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A. Allgemeines
REINHARD SCHIFFERS (Bearb.): Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1957–1961 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien.
Vierte Reihe: Deutschland seit 1945 11/III). Droste, Düsseldorf 2004, 2 Halbbände, CXI u. 1012
S., 184,00 e.
CORINNA FRANZ (Bearb.): Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle
1961–1966 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Vierte
Reihe: Deutschland seit 1945 11/IV). Droste, Düsseldorf 2004, 4 Teilbände, CXII u. 2681 S.,
398,00 e.
Mit den vorliegenden, insgesamt sechs voluminösen Editionsbänden findet ein groß angelegtes
Projekt der renommierten Bonner Parlamentarismuskommission seinen vorläufigen Abschluss:
die im Jahr 1998 begonnene kommentierte Herausgabe der Vorstands- und Plenarsitzungsprotokolle der CDU/CSU-Fraktion in den ersten vier Legislaturperioden und der beginnenden fünften
Legislaturperiode des Deutschen Bundestages. Zusammen mit der seit 1993 veröffentlichten
„Paralleledition“ für die SPD-Fraktion liegt damit ein Quellenkorpus für die frühe Bundesrepublikgeschichte vor, der an Umfang, Überlieferungsdichte und Aussagekraft seinesgleichen sucht.
Besonderen Wert bekommen die Protokolle dabei nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht nur breite
Informationen zu politischen Diskussions- und Entscheidungsprozessen, zu Motiven, Strategien
und Handlungszwängen, zu internen Gruppenbildungen und Friktionen einer der bedeutendsten
Institutionen des politischen Lebens Westdeutschlands, der „Drehscheibe der CDU-Politik“
(Prot. 1961–1966, S. XCI), liefern. Sie erlauben darüber hinaus tiefe Einblicke in informelle
Verständigungswege der Meinungsfindung und Verfahren des politischen Alltagsgeschäfts, in
kommunikative Gepflogenheiten und persönliche Umgangsformen, in Stil und Rhetorik von
Parlamentariern und können so auch als Fundament einer Alltags- und Kulturgeschichte des
bundesdeutschen Parlamentarismus dienen.
Technisch-handwerklich bewegen sich die Bände bzw. ihre Bearbeiter/in auf dem für die
Reihe gewohnt hohen Niveau. Der Text wird in zuverlässiger Weise wiedergegeben und an
manchen Stellen durch Funde akribischer Quellenarbeit und Textkritik ergänzt (z. B. bislang
verschollene Vorstandsprotokolle 1965/66). Die Kommentare sind ebenso kenntnis- wie hilfreich und erschließen eine breite Quellen- und Literaturbasis; sie stellen damit nicht nur ergänzende Informationen bereit, sondern sind überdies hervorragende Anknüpfungspunkte für weitere Detailforschungen. Die Einleitungen geben einen ausgezeichneten Ein- und Überblick über
Ausgangslage, Rahmenbedingungen und Hauptthemen der Fraktionsarbeit. Ausführliche und
aussagekräftige Register zu Personen und Sachen beschließen und erschließen die Bände.
Wodurch waren nun Fraktionsarbeit und ihre allgemeinen Rahmenbedingungen zwischen
1957 und 1966 gekennzeichnet? Wo lagen die inhaltlichen Schwerpunkte und Problemzonen?
Wie sahen die durchgehenden generellen Leitlinien der Tätigkeit aus und wo ergaben sich
Wendungen und wichtige Akzentverschiebungen?
Die Fraktionsstruktur war natürlich zuallererst bestimmt durch die Wahlausgänge: zunächst
durch den triumphalen Wahlsieg von 1957, der der Union die absolute Mehrheit an Stimmen und
Mandaten gesichert und der Fraktion zahlreiche Neulinge beschert hat; dann durch den StimmenVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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rückgang bei den Wahlen 1961 und 1965, der langfristig zwar eine gewisse Trendwende anzeigte, der Union aber immer noch recht komfortable relative Mehrheiten beließ, auch dank des nun
voll durchbrechenden Konzentrationsprozesses der Parteienlandschaft (und der Fraktionsübertritte der DP-Abgeordneten zur CDU 1959/61). Unabhängig von den Wahlergebnissen im
Einzelnen kann man deshalb als strukturelle Grundbegebenheit der Fraktionsarbeit durchgehend
von 1957 bis 1966 festhalten: Es handelte sich um eine sehr große Fraktion, zu Ende der dritten
Legislaturperiode mit 289, danach immer noch mit rund 250 Abgeordneten. Daraus resultierten
politisches Standing und Bedeutung der Fraktion, aber auch enorme Probleme hinsichtlich der
Einheitlichkeit der Fraktion und der Disziplinierung ihrer Mitglieder – Probleme einer effizienten Leitung der Geschäfte, Probleme mit unangepassten „Einzelexemplaren“ (wie z. B. Gerd
Bucerius), Probleme angesichts der beruflich-interessenpolitischen (Franz spricht von „Verbandsinseln“; Prot. 1961–1966, S. XXV), der landsmannschaftlichen (CSU-Landesgruppe), der
konfessionellen und der politisch-ideologischen Disparitäten und Schwerpunkte, nicht zuletzt
Probleme mit Flügel- und Gruppenbildungen innerhalb der Fraktion. Viel hing daher von dem
Geschick und der Autorität der Fraktionsspitze ab. Das meint den Fraktionsvorstand, dessen
politisches Gewicht im Laufe der sechziger Jahre spürbar zunahm, ferner die Mitglieder der
immer wichtiger werdenden Arbeitsgruppen (z. B. Haushalt, Steuern und Finanzen, Arbeit und
Soziales oder Wirtschaft und Ernährung), an vorderster Stelle aber die Fraktionsvorsitzenden.
Diese repräsentierten freilich mit Heinrich Krone (1957–1961), Heinrich von Brentano (1961–
1963/64) und Rainer Barzel (1963/64–1966) selbst ganz unterschiedliche Typen – hier der
ebenso umsichtig wie straff führende und ausgesprochen Adenauer-treue Krone, der bei allen
schweren Differenzen etwa in der Kanzlernachfolgefrage die auseinanderdriftenden Kräfte zusammenhielt und dafür den Spitznamen „großer Kleisterer“ bekam; dort der gutmütigere, sensiblere und introvertiertere Brentano, ebenfalls loyal gegenüber Adenauer, aber doch stärker vom
Wunsch nach mehr Eigenständigkeit der Fraktion beseelt und in der Leitungsaufgabe, zumal mit
fortschreitendem Krebsleiden, bei aller Beredsamkeit, oft etwas überfordert und wenig energisch; zuletzt Barzel als Prototyp des neuen, modernen Politmanagers und karrierebewussten
„Machers“, ein zielsicherer Fraktionsführer, der die Kunst des Taktierens und des Kompromisses
ebenso beherrschte wie den geschmeidigen Umgang mit der Presse, allerdings auch den Hang
zur eitlen Selbstinszenierung („Bonnaparzel“) und „Geschäftshuberei“ (Prot. 1961–1966, S.
XLVI) zeigte.
Gleichermaßen Belastung wie Chance für die Fraktion war in diesem Zusammenhang auch,
dass seit dem Wahlsieg 1957 ein generationeller Wechsel eingeläutet wurde und zahlreiche neue
Abgeordnete eintraten. Darunter war „viel, viel Durchschnitt“, wie Krone bald desillusioniert
feststellte (Krone-Tagebuch 1945–1961, S. 267), aber auch manches künftige politische Schwergewicht wie der eben genannte Barzel, Ernst Benda, Bruno Heck oder Gerhard Stoltenberg.
Gleichzeitig verstarben zu Beginn der sechziger Jahre einige der alten Granden und Integrationsfiguren (Robert Pferdmenges, Helene Weber, Heinrich von Brentano) oder schieden aus dem
Bundestag aus (Matthias Hoogen, Kurt Georg Kiesinger). Grundiert wurde dieser fraktionsinterne Generationen- und Personalwechsel von einem einschneidenden generelleren gesellschaftlichen Paradigmenwechsel: dem endgültigen Übergang von einer in Not und Mangel geborenen
Nachkriegsgesellschaft zu einer materiell weitgehend konsolidierten Wohlstandsgesellschaft,
dem „Wandel von der Wohlstandserwartung zur Wohlstandserfahrung“ (Hockerts). Ludwig
Erhard hat in diesem Zusammenhang mehrmals vom „Ende der Nachkriegszeit“ gesprochen.
Oft genug waren es eben jene sozialen Entwicklungsprozesse, die auch inhaltlich-politisch
die Fraktionsarbeit bestimmten. Sie machten sich z. B. bemerkbar im neuen Umgang mit der sich
seit Godesberg 1959 ebenfalls als klassenübergreifende Volkspartei verstehenden SPD oder
allgemeiner: im Trend einer Abflachung der programmatisch-ideologischen Gegensätze zwischen Regierung und Opposition, mithin auch in einer Beschränkung der eigenen Profilierungsmöglichkeiten; Brentano fürchtete hier früh, dass „der kreuzbrave Kurs der SPD für die CDU
gefährlich werden könnte“ (Fraktionssitzung vom 13.6.1962). Die gesellschaftlichen Wandlungsvorgänge spiegelten sich aber auch in zahlreichen fraktionsinternen Debatten zu Fragen der
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Haushalts- und Finanzpolitik, genauer: zu Ausgabedisziplin, Anspruchshaltung und ersten Gefahren einer schwindenden Gemeinwohlverantwortung der westdeutschen Gesellschaft (verdichtet etwa in Erhards „Maßhalteappellen“, seiner Klage vor Gefälligkeiten gegenüber Interessengruppen, der Warnung, „unsere Zukunft zu verfrühstücken“; z. B. Fraktionssitzung vom 7.1.1964).
Nicht zuletzt fanden die gesellschaftlichen Entwicklungen und die neuen Fragen, die eine solche
gewandelte, modernisierte, auch „jüngere“ Gesellschaft stellte, Ausdruck in den vergangenheitspolitischen Diskussionen der Zeit (v. a. 1964/65 um die Verjährung der NS-Verbrechen).
Außenpolitische Themen schlugen sich demgegenüber nur selten und, wenn überhaupt, eher in
knapp gefassten Passagen nieder, mit zwei Ausnahmen: den Fragen der welt-, ost- und deutschlandpolitischen Folgerungen des Mauerbaus 1961 und den Problemen der Europapolitik mit den
unterschiedlichen und einigermaßen hart miteinander konkurrierenden Konzepten von „Gaullisten“ (um Adenauer) und „Atlantikern“ (um Erhard) innerhalb der Fraktion. Dies verweist auf ein
letztes brisantes und seit der Präsidentschaftskrise von 1959 immer stärker in den Vordergrund
tretendes fraktionsinternes Streitthema: auf die schweren Auseinandersetzungen zwischen Konrad Adenauer und seinem präsumtiven, aber ungeliebten Nachfolger Ludwig Erhard. Sie haben
zwischen 1959 und 1963 in mehreren Diskussionswellen (besonders stark im Frühsommer 1959
und im Frühjahr 1963) den Zusammenhalt der Fraktion erheblich belastet und zu dieser Zeit zu
tiefen Verstimmungen vor allem gegenüber Adenauer geführt, dem zunehmender Altersstarrsinn, nachlassende Integrationskraft und persönliche Ränkespiele angelastet wurden. Auf der
anderen Seite wird bei allen Verdiensten, die man Erhard als Wirtschaftsminister zuerkannte,
doch auch innerhalb der Union schon früh eine gewisse Skepsis gegenüber dessen Kanzlerfähigkeit erkennbar, die 1965/66 rasch in eine Stimmung enttäuschter Erwartungen, Ratlosigkeit und
krisenhafter Nervosität kippte und im Herbst 1966 mit zum Sturz Erhards beitrug.
Gerade diese Debatten (aber nicht nur sie) können zudem als beispielhafter Hinweis dafür
dienen, mit welch unterschiedlichen Mitteln und Techniken die einzelnen Politiker in der
Fraktion agierten: Die Auftritte Adenauers vor der Fraktion etwa zeigen die ganze Klaviatur von
Überredungskunst und Diskussionsstilen, von abgewogen-nuanciert über umschmeichelnd bis
hin zu autoritär-pointiert und scharf zurechtweisend, dabei stets in freier Rede und durchgehend
von klarer und aussagekräftiger Sprache, nicht selten witzig und schalkhaft. Erhards Wortmeldungen dagegen waren zumeist ausholend, barocker und langatmiger im Duktus, ein professoralerklärender Stil und dennoch oft personalisierend und emotionalisierend, andererseits auf beinahe missionarische inhaltliche Überzeugungsarbeit (etwa in Fragen der Gesellschafts- oder der
Europapolitik) aus, kaum aber zum einfühlsamen Charme und vertraulichen Umgang fähig, wie
sie Adenauer zu Gebote standen.
Aufs Ganze gesehen: Die Edition erscheint nicht nur als handwerklich hervorragend gemachtes Standardwerk zu den zentralen Themen der westdeutschen Parlamentarismus- und
Parteiengeschichte. Sie ist auch eine ausgezeichnete Fundgrube zu Persönlichkeit, Selbstverständnis und Artikulationsformen ihrer herausragenden Protagonisten sowie ein streckenweise
fast spannend und unterhaltsam zu lesender Beleg für politische Bedeutung und Intensität
bundesrepublikanischer Parlaments- und Parteienkultur.
Passau
BERNHARD LÖFFLER
HUGO STEHKÄMPER: Köln – und darüber hinaus. Ausgewählte Abhandlungen (Mitteilungen aus
dem Stadtarchiv von Köln 93–94). Historisches Archiv der Stadt Köln, Köln 2004, 2 Bände, XV
u. 1634 S., 148,00 e.
Das Historische Archiv der Stadt Köln hat Hugo Stehkämper, der ihm seit 1961 angehörte und es
von 1969 bis 1994 leitete, zu seinem 75. Geburtstag geehrt, indem es in seiner Schriftenreihe die
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wichtigsten geschichtswissenschaftlichen Aufsätze des Jubilars veröffentlicht hat. Stehkämper
war eben nicht nur ein äußerst erfolgreicher Archivar, der mit dem von ihm konzipierten und als
„Kölner Modell“ gerühmten Neubau des Stadtarchivs Furore machte, mit zahlreichen Ausstellungen seinerzeit neue Wege in der Öffentlichkeitsarbeit beschritt und mit Beiträgen zu archivtechnischen wie auch archivpolitischen Themen nachhaltige Wirkung über Köln hinaus erzielte.
Die vorliegende Sammlung macht vielmehr deutlich, dass er auch ein Geschichtsschreiber ersten
Ranges war und ist. 33 zum Teil sehr umfangreiche historische Arbeiten aus seiner Feder sind in
den beiden Bänden vereinigt. Sie kreisen um folgende Themen: die Beziehungen der Stadt Köln
zu Kaiser und Päpsten im Hochmittelalter; der Kampf um die städtische Selbständigkeit und die
innere Entwicklung der Kölner Stadtgemeinde bis 1513/14; Kölner Erzbischöfe im Mittelalter;
die Bedeutung des Albertus Magnus nicht nur in geistesgeschichtlicher Hinsicht, sondern auch
als Streitschlichter in politischen Auseinandersetzungen; die Verflechtungen von Köln und dem
Rheinland mit Westfalen; Leben und Werk Konrad Adenauers; der politische Katholizismus in
Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Zeit, behandelt in Politikerbiographien (Julius Bachem,
Wilhelm Marx, Benedikt Schmittmann) und in einer Studie zu Opposition und Widerstand im
„Dritten Reich“. Die Arbeiten werden im Wortlaut der Erstveröffentlichung wiedergegeben,
doch verweist der Verfasser in Nachträgen auf gewandelte Auffassungen oder Neuerscheinungen. Wilhelm Lensing, der Bibliothekar des Kölner Stadtarchivs, hat ein Gesamtverzeichnis der
Schriften Stehkämpers beigesteuert. Dankbar wird man die Aufsatzsammlung zur Hand nehmen,
die das bisher oft nur schwer zugängliche wissenschaftliche Werk Stehkämpers in vorbildlicher
Weise verfügbar macht.
Würzburg
HANS-WOLFGANG BERGERHAUSEN
JAKOB PETER ZIEG: Jan Jacob van Klaveren (1919–1999). Lebensstationen und wissenschaftliches Werk eines niederländisch-deutschen Wirtschaftshistorikers. Herchen + Herchen, Frankfurt
a. M. 2003, 129 S. (14 Abb., 5 Tab.), 24,00 e.
Kern dieser Veröffentlichung ist eine 25 Seiten umfassende Beschreibung des Lebensweges von
van Klaveren unter besonderer Heraushebung der wissenschaftlichen Stationen und der bearbeiteten Problemkreise. Der Verfasser stellt zunächst die familiäre Verwurzelung van Klaverens in
Indonesien (Niederländisch-Ostindien) und in den Niederlanden heraus. Dies war Grundlage für
ein weit über Mitteleuropa hinausreichendes wissenschaftliches Interesse in den Wirtschaftswissenschaften und in der Wirtschaftsgeschichte. Die ersten Jahre nach der Reifeprüfung wurden
aber vor allem durch die besonderen politischen Verhältnisse in den Niederlanden bis hin zur
Besetzung des Landes durch die Deutsche Wehrmacht im Mai 1940 bestimmt. Ein geradliniger
Lebensweg war damit nicht mehr möglich. Trotz der Schwierigkeiten und der negativen Einwirkungen konnte van Klaveren sein Studium der Wirtschaftswissenschaften 1941 in Rotterdam mit
einer dem deutschen Diplomexamen entsprechenden Prüfung abschließen. Die Promotion erfolgte dann im April 1945 an der Technischen Hochschule in München mit einer Arbeit über
„Das niederländisch-koloniale Bodenrecht“. Doktorvater war der Wirtschaftsgeograph Wilhelm
Credner. Auch in der fachlichen Ausrichtung seiner Arbeiten zeigte sich bei van Klaveren damit
eine erhebliche Breite. Immerhin war van Klaveren dann von 1950 bis 1953 im thailändischen
Bangkok als Dozent für Volkswirtschaftslehre tätig. Erst danach begann eigentlich seine wissenschaftliche Einordnung in die Wirtschaftsgeschichte und in den formellen Weg zur wirtschaftsgeschichtlichen Dozentur in Deutschland mit der Aufnahme einer Assistententätigkeit bei Friedrich Lütge in München.
Der Verfasser stellt nicht nur die bis dahin wechselreichen Bedingungen des Lebensweges
von van Klaveren dar, sondern er arbeitet in den folgenden Ausführungen auch dessen wissenVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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schaftliche Schwerpunkte heraus, Schwerpunkte, die zum überwiegenden Teil außerhalb der bis
dahin üblichen Forschungsbahnen anzusiedeln waren. Für van Klaveren hatten der internationale
Handel und die staatlichen Finanzen eine zentrale Bedeutung in seinen Forschungen, ergänzt um
die bis dahin und auch danach vernachlässigte Korruptionsforschung. Da lag es nahe, in einem
Aufsatz „Fiskalismus-Merkantilismus-Korruption. Drei Aspekte der Finanz- und Wirtschaftspolitik während des Ancien Regime“ (VSWG 47, 1960, S. 333–353) nebeneinander zu stellen und
die Zusammenhänge und die Wechselwirkungen herauszuarbeiten. Die daraus abzuleitenden
Anregungen wurden von anderen Autoren nur teilweise aufgegriffen. Für die deutsche wirtschaftsgeschichtliche Forschung ist dies wohl auch dadurch bedingt gewesen, dass man sich bei
den meisten Wissenschaftlern kaum über das eigene Forschungssegment hinaus bewegte.
In der Lehre griff van Klaveren entsprechend seinem wissenschaftlichen Lebensweg bis zur
Übernahme des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1960 in Frankfurt/Main weit
aus. Der Verfasser hebt vor allem auch hervor, dass sich van Klaveren sehr in der Lehre
engagierte und dies offensichtlich nicht nur aus einem Pflichtbewusstsein heraus, wie der
Verfasser meint (S. 14 u. 32), sondern weil dies für van Klaveren als Hochschullehrer eine
Selbstverständlichkeit war. Die umfangreiche Übersichtsdarstellung „General Economic History, 100–1760. From the Roman Empire to the Industrial Revolution“ (1969) zeigt van Klaverens
Fähigkeit, komplizierte Vorgänge durchschaubar darzustellen, auch in der Lehre.
Die hier zu besprechende Schrift enthält eine ganze Reihe von Tabellen: (1) Eine Zusammenstellung der bei van Klaveren von 1961 bis 1986 in Frankfurt am Main geschriebenen 27
Diplomarbeiten (Namen der Bearbeiter und Themen) zeigt die Breite der Interessen, aber
offensichtlich auch die Bereitschaft, auf besondere Wünsche einzugehen, vielleicht diese auch zu
steuern. (2) Die Liste der Assistenten und der Doktoranden van Klaverens macht ebenfalls
dessen vielseitiges wissenschaftliches Interesse deutlich. (3) Die drei bei van Klaveren zum
Abschluss gekommenen Dissertationen waren sehr differenziert ausgerichtet, das Ergebnis einer
offensichtlich sehr großen Liberalität van Klaverens bei der Vereinbarung von solchen Themen.
(4) Wesentlich informativer ist die Tabelle der Veröffentlichungen von van Klaveren, seiner
Bibliographie, der veröffentlichten und der nichtveröffentlichten Schriften und Vorträge. (5)
Eine „Zeittafel“ listet sodann die bereits weitgehend zuvor genannten Stationen des Lebensweges von van Klaveren übersichtlich auf.
Nach der Lektüre dieses Buches und aus der Kenntnis des Wirkens von van Klaveren an der
Universität in Frankfurt am Main in Forschung und Lehre kann man einerseits sagen, dass er in
seinem Wissenschaftszweig wichtige Spuren hinterlassen hat, dass er andererseits jedoch zu
wenig die Vordergründigkeit der inzwischen weit verbreiteten Marketing-Strategie auch im
Wissenschaftsbereich erkannt und beherrscht hat, um deutlicher wahrgenommen zu werden.
FRIEDRICH-WILHELM HENNING
Erftstadt
B. Allgemeine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
DAVID ELTIS/FRANK LEWIS/KENNETH L. SOKOLOFF (Hg.): Slavery in the Development of the Americas. Cambridge U. P., Cambridge u. a. 2004, IX u. 372 S. (24 Abb., 53 Tab.), 50.00 £.
Man könnte dem Buch ein Motto von Aldous Huxleys Schöne neue Welt voranstellen, nämlich
„wie man Menschen dahin bringt, ihr Sklaventum zu lieben“. Die zwölf Aufsätze dieses Bandes
behandeln bis in die kleinsten Verästelungen Fragen, die seit den 1960er Jahren von Robert W.
Fogel und Stanley L. Engerman in die ökonomische und wirtschaftshistorische Debatte geworfen
wurden. Letzterem ist der Band als eine Art „Festschrift“ gewidmet, mit einer Würdigung seiner
Arbeiten zu Beginn (S. VII–IX) und einem Verzeichnis seiner Veröffentlichungen zum Schluss
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(S. 353–362). Bekanntlich haben Fogel und Engerman mit ihrem Buch Time on the Cross (1974/
1989) versucht, das Sklavensystem als eine profitable, lebensfähige und höchst flexible Institution darzustellen. Auf der Basis ökonometrischer Berechnungen unterstellten sie ihm eine ökonomische Rationalität, wodurch eine hohe Produktivität und Effektivität durch verschiedene Anreize erreicht worden sei.
In dem vorliegenden Band geht es allerdings nicht vorrangig um eine Konkretisierung oder
Auseinandersetzung mit den Thesen von Fogel und Engerman, sondern um speziellere Fragen
der Sklaverei in den USA, Brasilien, Kuba oder der Karibik, d. h. vor allem bei der Erzeugung
von Baumwolle, Zucker, Kaffee und Tabak. Wie wichtig die Untersuchung dieser Fragen auch
weiterhin ist, geht schon daraus hervor, dass drei Viertel der Neuankömmlinge in Amerika
zwischen 1492 und 1820 afrikanische Sklaven waren, während 97 Prozent derjenigen, die auf
englischen Schiffen zwischen 1580 und 1640 nach Amerika gebracht wurden, Europäer waren.
So untersucht z. B. Seymour Drescher die Frage, ob die afrikanische Sklaverei wirklich eine
optimale Arbeitsressource für die rapide Entwicklung in Amerika gewesen ist. Pieter C. Emmer
hingegen fragt: „Hatten die Holländer das falsche Modell gewählt, die atlantische Sklavenökonomie auszubeuten?“ (S. 70). Darauf kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden. Daneben wird die afrikanische Sklaverei im amerikanischen Chesapeake im 18. Jh. ebenso untersucht
wie in der Region São Paulo im 19. Jh. oder die Emanzipation von Sklaven in Guadeloupe.
Mindestens vier Aufsätze dieses Bandes behandeln die Produktivität, die Effizienz, die Preise
oder den Wohlstandszuwachs von und durch afrikanische Sklaven im 18. und 19. Jh. sowohl
historisch als auch ökonometrisch. Der letzte Aufsatz von Robert A. Margo (S. 324–351) ist dem
Nord-Süd-Lohngefälle vor und nach dem amerikanischen Bürgerkrieg gewidmet, wobei das
wichtigste Ergebnis darin besteht, dass wegen einer sinkenden Arbeitsnachfrage im Süden auch
die dortigen Löhne im Vergleich zum Norden nach dem Bürgerkrieg zurückgingen.
Auf einen Aufsatz möchte ich noch besonders hinweisen, nämlich Philip D. Morgan Die
Armen: Sklaven im jungen Amerika (S. 288–323). Morgan arbeitet mit großer Präzision heraus,
dass man afrikanische Sklaven nicht generell als die Armen Amerikas ansehen kann, denn:
„Einige Sklaven hatten eine größere Chance, Eigentum zu erwerben, ein höheres Lebensniveau
und sogar mehr Möglichkeiten, Bargeld zu verdienen, als andere Sklaven – und einige arme
Weiße“ (S. 290). Wenn wir die Armut unter den schwarzen Sklaven betrachten, die auch die
Ernährung, das Wohnen oder den Kinderreichtum einschließt, so müssen wir nicht nur stark
differenzieren, sondern wir müssen uns auch vor Augen halten, dass Sklaverei eine rechtliche
Institution war, Armut aber ein materieller Zustand ist. Und trotzdem galt: „Sklaven hungerten
selten, auch wenn sie unterernährt waren“ (S. 315). Außerdem muss unterschieden werden
zwischen ländlicher und städtischer Armut, weil die meisten Sklaven auf dem Land lebten und
die städtischen Armen in Amerika nur einen verschwindenden Anteil der gesamten Armenbevölkerung ausmachten. Und bei der Debatte um die Sklaverei ist fast vergessen worden – weil die
Gesamtzahl der afrikanischen Sklaven, die zwischen 1519 und 1867 nach Amerika gebracht
wurden, die ungeheure Zahl von elf Millionen übersteigt –, dass zwischen 1580 und 1750 nach
dem kolonialen Amerika etwa 500.000 weiße Zwangsarbeiter und zwischen 1718 und 1775
ungefähr 50.000 Sträflinge von England in die amerikanischen Kolonien verfrachtet wurden.
Wer sich also über verschiedene Aspekte der amerikanischen Sklaverei ein genaueres Bild
verschaffen möchte, wird in diesem Band reiches Material finden.
Eichstätt
HUBERT KIESEWETTER
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PAUL R. GREGORY/VALERY LAZAREV (Hg.): The Economics of Forced Labor. The Soviet Gulag.
Hoover, Stanford 2003, XVII u. 212 S., 15.00 $.
Der Gulag, jenes System von Zwangsarbeit und Internierung, in dem bis zu Stalins Tod Abertausende zu Tode kamen und Opfer des sowjetischen Experiments wurden, ist vielfach beschrieben
worden. Neben „klassisch“ gewordenen Texten Aleksandr SolÏenycins und der jüngsten eindringlichen Beschreibung des Systems und seiner mörderischen Konsequenzen für die Insassen
durch die Journalistin Anne Applebaum existieren das literarische Genre der Lagerliteratur
sowie eine Reihe von geschichtswissenschaftlichen Beiträgen. Diese Arbeiten beschäftigten sich
aus guten Gründen mit den Auswirkungen auf die Psyche und den Gesundheitszustand der
Häftlinge, mit dem Gulag als Instrumentarium der Modernisierungsdiktatur und extreme Form
der Repression tatsächlicher oder aus unterschiedlichen Gründen imaginierter Opposition gegen
das Sowjetregime. Werke zum Stellenwert innerhalb des ökonomischen Gefüges der UdSSR
zwischen Plansoll und Planerfüllung, zwischen prestigeträchtigen Großprojekten der Industrialisierung und gescheiterter Erschließung naturräumlich ungünstig gelegener Bodenschätze, fehlen
jedoch. Dies hatte seine Ursachen u. a. in der Schwierigkeit, das in der Sowjetzeit aufbereitete
Datenmaterial auf seine Validität hin zu überprüfen.
Dabei wird gerade in Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Sowjetunion im Zeichen des
Stalinismus auch auf die wirtschaftliche Bedeutung des Systems von Zwangsarbeit und Lagern
verwiesen. Die so genannte „Revolution von oben“ durch Kollektivierung und Industrialisierung
sei ohne Zwangsarbeit in einem expandierenden Lagersystem ebenso wenig möglich gewesen
wie die effektive Organisation einer Kriegswirtschaft gegen den deutschen Aggressor nach Juni
1941, so die eine Linie der Bewertung. Gegenteilige Meinungen gehen davon aus, dass die
Kosten des Lagersystems etwa für Administration, Bewachung, Ernährung der Insassen oder den
Transport von Häftlingen an den Haft- oder Arbeitsort den Nutzen weit überstiegen. Dem ist
wiederum die Frage entgegengehalten worden, ob es ohne Zwang überhaupt möglich gewesen
sei, Arbeitskräfte nördlich des Polarkreises einzusetzen, um etwa Aluminium und Nickel auszubeuten. An diesen Kontroversen setzt der vorliegende Sammelband an. In zehn Aufsätzen, die
auf aktueller Sekundärliteratur, postsowjetischen Dokumentenpublikationen, vor allem aber auf
Archivalien beruhen, versuchen zehn Autoren eine Antwort auf die Frage zu geben, welchen
Stellenwert der Gulag im Kontext der Sowjetökonomie besaß.
Paul Gregory, einer der führenden Experten für sowjetische Wirtschaftsgeschichte, führt
allgemein in Funktionsweisen des Systems und Einsatzbereiche von Zwangsarbeitern innerhalb
des Gulagsystems ein; er schildert den Übergang vom Gulag als Einrichtung für Häftlinge, die
durch Arbeit gebessert werden sollten, zur vorrangigen Betrachtung des Lagersystems hinsichtlich der ökonomischen Nützlichkeit im Zuge von Kollektivierung und Industrialisierung nach
1928/29, die das System wachsen ließen: Um 1940 bewegten sich etwa zwei Millionen Insassen
innerhalb der Lager, um 1950 durch zurückströmende Repatrianten nach Ende des Zweiten
Weltkrieges etwa 2,5 Millionen. Andrej Sokolov gibt einen Überblick über Distribution und
Einsatz der Arbeitskräfte inner- und außerhalb des Gulag, etwa in Kombination mit „freiwilligen“ Arbeitern, sowie den Einsatz von purer Repression und Leistungsanreizen aus Bezahlung,
die im Wechsel erprobt wurden. Oleg Chlevnjuk analysiert die Administration von Geheimdienst
und Innenministerium, die zu einem eigenständigen Faktor der Wirtschaftsplanung wurde, der
von anderen Planungsbehörden im Rahmen der Verteilungs- und Kompetenzkämpfe in der
wachsenden Bürokratie beargwöhnt wurde. Aleksej Tichonov schildert die Auflösung des Gulagsystems als gesonderte Administration, die er auch in ökonomischer Hinsicht für sinnvoll
erachtet. Selbst Lavrentij Berija plädierte 1953 nach Stalins Tod dafür, die Zahl der Häftlinge
drastisch zu reduzieren und das Gulagsystem in seiner Gesamtheit zu liquidieren – die Kosten
seien zu hoch, der Profit sei zu gering. Wie im Falle der nationalsozialistischen Konzentrationslager ging es denjenigen, die sich gegen das Gulagsystem aussprachen, nicht um humanitäre
Erwägungen im Interesse der dort einsitzenden Menschen, sondern um eine reine Analyse des
Kosten-Nutzen Verhältnisses, das, so der Tenor dieser vier übergreifenden Aufsätze, eben nicht
stimmte.
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Die Beiträge von Leonid Borodkin, Simon Ertz, David Nordlander, Michail Morukov und
Christopher Joyce präsentieren als Fallstudien Vertiefungen der übergreifenden Beiträge: Der
Ausbau von Norilsk und der problematische Einsatz der Zwangsarbeiter im hohen Norden
werden ebenso thematisiert wie die Wirtschaftsgeschichte von „Dalstroj“ im Großraum Magadan und der Bau des Weißmeerkanals. Diese gigantische Fehlinvestition, von der heute wenig
mehr geblieben ist als eine Zigarettenmarke, wurde zum Massengrab, und ihr Sinn war schon in
der Planungsphase von Vjaãeslav Molotv bezweifelt worden.
Gerade die Fallstudien sind aufschlussreich und regen zu weiteren Regionalstudien an,
zumal für diesen Bereich der Zugang zu Archiven nach wie vor möglich zu sein scheint, wie eine
siebenbändige im Jahr 2004 erschienene Dokumentenanthologie zur Geschichte des Gulags, an
der Oleg Chlevnjuk maßgeblich mitgewirkt hat, eindrucksvoll zeigt. Insbesondere die Regionalstudien des Sammelbandes vermögen Arbeits- und Haftbedingungen in vergleichender Perspektive zu erhellen. Das Ausmaß an bürokratischem Apparat, Tod durch Arbeit, Ausleihe von
Arbeitskräften an Betriebe, die außerhalb der Regie des Gulagsystems lagen, schwankte erheblich.
Das vorliegende Gemeinschaftswerk ist in diesem Sinne ein erster viel versprechender
Schritt in einem Forschungsfeld, auf dem es noch viel Arbeit gibt. Dabei zeichnet sich als
vorläufige Tendenz ab: Die eindrucksvollen „Überreste“ des Gulagsystems der Zwangsarbeit,
etwa die Moskauer Metro und die Universität auf den ehemaligen Leninbergen oder die Schwerindustriekombinate im Doneckbecken sowie in Magadan, die ein Rückgrat sowjetischer Industrie auch in nachstalinistischer Zeit und ein Element sowjetisch-sozialistischer Identität bildeten,
dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Gulagsystem mit seinen unzähligen Toten durch
Arbeit eine vielschichtige Geschichte auch des ökonomischen Scheiterns erzählt: Kanäle, die nie
befahren wurden, Schienenstränge, die sich im Eis oder in der Wüste verloren, legen davon
beredtes Zeugnis ab und erweisen sich zugleich als Ahnherren aufgegebener Industrieprojekte
im unwirtlichen russischen Norden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
JAN KUSBER
Mainz
ERIK GRIMMER-SOLEM: The Rise of Historical Economics and Social Reform in Germany 1864–
1894. Oxford U. P., Oxford u. a. 2003, 338 S., 55.00 £.
An Literatur zur so genannten Historischen Schule der Nationalökonomie, zum Verein für
Socialpolitik und zur Sozialreform in Deutschland zwischen 1864 und 1894 fehlt es an und für
sich nicht. Die von Erik Grimmer-Solem vorgelegte Studie ist gleichwohl nützlich – einmal als
gute Zusammenfassung des bisherigen Wissensstandes, dann aber auch als Weiterführung desselben. Letzteres geschieht vor allem durch die Auswertung unpublizierter Quellen, insbesondere von Korrespondenzen aus den Nachlässen Gustav Schmollers und anderer Gelehrter. Allerdings wurden die insgesamt zum Thema vorliegenden Korrespondenzen keineswegs erschöpfend
ausgewertet! Das ist auch ein zu mühsames Geschäft angesichts vielfältiger „Gelehrtenklaue“.
Hinzu kommt, dass der wichtige Nachlass von Georg F. Knapp kaum zugänglich ist. Gleichwohl:
Der Autor hat allerlei Neues mitzuteilen.
In einem einleitenden Kapitel kommt Grimmer-Solem zu dem Ergebnis, dass die „Historische Schule“ kaum eine „Schule“ war, ihr kleinster gemeinsamer Nenner war, dass die Mitglieder – er würdigt vor allem Schmoller, Brentano, Held und Knapp – weniger theoretisch als
empirisch, d. h. mit historischem und statistischem Material, ihre Wissenschaft zu fundieren
versuchten. Sie standen zudem am Anfang ihrer akademischen Karriere; H. B. Oppenheim, der
sie als „Kathedersozialisten“ titulierte, spottete 1872: „Diese Sorte junger Dozenten träumt von
nichts als Berufungen“.
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
Tatsächlich geht es in den Korrespondenzen vielfach um Karrierefragen, und GrimmerSolem schildert deshalb unter „Strukturen“ zu Recht (vor allem für Leser aus dem angloamerikanischen Raum) die preußisch-deutschen Hochschulverhältnisse nach der Reichsgründung. Einen
besonderen Akzent legt er dann auf die Darstellung der neuen Statistischen Büros und den
beginnenden Siegeszug der (amtlichen) Statistik in Preußen, Sachsen und den Thüringischen
Staaten, deren jeweilige Leiter – man denke nur an Ernst Engel und Viktor Böhmert – Schlüsselstellungen inne hatten. Mit statistischen Daten versehen ging es dann ins historische und
politische Geschäft – soziale Probleme wurden öffentlich thematisiert. Als ein weiteres wichtiges Strukturelement informiert Grimmer-Solem über das Verlagsgeschäft, insbesondere auch
über die Publikationsorgane. Dabei stehen der Verlag Duncker & Humblot und sein Inhaber Karl
Geibel (1842–1910), der eifrig mit Schmoller korrespondierte und nach Helds Tod auch Sekretär
des Vereins für Socialpolitik wurde, im Mittelpunkt. Gegenüber der Zeitschriftenebene kommt
allerdings die Ebene der Tageszeitungen, in der auch allerlei Revierkämpfe ausgefochten wurden
(vor allem von Lujo Brentano), etwas zu kurz.
Der Autor sieht die Gründungsphase des Vereins für Socialpolitik (1872–1874) zu Recht als
besonders bedeutsam an und zeigt auf, dass sie durch interne Richtungskämpfe gekennzeichnet
war. Die Mannschaft um seine „Helden“ – Schmoller, Brentano, Held und Knapp – wusste früh
das Terrain zu bereinigen und bootete schwer einzubindende Staatssozialisten wie Adolph
Wagner einerseits und eher liberale Vertreter wie Rudolf Gneist und Max Hirsch andererseits,
die die Programmatik anfänglich noch mitbestimmt hatten, schnell aus. Damit war dann aber
auch schon die Anfangsenergie erschöpft, grundlegende Beiträge zur Sozialpolitik ihrer Gegenwart findet man bei diesen Gelehrten der historischen Schule auf den Vereinstagungen ab 1874
wenig; ebenso finden sich kaum Versuche ernsthafter sozialreformerischer Einflussnahme durch
Entwicklung politikfähiger Konzepte oder (partei-)politisches Engagement.
Ein nachhaltiger Richtungsstreit, historisch wie theoretisch bedeutsamer als der zwischen
Volkswirtschaftlichem Kongress und Verein für Socialpolitik in den 1870er Jahren, entstand in
den 1880er Jahren zwischen Gustav Schmoller und Carl Menger. Diesem gilt das ausführliche
Abschlusskapitel des Buches. Insgesamt ein empfehlenswertes, leider arg teures Werk zum
Thema, sicher aber nicht das abschließende.
Kassel
FLORIAN TENNSTEDT
CHRISTL KARNEHM (Bearb.): Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594. Regesten der
Kopierbücher aus dem Fuggerarchiv. Band I: 1566–1573 (unter Mitarb. v. Maria Gräfin von
Preysing); Band II/1: 1574–1581; Band II/2: 1582–1594 (Quellen zur neueren Geschichte
Bayerns III: Privatkorrespondenzen). Kommission für bayerische Landesgeschichte, München
2003, Bd. I: XXXVIII, 128 u. 549 S.; Bd. II: zus. 1739 S. (30 Abb.), zus. 72,00 e.
Mit der Edition der Kopierbücher der Privatkorrespondenz von Hans Fugger (1531–1598) wurde
ein Projekt zu Ende gebracht, das über mehr als zwei Jahrzehnte bearbeitet worden war und auf
eine Initiative des 1982 verstorbenen Fürst Joseph Ernst Fugger von Glött zurückgeht. Die
nunmehr in drei umfangreichen Bänden vorliegende Privatkorrespondenz Hans Fuggers aus den
Jahren 1566 bis 1594 (mit kleineren Lücken) umfasst mehr als 4.700 Briefe und ist ein zweifelsohne einzigartiges Dokument der Kultur- und Kommunikationsgeschichte der zweiten Hälfte des
16. Jh.s.
Gleich in mehrfacher Hinsicht können die Regesten als Grundlage für weiterführende
Forschungen sowohl speziell zur Fugger-Geschichte als auch darüber hinaus zur Kultur- und
Sozialgeschichte der zweiten Hälfte des 16. Jh.s dienen: Im Bereich der Fugger-Forschung war
die zweite Hälfte des 16. Jh.s bisher immer noch mit größeren Lücken behaftet, die nun
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zumindest teilweise geschlossen werden können. Insbesondere zeichnet sich ein neues Bild von
Hans Fugger selbst ab, der in der älteren Forschung (ausgehend von Georg Lill) vorrangig als ein
„Mäzen der bildenden Künste“ erscheint (hierzu der Exkurs, S. 78*–112*). Seiner Korrespondenz mit Faktoren und Agenten der Fuggerschen Unternehmung, Verwaltern und Dienstboten,
Militärs und zahlreichen regierenden Fürsten – vorrangig der Wittelsbacher sowie der österreichischen und spanischen Habsburger – zufolge war das ‚Tätigkeitsfeld‘ Hans Fuggers jedoch
wesentlich breiter und facettenreicher; die Abhaltung von repräsentativen Feierlichkeiten und
Jagdgesellschaften, die Verwaltung der Erbgüter, die Mitwirkung an zahlreichen Geschäftsvorgängen und Finanztransaktionen – im letzten Lebensjahr sogar die Leitung der Unternehmung –
und weite Reisen gehörten dazu. „Ein Konzern unserer Tage würde ihn als seinen Mann für
‚public relations‘ präsentieren[,] und auf politischer Ebene deckte sich Hans Fuggers Aufgabenstellung in vielerlei Hinsicht mit der eines Außenministers“ (S. 14*) oder auch eines Lobbyisten.
Die Korrespondenz Hans Fuggers erlaubt aber auch Einblicke in sein alltägliches Privat- und
Familienleben, in Fragen der Kindererziehung, von Geburt, Heirat und Tod, gibt Aufschluss über
seine normativen Werte, ja in gewissem Sinne auch über sein Gefühlsleben. Und dies ist umso
interessanter, als Hans Fugger einer Gesellschaftsschicht angehörte, die in der zweiten Hälfte des
16. Jh.s im Umbruch vom kaufmännischen Stadtpatriziat hin zum Adel war. Die dafür entscheidenden Faktoren, die Einheirat in Adelsgeschlechter und der Erwerb von Herrschaften, spielen in
der Korrespondenz Hans Fuggers eine ebenso gewichtige Rolle wie der damit verbundene,
einsetzende Wertewandel, der aus der Annäherung an den Lebensstil des Adels resultierte und
der immer mehr Finanzmittel für Repräsentation bis hin zu einer gewissen Verschwendungssucht
verlangte, wie aus der Korrespondenz mit seinem ältesten Sohn, Marx Fugger d. J., hervorgeht.
Insgesamt bietet die Korrespondenz Hans Fuggers einen facettenreichen Einblick in dessen
persönliches Schicksal, das seiner Familie, der Fuggerschen Unternehmung und ihres Beziehungsgeflechtes, ja weit darüber hinaus in seinen Stand und seine Epoche. Als ausführlichste
derartige Quelle über das (Alltags-)Leben eines Menschen im Heiligen Römischen Reich der
zweiten Hälfte des 16. Jh.s ist sie einzigartig und in ihrer Komplexität durchaus mit der noch
umfangreicheren Privatkorrespondenz Francesco di Marco Datinis zu vergleichen, worauf die
Bearbeiterin auch ausdrücklich hinweist.
Die vorliegenden Bände sind vorzüglich gearbeitet: Die umfangreiche Einleitung führt nicht
nur in die Edition, in das Leben Hans Fuggers, sein Beziehungsgeflecht, seinen Alltag und sein
Umfeld ein, sondern reißt zugleich auch künftige Forschungsaufgaben an, die, wie oben angedeutet, zu neuen Perspektiven der Fuggerforschung und zur Neubewertung insbesondere der
Person Hans Fuggers selbst führen können und sollten. Die einzelnen Regesten verfügen, wo
erforderlich, über einen detaillierten Anmerkungsapparat, und das fast einhundertseitige Personen-, Orts- und Sachregister sowie das „Verzeichnis der Adressaten“ erlaubt dem Benutzer einen
systematischen Zugriff. Alles in allem liegt somit eine Edition vor, die alle einschlägig Interessierten für das lange Warten vollumfänglich belohnt.
Leipzig/Bozen
MARKUS A. DENZEL
NICOLE SCHAAD: Chemische Stoffe, giftige Körper. Gesundheitsrisiken in der Basler Chemie,
1860–1930. Chronos, Zürich 2003, 319 S. (21 Abb., 12 Tab.), 32,90 e.
Zur Geschichte der Arbeitsmedizin am Beispiel der Baseler Chemieindustrie hat Nicole Schaad
eine systematische Untersuchung publiziert, was angesichts dieses bedeutenden Themas sehr
erfreulich ist. Ausgewertet wurden über die Fachpublikationen hinaus nicht nur die Archive
zuständiger Behörden und der SUVA, sondern auch der Firmen CIBA – deren Akten des
fabrikärztlichen Dienstes erhalten sind – sowie Geigy und Sandoz. Allerdings erscheint die
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Quellenlage für diesen locus classicus der Gewerbe- und Umwelthygiene insgesamt unbefriedigend, so dass eine ursprünglich beabsichtigte historisch-epidemiologische Analyse über Ansätze
leider nicht hinauskommt und in einer lesenswerten Passage über interessengesteuerte Statistik
mündet (S. 237 f.). Indes erscheinen weitere statistische Bearbeitungen des Zahlenmaterials
durchaus möglich – etwa im Vergleich zu anderen Berufsgruppen oder eingeordnet in die
Altersklassenmortalität.
Medizinhistorisch bietet dieses Buch nicht nur historische Perspektiven zu zahlreichen
aktuell anmutenden Problemlagen – etwa zur Auswahl spezifisch giftresistenten Personals (S.
200–204) –, sondern vor allem auch eine materialreiche Ergänzung zur Geschichte der Krebskrankheiten und der sukzessiven Konstruktion nach wie vor fraglicher ätiologischer Modelle.
Dabei wird die Relativierung und Ablehnung monokausaler Modelle, bzw. die Forderung nach
Beachtung von Neben- und Additionswirkungen, nicht immer durchgehalten, wenn das Verbot
bestimmter chemischer Substanzen als Problemlösung begrüßt oder aufgrund des heutigen
Wissensstandes implizit gefordert wird. Auch das bereits im Titel angedeutete Konzept vom
„giftigen Körper“ erscheint eher ungebräuchlich bzw. unpräzise, da sowohl konstitutionelle und
Verhaltens-Dispositionen als auch Expositionen für Ansteckung bzw. Vergiftungen vermischt
werden. Das hier in seiner hygiene-historischen Entwicklung beschriebene Problem könnte eher
mit dem Begriff „unreinliche Leiber“ umschrieben und nicht nur in Diskurse zur Disziplinierung,
sondern auch zur Intensivierung der Bewirtschaftung des Faktors Arbeit bzw. Humankapital
eingeordnet werden. Bei aller Sympathie ist auch anzumerken, dass bei den expliziten Darstellungen von Konflikt- und Interessenlagen Gemeinsamkeiten kaum erwähnt, sondern tendenziell
die Arbeiter als durch Erwerbszwang exkulpiert und die Arbeitsmediziner sehr optimistisch, die
Betriebsleitungen dagegen ziemlich pessimistisch beurteilt werden. Motive und vor allem Auswirkungen sozialhygienischer Ansätze der Zwischenkriegszeit werden in neueren Forschungen
zumeist kritischer bewertet. Hier trifft die Kritik hauptsächlich die durch Fabrikordnungen
obligatorische Therapie durch Werksärzte mit pharmazeutischen Produkten derselben Firma bei
regelmäßigen Reihenuntersuchungen als eine Art geschlossenes System in den 1930er Jahren.
Pauschale Nutzen- bzw. Schuldzuweisungen an die Unternehmerseite erscheinen zuweilen etwas
einseitig. Interessanter wäre es gewesen, zu prüfen, ob, unter welchen Rahmenbedingungen oder
mit welcher Tendenz der betriebliche Gesundheitsschutz sich ökonomisch rentiert haben könnte.
In der angemessenen Darstellung der führenden Rolle Frankreichs in der Chemie des 19. Jh.s
hinsichtlich industrieller Innovation und Diffusion (S. 18–22) werden die dortigen gewerbehygienischen Maßnahmen nicht berücksichtigt. Dafür werden die in Forschungsliteratur und zeitgenössischen Fachjournalen dokumentierten Entwicklungen an Deutschen Industriestandorten
ausgiebig zum Vergleich herangezogen, so dass nicht nur eine Einordnung der Baseler Verhältnisse regelmäßig gewährleistet, sondern ein Gesamtüberblick zur Chemischen Industrie am
Rhein und zur zeitgenössischen deutschsprachigen Diskussion geboten wird.
ULRICH KOPPITZ
Düsseldorf
C. Sozialgeschichte
1. Allgemeine Darstellungen
RICHARD BESSEL/DIRK SCHUMANN (Hg.): Life after Death. Approaches to a Cultural and Social
History of Europe during the 1940s and 1950s (Publications of the German Historical Institute).
Cambridge U. P., Cambridge 2003, 376 S., 16.99 £.
Eine europäische Geschichte der Gewalt ist ein genauso ehrgeiziges wie interessantes Projekt.
Die Erinnerung an die Gewalt und das Leid des Krieges, an Massenmord und Traumatisierung
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gehört zu einer wesentlichen Konstante nationaler Selbstvergewisserung und historischer Sinndeutung mit gesellschaftlich in- und exkludierender Wirkung, über deren Reichweite und nationale Eigenheiten lediglich erste Umrisse bekannt sind.
Mit ihrem Band „Life after Death“, der auf eine Tagung aus dem Jahr 1998 zurückgeht,
haben die Herausgeber und Autoren einen wichtigen Beitrag dazu geliefert und der alten Debatte
über den Zäsurcharakter des Jahres 1945 neuen Schwung verliehen – und das in europäisch
vergleichender Hinsicht. Im Zentrum steht „the relationship between the enormous outburst of
violence during the 1940s and the strange conservative normality that characterized so many
aspects of life in European societies during the decade that followed“ (S. 5). Woher speiste sich
nach 1945 vielfach der Wunsch, wieder so etwas wie „Normalität“ herzustellen? Wie konnte
diese aussehen und was bedeutete sie vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Gewalterfahrungen: als Häftling im Konzentrationslager, als alliierter Soldat an der Front oder als von
Besatzungstruppen vergewaltigte Frau?
Die Begriffe „Trauma“ und „Normalisierung“ dienen den Herausgebern als Leitbegriffe,
anhand derer die Wirkungsgeschichte von Gewalt und die unterschiedlichen Formen ihrer
gesellschaftlichen Verarbeitung untersucht werden. Das Themenspektrum und die methodischen
Zugänge der 14 Beiträge sind breit gewählt und interdisziplinär angelegt: Untersucht werden
Narrative der Kriegserinnerung und Formen der Selbstviktimisierung, innerhalb derer nach 1945
nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien, Frankreich und den Niederlanden kein Platz
blieb für den Holocaust und die jüdischen Opfer. Der Blick richtet sich zudem auf die Geschlechtergeschichte der Gewalt, auf die Erfahrung und die Verarbeitungsmuster von Vergewaltigungen
in Österreich und Ungarn sowie den – im Vergleich zu den übrigen Frauen – Geburtenboom
jüdischer Holocaustüberlebender in den deutschen Lagern der „Displaced Persons“, was, wie
Atina Grossmann meint, Ausdruck individueller Suche nach „Normalität“ als Reaktion auf den
Schrecken der Verfolgung sei. Familie und Ehe und die Wirkungen des Krieges auf die Geschlechterbeziehungen bilden schließlich einen weiteren Schwerpunkt.
Nicht alle Beiträge machen sich die Mühe, die interpretatorischen Vorgaben der Herausgeber tatsächlich aufzunehmen oder die analytische Kraft der Leitkategorien zu vermessen. Auch
wird man darüber streiten können, wie stark man, insbesondere für Deutschland, die vermeintlich rückwärtsgewandten und nach „Normalität“ strebenden Entwicklungen der 1950er Jahre
gewichtet – und ob man mit diesem Begriff überhaupt die Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit angemessen beschreiben kann. Doch davon abgesehen bleibt der Versuch, Leben und
kollektive Erinnerungen im „Schatten des Massenmordes“ in seiner europäischen Dimension zu
untersuchen, ein anregender und wichtiger Beitrag für eine Geschichte der Gewalt im 20. Jh.
DIETMAR SÜSS
München
PETER BLICKLE: Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit
in Deutschland. Beck, München 2003, 446 S., 36,90 e.
Leibeigenschaft bedeutet Unfreiheit, also den Gegensatz von Freiheit. Letzteres gilt besonders
im Verhältnis zur Freiheit als Menschenrecht, also als universell verstandenes nachrevolutionäres modernes Grundrecht. Wohl aber lassen sich Formen von Unfreiheit als Vorrecht, also als
Privileg und somit als Stufe im System unterschiedlicher Freiheiten verstehen. Damit ist aber
nach der traditionellen Lehre ein entscheidender Qualitätssprung zwischen jeder Form von
„unfreier Freiheit“ (Karl Bosl) und der „modernen“ staatsbürgerlichen Freiheit gegeben.
Anders verläuft die Geschichte, die Peter Blickle in dem vorliegenden Werk erzählt. Es geht
ihm auch hier um sein großes Thema, die Geschichte der ländlich-bäuerlichen Bevölkerung, des
„gemeinen Mannes“ im Alten Europa. Hier steht jedoch nicht dessen kollektivrechtlicher ZuVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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sammenschluss, wie vor allem im Kommunalismus-Buch von 2000, sondern seine jeweilige
Stellung gegenüber der Herrschaft („Grundherrschaft“) im Vordergrund. Wie in seinen anderen
Werken beansprucht Blickle auch hier für die ländliche Bevölkerung, nicht Objekt, sondern
Mitgestalter der Geschichte zu sein. Eigenschaft, die sich dann zur Leibeigenschaft entwickelt,
wird in der Kategorie einer „leibhaftigen Freiheit“ gesehen, diese verstanden als Gegensatz zur
bloß theoretischen Proklamation einer universalen Freiheit. Freiheit und Leibeigenschaft sind
von diesem Ansatz her in ihrem genauen historischen Kontext zu erfassen, sowohl was die
Stellung der Personen als auch was das Eigentum betrifft. Die Formen der Unfreiheit des
europäischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit sind von daher klar abgegrenzt gegenüber der
antiken Sklaverei, die freilich in den Texten des römischen Rechts normativ präsent war.
Unter diesem Aspekt will und kann Blickle keine Theoriegeschichte geben, wenn auch
Theorie immer wieder in die Geschichte hinein spielt. Ein besonderer Reiz des Werkes besteht
gerade darin, dass Blickle sehr genau und konkret die Verhältnisse einzelner Landschaften und
Herrschaftsgebiete in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit in präzisen Detailbildern nebeneinander setzt, von den ihm so wohlbekannten südwestdeutschen und Schweizer Landschaften bis
hin zur Mark Brandenburg, nach Pommern und Rügen. Das gezeichnete Bild erstreckt sich vom
Hochmittelalter bis ins 18. und frühe 19. Jh. Dabei vermeidet Blickle es sorgsam, einen linear
oder teleologisch ausgerichteten Geschichtsverlauf zu entwerfen. Elemente wachsender Freiheit
oder drückender Unfreiheit expandieren oder kontrahieren vielmehr zeitlich und landschaftlich
verschieden im Rahmen unterschiedlicher ökonomischer und politischer Bedingungen. Zu ihnen
gehört im Spätmittelalter die Möglichkeit für Hörige, für sich durch Flucht in die Stadt oder
durch städtische Pfahlbürgerschaft Freiheit zu erwerben, während in der Frühen Neuzeit die
Fürsten selbst dazu streben, aus der Eigenschaft ein eher „staatsrechtliches“ Untertanenverhältnis zu entwickeln. In dieser Zeit bildet sich aber im Bereich adliger Herrschaft im Nordosten jene
„zweite Leibeigenschaft“ aus, während im Südwesten das Beispiel der im Spätmittelalter errungenen Schweizer Freiheit seine Ausstrahlung erweist.
Blickle begibt sich nicht, wie gesagt, in den Bereich der Theoriegeschichte. Er verfolgt aber
die verschiedenen Freiheitsdiskurse. Der christlich-naturrechtliche, der seinen frühen Niederschlag im Sachsenspiegel und im Schwabenspiegel findet, trägt im verschärften Spannungsfeld
zwischen städtischer Freiheit und ländlicher Unfreiheit die Argumentationen des großen Bauernkrieges. Der evangelisch-christliche Argumentationsstrang wird dann jedoch von der lutherischen Obrigkeitslehre abgefangen, während die reformierten, gemeindeorientierten Lehren bis
hin zur Gründung der Vereinigten Staaten von Nordamerika weiterführen. Wirksamer bleibt in
Deutschland der Diskurs der Juristen, wobei hier nicht die Linie der abstrakten Naturrechtsdiskussion, sondern die pragmatischen Argumentationen praxisnaher Juristen verfolgt werden. Zu
ihnen gehören etwa Tengler, Zasius, Peutinger, Knipschildt, Mevius und Johann Jacob Moser.
Unter den Theoretikern gewinnt nur Pufendorf einen Platz in diesem Diskurs, kann Blickle doch
in ihm eine Systematisierung der realen Verhältnisse im Reich erkennen. Möglicherweise gründet sich dies auch auf dessen Gutachten im Pfälzer „Wildfangstreit“, also der Auseinandersetzung, ob der Kurfürst fremde Leibeigene in seinem Territorium für sich beanspruchen darf.
Diese Juristen distanzieren die deutsche Leibeigenschaft in ihren verschiedenen Ausprägungen
deutlich von der römischen Sklaverei und greifen oft das Gegenseitigkeitsverhältnis zur Herrschaft auf. Damit können sie die Leibeigenschaft der Untertanenschaft annähern und sogar eine
Beziehung zum Gesellschaftsvertragsmodell schaffen. Schon zuvor weist Blickle nachdrücklich
auf die Beteiligung der Bauern bei der Rechtsweisung im Gericht als Element der Gegenseitigkeit hin (ohne leider auf die grundlegenden rechthistorischen Studien von Jürgen Weitzel zu
Dinggenossenschaft und Recht Bezug zu nehmen).
Blickle gelingt eine ebenso detailreiche wie von einer übergreifenden Fragestellung angeleitete Darstellung der Geschichte der ländlichen Lebens- und Rechtsverhältnisse in Deutschland.
Sie wird von einer anthropologischen Idee von Freiheit her gezeichnet, ohne in Idealismus
abzugleiten. Freilich wird man von einer Geschichte der Freiheit sprechen müssen: es gibt deren
noch andere; etwa die Geschichte der städtischen Freiheit, die hier nur im Hintergrund der
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ländlichen Welt auftaucht, aber eben doch zur Gestalt des Bürgers führt; oder die ständische
Freiheit, die den Bauernstand nur am Rande umgreift. Weiter: Dem Umschlag der Freiheitsdiskurse zum universalen („westlichen“) Freiheitskonzept der Menschenrechte, das dann revolutionär durchgesetzt wird, möchte ich doch eine stärkere paradigmatische Bedeutung zumessen. Man
wird sie freilich mit Blickle stärker auf dem historischen Hintergrund und im Wechselspiel mit
der „leibhaftigen Freiheit“ sehen müssen, die vielleicht den sichersten Schutz vor einem Abgleiten in einen Freiheitsterror bildet. Insofern hat Blickle sicher Recht, wenn er im Hinblick auf den
globalen Diskurs dem westlichen Partner rät, „die geschichtliche Tiefe der Menschen- und
Bürgerrechte zu reflektieren, denn ihre Universalisierbarkeit wächst, wenn man sie aus einer
vorgängigen Unfreiheit dialektisch hervorgehen lässt, anstatt sie an eine westeuropäische bürgerliche Aufklärung zu koppeln“ (S. 313).
Frankfurt a. M.
GERHARD DILCHER
FRITZ DROSS: Krankenhaus und lokale Politik 1770–1850. Das Beispiel Düsseldorf (Düsseldorfer
Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 67). Klartext, Essen 2004, 400 S. (10 Abb., zahlr. Tab.), 24,90 e.
Die vorliegende Arbeit untersucht in einem kultur- und sozialhistorischen Zugriff die Wechselwirkungen zwischen der Entwicklung einer (Industrie-)Stadt und deren Krankenhaus. Dabei
interessiert weniger das erste Düsseldorfer Krankenhaus, seine Organisation und Finanzierung,
seine Patienten, obwohl auch diese Aspekte gebührend in den Blick genommen werden, als
vielmehr der kommunalpolitische Kontext, der Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozess, die
mehrfachen Anläufe und höchst unterschiedlichen Begründungen, die im Zuge einer Reform des
Armenwesens schließlich zur Krankenhausgründung führten.
Der Untersuchungszeitraum umfasst die Zeit vom Auftreten der ersten Krankenhausinitiativen bis zur Ausbildung eines kommunalen Krankenhauswesens. In dieser Zeit fand zugleich der
Übergang statt vom Armenhospital, in dem primär unheilbar kranke und pflegebedürftige Arme
untergebracht waren, zum modernen Krankenhaus für „heilbare Kranke“, welche in erster Linie
erwerbstätige, aber familienlose jüngere Patienten waren. Die Darstellung dieses Übergangs ist
Teil des 1. Kapitels, das im Übrigen das begriffliche Umfeld der Untersuchung klärt und damit
ein Konzept vorgibt (S. 37–112). Voraus geht eine Einleitung, in der sich der Verfasser kritisch
mit dem Forschungsstand auseinandersetzt, seinen eigenen Ansatz begründet und den Aufbau
der Arbeit erläutert (S. 7–36). Nicht zuletzt geht es ihm in diesem Zusammenhang darum, seine
Untersuchung in der nun schon seit drei Jahrzehnten andauernden Forschungsdiskussion um das
Verhältnis der beiden großen Basisprozesse im Feld der Armen- und Gesundheitspolitik während
der als „Sattelzeit“ begriffenen Phase des Übergangs vom 18. zum 19. Jh., Sozialdisziplinierung
und Medikalisierung, zu positionieren. Im 2. Kapitel wird die Ausgangssituation in Düsseldorf
dargestellt, einschließlich der Institutionen der Armenpflege, der Krankenversorgung, der Medizinalverwaltung und des existierenden Hospitals (S. 113–172). Im 3. Kapitel beschäftigt sich der
Verfasser mit den von Ärzten ausgegangenen, zunächst erfolglosen Initiativen zur Reform der
Armenkrankenpflege und zur Gründung eines Krankenhauses im späten 18. und frühen 19. Jh.
(S. 173–208). Zur Reform des Armenwesens und in diesem Zusammenhang zur Gründung des
ersten Krankenhauses in Düsseldorf kam es 1799 – das ist Gegenstand des 4. Kapitels (S. 209–
245). Dabei fällt auf, dass es nicht zuletzt das Engagement des höheren jülich-bergischen
Beamtentums war, das sich in diesen Reformen durchsetzte. Auch hier kamen wie in den
berühmten preußischen Agrar- und Gewerbereformen des frühen 19. Jh.s die Impulse „von
oben“, aus den Kreisen der aufgeklärten, bürgerlich geprägten Bürokratie. Allerdings überließ
man dann die Gründung des Krankenhauses einer katholischen Laienbruderschaft. Jedoch schon
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1802 schaltete sich die Landesregierung ein, hob das Marianische Krankenhaus auf und gründete
in dessen Gebäude das Max-Joseph-Krankenhaus. Dies war mit 26 Betten so klein ausgelegt,
dass es keine nennenswerte Funktion bei der Versorgung armer Kranker übernehmen konnte,
deren Pflege traditionsgemäß weiterhin vor allem in der Familie erfolgen sollte. Im 5. Kapitel
wird der Zeitraum von 1806 bis 1814/15 behandelt, die „Franzosenzeit“, die eine neue staatliche
Zuordnung und veränderte Verwaltungsregeln mit sich brachte, ohne an der konkreten Situation
der kommunalen Krankenpflege viel zu ändern (S. 247–269). Die Rückgabe des zwischenzeitlich entstandenen Großherzogtums Berg an Preußen nach dem Wiener Kongress bewegt den
Verfasser, als 6. Kapitel einen Exkurs über die Grundlagen preußischer Armenpolitik und ihre
Auswirkungen auf die Kommunen einzufügen (S. 271–286). Unter dem Vorzeichen, dass Düsseldorf ab 1815 zur preußischen Rheinprovinz gehörte, behandelt das 7. Kapitel das frühe
städtische Krankenhauswesen bis 1850 (S. 287–354). Dabei wird auf die verschiedenen Erweiterungspläne und Neugründungen von Krankenhäusern eingegangen sowie auf die in der „neuen“
Krankenhausgeschichte herausgestellten Dimensionen „Betriebs- und Verwaltungsorganisation“, „Verwaltungs- und Pflegepersonal“, „Ärzte“, „Patienten“. Das 8. Kapitel, der Schluss,
resümiert den Gang der Untersuchung und ihre Ergebnisse (S. 355–365). Hier nimmt der
Verfasser auch noch einmal Stellung zu der sich wie ein „roter Faden“ durch die Arbeit
ziehenden Auseinandersetzung mit den Konzepten der Medikalisierung einerseits und der Sozialdisziplinierung andererseits. Für ihn gibt es diesbezüglich keinen Gegensatz. Vielmehr lautet
sein Fazit: „Mit der historischen Betrachtung eines Vorganges, der als das ‚Einüben einer
Vorstellung‘ beschrieben werden kann, nämlich derjenigen vom Krankenhaus in der lokalen
Politik, hat die vorliegende Studie hoffentlich dazu beitragen können, Medikalisierung als
zentralen Teil sattelzeitlicher Prozesse sozialer Disziplinierung zu analysieren“ (S. 365). Abgerundet wird die Arbeit durch ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 367–400)
sowie ein Abbildungsverzeichnis (S. 400).
Die Untersuchung basiert in erster Linie – neben einer umfassenden Berücksichtigung der
einschlägigen Literatur – auf akribisch ermittelten und ausgewerteten Quellen, zu denen Akten
der Stadt- und Staatsverwaltung, besonders bezüglich der Gestaltung des Armenwesens, ebenso
zählen wie die fragmentarischen Überlieferungen der verschiedenen, teilweise nur kurzfristig
existierenden Krankenanstalten. Das erlaubt dem Verfasser die sehr detaillierte Rekonstruktion
und Analyse der Entwicklung von Armen- und Gesundheitspolitik im Wechselspiel zwischen
lokalen und staatlichen Anforderungen einerseits, den darauf bezogenen Fachdiskursen, etwa der
Ärzte, andererseits. Zugleich kann er eine facettenreiche Darstellung der Zusammensetzung der
Krankenhauspatienten nach verschiedenen demographischen, sozialen und medizinischen Kriterien, z. B. nach der Art der Krankheiten, vorlegen, was für die 1830er und 40er Jahre immer noch
sehr selten gelungen ist und eine Fülle, vom Verfasser aber vorbildlich gelöster Probleme
aufwirft. Das betrifft insbesondere die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Krankheitsdiagnosen, die nicht vorschnell unter moderne medizinische Kategorien subsumiert werden
dürfen (S. 342–346). Vor allem wird deutlich, dass eine klare Trennung zwischen sozialen (arm)
und medizinischen Kriterien (heilbar) bei der Aufnahme der Patienten ins Krankenhaus nicht
getroffen wurde, sich oft auch nicht treffen ließ, dass vielmehr beide Kriterien häufig ineinander
übergingen. Insofern erscheint die These des Verfassers begründet: „Zentrale Indikation der
Einweisung ins städtische Krankenhaus war und blieb eine soziale“ (S. 353). Sehr gelungen ist
auch die gelegentliche Berücksichtigung von Beschwerden und Eingaben der Patienten bei den
Aufsichtsbehörden, was ihnen, die sonst meist aufgrund der Quellenlage nur als Objekte wahrgenommen werden können, eine „Stimme verleiht“ (z. B. S. 345–349).
Die vorliegende Untersuchung reiht sich in die während der letzten zehn Jahre vorgelegten
Fallstudien im Rahmen einer „neuen“ Sozialgeschichte der Medizin bzw. des Krankenhauses
ein. Sie behandelt aber nicht nur einen weiteren Fall, was als solches schon sehr hilfreich und
begrüßenswert wäre, sondern bereichert den Forschungsstand vor allem durch die ausführliche
und sensible Analyse der politischen und sozialen Rahmenbedingungen für die Krankenhausentstehung und -entwicklung. Insofern geht sie in verdienstvoller Weise deutlich über die in vielen
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
neueren Studien anzutreffende Beschränkung auf das Krankenhaus als solches hinaus. Kritisch
anzumerken wäre höchstens, dass das aufbereitete Material teilweise doch sehr ausführlich
präsentiert wird und die Darstellung dadurch etwas ausufernd wirkt. Zusammenfassungen am
Ende jedes Kapitels wären da sehr hilfreich gewesen.
München
REINHARD SPREE
ERIC J. ENGSTROM/VOLKER ROELCKE (Hg.): Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur
Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum
(Medizinische Forschung 13). Schwabe, Basel 2003, 294 S., 47,50 e.
Die Psychiatrie des langen 19. Jh.s in ihren nachhaltigen Weichenstellungen zu untersuchen, ist eine
Voraussetzung zum Verständnis der Entwicklungen im 20. Jh. Dies zeigte die Erforschung der
Psychiatriegeschichte im Nationalsozialismus. Aktuelle Bezüge und Perspektiven dürfen dabei den
Blick auf Gesetzmäßigkeiten, Präferenzen und Wissenschaftslogik der „alten“ Psychiatrie nicht
verstellen. Wenn Psychiater sich heute als „Neo-Kraepelinians“ bezeichnen oder mit Querverweisen
auf Wilhelm Griesinger aufwarten, ist es Zeit für Analysen vermeintlicher Kontinuitäten, die für
andere Länder bereits vorliegen.
Die Beitragenden zu diesem von dem Historiker Eric Engstrom und dem Medizinhistoriker
Volker Roelcke herausgegebenen Band haben sich dieser Herausforderung gestellt. In vier englischund acht deutschsprachigen Kapiteln wird ein breites Themenspektrum angeboten, das sich um drei
Fragenkomplexe gruppiert: 1. Die Rekonstruktion von Verbindungen der Psychiatrie mit Nachbardisziplinen, 2. die Untersuchung professionspolitischer Strategien, und 3. Konzepte und Intentionen der
psychiatrischen Historiographie. Die Einleitung macht deutlich, in welch hohem Maße sich widersprechende historiographische Interpretationen die Geschichte der Psychiatrie prägen.
Engstrom behandelt das psychiatrische Ausbildungswesen im Kaiserreich anhand didaktischer Konzepte des Unterrichts an Universitätskliniken. Michael Kutzers Beitrag räumt mit dem
Irrglauben zur abgetrennten Existenz von „Psychikern“, „Somatikern“ und zugehörigen „Traditionslinien“ auf. Alexandra Chmielewski beschäftigt sich mit konkurrierenden psychiatrischen
Einrichtungen in Heidelberg zwischen 1826 und 1835. David Lederers Beitrag beinhaltet eine
gut verständliche Einführung in „die Geburt des Irrenhauses“, die er an der bayerischen Anstalt
Giesing expliziert. Psychiatriegeschichte lässt sich ohne das Studium wirtschaftlicher Aspekte
kaum betreiben: Kai Sammets Beitrag zeigt deutlich, wie selbstverständlich zentrale Protagonisten Ökonomie mit Wissenschaft und Humanität verbanden. Harry Oosterhuis beschreibt knapp
die Strategien zur sozialen und professionellen Anerkennung des Psychiaters Krafft-Ebing.
Roelcke zeigt anhand des Beispiels der reichsweit standardisierten „Irrenstatistik“ eindrucksvoll
die Verwissenschaftlichungsstrategien der Psychiatrie zu Beginn des letzten Drittels des 19. Jh.s:
Die Modi der Wissensproduktion waren eng an die Naturwissenschaften angelehnt. Ann Goldberg porträtiert die Psychiatriekritik des späten 19. Jh.s am Beispiel der „Irrenrechtsreformbewegung“, bei der die Kritik am Umgang mit der errungenen Autorität der Psychiater zentral war.
Die wachsende Bedeutung des psychiatrischen Expertenwissens untersucht Urs Germann: Die
Deutungsmacht von Schweizer Psychiatern nahm zu, während ihre „Sensibilität“ gegenüber
„Normabweichungen“ wuchs. Ein Zugewinn sind auch die nach Abschluss der Tagung hinzugetretenen Beiträge: Martin Lengwiler bearbeitet die Frage nach Wechselwirkungen zwischen
früher Militärpsychiatrie und Professionalisierung der allgemeinen Psychiatrie vor 1914. HeinzPeter Schmiedebach und Stefan Priebe widmen sich der Frage der „offenen psychiatrischen
Fürsorge“ im späten Kaiserreich, deren historisches Verständnis durch definitorische Probleme
sehr erschwert wird, was am Beispiel der Familienpflege eindrucksvoll erläutert wird.
Berlin
THOMAS MÜLLER
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
©Franz Steiner Verlag, Stuttgart
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Besprechungen
RAINGARD ESSER/THOMAS FUCHS (Hg.): Bäder und Kuren in der Aufklärung. Medizinaldiskurs und
Freizeitvergnügen (Aufklärung und Europa. Schriftenreihe des Forschungszentrums Europäische Aufklärung e. V. 11). Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2003, 183 S. (3 Abb.), 27,00 e.
Wer noch vor wenigen Jahren Forschungsliteratur zur Sozial- und Kulturgeschichte der Badeorte
im 18. Jh. suchte, stieß auf eine weitgehend anekdotisch gehaltene Literatur und wurde allenfalls
im englischen Sprachraum fündig. Der von Raingard Eßer und Thomas Fuchs herausgegebene
Sammelband reiht sich in eine geringe Zahl neuerer Publikationen ein, in denen die Thematik
dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechend behandelt wird. Neben der informativen
Einführung durch die Herausgeber enthält der Band sieben Beiträge, zwei davon in englischer
Sprache. Behandelt werden berühmte Bäder wie Bath (Steve Poole) und Pyrmont, aber auch
weniger bekannte wie Kukus (Annette Dorgerloh), der „Typus eines Fürstenbades“ in Böhmen
um 1700, und Islington (Charles Littleton), ein Ort der Erholung und des Vergnügens nicht für
die Eliten, sondern für die Einwohner Londons. Littleton verdeutlicht in seinem Beitrag überdies
am Beispiel einer Schrift Robert Boyles, dass erst auf der Grundlage iatrochemischer Konzepte
die Frage nach Zusammensetzung und Wirkstoffen des Mineralwassers aufgeworfen wurde.
Seine Ausführungen sind insbesondere unter medizin- und wissenschaftshistorischen Gesichtspunkten von Interesse. Der umfangreiche Beitrag von Hans-Uwe Lammel („Das Bad der Clio“)
zum Umbruch in der Medizin- und Wissenschaftshistoriographie behandelt das Thema des
Sammelbandes leider nur sehr am Rande. Besonders gelungen ist dagegen der Eröffnungsbeitrag
von Ute Lotz-Heumanns, der einen umfassenden Forschungsüberblick sowie eine Kategorisierung und Periodisierung des Gegenstandes „Badeorte“ – einschließlich eines beeindruckenden
Fragenkatalogs – präsentiert. Hierdurch wird der Band zum unverzichtbaren Ausgangspunkt für
alle, die sich mit dem Thema „Bäder und Kuren in der Aufklärung“ beschäftigen – ein Thema im
Übrigen, das keineswegs ein marginal zu nennendes Freizeitvergnügen zum Gegenstand hat,
sondern wesentliche Einblicke in die Wiege der modernen, bürgerlichen Gesellschaft gewährt,
insofern Badeorte hier zu Recht als „Laboratorien der bürgerlichen Gesellschaft“ (S. 15, 25 f.)
bezeichnet werden. Diesen Laborcharakter veranschaulicht in vorzüglicher Weise der Beitrag
von Brigitte Erker über Pyrmont. Er gibt u. a. einen hervorragenden Einblick in Zusammensetzung, Funktionsweise, Kommunikations- und Geselligkeitsformen sowie Krisen der Aufklärungsgesellschaft insbesondere des norddeutschen Raumes. Der Tagungsband leistet, dem Anspruch der Herausgeber entsprechend, einen gelungenen Beitrag zur „Diversifizierung des Kurortes als sozialem und kulturellem Phänomen städtischen Lebens in der Aufklärung“ (S. 14).
CARMEN GÖTZ
Düsseldorf
MICHAEL FISCHER: Ein Sarg nur und ein Leichenkleid. Sterben und Tod im 19. Jahrhundert. Zur
Kultur- und Frömmigkeitsgeschichte des Katholizismus in Südwestdeutschland. Schöningh,
Paderborn u. a. 2004, 437 S., 49,00 e.
Die Untersuchung von Michael Fischer, eine theologische Dissertation, nähert sich ihrem Thema
aus einem kultur- und frömmigkeitsgeschichtlichen Blickwinkel, wobei „Kultur“ nicht als Produkt einer Elite verstanden wird, sondern als „alles, was Menschen zur Lebensgestaltung,
-bewältigung und -deutung täglich hervorbringen“ (S. 13 f.). „Frömmigkeit“ bezeichnet in dieser
Studie „die Religion der Vielen – so wie sie von den Kirchenoberen propagiert, aber nicht immer
vom Kirchenvolk angenommen wurde“ (Klappentext).
Die Arbeit gliedert sich neben Einleitung (S. 9–23) und Schluss (S. 351–371) in drei Teile.
Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit den sozialgeschichtlichen, kulturgeschichtlichen und
frömmigkeitsgeschichtlichen „Voraussetzungen“ (!) von Sterben und Tod (S. 27–106). Das
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
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zweite große Kapitel befasst sich mit „Sterben und Tod als Thema der Dogmatik, der Katechese
und der Liturgie“ (S. 109–218). Der dritte und umfangreichste Teil behandelt das Thema
„Sterben und Tod im Spiegel katholischer Kirchenlieder“ (S. 221–350).
Regional konzentriert sich die Studie auf die Sprengel der Diözesen Konstanz (aufgehoben
1821/27), Mainz, Freiburg und Rottenburg. Die Quellenbasis der Untersuchung bilden Texte
normativen Charakters aus dem Bereich der Dogmatik sowie der Liturgie. Der Autor ist sich
dabei bewusst, dass er auf diese Weise „weniger die popularen als die popularisierten Formen der
Frömmigkeit“ erfasst (S. 16). Sein Ziel ist nicht, die Alltagswirklichkeit des 19. Jh.s zu beschreiben, sondern vielmehr „die Sterbe- und Todesdiskurse innerhalb des Katholizismus zu analysieren, welche die Alltagswelt der Gläubigen [...] geprägt [...] haben“ (S. 16). Dem reflektierten
Umgang mit den theologischen Quellen steht eine wenig systematische Behandlung der vom
Staat bestimmten Rahmenbedingungen für das kirchliche Denken und Handeln gegenüber.
Symptomatisch hierfür ist etwa, dass im ersten Kapitel nur auf die Verhältnisse im Großherzogtum Baden eingegangen wird; die Königreiche Württemberg und Bayern werden nicht berücksichtigt. Weder wird diese Auswahl vom Autor begründet, noch differenziert er zwischen den
Lebensbedingungen der städtischen und der ländlichen Bevölkerung. Im zweiten Kapitel wiederum wird nur auf die bürgerliche Sterbekultur eingegangen, nicht aber auf die den Untersuchungsraum der Studie vor allem prägenden Verhältnisse der bäuerlichen Lebenswelt.
DIETMAR GRYPA
Eichstätt
JONAS FLÖTER/GÜNTHER WARTENBERG (Hg.): Die sächsischen Fürsten- und Landesschulen. Interaktion von lutherisch-humanistischem Erziehungsideal und Eliten-Bildung. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2004, 381 S., 36,00 e.
Die sächsischen, von Herzog Moritz gegründeten Fürstenschulen Grimma, Meißen und Schulpforte stehen seit langem für legendäre Orte erfolgreicher Ausbildung von Eliten. Entsprechend
umfangreich sind die meist hagiographischen Abhandlungen, die sich allen dreien oder je einer
dieser Anstalten widmen. In einer diesem Band beigegebenen Bibliographie sind sie auf über 34
eng bedruckten Seiten aufgelistet. An einer modernen und kritischen Darstellung fehlte es
bislang freilich, wie die Herausgeber zutreffend schreiben. Mit diesem Sammelband von 17
Beiträgen, die 2003 während einer Tagung von „Bildungshistorikern, Historikern und Pädagogen“ vorgetragen wurden, möchten sie diesem Mangel abhelfen.
Der Band ist in vier größere Abschnitte unterteilt und beschränkt sich keineswegs auf die
sächsischen Schulen. Mehrfach werden andere und vergleichbare Institute – in Württemberg, im
Ansbachischen, das Joachimstalische Gymnasium etwa – vorgestellt, und es werden sowohl das
zwinglianische wie auch das jesuitische Schulwesen kundig behandelt.
Nach einem knappen Vorwort sucht ein Beitrag die sächsischen Schulen in die „deutsche
Bildungslandschaft“ einzuordnen, also eine Art vorweggenommenes Resümee zu geben. Das ist
nur bedingt gelungen. So fällt der erstrebte chronologische Durchgang – bei einem Sammelband
besonders hilfreich – sehr ungleichgewichtig aus, gerade was die Zeit zwischen 1600 und 1850
anbelangt. Da werden ältere Gesichtspunkte schlicht wiederholt; zudem wird deutlich, dass viele
jüngere Forschungen nicht bekannt sind, und so fallen die Urteile und Zuordnungen vielfach
unbefriedigend aus. Der Band weist überhaupt eine merkwürdige Zweiteilung auf: einige der
Beiträge nutzen vor allem Literatur des 19. und frühen 20. Jh.s, andere fußen auf jüngeren
Arbeiten. Da gerade auf dem Gebiet der Bildungsgeschichte in den letzten Dezennien vieles
anders als früher beurteilt wird, ist die Kenntnis und Auseinandersetzung dieser Zusammenhänge
allemal gewinnbringend für Fragestellungen, wie sie hier zugrunde liegen.
Im ersten Abschnitt wird dann versucht, „Geist und Gestalt“ der sächsischen Fürstenschulen
darzustellen. Die Beiträge wählen bestimmte Abschnitte aus der Geschichte der Anstalten, um an
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
ihnen wichtige Etappen dieser Geschichte zu illustrieren. Das ist im Allgemeinen grundsolide
und informiert zuverlässig über die jeweiligen Verhältnisse. Im zweiten Abschnitt zeigen drei
Arbeiten, indem sie einen „territorialen Vergleich“ anstellen, was im Sächsischen unter Umständen als Besonderheit anzusehen ist. Das ist ähnlich weiterführend und erhellend wie der dritte
Abschnitt, in dem ein „kulturkonfessioneller Vergleich“ die beiden oben genannten anderskonfessionellen Schulsysteme beschreibt. Der letzte und vierte Abschnitt stellt die Fürstenschulen in
„ihrem sozialen und gesellschaftlichen Kontext“ vor. Das 19. Jh. überwiegt, dessen bürgerliches
wie fürstliches Bildungsideal wird analysiert, daneben die Rolle dieser Schulen für die Eingliederung der Sorben. Der Schlussbeitrag beschreibt an Hand der Architektur den erfolgreichen
Historismus dieses Jahrhunderts, der viel über die Bildungsideen und -vorstellungen dieser Zeit
erkennen lässt, die lange stilbildend blieben. Natürlich beanspruchten die Fürstenschulen damals, führend, strahlend und Elite fördernd gewesen zu sein. So wurden stillschweigend weniger
glänzende Epochen ihrer Geschichte übergangen, worauf dieser Band durchaus verweist, wenn
er selbst auch davon Abstand nimmt, diese aus ihrem unverdienten Schlummer zu wecken und
möglicherweise Neues zu entdecken. Ein Anhang mit Register vervollständigt das Unternehmen.
Frankfurt a. M.
NOTKER HAMMERSTEIN
UTE FREVERT (Hg.): Vertrauen. Historische Annäherungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
2003, 430 S. (3 Abb.), 22,90 e.
Das Titelbild des Bandes, ein Tiepolo-Gemälde aus dem Jahre 1760, zeigt jenen Moment, in dem
die Trojaner das berühmte Pferd in ihre Stadt ziehen: Verbildlichung des uralten Mythos von der
Vertrauensseligkeit der Menschen, obwohl eigentlich Misstrauen angebracht gewesen wäre.
Dieses Grundproblem durchzieht, ausgehend von einer umsichtigen und facettenreichen „Spurensuche“ der Herausgeberin nach den Erscheinungsformen von Vertrauen als einer natürlichen
Ressource im menschlichen Zusammenleben, alle zwölf Beiträge des Bandes. Folgerichtig endet
sein abschließender Aufsatz von Albrecht Weisker, der am Beispiel der Kernenergie das Zusammenspiel von Expertenvertrauen und Zukunftsangst behandelt, mit der letztlich trivialen Feststellung, „im Unterscheidungsvermögen, wann, wo und wem gegenüber Vertrauen oder Misstrauen angebracht [seien, liege] auch weiterhin die große Herausforderung an unser soziales
Gewissen“ (S. 421).
Gegenüber der u. a. von Niklas Luhmann vertretenen Auffassung, dass erst die Moderne mit
ihrer immens gewachsenen Komplexität der Beziehungen in ganz besonderer Weise von Vertrauen abhängig geworden sei, betont Ute Frevert – und ihr folgen dann die nächsten drei
Beiträge –, dass Vertrauen auch in anderen historischen Epochen in jeweils zeittypischem
Gewand zentrale Bedeutung gehabt habe: sowohl im Mittelalter (z. B. als „Synonym für die
Aufgabe von Macht“, so Dorothea Weltecke, S. 89) als auch in der Frühen Neuzeit (etwa im
Fernhandel, wie Stefan Gorißen zeigt, oder als konstitutives Element in den Netzwerken der
frühneuzeitlichen „Gelehrtenrepublik“ – Thema des Beitrags von Franz Maulshagen). Die weiteren Aufsätze liefern aber dann doch exemplarische Studien zu Handlungsfeldern des 19. und 20.
Jh.s, an denen die Verfasser zeigen, wie ausgreifend das Werben um Vertrauensgewährung, wie
sehr Vertrauenskrisen und Vertrauenskonjunkturen die sozialen und politischen Verhältnisse zu
bestimmen begonnen haben: vom „Familienvertrauen“ als Vorstufe zum „Weltvertrauen“ in der
Pädagogik des 19. Jh.s (Gunilla-Friederike Budde) bis hin zur „Vertrauensarbeit“ in den deutschfranzösischen Beziehungen nach 1945 (Gesa Bluhm). In welchem Ausmaß die moderne Großstadt „Vertrauensverlust“ erzeugte und welche Gegenstrategien z. B. die Innere Mission verfolgte, untersucht Bettina Hitzer, und Thomas Kühne zeigt an einem eindrucksvollen Fall, wie in der
Endphase des Zweiten Weltkriegs das „soziale Kapital“ des Vertrauens in der SoldatenkameradVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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schaft mit dem „blinden Vertrauen in den Führer“ kollidieren konnte. Wie sehr die „Vertrauenskrise“ von 1918 eine Reaktion auf die Legitimationskrise des monarchischen Obrigkeitsstaates
war und wie deshalb intensive Anstrengungen unternommen wurden, neues Vertrauen für die
neue Staatsführung zu gewinnen (Beispiel „Reichszentrale für Heimatdienst“ seit 1919), ist das
Thema von Anne Schmidt, während Dagmar Ellerbrock am Beispiel des Waffenrechts in der
Weimarer Republik, in den 1970er und 1990er Jahren und schließlich mit Blick auf die aktuelle
Bekämpfung der Kriminalität im europäischen Kontext die These vertritt, „dass politisches
Vertrauen stets mit politischem Misstrauen gekoppelt“ sei und Letzteres in demokratischen
Systemen durchaus „produktiv im Sinne der Generierung politischen Vertrauens genutzt werden“ könne (S. 334 f.). In welcher Weise die Physiognomik, d. h. die Präsentation des menschlichen Gesichts und überhaupt menschliche Gebärden und Körperhaltungen in sozialen Interaktionen, insbesondere bei der Werbung um Vertrauen, eine Rolle spielen, belegt mit vielen einleuchtenden Beispielen Claudia Schmölders in ihrem Beitrag, und Jan C. Behrends untersucht die
Konsequenzen, welche die „Diskrepanz zwischen dem geforderten Glaubensverhalten und der
geringen Reichweite des Vertrauens in der sozialen Wirklichkeit kommunistischer Herrschaft
hatte“ (S. 357): Eine Kombination aus Gleichgültigkeit, Rückständigkeit und gegenseitigem
Misstrauen sei – so Behrends – jene Sackgasse gewesen, in der schließlich die Gesellschaften
sowjetischen Typs endeten.
Die knappen Hinweise auf die Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen: Es handelt sich um
eine bemerkenswert aspektreiche, um nicht zu sagen heterogene, aber durchgängig anregende
Nebeneinanderstellung von exemplarischen „Annäherungen“ an ein Phänomen, das zwar ständig
in aller Munde ist, dessen historische Erscheinungsweisen bzw. die Arten und Weisen, wie es in
konkreten Gesellschaften wahrgenommen und dementsprechend aus der Rückschau lokalisierbar
ist, bisher aber kaum beachtet worden sind.
Gießen
JÜRGEN REULECKE
MICHEL GRUNEWALD/UWE PUSCHNER (Hg.): Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa
presse et ses réseaux (1890–1960)/Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine
Presse und seine Netzwerke (1890–1960) (Convergences 27). Lang, Bern u. a. 2003, XII u. 718 S.,
81,30 e.
Dieser Band ist das Gegenstück zu dem Buch über das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland
1890–1960, das 2002 erschien. Es ist hervorgegangen aus einem internationalen Kolloquium,
das vom 4. bis 6. Dezember 2002 in Metz stattfand, und enthält 28 Aufsätze, davon sechs in
französischer Sprache. Die Einleitung von Michel Grunewald präsentiert einen Überblick über
den Konservatismus in Deutschland 1890 bis 1960 und eine Zusammenfassung der einzelnen
Beiträge. Axel Schild beschreibt danach Kontinuitäten und Brüche des deutschen Konservatismus im 20. Jh. Der Hauptteil des Buches, der 1. konservative Zeitungen und Zeitschriften (S. 49–
293) sowie 2. konservative Gruppen und Bewegungen (S. 297–637) behandelt – wobei die
Aufsätze von 1. und 2. sich öfter überschneiden –, beginnt mit einer Untersuchung der Kreuzzeitung 1881–1892 (D. Bussiek). Danach folgen die Preußischen Jahrbücher 1890–1914 (J. Angelow), Das Zwanzigste Jahrhundert 1890–1896 (F. Trapp), die Konservative Monatsschrift 1905–
1922 (P. Alexandre), Der Türmer 1898–1943 (R. Parr), die Süddeutschen Monatshefte 1904–
1936 (J. Flemming), Deutsches Volkstum 1917–1938 (A. Gerstner), Das Jüdische Echo 1913–
1933 (F. Wiesemann), Der Schild und Jüdischer Front (J. M. Schulz) und die Stellung des
Rheinischen Merkurs in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1946–1950 (G.
Müller). Die Aufsätze über Gruppen und Bewegungen beginnen mit den Bayreuther Blättern
1878–1938 (H. Châtellier), gefolgt vom George-Kreis und seine Medien (W. Schmitz), KunstVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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wart und Dürerbund (R. vom Bruch), Der Vortrupp 1912–1921 (U. Linse), Die Tat und der TatKreis (G. Hübinger), die Alldeutschen Blätter 1894–1939 (R. Hering), Strukturmerkmale der
völkischen Bewegung 1900–1945 (U. Puschner), der Jungdeutsche Orden 1920–1933 (D. Tiemann), Der Ring 1928–1933 (M. Grunewald), die Europäische Revue 1925–1944 (I. U. Paul),
die paneuropäischen Netzwerke in der Weimarer Republik (A.-M. Saint-Gille), die Nationalsozialistischen Monatshefte und Volkstum und Heimat (B.-A. Rusinek) sowie Konservatives Milieu und Widerstand gegen Hitler (G. Merlio). Den Schluss des Bandes bilden drei personenbezogene Aufsätze: 1. über den Roman Die Grandidiers von Julius Rodenberg, 2. zum Werk
Heinrich von Treitschkes (H.-J. Lüsebrink) und schließlich 3. Ernst Jünger und Frankreich (T.
Sète). Ein ausführliches Personenregister (S. 691–708) und ein Verzeichnis der Autoren beschließen den Band.
Es ist hier nicht möglich, auf die vielfältigen Inhalte der einzelnen Beiträge einzugehen. Sie
unterscheiden sich nicht nur stark im Umfang und in der analytischen Tiefe, sondern auch darin,
dass bei vielen das historische und politische Umfeld erkenntnisfördernd einbezogen wird,
während einige überwiegend eine „rhapsodische Inhaltsschau“ (S. 586) bieten. Die Beiträge
widerlegen jedoch überzeugend die Ansicht von Carl Schmitt aus dem Jahr 1925, Kulturzeitschriften gehörten „in eine liberale Epoche, in eine Zeit, die an Diskussion und Gespräch glaubt,
also in ein romantisches Zeitalter“. Dies hängt natürlich auch damit zusammen – was m. E. in den
Beiträgen nicht genügend thematisiert wird –, dass die sozialökonomischen Veränderungen trotz
Erstem Weltkrieg, Inflation, Weltwirtschaftskrise und Drittem Reich dem Zeitungs- und Zeitschriftenwesen förderlich waren. Wohlstandszunahme, ein größeres Freizeitangebot und bessere
Vertriebswege und -techniken ermöglichten es, dass die Produkte des konservativen Gedankenguts größeren Absatz fanden. Wer sich über die geschilderten Zusammenhänge einen genaueren
Überblick verschaffen möchte, wird aus den meisten Beiträgen dieses Bandes großen intellektuellen Gewinn ziehen, auch wenn er/sie dem konservativen Milieu fern steht.
Eichstätt
HUBERT KIESEWETTER
NOTKER HAMMERSTEIN: Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 64). Oldenbourg, München 2003, 19,80 e.
Die von Lothar Gall und anderen herausgegebene Enzyklopädie Deutscher Geschichte ist seit
langem als ein ebenso zuverlässiges wie inhaltlich umfassendes Arbeitsinstrument bekannt.
Hammersteins hier vorzustellendes Buch ist als 64. Band dieser Reihe erschienen. Sein Aufbau
entspricht mutatis mutandis dem vielfach bewährten Format der Reihe: Zunächst gibt der
Verfasser einen „enzyklopädischen Überblick“. Er beginnt mit einem kurzen Blick auf die
Schulen und Hochschulen des späten Mittelalters. Ihm folgen Ausführungen über Humanismus,
Reformation und Gegenreformation und ihren Einfluss auf Bildung und Wissenschaft sowie
abschließend einige Bemerkungen über Lehre und Studium.
Der zweite Teil ist „Grundproblemen und Tendenzen der Forschung“ gewidmet. Er bildet
den quantitativen Schwerpunkt der Arbeit. Auch inhaltlich ist dies wohl der reizvollste Teil,
denn hier diskutiert ein ausgewiesener Kenner der Materie neue Ansätze, inhaltliche und theoretische Kontroversen, Forschungserträge und Forschungslücken. Es erleichtert die Arbeit mit
diesem Kapitel, dass im Text auch die Arbeiten nachgewiesen werden, auf die der Verfasser
jeweils Bezug nimmt. Diese und zahlreiche andere einschlägige Arbeiten sind im dritten Teil des
Bandes mit vollständiger Bibliographie aufgeführt. Diese Bibliographie ist nach Sachgruppen
unterteilt und bietet mit ihren 440 Titeln alles, was bis in die jüngste Vergangenheit hinein an
wichtigen Arbeiten zum Thema veröffentlicht wurde. Die Brauchbarkeit dieser Bibliographie
hätte allerdings noch etwas gesteigert werden können, wenn auch die Verfassernamen in das
alphabetische Personenregister am Schluss des Bandes mit aufgenommen worden wären.
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Insgesamt bildet der Band ein vorzügliches Arbeitsinstrument. Kritisch seien lediglich drei
(eher nachrangige) Punkte angemerkt: Erstens vermisst man eine Liste der im Untersuchungszeitraum existierenden Universitäten mit Gründungs- und gegebenenfalls Schließungsdaten.
Natürlich finden sie sich vielerorts, doch gehören sie auch in ein Handbuch wie das vorliegende.
Zweitens wären etwas systematischere Bemerkungen über Studenten und Professoren als soziale
Gruppen sinnvoll gewesen, und drittens hätte man einige statistische Angaben begrüßt, so
lückenhaft und ungenau sie im Einzelnen auch immer hätten sein müssen. Trotzdem: ein gutes
und nützliches Buch.
Konstanz
LOTHAR BURCHARDT
MARKWART HERZOG/NORBERT FISCHER (Hg.): Totenfürsorge – Berufsgruppen zwischen Tabu und
Faszination (Irseer Dialoge 9). Kohlhammer, Stuttgart 2003, 232 S. (zahlr. Abb.), 20,00 e.
Im November 2001 fand an der Schwabenakademie Irsee die dritte interdisziplinäre Tagung in
der Reihe „Sterben, Tod und Jenseitsglaube“ statt. Die Tagung „Unentbehrlich und verrufen?
Berufsgruppen in der Totenfürsorge“ legte den Schwerpunkt auf ein noch wenig bearbeitetes
Themenfeld: den professionellen Umgang mit dem Tod und den Toten und ihren kulturellen
Bewertungen. Die Vorträge liegen nun in schriftlicher Form in dem vorliegenden Sammelband
vor.
Der einführende Beitrag von Markwart Herzog und Norbert Fischer diskutiert das Thema in
einem historischen Abriss. Marginalisierung und Tabuisierung sind die zentralen Begriffe zur
Charakterisierung von Personen, die mit dem toten menschlichen Körper umgehen: Bestattungsunternehmer, Abdecker, Totengräber etc. Diese Kategorien ziehen sich als eine Art roter Faden
durch alle Beiträge des Tagungsbandes. Die Aufsätze aus verschiedensten Disziplinen sind in
drei Themenbereiche unterteilt: „Erkenntnisse der Kultur- und Sozialwissenschaften“, „Umgang
mit Toten: Exemplarische Berufsgruppen“ und „Thematisierung in Literatur und Kunst“.
Der erste Teil „Erkenntnisse der Kultur- und Sozialwissenschaften“ fasst drei Aufsätze
unterschiedlicher Wissenschaften mit einer jeweils ethnographischen Perspektive zusammen:
Der Theologe Hans-Peter Hasenfratz vergleicht traditionelle außereuropäische Kulturen mit der
mittelalterlichen Stadtgesellschaft Europas. Kritisch zu hinterfragen ist die fehlende Kontextualisierung in Raum und Zeit, die im letzten Teil deutlich werdende allgemeine Kulturkritik der
Gegenwartsgesellschaft sowie die Verwendung des Begriffs „Volksreligiosität“. Mit Hilfe des in
den 1920er und 30er Jahren erhobenen Materials des „Rheinischen volkskundlichen Fragebogen“ und des „Atlas der deutschen Volkskunde“ untersucht der Bonner Volkskundler Heinrich L.
Cox Formen und Veränderungen der Nachbarschaftshilfe bei Sterben und Tod, beispielhaft für
die Region Rheinland. Anhand verschiedener Elemente kann ein dreiphasiger Wandlungsprozess in Bezug zu sozialen Veränderungen seit dem 19. Jh. festgestellt werden. Vom Rheinland
des frühen 20. Jh.s führt der folgende Aufsatz den Leser nach Afrika: Der Ethnologe Josef Franz
Thiel gibt einen Einblick in die Praxis der Totenfürsorge und der dazugehörigen Jenseitsvorstellungen bei den Bayassi, einem Bantu-Volk im Kongo. Thiel nutzt für die Interpretation das
Modell des Übergangsrituals sowie die Idee der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits als
kulturelles Grundmuster. Mit vielen Beispielen illustriert bietet dieser Beitrag einen spannenden
Blick über die Grenzen Europas hinaus. Die Soziologin Irmhild Saake untersucht in ihrem
Beitrag das Sprachverhalten von Bestattern, Pathologen und einem Plastinateur. Mit einem
systemtheoretischen Ansatz zeigt sie Strukturen im Erzählen über den Tod bzw. den toten
Körper, die sich in drei Todesbildern, dem „sinnlosen“, dem „geschwätzigen“ und dem „sichtbaren“ Tod äußern. Sinnlos sei der Tod, weil in der Postmoderne eine rituelle Auseinandersetzung
mit dem Tod nicht mehr möglich sei. Die Entsorgung obliege modernen Experten, die – und
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damit leitet Saake zum zweiten Todesbild über – diese als Arbeit definieren, die Probleme
erzeugt, über die geredet werden muss. Als eine Art Gegenbewegung dazu erscheint das dritte
Todesbild, der sichtbare Tod. Die Möglichkeit, die Leiche zu erhalten und in letzter Konsequenz
zum Ausstellungsobjekt zu machen (G. von Hagens Körperwelten) fokussiert die Sinnfrage auf
den Körper.
Den zweiten Komplex „Umgang mit Toten: Exemplarische Berufsgruppen“ leitet der Beitrag von Gisela Wilberz ein. Sie interpretiert den frühneuzeitlichen Abdecker im Kontext von
„Unehrlichkeit“ als soziales Klassifikationsmuster. Dieser informationsreiche Beitrag skizziert
die historische Entwicklung des Abdeckerberufs vom späten Mittelalter bis ins 19. Jh. Er
beleuchtet die Akteursebene sowie Alltag und Lebenswelt von Abdeckern. Gewinnbringend
kombiniert die Autorin einen historischen Ansatz mit kulturanthropologischen Konzepten von
Reinheit und Unreinheit. Der anschließende Aufsatz von Karin Stukenbrock untersucht Selbstund Fremdwahrnehmungen von Anatomen im 18. Jh. und eröffnet einen differenzierten Blick auf
einen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs, in dem es um die Bewertung des toten
Körpers geht. Trotz eines Sprungs in die Gegenwart schließt der folgende Beitrag „‚Mortui vivos
docent‘. Über das Berufsbild des Rechtsmediziners“ fast perfekt an Stukenbrocks Überlegungen
an. Auch hier geht es um Selbst- und Fremdbilder von Anatomen. Die Autoren Klaus Püschel
und Holger Lach, beide Rechtsmediziner, stellen populären Klischees über ihren Berufsstand
eine Beschreibung ihres Arbeitsalltags gegenüber. Einige Abschnitte lassen sich allerdings
durchaus – in Anlehnung an Stukenbrock – als Legitimierungstexte interpretieren: Hier geht es
um die Definition als „Arzt der Opfer“ (S. 151 ff.), „Die Sektion als Totenfürsorge“ (S. 162 ff.)
und „als letzten Dienst für Verstorbene“ (S. 164 ff.).
Unter der Überschrift „Thematisierung in Literatur und Kunst“ findet sich ein Aufsatz von
Kerstin Gernig zum Motiv des Totengräbers in der Literatur vom Alten Testament bis ins 20. Jh.
Gernig zeigt hier eine fruchtbare Kombination literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektiven auf die Frage nach dem Umgang mit dem Tod. Die Kunsthistorikerin Petra Lange-Berndt
setzt sich mit den Beziehungen von Tod und Kunst auseinander und stellt in einer interessanten
Verbindungslinie die Zusammenhänge der (modernen) Künstlerrollen mit den Berufen Totengräber, Anatom und Präparator sowie die jeweils paradigmatisch dazugehörigen Materialien
Erde, Wachs und (verwesliches) Fleisch dar.
Mit dem vorliegenden Band haben die Herausgeber eine gelungen komponierte Zusammenstellung auf den Markt gebracht. Die einzelnen Beiträge stehen in spannenden Bezugsverhältnissen und das Konzept der Interdisziplinarität ist offen und gewinnbringend umgesetzt.
DAGMAR HÄNEL
Bonn
MARJATTA HIETALA/TANJA VAHTIKARI (Hg.): The Landscape of Food. The Food Relationship of
Town and Country in Modern Times (Studia Fennica, Historica 4). Finnish Literature Society,
Helsinki 2003, 232 S., 39,50 e.
Der vorliegende Band versammelt die Vorträge des sechsten Symposiums der „International
Commission for Research in European Food History (ICREFH)“, das 1999 in Tampere, Finnland, stattfand. Die Beiträge beleuchten das Problem der Nahrungsbeziehungen von Stadt und
Land seit 1790 bis heute und verteilen sich auf drei voneinander abgesetzte Blöcke. Der erste
Teil umfasst eher traditionell angelegte Längsschnittarbeiten zur städtischen Nahrungsmittelversorgung. Dabei betont Peter A. Kolmees in seinem Aufsatz über die Fleischversorgung zu Recht,
dass die Rolle der Veterinärmediziner als Schlüsselfiguren für die hygienisch-technische Bewältigung der Versorgungsaufgaben bislang kaum berücksichtigt worden ist. Einem lange vernachlässigten Problem der Ernährungsgeschichte widmen sich die beiden Studien zum städtischen
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Besprechungen
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Gemüsekonsum in Deutschland und Slowenien sowie zu seiner Propagierung in Holland. Beat
Kümin setzt sich mit dem europäischen Wirtshaus und seiner vergessenen Rolle für die Nahrungsversorgung auseinander.
Der zweite Teil wendet sich dann den Schnittstellen zwischen Stadt und Land zu. Peter
Atkins thematisiert die Milchhaltung in britischen Städten um die Jahrhundertwende und verweist darauf, dass die Modernisierung der städtischen Ernährung keineswegs so einsträngig
verlief wie meist angenommen. Wie Annemarie de Knecht-van-Eekelen überzeugend zeigt,
zielte die holländische Schrebergartenbewegung auf eine Verbesserung der Versorgung von
Arbeiterfamilien ab; heute allerdings haben die Gärten primär Freizeitfunktion.
„Tradition, Krise und Innovation“ steht als Überschrift über dem dritten Teil, der eine Reihe
recht disparater Studien versammelt, so Maria Dentonis Aufsatz über die Krise der italienischen
Fleischversorgung während des Ersten Weltkriegs, Heather Holmes’ Studie über die schottischen Wildfrüchtesammlungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg, die erstaunliche Parallelen
zu Deutschland aufweisen, und Marjatta Hietalas Aufsatz über das Sammeln von Früchten und
Pilzen in finnischen Wäldern. Lydia Sapounaki-Dracaki beschreibt die Rolle der Kochbücher für
die Modernisierung der griechischen Kost. Den Abschluss bildet ein Aufsatz von Virginie
Amalien über die Rolle der Natur für Marketingstrategien der norwegischen Gastronomie.
Es handelt sich also um einen bunt gemischten Band, der ein Schlaglicht auf die Vielfalt der
interdisziplinären historischen Ernährungsforschung wirft, zugleich aber auch ein Zeugnis davon
ablegt, wie sich die ICREFH immer wieder neuen Themenfeldern zuwendet, ohne dabei den
1989 aufgenommenen Faden der europäischen Ernährungsgeschichte zu verlieren.
ULRIKE THOMS
Berlin
KAY PETER JANKRIFT: Krankheit und Heilkunde im Mittelalter (Geschichte kompakt Mittelalter).
WBG, Darmstadt 2003, 148 S., 14,90 e.
In den vergangenen Jahren sind zahlreiche einführende Reihenwerke erschienen, deren in der
Regel strenge Vorgaben zur Textgestaltung eine Gleichheit der Bände bewirken sollen, die aber
andererseits die Arbeit der Autoren nicht eben vereinfachen. Die Reihe „Geschichte kompakt“
verfolgt das Ziel, die Themen sowohl „für eine erste Begegnung“ aufzubereiten als auch die
Leser „umfassend mit dem Gegenstand vertraut zu machen“, so das Vorwort der Reihenherausgeber (S. IX).
Jankrift gelingt es durchaus, einen äußerst gerafften Überblick zur Geschichte der Medizin
und des gesellschaftlichen Umgangs mit Erkrankungen im Mittelalter zu geben. Einer kleinen,
quellenkundlich orientierten Einleitung folgen fünf Kapitel, die 1. den antiken Grundlagen und
ihrer handschriftlichen Tradierung, 2. der klösterlichen Gelehrsamkeit des 8.–12. Jh.s, 3. der
Herausbildung der medizinischen Studien im 12. Jh., 4. den Hospitälern und dem städtischen
Medizinalwesen des Spätmittelalters sowie 5. den wichtigsten Krankheiten wie der Pest, der
Lepra, dem Antoniusfeuer und der gegen Ende des Mittelalters auftretenden Syphilis gewidmet
sind. Die Darstellung wird durch zahlreiche enzyklopädische Einschübe auch einfacherer Begriffe wie z. B. Seuchen (S. 79) und einige im Text näher erläuterte Quellenauszüge ergänzt. Über
die reine Wiedergabe von Forschungsergebnissen geht Jankrift hinaus, wenn er in einem Anhang
sieben Quellentexte des 14.–16. Jh.s vor allem aus Soest abdruckt, die bisher der Forschung nicht
bekannt waren; der Autor, der über die Leprosen gearbeitet hat, greift hier auf eigene Grundlagen
zurück. Anerkennenswert ist das Bestreben, anschaulich zu schreiben und nicht nur trockene
Fakten zu liefern, auch wenn stilistisch mitunter leicht das Plakative gestreift wird; Studienanfänger und Laien, die Zielgruppe dieses Buchs, werden davon gewiss profitieren. Relativ breiter
Raum wird im Kapitel über die medizinische Versorgung den Beispielstädten Soest und MünVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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chen eingeräumt (S. 67–76). Die Darstellung der bedeutenden Pestzüge des 14. und 15. Jh.s ist
ebenfalls breiter angelegt und durch mehrere Exkurse zu Köln, Aachen und Dortmund wesentlich ergänzt (S. 80–105). Das Gleiche gilt für die Beschreibung der Lepra (S. 114–126). Es lässt
sich nicht verkennen, dass der Band einen eindeutigen Schwerpunkt auf dem Spätmittelalter hat
und teilweise weit ins 16. Jh. hineinreicht. Die bekannte und in ihrer Ausführlichkeit einzigartige
Lebensbeschreibung des Kölner Bürgers Hermann von Weinsberg wird mehrfach als Quelle
herangezogen. Dieser Ausgriff ist jedoch berechtigt, da der Epochengrenze um 1500 in der
Sozialgeschichte nur eine geringe Bedeutung beigemessen wird. Mit einer Skizze des erst seit
1529 im Reich auftretenden „englischen Schweiß“ endet das Werk. Das Literaturverzeichnis, das
auch eine Anzahl fremdsprachiger Werke aufführt, fällt mit fünf Seiten relativ knapp aus. Ein
Personen- und Sachregister erschließt den Text.
Es sei abschließend festgehalten, dass es sich bei den kompakten Einführungen trotz des
allumfassenden Anspruchs nicht um Handbücher handelt, die als Summen des Wissens konzipiert sind, so dass man den Autoren ein größeres Maß an Freiheit bei der Auswahl der Schwerpunkte wird zubilligen müssen. So gibt es keinen Rekurs auf eine mögliche Kultur-, Wahrnehmungs- bzw. Erfahrungsgeschichte des Krankseins, den manche vielleicht erwarten mögen; der
Autor betreibt eben Sozialgeschichte. Fragen der modernen Kulturgeschichte werden allenfalls
gestreift, beispielsweise bei der „allgemeinen Einschätzung“ der Geisteskranken durch die
Zeitgenossen als „gefährlich“ oder „abstoßend“, die für eine Wegsperrung in die Torenkisten
verantwortlich war (S. 59).
Kiel
HARM VON SEGGERN
PETER LESNICZAK: Alte Landschaftsküchen im Sog der Modernisierung. Studien zu einer Ernährungsgeographie Deutschlands zwischen 1860 und 1930 (Studien zur Geschichte des Alltags
21). Steiner, Stuttgart 2003, 411 S. (77 Tab., 19 Karten, 19 Abb.), 85,00 e.
Das Buch hat einen viel versprechenden Titel. Deshalb nimmt man es mit hohen Erwartungen zur
Hand und legt es nach der Lektüre mit manchen Enttäuschungen wieder weg. Das liegt nicht an
der Menge des Materials, die bearbeitet wurde. Denn der Autor hat vieles aus der anvisierten Zeit
herangezogen, so Haushaltsrechnungen, staatliche Statistiken, Autobiographien und regionale
wie allgemeine Kochbücher, schließlich textliche Darstellungen zu regionalen Unterschieden.
Deshalb wird jeder, der künftig über die mitteleuropäische Kost des ausgehenden 19. und
beginnenden 20. Jh.s arbeiten will, durch die Lektüre des Buches einen soliden Überblick über
das vorliegende Material erhalten. Aber über die regionalen Unterschiede und die mannigfachen
Wirkungen der Modernisierung vermittelt der Band nur wenig.
Das liegt vor allem daran, dass der Autor sich weitgehend auf die quantitative Analyse der
Nahrung konzentriert und sich offenbar nicht darüber im Klaren ist, worin in der Regel die
regionalen Akzente der Nahrung zum Ausdruck kommen. Es sind nämlich nicht die Verzehrmengen, die regionale Küchen charakterisieren, sondern Zubereitung und Zutaten. Ein einfaches
Beispiel mag das zeigen: Man braucht ähnlich viel Mehl für eine Portion Spätzle, Knödel,
Nockerl, Schmarren, ostpreußische Flinsen oder Dithmarsche Mehlbeutel. In der KonsumStatistik erscheint daher in allen Regionen der gleiche Wert, und doch sind die Speisen höchst
unterschiedlich. Deshalb können die mit Sorgfalt ermittelten Durchschnittswerte über den Konsum von „Vollpersonen“ (Menschen über 12 Jahre) kaum etwas über die Art der Landschaftsküchen aussagen.
Das scheint beim Butterkonsum anders zu sein, denn er ist „besonders aufschlussreich für
die Erstellung von Nahrungsräumen. Er liefert zudem den Beleg, wie verbreitet die Sitte des
Butterbrotessens im Deutschen Reich war“ (S. 51 f.). Aber statt das einfach zu behaupten, wäre
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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es aufschlussreicher gewesen, wenn der Verfasser seine statistischen Daten mit den Karten über
die Verbreitung der Sitte des Butterbrotessens in den ländlichen Orten Mitteleuropas verglichen
hätte. Immerhin kann er interpretierbare Karten über den Butter- und Margarinekonsum vorlegen
(Karten 16, 17), die zeigen, dass in Norddeutschland meist größere Mengen verzehrt wurden als
in Süddeutschland. Aber selbst bei diesem Musterbeispiel bleiben einige Fragen offen. Einmal
fällt auf, dass Mecklenburg 1927/28 den niedrigsten Butter- und Margarinekonsum aller deutschen Provinzen gehabt haben soll. Das dürfte jedoch nicht stimmen, da laut Umfragen des
„Atlas der deutschen Volkskunde“ von 1930 in Mecklenburg schon seit einigen Jahrzehnten als
Nebenmahlzeit an Werktagen Butterbrote gegessen wurden. Zudem listet der Verfasser in den
Tabellen 28 und 38 den Butter-, Schmalz- und Margarinekonsum auf. Sowohl in den Tabellen als
auch im begleitenden Text wird unter „Schmalz“ offenbar nur Schweineschmalz verstanden,
obwohl hinreichend bekannt ist, dass man im Süden damit immer Butterschmalz meint. Diese
Ungenauigkeit berührt die Aussagekraft der Tabellen, denn es spricht einiges dafür, dass für den
Süden die Kategorien „Butter“ und „Butterschmalz“ miteinander vermischt wurden.
In den darauf folgenden Kapiteln, denen Kochbücher und zeitgenössische Berichte zugrunde
liegen, stehen Speisen und Mahlzeiten im Blickpunkt. Dort findet man eine überwältigende Fülle
von Informationen über die Speisen in den einzelnen Regionen. Als generelle Tendenz in der
Entwicklung regionaler Speisen nennt der Verfasser immer wieder die Verbürgerlichung. Das ist
zweifellos richtig. Nur hätte man in einem Buch mit diesem Thema doch gerne Genaueres
gelesen, etwa bei welchen Mahlzeiten die bürgerlichen Vorbilder zunächst ansetzten und welche
Kreise der Landbevölkerung und der Arbeiter die bürgerlichen Kostformen besonders bereitwillig übernahmen. Auch in anderen Teilen des Buches weicht der Verfasser detaillierten Erörterungen aus. So lautet z. B. eine Überschrift „Süddeutschland: Ein Reliktgebiet traditioneller Speisesitten?“, aber im Text findet man dann nichts mehr zu dem spannenden Thema. Die Fragen, die
mit der Modernisierung der mitteleuropäischen regionalen Kost im 19. und 20. Jh. zusammenhängen, erfordern also noch manche gründliche Auseinandersetzung.
Münster
GÜNTER WIEGELMANN
WOLFGANG SCHMALE: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000). Böhlau, Wien/Köln/
Weimar 2003, 327 S. (zahlr. Abb.), 29,90 e.
Seit geraumer Zeit schon hat das Thema Mann/Männlichkeit, insbesondere die Frage nach der
„Krise“ des Mannes Konjunktur. Und doch ist es überraschend, dass es bisher eine Geschichte
der Männlichkeit im Sinne einer vom Verfasser intendierten historischen Synthese von entsprechenden Modellvorstellungen noch nicht gibt. Die Fülle des herangezogenen anschaulich-informativen Materials und das umfangreiche Literaturverzeichnis belegen zwar die Menge der
vorhandenen einschlägigen Detailstudien aus vielerlei Wissenschafts- und Erfahrungsbereichen,
aber eine Darstellung wie die vorliegende, die sich zum Ziel gesetzt hat, sich auf die Geschichte
der Männlichkeitsforschung einzulassen und die in Europa über mehrere Jahrhunderte vorherrschenden Männlichkeitskonzepte in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, betritt
höchst verdienstliches – und wie der Autor beansprucht: experimentelles – Neuland.
Zunächst wird mit dem Idealtypus des „neuen Adam“, mit dem antike und mittelalterliche
Vorstellungen verknüpft werden und der ab dem 15./16. Jh. eine besondere Verbreitung erfährt,
begründet, warum der Autor seine Zeitschritte, die bis in das 21. Jh. führen, mit dem 15./16. Jh.
beginnen lässt und welchen variablen Rahmen er mit dem Bezug auf Europa (mitunter unter
Einbeziehung von Amerika in der Neuzeit) wählt bzw. welche Probleme sich aus soziokulturellen und geographischen Transfers mit ihren Unterschieden in den jeweilig bestehenden Kommunikationsnetzen ergeben. Mit dem „neuen Adam“ werden im ersten Kapitel das männliche Selbst
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um 1500, das frühe autobiographische Schreiben und die christliche Anthropologie zusammengefasst, von denen aus der Verfasser die neuen jeweils vorherrschenden Markierungen von
Männlichkeit herauszukristallisieren sucht. Seine Ausführungen gliedern sich leicht nachvollziehbar in noch vier weitere, verschiedenen Jahrhunderten chronologisch gewidmete Kapitel, die
nicht ohne orientierende Rück- und Vorverweise auf für wichtig erachtete Differenzierungen und
Einschränkungen bleiben. Den Kapiteln, die die Männlichkeiten des 16. Jh.s unter dem Stichwort
des Mannes der Renaissance als „Magier“ behandeln, diejenigen der höfischen und Konsumgesellschaft des 17. und 18. Jh.s unter „Heroen und Liebhaber“ und schließlich die der bürgerlichen
Gesellschaften des 18., 19. und 20. Jh.s unter dem Konzept der „Hegemonie“, werden jeweils als
Ausgangspunkt die intensive Interpretation eines zeitgenössischen Lebensberichtes – Beispiele
sind Benvenuto Cellini, Samuel Pepys und Ulrich Bräker – vorangestellt, was den Darlegungen
sehr aufschlussreiche Facetten hinzufügt und dichte Annäherungen und zugleich Distanzierungen zum Untersuchungsbereich mit sich bringt. Durch die Kapitel ziehen sich relativ einheitliche
Fragen nach der Anthropologie des jeweiligen Zeitabschnittes, nach Ehe, Vaterschaft, Freundschaft, Sexualität und mann-männlicher Soziabilität und nach Männerräumen und immer wird
auch nach Verunsicherungsbewusstsein geforscht. Das letzte (fünfte) Kapitel gilt den „polymorphen Männern“, d. h. den Männlichkeiten in der Gesellschaft der Gegenwart. Sie befinden sich in
einer völlig neuen Situation, in der ein breites Spektrum der Akzeptanz von Männlichkeits(und
Weiblichkeits-)konzepten sich entwickelt hat und sie erweiterte und individualisierende Möglichkeiten haben, kulturell Mann zu sein, was allerdings neue Probleme mit sich bringt.
Das Buch ist sehr ansprechend mit vielen Abbildungen versehen, auf die im Text ausführlich
Bezug genommen wird. Und jedem Kapitel ist eine Graphik, eine mindmap, beigegeben zur
ordnenden Visualisierung der vom Autor hervorgehobenen Komponenten von Männlichkeiten
für die verschiedenen Zeiten und Konzeptionsschwerpunkte.
Wer auch nur ein klein wenig Neugier und Interesse an der Geschlechterthematik mit dem
(hier keineswegs ausschließlichen) Fokus auf den Mann hat, der kann aus der Lektüre großen
Gewinn ziehen, denn sie bringt unzählige glänzend aufbereitete Anregungen, die man sich nicht
entgehen lassen sollte.
Hamburg
MARIE-ELISABETH HILGER
DAVID M. TURNER: Fashioning Adultery. Gender, Sex and Civility in England, 1660–1740 (Past
and Present Publications). Cambridge U. P., Cambridge 2002, 236 S., 40.00 £.
David M. Turner legt mit diesem Buch die erste Übersicht über Ehebruch in England vor, oder
wie es in der Zusammenfassung präziser heißt: „representations of Adultery“ im späten 17. und
frühen 18. Jh. Gegliedert ist die quellennahe Studie entlang von Quellengattungen: Die ersten
drei Kapitel der Oxforder Dissertation aus der Schule von Martin Ingram beschäftigen sich mit
didaktischen und literarischen Texten über den Ehebruch, wie etwa Predigten, Traktaten, Verhaltenslehrbüchern und Theaterstücken. Das vierte Kapitel hat den journalistischen Niederschlag
der Thematik zum Gegenstand, zum Beispiel in Fällen, in denen Eifersuchtsdramen zu Mord und
Totschlag führten. Die beiden letzten Kapitel basieren auf Gerichtsakten. Und hier erwartet den
Leser eine Überraschung: Es geht nicht um weltliche Strafprozesse wegen Ehebruchs (adulterium), wie sie in Deutschland bis ins 18. Jh. vorkamen, sondern um Verfahren vor dem Kirchengericht (Kap. 5, S. 143–171) sowie um Zivilprozesse (Kap. 6, S. 172–193), in denen betrogene
Frauen ihre Ehemänner wegen Schadensersatzes verklagten. Dies geschah in der Absicht, den
Ehebrechern den größtmöglichen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen und dadurch Rache zu
üben bzw. Satisfaktion zu erlangen, weniger wegen des Ehrverlusts, als wegen der entgangenen
virtuellen Ehefreuden. Je nach Stand und Vermögen des Beklagten konnte es hier um sehr hohe
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Summen gehen, die in Einzelfällen an die 50.000 Pfund Sterling heranreichten. Dieses Verfahren, das unter dem terminus technicus „crim[inal] con[versation]“ bekannt war, gewann seit dem
ausgehenden 17. Jh. steigende Bedeutung und bildet einen überzeugenden Beweis für die These
des Autors, dass sich im gesellschaftlichen Umgang mit Ehebruch gerade im Untersuchungszeitraum ein grundlegender Wandel vollzogen habe.
Die These, dass sich die Welt der Aufklärung bis in ihre privaten Verästelungen hinein von
jener des Zeitalters der Religionskriege unterscheidet, kann nicht wirklich überraschen, zumal in
England der religiöse Rigorismus der Bürgerkriegszeit nicht einfach nur unter dem Beton einer
absolutistischen Staatsräson begraben, sondern nach der Glorious Revolution durch allseitige
Attacken zersetzt und neutralisiert wurde. Turner fängt an der Nahtstelle von 1660 gerade noch
jene religiöse Interpretation des Ehebruchs ein, die für das Zeitalter der Religionskriege und noch
im „Adultery Act“ von 1650 charakteristisch gewesen war: Wer sündigt, verletzt die göttliche
Ordnung und fordert Gottes Strafen heraus, nicht nur für sich selbst, sondern für die Gesellschaft.
Die Gründe, warum sich dieses Paradigma bereits während der Restaurationszeit aufzulösen
begann, sind vielschichtig und beginnen bei der entspannten Haltung, welche der Hof Karls II.
solchen Fragen entgegenbrachte. Strafrechtlich wurde Ehebruch bedeutungslos und die Kirchengerichte erfassten wegen des Aufstiegs der Freikirchen nur noch Teile der Gläubigen. Seit der
Glorious Revolution wurden Eheangelegenheiten tendenziell dem Privatbereich zugerechnet.
Infolge einer Domestizierung der Frauen wurde vermehrt Männern die Schuld am Ehebruch
zugeschrieben, und schließlich änderten sich die Auffassungen in der Frage, welche Formen der
Sexualität gesellschaftlich tolerierbar waren und welche nicht. Die Ursachen für diese Veränderungen sieht Turner in der gesellschaftlichen Differenzierung – wirtschaftshistorische Fragen im
engeren Sinn werden nicht thematisiert – und der veränderten Medienlandschaft nach dem
Auslaufen des „Licensing Acts“. Moralische Wochenschriften (The Tatler, The Spectator etc.)
verdeutlichten, dass in derselben Gesellschaft unterschiedliche moralische Welten existierten,
genauso wie es auch eine Pluralität von Meinungen über Politik, Religion etc. gab. Dadurch
wurde es möglich, in verschiedenen „Sprachen“ über den Gegenstand zu sprechen, etwa im Code
der höfischen Galanterie oder dem der Liebesromanze. Zudem thematisierten Zeitschriften wie
der „Athenian Mercury“ soziale Ursachen des Ehebruchs wie das unzulängliche Scheidungsrecht.
Im Zentrum der Arbeit Turners steht die Säkularisierung des Privatlebens in einem Prozess
der Zivilisierung. Die Auseinandersetzung mit Max Weber oder Norbert Elias wird jedoch
versäumt. Letzterer habe zu wenig zur Frage des Ehebruchs gesagt (S. 12). Weber erscheint nicht
einmal in der Bibliographie, stattdessen dienen Autoren wie Faramerz Dabhoiwala – mit einer
unveröffentlichten Dissertation über „Prostitution and Police in London“ (1995) – als Stichwortgeber. In der umfangreichen Bibliographie (S. 205–228) wird ausschließlich englische Literatur
aufgelistet. So steht man dieser gedankenreichen Arbeit am Ende zwiespältig gegenüber. Die
originelle Tiefenbohrung hat zu Recht in den renommierten „Past and Present Publications“
ihren Platz gefunden. Trotzdem muss man Bedenken anmelden, wenn der Autor, der so meisterhaft mit Quellen umzugehen versteht, seine Ergebnisse nicht in einen europäischen Rahmen
stellt. So findet er immer nur spezifisch englische Gründe für Entwicklungen, die in anderen
Gegenden Europas genauso stattfanden und verstellt sich selbst den Blick auf tiefer liegende
Ursachen.
Saarbrücken
WOLFGANG BEHRINGER
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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3. Einzelne soziale Gruppen
ANJA VICTORINE HARTMANN: Reflexive Politik im sozialen Raum. Politische Eliten in Genf zwischen 1760 und 1841 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz,
Abteilung für Universalgeschichte 200). von Zabern, Mainz 2003, X u. 607 S. (57 Tab., 34
Graphiken, 11 Abb.), 59,50 e.
Mit seinen 553 eng bedruckten Textseiten verdient diese durch ein Projekt des Instituts für
europäische Geschichte ermöglichte Mainzer Habilitationsschrift wie einst eine französische
Thèse d’État das Prädikat „erschöpfend“ – für die Sache, die Quellen, wahrscheinlich auch für
die Autorin und sicher für den Leser. Im umfangreichsten ersten Teil wird detailliert die
Entwicklung des Genfer politischen Systems erzählt, vom Konflikt um das Verbot von Schriften
Rousseaus 1762 bis zur freiwilligen Ablösung der Ratsoligarchie, die in der Zwischenzeit
diverse Metamorphosen erlebt hatte, durch eine demokratische Verfassung 1841. Schon 1782
spielte eine französische Intervention die ausschlaggebende Rolle, anschließend lief der Einfluss
der Revolution auf die Angliederung an Frankreich 1798–1813/14 hinaus. Wichtiger war dabei
die Entwicklung der Genfer politischen Klasse in Konflikten alter und neuer Eliten zu neuer
Homogenität im 19. Jh. Die verschiedenen, bereits in diesem Teil deutlich voneinander abgegrenzten Gruppen werden im zweiten Teil sozialgeschichtlich, im dritten kulturgeschichtlich
untersucht, um die Entstehung jener „kommunikativen Macht“ aufzuzeigen, die ungeachtet
gelegentlicher gewaltsamer Eruptionen eine im Ganzen friedlich-reformistische Entwicklung
ermöglichte. Weniger Generationenzusammenhänge als Familiennetzwerke und sozioökonomische Verhältnisse waren dabei von Bedeutung, freilich nicht im Sinne einseitiger Kausalität einer
Abhängigkeit des politischen Systems, sondern erwartungsgemäß zirkulär im Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit. Kulturell weist die Information über Wohnung und Kleidung, großenteils
aus Nachlassinventaren, auf deutliche, aber maßvolle Unterschiede zwischen den beteiligten
Gruppen hin, während die aus Ego-Dokumenten paradigmatisch rekonstruierten lebensweltlichen Erfahrungsräume Ehe, Familie, Erziehung, Geselligkeit sich deutlicher als Orte der Entstehung „kommunikativer Macht“ präsentieren. Diesen Erzählungen zugeordnet sind theoretische
Reflexionen, in denen kaum ein Name fehlt, den man heute zitieren muss, von Arendt über Beck,
Bourdieu, Habermas, Koselleck, Luhmann bis Schulze. Auch diese theoretischen Passagen sind
souverän, kohärent und in sich überzeugend. Weniger überzeugend erscheint mir wie häufig in
solchen Fällen der innere Zusammenhang von Theorie und Empirie. Die Verfasserin mag von der
Theorie bisweilen zu besserem Verständnis ihrer Befunde inspiriert worden sein, hätte ihre
Geschichte aber m. E. auch ohne sie erzählen können, wie sie es oft genug auch tut. Allenfalls die
in den Titel eingegangene eigenwillige Anwendung der auf die Gegenwart bezogenen Theorie
der „reflexiven Moderne“ nach Beck als „reflexive Politik“ schon in der Frühneuzeit ist konstitutiv für das Buch: eine Politik, die das politische System selbst in Frage stellt und transformiert.
Solche Vorgänge in einer Gemeinde von ca. 25.000 Einwohnern als paradigmatisch für moderne
Staatsbildung zu bezeichnen, lässt sich freilich höchstens mit (wahl)schweizerischem Patriotismus rechtfertigen. Zwar kann man viel aus dem Buch lernen, aber das wäre auch auf den 15
Seiten möglich, mit denen es 2002 der Mainzer Akademie vorgestellt wurde. Die durch ein
vorzügliches Personenregister erschlossene Masse des Materials ist m. E. nur für Genfer von
Interesse.
Freiburg
WOLFGANG REINHARD
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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SIBYLLE MALAMUD: Die Ächtung des „Bösen“. Frauen vor dem Zürcher Ratsgericht im späten
Mittelalter (1400–1500). Chronos, Zürich 2003, 379 S. (Anhang mit Abb. u. Tab.), 39,90 e.
Monika Weimar – mit diesem aktuellen Beispiel erläutert Malamud das Anliegen ihrer Dissertation – wurden in der öffentlichen Diskussion die Vernachlässigung ihrer beiden Töchter und
schließlich der Mord an ihnen zugetraut und als Folge „typisch weiblicher“ Eigenschaften wie
Charakterschwäche, Selbstsucht, sexueller Hörigkeit verstanden. Wenn Geschlecht aber – davon
geht die Genderforschung aus – eine gesellschaftliche Konstruktion und kulturelle Zuschreibung
ist, so muss dies auch für deviantes Verhalten gelten. Die Analyse von Gerichtsfällen ist damit
geeignet, zeitgenössische Stereotype über geschlechtsspezifisches Verhalten herauszuarbeiten,
ja mehr noch, entsprechende Praktiken der Stigmatisierung wie Machtstrukturen und die dahinter
verborgenen Angst- und Abwehrmechanismen aufzudecken. Am Beispiel der Zürcher Rats- und
Richtbücher belegt Malamud eindrucksvoll diese Ausgangshypothese und verdeutlicht damit
erneut die Produktivität der in den letzten Jahren boomenden Beschäftigung mit Rechtsquellen
gerade aus dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Das Corpus der Protokolle des
Zürcher Ratsgerichtes über „Übeltätige Leute“, die Malamud über einen Zeitraum von knapp 150
Jahren verfolgt, ergänzt sie durch weitere Quellen – etwa Steuerbücher –, die Auskunft über die
soziale Situation der Delinquentinnen geben.
Qualitative Fallanalysen stehen im Mittelpunkt der Arbeit: so die Untersuchung der narrativen Strukturen und Argumentationsmuster einer Klage. Sodann werden „Sozialprofile“ der
„Hauptdarstellerinnen“ herausgearbeitet. Die Einzelergebnisse werden unter Zuhilfenahme einer
computergestützten seriellen Auswertung diskutiert und eingeordnet, die in zahlreichen Tabellen
und Darstellungen festgehalten wird. Dieses gemischte Verfahren bewährt sich und führt zu
differenzierten Ergebnissen. Diese sind zwar nicht spektakulär, doch sind sie geeignet, manche
in der Fachliteratur verbreitete Vorstellungen in Frage zu stellen bzw. zurechtzurücken.
Insgesamt bestätigten sich die bekannten Geschlechterrollen, Ehekonzepte und Moralvorstellungen. Die meisten Klagen wurden von „in Zürich sesshaften, sozial integrierten und
verheirateten Handwerkerfrauen“ erhoben. Während die Konflikte unter Männern sich meist um
die Klärung wirtschaftlicher Fragen drehten, standen bei Frauen Fragen der sexuellen Integrität
im Mittelpunkt. Diese waren dabei aber nicht so dominierend, wie bisher angenommen wurde.
Der städtische Rat als obrigkeitliche Instanz legitimierte das normative Programm der Geschlechterordnung – ein „Zusammenspiel“ rechtlicher und sozialer Kontrollen also. Diese Übereinstimmung war jedoch nicht immer harmonisch. Interessant sind die Beispiele, in denen neue
Formen der Konfliktlösung gesucht und erprobt wurden. Dabei werde – so eine der zentralen
Aussagen Malamuds – die Schutzfunktion, die die Kleinfamilie gerade für Frauen erfüllt haben
soll, bisher zu positiv bewertet. Die Angehörigen ließen angeklagte Frauen vielmehr oft im Stich,
insbesondere wo es um „divergierende materielle Interessen“ ging.
Der mit dieser Dissertation beschrittene Weg überzeugt restlos. Es steht zu hoffen, dass
zahlreiche weiterführende Fragen auf ähnliche Weise beantwortet werden; einige benennt Malamud am Schluss selber, so jene nach den weiblichen sozialen Netzwerken.
Flensburg/Berlin
BEA LUNDT
JOACHIM SCHNEIDER: Spätmittelalterlicher deutscher Niederadel. Ein landschaftlicher Vergleich
(Monographien zur Geschichte des Mittelalters 52). Hiersemann, Stuttgart 2003, XVI u. 630 S.
(zahlr. Abb. u. Tab.), 198,00 e.
Die vorliegende Würzburger Habilitationsschrift widmet sich einer Kernfrage mittelalterlicher
Sozial- und Verfassungsgeschichte: Es geht um die „Unterschiede der Existenzbedingungen von
sozialen Formationen des Niederadels“ (S. 3) im spätmittelalterlichen Reich, wobei sowohl die
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Binnendifferenzierung und Außenabgrenzung als auch „die Analyse des jeweiligen sozioökonomischen Profils dieser Formationen“ (S. 20) in Angriff genommen werden. Als Niederadelsformationen versteht Schneider „landschaftliche Eliten, die aufgrund regionaler Raster der Selbstund Fremdeinschätzung zum jeweiligen Adel gerechnet wurden“ (S. 542). Für seine Untersuchung wählt er den Vergleich niederadliger Lebensumstände in den durchaus unterschiedlich
geprägten Adelslandschaften Bayern, Franken und Sachsen – mit Seitenblicken u. a. nach
Österreich, Brandenburg und Böhmen. Dieser Ansatz erweist sich als innovativ, da die bisherige
Adelsforschung entweder von engeren familien- oder landesgeschichtlichen Betrachtungen oder
von einer bisweilen zu homogenisierenden reichs- bis europaweiten Perspektive geprägt war.
Die Quellenbasis der Studie bilden vor allem Lehenbücher und Namenslisten in Form von
Landsassenverzeichnissen, Einungsbriefen, Turnierlisten, Landtagsausschreibungen sowie Aufgebots- und Steuerregister. Der Verfasser geht bei der prosopographischen, oft sogar quantifizierenden Auswertung pragmatisch vor, will sich „von den Aussagemöglichkeiten der Quellen
leiten“ (S. 19) lassen und weist dabei zu Recht auch auf die Raumbildung durch die Quellen
selbst hin.
Schneider wählt verschiedene Vergleichsparameter, an denen er unter genauer Beachtung
landschaftlicher Besonderheiten Typologien niederadliger Existenz und ihres Wandels entwickelt: So untersucht er u. a. die Zugehörigkeit zum Turnieradel, herrschaftlich-funktionale
Differenzierung innerhalb des Niederadels, sozioökonomische Rahmenbedingungen, die Bedeutung des Lehnswesens für eine fürstliche Integration des Niederadels und mehr. Aus den
zahlreichen, teilweise sogar überraschenden Ergebnissen sei nur hervorgehoben, dass die Quoten
vom Eintritt neuer Familien in den Niederadel ermittelt werden konnten: Sie variierten ausgeprägt von den sehr statischen Verhältnissen in Mainfranken bis zu den offeneren Gegebenheiten
in den bayerischen Herzogtümern, wo im Verlauf eines halben Jahrhunderts 30 bis 50 Prozent
Aufsteiger in Erscheinung traten. Insgesamt, so resümiert der Verfasser, habe man bei allen
regionalen bis lokalen Eigenheiten in der Sozial- und Herrschaftsstruktur „im landschaftlichen
Rahmen mit einem ständigen sozialen Wandel“ (S. 547) zu rechnen, dessen Rekonstruktion nicht
zuletzt der Verfassungsgeschichte des Alten Reichs wichtige Erkenntnisse liefern kann. Das
wird im letzten Abschnitt des Bandes über den „Niederadel als politische Kraft im Reich und in
den Regionen im 15. Jahrhundert“ (Kap. VIII) exemplifiziert.
Schneiders materialreiches Buch bietet neben den übergeordneten Ergebnissen viele interessante Einzelbeobachtungen zu den untersuchten Regionen. Einzig die terminologische Skepsis
des Verfassers gegenüber dem Begriff „Stadtadel“ (S. 325) überrascht etwas, da er selbst die
Vielgestaltigkeit adliger Lebensformen anschaulich aufzeigt. Freilich war der Stadtadel an den
genossenschaftlichen Normenhorizont der Stadtgemeinde gebunden, doch übte er zumindest
extra muros Herrschaft aus, was neben der Adaption (land)adliger Lebensformen einen weiteren
Reizpunkt für den landsässigen Adel ausmachte. Dass dieser der Sphärenüberschreitung des
Stadtadels Grenzen ziehen und einen sozialen Abstand entstehen lassen wollte – und dies z. B. in
den Turnierbeschränkungen auch tat – beeinträchtigt die sozialgeschichtliche Aussagekraft des
Begriffs „Stadtadel“ nach Meinung des Rezensenten nicht. Doch nicht nur in dieser Frage bietet
das Buch manche Spur an, die zukünftige Forschungen zum Thema aufnehmen könnten und
sollten. Insgesamt ist Schneider ein außergewöhnliches, überzeugendes Werk gelungen.
Kiel
GABRIEL ZEILINGER
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Besprechungen
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CINZIA VILLANI: Zwischen Rassengesetzen und Deportation. Juden in Südtirol, im Trentino und in
der Provinz Belluno 1933–1945 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs/Publicazioni
Dell’Archivo Provinciale di Bolzano 15). Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 2003, 208 S.,
25,00 e.
In ihrer sorgfältig recherchierten Studie gelingt es Cinzia Villani, historische Vorgänge zu
behandeln, die über die Region Südtirol und die Provinzen Trentino und Belluno sowie über
Italien hinaus interessieren, was die Übersetzung sicher rechtfertigt. Die Bedeutung ihres Buchs
über die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Juden in der genannten Region liegt nicht
in deren Zahl oder wirtschaftlicher/kultureller Stellung begründet, sondern im historisch interessanten Sonderfall, den diese Provinzen darstellten. Aufgrund ihrer gemischtnationalen Bevölkerung wurden sie sowohl von Italien als auch von Hitler-Deutschland als Einflussgebiete gesehen.
Dies machte die Region anfällig für den Antisemitismus. Während die deutschsprachige Bevölkerungsgruppe insbesondere in Südtirol den nationalsozialistischen rassistischen Antisemitismus übernahm, war der italienisch-faschistische Antisemitismus trotz rassistischer Kriterien bei
der Definition jüdischer Abstammung in erster Linie von Fremdenfeindlichkeit geprägt und kam
zunächst auf administrativer Ebene zum Tragen. Da die Mehrheit der in der Region lebenden
Juden ZuwanderInnen waren, wirkte sich jedoch auch Letzterer, der bis 1943 vorherrschte,
bereits verheerend aus und resultierte in einer für Italien zunächst untypisch rigorosen antijüdischen Verfolgungs- und Vertreibungspolitik, welche ab September 1943 in die unter deutscher
Vorherrschaft durchgeführten Deportationen und Vernichtung der italienischen Juden überging.
Dabei war Italien, wie Villani im ersten Kapitel ausführt, nach der Machtübernahme der
Nationalsozialisten in Deutschland aufgrund seiner offenen Grenzen zunächst ein Zufluchtsland
für deutsche Juden gewesen. Dies änderte sich schlagartig mit dem „Anschluss“ Österreichs an
das Deutsche Reich im März 1938. Neben strikten Einreisebeschränkungen wurden auch gegen
die bereits ansässigen Juden existenzbedrohende Aufenthalts- und Beschäftigungsverbote erlassen, welche ImmigrantInnen häufig zum mehrmaligen Wechsel ihres Wohnorts innerhalb Italiens zwangen. Anhand akribischer Forschungen in 28 Archiven, darunter 18 Gemeindearchiven,
gelingt es Villani, die mit erstaunlichem Eifer und Aufwand durchgeführten antijüdischen
Verfolgungsmaßnahmen zu dokumentieren. Trotz der diese Maßnahmen begleitenden antisemitischen Pressekampagnen überrascht das schlagartige Kippen auch des gesellschaftlichen Klimas
zu Ungunsten der jüdischen Bevölkerung. Dies veranschaulicht Villani vor allem anhand von
sorgfältig recherchierten Einzelschicksalen und Interviews mit ZeitzeugInnen. Vor allem im
zweiten Kapitel, das vielfältiges statistisches Material zur jüdischen Bevölkerung Südtirols und
der Provinzen Trentino und Belluno vorlegt, zeigt Villani eindrucksvoll, wie rigoros die Verfolgungsmaßnahmen durchgeführt und mit welcher Akribie die Juden von den Behörden ausgeforscht wurden. Dabei war der administrative Aufwand relativ hoch. Sowohl ihre soziale Struktur wie auch ihre Größe belegen jedoch die Absurdität der von der Regierung behaupteten
Gefährlichkeit dieser Gruppe. Indem Villani viele Einzelschicksale vorstellt, zeigt sie das Ausmaß der menschlichen Tragödien. Das dritte Kapitel behandelt die ab Juni 1940 verhängte
Internierung, die neben ausländischen Juden – mit Ausnahme von Angehörigen neutraler Staaten
– auch als „gefährlich“ eingestufte jüdische Italiener, insgesamt etwa 6.000 Personen, betraf.
Diese wurden entweder in so genannten „Konzentrationslagern“ in Mittel- und Süditalien interniert, die trotz physisch und psychisch belastender Lebensbedingungen mit jenen Hitler-Deutschlands nicht zu vergleichen waren, oder zum Zwangsaufenthalt in bestimmte Gemeinden verschickt. Letztere Internierungsform war zunächst Frauen vorbehalten, ab 1941 wurde sie auch
auf Männer ausgedehnt. Wie eine von Villani zitierte Studie über die Internierten in Mel in der
Provinz Belluno zeigte, hegte die Ortsbevölkerung keine antisemitischen Gefühle. Kontakte mit
Internierten wurden seitens der faschistischen Funktionäre zwar verboten, ließen sich aber
besonders unter jüngeren Menschen nicht ganz unterbinden. Obwohl Villani nachweist, dass die
Politik des faschistischen Italien gegenüber Juden keineswegs so wohlwollend war, wie dies
häufig behauptet wird, ist ihre Darstellung der Vorgangsweise der Behörden und der Haltung der
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Bevölkerung durchwegs differenziert. Dies trifft vor allem für das vierte Kapitel des Buches zu,
das sich mit dem Schicksal der Juden in den zwanzig Monaten der Okkupation Italiens durch
Deutschland befasst. Auf Befehl Hitlers vom 10. September 1943 wurden die Provinzen Bozen,
Trient und Belluno in der „Operationszone Alpenvorland“ zusammengefasst, ihre Zivilverwaltung dem Gauleiter von Tirol, Franz Hofer, unterstellt. Noch im selben Monat begann die
Verhaftungswelle gegen alle hier verbliebenen Juden, wobei der im selben Jahr gegründete
„Sicherheits- und Ordnungsdienst“ (SOD) der deutschsprachigen Südtiroler eine wichtige Rolle
als Hilfspolizei spielte. Überhaupt wirkte, wie Villani feststellt, die deutschsprachige Bevölkerung der Provinz Bozen am bereitwilligsten an den Verfolgungsmaßnahmen mit, während die
Italiener der anderen Provinzen sich mehrheitlich nur gezwungenermaßen daran beteiligten und
Juden häufig zur Flucht verhalfen bzw. versteckten. Die Offenheit der deutschsprachigen Südtiroler für den Nationalsozialismus und Antisemitismus erklärt die Autorin mit der Zwangsitalienisierung des faschistischen Regimes und der Verbesserung ihrer Lage durch das Optionsabkommen von 1940. Allerdings weist sie auch nach, dass die gesellschaftliche Ausgrenzung der
Südtiroler Juden schlagartig bereits 1938 eingesetzt hatte. Die festgenommenen Juden wurden
meist über das Lager Reichenau in den Osten und damit mehrheitlich in den Tod deportiert.
Einem Teil gelang – meist mit Hilfe von Einheimischen – die Flucht in die Schweiz oder das
Untertauchen in italienischen Städten. Villani lässt nicht unerwähnt, dass die Strafen gegen
Personen, die an den Verhaftungen und Verfolgungsmaßnahmen beteiligt waren, nach dem
Krieg überaus gering ausfielen.
Die Verbindung der Darstellung der administrativen Maßnahmen und der dahinter stehenden Entscheidungsfindung mit jener der direkten Auswirkung auf die Betroffenen ist neben der
soliden wissenschaftlichen Fundierung der große Vorzug dieser Studie. Dass es der Autorin nicht
nur um die Rekonstruktion historischer Ereignisse, sondern auch um die Erinnerung an die
Verfolgten und Ermordeten geht, verdeutlicht die im Anhang veröffentlichte Liste der Opfer.
Wien
ELEONORE LAPPIN
ULRICH VONRUFS: Die politische Führungsgruppe Zürichs zur Zeit von Hans Waldmann (1450–
1489). Struktur, politische Networks und die sozialen Beziehungstypen Verwandtschaft, Freundschaft und Patron-Klient-Beziehung (Geist und Werk der Zeiten 94). Lang, Bern u. a. 2002, 412
S. (4 Faltblätter), 48,30 e.
Die Erforschung deutscher Städte der Vormoderne hat sich, was die städtischen Eliten angeht,
zunächst auf Verfassungs-, Norm- und Wirtschaftsentwicklung konzentriert. Die Sozialgeschichte
ist seit Erich Maschkes wegweisenden Arbeiten wichtiger Teil deutschsprachiger Stadtgeschichtsforschung, doch fehlen zumeist bis 1500 die Quellen, um die Kernprobleme städtischer Sozialgeschichte – Familie, Haushalt, Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft – anzugehen und sie
u. a. mit sozialempirischen, historisch-anthropologischen und kulturgeschichtlichen Methoden
auszuleuchten. Immerhin sind seit den 1970er und verstärkt den 1990er Jahren (z. B. die Gruppe
um Wolfgang Reinhard) zahlreiche Untersuchungen erschienen, so dass mir der reflexartige
Kotau vor der angelsächsisch und französisch geprägten Florenz-Forschung unangebracht erscheint. Florenz – die europäische Megacity des 14. und 15. Jh.s – ist eine Ausnahmeerscheinung
der europäischen Stadtgeschichte. Zürich dagegen repräsentiert mit seinen ungefähr 5.000 Bewohnern und seiner wenig entwickelten Ökonomie den oberen Rand der Klein- und kleinen
Mittelstädte, die im Spätmittelalter ungefähr 95 Prozent der Städtischkeit im Reich ausmachten.
Die Verhältnisse, von denen Vonrufs’ anregende Zürcher Dissertation handelt, sind daher auch
im kleineren Maßstab des Reiches und seiner großen Städte bescheiden, was man schon daran
sieht, dass die Mitglieder des innersten Führungszirkels Zürichs der zweiten Hälfte des 15. Jh.s
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ein Steuervermögen von gerade einmal 2.000 Gulden aufwiesen. Zürich aber, das macht die
Arbeit deutlich, genießt vor Nürnberg, Köln, Augsburg, Erfurt und Lübeck den Vorteil besserer
Quellenlage. Allein die Privatbriefüberlieferung fehlt, aus der die vergleichbare Untersuchung
Simon Teuschers über Bern so großen methodischen Gewinn zog. Das führte vielleicht auch zur
Entscheidung Vonrufs’, sich auf die Verflechtungsanalyse zu konzentrieren. So liest die Studie
sich wie eine Arbeit um 1990. Es fehlt ihr fast gänzlich ein erfahrungs- oder kulturgeschichtlicher Zugang, die handelnden Menschen selbst kommen nur eher situativ in den Blick. Sie sind
soziale Muster: Verwandte, Freunde, Patrone und Klienten, und ihre Verbindungen entsprechen
Beziehungstypen. Das ältere quantitative Modell sozialgeschichtlichen Verstehens hat nach wie
vor seine Berechtigung, es sollte aber heute um weitere methodologische Aspekte erweitert
werden.
Vonrufs entfaltet seine Problemstellung – Network-Analyse und Beziehungstypologie der
politischen Führungsgruppe Zürichs zwischen ca. 1450 und 1490 – in drei Schritten. Zunächst
geht es auf der Basis von „Verfassung und Verfassungswirklichkeit“ um die Identifizierung der
politischen Führungsgruppe im Kleinen und Großen Rat und im Zunftmeisterkollegium, in den
Zünften und der Konstaffel. Im zweiten Teil werden die Usancen von „Verwandtschaft, Freundschaft und die Patron-Klient-Beziehung“ am Verhalten der politischen Führungsgruppe bemessen und diskutiert. Der dritte Teil ist schließlich der eigentlichen Verflechtungsanalyse vorbehalten, es geht um Network und Verwandtschaft Hans Waldmanns, um seine Freunde und Klienten,
es geht endlich in einer „Pilotstudie“ um die Verflechtungen in der Konstaffel, der ehrbarsten
sozialen Gruppe der Zürcher Oberschicht.
Vonrufs’ Untersuchung kann wichtige, über die städtische Individualität Zürichs hinausgehende Ergebnisse vorweisen: Der innerste Führungszirkel im Kleinen Rat, wechselnd zusammengesetzt aus den ersten Zünften und der Konstaffel, war mit Ausnahme der Bürgermeister
nicht über das Amt definiert. Die sieben bis neun Männer bildeten auch keine geschlossene
soziale Gruppe im Sinne von aktueller oder aktualisierbarer Verwandtschaft. Das zeigt, dass der
Verbindungsparameter ‚Verwandtschaft‘ auch im Allgemeinen nicht überschätzt werden sollte,
und zwar gleich, ob die Städte eine Zunftverfassung oder andere Formen politischer Partizipation
besaßen. Die kürzlich erschienene Arbeit von Michael Lutterbeck über den Lübecker Rat legt
dies nahe. Wichtig erscheint auch, dass die Geschlechter dieser Führungszirkel in Zürich (wie
anderswo) bei aller Offenheit des Kleinen Rates für Newcomer stadtadlige Lebensformen aufwiesen oder übernahmen, Ritterwürden, Wappenbriefe und Gerichtsherrschaften erwarben, Burgen und damit Tradition kauften. Über alle Nachweise von Solidaritäten in Kernfamilie und
Verwandtschaft hinweg ist es überraschend, dass Vonrufs die Reichweiten von Geschlechterbewusstsein sicher ausloten konnte: Bis zum vierten Grad kanonischer Zählung „rechnet[e]“ Ulrich
Schmid von Richterswil 1482 wie seine Zürcher Zeitgenossen die agnatische und kognatische
Verwandtschaft (S. 154). Ob man beim Verhältnis von Patronage und Freundschaft wirklich
davon sprechen sollte, dass Patronage „eine ungleichgewichtige instrumentale Freundschaft“ sei
(S. 162), steht dahin. Entscheidender ist, dass Vonrufs es vermochte, am Beispiel des ca. 35
Personen (vornehmlich Zünftler, aber auch einige Konstaffler) umfassenden Waldmann-Networks eine Stadt beherrschende politische Parteiung zu untersuchen. Er konnte darüber hinaus
die entscheidenden Momente sozialer Bindung festmachen: Neben dem kaum zu fassenden
Charisma Hans Waldmanns erzeugten vor allem die Ressourcen Solidaritäten, die er in Form von
Pensionen auswärtiger Mächte an Verwandte, Freunde und Klienten verteilte – ein PensionenKartell. Es war bezeichnenderweise der von Waldmann unterhaltenen Trinkstube vorbehalten,
solche Verbindungen zu stabilisieren. Für vergleichende Arbeiten sind auch die Beobachtungen
Vonrufs’ über das Heiratsverhalten der Zürcher Konstaffler-Geschlechter von großer Bedeutung.
Dass dabei von 1450 bis 1489 drei Viertel aller Heiraten der Ratsmitglieder der Konstaffel mit
Landadligen oder den führenden Geschlechtern anderer Städte verabredet wurden, ist wohl eher
als zeitweises Krisenphänomen innerhalb der Konstaffel zu werten, denn vorher wie nachher
herrschte vornehmlich Endogamie. Das Verhalten zeigt aber die Bedeutung des bisher stets
behaupteten, doch kaum breit nachgewiesenen Konnubiums für die Befestigung stadtadliger
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Lebensformen und die Aktualisierung zwischenstädtischer Solidaritäten.
Insgesamt: Die Verflechtungsanalyse ist nach wie vor ein höchst wichtiges Methodeninstrumentarium für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Vormoderne. Freilich treten ihre
Defizite offen zutage – und hier ist der Rezensent entschieden anderer Ansicht als Vonrufs (S.
334) – wenn es gilt, die kommunikativen und symbolischen Interaktionen, aber auch die erfahrungsgeschichtlichen Momente menschlichen Miteinanders zu beschreiben. Hier braucht es
nicht nur anderer Quellen (Selbstzeugnisse!), sondern (vor allem) auch anderer Methoden. Aber
die Überlieferungsbedingungen sind bei weitem nicht überall so, dass das Ideal – soziale
Verflechtung und Kommunikation – bei der Beschreibung sozialer Gruppen oder politischer
Führungsgruppen zu erreichen wäre.
Kiel
GERHARD FOUQUET
HILTRUD WALLENBORN: Bekehrungseifer, Judenangst und Handelsinteresse. Amsterdam, Hamburg und London als Ziele sefardischer Migration im 17. Jahrhundert (Haskala. Wissenschaftliche Abhandlungen 27). Olms, Hildesheim/Zürich/New York 2003, 572 S. (3 Abb., 3 Tab.), 78,00 e.
Die aggressive katholische Judenmission in Spanien und Portugal im 14./15. Jh. zwang die Juden
massenhaft zur Annahme der Taufe oder zur Flucht. Doch auch die Taufe bot keinen wirklichen
Schutz vor Verfolgung, da die christliche Umwelt unterstellte, dass die „Neuchristen“ oder
„conversos“ – die Verfasserin vermeidet den diffamierenden, zeittypischen Begriff „Marranos“
(„Schweine“) – insgeheim dem Judentum weiter anhingen. So verließen auch getaufte Juden in
großer Zahl die Iberische Halbinsel. Neben den islamischen Staaten Nordafrikas, dem Osmanischen Reich oder Italien wurden seit dem Ende des 16. Jh.s. auch Amsterdam, Hamburg und
London begehrte Ziele der sefardischen Migration. Es handelte sich um aufstrebende Fernhandelsstädte, die insbesondere Kaufleuten hervorragende Möglichkeiten boten. In der Tat wird in
der zu den einzelnen Städten schon reichlich vorhandenen Literatur die Ansiedlung und weitere
Entwicklung der sefardischen Juden als „Erfolgsgeschichte“ dargestellt – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch wissenschaftlich und kulturell.
Wallenborn kann in ihrer Arbeit, einer von Julius H. Schoeps betreuten Dissertation, die
Kriterien dieses Erfolgs in einer vergleichenden Analyse der drei Zentren näher bestimmen; sie
stützt sich dabei auf eine breite, insgesamt sehr günstige Quellen- und Literaturbasis. In allen
drei Städten entschied man sich nach langwierigen öffentlichen „Toleranzdebatten“ für die
Aufnahme der Juden, doch hatten sie überall einen Minderheitenstatus. Im wirtschaftlichen
Bereich räumten die Obrigkeiten den Juden breite Bewegungsfreiheit ein, um die Wirtschaft des
eigenen Gemeinwesens zu fördern und die Steuerkraft der zumeist wohlhabenden Juden zu
nutzen. Insbesondere im Fernhandel konnten die sefardischen Juden ihre Erfahrung nutzen, im
Iberienhandel ihrer Gaststädte erlangten sie rasch eine Schlüsselstellung.
Auch im religiösen Bereich räumte man den Juden weitgehende Freiheiten ein, ließ die
Entwicklung eigener Gemeindestrukturen zu, doch waren im Einzelnen die Verhältnisse unterschiedlich. Hamburg war in diesem Punkt am restriktivsten. Die Stadt verstand sich als homogenes, christlich-protestantisches Gemeinwesen, der Rat kam mit seinem Hinweis auf den wirtschaftlichen Nutzen der Juden nicht gegen die Argumente des Geistlichen Ministeriums und der
theologischen Gutachter an, wonach es primäre Aufgabe christlicher Obrigkeiten sei, die Juden
zum Christentum zu bekehren. Die Einschätzung der Juden als „verstockte Gottesmörder“ trug
Züge mittelalterlicher Judenfeindschaft. Entsprechend blieb Hamburg im Zuzug sefardischer
Juden hinter Amsterdam und London zurück: Die Gemeindestärke stagnierte bei ca. 650 Mitgliedern. In Amsterdam lag sie bei ca. 2.500 Mitgliedern, in London, wo der Zuzug der Juden mit
etwa 30 Jahren Verzögerung begann und erst in der zweiten Hälfte des 17. Jh.s richtig in
Schwung kam, waren es zunächst ca. 600, Mitte des 18. Jh.s aber bereits ca. 1.800 Mitglieder.
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In Amsterdam bot der Magistrat im Anschluss an ein Gutachten des Rotterdamer Ratspensionärs Hugo Grotius von 1615 den Juden weitgehende religiöse Freiheiten, nicht zuletzt in der
Hoffnung auf ihre schließliche Bekehrung. Er half bei der Wahrung eines geordneten jüdischen
Gemeindelebens. Auch in London genossen die Juden deutlich größere religiöse Freiheiten als in
Hamburg. Ihr wirtschaftlicher Nutzen, die Vorstellung von ihrer alttestamentarischen Auserwähltheit sowie die strikte Trennung staatlicher und kirchlich-religiöser Angelegenheiten waren
dafür maßgeblich. Ein formales Judenrecht gab es nicht. Dies machte einerseits die Lage der
Juden unsicherer, andererseits erleichterte es Integration in die und Assimilation an die christliche Gesellschaft; die Londoner Juden passten „natürlicher“ in das Bild der übrigen Gesellschaft.
In diesem Sinne wies London eher als Amsterdam oder gar Hamburg auf die im 18. Jh.
beginnende emanzipatorische Entwicklung des 19. Jh.s voraus.
Sankt Augustin
MANFRED AGETHEN
4. Grenzgebiete der Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte
ANDRÉ HOLENSTEIN: „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das
Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach) (Frühneuzeit-Forschungen 9). bibliotheca
academica, Epfendorf/Neckar 2003, 2 Bände, 938 S. (15 Abb., 70 Tab.), 64,00 e.
ANDREA ISELI: „Bonne Police“. Frühneuzeitliches Verständnis von der guten Ordnung eines
Staates in Frankreich (Frühneuzeit-Forschungen 11). bibliotheca academica, Epfendorf/Neckar
2003, 400 S. (9 Abb.), 49,00 e.
Seit einigen Jahren bildet die frühneuzeitliche Policey ein expandierendes und ausgesprochen
fruchtbares Feld historischer und rechtsgeschichtlicher Forschung. Zwar war stets bekannt, dass
die Obrigkeiten im Reich mit religiös, ethisch, rechtlich und ökonomisch begründeten Ordnungen derart intensiv darum bemüht waren, den allgegenwärtigen Gefährdungen zu begegnen, dass
Normativität geradezu als ein Signum der Epoche gelten kann. Gleichwohl haben die aktuellen
Arbeiten unser Wissen über die vielfältigen Aspekte der Policey in einer Weise vermehrt, dass
die volle Bedeutung des Phänomens erst jetzt zu Tage tritt. Eine wesentliche Grundlage dafür ist
mit dem Repertorium der Policeyordnungen, das am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte entsteht, geschaffen worden. Welch hohen wissenschaftlichen Ertrag die Beschäftigung mit der Produktion, der wissenschaftlichen Begründung und den Anwendungsformen von
Policeyordnungen zu erbringen vermag, haben jüngst die Veröffentlichungen von Karl Härter
zur Policeygesetzgebung, von Thomas Simon über die im zeitgenössischen Diskurs aufscheinenden Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns und von Achim Landwehr
zur Implementation von Policeyordnungen in Württemberg aufgezeigt.
Die beeindruckende Studie von André Holenstein versteht sich als ein weiterer Beitrag zur
Policeyforschung im Zeitraum zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Ende des Alten
Reichs. Die ausführliche Einleitung gibt dem Leser einen hervorragenden Überblick über den
aktuellen Forschungsstand und leistet eine subtile Entfaltung der Fragestellung der Studie. Es
schließen sich die inhaltliche und statistische Erfassung der badischen Policey-Gesetzgebung
sowie die Darstellung der behördlichen Strukturen und Praktiken, die der Informationsbeschaffung sowie der Implementierung policeylicher Normen und Ordnungsvorstellungen dienten, an.
Darauf folgt die detaillierte Rekonstruktion der institutionalisierten Kommunikationsformen
(Berichtswesen, Bittgesuche, weltliche und kirchliche Visitationen, Anzeigen und Rügen) zwischen Normen setzender Landesherrschaft und den Normadressaten auf dem Lande. Es wird
deutlich, warum der Autor die übliche Vorstellung einer „Durchsetzung von Normen“ als
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unzureichend ablehnt und stattdessen den Begriff der Normimplementation als eines kommunikativen Prozesses bevorzugt. Die Policeyordnungen wurden nämlich aufgrund von Informationen erlassen, auf deren Gehalt die Betroffenen zumeist Einfluss genommen hatten. Insofern
gaben die Normen selbst bereits partiell ihre Sichtweisen wieder, bisweilen beruhten sie sogar
auf Initiativen von Untertanen oder Korporationen. Hinzu kommt die überwiegend flexible
Handhabung der Normen, die von den badischen Behörden „in Anbetracht der Umstände“
abgewandelt, abgeschwächt, im Einzelfall auch außer Kraft gesetzt wurden. Holenstein argumentiert überzeugend, dass sich darin nicht etwa die mangelnde Geltung der Normen erwies,
sondern eine epochenspezifische Weise ihrer Anwendung, die stärker auf Überredung durch
Vorbild, Belohnung und Wiederholung setzte als auf Zwang.
Besonders eingehend werden die badischen Frevelgerichte analysiert, die bis ins frühe 18.
Jh. justiziell-administrative Mischfunktionen erfüllt, vor allem aber Aufgaben im Bereich lokaler
Konfliktregulierung übernommen hatten. Der Autor legt ausführlich dar, wie diese Frevelgerichte, die in der Tradition der spätmittelalterlichen Dinggenossenschaft standen, und die bis zur
Mitte des 18. Jh.s vor allem den „bewahrenden“ Agenden konfessioneller Rechtgläubigkeit und
sittlich-ökonomischer Ordnung gedient hatten, seither zu Gemeindevisitationen im Dienst einer
reformorientierten Wohlfahrtspolitik umgestaltet wurden. Dem geschilderten Funktionswandel
ging eine intensiv geführte Debatte innerhalb der Verwaltungselite der Markgrafschaft voraus,
die sich in den weiteren Kontext des reichsweiten Diskurses über die institutionellen Voraussetzungen für die Implementation von „aufgeklärten“ Ordnungsentwürfen einordnen lässt.
Holenstein verdeutlicht, dass „gute Policey“ notwendig als lokale Praxis zu verstehen und zu
untersuchen ist: Auf der Basis eines Quellenmaterials von überbordender Fülle wird an ausgesuchten Themenfeldern (Schule und Schulaufsicht, „Policierung“ des Gesindes, Armenfürsorge
und Armutsprävention, Agrarreformen, Forstpolitik, Feuerpolizei und Gemeindefinanzen) argumentativ entfaltet, wie territoriale Staatsbildung auf lokalen Kommunikationsprozessen aufruhte. Denn ohne die Kooperation der Betroffenen hatten weder die älteren religiös oder sozialmoralisch motivierten Ordnungsentwürfe noch die jüngeren dynamisierenden Agenden des
„aufgeklärten Absolutismus“ eine Realisierungschance. Insofern kann die Studie nicht nur als
ein gewichtiger Baustein zu der noch jungen historischen Implementationsforschung, sondern
auch als ein Beitrag zur Geschichte der „gouvernementalité“ gelesen werden, ein Begriff, den
Michel Foucault geprägt hat, um die gestaltende Kraft von Ordnungsentwürfen und ordnenden
Praktiken zu bezeichnen. Dabei muss die produktive Macht der Diskurse nicht so ortlos bleiben,
wie es Foucault häufig kritisch entgegengehalten wurde – Holenstein führt ihre Wirksamkeit auf
dem badischen Dorf plastisch vor Augen.
Er lässt an vielen Stellen durchblicken, wo die Widersprüche in der ländlichen Sozialordnung wie in der reformerischen Programmatik und zwischen Dorf und reformorientierten Beamten lagen, die der gesellschaftlichen Dynamisierung im ausgehenden 18. Jh. Grenzen setzten.
Und trotzdem bleibt kritisch anzumerken, dass die innere soziale Differenzierung und mikropolitische Fraktionierung der Dörfer kaum Konturen gewinnen. So entsteht der Eindruck, in
Baden hätte sich eine wohlmeinende Obrigkeit gemeinsam mit den vergleichsweise egalitären
Kommunen auf die Suche nach harmonischer gesellschaftlicher Entwicklung begeben. Ob der
Kontakt zwischen herrschaftlichen Amtsträgern und ihren ländlichen Gewährsleuten wirklich
niemals abbrach? Und ob es in Baden keine gewaltsamen „Auftritte“ gab, die andernorts eine
übliche Möglichkeit innerhalb des Spektrums der Kommunikationsformen zwischen Obrigkeit
und Untertanen bildeten?
Was die Haltungen und Handlungsformen der Staatsbehörden anbelangt, lässt sich derzeit
noch nicht eindeutig sagen, inwieweit Baden im späten 18. Jh. eine spezifische Entwicklung als
„Musterland“ aufgeklärter Physiokratie nahm oder doch eher typische Tendenzen innerhalb des
„dritten Deutschland“ repräsentierte. Dazu wären weitere Arbeiten nötig, die sich der Implementation von Policeyordnungen in vergleichbar reflektierter Weise und aufgrund ähnlich souveränen Umgangs mit den Quellen näherten. Ein besonders dringliches Desiderat besteht für Studien,
die sich mit dem Lokalbezug des Verwaltungshandelns in den Machtstaaten Österreich und
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Preußen befassen, wo sich die institutionellen Voraussetzungen hierfür ungleich schlechter als in
Baden darstellten.
Die Arbeit von Andrea Iseli zur „bonne police“ in Frankreich deckt ein anderes wichtiges
Forschungsdesiderat ab, denn bislang bestand weitgehend Unklarheit darüber, ob der Policey im
Alten Reich vergleichbare Phänomene im Nachbarland entsprachen. Die Studie erbringt differenzierte Befunde, die sowohl kontinentaleuropäische Gemeinsamkeiten als auch nationale
Spezifika sichtbar machen: Die Untersuchung der französischen Policeyliteratur, die das erste
Viertel der Studie ausmacht, lässt viele Überschneidungen mit den entsprechenden Textgattungen im Reich erkennen. In den französischen Schriften des 16. Jh.s werden „police“ und
„politeia“ noch nahezu synonym verwendet. Sie behandeln rein deskriptiv den gesamten Bereich
des „Staatlichen“: Regierungsform, Institutionen, Personal, Gesetze und deren Handhabung,
während die Gesetzgebung, die späterhin als dynamisierendes Moment zunehmend an Bedeutung erlangte, zu dieser Zeit noch kaum thematisiert wurde. Die Grundtendenz dieser Publikationen war eine konservierende: Dem gemeinen Besten sei am ehesten gedient, wenn Monarch,
Adel, Stadtbürger und die diversen Korporationen das Ihre jeweils dazu beitrugen, die überkommene und beste aller politischen Ordnungen zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Im 17. Jh. trat
dann eine gewisse Verengung des Diskurses ein, der in Anlehnung an die Lehre von der
unteilbaren Majestät, die von Jean Bodin wirkungsvoll formuliert worden war, nun stärker die
politischen Vorrechte des Monarchen fokussierte. Die „bonne police“ wurde seither vor allem als
das Resultat gezielten Verwaltungshandelns interpretiert, eine Tendenz, die im Zeitalter der
Aufklärung noch stärker akzentuiert wurde. Die französischen Handbücher zur „bonne police“
des 17. und vor allem des 18. Jh.s weisen somit Ähnlichkeiten mit dem Policey-Schriftgut im
Reich auf, freilich unterblieben links des Rheins die Institutionalisierung der Policey als universitäre Disziplin und damit einhergehend auch die Formulierung einer systematischen Policeywissenschaft, wie sie im Reich vor allem mit den Namen Justi und Sonnenfels verbunden ist.
In der Studie von Iseli nimmt die Praxis der „bonne police“ allerdings wesentlich breiteren
Raum ein als die Theorie. Freilich unterscheidet sich ihr Verständnis von Praxis grundlegend von
dem implementationstheoretischen Praxisbegriff Holensteins. Sie entfaltet in erster Linie ein
eindrucksvolles Tableau der zentralen, regionalen und lokalen Behörden und Gerichte, ihrer
Kompetenzen und ihres Personals. Der Leser erhält dadurch einen Überblick über die Grundzüge
der französischen Verwaltungsgeschichte und einen guten Eindruck von der Vielfalt der institutionellen Arrangements in den pays d’États (am Beispiel der Provence) und in den pays d’élections
(am Exempel des Lyonnais). Außerdem stellt die Autorin die städtischen Policeybehörden in
Marseille und Lyon mit ihren Amtsträgern vor. Möglicherweise überrascht einer ihrer zentralen
Befunde: Auch im Land der Intendanten überwog bis zum Ende des Ancien Régime der
Rechtscharakter staatlichen Handelns. Überwiegend nahmen Anordnungen den Charakter von
Gesetzen oder Urteilen an, denn die meisten mit der „bonne police“ befassten Behörden waren
dem Namen und der Sache nach Gerichte.
Die Studie vermittelt darüber hinaus einen plastischen Eindruck von der Entwicklung der
policeylichen Agenden in Frankreich. Der „klassische“ Katalog stammt aus der Feder von
Nicolas Delamare, der im frühen 18. Jh. die ungeheure Masse der Ordnungen, Erlasse und Edikte
zehn Regelungsbereichen zuordnete und damit eine Systematisierung leistete, der die meisten
Autoren seines Säkulums folgten – und mit Abstrichen auch Iseli: Kirche und Rechtgläubigkeit,
gute Sitten, Lebensmittelversorgung (worunter auch Brennholz fiel), Straßenbau und Gebäudesicherheit (einschließlich Brandschutz), öffentliche Sicherheit und Ordnung, Wissenschaft und
Kunst (inklusive Medizin), Handel, Manufakturen, Handwerk und Gesinde, Armenpolicey. Die
Handhabung der wichtigsten dieser policeylichen Aufgabenfelder wird von der Autorin am
Beispiel der Provence und des Lyonnais sowie der Städte Marseille und Lyon detailliert dargestellt. Die Ähnlichkeiten der Regelungsbereiche und der Verwaltungspraktiken zwischen „bonne
police“ und „guter Policey“ treten dabei deutlich zu Tage.
Die Lektüre der beiden Werke von Holenstein und Iseli vermittelt den Eindruck, dass im
Flächen- und Militärstaat Frankreich der Interventionismus der Zentralbehörden weniger ausgeVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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prägt war als in der paternalistischen Markgrafschaft Baden-Durlach. Das hat sicherlich in erster
Linie mit der Unvergleichbarkeit des räumlichen Maßstabes zu tun. Man muss allerdings auch
den prononcierten Fiskalismus der französischen Krone in Rechnung stellen, denn die Einrichtung von neuen Policeyämtern erfolgte dort oftmals nur in erpresserischer Absicht. Die Amtsträger in den bereits bestehenden Behörden auf kommunaler Ebene oder in den Provinzen sollten
nämlich dazu genötigt werden, diese neu geschaffenen Ämter aufzukaufen, damit keine Status
gefährdenden Parallelstrukturen entstanden und der Wert der alten Ämter nicht verfiel. Dieser
Einfluss der Ämterkäuflichkeit auf die Ausgestaltung der Behördenhierarchien unterscheidet die
französische Monarchie zwar deutlich von den Territorien des Alten Reichs. Schaut man dagegen auf die Themen und die konkreten Formen, die das Verwaltungshandeln annahm, überwiegen gleichwohl die Ähnlichkeiten, denn auch Frankreich wurde in erster Linie auf zeittypische
Weise durch „vom Monarchen beauftragte Selbstverwaltung“ administriert. Die berühmten
Intendanten verfügten als Entsandte der Krone in der Provinz nämlich über keinen hinreichenden
eigenen Apparat und blieben deshalb auf die Kooperation mit den regionalen und lokalen Eliten
angewiesen, die das „Geschäft“ der „bonne police“ bis 1789 nicht aus der Hand gaben. Die
Lektüre der beiden übrigens auch handwerklich gut gemachten Werke sei warm empfohlen.
Bielefeld
STEFAN BRAKENSIEK
ARNE KERTELHEIN: Alltag und Kriminalität. Die Brücheregister des Dithmarscher Mitteldrittels
1560–1581 (Rostocker Studien zur Regionalgeschichte 7). Koch, Rostock 2003, 335 S. (92 Tab.,
6 Listen), 25,00 e.
Kertelhein untersucht für die Jahre 1559 bis 1581 die Tätigkeit des bäuerlich geprägten, umfassend zuständigen Niedergerichts des Dithmarscher Mitteldrittels, ein Landesteil der bis 1559
unabhängigen Bauernrepublik Dithmarschen, der zum Herrschaftsbereich des Herzogs Johann
von Hadersleben gehörte. Die lokale Fallstudie reiht sich damit in die neueren Forschungen zu
Devianz/Kriminalität, Niedergerichtsbarkeit und „guter Policey“ ein, folgt in der theoretischen
Situierung aber einem eher vagen Modell von Sozialdisziplinierung bzw. „sozialer Kontrolle“
und fragt auch nach der Veränderung der ehemals autonomen Laiengerichtsbarkeit durch obrigkeitliche Herrschaft bzw. den „frühmodernen Staat“. Quellengrundlage bilden die Gerichtsbücher („Brücheregister“), deren 16.000 Einträge Kertelhein minutiös quantifiziert und in Bezug zu
den Strukturen der „leistungsfähigen und wohlhabenden Agrargesellschaft“ (S. 204) Dithmarschens setzt: Verifiziert wurden 16.385 Einzelfälle mit 15.723 Beklagten (6 % Frauen) und
10.409 Klägern (14 % Frauen); es dominieren Schulden-, Kredit- und Pfandsachen mit 47
Prozent, gefolgt von Gewaltdelikten (26 %), Ehrverletzungen (10 %), Vermögensstreitigkeiten
(5 %) und Eigentumsdelikten (4 %); auch wohlhabende Bauern tauchen unter den Tätern bzw.
Bestraften auf; Gewaltdelikte waren ein Phänomen männlicher „Konfliktaustragung“, Frauen
waren dagegen bei den Verbalinjurien überproportional vertreten. Im Vergleich zur Gewalt blieb
die Rate der Eigentumsdelikte gering und stieg nur um 1570 aufgrund wirtschaftlicher Ursachen
etwas an, und trotz des niedrigen Anteils (1 %) weisen die „Sittlichkeitsdelikte“ eine hohe
Strafintensität und relativ gleichartige Bestrafung von Frauen und Männern auf. Die meisten
Verfahren brachten die Untertanen und nicht die Obrigkeit ex officio in Gang, wobei auch Frauen
und das Gesinde das Gericht nutzten, um gegen Ehemänner bzw. Dienstherren vorzugehen.
Analog hierzu erweist sich die Urteilsfindung der zuständigen herzoglichen Räte als flexibel,
berücksichtigte die konkreten „Umstände“ und folgte nicht exakt den normativen Vorgaben:
Verhängt wurden nahezu ausschließlich Geldbußen (insgesamt etwa 80.000 Mark), und der
obrigkeitliche Anteil daran machte bis zu 20 Prozent der herrschaftlichen Einnahmen aus. Die
„Verstaatlichung“ der genossenschaftlichen Gerichtsbarkeit führte folglich zu einer Fiskalisierung der Strafjustiz.
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
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Im Ergebnis arbeitet Kertelhein die Tätigkeit des Gerichts als Organ der Konfliktschlichtung
und sozialer Kontrolle heraus: Obrigkeitliche Interessen einerseits, Justiznutzung der Untertanen
zwecks Konfliktbewältigung andererseits prägten die Gerichtspraxis, die nicht als „Sozialdisziplinierung“, wohl aber Ausdifferenzierung obrigkeitlich-formeller Sozialkontrolle gedeutet wird.
Bei der vergleichenden Einordnung betont Kertelhein, dass die besondere Struktur Dithmarschens eine von anderen Gebieten „unterschiedene Devianz mit einem eigenständigen Profil“
bedingte (S. 204); die genauen Differenzen bleiben jedoch z. T. undeutlich. Auch kann kaum
vom einem „einzigartigen Rechtssystem“ (S. 14) gesprochen werden, denn es gibt durchaus
Übereinstimmungen mit genossenschaftlichen Niedergerichten im Alten Reich und deren „Verstaatlichung“ und „Fiskalisierung“ durch die Obrigkeit. Der Vergleich bleibt letztlich zu sehr auf
der Ebene der Zahlen; zudem sind 20 Jahre ein relativ kurzer Untersuchungszeitraum und auch in
quantitativer Hinsicht nur begrenzt mit kriminalitätshistorischen Untersuchungen zum 18. Jh.
vergleichbar, die stärker qualitativ arbeiten. Daher kann die Dominanz der Gewaltdelikte im
Mitteldrittel nur bedingt als Beleg für die „Violence-au-Vol-These“ gelesen werden. Die quantifizierende Methodik erweist sich insofern als begrenzt: Die präsentierten Datenmengen (inklusive 92 Tabellen und sechs Listen) werden nicht ausreichend kontextualisiert, und es mangelt an
der qualitativen, exemplarischen Analyse der Konflikte und „Verbrechen“. Den avisierten „Einblick“ in die „Alltagsgeschichte“ und die materielle ländliche Kultur kann Kertelhein daher
kaum leisten. Andererseits beschränkt die Quelle „Brücheregister“ von vornherein Methodik und
Erkenntnisreichweite einer solchen Studie, und hinsichtlich der enthaltenen seriellen Informationen hat Kertelhein durchaus beachtenswerte Ergebnisse vorgelegt, die die breite Nutzung und
Akzeptanz der Niedergerichtsbarkeit belegen und darüber hinaus deren ordnungspolitische und
fiskalische Bedeutung für eine sich etablierende obrigkeitliche Sozialkontrolle deutlich machen.
Frankfurt a. M.
KARL HÄRTER
ALBERT LISSE: Handlungsspielräume deutscher Verwaltungsstellen bei den Konfiskationen in der
SBZ 1945–1949. Zum Verhältnis zwischen deutschen Verwaltungsstellen und der Sowjetischen
Militäradministration in Deutschland (SMAD) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte
99). Steiner, Stuttgart 2003, 244 S. (7 Abb., 8 Tab., 8 Graphiken), 40,00 e.
Die entschädigungslosen Enteignungen in der Sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und
1949 haben in den letzten Jahren deutlich an politischer Brisanz gewonnen: So hat etwa das
Bundesverfassungsgericht bereits mehrere Urteile zu dieser Thematik gesprochen; beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sind ebenfalls Klagen von Alteigentümern eingereicht worden. Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Debatte steht die Frage nach
dem Ausmaß der sowjetischen Besatzungsherrschaft und nach den deutschen Handlungsspielräumen in den ersten Nachkriegsjahren. Zum Verhältnis zwischen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) und den deutschen Verwaltungsstellen liegen mittlerweile
einige gehaltvolle Studien vor (z. B. von Jan Foitzik und Norman M. Naimark). In diesen
wichtigen Forschungsbereich möchte auch Albert Lisse seine hier zu besprechende Studie
einbetten. Er will nachweisen, dass der Handlungsspielraum der deutschen Administration sehr
viel größer gewesen sei als bisher angenommen und von dieser auch exzessiv genutzt worden sei.
So seien die Bodenreformverordnungen „deutsches Recht [...] und kein Besatzungsrecht“ gewesen (S. 28). Deutsche Verwaltungsstellen hätten ferner einen „maßgeblichen Anteil“ bei der
Auswahl der einzelnen zu konfiszierenden Betriebe besessen (S. 155). Nach der offiziellen
Beendigung des Sequesterverfahrens mit dem Befehl Nr. 64 vom 17. April 1948 hätten „die
deutschen Behörden“ eigenmächtig, aber mit sowjetischer Duldung, weitere Enteignungen bis
1952 durchgeführt.
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Besprechungen
Die Untersuchung, die auf der Dissertation des Autors basiert und insgesamt nur 140
Textseiten umfasst, ist relativ unübersichtlich in 16 Kapitel gegliedert. Die ersten fünf Kapitel
befassen sich mit der Struktur und den Befehlen der SMAD sowie der Länderauflösung 1952. Im
weiteren Verlauf werden die Bodenreform und die Industriereform vorgestellt. Die in diesem
Kontext vorgenommenen Enteignungen wertet Lisse als Ausdruck der Machtergreifung durch
die KPD bzw. SED (S. 89). Anschließend beschäftigt er sich mit der Übergabe des sequestrierten
Vermögens an deutsche Verwaltungen sowie mit der deutschen Enteignungspraxis. Dabei geht
es unter anderem auch um die Funktion der Zentralen Kontrollkommission (ZKK). Abschließend
erörtert Lisse noch kurz die juristische und politische Aufarbeitung der Enteignungen nach 1990.
Die Studie wird abgerundet durch einen vergleichsweise umfangreichen Anhang mit sowjetischen Befehlen, wobei die Auswahlkriterien sowie die konkreten Fundstellen leider nicht genannt werden.
Auffallend ist, dass der Autor in seiner Einleitung ein klares und stringentes Konzept für die
Untersuchung nicht präsentiert. Die leitende Fragestellung bleibt sehr allgemein (S. 17 u. 22).
Das führt letztlich dazu, dass in der Studie viele verschiedene Bereiche angesprochen werden:
Von der Struktur der SMAD, den Enteignungen in der Landwirtschaft und in der Industrie, der
sowjetischen Internierungspraxis, der russischen Rehabilitierung deutscher Staatsbürger bis hin
zur aktuellen tagespolitischen Debatte. Es bleibt unklar, ob Lisse eher eine rechtshistorische,
eine politikwissenschaftliche oder eine wirtschaftshistorische Abhandlung vorlegen wollte. Die
einzelnen, teilweise sehr kurzen Kapitel erfassen nicht immer den aktuellen Forschungsstand.
Problematisch erscheint für die Interpretation des Autors auch die Quellengrundlage: Die Studie
stützt sich primär auf Dokumente aus drei Landesarchiven und dem Berliner Bundesarchiv;
Akten der SMAD oder anderer sowjetischer Stellen konnten nicht herangezogen werden. Zudem
wurde die Quellenüberlieferung der SED nicht genutzt. Insofern ist es sehr fraglich, ob auf diese
Weise das komplizierte deutsch-sowjetische Verhältnis in der Enteignungsfrage von Lisse wirklich neu bewertet werden kann. Dass die deutschen Verwaltungen auch in diesem, für die frühe
DDR-Geschichte zentralen Politikfeld einen Handlungsspielraum besessen haben, wird niemand
ernsthaft bestreiten. Um aber neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, wäre es sinnvoller gewesen, einerseits den Untersuchungsgegenstand einzuengen und andererseits die Quellenbasis zu erweitern.
Berlin
DIERK HOFFMANN
CHRISTINE REINLE: Bauernfehden. Studien zur Fehdeführung Nichtadliger im spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reich, besonders in den bayerischen Herzogtümern (VSWG, Beiheft
170). Steiner, Stuttgart 2003, 589 S., 98,00 e.
Lange Zeit besaßen Otto Brunners Thesen zum Fehdewesen – ihrerseits eine Umwertung der bis
dahin geltenden Interpretation als „Faustrecht“ hin zum Verständnis als Instrument legitimer
Selbsthilfe des Adels – nahezu uneingeschränkte Gültigkeit. Erst seit kurzem ist die Diskussion
durch die Neuansätze Algazis, Morsels und Zmoras in nachhaltige Bewegung gekommen.
Ungeachtet mancher Polemik gegen Brunner konzentriert sich die Kritik vornehmlich auf die
Frage nach der sozialen Funktion der Fehde. Neuerdings rekurrieren deutsche Mediävisten
wieder verstärkt auf die Verknüpfung der Fehde mit Rechtsvorstellungen und Ordnungskonzeptionen in den alteuropäischen Gesellschaften. Demnach besaß Gewalt – auch die Fehde als eine
Form der Gewalt – allgemeingesellschaftlich akzeptiert eine subsidiäre Funktion bei der Durchsetzung von Individualinteressen. Dies wirft die Frage nach der Legitimität der Fehde erneut und
diesmal mit Bezug auf die soziale Basis dieses gesellschaftlichen Instruments auf.
War bisher das Fehderecht vornehmlich als exklusives Herrenrecht verstanden worden,
weist Christine Reinle in ihrer Mannheimer Habilitationsschrift nach, dass dies keineswegs der
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Besprechungen
Fall war. Vielmehr scheint Fehde als soziale Praxis und Form der Konfliktregelung in allen
gesellschaftlichen Gruppen – eben auch und gerade unter dem Nichtadel – weit verbreitet
gewesen zu sein. Vor dem Hintergrund des altbayerischen „Testfalls“ im Zeitraum zwischen dem
13. und beginnenden 15. Jh. zeigt sie auf, dass zwischen Fehde und anderen Formen der Gewalt
ein fließender Übergang bestand und Fehde viele unspezifische Elemente enthielt, die nicht
selten eine eindeutige Klassifikation einerseits erschweren, andererseits die soziale Einbettung
dieser Konfliktaustragungsform um so plausibler machen. Nicht immer musste Fehde sämtliche
Elemente der klassischen (adeligen) Fehde aufweisen. Oft blieb die Fehdeentwicklung unterhalb
der Schwelle des vollkommenen Austrags situiert. Jedenfalls aber intendierte Fehde primär den
Ausgleich eines als rechtmäßig erachteten Anspruchs des Befehders gegenüber dem befehdeten
Teil. Daher wurde die Fehde instrumentalisiert, um den Befehdeten zur Verhandlung zu zwingen, wobei die lokale/regionale Obrigkeit als Schiedsrichter auftreten konnte.
Nach der Darstellung der Entwicklung der landesherrlichen Landfriedensbemühungen im
spätmittelalterlichen Altbayern untersucht Reinle die Fehde Nichtadeliger in zwei analytischen
Großabschnitten. In einem ersten Teil stellt sie in mehreren Mikrostudien verschiedene Ausformungen von Fehden, deren Kontexte und Effekte dar. In einem zweiten analytischen Abschnitt
überprüft sie mit Hilfe zweier Suchraster die Fehdekonstituierung und -entwicklung sowie die
Infrastruktur der Fehdeführung. Im Ergebnis weist sie auf die Intention der Untertanen hin, sich
mittels der Fehde Freiräume zu schaffen oder zu erhalten, in denen sie ihre Konflikte nach
eigenen ‚Spielregeln‘ regulierten. Insofern konkurrierten obrigkeitlich-fürstliche und lokale
Ordnungs- und Rechtskonzepte miteinander, wobei die altbayerische Strafrechtspraxis zeigt,
dass die Obrigkeit die Vorstellungen und Bedürfnisse zu integrieren verstand, zumal sie das
Fehdeinstitut in der Praxis der Untertanen durchaus auch für sich nutzte. Gleichzeitig wird nach
Ansicht Reinles deutlicher, dass „Recht im Spätmittelalter noch nicht als allgemein akzeptiertes,
jenseits des persönlichen Gutdünkens liegendes Prinzipiensystem wahrgenommen wurde“ (S.
357).
Neben den inhaltlich überzeugenden Ausführungen besticht die Arbeit, weil sie das Fehdesujet in einen erweiterten historischen und wissenschaftlichen Bezugsrahmen stellt. Die von
Reinle vorgenommene Verbindung zur Kriminalitätsforschung und zur Diskussion um Gewalt
und Rituale kann sich bei Fortführung der Diskussion hinsichtlich der Fehdeführer und der
sozialen Funktion ihres Handelns als sehr fruchtbar erweisen. Gleichzeitig ist es ein Verdienst
der Autorin, mit den von ihr ausgewerteten Landschreiberrechnungen eine neue Quellengattung
für diese Fragestellung entdeckt zu haben. Umso verdienstvoller ist ihr Hinweis, dass diese wie
auch andere Quellen niemals umfassend über das Fehdegeschehen und seine Hintergründe
Aufschluss geben. Insofern muss sich die Fehdeforschung stärker noch als andere Forschungsfelder mit der Beschränktheit und Fallspezifität ihrer Analysen trotz solcher Serienuntersuchungen
abfinden. Neben den inhaltlichen Ergebnissen zeichnet auch dies die Seriosität und Validität der
Studie Reinles aus.
Gießen
ALEXANDER JENDORFF
MATHIAS SCHMOECKEL/JOACHIM RÜCKERT/REINHARD ZIMMERMANN (Hg.): Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Band I: Allgemeiner Teil, §§1–240. Mohr Siebeck, Tübingen 2003, 1121 S.,
164,00 e.
Der Kommentar ist das Arbeitszeug des praktischen Juristen. Er vermittelt zwischen Gesetz und
Einzelfall, zwischen Norm und Entscheidung. Eine Gruppe von rechtshistorisch wie dogmatisch
ausgezeichnet ausgewiesenen Rechtswissenschaftlern legt nunmehr den ersten von geplanten
sechs Bänden einer historisch-kritischen Kommentierung des BGB vor. Der Titel eines kritiVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
schen Kommentars hat sich in den letzten Jahren für Versuche eingebürgert, jenseits von
„herrschender Meinung“ und „Mindermeinung“ etwas tiefer greifend Grundlagen und Lösungsalternativen zu den gesetzlichen Regelungen aufzuzeigen. Man blieb dabei jedoch immer dem
Anwendungsbezug verpflichtet. Wie steht es mit diesem, wenn man – wie bei vorliegendem
Kommentar geschehen – auch die Geschichte in den Horizont der Kommentierung mit einbezieht? Die vorliegende Kommentierung will, wie am Anfang des Vorwortes betont wird, diese
Trennung von Geschichte und Anwendung, von Tradition und Norm überbrücken: Das Werk
„erscheint als Kommentar. Er orientiert sich also an der praktischen Aufgabe der Jurisprudenz,
Entscheidungen für bestimmte Probleme aus Texten zu gewinnen“ (S. V). Das konzentrierte
Vorwort der Herausgeber Rückert, Schmoeckel und Zimmermann erläutert den methodischen
Zugriff, unter dem dies gelingen soll. „Es geht um Problemgeschichten von Lösungen auf der
Basis von Vorgeschichten und Dogmengeschichten“ (S. XV). Also eine pragmatische Zusammenführung von Geschichte und Dogmatik im sachbezogen beschränkten Raum des Juristischen. Wie weit das Werk durch den Stil einer historischen Kommentierung seiner Intention
gemäß zu der genannten praktischen Aufgabe der Jurisprudenz beitragen wird, muss die Zukunft
erweisen. Es hängt von der Bereitschaft der „Entscheider“, also Richter und Gesetzgeber, ab,
sich auf Geschichte einzulassen. Das Material ist jedenfalls hier aufbereitet.
Die drei einführenden Beiträge der Herausgeber bieten eine Standortbestimmung des BGB,
wie man sie in solch konzentrierter Form und auf den Punkt gebracht sonst nicht lesen kann –
gerade weil dazu in den letzten Jahren und Jahrzehnten vieles erschienen ist, was über die
magistralen Darstellungen von Franz Wieacker (vor allem seine „Privatrechtsgeschichte“ sowie
die Aufsatzsammlung „Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung,“ auf die aber immer wieder rekurriert wird) hinausführt. Diese neueste Literatur wird ebenso wie die ältere vorbildlich
klar erschlossen. Vor allem Rückert betont hier gegen die „sozialstaatliche“ Kritik (Wieackers
und anderer in einer langen deutschen Tradition) am BGB als „spätgeborenem Kind des Liberalismus“ den Wert und die Beständigkeit der liberalen Grundlegung unserer zivilrechtlichen
Kodifikation. Besonders in diesem einführenden Beitrag von Rückert wird auch der innerhalb
der großen Kodifikationen singuläre Charakterzug des BGB deutlich, dem wir die Voranstellung
eines Allgemeinen Teils vor die sachbezogenen Bücher des Schuldrechts, des Sachenrechts, des
Familien- und Erbrechts verdanken: die aus der Verbindung der Pandektistik mit der Philosophie
des deutschen Idealismus erwachsene Tendenz, den Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft durch die Herausarbeitung von leitenden Rechtsgedanken und prinzipiellen Rechtssätzen
im Sinne einer Optimierung des Gesetzes zu betonen. Dies ist durch die Einbeziehung von
Verfassungsnormen in den Bereich des Privatrechts nach Erlass des Grundgesetzes sogar noch
verstärkt worden.
Die Kommentierungen folgen sodann den Überschriften und damit den Problembereichen
des BGB, wobei die Autoren auch bei zusammenhängenden Materien in schneller Folge wechseln. Das führt zuweilen zu Wiederholungen, oft aber auch zu einer Bereicherung der inhaltlichen Perspektiven. Ein großer Vorzug des Werkes besteht darin, dass die einzelnen Beiträge
einem streng durchgehaltenen Schema folgen, dabei aber auch ausgiebig aufeinander verweisen.
Das erhöht die Transparenz der komplizierten Problemzusammenhänge für den Leser außerordentlich. Zu Anfang werden jeweils die Regelungsprobleme und Lösungswege im Überblick
dargestellt. Damit wird der Erörterung schon der Bezug auf das BGB vorgegeben; sie erhält
damit eine, für eine Kommentierung berechtigte, zielgerichtete Begrenzung, die freilich auch
eine Begrenzung auf eine begrifflich-juristische Tradition darstellt und eine volle Entfaltung des
jeweiligen historischen Kontextes nicht erlaubt. Konsequent und durchaus in der Tradition der
Pandektistik erfolgt dann eine relativ breite Darstellung des antik-römischrechtlichen Normenmaterials, während das Mittelalter, sowohl was das ius commune als auch die germanischdeutschrechtlichen Entwicklungen und Regelungen betrifft, fast immer recht kurz wegkommt.
Auf diese Weise erscheinen auch die Einflüsse christlichen Denkens und des Kirchenrechts auf
die Privatrechtsentwicklung, die sich ja vor allem in dieser Zeit und im älteren Naturrecht
vollzogen haben, nur sehr verkürzt. Ausführlicher werden die Darstellungen dann mit dem
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Besprechungen
Zeitalter des Vernunftrechts, der ersten großen Kodifikationen und der wissenschaftlichen Diskussionen des 19. Jh.s. Eine Schlüsselrolle hat hier natürlich Savigny und die Weiterführung
seiner Gedanken in der Pandektistik; immer wieder taucht aber auch Gierke auf, der auf der
Grundlage des deutschen Rechts Gegenmodelle und alternative Lösungsansätze entwickelt hat.
Sehr plastisch können die Autoren dann auf dieser Grundlage das jeweilige von den Kodifikatoren des BGB gewählte Lösungsmodell entwickeln, das aber oft auch auf die prinzipielle Klärung
von Streitfragen verzichtet und diese der weiteren wissenschaftlichen Diskussion überlässt.
Die Fortentwicklung des Problemverständnisses und der juristischen Lösungen durch Lehre
und Rechtsprechung (und erst in neuester Zeit verstärkt durch Gesetzgebung) im Laufe des 20.
Jh.s geht dann aber häufig neue Wege, die man oft unter dem Gesichtspunkt des „Sozialstaatlichen“ sehen kann – wobei die Zeit des Nationalsozialismus eher unter dem Zeichen von
Kontinuitäten denn von Brüchen erscheint. Gerade unter diesem Gesichtspunkt schärft die oben
angesprochene Herausarbeitung der klassisch-liberalen Grundlagen des BGB den historischen
Blick. Am Ende der jeweiligen Abschnitte ergibt sich für den Leser im Rückblick ein – meist gut
gelungener – breiter Überblick über die jeweiligen normativen Lösungsansätze, die möglichen
Alternativen und die dahinter stehenden Grundsätze und Prinzipien. Sie zeigen demjenigen, der
als Wissenschaftler, Praktiker oder Rechtspolitiker die Linien weiterverfolgen will, das juristische Umfeld, in dem er sich bewegt und das er berücksichtigen muss. Sie können und wollen
nach der getroffenen methodischen Entscheidung jedoch nicht den vollen historischen Kontext
in Richtung der Geistes- und Ideengeschichte, der Wissenschaftsgeschichte, der Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte wie der politischen Geschichte in der Weise entfalten, wie es bei einer
rechtshistorischen Abhandlung oder Monographie (wenn sie nicht rein dogmengeschichtlich
ausgerichtet ist) heute zumeist geschieht und wie es die genannten Arbeiten von Wieacker
maßgebend entworfen haben.
Für Historiker anderer Disziplinen bietet diese Kommentierung jedenfalls einen sehr guten
Zugriff auf den Kern des „Juristischen“, die Wechselbeziehungen von Begriffen, Normen und
Prinzipien im Hinblick auf praktisch brauchbare und verallgemeinerungsfähige Lösungen konkreter Probleme, eingebettet in die historische Dimension. Dies gilt vor allem für die breit
behandelten Zeitabschnitte der Vorbereitung und der Fortentwicklung der Regelungen des BGB,
also das 19. und 20. Jh. Für die in einer Art von historischer „Schmalführung“ auf das BGB hin
behandelten vorausgehenden Entwicklungen bieten die Kommentierungen immerhin einige Stichworte und Aspekte und meist gute erste Literaturhinweise.
Unter diesen Voraussetzungen, die der erste Band mustergültig entwickelt, sieht man den
folgenden Bänden, und hier vor allem dem demnächst erscheinenden zum Allgemeinen Teil des
Schuldrechts, der die wichtigsten Grundlagen liberaler Vertragsbeziehungen wie auch die neuesten Schuldrechts-Reformen behandeln wird, mit Spannung entgegen.
Frankfurt a. M.
GERHARD DILCHER
WOLFGANG WÜST: Die „gute“ Policey im Reichskreis. Zur frühmodernen Normensetzung in den
Kernzonen des Alten Reiches, Band II: Die „gute“ Policey im Fränkischen Reichskreis. Akademie, Berlin 2003, 871 S. (14 Abb.), 84,80 e.
Hatte sich die Geschichtswissenschaft in der Vergangenheit nur am Rand mit den als schwerfällig und ineffektiv abgestempelten Reichskreisen befasst, so offenbart sich in jüngster Zeit ein
erstaunlich intensives Interesse der Historiker an diesen Institutionen des Alten Reiches, ja, man
kann beinahe von einem Boom der Reichskreisforschung sprechen. Erwähnt seien nur die
Überblicksdarstellungen von Winfried Dotzauer und Peter Claus Hartmann sowie die Einzelstudien und Tagungsbände von Wolfgang Wüst. Gemeinsam beweisen sie, dass die Möglichkeiten,
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Besprechungen
die Leistungen und die Bedeutung der Kreise innerhalb des Alten Reiches zunehmend erkannt
und gewürdigt werden.
Ein ähnlich ausgeprägtes Interesse richtet sich gegenwärtig auf die Bestrebungen des frühneuzeitlichen Reiches und seiner territorialen Glieder, durch Erlass schriftlicher Reglements
allgemeinverbindliche Wertmaßstäbe zu fixieren und sämtliche Lebensbereiche der Untertanen
festen Normen zu unterwerfen. Die im Zuge dieses Bemühens entstandenen zahlreichen „Policeyordnungen“ werden derzeit am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte im
Rahmen eines groß angelegten Projekts reichsweit erfasst und repertorisiert.
Der Erlanger Ordinarius für bayerische und fränkische Landesgeschichte, Wolfgang Wüst,
sucht das in beiden genannten Forschungsbereichen vorhandene große Erkenntnispotential noch
zu vergrößern, indem er sie miteinander verknüpft. In einer auf drei Bände konzipierten Editionsreihe – denn um Quellenveröffentlichungen handelt es sich faktisch, auch wenn dies aus dem
Buchtitel nicht deutlich hervorgeht – publiziert Wüst eine breite Palette „policeylicher“ Verordnungen des 16.–18. Jh.s aus drei der wichtigsten Reichskreise. Nach dem 2001 erschienenen
Band I über den Schwäbischen Kreis liegt nunmehr Band II vor, der zahlreiche Verordnungen
aus dem Fränkischen Reichskreis beinhaltet (Band III wird Bayern und der Pfalz gewidmet sein).
In seiner hundert Seiten umfassenden profunden historischen Einleitung skizziert der Bearbeiter die Rezeption der Reichspolizeigesetze (beginnend mit der Polizeiordnung des Augsburger Reichstags von 1530) in den Territorien und weist unter den Stichworten „Konfessionalisierung“, „Sozialdisziplinierung“ und „Herrschaftsintensivierung“ auf aktuelle Forschungsansätze
sowie weitere Möglichkeiten zur Auswertung der dargebotenen Texte hin. Dabei werden u. a.
auch Fragen nach der interterritorialen Vergleichbarkeit der Ordnungen und nach grenzüberschreitender Kommunikation angesprochen.
Nach Bemerkungen zum Überlieferungsstand folgt der mehr als 700 Seiten umfassende
Quellenteil. Er beinhaltet 31 Texte zur „Policey“-Gesetzgebung der fränkischen Territorien in
der Zeit zwischen 1549 und 1779. Die überlegt zusammengestellte Auswahl spiegelt die politisch-territoriale Vielgestaltigkeit Frankens gut wider: Neben den Reichsstädten Nürnberg und
Rothenburg sind mit Erlangen, Ochsenfurt, Eibelstadt und Giebelstadt auch die Landstädte
exemplarisch berücksichtigt, die geistlichen Staaten werden repräsentiert durch zwei Klöster
(Münsterschwarzach, Clarissenstift St. Clara in Bamberg) und die Hochstifte Würzburg, Bamberg und Eichstätt, die weltlichen Territorien durch die Markgrafschaften Brandenburg-Ansbach
und Brandenburg-Bayreuth, das Herzogtum Sachsen-Coburg und einige Adelsherrschaften (Thüngen, Egloffstein, Schönborn, Marschalk von Ostheim). Den Abschluss bildet die Polizeiordnung
des Fränkischen Reichskreises aus dem Jahr 1572.
Sämtliche Quellentexte werden ungekürzt und im originalen Wortlaut unter Anwendung der
genannten Editionsrichtlinien abgedruckt. Die Kommentierung ist sehr spärlich. Die wenigen
Fußnoten beschränken sich auf Hinweise zu textlichen Besonderheiten (Streichungen, Hinzufügungen usw.). Für das Verständnis bestimmter in den Texten vorkommender frühneuhochdeutscher Termini bietet zwar das Glossar im Anhang eine gewisse Hilfe, Erläuterungen zum
historischen Kontext der Stücke oder zu wichtigen genannten Personen (etwa Landesherren)
fehlen hingegen völlig. Für die Arbeit mit den Texten hilfreich gewesen wären z. B. auch
Angaben zum Druck- oder Fundort von Quellen, auf die in den edierten Ordnungen Bezug
genommen wird. So ist beispielsweise die brandenburg-ansbachische Polizeiordnung von 1549
(Nr. 23) nach eigener Aussage eine den besonderen Gegebenheiten der Markgrafschaften angepasste Umsetzung und Weiterführung der Reichspolizeiordnungen von 1530 und 1549.
Einige kritische Bemerkungen erfordert auch das Register. Stichproben zeigen, dass beispielsweise Kaiser Karl V. nur dann erfasst wurde, wenn sein Name im Text explizit genannt
wird, nicht aber, wenn er – was wesentlich häufiger der Fall ist – (nur) als „römisch kaiserliche
Majestät“ erscheint (etwa S. 523–526, 536 f., 551). In den Quellen mehrfach namentlich erwähnt
(S. 537, 544), im Register aber nicht berücksichtigt ist der Ansbacher Markgraf Georg der
Fromme. Schließlich werden die beiden Markgrafen Friedrich d. Ä. von Brandenburg-Ansbach-
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Besprechungen
Kulmbach (1486–1515) und Friedrich von Brandenburg-Bayreuth (1711–1763) im Register als
ein und dieselbe Person geführt.
Trotz dieser Monita ist der vorliegende Band eine wichtige und sehr begrüßenswerte Publikation, die für weitere Forschungen zur frühneuzeitlichen Polizeigesetzgebung wie auch zur
fränkischen Landesgeschichte viel neues und interessantes Quellenmaterial bereitstellt.
Regensburg
REINHARD SEYBOTH
5. Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte
WINFRIED REICHERT: Lombarden in der Germania-Romania. Teil 1: Atlas (65 Karten); Teil 2–3:
Dokumentation (964 S.) (Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte 2). Porta Alba, Trier 2003,
159,00 e.
1987 publizierte Winfried Reichert in den Rheinischen Vierteljahrsblättern eine erste Zwischenbilanz seiner Forschungen über die Lombarden in der Region zwischen Maas und Rhein. Wer
nun in dem hier zu besprechenden Werk die Schlussbilanz erwartet, wird sicherlich enttäuscht
sein, denn es ist keine analytische Darstellung der Siedlungsgeschichte italienischer Geldleiher.
Es ist auch keine Monografie über die kommerziellen Aktivitäten der Lombarden oder ihre
gesellschaftliche Einbettung. Wie der Untertitel „Atlas und Dokumentation“ deutlich macht, ist
es vielmehr eine kartografisch und editorisch aufbereitete Präsentation einer mehr als 15.000
Einzelbelege umfassenden „Lombarden-Kartei“.
Das als erster Band gezählte Kartenwerk umfasst 65 farbige Karten im DIN A3-Überformat
(33 x 48 cm). Es ist eine in jeder Hinsicht großartige Arbeit. Mit viel Liebe zum Detail und
großem Verständnis für die Ansprüche an die Lesbarkeit und Verständlichkeit kartografischer
Darstellungen, auf denen 997 Orte mit Lombardennachweisen eingezeichnet wurden, wurde ein
mustergültiges Werk geschaffen. Anerkennung gebührt Reichert, der während mehr als zwanzig
Jahren akribisch Daten für diesen Atlas gesammelt hat, und dem Kartenzeichner, mit dem er das
Datenmaterial umzusetzen und zu präsentieren wusste.
Im zweiten Band findet sich eine 17-seitige Einführung, in der „Lombarde“ als „der herrschaftlicherseits befristet zum Geldhandel konzessionierte Kaufmann aus Italien“ (S. XV) definiert und der Untersuchungsraum „Germania-Romania“ begründet und umschrieben wird. Den
Abschluss machen Erklärungen zur Konzeption des Kartenwerkes und der Dokumentation, die
den Rest dieses Teilbandes und den Großteil des letzten ausmacht. Auf über 800 Seiten werden
die in den Quellen und der Sekundärliteratur erfassten Personendaten und Quellenbelege nach
Ortschaften gegliedert und in chronologischer Reihenfolge aufgeführt. Über das Register können
auch die über mehrere Ortschaften verstreuten Familienverbände erschlossen werden. Dem
Historiker wird auf diese Weise ein einfacher Zugang zu Material geschaffen, das er für
wirtschaftshistorische oder prosopografische Studien auswerten kann.
Die riesige Datenmenge ist eine Stärke dieser Publikation und gleichzeitig auch eine mögliche Schwäche. Es ist ausgeschlossen, dass ein Handbuch mit mehreren tausend Quellenbelegen
völlig fehlerfrei ist. So wird beispielsweise in Köln ein Bartolomeo Dominici aus Florenz
erwähnt (Bd. 2, S. 382). Mit Sicherheit handelt es sich dabei aber um Bartolomeo di Domenico
Biliotti. Das in der lateinischen Urkunde im Genitiv wiedergegebene Patronym wurde also
fälschlicherweise als Familienname verstanden. Eine leicht verständliche Falschinterpretation,
die nun aber in gedruckter Form nur mehr schwer wieder aus der Wirtschaftsgeschichte zu
vertreiben sein wird. Für diesen Mechanismus der Tradierung falscher Fakten durch die historische Literatur liefert Reichert selber einen Beleg, indem er in Basel einen Andara da Casale
erwähnt, den er in einer Publikation Apelbaums aus dem Jahre 1915 gefunden hat (Bd. 2, S. 104).
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Besprechungen
Der Lesefehler, Andara statt Andrea, ist scheinbar nicht auszurotten. Selbstverständlich beansprucht Reicherts Corpus bei aller wissenschaftlichen Sorgfalt nicht den Anspruch, die Daten
abschließend erfasst zu haben. Es werden weitere Belege für Lombarden gefunden werden, die in
Verbindung zu Reicherts Werk gebracht werden sollten. Aus diesen Bemerkungen ergibt sich der
vermutlich an finanziellen Engpässen scheiternde Wunsch nach Weiterführung und Weiterentwicklung dieser Arbeit. Dieses Unterfangen sollte allerdings sinnvoller Weise ohne internetbasierte Datenbank nicht angegangen werden.
Die vorliegenden drei Bände tragen den Charakter des Vorläufigen, denn sie sind ein erster
Teil von Reicherts Habilitationsschrift, die 1997 an der Universität Trier angenommen wurde.
Damit sie – im positiven Sinne – nicht ein Faktensteinbruch bleiben, in dem sich viele Historiker
mit wichtigen Informationssteinchen für ihre Forschung bedienen werden, muss bald der im
Vorwort angekündigte Kommentarband mit der Auswertung des hier vorliegenden Zahlenmaterials folgen.
KURT WEISSEN
Basel
D. Wirtschaftsgeschichte
1. Allgemeine Darstellungen
VOLKER R. BERGHAHN/STEFAN UNGER/DIETER ZIEGLER (Hg.): Die deutsche Wirtschaftselite im 20.
Jahrhundert. Kontinuität und Mentalität (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 11). Klartext, Essen 2003, 463 S., 39,00 e.
Der Band veröffentlicht die Ergebnisse einer Tagung unter dem Titelthema, die vom 11.–
13.10.2001 im Bochumer Haus der Geschichte des Ruhrgebiets stattfand. Insgesamt handelt es
sich um 18 Beiträge mit sehr unterschiedlichen Themen, dargeboten im Wesentlichen von
jüngeren deutschen Historikern und dem Darmstädter Soziologen und Eliteforscher Michael
Hartmann. Volker R. Berghahn gibt eine ausgezeichnete Einführung in die „Elitenforschung und
Unternehmensgeschichte – Rückblick und Ausblick“, worin er mehrere Phasen der Geschichtsschreibung zum Thema der deutschen Wirtschaftseliten nach 1945 hervorhebt und Desiderate
der zukünftigen Forschung herausstellt. Ausgehend von der Frage des wissenschaftlichen Standortes der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte – worüber in Deutschland immer noch
unterschiedliche Auffassungen vorherrschen, etwa darüber, ob die Unternehmensgeschichte ein
Teil der Wirtschaftsgeschichte oder eine unabhängige Disziplin ist –, behandelt er den Unterschied zwischen dem institutionellen Rahmen in Deutschland mit seinen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten und in den USA mit ihren sehr stark praxisbezogenen Business
Schools. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Forschungsansätze: in den USA standen Managementfragen im Vordergrund – ein Begriff, der in der deutschen Wirtschaft zugunsten
des Eigentümer- oder angestellten Unternehmers abgelehnt wurde –, in Deutschland hingegen
eine überwiegend biographisch ausgerichtete Unternehmensgeschichte. Die Manager in den
USA kamen im Wesentlichen von den Business Schools, die deutschen dagegen von den
technischen Hochschulen, aus den naturwissenschaftlichen Fakultäten und auch aus der Betriebswirtschaft. Die Erforschung der industriellen unternehmerischen Welt geschah in Deutschland nicht so stark in den Geschichtswissenschaften wie in den wirtschaftswissenschaftlichen
Fakultäten. Der Verfasser betont dabei die ideologische Komponente, die hinsichtlich der Forschung konservativ geprägt ist, wie auch die westdeutsche Unternehmerschaft nach dem Kriege.
Er skizziert dann die Entwicklung der VSWG und ihrer Herausgeber von Aubin bis Conze,
Treues „Tradition“, kurz den Einfluss der Annales auf die deutsche Sozialgeschichte und schließVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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lich die Bielefelder Gruppe mit marxistischen Kategorien, aber im Wesentlichen an Max Webers
Vorstellungen über die kapitalistische Industriegesellschaft orientiert. Insgesamt seien diese
Forschungen sehr stark dem Strukturalismus verhaftet gewesen. Es habe sich um eine Sozialgeschichte der Politik und eine Wirtschaftsgeschichte der Politik gehandelt, während sich England
und USA bereits mit anderen Themen, moderneren Fragestellungen, etwa hinsichtlich der
modernen Industriegesellschaft mit ihrer Arbeiterklasse oder Frauen- und Geschlechterproblemen und schließlich auch Minderheiten, beschäftigt hätten, bald ergänzt durch Forschungen zu
Mentalitäten und Weltanschauungen. Außerdem habe man in Amerika nach einer Phase der
Quantifizierung und der Ökonometrie zunehmend „mit kulturalistischen Ansätzen“ in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte begonnen (S. 19).
Die Beiträge dieses Bandes spiegeln die Rückwirkungen dieser Entwicklungsphasen in der
Wirtschafts- und Unternehmensgeschichtsschreibung wider und kreisen letztlich alle um die
Soziologie und den Wandel der deutschen Wirtschaftseliten. Michael Hartmann behandelt sein
beliebtes Thema der sozialen Homogenität und des intergenerationellen Wandels der deutschen
Wirtschaftselite, wonach die Spitzenmanager im Wesentlichen aus dem gehobenen- und Großbürgertum gekommen seien und die soziale Herkunft entscheidend gewesen sei, so dass eine
hohe soziale Homogenität mit ähnlichen Persönlichkeitsstrukturen bei den einzelnen Mitgliedern
der Wirtschaftselite festzustellen sei. Auch die Autoren Martin Fiedler und Bernhard Lorentz
glauben eine Kontinuität in den Netzwerkbeziehungen der deutschen Wirtschaftselite zwischen
der Weltwirtschaftskrise und 1950 feststellen zu müssen, sowohl in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht, was beispielhaft an einzelnen Unternehmern wie etwa Heinrich Dräger illustriert
wird. Zwei Beiträge (Herve Joly und Hartmut Berghoff) beschäftigen sich bei unterschiedlichem
methodischem Vorgehen mit Unternehmerfamilien in Konzernen wie kleinen und mittleren
Firmen, wobei Berghoff in den beiden letzten Jahrzehnten einen Transformationsprozess und
eine zunehmende Professionalisierung eines neuen Mittelstandes bei den kleineren und mittleren
Unternehmen festzustellen glaubt. Mehrere Beiträge sind einzelnen Branchen und Sektoren
gewidmet mit vielfachen Beispielen, so etwa in dem Beitrag von Karl Lauschke über die
„Schlotbarone“ nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei er Unterlagen des Munzinger Archivs
auswertet, und ebenfalls seit den 1970er Jahren eine neue Generation etwa mit Egon Overbeck
wahrzunehmen glaubt, im Gegensatz zur älteren Generation wie Reusch und Sohl. Auch Lutz
Budraß, der die Luftfahrtindustrie und deren Führungsschicht von 1930 bis 1960 untersucht,
sieht eine gewisse Kontinuität bei den Führungspersönlichkeiten in dieser Branche, während
Wilhelm Bartmann und Werner Plumpe bei den Vorständen der Nachfolgegesellschaften der IG
Farbenindustrie von gebrochenen Kontinuitäten sprechen. Entgegen Hartmann glauben sie, dass
die funktionalen Anforderungen für den Aufstieg inzwischen entscheidender seien, also Ausbildung und Kompetenz, und nicht die Verfügung über kulturelles Kapital. Dieter Ziegler konstatiert einen erheblichen Strukturwandel im Bankwesen, jedoch keinen entscheidenden Wandel bei
den Eliten; hier herrsche eine Kontinuität vor, allerdings sei sie bei den Privatbankiers durch die
Dezimierung der jüdischen Bankiers und die Eliminierung nationalsozialistischer Bankiers durch
die Besatzer nach 1945 stark verändert worden. Letzterer Frage, der Eliminierung der jüdischen
Unternehmer aus der deutschen Wirtschaft generell, geht Martin Münzel durch die Untersuchung
von etwa 300 großen deutschen Aktiengesellschaften aus 15 Branchen nach und glaubt, dass die
Kontinuität seit Weimar bereits für diese Gruppe zerstört worden sei. An einem regionalen
Beispiel, nämlich dem Verein Berliner Kaufleute und Industrieller von 1879–1961, untersucht
Christof Biggeleben ähnliche Fragen wie Münzel, darüber hinaus aber die besondere Situation
des Wirtschaftsbürgertums in Berlin. Mit einer bisher kaum untersuchten Gruppe der deutschen
Wirtschaft, nämlich den Warenhäusern, befasst sich Heidrun Homburg für die Jahre 1930 bis
1998 in einer quantitativen Analyse der Eliten auf Vorstandsebene und des entsprechenden
Strukturwandels, den die Branche in den letzten Jahrzehnten mitgemacht hat. Stark soziologisch,
psychologisch bzw. semantisch orientierte Beiträge stammen von Stefan Unger, Morten Reitmayer und Barbara Koller, die Fragen der Selbstdarstellung an Beispielen aus dem Ruhrgebiet
und deren Veränderung im Laufe der Jahrzehnte und der persönlichkeitsbezogenen AnfordeVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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rungsprofile im Wandel der Nachkriegsjahrzehnte nachgehen. Christiane Eifert und Irene Bandhauer-Schöffmann beschäftigen sich mit der wenig untersuchten Rolle der Unternehmerinnen in
der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich nach dem Krieg und deren Kampf um die
Anerkennung in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik auf der Grundlage detaillierten Materials,
auch statistischer Art. Die beiden letzten Aufsätze von Jörg Lesczenski, Birgit Wörner und
Cornelia Rauh-Kühne untersuchen teils allgemein und teils an Beispielen, wie dem Bankier
Moritz von Metzler, August Thyssen und Constantin Paulssen, dem bedeutenden Generaldirektor der Aluminiumindustrie und Präsidenten der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, die Alltagspraxis und das Familienleben, die Ideale im Leben von Unternehmern.
Nach der Darbietung dieses bunten Fächers an Beiträgen kann man mit Recht der Meinung
von Berghahn zustimmen, dass wir auf Dauer eine „feste quantifizierende Basis der Elitenrekrutierung und -zirkulation“ (S. 26) haben müssen. Er fordert, dass die deutsche Unternehmens- und
Wirtschaftsgeschichte künftig auch stärker „das internationale Feld“ berücksichtigt, d. h. etwa
die Bedeutung der britischen und amerikanischen Forschungen, die ohnedies stärker in unsere
Wirtschaft und Gesellschaft hineingewirkt haben als bislang angenommen wird. Während wir
uns bisher sehr stark an Produktion, Produzenten und Technik orientiert haben, ist der Bereich
des Konsums oder der Werbung und der Medien kaum untersucht worden, denn nicht nur Güter
beeinflussen die Elitekultur, sondern vielmehr auch kulturelle Aspekte. Die begonnene „kulturalistische Wende“ in der Unternehmensgeschichte, d. h. die Einbeziehung nicht nur der ökonomischen und technischen Aspekte eines Unternehmens und der Arbeitsorganisation, sondern
auch der Entscheidungsprozess der Menschen im Unternehmen, wirkt sich eines Tages vielleicht
auch positiv auf die immer noch stark mathematisch orientierten Wirtschaftswissenschaften aus.
Der vorliegende Band zeigt jedenfalls zahlreiche neue Ansätze in dieser Richtung, wobei, wie
dargelegt, durchaus auf quantitativer Basis kulturwissenschaftliche Aspekte stärker untersucht
werden müssen. Die vielseitigen Ansätze lassen außerdem hoffen, dass die Unternehmensgeschichte künftig sehr stark auf die Wirtschaftsgeschichte allgemein Einfluss nehmen wird und
damit die ältere Generation der Unternehmenshistoriker hoffnungsvolle Fackelträger für die
Zukunft gewonnen hat.
HANS POHL
Bonn
STEFAN GOCH (Hg.): Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen (Schriften zur
Landeskunde Nordrhein-Westfalens 16). Aschendorff, Münster 2004, 415 S., 14,80 e.
Im September 1945 konnte man in der „Ruhr-Zeitung“ unter der Überschrift „Kohle tut not!“
lesen: „Was Deutschland zum Weiterleben braucht, ist Kohle und nochmals Kohle. […] Alles
hängt davon ab, dass genug Kohle da ist“. Oberstes Gebot der Stunde sei: „Jeder Bergmann muß
jetzt in die Zeche zurück“. Dieses Zitat zeigt treffend, was an Rhein und Ruhr nach 1945
geschah. Die Bergleute kamen: Bis 1957 waren es mehr als 600.000. Die Konjunktur boomte. Da
dachte niemand an „Strukturpolitik“; wenn überhaupt, dann ging es um die industrielle Entwicklung von „unterentwickelten“ ländlichen Regionen als Ausgleich zum hochindustrialisierten
Ruhrgebiet mit seiner „Zusammenballung großer Menschenmassen“. Die Angst, dass eine von
dort ausgehende „Radikalisierung“ der zweiten deutschen Demokratie ein ähnliches Ende wie
der ersten bereiten könnte, war damals immer vorhanden.
Dann kam 1958/59 die Kohlenkrise. Arbeitslos gewordene Bergleute sollten aufs Land
umgesiedelt werden, was sich als überflüssig erwies: Die Menschen gingen von allein – bis Mitte
der siebziger Jahre fast 500.000. 1959 wurden Forderungen nach Strukturpolitik auch zugunsten
des Ruhrgebietes laut. Die CDU-geführte Landesregierung unter Ministerpräsident Franz Meyers setzte dies damals allerdings nur in Ausnahmefällen um – etwa beim Opelwerk in Bochum –
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und favorisierte weiter die ländlichen Regionen. Nach der Kohlenkrise kam die Stahlkrise, dann
gab es Probleme in der Textil- und Bekleidungsindustrie: große Herausforderungen für die
Politik. Die seit 1966 SPD-geführte Landesregierung versuchte gegenzusteuern. Gefördert wurde jetzt die Ansiedlung innovativer Betriebe: Elektroindustrie, Informations- und Kommunikationsindustrie, Investitionen im Dienstleistungsbereich. Strukturpolitik wurde vielfach auch als
Reformpolitik verstanden: Die Konfessionsschulen wurden abgeschafft, neue Universitäten gegründet.
In zehn luziden Beiträgen untersuchen die Autoren die Wandlungen, die sich im industriellen Kernland Nordrhein-Westfalen in den letzten 40 bis 50 Jahren vollzogen haben. Der Herausgeber Stefan Goch stellt am Anfang eine Frage, die auch am Schluss hätte gestellt werden
können, nämlich ob Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen „vergleichsweise misslungen“ oder „den Umständen entsprechend erfolgreich“ gewesen seien. Die Antwort
fällt nicht leicht: Es kommt immer auch auf den Blickwinkel an, von welcher Region NordrheinWestfalens man die Dinge betrachtet. In Dortmund wird die Frage sicher anders beantwortet
werden als in Köln, Düsseldorf oder Münster. Dazu liefern die Beiträge interessante Erklärungsmuster. Fast nostalgisch wird man, wenn man im Jahr 2005 feststellen muss, dass „der Staat“
unter den globalen Neubedingungen des Marktes nicht mehr jene Rolle spielen kann, die er in
den letzten Jahrzehnten gespielt hat – für Nordrhein-Westfalen insgesamt wohl erfolgreich.
Innsbruck
ROLF STEININGER
ULRICH PFISTER (Hg.): Regional development and commercial infrastructure in the Alps. Fifteenth to eighteenth centuries. Schwabe, Basel 2002, 187 S., 38,50 e.
Der Sammelband basiert auf sieben Beiträgen, die für den Internationalen Wirtschaftshistorikerkongress 1994 in Mailand verfasst wurden. Sie befassen sich mit der durchaus unterschiedlichen
wirtschaftlichen Entwicklung alpiner Regionen, die der Herausgeber in einen theoretischen
Rahmen zu gießen versucht. Dabei überzeugen die Überlegungen in seinem eigenen Beitrag
weitaus mehr als die in der Einleitung zur Diskussion gestellte und von ihm selbst resümierend
deutlich abgeschwächte Theorie der komparativen Kostenvorteile. Nachdem der ostalpine Fernhandel von Othmar Pickl, drei westalpine Regionen von Laurence Fontaine, der schweizerische
Kanton Glarus von Anne-Lise Head-König sowie eine bzw. drei oberitalienische Alpenregionen
von Luca Mocarelli und Vittorio Beonio-Brocchieri detaillierten Analysen unterzogen werden
und Jon Mathieu die frühneuzeitlichen Migrationen im Alpenraum vergleicht, präsentiert Pfister
selbst sowohl eine Typologie der in der Realität beobachteten verschiedenen Spezialisierungen
als auch eine Liste von Faktoren, die eine solche Spezialisierung mit bedingten. Dabei ist
festzuhalten, dass neben den verschiedenartigen Spezialisierungen naturgemäß die Landwirtschaft in diesen Jahrhunderten nach wie vor die Basis wirtschaftlichen Handelns darstellte und
die Spezialisierungen daher in erster Linie zusätzliche, für viele Menschen jedoch lebenswichtige Nebeneinkünfte waren. Außerdem konnten in einer Region auch durchaus mehrere verschiedene Spezialisierungen zum Tragen kommen.
Die „landwirtschaftliche Spezialisierung“ basierte in den Alpen vor allem auf Großviehzucht und Milchverarbeitung. Die „landwirtschaftliche, gewerbliche und handelsbezogene Auswanderung“, die saisonal, lebensphasenspezifisch oder permanent erfolgen konnte, brachte
Menschen aus den Alpen in landwirtschaftliche Gebiete mit hohem Arbeitskräftebedarf, in
verschiedene inner- wie außeralpine Städte sowie in die ländlichen wie städtischen Gebiete
Europas ganz allgemein, wobei Pfister zur „gewerblichen Auswanderung“ auch die vielfach
angebotenen Söldnerdienste zählt. „Lokale verarbeitende Gewerbe und Protoindustrialisierung“
schließlich bezogen sich insbesondere auf die Produktion von Textilien und die Erzeugung von
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Metallen und Metallwaren, die für einen überregionalen Markt bestimmt waren. Welche dieser
Spezialisierungen in den einzelnen Regionen zur Ausbildung gelangte, hing nach Pfister von
insgesamt drei Faktorenbündeln ab. Zum Faktorenbündel „Faktorausstattung“ gehörten Bodenschätze, landwirtschaftliche Ressourcen und Arbeit, zur „Kommerziellen Infrastruktur“ die Nähe
zu Städten und Verkehrswegen sowie der lokale Detailhandel und das Hausierertum, zum
Faktorenbündel „Herrschaft und Staat“ das Ausmaß der grundherrschaftlichen Penetration,
lokale Eliten und der Staat sowie die Handels- und Gewerbepolitik in den Zielmärkten.
Pfisters Überlegungen – und dies ist der Grund, warum sie hier relativ detailliert wiedergegeben werden – bieten einen durchaus brauchbaren theoretischen Rahmen, um die unterschiedlichen Entwicklungen einzelner alpiner Regionen zu erklären. Ihnen allen dürfte, wenn es zur
Herausbildung solcher Zusatzbeschäftigungen kam, eine relative Übervölkerung zu Grunde
gelegen haben. Wie die Menschen auf diese Herausforderung reagierten, hing in hohem Maße
davon ab, ob und in welchem Ausmaß die von Pfister angeführten Rahmenbedingungen gegeben
waren. Sie eignen sich daher als wertvolles methodisches Werkzeug, um die jeweils spezifische
Reaktion der Alpenbewohner auf die meist gleiche Herausforderung verstehen zu lassen.
FRANZ MATHIS
Innsbruck
ANDREAS RESCH (Hg.): Kartelle in Österreich. Historische Entwicklungen, Wettbewerbspolitik
und strukturelle Aspekte (Veröffentlichungen der österreichischen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte 23). Manz, Wien 2003, 283 S., 36,00 e.
Nur in wenigen Bereichen stellt sich die Frage nach Anspruch und Wirklichkeit so sehr wie bei
Kartellen. Auf der einen Seite bleiben ihre Ergebnisse vielfach hinter den in sie gesetzten
Erwartungen zurück, auf der anderen werden sie von ihren Kritikern, was ihre tatsächliche
Marktmacht betrifft, in der Regel überschätzt. Beides wurde vom Herausgeber des vorliegenden
Sammelbandes bereits in seiner Habilitationsschrift am Beispiel der Habsburgermonarchie in
den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg deutlich vor Augen geführt und in verkürzter Form
hier noch einmal dargestellt. Trotz der hohen Zahl von Kartellen, die geradezu von einer
„Durchkartellierung“ der österreichisch-ungarischen Wirtschaft sprechen lassen, blieben ihre
Wirkungen – außer vielleicht in der ohnehin stark konzentrierten Eisen- und Stahlindustrie – im
Allgemeinen gering. Sie dürften die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung nur unwesentlich
beeinflusst haben. Daran sollte sich auch in der Zeit zwischen den Weltkriegen nicht viel ändern,
obwohl die damalige, tendenziell auf eine Einschränkung des freien Marktes ausgerichtete
Wirtschaftspolitik die Kartellbildung eher förderte als behinderte – wie Resch in einem weiteren
Beitrag zu zeigen vermag.
Mit anderen Fragen des Kartellwesens beschäftigen sich die Beiträge von Reinhold Hofer,
Michael Tüchler, Rudolf N. Reitzner und Theodor Taurer. In Hofers Betrachtung der „Kartellpolitik aus volkswirtschaftlicher Sicht“ wird deutlich, dass Kartelle zwar grundsätzlich als wettbewerbshemmend zu betrachten sind, auf der anderen Seite aber kurz- und langfristig auch positive
Auswirkungen haben können und klare normative Vorgaben für die Kartellpolitik daher nur
schwer zu formulieren sind. Tüchler zeichnet die „Entwicklung des österreichischen Kartellrechts“ von seinen Anfängen in den Strafgesetzen und im Koalitionsgesetz des 19. Jh.s bis hin zu
den Kartellgesetzen der Nachkriegsjahrzehnte und den Auswirkungen des Beitritts Österreichs
zur Europäischen Union im Jahre 1995 nach. Einem Teilaspekt der tatsächlichen Entscheidungsfindung im Kartellgericht, nämlich der gutachterlichen Tätigkeit des aus Vertretern der Sozialpartner zusammengesetzten Paritätischen Ausschusses, der nach Meinung der Autoren mit
seinen wirtschaftlich ausgewogenen Lösungsvorschlägen die richterlichen Entscheidungen wesentlich erleichterte, ist der von Reitzner und Taurer gemeinsam verfasste Beitrag gewidmet.
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Die restlichen vier Beiträge des Bandes stellen Fallbeispiele einzelner Branchen in der vor
allem jüngeren österreichischen Wirtschaftsgeschichte dar. Sie greifen allerdings weniger die
Frage einer etwaigen Kartellierung als vielmehr die nach einer zunehmenden Unternehmenskonzentration auf. Sie lässt sich sowohl in dem von Peter Eigner untersuchten österreichischen
Bankwesen als auch in der von Rudolf N. Reitzner analysierten Bauwirtschaft, in dem von Ernst
Brunner und Andreas Resch gemeinsam beleuchteten Telekommunikationsbereich – mit dem
treffenden Untertitel „vom Staatsmonopol zum regulierten Oligopol“ – sowie in der von Peter
Tschmuck behandelten österreichischen Medienlandschaft beobachten. Ihre Beiträge ergeben
ein detailliertes Bild von den maßgebenden Unternehmen und ihren gegenseitigen Beziehungen
innerhalb dieser Branchen, die außer von einer fortschreitenden Konzentration seit den 1980er
Jahren auch von einer unübersehbaren Internationalisierung gekennzeichnet waren.
FRANZ MATHIS
Innsbruck
3. Agrar-, Forstwirtschaft und Fischerei
ALUN HOWKINS: The Death of Rural England. A Social History of the Countryside since 1900.
Routledge, London/New York 2003, 260 S., 60.00 £.
Das Ziel, den tief greifenden Wandel der Agrarwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft in
Großbritannien im 20. Jh. in einem Buch von nicht mehr als 260 Seiten nachzuzeichnen und zu
erklären, ist zweifellos ambitiös. Alun Howkins, Professor für Sozialgeschichte an der University of Sussex, wird diesem hohen Anspruch weitestgehend gerecht. Sein Überblick behandelt
gleichermaßen wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme, vor allem die Entwicklung der
Beschäftigten- und Betriebsstruktur im Agrarsektor, den Wandel der Arbeitsorganisation, Tendenzen der landwirtschaftlichen Erzeugung und den Umbruch der dörflichen Gesellschaft.
Überdies wird der soziale und politische Funktionswandel deutlich, dem die Agrarwirtschaft im
20. Jh. unterworfen war. Howkins konzentriert sich dabei auf England, behandelt aber darüber
hinaus – anders als im Titel des Buches annonciert – auch Schottland und Wales.
Zu Recht stellt Howkins vor allem drei Entwicklungstrends heraus. Erstens vollzog sich in
den zwanziger und dreißiger Jahren, besonders aber nach 1945 eine Modernisierung der agrarischen Produktion, so dass die Flächen- und Arbeitsproduktivität sprunghaft wuchs. Durch die
Große Depression und die beiden Weltkriege nur kurzfristig unterbrochen, ging damit auch die
Zahl der Beschäftigten und der Betriebe im Agrarsektor langfristig deutlich zurück. Nur in den
Bergregionen von Südschottland und Wales, wo Viehwirtschaft vorherrschte, hielt sich bis zu
den sechziger Jahren eine traditionalere Arbeitsorganisation mit einer relativ geringen Spezialisierung und einer hohen Arbeitsintensität. Der landwirtschaftliche Strukturwandel veränderte
zweitens die gesellschaftlichen Strukturen und Beziehungen in den dörflichen Milieus, denn der
Anteil der nicht an die Agrarwirtschaft gebundenen Bewohner wuchs kontinuierlich. Die Zunahme der Pendelarbeit seit der Zwischenkriegszeit und die Erschließung des Landes für Touristen
und Rentner führten in den ländlichen Gemeinden aber neue Konflikte herbei, denn die oft
ungeliebten Neuankömmlinge trafen vielerorts auf erhebliche Vorbehalte und Ressentiments.
Nicht zuletzt waren die Agrarwirtschaft und der ländliche Raum im 20. Jh. drittens einem weit
reichenden Funktionswandel unterworfen. Obwohl der Agrarromantizismus in der Zwischenkriegszeit marginal blieb, avancierte der Naturschutz in Großbritannien bereits vor dem Zweiten
Weltkrieg zu einem wichtigen Bereich privaten und staatlichen Engagements. Howkins interpretiert aber besonders die Krise der britischen Agrarpolitik in den neunziger Jahren als einschneidende Zäsur. Neue Protestbewegungen wie die Countryside Movement bzw. Countryside Alliance gewannen beträchtliche Unterstützung für ihre Kampagnen gegen den Straßenbau auf dem
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Lande, den Export lebender Tiere und die überkommene Fuchsjagd. Darüber hinaus schädigten
der Ausbruch von BSE 1996/97 und der Maul- und Klauenseuche 2001 nicht nur die britische
Landwirtschaft, sondern besonders den Fremdenverkehr so nachhaltig, dass sie einer konventionellen, auf die landwirtschaftliche Erzeugung fixierten Agrarpolitik den Boden entzogen.
Diese Trends kennzeichneten im 20. Jh. grundsätzlich auch die Entwicklung der Agrarwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft in anderen westlichen Industriestaaten. In Großbritannien
hatten die frühneuzeitlichen enclosures aber eine spezifische Agrar- und Eigentumsstruktur
herausgebildet, die erst im Vergleich hervortritt. So war hier die Landwirtschaft noch im 20. Jh.
durch den hohen Anteil von Pächtern gegenüber den Eigentümern gekennzeichnet, zumal die
Position der Großgrundbesitzer nach der Einführung neuer Steuern durch Schatzkanzler David
Lloyd George 1909 zusehends erodierte. Da er die vergleichende Perspektive weitgehend ausblendet, vergibt Howkins allerdings die Chance, Spezifika des britischen Pfades der Agrarmodernisierung zu identifizieren. Insgesamt jedoch vermittelt sein Buch einen prägnanten Überblick über den Wandel, der sich in Großbritannien im letzten Jahrhundert vollzog.
ARND BAUERKÄMPER
Berlin
4. Bergbau und Hüttenwesen
MANFRED RASCH: Granaten, Geschütze und Gefangene. Zur Rüstungsfertigung der Henrichshütte
in Hattingen während des Ersten und Zweiten Weltkriegs (Westfälisches Industriemuseum.
Quellen und Studien 9). Klartext, Essen 2003, 64 S. (35 Abb.), 7,90 e.
Dieses schmale Bändchen ist ein Beleg für die ungemein große Leistungsfähigkeit einer theoriegeleiteten wissenschaftlichen Geschichte von Unternehmen. Auf nur wenigen Seiten entfaltet
Manfred Rasch, Leiter des ThyssenKrupp-Konzernarchivs, einen profunden Vergleich der rüstungswirtschaftlichen Entwicklung der Henrichshütte vom Vorabend des Ersten bis zum Ende
des Zweiten Weltkriegs. Eine kurze Einführung bzw. ein knapper Abspann zur weiteren historischen Aufarbeitung runden die gut lesbare und anschaulich bebilderte Darstellung ab. Trotz
schlechter Quellen- und Materiallage kann Rasch durch Quellenfunde in Parallelüberlieferungen
mit neuen Antworten auf bisher wenig gewagte Fragestellungen aufwarten. Dabei wird deutlich,
dass die wissenschaftliche Darstellung eines Unternehmens im Krieg weder langweilig noch
apologetisch und unkontrovers sein muss.
Zwar konzediert Rasch: „Ein zutreffendes Bild vom Fremdarbeitereinsatz auf der Henrichshütte zu zeichnen, ist aufgrund der rudimentären Quellenlage nicht möglich. Die noch erhaltenen
Quellen wurden zum Teil erst nach Kriegsende verfasst und dienten dann der Rechtfertigung und
der Beschönigung des eigenen Handelns“ (S. 6 f.). Trotz dieser Einschränkungen bietet er einen
guten grundlegenden Überblick über die Entwicklung der Rüstungsproduktion und der Beschäftigung während des Ersten und Zweiten Weltkriegs, der nicht nur Zwangsarbeiter, sondern auch
Kriegsgefangene und so genannte Zivilarbeiter aus Belgien, Frankreich und Polen umfasst.
Schon im Ersten Weltkrieg wurde von Carl Canaris die weitgehende Umstellung und enorme
Steigerung der Rüstungsproduktion durch Einsatz von Frauen, Ausländern und illegal in der
Rüstungsproduktion beschäftigten Kriegsgefangenen erreicht. Die Effektivität dieser erzwungenen Arbeitsleistung wurde dabei wie im Zweiten Weltkrieg selten hinterfragt, womit Rasch die
Befunde von Zunkel und Herbert bestätigt. Im Vergleich zu den im August 1914 eingezogenen
drei Millionen Soldaten und den benötigten Arbeitskräften war die Beschäftigung der gezwungenen Zivilarbeiter laut Rasch unbedeutend und schadete im neutralen Ausland sehr. Raschs These,
dass die ausländischen Zivilarbeiter im Ersten Weltkrieg trotz Repressionen und Kasernierung
zumindest im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg „nahezu ‚gesetzlich‘“ (S. 14 f.) behandelt
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worden wären, ist diskutierbar. Nach 1939 litten die Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter auf
der Henrichshütte jedenfalls stärker „unter Nahrungsmittelmangel, Überarbeitung und Krankheiten“ (S. 46). Daneben bleiben vor allem für den Zweiten Weltkrieg auch für Rasch wichtige
Fragen offen, so etwa über die Lebensbedingungen der KZ-Häftlinge im Werk und im „Auffanglager“ der Hütte, über die Befreiung der Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen, ihren Verbleib
nach 1945, aber auch über die Absatzbedingungen und die Vertragsgestaltungen des Werks und
seiner Leiter.
Insgesamt ist Raschs vergleichende Darstellung von Rüstungsproduktion und Kriegsbeschäftigung auf der Henrichshütte aber ein erstaunlicher Beleg für die Entwicklung der Disziplin
Unternehmensgeschichte und eine gute Basis für weitere Forschungen über Unternehmen im
Krieg.
STEFANIE VAN DE KERKHOF
Krefeld/Hagen
5. Handwerk, Großgewerbe und Industrie
BRENDA COLLINS/PHILIP OLLERENSHAW (Hg.): The European Linen Industry in Historical Perspective (Passold Studies in Textile History 13). Oxford U. P., Oxford 2003, 334 S. (26 Abb., 20
Tab.), 55.00 £.
Das Vorwort konstatiert ganz zutreffend, dass die Leinenindustrie im Vergleich mit anderen
Textilbranchen zu den vernachlässigten Forschungsgegenständen gehört. Nicht von ungefähr
stammen beide Herausgeber von den britischen Inseln, deren Leinenproduktion in den beiden
vergangenen Jahrhunderten weltweit führend war. Folgerichtig wendet sich auch die überwiegende Mehrzahl der Beiträge dieser geographischen Großregion zu.
Nach einer Einleitung der Herausgeber über die Breite der Forschungen zur europäischen
Leinenfertigung eröffnet die Archäologin Elizabeth Wincott Heckett den Band mit einer Studie
über Ausgrabungen, frühe Techniken und Gerätschaften. Auch David M. Mitchell betrachtet
vorwiegend technische Aspekte, wenn er die Damastherstellung seit dem Mittelalter beleuchtet.
Von dem frühen flämischen Innovationszentrum Kortrijk ausgehend wendet er sich Haarlem,
Schleswig-Holstein, Russland und Schottland zu. Der folgende Beitrag Brian Mackeys hat
beinahe politische Implikationen: Bei der Untersuchung der Crommelin-Legende entkräftet er
den Mythos, dass dem hugenottischen Zuwanderer die Einführung der Leinenfertigung in Ulster
zu verdanken sei, indem er die Spuren für eine Leinenproduktion vor Crommelins Ankunft
herausarbeitet.
Den Titel des Sammelbandes erweitern die Beiträge von Robert DuPlessis zu europäischen
Leinenstoffen in der Kleidungskultur Nordamerikas sowie von Adrienne D. Hood über die
irischen Bezüge der Leinenproduktion in Pennsylvania (1700–1830). Letztere Untersuchung
zeichnet nach, wie das protoindustrielle Produktionssystem über den Atlantik transferiert wurde.
In Chester County (USA) ließen sich einige zehntausend Siedler nieder, die fast ausschließlich
von den britischen Inseln stammten. Die Entwicklung des Leinensektors dauerte bis zur Ablösung des Flachses durch die Baumwolle an. Eine weitere Fallstudie zu einer Region außerhalb
der britischen Inseln legt Inger Jonsson zu Schweden im frühen 19. Jh. vor. Seine Analyse des
Hälsinglands geht vor allem auf Familienstrukturen ein. Karl Ditt schreibt einen Überblick über
Aufstieg und Niedergang der deutschen Leinenindustrie, der auf älterer Literatur basiert. Obgleich er wenig auf regionale Spezifika eingeht, leistet er mit dem Hinweis auf die Traditionsverhaftung der Leinenkaufleute einen wichtigen Analysebeitrag zur Interpretation der partiellen und
verspäteten Mechanisierung der deutschen Leinenindustrie. Seine Darstellung geht vom 19. Jh.
aus und endet mit dem Abstieg des Industriezweiges in die Bedeutungslosigkeit im 20. Jh.
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Besprechungen
Jane Gray wählt eine interessante, theoriegeleitete Herangehensweise. Sie bemüht den
Gender-Faktor, um die unterschiedlichen Produktivitätsniveaus in Irland, Schottland und Flandern im „langen 18. Jahrhundert“ zu erklären. Wenn weibliche Arbeitskräfte in die protoindustrielle Produktion einbezogen wurden, geschah dies fast immer in Bereichen mit geringem Potential zur Produktivitätssteigerung. Je mehr Frauen im Heimgewerbe arbeiteten, desto billiger war
der Faktor Arbeitskraft und umso weniger Produktivitätsfortschritte waren zu verzeichnen. Auch
der zweite komparativ angelegte Beitrag von Peter M. Solar bringt interessante wirtschaftshistorische Erkenntnisse. Mit einem quantitativen Ansatz setzt er sich mit dem frühen Unternehmertum in der irischen und belgischen Leinenindustrie auseinander. Insbesondere interessiert ihn die
Frage der Langlebigkeit der Unternehmensgründungen im Leinensektor. Weitere Beiträge stammen von Beverly Lemire zum Konsumverhalten auf dem englischen Markt (1660–1800) und von
Alastair J. Durie zu institutionellen Änderungen im schottischen Leinengewerbe vor 1840. Eine
quellengestützte Studie von Mitherausgeber Philip Ollerenshaw über die britische Leinenindustrie
zwischen 1900 und 1930 schließt den Band ab.
An wichtigen europäischen Leinenregionen vermisst man in dem Band vor allem die
französischen. Auch Ost- und Ostmitteleuropa sind nur sporadisch vertreten, weil es kaum
neuere Forschungen über die dortigen Leinenregionen gibt. Zu diesem geringen Kenntnisstand
passt ein Fehler auf einer europäischen Landkarte zum Leinengewerbe (S. XXVI): Hier wird das
schlesische Landeshut mit dem bayrischen Landshut verwechselt. Auch gehen die 13 Einzelbeiträge selten wirtschaftshistorischen Fragestellungen nach. Mit Ausnahme von Gray und Solar
sucht man einen Rückgriff auf neuere Forschungsansätze meist vergeblich.
Mannheim
MARCEL BOLDORF
HANS-LIUDGER DIENEL: Die Linde AG. Geschichte eines Technologie-Konzerns 1879–2004. Beck,
München 2004, 512 S. (28 Abb., 16 Tab.), 34,90 e.
Hans-Liudger Dienel formuliert ein hohes Ziel. Er will – in Kenntnis der anhaltenden Diskussion
über den Gegenstand und die Methoden der Unternehmensgeschichte – Anschluss finden an das
inzwischen erreichte Niveau der wissenschaftlichen historischen Unternehmensforschung. In
Abgrenzung zu hagiographischen Unternehmensgeschichten will er eine „dezidiert kritische
Unternehmensgeschichte“ (S. 16) der Linde AG vorlegen, die die „Entwicklung der Unternehmenskultur und -strategie, die Arbeitsweisen der Mitarbeiter/innen, die Wechselwirkung von
Wissenschaft und Technik [...], den Umgang mit der Konkurrenz und mit den politischen und
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen“ (S. 20) untersucht, und dieses Vorhaben in einer vergleichenden Absicht (S. 16) realisiert. Damit formuliert der Autor auch den Bewertungsmaßstab für
sein Buch.
Die Festschrift der 1879 gegründeten Aktiengesellschaft „Gesellschaft für Linde’s Eismaschinen“ (seit 1965 „Linde AG“) ist vorwiegend chronologisch strukturiert. Die beiden sachkundig und lektürefreundlich geschriebenen ersten Kapitel – Carl (von) „Linde als Kältemaschinenbauer“ und „Linde als Tieftemperaturtechniker“ – erreichen hohes inhaltliches Niveau. Dienel
präsentiert zunächst einmal biographisch-technikhistorisch die Entwicklung der Kältetechnik
und der technischen Gase; hier bestätigt sich seine Expertise in diesem Forschungsfeld. Auf einer
zweiten Ebene behandelt er die Etablierung des Unternehmens, das als ein technikgeleitetes
Ingenieursbüro erscheint, getragen von den beiden Säulen Kältemaschinen und technische Gase.
Ein dritter Strang der Interpretation betrifft Lindes Auseinandersetzung respektive Kooperation
mit der Konkurrenz.
Die Gliederung der anschließenden fünf Kapitel folgt den großen politischen und wirtschaftlichen Zäsuren – „Linde im Dritten Reich“, „Linde im großen Boom“ etc. Knappe und räsonable
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Überblicke über die wirtschaftliche und politische Entwicklung des jeweils betrachteten Zeitraums leiten jedes einzelne Kapitel ein und liefern eine vermutlich nützliche Orientierung für das
angestrebte breite Publikum der Unternehmensfestschrift. Die Verknüpfung mit der Geschichte
des Unternehmens gelingt freilich nicht immer.
Dienels Darstellung informiert immer zuverlässig über die Entwicklung des Unternehmens
hinsichtlich der wichtigsten Produktionsbereiche und ihrer technischen Voraussetzungen, über
die sich im Zeitverlauf wandelnden Geschäftsfelder und neue Produktionsstätten sowie strategische Neuorientierungen des Unternehmens. Linde zeichnet eine bemerkenswert starke Pfadabhängigkeit aus: Bereits wenige Jahre nach Aufnahme der Produktion von Kühlgeräten, die sich in
enger Kooperation mit den Bierbrauereien entwickelte, verlagerte sich das Interesse des Erfinderunternehmers Carl von Linde zur Gasverflüssigung und Gaszerlegung. Diese beiden Geschäftsfelder machten zusammen mit dem 1908 zunächst im Rahmen einer Kapitalbeteiligung
aufgenommenen Maschinenbau (Güldner-Motoren-GmbH) für viele Jahrzehnte das Profil des
Unternehmens aus: Kühltechnik, technische Gase, Maschinenbau. Linde agiert seit 125 Jahren
im Hochtechnologiebereich; so ist das Unternehmen ein wichtiger Lieferant der Chemieindustrie
oder war es für den atomaren Kraftwerksbau. Das Know-how in der Tieftemperaturtechnik
(Supraleiter) findet beispielsweise in der Medizintechnik Anwendung. Doch nicht alle Bereiche
erwiesen sich immer als gewinnträchtig, vielmehr war die spezifische Kombination lange Jahre
erfolgreich, weil zwischen den Sparten bzw. Divisionen erhebliche Synergien bestanden. Zudem
basierte Lindes technische Führungsrolle auch darauf, nur wenige produktionstechnische Kenntnisse an Zulieferbetriebe abgeben zu müssen. Die Produktion der Anlagen selbst erfolgte allerdings lange Jahre vielfach durch Lizenzunternehmen. Auf diese Art von Betriebskosten befreit,
behielt das Unternehmen seine Beweglichkeit auf den dynamischen Märkten.
Diese Seite der Unternehmensentwicklung, ihre Verbindung zu den strategischen Orientierungen der leitenden Persönlichkeiten im Vorstand werden von Dienel ebenso wie die Wechselwirkung von Wissenschaft und Technik sorgfältig belegt und begründet. Dies gilt auch für
Unternehmensangliederungen, Verkäufe, die Aufnahme neuer Geschäftsfelder oder den Verkauf
von Beteiligungen.
Demgegenüber bleiben dem Leser nahezu alle unternehmensinternen Prozesse, die sich
nicht auf der Ebene der Vorstandsmitglieder und einzelner Aufsichtsräte bewegen, verborgen.
Doch Entscheidungen von Vorständen basieren auf inner- und außerhalb des Unternehmens
hervorgebrachten Informationen, deren Diskussion und Selektion häufig wichtige Kenntnisse
über das Unternehmen liefern. Dienel beschreibt, dass Linde für einige Jahrzehnte in den
unterschiedlichen Geschäftsfeldern konkurrierende Abteilungen besaß. Dies wirft unmittelbar
die Frage auf, wie die Aushandlungsprozesse zwischen den Abteilungen und im Unternehmen
praktisch funktionierten? Wie hat das Unternehmen die jeweilige Leistungsfähigkeit gemessen
und bewertet? Wie wurden die Mitarbeiter integriert? Was bedeutet das für die Unternehmenskultur? Der Hinweis auf die betrieblichen Sozialleistungen reicht hier nicht aus. Insbesondere die
Unternehmenskulturforschung geht mittlerweile erheblich darüber hinaus, allein auf dieser Ebene die bestimmenden Elemente der Unternehmenskultur zu suchen.
Dienel löst also seinen selbst gesetzten Anspruch nicht ein. Dies gilt auch für die Perspektive
der Darstellung. In der Festschrift erscheinen Unternehmen und (Konzern-)Vorstand weitgehend
als Synonyme. Als bewusste Entscheidung zur Reduzierung der Komplexität ist eine solche
Schwerpunktsetzung legitim, wenn es aber um die „Entwicklung der Unternehmenskultur und
[...] die Arbeitsweisen der Mitarbeiter/innen“ geht, dürfen Arbeitsroutinen und die Arbeitsbeziehungen nicht unberücksichtigt bleiben. Die Orientierung auf den Vorstand beinhaltet ein weiteres Problem: Die Eigentümer des Unternehmens spielen nach dem Abschied der Familie Linde
aus der Konzernspitze kaum noch eine Rolle. So wird die Zusammensetzung der Großaktionäre
bei Linde wiederholt als eine Leistung der Vorstandsvorsitzenden beschrieben (z. B. S. 282); erst
mit dem Ende der 1990er Jahre werden den Aktionären eigene strategische Interessen unterstellt
(shareholder value). Dies wäre ein spannendes Ergebnis, sofern denn die Beziehungen zwischen
Vorstand und Großaktionären untersucht würden; selbst für die Deutschland AG wird das
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
Prinzipal-Agent-Problem in der Regel in anderer Weise formuliert. Dienel übernimmt indes die
Selbstbeschreibung der Vorstände. So bleibt die Interpretation für die Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg im Wesentlichen der Perspektive der Geschäftsberichte verhaftet. Für eine „kritische“
Unternehmensgeschichte ist das zu wenig. Ähnliches gilt für die stiefmütterliche Behandlung
betriebsökonomischer Fragen. Die meist vereinzelten Angaben betreffen nur einzelne Jahre (eine
Tabelle im Anhang nennt immerhin Umsatz, Konzerngewinn und Mitarbeiterzahlen für den
gesamten Untersuchungszeitraum). Auf zusammenhängende Bilanzdaten oder Gewinn- und
Verlustrechnungen wird vollständig verzichtet, ohne diese ist aber eine Interpretation kaum
möglich.
Wenngleich Hans-Liudger Dienel seine eigenen Ansprüche nicht einlösen kann, so mindert
dies keineswegs den hohen Ertrag der Lektüre. Das Buch liefert einen zuverlässigen und
sachkundigen Überblick über zentrale Aspekte der Entwicklung eines der interessantesten deutschen Unternehmen. Dabei wirft es erfreulich viele Fragen auf und regt damit zu weiteren
Forschungen an, zumal jetzt hoffentlich ein weiteres Unternehmensarchiv offen steht. Von
Interesse sind beispielsweise die vielen Hinweise auf die kooperative Ausrichtung des Unternehmens, wie sie beispielsweise im Zusammenhang der langfristigen Kooperation mit der chemischen Industrie, insbesondere der BASF, deutlich wird.
Köln
ALFRED RECKENDREES
JOHANN PETER MURMANN: Knowledge and Competitive Advantage. The Coevolution of Firms,
Technology and National Institutions (Cambridge Studies in the Emergence of Global Enterprise
3). Cambridge U. P., Cambridge u. a. 2003, 294 S. (versch. Graphiken u. Tab., Anhang I: A
Technological History of Dyes, Anhang II: Short Description of Databases on Firms and Plants),
45.00 £.
Murmann will es dem Leser einfach machen: Er schreibt im Vorwort, schon das erste Kapitel sei
so abgefasst, dass es eine Zusammenfassung des gesamten Werkes für solche Leser biete, „die
nicht genügend Zeit haben, das ganze Buch zu lesen“ (S. 2). Diese Bemerkung gilt wohl den
management students, jener von vielen Universitäten hoch verehrten Gruppe, deren Zuneigung
man nicht durch geistige Überforderung leichtfertig verspielen möchte. Auch in anderer Hinsicht
atmet das auf Murmanns Dissertation fußende Buch die Notwendigkeiten des amerikanischen
Universitätsbetriebes: vorgetragener Anspruch und Realität fallen, an europäischen Verhältnissen gemessen, weit auseinander. So empfiehlt er jenen, die eine so genannte „dichte Beschreibung“ (thick description) dessen, was tatsächlich in Unternehmen ablief, suchen, sein Kapitel 4.
Im 4. Kapitel, überschrieben mit „The coevolution of national industries and institutions“,
untersucht er dann auf der Basis von sechs Firmen das jeweilige Verhältnis der Institutionen in
Deutschland, Großbritannien und den USA, wobei Teile des 28 Seiten umfassenden Kapitels als
„Episode 1“ bzw. „2“ ausgegliedert sind. In Europa wirkt der Versuch, dies als „dicke Beschreibung“ verkaufen zu wollen, geradezu hilflos und lächerlich. Wie vollmundig Murmann seine
Arbeit und seinen Anspruch vorträgt, wird exemplarisch auf Seite 7 deutlich: „I show that
bringing the resource-based theory together with ideas from institutional theory can refine the
resource-based theory of the firm.“ „I develop the concept of ‚raw capabilities‘.“ „My detailed
account […].“ „Evolutionary economists […] can profit from this study at least in two ways.“
„[…], my formulation of a co-evolutionary theory may provide the impetus for a vigorous debate
about how to model coevolutionary processes of economic phenomena.“ So geht es seitenweise,
so dass man den Eindruck erhält, es gehe wohl weniger um eine umfassende Beschreibung als um
einen umfassenden Anspruch, der mit Trara und Trommelwirbel vorgetragen wird. Die Tatsache,
dass Jones und Lipartito, zwei führende amerikanische Unternehmenshistoriker, als Herausgeber
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
der Reihe keinen Anstoß an Murmanns Vollmundigkeit nahmen, mag als weiterer Hinweis
darauf gelten, wie sehr Marketing orientiert selbst eine Dissertation in den USA verkauft werden
sollte. Doch der geneigte europäische Leser sollte hierüber hinweg sehen. Schließlich sind auf
diesem Kontinent viele wertvolle Studien entstanden, die erst nach einem entsprechenden Kotau
vor dem Marxismus als druckreif angesehen wurden.
Doch welche neuen Erkenntnisse birgt das Werk? Murmanns Buch bringt zugleich Neues
und wärmt Altes auf, wenn auch von einem „detailed account“ (S. 7) nicht die Rede sein kann:
Murmann hat keine neuen Archivstudien betrieben, sondern zieht seine wichtigsten Erkenntnisse
aus der von Ernst Homburg und ihm erstellten Datenbank aller Farbstoffunternehmen der Welt
zwischen 1850 und 1914. Seine zentrale Frage versteckt er auf Seite 27: „Why was the German
firm Bayer so much more successful than any British or U.S. competitor?“ Ökonomischen
Vorsprung (?) einholen und überholen ist in der Tat eine Frage, die gerade am Beispiel der
Teerfarbenindustrie seit fast 100 Jahren (vgl. Fritz Redlich, 1914) immer wieder erneut thematisiert wurde. Dabei nimmt Murmann den bis dato jüngsten Versuch, die relative wirtschaftliche
Dynamik der deutschen Farbenindustrie nicht nur aus sich heraus, sondern ergänzend auch mit
einem sozial- und kulturhistorischen Vergleich zu erklären (Schröter & Travis, 1998), leider
nicht zur Kenntnis.
Sein Buch ist in fünf Kapitel aufgeteilt: die Einleitung (S. 1–30), ein Kapitel, das die
institutionellen Unterschiede bezüglich der Farbenherstellung in den USA, Großbritannien und
Deutschland vorstellt (S. 32–93), ein drittes, welches jeweils die Entwicklung zweier nationaler
Unternehmen liefert (S. 94–163), das vierte, das die Interaktion von unternehmerischen und
staatlichen Aktivitäten vorstellt (S. 164–193), und schließlich das letzte Kapitel, welches die
Ergebnisse im Wesentlichen zusammenfasst und mit theoretischem Vokabular abstützt (S. 194–
229). In dieses letzte Kapitel sind Ratschläge für die weitere Forschung eingearbeitet (S. 230–
238). Eine technologische Geschichte der Farbstoffe (S. 239–257) sowie ein weiterer Appendix
über den Aufbau der Datenbank (S. 258–268) beschließen das Buch.
Was ist neu und ist das Werk empfehlenswert? Neu ist wenig, wenn man nach Einzelinformationen sucht. Das Neue ist in erster Linie die erstmalige Zusammenstellung vorhandener
Erkenntnisse. Sie werden von Murmann gesammelt, aufbereitet und neu strukturiert vorgestellt.
Damit hat er durchaus eine wertvolle Leistung erbracht, die einer Promotion würdig ist. Ein
Kenner der Chemiegeschichte mag allerdings enttäuscht sein; aber nur die Kenner, und das sind
sehr wenige. Allen anderen sei das Buch empfohlen. Es bietet die erste umfassende internationale Synthese des vorhandenen Wissens, welches neu und übersichtlich systematisiert wurde. Das
Buch sollte deshalb für jeden Studenten der Chemiegeschichte zur Einstiegslektüre werden.
Was ist aber die von Murmann gepriesene „coevolutionary theory“? Der schlichte Ansatz,
dass eine Firma nicht nur aus sich heraus existiert, sondern in einem sozialökonomischen Umfeld
interagiert (inkl. technischem Fortschritt, Jurisprudenz, politischer Konflikte, internationaler
Differenzen und anderem mehr), zu welchem unter anderem auch Konkurrenten gehören. – So
einfach kann Theorie sein!
Bergen/Norwegen
HARM G. SCHRÖTER
JÜRGEN SCHNEIDER/HORST ELLENBERGER/CARL HORST POENSGEN/WILLIAM SELL (Hg.): Unternehmen, Innovationen und Weltmarkt in der Schutzschaltertechnik seit 1948 (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 96). Steiner, Stuttgart 2003, 474 S. (136 Abb., 14 Tab.), 82,00 e.
Bei dem von Jürgen Schneider, Horst Ellenberger, Carl Horst Poensgen und William Sell in den
Beiträgen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte herausgegebenen Band handelt es sich um eine
Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum der Firma „E-T-A“ (1948–1998). Die Buchstaben „E-T-A“
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stehen dabei – die Fachleute mögen diesen kleinen Hinweis verzeihen – für „Elektrotechnische
Apparate“. Die Rechtsform des Unternehmens ist eine GmbH. Ausgangspunkt der Firmengründung ist die „ELPO“ GmbH, benannt nach den Gründern Jakob Ellenberger und Harald A.
Poensgen anno 1948 in Altdorf bei Nürnberg. Schon damals erkannten die beiden Firmengründer, dass „Schutz und Sicherheit von Menschen und elektrischen Anlagen“ ein wichtiges und
zeitloses Produkt darstellen. Bereits fünf Jahre später (1953) begann man mit der Erstellung des
„E-T-A Geräte-Schutzschalterprogrammes“ und schon ab Mitte der 1950er Jahre wagte man den
Sprung über den Atlantik. Es entstanden Tochterfirmen in Chicago/USA und Montreal/Kanada.
Bis Ende der 1960er Jahre kam es zu weiteren Innovationen und zum Aufbau des Elektronikbereichs. 1978 entsteht aus der „ELPO“ die „E-T-A“ (siehe oben), schon vorher (1976 und 1977)
wurde die Globalisierung mit Firmengründungen im Vereinigten Königreich und in Tunesien
fortgesetzt. In den 1980er Jahren folgten Tochterfirmen in Österreich, Frankreich, Spanien,
Belgien und Italien. Der Sprung nach Fernost in den 1990er Jahren war so gesehen fast zwangsläufig. Zuerst wurde eine Niederlassung in Japan (1994) und 1997 eine E-T-A-Produktionsstätte
in Indonesien errichtet. Damit sollte vor allem der rasch wachsende Markt in Südostasien bedient
werden. Soweit in aller Kürze zu den Highlights der Firma, die bei der Gründung 43 Mitarbeiter
hatte und deren Beschäftigtenstand zum Zeitpunkt der Erstellung der Festschrift mit „ca. 1.000
Mitarbeiter“ (S. 19) angegeben wurde.
Die Publikation selbst unterteilt sich in zwei Bereiche. Teil 1 trägt die Überschrift „Die
E-T-A 1946/48–1998“ (S. 19–190). Darin wird in chronologischer Reihenfolge die Firmengeschichte dargestellt. Markus A. Diehl beschreibt dabei in einem I. Kapitel die schwierige
Gründerphase nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1948. Der Inhalt dieses Beitrages liest sich wie
eine Art Einführung in die Wirtschaftgeschichte West-Deutschlands in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Themen wie die „wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland nach 1945“,
Fragen zum Arbeits- und Kreditmarkt, aber natürlich auch zum „Schwarzen“ und „Grauen
Markt“, zur Entnazifizierung, zur Beschaffung von Rohstoffen, Halbfabrikaten, Maschinen und
Werkzeugen, etc. bis hin zur Währungsreform (1948) im Gründungsjahr des Unternehmens sind
hier jeweils über ein paar Seiten abgehandelt. Im Kapitel II und III wird – großteils von Jürgen
Schneider – die Firmengeschichte zuerst von 1948 bis 1973 und dann von 1973 bis 1998
detailliert abgehandelt. Als Zäsur hat sich der Wandel von der „ersten“ zur „zweiten“ Generation
der Unternehmensführung angeboten.
Teil 2 der Festschrift (ab S. 191) läuft unter dem Titel „Die E-T-A im Spiegel ihrer
Mitarbeiter“. Weit über 70 (gezählte) Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus den diversen internationalen Niederlassungen kommen dabei zu Wort und „erinnern“ sich, beschreiben Erfahrungen
aus „persönlicher“ Sicht, berichten über die verschiedensten Bereiche. Der Bogen spannt sich
dabei vom Material- und Produktionsbereich (Technik), über kaufmännische, vertriebs- und
handelstechnische Fragen bis hin zum Personalwesen, ja selbst dem Seniorentreffen und der
„E-T-A Fußballmannschaft“ sind eigene Unterkapitel gewidmet. Alleine das Inhaltsverzeichnis
für Teil 2 füllt dreieinhalb Druckseiten. Als Anhang ist zudem eine CD-ROM – bearbeitet von
Markus Diehl – beigefügt, auf der sich „der Briefwechsel zur Gründung der Ellenberger &
Poensgen GmbH“ aus den Jahren 1946 bis 1948 befindet. Für Unternehmenshistoriker bzw.
Wirtschaftshistoriker, die sich mit der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland beschäftigen, ist dies sicher eine wertvolle und komfortabel handhabbare Quellensammlung. Neben
diesen beiden Zünften ist das Buch natürlich auch für direkt oder indirekt mit der Firma
Verbundene von Interesse. Kleiner Wermutstropfen: der Preis von 82 Euro ist beachtlich und
wird den Kaufrausch wohl in Grenzen halten.
Innsbruck
JOSEF NUSSBAUMER
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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HANS ULRICH WIPF/MARIO KÖNIG/ADRIAN KNOEPFLI: Saurer. Vom Ostschweizer Kleinbetrieb zum
internationalen Technologiekonzern. hier+jetzt, Baden 2003, 312 S. (170 Abb.), 44,80 e.
Firmengeschichten hatten mitunter eine zwielichtige Rolle in der Technikgeschichtsschreibung:
Sie sind bisweilen Melangen zwischen Gründerbiografien, Ortsgeschichten und Firmen-Hagiografien, denen man die Herkunft als Auftragsarbeit nur allzu oft anmerkt. Dass sie manchmal ein
nicht unproblematisches Reflexionsniveau besitzen und sich oft genug sehr nahe am Quellenbestand bewegen, kommt noch hinzu. Die vorliegende Arbeit stürzt aber in keine der vielen Fallen,
die Firmengeschichten drohen. Die Arbeit folgt dem üblichen Aufbau und zeichnet chronologisch die Firmengeschichte und diejenige der prägenden Personen nach. Die Ergebnisse sind
signifikant und folgen in mancherlei Hinsicht dem Muster vieler Firmen mit ähnlichen Gründungsdaten: eine zögernd-langsame Gründungsphase, geprägt durch einen klassischen Patriarchen, der Einstieg in ein profitables Geschäftsfeld – bei Saurer: Strickmaschinen –, kräftiges
Wachstum durch klugen Ausbau und technische Innovationen, schließlich die Diversifikation in
einen neuen industriellen Zweig – hier: ins Fahrzeuggeschäft. Saurer war symptomatisch für
Firmen, die in diesen neuen Industriezweig diversifizierten: „Als kühl und praktisch denkender
Schweizer“ – so erfahren wir – „habe Adolph Saurer vom Automobil als ,Luxus-Vehikel‘ nicht
viel gehalten, er habe eher ,eine besonders nützliche industrielle Bestimmung‘ gesucht. Er fand
sie im selbstfahrenden Lastwagen“ (S. 110). Eine Stärke der Arbeit ist sicher die genaue
Nachzeichnung der Wachstumsvoraussetzungen der Firma. Für Saurer blieb es aber immer
prekär, dass der Schweizer Zivilmarkt zu klein war. Beide Auswege, die enge Bindung ans
Militär und die Exportorientierung, auch mit der Gründung von Niederlassungen, erwiesen sich
als nicht unproblematisch. Während beider Weltkriege allerdings waren Saurer-LKWs auf
beiden Seiten im Einsatz. Beide Faktoren – die traditionelle Patronage durch die Schweizer
Armee und der Nachkriegsboom – bescherten dem Konzern nochmals eine Erfolgsphase. Die
Krise schließlich wird durch das Kapitel „Wachstum, Routine, Absturz“ (S. 208–243) in ihren
Ursachen aufgefächert: zu teure Produktion, ausbleibende Innovationen, mangelnde Reaktion
auf gewandelte Marktsituationen. Diese Krise, das Ende der LKW-Produktion und der Umbau
des Konzerns nehmen einen breiten Raum in der Darstellung ein.
Insgesamt bietet die Arbeit dank guter Quellen, die unter relevanten Perspektiven befragt werden,
einen gelungenen Überblick. Neben wirtschafts- und industriegeschichtlichen Resultaten werden
einige interessante Themen angesprochen, etwa zur Disziplinierungsgeschichte (S. 67), zu den
Einpassungsproblemen eines Betriebes in eine Kleinstadt, zum Wachstumsfieber („Amerikanismus“,
S. 98) bis hin zu ästhetischen Interpretationen von Firmenwerbeblättern (S. 83). Der Anhang mit
Daten zur Firma, Bibliographie und Familienchronik der Saurers ist vorbildlich. Am guten Eindruck
dieser Firmengeschichte ändert auch die etwas irritierende Seitenzählung nichts.
KURT MÖSER
Mannheim
6. Handel
KATJA GIRSCHIK/ALBRECHT RITSCHL/THOMAS WELSKOPP (Hg.): Der Migros-Kosmos. Zur Geschichte eines außergewöhnlichen Schweizer Unternehmens. hier + jetzt, Baden 2003, 311 S., 32,80 e.
Die Gründe, warum der Schweizerische Migros-Konzern seit seiner Gründung im Jahre 1925
immer wieder Gegenstand öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Abhandlungen geworden ist, werden im Klappentext der Veröffentlichung treffend in vier Fragen zusammengefasst:
„Ist die Migros eine Genossenschaft, ein Manager-Konzern, eine schweizerische Institution –
oder sogar das geistige Erbe eines charismatischen Führers?“ Die richtige Antwort lautet vier
Mal: „Ja“.
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
Die Geburtsstunde des Migros-Konzerns, um dessen Geschichte es in der rund 300 Seiten
starken Veröffentlichung geht, liegt in der Mitte der 1920er Jahre, als die Schweiz ebenso wie
alle anderen mitteleuropäischen Staaten in der „Rationalisierung“ das Zaubermittel sah, um die
volkswirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Krisenerscheinungen der Jahre nach dem Ersten
Weltkrieg zu überwinden. Zu den großen Hindernissen auf dem Weg zu einer effizienteren
Wirtschaftsgestaltung zählte man allenthalben den Kleinhandel, der mit seinen wenig leistungsfähigen Strukturen den Übergang zur Massenproduktion nach amerikanischem Vorbild wie ein
Nadelöhr blockierte. Es besteht wenig Zweifel, dass die seit einem halben Jahrhundert auch in
der Schweiz existierenden Konsumgenossenschaften das Vorbild für die Gründung der Migros
durch den ganz und gar unkonventionellen Unternehmer Gottlieb Duttweiler bildeten. Allein,
auch wenn die Konsumgenossenschaften von ihren Gegnern aus den Reihen der Händler als
seelenlose Verteilungsmaschinen kritisiert wurden und sich selbst als Verkörperung des Fortschritts im Handel betrachteten, gab es nach dem Ersten Weltkrieg doch bereits erste Anzeichen,
dass der Schwung und die Innovationskraft der Konsumvereinsbewegung langsam nachließen.
Dies dürfte einer der atmosphärisch wichtigsten Gründe gewesen sein, die Duttweiler dazu
bewogen, ein Unternehmen mit sehr ähnlicher Zielsetzung, wie die Konsumgenossenschaften sie
verfolgte, ins Leben zu rufen, dabei jedoch Strukturen zu wählen, die ganz auf ihn zugeschnitten
waren. Dabei blieb es indes nicht, und eben das macht das Faszinierende an der Migros aus, denn
schon bald begann Duttweiler damit, „echte“ Genossenschaften in Verbindung mit seinem
Unternehmen ins Leben zu rufen. 1933 entstand die erste Migros-Genossenschaft im Tessin, eine
Entwicklung, die sich in den nächsten Jahrzehnten fortsetzte. Während sich die von Arbeitern
gegründeten Konsumvereine in vielen Ländern, dem „ehernen Gesetz der Oligarchie“ folgend,
allmählich von ihrer sozialen Basis ablösten und die Selbstverwaltungsorgane vielerorts verkümmerten, schlug der Migros-Konzern genau die entgegengesetzte Richtung ein. Noch gravierender
wirken die Unterschiede gegenüber anderen Ländern, wenn man die Entwicklung nach dem
Zweiten Weltkrieg in den Blick nimmt. Die Handelsrevolution der späten 1950er Jahre setzte in
ganz Europa den Konsumgenossenschaften heftig zu und stürzte gerade die traditionsreichsten
unter ihnen in eine existenzbedrohende Krise. Demgegenüber expandierte und florierte die
Migros auch unter diesen Bedingungen. Rund ein Viertel des Umsatzes im schweizerischen
Lebensmitteleinzelhandel läuft in der Gegenwart, 75 Jahre nach der Gründung, durch die Bücher
des Unternehmens. Seine Stellung in diesem Segment ist schlechterdings marktbeherrschend.
Die Bedeutung der Migros für die Schweizer Gesellschaft erschöpft sich jedoch nicht nur in
imponierenden Umsatzzahlen. Charakteristisch für das Unternehmen ist ferner, dass es ihm
gelang, das, was Konsum und Konsument in der Schweizer Gesellschaft überhaupt bedeuten,
inhaltlich wesentlich mitzudefinieren. Insofern erfasst eine historische Rekonstruktion und Dekonstruktion des Migros-Mythos zugleich wesentliche Aspekte des schweizerischen Wegs in die
moderne Massenkonsumgesellschaft.
Der vorliegende großformatige, mit vielen Bildern und Graphiken reich ausgestattete Band
stellt gegenüber den vielen älteren Darstellungen der Migros-Geschichte insofern ein Novum
dar, als er konsequent aus einer modernen wissenschaftlichen Perspektive heraus geschrieben ist.
Katja Girschik, Albrecht Ritschl und Thomas Welskopp haben ihn in Zusammenhang mit ihrer
Lehrtätigkeit an der Universität Zürich organisiert. Unter den 17 Beiträgerinnen und Beiträgern
befinden sich viele fortgeschrittene Studenten, die in den Artikeln eigene quellengestützte
Forschungen vorstellen. Was vorliegt, ist keine konventionelle Firmengeschichte und nicht alle
wichtigen Fragen, die man an die Geschichte des Unternehmens stellen könnte, werden in dem
Buch auch beantwortet. So ergeben etwa die verstreuten statistischen Überblicke nicht wirklich
ein vollständiges Bild der Unternehmensgeschichte. Gleichwohl ist es ein rundes, gut lesbares,
über Strecken faszinierendes Forschungsunternehmen geworden, das die vielköpfige „Genossenschaft“ der Migros-Historiker hier vorlegt. In dieser schöpferischen Kollektivität lebt etwas vom
Geist des eigenwilligen Firmengründers fort, der an dieser Darstellung, zumal sie ihn nicht
schont, sicher seine Freude gehabt hätte.
MICHAEL PRINZ
Emsdetten
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WILFRIED REININGHAUS (Hg.): Ein westfälischer Kaufmann in Amerika 1783/84. Johann Heinrich
Basses Bericht über seinen Konkurs in Philadelphia (Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte e. V., Kleine Schriften 31). Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte e. V.,
Dortmund 2004, 127 S., 8,50 e.
In dem von Wilfried Reininghaus sorgfältig edierten und mit einer rund 50-seitigen Einleitung
versehenen Buch geht es um den Iserlohner Kaufmann Johann Heinrich Basse und dessen
gescheiterten Versuch, in den schwierigen 1780er Jahren mit einem Partner ins Amerikageschäft
einzusteigen. Dabei handelt es sich um den 1754 in Amsterdam geborenen und seit 1782 mit
Iserlohner Bürgerrecht ausgestatteten Abraham Soyer, der wiederum mit dem Amsterdamer
Handels- und Bankhaus Willem van Brienen & Zoonen und weiteren niederländischen Kaufleuten und Firmen in Verbindung stand. Soyer und andere windige Zeitgenossen sollten – wie Basse
im November 1784 rückblickend und noch mächtig unter dem Eindruck der Ereignisse stehend
berichtet – eine tragische Rolle im Rahmen seines Unternehmens spielen. Der fulminante
Konkurs von Basse & Soyer sowie Sluyter & Comp. mag nur eine aus einer ganzen Serie von
Insolvenzen sein, die die amerikanische Wirtschaft zwischen 1775 und 1790 heimsuchten. Doch
nur selten wurden so detaillierte Informationen über die Anatomie und den Kontext einer
Insolvenz überliefert wie dies in Basses Rechenschaftsbericht geschieht. Er versucht nicht nur,
die Chronologie der Ereignisse festzuhalten und die Schuldigen zu identifizieren, sondern gibt
beiläufig auch eine ziemlich genaue Beschreibung der Verhältnisse in der damals im internationalen Geschäft höchst bedeutenden Handelsmetropole Philadelphia und der dort herrschenden
Gepflogenheiten. Der Bericht zeigt im Übrigen, wie sehr spekulative Umtriebe und kriminelle
Wechselreiterei nicht zu übersehende Erscheinungen des transatlantischen Handelsgeschäfts
darstellten. Der Inhalt des Buches ist jedoch nicht nur handelshistorisch interessant, sondern gibt
auch wichtige Aufschlüsse zu Fragen der Vertrauenskultur und Ehrhaftigkeit im Geschäftsverkehr von Unternehmern bzw. Kompagnons des späten 18. Jh.s.
Alles in allem gewährt Basses Bericht einen tiefen Einblick in die Mikrostrukturen des
Amerikageschäfts und der Handelswelt in einer Phase revolutionärer Umbrüche, aber auch des
Risiko beladenen Aufbruchs in die Neue Welt. Die Risikoprämie hat sich in Basses Beispiel als
zu hoch erwiesen. Sein American Dream war mit dem Bankrott 1784 ausgeträumt. Uns bleibt,
dem Herausgeber sei Dank, eine ebenso interessante wie seltene Fallstudie zur Kaufmanns- und
Handelsgeschichte und nicht zuletzt zur historischen Insolvenzforschung.
ROLF WALTER
Jena
7. Verkehrs- und Nachrichtenwesen
KONRAD DUSSEL: Deutsche Rundfunkgeschichte. UVK, 2. überarb. Aufl., Konstanz 2004, 336 S.,
19,90 e.
1999 erschien Dussels Rundfunkgeschichte in erster Auflage. Der Verfasser stellt darin die
Geschichte des Mediums jeweils im Zusammenhang für die Weimarer Zeit, das nationalsozialistische Deutschland, SBZ/DDR, Westdeutschland bzw. die Bundesrepublik bis 1989 und schließlich für das geeinte Deutschland dar, ergänzt jeweils um kommentierte Literaturhinweise. In der
zweiten Auflage wurden Aufbau und Anlage und im Wesentlichen auch die Sachdarstellung bis
1989/90 nicht verändert. Hingegen hat der Verfasser das Kapitel über die jüngste Entwicklung
überarbeitet, die wichtigsten Neuerscheinungen ergänzt und ein Personenregister hinzugefügt;
der Umfang hat gegenüber dem Vorgänger um 23 Seiten zugenommen. Kennzeichen des Bandes
ist, dass neben der Organisations- bzw. Institutionengeschichte ausführlich die ProgrammentVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
wicklung und -nutzung dargestellt und der politische Kontext einbezogen werden, die technische
Entwicklung wird nicht näher thematisiert. Dussel versteht es, die Hauptentwicklungen knapp
und gut lesbar herauszuarbeiten. Der Band ist eine nützliche Einführung in die Geschichte von
Hörfunk und Fernsehen in Deutschland im Schnittfeld von Medien-, Kommunikations-, politischer sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte.
Bonn
GÜNTHER SCHULZ
JOHANNES FRERICH/GERNOT MÜLLER: Europäische Verkehrsgeschichte. Von den Anfängen bis zur
Osterweiterung der Europäischen Union. Band 1: Politisch-ökonomische Rahmenbedingungen –
Verkehrsinfrastrukturpolitik; Band 2: Landverkehrspolitik. Oldenbourg, München/Wien 2004,
zus. 1632 S., 54,80/59,80 e.
Die beiden Bonner Ökonomen Johannes Frerich und Gernot Müller haben mit ihrem auf drei
Bände (der dritte Band erscheint voraussichtlich Mitte 2005) konzipierten Handbuch erstmals
einen vollständigen Überblick über die Entwicklung der Verkehrspolitik der Europäischen
Gemeinschaft vorgelegt. Der erste Band behandelt die Rahmenbedingungen der Verkehrspolitik
von den Ursprüngen des europäischen Integrationsgedankens bis zu den aktuellen Grundproblemen und Perspektiven sowie die Verkehrsinfrastrukturpolitik. Thema des zweiten Bandes ist der
Verkehr auf Schiene, Straße und Binnenwasserstraße. Während der erste Teil des ersten Bandes
(Rahmenbedingungen) chronologisch geordnet ist, folgen die Themen Verkehrsinfrastrukturpolitik und Landverkehr einer systematischen Ordnung. Die kurzen Unterkapitel (oft weniger als
eine Seite) erleichtern die Nutzung der Publikation als Nachschlagewerk. Zusätzlich gewinnen
die Bände durch umfangreiche und klare Literaturangaben: Die maßgebliche Literatur wird
jeweils am Ende eines Unterkapitels angeführt. Zudem werden einschlägige rechtliche Grundlagen am Ende eines Themenkomplexes in einem separaten Kasten zusammengefasst. Auch das
Hervorheben von Schlagworten durch Fettdruck ist eine gelungene Hilfe für den Suchenden.
Allerdings fällt es durch den kleingliedrigen Aufbau, die systematische Ordnung sowie die
häufige Unterbrechung des Leseflusses infolge der umfangreichen Literaturangaben nicht leicht,
sich größere Zusammenhänge zu erarbeiten. Kritisch anzumerken ist der nicht eindeutige Titel.
Es handelt sich bei den beiden Bänden um einen Überblick über die Verkehrspolitik der
Europäischen Gemeinschaft bzw. ihrer Vorgängerorganisationen. Wer unter dem Titel „Europäische Verkehrspolitik“ darauf hofft, über die Verkehrspolitik der europäischen Nationalstaaten
informiert zu werden, wird enttäuscht. Während die Politik der EU-Mitgliedstaaten stellenweise
angeführt wird, fehlt die Entwicklung in Osteuropa völlig. Dabei böten gerade die unterschiedlichen verkehrspolitischen Konzepte der sozialistischen Staaten eine interessante Ergänzung. Für
den Historiker ist zudem bedauerlich, dass der Schwerpunkt der Bände eindeutig auf den Jahren
nach 1985 liegt. Diese Ausrichtung ist jedoch weniger den Verfassern des Handbuchs als den
geringen Erfolgen der Verkehrspolitik der Europäischen Gemeinschaft in den Jahren zwischen
ihrer Gründung 1957 und der Mitte der 1980er Jahre geschuldet. Während die umfangreiche
ökonomische und juristische Aufsatzliteratur mit großer Sorgfalt recherchiert und ausgewertet
wurde (dies gilt insbesondere für die Veröffentlichungen der beteiligten Behörden), fehlen
Hinweise auf das historische Schrifttum leider völlig. Allerdings liegt in deutscher Sprache
bislang auch keine einschlägige, historische Arbeit vor.
Insgesamt ist davon auszugehen, dass die beiden vorliegenden Bände (zusammen mit dem
noch ausstehenden dritten Band zum Thema Seeschifffahrt und Luftfahrt) zum unverzichtbaren
Werkzeug für Historiker, Ökonomen und Juristen in der Beschäftigung mit der Verkehrspolitik
der Europäischen Gemeinschaft werden. Sie bieten einen hervorragenden Überblick über die
Literatur und sind als Nachschlagewerk ebenso wie als Einstieg in das Thema uneingeschränkt
zu empfehlen.
Bonn
PHILLIP-ALEXANDER HARTER
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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LYN GORMAN/DAVID MCLEAN: Media and Society in the Twentieth Century. An Historical Introduction. Blackwell Publishing, Oxford u. a. 2003, 284 S., 15.99 £.
Das Vorhaben ist ambitioniert: Gorman und McLean geben mit ihrer vergleichsweise knapp
gehaltenen Darstellung einen Gesamtüberblick über die Geschichte der Medien im 20. Jh. und
dazu noch in vergleichender Perspektive. Bei näherem Hinsehen reduziert sich der Vergleich im
Wesentlichen auf die Unterschiede zwischen den USA und Großbritannien: wie häufig kann von
lediglich englischsprachigen Autoren nur das eigene Schrifttum verarbeitet werden, so dass
andere Sprach- und Kulturräume angesichts des Mangels an entsprechenden Darstellungen nicht
oder nur unzureichend in den Blick kommen. Wegen der erforderlichen Komprimierung des
Stoffs wird nicht auf das gesamte Ensemble der auf unterschiedlichen Speicher- und Distributionstechniken beruhenden medialen Welt des Jahrhunderts eingegangen. Die Autoren beschränken sich auf Zeitung, Film, Radio und Fernsehen sowie die in den beiden letzten Dekaden hinzu
gekommenen „neuen Medien“, also in erster Linie das Internet. Mit Bezug darauf, was die
Medien im 20. Jh. „leisteten“, sollen – so die Einleitung – extreme Konzeptualisierungen
vermieden werden. Weder elitäre kulturkritische Vorbehalte gegen massenkulturelle Auswüchse, wie sie nicht allein die so genannte „Frankfurter Schule“ vertrat, noch allzu optimistische
Einschätzungen der Medien als Garanten von Freiheit und Demokratie sollen den Bewertungsmaßstab bilden. Vielmehr oszilliert die Einschätzung zwischen positiven Wirkungen der elektronischen Medien zumal in dem Sinne, dass sie zur gesellschaftlichen Integration und Kohärenz
beitrugen, und ihrem Missbrauch, dem manipulativen Einsatz ihrer Wirkungen. Letzterer wird
ausführlicher behandelt am Beispiel der NS-Diktatur, den Ätherkriegen des Zweiten Weltkriegs
und der Ost-West-Auseinandersetzung im „Kalten Krieg“. Durchgängig kritisch sehen die Verfasser die Konsequenzen kommerzialisierter Mediensysteme.
Der umfangreiche Stoff wird in elf Kapitel unterteilt. Eingangs behandeln die Verfasser die
weitere Entfaltung der Presse und die Ausbreitung des Kinos bzw. der Filmindustrie am Beginn
des Jahrhunderts als Indikatoren der wachsenden Beteiligung der „Massen“ an der gesellschaftlichen medialen Kommunikation. Eine neue Ära beginnt mit dem Radio, das auf neuen technischen Erfindungen basierte und nach dem Ersten Weltkrieg seinen Siegeszug antrat. In Großbritannien – und anderswo – war erstmals ein Mediensystem als public service und, anders als in
den USA weiterhin, nicht kommerziell organisiert. Die Autoren stellen positive wie negative
Begleiterscheinungen dar, werten aber die Weiterungen kommerzialisierter Medien beim suggestiveren zweiten elektronischen Medium, dem Fernsehen, negativer angesichts des noch stärkeren Spannungsverhältnisses zwischen Information und Bildung einerseits und exzessiv ausgedehnten Unterhaltungsangeboten andererseits. Eine neue Qualität habe wiederum die politische
Instrumentalisierung in den global vernetzten Medien und internationalen Konflikten der 1990er
Jahre erhalten.
Das Fazit am Ende des Buches ist trotz der Würdigung der bedeutenden gesellschaftsintegrativen Leistungen der Medien im 20. Jh. ernüchternd. Angesichts inzwischen global agierender
Medienkonzerne kritisieren die Autoren weniger die Gefahren möglicher medienkultureller
Überfremdung als noch einmal den „Triumph des Kommerzes“. Die schließlich auch durch neue
Verbreitungstechnologien mögliche Explosion des Angebots habe insbesondere in den USA
frühere Errungenschaften verdrängt: die Zuschauerschaft sei in viele Einzelpublika fragmentiert,
die geographische Perspektive im Informationsangebot trotz globalisierter Politik und Ökonomie
auf ein „parochiales“ Niveau verkümmert.
Anregend ist die Lektüre des Bandes auf jeden Fall angesichts der Tatsache, dass einigermaßen differenziert die großen Themen der Mediengeschichte des 20. Jh.s angesprochen werden. Es
fehlt jedoch eine theoretische Fundierung der Argumentationslinien, vieles kann nur angerissen
und nicht immer vertieft werden, wie auch Behauptungen nicht im Detail belegt werden können.
EDGAR LERSCH
Stuttgart
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
©Franz Steiner Verlag, Stuttgart
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Besprechungen
ULRICH HEITGER: Vom Zeitzeichen zum politischen Führungsmittel. Entwicklungstendenzen und
Strukturen der Nachrichtenprogramme des Rundfunks der Weimarer Republik 1923–1932 (Kommunikationsgeschichte 18). LIT, Münster 2003, 500 S., 34,80 e.
Die Vorschriften für den hinter einer privatrechtlichen „Fassade“ mehr oder weniger in Staatshand befindlichen Rundfunk der Weimarer Republik verordneten dem neuen Medium strikte
politische Neutralität. Dies trug mit dazu bei, dass Nachrichtenprogramme und aktuelle Sendungen, deren Manuskripte vor der Sendung dem so genannten politischen Überwachungsausschuss
vorgelegt werden mussten, sich nicht recht entfalten konnten. Hierin war der deutsche Rundfunk
in Europa zum Teil aus ähnlichen, zum Teil aus anderen Motiven durchaus kein Einzelfall.
Gleichwohl haben die Programmverantwortlichen im Zuge der allgemeinen Ausdifferenzierung
und Spezialisierung des Programmangebots und der Sendeinhalte versucht, Stück für Stück das
allzu enge Korsett zu sprengen.
Heitger stellt in seiner angesichts der schmalen Quellengrundlage und der bereits vorhandenen Forschungen allzu breit angelegten Untersuchung diese im Prinzip bekannte Ausgangslage
bzw. die angesprochenen Entwicklungen minutiös dar. Vor dem Hintergrund der Weimarer
Rundfunkordnung werden noch einmal Entstehung, Organisation und Arbeitsweise der „Dradag“
– einer staatlichen Gesellschaft – detailliert beschrieben. Nur die von dieser – mit einem
monströsen Kontrollgremium versehenen – Einrichtung vorformulierten Nachrichtentexte durften die regionalen Programmgesellschaften senden. Dass sie entsprechend der restriktiven Vorgaben meist vom Tagesgeschehen abgekoppelt und häufig auf die Rituale der obersten staatlichen Ebenen sowie Unglücksmeldungen und Katastrophen reduziert waren, liegt auf der Hand.
Jedoch: eine an Meldungen sowie der zeitgenössischen Kritik an ihrer Verwertung durch die
einzelnen Sender orientierte Beurteilung ist praktisch unmöglich, da Erstere nur in einer Handvoll von Beispielen, Letztere in wenigen Hinweisen erhalten geblieben sind. An diesem Umstand
kommt auch Heitger nicht vorbei.
Den weitaus größeren Teil (S. 131–452) seiner Untersuchung umfasst eine minutiöse Dokumentation des teils ähnlichen, teils divergierenden Umgangs der unterschiedlich finanzstarken
und jeweils mehr an urbanen oder mehr ländlichen Hörerkreisen orientierten Regionalgesellschaften mit der „Aktualität“. Sie versuchten, neben den allgemeinen Nachrichten, durch andere
Meldungssendungen (wozu ja auch das „Zeitzeichen“, Wetterberichte und anderes gehörten)
ihren Zeitvorsprung gegenüber der Presse tatsächlich zu realisieren bzw. diese in die Konsolidierung ihrer Programmschemata zu integrieren. Dies reichte vom zögerlichen Ausbau von Programmbeiträgen zum Zeitgeschehen bis hin zum vollständigen Verzicht auf die Nachrichten. Die
in der Rundfunkordnung vorgesehenen „Auflagensendungen“ staatlicher Stellen ließen die so
genannten Meldungssendungen in der Tat am Ende der Republik teilweise bereits zum Propagandainstrument verkommen.
Die Untersuchung konkretisiert und spezifiziert die Kenntnisse über ein für die publizistische wie politische Kultur der Weimarer Republik zentrales Programmsegment. Sie fügt den
vorhandenen Wertungen und Beurteilungen über den im Auf- bzw. Ausbau begriffenen Rundfunk der zwanziger bzw. frühen dreißiger Jahre jedoch keine prinzipiell neuen Einsichten hinzu.
EDGAR LERSCH
Stuttgart
MATTHIAS LAU: Pressepolitik als Chance. Staatliche Öffentlichkeitsarbeit in den Ländern der
Weimarer Republik (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 14). Steiner, Stuttgart 2003, 441 S.,
78,00 e.
Parallel zum Aufstieg der Presse im 19. Jh. entwickelten Regierungen immer neue Konzepte,
Zeitungen und später die anderen Medien in ihrem Sinne zu beeinflussen. Vereinfacht ausgeVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
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drückt haben Regierungen dabei zwei Möglichkeiten: Auf der einen Seite können sie über Zensur
und andere Maßnahmen verhindern, dass Informationen und Meinungen gedruckt werden, und
auf der anderen Seite können sie gezielt versuchen, Informationen und deren Interpretationen
möglichst wirksam in der Presse zu platzieren. Innerhalb dieses Spektrums sind die Mechanismen von Zensur und Propaganda in Systemen, die die Pressefreiheit ganz oder weitgehend
eingeschränkt haben, weit besser untersucht als die „Public-Relations-Maßnahmen“ von Regierungen unter den Bedingungen weitgehender Pressefreiheit. Insbesondere über die Weimarer
Republik gab es hierzu bislang zwar verschiedene Arbeiten, die sich mit der auswärtigen
Pressepolitik befassten, kaum etwas dagegen zu innenpolitischen Aspekten der regierungsamtlichen Pressearbeit.
Matthias Lau füllt nun mit seiner Arbeit über die „staatliche Öffentlichkeitsarbeit in den
Ländern der Weimarer Republik“ nicht nur eine Forschungslücke, sondern wählt dabei mit
seinem Blick auf die Länderebene einen ebenso interessanten wie ergiebigen Ansatz. Ergiebig ist
sein Vorgehen nicht zuletzt deshalb, weil sich Lau der Mühe unterzogen hat, nicht nur exemplarisch ein oder zwei Länder zu untersuchen, sondern die gesamte Bandbreite von Hamburg und
Braunschweig über Sachsen, Bayern und Württemberg bis hin zu Preußen abzudecken. Auf diese
Weise verbreitert Lau seine Untersuchungsbasis erheblich und kann Unterschiede, vor allem
aber übergreifende Grundzüge und Problematiken der Weimarer Pressepolitik insgesamt herausarbeiten.
In fünf Kapiteln spannt Lau den Bogen von der personellen Seite der Pressepolitik und der
Frage von Kompetenzstreitigkeiten über die eigentliche inhaltliche Arbeit der Pressestellen bis
hin zur Frage der Akzeptanz der pressepolitischen Aktivitäten in Staat und Öffentlichkeit.
Durch seine akribischen Untersuchungen, die auf ausgesprochen breiter und intensiver
Quellenarbeit beruhen, gelingt es Lau so auf der einen Seite, etwas voreilige Ansichten über die
Pressepolitik in der Weimarer Republik zu korrigieren: Hier weist Lau ebenso die Position Ute
Daniels zurück, die die staatliche Pressepolitik rein in der Fortsetzung oder gar der Steigerung
obrigkeitsstaatlicher Traditionen aus dem Kaiserreich sieht. Ebenso kritisiert Lau eine von der
NS-Propaganda ausgehende Beurteilung der Weimarer Pressepolitik, die diese angesichts des
Goebbels’schen Aufwandes schlicht blass aussehen ließe, ohne sich um deren eigentliche Charakteristik zu kümmern. Lau dagegen zielt darauf, den Eigenwert der Pressepolitik in der
Weimarer Republik herauszustellen. Auf der anderen Seite arbeitet Lau sehr deutlich hervor, in
welcher Weise das eigene Selbstverständnis der Pressestellen ebenso wie die von außen zugewiesene Rolle die Herausbildung einer „modernen“ Pressearbeit mit einer offenen und offensiven Informationspolitik verhinderte. Schon dadurch, dass die Pressechefs der Länder in aller
Regel zuvor bei Parteizeitungen oder in der parteinahen Presse gearbeitet hatten, unterschieden
sie sehr deutlich „Freund“ und „Feind“, so dass sie nur in seltenen Fällen bereit und in der Lage
waren, auch zur „gegnerischen“ Presse eine halbwegs vertrauensvolle Zusammenarbeit aufzubauen. So zeigt Lau etwa für den preußischen Pressechef, Hans Goslar, sehr eindrücklich, wie
sehr dieser seine Aufgabe als „Erzieher“ verstand, der „für die politische Bildung des Volkes“
arbeiten müsse und damit – angesichts eines hoch emotionalisierten politischen Massenmarktes
– zwangsläufig scheiterte. Zwar sahen Goslar und andere durchaus die Bedrohung, die insbesondere von Hugenberg für die Presselandschaft und für die Demokratie insgesamt ausging –
dagegen auszurichten vermochten sie, abgesehen von einigen Diffamierungsversuchen, so gut
wie nichts. Als „hervorstechendes Kennzeichen staatlicher Pressearbeit in der Weimarer Republik“ macht Lau somit „das Nebeneinander von disziplinierender Kommunikationskontrolle und
konfrontativer Kampagnenorientierung“ aus. Das bedeutet, dass sich die Pressepolitik auch in
den ruhigeren Jahren der Weimarer Republik in keiner Weise von der „Lagermentalität“ habe
lösen können und die Pressearbeit auf diese Weise in der Regel wenig Anstrengungen unternahm, die gegnerische Presse zu integrieren.
Insgesamt ist Lau ein tiefer und gewinnbringender Einblick in die Pressepolitik der Weimarer Republik gelungen, der sehr viel genauer als viele andere pressepolitische Arbeiten dem
Zusammenspiel zwischen den verschiedenen daran beteiligten Seiten nachgeht und deren Motive
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Besprechungen
und Selbstverständnisse ausleuchtet. Der Preis für die detaillierte und differenzierte Auseinandersetzung mit der Vielzahl von Ländern und den jeweils unterschiedlichen Bedingungen und
Konstellationen ist eine nicht immer ganz leichte Lesbarkeit. Zudem hätte Lau die Pressearbeit
noch etwas deutlicher in den pressegeschichtlichen Kontext der Weimarer Republik einbetten
können. Denn so, wie Lau die Pressepolitik hier in gut nachvollziehbarer Weise darstellt, erweist
sie sich als das passende Gegenstück zu einer Presselandschaft, die bis in die Massenpresse
hinein ganz und gar in politische Lager zerfiel.
Bielefeld
JÖRG REQUATE
MANFRED RASCH (Hg.): Industriefilm 1948–1959. Filme aus Wirtschaftsarchiven im Ruhrgebiet.
Klartext, Essen 2003, 484 S. (zahlr. Abb.), 29,90 e.
Seit einigen Jahren hat die Geschichtswissenschaft, insbesondere die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, den Wert von Filmen als historische Quelle erkannt. Der vorliegende Band reagiert auf
diese Entwicklung mit einer Dokumentation zum überlieferten Industriefilm aus Wirtschaftsarchiven im Ruhrgebiet im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. der Währungsreform. Der Hauptteil der Dokumentation besteht aus der Vorstellung einer Auswahl von Industriefilmen, geordnet in alphabetischer Reihenfolge der Auftraggeber, mit zahlreichen Informationen, u. a. über Produktionsjahr, Laufzeit, Produzent, Erhaltungszustand, weiterführender
Literatur sowie einer Inhaltsangabe. Der hohe Informationsgehalt und die gute Handhabbarkeit
dieser Dokumentation ergeben sich zudem aus einer Einführung zum Industriefilm des Ruhrgebiets zwischen 1948 und 1959, in der Manfred Rasch, ausgehend von allgemeinen Hinweisen
über die wirtschaftliche Entwicklung des Ruhrgebiets und des Films, sich mit spezifischen
Aspekten des Industriefilms, den Auftraggebern, den Themen, dem Verleih und den Filmproduktionsgesellschaften auseinandersetzt und so wichtige Hintergrundinformationen für die anschließende Dokumentation liefert. Es folgen Kurzvorstellungen der einzelnen Ruhrgebietsarchive mit
ihren Filmbeständen sowie Benutzungshinweise für die Dokumentation. Abgerundet wird der
hervorragend nutzbare Band durch ein Filmtitelverzeichnis, ein Auftraggeberverzeichnis, ein
Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Register. Damit handelt es sich bei dieser Dokumentation um einen weiteren Baustein der vorbildlichen Beständeübersicht der Ruhrgebietsarchive,
wobei in diesem Falle die archivübergreifende Zusammenarbeit zu betonen ist, die aus der
Perspektive der Nutzer nur begrüßt werden kann.
Dortmund
CHRISTIAN KLEINSCHMIDT
GUUS VEENENDAAL: Spoorwegen in Nederland. Van 1834 tot nu. Boom Amsterdam, Amsterdam
2004, 551 S. (zahlr. Abb.), 49,50 e.
Reich bebildert und mit viel Sachverstand beschreibt Guus Veenendaal die Geschichte der
niederländischen Eisenbahn. Von der ersten Bahnverbindung 1834 bis zu Entwürfen für den Zug
der Zukunft spannt sich der weite Bogen seiner Darstellung: Beginnend mit den ersten Bahnen in
England und Deutschland, die als Vorbilder der niederländischen Entwicklung dienten, über den
Aufstieg im 19. Jh. bis zu der Krise der Eisenbahnen nach dem Zweiten Weltkrieg wird die
technische, organisatorische und wirtschaftliche Entwicklung der Nederlandse Spoorwegen
Maatschapij umfassend beschrieben. Auch den Vorgängern und kleinen Konkurrenten der
ehemaligen Staatsbahn wird ausreichend Platz eingeräumt.
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
Veenendaal darf wohl als der zurzeit beste Kenner der Geschichte der niederländischen
Eisenbahn gelten, der sich bereits mit mehreren Veröffentlichungen auf diesem Gebiet einen
Namen gemacht hat. Allerdings hat die Eisenbahngeschichte in seinem Heimatland insgesamt
bisher weniger Beachtung gefunden als beispielsweise in Deutschland oder der Schweiz; daher
kann Veenendals Buch auch nicht als ein Beitrag zu einer aktuellen wissenschaftlichen Debatte
verstanden werden. Diese könnte jedoch durch vorliegende Publikation angestoßen werden, da
Spoorwegen in Nederland auf die spezielle Situation der Niederlande verweist, die durchaus
interessante Ansätze für verkehrshistorische Untersuchungen bietet: Nirgendwo sonst hatten die
Eisenbahnen in ihrer großen Zeit im Güterverkehr einen so starken Konkurrenten wie im
niederländischen Binnenwasserstraßensystem. Für kein anderes Land in Europa waren und sind
Transportdienstleistungen von solch eminenter Bedeutung – und es waren die Niederlande, die
als erster europäischer Staat versuchten, aus ihrer staatlichen Eisenbahn ein wirtschaftlich
geführtes Unternehmen zu formen. Es ließe sich also, gerade für Verkehrshistoriker, eine
Vielfalt interessanter Fragestellungen formulieren.
Das Buch schließt mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat einschließlich Register,
Zeitleiste und Literaturverzeichnis und ist somit nicht nur als Nachschlagewerk zu nutzen,
sondern ermöglicht zugleich einen umfassenden Überblick über die relevante niederländische,
englische und deutsche Literatur. Allerdings kann – verständlicherweise – nur die Aufstellung
der niederländischen Literatur Anspruch auf Vollständigkeit erheben.
In erster Linie jedoch ist Spoorwegen in Nederland eine Schrift für Liebhaber. Hunderte
Bilder, darunter Aufnahmen von Zügen, Bahnhöfen und Landschaften sowie Porträts, verdeutlichen – ebenso wie das große Format – was das Buch in erster Linie sein will: ein Buch zum
Betrachten – vor allem, aber eben nicht nur – für Eisenbahnenthusiasten.
PHILLIP-ALEXANDER HARTER
Bonn
8. Münz-, Geld- und Kreditwesen
PETER BERNHOLZ: Monetary Regimes and Inflation. History, Economic and Political Relationships. Edward Elgar, Cheltenham 2003, 210 S., 55.00 £.
Der emeritierte Baseler Nationalökonom summiert in diesem Buch die Ergebnisse jahrzehntelanger theoretisch-empirischer Forschungen über Ursachen, Verlauf, Wirkungen und Beendigung
von Inflationen. Ziel ist anwendungsfähige Theorie, Erfahrungsgrundlage sind zweieinhalbtausend Jahre Geschichte. Bernholz vergleicht unter systematischen Gesichtspunkten Inflationen
unter verschiedenen Geldverfassungen miteinander: in reinen Münzgeldsystemen (seit der griechischen Antike), in metallgedeckten Papiergeldwährungen und in den heutigen freien Papiergeldwährungen.
Bernholz lässt hohe gegenüber gemäßigten Inflationen dort beginnen, wo die „korrigierte
reale Geldmenge“ sinkt, denn hier beginnt das Publikum, sich der Geldentwertung durch Flucht
in Waren oder andere Währungen zu entziehen. Die extreme Spielart hoher Inflationen, die
Hyperinflation, definiert er – Cagan (1956) folgend – mit monatlichen Inflationsraten ab 50
Prozent. Inflationen müssen letztlich monetär, nicht (z. B. aus Kostendruck oder Nachfragestoß)
realwirtschaftlich erklärt werden. Demokratische Regierungen (zwecks kurzfristiger Gewinnung
von Wählerstimmen) neigen ebenso zu einer expansiven, inflationären Geldpolitik wie autokratische Regierungen. Diese Inflationsneigung kann langfristig nur durch eine angemessene Geldverfassung gezügelt werden. Metallgebundene Geldverfassungen (so auch noch der Goldstandard vor 1914) schneiden hier besser ab als der diskretionäre Papiergeldstandard, da in ihnen die
Geldausgabe durch den Metallvorrat begrenzt wird. Innerhalb des diskretionären PapiergeldstanVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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dards weisen Länder mit unabhängigen Zentralbanken niedrigere Inflationsraten auf als solche
mit abhängigen Zentralbanken. Unter allen Geldverfassungen gab es moderate, auch hohe
Inflationen. Aber alle 29 Hyperinflationen der Geschichte fanden – mit Ausnahme der Assignateninflation in der Französischen Revolution – unter dem diskretionären Papiergeldstandard
nach 1914 statt, und zwar durchaus nicht (hier widerspricht Bernholz Forrest Capie) immer durch
Kriegsausgaben veranlasst; die Hyperinflationen in Bolivien, Argentinien und Brasilien in den
1980er und 90er Jahren ereigneten sich in Friedenszeiten. Gemäßigte Inflationen können, müssen aber nicht durch Geldschöpfung zur Deckung eines Staatsdefizits verursacht sein. Hyperinflationen sind dies hingegen immer; Budgetdefizite in Höhe von 40 Prozent der Staatsausgaben
und 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts lassen sich nur durch eine Geldschöpfung finanzieren,
die in eine Hyperinflation mündet. Realwirtschaftlich unschädlich sind nur schwache und vorhersehbare Inflationen; hinreichend stark und unvorhersehbar waren bereits die Münzgeldinflationen der römischen Kaiserzeit nach Diokletian und des spanischen 17. Jh.s.
Kernstück des Buches sind Überlegungen über den Ablauf von Inflationen. Bernholz beobachtet die Entwicklung von Geldmenge, Wechselkursen und Währungssubstitution und skizziert
damit Bausteine einer Theorie des Währungswettbewerbs bei Inflation: 1) Ausgangspunkt der
Betrachtung ist der Start der Geldvermehrung in den bis in das 19. Jh. vorherrschenden Geldordnungen, in denen verschiedene Geldsorten (Münzgeld- und Papiergeldsorten) umliefen, zwischen denen ein festes Wertverhältnis festgelegt war, deren Marktwert aber schwanken konnte.
Eine Ausgabe unterwertigen Geldes führte nach einer Weile dazu, dass dieses „schlechte“ Geld
das „gute“ aus dem Geldumlauf verdrängte (Greshamsches Gesetz). Bernholz dokumentiert den
Vorgang von der griechischen Antike bis hin zur Greenback-Ausgabe im amerikanischen Bürgerkrieg. 2) Hat das schlechte Geld das gute Geld verdrängt, aber auch erst dann, steigt bei
fortschreitender Geldschöpfung die Gesamtgeldmenge, und zwar nicht nur nominal, sondern
auch real. Der Anstieg der realen Geldmenge ist ein Kennzeichen aller gemäßigten Inflationen.
Erst bei weiterem Preisanstieg bleibt die Expansion der nominalen Geldmenge hinter diesem
zurück, da jedermann das Geld so rasch wie möglich loswerden will. Ein Vergleich von zwölf
Hyperinflationen ergibt, dass die reale Geldmenge dort überall unter das Normalniveau sank und
zwar meist auf eine zu vernachlässigende Größe. Die unterschiedliche Entwicklung der realen
Geldmenge bedeutet, dass gemäßigte und hohe Inflationen mit unterschiedlichen Maßnahmen
beendet werden müssen. 3) Bei starkem Preisanstieg lässt sich der feste Wechselkurs der
inflationierenden, schlechten Geldsorte zu den in- oder ausländischen guten Geldsorten nicht
halten. Das Publikum kauft gute Geldsorten, gutes verdrängt schlechtes Geld. Bernholz beobachtet diese Währungssubstitution, die einer ungeplanten Währungsreform gleichkommt, zum ersten
Mal in den Inflationen der Sung- und der Ming-Zeit (im 14. und 15. Jh.) in China, aber graduell
z. B. auch in der deutschen Inflation des Jahres 1923. Er spricht vom Thiersschen Gesetz, weil
der französische Historiker und Staatspräsident Thiers den Vorgang – für die französische
Assignateninflation – zum ersten Mal beschrieben habe. 4) Inflationierende Währungen bzw.
Geldsorten neigen zur Unterbewertung, vor allem, wenn es zu der skizzierten Währungssubstitution gekommen ist; der Wechselkurs der inflationierenden Währung verfällt schneller, als das
einheimische Preisniveau steigt. Bernholz verfolgt diese regelmäßige Unterbewertung von der
römischen Silberdenarinflation im vierten nachchristlichen Jahrhundert über die deutsche Inflation nach 1919 bis in unsere Gegenwart. Der dänische Wirtschaftswissenschaftler Martin Paldam
hat diese Regelmäßigkeit das Bernholzsche Gesetz genannt. 5) Währungsreformen zur Beendigung gemäßigter und hoher Inflationen müssen, sollen sie erfolgreich sein, unterschiedlich
durchgeführt werden. Immer ist die Rückkehr zu einer stabilen Geldverfassung (Bindung an eine
stabile Währung, unabhängige Zentralbank o. Ä.) notwendig, wenngleich die neue Anfangsgeldmenge unterschiedlich einzurichten ist. Bei der Beendigung gemäßigter Inflationen (in denen die
reale Geldmenge angestiegen ist), gelingt die Rückkehr zur alten Währungsparität nur, wenn die
Inflationszeit (bei Krieg o. ä.) als Ausnahmezustand empfunden wird und gleichzeitig die
Inflationsraten im Vergleich zu den Referenzwährungen nicht zu hoch waren; in allen anderen
Fällen ist nur die Festsetzung einer niedrigeren Parität politisch durchsetzbar. Bei der BeendiVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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gung von Hyperinflationen kommt es u. a. darauf an, die in der Inflation dramatisch gesunkene
reale Geldmenge zur Vermeidung einer Rezession wieder auf Normalniveau zu bringen; dazu
muss – anders als bei der Beendigung gemäßigter Inflationen – auch die nominale Geldmenge
(nach dem Währungsschnitt) scharf erhöht werden. Für die „sehr erfolgreichen“ Währungsreformen (Kriterium: Inflationsrate im Jahr nach der Reform unter 25 %) stellt Bernholz fest, dass die
reale Geldmenge bereits wieder mehr als 44,5 Prozent des Normalniveaus erreicht hatte; in den
weniger erfolgreichen Währungsreformen lag sie darunter.
Bernholz hat ein interessantes, lesenswertes Buch geschrieben. Das ausdrückliche Unterfangen, die Geschichte zur Gewinnung genereller Hypothesen zu nutzen, ist vorbildlich. Nur so
kann man aus Geschichte lernen. Die vorgestellten generellen Hypothesen leuchten – als Tendenzaussagen, die sie lediglich sein sollen – ein. In ihrer langzeitlichen empirischen Fundierung
und soweit sie die Zusammenhänge zwischen Geldmenge, Preisen, Wechselkursen und Währungssubstitution beschreiben, gehen sie weit über das hinaus, was – auch in der jüngsten Zeit –
die vergleichende Inflationsbetrachtung zutage gefördert hat. Bernholz weicht in seinem Gang
durch die Geschichte Widerlegungsmöglichkeiten nicht aus; er diskutiert sie. Die quantitativen
Zusammenhänge sind tabellarisch oder graphisch gut dokumentiert. Die Entwicklung der „Wechselkurse“ und der Preise wird konsequent getrennt voneinander beobachtet, der Kursverfall
mengenexpandierender Geldsorten wird nicht – wie das häufig geschieht – als Indikator für die
Inflation genommen; diese separate Beobachtung ist die empirische conditio sine qua non der
Bernholzschen Thesen. Die Darstellung ist wohltuend knapp, immer auf die wesentlichen Zusammenhänge konzentriert und dennoch, da teilweise mit zeitgenössischen, literarischen Zeugnissen gespickt, auch anschaulich.
Man sollte Bernholz angesichts der Vielzahl der verglichenen Vorgänge nicht vorwerfen,
dass er für die einzelnen Inflationen die Fülle der erschienenen Literatur nicht ausgeschöpft hat.
Sicher wäre er detailgenauer gewesen, hätte er dies getan. Aber zur Diskussion der großen
Thesen reicht die benutzte Literatur aus.
Wünschenswert wären in einigen Fällen umfangreichere Erklärungen bzw. besser abgestimmte Beschreibungen gewesen. Die Erklärung für die Unterbewertung der inflationierenden
Währung bzw. Geldsorte, eine der zentralen Thesen des Buches (nämlich vergleichsweise gut
informierte und organisierte Devisenmärkte), habe ich gerade einmal in einem Satz (auf S. 140)
angedeutet gefunden; eine ausführlichere Erklärung hätte die Rolle mit einbeziehen können, die
eventuell ein zunehmendes Gütervolumen für die Abbremsung des einheimischen Preisanstiegs
spielt(e). Oder: Die Beantwortung der Frage, zu welcher Parität beim Währungsschnitt zurückzukehren ist, wäre nicht nur – wie geschehen – für die Beendigung gemäßigter Inflationen,
sondern auch für die Beendigung von Hyperinflationen wünschenswert gewesen, wo sie aber
fehlt – und bestenfalls indirekt zu erschließen ist.
Vertiefung würde die Erörterung der metallgebundenen Währungen verdienen, für die
Bernholz – wie viele Ökonomen – im Vergleich zu der heutigen diskretionären Papiergeldwährung zumindest rückblickend Sympathie hat. Sicher war die Edelmetallbindung, sofern ihre
Regeln beachtet wurden, eine Inflationsbremse; und metallgebundene Währungen kannten keine
Hyperinflation. Aber (abgesehen von der systemimmanenten Deflationsneigung dieser Währungsordnungen): Auch die römische und spanische Münzgeldinflation hatten, wie von Bernholz
selber betont, bei vergleichsweise niedrigen Inflationsraten, realwirtschaftlich desaströse Wirkungen; das Geld wurde funktionsunfähig. Und die Handhabung metallgebundener Geldsysteme
war durchaus schwierig und enthielt de facto eine Fülle „diskretionärer“ Elemente: Die „monetäre Unordnung“ in Florenz und Venedig im 13. Jh. war mit der Einführung wertstabiler goldener
Fernhandelsmünzen (1252 bzw. 1284) keineswegs, wie die Ausführungen auf Seite 31 vermuten
lassen, ein für allemal beseitigt; die innerstädtischen Alltagsprobleme mit Kleinmünzen, deren
Wert stark schwankte und verfiel, dauerten an – es ist dies eigentlich überall das geldpolitische
Grundproblem vom späten Mittelalter bis in das 19. Jh. Und was den Goldstandard vor 1914
angeht: Er war wohl weniger demokratisch, als Bernholz (S. 14) glaubt; denn er band nicht nur
den Notenemittenten, sondern auch die Kreditnehmer. Und er lief in der Praxis weniger automaVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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tisch ab, als es Bernholz (S. 18) meint; die Notenbanken kauften z. B. zur Aufstockung ihrer
Währungsreserven auch autonom Gold, und sie änderten ihren Zinssatz durchaus nicht nur
proportional zur Veränderung ihrer Goldreserven.
Aber alles das sind Randnotizen; sie schränken den Wert dieses bedeutenden Buches über
ein zentrales Thema in keiner Weise ein.
Frankfurt a. M.
DIETER LINDENLAUB
MARC BOONE/KAREL DAVIDS/PAUL JANSSENS (Hg.): Urban Public Debts. Urban Government and
the Market for Annuities in Western Europe (14th–18th Centuries) (Studies in European Urban
History 3). Brepols, Turnhout 2003, 221 S. (zahlr. Tab. u. Graphiken), 57,00 e.
Wenn auch die wissenschaftliche Diskussion um das genaue Funktionieren der städtischen
Anleihen- und Rentenmärkte in der Vormoderne in den vergangenen Jahren etwas in den
Hintergrund der allgemeinen Aufmerksamkeit getreten ist, so ist sie doch nicht abgeschlossen,
wie die 13 in diesem Band vereinigten Vorträge einer im November 2001 abgehaltenen Tagung
in Gent zeigen. Gegenüber der politisch nur mühsam durchzusetzenden und zu legitimierenden
Steuererhebung bzw. -erhöhung besaß der Verkauf von Renten den unleugbaren Vorteil, in
relativ kurzer Zeit hohe Summen zur Verfügung zu erhalten. Die vorliegenden Studien behandeln sowohl die großen Metropolen – zu nennen sind London, Venedig, Amsterdam, Rom,
Brügge – als auch Städte nachgeordneten Ranges wie Basel, Zutphen, Huy und Dordrecht oder
eine ganze Region wie Aragon. Zeitlich liegt der Schwerpunkt der meisten Beiträge auf der
Frühen Neuzeit, so dass die ältere Forschung, die sich vor allem um die Frühzeit des Rentenwesens gekümmert hatte, eine wesentliche Ergänzung erfährt.
Eröffnet wird der Band durch einen das Thema prägnant skizzierenden Überblick der drei
Herausgeber, woran sich eine den Ursprüngen und der Verbreitung des Rentenverkaufs nachgehende
Studie von James D. Tracy anschließt, in der die Vermutung ausgesprochen wird, dass die republikanisch verfassten Stadtobrigkeiten eher lang laufende (Zwangs-)Anleihen bevorzugten als die monarchisch konzipierten Stadtherrschaften vor allem Italiens, die zu freiwilligen Anleihen tendierten. Es
schließen sich elf Untersuchungen an, die jeweils eine Stadt bzw. Region zum Gegenstand haben.
Deren Ergebnisse können hier nicht in extenso vorgestellt werden. Eine Gemeinsamkeit der Beiträge
ist, dass sie die Abhängigkeit des städtischen Finanzgebarens von der Verfassung der Städte, aber
auch von den politischen und wirtschaftlichen Wechsellagen aufzeigen. Die Rentenpolitik stand in
einem durchaus konfliktreichen Interessenfeld, das gebildet wurde aus den die städtische Finanzkraft
abschöpfenden Fürsten und deren Amtsträgern, den (Land-)Ständen, den städtischen Führungsschichten, den Rentenkäufern (in der Regel Kaufleute, die ihre Gewinne sicher investieren wollten) und
nicht zuletzt aus den die Stadtgemeinschaft tragenden Bürgerhaushalten, die mit ihrem Steueraufkommen die Auszahlung der Renten gewährleisteten. In methodischer Hinsicht bemerkenswert und von
besonderem Interesse sind die Studien, die sich explizit den Rentenverkäufern widmen. Die Verknüpfung mit prosopographischen Problemen kennzeichnet alle drei Beiträge dieser Sektion (Laurence
Derycke über Brügge gegen Ende des 15. Jh.s, Manon van der Heijden über Dordrecht im Vergleich
zweier politisch entscheidender Jahre 1555 und 1572 und Martijn van der Burg/Marjolein ´t Hart über
das zu Beginn des niederländischen Unabhängigkeitskrieges gegen Spanien isolierte Amsterdam
1578–1605). Auffällig ist, dass selbst minder vermögende Witwen städtische Renten als eine Art
Lebensversicherung für das Alter zu nutzen verstanden. Der nur begrenzt zur Verfügung stehende
Raum bedingte wohl, dass allerdings gerade die Personengeschichte äußerst knapp wegkam. Ebenfalls eine eigene Fragestellung verfolgte Hans-Jörg Gilomen, der am Beispiel Basels dezidiert der
finanzpolitischen Entscheidungsfindung nachging und dabei auch mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen wie der nach der kirchlichen Bewertung des Rentenverkaufs als eine Form des Wuchers
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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streifte. Aus einem langsamen Rückgang des Leibrentenverkaufs und einer Zunahme der rückkaufbaren Renten im Laufe des 15. Jh.s kann er auf ein zunehmendes Erfahrungswissen der Finanzpolitiker
schließen. Spektakulär waren beispielsweise auch die Verhandlungen der Stadt Bern mit zwei
Leibrenten besitzenden Witwen, die sehr alt wurden und wesentlich mehr an Zahlungen einnahmen
als sie je angelegt hatten, was den Berner Verantwortlichen nicht verborgen blieb (S. 136 f.).
Insgesamt sind es alles Studien, deren Wert darin liegt, dass sie über die engeren finanz- und
rechtsgeschichtlichen Aspekte hinausgehen und für die sozialgeschichtliche Erforschung des
Rentenwesens weitere Perspektiven aufzeigen und, was man nicht unterschätzen darf, den
Vergleich ermöglichen.
Kiel
HARM VON SEGGERN
DETLEF KRAUSE: Die Commerz- und Disconto-Bank 1870–1920/23. Bankgeschichte als Systemgeschichte (Beiträge zur Unternehmensgeschichte 19). Steiner, Stuttgart 2004, 404 S. (25 Tab.),
44,00 e.
Deutsche Bank, Dresdner Bank – von welcher der deutschen Großbanken wäre in Weiterführung
dieser Reihe als nächstes eine umfassende historische Untersuchung zu erwarten? Sicher, von
der Commerzbank. Die Commerzbank ist seit mehreren Jahren Gegenstand eines Forschungsprojekts an der Berliner Humboldt-Universität unter der Leitung von Ludolf Herbst. Die Rolle
der Bank im Nationalsozialismus steht auch bei diesem bankhistorischen Projekt und seinen
bisher erschienenen Darstellungen im Vordergrund. Der zeitliche Rahmen des Vorhabens – von
den Anfängen bis zur Rezentralisierung der Bank 1958 – ist jedoch weiter gesteckt.
Teil des Projekts ist auch die Dissertation von Detlef Krause – eine Qualifikationsarbeit,
deren Verfasser man wohl kaum als Qualifikanten bezeichnen kann: Krause ist seit Jahren für die
Historische Dokumentation der Commerzbank verantwortlich und entsprechend vertraut mit den
auf weiten Strecken eher kargen und sperrigen Archivbeständen der Bank. Der Verfasser erarbeitet mit systemgeschichtlichem Ansatz die ersten rund fünfzig Jahre der Commerz- und DiscontoBank zwischen 1870 und der Inflation Anfang der 1920er Jahre. Er entgeht damit der Schwäche
zahlreicher Bankengeschichten, die kreditwirtschaftliche Haupt- und Staatsaktionen ohne geschäftliche Basis darstellen und Führungspersönlichkeiten losgelöst von betrieblichen Strukturen agieren lassen. Materialreich, klar strukturiert und mit gemessenen Zehn-Jahres-Schritten
verfolgt Krause die Veränderungen, denen die Bank durch Fusionen, Ortswechsel und geschäftliche Schwerpunktverlagerungen unterlag.
Krause blickt gleichermaßen nach außen und nach innen, analysiert – außen – Geschäftsfelder
ebenso wie die gesellschaftliche Einbindung der Commerzbank an den Plätzen Hamburg und Berlin,
untersucht – innen – Leitungs- und Personalstrukturen, betriebliche Prozesse und die Unternehmenskultur der Bank: Ein gelungener, umfassender Zugriff – zur Nachahmung empfohlen.
IMKE THAMM
Bonn
MICHEL LESCURE/ALAIN PLESSIS (Hg.): Banques locales et banques régionales en Europe au XXe
siècle. Mission historique de la Banque de France. Editions Albin Michel, Paris 2004, 430 S.,
25,00 e.
Die beiden Herausgeber sind Professoren an der Université de Paris-X-Nanterre, Letzterer
bereits emeritiert. Insgesamt haben an dem Buch 16 Autoren mit 14 Aufsätzen mitgewirkt (ohne
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
©Franz Steiner Verlag, Stuttgart
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Besprechungen
Vor- und Nachwort), und zwar zehn französische Verfasser und sechs aus anderen europäischen
Ländern.
Trotz des Buchtitels liegt der Schwerpunkt der Abhandlungen auf Frankreich: Neun der 14
Beiträge befassen sich mit den französischen Regional- und Lokalbanken und ihrer Entwicklung
im 20. Jh., insbesondere in den ersten 40 Jahren. Diese Frankreich-bezogenen Aufsätze machen –
in den Teilen 2 und 3 – fast drei Viertel des Buches aus.
Im ersten Teil werden die fünf Abhandlungen wiedergegeben, die sich mit der Bankenentwicklung in europäischen Ländern außerhalb Frankreichs beschäftigen. Es handelt sich um die
Länder Deutschland, Großbritannien (schwergewichtig England), Belgien, Italien und die Schweiz.
Warum gerade diese Länder ausgewählt wurden, wird nicht thematisiert. Offensichtlich haben
die Herausgeber den Autoren keine strukturierenden Vorgaben gemacht, sodass sehr unterschiedliche Darstellungen aneinandergereiht wurden.
Den relativ umfänglichen Aufsatz über „Banques régionales es banques locales en Allemagne. Un système polarisé“ hat Gerd Hardach beigesteuert. Es handelt sich um eine recht
kenntnisreiche, gut lesbare chronologische Darstellung, die die privaten Banken, die Sparkassen,
die Kreditgenossenschaften und ihre jeweiligen Zentralinstitute berücksichtigt. Ein kleiner Abschnitt ist sogar der Entwicklung in der ehemaligen DDR gewidmet.
Bei allen Unterschieden zwischen der Entwicklung in den einzelnen in die Darstellung
einbezogenen Ländern lässt das Buch doch auch beachtliche Gemeinsamkeiten erkennen. Zwei
seien hier abschließend erwähnt: 1) Waren die Lokal- und Regionalbanken im 19. Jh., in dem die
meisten von ihnen entstanden sind, in der Offensive, so befinden sie sich im 20. Jh. überall in der
Defensive. Die überregional und supranational tätigen Banken haben sich an den Märkten
weitgehend durchgesetzt. 2) Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Bedeutung und
der Entwicklung des gewerblichen Mittelstandes und dem Vorhandensein von Lokal- und
Regionalbanken. Da der Mittelstand für eine regional ausgewogene, dezentrale Wirtschaftsentwicklung wichtig ist, ist das Verschwinden der kleineren Banken mit Sorge zu konstatieren.
GÜNTER ASHAUER
Köln
10. Technik- und Umweltgeschichte
MATHIEU ARNOUX/PIERRE MONNET (Hg.): Le Technicien dans la cité en Europe occidentale, 1250–
1650 (Collection de l’Ecole française de Rome 325). Ecole française de Rome, Rom 2004, 410
S., 45,00 e.
Vorgelegt werden neue Ergebnisse einer vornehmlich französisch-deutschen, hier aber Italien
stark einbeziehenden Zusammenarbeit in der Stadtgeschichtsforschung, mit denen eine Göttinger Tagung versuchte, das die urbane Entwicklung prägende Phänomen Technik auf dem
Umweg über den „Techniker“ zu erfassen. Den dafür gewählten methodischen Ansatz erläutern
die Herausgeber in der Einleitung in einem Kapitel „Du laborator au technicien“, in dem sie
unter Verweis auf Jacques Le Goff aus dem Funktionsstand der Arbeitenden den „Techniker“
hervorgehen sehen, vor allem aufgrund gesellschaftlicher Anerkennung seiner spezifischen
Schöpfungen. Die Zäsur 1250 betrifft dann nicht den „Techniker“ als solchen, der als nominelles
Hilfskonstrukt schon früher, unter fabri, artifices, opifices und manchen magistri zu finden wäre,
sondern einen bestimmten Entwicklungsstand der Stadt. Bereits vor längerer Zeit einmal hatten
sich zwei deutsch-französische Mediävistentagungen „Zum Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Menschen“ (1964) unter Leitung des Philosophen Paul Wilpert ebenfalls auf die Stadt seit
dem 13. Jh. bezogen, partiell sogar auf die Technik, nicht jedoch auf den „Techniker“ als
Wirkfaktor.
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
©Franz Steiner Verlag, Stuttgart
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Besprechungen
Die insgesamt 19 unterschiedlich langen, gelegentlich durch Quellenabdrucke oder Abbildungen ergänzten Beiträge durchwegs bekannter, in der Materie erfahrener Historiker komplettieren nun einmal mehr unser Bild von der Stadt. Den Inhalten nach behandeln die jetzt
gedruckten italienischsprachigen Studien Quellen zur Geschichte der Baumeister in Rom; den
Metallurgen und Amalgamationstechniker Antonio Mauro im Venezianischen; die Praxis der
artes mechanicae und ihre gesellschaftliche Einordnung in der Serenissima; den dortigen Markt
der Innovationen rund um das Patentgesetz von 1474. Deutschsprachige Beiträge betreffen einen
bisher unbekannten Ingenieur in der Parallele zu Dominicus von Florenz; Ordnungsprinzipien in
technischen Handschriften und Drucken; Ingenieure und technische Experten als Migranten und
Beförderer des Technologietransfers; den Nürnberger Metallguss; Einwirkungen von Kaufleuten
in Steyr auf technische Fertigungsprozesse im Eisen- und Stahlsektor. Französische Beiträge
handeln von frühen techniciens fantômes, zumeist in italienischen Städten; vom (technischen)
Professionsbewusstsein; Wasserbauern in Dijon; von Nürnberger Technikern und Künstlern in
Personalunion; von städtischen Glasmachern; von Eisenproduzenten sowie von Tuchmachern
zwischen Rouen und Paris, jeweils unter den Anforderungen technischen Wandels. Die englischsprachigen Beiträge betreffen Techniker im 13. Jh. in London; die ersten Schiffe vom Typ der
„Chelandia“ und venezianische Schiffbauer in der Geschichtsschreibung sowie last but not least
Arbeitsmobilitäten und Facharbeitermigrationen in Europa vom 14. bis zum 18. Jh.
Wenn es Ziel der Göttinger Zusammenkunft war, die Technik als ein entscheidendes Medium der Stadtwerdung, Stadtplanung und Stadtentwicklung besser zu verstehen, dann sollte es mit
Hilfe der trefflich eingeleiteten Vortragsdrucke, die ein Orts- und ein Namenregister erhielten
und vom Verlag in bewährter Weise ausgestattet wurden, nunmehr erreicht worden sein.
Bremen
KARL-HEINZ LUDWIG
PETER JOHANNES DROSTE: Wasserbau und Wassermühlen an der Mittleren Rur. Die Kernlande des
Herzogtums Jülich 8.–18. Jahrhundert (Aachener Studien zur älteren Energiegeschichte 9).
Shaker, Aachen 2003, 374 S. (29 Abb.), 34,80 e.
Die historische Entwicklung der Energietechnik und insbesondere die Nutzung des Wasserradantriebs für alle möglichen gewerblichen und industriellen, zunächst montanindustriellen Zwecke
sind in den letzten Jahrzehnten zu einem Paradefeld der Wirtschafts- und Technikgeschichte
geworden. Zum wiederholten Male wird hier nun eine Aachener Dissertation vorgelegt, die,
mediävistisch betreut, von vornherein erwarten lässt, dass es sich um einen exakt quellen- und
vor allem urkundenfundierten Beitrag handelt. Noch fehlt zwar ein Atlas der Mühlendichte als
Gesamtüberblick – welche Institution vermöchte ein solches Unternehmen auch anzugehen? –,
doch lässt die Arbeit von Droste nunmehr einen weiteren weißen Fleck in der historischen
Geographie der menschlichen Nutzung von Wasserenergie verschwinden.
Der Verfasser widmet sich den Kernlanden des Herzogtums Jülich an der Mittleren Rur von
Nideggen bis Düren und östlich darüber hinaus, wo sich die Wasserenergie, die anfänglich
Getreidemühlen antrieb, nach der Innovation von Nockenwelle und Pleuel für weitere Gewerbemühlen und im Untersuchungsraum nicht zuletzt für vergleichsweise viele Papiermühlen nutzen
ließ. Die methodischen Schwierigkeiten, die einer Darstellung der Wechselwirkung der Mühlenverdichtung und des Landesausbaus unter den Pfalz- sowie Gaugrafen und seit 1356 Herzögen
von Jülich entgegenstanden, werden vom Verfasser ebenso gut gemeistert wie die Probleme des
Wasserbaus. Diese begannen spätestens bei der Schaffung künstlicher Seitenarme der Rur im 8.
Jh. und setzten sich beim Ausbau von Mühlgräben und Mühlenteichen bzw. Mühlendeichen und
Wehranlagen zu hydrographischen Netzwerken fort.
Die aufgeworfenen Wasserrechtsfragen bieten, wenn Prozesse geführt wurden und Prozessakten überliefert sind, willkommenes zusätzliches Quellenmaterial. Dessen Verarbeitung konVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
frontiert den Verfasser freilich mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen derjenigen geschichtlichen Wissenschaften, die heute Mühlenforschung betreiben. Rechtsgeschichtlich erhebt
sich dann beispielsweise die Frage von Norm und Praxis beim Mühlenbann für Nideggen
(S. 781 f.), sprach- und zugleich technikgeschichtlich die nach der Bedeutung der „Vollmühle“,
die weiter unten im Text als „Vellmühle“ (Fellmühle?) genauer und im Standortverzeichnis als
„Gerbmühle“, also doch wohl Lohmühle, zu erschließen ist. Weitere montangeschichtliche
Erläuterungen verdiente die Stein- und Kupfermühle (S. 220), bei der „Stein“ als Kupferstein
anzunehmen ist. Auch bei der „Fingerhut- und Schneidemühle“ (S. 264) hätte man sich ein paar
technische Erläuterungen gewünscht, denn nun erscheint die Diversifikation des Wasserradantriebs kombiniert mit der Ausweitung des Wortes „Mühle“. Zu alledem bedauert der Verfasser
im Vorwort, dass ein Kapitel „Von der Getreidemühle zur Fabrik“ wegfallen musste.
Bleiben hier also Wünsche offen, die den Übergang zur Industrialisierung und damit allerdings eine neue Epoche und veränderte historische Grundraster betreffen, so ist das Ziel der
vorliegenden Arbeit, die Mühlenentwicklung an der Mittleren Rur seit der Römerzeit bis zum 18.
Jh. darzustellen, voll erreicht worden. Die damalige gesellschaftliche Leistung beim Ausbau der
Wasserkraft zum Energiepotential einer Gewerberegion dürfte vielfach höher zu bewerten sein
als mutatis mutandis heute der Ausbau von Windkraft.
Bremen
KARL-HEINZ LUDWIG
WILHELM FÜSSL/HELMUTH TRISCHLER (Hg.): Geschichte des Deutschen Museums. Akteure, Artefakte, Ausstellungen. Prestel, München u. a. 2003, 456 S. (66 Abb., 5 Tab.), 39,95 e.
Mit der Geschichte des Deutschen Museums haben sich die Herausgeber zum Ziel gesetzt, eine
„kritische Festschrift“ vorzulegen, die einen „reflektierenden Beitrag zur Selbstvergewisserung
der eigenen Institution in ihrem historischen Gewordensein im 20. Jahrhundert“ (S. 7) leisten
möchte. Diesen hehren Anspruch zu erfüllen, erscheint zunächst nicht selbstverständlich. Immerhin handelt es sich bei den Autoren der Einzelbeiträge fast ausnahmslos um aktive bzw.
ehemals leitende Mitarbeiter des Museums oder Personen, die der Institution nahe stehen. Dass
eine reine Nabelschau oder kritiklose Verherrlichung der Museumsgeschichte vermieden wurde,
sei an dieser Stelle bereits positiv vermerkt. Die zwölf Einzelbeiträge gehen der Leitfrage nach,
wie sich das Deutsche Museum vor dem Hintergrund der sozioökonomischen, politischen,
gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlich-technischen Strömungen vom ersten Gründungsgedanken Ende des 19. Jh.s bis in das Jahr 2000 hinein entwickelt hat.
Die Monographie besteht aus zwei Hauptteilen. In einer Längsschnittbetrachtung werden
wichtige Zäsuren und Entwicklungsphasen des Deutschen Museums zeitlich verortet. Die großen
Epochen der Museumsgeschichte gliedern sich in die Vorgeschichte bis zur Entstehung des
Museumsgedankens, die Entwicklung des Museums in der Gründungs- und Aufbauphase und im
Nationalsozialismus sowie den Wiederaufbau des zerstörten Museums bis 1969. In den 1970er
Jahren zeigten sich erste Konsolidierungs- und Professionalisierungstendenzen – ein Trend, der
bis in unsere Zeit hinein andauert. In einer eher makrohistorischen Perspektive loten die einzelnen Beiträge das Wechselspiel zwischen den Führungspersönlichkeiten des Museums sowie
wichtigen Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik aus. Daneben werden die Organisationsentwicklung, die Inhalte einzelner Ausstellungen sowie die Forschungsarbeit des Museums thematisiert.
Im zweiten Teil des Buches schließt sich eine Querschnittanalyse an. In sechs Einzelbeiträgen werden Veränderungen und Kontinuitäten des Museumskonzeptes untersucht. Dies erfolgt
zum einen am Beispiel der Abteilungen Schifffahrt, Chemie und Bergbau. Hinzu kommt eine
Darstellung der wissenschaftlichen Forschungsarbeit des Deutschen Museums, die sich auf einen
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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reichen Fundus hausintern verfügbaren Archiv- und Bibliothekmaterials stützen kann. Ein weiteres Kapitel untersucht die Breitenwirkung des Deutschen Museums als „Volksbildungsstätte“,
welche den Spagat zwischen einer popularisierenden Heranführung breiter Bevölkerungsschichten an Wissenschaft und Technik und der propagandistisch aufgeladenen Inszenierung technischer Artefakte und kulturschaffender „großer Männer“ aus Naturwissenschaft und Ingenieurswesen versucht. Das letzte Kapitel ordnet das Deutsche Museum in die internationale Technikmuseen-Landschaft ein und geht kritisch der Frage nach, inwieweit das Münchner Museum den
Anschluss an moderne Museumskonzepte gefunden hat.
Insgesamt vermittelt der Band ein anschauliches Bild von der wechselvollen Geschichte des
Deutschen Museums im Kontext gesamtgesellschaftlicher Bedingungen und Einflüsse. Die
quellengesättigte, in weiten Teilen gut lesbare Monographie erlaubt einen Blick auf die Handlungsspielräume der Museumsleitung, auf herrschende gesellschaftliche und technische Strömungen mit veränderten Ausstellungskonzepten zu reagieren. Hinter seinem Ziel, die historische
Entwicklung des Museums über das gesamte 20. Jh. gleichermaßen dicht zu beleuchten, bleibt
der Band jedoch teilweise zurück. So ist nicht erkenntlich, weshalb bei der Querschnittanalyse
gerade die Bereiche Schifffahrt, Chemie und Bergbau aus der Vielzahl an denkbaren alternativen
Ausstellungsabteilungen ausgewählt wurden. Immerhin fällt die Konzeptionierung aller drei
Abteilungen in die erste Hälfte des Jahrhunderts, und die Anpassungen dieser traditionsreichen
Ausstellungen an veränderte museumspädagogische Erfordernisse erfolgten eher graduell. Sie
reflektieren den lange Zeit dominierenden, eher konservativen Zugang des Deutschen Museums
zur Repräsentation von Wissenschaft und Technik, der möglicherweise mit dazu beigetragen hat,
dass dieses – trotz massiven wissenschaftlichen Inputs museumseigener Forschung – in den
letzten Jahren „in immer mehr Bereichen [...] nicht mehr up to date“ (S. 394) ist. Kaum erwähnt
werden demgegenüber die ständigen Ausstellungen aus den 1980er und 1990er Jahren, beispielsweise zur Pharmazie. Diese weichen konzeptionell offensichtlich stark vom museumsdidaktischen Ansatz Millerscher Prägung ab und hätten daher eine eingehendere Darstellung verdient.
Das Ziel einer Selbstvergewisserung der eigenen Institution wird mit der Betonung der Blütezeit
und des von vielen Technikmuseen kopierten Ansatzes „begreifbarer“ Wissenschaft zweifellos
erreicht. Eine Perspektive, wie das Museum auf wachsende Erfordernisse zur multimedial
aufbereiteten, exponatferneren Vermittlung moderner Schlüsseltechnologien langfristig reagieren wird, bleibt das Werk allerdings schuldig.
SILKE FENGLER
Aachen
RAINER KARLSCH: Hitlers Bombe. Die geheime Geschichte der deutschen Kernwaffenversuche.
DVA, München 2005, 415 S., 24,90 e.
„Hitlers Bombe“ als für den Buchverkauf förderlicher Titel lässt inhaltlich sozusagen eine
„wissenschaftliche Bombe“ erwarten. Doch kann der Berliner Historiker Karlsch die hohen
Erwartungen des Lesers mit harten Fakten und Argumenten erfüllen? Wenn, soviel sei vorweggenommen, der Leser mit „Hitlers Bombe“ eine Atombombe vergleichbar der Sprengkraft von
„Hiroshima“ oder „Nagasaki“ assoziiert, dann ist der Titel dieses Buches ärgerlich irreführend.
Wenn der Leser sich aber am viel braveren Untertitel orientiert, dann erwartet ihn eine spannend
geschriebene Geschichte, die mit bisher unbekannten Quellen aus diversen (auch russischen)
Archiven aufwartet, ergänzt um erste Ergebnisse moderner physikalischer Messmethoden. Daraus
leitet Karlsch auf den ersten Blick verführerisch logische Indizienketten ab, die in mehrfacher Sicht
neue und auch spektakuläre Folgerungen zulassen. Aus wissenschaftlicher Warte ist nun zu fragen, ob
die von Karlsch gezogenen Folgerungen mit dem präsentierten Quellenmaterial als bewiesen
gelten können. Hatte also Hitler „die Bombe“ – oder zumindest etwas in dieser Richtung?
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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Besprechungen
Die spektakulärste Folgerung von Karlsch ist, dass es in Nazi-Deutschland einige Monate
vor dem Test einer amerikanischen Atombombe gelang, mindestens ein „nukleares Ereignis“ im
Sinne einer Bombenexplosion herbeizuführen, wobei es hier aber „nur“ zu einer im Vergleich
zur „Hiroshima-Bombe“ winzigen Energiefreisetzung kam. Die bisherige Geschichtsschreibung,
auf der Grundlage der Erkenntnisse über die deutsche Kernforschung des so genannten „Uranvereins“ um Werner Heisenberg, sah die Herbeiführung einer nuklearen Explosion in NSDeutschland als unmöglich an. Karlsch argumentiert nun auf der Basis neuer Quellen, dass es
aber noch weitere, vom Umkreis Heisenbergs unabhängige Gruppen gab, die mit unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkten und unterstützt z. B. von der SS, der Marine und der Reichspost
ebenfalls an der Konstruktion von Kernreaktoren arbeiteten – und an der von Hitler so ersehnten
und mehrfach erwähnten Wunderbombe. Die wichtigsten Personen waren der Physikordinarius
Walther Gerlach als Organisator, der mehr experimentell orientierte Physiker Kurt Diebner und
Erich Schumann vom HWA. In den letzten Kriegsmonaten wurden diverse mit Spezialkenntnissen ausgestattete Physiker mit der Gruppe um Diebner zusammengebracht. Diese Physiker
gingen nun offenbar einen exotischen Weg des Bombenbaues, welcher auf der Nutzung von
physikalischen Druckeffekten von so genannten Hohlladungen beruhen sollte: Mit Hilfe ausgeklügelter Anordnungen und Zündungen normaler Sprengstoffe, quasi als „Zündkerze“, sollte im
Zentrum einer Hohlladung extrem kurzzeitig ein atomarer Fusions-, eventuell dann ein atomarer
Spaltprozess realisiert werden. Dieses außergewöhnliche Bombendesign, welches dem von
Heisenberg theoretisch postulierten „Königsweg“ der Spaltung von U-235 widersprach, war
letztlich eine Folge des Mangels an geeignet angereichertem Uran und erlaubte allenfalls eine
nukleare Anfangsreaktion mit gebremster Zerstörungskraft. Mindestens einen erfolgreichen Test
einer derartigen „Bombe“ solle es gemäß der Quellen von Karlsch im März 1945 in Thüringen
gegeben haben. Doch aufgrund der Wirren durch den Vormarsch der Alliierten konnte, Gott sei
Dank, an keinen Bau weiterer derartiger „Bomben“, kombiniert mit Entwicklungen der Raketentechnik, gedacht werden – so sehr es Himmlers SS als immer bedeutenderer Machtfaktor auch
wünschte, um damit ein „Angebot“ für einen Separatfrieden mit den westlichen Alliierten zur
Hand zu haben.
Doch ist dies alles wahr – und warum wurde es von den Beteiligten immer verheimlicht?
Hierüber entbrannte mittlerweile eine Debatte, z. B. in umfangreichen Rezensionen von Ulf von
Rauchhaupt in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 13. März 2005 und in der FAZ
vom 14. März 2005. Neben kritischer Analyse der Quellen von Karlsch wurden dort die bereits
im Buch genannten physikalischen Nachweismethoden und die Interpretation der Ergebnisse
bezüglich möglicher Überbleibsel des „nuklearen Ereignisses“ in Thüringen für einen Beweis als
unzureichend eingestuft. Klären können diese Frage des „Nachweises“ eines nuklearen Ereignisses allenfalls weitere radiochemische und kernphysikalische Nachweismethoden. Damit wurde
die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig beauftragt. In einer persönlichen Auskunft an den Rezensenten äußerte sich der damit beschäftigte PTB-Physiker Professor
Dr. Janßen aber skeptisch: Bei den bis Juni 2005 durchgeführten Analysen wurden zwar U-235und Li-6-Isotope nachgewiesen, doch dafür gibt es diverse Erklärungen, die alle plausibel (aber
unspektakulär) sind; ein „nukleares Ereignis“ im Sinne von Karlsch ist daher nur eine mögliche,
aber nicht zwingende Erklärung für die Messergebnisse.
Trotz dieses Damoklesschwertes ist das Buch höchst anregend, weil viele deutsche Physiker
dieser Zeit und deren spätere Karrieren in einem neuen Licht erscheinen und weil manche
Strukturen der NS-Forschung, z. B. die unerwartete Bedeutung der SS und der Reichspost bei
kernphysikalischen Forschungen, erst jetzt bekannt wurden.
HELMUT BRAUN
Regensburg
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
©Franz Steiner Verlag, Stuttgart
Besprechungen
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WERNER LORENZ/TORSTEN MEYER (Hg.): Technik und Verantwortung im Nationalsozialismus
(Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 25). Waxmann, Münster
2004, 180 S. (zahlr. Abb.), 25,50 e.
Fünf Jahre nach dem Workshop „Technik und Verantwortung im NS-Staat – kein aktuelles
Problem“ am Zentrum für Technik und Gesellschaft der BTU Cottbus sind die damaligen
Vorträge, teilweise überarbeitet und um weitere Aufsätze ergänzt, in einem Sammelband erschienen. Die meisten Beiträge haben den Vortragsstil beibehalten.
Dreißig Jahre nach dem bahnbrechenden Buch von Karl-Heinz Ludwig über „Technik und
Ingenieure im Dritten Reich“ von 1974 geht es nach wie vor um ähnliche, wichtige Fragen: um
die Rolle der Technik im NS-Staat, die nationalsozialistische Orientierung von Ingenieuren und
um ihre Verantwortung für den Einsatz der Technik. Methodisch und in seinen Gesamtaussagen
geht der Band kaum über die bisher vorliegenden Ergebnisse und Forderungen hinaus; neben
Ludwigs Buch sind das die Berliner Ausstellung von 1995 („Ich diente nur der Technik.“ Sieben
Ingenieurkarrieren zwischen 1940 und 1950) und die differenzierten Studien zur Verstrickung
der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und vieler Unternehmen in das NS-System, die in den letzten
Jahren vorgelegt wurden. Viele jüngere Arbeiten werden – ein Nachteil der langen Editionszeiten – nicht erwähnt.
Nach einer Einleitung von Werner Lorenz und Torsten Meyer, die auch einen eigenständigen
Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Verstrickung von Bauingenieuren und Architekten enthält,
beginnt Karl Heinz Ludwig die Reihe der Artikel mit einem Rundumblick auf die Atmosphäre
unter den Ingenieuren in Zwischenkriegszeit und „Drittem Reich“ und einem Rückblick auf die
Debatte seit dem Erscheinen seines Buches 1974. Auf die zwischen 1999 und 2004 entstandenen
Forschungsarbeiten geht Ludwig nur kurz ein. In seinem Beitrag stellt Ludwig wie 1974 die
beiden wichtigsten Ingenieure der NS-Zeit, Fritz Todt und dessen Nachfolger Albert Speer,
gegenüber und schildert Todt als mutigen Überzeugungstäter und Speer als Opportunisten.
Ludwig schließt mit der Forderung, die persönliche Verantwortung des Einzelnen stärker in den
Mittelpunkt von Untersuchungen zu stellen.
Der Landschaftsarchitekt Gert Gröning schildert die Verstrickung der Landschaftsarchitektur in die NS-Ideologie und die Mechanismen der Verdrängung dieser Verstrickung nach 1945,
die zu einer ungebrochenen Kontinuität der Disziplin bis in die jüngere Gegenwart führten. In
scharfem Ton wendet sich Gröning einmal mehr gegen diese unreflektierte Kontinuität und
damit auch gegen einzelne Haltungen wie die Hervorhebung der anschauungsprägenden Kraft
der Landschaft – ein Konzept, das Gröning für gefährlich hält.
Auf umfangreiche Studien im Rahmen der Forschungsgruppe zur MPG Geschichte kann
Helmut Maier in seiner Fallstudie über das Mühlheimer Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung aufbauen. Maier bringt interessante Nachweise für die Selbstmobilisierung der Wissenschaft ab 1941, die im Widerspruch stehen zu der im Rückblick betonten vermeintlich neutralen
Grundlagenforschung. Maier vertritt überzeugend die These, dass die verantwortlichen Wissenschaftler die Grundlagenforschung nur wegen ihres höheren Sozialprestiges und der Möglichkeit, jede Verantwortung für die Verwertung der Forschungsergebnisse von sich zu weisen,
betonten.
Es folgen drei biografische Studien. Torsten Meyer widmet sich in seinem Beitrag zu
Gottfried Feder einem der wichtigen Ingenieure der NSDAP, der aber in den frühen 1930er
Jahren innerparteilich zunehmend isoliert, Ende 1934 kaltgestellt und mit einer Professur an der
TH Charlottenburg abgespeist wurde. Feder argumentierte ideologisch, sozialromantisch und
unpragmatisch. Wegen seiner frühen Entmachtung ist Feder bisher gegenüber Todt, Speer und
anderen Ingenieuren wenig beachtet worden. Für die Geschichte der innerparteilichen Machtkämpfe ist die Biografie Feders aufschlussreich, für die Fragen des Sammelbandes jedoch wenig
ergiebig, weil er so früh abgeschoben wurde. Ähnliches gilt für die Biografie des Professors für
Baustatik, August Hertwig, die Eugen Kurrer anhand der 1947 aufgeschriebenen Autobiografie
skizziert. Hertwig, dessen Sohn im Euthanasieprogramm umgebracht wurde, war ein KulturbürVierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
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ger und hervorragender Fachmann, der nach dem Tode seines akademischen Lehrers MüllerBreslau die Berliner Schule der Baustatik fortführte. Kurrer plädiert dafür, für die Bewertung der
Verantwortung den individuellen Erfahrungsraum des einzelnen Ingenieurs zu berücksichtigen,
um sein Verhalten zu erklären. Leider widmet sich Kurrer kaum den Aktivitäten Hertwigs in der
NS-Zeit. Dagegen schildert Alfred Gottwaldt mit dem Generaldirektor der Reichsbahn, Julius
Dorpmüller, einen der wichtigsten und mächtigsten Ingenieure im NS-System, der in das Unrechtssystem vielfältig verstrickt war und sich zugleich auf die technische Pflichterfüllung
zurückzog. Dies wurde ihm, wie Gottwaldt schreibt, sogar von den Alliierten zugestanden. Bis in
die jüngere Vergangenheit wurde Dorpmüller, der „bedenkenlos funktionierende“ Ingenieur in
Eisenbahnkreisen als technische Vorbildfigur präsentiert.
In einem dritten Teil sind zwei museale Präsentationen der Verantwortung von Technik im
Nationalsozialismus zusammengefasst. Wie kaum ein anderes Haus hat sich das Deutsche
Technikmuseum in Berlin mit dem Thema Technik und Verantwortung im Nationalsozialismus
beschäftigt und engagiert ausgestellt. Der Beitrag von Maria Borgmann schildert diese Bemühungen (noch ohne die inzwischen eröffnete große Luftfahrthalle). Die ehemalige Leiterin der
Gedenkstätte Mittelbau-Dora, Cornelia Klose, ergänzt die Ausführungen durch eine Schilderung
der Vorgänge im ehemaligen KZ und die Präsentation im Museum bis Ende der 1990er Jahre.
Der Sammelband geht über den erreichten Stand der Diskussion zu Technik und Verantwortung nur selten hinaus. Die einzelnen Beiträge sind zu unterschiedlich in Fragestellung, Quellenzugriff und Programmatik, als dass der Sammelband eine klare Gesamtstoßrichtung entwickeln
könnte. Er enthält einige Forderungen an die Ingenieurausbildung, die aber, um zu wirken,
konkretisiert werden müssten. Eine philosophisch-ethische Durchdringung des Verantwortungsbegriffs war nicht angestrebt. Der Band, der biografische und institutionelle Studien, die Präsentations- und Rezeptionsgeschichte vereint, bringt aber einen konzisen Einstieg und Überblick
zum Thema.
Berlin
HANS-LIUDGER DIENEL
WILLI OBERKROME: „Deutsche Heimat“. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900–1960)
(Westfälisches Institut für Regionalgeschichte, Landschaftsverband Westfalen-Lippe Münster,
Forschungen zur Regionalgeschichte 47). Schöningh, Paderborn u. a. 2004, 666 S., 54,00 e.
Diese Freiburger Habilitationsschrift verbindet umwelthistorische Fragestellungen mit zeit- und
kulturgeschichtlichen Aspekten vor dem Hintergrund zweier Regionen mit unterschiedlichen
Mentalitäten. Die Komplexität der Analyse wird dadurch gesteigert, dass der Untersuchungszeitraum das deutsche „Zeitalter der Extreme“ umfasst.
Bereits in der Einleitung wird auf eine eigenartige Diskrepanz im Verhalten der Nationalsozialisten gegenüber den Anliegen der Natur- und Landschaftsschützer und der Umsetzung dieser
Anliegen vor dem Hintergrund der damaligen ideologischen, „völkisch-kulturellen“ Konzepte
hingewiesen. Die weitere Arbeit geht dann zurück zu den Wurzeln dieser Anliegen sowie zum
weiteren Umgang damit in der Nachkriegszeit in den dann gebildeten beiden deutschen Staaten.
In gewissem Sinne hat die NS-Zeit hier eine Art Scharnierfunktion, um Kontinuitäten und
Brüche aufzuzeigen. Worin lag die angesprochene Diskrepanz im Anliegen des Natur-, Landschafts- und Heimatschutzes gegenüber seiner tatsächlichen Umsetzung während der NS-Zeit?
Der zentrale Widerspruch bestand darin, dass zumindest einzelne prominente Vertreter des NSRegimes eine ideologische Überhöhung des „gesunden völkischen“ Denkens mit „Heimat“ im
Sinne von Landschaft, Natur, Brauchtum usw. propagierten, in der Realität dann aber für
rüstungswirtschaftliche Zielerfüllungen, auch in der Landwirtschaft, ignorierten oder allenfalls
als Wunschvorstellung für die Zeit nach dem „Endsieg“ ansahen.
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
©Franz Steiner Verlag, Stuttgart
Besprechungen
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Doch wie kam es lange vor der NS-Zeit zu einer deutschen Natur- und Landschaftsschutzbewegung, welche immer auch kulturell orientiert war? Oberkrome zeigt, dass bereits während der
Kaiserzeit ein Prozess der Ideologisierung der „natürlichen (deutschen) Landschaft“ stattgefunden hatte, insbesondere als Reaktion auf wirkmächtige technische Entwicklungen und, in deren
Gefolge, eine Beschleunigung des (Arbeits-)Lebens hin zur Nervosität der modernen Städte. Es
ging also um die Schaffung eines regionalen Mentalitäten gerecht werdenden Kontrapunktes
gegen die Vereinnahmung der Heimat und ihrer Menschen durch „westlich-amerikanische“
(Konsum-)Lebensstile. Verstärkt wurde dies durch das Trauma des verlorenen Ersten Weltkriegs
und durch die Besetzung des Ruhrgebietes durch französische Truppen.
Eine vergleichbare, wenn auch von nationalsozialistischen Gedanken befreite Besinnung auf
„Natur“, „Heimat“ und „Volkstum“ fand auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs und nach
Behebung der Nöte der ersten Nachkriegsjahre statt, jetzt aber in zwei politisch verschieden
geprägten deutschen Staaten. Beide Staaten legten mehr oder weniger deutliche Lippenbekenntnisse zum Natur- und Landschaftsschutz ab, wie auch zum nun ideologisch kompliziert begründbaren Heimatbegriff. Spätestens für diese Zeit bringt die, natürlich auch für die Zeit davor immer
praktizierte, vergleichende Analyse der regionalen Konzepte des Natur-, Landschafts- und
Heimatschutzes in den Regionen Westfalen-Lippe im Westen und Thüringen im Osten Deutschlands wertvolle neue Erkenntnisse, auch über regionale Mentalitäten. Bemerkenswert ist, dass im
Bereich des Natur- und Heimatschutzes über weite Zeiträume eine Konstanz bei den führenden
Personen oder deren Epigonen, damit auch bei den Denkweisen, zum Teil auch organisatorisch
festgestellt werden konnte.
Trotz gelegentlich hochgestochener Formulierungen liegt hier auf der Grundlage der Auswertung von Beständen aus 14 Archiven und veröffentlichten Quellen sowie einer Sekundärliteratur, deren Verzeichnis über 120 Seiten des Buches umfasst, eine aufschlussreiche und fundierte
Arbeit über eine bisher unbehandelte Fragestellung vor.
HELMUT BRAUN
Regensburg
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 4 (2005)
©Franz Steiner Verlag, Stuttgart