieser Aufzeichnungen die Zeiten überdauert hat, sind sie
eine unschätzbare Quelle sowohl für die Geschichtswissenschaften als auch für langfristige astrono2
mische Abläufe.
"Neue Chronologie"
Wenn Historiker Ereignisse in eine chronologische Reihenfolge bringen müssen,
ergibt sich meist das Problem, dass frühere Kulturen zumeist keine durchlaufende Jahreszählung kannten, ganz zu schweigen vom Problem, räumlich und
zeitlich getrennte Kulturkreise miteinander zu verzahnen. Aufzeichnungen
besonderer astronomischer Ereignisse sind oft die einzigen Stützpunkte. So
wurden z.B. von vielen Autoren [J.J. Scaliger: De Emendatione Temporum
(1583), J. Ussher: The Annals of the World (1658)] die alttestamentlichen Zeitangaben mit (durch Ptolemaios überlieferte) Finsternisaufzeichnungen aus
Babylon über die griechisch-römische Geschichte in die europäische Chronologie
eingepasst.
Gerade gegen diese Anpassung wird seither (meist aus dubiosen religiösen Motiven) polemisiert,
beginnend mit Isaac Newton: The Chronology of Ancient Kingdoms amended (1728).
Aktuelle "Neue Chronologen" [wie die Moskauer Gruppe New Chronology of the
World History] greifen gern astronomiehistorische Diskussionen auf, um ihre (oft)
abstrusen Ideen zu untermauern. Beliebt sind die Angriffe Prof. R.R. Newtons
gegen Ptolemaios, der behauptet, nicht nur der Sternenkatalog im Almagest sei
abgeschrieben (womit er wohl sogar Recht hat) sondern die babylonischen
Aufzeichnungen seien frei erfunden [seltsamerweise hat man von einigen die
Originalkeilschrifttafeln gefunden].
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"Neue Chronologie"
Im nano-Beitrag wurden ebenfalls Arbeiten R.R. Newtons von 1970 zitiert, seine Untersuchungen
zur "Akzeleration des Mondes" aus alten Chroniken. Allerdings "verbessert" durch den russischen
Mathematikprofessor A.T. Fomenko, der damit beweisen will, dass in der Renaissance durch die
katholische Kirche das erste christliche Jahrtausend entfernt wurde, in dem es ein russisches
Großreich gegeben haben soll.
Das erinnerte mich an einen Artikel, den ich kurz vor der (Regen-)Sonnenfinsternis gelesen hatte.
Auf Anfrage sandte mir einer der Autoren, Prof. F.R. Stephenson, seine neuesten Arbeiten zu
diesem Thema zu, die im zweiten Teil meines Vortrags vorgestellt werden.
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Zeitskalen
Eine verständliche Erklärung der für Amateurastronomen wichtigen Zeitdefinitionen findet man z.B.
in Alan M. MacRoberts Artikel
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Time and the Amateur Astronomer
Zeitskalen
Bis in die 30'iger Jahre gab es keine menschengemachten Uhren, mit denen man die langfristige
Konstanz der Erdrotation hätte überprüfen können. Als die Physikalisch Technische Reichsanstalt
berichtete, sie hätte mit ihren neuen Quarzuhren jahreszeitliche Schwankungen beobachtet, wurde
sie eher mitleidig belächelt. Das änderte sich erst mit den Atomuhren.
Schon 1956 hatte man die Sekunde von der Erdrotation abgekoppelt und die Ephemeridenzeit
eingeführt, die aus den Bewegungen der Planeten und des Mondes abgeleitet wird. 1976 wurde
die Ephemeridenzeit dann durch die Atomzeit ersetzt [,die unbeabsichtigt etwas kürzer ausfiel.]:
ET (identisch mit TT) = TAI + 32,184 s
Darüberhinaus wird die (auch langfristige) Übereinstimmung der "bürgerlichen Zeit" (Sonnenstand,
Jahreszeiten) mit der Atomzeit durch Schaltsekunden realisiert: UTC (Universal Time Coordinated)
Was E. Halley 1695 bestimmen wollte, ist (in heutiger Sprache)
ΔT = TT - UT
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Daten aus der "Teleskop-Ära"
Astronomische Bemühungen, Änderungen
der Erdrotation zweifelsfrei zu beweisen,
lieferten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts
keine schlüssigen Beweise [Newcomb (1882)],
da der Effekt sehr klein war. Die deutlichen
Abweichungen von 1870 bis 1910 gestatteten
dann 1939 Sir H. Spencer Jones, starke
Korrelationen in den Positionen von Sonne,
Mond, Merkur und Venus aufzuzeigen, die
nur durch eine langfristige Variabilität der
Erdrotation erklärt werden können. Mit
Quarz-(30'iger) und Atomuhren (seit 50'iger
Jahren) können auch kurzzeitige Abweichungen erkannt werden, wie z.B. der Einfluss
des El Niño-Wetterphänomens.
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Nichtastronomische Uhren
Bis zur Erfindung der Quarz- und Atomuhren waren die
Bewegungen der Himmelskörper die einzigen höchstpräzisen Zeitgeber (dabei schließe ich die Sonnenuhren
mit ein).
Von den (Priester)astronomen wurden in verschiedenen
Kulturkreisen Wasseruhren (Klepsydren) verwandt, die
aber (trotz z.T. beachtlichen Ausmaßen) keine
ausreichende Ganggenauigkeit erreichten.
Su Songs Wasseruhr, um A.D. 1094
Da selbst die Pendeluhren in den Observatorien regelmäßig astronomisch synchronisiert wurden, war es fast
unmöglich nachzuprüfen, ob z.B. die Erdrotation, durch
die die Zeiteinheit Sekunde definiert war, wirklich zeitlich
konstant war (wie alle annahmen). Man musste also mit
anderen astronomischen Ereignissen vergleichen, wie
z.B. historischen Finsternissen (siehe Halley 1695).
Machbar waren damals Beobachtungen der Jupitermonde,
Bedeckungen der Sonne durch Merkur und Okkultationen
von Sternen durch den Mond.
Insbesondere bei letzteren Messungen musste man feststellen, dass sich der Mond nicht an den
berechneten Positionen befand. Er beschleunigte auf seiner Bahn
[säkulare Akzeleration des Mondes].
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Doch weshalb wurde das als vordringliche Staatsaufgabe behandelt?
Das Längengrad-Problem (I)
Während in der Navigation die Bestimmung des Breitengrades selbst mit "einfachen" astronomischen Geräten wie dem Jakobsstab möglich ist, gab es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts keine
Lösung für die Bestimmung des Längengrades. Mechanische Uhren wurden von allen Wissenschaftlern verworfen, blieben also nur astronomische Verfahren.
Carte de France, 1694
Schon Galilei hatte vorgeschlagen, die Stellung der Jupitermonde mit
berechneten Tabellenwerten zu vergleichen. Auf dem festen Boden war
dies ein guter Vorschlag (siehe nebenstehende Karte), auf einem Schiff
jedoch nicht praktikabel.
Der "Longitude Act" von 1714, insbesondere das Preisgeld von
20000 Pfund, führten zu einer Reihe von Vorschlägen, so zur Monddistanz
Methode durch den königlichen Astronomem Nevil Maskelyne.
Die Sache hatte nur einen Haken, es gab keine befriedigende Theorie der Mondbewegung!
Wie noch heute [MOND, Modified Newtonian Dynamics Theory †] bezweifelte man das Gravitationsgesetz. Tobias Mayer schlug dann vor, statt anzunehmen, dass alle Himmelskörper beschleunigen,
eher zu vermuten, dass die Erdrotation abnimmt.
†
M. Milgrom, "A modification of the Newtonian dynamics as a possible alternative to the
hidden mass hypothesis"; Ap.J. 270 (1983) 365
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Das Längengrad-Problem (II)
1759 gelang es dem "einfachen" Uhrmacher John Harris wider alles erwarten
ein zuverlässiges Schiffschronometer zu bauen. Etwa gleichzeitig konnte
Tobias Mayer aus Göttingen hinreichende Mondtabellen aufstellen:
John Harrisons H4
Tobias Mayer and Nevil Maskelyne
Tabulæ motuum SOLIS et lunæ, novæ et correctæ; auctore Tobia Mayer:
quibus accedit methodus longitudinum promota, eodem autore.
London, 1770
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Erbe der Apollo Missionen
Seit etwa 1750 vermutete man, dass die beobachtete "Akzeleration des Mondes" tatsächlich einer
Abbremsung der Erdrotation entspricht (Tobias Mayer). Immanuel Kant schrieb diesen Effekt als
erster den Gezeiten zu.
Die säkulare Abnahme der Erdrotation durch Gezeitenreibung wirkt sich durch Drehimpulsübertragung auf die Mondbahn aus: Der Mond entfernt sich von der Erde. Die Erhaltung des Gesamdrehimpulses bedeutet, dass der Mond gewinnt was die Erde verliert.
Dies ermöglicht mehrere Bestimmungsmethoden. Zum einen basierend auf historischen Aufzeichnungen und zum andern High-Tech-Verfahren, die erst seit wenigen Jahren möglich sind:
• Kombinierte Analyse von Merkurdurchgängen und Sternbedeckungen durch den Mond von
1677 bis 1973 (Teleskop-Ära).
• Bestimmung der Zunahme der Mondentfernung (3,7 cm/Jahr) durch Laser und Retroreflektoren
auf dem Mond
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Erbe der Apollo Missionen
Für die letzten 250 Jahre ergibt sich die Abbremsung der Erdrotation zu -6 x 10-22 rad s-2.
Dies entspricht einer Änderung der Tageslänge (l.o.d.) um +2,3 ms cy-1.
Diese Zahlen wirken sehr unbedeutend. Da jedoch z.B. seit 700 v.Chr. fast 1 Million Tage
vergangen sind, ergibt sich eine Abweichung der UTC von der TAI von fast 8 Stunden.
Alle historischen astronomischen Beobachtungen, die mit einem geringeren Fehler als die
jeweilige Abweichung ΔT bestimmt werden können, geben Informationen über die Erdrotation
in vergangenen Zeiten.
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Historische Beobachtungen
Eine große Anzahl astronomischer Beobachtungen sind aus vielen Teilen der Welt überliefert. In
der Nachfolge von Halley wurden viele Untersuchungen durchgeführt. Am Ende stellte sich heraus,
dass nur ein relativ kleiner Ausschnitt aus den Daten einigermaßen zuverlässige Resultate ergibt:
Totale Sonnenfinsternisse und Mondfinsternisse mit Uhrzeit.
Das hat mehrere Gründe:
• Das Ereignis muss exakt berechenbar sein.
• Da totale Sonnenfinsternisse nur in einer engen Zone beobachtbar sind,
muss nur der Ort und (in günstigen Fällen) ein ungefährer Zeitraum bekannt sein.
Die Uhrzeit ergibt sich aus der Himmelsmechanik.
• Bei partiellen Sonnen- und allen Mondfinsternissen müssen Datum, Ort des
Beobachters und Uhrzeit ermittelbar sein.
Insbesondere die Forderung nach Uhrzeit reduziert die vorhandene Datenmenge drastisch, da
allerhöchstens in astronomisch/astrologischen Quellen überhaupt versucht wurde, eine Uhrzeit zu
ermitteln. Die zur Verfügung stehenden Uhren (wie Wasseruhren) führen allerdings zu großen
Unsicherheiten. In den neuesten Arbeiten von Stephenson/Morrison werden nur Daten aus 4
Kulturkreisen im Zeitraum 700 v.Chr. bis zur Erfindung des Teleskops verwendet:
Babylon, China, Europa (mit Alexandria), Muslimische Gebiete
Auffällig ist die Abwesenheit von Altägypten, Indien und Mesoamerika.
Eine Vielzahl anderer Beobachtungen, die z.T. noch weit älter sind, sind von großer Bedeutung
für die Chronologie, doch hier nicht anwendbar.
Zunächst sollen einige Beispiele gezeigt werden.
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Babylonische Beobachtungen
Verwertbare systematische (und nach 350 v.Chr. weitgehend vollständige) Beobachtungen von
Mond- und Sonnenfinsternissen aus Mesopotamien sind für den Zeitraum von etwa 700 v.Chr. bis
ins erste vorchristliche Jahrhundert überliefert. Vereinzelte Beobachtungen wurden jedoch schon
viel früher gemacht.
[In Sky & Telescope wurde unlängst der Zeitpunkt der Plünderung Babylons durch die Hethiter mit
Hilfe solcher Beobachtungen neu datiert:
Vaha G. Gurzadyan: "Astronomy and the Fall of Babylon", S&T 100 (July 2000) p. 40-45]
Partielle Mondfinsternis 11.4.80 v.Chr.
Year 168 (Arsacid), that is year 232 (Seleucid), Arsaces, king of kings, which is in the time of king
Orodes (I), month I, night of the 13th...5° before m Her culminated, lunar eclipse, beginning on the
south-east side. In 20° of night it made 6 fingers. 7° of night duration of maximal phase, until it
began to become bright. In 13° from south-east to north-west, 4 fingers lacking to brightness, it set
[...] (Began) at 40° before sunrise
(BM 33562A, Obv, and Rev.)
Anmerkung: Die Zeiteinheit "Grad"(°) entspricht 24/360 Std. = 4 min
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Babylonische Beobachtungen
Totale Sonnenfinsternis 15.4.136 v.Chr.
175 Seleucid, month XII/2, day 29, solar eclipse.
When it began on the south-west side, in 18° of
day in the morning it became entirely total.
(It began) at 24° after sunrise.
(BM 34034, Rev. 24-28)
[...], day 29. At 24° after sunrise, solar eclipse;
when it began on the south-west side [...] Venus,
Mercury and the 'normal stars' were visible;
Jupiter and Mars, which were in their period of
disappearance, became visible in its eclipse [...].
It threw off (the shadow) from south-west to
north-east. (Time interval of) 35° for onset,
maximal phase and clearing. In its eclipse, the
north wind which [...] was [set towards the west
(?) blew ...].
(BM 45745, Rev. 13'-15')
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Totale Finsternis Babylon 15.4.136 v.Chr.
Oben: Beobachteter Totalitätspfad durch
Babylon.
Unten: Berechneter Verlauf unter der
Annahme einer konstanten Umdrehungsrate der Erde.
Der Unterschied in Längengraden
von 48.8° entspricht 3.25 Std.
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Totale Sonnenfinsternis Ch'ang-an 4.3.181 v. Chr.
Empress of Kao-tzu, 7th year, first month,
day chi-ch'ou, the last day of the month. The
sun was eclipsed; it was total; it was 9° in [the
lunar lodge] Ying-shih, which represents the
interior of the Palace chambers. At that time
the [DOWAGER] Empress of Kao-[tzu] was
upset by it and said, "This is on my account."
The next year it was fulfilled.
Han-shu (Annalen der Han-Dynastie)
Anmerkung: Kaiserin Dowager verstarb
18 Monate später.
Dieses Zitat zeigt, weshalb die Hofastronomen aufmerksam den Himmel studierten und
diese Beobachtungen in die offiziellen Annalen der Dynastien aufgenommen wurden:
Astrologie
Doch nur deshalb blieben sie erhalten und wir können sie heute für wissenschafttliche
Zwecke verwenden!
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Daten ohne Uhrzeit
Sonnenfinsternisse
F.R. Stephenson and L.V. Morrison
Phil. Trans. R. Soc. Lond. A351 (1995) 165-202
Der extrapolierte Einfluss der Gezeitenreibung
ΔTtidal = -20 + (42±2) t2 s
ist als punktierte Kurven aufgetragen.
Die durchgezogene Linie entspricht einer Datenanpassung mittels einer Parabelfunktion
18
ΔT = -20 + 31 t2 s
Die unterbrochene Linie wird später erläutert.
Daten mit Uhrzeit
Mond- und Sonnenfinsternisse
F.R. Stephenson and L.V. Morrison
Phil. Trans. R. Soc. Lond. A351 (1995) 165-202
Die Kurven entsprechen der vorherigen Seite.
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Ausschnitt 400 - 1600 A.D.
Alle Daten
F.R. Stephenson and L.V. Morrison
Phil. Trans. R. Soc. Lond. A351 (1995) 165-202
Nähere Erläuterungen nächste Seite
20
Abweichungen vom quadratischen Fit
Erläuterungen siehe nächste Seite
21
Abweichungen vom quadratischen Fit
Die Daten lassen sich gut mit einer Parabel +32*t2 s cy-1 (anstelle von +(40±2)*t2 nur aus
Gezeitenkräften) anpassen (gestrichelte Kurve). Dabei ist t gerechnet in Jahrhunderten seit
A.D. 1820.
Dann wären die am oberen Bildrand angegebenen totalen Sonnenfinsternisse jedoch partiell
gewesen, was den Beobachtungen widerspricht:
• A.D. 454 China: ...it was total; all the constellations were brightly lit.
• A.D. 1267 Europa: ...such darkness arose over the Earth at the time of mideclipse that many
stars appeared.
Die durchgezogene Linie wurde durch Anpassen kubischer Kurvenstücke erhalten, die der
Parabel einen zusätzlichen oszillierenden Anteil mit einer Periode von etwa 1500 Jahren
aufprägen.
Abb. aus: L.V. Morrison, F.R. Stephenson; ORION 3 (2001) 304
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Alternative Darstellung
In dieser Abbildung ist die Differenz zum extrapolierten
Gezeiteneffekt aufgetragen.
Die durchgezogene Kurve entspricht den gestrichelten
Linien der vorherigen Abbildungen.
Leslie Morrison and Richard Stephenson;
Astronomy & Geophysics 39 (1998) 5.8
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Zusammenfassung
Man kann die Ergebnisse auch als Abweichung der mittleren Tageslänge von einem Tag aus
86400 (Atom-)Sekunden darstellen.
Die beobachtete gemittelte Zunahme von 1,7 ms cy-1 setzt sich aus mehreren Komponenten
zusammen:
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Zusammenfassung
• Gezeitenkräfte verursachen eine Zunahme um 2,3 ms cy-1.
• Überlagert ist eine Komponente, die die Erdrotation beschleunigt und eine Abnahme der
Tageslänge um 0,6 ms cy-1 bewirkt. Dies wird zurückgeführt auf anhaltende Änderungen der
Erdform nach Abschmelzen der Gletscher am Ende der Eiszeit. Der Wert wird durch Messungen
an den Geodäsie-Satelliten Lageos und Starlette [-(0,44±0,05) ms cy-1] bestätigt. Dieser Effekt
nimmt mit der Zeit ab.
• Die quasiperiodischen Fluktuationen auf einer Zeitskala von etwa 1500 Jahren werden i.A. auf
Masseverlagerungen im Erdmantel zurückgeführt.
• Die seit 1600 beobachteten starken kurzzeitigen Schwankungen können mit den spärlichen
historischen Daten nicht beobachtet werden, sollten diesen jedoch überlagert sein.
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Ältere chinesiche Aufzeichnungen
Als Beispiele für ältere Sonnenfinsternisse habe ich im Internet die Ankündigungen dreier Vorträge
von Kevin D. Pang (JPL) gefunden. Seine Ergebnisse stimmen recht gut mit den zuvor gezeigten
Arbeiten überein, wurden dort aber nicht berücksichtigt. Wahrscheinlich, weil eine Reihe von
Annahmen zur Auswertung erforderlich ist.
• Bambus Annalen über Westliche Zhou Dynastie (ca. 1100-771 v.Chr).
King Yi. First year, spring ... The day dawned twice at Zheng.
Die Autoren interpretieren dies als eine Finsternis zur Zeit des Sonnenaufgangs am 21. April 899
v.Chr. Daraus folgt
ΔT = ET - UT = 5h 50m
[statt 6h 20m aus parabolischer Anpassung].
Eine weitere Finsternis wurde in Zheng am 4.4.368 n.Chr. beobachtet und eine weitere wird am
1.8.2008 stattfinden.
• Orakelknochen der Shang-Dynastie (1600-1100 v.Chr.)
Diviner Ko: ... day yi-mao [cyclic day 52] to [next] dawn, fog. Three flames ate the sun.
Big stars [seen].
Zur Entscheidung zwischen 6.5.1302 v.Chr. und 3.4.1250 v.Chr. datieren die Autoren noch 5
Mondfinsternisse im Zeitraum 1322 bis 1278 v.Chr. Das Datum 1302 ergibt ein
ΔT = (7h 20m ± 20m) und
eine um 47 ms kürzere l.o.d. [statt 8h 24m und 50 ms].
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Ältere chinesiche Aufzeichnungen
• Aus einer im 4. vorchristlichen Jahrhundert vom Philosophen Mozi verfassten Beschreibung einer
Schlacht leitet Pang den Bericht über eine Sonnenfinsternis am 24.9.1912 v.Chr. her:
In ancient times, the 3 Miao tribes were in disarray. Heaven ordered their destruction. The sun
rose in the evening...King Yu, founder of Xia, first dynasty, vanquished them...
• Und in den Bambus Annalen:
When the 3 Miao perished...the sun disappeared by day and reappeared at night...
König Yu regierte von 1914 bis 1907 v.Chr. Ein ΔT=12.2h bringt den Totalitätsverlauf der Ringfinsternis ins Gebiet der Miao.
Wenn es zutrifft, gehörte diese Datierung zu den ältesten in China, nur unwesentlich jünger als der
Beginn des von der ersten (Xia-)Dynastie eingeführten Lunar-Solar-Kalenders am 5.3.1953 v.Chr.
als nach der Überlieferung der Frühlingsbeginn mit einer Konjunktion von Sonne, Mond und den
5 Planeten im "Yingshi" (etwa Pegasus) zusammenfiel.
K. Pang datierte auch das Ende der Xia-Dynastie auf etwa 1600 v.Chr. Der Zorn der himmlischen
Mächte auf den lasterhaften König Chieh manifestierte sich z.Bsp. durch Frost im Juli, wahrscheinlich eine Folge des Thera-Vulkanausbruchs 1628/7 v.Chr.
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Älteste Sonnenfinsternis-Darstellung?
Vor kurzem sah ich in Astronomy.com noch
einen Artikel, der Lust auf eine Irland-Reise
macht.
Paul Griffin hat obige Steinritzungen im Loughcrew Cairn, einem Megalithgrab, als Abbildungen
einer Sonnenfinsternis interpretiert.
Mit einem PC-Programm hat er viele Fälle durchgespielt, und ist nun überzeugt, dass die Steinzeitmenschen eine Finsternis am 30. November 3340 v.Chr. verewigt haben. Nach seinen Berechnungen handelte es sich um eine Ringfinsternis mit 98.2% Bedeckung, die um den Sonnenuntergang geschah.
Etwa 50 Skelette im Grab deutet er als Menschenopfer, die das Wiedererscheinen der Sonne am
nächsten Morgen unterstützen sollten.
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Älteste Sonnenfinsternis-Darstellung?
Dem Artikel ist nicht zu entnehmen, inwieweit das PC-Programm die Abbremsung der Erdrotation
berücksichtigt. Mit der Formel DT = 31 t2 s cy-1 komme ich auf immerhin etwa 23 Stunden.
www.astronomy.com/content/dynamic/articles/000/000/000/806newea.asp
Der Hersteller des Programms hat eine spezielle Web-Page geschaffen:
www.astronomy.ca/3340eclipse/
in der auch Simulationen gezeigt werden. Darin wird erwähnt, dass man einen ΔT-Wert ins
Programm eingeben kann.
P. Griffin hat ein extrapoliertes ΔT = 104610 s (etwa 29 h) angenommen.
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Literaturstellen (1)
• P. Brosche, Understanding tidal friction: A history of science in a nutshell, Science Tribune 1998
• D.B. Herrmann, Die Rätsel der "verschwundenen" Jahrhunderte. Die astronomischen Grundlagen
der Chronologie, Astronomie + Raumfahrt 39 (2002) 19
• 3SAT-Magazin nano 28.01.2002 Neue Chronologie der Zeitgeschichte
• R.R. Newton, Astronomical evidence concerning non-gravitational forces in the Earth-Moon system,
Astrophysics and Space Science 16 (1972) 179-200
• R.R. Newton, Two uses of ancient astronomy, Phil. Trans. R. Soc. Lond. A276 (1974) 99-110
• H.-U. Keller, Zeitdefinition heute: Die Dynamische Zeit, Astronomie + Raumfahrt 39 (2002) 8
• Dava Sobel, Längengrad, btb Taschenbuch, Goldmann Verlag (1998)
• F.R. Stephenson and L.V. Morrison, Long-term fluctuations in the Earth's rotation: 700 BC to
AD 1990, Phil. Trans. R. Soc. Lond. A351 (1995) 165-202
• Leslie Morrison and Richard Stephenson, The sands of time and the Earth's rotation,
Astronomy & Geophysics 39 (1998) 5.8
• L.V. Morrison and F.R. Stephenson, The sands of time and tidal friction, "The Message of the
Angles - Astrometry from 1798 to 1998" Acta Historica Astronomiae 3 (1998) 100
• L.V. Morrison and F.R. Stephenson, Eclipses - a tool to measure the Earth's rotation,
ORION 3 (2001) 304 (Zeitschrift für Amateurastronomie der SAG)
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Literaturstellen (2)
• L.V. Morrison and F.R. Stephenson, Historical eclipses and variability of the Earth's rotation,
Journal of Geodynamics 32 (2001) 247-265
• F.R. Stephenson, Historical eclipses, Scientific American 274 (1982) 154-163
• K.D. Pang et al., The Bamboo Annals Passage "The Day Dawned Twice": A Record of the
Sunrise Eclipse of April 21, 899 BC, Bulletin of the American Astronomical Society 18 (1986)
1044; Vortrag [86.04]
• K.D. Pang et al., Shang Dynasty Oracle Bone Eclipse Records and the Earth's Rotation Rate in
1302 BC, Bulletin of the American Astronomical Society 21 (1989) 753; Vortrag [9.01]
• K.D. Pang and K.K. Yau, The need for more accurate 4000-year ephemerides, based on lunar
and spacecraft ranging, ancient eclipse and planetary data, Proc. 172nd Symp. of the IAU on
"Dynamics, Ephemerides and Astrometry of the Solar System", Paris (1995) p. 113
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