entscheidung über die zulässigkeit der

Transcription

entscheidung über die zulässigkeit der
Entscheidung
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Dritte Sektion
Nichtamtliche Übersetzung aus dem Englischen
Quelle: Bundesministerium der Justiz, Berlin
17/11/05 ENTSCHEIDUNG über die ZULÄSSIGKEIT der Individualbeschwerde Nr. 72438/01 L.–N. S. gegen Deutschland
ENTSCHEIDUNG ÜBER DIE
ZULÄSSIGKEIT DER
Individualbeschwerde Nr. 72438/01
L.N. S. gegen Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Dritte Sektion) hat in seiner
Sitzung am 17. November 2005 als Kammer mit den Richtern
Herrn B.M. ZUPANČiČ, Präsident,
Herrn L. CAFLISCH,
Herrn C. BÎRSAN,
Herrn V. ZAGREBELSKY,
Frau
A. GYULUMYAN,
Frau
R. JAEGER,
Frau
I. ZIEMELE,
und Herrn VILLIGER, Stellvertretender Sektionskanzler,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 10. Juli 2001
eingereicht wurde,
im Hinblick auf die Stellungnahme der beklagten Regierung und die Erwiderung des Beschwerdeführers
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT
Der 1950 geborene Beschwerdeführer, Herr L. –N. S., ist deutscher
Staatsangehöriger und in B. Deutschland, wohnhaft. Vor dem Gerichtshof
wurde er von Herrn S. König, Rechtsanwalt in Berlin, vertreten. Die deut-
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sche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, Frau Ministerialdirigentin A. Wittling-Vogel vom Bundesministerium der
Justiz, vertreten.
Der von den Parteien vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:
A. Der Hintergrund der Rechtssache
1. Hintergrund der Rechtssache
Am 6. März 1993 um 2.30 Uhr wurde der Beschwerdeführer von der Polizei in Gewahrsam genommen, als er mit seinem PKW eine öffentliche Straße
in Brandenburg befuhr. Der Beschwerdeführer hatte beabsichtigt, eine Strecke von etwa 500 Metern zurückzulegen, um seinen PKW über Nacht abzustellen. Aus der daraufhin gegen ihn erhobenen Beschuldigung ging hervor, dass seine Blutalkoholkonzentration 1,45 ‰ betrug. Am Tag des Vorfalls war der Beschwerdeführer als Strafrichter tätig. Er wurde ab Januar 1996
ohne Dienstbezüge beurlaubt.
2. Erstes Strafverfahren
Am 24. August 1993 erging Strafbefehl durch das Amtsgericht Oranienburg, in dem gegen den Beschwerdeführer eine Strafe von 30 Tagessätzen
zu je 80 DM verhängt wurde und ihm die Fahrerlaubnis wegen fahrlässiger
Trunkenheit im Verkehr entzogen wurde.
Am 6. Oktober 1993 legte der Beschwerdeführer Einspruch ein.
Am 17. Januar 1994 änderte das Amtsgericht nach zweimaliger Vertagung der Verhandlung auf Antrag des Beschwerdeführers die Strafe in 30
Tagessätze zu je 65 DM und bestätigte den Entzug seiner Fahrerlaubnis.
Am 29. März 1994 verwarf das Amtsgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers als nicht rechtzeitig eingelegt.
Am 6. Juli 1994 hob das Brandenburgische Oberlandesgericht die Ent-
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scheidungen vom 17. Januar und 29. März 1994 wegen fehlerhafter Ablehnung von Beweisanträgen des Beschwerdeführers durch das Amtsgericht
auf und verwies die Sache an das Amtsgericht zurück.
3. Zweites Strafverfahren
Am 4. August 1994 wurden die Akten an das Amtsgericht zurückgesandt.
Am 15. August 1994 wurde dem Beschwerdeführer die Fahrerlaubnis zurückgegeben.
Am 9. Januar 1995 beraumte das Amtsgericht den Hauptverhandlungstermin auf den 22. März 1995 an, zu dem der Beschwerdeführer nicht erschien.
Am 30. März 1995 ordnete das Amtsgericht auf Antrag des Beschwerdeführers die Einholung eines Gutachtens an, mit dem die im März 1993 entnommene Blutprobe auf ihre Identität mit dem Blut des Beschwerdeführers
und die Alkoholkonzentration untersucht werden sollte.
Am 26. April 1995 bestätigte das Brandenburgische Institut für Rechtsmedizin die Blutalkoholkonzentration der Probe.
Der Beschwerdeführer verweigerte im Mai 1995 mehrfach die Entnahme
einer Blutprobe. Er wies darauf hin, dass die Überprüfung auch mittels einer
Speichelprobe erfolgen könne.
Das Amtsgericht wies am 28. Juni 1995 den Antrag des Beschwerdeführers auf Entnahme einer Speichelprobe u. a. mit der Begründung zurück,
die Untersuchung anhand einer Blutprobe sei einfacher und weniger kostenintensiv.
Das Institut für Rechtsmedizin bestätigte am 7. August 1995 die Identität
der beiden Blutproben.
Aufgrund von zwei Verlegungsanträgen des Beschwerdeführers und der
Erkrankung des Richters im Februar 1996 beraumte das Amtsgericht die
Hauptverhandlung am 15. März 1996 auf den 29. April 1996 an.
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Am 29. April 1996 verurteilte das Amtsgericht Oranienburg den Beschwerdeführer wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr. Das Gericht
änderte die Höhe der Geldstrafe nicht und verhängte ein dreimonatiges Fahrverbot gegen ihn.
Das Brandenburgische Oberlandesgericht hob dieses Urteil am 18. November 1996 wegen unzureichender Beweiswürdigung auf und verwies den
Fall an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Oranienburg zurück.
4. Drittes Strafverfahren
Am 8. Januar 1997 wurden die Akten an das Amtsgericht Oranienburg
zurückgesandt.
Am 4. November 1997 bestimmte das Amtsgericht Termin zur Hauptverhandlung auf den 11. Februar 1998.
Am 11. Februar 1998 stellte das Amtsgericht das Verfahren ein. Es stützte seine Entscheidung auf die überlange Dauer des Verfahrens und seine
nachteiligen Auswirkungen auf den Beschwerdeführer.
Am 25. November 1998 hob das Brandenburgische Oberlandesgericht
auf die Revision der Staatsanwaltschaft die Entscheidung des Amtsgerichts
auf und verwies die Sache an das Amtsgericht Potsdam zurück.
Am 23. Dezember 1998 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer.
Am 1. September 1999 beschloss das Bundesverfassungsgericht, die
Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung
anzunehmen. Es befand, dass der Beschwerdeführer bisher nicht alle
Rechtsmittel, die ihm vorher zur Verfügung standen, erschöpft habe.
5. Viertes Strafverfahren
Am 21. Januar 1999 gingen die Akten beim Amtsgericht Potsdam ein.
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Aufgrund des Antrags des Beschwerdeführers auf Terminverschiebung
beraumte das Amtsgericht die Hauptverhandlung am 19. Februar 1999 auf
den 2. März 1999 an.
Am 10. März 1999 teilte der Beschwerdeführer unter Vorlage eines ärztlichen Attestes mit, dass er zu dem Fortsetzungstermin nicht erscheinen
werde.
Das Amtsgericht ordnete die amtsärztliche Untersuchung des Beschwerdeführers an und beraumte den Fortsetzungstermin auf den
12. März 1999 an.
Das Amtsgericht vertagte den Termin am 12. März 1999, weil der Amtsarzt mitgeteilt hatte, dass die Untersuchung frühestens am 15. März 1999
erfolgen könne.
Am 19. Juli 1999 bestimmte das Amtsgericht Termin zur Hauptverhandlung auf den 23. November 1999.
Auf Antrag des Beschwerdeführers vertagte das Amtsgericht die Verhandlung am 17. November 1999.
Am 1. März 2000 stellte das Amtsgericht das Verfahren wegen überlanger Dauer ein.
Am 21. Juni 2000 hob das Landgericht Potsdam auf die Beschwerde der
Staatsanwaltschaft die Entscheidung des Amtsgerichts mit der Begründung
auf, die Länge des Verfahrens sei nicht derart gravierend, dass sie eine
Verfahrenseinstellung rechtfertige, und verwies die Sache an das Amtsgericht zurück.
6. Fünftes Strafverfahren
Am 20. Juli 2000 wurden die Akten an das Amtsgericht Potsdam zurückgesandt.
Nach dem Hauptverhandlungstermin am 6. Oktober 2000, zu dem der
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Beschwerdeführer nicht erschienen war, ordnete das Amtsgericht eine
amtsärztliche Untersuchung des Beschwerdeführers an.
Das amtsärztliche Gutachten wurde am 23. November 2000 vorgelegt.
Am 18. Januar 2001 verwarf das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers vom 10. Januar 2001, in der er die überlange Dauer des Verfahrens geltend machte,
als verspätet.
Am 13. Februar 2001 verurteilte das Amtsgericht Potsdam den Beschwerdeführer wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Strafe
von fünfzehn Tagessätzen zu je 60 DM. Zusätzlich verhängte es ein dreimonatiges Fahrverbot. Nach Auffassung des Amtsgerichts rechtfertigte die Verfahrensdauer die Einstellung des Verfahrens ohne Strafausspruch nicht.
Am 15. Februar 2001 widerrief der Beschwerdeführer die Vollmacht seiner Verteidigerin.
Der Beschwerdeführer erteilte Rechtsanwältin Z. am 19. März 2001 auf
Akteneinsicht beschränkte Vollmacht.
Am 9. Juni 2001 legte der Beschwerdeführer, ohne eine schriftliche
Ausfertigung des Urteils erhalten zu haben, Rechtsmittel ein.
Das Urteil des Amtsgerichts wurde Rechtsanwältin Z. am 8. November
2001 zugestellt.
Am 25. April 2002 verwarf das Landgericht Potsdam die Berufung des
Beschwerdeführers als unbegründet.
Auf weitere Beschwerde des Beschwerdeführers entschied das Landgericht Potsdam am 23. Juli 2002, dass das Urteil vom 13. Februar 2001 dem
Beschwerdeführer nicht wirksam zugestellt worden sei.
Nach mehrfachen fehlgeschlagenen Versuchen, dem Beschwerdeführer
das Urteil vom 13. Februar 2001 zuzustellen, wurde es ihm am 14. November 2002 wirksam zugestellt.
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Am 21. Juli 2003 verwarf das Brandenburgische Oberlandesgericht die
Revision des Beschwerdeführers als unbegründet.
7. Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
Am 22. August 2003 erhob der Beschwerdeführer eine zweite Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht.
Am 21. Januar 2004 hob das Bundesverfassungsgericht das Urteil des
Amtsgerichts vom 13. Februar 2001 sowie die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2003 auf und verwies die Sache an das Amtsgericht Potsdam zurück. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die
Verurteilung des Beschwerdeführers in Anbetracht der überlangen Verfahrensdauer, einer durch die unteren Gerichte verursachten 22-monatigen
Verzögerung und des verhältnismäßig unbedeutenden Tatvorwurfs unverhältnismäßig sei und der Beschwerdeführer daher in seinen nach Artikel 2
Abs. 2 des Grundgesetzes garantierten Rechten auf ein faires Strafverfahren in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
verletzt sei.
Das Bundesverfassungsgericht befand zunächst, dass die Gesamtverfahrensdauer von etwa zehn Jahren - für sich betrachtet – unverhältnismäßig lang gewesen sei. Das zulässige Prozessverhalten des Beschwerdeführers, etwa die dreimalige Revisionseinlegung, die Stellung mehrerer Terminverlegungsanträge, die anfängliche Verweigerung der Beweiserhebung
durch Blutentnahme im Mai 1995 und die Erschwerung der Zustellung des
Urteils vom 13. Februar 2001 habe zu nicht unerheblichen Verzögerungen
des Verfahrens geführt. Dennoch könnten weder die durch das Prozessverhalten des Beschwerdeführers noch die durch die Revisionseinlegung
seitens der Staatsanwaltschaft verursachten Verzögerungen die Gesamtverfahrensdauer rechtfertigen. Das Bundesverfassungsgericht stellte
diesbezüglich fest, dass dem Tatvorwurf der Trunkenheit im Verkehr kein
erhebliches Gewicht zugekommen sei, der Verfahrensgegenstand nicht
sehr komplex gewesen sei und es einer umfänglichen Beweisaufnahme
nicht bedurft habe.
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Das Bundesverfassungsgericht stellte überdies fest, dass Verzögerungen von insgesamt 22 Monaten den innerstaatlichen Gerichten anzulasten
seien. Insoweit bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Feststellung
der unteren Gerichte, die Verzögerungen vom 15. August 1994 (Tag der
Rückgabe des Führerscheins an den Beschwerdeführer) bis zum 9. Januar
1995 (erneute Terminierung der Hauptverhandlung), vom 8. Januar (Tag
der Rückkehr der Akten beim Amtsgericht nach der zweiten Revisionsentscheidung) bis zum 4. November 1997 (Terminierung einer Hauptverhandlung), vom 12. März (Vertagung der Verhandlung) bis zum 19. Juli 1999
(Anberaumung eines neuen Verhandlungstermins) und vom 17. November
1999 (Terminaufhebung) bis zum 1. März 2000 (Einstellungsbeschluss)
ausgemacht hatten.
Im Hinblick auf die von dem Beschwerdeführer geltend gemachten weiteren Verzögerungen von 34 Monaten befand das Bundesverfassungsgericht, dass diese seine verfassungsmäßigen Rechte nicht verletzt hätten. Es
stellte insbesondere fest, dass der Beschluss des Amtsgerichts, die Beweiserhebung durch Blutentnahme anzuordnen, nachvollziehbar gewesen
sei. Die Verzögerung durch die Vertagung der Verhandlung von November
1995 auf März 1996 sei mit der Erkrankung des zuständigen Richters hinreichend begründet worden. Darüber hinaus beanstandete das Bundesverfassungsgericht nicht die Verzögerung vom 19. Juli 1999 bis zum Termin
am 23. November 1999.
Das Bundesverfassungsgericht stellte ferner fest, dass die Verzögerungen, die infolge der Zurückverweisung der Rechtssache an die erstinstanzlichen Gerichte entstanden seien, keinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot begründet hätten. Dies treffe nur zu, wenn die Urteile der erstinstanzlichen Gerichte das Recht eklatant verletzt hätten; dies sei jedoch
nicht der Fall.
Im Hinblick auf die Auswirkungen der Verfahrensdauer auf den Beschwerdeführer stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass ausweislich
eines ärztlichen Gutachtens vom 23. November 2000 bei dem Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit eine psychische Störung eingetreten
war, die sich auf seine Lebensqualität negativ ausgewirkt und einen raschen
Abschluss des Verfahrens erforderlich gemacht habe. Zudem sei der Beschwerdeführer über 17 Monate nicht im Besitz seines Führerscheins gewesen. Das Bundesverfassungsgericht stellte abschließend fest, dass ge-
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gen den Beschwerdeführer ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden sei.
Unter Berücksichtigung dieser Faktoren, insbesondere der Geringfügigkeit des Tatvorwurfs, der Gesamtverfahrensdauer und der Belastungen des
Beschwerdeführers befand das Bundesverfassungsgericht, dass es nicht
gerechtfertigt sei, gegen den Beschwerdeführer eine Strafe zu verhängen.
Daraus folge, dass das Verfahren ohne strafrechtliche Verurteilung einzustellen sei. Das Bundesverfassungsgericht erlegte dem Land Brandenburg
überdies die dem Beschwerdeführer durch die Verfassungsbeschwerde
entstandenen notwendigen Auslagen auf.
8. Sechstes Strafverfahren
Am 3. März 2004 wurden die Akten an das Amtsgericht Potsdam zurückgesandt.
Am 10. März und 10. Mai 2004 bat der Amtsrichter den Staatsanwalt, der
Einstellung des Verfahrens zuzustimmen.
Zwischen dem 23. März und dem 10. August 2004 wurden die Akten
dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten zugesandt.
Am 18. Oktober 2004 bestimmte das Amtsgericht Potsdam einen Termin
auf den 6. Dezember 2004 und bat die Staatsanwaltschaft, der Einstellung
des Verfahrens zuzustimmen.
Am 6. Dezember 2004 stellte das Amtsgericht Potsdam das Verfahren
gemäß § 153b StPO (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht“, unten)
ein. Überdies ordnete es an, dass die Gerichtsgebühren der Staatskasse
aufzuerlegen und dem Angeklagten die durch das Verfahren entstandenen
notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten seien.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
Die maßgeblichen Vorschriften der Strafprozessordnung (StPO) lauten
wie folgt:
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§ 153
„(1) Hat das Verfahren ein Vergehen zum Gegenstand, so kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts von der Verfolgung absehen, wenn die Schuld des Täters
als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung
besteht ...
(2) Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht in jeder Lage des Verfahrens [...] mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten
das Verfahren einstellen...
§ 153b
„(1) Liegen die Voraussetzungen vor, unter denen das Gericht von Strafe
absehen könnte, so kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts, das für die Hauptverhandlung zuständig wäre, von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen.
(2) Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht bis zum Beginn der
Hauptverhandlung mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten das Verfahren einstellen.“
RÜGE
Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 6 der Konvention die überlange
Dauer des gegen ihn geführten Strafverfahrens.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
Der Beschwerdeführer rügte, dass die Verfahrensdauer mit dem Gebot
der „angemessenen Frist“ nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention unvereinbar
gewesen sei; Artikel 6 Abs. 1 lautet wie folgt:
"Jede Person hat ein Recht darauf, dass ... über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem ... Gericht ... innerhalb angemessener Frist verhandelt wird."
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A. Die Vorbringen der Parteien
1.
Der Beschwerdeführer
Der Beschwerdeführer trug vor, dass die Anerkennung der Konventionsverletzung durch die innerstaatlichen Behörden nicht zur Unzulässigkeit
seiner Rüge geführt habe. Ihm sei nicht angemessen Wiedergutmachung
geleistet worden. Insoweit legte er dar, dass das innerstaatliche Recht nicht
dieselbe Entschädigung vorsehe, die der Gerichtshof nach Artikel 41 der
Konvention zuspreche.
Im Hinblick auf die Begründetheit der Rüge brachte der Beschwerdeführer vor, dass die von den innerstaatlichen Behörden zu vertretende Gesamtverzögerung nicht nur in der von dem Bundesverfassungsgericht anerkannten Verzögerung von 22 Monaten bestand, sondern 53 Monate bzw.
mindesten 42 Monate betragen habe. Er behauptete insbesondere, dass
die Erkrankung des Richters im Februar 1996 die Verzögerung von November 1995 bis Januar 1996 nicht gerechtfertigt habe. Der Beschwerdeführer
trug ferner vor, dass er nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs von allen ihm zur Verfügung stehenden verfahrensmäßigen Mitteln Gebrauch machen dürfe und nicht verpflichtet gewesen sei, mit den innerstaatlichen Gerichten zusammenzuarbeiten. Daraus folge, dass ihm nicht angelastet werden könne, die Zustellung des Urteils erschwert zu haben. Schließlich rügte
der Beschwerdeführer, dass das Bundesverfassungsgericht das Verfahren
durch seinen Beschluss vom 21. Januar 2001 nicht in eigener Zuständigkeit
eingestellt, sondern die Sache an das Landgericht Potsdam zurückverwiesen habe, wo weitere Verzögerungen eingetreten seien.
Zur gerechten Entschädigung verlangte der Beschwerdeführer den Betrag von 20.000 Euro als Wiedergutmachung für den von ihm erlittenen immateriellen Schaden. Er trug insoweit vor, dass das gegen ihn geführte
Strafverfahren bei ihm zu erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen
geführt habe. Zur Begründung seiner Behauptung verwies er auf das medizinische Gutachten vom 23. November 2000 und auf weitere ärztliche Atteste vom 8. März1999 und 4. März 2000, mit denen seine gesundheitlichen
Probleme bestätigt worden waren. Diese Probleme seien durch eine von
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der Staatsanwaltschaft veranlasste Pressekampagne noch verstärkt worden. Der Beschwerdeführer legte dazu mehrere Presseartikel vor, die diesen Fall behandelten.
Darüber hinaus verlangte er insgesamt 15.203,50 Euro für die ihm vor
den unteren Gerichten entstandenen Kosten.
2.
Die Regierung
Die Regierung trug vor, dass die Rüge unzulässig sei, weil bei dem Beschwerdeführer das Rechtsschutzbedürfnis entfallen sei. Sie wies darauf
hin, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 21. Januar 2004 eine Grundrechtsverletzung und einen Verstoß gegen den aus
dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausdrücklich festgestellt und anerkannt habe. Es habe lediglich die förmliche
Einstellung des Verfahrens sowie die abschließende Entscheidung bezüglich der Kosten und Auslagen dem Amtsgericht Potsdam überlassen. Unter
Hinweis auf das Urteil des Gerichtshofs im Fall Eckle ./. Deutschland
(Rechtssache Eckle ./. Deutschland, Urteil vom 15. Juli 1982, Serie A., Bd.
51) trug die Regierung vor, dass das Bundesverfassungsgericht die Konventionsverletzung in der Sache anerkannt habe, auch wenn es sich nicht
ausdrücklich auf die Vorschriften der Konvention bezogen habe. Zumindest
teilweise habe dieser Beschluss zu einer Wiedergutmachung geführt, da
das Verfahren gegen den Beschwerdeführer ohne Strafausspruch beendet
werden musste.
Im Hinblick auf die Begründetheit der Rüge räumte die Regierung eine
Verletzung des Artikels 6 der Konvention ein und verwies auf die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts.
Hinsichtlich der Forderungen des Beschwerdeführers nach gerechter
Entschädigung wies die Regierung darauf hin, dass dieser nicht verlangen
könne, so gestellt zu werden, als hätte gar kein Strafverfahren gegen ihn
stattgefunden. Laut Beschluss des Amtsgerichts Potsdam vom 6. Dezember 2004 sei der Beschwerdeführer von der Zahlung jeglicher Gerichtsgebühren befreit worden und würden ihm die notwendigen eigenen Auslagen
zur Hälfte erstattet. Er habe ferner die Erstattung der notwendigen Gerichtsund Anwaltsgebühren verlangt, die ihm in dem Verfahren vor dem Bundes-
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verfassungsgericht entstanden waren; diesen Anspruch müsse er bei den
innerstaatlichen Gerichten verfolgen. Nach Auffassung der Regierung war
eine weitere Entschädigung nicht erforderlich.
B. Würdigung durch den Gerichtshof
1. Zu berücksichtigender Zeitraum
Der zu berücksichtigende Zeitraum erstreckt sich vom 24. August 1993,
als das Amtsgericht Oranienburg den Strafbefehl gegen den Beschwerdeführer erließ, bis zum 6. Dezember 2004, als das Verfahren eingestellt wurde. Deshalb dauerte es in vier Instanzen mehr als elf Jahre. Infolge von fünf
Zurückverweisungen ergingen Entscheidungen in sechzehn Instanzen, einschließlich eines Beschwerdeverfahrens vor dem Verfassungsgericht des
Landes Brandenburg und zweier Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.
2. Angemessenheit der Verfahrensdauer
Die Regierung erkannte an, dass die Gesamtverfahrensdauer die nach
Artikel 6 Abs. 1 der Konvention garantierten Rechte des Beschwerdeführers
auf ein Verfahren innerhalb angemessener Frist verletzt habe. Der Gerichtshof bestätigt diese Einschätzung. Der Gerichtshof ist ferner der Auffassung, dass Verzögerungen, die nach Zustellung des Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts vom 21. Januar 2004 an den Beschwerdeführer
eingetreten waren, im Hinblick auf die Gesamtverfahrensdauer nicht erheblich ins Gewicht fallen, weil der Beschwerdeführer nunmehr wusste, dass
für ihn das Risiko strafrechtlicher Verfolgung nicht mehr bestand.
Unter diesen Umständen hält der Gerichtshof es nicht für erforderlich, im
Einzelnen zu prüfen, ob die dem Verhalten der innerstaatlichen Gerichte
zuzurechnenden Verzögerungen – wie von der Regierung anerkannt - 22
Monate oder – wie von dem Beschwerdeführer behauptet – 53 Monate betrugen.
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3. Die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers
Es bleibt festzustellen, ob der Beschwerdeführer weiterhin rügen kann, in
seinen Rechten nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt zu sein. Der
Gerichtshof weist hierzu erneut darauf hin, dass durch die Herabsetzung
einer Strafe wegen überlanger Verfahrensdauer der Betroffene nicht grundsätzlich die Opfereigenschaft im Sinne von Artikel 34 der Konvention verliert. Von diesem Grundsatz wird jedoch abgewichen, wenn die nationalen
Behörden hinreichend deutlich anerkannt haben, dass dem Gebot der angemessenen Frist nicht entsprochen worden ist, und durch eindeutige und
messbare Minderung der Strafe oder durch Einstellung der Verfolgung Wiedergutmachung geleistet haben (siehe Rechtssachen Eckle . /. Deutschland, Urteil vom 15. Juli 1982, Serie A, Bd. 51, Nr. 66; Jansen . / . Deutschland (Entscheidung), Individualbeschwerde Nr. 44186/98, 12. Oktober 2000;
Normann . / . Dänemark (Entscheidung), Individualbeschwerde Nr. 44704/98,
14 Juni 2001; Beck . / . Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 26390/95, Nr. 27,
26. Juni 2001; Morby . / . Luxemburg (Entscheidung), Individualbeschwerde
Nr. 27156/02, EuGHMR 2003-XI; Ohlen . /. Dänemark (Streichung), Individualbeschwerde Nr. 63214/00, Nr. 27, 24. Februar 2005).
Der Gerichtshof nimmt zunächst zur Kenntnis, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 21. Januar 2004 ausdrücklich feststellte, dass die Dauer des gegen den Beschwerdeführer geführten Strafverfahrens unangemessen war und seine Verurteilung ihn in seinem nach
dem Grundgesetz geschützten Recht auf ein faires Strafverfahren verletzte.
Es ordnete an, dass das Verfahren ohne Strafausspruch einzustellen sei.
Bei dieser Beschlussfindung ging das Bundesverfassungsgericht detailliert
auf die Beschwerde des Beschwerdeführers ein und erkannte die schädlichen Auswirkungen des Strafverfahrens auf den Gesundheitszustand des
Beschwerdeführers sowie die anderen Belastungen, wie den Entzug der
Fahrerlaubnis über mehr als 17 Monate und die Einleitung eines Disziplinarverfahrens, denen er ausgesetzt war, ausdrücklich an. Daraus folgt,
dass die innerstaatlichen Gerichte in vollem Umfang anerkannt haben, dass
dem Gebot der angemessenen Frist nicht entsprochen worden war.
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Zum anderen ist zu prüfen, ob dem Beschwerdeführer für die Verletzung
angemessen Wiedergutmachung geleistet wurde. Insoweit stellt der Gerichtshof fest, dass das Amtsgericht Potsdam das Verfahren durch Beschluss vom 6. Dezember 2004 einstellte. Überdies ordnete es an, dass die
Gerichtsgebühren der Staatskasse aufzuerlegen und dem Beschwerdeführer die durch das Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen zur Hälfte
zu erstatten seien. Das Amtsgericht begründete seine Entscheidung zwar
nicht weiter; aus dem Zusammenhang ergibt sich aber, dass es die Anordnungen des Bundesverfassungsgerichts befolgte. Daraus folgt, dass das
Verfahren wegen seiner überlangen Dauer eingestellt wurde. Unter diesen
Umständen ist der Gerichtshof überzeugt, dass dem Beschwerdeführer für
die Gesamtverfahrensdauer, die auch die Zeit zwischen dem Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 21. Januar 2004 und dem Beschluss des
Amtsgerichts Potsdam vom 6. Dezember 2004 umfasst, angemessen Wiedergutmachung geleistet wurde.
Deshalb kann der Beschwerdeführer nicht rügen, in seinem nach Artikel
6 Abs. 1 garantierten Recht auf ein Verfahren innerhalb angemessener Frist
verletzt zu sein.
Folglich ist die Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention
zurückzuweisen.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof
die Beschwerde einstimmig für unzulässig.
Mark VILLIGER
BOSTJAN M. ZUPANČIČ
Stellvertretender Kanzler
Präsident