Deutschunterricht in der E – Phase
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Deutschunterricht in der E – Phase
Deutschunterricht in der E – Phase Arbeitsbuch Charlotte – Wolff – Kolleg (ausgewählt und zusammengestellt von Werner Buschen, Fachbereichsleiter) Berlin 2012 1 2 Inhaltsverzeichnis I. Argumentationslehre (4 – 22) II. Rhetorik (23 – 36) III. Redeanalyse (37 – 63) IV. Erörterung (65 – 96) V. Schriftliche Kommunikation (97 -126) VI. Grammatik (127 – 154) VII. Text und Textarten (155 – 166) VIII. Literarische Texte erschließen (167 – 273) IX. Pragmatische Texte erschließen (275 – 310) X. Anhang (311 – 332) 3 Argumentationslehre Diskussion 4 16 Argumentationslehre Sinn und Ziel der Argumentation ist es, andere zu überzeugen. Dazu ist es notwendig, die Richtigkeit eines Standpunktes aufzuzeigen (bzw. einen Standpunkt zu widerlegen). Es genügt dabei nicht, einen Standpunkt (These) mit einem Argument oder mehreren Argumenten zu verbinden. Die Argumente müssen überzeugend sein. Überzeugungskräftig sind Argumente, wenn sie mit Beweis(en) und Beispiel(en) gestützt werden die innere Schlüssigkeit (logische Abfolge) zwischen den einzelnen Aussagen bzw. Stufen gegeben ist die Aussagen inhaltlich richtig bzw. sachlich fundiert sind die Aussagen möglichst verallgemeinert werden können, d.h., wenn sie einen grundsätzlichen Gültigkeitsanspruch haben Allgemeines Argumentationsschema Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass jede Argumentation inhaltlichen und formalen Anforderungen genügen muss. Die Form der vollständigen Argumentation ist dreigliedrig: Sie besteht aus Argument, Beweis und Beispiel. Diese drei Teile unterscheiden sich sprachlich nach dem Abstraktionsgrad: Das Argument ist abstrakter als der Beweis; das Beispiel ist immer konkret. Argumentation ⌐─────────────────┴───────────────────¬ These → Argument → Beweis → Beispiel ╚══╦═══╝ ╚═══╦══╝ ╚═══╦═══╝ Weil-Stufe Denn-Stufe Wie-Stufe abstrakt <-------------------------------------------> konkret Die drei Teile bzw. Stufen der Argumentation lassen sich auch von den Konjunktionen her unterscheiden und benennen, wobei zwar die Unterscheidung der Konjunktionen ‘weil’ und ‘denn’ willkürlich erscheint, aber sehr hilfreich ist. Beispiel für eine vollständige Argumentation These Wir lehnen die Ehe ab, Argument Weil - Stufe weil sie nach unserer Meinung überholt ist und antiquierte Wertvorstellungen verewigt; Beweis Denn - Stufe denn für die Ehe werden bürgerliche Tugenden des 19. Jahrhunderts gefordert Beispiel Wie - Stufe wie Hingabebereitschaft, Treue und die Bereitschaft, nur eine/n Partner/-in zu haben. 5 1. Das Argument Thesen überzeugen dann, wenn sie überzeugend begründet sind. Eine überzeugende Begründung ist im höchsten Maße abhängig von der Qualität des Arguments. Es gibt unterschiedliche Arten von Argumenten; sie unterscheiden sich auch in ihrer Überzeugungskraft. Folgende können unterschieden werden: Faktenargumente (unstrittige, verifizierbare Tatsachenaussagen) normative Argumente (Aussagen über allgemein gültige oder anerkannte Normen) Autoritätsargumente (Berufung auf weithin akzeptierte Autoritäten) indirekte Argumente (Unterstützung der These dadurch, dass die gegenteilige Aussage als unstimmig oder realitätsfern dargestellt wird) Argumente, die sich auf Befürchtungen stützen Argumente, die sich auf Mitleid oder ähnliche Gefühle stützen Argumente, die sich auf die Gefühle einer Volksmenge stützen Man könnte noch andere Arten von Argumenten nennen. Sie würden - wie schon die zuletzt genannten - immer weniger überzeugend. Offenbar ist es so, dass Tatsachen bzw. Sachverhalte überzeugender sind und wirken als Meinungen, Gefühle oder Individuelles. Tatsachenaussagen werden offenbar anerkannt; sie werden nicht mehr in Frage gestellt. Man ist also gut beraten, beim Argumentieren auf objektiv Gültiges, auf Tatsachen, zurückzugreifen. Als Tatsachen werden im Allgemeinen anerkannt: eine wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis oder eine Gesetzmäßigkeit eine allgemeine Übereinkunft (Konvention) oder eine gesetzliche Norm eine allgemeine Erfahrung bzw. allgemein zugängliche Beobachtungen oder Forschungsergebnisse ein konkretes, zeitlich nachweisbares oder ein statistisch erfassbares Ereignis Als Argumente gelten nicht Aussagen, die nicht begründet werden können ein Einzelfall Pauschalurteile, Vorurteile, Gemeinplätze oder Gerede persönliche Ansichten oder Bekenntnisse Aufgabe: Suchen Sie mindestens zwei deutlich verschiedene Argumente für die folgende These: Das Abitur ist auch heute noch erstrebenswert, weil _____________________________________________________________ _________________________________________________________________ weil ____________________________________________________________ ________________________________________________________________ 6 Beim Lesen Ihrer Argumente bzw. beim Hören der Argumente der Mitschüler/-innen merken Sie, dass es etliche gute Argumente für die These gibt; Sie spüren aber auch, dass die Argumente allein noch nicht ganz überzeugen. Die Argumente selbst müssen ausgeführt bzw. gestützt werden - durch Beweise. 2. Der Beweis Argumente wirken allein nicht schon überzeugend. Argumente müssen bewiesen werden. Als Beweise eigen sich besonders nachweisbare Tatsachen und überprüfbare Erfahrungen allgemein anerkannte Werte, Normen oder Regeln Aussagen anerkannter Persönlichkeiten oder Autoritäten anerkannte logische Denkmuster Aufgabe: Suchen Sie zu Ihren Argumenten jeweils einen Beweis! Denn ____________________________________________________________ _______________________________________________________________ Denn ____________________________________________________________ _________________________________________________________________ 3. Das Beispiel Die Würze jeder Argumentation sind Beispiele, konkrete Veranschaulichungen, womit die Beweise gestützt werden. Beispiele führen die (abstrakte) These auf eine konkrete Ebene zurück. Sie bilden sozusagen den Boden der Argumentation. Beispiele dienen dazu, das Gesagte konkret zu veranschaulichen. Beispiele lassen sich gewinnen durch Verweis auf allgemein bekannte historische Ereignisse oder Tatsachen durch die Berufung auf aktuelle Vorgänge im öffentlichen Leben durch die Berücksichtigung alltäglicher Erfahrungen anderer Menschen durch die Erinnerung an vergleichbare Personen, Vorgänge und Probleme aus dem Bereich der Literatur durch einen Rückgriff auf die eigene Lebenserfahrung 7 Aufgabe: Suchen Sie für Ihre bisherige Argumentation mindestens ein Beispiel für jeden Beweis! __________________________________________________________________________________________ __________________________________________________________________________________________ __________________________________________________________________________________________ __________________________________________________________________________________________ __________________________________________________________________________________________ __________________________________________________________________________________________ Wir haben nun erfahren: Eine überzeugende Argumentation basiert auf formalen und inhaltlichen Voraussetzungen. Die inhaltlichen sind schnell einsichtig. Wie sieht es mit den formalen Voraussetzungen aus? Wie schafft man es, die innere Schlüssigkeit der Argumentation zu erreichen? Dazu ein einfacher Tipp: Jede Aussage besitzt mindestens einen tragenden Begriff. Wiederholt man auf der jeweils nächsten Stufe (Weil-, Denn-, Wie-Stufe) diesen tragenden Begriff, so ist die innere Schlüssigkeit geradezu garantiert. Beispiel: Partys sind abzulehnen, weil sie gesundheitsschädlich sind; denn es werden gesundheitsschädliche Mittel verabreicht wie Zigaretten, Alkohol und häufig auch Drogen. Aufgabe: Formulieren Sie eine vollständige Argumentation zur folgenden These, indem Sie vor allem auf die innere Schlüssigkeit achten! These: Reisen in fremde Länder sind unbedingt empfehlenswert, _________________________________________________________________________________________ __________________________________________________________________________________________ __________________________________________________________________________________________ __________________________________________________________________________________________ __________________________________________________________________________________________ __________________________________________________________________________________________ 8 Argumentation: Varianten der sprachlichen Gestaltung Bei der Ausarbeitung der Argumente sollte auch darauf geachtet werden, dass man nicht in starre sprachliche Schemata verfällt. Abwechslungsreiche Wortwahl sowie verschiedene Satzbauvarianten machen einen längeren Text besser lesbar. Bei der Argumentation gibt es an mehreren Stellen der sprachlichen Darstellung Probleme stilistischer Art, nämlich vorwiegend bei der Überleitung von einem zum nächsten Argument beim Anschluss der Beispiele Die Überleitung zwischen den einzelnen Argumenten gelingt am einfachsten durch Variation der anreihenden Konjunktionen: zudem, außerdem, ebenso, desgleichen, ebenfalls, ferner, des Weiteren, zusätzlich, weiterhin, sowohl ... als auch, nicht nur ..., sondern auch, endlich Stilistisch aufwendiger sind überleitende Formulierungen wie: diese Überlegung führt zu einem weiteren Punkt ... von hierher komme ich zu einem weiteren Aspekt ein weiteres Argument spricht für die These ... gestützt wird die These zudem ... Der Anschluss des Beispiels wird oft zu schematisch durchgeführt; die dabei am meisten benutzte Wendung ist: wie z.B. Hier kann man jedoch reichlich variieren: so z.B. das zeigt offenkundig wird das Gesagte, wenn wir ... betrachten das lässt sich daran ablesen, dass ... am folgenden Beispiel zeigt sich ... erst kürzlich konnte man hören (lesen), dass ... man merkt es, wenn ... deutlich wird das ... mit Hilfe des folgenden Beispiels lässt sich ... verdeutlichen ich denke dabei an ... so kann es vorkommen ... so gibt es ... man kann dies konkretisieren an ... Ausarbeitung der Argumentation Eine Argumentation kann man vergleichen mit dem Wurzelwerk eines Baumes. Der Baum wird so fest im Boden stehen, wie seine Wurzeln ihm Halt geben; und sie geben ihm um so mehr Halt, je breiter, tiefer und weiter verästelt sie sind. Eine These ist umso standfester, haltbarer und überzeugender, je breiter und differenzierter sie ausgearbeitet ist. Kann eine These mit fünf Argumenten, jedes Argument wiederum mit mehreren Beweisen gestützt und die Beweise wiederum mit vielen Beispielen veranschaulicht werden, so ist sie wohl überzeugender, als wenn sie nur minimalistisch (ein Argument, ein Beweis, ein Beispiel) ausgeführt wird. 9 Im Folgenden vertreten drei Schreiber dieselbe Sache. Sie wollen dem Leser nahebringen, dass es richtig ist, wenn unsere Rechtsprechung jugendliche Verbrecher anders behandelt als erwachsene. Alle drei nennen als Argument dafür die Überzeugung, dass Jugendliche oft gar nicht im vollen Sinn für das verantwortlich gemacht werden können, was sie begangen haben. These: Oft kann ein jugendlicher Verbrecher gar nicht im vollen Sinn für das verantwortlich gemacht werden, was er begangen hat. 1. Oft kann ein jugendlicher Verbrecher gar nicht im vollen Sinne für das verantwortlich gemacht werden, was er begangen hat, da er noch in stärkerem Maß als ein Erwachsener den Einflüssen ausgesetzt ist, die von außen an ihn herandringen. 2. Oft kann ein jugendlicher Verbrecher gar nicht im vollen Sinne für das verantwortlich gemacht werden, was er begangen hat, da er noch in stärkerem Maß als ein Erwachsener den Einflüssen ausgesetzt ist, die von außen an ihn herandringen. Ein Erwachsener hat Erfahrung. Er kann die Folgen einer Tat abschätzen. Bei ihm darf man auch voraussetzen, dass er gelernt hat, nicht jeder augenblicklichen Neigung nachzugehen. 3. Oft kann ein jugendlicher Verbrecher gar nicht im vollen Sinne für das verantwortlich gemacht werden, was er begangen hat, da er noch in stärkerem Maß als ein Erwachsener den Einflüssen ausgesetzt ist, die von außen an ihn herandringen. Ein Erwachsener hat Erfahrung. Er kann die Folgen einer Tat abschätzen. Bei ihm darf man auch voraussetzen, dass er gelernt hat, nicht jeder augenblicklichen Neigung nachzugehen. Ein Jugendlicher dagegen muss diese Erfahrung ja erst sammeln; er muss erst lernen, seine überschüssigen Kräfte zu bändigen und in den Dienst einer guten Aufgabe zu stellen, muss endlich lernen, dass er ganz allein für das verantwortlich ist, was er tut, auch wenn ihn andere dazu angestiftet haben, weil ihm niemand die Verantwortung dafür abnehmen kann. In all dem sich einzuüben, dazu hat ihm aber sein Leben noch nicht genug Möglichkeiten gegeben. Da Sie als Leser jetzt Adressat der Argumentationen sind, können Sie selbst beurteilen, was überzeugend klingt und was nicht; und Sie können auch relativ schnell feststellen, woran das (offensichtlich) liegt. Die Abstraktionsebenen in der Argumentation Formal gesehen besteht eine Argumentation aus Aussagesätzen, ähnlich wie ein Satz aus Satzgliedern besteht. Wie die Satzglieder im Satz eine spezifische Funktion bekommen, so bekommen die Aussagesätze in der Argumentation eine kausale Funktion. Da die innere Logik der Argumentation nach dem Prinzip „Vom Abstrakten zum Konkreten“ verläuft, können die Aussagesätze nicht beliebig vertauscht werden. Der Satz, der das Argument bildet, muss einen höheren Abstraktionsgrad besitzen als der Satz, der den Beweis ausmacht. Das können Sie bei der folgenden Übung überprüfen. 10 Aufgabe: Stellen Sie bei den folgenden Satzreihen fest, welche Aussage die These, welche das Argument, welche der Beweis und welche das Beispiel ist. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. In vielen Berufen wird immer weniger von Hand geschrieben. In der Verwendung von Vordrucken ist das zu erkennen. Die Beherrschung der Schrift ist nicht mehr so wichtig. Die meisten Schreiben sind standardisiert. 2.1. Der große Stromausfall in New York hat gezeigt, dass viele Menschen sich freudig auf ihre eigene Unterhaltungsfähigkeit besonnen haben. 2.2. Fernsehkonsum lässt viele Fähigkeiten des Menschen verkümmern. 2.3. Der drohenden Passivität der Bevölkerung kann damit entgegengewirkt werden. 2.4. Man sollte offiziell einen fernsehfreien Tag einführen. 3.1. Der Zuschauer würde für unmündig erklärt werden. 3.2. Einen angeordneten fernsehfreien Tag darf es nicht geben. 3.3. Dem Zuschauer würde das Recht auf die eigene freie Entscheidung genommen. 3.4. Der Zuschauer kann dann einen gemütlichen Abend mit Heimkino nicht mehr wählen. 4.1. Offensichtlich neigen viele Jugendliche dazu, sich der Mode einer Gruppe anzuschließen. 4.2. In diesem Alter fragt man besonders: Wer bin ich? Wohin gehöre ich? 4.3. Die Mode als äußeres Zeichen der Zugehörigkeit spielt im Leben vieler Jugendlichen eine bedeutende Rolle. 4.4. In und nach der Pubertät findet der bewusste Prozess der Selbstorientierung und Selbstfindung statt. 5.1. Der erfolgreiche Sportler kann mit Firmen lukrative Werbeverträge abschließen oder hohe Startgelder von Veranstaltern verlangen. 5.2. Der Erfolg steigert den Marktwert des Sportlers. 5.3. Im bezahlten Hochleistungssport zählt nur der Erfolg. 5.4. Der erfolgreiche Sportler hat einen hohen Bekanntheitsgrad und ist deshalb als Werbeträger interessant für Unternehmen und Firmen. 6.1. Viele Medaillengewinner, Leichtathleten, Gewichtheber, Schwimmer, wurden nach dem Wettkampf als Doping-Sünder entlarvt; ihnen wurden Titel und Medaille aberkannt. 6.2. Die Sportverbände haben eine besondere Verantwortung für die Gesundheit ihrer Athleten und für faire Wettkampfbedingungen. 6.3. Die unerlaubten Leistungssteigerungen verzerren Wettkampf und Vergleich und verstoßen gegen das Gebot der Fairness. 6.4. Der Medikamentenmissbrauch im Hochleistungssport muss unbedingt sorgfältiger recherchiert und konsequenter und härter bestraft werden. 11 Verstöße gegen die Logik der Argumentation Häufig schleichen sich beim Argumentieren Fehler ein, die der Absicht, andere zu überzeugen, im Wege stehen. Es kann aber auch sein, dass solche Fehler, z.B. Scheinargumente, bewusst eingesetzt werden, um andere zu überreden oder zu verunsichern. Aufgabe: Prüfen Sie die folgenden Beispiele auf ihre innere Logik! 1. Die Beherrschung der Schrift ist heute nicht mehr so vordringlich. Das sollte auch in den Klausuren zum Ausdruck kommen. Die Rechtschreibung wird ebenfalls immer noch zu wichtig genommen. 2. Aus dem Urlaub ruft man heutzutage zu Hause an, während man früher Karten geschrieben hat. Auch Schadensmeldungen nach Unfällen werden hauptsächlich per Telefon oder Handy gemacht. Bald werden Geräte mündliches Sprechen in Schrift umsetzen können. 3. Sprachkompetenz ist das Ergebnis von Lernprozessen, weil die menschliche Sprache keine Erbsprache, sondern eine Lernsprache ist. Denn die Kinder imitieren und übernehmen die Sprache ihrer Eltern bzw. Bezugspersonen, wie die Soziolinguistik eindrucksvoll nachgewiesen hat. 4. Die Mode ist für viele Jugendliche auch Verkleidung, weil viele von ihnen die Mode doch gar nicht ernst nehmen. Denn was ist Mode anders als Verkleidung? 5. Man sollte einen fernsehfreien Tag einführen, weil zu viel Fernsehen unter anderem der Gesundheit schadet. Denn nach einem Horrorfilm bin ich immer arg durchgedreht. 6. Man sollte einen fernsehfreien Tag einführen, weil allzu viele Menschen zu viel fernsehen. Die Kinder unseres Nachbarn sitzen jeden Abend vor der Flimmerkiste. 7. Man sollte einen fernsehfreien Tag einführen, weil die Schädlichkeit allzu großen Fernsehkonsums nachgewiesen ist. Denn das sagen Ihnen alle Fachleute. 8. Schriftbeherrschung im Beruf ist nicht entscheidend. Denn mein Onkel hat einen Teilhaber im Geschäft, der kaum lesen und schreiben kann und es doch so weit gebracht hat. 9. Der Kampf um ein besseres Theater lohnt sich nicht, weil die Leute es nicht wert sind; denn sie gehen lieber oberflächlicheren Vergnügungen nach wie Tanzen, Essen, Saufen usw. 10. Die Schülermitverwaltung macht lieber keine Schülerzeitung, weil die Zeitung vor dem Druck dem Direktor vorgelegt werden muss; denn eine Zeitung, die der Zensur unterliegt, ist für die Redakteure unzumutbar. 12 Sie haben festgestellt, dass es vielerlei Fehler gibt, die eine Argumentation wenig oder gar nicht überzeugend ausfallen lassen. Wir können zusammenfassend feststellen: Die häufigsten Fehler beim Argumentieren sind unvollständige Begründungen fehlende kausale Verbindungen zwischen den Einzelgliedern inhaltlich fragwürdige Aussagen Scheinargumente (z.B. Berufung auf subjektive Gefühle oder Meinungen, unangemessene Verallgemeinerung oder Folgerung) Zirkelschluss (liegt dann vor, wenn die Folgerung schon im Argument oder Beweis enthalten ist; z.B.: Michael ist ein Lügner. Deshalb darf man ihm nichts glauben.) Trugschluss (liegt dann vor, wenn aus der Argumentation etwas gefolgert wird, was darin gar nicht enthalten ist; z.B.: Das Wort Demokratie heißt Volksherrschaft und kommt aus dem Griechischen. In Griechenland herrschte das Volk.) falsche Verallgemeinerung (ist dann gegeben, wenn ein Einzelfall unzulässig verallgemeinert wird, z.B.: Der Türke von nebenan ist heute nicht zur Arbeit gegangen; der will wohl auch auf unsere Kosten leben.) Rückgriff auf eine falsche Allaussage (liegt vor, wenn auf eine falsche oder fragwürdige Verallgemeinerung zurückgegriffen wird, z.B.: Frauen sind schlechte Autofahrer. Deshalb ist Erika gestern gegen einen Baum gefahren.) falscher Analogieschluss (liegt vor, wenn unzulässige Entsprechungen oder Ähnlichkeiten behauptet werden, z.B.: Wer raucht, greift auch zu Rauschmitteln.) 13 4. Die erweiterte Argumentation Die erweiterte Argumentation gibt zusätzlich zur vollständigen Argumentation eine Folgerung oder Konsequenz aus dem Gesagten an. Diese Stufe der Argumentation heißt Daher-Stufe. Beispiel: Diese Form der Argumentation eignet sich gut für Statements, für kurze Meinungsäußerungen oder öffentliche Erklärungen. In Kürze das Wesentliche sagen, sich auf eine Argumentation beschränken und die Konsequenz daraus nennen - das verlangen die öffentlichen Medien von den Interview-Partnern (auch wegen der zur Verfügung stehenden Sendezeit). Wir wollen auch diese Form der Argumentation einüben. Aufgabe: Verfassen Sie in Form einer erweiterten Argumentation ein Statement zu einem der folgenden Themen! Wählen gehen oder nicht? (Wahlrecht, Wahlpflicht) Politikverdrossenheit (Ursachen, Dilemma) Ausländerfeindlichkeit Neonazis Schulpolitik Tageszeitung lesen? Schülerzeitung Konfliktausschuss am Kolleg Förderunterricht im Fach X. Schulfeste Projekte in der Schule Bürgerinitiativen 14 Die Argumentationslehre ist die notwendige Grundlage für fast alle Aufsatzarten in der Schule, für die Problemerörterung, für die Rhetorik, für die Textanalyse, für fast alle journalistische Formen und für viele Formen der mündlichen Kommunikation. Überall, wo Meinungen vertreten, Positionen bezogen oder Überzeugungen dargelegt werden, überall, wo Entscheidungen getroffen werden, muss begründet werden. Im Folgenden werden wir zwei Formen der mündlichen Kommunikation thematisieren, die ebenfalls auf der Argumentation aufbauen: das Gespräch und die Rede. 15 Diskussion Eine Diskussion ist eine mündliche, sachbezogene, dialogische Ausdrucksform, die der kritischen Erörterung von Problemen dient. Das Ziel ist, alle möglichen Aspekte eines Themas, Sachverhalts oder Problems durch gegenseitige Befragung und abwechselnde Darstellung auf ihren sachlichen Gehalt hin zu prüfen und eine gemeinsame Lösung zu finden, die der Sache und den Teilnehmern dient. Bei jedem Diskussionsteilnehmer werden genaue Kenntnisse der Sache und eine fundierte Meinung zum Gegenstand der Diskussion vorausgesetzt. Der Sinn der Diskussion besteht darin, dass jeder Teilnehmer die Stichhaltigkeit seiner Argumente überprüfen kann, damit sich erweist, welche Ansicht der kritischen Auseinandersetzung standhält. . Arten der Diskussion 1. Das Rundgespräch Diese Form ist die Grundform der Diskussion. Hier sitzen die Teilnehmer in einem Kreis zusammen und diskutieren gleichberechtigt ein Thema. Der Diskussionsleiter führt so, dass zunächst die Ausgangslage dargestellt und dann die Gründe dafür erörtert werden. Danach sollte man nach Möglichkeiten der Abhilfe suchen und die Frage des Kompromisses aufwerfen. 2. Die Podiumsdiskussion Diese Form ist die gebräuchlichste Form der Diskussion. Es wird auf einem erhöhten Podest oder einfach in einem Halbkreis vor einer Zuhörerschaft diskutiert. Die Teilnehmer sitzen so, dass die Zuhörer sie alle sehen können. Meist findet eine Podiumsdiskussion aus zwei Gründen statt: Experten sollen vor einer Zuhörerschaft ein schwieriges Thema erörtern. Es diskutieren nur ausgewählte Vertreter, wenn die Zahl der Interessenten zu groß ist. Nach der Diskussion, die nicht länger als eine Stunde dauern soll, hat das Publikum Gelegenheit, Fragen an die einzelnen Diskussionsteilnehmer zu richten. 3. Das Forum Am gebräuchlichsten ist diese Form der Diskussion als Bürgerversammlung, in der verantwortliche Kommunalpolitiker und Bürger über lokale Probleme miteinander 16 reden. Diese Form stellt eine erweiterte Art der Podiumsdiskussion dar. Hier stehen sich Sachverständige und Publikum in gemeinsamer Frage- und Antwort-Situation gegenüber. Der Leiter sammelt die Fragen und gibt sie an den Betreffenden weiter. Die Fragerichtung ist nicht festgelegt: Sachverständige und Zuhörer können sich gegenseitig befragen. 4. Die Stegreifdiskussion Als Merkmal gilt, dass diese Form der Diskussion nicht besonders vorbereitet ist. Daher muss ihr Thema aus dem Erfahrungsbereich oder der Sachkenntnis der Teilnehmer stammen. Diese Methode hat sich besonders bei sozialen Fragen bewährt. Nach der Gesprächseröffnung, in der ein Fall dargelegt wird, folgt eine Diskussion von Lösungsvorschlägen. Diese Vorschläge werden dann auf ihre Brauchbarkeit hin überprüft. 5. Die „Methode 66“ Diese Methode ist in den USA entwickelt worden und gliedert sich in zwei Stufen. Stufe I : Zunächst werden unter den Anwesenden sechs Gruppen gebildet. Im Anschluss an ein Einführungsreferat haben die Gruppen die Möglichkeit, in etwa zehn Minuten Tatsachen und Fragen zu dem Thema zu finden. Hier muss von Fall zu Fall festgelegt werden, ob alle Gruppen die gleiche Aufgabe erhalten (arbeitsgleiche Gruppen) oder ob jede Gruppe einen anderen Aspekt zu untersuchen hat (arbeitsteilige Gruppen). Stufe II : Nach Abschluss der Gruppendiskussion wählt jede Gruppe einen Stellvertreter, der das Arbeitsergebnis bekannt gibt und anschließend an der Podiumsdiskussion teilnimmt. 6. Die amerikanische Debatte Es werden zwei Mannschaften gebildet, die jeweils den Pro- oder Contra-Standpunkt zu einem Problem übernehmen. Die Mannschaften sitzen einander gegenüber, in jeder „Riege“ vier bis acht, höchstens zehn Gruppenmitglieder. Die übrigen Teilnehmer sitzen vor beiden Mannschaften als Schiedsrichter. Sie beurteilen zum 17 Abschluss: Aufbau, Sprechstil, Schlagfertigkeit und bestimmen den „Sieger“ (muss aber nicht sein). Wenn jedoch ein Sieger bestimmt wird, dann versteht es sich von selbst, dass auch die Schiedsrichter ihr Votum begründen müssen. Der Verlauf der Debatte ist folgender: Es gibt zwei Runden; zunächst spricht der erste Verfechter der These, ihm erwidert der erste Verfechter der Contra-These; darauf spricht der zweite Verfechter der These usw. In der zweiten Runde beginnt der Verfechter der ContraThese, damit jede Partei einmal das „letzte Wort“ hat. In der „Hinrunde“ werden vor allem die eigenen Ansichten dargestellt. Die Mannschaften besprechen sich vorher, verteilen die Argumente, je nach Wissen und Können des einzelnen, und legen die Argumentationsfolge (Sitzordnung) fest. In der „Rückrunde“ wird versucht, die gegnerischen Argumente zu widerlegen. Auch hier ist die Reihenfolge einzuhalten. Da jeder das gleiche Recht hat zu reden, braucht man Regeln, die den Ablauf der Diskussion bestimmen. Voraussetzung dazu ist die grundsätzliche Gleichberechtigung aller Teilnehmer. 18 Für die praktische Durchführung einer Diskussion sollten folgende Regeln gelten: - jeder sollte sich mindestens einmal zu Wort melden - jeder sollte ausreden können, ohne unterbrochen zu werden - jeder achtet die Meinung des anderen - jeder ist verantwortlich, dass sachlich argumentiert wird - jede Meinung, jeder Vorschlag muss begründet werden - alle dürfen erwarten, dass sich alle Diskussionsteilnehmer kurz fassen - jeder kann Geschäftsordnungsanträge stellen (z.B. Begrenzung der Redezeit, Schluss der Rednerliste, Schluss der Diskussion, Abstimmung u.ä.); diese müssen allerdings begründet werden Eine Diskussion ist keine Debatte, da es keine Gewinner und Verlierer gibt. Bei einer Diskussion geht es sachlich zu; man will der Klärung eines Sachverhaltes dienen. Da die Diskussion nach bestimmten Regeln durchgeführt wird, benötigt man einen Diskussionsleiter, der für einen geordneten Ablauf sorgt und aus dem Kreis der Diskussionsteilnehmer gewählt wird. 19 Aufgaben des Diskussionsleiters 1. die Diskussion anregen und in Gang halten ins Thema einführen weiterführende Fragen stellen, neue Aspekte einführen Unklarheiten beseitigen möglichst alle beteiligen die eigene Meinung zurückhalten (Neuralität) nicht unnötig unterbrechen 2. die Diskussion sachlich halten zum Thema zurückführen abwegige Beiträge zurückweisen auf Wiederholungen aufmerksam machen die Disziplin aufrecht erhalten Redebeiträge eventuell begrenzen Streitereien entgegenwirken 3. die Diskussion zusammenfassen Teilergebnisse festhalten unterschiedliche Ansichten gegenüberstellen Gemeinsamkeiten hervorheben Endergebnis formulieren 20 21 22 Rhetorik Die Rede 24 Erste praktische Übungen 26 Die Fünfsatz – Technik 27 Wie man eine Rede vorbereitet und hält 29 Verhaltensspiegel 35 23 Die Rede Als Rede bezeichnet man einen längeren Monolog (einseitig verbale Kommunikation) über ein bestimmtes Thema, den ein Redner vor einem Zuhörerkreis hält, um durch seine Darlegungen und Aufforderungen auf die Hörer einzuwirken. Fünf Faktoren bestimmen die Rede: . • die Situation, in der die Rede gehalten wird • der Redner, der die Rede hält • das Thema, über das geredet wird (Redegegenstand) • die Absicht (Intention), die der Redner verfolgt • das Publikum, der Adressat der Rede Die Rede wird als asymmetrische Kommunikation bezeichnet, weil nur ein Teilnehmer im Kommunikationsverlauf dominiert. Das Gespräch hingegen wird als symmetrische Kommunikation bezeichnet, bei der Sprecher- und Hörerrolle nicht eindeutig festgelegt sind. Jeder kann abwechselnd Sprecher und Hörer sein. 24 Es gibt unterschiedliche Redebereiche (Politik, Gericht, Kirche, Wirtschaft, Familie usw.) und damit auch unterschiedliche Arten der Rede. Im Prinzip können drei Arten von Reden unterschieden werden: 1. Meinungs- und Werbereden: In ihnen werden meist bestimmte Meinungen dargelegt und bestimmte Handlungsweisen empfohlen bzw. von ihnen abgeraten; die eigenen Vorschläge werden als nützlich, die des Gegners als schädlich dargestellt (Intention). Solche Reden haben stark appellativen Charakter. Beispiele sind: Parlamentsreden, Wahlreden, Aufrufe ... 2. Gerichtsreden: Sie werden vor einer Versammlung gehalten, die Entscheidungsgewalt hat und die zu einer bestimmten Entscheidung auffordert (Intention). In der Anklage- und Verteidigungsrede wird verhandelt, ob ein Sachverhalt als gerecht oder ungerecht zu bewerten ist. 3. Festreden: Sie dienen dem Lobpreis von Personen, Gemeinschaften, Institutionen oder feierlichen Ereignissen. Festreden berücksichtigen in besonderer Weise die Gefühle der Zuhörer. Beispiele sind Tischreden, Begrüßungsreden, Gedenkreden ... Ein kurzer geschichtlicher Abriss Als Redekunst hat die Rhetorik ihren Ursprung in der griechischen Antike, und zwar in der Zeit der ersten Demokratie. Als es galt, auf der Agorá (öffentlicher Platz) unter Freien und Gleichen die öffentlichen Angelegenheiten zu verhandeln und politische sowie juristische Entscheidungen zu treffen, waren Überzeugungskunst und also Rhetorik gefragt. Wer gut reden, wer andere überzeugen konnte, vermochte auch seine Interessen am ehesten durchzusetzen. Rhetorik wurde schnell ein wichtiger Bestandteil der Bildung. Dazu gab es im 5. Jh. v.Chr. in Athen Lehrer, die Sophisten, die gegen Entgeld die Bürger und Jugendlichen rhetorisch, künstlerisch und wissenschaftlich ausbildeten und damit die Grundvoraussetzungen für die demokratische Staatsform schufen. Von Sokrates wurden diese Sophisten getadelt, weil sie die Rhetorik aus ihrer etischmoralischen Bindung gelöst hatten und sie als bloße Technik, als Überredungsstrategie missbrauchten. Für Sokrates sollte die Rhetorik der Wahrheitsfindung dienen; im Wechselspiel von Rede und Gegenrede (Dialektik) würde man sich der Wahrheit am ehesten annähern können. Voraussetzung dafür ist aber die sittlich-ethische Grundhaltung des Redners, die auch von Platon immer wieder betont wird (Platon verfasste fast seine gesamten philosophischen Werke in Dialogform). Aus der griechischen Antike ist vor allem noch Demosthenes (384-322) zu nennen, der sich selbst durch eisernes Training zum großen Redner bildete; von ihm stammt die Erkenntnis: Der wichtigste Teil der Rede ist erstens der Vortrag, zweitens der Vortrag und drittens der Vortrag. 25 In der Antike wurden auch die fünf wichtigsten Punkte für einen Redner definiert: 1. 2. 3. 4. 5. die Stoffsammlung die Gliederung die sprachliche Formulierung die Einprägung der Rede der Vortrag Die Römer übernahmen die Lehren zur Rhetorik von den Griechen und formten sie weiter aus. Hier ist besonders Cicero (106-43) zu nennen, der auf Grund seiner Redekunst vom Rechtsanwalt zum römischen Konsul und Gegenspieler von Cäsar aufstieg. Von ihm stammt die Aussage: „Zwei Dinge vermögen einem Menschen höchstes Ansehen zu verleihen: Feldherrnkunst und Beredsamkeit.“ Einer der großen Kirchenväter, Johannes I. von Konstantinopel (344-407), erhielt wegen seiner Beredsamkeit den Beinamen „Chrysostomos“ (deutsch: Goldmund). Von ihm stammt die Auffassung, dass jede Rede der Belagerung der Seele des Hörers gleiche. Im Mittelalter gab es Kloster- und Predigtschulen, in denen die Rhetorik eine wichtige Rolle für die Verbreitung des Glaubens spielte. Neben Grammatik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie galt die Rhetorik als eine der „Sieben Freien Künste“ im 13.Jh. an der ältesten Universität in Bologna. Große Redner brachte die Französische Revolution hervor wie Mirabeau, Robbespierre, Danton und Napoleon I. In Deutschland ist besonders Otto von Bismarck (1815-1898) als guter Redner zu erwähnen. In Russland traten während und nach der Revolution mit Lenin und Trotzki Redner auf, die mit demagogischen Mitteln auf das Volk einwirkten. Die Rhetorik im Nationalsozialismus ist das Negativbeispiel schlechthin für den gewissenlosen Missbrauch der Redekunst. Goebbels und Hitler stellten ihre Rhetorik in den Dienst des politischen Terrors und hetzten ein ganzes Volk zu Hass und Krieg auf. Dieses Erbe belastet die Rhetorik noch heute. Erste praktische Übungen 1. Das Statement Wie man ein Statement (= Erklärung, Kurzvortrag, Meinungsäußerung zu einem bestimmten vorgegebenen Thema) vorbereitet und abgibt, wollen wir im Folgenden thematisieren. 1.1. Vorbereitung Der erste Schritt zum Statement besteht darin, dass man sich klar macht, welche Position man zum Thema einnimmt. Diese wird dann als These, als Kernsatz formuliert. Aus diesem Kernsatz entwickelt sich dann das Statement bzw. die ganze Rede. 26 Der zweite Schritt muss nun darin bestehen, Begründungen für die These bzw. Position zu finden. Bei einem Statement beschränkt man sich gewöhnlich auf eine Argumentation, höchstens zwei Argumentationen. Eine vollständige Argumentation umfasst Argument, Beweis und Beispiel. Im dritten Arbeitsschritt wird die Gliederung bzw. der Aufbau der Rede erstellt. Hierbei ist zu überlegen, in welcher Reihenfolge die Glieder der Argumentation die beste Wirkung erzeugen. Günstig ist es immer, einen steigernden Aufbau zu wählen, d.h. den wichtigsten und überzeugendsten Aspekt zum Schluss zu bringen. Im letzten Arbeitsschritt werden Einleitung und Schluss der Rede konzipiert und der logische Zusammenhang des Ganzen (Überleitungen, Verbindungen usw.) überprüft. 1.2. Anmerkungen zum Sprachstil Beachten Sie immer, dass der Redestil - im Unterschied zum Schreibstil - durch Wortlaut und Vortragsart wirkt. Deshalb einige Tipps: reden Sie in der Umgangssprache passen Sie Ihren Stil der Sprechsituation an bilden Sie möglichst kurze Sätze vermeiden Sie ein Übermaß an Nomen (Nominalstil) vermeiden Sie möglichst Fremdwörter vermeiden Sie Modewörter, Schlagwörter und Phrasen vermeiden Sie Übersteigerung, Pathos und Schwulst 1.3. Wie man ein Statement abgibt Die wichtigsten Voraussetzungen für die Durchführung der Rede sind: die Atmung (tief durchatmen, tief ausatmen, gleichmäßig und ruhig atmen) das Sprechen (deutliche Aussprache, Betonungen, Sprechhöhen und pausen, Vermeidung von Verlegenheitslauten, Sprechtempo) Mimik und Gestik (Möglichkeiten der Verstärkung, Betonung) der Rederaum (akustische Umstände, Lautstärke, Anzahl der Zuhörer) Auftreten des Redners (Ausstrahlung, Selbstbewusstheit, Nervosität, Blickkontakt zum Publikum) 2. Die Fünfsatz-Technik Diese Technik eignet sich gut als Grundlage für Diskussions- oder Debattenbeiträge, also überall dort, wo mit mehreren Teilnehmern ein Konsens gesucht wird. Die Fünfsatz-Technik zwingt zu einer klaren Gedankenlinie, zu einem prägnanten Sprachstil und zur Zuspitzung auf den fünften Satz. Zudem ist diese Technik auch hervorragend als Grundgerüst für längere Reden geeignet, da sich die einzelnen Teile, z.B. die Mittelteile, mühelos ausbauen lassen. Bei den folgenden Varianten handelt es sich um solche, die entweder an einen Vortrag anschließen oder eine Diskussion eröffnen können. 27 Beispiele: 1. Ich meine, der Vorschlag X ist gefährlich. 2. Wir müssen überlegen, ob nicht ... 3. Mir scheint der bessere Weg, wenn ... 4. Dann nämlich können wir ... 5. Wir haben zu entscheiden, ob ... 1. Die „Kette“ bringt z.B. eine streng chronologische oder logische Abhängigkeit der Glieder. 1. Dem Referenten möchte ich danken für eine Menge neuer Einsichten ... 2. Unter anderem hat er gesagt ... 3. Dagegen ist aber auch zu halten, dass ... 4. Vergleicht man beide Ansichten, dann ... 5. Aus diesem Grunde schlage ich vor ... 2. Man baut dialektisch auf. 1. Gemeinhin sieht man die Sache so ... 2. Aus unsere Erfahrung aber ... 3. Denn erstens ... 4. Außerdem zweitens ... 5. Folglich ... 3. Man geht vom Allgemeinen zum Besonderen. 1. Die A - Partei hat folgenden Standpunkt ... 2. Sie begründet ihn mit ... 3. Die B - Partei vertritt den entgegengesetzten Standpunkt ... 4. Sie begründet ihn mit ... 5. Ich kann mich für keinen der beiden entschließen, sondern ... 4. Man vergleicht zwei Positionen. 1. A behauptet .... 2. B widersprach mit dem Hinweis auf ... 3. Mir scheint, die beiden treffen sich in einem Punkt ... 4. Hier liegt vielleicht die Lösung, denn... 5. Wir sollten in dieser Richtung weiterdenken. 5. Man versucht einen Kompromiss. 1. 2. 3. 4. Wir reden schon eine Weile über ... Bislang dreht sich alles um ... Dabei wurde übersehen, dass ... Gerade dies scheint mir aber besonders wichtig, weil ... 5. Ich stelle den Antrag ... 6. Man klammert eine (z.B. die allgemeine) Ansicht aus. 28 Aufgabe: Formulieren Sie Debattenbeiträge im Fünfsatz zu folgenden (oder selbst gewählten) Themen: • • • • • • Welches Schulfach erscheint ihnen wirklich wichtig? Ist es richtig, dass in der Schule das Leistungsprinzip herrscht? Sollte mehr Gruppenarbeit stattfinden? Sollten mehr Kursfahrten angeboten werden? Sollten mehr Ganztagsschulen eingerichtet werden? Welche Rolle sollte die Lehrerin bzw. der Lehrer im Lernprozess einnehmen? 3. Wie man eine Rede vorbereitet und hält Kurt Tucholsky : Ratschläge für einen schlechten Redner Fange nie mit dem Anfang an, sondern immer drei Meilen vor dem Anfang! Etwa so: Meine Damen und Herren! Bevor ich zum Thema des heutigen Abends komme, lassen Sie mich Ihnen kurz ... Hier hast du schon so ziemlich alles, was einen schönen Anfang ausmacht: eine steife Anrede; der Anfang vor dem Anfang; die Ankündigung, dass und was du zu sprechen beabsichtigst, und das Wörtchen kurz. So gewinnst du im Nu die Herzen und die Ohren der Zuhörer. Denn das hat der Zuhörer gern: dass er deine Rede wie ein schweres Schulpensum aufbekommt; dass du mit dem drohst, was du sagen wirst, sagst oder schon gesagt hast. Immer schön umständlich. Sprich nie frei - das macht einen so unruhigen Eindruck. Am besten ist es: Du liest deine Rede ab. Das ist sicher, zuverlässig, auch freut es jedermann, wenn der lesende Redner nach jedem vierten Satz misstrauisch hochblickt, ob auch noch alle da sind. Wenn du gar nicht hören kannst, was man dir so freundlich rät, und du willst durchaus und durchum frei sprechen ... du Laie! Du lächerlicher Cicero! Nimm dir doch ein Beispiel an unsern professionellen Rednern, an den Reichtagsabgeordneten - hast du die schon mal frei sprechen hören? Die schreiben sich sicherlich zu Hause auf, wann sie „Hört! Hört!“ rufen ... ja, also wenn du denn frei sprechen musst: Sprich, wie du schreibst. Und ich weiß, wie du schreibst. Sprich mit langen, langen Sätzen - solchen, bei denen du, der du dich zu Hause, wo du ja in Ruhe, deren du so sehr benötigst, deiner Kinder ungeachtet, hast vorbereitet, genau weißt, wie das Ende ist, die Nebensätze schön ineinandergeschachtelt, so dass der Hörer, ungeduldig auf seinem Sitz hin und her träumend, sich in einem Kolleg wähnend, in dem er früher so gern geschlummert hat, auf das Ende solcher Periode wartet ... nun, ich habe dir eben ein Beispiel gegeben. So musst du sprechen. Fang immer bei den alten Römern an und gib stets, wovon du auch sprichst, die geschichtlichen Hintergründe der Sache. Das ist nicht nur deutsch - das tun alle Brillenmenschen. Ich habe einmal in der Sorbonne einen chinesischen Studenten sprechen hören, der sprach glatt und gut 29 französisch, aber er begann zu allgemeiner Freude so: „Lassen Sie mich Ihnen in aller Kürze die Entwicklungsgeschichte meiner chinesischen Heimat seit dem Jahre 2000 vor Christi Geburt ...“ Er blickte ganz erstaunt auf, weil die Leute so lachten. So musst du das auch machen. Du hast ganz Recht: Man versteht es ja sonst nicht, wer kann denn das alles verstehen, ohne die geschichtlichen Hintergründe ... sehr richtig! Die Leute sind doch nicht in deinen Vortrag gekommen, um lebendiges Leben zu hören, sondern das, was sie auch in den Büchern nachschlagen können ... sehr richtig! Immer gib ihm Historie, immer gib ihm. Kümmere dich nicht darum, ob die Wellen, die von dir ins Publikum laufen, auch zurückkommen - das sind Kinkerlitzchen. Sprich unbekümmert um die Wirkung, um die Leute, um die Luft im Saale; immer sprich, mein Guter. Gott wird es dir lohnen. Du musst alles in die Nebensätze legen. Sag nie: „Die Steuern sind zu hoch.“ Das ist zu einfach. Sag: „Ich möchte zu dem, was ich soeben gesagt habe, noch kurz bemerken, dass mir die Steuern bei weitem ...“ So heißt das. Trink den Leuten ab und zu ein Glas Wasser vor - man sieht das gern. Wenn du einen Witz machst, lach vorher, damit man weiß, wo die Pointe ist. Eine Rede ist, wie könnte es anders sein, ein Monolog. Weil doch nur einer spricht. Du brauchst auch nach vierzehn Jahren öffentlicher Rederei noch nicht zu wissen, dass eine Rede nicht nur ein Dialog, sondern ein Orchesterstück ist: eine stumme Masse spricht nämlich ununterbrochen mit. Und das musst du hören. Nein, das brauchst du nicht zu hören. Sprich nur, lies nur, donnere nur, geschichtele nur. Zu dem, was ich soeben über die Technik der Rede gesagt habe, möchte ich noch kurz bemerken, dass viel Statistik eine Rede immer sehr hebt. Das beruhigt ungemein, und da jeder im Stande ist, zehn verschiedene Zahlen mühelos zu behalten, so macht das viel Spaß. Kündige den Schluss deiner Rede lange vorher an, damit die Hörer vor Freude nicht einen Schlaganfall bekommen. (Paul Lindau hat einmal einen dieser gefürchteten Hochzeitstoaste so angefangen: „Ich komme zum Schluss.“) Kündige den Schluss an, und dann beginne von vorn und rede noch eine halbe Stunde. Dies kann man mehrere Male wiederholen. Du musst dir nicht nur eine Disposition machen, du musst sie den Leuten auch vortragen - das würzt die Rede. Sprich nie unter anderthalb Stunden, sonst lohnt es sich gar nicht erst anzufangen. Wenn einer spricht, müssen die anderen zuhören - das ist deine Gelegenheit! Missbrauche sie. ________________________________________________________ Jetzt wissen wir, wie man schlechte Reden hält, und wir wissen einiges, was man vermeiden muss, damit es keine missratene Rede wird. Eine gute Rede beginnt immer beim Redner. Voraussetzungen eines guten Redners sind Stoffbeherrschung, Sprachvermögen und Überzeugungskraft. Im Einzelnen bedeutet das: 30 Ein guter Redner kennt seinen Stoff gut und ist optimal vorbereitet. Er • • • • • spricht über Sachverhalte oder Gebiete, in denen er sich gut auskennt hat sich Gegenargumente und Fragen vorher überlegt kennt sein Publikum oder kann es relativ schnell einschätzen hat sein persönliches Redeziel und den Ablauf vor Augen hat seine Rede gut gegliedert Ein guter Redner kann sich ausdrücken. Er • verfügt über einen ausreichenden Wortschatz • benutzt Fachausdrücke und Fremdwörter nur, soweit sie nötig und verständlich sind • ist stilsicher: er weiß, welche Mittel welche Wirkung haben • gibt Zitate korrekt und ggf. mit Quellenangabe wieder Ein guter Redner kann überzeugen und wirkt sicher. Er • ist engagiert bei der Sache und weckt dadurch Interesse • motiviert sein Publikum für sein Anliegen Ein guter Redner kennt und nutzt technische Hilfsmittel, die den Vortrag unterstützen. Diese • steigern das Erinnerungsvermögen • sparen Redezeit, indem sie Sachverhalte verdeutlichen • erhöhen die Glaubwürdigkeit • lassen den Redner informiert und vorbereitet wirken Die Vorbereitung Im Prinzip muss der Redner sich auf fünf Punkte vorbereiten: 1. Thema und Publikum 2. Redeziel 3. Inhalt 4. Form und Taktik Über welches Thema will ich ganz genau sprechen? Welche Personen sind meine Zuhörer/-innen? Was wissen sie über das Thema bzw. über mich? Was versprechen sie sich von meinem Vortrag? Welches Ziel setze ich mir? Was will ich erreichen? Was gilt es zu vermeiden? Was ist zu sagen? Welche Fakten soll ich ansprechen? Wie trage ich den Inhalt zusammen? In welcher Form muss ich es sagen? Womit beginne ich, was kommt als Nächstes? Welche Argumente will ich bis zum Schluss aufheben. 31 Der Vorbereitungsraster Thema/Titel: ............................................................................Beginn: ................ Datum: .....................................................................................Ende: .................... Ort: ...........................................................................................Dauer: ................... Anlass: X.................................................................................................................. ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------Publikum: Meine Redeziele: Inhaltsdisposition: Form und Taktik: Organisatorisches: Die Konzeption 1. Versuchen Sie, den Kern Ihrer Rede in einem Basissatz zusammenzufassen: den Basissatz erhalten Sie, wenn Sie eine Inhaltsangabe soweit vereinfachen, dass der Inhalt in einem Satz, dem Basissatz, ausgesagt wird aus diesem Basissatz, dem Kerngedanken, entwickelt sich Ihre ganze Rede 2. Sammeln Sie nun Stoff, der zum gewählten bzw. gestellten Thema passt. Dazu einige Hilfen: Stellen Sie als Erschließungsfragen die sog. W-Fragen (Wann? - Wer? - Wo? - Wie? - Warum? usw.) Suchen Sie Gegensätze, Kernbegriffe oder Leitgedanken Suchen Sie themenbezogene Redensarten, Redewendungen und Sprichwörter 32 Versetzen Sie sich in die Position dessen, der völlig anderer Meinung ist als Sie Sammeln Sie Quellen, statistische Angaben und Beweismaterial zur Stützung Ihrer Aussagen 3. Gliedern Sie nun Ihre Rede: Eine Rede sollte nicht mehr als fünf Gliederungspunkte enthalten Fassen Sie jeden Gliederungspunkt nach der Ausarbeitung kurz zusammen und verbinden Sie ihn dann gedanklich mit dem nächsten Punkt Legen Sie die Rede steigernd an; das wichtigste und überzeugendste Argument bewahren Sie sich für den Schluss auf, um damit auch den letzten Zweifler zu überzeugen 4. Überlegen Sie sich Einleitung und Schluss besonders sorgfältig: Die Einleitung ist sozusagen der Blickfang für den Hörer; der erste Eindruck, den der Redner macht, ist oft entscheidend; hier müssen die Zuhörer gewonnen werden; ihre Aufmerksamkeit muss ungeteilt auf den Gegenstand der Rede gelenkt werden Legen Sie die Einleitung erst zum Schluss fest Im Schluss der Rede sollte das Hauptanliegen noch einmal zusammengefasst werden, da gerade die Schlusswendungen dem Hörer hinterher noch im Ohr klingen 5. Beachten Sie bei Sprachverwendung, dass Sie nicht einem Schreibstil verfallen: Reden Sie in der Umgangssprache Passen Sie Ihren Stil der Sprechsituation an Bilden Sie möglichst kurze Sätze Vermeiden Sie ein Übermaß an Nomen (Nominalstil) Vermeiden Sie möglichst Fremdwörter Vermeiden Sie Modewörter, Schlagwörter und Phrasen Vermeiden Sie Übersteigerung, Pathos und Schwulst Hauptsachen gehören in den Hauptsatz, Nebensachen in den Nebensatz Ziehen Sie das Aktiv dem Passiv vor Geben Sie Handlungen möglichst in Verben wieder Setzen Sie rhetorische Mittel bzw. Figuren ein, um bestimmte Wirkungen zu erreichen: Anschaulichkeit, Eindringlichkeit, Spannungssteigerung, Überraschungseffekte und kommunikative Wirkungsakzente (eine alphabetische Liste hierzu finden Sie im „Anhang“; dort finden Sie auch eine Übersicht über Klang-, Wort-, Satz- und Sinnfiguren) 6. Erarbeiten Sie nun Ihr Manuskript: Arbeiten Sie das Manuskript zweispaltig aus: Auf der einen Seite steht der ausführliche Text, auf der anderen Seite notieren Sie die entsprechenden Stichworte; diese Form hat den Vorteil, dass Sie den Faden jederzeit wiederfinden, wenn Sie im Redefluss stocken; ein kurzer Blick genügt dann. Arbeiten Sie auch mit farbigen Markierungsstiften, damit Sie besonders wichtige Stellen, z.B. Zitate, schnell finden. 33 7. Durchführung der Rede Sprach- und sprechtechnische Voraussetzungen: 7.1. die Atmung Atmen Sie tief durch. Besonders wichtig: Atmen Sie tief aus, sonst entsteht ein Luftstau in den Lungen, die verbrauchte Luft fließt nicht ab und wird durch weitere verbrauchte Luft ergänzt. Atmen Sie besonders dann ein, wenn der Sinn eine Pause gestattet, sonst haben Sie nur Zeit zum Nachatmen 7.2. das Sprechen Achten Sie auf eine gute Lautbildung: Der Zuhörer muss jede Silbe verstehen Passen Sie Lautstärke, Betonung, Sprechtempo der jeweiligen Situation an Variieren Sie die Satzmelodie, den Verlauf der Sprechhöhen und -tiefen Betonen Sie den wichtigsten Teil des Satzes Benutzen Sie die Satzzeichen als Lesezeichen (Punkt: Stimme senken; Komma: Stimme heben) 7.3. Mittel, die der Betonung dienen Machen Sie Gebrauch von den unterschiedliche Betonungsmöglichkeiten (Sprechtonerhöhung, Sprechtonverstärkung, Sprechtondehnung) Sprechen Sie bewusst etwas tiefer, das schont die Stimme Vermeiden Sie Verlegenheitslaute wie äh, öh, ne usw. 8. das Auftreten als Redner Treten Sie selbstbewusst und sicher auf Halten Sie Blickkontakt zu den Zuhörern Sprechen Sie möglichst frei; wenn Sie nicht ganz frei sprechen können, dann lesen Sie wie die Sprecher/-innen der Tagesschau in Wortblöcken Sie sollten Ihre Rede vorher nicht vor dem Spiegel üben, das führt zu Verkrampfungen Aufgabe: Konzipieren Sie eine Rede zu einem der folgenden Anlässe und halten Sie diese Rede vor der Klasse! Begrüßungsrede für den neuen Vorkurs Rede zur Verabschiedung der Abiturientinnen und Abiturienten Begrüßungsrede für ein Klassentreffen Rede für das alljährliche Schulfest Rede zur Ausstellung Ihres Kunstkurses Geburtstagsrede für ... Gedenkrede zum Todestag eines großen Vorbildes Rede für eine Vereinsfeier Rede für eine offizielle Silvesterfeier Rede zu Ihrem Verbesserungsvorschlag ... 34 Verhaltensspiegel zur Selbst- und Fremdbeobachtung 1. Haltung Auftreten, Körper, Hände, Füße 2. Hörerbezug Augenkontakt, Zwiegespräch, Dialog 3. Sprachlicher Ausdruck treffend, klar, einfach, sachlich, konservativ, modern 4. Sprachtechnik Atmung, Ton, Artikulation 5. Körperlicher Ausdruck Gestik, Mimik 6. Sprechausdruck Gliederung, Betonung, Beseelung 7. Rednerischer Ausdruck leicht - gehemmt stark - schwach natürlich - falsches Pathos Spannung - Lösung Steigerung - Höhepunkt 8. Sprechdenken Sätze abgebrochen, zu schnell, zu lange Sätze, klare Gedankenführung Beweisführung 9. Thema erfasst, zielorientiert, Abschweifungen 10. Aufbau Einleitung, Hauptteil, Schluss Wegweiser, Führung für Hörer 35 Selbstvertrauen ausgeglichen zuversichtlich sympathisch anregend konzentriert souverän tolerant überzeugend aufrüttelnd natürlich dynamisch ausgewogen beharrlich eindringlich vital kreativ zielstrebig Ehrgeiz Humor höflich Entschlossenheit unabhängig verlässlich Suggestivkraft Führungstechnik nervös gehemmt überschwänglich unentschlossen kriecherisch Eitelkeit arrogant rechthaberisch aggressiv Gehässigkeit Ungeduld ermüdend 36 Redeanalyse Analysieren von Reden Analyse – Beispiel Methodik der Redeanalyse W. Churchill: Blut und Tränen Die rhetorischen Ziele A. Hitler: Wahlrede J. Goebbels: totaler Krieg Anmerkungen zur NS – Rhetorik K. Weiß: Rechtsradikalismus H.-O. Henkel: Globalisierung F. Rexhausen: Fruchtbonbons Rede im Betrieb Die Festtagsrede D. Hildebrandt: Der Mond 37 38 39 42 44 47 48 50 54 55 58 59 61 62 63 Analysieren von Reden Beim Analysieren von Reden steht man außerhalb der Redesituation, d.h., man ist nicht der Adressat der Rede. Die Analyse einer Rede kann selbstredend nur anhand eines schriftlich fixierten Textes oder von Tonband- oder Fernsehaufzeichnungen durchgeführt werden. Die Redesituation, Redner, Publikum und andere Kontexte sind somit schon Gegenstände der Analyse. Jede Rede - wir erinnern uns - steht im Zusammenhang bestimmter Faktoren: 38 Der erste Schritt bei der Redeanalyse besteht darin mitzuteilen, wer wann wo bei welchem Anlass zu wem was gesagt hat, also Angaben zu machen : 1. zum Redner / zur Rednerin Wer ist der/ die Redner/-in? Welche Position bzw. Funktion hat er/sie inne? Was ist allgemein über die Person bekannt? 2. zum Ort und zur Zeit der Rede Wo, an welchem Ort, in welcher Stadt ... und zu welcher Zeit, in welchem Jahr ... wurde die Rede gehalten? 3. zur Redesituation Aus welchem Anlass wurde die Rede gehalten? In welchem Rahmen findet sie statt? In welche allgemeine, politisch-soziale Situation ist sie einzuordnen? 4. zum Publikum Welches - spezifische - Publikum ist der Adressat der Rede? Welche Erwartungen hegt es? Wie hat es bei der Rede reagiert? 5. zum Redegegenstand bzw. -thema Was thematisiert die Rede? In welchen Zusammenhang ist das Thema zu sehen? _______________________________________________________ Analysebeispiel: J.F. Kennedy in Berlin (1963) 5 10 15 20 Meine Berliner und Berlinerinnen! Ich bin stolz, heute in Ihre Stadt zu kommen als Gast Ihres hervorragenden Regierenden Bürgermeisters, der in allen Teilen der Welt als Symbol für den Kampf und Widerstandsgeist Westberlins gilt. Ich bin stolz, auf dieser Reise die Bundesrepublik Deutschland zusammen mit Ihrem hervorragenden Bundeskanzler besucht zu haben, der während so langer Jahre die Politik bestimmt hat nach den Richtlinien der Demokratie, der Freiheit und des Fortschritts. Ich bin stolz darauf, heute in Ihre Stadt in Gesellschaft eines amerikanischen Mitbürgers gekommen zu sein, General Clay, der hier tätig war in der Zeit der schwersten Krise, durch die diese Stadt gegangen ist, und der wieder nach Berlin kommen wird, wenn es notwendig werden sollte. Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz, den ein Mensch sagen konnte, der: Ich bin ein Bürger Roms! Heute ist der stolzeste Satz, den jemand in der freien Welt sagen kann: Ich bin ein Berliner! Wenn es in der Welt Menschen geben sollte, die nicht verstehen oder nicht zu verstehen vorgeben, worum es heute in der Auseinandersetzung zwischen der freien Welt und dem Kommunismus geht, dann können wir ihnen nur sagen, sie sollen nach Berlin kommen. Es gibt Leute, die sagen, dem Kommunismus gehöre die Zukunft. Sie sollen nach Berlin kommen! Und es gibt wieder andere in Europa und in anderen Teilen der Welt, die behaupten, man könne mit den Kommunisten zusammenarbeiten. Auch sie 39 sollen nach Berlin kommen. 25 Und es gibt auch einige, die sagen, es treffe zwar zu, dass der Kommunismus ein böses und schlechtes System sei; aber er gestatte es ihnen, wirtschaftlichen Fortschritt zu erreichen. Lasst auch sie nach Berlin kommen! Ein Leben in Freiheit ist nicht leicht, und die Demokratie ist nicht 30 vollkommen. Aber wir hatten es nie nötig, eine Mauer aufzubauen, um unsere Leute bei uns zu halten und sie daran zu hindern, woanders hinzugehen. Ich möchte im Namen der Bevölkerung der Vereinigten Staaten, die viele tausend Kilometer von Ihnen entfernt auf der anderen Seite des Atlantiks 35 lebt, sagen, dass meine amerikanischen Mitbürger sehr stolz darauf sind, mit Ihnen zusammen selbst aus dieser Entfernung die Geschichte der letzten achtzehn Jahre teilen zu können. Denn ich kenne keine Stadt, die jemals achtzehn Jahre lang belagert wurde und dennoch lebt mit ungebrochener Vitalität, mit unerschütterlicher Hoffnung, mit gleicher Stärke 40 und mit gleicher Entschlossenheit wie heute Westberlin. Die Mauer ist die abscheulichste und stärkste Demonstration für das Versagen des kommunistischen Systems. Die ganze Welt sieht dieses Eingeständnis des Versagens. Wir sind darüber keineswegs glücklich, denn, wie Ihr Regierender Bürgermeister gesagt hat, die Mauer schlägt 45 nicht nur der Geschichte ins Gesicht, sie schlägt der Menschlichkeit ins Gesicht. Durch die Mauer werden Familien getrennt, der Mann von der Frau, der Bruder von der Schwester, Menschen werden mit Gewalt auseinander gehalten, die zusammen leben wollen. Was für Berlin gilt, gilt für Deutschland: Ein echter Friede in Europa kann 50 nicht gewährleistet werden, solange jedem vierten Deutschen das Grundrecht einer freien Wahl vorenthalten wird. In siebzehn Jahren des Friedens und der europäischen Verlässlichkeit hat diese Generation der Deutschen sich das Recht verdient, frei zu sein, einschließlich des Rechtes, die Familien und die Nation in dauerhaftem Frieden wieder 55 vereint zu sehen. Sie leben auf einer verteidigten Insel der Freiheit. Aber Ihr Leben ist mit dem des Festlandes verbunden, und deswegen fordere ich Sie zum Schluss auf, den Blick über die Gefahren des Heute hinweg auf die Hoffnung des Morgen zu richten, über die Freiheit dieser Stadt Berlin, über die Freiheit 60 Ihres Landes hinweg auf den Vormarsch der Freiheit überall in dieser Welt, über die Mauer hinweg, auf den Tag des Friedens in Gerechtigkeit. Die Freiheit ist unteilbar, und wenn nur einer versklavt ist, dann sind nicht alle frei. Aber wenn der Tag gekommen sein wird, an dem alle die Freiheit haben 65 und Ihre Stadt und Ihr Land wieder vereint sind, wenn Europa geeint ist und Bestandteil eines friedvollen und zu höchsten Hoffnungen berechtigten Erdteils, dann können Sie mit Zufriedenheit von sich sagen, dass die Berliner und diese Stadt Berlin zwanzig Jahre lang Front gehalten haben. Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt 70 Westberlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können: Ich bin ein Berliner! 40 Anmerkungen zur Rede Die vorliegende Rede wurde am 23.6.1963 in Berlin gehalten. Vom Balkon des Schöneberger Rathauses - damaliger Sitz des Westberliner Senats sprach der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu mehr als 100 000 Westberliner Bürgerinnen und Bürgern. John F. Kennedy war Präsident der USA von 1961- 63; er wurde am 22.11.1963 in Dallas ermordet. In seine Amtszeit fallen zwei wichtige welthistorische Ereignisse, nämlich die Kuba-Krise und der Berliner Mauerbau, die Eskalation des Ost-West-Konflikts bzw. des Kalten Krieges. Als relativ junger Präsident - 1963 war er 46 Jahre alt - genoss Kennedy hohes Ansehen in der westlichen Welt, besonders bei der Jugend, weil er neben seiner großen Energie und Entschlossenheit auch sehr medienwirksam war. Am 13.8.61 wurde in Berlin die Mauer gebaut und damit nicht nur die Stadt geteilt, sondern auch Westberlin von der BRD getrennt. Damit bekam Westberlin einen isolierten, äußerst gefährdeten Status als westliche Insel inmitten des kommunistischen Blockes. Während Moskau daran interessiert war, Westberlin zu isolieren und langfristig dem eigenen Reich einzuverleiben, waren die BRD und die USA darauf bedacht, Westberlin auf jeden Fall als westliche Frontstadt zu erhalten. Diese explosive Situation bestimmte auch die bedrohte Stimmung in Westberlin. Insofern sahen die Bürger/ innen Berlins im Besuch des amerikanischen Präsidenten nicht nur einen symbolischen Akt, sondern sie hegten große Erwartungen an Kennedy, dass er ihre Situation alsbald ändern werde, zumal in der von Adenauer regierten BRD der Wiedervereinigungswille immer wieder betont wurde. Kennedy konnte zwar die damals unrealistischen Erwartungen der Westberliner nicht erfüllen, aber er konnte mit seiner emotional orientierten Rede die Herzen der Westberliner erobern und ihre Hoffnung und ihr Durchhaltevermögen stärken. Der heftige Applaus und die skandierenden Kennedy-Rufe beweisen, dass Kennedy die richtigen Worte in der angespannten Situation gefunden hatte und dass die Berliner in ihm einen Freund gefunden hatten, dem sie volles Vertrauen entgegenbrachten. Nachdem der Leser mit den externen Kontexten der Rede (Ort, Zeit, Redner, Publikum, Situation) und dem Thema vertraut gemacht ist, folgt für die Redeanalyse nun die Textarbeit. Diese eigentliche Analyse bezieht sich auf die drei Ebenen, die jede Textanalyse umfasst: Inhalt, Struktur und Sprache. Bei der Redeanalyse ist es günstig und ökonomisch, mit der Analyse der Struktur zu beginnen, weil mit der Aufteilung der Rede in kleinere Einheiten die Textarbeit einfacher und übersichtlicher wird. 41 Die Methodik der Redeanalyse kann etwa folgendermaßen aussehen: 1. Strukturanalyse Die Struktur einer Rede ist wesentlich bestimmt durch Aufbau, Gliederung Argumentation. Wir fragen also: • Wie ist die Rede gegliedert (Abschnitte) ? • Umfasst jeder Abschnitt eine Argumentation? • Werden nur Thesen aneinandergereiht, oder liegen vollständige Argumentationen vor (Argument - Beweis - Beleg)? • Wo ist die Hauptaussage, die These, die Position des Redners zu finden? 2. Inhaltsanalyse Die Inhaltsanalyse bezieht sich auf alle inhaltlichen Aspekte eines Textes, einer Rede ... , also auf Thema, Problem, Problemzusammenhang, auf die Intention. Wir fragen also: • Was will der Redner / die Rednerin erreichen? • Welche rhetorischen Ziele sind erkennbar? • Welche Einstellung zum Redegegenstand kommt zum Ausdruck? • Richtet sich die Rede eher an den Verstand oder eher an das Gefühl des Publikums? Soll es aufgeklärt oder überrumpelt werden? 3. Sprachanalyse Die Sprachanalyse soll aufzeigen, mit welchen sprachlich-stilistischen Mitteln die Redeabsicht (Intention) realisiert wird. Wir fragen also: • Welche rhetorischen Mittel werden wo zu welchem Zweck eingesetzt? • Aus welchen Bereichen stammt das Wortmaterial? Werden Fachausdrücke benutzt? Sind Phrasen, klischeehafte Wendungen, nichtssagende Gemeinplätze oder Schlagwörter zu finden? • Gibt es Schlüsselwörter, Hochwertbegriffe oder andere auffällige Wörter? Bemerkung zur Methodik Die o.g. Ebenen der Analyse könnten nahe legen, dass eine Redeanalyse gemäß den drei Schritten, also nacheinander, realisiert werden muss. Das wäre ein Missverständnis. Die o.g. Ebenen geben lediglich vor, welche Aspekte bei der Redeanalyse zu berücksichtigen sind. In welcher Form das geschieht, bleibt jedem Einzelnen überlassen. Man kann die Redeanalyse dreiteilig gemäß den drei Schritten erstellen, also nacheinander Struktur, Inhalt und Sprache betrachten. Dann ist auch das Ergebnis dreiteilig. Ökonomischer ist es jedoch, abschnittweise vorzugehen und die drei Ebenen parallel zu betrachten gemäß den Fragen: Was ist inhaltlich ausgesagt? Wie ist der Inhalt argumentativ dargelegt? Welche rhetorischen Ziele sind angestrebt? Welche sprachlich-stilistischen Mittel sind eingesetzt? 42 Analysebeispiel: (Auszug bezogen auf die Kennedy-Rede) Die Rede ist in etliche Absätze unterteilt; inhaltlich können sechs Sinnabschnitte ausgemacht werden: Im ersten Abschnitt (Z. 1-15) betont der Redner seinen Stolz beim Besuch dieser bedeutenden Stadt. Der zweite Teil (Z. 16 - 32) stellt Berlin als Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen dem Westen und dem Kommunismus heraus. Im dritten Teil (Z. 33 - 48) betont Kennedy die Verbindung zwischen dem amerikanischen Volk und der Bevölkerung Westberlins. Daran anschließend wird im vierten Teil (Z. 49 - 55) die Mauer als Beweis für das Versagen des kommunistischen Systems thematisiert. Die Situation Berlins als Hindernis für Frieden und Freiheit wird im fünften Teil (Z. 56 - 63) dargelegt. Im Schlussteil der Rede (Z. 64 - 71) zeichnet der Redner positive Zukunftsperspektiven für Berlin. Auffällig erscheint zunächst die Anrede der Zuhörer/-innen. Mit dem Possessivpronomen wird die Distanz zwischen Redner und Publikum aufgehoben und ein Wir-Gefühl erzeugt. Der Redner nimmt so das Publikum für sich ein, indem er suggeriert, dass die Ängste und Nöte der Berliner auch die Angelegenheit des amerikanischen Präsidenten sind. Diese innere Verbundenheit wird im ersten Redeteil noch unterstrichen dadurch, dass Kennedy in dreifacher Wiederholung seinen Stolz betont und die Verhältnisse umkehrt: Nicht die Stadt ist stolz, dass der amerikanische Präsident sie besucht, sondern umge-kehrt: Kennedy ist stolz, dass er die Stadt besuchen darf „als Gast Ihres ... Bürgermeis-ters“, an der Seite des Bundeskanzlers und des General Clay. Der Untertreibung hinsichtlich der eigenen Person stehen Übertreibungen bezüglich der angesprochenen Personen gegenüber. Der Bürgermeister von Berlin gilt „in allen Teilen der Welt als Symbol“, der Bundeskanzler wird identifiziert mit Demokratie, Freiheit und Fortschritt und General Clay hat sich in „der schwersten Krise“ Berlins bewährt. Zusätzlich werden diese Übertreibungen hinsichtlich des Bundeskanzlers und des Bürgermeisters noch mit demselben Adjektiv („hervorragenden“) verstärkt, wodurch beide deutschen Politiker in der Achtung des Redners auf dieselbe Stufe gehoben werden. Im Zusammenhang mit dieser Aufwertung der Personen werden auch die entscheidenden Schlüsselwörter genannt, die Redeanlass und Redegegenstand verbinden und die Redeabsicht erkennen lassen: Widerstandsgeist Westberlins, Demokratie und Freiheit. Mit dem Begriff „Krise“ (der Stadt) werden zudem geschickt Vergangenheit und Gegenwart verknüpft. Der Redebeginn wirkt auf den Zuhörer sehr eindringlich. Das wird vor allem durch die Anapher (dreifache Wiederholung) erreicht, die zudem vom Parallelismus verstärkt wird: Dem Hauptsatz folgt ein Infinitivsatz, dann ein Relativsatz. Eindringlicher kann der Anfang einer Rede kaum sein. Der Redebeginn mit den Wiederholungen zeigt aber auch, dass es dem Redner hier nicht darauf ankommt, zu argumentieren und zu überzeugen. Vielmehr zeigt dieser Einstieg mit seinen Schmeicheleien eine deutlich emotionale Ausrichtung. Im zweiten Abschnitt der Rede ... 43 Aufgabe: Analysieren Sie einen weiteren Abschnitt der Kennedy - Rede! Sie können dabei so vorgehen, dass Sie zunächst in einer Phase der Vorarbeit Ihre Beobachtungen sammeln und in die jeweilige Spalte einordnen: Zeilen Inhalt sprachliche Mittel beabsichtigte Wirkung Diese stichwortartigen Beobachtungen lassen sich zuletzt relativ schnell zu einem Fließtext formulieren. Je intensiver die Vorarbeiten gemacht werden, um so einfacher fällt dann die zusammenhängende Darstellung. Aufgabe: Analysieren Sie die folgende Rede, indem Sie den Schwerpunkt auf die rhetorischen Mittel legen! Winston Churchill: Blut und Tränen Das Umfeld Am 10. Mai 1040 fielen deutsche Truppen in Belgien und Holland und Luxemburg ein. Auf Bitten Leopolds, des Königs der Belgier, wurden gleichzeitig britische Truppen in Richtung Belgien in Marsch gesetzt. Am gleichen Tage resignierte Neville Chamberlain, der versucht hatte, mit Adolf Hitler in Frieden leben zu können. Das englische Königshaus beauftragte am späten Abend desselben Tages Winston Churchill mit der Bildung einer Allparteien-Regierung. Drei Tage später – am 13.Mai 1940-, am Tage, bevor das holländische Oberkommando kapitulierte , hielt Churchill vor dem Unterhaus seine berühmt gewordene „Blut und Tränen„ - Rede. Mit dieser 44 Rede gelang es ihm, die zerstrittenen Parteien zu einigen und das britische Volk zusammenzuschließen. Beide waren bereit, große Opfer zu bringen. Die Rede „Abends erhielt ich von Seiner Majestät den Auftrag, eine neue Regierung zu bilden... Offensichtlich war es der Wunsch und Wille des Parlaments und der Nation, dass dies auf einer möglichst breiten Basis geschehe. Alle Parteien sollten eingeschlossen sein. Ich habe den wichtigsten Teil dieser Aufgebe erfüllt. Eine Regierung von solchem Ausmaß und von solcher Vielgestaltigkeit zu bilden ist an sich eine schwere Aufgabe; wir müssen aber bedenken, dass wir uns im Anfangsstadium einer der größten Schlachten der Weltgeschichte befinden, dass wir an vielen Punkten Norwegens und Hollands kämpfen, dass wir im Mittelmeer kampfbereit sein müssen, dass der Luftkrieg ohne Unterlass weitergeht und dass wir hier im Lande viele Vorbereitungen treffen müssen. Ich hoffe, man wird es mir verzeihen, wenn ich in dieser kritischen Lage mich heute nicht mit einer längeren Ansprache an das Haus wende. Ich hoffe, dass jeder meiner Freunde und jeder meiner jetzigen oder früheren Kollegen, der von der Regierungsbildung berührt ist, den etwaigen Mangel an Förmlichkeit, mit dem wir vorgehen mussten, nachsehen wird. Ich möchte dem Hause dasselbe sagen, was ich zuvor denen gesagt habe, die die neue Regierung bilden werden: >Ich habe nichts anzubieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß.< Vor uns steht die schwerste alle Prüfungen. Vor uns liegen viele, viele lange Monate des Kampfers und der Entbehrung. Sie fragen: Was ist unsere Politik? Ich will es Ihnen sagen; Es gilt, einen Krieg zu führen auf der See, auf dem Land und in der Luft mit all unserer Macht – und mit all der Kraft, die Gott uns geben kann. Es gilt, einen Krieg zu führen gegen eine ungeheuerliche Tyrannei, die von nichts übertroffen wird in der dunklen, traurigen Liste menschlicher Verbrechen. Das ist unsere Politik. Sie fragen: Was ist unser Ziel? Ich antworte mit einem Wort: Sieg. Sieg um jeden Preis. Sieg trotz allem Schrecken. Sieg, wie lange und beschwerlich der Weg auch sein mag. Denn ohne Sieg gibt es kein Überleben. Das wollen wir ganz klar sehen: Kein Überleben für das britische Weltreich. Kein Überleben für das Drängen der Jahrhunderte, die Menschheit vorwärts zu ihrem Ziel zu bringen. Ich übernehme meine Aufgabe mit Schwung und Hoffnung. Ich fühle sicher, dass unsere Sache nicht fehlschlagen wird. So fühle ich mich in diesem Augenblick berechtigt, die Hilfe aller zu fordern, Und ich rufe: Kommt denn, lasst uns gemeinsam vorwärts schreiten mit vereinter Kraft!“ 45 Die rhetorischen Ziele Entscheidend für die politische Rede ist die beabsichtigte Wirkung auf die Hörer. Dabei kann man vor allem drei Typen unterscheiden: Aufwertung, Abwertung und Beschwichtigung. Aufwertung meint den Aufbau der Position des Redners bzw. seiner Gruppe / Partei. Diese versucht der Redner so günstig darzustellen, dass ihm die Zustimmung seiner Hörer gewiss ist. Abwertung meint dagegen die Zerstörung der gegnerischen Position. Der Gegner wird derart negativ hingestellt, dass die Hörer ihn ablehnen sollen. Beschwichtigung ist eine Art Interessenausgleich mit verbalen Mitteln: Verschiedene Gruppen mit verschiedenen Interessen werden vom Redner mit so vagen Formulierungen hingehalten, dass sie dem Redner zunächst einmal zustimmen und in ihm den Vertreter ihrer widersprechenden Interessen sehen. Jeder Wirkungstyp arbeitet mit spezifischen Strategien: Aufwertung • • • • • • günstige Seiten hervorheben, ungünstige abschwächen oder verschweigen positive Attribute für die Wir-Gruppe dynamisches Wortfeld für die Wir-Gruppe Koppelung mit positiven Werten (Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie) positive Verallgemeinerung aufgrund von zwei, drei Beispielen eigennützige Ziele als uneigennützig ausgeben („Gemeinwohl“), Übersteigerung eigener Verdienste • Selbstdarstellung als Garantie für Freiheit und Sicherheit • Fehler anderen oder anderen Umständen (Schicksal) zuschieben, Einladung der Zuhörer zur Identifikation mit der Wir-Gruppe, Andersdenkende dem gegnerischen Lager zuschlagen • unverfängliche Zeugen aufrufen Abwertung • ungünstige Seiten hervorheben, günstige abschwächen oder verschweigen, Häufung negativer Attribute • Koppelung des Gegners mit negativen Werten (Unfreiheit, Unrecht ..) - negative Verallgemeinerung aufgrund von Einzelbeispielen • gegnerische Ziele als eigennützig darstellen • Fehler des Gegners ins Maßlose vergrößern („Untergang des Abendlandes“), Fehler dritter Gruppen dem Gegner zuschieben • dem Gegner Erfolge absprechen • Deformation gegnerischer Argumente; ins Absurde übersteigern • Verzerrung gegnerischer Zitate, um sie leichter widerlegen zu können • Grundsätze des Gegners als von der Geschichte widerlegt darstellen • gegnerische Forderungen halb anerkennen, doch als längst erfüllt von der Wir-Gruppe ausgeben • Diffamierung durch Assoziationen • Neudefinition gegnerischer Schlagworte • Parzellierung des Gegners: einen Teil auf eigene Seite ziehen • innenpolitischer Gegner mit außenpolitischen Feinden koppeln • unverfängliche Zeugen aufrufen 46 Beschwichtigung • Verständnis bekunden • auf Gemeinschaft hinweisen („Wir sind alle eine Familie“) • als Vertreter einer Gruppe sich zum Sprecher einer anderen machen: Vermittlerrolle einnehmen • alle Interessen als berechtigt anerkennen, Widersprüche verschweigen (sowohl als auch; weder - noch) • für jeden etwas anbieten • auf unabwendbares Schicksal hinweisen • allgemeine Weisheiten zitieren • Formulierungen Wählen, die für jede Interpretation offen sind • Verallgemeinerung bei Belastung einer Gruppe („wir alle müssen die gemeinsamen Lasten tragen“, „Dienst am Allgemeinwohl“) • Tabuisierung von Problemen, sodass deren Erörterung unmöglich wird Adolf Hitler : Wahlrede zum 14.09.1930 (Auszug) Das Umfeld Reichstagswahlen 14. September 1930: Die NSDAP gewinnt 18,2% der Stimmen und 107 der 577 Reichstagssitze. Am 11. Oktober 1931 schließen sich NSDAP, DNVP und andere rechtsgerichtete Gruppen zur Harzburger Front zusammen, die mit Unterstützung der Industrie die Macht ergreifen will. Die Rede „Die nationalsozialistische Bewegung wird mit ihrem Siege den alten Klassen- und Kastengeist überwinden. Sie wird aus Standeswahn und Klassenirrsinn wieder ein Volk entstehen lassen. Sie wird dieses Volk zu eiserner Entschlossenheit erziehen. Sie wird die Demokratie überwinden und die Autorität der Persönlichkeit in ihre Rechte setzen. Sie wird das verletzte Recht wieder dem deutschen Volke zurückgeben durch die brutale Verfechtung des Grundsatzes, dass man solange kein Recht zum Hängen des Kleinen besitzt, solange die größten Verbrecher ungestraft und ungeschoren bleiben. Die anderen Parteien mögen sich mit der Inflationsdieberei abgefunden haben, mögen den Revolutionsbetrug anerkennen: Der Nationalsozialismus wird die Diebe und Landesverräter zur Verantwortung ziehen. Der Nationalsozialismus kämpft für den deutschen Arbeiter, indem er ihn aus den Händen seiner Betrüger nimmt, die Schutztruppe des internationalen Bank- und Börsenkapitals, aber vernichtet. Die nationalsozialistische Bewegung wird bei ihrem Siege die deutsche Verwaltung säubern von Parasiten, die ohne Recht und ohne alle Kenntnisse nur auf Grund ihres Parteibuchs die Nation belasten. Wer von neuen Steuern redet, soll erst die Verwaltung von den in 12 Jahren hineingeströmten Revolutionsparasiten befreien. Man schützt den ehrlichen Beamten nur, indem man seiner Leistung und seiner redlichen Arbeit den Weg frei macht, den parlamentarischen Schieber aber aus der Beamten-Bahn entfernt. 47 Die nationalsozialistische Bewegung wird bei ihrem Siege den Schutz des Menschen auch wirtschaftlich bis zum Äußersten zu garantieren suchen. Solange die Börse und Warenhäuser nicht genügend besteuert sind, ist jede weitere Steuererhöhung im Kleinen ein Verbrechen. Die nationalsozialistische Bewegung wird bei ihrem Siege den Bauern schützen durch rücksichtslose Erziehung unseres Volkes zur Verwendung unserer eigenen Produkte. Auch unsere oberen Zehntausend werden lernen müssen, schwarzes Brot zu essen, anderenfalls unser Roggen verkommt und Weizen eingeführt werden muss! Wir werden die nationale Ehre und den nationalen Stolz darein setzen, alles Fremde, wenn irgend möglich, zu meiden und den Ergebnissen des eigenen Fleißes den Vorzug geben. Wir werden dafür sorgen, dass an die Spitze aller Reformen die Reform unseres Wehrwillens gestellt wird und die Änderung unserer ausländischen Politik. Die nationalsozialistische Bewegung wird nach ihrem Siege nicht mehr die Politik des ewigen Buhlens um Frankreichs Gunst fortsetzen. Jede Hand, die sich uns in Europa aus gleicher Not und gleicher Gesinnung heraus bietet, wird einst von uns dankbar ergriffen werden. Wir wollen dafür sorgen, dass die Bedeutung unseres Volkes in der Zukunft wieder seinem natürlichen Wert entspricht, und nicht der jammervollen Vertretung unserer letzten 15 Jahre. Wenn unsere Gegner heute zu den wahnwitzigsten Mitteln der Verfolgung greifen, wenn die so genannte freie Republik ihre Bürger bei jeder Gelegenheit mit dem Gummiknüppel schlagen lässt, so wie man früher vielleicht Hunde prügelte, dann mag unser Volk nicht vergessen, dass heute die Unterdrückung uns Nationalsozialisten nur trifft, weil wir uns des unterdrückten Volkes annehmen. Deutsches Volk, gib Acht: Heute zieht man uns, den Feinden der Korruption, die Braunhemden aus. Unterliegen wir, dann wird man dir, deutscher Bauer, Arbeiter, Beamte, Angestellter, als dem Opfer der Korruption, einst auch noch das letzte Hemd ausziehen! Sie üben sich an uns in dieser Kunst. Der 14. September 1930 kann, wenn unser Volk die letzten Konsequenzen zieht, zum Beginn einer gewaltigen deutschen Umwandlung werden, aus der heraus eine neue deutsche Kraft erwächst. Millionen ahnen heute das Schicksal, das uns bevorsteht, mögen sie auch die Kraft finden, es abzuwenden! Die Parole für den 14. September kann nur lauten: Schlagt die politischen Bankrotteure unserer alten Parteien ! Lasst euch nicht bluffen von den Phrasen einer „Hindenburg“- oder „Staatspartei“ oder „Lettow-Vorbeck-Front“! Lasst euch nicht bluffen vom Schwindel einer Wahlreform, an die kein Mensch ernstlich glaubt, einer Reichsreform und weiß Gott was 48 sonst noch! Kämpft dafür, dass eine Reform des deutschen Volkes eintritt! Die erste Forderung dieser Reformation kann aber nur lauten: Weg mit den Verantwortlichen für unseren Verfall! Volksgenosse, schließe dich an der marschierenden braunen Front des erwachenden Deutschlands! Dein Nein dem heutigen System gegenüber heißt: Liste 9! Schlagt sie am 14. September zusammen, die Interessenten am Volksbetrug.“ (abgedruckt im Westdeutschen Beobachter, 11.9.1930) Joseph Goebbels: Wollt ihr den totalen Krieg? Das Umfeld Um die Mitte des Jahres 1942 stand fast ganz Kontinentaleuropa unter deutscher Herrschaft. Nördlich von Stalingrad erreichten deutsche Soldaten die Wolga. Dann aber begannen die Rückschläge. Im Oktober bleibt die Offensive vor Stalingrad stecken. Am 19/20 November tritt die Rote Armee zum Gegenangriff an. Die sechste Armee wird in Stalingrad eingeschlossen und muss hier auf Befehl Hitlers ausharren. Am 2. Februar 1943 ergeben sich die letzten deutschen Soldaten in Stalingrad. 146300 deutsche Soldaten fallen, neunzigtausend gehen in russische Gefangenschaft. Die Wende des Krieges wird vielen bewusst. Bereits am 30. Januar 1943 rief Goebbels zum totalen Krieg auf. Nachdem das Desaster vom Stalingrad vollkommen war, hielt Goebbels am 18. Februar 1943 in Münchens Sportpalast seine berühmteste Rede. Tatsächlich gelang es ihm, Millionen von Menschen Sand in die Augen zu streuen. Stalingrad wurde von einem tödlichen Schicksalsschlag zu einem „Mahnruf des Schicksals an die deutsche Nation“ umgedeutet. Goebbels` „Wollt ihr den totalen Krieg ?“- Rede war dieser Mahnruf. Der „totale Krieg“ ist nicht länger Sache der Streitkräfte, sondern eine Sache von Völkern. Wie zuvor eine Truppe die andere möglichst vernichtend schlagen wollte, so will im totalen Krieg ein Volk das andere vernichtend treffen. Joseph Goebbels kannte das bereits 1935 erschienene Buch mit dem Titel „Der totale Krieg“ von E. Ludendorff, der den Ersten Weltkrieg als den ersten dieser Völkerkriege bezeichnete: „Das Wesen des totalen Krieges beansprucht buchstäblich die gesamte Kraft eines Volkes, wie er sich gegen sie richtet.“ Ludendorff fordert als Voraussetzung für den totalen Krieg die seelische Geschlossenheit des Volkes, die völlige Ausrichtung der Wirtschaft auf den Krieg und den bedingungslosen und absoluten Gehorsam der Soldaten und Bürger. Die Rede „Das im Nationalismus erzogene, geschulte und disziplinierte deutsche Volk kann die volle Wahrheit ertragen. Es weiß, wie schwierig es um die Lage des Reichs bestellt ist. Und seine Führung kann es deshalb auch auffordern, aus der Bedrängtheit der Situation die nötigen harten, wenn nötig auch härtesten Folgerungen zu ziehen. Wir Deutsche sind gewappnet gegen Schwäche und Anfälligkeit. Und Schläge und Unglücksfälle des Krieges verleihen uns nur zusätzliche Kraft, feste Entschlossenheit und eine seelische und kämpferische 49 Aktivität, die bereit ist, alle Schwierigkeiten und Hindernisse mit revolutionärem Elan zu überwinden. Das große Heldenopfer, das unsere Soldaten in Stalingrad brachten, ist für die ganze Ostfront von einer ausschlaggebenden geschichtlichen Bedeutung gewesen. Es war nicht umsonst. Warum – das wird die Zukunft beweisen. Ich habe die Aufgabe, Ihnen ein ungeschminktes Bild der Lage zu entwerfen und darauf die harten Konsequenzen für das Handeln der deutschen Führung, auch für das Handeln des deutschen Volkes zu ziehen. Wir durchleben im Osten augenblicklich eine schwere militärische Belastung. Der Ansturm der Steppe gegen unseren ehrwürdigen Kontinent ist in diesem Winter mit einer Wucht losgebrochen, die alle menschlichen und geschichtlichen Vorstellungen in den Schatten stellt. Die deutsche Wehrmacht bildet dagegen mit ihren Verbündeten den einzigen überhaupt in Frage kommenden Schutzwall. Es ist verständlich, dass wir bei den großangelegten Tarnungs- und Bluffmanövern des bolschewistischen Regimes das Kriegspotenzial der Sowjetunion nicht richtig eingeschätzt haben. Erst jetzt offenbart es sich uns in seiner ganzen wilden Größe. Wir wissen damit also, vor welcher geschichtlichen Aufgabe wir stehen. Eine zweitausendjährige der abendländischen Menschheit steht in Gefahr. Man kann diese Gefahr gar nicht ernst genug schildern, aber es ist auch bezeichnend, dass wenn man sie nur beim Namen nennt, das internationale Judentum in allen Ländern dagegen in lärmenden Ausführungen Protest einlegt. Die europäischen Staaten einschließlich Englands behaupten, stark genug zu sein, einer Bolschewisierung des europäischen Kontinents rechtzeitig und wirksam entgegenzutreten.. Diese Erklärung ist kindisch und verdient überhaupt keine Widerlegung. Sie besitzen weder das Potenzial noch die militärischen Machtmittel, noch die geistigen Voraussetzungen, um dem Bolschewismus auch nur den geringsten Widerstand entgegenzustellen. Sie würden im Bedarfsfall von seinen motorisierten Roboterdivisionen in wenigen Tagen glatt überfahren werden. Die geistigen Lähmungserscheinungen der westeuropäischen Demokratien gegen ihre tödlichste Bedrohung sind wahrhaft herzbeklemmend. Das internationale Judentum fördert sie mit allen Kräften. Wenn das feindliche Ausland wegen unseren Maßnahmen gegen das Judentum heuchlerische Krokodilstränen vergießt, so kann uns das nicht daran hindern, das Notwendigste zu tun. Deutschland hat jedenfalls nicht die Absicht, sich dieser jüdischen Bedrohung zu beugen, sondern viel mehr die, ihr rechtzeitig, wenn nötig unter vollkommener und radikalster Ausrottung des Judentums, entgegenzutreten. Wir lassen uns nicht durch das Geschrei des internationalen Judentums in aller Welt in der mutigen und aufrechten Fortführung des gigantischen Kampfes gegen diese Weltpest beirren. Es kann und darf nur mit Sieg enden! 50 Das Ringen um Stalingrad wurde geradezu zu einem Symbol dieses Widerstandes gegen den Aufruhr der Steppe. Im Osten tobt ein Krieg ohne Gnade. Der Führer hat ihn richtig charakterisiert, als er erklärte: Es werden aus ihm nicht Sieger und Besiegte, sondern nur noch Überlebende und Vernichtete hervorgehen. Das deutsche Volk steht damit vor der ernstesten Frage dieses Krieges, nämlich der: die Entschlossenheit aufzubringen, alles einzusetzen, um alles, was es besitzt, zu erhalten, und alles, was es zu späterem Leben benötigt, zu gewinnen. Terror wird nicht mit geistigen Argumenten, sondern nur mit Gegenterror gebrochen! Wir sind entschlossen, unser Leben mit allen Mitteln zu verteidigen, ohne Rücksicht darauf, ob die uns umgebende Welt die Notwendigkeit dieses Kampfes einsieht oder nicht. Der totale Krieg ist also das Gebot der Stunde. Es muss jetzt zu Ende sein mit den bürgerlichen Zimperlichkeiten, die auch in diesem Schicksalskampf nach dem Grundsatz verfahren wollen: Wasch mir den Pelz, mach mich nicht nass. Als ich in meiner Rede vom 30. Januar von dieser Stelle aus den totalen Krieg proklamierte, schwollen mir aus den versammelten Menschenmassen Orkane der Zustimmung zu. Ich kann also feststellen, dass die Führung sich in ihren Maßnahmen in vollkommenster Übereinstimmung mit dem ganzen deutschen Volke in der Heimat und an der Front befindet. Das Volk will alle, auch die schwersten Belastungen auf sich nehmen und ist bereit, jedes Opfer zu bringen, wenn damit dem Siege gedient wird. Arm und reich und hoch und niedrig müssen in gleicher Weise beansprucht werden . Jedermann wird in dieser ernstesten Phase unseres Schicksalskampfes zur Erfüllung seiner Pflicht der Nation gegenüber angehalten, wenn nötig, gezwungen werden! Auch dabei wissen wir uns in Übereinstimmung mit dem nationalen Willen unseres Volkes. Die Front hat angesichts der übermenschlichen Opfer, die sie täglich zu bringen hat, ein elementares Anrecht darauf, dass auch nicht ein einziger in der Heimat das Recht für sich in Anspruch nimmt, am Kriege und seinen Pflichten vorbeizuleben. Ich bin glücklich, dieses Programm des Sieges einem Volke vortragen zu dürfen, das diese Maßnahmen nicht nur willig auf sich nimmt, sondern sie fordert. Ich möchte aber zur Stunde der Wahrheit an euch, meine deutschen Volksgenossen und Volksgenossinnen, eine Reihe von Fragen richten, die ihr mir nach bestem Wissen und Gewissen beantworten müsst. Ihr, meine Zuhörer, repräsentiert in diesem Augenblick die Nation. Ich frage euch: Glaubt ihr mit dem Führer und mit uns an den endgültigen Sieg der deutschen Waffen? Seid ihr entschlossen, dem Führer in der Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn und unter Aufnahme auch der schwersten persönlichen Belastungen zu folgen? 51 Ich frage euch: Seid ihr bereit, mit dem Führer als Phalanx der Heimat hinter der kämpfenden Wehrmacht stehend, diesen Kampf mit wilder Entschlossenheit und unbeirrt durch alle Schicksalsfügungen fortzusetzen, bis der Sieg in unseren Händen ist? Ich frage euch: Soldaten, Arbeiter und Arbeiterinnen, seid ihr und das deutsche Volk entschlossen, wenn der Führer es einmal in der Notzeit befehlen sollte, zehn, zwölf, wenn nötig vierzehn und sechzehn Stunden täglich zu arbeiten und das Letzte für den Sieg herzugeben? Ich frage euch:. Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können? Ich frage euch: Vertraut ihr dem Führer? Ist eure Bereitschaft, ihm auf allen seinen Wegen zu folgen und alles zu tun, was nötig ist, um den Krieg zum siegreichen Ende zu führen, eine absolute und uneingeschränkte? Ich frage euch: Seid ihr von nun an bereit, eure ganze Kraft einzusetzen und der Ostfront, unseren kämpfenden Vätern und Brüdern, die Menschen und Waffen zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen, um den Bolschewismus zu besiegen? Ich frage euch: Gelobt ihr mit heiligem Eid der Front, dass die Heimat mit starker, unerschütterlicher Moral hinter der Front steht und Ihr alles geben werdet, was sie zum Siege nötig hat? Ich frage euch: Wollt ihr, dass die Regierung dafür sorgt, dass auch die letzte Arbeitskraft, auch die der Frau, der Kriegführung zur Verfügung gestellt wird und dass die Frau überall da, wo es nur möglich ist, einspringt, um Männer für die Front freizumachen? Ich frage euch: Billigt ihr, wenn nötig, die radikalsten Maßnahmen gegen einen kleinen Kreis von Drückebergern und Schiebern, die mitten im Kriege Frieden spielen wollen und die Not des Volkes zu eigensüchtigen Zwecken ausnutzen? Seid ihr damit einverstanden, dass wer sich am Kriege vergeht, den Kopf verliert? Und nun frage ich euch zuletzt: Wollt ihr, dass wie das nationalsozialistische Parteiprogramm das vorschreibt, gerade im Kriege gleiche Rechte und gleiche Pflichten vorherrschen, dass die Heimat die schwersten Belastungen des Krieges solidarisch auf ihre Schultern nimmt und dass sie für hoch und niedrig und arm und reich in gleicher Weise verteilt werden? Ich habe euch gefragt, und ihr habt mir eure Antwort nicht vorenthalten Ihr seid ein Stück Volk. Durch euren Mund hat sich die Stellungnahme des Volkes vor der Welt manifestiert. Ihr habt unseren Feinden das zugerufen, was sie wissen müssen, damit sie sich keinen Illusionen und falschen Vorstellungen hingeben. Somit sind wir, wie von der ersten Stunde unserer Macht an durch all die zehn Jahre hindurch, fest und brüderlich im deutschen Volke vereint. 52 Wenn wir je treu und unverbrüchlich an den Sieg geglaubt haben, dann in dieser Stunde der nationalen Besinnung. Wir sehen ihn greifbar nahe vor uns liegen, wir müssen nur zufassen! Wir müssen nur die Entschlusskraft aufbringen, alles in seinem Dienste unterzuordnen; das ist das Gebot der Stunde! Und darum lautet von jetzt ab die Parole: Nun Volk, steh auf – und Sturm brich los!“ Anmerkungen zur nationalsozialistische Rhetorik Drei Merkmale bestimmen im Wesentlichen die nationalsozialistische Rhetorik: Ihr Stil ist dogmatisch, autoritär und manipulativ. 1. Der Nationalsozialismus strebte weniger danach, seine Ideologie wissenschaftlich zu begründen und begrifflich durchzubilden. In der Propaganda dominiert die emotionale Aktivierung der Massen. Der Redner wirkt nicht durch Argumente, sondern durch apodiktische (unwiderlegbare) Behauptungen, die keinen Zweifel an der Lehre bei den Zuhörern aufkommen lassen dürfen. Der Redner beansprucht für sich auszusprechen, was alle dachten und als gute Deutsche auch zu denken hatten. Die Argumentation entzieht sich der Befragbarkeit und wird zur ideologischen Setzung, zum Dogma. 2. Die Propaganda des Nationalsozialismus bedient sich der massenpsychologischen Gesetzmäßigkeit der Reklame; die Mittel der Wiederholung, Steigerung und Vereinfachung werden auf die Spitze getrieben. Mit schroffer Antithetik wird der Gegner abgewertet, die Ziele der eigenen Bewegung als höchste Aufgaben ausgegeben und eine grandiose Hoffnung auf eine ganz neue Gesellschaft verkündet. In der Behandlung der Feinde kennt die Sprache keine Grenze, keine Vorbehalte. Die offene, aggressive Strategie der Diffamierung zeugt von Selbstgerechtigkeit und fanatischer Überzeugtheit. Anstelle einer differenzierten politischen Analyse tritt eine vergröbernde SchwarzWeiß-Klassifizierung. 3. Mit der Begrenztheit der politischen Inhalte korrelieren sprachliche Formelhaftigkeit, Wiederholungen von Gedanken, markante Bilder, Symbole und Slogans. Der Slogan beispielsweise vereinfacht die Wirklichkeit und ist in seiner appellativen Funktion, die aus den angelagerten Gefühlswerten resultiert, besonders geeignet, , Aufmerksamkeit zu erwecken, die Symbolwelt der Gegner zu unterminieren und die eigene als die richtige herauszustellen. Hitlers Intoleranz gegenüber seinen Feinden und seine Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Ideen äußern sich im Wortfeld der fanatischen Unduldsamkeit: absolut, total, gesamt, radikal, ausschließlich, bedingungslos, kompromisslos, rücksichtslos, unerschütterlich, entschlossen, unerbittlich. An die Einheit der Partei appelliert Hitler mit den Symbolen der Geschlossenheit und Festigkeit: treu, Geschlossenheit bis zum Alleräußersten, stark, mächtig, gehärtet wie Kruppstahl, eingeschworen, Zusammenhalt wie Pech und Schwefel. Diese Symbole der Einheit, Ordnung, Disziplin und Tatkraft sind Argumente für den sicheren Sieg des Nationalsozialismus in der Zukunft in der Zukunft, aber auch Imperative an die Zuhörer. 4. Entsprechend dem Eklektizismus (aus verschiedenen Denksystemen das 53 „Passende“ herausnehmen und zusammenmengen) seiner Ideologie lehnt der Nationalsozialismus sich an die innerhalb der Arbeiterschaft mit positiven Wertgefühlen besetzten Symbole an, die ebenso national-konservative und völkische Kreise ansprachen: Volkstum, völkisch, organisch, Vaterland, Volksgemeinschaft, Ordnung, germanisch-sozial, Genosse, Arbeiter, Kapitalist, Fortschritt, Freiheit, Vernunft. Da das Hitler’sche Arsenal politischer Losungsworte Elemente aus dem breiten Spektrum des ideologischen Wortschatzes für sich okkupierte und die Bedeutung der einzelnen Begriffe zudem wenig fixiert war, öffnete sich die Möglichkeit, dass sich Zuhörer aus ganz verschiedenen sozialen Gruppen mit den Aussagen oder wesentlichen Teilen derselben identifizieren konnten. Konrad Weiß: Rechtsradikalismus und Gewalt in Deutschland „Ich schäme mich. Ich schäme mich, Deutscher zu sein. Ich schäme mich in einem Land zu leben, das eine Mauer der Gewalt, der Gefühllosigkeit, der Selbstsucht um sich baut. Ich schäme mich, in einem Land zu leben, in dem Menschen Beifall klatschen, wenn Menschen angegriffen, verletzt, vertrieben werden. Ich schäme mich, Mitbürger von Feiglingen zu sein, die Kinder und Frauen schlagen und drangsalieren, und die Jagd auf jene Menschen machen, die bei uns Zuflucht und Hilfe suchen oder anders sind. Zehn Menschen wurden in diesem Jahr vom Rechtsradikalen getötet. Hunderte wurden geschlagen, getreten, verletzt. Tag für Tag werden Menschen, die eine andere Hautfarbe haben oder eine fremde Sprache sprechen, diskriminiert, benachteiligt, geschändet. Mehr als 1300 rechtsradikale Gewaltakte wurden bis Ende September in Deutschland verübt. 400 Mal wurden Bomben oder Brandflaschen auf Asylbewerberheime oder in die Wohnungen von Ausländern geworfen. Auch ausländische Diplomaten, Kaufleute und Touristen sind sich ihres Lebens im Land der Deutschen nicht mehr sicher. An jedem Tag dieses Jahres wurden Synagogen und jüdische Gräber geschändet, 360 Mal in zwölf Monaten. Und die meisten Deutschen stehlen sich davon und schweigen. Was ist das nur für ein Land, in dem Hunderttausende auf die Straße gehen, wenn ihnen der Bau eines Flugplatzes oder eines Atomkraftwerkes missfällt, die aber von einer kollektiven Lähmung befallen scheinen, wenn es um das Leben ausländischer Mitbürger geht. Gerade einmal 5000 Berliner und Brandenburger haben am vergangenen Wochenende den Weg zur verbrannten jüdischen Baracke in Sachsen-hausen gefunden, 5 000 von fünf Millionen. Es gibt keine Entschuldigung für das, was heute in Deutschland geschieht und was wir heute in Deutschland dulden. Weder der mühsame Prozess der Wiedervereinigung noch unsere schmerzliche Ernüchterung, weder die Arbeitslosigkeit noch die sozialen Nöte rechtfertigen die aktive und passive Fremdenfeindlichkeit. Weder die unbewältigte Vergangenheit noch die Deformierungen aus sechzig Jahren Diktatur dürfen als Entschuldigung dafür dienen, dass Menschen wie Tiere über Menschen herfallen. Durch nichts kann diese tausendfache Gewalt gegen schutzlose Menschen gerechtfertigt 54 oder entschuldigt werden. Diese Fremdenfeindlichkeit so vieler Deutscher ist keine krankhafte Verhaltensstörung, die der rücksichtsvollen Therapie bedarf, sondern eine Unmenschlichkeit, die unentschuldbar ist. Haben wir Ostdeutschen aus 40 Jahren Unterdrückung und Eingesperrtsein wirklich nichts anderes gelernt als Ausgrenzen, Aussperren, Ausstoßen? Und ist die westdeutsche Demokratie nach 40 Jahren wirklich so schwach und verkommen, dass sie sich nicht zu wehren weiß? 813 fremdfeindliche Ausschreitungen wurden bis Ende September in Westdeutschland registriert – fast doppelt so viel wie in Ostdeutschland. Unsere Demokratie muss sich wehren. Wir dürfen es nicht hinnehmen und dulden, dass der Name Deutschlands wieder und wieder von radikalen Gewalttätern beschmutzt wird. Jede und jeder in unserem Land muss unsere Demokratie verteidigen. Das beginnt mit scheinbaren Kleinigkeiten, die aber so viel Mut, Wachheit und Zivilcourage erfordern: Denn es braucht Mut, dem Kollegen oder Taxifahrer, der von „Kanaken“ spricht oder fremdenfeindliche Witze erzählt, über den Mund zu fahren. Und es braucht genauso Mut, denen entgegenzutreten, die Polizisten als „Bullen“ beschimpfen oder sie bei ihrer Arbeit zum Schutz von Mitbürgerinnen und Mitbürgern behindern. Es braucht Courage, nicht wegzusehen oder sich davonzuschleichen, wenn Menschen beleidigen und misshandeln oder wenn Steine und Brandflaschen geworfen werden. Es braucht Courage, dem Nachbarn, der zum Sturm auf Ausländer Beifall klatscht, in aller Eindeutigkeit zu sagen, was man von ihm hält. Oder den Feiglingen, die sich vermummen, die Maske vom Gesicht zu reißen. Ich kann auch diese so genannten Antifaschisten nicht ernst nehmen, die nicht einmal den Mut haben, mit ihrem Namen und Gesicht für ihr Handeln einzustehen. Es braucht staatsbürgerliche Verantwortlichkeit, nicht schweigend zu dulden, wenn Verfassungsfeinde ihre Fahnen und Symbole zeigen und ihre wirren Reden halten, sondern Anzeige zu erstatten und Polizei und Justiz zum konsequenten Handeln aufzufordern. Am vergangenen Wochenende marschierten in Dresden 500 Neonazis auf und hatten dabei den Arm zum Hitlergruß erhoben; Fernsehaufnahmen belegen dies. Dennoch schritt die Polizei nicht ein. Ein Polizeisprecher sagte, dass es keine Hinweise auf strafrechtlich relevante Handlungen gegeben habe. Gilt der §86a des Strafgesetzbuches in Dresden denn nicht? Ich fordere den sächsischen Innenminister auf, jene Beamte, die gegen die Verwendung der verfassungsfeindlichen Symbole nicht pflichtgemäß eingeschritten sind, zur Verantwortung zu ziehen. Wir müssen unsere Demokratie radikal verteidigen, radikal, aber mit friedlichen Mitteln, mit den Mitteln des gewaltfreien Widerstands, mit den Mitteln des Rechts. Ich unterstütze nachdrücklich den Vorschlag unseres Kollegen Wolfgang Ullmann, internationale Künstlerinnen und Künstler zum Boykott der Kunststadt Dresden aufzurufen, wenn dort erneut ein Aufmarsch von Rechtsradikalen geduldet werden sollte. Ich rufe meine Mitbürgerinnen und Mitbürger in Brandenburg auf, die Jahrtausendfeier unserer Landeshauptstadt Potsdam zu boykottieren, 55 solange das Land Brandenburg eine Hochburg der Intoleranz ist und ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger dort nicht in Frieden und Sicherheit leben können. Städte und Gemeinden, in denen radikale Gewalttäter aufmarschieren oder sich in Festsälen und Gasthäusern versammeln dürfen, sollten wir meiden. Wer Rechtsradikalen aus Gewinnsucht oder Feigheit Unterschlupf bietet, soll wissen, dass er sich selbst isoliert. Unsere Demokratie muss sich wehren. Dazu gehört auch, dass der Rechtsstaat das Recht verteidigt, unparteiisch und konsequent. Polizeibeamte, die der Ermordung eines ausländischen Mitbürgers aus sicherer Entfernung tatenlos zusehen, wie es in Eberswalde geschah, sind pflichtvergessene Schufte, die bestraft werden müssen. Staatsanwälte, die Terroristen wenige Stunden nach einem versuchten Mord oder Anschlag wieder auf freien Fuß setzen, sind nicht minder gemeingefährlich als jene Kriminelle. Und der Richter, der fünf Mörder zu wenigen Jahren Jugendstrafe verurteilte, nur weil nicht erkennbar war, wessen Stiefeltritt das Opfer tatsächlich getötet hat, hat sich selbst zum Mittäter gemacht. Ich bin kein Jurist, aber ich meine, wenn Terroristen in der Absicht losziehen, Menschen „aufzuklatschen“, wie es in ihrer schrecklichen Gewaltsprache heißt, oder Bomben zu legen, dann ist der Tod von Menschen gemeinschaftlich gewollt und gemeinschaftlich verübt. Das allein muss das Strafmaß bestimmen. Wir brauchen in Deutschland keine neuen Gesetze, sondern die konsequente Anwendung der gegebenen. Oder ist in diesem Land das Leben eines deutschen Politikers oder Industriellen mehr wert als das eines angolanischen Gastarbeiters oder eines rumänischen Asylbewerbers? Warum werden linksradikale Terroristen lebenslang in Hochsicherheitsgefängnissen verwahrt, rechtsradikale Terroristen aber nach verübten Anschlägen wieder auf freien Fuß gesetzt? Eine der Ursachen des Unheils, das wieder über Deutschland gekommen ist, ist die Bejahung der Gewalt. Die Barbarei der Rechtsradikalen wird aus den vielen kleinen Gewalttätigkeiten gespeist, an die wir uns gewöhnt haben und die wir fast widerstandslos hinnehmen. Wir haben es nur ungenügend gelernt, Konflikte gewaltfrei zu bewältigen, im Kleinen genauso wie im Großen. Wir dulden die Gewalt im Straßenverkehr und die Gewalt der Erwachsenen gegen die Kinder. Wir akzeptieren, dass Gewalt gegen Frauen als Kavaliersdelikt angesehen wird. Wir nehmen die vielfältigen, die verbalen oder handgreiflichen Gewalttätigkeiten gegen Minderheiten und Andersdenkende gedankenlos hin. Wir dulden unter dem Vorwand, die Freiheit der Kultur zu schützen, dass uns und unseren Kindern unentwegt die scheußlichsten Gewalttaten vorgeführt werden. Es ist die Saat dieser vielfältigen Gewalt, die nun aufgeht. Unsere Demokratie, unser Land können wir nur durch eine große Koalition der Menschlichkeit vor dem Rückfall in Barbarei und Totalitarismus bewahren. Diejenigen, die heute „Neger aufklatschen“, werden morgen uns und unsere Familien foltern und töten. Sie werden, wenn wir sie gewähren lassen, nicht danach fragen, ob wir Sozialdemokraten oder Kommunisten, ob wir christliche oder liberale 56 Demokraten, ob wir Grüne oder Bürgerrechtler sind. Wir werden uns gemeinsam in ihren Vernichtungslagern wiederfinden, so wie es auch 1933 geschah, wenn wir sie weiter gewähren lassen, wie bisher. Mancher von uns steht doch schon heute auf ihren Todeslisten.“ Konrad Weiß, MdB, Rede im Deutschen Bundestag am 8. Oktober 1992 (gesprochener Text) Hans-Olaf Henkel : Globalisierung als Herausforderung für eine neue Innovationspolitik Rede zur Eröffnung der IAA in Frankfurt am 19. September 1997 (Auszug) Wer sich auf der Internationalen Automobilausstellung auch nur ein wenig umschaut, dem kann nicht entgehen, wie sehr gerade die Automobilindustrie, eine der wichtigsten und traditionsreichen Industriebranchen in Deutschland, auf Innovationen setzt. Das Auto wurde zwar schon vor über 100 Jahren erfunden, aber mit jeder neuen Fahrzeug-Generation wächst der Fahrkomfort, gibt es mehr Fahrsicherheit, sinkt der Benzinverbrauch pro gefahrenen Kilometer, wird der Abgasausstoß verringert und vieles mehr. Innovationen prägen die Automobilindustrie seit ihrem Bestehen und daher spreche ich gerne hier auf der diesjährigen IAA mit Ihnen über die Herausforderungen einer neuen Innovationspolitik, Herausforderungen, die vor allem aus der rasanten Globalisierung resultieren.(....) Wozu brauchen wir überhaupt Innovationen? Schauen wir uns dazu die deutsche Automobilindustrie an: Deutsche Autos werden heutzutage überall in der Welt produziert. Viele Modelle werden an einem bestimmten Ort aus Teilen zusammengesetzt, die jeweils zu einem bemerkenswerten Prozentsatz wieder irgendwo anders auf dem Globus produziert worden sind. „Made in Germany“ ist so durch „Made by Mercedes, made by BMW oder made by Volkswagen“ ersetzt worden. Direktinvestitionen, strategische Allianzen und „global sourcing“ haben in allen großen Industriebranchen Deutschlands zu einer starken internationalen Produktionsverflechtung geführt. Multinationale Unternehmen optimieren die Wertschöpfungskette über den gesamten Globus. Auch kleine und mittlere Unternehmen wagen zunehmend den Schritt ins Ausland. Wenn Deutschland in diesem globalen Standortwettbewerb als Hochlohnland bestehen will, ist es auf innovative Vorsprünge in ausreichender Zahl angewiesen. Wir können als rohstoffarmes Land gutes Geld nur mit innovativen Produkten und Dienstleistungen verdienen. Sie sind die einzige und daher unverzichtbare Quelle unseres Wohlstandes. Innovationen sind Kernelement unserer Konkurrenzfähigkeit – vor allem als Exportnation – und damit Voraussetzung für die Schaffung zukunftssicherer Arbeitsplätze. Wir brauchen Innovationen vor allem in Bereichen, in denen mit den am schnellsten wachsenden Märkten von morgen zu rechnen ist. Der Erfolg der innovativen deutschen Automobilindustrie macht es uns vor. Wir brauchen aber auch 57 Innovationen in so zukunftsträchtigen Bereichen wie der Informationstechnologie und der Biotechnologie. Dabei muss klar sein: Innovationen sind keine Alternative zu Rationalisierung, Kosteneffizienz oder gar einer rationalen Lohn- und Abgabenpolitik. Auch innovative Produkte werden an den günstigsten Standorten gefertigt werden.(....) Was muss sich ändern? Lassen Sie mich vorneweg sagen: Wir müssen an vielen Stellschrauben gleichzeitig drehen. Es hat gar keinen Zweck, dass wir die Diskussion nur auf die Steuern lenken oder nur auf die Löhne oder nur auf die Lohnzusatzkosten. Oder nur auf die Bürokratie, sondern wir müssen jedem klarmachen, dass wir überall gleichzeitig schalten und drehen müssen.(....) Was muss eigentlich in unserer Gesellschaft insgesamt geschehen? Glücklicherweise haben wir einen neuen, wichtigen Mitstreiter. Das ist der Bundespräsident. Die Berliner Rede des Bundespräsidenten halte ich persönlich für eine der wichtigsten in den letzten Dekaden. Ich glaube, sie ist wichtig, erstens, weil hier an oberster Stelle der Reformstau sozusagen noch einmal amtlich bestätigt wurde, denn der wurde ja von der Regierung negiert. Zweitens, weil er das Verteidigen von Besitzständen gegeißelt hat. (......) Mein letzter Punkt: die Visionen. Um die Bereitschaft für Reformen in Deutschland zu fördern, müssen wir den Menschen sagen, wohin es gehen soll. Wir haben deshalb im Präsidium des BDI beschlossen, uns an der Formulierung einer solchen Vision zu beteiligen. Wir wollen beschreiben, wie im Idealfall die deutsche Gesellschaft im Jahre 2010 aussehen kann. Wir haben das Projekt in neun Felder eingeteilt, darunter Themen wie die mobile Gesellschaft, die vitale Gesellschaft oder die Informationsgesellschaft. Wie müssen die Sozialversicherungssysteme aussehen? Oder die Wissensgesellschaft, das wichtige Thema Bildung? Oder die umweltfreundliche Gesellschaft? Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einem Zitat schließen. You never solve the problem by putting it on ice. – Darum geht`s.- Ich danke Ihnen. Felix Rexhausen: 40 Jahre Glasers Fruchtbonbons Herr Ministerpräsident, meine Herren Minister, Herr Regierungspräsident, Herr Oberbürgermeister, hochansehnliche Festversammlung! Als heute vor genau vierzig Jahren Hermann Glaser der kleinen Angelika Hoffmann, die dort in einem Denkmal verewigt ist, einen von ihm halb im Spaß verfertigten Fruchtbonbon in den Mund steckte und das Kind begeistert „Aah!“ rief, da hat wohl noch niemand geahnt, dass wir heute, genau vierzig Jahre später, in so großartigen Werksanlagen aus aller Welt uns einfinden würden, um gemeinsam der seither verflossenen vier Jahrzehnte festlich zu gedenken und dieses Werk und seine Schöpfer zu ehren. (Beifall) Vierzig Jahre- das ist im geschichtlichen Ablauf ein langer Zeitraum. Die Stürme der Weltwirtschaftskrise, der Machtergreifung, des Zweiten 58 Weltkrieges und der Währungsreform haben Glasers Fruchtbonbons umtost – sie aber trotzten allen Widrigkeiten und jedes Mal, wenn die zerstörenden Fluten zurückwichen, dann erhoben sie sich wie ein Phönix aus der Asche! Das ist vor allem und über allem das Verdienst Hermann Glasers. Sein Wahlspruch „Stets Qualität, aber die preiswert“ half ihm und seinen Bonbons über alle schweren Zeiten hinweg. In Notzeiten die Preise nicht senken, in guten Zeiten sie nur erhöhen, wenn notwendig, zugleich aber immer so billig produzieren wie möglich – das waren und sind die erfolgreichen Maximen dieses wahrhaften Pioniers einer freiheitlichen Wirtschaft, dieses Unternehmers, wie können wohl sagen: par excellence! (Beifall) 40 Jahre Glasers Fruchtbonbons – das heißt zugleich: 40 Jahre rastloser Entwicklungsarbeit, die immer wieder zeigte, dass es an Glasers Fruchtbonbons nichts zu verbessern gibt; denn wirklich: Hermann Glasers Methode und Rezept waren vom ersten Tage an vollkommen. Was immer weiter verfeinert wurde, das war die Verwendung der künstlichen Substanzen statt der soviel aufwendigeren natürlichen Stoffe, und war die immer neue Anpassung des Geschmacks an den Zeitgeschmack, ja die den künftigen Geschmack regelmäßig vorausahnende aktive Mitgestaltung des Zeitgeschmacks! Dabei war die Devise von Glasers Fruchtbonbons stets: Nicht das Neue, sondern das Bessere – Fortschritt, nicht Mode! (Beifall) 40 Jahre Glasers Fruchtbonbons, das heißt aber auch: 40 Jahre unermüdlicher Werbung, 40 Jahre sozialer Einstellung gegenüber den hier Beschäftigten, 40 Jahre Dienst am verbrauchenden Menschen! (Beifall) Denn Glasers Fruchtbonbons haben ihre Wurzeln tiefer als nur in der hervorragenden Unternehmerpersönlichkeit Hermann Glasers. Sie haben ihre Wurzeln vor allem in seiner zutiefst ethischen Gesinnung. In einer familienfeindlichen Zeit der Familie zu helfen, in einer Zeit, da Deutschland verachtet war, durch seine Fruchtbonbons dem deutschen Namen in aller Welt wieder Klang und Würde zu geben – das waren und sind die eigentlichen und ich darf sagen: die wohl stärksten Antriebe im Werk Dr. h. c. Hermann Glasers. Dass er daneben und neben seinen zahlreichen öffentlichen Ämtern noch die innere Muße gefunden hat, als leidenschaftlicher Jäger sich sein starkes Interesse an der Kunst zu erhalten und eine große Sammlung von Jagdbildern anzulegen, das rundet das Bild und das Werk dieser erstaunlichen Persönlichkeit, die ganz aus einem Guss ist, in großartiger Weise ab. Aber schauen wir nicht nur zurück, schauen wir in die Zukunft: Und so sei Hermann Glaser, ja uns allen, zum heutigen Tage gewünscht, dass seine Fruchtbonbons noch viele weitere 40 Jahre um die Welt gehen und er selbst seine Kraft dem Dienst am Menschen an unserer gesamten Wirtschaft noch lange widmen möge! Schluckauf! (Großer Beifall). (Aus: Felix Rexhausen, Mit deutscher Tinte, Fischer-Bücherei 880, S. 112ff.) 59 Rede im Betrieb Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter! „Jahre lehren mehr als Bücher“, sagt der Volksmund. Er hat Recht! Wir können aus den Büchern unseres Betriebes eine Menge Zahlen herauslesen, die als Aktiva oder Passiva der vergangenen zwölf Monate schwarz auf weiß festgehalten wurden. Nur schwer herauslesen aber können wir aus diesen Büchern die Leistungen des Einzelnen während des Jahres, das nun hinter uns liegt. Als Leiter der Firma kenne ich diese Leistungen jedoch - und danke Ihnen dafür! Wenn man sich in unserem Haus umschaut, sieht man mehr, als Bücher verraten können. Sie alle haben auch im verflossenen Jahr getan, was Sie konnten, um die Aufwärtsentwicklung des Betriebes weiter zu fördern. Wenn es dabei mitunter zu kleinen Problemen oder Ärgernissen gekommen ist, die im Zuge der Weiterentwicklung nicht zu vermeiden waren – wir wollen sie vergessen und uns jetzt nur noch der recht beachtlichen Erfolge freuen! Jeder von Ihnen weiß, wie schwierig es heutzutage ist, sich im Konkurrenzkampf am Markt zu behaupten. Wenn wir uns auch im letzten Jahr behauptet haben, dann war das keine Glückssache, sondern es lag einzig und allein an Ihnen! Jede Stunde fleißiger Arbeit an der Verladerampe, am Fließband, an der Schreibmaschine und nicht zuletzt im Außendienst hat ihren Lohn eingebracht und Früchte getragen. Sie hat uns aber gleichzeitig auch noch enger miteinander verbunden als eine große Gemeinschaft, in der jeder seine Pflichten erfüllt – zum Nutzen aller! „Das vorige Jahr war immer besser!“ – heißt das zweite Sprichwort, über das es sich lohnt nachzudenken. Es ist ein Zitat, das einen gewissen Pessimismus ausdrückt. Lassen wir diesen Pessimismus bei uns aber gar nicht erst aufkommen! Sagen wir lieber optimistisch: Das vergangene Jahr war gut, aber die kommenden zwölf Monate sollen noch erfolgreicher werden! An jedem Schreibtisch, vor jeder Werkbank und überhaupt in jeder Abteilung der Firma wollen wir so denken und handeln, um auch in Zukunft Ergebnisse erzielen zu können, mit denen wir zufrieden sind. Und noch ein drittes Zitat gibt es, das ich hier anführen möchte! Es heißt: „Das Jahr hat ein weites Maul und einen großen Magen!“ Es weist uns darauf hin, dass wir auf unseren Lorbeeren nicht ausruhen dürfen, dass uns neue Aufgaben erwarten und das wir diese Aufgaben bewältigen müssen, wenn wir nicht wollen, dass die Zeit uns überrundet und schlägt. Nun gut, meine Damen und Herren, stopfen wir dem kommenden Jahr das Maul und füllen wir ihm den Magen. Wir wollen das ja nicht deshalb tun, weil wir der Zukunft trotzen müssen, sondern wir wollen es tun, weil wir alle den Wunsch haben, in Sicherheit und Wohlstand zu leben. Ich danke Ihnen noch einmal dafür, dass Sie auch in den vergangenen zwölf Monaten Ihre Pflicht und oft mehr getan haben – jeder Einzelne im Dienst am Ganzen. (aus: Studer, Jörg: Erfolgreich Reden halten. Mit vielen Musterreden; !999, S. 280/1) 60 Die Festtagsrede 1. Die politische Rhetorik, die untrennbar mit der Demokratie verbunden ist, dient im Idealfall der Wahrheitsfindung und der Meinungsbildung; sie setzt also demokratische Freiheiten voraus. 2. Die Festtagsrede ist eine rhetorische Zweckform. Sie hat eine bestimmte Tradition, die die Form festlegt. Der Festredner zeigt keine Neigung, selbst wenn er auf Veränderung abzielt, den bestehenden und als schlecht erkannten Verhältnissen zu widersprechen - es sei denn aus dem Geist der konservativen Kulturkritik. Eine Festtagsrede ist immer systemstabilisierend. 3. Die Festtagsrede ist durch eine generelle Friedfertigkeit gegenüber den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen gekennzeichnet; sie will nicht in Frage stellen, sondern Ruhe, sie will nicht anklagen, aufrütteln, sondern zähmen, beschwichtigen. Die Festtagsrede ist eine elegante Form gesellschaftlicher Bestätigung, Bestätigung des Bestehenden und Selbstbestätigung. 4. Die Bereitschaft, Bestehendes zu akzeptieren, wird auch in der Sprache erkennbar. Hier werden immer wieder gestanzte Begriffe und Wendungen reproduziert, die einmal vorformuliert endlos weiterverwendbar sind. Die Festrede ist in der Regel Nachrede, ein Fertigprodukt fixer Phrasen - je nach Anlass oder Situation: freudig, besinnlich, traurig oder stimmungsvoll. 5. Festtagsreden sind auf Widerspruchsfreiheit angelegt, auf störungsfreien Ablauf. Sie läuft ab wie ein Ritual, ein inszeniertes Geschehen nach bestimmten Regeln. Konflikte zwischen den Teilnehmern werden neutralisiert, gesellschaftliche Antagonismen werden ausgeklammert; alle Teilnehmer werden in die rituelle Gemeinschaft einbezogen. Harmonisierung ist das Ziel, Problematisierung bleibt unerwünscht. Harmonische Solidarität tritt an die Stelle von Reflexion, Selbstreflexion und Kommunikation. 6. Die unbequeme Alltäglichkeit wird ausgeklammert, Faszination statt Information geliefert; die graue Realität wird aufgehoben, zum Verschwinden gebracht oder auf eine höhere, weniger belastende Ebene transportiert. Der Gegensatz von Festredesituation und Alltagssituation ist typisch für diese Form. Die Bewusstseinsspaltung im Redner ist kalkuliert, weil er weiß, was die Öffentlichkeit hören will, nämlich Phrasen, die sie bestätigen und nicht in Frage stellen. Der Festtagsredner ist ein kalkulierter Opportunist gegenüber dem Publikum. Er baut ein Reich scheinbarer Einheit und scheinbarer Freiheit auf, indem die Widersprüche des Alltags befriedet werden sollen. Aus der Illusion dieser ewig besseren, wertvolleren Welt erlangt die Festrede ihre erhebende Würde. Die Menschen können sich glücklich fühlen, auch wenn sie es gar nicht sind. Mit dem Bestehenden findet man sich ab, da es ja eine höhere Welt gibt. 7. Die Lügenhaftigkeit der Festrede geht weniger auf den Redner als auf die zur Verfügung stehende Sprache zurück. Gerade die Festrede zeigt, dass die gesellschaftliche Tradition hier eine Sprachtradition ist. Aber was ist es eigentlich, was den Festredner immer wieder zur Lügensprache greifen lässt? Die da redend ihre Interessen wahren, indem sie erhaben Konflikte hinter 61 sich lassen, folgen dabei herrschenden Denk- und Redensarten. Und diesen kommt Ideologie-Charakter zu. Lügen die Festredner, so erweisen sie sich als Ideologie-träger und wirken systemstabilisierend: Festreden haben sozial konservativen Charakter, und darin besteht ihr Lügencharakter. 8. Damit steht fest: Festreden sind politische Reden, auch wenn sie einen angeblich unpolitischen Charakter vortäuschen. Die politische Wirkung des Unpolitischen zielt gerade auf die feierliche Erhaltung des Status quo. Schon immer hat, wer unpolitisch sich gab, am besten manipulieren können. Die auf Widerspruchsfreiheit angelegte Atmosphäre wirkt derart, dass unter ihrem Deckmantel allgemein gültige Vorurteile und Lügen verbreitet werden können. Die Intention dessen, was gesagt wird, wenn nichts zu sagen ist, ist also von einem politischen Interesse begleitet. Dieter Hildebrandt : Der Mond Eine Bundestagsrede, frei nach Matthias Claudius Der Mond, meine Damen und Herren, und das möchte ich hier in aller Offenheit sagen, ist aufgegangen, und niemand von Ihnen, meine Damen und Herren, wird mich daran hindern, hier mit aller Entschlossenheit festzustellen: die goldnen Sterne prangen am Himmel und das, meine Damen und Herren, sei hier in aller Deutlichkeit gesagt, so wie meine Freunde und ich uns immer zu allen Problemen geäußert haben: hell und klar! Und ich scheue mich auch nicht, hier an dieser Stelle ganz konkret zu behaupten: Der Wald steht schwarz und ich möchte hinzufügen dürfen, Herr Bundeskanzler (Blick auf den Bundeskanzler) und schweiget! Und hier sind wir doch alle aufgerufen, die uns tief bewegende Frage an uns zu richten: wie geht es denn weiter, meine Damen und Herren? Nun habe ich den Mut, meine Damen und Herren, Ihnen hier freimütig zu bekennen: und aus den Wiesen steiget das, was meine Reden immer ausgezeichnet hat: der weiße Nebel wunderbar! Aufgaben: 1. Streichen Sie das Gedicht „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius aus dem Text heraus. Was bleibt von der Rede übrig? (Claudius’ Gedicht finden Sie auf der nächsten Seite) 2. Diese Bundestagsrede ist natürlich keine Rede im üblichen Sinne. Welcher Textform würden Sie Hildebrandts „Rede“ zuordnen? 3. Was will Hildebrandt Ihrer Auffassung nach mit seiner Rede sagen? 62 Abendlied Matthias Claudius Der Mond ist aufgegangen, Die goldnen Sternlein prangen Am Himmel hell und klar; Der Wald steht schwarz und schweiget, Und aus den Wiesen steiget Der weiße Nebel wunderbar. (Das ist die 1. Strophe des sieben Strophen umfassenden Gedichtes.) 63 64 Erörterung Die steigernde Erörterung Die dialektische Erörterung 65 67 82 Erörterung 1. Definition Erörterung meint die Auseinandersetzung mit einer Sachfrage, einer These, einem Problem oder einer Meinung. Jeder Mensch ist tagtäglich gezwungen, sich mit bestimmten Fragen, Problemen oder Erfahrungen auseinander zu setzen, zwischen Alternativen eine Entscheidung zu treffen, Einigung in Streitfragen herzustellen, Situationen zu überdenken und zu be- urteilen, sich über Sachverhalte klar zu werden, sie zu den eigenen Kenntnissen in Beziehung zu setzen und persönlich Stellung zu nehmen. Die Erörterung dient dazu, Einstellungen zu finden, Meinungen zu vertreten, Urteile zu bilden und zu begründen, Entscheidungen zu treffen und Kritik zu üben. Erörtern nennt man jenes Überlegen, Vergleichen und Abwägen, das einem Urteil, einer Entscheidung vorausgeht. 2. Arten Folgende Arten der Erörterung werden unterschieden: die sachbezogene Erörterung: formuliert die dialektische oder problembezogene Erörterung: die Problemerörterung anhand von Texten: hierbei ist das Thema als Sachfrage (z.B. Wie stellen Sie sich eine sinnvolle Freizeitgestaltung vor?) hierbei ist das Thema als Wertfrage gestellt (z.B. Ist die Werbung Orientierungshilfe oder Instrument der Massenmanipulation?) sie hat einen Text zur Grundlage, in dem sich ein Verfasser zu einem Problem äußert und eine bestimmte Meinung vertritt, z.B. zu Goethes „Faust“ 3. Voraussetzungen Die Grundvoraussetzungen jeder Erörterung sind gute Sachkenntnisse und eine fundierte Argumentation. Argumentieren heißt: seine Behauptungen oder Meinungen begründen und beweisen. Überzeugungskraft erhalten Argumente nur dadurch, dass sie durch Begründungen gestützt werden. Eine vollständige Begründung (Argumentation) umfasst Argument, Beweis und Beispiel. 4. Methodik Wenn die Erörterung auf fundierten Argumentationen basiert, dann ergibt sich, dass jede Erörterung einen klaren, übersichtlichen und folgerichtigen Aufbau haben muss. Erörterungen sind zielgerichtet; sie sollen zu einem Urteil, zu einer Entscheidung führen. Der Weg zu diesem Ziel, also das methodische Vorgehen, ist durch logische Einzelschritte (Argumentationen) charakterisiert. Je nach Art der Erörterung sieht die Methodik anders aus. 66 Die steigernde Erörterung Bei der steigernden Erörterung wird die Argumentationsreihe nach Gewichtigkeit geordnet: Das voraussichtlich wirksamste Argument steht am Ende, sodass für den Adressaten / Leser eine inhaltliche Steigerung gegeben ist. Was verlangt eine solche Erörterung von Ihnen? Der Schulaufsatz ‘Erörterung’ ist eine schriftliche Auseinandersetzung mit einem Thema oder Sachverhalt. Hierzu sollen Argumentationen übersichtlich angeordnet und folgerichtig aufgebaut werden. Das Ziel dieser Aufsatzform ist eine klar gegliederte und inhaltlich überzeugende Darstellung. Methodisch sind für diese Aufsatzform folgende Arbeitsschritte günstig: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. Thema auswählen und erschließen Stoff sammeln die Stoffsammlung ordnen eine Gliederung erstellen die Argumente ausarbeiten eine Einleitung entwerfen einen Schluss finden die Reinschrift fertigen Schlussredaktion 1. Thema auswählen und erschließen Bei Klausuren in der Schule werden Ihnen in der Regel mehrere Themen zur Auswahl angeboten. Deshalb sollten Sie die Themen gründlich prüfen, indem Sie sich fragen, zu welchem der Themen Sie über das meiste Sachwissen verfügen. Schauen Sie sich die Aufgabenstellung genau an: die zentralen Begriffe der Themenstellung, die in der Aufgabe enthaltene Frage, die Zusammenhänge der Aufgabe usw. 2. Stoff sammeln Haben Sie sich für ein Thema entschieden, lassen Sie zunächst Ihre Gedanken einfach „strömen“ und schreiben Sie stichwortartig (Clustering oder Mindmapping) alles auf. In einem zweiten Anlauf versuchen Sie mit dem sog. W - Fragen (Wer?, warum?, in welcher Hinsicht?, unter welchen Umständen? usw.) weitere Aspekte zu finden. Am Ende dieses Arbeitsschrittes haben Sie ein Strukturbild mit Begriffen bzw. eine Liste mit untereinander stehenden Stichwörtern: die Grundlage für den nächsten Arbeitsschritt. 3. Stoffsammlung ordnen Bei der Ordnung der Stoffsammlung geht es darum, die inhaltlich zusammengehörenden Stichpunkte zu markieren und sie unter einem Sammelbegriff oder einer 67 knappen Überschrift zusammenzufassen. Diese somit gewonnenen übergeordneten Gesichtspunkte bilden die Basis für die Gliederung. 4. Gliederung erstellen Die Gliederung wird erstellt, indem die übergeordneten Gesichtspunkte als Weil Sätze formuliert und der These unterstellt werden. Bei diesem Verfahren kann gut überprüft werden, ob These und Argument logisch und inhaltlich zusammenpassen. Hierbei ist auch schnell zu übersehen, welche Argumente stärker sind, welche weniger stark sind. Sie werden sodann in steigernder Reihenfolge geordnet; das beste Argument kommt zuletzt. Die Gliederung, die bei dieser Aufsatzform auch in der Reinschrift verlangt wird, kann so aussehen : Gliederung : Das Leben auf dem Lande hat enorme Vorteile, - weil es insgesamt billiger ist - weil die Wohnungsverhältnisse besser sind - weil die zwischenmenschlichen Beziehungen überschaubar sind - weil die Nähe zur Natur gegeben ist - weil das Leben insgesamt gesünder ist 5. Ausarbeitung der Argumente Ist die Gliederung erstellt, erfolgt die Ausarbeitung der gefundenen Argumente, d.h., sie werden mit Denn-Stufe und Wie-Stufe vervollständigt. Hierbei kann auf die Stoffsammlung zurückgegriffen werden, in der ja noch viele konkrete Stichwörter als Basis für die Beweise und Beispiele gegeben sind. 6. Einleitung entwerfen Sind die Argumente vollständig ausgearbeitet, ist der wichtigste Schritt der Themen bezogenen Vorstudien abgeschlossen. Mit der Einleitung konzentrieren Sie sich wieder auf den Adressaten des Aufsatzes. Die Einleitung hat die Funktion, den Adressaten (Leser/-in) einzustimmen und ihn auf das Aufsatzthema vorzubereiten. Dazu sind viele Möglichkeiten denkbar. Die Einleitung kann nur aus einem Satz bestehen, der einen wichtigen, zum Problem hinführenden Gedanken klar und eindeutig wiedergibt. Als Einleitungsmöglichkeiten bieten sich an: ein aktuelles Ereignis eine allgemeine Feststellung ein geschichtlicher Rückblick die Definition des Kernbegriffs des Themas ein Vergleich mit Ähnlichem ein treffendes Zitat ein gegensätzlicher Gedanke ein persönlicher Gedanke 68 7. einen Schluss finden Der Schluss soll den Aufsatz abrunden. Auch hierbei gibt es vielfältige Möglichkeiten: eine Zusammenfassung der Gesichtspunkte eine Folgerung aus dem Gesagten eine persönliche Stellungnahme eine Einschränkung des Themas Vergleiche mit Ähnlichem ein gegensätzlicher Gedanke ein weiterführender Gedanke ein Wunsch 8. die Reinschrift fertigen Sind die Arbeitsschritte 1 - 7 auf dem Konzeptpapier gut vorgearbeitet, ist das Anfertigen der Reinschrift nur noch eine stilistische Feinarbeit. Je ausführlicher vorgearbeitet worden ist, um so leichter fällt das Anfertigen der Reinschrift, die Niederschrift des Aufsatzes. Bei dieser Niederschrift können Sie Ihr Konzept nochmals überarbeiten, auf Vollständigkeit, inhaltliche Aussagekraft und sachliche Richtigkeit überprüfen. Vor der Niederschrift ist zu bedenken, dass Schulaufsätze prinzipiell Adressaten bezogene Darstellungen sind, wobei nicht (nur) der Lehrer als Empfänger gedacht werden soll. Der Adressatenbezug bedeutet für den Aufsatz-Schreibenden (wie für Journalisten, Moderatoren usw.), dass er sich beim Schreiben auf den Adressaten einstellen muss. Das betrifft nicht nur dessen Führung innerhalb der Argumentation (Überleitungen, Hinweise, Querverbindungen), sondern auch die Hinleitung zu Thema und Aufgabe sowie die Abrundung am Ende der Ausführungen. Aus diesem Grunde sind Schulaufsätze grundsätzlich dreiteilig: Sie beginnen mit einer Einleitung, dann folgt der Hauptteil, zuletzt der Schluss. Für die Niederschrift z.B. einer steigernden Erörterung ergibt sich also folgendes Schema: I. Einleitung II. Erörterung (steigernde Kette von Argumentationen) III. Schluss oder: → → → → Einleitung - 1. Argument - 2. Arg. - 3. Arg. 69 - → 4. Arg. - Schluss 9. Schlussredaktion Nach der Reinschrift sollten Sie den gesamten Aufsatz nochmals durchlesen und eventuell noch Kleinigkeiten verbessern, z.B. Wortwiederholungen, Rechtschreibeund Zeichensetzungsfehler usw. 10. Beispiel An einem Beispiel sollen die methodischen Schritte nun einmal demonstriert werden. Wir wählen das Thema „Drogen“ und folgende Aufgabenstellung: Was sind die Ursachen für den Drogenkonsum Jugendlicher? Haben wir uns für dieses Thema entschieden, so beginnen wir mit der Stoffsammlung. Bevor man mit Hilfe von z.B. Mindmapping ins Thema einsteigt, sollte man sich zuerst den Kernbegriff bzw. die Kernbegriffe des Themas genau anschauen. Orientiert man sich bei den ersten Arbeitsschritten an den Kernbegriffen, kann man das Thema nicht verfehlen. Die Kernbegriffe bei unserem Thema sind: - Ursachen - Drogenkonsum - Jugendliche Es geht also um den Drogenkonsum, nicht allgemein, sondern einer speziellen Gruppe, nämlich der Jugendlichen. Und gefragt ist nach den Ursachen, nach den Gründen. Erwartet wird demnach, dass mehrere Ursachen genannt werden, die Jugendliche dazu bringen, Drogen zu konsumieren. Um das Thema möglichst breit zu erfassen, empfiehlt es sich, mit dem W-Fragen zu arbeiten: Wer ist betroffen? Jugendliche, also die Altersgruppe von (sagen wir) 12 - 20, also hauptsächlich Schüler/-innen Was sind Drogen? ursprünglich Naturprodukte mit heilender Wirkung; heute alle Arten von Stoffen, die zur Abhängigkeit führen können Welche Drogen? „harte“ Drogen wie Heroin, Opiate, Kokain „weiche“ Drogen wie Marihuana, Haschisch „Psychopharmaka“ (beruhigende und anregende Arzneimittel, Alkohol und als Einstieg Nikotin) Welche Wirkung haben sie? Anregend, beruhigend, betäubend, enthemmend, beschwingend, entspannend Wie konsumiert man? trinken, schnüffeln, rauchen, spritzen, schlucken Wo konsumiert man? überall, zu Hause, im Lokal, bei Freunden Wann konsumiert man? zu jeder Zeit, besonders abends Diese Fragen bzw. die Antworten liefern nun das Material der Stoffsammlung, als Mind-map dargestellt oder als Liste von Stichwörtern: 70 • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • Freundeskreis Mutproben Gruppenzwang Probleme in der Schule Trinken der Erwachsenen Alkohol enthemmt Werbung Unsicherheit lustig sein Leberschäden Einfluss von Freunden Freizeit Frustrationen Eltern trinken, rauchen schlucken Tabletten • Komplexe, Nervosität • Gehirnzellen sterben ab • Kontaktschwierigkeiten Probleme vergessen großes Angebot Misserfolge keinen Anschluss finden Neugier Verdrängung von Problemen Langeweile Eltern haben keine Zeit Streit in der Familie Scheidung der Eltern Schlüsselkinder Autoritätsverlust der Eltern Gefahr der Abhängigkeit Schüchternheit Angeben hohe Anforderungen Der nächste Arbeitsschritt besteht darin, die Stoffsammlung nach Schwerpunkten zu ordnen. Dabei kann man folgendermaßen vorgehen: zusammengehörende Stichwörter markieren (z.B. farblich) nicht zum Thema gehörende Stichwörter streichen Stichwörter, die sich inhaltlich überschneiden, zusammenfassen Oberbegriffe suchen Wir bekommen nach diesen Überlegungen folgende Punkte: • • • • • • • • • • • • negative Vorbilder schwierige Familienverhältnisse zu wenig Zeit füreinander Probleme mit Freunden starker Gruppenzwang schlechter Einfluss Misserfolge in Schule und Beruf Komplexe Flucht vor der Realität Langeweile Verlockung durch die Werbung Konfliktsituationen Aus diesen ergeben sich folgende Oberbegriffe: Schule und Beruf Freundeskreis Komplexe Familie Wirtschaft 71 Aus den gewonnenen Oberbegriffen lassen sich die Aspekte für die Gliederung ableiten. 1. Schule und Beruf sind wesentliche Ursachen. hohe Anforderungen ständige Misserfolge verschiedene Konfliktsituationen 2. Der Freundeskreis hat großen Einfluss. schlechter Einfluss verschiedene Probleme Gruppenzwang 3. Der Jugendliche selbst ist ein wichtiger Grund. Neugier Angabe Komplexe Langeweile Flucht vor der Realität 4. Die Familie bildet eine nicht unwichtige Ursache. schwierige Familienverhältnisse Autoritätsverlust der Eltern mangelndes Verständnis zu wenig Zeit füreinander negatives Vorbild 5. Die Wirtschaft fördert den Drogenkonsum. großes Angebot an Spirituosen und Tabletten verlockende Werbung Die bisherigen Schritte der Erarbeitung bilden die notwendigen Vorarbeiten der so genannten Ausarbeitung oder Reinschrift. Diese Vorarbeiten gehören nicht in die Reinschrift, sondern werden auf den Konzeptpapieren notiert. Der folgende Arbeitsschritt bildet den ersten Teil der Reinschrift, nämlich die Niederschrift der Gliederung, die nach dem Thema und vor der Ausarbeitung erwartet wird. Die Gliederung zeigt auch schon die Hierarchisierung der Aspekte (nach dem Steigerungsprinzip) an: Was sind die Ursachen für den Drogenkonsum Jugendlicher? Gliederung 1. 2. 3. 4. 5. Die Wirtschaft fördert den Drogenkonsum Der Freundeskreis hat einen enormen Einfluss. Schule und Beruf sind ursächliche Faktoren. Schwierige Familienverhältnisse sind ein wesentlicher Grund. Der Jugendliche selbst ist ausschlaggebend. Der erste Teil der Reinschrift ist erstellt. Die Ausarbeitung der einzelnen Aspekte (hier. Thesen) fällt auf Grund der Stoffsammlung nicht mehr so schwer, da Argumente und Beweise schon stichwortartig erarbeitet sind. 72 Deswegen bietet es sich an dieser Stelle der Erarbeitung - die Abfolge der Gedanken ist ja vorausgeplant - an, die Einleitung des Aufsatzes zu überlegen: Wie führe ich den Leser in meine Ausarbeitung ein? Einleitung Sie wissen, Aufsätze in der Schule werden als adressatenbezogene Darstellungsformen konzipiert, d.h. sie sind im Prinzip dreiteilig: Einführung, Hauptteil, Schluss. Die Einleitung hat die Funktion, den Leser in die Thematik einzuführen und ihn auf die folgenden Ausführungen vorzubereiten. Diese Funktion wird am besten durch eine dreischrittige Vorgehensweise erfüllt: 1. ein Einleitungsgedanke wird vorgegeben 2. eine Überleitung zur Themafrage wird formuliert 3. die Themafrage wird nochmals wiederholt Bei unserem Beispielthema (wie bei jedem anderen Thema) bieten sich vielfältige Möglichkeiten der Einleitung an. Die gängigsten seien genannt: - man kann mit einem aktuellen Ereignis beginnen (Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in den Medien das Drogenproblem in irgendeiner Form angesprochen wird. Erst vor kurzem machte ein etwas kurioser Fall in der Presse Schlagzeilen. Rauschgiftfahnder hatten im Norden des US-Staates Georgia die Überreste eines Schwarzbären entdeckt. Er hatte von Schmugglern aus dem Flugzeug abgeworfenes Kokain im Schwarzmarktwert von mehreren Millionen Dollar gefressen. Macht diese ungewollte Kokain-Orgie eines Schwarzbären vor allem Tierfreunde betroffen, so sind wir alle angesprochen, wenn wir bedenken, dass diese Unmenge von Rauschgift Jugendlichen zugedacht war, von denen einige vielleicht daran gestorben wären. Warum kommt es überhaupt so weit, dass Jugendliche ihr Leben aufs Spiel setzen und zu Tabletten und Nikotin oder sogar Alkohol und Rauschgift greifen?) - man kann eine allgemeine Feststellung heranziehen (Der Konsum illegaler Drogen wie Opiate, Heroin, Kokain oder Haschisch schnellte in den 70er Jahren sehr stark in die Höhe, ging zu Beginn der 80er Jahre etwas zurück und steigt seit 1983 erheblich an. Derzeit sind Designdrogen wie Ecstasy und Crack zu einem ernsten Problem geworden. Mehr als 300.000 Deutsche nehmen ständig harte Drogen, wie der Drogenbericht des letzten Jahres ausweist. 1996 starben 1712 Menschen an Rauschgiftkonsum , was eine Steigerung um 10% gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Auch der Verbrauch legaler Drogen wie Alkohol, Nikotin und Arzneimittel hat seit Mitte der 80er Jahre bedrohliche Ausmaße erreicht. Vor allem aber gibt zu denken, dass immer mehr Jugendliche zu Drogen greifen. Das Einstiegsalter für Alkohol- und Drogenmissbrauch liegt bereits bei ungefähr zwölf Jahren. Deshalb sollten wir uns fragen, was die Gründe für den Drogenkonsum Jugendlicher sind. - man kann mit einem geschichtlichen Rückblick beginnen (Von jeher haben Menschen überall auf der Welt Drogen vor allem zu geselligen und religiösen Zwecken, aber auch als Medikamente gegen Schmerzen verwendet. So ist der Schlafmohn als Rauschmittel schon vor Jahrtausenden beschrieben worden. Die Verwendung von Cannabis ist seit nahezu 5000 Jahren in Zentralasien, Indien und dem Orient bekannt. Auch Alkohol ist fast so alt wie die Menschheit. Bei vielen Völkern, wie z.B. den 73 Babyloniern, Ägyptern und Römern, war er in Form von Wein Bestandteil vieler kultischer Handlungen. Während aber früher die Drogen den Erwachsenen vorbehalten waren, werden sie heute bereits von Jugendlichen gebraucht und missbraucht. Auch die Ursachen für den Drogenkonsum haben sich verlagert. Deshalb stellt sich die Frage nach den Gründen des Drogenkonsums heutiger junger Menschen.) - man kann mit der Definition des Kernbegriffs anfangen (Als Drogen wurden ursprünglich getrocknete Pflanzen oder deren Teile bezeichnet, die als Heilmittel verwendet wurden. Heute versteht man unter Drogen nicht nur die illegalen „harten“ Rauschdrogen wie Heroin, Opiate, Kokain und die „weichen“ Drogen wie Haschisch und Marihuana, sondern auch legale, beruhigende wie die Einstiegsdroge Nikotin. Alle diese aufgeführten Drogen lösen zunächst ein Wohlbefinden aus, können aber zur körperlichen und seelischen Abhängigkeit führen. Da der Konsum dieser Mittel, vor allem von Alkohol, Nikotin und Tabletten auch bei Jugendlichen stetig steigt, stellt sich die Frage, was die Ursachen für den Drogenkonsum Jugendlicher sind.) - man kann einen Vergleich mit Ähnlichem ziehen (Ein ganz wesentlicher Problemherd für fast jede Jugend ist der Konflikt zwischen den Generationen. Zu diesen Spannungen zwischen Jung und Alt, die es schon seit Menschengedenken gibt, kommen für Jugendliche unserer Zeit neue Schwierigkeiten hinzu. Man denke hierbei nur an kriminelle Jugendbanden oder an die Gefahr der Jugendsekten. Ein weiteres aktuelles Problem, das weltweit ein alarmierendes Ausmaß erreicht hat, ist der Drogenkonsum. Immer wieder muss man sich darum fragen, weshalb so viele junge Menschen den Rauschmitteln verfallen.) - man kann mit einem Zitat beginnen (Viele moderne Jugendbücher befassen sich mit dem Drogenproblem. Eines davon ist der Roman „Ein abgekartetes Spiel“ von Otto Steiger. Er beschreibt darin die Beziehung zwischen dem Alkoholiker Viktor, der gerade eine Entziehungskur macht, und dem Gymnasiasten Martin. Nach den Gründen für sein Trinkverhalten gefragt, antwortet Viktor: „Ich will nicht trinken natürlich will ich trinken, aber doch nur, weil ich mich aus einer verhassten Gegenwart stehlen will.“ Wenngleich hier nur ein einziger Abhängiger mit seinen speziellen Schwierigkeiten dargestellt wird, so bekommt der Leser doch einen allgemeinen Einblick in die Drogenproblematik. Gerade wenn man solche Romane liest, kann man auch die Frage nach den Ursachen für den Drogenkonsum Jugendlicher klarer beantworten.) - man kann mit einem grundsätzlichen Gedanken einleiten (Auf Grund des Fortschritts auf dem Gebiet der Medizin und wegen der modernen Hygiene ist die Lebenserwartung der Menschen innerhalb der letzten 100 Jahre erheblich gestiegen. Vor allem die Entdeckung des Penicillins und auch die richtige Anwendung von Morphium haben dazu beigetragen. Bei uns beträgt die durchschnittliche Lebensdauer derzeit etwa 72 Jahre. Aber immer mehr Menschen verkürzen durch unkontrollierten Konsum von Drogen, seien es nun Tabletten, Nikotin, Alkohol oder Rauschmittel, bewusst oder unbewusst ihr Leben. Jedes Jahr gibt es allein in Deutschland Hunderte von Rauschgifttoten. Darum sollte man sich genauer mit dem Problem des Drogenkonsums befassen, wobei sich zunächst die Frage stellt, warum so viele junge Menschen zu Drogen greifen.) 74 - man kann mit einem persönlichen Gedanken beginnen (Vor kurzem wurde einer meiner Klassenkameraden wegen einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert, weil er auf einer Party zu viel Bier und Schnaps getrunken hatte und schließlich bewusstlos zusammengebrochen war. Er musste sofort ins Krankenhaus eingeliefert werden. Obwohl in der Schule und auch durch Broschüren der Krankenkassen über die schlimmen Folgen übermäßigen Alkoholkonsums informiert wird, kommt es immer wieder vor, dass Jugendliche bedenkenlos Alkohol und andere Drogen zu sich nehmen. Deshalb sollten wir einmal überlegen, was die Ursachen für den Drogenkonsum bei Jugendlichen sind.) Hauptteil Der Hauptteil besteht aus einer zusammenhängenden Darstellung der Argumentationen. Dabei wird erwartet: die vollständige Ausarbeitung der Argumentationen sprachliche Überleitungen und Verbindungen der Argumentationen eine steigernde Abfolge der Argumentationen Wir wissen: Ein Argumentation umfasst Argument, Beweis und Beispiel. Minimalisten (die meisten Schüler glauben, sie müssten solche sein) erfüllen immer nur die Minimalerwartung: ein Argument, ein Beweis, ein Beispiel, und zwar immer in der gleichen Reihenfolge. Hier geht es aber nicht um die Erfüllung formaler Schemata, sondern um Überzeugungsarbeit. Und das bedeutet: Wenn man eine These mit mehreren Argumenten untermauern, diese wiederum mit mehreren Beweisen stützen und diese wiederum mit vielen Beispielen veranschaulichen kann, wirkt man überzeugender als ein rhetorischer Minimalist. Auch der andere Punkt dürfte sofort einleuchten: Wenn man beim Argumentieren immer dieselbe Reihenfolge, also Argument, Beweis, Beispiel, wählt, wirkt die Darstellung eintönig und langweilig. Variiert man jedoch die Reihenfolge, wirkt die Gestaltung abwechslungsreich und lebendig. Nichts spricht dagegen, mal mit einem Beispiel zu beginnen oder mit einem Beweis. Für Verbindungen und Überleitungen gibt es sprachlich etliche Möglichkeiten. Zum einen bietet die Sprache eine Überfülle an Konjunktionen oder Bindewörtern (außerdem - desgleichen - ebenfalls - ferner - des Weiteren - zudem - weiterhin ...). Zum anderen gibt es eine Vielzahl sprachlicher Wendungen, die Gedanken miteinander verbinden: Ein weiterer Aspekt spricht für ... Es kommt noch hinzu, dass ... Das bisher Gesagte führt zu einem weiteren Punkt ... Ein bedeutender Gesichtspunkt ist auch ... Daneben darf man nicht vergessen, dass ... Außerdem wäre noch zu erwähnen, dass ... Weiterhin muss man bedenken, dass ... 75 Schluss Die Darstellung des Schlusses ist - wie die Einleitung - in vielerlei Hinsichten möglich. Einige sollen aufgezeigt werden: - Zusammenfassung der Gesichtspunkte (Zusammenfassend kann man sagen, dass die Ursachen für den hohen Drogenkonsum nicht nur beim Jugendlichen selbst zu suchen sind, sondern vor allem die Umweltfaktoren eine große Rolle spielen. Der Jugendliche ist psychisch noch nicht so gefestigt, dass er sich den Einflüssen der Umwelt völlig entziehen könnte. Deshalb ist es besonders wichtig, dass er gerade von seiner Familie unterstützt wird, auf Drogen bewusst zu verzichten oder maßvoll damit umzugehen. Insgesamt liegt jedoch die Verantwortung für sein Verhalten bei ihm selbst.) - Folgerung aus dem Gesagten (Aus all dem folgt, dass es verfehlt wäre, mit der Kritik zuerst bei den Jugendlichen anzusetzen, da sie mit vielen Problemen konfrontiert werden. Vielmehr müssen die Erwachsenen ihr Verhalten überprüfen und den Jugendlichen ein gutes Beispiel geben, denn Anschauung und Nachahmung zählen noch immer zu den wirkungsvollsten Formen des Lernens. Doch andrerseits kann das Fehlverhalten der Jugendlichen nicht generell entschuldigt werden. Dies wäre eine zu einfache Lösung. So mancher junge Mensch denkt nicht daran, dass das Leben ein einmaliges Geschenk ist und er für sich selbst letztlich die Verantwortung tragen muss.) - persönliche Stellungnahme (Wenn man all die Ursachen abschließend nochmals überdenkt, so wundert es mich eigentlich nicht, dass Jugendliche in bestimmten schwierigen Situationen glauben, zu Drogen greifen zu müssen. Eine vorschnelle Verurteilung dieser jungen Menschen wäre sicher nicht angebracht. Allerdings meine ich, dass gerade in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit und auch in den Schulen eingehend vor dem Drogenkonsum gewarnt worden ist. Jeder Heranwachsende sollte diese Mahnung ernst nehmen und folgende Aussage überdenken: „Komm,“ sagte der Esel zum Hahn, „etwas Besseres als den Tod werden wir allemal finden.“) - Einschränkung des Themas (Wenn man über die Ursachen des Drogenkonsums nachdenkt, wird einem erst bewusst, wie oft auf Probleme Jugendlicher derzeit in den Massenmedien eingegangen wird. Dadurch kann fast der Eindruck entstehen, als seien die heutigen Heranwachsenden schlechthin entweder problembeladen und mutlos oder opportunistisch und aufsässig. So würde man allerdings das Bild der heutigen Jugend verzerren, denn nur relativ wenige sind von der Drogensucht betroffen. Der Großteil der jungen Menschen hat gelernt, mit schwierigen Situationen fertig zu werden.) - Vergleich mit Ähnlichem (Viele Jugendliche nehmen jedoch nicht Drogen, sondern weichen auf andere Ersatzbefriedigungen aus. So lassen sich manche in Sekten aufnehmen, andere wiederum sind besessen von Spielautomaten, wieder andere reagieren sich ab, indem sie randalieren. Dies alles sind typische Zeiterscheinungen, die vielfach auf gleiche Ursachen zurückzuführen sind. 76 Eine davon ist der Mangel an Liebe und Geborgenheit, die den jungen Menschen Elternhaus und Freundeskreis geben könnten. Auch weist die hohe Zahl der Selbstmordversuche darauf hin, dass die Jugend von heute mit vielen Problemen belastet ist.) - gegensätzlicher Gedanke (Es darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, als müsste man Drogen schlechthin verdammen. Selbstverständlich ist es unerlässlich, bei Krankheiten vom Arzt verschriebene Medikamente einzunehmen. Auch sind bestimmte Rauschdrogen zur Schmerzlinderung für die moderne Medizin unbedingt notwendig. Selbst eine gesundheitsfördernde und blutreinigende Wirkung alkoholischer Getränke ist unbestritten, wenn sie zur rechten Zeit konsumiert werden. Eine absolute Ablehnung aller Drogen wäre wohl eine weltfremde Forderung. Wie in allen Lebensbereichen kommt es auch hier darauf an, dass man mit Verstand handelt.) - weiterführender Gedanke (Unkontrollierter Drogenkonsum hat natürlich auch Folgen, die sehr schwerwiegend sein können. Die Auswirkungen erstrecken sich dabei nicht nur auf körperliche Schäden, sondern ebenso auf den geistig-seelischen Zustand. In diesem Zusammenhang ist gerade bei Alkohol- und Rauschgiftsüchtigen ein sozialer Abstieg vielleicht sogar in die Kriminalität oder Prostitution möglich. Darum muss man versuchen, bereits die Ursachen für den Drogenkonsum abzubauen. Ein wichtiger Schritt dazu ist die Einsicht, dass unsere Welt wieder menschlicher werden muss.) - Wunsch (Da gerade in unserer Zeit viele Jugendliche drogenabhängig sind, besteht die Aufgabe eines jeden von uns darin, ehemalige Abhängige wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Sei es nun der ehemalige Fixer oder der einstige Trinker, jeder braucht Hilfe bei der Arbeits- und Wohnungssuche und bei der Bewältigung seiner Sorgen und Probleme. Es wäre wünschenswert, dass wir diese Unterstützung gewähren oder aber die Heranwachsenden durch unser persönliches Vorbild so beeinflussen, dass es gar nicht zu einer Abhängigkeit kommt.) Themenbeispiele: 1. Wo sehen Sie Möglichkeiten für den Einzelnen, wirksam zum Schutz der Umwelt beizutragen? 2. Welche Vorzüge hat die Demokratie? 3. Welche Gefahren können eine Demokratie bedrohen? 4. Worauf führen Sie die zunehmende Politikverdrossenheit zurück? 5. Wo liegen die Ursachen für die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland? 6. Was erwarten Sie von einer guten Tageszeitung? 7. Wodurch wird heutzutage die Natur am stärksten bedroht? 8. Worin sehen Sie den Wert einer Urlaubsreise? 9. Welche Probleme ergeben sich aus der ständig zunehmenden Verkehrsdichte in Berlin? 10. Worin sehen Sie den Wert einer sinnvollen Freizeitgestaltung? 11. Wie kann man heute die Massenmedien sinnvoll nutzen? 12. Was kann getan werden, um das Leben in den heutigen Großstädten 77 lebenswerter zu gestalten? 13. Unter welchen Umständen halten Sie die Einschränkung der Pressefreiheit für geboten? 14. Welche Bildungsziele erscheinen Ihnen heute als vordringlich? 15. Warum sollte man Sport treiben? 16. Warum sollten sich Paare auch heute noch für Kinder entscheiden? 17. Was erschwert heute die Begegnung junger Menschen mit der älteren Generation? Aufgabe: Wählen Sie ein Thema aus. Bilden Sie mit anderen Kollegiaten/-innen Gruppen. Bearbeiten Sie gemeinsam das Thema nach den bekannten methodischen Schritten. Die Anzahl der Argumente soll der Anzahl der Gruppenmitglieder entsprechen. Denn jedes Mitglied soll nach Festlegung der Gliederung ein Argument alleine ausarbeiten. Einleitung und Schluss sowie die Überleitungen zwischen den Argumentationen sollen gemeinsam gefunden und formuliert werden. Aufsatzbeispiel Thema: Welche Gründe sehen Sie für die zunehmende Gewalttätigkeit bei Kindern und Jugendlichen und welche Lösungen sind denkbar? Gliederung: A Einleitung Lehrer klagen darüber, dass schon die kleinen Schüler im Sportunterricht Gewalt anwenden. B Hauptteil I. Gründe für die Aggressivität der Kinder und Jugendlichen 1. Gewalt in den Medien a) Fernsehen b) Videoverleih 2. Veränderte Familienverhältnisse a) Berufstätigkeit beider Elternteile b) Hohe Scheidungsrate 3. Veränderte gesellschaftliche Werte a) Erziehung zum Konsum b) Ellbogenmentalität II. Mögliche Lösungen der Probleme 1. Erschwerter Zugang zu Gewaltdarstellungen im Film a) Späte Sendezeiten im Fernsehen b) Einhalten der Ausleihvorschriften bei Videos 2. Reagieren auf Veränderung der Familienverhältnisse 78 a) Schaffung von kleineren Klassen und Ganztagsbetreuung b) Verbesserung der Freizeitmöglichkeiten 3. Umdenken der Erwachsenen a) Erziehung zu nichtmateriellen Werten b) Einplanen von Zeit für Kinder C Schluss Aggressionen von Kindern als Hilfeschrei Immer häufiger kann man in Zeitungen lesen, dass Kinder und Jugendliche zunehmend gewalttätiger gegen Gleichaltrige oder Wehrlose reagieren. Sie schließen sich zu Gruppen zusammen, beleidigen, schikanieren und schüchtern ihre Opfer ein. Manchmal greifen sie jene auch körperlich an. Auch in den Schulen kann die wachsende Gewaltbereitschaft beobachtet werden. Beispielsweise berichten Lehrerinnen und Lehrer über die steigende Aggressivität im Sportunterricht. Wie kommt es zu dieser Entwicklung und was kann man dagegen unternehmen? Eine Erklärung für die steigende Gewalttätigkeit liegt sicherlich in der Darstellung von Gewalt. In den Medien kann man eine täglich wachsende Anzahl von Gewalttaten beobachten. Eine Studie hat gezeigt, dass im Fernsehen pro Woche mehr als 500 Morde zu sehen sind. Gerade auch nachmittags, wenn viele Kinder fernsehen, werden Filme mit erheblichem Gewaltpotenzial wie Science-Fiction-Serien oder Krimis gezeigt. Messerstechereien und Schlägereien sind dort an der Tagesordnung. Außerdem haben Kinder auch keinerlei Schwierigkeiten, an Gewaltvideos heranzukommen. Tests haben ergeben, dass Jugendliche aus Videotheken ohne Ausweiskontrolle sogar Hinrichtungsdarstellungen aus Amerika mitnehmen konnten. Haben Jugendliche nicht so großzügige Videoverleiher in der Nähe, kann man immer noch die Videofilme älterer Geschwister oder Freunde anschauen. Selbst Filme wie „Rambo“ oder „Terminator“ enthalten neben vielen Prügeleien die Darstellung zahlreicher Toter. Dadurch werden schlechte Vorbilder für Kinder geschaffen. Hinzu kommt, dass oftmals die eigenen Familienverhältnisse die Aggressivität der Kinder und Jugendlichen fördern. In vielen Familien müssen heutzutage beide Eltern arbeiten, weil ein Verdienst nicht ausreicht. Folglich sind die Kinder den ganzen Nachmittag allein zu Hause. Oft haben sie keinen Ansprechpartner für ihre Probleme und fühlen sich allein gelassen. In einer kürzlich ausgestrahlten Fernsehsendung wurde nachgewiesen, dass über 70% der 10 - 16-Jährigen alleine oder in Gruppen mit Gleichaltrigen den Nachmittag verbringen. Ähnlich gelagert ist die Problematik bei Scheidungskindern. Hin- und hergerissen zwischen dem Alltag bei der Mutter, die arbeiten muss, um die Kinder zu ernähren, und dem Vater, den man nur am Wochenende sehen darf, werden bei den Kindern Aggressionen angestaut, die sich dann im Pausenhof durch körperliche Gewalt entladen. Auch dafür gibt es etliche Beispiele schon in den Grundschulklassen. Wie oben gezeigt haben Eltern häufig wenig Zeit für ihre Kinder und noch weniger Zeit, sich über eine gute und wertvolle Kindererziehung Gedanken zu machen. Da sich bisweilen dann doch das Gewissen rührt, schenkt man Spielzeug oder teure Kleidung statt Liebe und Geborgenheit. Damit gewöhnt man Kinder an eine Konsumhaltung, die materielle Dinge als Ersatz für menschliche Wärme bietet. In der schon erwähnten Fernsehsendung wurde eine Statistik gezeigt, aus der hervorging, dass die meisten Kinder und Jugendlichen Fahrräder, technische Geräte wie Walkman, Videorekorder, DVD-Geräte , Gameboys und sogar Computer besitzen. 79 Auch wenn ein Elternteil nachmittags zu Hause ist, heißt das noch nicht, dass sich die Eltern auch wirklich mit dem Kind beschäftigen. Oft fühlt sich das Kind dennoch allein gelassen und reagiert deshalb vielleicht aggressiv. Viele Eltern müssen im Berufsleben hart kämpfen und versuchen, ihre Kinder auch für diesen Kampf vorzubereiten. Lehrer erzählen immer wieder von Kindern, denen zu Hause beigebracht wird, sich in der Schule nichts gefallen zu lassen. Für diese Kinder heißt das oft: zuschlagen ohne zu reden. Es genügt aber nicht die Situation nur darzustellen, man sollte sich auch Gedanken zur Lösung der beschriebenen Probleme machen. Es wäre unrealistisch zu glauben, man könnte Gewaltfilme ganz verbieten. Die Eltern können aber versuchen, die Verantwortlichen beim Fernsehen zu veranlassen, Gewaltfilme zu einer späteren Sendezeit zu zeigen. Wenn solche Filme erst ab 22 oder 23 Uhr gesendet würden, müssten die Eltern dafür sorgen, dass ihre Sprösslinge um diese Zeit im Bett sind. Videorekorder sollten entsprechende Verschlüsselungsmechanismen erhalten, damit es Kindern nicht möglich ist, diese Filme aufzuzeichnen. Was das Ausleihen von Gewaltvideos betrifft, so sind die Maßnahmen noch näher liegend. Videoverleiher müssen das Alter der Kunden stärker als bisher kontrollieren, indem es auf den Bezieherausweisen vermerkt wird oder ein zusätzlicher Ausweis beim Ausleihen dieser Videos nötig ist. So kann man ganz einfach verhindern, dass z.B. Kriegsfilme oder brutale Actionfilme in die Hände von Kindern gelangen. Was die Kinder zu Hause machen, liegt - ähnlich wie beim Fernsehprogramm - in der Verantwortung der Eltern. Damit kommen wir zum zweiten wesentlichen Ansatzpunkt. Aggressionen von Kindern könnten sicher abgebaut werden, wenn man ihr Umfeld verbessern würde. Dazu kann die Schule durch die Einrichtung kleinerer Klassen ganz gut beitragen, in denen sich die Lehrerinnen und Lehrer wieder mehr und intensiver um den einzelnen Schüler kümmern können. Wenn in den Klassen statt 30 bis 40 Schüler nur die Hälfte davon säße, hätte die/der Unterrichtende nicht nur mehr Zeit für jeden Einzelnen, sondern könnte auch den Unterricht pädagogisch sinnvoller und erfolgreicher gestalten. Eine weitere Möglichkeit, Kinder zu beschäftigen, ist das Angebot von Ganztagsschulen oder zumindest von Hausaufgabenbetreuung am Nachmittag. Kinder und Jugendliche werden dort ordentlich betreut und verbringen ihre Zeit sinnvoll mit Gleichaltrigen. Sie müssen also nicht mehr ihre Zeit vor dem Fernseher oder mit Computerspielen vertreiben. Hierbei ist der Staat gefordert, solche Möglichkeiten in ausreichender Zahl zu schaffen. Er könnte auch das Freizeitangebot für Kinder und Jugendliche allgemein verbessern durch die Unterstützung von Jugendtreffs und den Bau von Spiel- und Sportstätten. Darüber hinaus muss unbedingt ein Umdenken bei den Erwachsenen erfolgen. Die Erziehung sollte sich weg vom Konsumdenken und hin zu den menschlichen Werten wie Vertrauen, Geborgenheit und Liebe bewegen. Denn diese Zuwendungen brauchen Kinder und Jugendliche viel dringlicher als alles andere. Ein gemeinsamer Ausflug, gemeinsames Spiel, miteinander reden, erzählen und zuhören ist den Kindern sowieso lieber als das zehnte ferngesteuerte Auto. Dabei geht es nicht um Zeit, sondern überhaupt um die Zuneigung der Eltern. Neuere Forschungen haben ergeben, dass Kinder sehr gut bei allein erziehenden 80 oder berufstätigen Müttern aufwachsen können, wenn diese und die Väter eine bestimmte Zeit des Tages mit den Kindern verbringen. Die Aggressivität von Kindern und Jugendlichen geht in eine gefährliche Richtung. Es ist kein Einzelfall mehr, dass Mitschüler brutal zusammengeschlagen werden oder dass auf Lehrer geschossen wird. Wenn man bisher gedacht hat, derartiges passiere nur in Amerika, so muss man heute, spätestens nach den Schüssen in Erfurt, zur Kenntnis nehmen, dass diese amerikanischen Verhältnisse unsere Kinder schon eingeholt haben. Es ist höchste Zeit, diese Entwicklung ernst zu nehmen und durch geeignete Maßnahmen abzufangen. Wir müssen die kindlichen Aggressionen endlich auch als Hilfeschrei von Kindern erkennen, die sich nicht anders ausdrücken können. 81 Die dialektische Erörterung Der zweite Typus der Erörterung (nach der sachbezogenen Erörterung), den wir kennen lernen, hat eines vor allem mit dem ersten Typus gemeinsam: Es geht um überzeugende Argumentation. Es gibt aber mehrere Unterschiede, wie schon die Bezeichnung „dialektische“ vermuten lässt. Eine dialektische Erörterung können Sie sich vom Verfahren her wie eine Diskussion zweier Sprecher mit gegenteiligen Auffassungen vorstellen: Eine dialektische Erörterung erörtert ein Problem, zu dem man Gründe für und gegen finden muss. Das Ziel dieser Aufsatzform liegt darin, die Gründe so gegeneinander abzuwägen, dass eine fundierte Entscheidung, ein Urteil, zu Stande kommt. 82 Dass die dialektische Erörterung andere Anforderungen stellt als die sachbezogene Erörterung, erkennt man schon an der Aufgabenstellung. Einige Beispiele sollen das demonstrieren: Sollen längere Reisen mit dem Auto oder mit der Bahn gemacht werden? Verbringen Sie Ihre Ferien lieber in den Bergen oder am Meer? Sollte man auswandern, wenn das Ausland bessere Lebensmöglichkeiten bietet als die Heimat? Sollten die Zensuren in der Schule abgeschafft werden? Sollte das Fernsehen nach den Wünschen der Zuschauer gestaltet werden? An diesen Beispielen sehen Sie, dass es sich jeweils um eine Wertfrage handelt, die nicht einfach mit einem Ja oder Nein beantwortet werden darf. Die Beantwortung der Frage, also Ihre Stellungnahme, verlangt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema und seinen unterschiedlichen und gegensätzlichen Aspekten. Das bedeutet, dass der wichtigste Teil der Erörterung in der Pro- und Contra-Argumentation besteht, der ja die Grundlage für das Urteil bildet. Wie kann man an solche Themen herangehen, welche Methodik bietet sich an? Die Aufgabenstellung bei der dialektischen Erörterung ist immer schon so formuliert, dass in der Themafrage Pro- und Contra-These sofort erkennbar sind. Lautet das Thema beispielsweise „Ist die Emanzipation der Frau in unserer Gesellschaft schon verwirklicht?“, so ergeben sich beide gegensätzliche Thesen: Die Emanzipation der Frau ist in unserer Gesellschaft schon verwirklicht. Die Emanzipation der Frau ist in unserer Gesellschaft nicht verwirklicht. Man kann nun beide Thesen auf dem Konzeptpapier nebeneinander aufschreiben und dann alles notieren, was einem für die eine oder andere Seite einfällt. Wenn man ein Thema breit erfassen und möglichst voll ausschöpfen will, empfiehlt sich eine andere Vorgehensweise. Jede Themafrage hat einen tragenden Begriff. In unserem Beispiel ist es die „Emanzipation“ der Frau. Mit diesem Begriff und seiner Bedeutung sollte man sich zunächst beschäftigen. Der Vorteil dabei ist, dass man eine Vielzahl von Aspekten für die Stoffsammlung gewinnt. Emanzipation bedeutet: Freilassung, Befreiung, Gleichstellung, Gleichberechtigung, Autonomie. Die Gegenbegriffe drängen sich sofort auf: Unterdrückung, Abhängigkeit, Unterjochung, Diskriminierung, Unselbstständigkeit. Schon sind wir mitten im Thema! Die Vielzahl der Aspekte vergrößert sich noch, wenn wir mit den W-Fragen an die Begriffe herangehen: Von wem oder von was wird die Frau befreit? Mit wem wird sie gleichgestellt? Von wem ist die Frau abhängig? Wer unterdrückt die Frau und warum? usw. Diese und andere Fragen vertiefen die Sicht auf das Thema, insofern sie es in größere Zusammenhänge stellt und auf die historische, gesellschaftliche, juristische, philosophische Dimension verweist. Weitere W-Fragen können gestellt werden, neue Aspekte werden sichtbar: 83 Seit wann gibt es Emanzipationsbestrebungen von Frauen? Auf welchen Gebieten ist die Emanzipation bisher erfolgreich gewesen? In welchen Bereichen ist die Emanzipation der Frau noch nicht durchgesetzt? Wo sind heute Emanzipationsbestrebungen zu sehen? Weshalb muss die Emanzipation der Frau erkämpft werden? Wer stellt sich den Emanzipationsforderungen entgegen und warum? usw. Aus all diesen Fragen ergibt sich eine Fülle von Aspekten für die Stoffsammlung. Das Ergebnis könnte etwas so aussehen: a) Frauen dürfen wählen und gewählt werden b) die Frau ist nach dem Gesetz dem Mann gleichgestellt c) Mädchen wählen zunehmend typische Männerberufe d) seit 1976 kann der Mädchenname der Frau der Familienname sein e) gleicher Lohn für gleiche Arbeit f) Frauen reisen allein g) immer mehr Führerschein- Besitzerinnen h) seit 1976 muss der Mann bei der Erwerbstätigkeit auf die Belange der Frau Rücksicht nehmen (Paragraf 1356 Abs.2, BGB) i) Rentenrecht (1984 verwirklicht) j) immer mehr Mädchen studieren k) Leichtlohngruppen l) Emanzipation auf dem Land weniger fortgeschritten als in der Stadt m) wenig Chancen, Ministerin zu werden n) schlechtere Ausbildung o) höhere Erwartungen bei beruflichem Aufstieg p) typische Frauenberufe: Putzfrau, Kindergärtnerin, Verkäuferin, Friseuse q) Doppelbelastung: Familie - Beruf r) Erziehung der Mädchen zum „schwachen Geschlecht“ s) Ausnutzung der Frau als Sex-Objekt t) einseitige Ausrichtung durch die Werbung u) Verantwortung für Kinder und Haushalt v) Frauen verlieren Arbeitsplatz schneller w) weniger Frauen in leitenden Positionen x) Schwierigkeiten in Männerberufen Der nächste Schritt ist angesichts der Vielzahl der Aspekte nicht so einfach, denn es müssen Oberbegriffe gefunden werden, damit die Stoffsammlung in eine überschaubare Ordnung gebracht werden kann. Es gibt positive und negative Aspekte, materielle und ideelle, individuelle und familiäre Gesichtspunkte. Eine gute Übersicht bekommt man hier, wenn man die Bereiche, in denen die Frau betrachtet worden ist, differenziert. Danach ergibt sich: 1. 2. 3. 4. 5. 6. die rechtliche Stellung der Frau die Stellung der Frau im Beruf die Stellung der Frau in der Familie die Stellung der Frau im Alltagsleben die Stellung der Frau in der Freizeit die Stellung der Frau in der Ausbildung 84 Da zu jedem dieser Punkte Pro- und Contra-Argumente zu finden sind, kann die nun folgende Gliederung folgendermaßen aussehen (1. Alternative): 1. Die Emanzipation der Frau ist in unserer Gesellschaft verwirklicht, weil die Gleichstellung der Frau rechtlich garantiert ist weil die Frau gleiche Möglichkeiten der Berufswahl und -ausübung hat weil die Frau nicht mehr alleine für Haushalt und Kinder zuständig ist weil die Frau im Alltag unabhängig und selbstbestimmt auftreten kann weil die Frau ihre Freizeit selbstständig plant und gestaltet weil die Frau viele weiterführende Bildungsmöglichkeiten nutzen kann 2. Die Emanzipation der Frau ist in unserer Gesellschaft nicht verwirklicht, weil unsere Rechtswirklichkeit Frauen immer noch benachteiligt weil die Frauen im Berufsleben stark benachteiligt werden weil die Frau in der Familie immer noch ausgebeutet wird weil die Frau im Alltag häufig diskriminiert wird weil die Freizeitmöglichkeiten für Frauen eingeschränkt sind weil Frauen insgesamt geringere Ausbildungsmöglichkeiten haben Der Vorteil einer so ausgerichteten Gliederung liegt darin, dass man bei der Ausführung (schriftlichen Darstellung) abwechselnd Pro- und Contra-Seite zu Wort kommen lassen kann (wie beim Diskussionsbeispiel zu Beginn). Die Struktur dieser Methodik, bei der die abwägende Gegenüberstellung von Einzelargumenten die Abfolge bestimmt, sieht folgendermaßen aus: Man führt die Gedanken abwechselnd vom Argument der These zum Argument der Gegenthese („Seitenwechsel“) und kommt zum Schluss zur Synthese. Die o.a. Stoffsammlung kann aber auch zu einer anderen Gliederung führen, die etwa so aussehen könnte (2. Alternative): 1. Die Emanzipation der Frau ist in unserer Gesellschaft verwirklicht, weil die Gleichberechtigung der Frau gesetzlich verankert ist weil die Frauen im Alltagsleben unabhängig sind wie die Männer weil die Frauen in der Freizeit ebenso selbstständig sind wie die Männer 2. Die Emanzipation der Frau ist in unserer Gesellschaft noch nicht verwirklicht, weil Frauen im Beruf benachteiligt werden weil Frauen in der Ausbildung geringere Chancen bekommen weil Frauen in der Familie in vielfacher Weise ausgebeutet werden 85 Der Vorteil einer so ausgerichteten Gliederung liegt darin, dass man bei der Ausführung eine Seite (Pro oder Contra, je nach Wichtigkeit) zunächst ganz ausarbeitet und danach die andere Seite bedenkt. Die Struktur dieser Vorgehensweise, bei der die abwägende Gegenüberstellung der Argumentationen im Zentrum steht, sieht folgendermaßen aus: Man stellt die These mit allen Argumenten der Gegenthese mit allen Gegenargumenten gegenüber und kommt dann im 3. Teil zum Abwägen und zur Synthese. Nachdem die Gliederung erstellt ist, überlegt man im nächsten Arbeitsschritt das Ziel der Argumentation. Das Ziel der dialektischen Erörterung kann nicht sein, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden, weil ja die eigene Argumentation zeigt, dass es für beide Seiten gute Argumente gibt. Das Ziel hierbei kann nur eine beide Seiten berücksichtigende Synthese sein, die unterschwellig immer schon bei der Pro- und Contra-Argumentation mitschwingt. Diese Synthese macht den eigentlich schöpferischen Teil der dialektischen Erörterung aus; denn die gegensätzlichen Standpunkte müssen miteinander verbunden werden. Das bedeutet: In der Synthese muss etwas völlig Neues gefunden werden, das in beiden Argumentationen noch nicht enthalten sein konnte, weil sie jeweils nur einseitig sind. Für das Erstellen der Synthese gilt: die Synthese darf nicht bloß eine unbegründete Privatmeinung aussprechen; die Synthese darf nicht zu einer der beiden Thesen zurückkehren; die Feststellung, es komme jeweils auf den Einzelnen an, wie er das Problem lösen will, ist nur in seltenen Fällen eine überzeugende Synthese; wer einfach zur Lösung des Problems die Thesen mit „sowohl - als auch“ verknüpft, überzeugt nicht; die Synthese sollte einen neuen, über die Themenformulierung hinausgehenden Begriff finden; wer mit seiner Synthese zeigen kann, dass er das Thema / Problem selbstständig, verantwortlich und mit Sachkenntnis durchdacht hat, überzeugt am meisten; Eine Synthese zu unserem Beispielthema könnte lauten: Die Erörterung hat gezeigt, dass man die Themafrage nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten kann. Obgleich die Fortschritte in Bezug auf die Gleichberechtigung durchaus beachtlich sind, lässt sich nicht übersehen, dass die Frauen bei uns in wichtigen Bereichen immer noch benachteiligt werden. Auf dem Papier steht zwar, dass die Frau dem Mann gleichgestellt 86 ist, die Realität ist aber weniger von gesetzlichen Vorgaben als vielmehr von traditionellen Denkweisen bestimmt. Solange der Mann sich über die Frau stellt und ihre Emanzipation verhindert, weil er den Verlust seiner privilegierten Stellung fürchtet, kann es keine wirkliche Emanzipation der Frau geben. Und solange es in der Familie bzw. in der Gesellschaft üblich ist, Jungen anders zu behandeln als Mädchen, und solange in der Kindererziehung Rollenverhalten erwartet und gefördert wird, solange kann von einer wirklichen Gleichberechtigung der Frau nicht gesprochen werden. Die Emanzipation der Frau ist nicht (allein) das Problem der Frauen, sondern das Problem der ganzen Gesellschaft. Und erst, wenn die Bereitschaft gegeben ist, von alten, überkommenen Denkmustern abzurücken und sich für neue, humanere Vorstellungen und Werte zu öffnen - das gilt besonders für die Männer -, dann kann aus der juristischen Gleichstellung der Frau auch eine faktische werden. Sind Gliederung und Synthese vorgeplant - wir befinden uns immer noch im Stadium der Vorarbeiten, der groben Konzeption -, geht es im nächsten Schritt um die Ausarbeitung der Argumente (Sie wissen schon: weil - denn - wie). Bei dieser Ausarbeitung können Sie zurückgreifen auf jene Aspekte der Stoffsammlung, die für die Gliederung noch nicht gewählt worden sind. Sind die Argumentationen vollständig erstellt, können wir uns auf die letzten Punkte der Vorarbeit konzentrieren, auf die Einleitung und den Schluss. Möglichkeiten hierfür haben Sie schon bei der steigernden Erörterung kennen gelernt. Darauf können Sie zurückgreifen; Sie können aber auch Aspekte aus der Stoffsammlung aufgreifen, die sich für die Einleitung bzw. für den Schluss eignen. Nun sind die Vorstudien abgeschlossen. Es ist klar und sofort einleuchtend: Je intensiver und detaillierter die Vorarbeiten gemacht werden, umso leichter dürfte die Ausführung sein. Denn dabei geht es ja nur noch darum, das Vorbereitete schriftlich zu formulieren und in einen Fließtext zu bringen. Vergessen Sie bitte nicht: Die Gliederung gehört zur Arbeit dazu und wird den Ausführungen vorangestellt. Themenbeispiele: 1. Raucher werden aus U-Bahnen und Büroräumen verdrängt. Auch in Flugzeugen und Restaurants gibt es immer häufiger Rauchverbote. Sollte das Rauchen in öffentlichen Räumen ganz verboten werden? 2. Stellt das Fernsehen eine Bereicherung dar oder ist das Leben der Menschen durch das Fernsehen ärmer geworden? 3. Sollte die industrielle Massentierhaltung verboten werden? 4. Junge Männer müssen Wehr- oder Ersatzdienst leisten. Wäre es da nicht gerecht, wenn für junge Frauen ein soziales Pflichtjahr eingeführt würde? 5. Ist die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung von homosexuellen und heterosexuellen Lebensgemeinschaften berechtigt? 87 6. Sollten alle wissenschaftlichen Experimente mit Tieren in der gegenwärtigen Form verboten werden? 7. Ist es richtig, dass sich in der modernen Demokratie die Minderheit dem Willen der Mehrheit fügen muss? 8. Ist die Auffassung, dass jeder für sein mögliches Suchtproblem selbst verantwortlich ist, richtig? 9. Sollte der Arzt Sterbehilfe leisten dürfen? 10. Fördert oder hemmt die Gruppenarbeit im Unterricht den Lernprozess? 11. Führen oder Wachsen lassen - welches Erziehungsmodell ist geeigneter? 12. Rationalisierung - Fluch oder Segen? 13. Hat die moderne Technik unser Leben besser und sicherer gemacht? 14. Gefährden die heutigen Massenmedien das freie, selbstständige Denken? 15. Sollte die Notengebung in der Schule abgeschafft werden? 16. Sollte die Alkoholwerbung in Funk und Fernsehen untersagt werden? 17. Führt die wachsende Freizeit zu mehr Freiheit? 18. Ist es richtig, dass unser Grundgesetz am Privateigentum festhält? 19. Sind Bürgerinitiativen in einer Demokratie überflüssig? 20. Hat die Politik das Recht, in die Kultur und in den Kulturbetrieb einzugreifen? 21. Fördert oder gefährdet die moderne Publizistik das freie, selbstständige Denken? 22. Schon 1996 konnte man via Kabel über 30 Fernsehprogramme empfangen. - Hat sich der Traum von mehr Freiheit im Bereich der Mediennutzung - einst ein Hauptargument für das Kabelfernsehen - erfüllt? 23. Glauben Sie, dass eine gerichtliche Strafe einen Menschen ändern kann? 24. Rechtfertigen Sicherung und Ausbau des Wohlstandes Umweltzerstörung und -verschmutzung? 88 Schüler- Beispiel einer dialektischen Erörterung Thema: Ist die Auffassung, dass jeder für sein mögliches Suchtproblem selbst verantwortlich ist, richtig? Gliederung: Pro - These: Jeder Mensch ist für sein mögliches Suchtproblem selbst verantwortlich, weil die fehlende Bereitschaft, sich mit Drogen, Sucht und den daraus entstehenden Problemen ernsthaft auseinanderzusetzen, es jeder therapeutischen Einrichtung unmöglich macht, einem Abhängigen zu helfen, einen Ausweg aus der Sucht zu finden; weil das Risiko einer Abhängigkeit, die durch regelmäßige Einnahme von Drogen entstehen kann, allgemein bekannt ist. Contra - These: Ein Drogensüchtiger ist für seine Sucht nicht selbst verantwortlich, weil das soziale Umfeld (Familie, Schule etc.) und auch die Gesellschaft verantwortlich sind für die Menschen, insbesondere für die Heranwachsenden; weil die konsumorientierte, mit vielfältigen Problemen belastete heutige Welt, gekennzeichnet durch Stress und Schnelllebigkeit, dem einzelnen und besonders der Jugend wenig Raum für die Selbstentfaltung bietet. Synthese: Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft muss ethisch fundiert sein durch gegenseitige Verantwortung. Die ursprüngliche Bedeutung von Drogen liegt in der Anwendung von Präparaten pflanzlichen, mineralischen und tierischen Ursprungs in Form von Heilmitteln, Gewürzen oder Stimulanzen. Ein unsachgemäßer Umgang mit diesen Stoffen kann zu schweren gesundheitlichen Schäden und Suchtverhalten führen. Da dies allgemein bekannt ist, weiß jeder, der mit dieses Mitteln zu tun hat, worauf er sich einlässt. Von daher muss man der Auffassung zustimmen, dass jeder im Umgang mit diesen Mitteln selbst verantwortlich ist. Diese Selbstverantwortung ist besonders bei solchen Süchtigen gegeben, die willentlich Drogen konsumieren und nicht den Willen und die Bereitschaft besitzen, sich therapeutisch betreuen zu lassen, um den Ausstieg aus der Sucht zu erreichen. Erfolge hierbei lassen sich nur erzielen, wenn beide Seiten konstruktiv zusammen arbeiten. Die Lebensgeschichten vieler Drogen- abhängiger, die nach mehrfach durchlebten Entzugstherapien immer wieder in die Abhängigkeit zurückgefallen sind, belegen deutlich, dass das Suchtproblem ein vielschichtiges und umfassendes Gesamtproblem ist, das eine Therapie allein nicht lösen kann. Therapie bedeutet nämlich auch die Betreuung nach dem Entzug, damit der Betroffene nicht Gefahr läuft, wieder in sein altes Umfeld und die damit verbundenen Probleme zu geraten. Hierbei spielt natürlich die Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen eine wichtige Rolle; denn nur solchen, die ihr Problem erkennen und wirklich Hilfe suchen und die Maßnahmen der Hilfe akzeptieren, kann geholfen werden. Je länger und ausgeprägter das Ausmaß der Sucht andauert, desto schwieriger wird es für den Betroffenen, selbstverantwortlich einen Ausweg zu finden, denn ein Langzeitmissbrauch führt in jedem Fall auch zu Persönlichkeitsveränderungen wie Konzentrationsstörungen, impulsivem 89 Und bei denen, die bereits Kontakt mit Drogen haben, muss es von staatlicher Seite Hilfe geben. Eine repressive Drogenpolitik hilft keinem, sie fördert lediglich den Anstieg der Preise und damit den Gewinn der Dealer. Und diese Spirale vergrößert die Beschaffungskriminalität und damit die Unmöglichkeit des Süchtigen, aus diesem fatalen Kreislauf herauszukommen. Stellt man sich die Frage, warum jemand überhaupt zu Drogen greift, dann sind die gesellschaftlichen Verhältnisse ein wesentlicher Faktor. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Egoismus und Rücksichtslosigkeit dominieren, in der das Geld und der materielle Besitz und nicht Menschlichkeit und Nächstenliebe die obersten Prioritäten besitzen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Soziale Verantwortung ist in dieser Konkurrenzgesellschaft eher die Ausnahme, weswegen diejenigen, die das allgemeine Spiel nicht mitmachen, gnadenlos ausgegrenzt werden. Hinzu kommt ein immer enger werdender Arbeitsmarkt, der vielen Millionen Menschen die Arbeit oder sogar schon eine Ausbildung verweigert und sie den sozialen Netzen überantwortet. Perspektivlosigkeit, Einsamkeit und Langeweile sind die Folgen, die eine gefährliche Basis für die Flucht aus der Wirklichkeit sein können. Der Griff zu Drogen bildet oft dann die scheinbare Rettung aus der Verzweiflung, zumal dieser Weg in unserer Gesellschaft dadurch erleichtert wird, dass für legale Drogen (Alkohol, Zigaretten, Tabletten) überall geworben wird und sie mühelos erhältlich sind. Die legalen Drogen bilden in der Regel die erste Stufe der Drogenabhängigkeit. Die sozialen Verhältnisse im Kleinen, also Familie, Umfeld, Freunde, entscheiden wesentlich mit, ob jemand in den illegalen Drogenkonsum abfällt und zum Außenseiter wird. Verhalten, Aggression, Apathie, Gleichgültigkeit, Resignation, Isolation und Rückzug. Ein weiteres Argument für die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen ist wie schon mal erwähnt - der hohe Bekanntheitsgrad von Drogen und deren Wirkung in unserer Gesellschaft. Die Zigarettenwerbung macht eigens auf die gesundheitsschädliche Wirkung aufmerksam, Radio und Fernsehen bieten dauernd Informationen über Drogen und Drogenmissbrauch. Und auch die Gesundheitsämter arbeiten ebenfalls in aufklärerischer Absicht. Es existiert außerdem noch ein vielfältiges Angebot an Informationsmaterial, Broschüren, CDs, Aufkleber usw. Keiner kann sich damit herausreden, dass er nichts gewusst habe. Trotz all dieser Maßnahmen wächst das Herr der Drogensüchtigen dauernd an, sodass es offenbar so ist, dass der Blickwinkel der persönlichen Verantwortung nicht alles erfassen kann. Wenn es also Faktoren gibt, die den Einzelnen beeinflussen, ohne dass er sich dagegen wehren kann, dann kann man ihm auch keine Schuld zusprechen. Jeder Mensch wird von seinem Umfeld, seinem Milieu, in dem er aufwächst, automatisch beeinflusst. Das gilt besonders für Kinder und Jugendliche, die sich dieser Beeinflussung oft gar nicht bewusst sind. Solange die soziale Kontrolle im positivem Sinne funktioniert und die Mitmenschen auch eine Verantwortung für alle anderen wahrnehmen, kann das Abdriften des einzelnen in Sucht, Kriminalität und dergleichen aufgefangen werden. So kann beispielsweise ein psychologisch und pädagogisch orientierter Unterricht in der Schule dazu beitragen, dass das Thema Drogen und Sucht nicht tabuisiert, sondern offensiv in den Lernprozess einbezogen wird. Eltern sollten ihren Kindern die gesundheitlichen, finanziellen und sozialen Folgen von Sucht und Abhängigkeit erklären und sich immer gesprächsbereit zeigen. Die Erörterung hat gezeigt, dass es gute Pro- und gute Contra-Argumente für die Ausgangsfrage gibt und dass man es sich mit einer einseitigen Ant90 leichtesten gelernt in einem Klima des Vertrauens in der Familie, in der Schule, im Freundeskreis oder im sozialen Umfeld allgemein. Wie groß die Macht dieser Sozialisationsinstanzen ist, zeigt sich immer dann deutlich, wenn sie versagen bzw. wenn nur eine von ihnen versagt. Sind schon die familiären Verhältnisse zerrüttet, ist es für die Schule fast unmöglich, die entstandenen Defizite auszugleichen. Wenn der Freundeskreis nicht verantwortlich handelt, ist der Einzelne hochgradig gefährdet. Daran zeigt sich deutlich, dass es im sozialen Miteinander immer darauf ankommen muss, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nur dann ausgewogen funktionieren kann, wenn es ethisch fundiert ist. Aber das ist nichts Neues, alles seit Menschengedenken bekannt. Nur heute meinen wir uns darüber hinwegsetzen zu müssen, um dem Egoismus Platz zu machen. Das kann nicht funktionieren. Und deswegen werden wir uns in zunehmendem Maße mit Drogenproblemen auseinandersetzen müssen. wort zu leicht macht. Auch wenn man davon ausgeht, dass jeder Mensch in der Lage sein sollte, frei und eigenverantwortlich zu handeln, darf man die Umstände und Einflüsse, unter denen wir heute in dieser Gesellschaft leben, nicht unterschlagen. Um den Einzelnen vor möglichen Gefährdungen zu schützen, muss auf beiden Seiten schon im Vorfeld grundlegender vorgesorgt werden. Auf der einen Seite muss schon von der kindlichen Erziehung an alles unternommen werden, die Autonomie und Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen zu ermöglichen und zu stärken; auf der anderen Seite muss die gesellschaftliche Verantwortung für den Einzelnen ernst genommen und größer werden. Denn die Eigenverantwortung des Einzelnen steht in direktem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Verantwortung. Ich fühle mich dann für andere verantwortlich, wenn ich deren Verantwortung für mich erfahre. Lassen die anderen mich links liegen, werde ich kaum auf den Gedanken kommen, dass ich für sie verantwortlich bin. Verantwortung tragen muss gelernt werden und dies wird am Sie haben beim Lesen dieser Klausur bemerkt, dass nicht alles gut gelungen ist. Aufgabe: Überprüfen Sie bei der Gliederung, ob die Argumente überzeugen. Überprüfen Sie die Ausarbeitung der Argumentationen. Prüfen Sie, inwieweit die Synthese auf die vorherigen Argumentationen bezogen ist und ob sie überzeugend ausgefallen ist. Musterbeispiel einer dialektischen Erörterung: Aufgabe: Digitales Fernsehen, „Multimedia“, Internet - erörtern Sie die Vor- und Nachteile dieser modernen Technologien und nehmen Sie Stellung dazu! Gliederung: 1. These: Die modernen Technologien haben etliche Nachteile. 1.1. Viren sind eine Gefahr für den Computer. 1.2. Der unbefugte Zugang zu persönlichen Daten ist möglich. 1.3. Das Angebot kann jugendgefährdend sein. 91 1.4. Das Angebot ist unüberschaubar und unkontrollierbar. 1.5. Die neuen Technologien können süchtig machen. 1.6. Die Nutzung ist teuer und führt zur Vernachlässigung sozialer Kontakte. 2. These: Die modernen Medien bringen viele Vorteile. 2.1. Die neuen Medien haben einen hohen Unterhaltungswert. 2.2. Das Internet bietet zahlreiche kostenlose Programme. 2.3. Das Internet eröffnet neue Kontakte und Informationsquellen. 2.4. Jugendliche lernen frühzeitig den Umgang mit dem Computer. 2.5. Die neuen Medien bieten verbesserte Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten. 2.6. Die neuen Medien sind aktuell, schnell, billig und vielseitig. Synthese: Die Selbstverantwortung des Einzelnen bestimmt den Umgang mit den neuen Medien. Mit „Multimedia“, digitalem Fernsehen und Internet stehen völlig neue Informations- und Kommunikationstechnologien zur Verfügung. Unter „Multimedia“ versteht man das Zusammenwirken verschiedener Informationsübermittler, z.B. Bilder, Ton und Video. Das digitale Fernsehen ändert Fernsehsignale in digitale Signale um und bietet dadurch hervorragende Qualität und eine große Programmvielfalt. Das Internet schließlich ermöglicht die weltweite Kommunikation mittels eines weltumspannenden, computergestützten Netzwerks. Diese neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bringen eine große Zahl von Vorteilen, aber auch eine Menge Nachteile mit sich. Eindringen von Viren melden oder verhindern. Mit der Virengefahr verbunden ist auch das Problem, dass während der „online-Sitzungen“ Unberechtigte Zugang zu persönlichen Daten haben können. Gibt man z.B. Adressangaben für die Bestellung von Produkten ein, so können diese Angaben mit speziellen Programmen auch von Unberechtigten eingesehen werden. Die Folgen dieses unbefugten Zugangs zu persönlichen Daten hängen natürlich vom Wert dieser Daten ab: Ist es beispielsweise gelungen, die CodeWörter für das „online-banking“ in Erfahrung zu bringen, so kann der Schaden für den Betroffenen sehr groß sein. Die Banken versichern aber immer wieder, dass es nahezu unmöglich sei, diese Code-Wörter herauszubekommen. Bei Computern liegt ein großer Nachteil in der Gefahr, dass so genannte Viren, also digitale Störprogramme, über die Internet-Verbindung Eingang in den Computer des Benutzers finden. Diese Viren können große Schäden anrichten, sie können z.B. wichtige Daten oder Programme löschen. Jeder Computerbesitzer, der schon einmal einen solchen Virus auf der Festplatte hatte, weiß, welche Probleme mit der Wirkung, Erkennung und Beseitigung verbunden sind. Allerdings gibt es auch Schutzprogramme, die das Das Angebot des Internets kann auch jugendgefährdend seil, weil die angebotene Vielfalt Jugendlichen ohne Schwierigkeiten Zugang zu extremistischem Gedankengut oder zu Pornografie gestattet. Man braucht nur das Wort „Pornografie“ in eine Suchmaschine einzugeben und bekommt dann alle möglichen Angebote aufgelistet. Der Anbieter will zwar immer das Alter und die Adresse des Benutzers 92 ohne den virtuellen Internet-Kontakt verbringen möchte. Wenn die neuen Medien derart missbraucht werden, stellt sich der größte Nachteil ein: Man investiert viel Geld und Zeit. Jede Stunde, die man mit dem „Surfen“ im Internet verbringt, kostet neben den Telefon- auch Nutzungsgebühren von bis zu drei Euro, sodass im Monat schnell einige Hundert Euro zusammenkommen. Zudem kommt, dass man dadurch soziale Kontakte vernachlässigt, wenn man dauernd in einer virtuellen Welt agiert. Die Folge davon ist, dass Freundschaften oder auch Familien auseinanderfallen, weil der Einzelne vor lauter „Multimedia“ nicht mehr bereit ist, für diese Beziehungen Zeit aufzubringen. Dies ist wohl der schwer wiegendste Nachteil der neuen Technologien. wissen, um den Zugang zu bestimmten Seiten nur Volljährigen zu gestatten; dieses Vorgehen bietet aber keinen wirklichen Schutz der Jugendlichen, da es leicht zu umgehen ist. Hier könnte nur ein striktes Verbot solcher jugendgefährdenden Inhalte helfen. Auf Grund der Unüberschaubarkeit des Internets wäre die Einhaltung eines solchen Verbots aber kaum zu kontrollieren. Das Problem der Kontrolle stellt sich auch bei der Schwierigkeit, die angebotenen Informationen zu verifizieren. In einem Spiegel-Artikel stand z.B. vor kurzem, dass so genannte „NetzMythen“, also erfundene Geschichten, im Internet kursieren. Viele haben dann vergeblich versucht, diese im Wust der Adressen und Angebote zu finden. Internet, „Multimedia“ und digitales Fernsehen bieten dem Konsumenten eine große Menge an Informationen an, die er vielleicht oder besser: mit Sicherheit gar nicht benötigt. Auf Grund der Überfülle von Angeboten ist das Ganze für den Benutzer unüberschaubar und verwirrend. Die richtige Auswahl aus dieser Fülle zu treffen, dürfte den meisten sehr schwer fallen. Seriöse Angebote sind nicht auf Anhieb von unseriösen Offerten zu unterscheiden; Hinterlist und Betrug erkennt man nicht auf den ersten Blick. Diesen Nachteilen stehen jedoch zahlreiche Vorteile gegenüber. Zunächst ist der Unterhaltungswert der neuen Medien sehr hoch einzuschätzen. Die Vielzahl von Programmen, die beispielsweise das digitale Fernsehen bietet, ist ein Garant dafür, dass der Konsument immer etwas zu seinem jeweiligen Bedürfnis Passendes findet. Auch im Internet findet sich eine Menge Unterhaltungsangebote auf Musikseiten oder in so genannten „chat-groups“; diese sind Gesprächskreise, in denen über eine Vielzahl aktueller Themen diskutiert wird. Beim Stichwort „Unterhaltung“ darf man natürlich die Computerspiele nicht vergessen, die im Internet jederzeit bequem greifbar sind. Dies bringt uns zum nächsten Vorteil: Das Internet bietet Zugang zu kostenlosen „Shareware-Programmen“. Diese Programme kann man sich auf den eigenen Computer kopieren und nutzen. Besonders Spiele werden gerne auf diese preiswerte Weise ausprobiert. Man kann aber auch besondere Versionen hochwertiger Anwendersoftware, wie z.B. Bildbearbeitungsprogramme, auf die beschriebene Weise erhalten. So kann Ein weiteres Problem, das diese neuen Technologien mit sich bringen, ist die Suchtgefahr. Die Verbreiterung der Informationsbasis bedeutet auch, dass man sich länger mit dem Computer und dem Fernsehen beschäftigt. Die Vielzahl der Spiele beispielsweise, die im Internet - häufig kostenlos - greifbar sind, verleiten dazu, immer mehr davon auszuprobieren. Es gibt bereits Spiele - ein Beispiel dafür ist das Abenteuerspiel „Quake“ -, die man im Internet mit Spielpartnern aus der ganzen Welt spielen kann. Die Folge davon ist, dass man regelrecht abhängig werden kann und keinen Tag 93 der Benutzer Geld sparen, aber auch Zeit, die er aufwenden müsste, um das Programm in einem Geschäft käuflich zu erwerben. übermitteln. Dass E-Mail noch dazu sehr viel billiger ist als die normale Briefpost, kommt als weiter bedeutsamer Vorteil hinzu. Sehr viel Zeit spart man auch beim so genannten „online-banking“. Man führt seine Bankgeschäfte einfach vom häuslichen Schreibtisch aus und erspart sich dadurch den Weg zur Bank, um beispielsweise eine Überweisung abzugeben. Unterhaltend kann auch das Surfen im Internet sein. Es ist spannend, neue Adressen zu entdecken und auszuprobieren, neue Kontakte zu knüpfen oder Informationsquellen zu erschließen. Für den Benutzer eröffnet diese virtuelle Welt auch die Möglichkeit, herkömmliche Schranken gesellschaftlicher Konventionen außer Acht zu lassen, wenn er z.B. unter falschem Namen seine ganz persönliche Meinung zu einem bestimmten Thema äußert. Natürlich hat diese Möglichkeit auch negative Seiten, wenn z.B. An bieter von Kinderpornografie ihre Machwerke problemlos im Internet veröffentlichen können. Glücklicherweise gibt es aber bei der Polizei Arbeitsgruppen, die einen solchen Missbrauch des weltweiten Datennetzes zu verhindern suchen. Ein wichtiger Vorteil der modernen Medien liegt darin, dass Jugendliche auf Grund der oben genannten Vorteile, z.B. auf Grund des Unterhaltungswertes, frühzeitig an den Umgang mit ihnen gewöhnt werden. Wenn jemand beispielsweise seine eigene Homepage im Internet veröffentlichen möchte, lernt er mit dieser Motivation spielerisch den Umgang mit dem Computer und die Erstellung von Programmen. Diese Erfahrung kann im späteren Berufsleben große Vorteile bringen. Internet, „Multimedia“ und digitales Fernsehen liefern schnell eine Fülle von Informationen, nach denen man normalerweise lange und kostenintensiv recherchieren müsste. Ein gutes Beispiel ist der „newsticker“ im Internet, der ständig aktualisiert die neuesten Pressemeldungen veröffentlicht. Diese Meldungen sind von hoher Aktualität, die weder vom Radio noch vom Fernsehen mit ihren festen Sendezeiten überboten werden kann. Das digitale Fernsehen bietet dem Zuschauer sogar die Möglichkeit, gleichzeitig unterschiedliche Perspektiven, z.B. bei einem Formel-IRennen, zu wählen. Der Umfang dieser Information übertrifft sogar den des Zuschauers, der vom Streckenrand aus das Rennen verfolgt. Wir haben gesehen, dass die Vorteile der neuen Medien vor allem im Bereich der Informationsübermittlung und der Kommunikation die Nachteile überwiegen. Der Ausbau dieser Technologie bedeutet im Übrigen einen wichtigen Standortvorteil für die Bundesrepublik Deutschland. Durch ISDN und neue Kabelsysteme ist das Internet als Bestandteil der Infrastruktur ein wichtiger Vorteil, wenn es um die Frage der Wettbewerbsfähigkeit geht, da sich mit dem Internet neue Märkte erschließen lassen. Auch „Multimedia“ schafft neue Arbeitsplätze und trägt damit zur sozialen Stabilität und zur Zukunftsfähigkeit des Landes bei. Der letzte und wichtigste Vorteil der neuen Technologien besteht in den wesentlich verbesserten Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten. Wenn man den E-Mail-Service nutzt, stellt man fest, dass man im Vergleich zum herkömmlichen Brief wesentlich mehr schreiben kann und dass die Laufzeit der elektronischen Post nur einen Bruchteil des „normalen“ Briefes beträgt. Außerdem kann man durch Anhängen von Dateien auch große Datenmengen schnell Trotz aller Vorteile, die jeden schnell überzeugen können, darf nicht ver94 gessen werden, dass der Umgang mit den neuen Technologien auch Gefahren mit sich bringen kann. Um diese Nachteile zu minimieren und die Vorteile optimal zu nutzen, sollte der Benutzer diese Medien verantwortungsvoll für sich in Anspruch nehmen. Ein verantwortlicher Umgang setzt weitreichende Kenntnisse hinsichtlich der Medien, ihrer Möglichkeiten, Vorteile und Gefahren voraus. Um diese Kenntnisse zu erlangen, muss sich der Benutzer theoretisch und praktisch mit diesen Medien auseinandersetzen. Für die praktische Seite gibt es etliche Angebote, z.B. an den Volkshochschulen; die theoretischen Kenntnisse können im Freundeskreis oder durch Fachliteratur gewonnen werden. Nur wer die Vorteile kennt, kann sie nutzen, nur wer die Gefahren kennt, kann sie vermeiden. Letztlich ist es aber immer die Selbstverantwortung des Einzelnen, die Umgang und Nutzung bestimmt. Ein solcher verantwortungsvoller Umgang mit den neuen Medien kann z.B. schon in der Schule im Rahmen der Medienerziehung gelernt werden. Hier kann jeder Schüler seine ersten Erfahrungen mit den modernen Medien machen und deren Möglichkeiten kennen lernen. Weil die neuen Technologien in unserer Gesellschaft große Bedeutung zukommt, sollten in der Schule noch mehr Anstrengungen unternommen werden, der Medienerziehung einen größeren Raum im Lehrplan einzuräumen. Nur so können die Chancen, die diese Medien bieten, auch wirklich genutzt werden. Aufgabe: Überprüfen Sie die Argumentationen. Prüfen Sie, ob die Synthese den Erfordernissen genügt. Bewerten Sie den Aufsatz und begründen Sie Ihr Urteil. ___________________________________________________________________ ___________________________________________________________________ ___________________________________________________________________ ___________________________________________________________________ ___________________________________________________________________ ___________________________________________________________________ ___________________________________________________________________ ___________________________________________________________________ ___________________________________________________________________ ___________________________________________________________________ 95 ___________________________________________________________________ ___________________________________________________________________ ___________________________________________________________________ ___________________________________________________________________ 96 Schriftliche Kommunikation 1. Das Protokoll Wie schreibe ich ein Protokoll? Beispiel eines Stundenprotokolls 2. Das Referat (Methodik) Thesenpapier erstellen Präsentation des Referats Vom Schriftlichen zum Mündlichen 3. Die Facharbeit 4. Kreatives und produktionsorientiertes Schreiben 4.1. Aufwärmübungen 4.2. Schreiben mit allen Sinnen 4.3 Paralleltexte schreiben 4.4. Arbeit an manipulierten Texten 4.5. Einen Essay schreiben 97 98 100 101 102 106 107 109 110 111 112 113 114 118 122 1. Das Protokoll Es gibt kaum ein Ereignis von öffentlicher Bedeutung, bei dem nicht ein Protokoll angefertigt wird. Protokolle haben - das unterscheidet sie von anderen Berichten - dokumentarischen Charakter; im Falle einer Beschwerde oder eines Einspruchs (einer Revision bei Gericht) greift man auf sie zurück. Dem Protokollanten wird deshalb eine besondere Sorgfaltpflicht auferlegt. Das Protokoll hat die Aufgabe, den Verlauf und die Ereignisse von Veranstaltungen in allen Bereichen festzuhalten. Gerichts-, Bundestags-, Landtags- und Ratssitzungen werden im Allgemeinen in ihrem gesamten Wortverlauf fixiert. In den meisten anderen Fällen - vom Protokoll einer Vorstands-, Gewerkschafts-, einer Ausschuss-, Schulkonferenz- bis hin zur Taubenzüchtervereinssitzung - wird man sich auf die Wiedergabe des Wesentlichen beschränken. Abgesehen vom wörtlichen Protokoll (vgl. Parlaments- oder Gerichtsprotokoll), das die Teilnehmeräußerungen in direkter Rede festhält, beschränken sich die anderen Protokollformen auf eine mehr oder weniger - verkürzte neutrale Wiedergabe der Redebeiträge. Unter Verwendung der indirekten Rede (Konjunktiv) werden die wichtigsten Argumente der Beteiligten dokumentiert. Protokolle werden entweder im Präsens (die allgemeine Form) oder im Präteritum abgefasst. Man unterscheidet drei Formen des Protokolls: 1. das Verlaufsprotokoll (Es skizziert den Verlauf der betreffenden Veranstaltung; es nennt die Abfolge der Tagesordnungspunkte, den wesentlichen Inhalt der einzelnen Wortbeiträge, Thesen und Argumente zu den einzelnen Punkten, Zwischenergebnisse und Ergebnisse, Beschlüsse usw.) 2. das Ergebnisprotokoll (Es ist die knappere Form eines Protokolls, in dem nur die zur Beratung vorliegenden Punkte und entsprechende Beschlüsse festgehalten werden) 3. das Gedächtnisprotokoll (Es wird nachträglich aus dem Gedächtnis angefertigt und erfasst meist nur die wesentlichen Aspekte) Form des Protokolls Die äußere Form des Protokolls ist genormt. Am Anfang des Berichtes werden angegeben: Welche Besprechung, Veranstaltung, Unterrichtsstunde usw. protokolliert wird Wann die Besprechung ... stattgefunden hat (Anfang und Ende der Sitzung) Wo die Besprechung ... stattgefunden hat Wer dabei anwesend war, wer gefehlt hat, ggf. auch warum Name des Leiters, Vorsitzenden ... Name des Schriftführers, Protokollanten Tagesordnung 98 Die endgültige Form des Protokolls umfasst dann folgende Angaben: Rahmen und Zeit, Ort, Anwesende, Fehlende, Vorsitz bzw. Leitung Thema und Tagesordnung, behandelte Unterlagen, Texte Verlauf (nur beim Verlaufsprotokoll) Ergebnisse Name und Unterschrift des Protokollanten Beispiel: Protokoll über die Sitzung des Bauausschusses der Stadt D. am 17.2.1995 Ort: D., Kleiner Sitzungssaal des Rathauses Anwesende: der Vorsitzende des Bauausschusses, Herr Dimmer (CDU), sieben stimmberechtigte Mitglieder der Fraktionen im Rathaus, sieben beratende Mitglieder (die Personen werden meist einzeln namentlich und mit Parteizugehörigkeit genannt) und Herr Baudirektor Wohlfahrt. Tagesordnung: 1. Anerkennung der Tagesordnung 2. Genehmigung des Protokolls über die Sitzung am 16.1.1995 3. Bericht der Verwaltung zum Antrag der Fa. Mannsteufel auf Abriss der Häuser Nr. 5 bis 11 in der Mannsteufelstraße und auf Genehmigung des Baus eines 15-stöckigen Verwaltungsgebäudes an gleicher Stelle. Drucksachen-Nr. 3/052/95 4. Aussprache und Beratung Beginn: 18.00 Uhr Zu 1. Der Vorsitzende begrüßt Herrn Baudirektor Wohlfahrt und alle ordentlichen und beratenden Mitglieder des Ausschusses. Die Tagesordnung wird einstimmig anerkannt. Zu 2. Das Protokoll über die Sitzung vom 16.1.1995 wird einstimmig genehmigt. Zu 3. Herr Baudirektor Wohlfahrt trägt den Antrag der Fa. Mannsteufel auf Abriss der vier Jugendstilhäuser in der Mannsteufelstraße und auf Bau eines 15-stöckigen Verwaltungsgebäudes an gleicher Stelle vor. Er verweist auf die besonderen Verdienste der Fa. Mannsteufel um die Stadt D., die sich ja schon in der Benennung der Straße nach der Fa. bekunde. Er macht darauf aufmerksam, dass die Fa. M. im Falle einer Nichtgenehmigung des Bauprojekts ihre Verwaltung in die Nachbarstadt R. auslagern werde. Die Verwaltung mit ihrem Oberstadtdirektor an der Spitze, in dessen Auftrag er spreche, bedaure zwar außerordentlich den Verlust der unter Denkmalschutz stehenden Jugendstilhäuser, der Verlust würde jedoch ausgeglichen durch den hervorragenden Entwurf des namhaften Architekten Gero Modersohn, sodass ein architektonisch mindestens ebenbürtiges Gebäude von exemplarischer Modernität an gleicher Stelle entstehe. Im Übrigen verweist er darauf, dass Denkmalschutz in NRW keine verbindliche Rechtsnorm darstelle. Im Anschluss daran erläutert er am Baumodell die besonderen Vorzüge des Entwurfs. Zu 4. Herr Dimmer dankt Herrn Baudirektor Wohlfahrt für seinen anschaulichen Bericht und verweist darauf, dass der Stadt ein Schaden in Millionenhöhe an Gewer99 besteuer entstehe, wenn die Fa. Mannsteufel ihre Verwaltung in die Nachbarstadt auslagere. Herr Lautklein (SPD) beklagt zwar die erpresserische Drohung der Fa. M., ihre Verwaltung verlegen zu wollen, sieht aber im Interesse der Stadt keine Möglichkeit, das Projekt zu verweigern. Im Übrigen sei der architektonische Wert der Jugendstilhäuser zweifelhaft. Frau Fallbein (Bü 90/Grü.) lehnt aus grundsätzlich demokratischen Erwägungen und aus ökologischen Bedenken (Veränderung der Thermik durch den Hochbau) den Antrag ab. Stilistisch sei der Entwurf „postmoderne Kacke“. Nach weiterer Aussprache empfiehlt der Bauausschuss (Stimmenverhältnis 9 zu 3 bei drei Enthaltungen) dem Rat der Stadt D. dem Bauvorhaben zuzustimmen. Ende der Sitzung: 19.45 Uhr Der Protokollführer (Unterschrift) Der Vorsitzende (Unterschrift) Während Ihrer Schulzeit begegnet Ihnen vor allem das Stundenprotokoll, das Protokoll einer Unterrichtsstunde, das meist für alle Schüler der Klasse bzw. des Kurses kopiert wird. So bekommen alle die Ergebnisse einer Stunde in die Hand. Das Stundenprotokoll ist zumeist ein Ergebnisprotokoll. Allerdings kann es bei ganz wichtigen Unterrichtsstunden auch sinnvoll sein, um beispielsweise den Verlauf einer Diskussion zu dokumentieren, die einzelnen Stationen dieser Diskussion zu nennen. Deshalb sollten Sie sich, wenn Sie ein Protokoll schreiben sollen, immer erst erkundigen, ob ein Ergebnis- oder ein Verlaufsprotokoll erwartet wird. Wie schreibe ich ein Protokoll? 1. Mitschrift : Entscheidend für die Qualität eines Protokolls ist eine vernünftige Mitschrift des Unterrichtsgeschehens. Dazu verwenden Sie am besten große Blätter (Din A 4); diese sollten Sie in der Mitte falten. Die linke Hälfte benutzen Sie dann für die Mitschrift im Unterricht, die rechte Hälfte ist reserviert für Nachträge. Nummerieren Sie die einzelnen Schritte des Verlaufes! Wichtige Wortbeiträge sollten Sie möglichst im Wortlaut festhalten und ggf. mit dem Namen des Sprechers versehen. 2. Entwurf : Zunächst sollten Sie eine Gliederung anfertigen. Beim Verlaufsprotokoll: Chronologische Reihenfolge nach den Tagesordnungspunkten (TOP) und innerhalb der TOPs nach Aspekten auswählen Beim Ergebnisprotokoll: Innerhalb der TOPs nach Zusammenhängen, nicht nach chronologischem Ablauf ordnen Stil: Berichtstil ohne persönliche Anteilnahme; nur Wichtiges in der direkten Rede; in der Regel die indirekte Rede benutzen; Passivkonstruktionen verwenden; Tempus: in der Regel im Präsens (Präteritum ist auch möglich) 3. Reinschrift Die Reinschrift erfolgt in der schon genannten, für Protokolle genormten Form. 100 Beispiel: Stundenprotokoll Kurs: Grundkurs Deutsch 12 Fachlehrerin: Frau Schmidt Zeit: Monatag, den 24.4.2000, 3.Stunde (10.00 - 10.45 Uhr) Rahmenthema: Liebeslyrik Stundenthema: Erschließung des Gedichtes „Entdeckung an einer jungen Frau“ Textgrundlage: Bertolt Brecht: „Entdeckung an einer jungen Frau“ Protokollantin: Lena Schröder I. Besprechung der Hausaufgabe Welche Konzepte von Liebe habe wir bisher kennen gelernt? - Liebe als zerstörerische Gewalt - Liebe als unendliche Harmonie - Liebe als besitzergreifende Macht II: Einstieg Lehrerin teilt Arbeitsgruppen Gedichtschnipsel des o.g. Textes aus Gruppen versuchen Gedichtfassungen zu erstellen Gruppen stellen ihre Versionen vor und begründen sie (bis auf eine Gruppe legten alle den Originaltext) Begründungen: Reim, Zeichensetzung, Großschreibungen, Textentwicklung III. Besprechung der Brecht - Fassung - Situation: Mann will Frau nach einer Liebesnacht morgens verlassen, er bleibt aber aus Mitleid noch etwas bei ihr - Aufbau: 2 Quartette, 2 Terzette (also Sonett) Quartette: Aufbau der Situation Terzette: Begründung für das Bleiben, wörtliche Rede - Wortwahl: Adjektive / Adverbien: „kühl“ (2x), „nüchtern“, „unumwunden“; keine Liebesstimmung, eher sachlich (nur körperliche Liebe); Widerspruch: „junge Frau“ - „graue Strähne“ (Zeit des Übergangs); auch temporal ein Übergang: „zwischen Tür und Angel“ (nicht auf Dauer angelegt) - lyrisches Ich: ein Mann (?), der aus Mitleid bei der Frau bleibt, wird von seinem Trieb gesteuert (Begierde verschlägt ihm die Stimme); will Intensität der Liebe steigern; keine richtige Kommunikation mit der Frau; auf sich selbst konzentriert - Reim: abab; cddc; efg; efg; (untypisch für Sonett, Verbindung Alt - Neu IV. Hausaufgabe Halten Sie schriftlich fest, welches Konzept von Liebe in diesem Gedicht dargestellt wird. Unterschrift: (der Lehrerin) 101 Anhang zum Stundenprotokoll Bertolt Brecht: Entdeckung an einer jungen Frau Des Morgens nüchterner Abschied, eine Frau Kühl zwischen Tür und Angel, kühl besehn. Da sah ich: eine Strähn in ihrem Haar war grau Ich konnt mich nicht entschließen mehr zu gehen. Stumm nahm ich ihre Brust, und als sie fragte Warum ich Nachtgast nach Verlauf der Nacht Nicht gehen wolle, denn so war’s gedacht Sah ich sie unumwunden an und sagte: Ist’s nur noch eine Nacht, will ich noch bleiben Doch nütze deine Zeit; das ist das Schlimme Dass du so zwischen Tür und Angel stehst. Und lass uns die Gespräche rascher treiben Denn wir vergaßen ganz, dass du vergehst. Und es verschlug Begierde mir die Stimme. 2. Das Referat Referat nennt man einen Vortrag über ein klar begrenztes Thema. Sachverhalte sollen dargestellt, Zusammenhänge verdeutlicht und Ergebnisse herausgestellt werden. Referate bedürfen eingehender Vorbereitung und straffer Gliederung. Die Einleitung sollte so fesselnd sein, dass die Adressaten neugierig werden und Lust auf das Thema bekommen. Der Mittelteil muss methodisch klar und logisch aufgebaut, verständlich in der Abfolge und deutlich zielgerichtet sein. Überzeugende Argumentationen und klare Zusammenfassungen von Ergebnissen sind hier besonders wichtig; denn die Adressaten sollen ja in ihren Gedanken "geführt" werden. 2.1. Arbeitsschritte Zunächst kommt es darauf an, Thema und Aufgabe genau zu analysieren: Was ist genau verlangt? Zu welchen Ziel soll das Ganze führen? Als erste Herangehensweise bietet sich die genaue Erfassung der Begriffe an, die in der Themenstellung erscheinen. Die Definition des/der tragenden Begriffs/e hilft, die Bearbeitung des Themas klar einzugrenzen. Der arbeitstechnische Vorgang zur Erstellung des Referats lässt sich insgesamt grob in fünf Arbeitsschritte gliedern: 102 1. Stoffermittlung 2. Stoffsammlung 3. Stoffverarbeitung 4. Ausarbeitung 5. Präsentation 2.1.1. Die Stoffermittlung Welcher Stoff ermittelt werden soll, hängt natürlich vom Thema ab. Das Thema gibt vor, in welcher Hinsicht Sachwissen verlangt wird. Es kommt hierbei darauf an, sich sachkundig zu machen, und das bedeutet: sich Literatur zu verschaffen. Das geschieht in zwei Schritten: Zunächst muss geschaut werden, wo und wie überhaupt Literatur zum Thema gefunden werden kann. Dazu bieten sich an: Konversationslexika, Fachlexika, Fachlehrbücher, Handbücher, Dissertationen, Bibliographien, Verfasserkatalog, Sachkatalog bzw. Schlagwortkatalog. Hier finden sich Autoren und Werke, die für die Auseinandersetzung mit dem gegebenen Thema notwendig sind. Das Ergebnis dieses Schrittes ist dann eine Literaturliste jener Autoren und Werke. Ein Referat kann am günstigsten in einer Bibliothek erstellt werden, weil dort gemäß der Literaturliste ein sog. "Handapparat" aufgebaut werden kann, also alle benötigte Literatur unmittelbar verfügbar gemacht werden kann. Die gewählte Literatur muss sog. Standardwerke genauso berücksichtigen wie die aktuellsten, neusten Publikationen (z.B. Aufsätze in Zeitschriften). 2.1.2. Die Stoffsammlung Die Stoffsammlung vollzieht sich in zwei Schritten: a) Durcharbeiten der gewählten Literatur, b) schriftliches Festhalten von Informationen. Das Durcharbeiten der Literatur setzt eine bestimmte Lesetechnik voraus. Die gründliche Bearbeitung sollte durch Unterstreichen, Markieren, Randbemerkungen u.ä. erfolgen. Das Gelesene und Erarbeitete muss immer wieder in Hinblick auf das Referatthema durchdacht werden, so dass Wesentliches von Unwichtigem sogleich getrennt werden kann. Nach der Bearbeitung eines Textes sollte der Inhalt schriftlich festgehalten werden, vielleicht stichwortartig und mit Seitenvermerk. Am besten arbeitet man bei der Stoffsammlung mit einem Karteikastensystem. So kann die verwendete Literatur übersichtlich und für die Verarbeitung zugriffbereit aufbereitet werden. Neben den eigenen Stichwörtern oder schon formulierten Sätzen können auf den Karteikarten auch Exzerpe, Konspekte, Zitate u.ä. gesammelt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch ein Ordnungssystem für die Karteikarten; es empfiehlt sich eine Ordnung nach Schlag- bzw. Stichwörtern. 103 2.1.3. Die Stoffverarbeitung Verarbeitet wird der Stoff in zwei Arbeitsschritten: Gliederung schriftliche Ausarbeitung Die Gliederung sollte das Thema übersichtlich darstellen, die Entfaltung des Themas methodisch stringent vorzeichnen, die einzelnen Aspekte und Schritte in logischer Reihenfolge verbinden und das Wesentliche zielgerichtet herausstellen. Generell kann man sagen, dass die Gliederung eines Referats vier Punkte umfasst: 1. Die Einleitung Sie wendet sich an die Adressaten und führt diese in die spezielle Thematik bzw. Problematik ein und gibt einen Gesamtüberblick über das Referat (Ziel, Absicht, Vorgehensweise). 2. Der erste Hauptteil Er liefert die Darstellung des Sachverhalts, d.h., hier werden die Aussagen und Positionen der Fachliteratur zum Thema vorgestellt. Unterschiedliche Aspekte und Argumentationen sowie der aktuelle Stand der Diskussion bzw. in der Wissenschaft sollen dargeboten werden. 3. Der zweite Hauptteil In ihm erfolgt die Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Positionen und Argumentationen. Diese erfolgt in der Form der kritischen Prüfung, also in Form der Pro- und Contra-Argumentation. Hierbei ist der eigene sachliche Standpunkt zum Thema und Problem Grundlage und Ergebnis der Prüfung. Dieser Schritt ist der wichtigste in einem Referat; er besteht also aus zwei Punkten: a) Pro- und Contra-Argumentation hinsichtlich der vorhandenen Positionen, b) die argumentativ entwickelnde Darstellung der eigenen Position. 4. Der Schluss Er bietet Raum für eine Zusammenfassung, für Schlussfolgerungen und für einen Ausblick. Hier kann auch Persönliches zum Thema geäußert oder auf der Grundlage der Kenntnisse Wünschenswertes ausgesprochen werden. Ist die Gliederung, also das Gerüst des Referats, erstellt, sollte man die Karteikarten nach den Hauptgesichtspunkten dieser Gliederung ordnen. So kann man sich schnell einen Überblick über das gesamte Material, das ja eingearbeitet werden soll, verschaffen und auch schnell feststellen, wo noch Lücken bestehen. 2.1.4. Schriftliche Ausarbeitung Stoffsammlung und Gliederung bilden die Grundlage für die schriftliche Ausarbeitung. Hierbei kann es sich als hilfreich erweisen, wenn man vor der Niederschrift eines Abschnittes die vorgesehene Gedankenfolge detailliert in Stichwörtern festhält. So lassen sich leicht logische Stringenz und die inhaltliche Überzeugungskraft des 104 Darzustellenden überprüfen. Je detaillierter und präziser die Vorarbeiten gemacht werden, um so leichter und schneller kann die schriftliche Darstellung erfolgen. Wichtig hierbei ist auch das korrekte Zitieren von übernommenen Aussagen bzw. eine genaue Zitier- und Nachweistechnik. (siehe Anhang: Zitieren) Die Reinschrift besteht aus folgenden Elementen: Titelblatt (Schule, Kurs, Thema, Datum) Inhaltsverzeichnis (mit Seitenzahlen) Einleitung - Hauptteile - Schluss (Zusammenfassung) Literaturverzeichnis (alphabetisch) 2.1.5. Präsentation vorbereiten 2.1.5.1. Stichwortzettel Der Stichwortzettel (auch als Mindmap) dient beim freien oder halbfreien Vortrag eines Referates als Wegweiser und Gedächtnisstütze. Auf dem Stichwortzettel sollen die wesentlichen Aussagen, am besten unter Oberbegriffen oder Überschriften geordnet, in ihrer gedanklichen Anordnung notiert werden. Pfeile, Symbole usw. verdeutlichen den Gedankenablauf. Ein verbindliches Muster kann für einen Stichwortzettel nicht festgelegt werden, aber ein paar Tipps können hilfreich sein: Stichwörter und ggf. Gliederung des Referates groß und übersichtlich notieren, d.h., Blätter nur einseitig beschriften / drucken und durchnummerieren Zusammenhänge, Gelenkstellen etc. handschriftlich mit Unterstreichungen oder Textmarkern, computergestützt mit verschiedenen Formatierungen (Schriftarten, Zeichengröße, Fett- und Kursivdruck) hervorheben bei handschriftlichen Verbesserungen nicht durchstreichen oder dazwischenschreiben, sondern überkleben oder neues Blatt anfertigen 2.1.5.2. Hilfsmittel / Medien Wenn beim Vortrag bestimmte Hilfsmittel eingesetzt werden sollen, muss zunächst geklärt werden, ob sie für den Zeitpunkt der Präsentation verfügbar sind. Wenn dies der Fall ist, werden die entsprechenden audiovisuellen Materialien (z.B. Folien) angefertigt, die in Frage kommen bzw. sich anbieten. Besonders sorgfältig sollte überlegt werden, welche und vor allem wie viele Medien wann und zu welchem Zweck eingesetzt werden sollen. Hierbei sollten Sie bestrebt sein, beide Hirnhälften der Zuhörer anzusprechen und möglichst viele Kanäle bzw. Lernwege zu benutzen. Wenn die zum Einsatz kommenden Mittel bestimmte Räumlichkeiten bzw. Sitzordnungen verlangen (z.B. freier Blick auf eine Projektionsfläche, einen Bildschirm oder Tafel), müssen diese äußeren Rahmenbedingungen in die Überlegungen zur Präsentation des Referates mit einbezogen werden. 105 2.1.5.3. Visualisieren Überlegen Sie, welche Teile bzw. Inhalte des Referats visualisiert werden sollen. Die Visualisierung sollte Ihren Vortrag unterstützen und nicht umgekehrt (Gefahr bei Power-Point-Präsentationen). Deshalb sollten Sie genau planen, was Sie wozu einsetzen wollen. Ihr Vortrag sollte keine Multimedia-Show werden. Sie sollten Ihr Publikum nicht mit einem Überangebot an Medien überfordern. Der gezielte Einsatz, z.B. bei wichtigen Passagen Ihres Referats, ist am wirkungsvollsten. Sie können folgende Möglichkeiten wählen: Tafel Power Point -Präsentation Fernseher / Videorekorder Folien CD - Player Mind - Maps Kassettenrekorder Bilder und Fotos Laptop Plakate und Collagen Beamer Modelle Overhead - Projektor Wandkarten Flippchart Musik, Sprechtexte Pinnwand 2.1. 5.4. Thesenpapier erstellen Das Thesenpapier (Handout, Tischvorlage) erleichtert den Zuhörern die Konzentration auf Ihren Vortrag. Es enthält die wichtigsten Stichpunkte zum Thema, sodass die Zuhörer (Mitschüler) nicht oder nur wenig mitschreiben brauchen. Berücksichtigen Sie bei der Erstellung des Thesenpapiers: Das Thesenpapier sollte maximal eine bis zwei Seiten umfassen und sechs bis zehn Thesen umfassen. Im Thesenpapier sind themenspezifische Auffassungen, Behauptungen und Ergebnisse des Referats so prägnant und gebündelt darzustellen, dass sie den „roten Faden“ des Vortrags verdeutlichen. Die Informationen sollten strukturiert, präzise und verständlich sein. Das Thesenpapier sollte übersichtlich und großzügig angelegt sein (Platz lassen für eventuelle Notizen!). Das Thesenpapier enthält Angaben zum Zeitpunkt des Referats (Datum und Uhrzeit), die Namen der beteiligten Schüler und das Thema. Beispiel Thesenpapier zum Referat am .................... Uhrzeit ......................... Referent bzw. beteiligte Schüler: ........................................................................... Thema: Medizinische Experimente und ärztliche Verantwortung im Nationalsozialismus am Beispiel der Fleckfieberversuche im KZ Buchenwald Thesen: 1. Der Aufbau einer Fleckfieberversuchsstation im Konzentrationslager Buchenwald diente nicht dem Schutz der Bevölkerung, sondern war lediglich eine taktische Maßnahme im Rahmen der nationalsozialistischen Kriegsführung. 106 2. Die willkürliche Auswahl und verbrecherische Behandlung der Häftlinge entbehrten jeder medizinischen Grundlage. Die Ergebnisse der Versuche an den wehrlosen Häftlingen wurden vom nationalsozialistischen Staat, seinen medizinischen Forschungsinstituten und der kriegsunterstützenden Industrie zur Massenherstellung von Impfstoffen für den Einsatz an der Front genutzt. 3. Inhumane Infektionsmethoden zur Übertragung von Fleckfiebererregern bei der Erprobung von Impfstoffen verstärkten den grausamen und menschenverachtenden Charakter der Versuche, die im KZ Buchenwald von 1942 bis 1945 an Häftlingen vorgenommen wurden. 4. Die an den Häftlingen durchgeführten Versuche entsprachen in keiner Weise den Erfordernissen und Regeln medizinischer Forschung. Sie standen im vollen Widerspruch zum ärzlichen Ethos und stellten einen Verstoß gegen die Menschlichkeit dar. 5. Ziel der ärztlichen Tätigkeit sollte es sein, das Leid der Menschen zu lindern und Krankheiten zu heilen. Oberste Priorität ist der Erhalt des Lebens. Die Ärzte in den Konzentrationslagern handelten nicht nach diesem „hippokratischen Eid“. 6. Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg verurteilte 1946 im ersten sogenannten „Ärzteprozess“ 16 Mediziner in diesem Zusammenhang wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Die Anklageschrift gegen den Lagerarzt von Buchenwald, Waldemar Hoven, spiegelt die Verbrechen der verantwortlichen Ärzte im Rahmen der Durchführung von Fleckfieberversuchen in besonderer Weise wider. 7. Um eine Wiederholung solcher Verbrechen zu verhindern, wurde 1947 der „Nürnberger Ärztekodex“ formuliert, der seitdem als wichtige Grundlage für die Selbstverpflichtung von Wissenschaftlern zur Einhaltung forschungsethischer Normen gilt. 2.2. Die Präsentation des Referats Die Präsentation des Referats bedeutet nicht, die schriftliche Fassung vorzulesen oder zu referieren. Präsentation bedeutet, - ausgewählte Aspekte (Inhalte, Ergebnisse, Methoden) der Facharbeit - mit Blick auf die Zuhörer - unter Berücksichtigung der Begleitumstände (Zeit, Ort, technische Möglichkeiten) möglichst überzeugend, d.h. logisch strukturiert, anschaulich und gut nachvollziehbar vorzustellen. Im Unterschied zum schriftlichen Referat stehen bei der Präsentation die Zuhörer im Zentrum des Interesses. Mit Hilfe der folgenden Checkliste können Sie eine Zuhöreranalyse erstellen, um sich optimal auf die Adressaten einzustellen. Checkliste zur Präsentation Zeit Wie viel Zeit steht mir für die Präsentation zur Verfügung? Wie lange können und wollen die Zuhörer meinen Ausführungen folgen? Zuhörer Welches Vorwissen haben meine Zuhörer? 107 Welche Interessen haben sie? Was erwarten sie von mir? Wie kann ich die Zuhörer in meine Präsentation einbeziehen? Wie kann ich das Interesse am Zuhören wecken und aufrechterhalten? Inhalt und Umfang Was wähle ich aus? Was ist unbedingt wichtig? Welches Ergebnis, welcher Inhaltsaspekt, welche Methode ist außergewöhnlich, exemplarisch, typisch, übertragbar etc.? Welches Ziel verfolge ich mit meiner Präsentation? Wie baue ich meine Präsentation logisch strukturiert und gut nachvollziehbar auf? Form Mit welcher Darstellungsform kann ich meine Inhalte, Ergebnisse, Methoden und Ziele am eindruckvollsten und überzeugendsten vermitteln? Welche meiner Aussagen möchte ich visualisieren? Welche Präsentationsmedien unterstützen das Verständnis meiner Aussagen? Welche technischen Möglichkeiten stehen mir zur Verfügung? Bei der Präsentation sind Sie der Moderator; Sie moderieren Ihre eigene Präsentation, indem Sie - die Zuhörer begrüßen, - sich und Ihr Thema vorstellen, - auf Vorkenntnisse und Experten hinweisen, - den zeitlichen Ablauf bekannt geben, - das Interesse an Ihrer Präsentation mit einem motivierenden Einstieg wecken, - die Gliederung und Struktur der Präsentation deutlich machen, - Zwischenergebnisse formulieren, - auf zusätzliche Materialien verweisen, - auf Fragen der Zuhörer eingehen, - die Zuhörer ansprechen und einbeziehen, - Ergebnisse zusammenfassen, - offene Fragen und Problemstellungen benennen, - einen Ausblick geben, - für die Aufmerksamkeit danken. Wenn Sie solche Grundsätze der Moderation befolgen, stellen Sie sich nicht als Besserwisser dar, der andere von oben herab belehren will. Sie erscheinen eher als kompetenter Begleiter des Verstehensprozesses, den Ihre Zuhörer vollziehen. Die Zuhörer fühlen sich angesprochen und ernst genommen. Die Akzeptanz gegenüber Ihren Aussagen und Ihrer Person steigt dadurch. Zum Schluss noch einige Tipps: • • • Sprechen Sie möglichst frei oder stützen Sie sich auf Karteikarten mit Stichwörtern. Erstellen Sie einen Ablaufplan für Ihre Präsentation. Sprechen Sie deutlich und nicht zu schnell. Halten Sie Blickkontakt mit Ihren Zuhörern. 108 • Setzen Sie die Präsentationsmedien nur funktional ein. Aufwand und Nutzen sollen dabei in einem sinnvollen Verhältnis stehen. Veranstalten Sie auf keinen Fall einen „Medienzauber“; der lenkt nur von Ihren Anliegen ab. Exkurs: Vom Schriftlichen zum Mündlichen Ist das Referat erstellt, d.h. schriftlich formuliert, die Argumentationen ausgearbeitet und deren Reihenfolge festgelegt, erfolgt ein weiterer Schritt der Vorbereitung, nämlich die Abstimmung oder Umgestaltung der Schriftsprache für den mündlichen Vortrag. Das Ablesen der schriftlichen Rede wäre für die Hörer auf Dauer unerträglich, weil keiner so redet, wie man gemeinhin schreibt und die Rede einen unrealistischen Duktus bekäme. Ein Referat halten gehört wie die Rede, der Vortrag oder die Predigt zur konkreten mündlichen Kommunikation und muss sich, wenn sie wirken soll, dieser konkreten Situation anpassen. Und das bedeutet, dass nicht die Schriftsprache, sondern die Alltagssprache benutzt wird. Bei dieser Umgestaltung für den Vortrag sollte der Redetext auch dahingehend verändert werden, dass er anschaulich, eindringlich und spannend wird. Für diese Wirkungszwecke stellt die Sprache unendlich viele stilistische Möglichkeiten zur Verfügung: 1. Anschaulich wird ein Vortrag (oder Text) vor allem durch bildliches Sprechen (Metaphern), durch Vergleiche und Personifikationen. 2. Eindringlich wirkt ein Vortrag (oder Text) vor allem durch Wiederholungen, Anaphern, Übertreibungen und Gegenüberstellungen. 3. Spannung erreicht man am besten mit dem Satzbau (kurze Sätze, parallel gebaute Sätze, unvollständige Sätze) und mit Steigerungen. 4. Will man sein Publikum ab und an überraschen, dann setzt man Ironie, Wortspiele oder paradoxe Formulierungen ein. 5. Möchte man das Publikum direkt einbeziehen, dann bieten sich Anreden, rhetorische Fragen und Einschübe an. Beispiel: geschriebener Text Betrachten wir die Menschen bei einem Überfall, bei dem Zivilcourage gefordert wäre, so erkennen wir eine Mischung aus Wegschauen, Desinteresse, Verharmlosung und wortreichem Aktionismus; aber keiner tut wirklich was. gesprochener Text Aber was passiert wirklich, wenn beispielsweise Neonazis einen Ausländer überfallen? Am hellen Tage - mitten in der Fußgängerzone! Da ist die Gelegenheit für Zivilcourage. Aber - was passiert? Nichts! Die einen schauen weg. Andere wollen erst gar nichts gesehen haben. Wieder andere halten es für einen dummen Jungenstreich und gehen weiter. Und die, die zuschauen und genau wissen, was da geschieht, reden nur und quatschen. Sie haben hundert Vorschläge zur Hand, was getan werden müsste. Aber sie tun nichts, greifen nicht ein, helfen nicht. 109 3. Die Facharbeit Wie beim Referat geht es auch bei der Facharbeit um eine intensive Auseinandersetzung mit einem Thema oder Themenaspekt. Die Facharbeit dient dazu, grundlegende Fertigkeiten des wissenschaftlichen Arbeitens einzuüben, die für ein späteres Studium unabdingbar sind. Wir unterscheiden drei unterschiedliche Aufgabentypen: • die Literaturarbeit (hier geht es vorwiegend um die Bearbeitung von Primärund Sekundärliteratur wie z.B. bei dem Thema „Die Erfahrungen des 1. Weltkriegs in der Lyrik des Expressionismus“) • die empirische Untersuchung (hier geht es vorwiegend um die Auswertung eigener Erhebungen und Untersuchungen wie z.B. bei dem Thema „Das Leseverhalten von Kollegiatinnen und Kollegiaten an unserer Schule“) • die fächerverbindende Arbeit, die Themen und Methoden aus mindestens zwei Fächern kombiniert wie z.B. bei dem Thema „DADA in Kunst und Literatur am Beispiel von Texten von Kurt Schwitters und Hans Arp“ Die Themen der Facharbeit ergeben sich meist aus dem Unterrichtszusammenhang. Sie werden entweder vom Unterrichtenden vorgegeben oder von Ihnen selbst vorgeschlagen. Die methodischen Schritte, die das Erstellen einer Facharbeit erfordert, sind denen, die Sie beim Verfassen eines Referats kennengelernt haben, vergleichbar. Sie können folgendermaßen aussehen: 1. Erfassen des Themas (Schlüsselbegriffe klären, Überblick über Stoffgebiet Verschaffen, Vorwissen einbringen in Form eines Mind-Map) 2. Informationsbeschaffung (Nachschlagwerke, Internet, Primär- und Sekundärliteratur) 3. Materialauswertung (Sichtung und Auswertung von Texten durch Markieren, Exzerpieren, Zusammenfassen) Damit man bei diesem wichtigen Arbeitsschritt nicht die Übersicht verliert, sollte man eine sog. Materialkartei anlegen. Dabei werden die (farblich unterschiedlichen) Karteikarten mit Schlagwörtern beschriftet und sie enthalten dann z.B. Exzerpte, Zitate, Quellenangaben usw. 4. Gliederung erstellen (Abfolge der Aspekte festlegen, das logische Gerüst der Darstellung festlegen) 5. Einleitung und Schluss planen 6. Ausarbeitung und Reinschrift 110 Der formale Aufbau der schriftlichen Facharbeit sieht wie folgt aus: 1. 2. 3. 4. 5. 6. Titelseite Inhaltsverzeichnis / Gliederung Haupttext (Einleitung, Hauptteil, Schluss), evtl. mit Darstellungen / Bildern ggf. Anhang mit zusätzlichen Materialien Literaturverzeichnis Erklärung (mit Unterschrift), dass die Facharbeit ohne fremde Hilfe angefertigt worden ist und nur die im Literaturverzeichnis aufgeführten Hilfen und Quellen benutzt worden sind Die Präsentation der Facharbeit Die Präsentation der Facharbeit bedeutet nicht, die schriftliche Fassung vorzulesen oder zu referieren. Präsentation bedeutet, - ausgewählte Aspekte (Inhalte, Ergebnisse, Methoden) der Facharbeit - mit Blick auf die Zuhörer - unter Berücksichtigung der Begleitumstände (Zeit, Ort, technische Möglichkeiten) möglichst überzeugend, d.h. logisch strukturiert, anschaulich und gut nachvollziehbar vorzustellen. Lesen Sie hierzu die Ausführungen zur „Präsentation des Referats“. 4. Kreatives und produktionsorientiertes Schreiben Kreatives Schreiben dient dazu, Freude an Sprache und Schreiben zu gewinnen. Man probiert Gedichte, Geschichten oder kleine Szenen aus, nur zu dem Zweck, seine Schöpferkraft zu entfalten, Freude am Tun zu haben, Sensibilität für Wörter und Formen zu entwickeln. Dabei stellt sich vielleicht so etwas wie Bewunderung für Dichtung ein, weil man durch das eigene Tun erfährt, wie mit den Worten gerungen werden muss, bis sie ein literarisches Gefüge bilden. Sie sitzen beispielsweise in einer Gruppe von fünf Personen zusammen. Jeder sagt ein Wort. Nun schreibt jeder aus diesen fünf Wörtern den Anfang einer Geschichte. Nach fünf Minuten wird der Anfang in eine Richtung zum Nachbarn weiter gereicht. Ihr Nachbar rechts schreibt also Ihren Anfang weiter, Sie dagegen schreiben den Anfang Ihres Nachbarn zur Linken weiter. Alle fünf Minuten werden die Blätter nach rechts weiter gegeben. Im fünften Durchgang sollte man zu einer Art Schluss gelangen. Dieses Schreibspiel macht großen Spaß und kann auch zu Hause in der Familien- oder Freundesrunde durchgeführt werden. Das produktionsorientierte Schreiben kennen Sie schon aus dem Vorkurs. Produktives oder produktionsorientiertes Schreiben hat als Grundlage immer einen Text; denn produktives Schreiben meint eine besondere Form der Textinterpretation, 111 bei der nicht über den Text geschrieben, sondern in der Art und Weise des Textes. Man nähert sich dabei dem Text nicht von außen, sondern geht sozusagen in den Text hinein. D.h., beim produktiven Schreiben ist man selbst Autor/-in und produziert selbst. 4.1. Aufwärmübungen Treiben Sie Sport? Bevor das eigentliche Training beginnt, müssen Sie Ihre Muskeln erst aufwärmen, um das Risiko von Verletzungen zu meiden. Beginnen wir also auch beim Schreiben nicht direkt mit dem Roman, sondern mit kleinen Übungsformen, die Freude machen. Da Schreiben etwas Individuelles ist und etwas mit Ihnen zu tun hat, soll Ihr Eigenname im Zentrum der ersten Übung stehen. Sie sollen zwei Namenspiele kennen lernen, an denen Dichter schon seit der Antike ihre Freude hatten: das Akrostichon und das Anagramm. Bei den Formen danach (Haiku, Elfchen, Konkrete Poesie) handelt es sich um kleine Gedichte, die eine sehr strenge Form aufweisen, an der man sich am Anfang gut orientieren kann. 4.1.1. Akrostichon Schreiben Sie Ihren Namen senkrecht auf, pro Zeile einen Buchstaben. Zu jedem Buchstaben suchen Sie nun ein Wort, das zu Ihrer Persönlichkeit passt. Beispiel: Liebe Energie Natur Abenteuer Lena Erfindet Neue Abenteuer Lässt die Erde Nicht Alles - vergessen? 4.1.2. Anagramm Schreiben Sie alle Buchstaben, die in Ihrem Vor- und Nachnamen vorkommen, sortiert auf und bilden Sie daraus einen Fantasienamen. Beispiel: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (dt. Schriftsteller aus dem 17. Jh.) German Schleifheim von Sulsfort Samuel Greifnson von Hirschfeld 4.1.3. Elfchen Elfchen heißt diese Gedichtform, weil sie aus elf Wörtern besteht. Diese müssen in folgender Weise auf fünf Verse (Zeilen) verteilt werden: 1. Zeile: eine Eigenschaft (ein Wort) 2. Zeile: eine Person oder Sache, die diese Eigenschaft hat (zwei Wörter) 112 3. Zeile: Tätigkeit der Person oder Sache und / oder Ortsangabe (drei Wörter) 4. Zeile: weitere Informationen zu Person oder Sache (vier Wörter) 5. Zeile: Schluss (ein Wort) Beispiel: Grau der Himmel Regen fällt ununterbrochen Mein Herz trauert nach Sonnenschein 4.1.4. Haiku Diese Gedichtform stammt aus Japan. Ursprünglich wurden Naturerfahrungen verarbeitet. Auch hierbei ist die Verteilung, diesmal von Silben, streng geregelt: 1. Vers: fünf Silben 2. Vers: sieben Silben 3. Vers: fünf Silben Beispiel: Still liegt unser See Keine Wellen trüben ihn Kein Vogel singt hier 4.1.5. Konkrete (visuelle) Poesie Durch die räumliche Anordnung der Wörter entsteht eine visuelle Wirkung. Beispiel: 4.2. ordnung ordnung ordnung ordnung ordnung ordnung ordnung ordnung ordnung ordnung ordnung unordn g ordnung ordnung ordnung ordnung ordnung ordnung ordnung ordnung ordnung ordnung (aus: Ulrichs, Timm: ordnung unordnung) Schreiben mit allen Sinnen Es muss nicht immer ein Text sein, der als Schreibanlass oder Schreibimpuls dient. Außer über Ihren Sehsinn verfügen Sie noch über weitere, die leider in der Schule oft vernachlässigt werden. 113 Lassen Sie sich zum Schreiben auch von Ihren anderen Sinnen inspirieren. Dazu gibt es viele Möglichkeiten. Allerdings müssen Sie hier selbst Ihr Material suchen. Einige Anregungen: h Wählen Sie ein entspannendes, beruhigendes Musikstück aus. Vergessen Sie für einen Moment Techno, Rap, House Music oder was auch immer gerade „in“ ist. Greifen Sie zu einem klassischen Stück, vorzugsweise aus der Barockzeit (Bach, Vivaldi). Setzen Sie sich entspannt hin, vor sich ein leeres Blatt und einen Stift. Schalten Sie den CD - Player ein und schließen Sie die Augen. Hören Sie sich tief in das Stück ein, fühlen Sie sich ein. Die Assoziationen, die Ihnen nun kommen, notieren Sie nach dem Hören auf Ihr Blatt. Betrachten Sie Ihr Wortmaterial und überlegen Sie, ob sich daraus eine Geschichte, ein Gedicht oder sonst ein Text verfertigen lässt. Versuchen Sie’s einfach! h Suchen Sie einen Gegenstand aus, der Ihnen persönlich viel bedeutet, sei es ein Stein, den Sie während des Urlaubs am Strand gefunden haben, sei es ein Ring, den Ihnen ein lieber Mensch geschenkt hat, oder ähnliches. Nehmen Sie diesen Gegenstand in die Hand. Schließen Sie auch einmal kurz die Augen, um den Gegenstand nur zu fühlen. Welche Erinnerungen oder Assoziationen stellen sich ein? Verfahren Sie so, wie oben beschrieben. h Auch Ihr Geruchssinn und Geschmackssinn sollten einmal aktiviert werden. Suchen Sie einen riechenden Gegenstand (z.B. ein Lavendelsäckchen) oder essen Sie etwas Besonderes (z.B. ein Bonbon) und gehen Sie wie oben beschrieben vor. h Nun kommen wir doch noch einmal auf das Sehen zurück, aber anders, als Sie es gewohnt sind. Lassen Sie sich von einem gemalten Bild oder von einer Fotografie zum Schreiben anregen. Versenken Sie sich in das Dargestellte. Was fühlen Sie? Was fällt Ihnen dazu ein? Schreiben Sie alles auf. 4.3. Paralleltexte schreiben Paralleltext bedeutet, dass Sie die Struktur eines Textes für Ihr eigenes Schreiben übernehmen. Beginnen wir die praktische Arbeit mit einem Gedicht. Glückes genug Detlev von Liliencron Wenn sanft du mir im Arme schliefst, Ich deinen Atem hören konnte, Im Traum du meinen Namen riefst, Um deinen Mund ein Lächeln sonnte Glückes genug. Und wenn nach heißem, ernstem Tag Du mir verscheuchtest schwere Sorgen, Wenn ich an deinem Herzen lag Und nicht mehr dachte an ein Morgen Glückes genug. Schreiben Sie nun ein Parallelgedicht zu Liliencrons Text. Sie behalten die Struktur bei, füllen sie aber mit anderem Inhalt. Überlegen Sie vorher, vielleicht mit Hilfe eines 114 Mindmappings, was für Sie Glück bedeutet. Dann versuchen Sie das folgende Schema mit Ihren Worten zu füllen: Glückes genug Wenn _________________________________________ _______________________________________________ _______________________________________________ _______________________________________________ Glückes genug. Und wenn ______________________________________ _______________________________________________ _______________________________________________ _______________________________________________ Glückes genug. Auch mit kleineren szenischen Texten kann man parallel arbeiten. Als Vorlage soll ein Text von Loriot dienen, dessen berühmte Knollenmännchen Sie sicherlich schon einmal gesehen haben. Die Szene, die er hier so komisch präsentiert, kennen wir alle aus unserem Alltag. Es entsteht ein Streit aus Nichtigkeiten. Man fühlt sich verletzt und geht zum Gegenangriff über. Daraus entsteht eine Spirale, die nicht so leicht zu stoppen ist. Loriot: Das Ei (Das Ehepaar sitzt am Frühstückstisch. Der Ehemann hat sein Ei geöffnet und beginnt nach einer längeren Denkpause das Gespräch.) ER: Berta! SIE: Ja ... ER: Das Ei ist hart! SIE: (schweigt) ER: Das Ei ist hart! SIE: Ich habe es gehört ... ER: Wie lange hat das Ei denn gekocht ? SIE: Zu viele Eier sind gar nicht gesund ... ER: Ich meine, wie lange dieses Ei gekocht hat ... SIE: Du willst es doch immer viereinhalb Minuten haben ... ER: Das weiß ich. SIE: Was fragst du denn dann? ER: Weil dieses Ei nicht viereinhalb Minuten gekocht haben kann! SIE: Ich koche es aber jeden Morgen viereinhalb Minuten! 115 ER: Wieso ist es dann mal zu hart und mal zu weich? SIE: Ich weiß es nicht ... Ich bin kein Huhn! ER: Ach! ... Und woher weißt du, wann das Ei gut ist? SIE: Ich nehme es nach viereinhalb Minuten heraus, mein Gott! ER: Nach der Uhr oder wie? SIE: Nach Gefühl ... eine Hausfrau hat das im Gefühl ... ER: Im Gefühl? ... Was hast du im Gefühl? SIE: Ich habe es im Gefühl, wann das Ei weich ist ... ER: Aber es ist hart ... vielleicht stimmt da mit deinem Gefühl was nicht ... SIE: Mit meinem Gefühl stimmt was nicht? Ich stehe den ganzen Tag in der Küche, mache die Wäsche, bring’ deine Sachen in Ordnung, mache die Wohnung gemütlich, ärgere mich mit den Kindern rum und du sagst, mit meinem Gefühl stimmt was nicht? ER: Ja,ja ... jaja ...jaja ... wenn ein Ei nach Gefühl kocht, dann kocht es eben nur zufällig genau viereinhalb Minuten! SIE: Es kann dir doch ganz egal sein, ob das Ei zufällig viereinhalb Minuten kocht ... Hauptsache, es kocht viereinhalb Minuten! ER: Ich hätte nur gern ein weiches Ei und nicht ein zufällig weiches Ei! Es ist mir egal, wie lange es kocht! SIE: Aha! Das ist dir egal ... es ist dir also egal, ob ich viereinhalb Minuten in der Küche schufte! ER: Nein ... nein ... SIE: Aber es ist nicht egal ... das Ei muss nämlich viereinhalb Minuten kochen ... ER: Das habe ich doch gesagt ... SIE: Aber eben hast du doch gesagt, es ist dir egal! ER: Ich hätte nur gern ein weiches Ei ... SIE: Gott, was sind Männer primitiv! ER: (düster vor sich hin) Ich bringe sie um ... morgen bringe ich sie um ... Um auch einen Sketch zu schreiben, wäre es schön, wenn Sie sich eine Partnerin oder einen Partner suchen könnten, mit der oder dem Sie gemeinsam den Paralleltext erstellen. Sie können folgendermaßen vorgehen: Sie suchen sich eine Situation aus Ihrem Alltag, die konfliktanfällig ist, z.B. die nicht zugeschraubte Zahnpastatube. Sie verteilen die Rollen, d.h., Sie überlegen, wer der „Missetäter“ und wer das „Opfer“ ist. Formulieren Sie mögliche Vorwürfe und Entgegnungen. Schreiben Sie dann den ganzen Dialog. Sie können dabei Regieanweisungen in Klammern ergänzen. Spielen Sie den Dialog auch einmal durch - vielleicht vor der Klasse. Besonders gut für eine produktive Umgestaltung eignen sich die Märchen. Schon im kindlichen Alter regen sie die Fantasie an und bleiben gewöhnlich tief im Gedächtnis haften. Erinnern Sie sich noch an „Rotkäppchen“ oder an „Dornröschen“? Bevor Sie die folgenden Abwandlungen lesen, sollten Sie den Handlungsverlauf der Grimm - Märchen nochmals vergegenwärtigen. 116 Thaddäus Troll Rotkäppchen auf Amtsdeutsch R. seitens ihrer Mutter über das Verbot betreffs Verlassens der Waldwege auf Kreisebene belehrt. Dieselbe machte sich infolge Nichtbeachtung dieser Vorschrift straffällig und begegnete beim Übertreten des amtlichen Blumenpflückverbots einem polizeilich nicht gemeldeten Wolf ohne festen Wohnsitz. Dieser verlangte in gesetzwidriger Amtsanmaßung Einsichtnahme in das zu Transportzwecken von Konsumgütern dienende Korbbehältnis und traf in Tötungsabsicht die Feststellung, dass die R. zu ihrer verschwägerten und verwandten, im Baumbestand angemieteten Großmutter eilend war. (...) Im Kinderanfall unserer Stadtgemeinde ist eine hierorts wohnhafte, noch unbeschulte Minderjährige aktenkundig, welche durch ihre unübliche Kopfbedeckung gewohnheitsrechtlich Rotkäppchen genannt zu werden pflegt. Der Mutter besagter R. wurde seitens ihrer Mutter ein Schreiben zustellig gemacht, in welchem dieselbe Mitteilung ihrer Krankheit und Pflegebedürftigkeit machte, worauf die Mutter der R. dieser die Auflage machte, der Großmutter eine Sendung von Nahrungs- und Genussmitteln zu Genesungszwecken zuzustellen. Vor ihrer Inmarschsetzung wurde die Aufgabe: Überlegen Sie, wie die Märchenverfremdung von T. Troll weitergehen könnte! Überlegen Sie sich, welche Fachsprachen Sie noch kennen und welche sich für eine Verfremdung des Rotkäppchen - Märchens eignet! Unternehmen Sie einen eigenen Schreibversuch! Günter Kunert : Dornröschen (1972) Generationen von Kindern faszinierte gerade dieses Märchen, weil es ihre Fantasie erregte: wie da Jahr um Jahr eine gewaltige Hecke aufwächst, über alle Maßen hoch, ein vertikaler Dschungel, erfüllt von Blühen und Welken, von Amseln und Düften, aber weglos, undurchdringlich und labyrinthisch. Die Mutigen, die sie zu bewältigen sich immer wieder einfinden, bleiben insgesamt auf der Strecke: von Dornen erspießt; hinter Verhau verfangen, gefangen, gefesselt; von giftigem Ungeziefer befallen und vom plötzlichen Zweifel gelähmt, ob es diese begehrenswerte Königstochter überhaupt gäbe. Bis eines Tages endlich der Sieger kommt: ihm gelingt, was den Vorläufern misslungen: er betritt das Schloss, läuft die Treppe empor, betritt die Kammer, wo die Schlafende ruht, den zahnlosen Mund halb geöffnet, sabbernd, eingesunkene Lider, den haararmen Schädel an den Schläfen von blauen, wurmigen Adern bekräuselt, fleckig, schmutzig, eine schnarchende Vettel.* Oh, selig alle, die von Dornröschen träumend, in der Hecke starben und im Glauben, dass hinter dieser eine Zeit herrsche, in der die Zeit endlich einmal fest und sicher stände. * Vettel : altes Weib Aufgabe: Überlegen Sie, welche Absicht G. Kunert mit seiner Abwandlung von „Dornröschen“ verfolgt! Schreiben Sie selbst ein Märchen, das Sie gut 117 kennen, um, indem Sie ihm eine überraschende Wendung geben! Schauen wir uns auch noch die letzte literarische Großform an, die Epik, die erzählenden Texte. Als Beispiel dient hier eine Fabel, weil sie relativ kurz ist und über eine feste Form verfügt. In ihr handeln Tiere wie Menschen, wobei bestimmte Tiere eine Eigenschaft verkörpern, so steht der Fuchs für Schläue. Die Tiere spielen eine Konflikt- oder Problemsituation vor, die aufgelöst wird. Diese Lösung nennt man die „Moral von der Geschicht“, ist also eine Lehre, die verallgemeinerbar ist. Die Fabel ist eine didaktische Textart, die den Menschen lehren und erziehen möchte. Schon in der Antike wurden - wie Sie ja vom Vorkurs wissen - Fabeln geschrieben, aber auch moderne Schriftsteller verwenden diese Textart gern, so auch Franz Kafka. Franz Kafka: Kleine Fabel „Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ „Du musst nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie. Aufgabe: Schreiben Sie eine Parallelfabel. Folgende Schritte können Ihnen helfen: - Formulieren Sie zunächst, welche „Moral“ Ihre Fabel haben soll. - Überlegen Sie, welche Tiere vorkommen und welche Rolle sie einnehmen sollen. - Beginnen Sie auch mit „Ach“, sagte ... 4.4. Arbeit an manipulierten Texten Es kann spannend im Deutschunterricht zugehen, wenn ein nicht vollständiger Text präsentiert wird und die Schüler die fehlenden Textpassagen ergänzen sollen. Dies geschieht nämlich nicht willkürlich, denn vor dem Ergänzen muss der Text sorgfältig gelesen werden, damit Hinweise gefunden werden, die zur Ideenfindung beitragen können. Sicherlich ist auch Kreativität gefragt, aber da das Ergänzen des Textes auch schon zur Hypothesenbildung über den manipulierten Text führt, befinden wir uns bereits im Bereich des produktionsorientierten Schreibens. Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine Kurzgeschichte von Elisabeth Langgässer (1899-1950), die als Halbjüdin 1936 Publikationsverbot erhielt. Ihre älteste Tochter kam ins Konzentrationslager Auschwitz, überlebte aber den Holocaust. Lesen Sie den Text und versuchen Sie den fehlenden Schlusssatz zu ergänzen: Was steht auf dem Schild? 118 Elisabeth Langgässer: Saisonbeginn Pfosten in die Erde zu graben, auf ihren Schultern trugen, setzten alles unter dem Wegekreuz ab; der dritte stellte den Werkzeugkasten, Hammer, Zange und Nägel daneben und spuckte ermunternd aus. Nun beratschlagten die drei Männer, an welcher Stelle die Inschrift des Schildes am besten zur Geltung käme; sie sollte für alle, welche das Dorf auf dem breiten Passweg betraten, besser: befuhren, als Blickfang dienen und nicht zu verfehlen sein. Man kam also überein, das Schild kurz vor dem Wegekreuz anzubringen, gewissermaßen als Gruß, den die Ortschaft jedem Fremden entgegenschickte. Leider stellte sich aber heraus, dass der Pfosten dann in den Pflasterbelag einer Tankstelle hätte gesetzt werden müssen - eine Sache, die sich von selbst verbot, da die Wagen, besonders die größeren, dann am Wenden behindert waren. Die Männer schleppten also den Pfosten noch ein Stück weiter hinaus bis zu der Gemeindewiese und wollten schon mit der Arbeit beginnen, als ihnen auffiel, dass diese Stelle bereits zu weit von dem Ortsschild entfernt war, das den Namen angab und die Gemeinde, zu welcher der Flecken gehörte. Wenn also das Dorf den Vorzug dieses Schildes und seiner Inschrift für sich beanspruchen wollte, musste das Schild wieder näher rücken - am besten gerade dem Kreuz gegenüber, so dass Wagen und Fußgänger zwischen beiden hätten passieren müssen. Dieser Vorschlag, von dem Mann mit den Nägeln und dem Hammer gemacht, fand Beifall. Die beiden anderen luden von neuem den Pfosten auf ihre Schultern und schleppten ihn vor das Kreuz. Nun sollte also das Schild mit der Inschrift zu dem Wegekreuz senk-recht stehen; doch zeigte es sich, dass die uralte Buche, Die Arbeiter kamen mit ihrem Schild und einem hölzernen Pfosten, auf den es genagelt werden sollte, zu dem Eingang der Ortschaft, die hoch in den Bergen an der letzten Passkehre lag. Es war ein heißer Spätfrühlingstag, die Schneegrenze hatte sich schon hinauf zu den Gletscherwänden gezogen. Überall standen die Wiesen wieder in Saft und Kraft; die Wucherblume verschwendete sich, der Löwenzahn strotzte und blühte sein Haupt über den milchigen Stängeln; Trollblumen, welche wie eingefettet mit gelber Sahne waren, platzten vor Glück, und in strahlenden Tümpeln kleinblütiger Enziane spiegelte sich ein Himmel von unwahrscheinlichem Blau. Auch die Häuser und Gasthöfe waren wie neu: ihre Fensterläden frisch angestrichen, die Schindeldächer gut ausgebessert, die Scherenzäune ergänzt. Ein Atemzug noch: dann würden die Fremden, die Sommergäste kommen - die Lehrerinnen, die mutigen Sachsen, die Kinderreichen, die Alpinisten, aber vor allem die Autobesitzer in ihren großen Wagen ... Röhr und Mercedes, Fiat und Opel, blitzend von Chrom und Glas. Das Geld würde anrollen. Alles war darauf vorbereitet. Ein Schild kam zum andern, die Haarnadelkurve zu dem Totenkopf, Kilometerschilder und Schilder für Fußgänger: Zwei Minuten zum Café Alpenrose. An der Stelle, wo die Männer den Pfosten in die Erde einrammen wollten, stand ein Holzkreuz, über dem Kopf des Christus war auch ein Schild angebracht. Seine Inschrift war bis heute die gleiche, wie sie Pilatus entworfen hatte: J.N.R.J. die Enttäuschung darüber, dass es im Grunde hätte heißen sollen: er b e h a u p t e t nur, dieser König zu sein, hatte im Lauf der Jahrhunderte an Heftigkeit eingebüßt. Die beiden Män-ner, welche den Pfosten, das Schild und die große Schaufel, um den 119 einige lachten, andere schüttelten nur den Kopf, ohne etwas zu sagen; die Mehrzahl blieb davon unberührt und gab weder Beifall, noch Ablehnung kund, sondern war gleichgültig, wie sich die Sache auch immer entwickeln würde. Im ganzen genommen konnten die Männer mit der Wirkung zufrieden sein. Der Pfosten, kerzengerade, trug das Schild mit der weithin sichtbaren Inschrift, die Nachmittagssonne glitt wie ein Finger über die zollgroßen Buchstaben hin und fuhr jeden einzelnen langsam nach wie den Richtspruch auf einer Tafel... Auch der sterbende Christus, dessen blasses, blutüberronnenes Haupt im Tod nach der rechten Seite geneigt war, schien sich mit letzter Kraft zu bemühen, die Inschrift aufzunehmen: man merkte, sie ging ihn gleichfalls an, welcher bisher von den Leuten als einer der ihren betrachtet und wohl gelitten war. Unerbittlich und dauerhaft wie sein Leiden, würde sie ihm nun für lange Zeit schwarz auf weiß gegenüberstehen. Als die Männer den Kreuzigungsort verließen und ihr Handwerkszeug wieder zusammenpackten, blickten alle drei noch einmal befriedigt zu dem Schild mit der Inschrift auf. Sie lautete: ( ... ) welche gerade hier ihre Äste mit riesiger Spanne nach beiden Seiten wie eine Mantelmadon-na ihren Umhang entfaltete, die Inschrift im Sommer verdeckt und ihr Schattenspiel deren Bedeutung verwischt, aber mindestens abgeschwächt hätte. Es blieb daher nur noch die andere Seite neben dem Herrenkreuz, und da die erste, die in das Pflaster der Tankstelle überging, gewissermaßen den Platz des Schächers zur Linken bezeichnet hätte, wurde jetzt der Platz zur Rechten gewählt und endgültig beibe-halten. Zwei Männer hoben die Erde aus, der dritte nagelte rasch das Schild mit wuchtigen Schlägen auf; dann stellten sie den Pfosten gemeinsam in die Grube und rammten ihn rings von allen Seiten mit größeren Feldsteinen an. Ihre Tätigkeit blieb nicht unbeachtet. Schulkinder machten sich gegenseitig die Ehre streitig, dabei zu helfen, den Hammer, die Nägel hinzureichen und passende Steine zu suchen; auch einige Frauen blieben stehen, um die Inschrift genau zu studieren. Zwei Nonnen, welche die Blumenvase zu Füßen des Kreuzes aufs Neue füllten, blickten einander unsicher an, bevor sie weitergingen. Bei den Männern, die von der Holzarbeit oder vom Acker kamen, war die Wirkung verschieden: (aus: Langgässer, Elisabeth: Der Torso. Hamburg 1947) Es ist ebenfalls möglich, einen Text auseinanderzuschneiden und ihn in Schnipselform zu präsentieren. Der Lehrer schneidet von einem Gedicht die einzelnen Verse aus und verteilt die Schnipsel. Sie versuchen dann die Originalfassung des Gedichtes herauszufinden. Diese Arbeit gelingt am besten in Gruppen. Aufgabe: Versuchen Sie die Originalfassung des Gedichtes herauszufinden: - Verschieben Sie die Zeilen so lange, bis sie Ihrer Meinung nach zusammenpassen. Orientieren Sie sich dabei an Reim, Zeichensetzung, Groß- und Kleinschreibung und inhaltlichen Zusammenhängen. - Nehmen Sie dann die Stropheneinteilung vor, indem Sie nach einer inneren Struktur des Gedichtes suchen. 120 Als letzte Möglichkeit sei die „Variante - Methode“ vorgestellt. Sie erhalten einen Text, bei dem ein Teil, sei es der Anfang oder das Ende oder seien es nur einzelne Wörter, weggelassen wurde. Anschließend präsentiert der Lehrer Ihnen mehrere Varianten für diese fehlenden Teile. Sie müssen sich für eine entscheiden und dies natürlich auch begründen. Als Beispiel dient ein Gedicht, bei dem jeweils einzelne Wörter gestrichen wurden. Bei den drei Wortvorschlägen ist jeweils das Originalwort dabei. Weltende (1911) Jakob van Hoddis Dem Bürger fliegt vom ______________ Kopf der Hut, In allen Lüften ______________ es wie Geschrei, _________________ stürzen ab und gehn entzwei Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut. ________________ ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke _________________ zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die _________________ fallen von den Brücken. Wählen Sie aus folgenden Vorschlägen das passende Wort aus: Vers 1 : runden, spitzen, dicken Vers 2 : hallt, stöhnt, klingt Vers 3 : Kinder, Dachdecker, Kletterer Vers 5 : Die Revolution, Das Ende, Der Sturm Vers 6 : Mauern, Dämme, Wälle Vers 8 : Tiere, Geländer, Eisenbahnen 121 Einen Essay schreiben Im Unterschied zum gedanklich und sprachlich strengeren Erörtern handelt es sich beim essayistischen Schreiben um eine offene, lockere Form der Behandlung eines Themas. Essays beschäftigen sich meistens mit allgemein interessanten Themen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen. Dabei kommt es dem Schreiber nicht darauf an, dem Leser wissenschaftlich gesicherte „objektive“ Erkenntnis zu vermitteln, sondern „subjektive“ Denk-Anstöße zu geben. Deswegen ist der Essay keine fest umrissene Textsorte mit bestimmten „Regeln“, sondern zeigt eine offene Struktur, bei der das Thema eher assoziativ entfaltet wird. Demgegenüber sind Stil und Art der Gestaltung anspruchsvoll und auf Wirkung bedacht. Der Essay - Schreiber versucht den Leser zu gewinnen, indem er z.B. ungewöhnliche gedankliche Verbindungen knüpft oder überraschende Vergleiche zieht. Er greift zu pointierten Formulierungen und setzt auf Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit. Er vermeidet Allgemeinplätze und Klischees. Beispiele: Günter Kunert : Vom Reisen (Auszug) Reisen, wie ich es verstehe, ist kein Hintersichbringen einer Entfernung zwischen zwei näher oder entfernter gelegenen Orten, um so rasch wie möglich einen Zweck zu erfüllen, was Zusammensetzungen wie „Geschäftsreise“, „Dienstreise“ falsch und widersprüchlich benennen. Reisen meint weder das Verlassen des Heimes noch der Heimatstadt noch des sogenannten Vaterlandes, sondern vor allem: der Gewohnheit. Selbst noch im letzten, von keiner Einsicht getrübten Touristen schimmert im Unterbewusstsein etwas vom existentiellen Motiv des Reisens, das Metamorphose heißen könnte. (...) Verwandlung - aber wie? Das Wort ist nun oft genug gefallen, somit die Erläuterung fällig. Gemeint ist keineswegs die Zunahme an Kenntnissen und Wis-sen, keine Steigerung von Fähigkeiten, unterschiedliche Situationen reibungsloser zu bewältigen - gemeint ist, dass die Fremde (und ich benutze bewusst den altertümlichen, doch treffenden Ausdruck) den Reisenden sich selber fremd werden lässt. Woanders ist man ein anderer. Welcher einigermaßen empfindsame Reisende merkt nicht beispielsweise unter südlicherem Him- mel an sich selber eine stärkere Bereitschaft zu größerer Lebhaftigkeit, gar zu ungewohnten Gestikulationen? Dem anderen Lebensrhythmus sich anpassend, verliert er merklich von der eigenen, ohnehin unsicheren Individualitätssubstanz, gewinnt jedoch fremdartig neue hinzu, die aus der KollektivIndividualität, von welcher er eingehüllt wird, auf ihn übergeht. Man meint, die abweichende, sogar gegensätzliche Daseinsweise durch ein Minimum an Mimesis zu begreifen, nachzufühlen, und in diesem Nachfühlen (etwas wie ein emotionales Bewusstsein, und das ist bloß ein scheinbarer Widerspruch) liegt bereits, da wir ja damit schon von uns selber absehen und anderes Leben in uns aufzunehmen trachten, die Verwandlung beschlossen. Beteiligt sich noch unsere Fantasie, unser Vorstellungsvermögen an dem Vorgang, erhöht sich seine Intensität: Jede Land-schaft bietet uns plötzlich Heimat und glückliche Geborgenheit, jedes Haus die Möglichkeit, eine Existenz hineinzuprojizieren, welche die unsere sein könnte, sein müsste. Jeder fremden Frau mit den eigentümlichen Zügen, dem vieldeutigen Blick, dem Fluidum einer gänzlich anderen Natur, 122 bettet im Gelee seiner sozialen und gesellschaftlichen Lage. Derart vollzieht sich an Reisenden die Goethische Sentenz „Reisen bildet“, was dem Sprachgebrauch des Alten zufolge, wahrscheinlich mehr enthält als nur Bildungserlebnis und wohl eher und glaubhafter besagt, dass, wer reise, zum Menschen gebildet werde. Was eben auf andere Weise das gleiche verheißt: Verwandlung - aus rohem Stoff zu einem Wesen, das (potenziell) die Gesamtheit, meinetwegen: die Gattung, mitenthält. Eine Literatur, die sich mit dem Reisen befasst und sich solcher Möglichkeiten trotzdem nicht bewusst ist, darf getrost als „Reise - Literatur“ bezeichnet werden: Ihr bleibt alles unverwechselbar exotisch und außerhalb des Begreifens, Begriffenen, sogar Begrifflichen. anderen Historie ordnet man sich , da sie neben uns mit fremder Stimme in fremder Sprache spricht, als ihr Gatte oder Liebhaber zu: durchaus glaubhafte Möglichkeiten, die, wären sie verwirklicht, uns zum selbstverständlichen Bestandteil der Piazza werden ließen, genussvoll speisend und trinkend, ehe wir unser gemeinsames Bett in einem halb verfallenen, von lauter lauten Leuten bewohnten Quartier aufsuchen würden. ( ... ) So außer sich und aus seinem persönlichen Alltag geraten, in einer Art gezügelter, doch permanenter Ekstase, erfährt der Reisende auch das eigene Ich, da er nach allen Wandlungen erneut und immer wieder zu sich selber zurückkehrt.. Weil es jedoch bei dieser Rückkehr kaum mehr das ganz Gleiche ist wie vordem, findet er sich selber fremd und verfremdet vor, sich selber deutlicher erkennbar, einge- Joseph von Westphalen : Lob des ruhigen Reisens Egal, ob man liebt oder arbeitet, egal, ob bei Tag oder mitten in der Nacht: Die kostbaren Stunden rennen gewöhnlich schnell vorbei. Das taten sie schon zu Zeiten von Romeo und Julia. Doch der Herr von heute denkt nicht an Shakespeare, wenn ihm die Zeit für Job und Liebe verrinnt. Ich mache etwas falsch, sagt er sich, steuert ein Reisebüro an und lässt sich einen Trip empfehlen, bei dem es auf einem schönen Schiff garantiert ganz langsam an irgendeiner Küste entlanggeht. Das braucht er jetzt. Die wirklichen Gegner der Beschleunigung allerdings entfliehen dem modernen Mördertempo nicht für wenige Wochen, um sich diesem dann erholt erneut zu unterwerfen. Diese Leute kämpfen täglich wacker dagegen an. Im österreichischen Klagenfurt wurde 199o ein mittlerweile international florierender Verein „Zur Verzögerung der Zeit“ gegründet. Vielleicht weiß der ja Rat gegen die Raserei. Ob die ein Telefon haben? Schon, aber die Stimme auf dem Anrufbeantworter sagt freundlich, rasche Telefonauskünfte seien nicht im Sinne des Vereinsgedankens. Anfragen bitte schriftlich. Der Verein werde antworten, wenn er Zeit habe. Die Statuten der Langsammacher sind munterer als erwartet. Die Herrschaften machen sich darin über den Produktfetischismus der Gesellschaft lustig und über die Politiker, für die nur der schnelle Erfolg innerhalb der Wahlperiode zählt. Die angeblich Energie sparende Sommerzeit komme nur den Tennisspielern zugute, die nun abends länger Licht hätten. Das alles liest sich plausibler als manche ausgefallenen Reiseangebote. So viel wird erkennbar: Wer im Alltag 123 eine originalitätslüsterne Minderheit zu schaffen. Ist auch mehr damit zu verdienen als mit Survivaltrainings und den Tipps, wie der Tourist aus Gletschereis Tauwasser gewinnt. Originell ist die Idee natürlich nicht. Dass der Reisende auch langsam zum Ziel kommt, hat Johann Gottfried Seume 1801 mit seinem schon damals vielbeachteten Spaziergang vom sächsischen Leipzig zum sizilianischen Syrakus gezeigt. Romantische Jungfilmer wie Wim Wenders und Werner Herzog sind vor rund 20 Jahren von Salzburg nach Venedig und von München nach Paris gelascht und haben ihre angenehmen Erfahrungen mit der Verzögerung der Zeit beim langsamen Vorwärtskommen in langatmigen Büchern festgehalten. Alles alte Hüte. Warum der Tourismus erst jetzt die Langsamkeit entdeckt, ist rätselhaft. Die Vermutung, das Thema Langsamkeit habe die Branche gewissermaßen angesteckt, der Trend habe zum Ausreifen seine Zeit gebraucht, ist ebenso neckisch wie falsch. Wenn sich mit der Schneckenpost Geld verdienen lässt, wäre sie ruckartig übermorgen früh eingeführt. ab und zu innehält, sich an den Kopf greift, gelassen etwas Zeit verplempert und dabei neue Kräfte sammelt, der kann sich die organisierte Gruppenwanderung durch die Wüste Gobi sparen, die ihm, wenn schon nicht die verlorene Zeit, so doch das verlorene Gefühl für die Zeit wiederbringen soll. Während die paar hundert Vereinsmitglieder überall dort, wo es ihnen sinnvoll erscheint, an der Verzögerung der Zeit arbeiten, plant der Rest der wohlhabenden Welt millionenfach seinen Urlaub, getrieben von der Angst vor dem Herzinfarkt oder von blankem Erlebnishunger, vom Statusdenken oder von Weltbilderweiterungshoffnungen, vom Gefühl, etwas zu versäumen, oder von ordinären Erholungsbedürfnissen. Wer das Besondere schätzt, begnügt sich schon seit Jahren nicht mehr mit dem Mittelmeerraum oder den Kanarischen Inseln; der reist im kalten Euro-Winter nach Mauritius oder Bali aber das machen auch schon so viele. Wer das Besondere schätzt, hat es nicht leicht. In den 80-er Jahren wurde der Abenteuerurlaub modern. Geröstete Regenwürmer und Baumrinde statt Vollpension und Swimmingpool, Urwald und Wüste statt der Highlights des spätromantischen Kirchenbaus. Es ist wohl das griffige Reizwort „Entdeckung der Langsamkeit“, das der Tourismus nun spät für sich ausschlachtet und das die Reiseveranstalter zu fieberhaftem Ausarbeiten von Angeboten befeuert. Eigentlich müsste der Schriftsteller Sten Nadolny für die Nutzung des Begriffs Provision bekommen. Von ihm stammt die geniale Formulierung, die 1983 seinen gleichnamigen Roman über eine Expedition des Polarforschers John Franklin zum Kultbuch machte. In den 70-er Jahren warb die Zeitschrift „Merian“ mit dem Slogan „Mut zur Muße“ für eine Verlangsamung des Reisens. Das hat keinen Trend ausgelöst. Die Zeit war offenbar noch nicht reif. Heute ist die Hetze groß Das war seinerzeit ein beliebtes Reportagethema für LifestyleMagazine. Aber wer kennt jemanden, der jemanden kennt, der so etwas mitmachte? Die zivilisationsgeplagten Körper und Seelen sollten in urigen zwei, drei Wochen genesen - war zu lesen. Die Idee konnte sich nicht durchsetzen. Warum sollte der Gegenwartsmensch in den Ferien das tun, was er das ganze Jahr über machte: Zähne zu-sammenbeißen und überleben? Wenn die Tourismusindustrie jetzt die „Entdeckung der Langsamkeit“ propagiert, hat sie mit dieser Idee mehr Chancen, eine exklusive Marktlücke für 124 Diesem Strudel im Urlaub entkommen zu wollen, ist entschuldbar. Wem es allzu schwindlig geworden ist, wem mit Segeltörns und Trekkingtouren nicht mehr zu helfen ist, der macht sich auf die langsame Reise zu sich selbst und quartiert sich in einem Kloster ein. Die Mönche sind selig: Endlich sind die Zellen wieder belegt - mit reumütigen Hochgeschwindigkeitsmanagern, die artig Besserung geloben. Nach 14 Tagen das erste Erfolgserlebnis: Beim Radieschenzupfen im Klostergarten vertraut der Workaholic mit dem 800 000-Euro-Job dem Bruder Emeran sein Glück an: Stellen Sie sich vor, heute habe ich mich seit Jahren zum ersten Mal gelangweilt. Die Frage ist, ob der Zeitgenosse das in einem stinknormalen Urlaub an einem stinknormalen halbwegs unverpesteten Strand nicht einfacher haben kann. Ist auch rasend langweilig dort, und die Zeit vergeht nicht. Oder er bleibt im Sommer zu Hause auf dem Balkon, wenn alles ausfliegt. Das beschert einem durchaus erhellende Momente. genug, um ein breites Bedürfnis nach gemächlicher Fortbewegung erstrebenswert erscheinen zu lassen. Dass der Massentourismus auf Langsamkeit setzt, ist kaum zu erwarten. Aber eine relevante und zu Buche schlagende Minderheit scheint bereit zu sein, auf breiten Flüssen auch ohne aufregendes Nachtleben an Bord ruhig durch den Urwald zu kreuzen; tagelang ohne den Kitzel spannender Mordfälle in luxuriösen Zügen durch Indien, China oder die Mongolei zu rattern, sich mit dem Ballon dorthin treiben zu lassen, wohin der Wind einen weht. Die guten alten Zeiten wollen diese Menschen nachspielen; eine Zeit, als nicht alles immer schon „am liebsten gestern“ fertig sein musste. Schon liebäugelt die Tourismusbranche mit längeren Zeppelinreisen und schier endlosen Wanderungen, wer weiß, bis nach Neuseeland gar. Nur für das Gehen über das Wasser findet sich seltsamerweise noch kein urchristlicher Anbieter. Wie jeder Trend hat auch dieser etwas Albernes. Der schrullige Charme, den die Idee mit der Langsamkeit hat, verflüchtigt sich, wenn die Sache vermarktet wird. Andererseits, von den vielen Moden, die unsere Wohlstandsgesellschaft gebiert, gehört die Entdeckung des langsamen Reisens zu den harm losen und vernünftigeren. Das Arbeitsleben ist vom Beschleunigungsprinzip diktiert. Ein Auto, das 240 Kilometer in der Stunde fährt, befriedigt niemanden, weckt nur im Freak den Wunsch nach einem schnelleren; an den Computern trommeln die Leute ungeduldig mit den Fingern, weil der neue Pentium-Prozessor die Daten immer noch nicht hurtig genug hin und her schaufelt; und schon im Frühjahr müssen die Lager der Kaufhäuser für die nächsten Winterklamotten geräumt sein. 125 Jetzt haben Sie zwei deutlich unterschiedliche Essays zum gleichen Thema kennengelernt. Sie haben die betonte Subjektivität der Auffassung und die z.T. lockere Art der Behandlung des Themas, die assoziative und sprunghafte Gedankenführung und die stilistisch weitreichenden Möglichkeiten dieser Darstellungsform erkannt und hoffentlich Lust bekommen, diese Textsorte selbst einmal auszuprobieren. Sie werden feststellen, dass es großen Spaß macht, wenn man einmal angefangen hat. Wenn Sie ein Thema gewählt haben, können Sie folgendermaßen vorgehen: Schreiben Sie in Form eines Clusterings oder Mindmappings alles auf, was Ihnen spontan zum Thema einfällt. Bringen Sie Ihre Einfälle in eine Ordnung (es muss keine logisch-kausale sein) und legen Sie eine Abfolge der Gedanken bzw. Assoziationen fest. Formulieren Sie Ihre Gedanken / Assoziationen so, dass ein flüssiger Text entsteht, den der Leser gut verstehen kann. Markieren Sie dabei auch die Sinnabschnitte. Themenvorschläge: · Reisen in die Fremde · Andere Völker - andere Sitten · Urlaub vom Ich · Urlaub und Selbstfindung · Schule und Selbstverwirklichung · Familie - ein Auslaufmodell? · Wie man garantiert eine Beziehung zerstört · Wie man garantiert alle Fettnäpfe trifft · Die Rache des technischen Fortschritts · Die Natur schlägt zurück · Wer sucht, der findet · Ideen muss man haben · Internet als Chance · Recht auf Dummheit · Immer mit der Ruhe · Der Krieg ist keine Lösung · Schule verbildet · Das Vorrücken der Wüste · Lernen von Vorbildern · Die Leere im Kopf Wenn Sie von den Vorschlägen nicht inspiriert worden sind, wählen Sie halt ein eigenes Thema. Es kommt darauf an, dass Sie den Essay als Darstellungsform ausprobieren - egal mit welchem Thema. 126 Grammatik 1. Wortarten 2. Satzglieder 3. Satzlehre 3.1. Satzarten 3.2. Satzgefüge 3.2.1. Subjektsatz 3.2.2. Objektsatz 3.2.3. Prädikatsatz 3.2.4. Attributsatz 3.2.5. Adverbialsätze 3.3. Satzglied - Nebensatz Kommaregeln Grammatiktest 127 128 128 135 135 137 138 139 141 141 142 146 148 152 1. Die Wortarten Wir unterscheiden zehn Wortarten: Verben - sie werden konjugiert Nomen (Substantive) Adjektive Artikel Pronomen Numeralien sie werden alle dekliniert Adverbien Präpositionen Konjunktionen Interjektionen sie sind alle nicht flektierbar 2. Die Satzglieder Wenn wir Sätze bilden, dann greifen wir auf die Wortarten zurück. Allerdings bekommen sie dann eine neue Funktion: Sie werden zu Satzgliedern. Wir unterscheiden fünf verschiedene Satzglieder: 1. 2. 3. 4. 5. das das das die das Subjekt (Satzgegenstand) Prädikat (Satzaussage) Objekt (Satzergänzung) abverbiale Bestimmung (Umstandsbestimmung) Attribut (Beifügung) Ein Satzglied kann aus einem Wort oder einer Wortgruppe bestehen. Was ein Satzglied ist oder zu einem Satzglied gehört, kann mit drei verschiedenen Methoden untersucht werden: 1. Ersatzprobe: Jedes Satzglied kann durch ein einzelnes Wort, z.B. ein Pronomen ersetzt werden. Die Mutter legt ein gekochtes Ei auf den Frühstückstisch. Sie legt es auf ihn. (So zeigt sich, dass der Satz aus vier Satzgliedern besteht.) 2. Verschiebeprobe: Was sich beim Verschieben nicht trennen lässt, gehört als Satzglied zusammen: Ein gekochtes Ei legt die Mutter auf den Frühstückstisch. Auf den Frühstückstisch legt die Mutter ein gekochtes Ei. (Es zeigt sich: "ein gekochtes Ei" ist ebenso ein einziges Satzglied wie "auf den Frühstückstisch". Man könnte noch weitere Beifügungen einfügen, es bliebe immer nur ein Satzglied: auf den reich gedeckten Frühstückstisch; auf den mit vielen unterschiedlichen Speisen reich gedeckten Frühstückstisch). 128 3. Weglassprobe: Was ohne Beeinträchtigung des Satzbaus weggelassen werden kann, ist nur Bestandteil eines Satzglieds (meist ein Attribut oder eine adverbiale Bestimmung). Die (aufmerksame) Mutter legt (morgens immer) ein (gekochtes) Ei auf den (reich gedeckten) Frühstückstisch. 2.1 Subjekt Subjekt ist der, die oder das, von dem im Satz etwas ausgesagt wird. Das Subjekt antwortet auf die Frage: Wer oder was? Das Subjekt steht immer im Nominativ. Subjekt und Prädikat bilden den Satzkern. 2.2 Prädikat Als Prädikate bezeichnen wir Aussagen, die über das Subjekt gemacht werden. Diese Aussage kann sich beziehen auf das, - was das Subjekt tut: - was mit dem Subjekt geschieht: - was das Subjekt ist: - wie das Subjekt ist: Das Kind singt. Der Motor wird angelassen. Die Eiche ist ein Baum. Die Rose ist dunkelrot. Wie die Beispiele zeigen, kann das Prädikat einstellig oder mehrstellig sein. Wird beispielsweise eine Aussage im Futur II formuliert, dann ist die Prädikatsgruppe dreistellig: Morgen um diese Zeit werde ich schon gegessen haben. Aufgabe: Markieren Sie bei den folgenden Sätzen das Subjekt (grün) und das Prädikat (rot)! 1. Die Eltern frühstücken in der Küche. 2. Das Gesagte bezweifele ich nicht im Geringsten. 3. In der Sahara brennt die Sonne immer sehr heiß. 4. An der Bushaltestelle begegneten sich dann die Kontrahenten. 5. Zusammen mit ihren Eltern reiste Julia nach Italien. 6. In allen Gärten blühen seit Tagen die Nelken. 7. Abends leuchtet der See in der Abendsonne. 8. Wegen seiner guten Arbeit wurde der Lehrling vom Meister gelobt. 9. Nach den Satzgliedern werden die Satzarten bestimmt. 10. Der Satzkern besteht aus Subjekt und Prädikat. 11. Anstelle des Nomens kann ein Pronomen stehen. 12. Wie die anderen Satzglieder kann das Prädikat mehrgliedrig sein. 2.2.1 Das Prädikatsnomen In manchen Grammatiken wird das Prädikatsnomen auch „Gleichsetzungsnominativ“ oder „ist-Prädikation“ oder „Prädikative“ genannt. Wie auch immer – wichtig ist, dass das Prädikatsnomen eine Sonderform des Prädikats ist und bei folgenden Verben auftreten kann: sein, werden, bleiben, scheinen, sich dünken, heißen. Werden diese Verben in einem Satz als Vollverben benutzt, ergibt sich immer eine mehrstellige Prädikatsgruppe. Sie hat dann folgende Struktur: 129 Die Eiche ist ein Laubbaum. ↓ ↓ Kopula + Prädikatsnomen └───────┬─────────┘ Prädikatsgruppe Beim (Hilfsverb) „sein“ gibt es verschiedene Möglichkeiten von Prädikatsgruppen. Das Prädikat kann bestehen aus Kopula und einem - Nomen im Nominativ - Adjektiv - Pronomen - Adverb - Numerale - Infinitiv mit „zu“ - Nomen im Genitiv - Nomen mit Präposition : : : : : : : : Uwe ist ein Einzelgänger. Bärbel ist wissbegierig. Das Buch ist mein. Meine Mühe war vergebens. Dieser Patient ist der dritte. Die Kinder sind zu bedauern. Er ist ihrer Meinung. Sie ist bei Bewusstsein. Aufgabe: Unterstreichen Sie die Prädikatsnomen (rot)! 1. Wegen des Platzregens ist die Straße besonders nass. 2. Er bleibt trotz aller Vorsätze ein Versager. 3. Nach dem Unfall schien das Auto ein Wrack. 4. Er dünkt sich ein guter Fahrer im Straßenverkehr. 5. Sie blieb trotz aller Zweifel die Siegerin. 6. Nach dem Studium wird sie wahrscheinlich Richterin. 2.3 Objekt Das Objekt ist die (notwendige) nähere Bestimmung, die bestimmte Verben im Satz fordern; durch das Objekt wird dann der unvollständige Sinn des Prädikats vervollständigt (z.B. Die Frau holt ... den Eimer.) Es gibt fünf verschiedene Arten von Objekten: das Akkusativobjekt (Ergänzung im 4.Fall) steht nach Verben, die den Akkusativ verlangen (bringen, schlagen ..). Nach dem Akkusativobjekt fragt man: Wen od. Was? (Ich wasche den Wagen.) das Dativobjekt (Ergänzung im 3.Fall) steht nach Verben, die den Dativ verlangen (geben, helfen ...). Das Dativobjekt antwortet auf die Frage: Wem ? (Er vertraut dem Freund.) das Genitivobjekt (Ergänzung im 2.Fall) steht nach Verben, die den Genitiv verlangen (gedenken, bedürfen ...). Das Genitivobjekt antwortet auf die Frage: Wessen ? (Die Kranken bedürfen der Pflege.) das doppelte Objekt steht nach Verben, die zwei Objekte nach sich ziehen, entweder beide im Akkusativ oder im Akkusativ und in einem anderen Kasus: Die Weisheit lehrt den Weisen Verschwiegenheit. (Akk.+ Akk.) 130 Der Lehrer gibt den Schülern ihre Zeugnisse. Er würdigt den Gefangenen keines Blickes. Die Klasse macht eine Fahrt ins Grüne. (Dat.+ Akk.) (Akk.+ Gen.) (Akk.+ Präp.Obj.) das Präpositionalobjekt steht dann, wenn ein Verb eine Ergänzung mit Präposition nach sich zieht bzw. ohne Präposition nicht erweitert werden kann. Der Grammatik-Duden nennt über 250 Verben, die ein Präpositionalobjekt verlangen. Nach dem Präp.Obj. fragt man mit der entsprechenden Präposition: Auf was ? Sie achtet auf ihre Linie. Aus was ? Bronze besteht aus Kupfer und Zinn. An wen ? Ich schreibe an meine Eltern. Mit wem ? Ich plage mich mit dem Text ab. Aufgabe: Markieren Sie bei den folgenden Sätze die Objekte (blau)! 1. Ich hole dich morgen vom Zug ab. 2. Werner hat seine Hausaufgaben vergessen. 3. Auf dem Markt boten einige Verkäufer billige Waren an. 4. Die Perser zerstörten Athen und die Akropolis. 5. Am Totensonntag gedenken die Christen der Toten. 6. Hast du schon wieder einen neuen Wagen? 7. Sie borgte dem Nachbarn die Bohrmaschine. 8. Der Fuchs beraubte den Raben seiner Nahrung. 9. Der Lehrer lehrte die Schüler die Grammatik. 10. Der kranken Tante halfen die guten Nachbarn. 11. Wir wünschen allen schöne Ferien. 12. Dem Gericht erzählte er eine tolle Geschichte. 2.3.1 Das Präpositionalobjekt Beim Erkennen der Objekte machen die Präpositionalobjekte die größten Schwierigkeiten. Der Grund dafür ist, weil die Präposition notwendiges Bestandteil des Satzgliedes ist. Es gibt im Deutschen eine begrenzte Anzahl (ca. 300) von Verben, die mit einem Präpositionalobjekt erweitert werden, z.B. hoffen auf, denken an, pochen auf X Der Satzbauplan sieht dann folgendermaßen aus: Satz ┌──────┬─────┴───────────┐ Subjekt Prädikat Präpositionalobjekt Der Hund achtet auf seinen Herrn. Aufgabe: Unterstreichen Sie die Präpositionalobjekte in den folgenden Sätzen! 1. Auf deine Ledertasche solltest du aufpassen. 2. Das hängt allein von deiner Zusage ab. 3. Vor Ratten ängstigen sich die meisten Menschen hierzulande. 4. Beim Lesen muss man sich auf fremde Welten einlassen können. 131 5. Immer wieder appellierte sie an seine Vernunft. 6. Über die Willensfreiheit kann man endlos diskutieren. 7. Anscheinend handelt es sich um eine wichtige Angelegenheit. 8. Der Gefangene büßt seit zehn Jahren für seine Tat. 2.4 Adverbiale Bestimmungen (Umstandsbestimmungen) Auch mit Adverbialbestimmungen kann ein Satz(kern) erweitert werden. Unter grammatischem Aspekt sind diese nicht unbedingt erforderlich, aber sie liefern wichtige Informationen darüber, unter welchen Umständen etwas geschieht. Die Adverbialbestimmungen beziehen sich direkt auf das Prädikat (Verb) und geben Ort, Zeit, Art und Weise sowie den Grund eines Geschehen oder einer Handlung an. Im folgenden Beispiel sind alle Möglichkeiten der adverbialen Bestimmung vertreten: Meine Tante fährt morgen └─┬─┘ wann? (Zeit) mit dem Zug zur Erholung └──┬───┘ └───┬───┘ womit? wozu? (Art u. Weise) (Grund) aufs Land. └──┬──┘ wohin? (Ort) Das Prädikat (Verb) ist hierbei durch vier Adverbialbestimmungen erweitert und näher bestimmt. Mit dem Verb fragt man nach der Adverbialbestimmung: Frage Wann fährt meine Tante? Womit fährt sie? Warum, wozu fährt sie? Wohin fährt sie? Antwort morgen mit dem Zug zur Erholung aufs Land Art der Umstandsbestimmung Temporalbestimmung Modalbestimmung Kausalbestimmung Lokalbestimmung Wir unterscheiden demnach: Temporalbestimmungen (auf die Fragen: wann?, wie lange?, wie oft?) Mein Zug fährt morgen früh. Die Ferien dauern sechs Wochen. Ich schrieb ihr zwei- oder dreimal. Modalbestimmungen (auf die Fragen: wie?, womit?, wodurch?, wie sehr? woraus? ...) Der Sportler trainiert fleißig. Er zeichnet mit einem Kohlestift. Sie verkauft das Bild für 300 Euro. Kausalbestimmungen (auf die Fragen: warum?, wozu?, weshalb?, woran?, bei welcher Bedingung?, bei welcher Einschränkung? bei welcher Folge? ...) Er gab wegen Übermüdung auf. 132 Sie zitterte vor Aufregung. Er handelt wider besseres Wissen. Alle kamen trotz der bitteren Kälte. In der Wüste kamen sie vor Hitze fast um. Lokalbestimmungen (auf die Fragen: wo?, wohin?, woher?, wie weit?, wie hoch?, wie tief?, wie lang?, wie breit?, wie dick? ...) Unsere Schule liegt in der Innenstadt. Der Wind weht von Nordwesten. Sie sprang sechs Meter weit. Aufgabe: Markieren und bestimmen Sie bei den folgenden Sätzen die adverbialen Bestimmungen (violett)! 1. Kann man mit Geld alles kaufen? 2. Letztes Jahr bin ich in Madrid gewesen. 3. Im Jahr 1969 landete der erste Mensch auf dem Mond. 4. Wegen meiner Fußbeschwerden bin ich langsamer gegangen. 5. Beinahe wäre sie in einen schreckliches Abgrund gefallen. 6. Bei Regenwetter bleiben wir zu Hause. 7. Das Rennen fand trotz des starken Regens statt. 8. Das Efeu rankt sich an der Hütte empor. 9. Zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit machte sie eine Kur. 10. Wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes machte sie eine Kur. 11. Viele Dorfbewohner kamen 1997 durch ein Erdbeben um. 12. Des Morgens lernt man am leichtesten. 2.5 Attribut Jedes Nomen im Satz kann mit einer oder mehreren Beifügungen näher erklärt, bewertet oder ausgeschmückt werden. Diese Beifügung heißt Attribut und steht nicht in direkter Beziehung zum Prädikat (Verb). Weil das Attribut zu einem anderen Satzglied (Subjekt, Objekt, Adverbialbestimmung) gehört, ist es ein Satzglied zweiten Grades. Es kann dem Nomen vorangestellt oder ihm nachgestellt werden: Ein gutes Buch verlangt einen aufmerksamen Leser. Der Hut des Vaters stammt aus dem Kaufhaus am Domplatz. Das Attribut antwortet auf die Frage: Was für ein/e? Das Attribut kann mit verschiedenen Wortarten gebildet werden. Es gibt also verschiedene Möglichkeiten des Attributs. Es kann gebildet werden aus einem Adjektiv oder Partizip als Begleiter eines Nomens (Wir bekommen einen nassen Sommer. Der gefeierte Star kam zuletzt.) Pronomen oder Numerale als Begleiter eines Nomens (Auf dem Tisch liegt mein Buch. Er suchte zwei Beispiele.) Nomen im Genitiv (Genitivattribut) 133 (Die Blüten der Rosen duften. Die Arbeit des Schülers war gut.) Nomen mit einer Präposition (Die Freude über das Geschenk war groß.) Adverb (Die Schule dort ist die unsrige.) Verb im Infinitiv mit "zu" (Die Kunst zu schreiben kann erlernt werden.) Eine Sonderform des Attributs ist die Apposition, die nachgestellte Beifügung im gleichen Fall. Die Apposition wird durch Kommas abgetrennt. (Der Gartenteich besteht aus Kunststoff, einem widerstandsfähigen Material. Der Löwe, der König der Tiere, kommt in vielen Fabeln vor.) Merke: Genitivattribut und Genitivobjekt werden oft verwechselt; sie unterscheiden sich jedoch deutlich voneinander. Das Genitivobjekt ist abhängig vom Prädikat; es setzt ein Verb voraus, das nur mit dem Genitiv erweitert werden kann ( wie z.B. bedürfen, gedenken X). Das Genitivattribut ist abhängig von einem Nomen (eines Satzgliedes). Ich bedarf deiner Hilfe. (Genitivobjekt) Die Hilfe des Arztes kam zu spät. (Genitivattribut) Aufgabe: Markieren Sie bei folgenden Sätzen die Attribute (gelb)! 1. Rosen gelten als die schönsten Blumen. 2. Ich verweise Sie auf andere, ortskundige Fußgänger. 3. Die Pferde in der Koppel gehören meinem Vater. 4. Nachts bellen die Hunde des Schäfers manchmal. 5. Auch sein letzter Versuch zu fliehen misslang. 6. Die morgige Arbeit bereitet mir schon heute erhebliche Kopfschmerzen. 7. Aufmerksame Schüler verwenden den Trick mit der Umstellprobe. 8. Zur Bestimmung der Satzglieder muss man die richtige Frage stellen. 9. Alle bisher formulierten Sätze beziehen sich auf das Attribut, das einzige Satzglied zweiten Grades. Es ist geschafft ! Jetzt haben Sie alle Satzglieder kennengelernt und können nun alle Satzglieder von Sätzen bestimmen. Testen Sie sich mit den folgenden Sätzen. Der Einfachheit halber sollten Sie jetzt mit den üblichen Abkürzungen arbeiten: Subjekt Prädikat Objekt Präpositionalobjekt Adverbiale Bestimmung - Temporalbestimmung - Lokalbestimmung - Modalbestimmung - Kausalbestimmung Attribut = = = = S P O Präp-O = = = = = Temp Lok Mod Kaus Attr 134 Aufgabe: Bestimmen Sie die Satzglieder der folgenden Sätze! 1. Bis zum Abitur dauert es noch über zwei Jahre. ____________________________________________ 2. Im Kurssystem belegen die Schüler zwei Leistungskurse nach eigener Wahl. 3. Im Leistungskurs Deutsch wird die deutsche Literatur vom Mittelalter bis heute thematisiert. _________________________________________________________________ 4. Textanalyse und Erörterung bilden die zwei Aufgabentypen des Faches Deutsch. ___________________________________________________________________ 5. Der E-Phase kommt die wichtigste Bedeutung für das Kurssystem zu. _______________________________________________________________ 6. In der E-Phase werden die wesentlichen Voraussetzungen für die Kursphase gelegt. ________________________________________________________________ 7. Defizite aus der E-Phase werden meist bis zum Abitur mitgeschleppt. ________________________________________________________________ 8. Ein erfolgreicher Abschluss der E-Phase garantiert in der Regel ein erfolgreiches Durchlaufen des Kurssystems und das Bestehen des Abiturs. ________________________________________________________________ 3. Satzlehre 3.1. Satzarten Die Satzarten werden unterschieden nach der kommunikativen Funktion, nach der Intention, die ein Satz erfüllen soll. Aufgabe: Geben Sie bei den folgenden Beispielen die Funktion des Satzes an! 1. Schließ die Tür! Mach die Tür zu! ___________________________ 2. Lasst uns gehen! __________________________ 3. Hättest du doch auf mich gehört! _____________________________ 4. Wünschen Sie die Limonade eisgekühlt? ________________________ 135 5. War das ein Konzert! __________________________ 6. Der Politiker ging auf die Frage gar nicht ein. _____________ 7. Das ist vielleicht ein eingebildeter Mensch! ________________ 8. Wurdest du gut behandelt? ______________________ 9. Hören Sie mit diesem Unsinn auf! __________________________ 10. Wenn er doch endlich ginge! _______________________ 11. Der Mensch ist das Maß aller Dinge. __________________________ 12. Der Sprecher kündigt den Star an, die Menge jubelt und grölt, dann kommt er endlich. ____________________________ 13. Der Politiker, der gereizt wirkt, weil er übermüdet ist, stellt sich dennoch den Fragen der Reporter. __________________________________ Ergebnis: Wir unterscheiden ___ verschiedene Satzarten. Diese Unterscheidung berücksichtigt ausschließlich den Inhalt bzw. die Intention der Sätze. Es gibt also: -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Wenn man die Sätze ausschließlich der Form nach betrachtet, so kann man vier verschiedene Arten von Sätzen unterscheiden: a) der einfache Satz, b) der erweiterte Satz, c) die Satzreihe (Parataxe) und d) das Satzgefüge (Hypotaxe). 136 3.2. Das Satzgefüge Satzgefüge meint die Verbindung eines Hauptsatzes (HS) mit einem oder mehreren Nebensätzen (NS). Beispiel: Er überlegte, was sie gesagt hatte. I------HS-----I,I---------NS--------------I Woran kann man einen Nebensatz erkennen? Von den Satzgliedern her gesehen ist ein Nebensatz zunächst ein Satz, d.h., er besteht zumindest aus Subjekt und Prädikat und kann wie jeder Satz durch beliebig viele Satzglieder erweitert werden. (Bsp.: Er überlegte, was sie ihm gestern Abend kurz vor zwölf leise flüsternd gesagt hatte.) Doch zwei bzw. drei Merkmale können genannt werden, die einen Nebensatz kennzeichnen: 1. die Abhängigkeit vom Hauptsatz, d.h., der NS ist dem HS untergeordnet; ein NS kann nicht alleine stehen; 2. die Änderung der Satzgliedstellung, d.h., beim NS steht das Prädikat (i.d.R.) am Ende des Satzes; 3 die besondere Art der Einleitung: In der Regel werden Nebensätze mit Konjunktionen oder Pronomen (Relativund Interrogativsätze) eingeleitet. Dieses dritte Merkmal gilt nicht bei den sog. Infinitivsätzen (Sie bat ihn, doch möglichst rasch zu kommen) und den sog. verkürzten Nebensätzen (Er versprach, dass er kommen werde. / Er versprach, er werde kommen.) Welche Funktion hat der Nebensatz? Der Nebensatz wird auch Gliedsatz genannt. Dieses Begriff gibt schon die Funktion an: Der Nebensatz (Gliedsatz) hat die Funktion, ein Satzglied zu ersetzen; ein Nebensatz vertritt, steht für ein Satzglied. Wenn diese Behauptung richtig ist, muss jeder Nebensatz in ein Satzglied - und umgekehrt - jedes Satzglied in einen Nebensatz verwandelt werden können. Im Prinzip ist diese Annahme richtig, wenn die Umwandlung auch nicht immer so glatt möglich ist wie bei den folgenden Beispielen. Das kranke Kind war sehr erschöpft. Das Kind, das krank ist, war sehr erschöpft. (HS) (HS, NS, HS) Wir erwarten, dass er sein Versprechen einlöst. Wir erwarten seine Einlösung seines Versprechens. (HS, NS) (HS) Dass der Vulkan ausgebrochen ist, steht in allen Zeitungen. (NS, HS) Der Ausbruch des Vulkans steht in allen Zeitungen. (HS) 137 Die Beispiele sagen auch etwas aus über die Stellung des Nebensatzes im Satzgefüge. Der NS kann auftreten (1) als nachgestellter NS, (2) als Vordersatz und (3) als zwischengeschobener NS Beispiele: - Wir bleiben zu Hause, weil es regnet. - Weil es regnet, bleiben wir zu Hause. - Wir bleiben, weil es regnet, zu Hause. Welche Arten von Nebensätzen gibt es? Die These, dass Nebensätze Satzglieder ersetzen, muss zu der Folgerung führen, dass es so viele Arten von Nebensätzen gibt wie Satzglieder. Wir unterscheiden fünf Satzglieder; also gibt es fünf Arten von Nebensätzen: Subjektsätze Prädikatsätze Objektsätze Adverbialsätze Attributsätze 3.2.1 Der Subjektsatz These: Ein Nebensatz, der das Subjekt vertritt, heißt Subjektsatz. Bsp.: - Wer fleißig ist, hat häufig Erfolg. (Der Fleißige hat häufig Erfolg.) - Wie lange der Flug dauert, ist ungewiss. (Die Dauer des Fluges ist ungewiss.) Aufgabe: Wandeln Sie die Subjektsätze in Subjekte um! 1. Dass die Preise fallen, erfreut den Kunden. __________________________________________ 2. Wer regelmäßig Sport treibt, trainiert seinen Körper. _____________________________________________________ 3. Es ist sicher, dass der Zug sofort abfährt. __________________________________________ 4. Es wäre mir sehr angenehm, wenn du mich besuchtest. ___________________________________________________ 138 5. Ob er siegt, hängt doch sehr von der Tagesform ab. ____________________________________________________ 6. Dass die Leistungen sinken, ist deutlich zu spüren. ________________________________________________________ 7. Jetzt ist mir klar, was du vorhattest. _______________________________________ Aufgabe: Bestimmen Sie das Subjekt des Satzes und wandeln Sie es in einen Subjektsatz um! 1. Ein Lügner ist unzuverlässig. _____________________________ 2. Komisches reizt zum Lachen. ___________________________ 3. Die Lösung der Aufgabe ist mir nicht bekannt. _____________________________________________ 4. Glück hat häufig nur der Tüchtige. __________________________________ 5. Seine Zahlungsfähigkeit muss noch überprüft werden. __________________________________________________ 6. Der Sieg unserer Mannschaft ist noch lange nicht sicher. _________________________________________________________ 7. Die Größe eurer Wohnung war mir bewusst. ______________________________________ 3.2.2 Der Objektsatz These: Der Nebensatz, der das Objekt vertritt, heißt Objektsatz. Aufgabe: Wandeln Sie den Nebensatz in ein einfaches Objekt um! 1. Wir wünschen dir, dass du Erfolg hast. _____________________________________ 139 2. Er bezahlte, was er schuldig war. _______________________________ 3. Ich rechne damit, dass ihr kommt. ________________________________ 4. Dass der Kunde angerufen hatte, hatte der Kaufmann vergessen. _____________________________________________________________ 5. Sie gedachten derer, die dieses Werk geschaffen hatten. _______________________________________________________ 6. Ich zweifle nicht daran, dass der Ring echt ist. _______________________________________________ 7. Alle waren überzeugt, dass die Mannschaft siegen wird. _____________________________________________________ 8. Der Verratene erkannte den, der ihn verraten hatte. ____________________________________________________ Aufgabe: Bestimmen Sie das Objekt des Satzes und wandeln Sie es um in einen Objektsatz! 1. Der Arzt hilft allen Kranken. ______________________________ 2. Seine Behauptung konnte der Wissenschaftler nicht beweisen. ____________________________________________________________ 3. Einem Betrüger kann man nicht trauen. ______________________________________ 4. Das Volk verlangte die sofortige Aufklärung des Verbrechens. _____________________________________________________________ 5. Wir erwarten die Rückzahlung des geliehenen Geldes. ___________________________________________________ 6. Segler freuen sich stets über einen günstigen Wind. __________________________________________________ 7. Das beschuldigte Kind beteuerte seine Unschuld. ______________________________________________ 8. Ihren Beschluss bereute sie noch Jahre später. ____________________________________________ 9. Ich erinnere mich noch gut an den Vorfall. _________________________________________ 140 3.2.3 Der Prädikatsatz These: Der Nebensatz, der ein Prädikat vertritt, heißt Prädikatsatz. Aufgabe: Wandeln Sie die Prädikatsätze in einfache Prädikate um! 1. Herr Kleinschmidt ist es, der die Filme zensiert. ________________________________________________ 2. James Watt war es, der die Dampfmaschine erfunden hat. _______________________________________________________ 3. Diese Äpfel sind es, die am besten schmecken. _____________________________________________ Aufgabe: Wandeln Sie die Prädikate um in Prädikatsätze! 1. Regen ist die Ursache vieler Unfälle. _____________________________________ 2. Herder ist der Gründer dieser Schule. _____________________________________ 3. Mein Onkel ist der Veranlasser dieser Aktion. _____________________________________________ 3. 2.4 Der Attributsatz These: Der Nebensatz, der ein Attribut vertritt, heißt Attributsatz. Aufgabe: Wandeln Sie die Attributsätze in einfache Attribute um! 1. Holz, das trocken ist, brennt gut. __________________________________ 2. Sende mir die Kiste, die beanstandet wurde, wieder zurück. __________________________________________________________ 3. Ich danke dir für das Geschenk, das du mir zugesandt hast. __________________________________________________________ 141 Aufgabe: Wandeln Sie die Attribute um in Attributsätze! 1. Wichtige Briefe lässt man einschreiben. ______________________________________ 2. Der Besitz des Grafen wird nun endlich versteigert. __________________________________________________ 3. Der Kaffee aus Guatemala hat ein hervorragendes Aroma. ______________________________________________________ 4. Der Rhein, Deutschlands größter Fluss, ist heute eine Kloake. ___________________________________________________________ 5. Die Art deines Benehmens erregte Anstoß. _______________________________________ 3.2.5 Die Adverbialsätze Die Adverbialsätze bilden die umfangreichste Gruppe der Nebensätze. Wie bei den adverbialen Bestimmungen nach Zeit, Ort, Art und Weise, Grund unterschieden wird, so auch bei den Adverbialsätzen. Aus der Temporalbestimmung wird ein temporaler Nebensatz bzw. ein Temporalsatz, aus der Lokalbestimmung ein Lokalsatz, aus der Modalbestimmung ein Modalsatz. Da die Kausalbestimmung mehrere Varianten in sich enthält, unterscheidet man bei den durch Umwandlung zustande kommenden Nebensätzen genau nach deren Funktion: Kausalsätze (im engeren Sinne) geben den Grund an; Finalsätze geben das Ziel an; Konsekutivsätze geben die Folge, die Konsequenz an; Konditionalsätze geben die Bedingung an; Konzessivsätze geben eine Einräumung an; Komparativsätze geben einen Vergleich an. Damit ergeben sich neun Arten der Adverbialsätze. Neben der inhaltlichen Funktion im Satzgefüge kann man diese Nebensätze auch an der spezifischen Konjunktion, mit denen sie eingeleitet werden, erkennen: temporale Konjunktionen: nachdem, bevor, während, als, wenn, bis, seit, indessen, solange, sooft, ehe, ... lokale Konjunktionen: wo, wohin, woher, ... modale Konjunktionen: indem, dadurch - dass, ohne - dass, als ob, wie, ... kausale Konjunktionen: weil, da, zumal, ... finale Konjunktionen: dass, damit, auf dass, ... konsekutive Konj.: dass, so dass, als dass, ... konditionale Konj.: wenn, es sei denn dass, falls, sofern, konzessive Konj.: obwohl, obgleich, obschon, wenngleich, wiewohl, ... komparative Konj.: wie, als ob, als wenn, gleich wie, ... 142 Aufgabe: Bestimmen Sie die Nebensätze und wandeln Sie diese in Satzglieder um! 1. Wir geben Bescheid, sobald die Nachricht eintrifft. ___________________________________________________ 2. Sie legte die Liste alphabetisch an, damit sie übersichtlich ist. _____________________________________________________________ 3. Wir wollen es nicht so machen, wie es vorgeschrieben ist. _________________________________________________________ 4. Er benahm sich, als habe er die Welt erobert. _____________________________________________ 5. Falls das Schiff früher einläuft, rufen wir an. ______________________________________________ 6. Das Kind betrat den Rasen, obwohl es verboten war. _________________________________________________ 7. Als wir das Porzellan einpackten, zerbrachen einige Teller. ___________________________________________________________ 8. Wo gehobelt wird, fallen Späne. _______________________________ 9. Weil die Witterung ungünstig war, sind die Kartoffeln teuer. ____________________________________________________________ 10. Er hat den Tisch so angefertigt, wie du es angegeben hattest. _____________________________________________________________ Aufgabe: Bestimmen Sie die adverbiale Bestimmungen und wandeln Sie diese in Adverbialsätze um! 1. Das Gasthaus liegt an der Kreuzung der beiden Landstraßen. _________________________________________________________ 2. Die Ölpreise sind wegen der Golfkrise gestiegen. _______________________________________________ 3. Trotz erheblicher Schwierigkeiten wurde das Projekt ein Erfolg. ______________________________________________________________ 143 4. Gemäß euren Wünschen wollen wir vorgehen. ________________________________________ 5. Bei einem Motorschaden müssen wir die Reise aufgeben. _____________________________________________________ 6. Zur Verbesserung der Qualität arbeitete sie noch sorgfältiger. ______________________________________________________________ 7. Mit etwas Fleiß kann jeder das selbst schaffen. _______________________________________________ 8. Beim Aas sammeln sich die Geier. _______________________________ 9. Die Lokomotive fuhr heftig dampfend davon. ___________________________________________ 10. Sie reiste zur Erholung aufs Land. _________________________________ 11. Ich komme auf dein Winken. __________________________ 12. Trotz des enormen Endspurts konnte er nicht gewinnen. _____________________________________________________ 13. Er sieht bemitleidenswert aus. _____________________________ 14. Wegen des heftigen Sturms blieben wir daheim. ____________________________________________ Zusammenfassende Übungen Übung (1): Bestimmen Sie das unterstrichene Satzglied und wandeln Sie es um in einen Nebensatz! 1. Der Fleißige hat häufig auch Erfolg. __________________________________________________________________ 2. Das Krokodil beweint seine Opfer nach dem Verzehr mit vielen Tränen. _________________________________________________________________ 3. Wichtige Briefe lässt man einschreiben. _________________________________________________________________ 144 4. Wir erwarten alsbald die Rückzahlung des geliehenen Geldes. _________________________________________________________________ 5. Regen ist die Ursache vieler Unfälle. _________________________________________________________________ 6. Seine Leistungsfähigkeit muss noch überprüft werden. _________________________________________________________________ 7. Das Volk verlangte die sofortige Aufklärung des Verbrechens. _________________________________________________________________ 8. Der Kaffee aus Guatemala hat ein gutes Aroma. _________________________________________________________________ 9. Wegen des rauschenden Wassers hörten die Bachstelzen nichts. __________________________________________________________________ 10. Die Größe eurer Wohnung war mir nicht bekannt. ________________________________________________________________ 11. Das beschuldigte Kind beteuerte seine Unschuld. ________________________________________________________________ 12. Der Storch bekämpft seine Übelkeit durch Trinken von Salzwasser. ________________________________________________________________ Übung (2): Bestimmen Sie die Art des Nebensatzes und wandeln Sie ihn in ein Satzglied um! 1. Holz, das trocken ist, brennt gut. __________________________________________________________________ 2. Alle waren überzeugt, dass die Mannschaft siegen wird. _________________________________________________________________ 3. Ob sie siegen wird, hängt von der Tagesform ab. __________________________________________________________________ 4. Kluge Schüler erledigen das, indem sie Computer einsetzen. __________________________________________________________________ 5. Dass der Kunde angerufen hatte, hatte der Verkäufer vergessen. __________________________________________________________________ 6. Dass die Preise fallen, erfreut die Kunden. __________________________________________________________________ 145 7. Senden Sie mir die Ware, die beanstandet wird, wieder zurück! __________________________________________________________________ 8. Ich zweifle nicht daran, dass der Ring echt ist. _________________________________________________________________ 9. Herr Reich-Ranicki ist es, der die Literatur kritisiert. _________________________________________________________________ 10. Ich rechne damit, dass ihr kommt. ________________________________________________________________ 11. Es ist nicht sicher, dass der Zug sofort abfährt. _________________________________________________________________ 12. Ich danke dir für das Geschenk, das du mir zugesandt hast. _________________________________________________________________ 13. Sie können billigeren Urlaub bekommen, wenn Sie bei uns buchen. _________________________________________________________________ 3.3 Satzglied - Nebensatz Bei der Umwandlung des Nebensatzes in ein Satzglied (und umgekehrt) haben die Konjunktionen (bzw. die Präpositionen) eine besondere Bedeutung. An ihnen - und das trifft besonders für die Adverbialsätze bzw. adverbialen Bestimmungen zu - lässt sich ablesen, um welche Art des Nebensatzes bzw. der Adverbialbestimmung es sich handelt. Wird z.B. ein Nebensatz mit der Konjunktion „damit“ eingeleitet, handelt es sich um einen Finalsatz (finaler NS); die entsprechende Präposition ist „zur“. Ich fahre, damit ich mich erholen kann, aufs Land. Ich fahre zur Erholung aufs Land. Da also Nebensätze mit ganz bestimmten Konjunktionen eingeleitet werden und da andrerseits adverbiale Bestimmungen mit ganz bestimmten Präpositionen gebildet werden, ergibt sich die folgende tabellarische Übersicht: Nebensätze (Konjunktionen) 1. temporale Konjunktionen: als, nachdem, während, indessen, sooft, solange, bis, wenn, sobald, seit, bevor, ehe ... Hauptsätze (Präpositionen) 1. temporale Präpositionen: seit, ab, binnen, bis, über, von - an, für, zwischen, innerhalb, ab ... 146 2. lokale Konjunktionen: wo, wohin, woher ... 2. lokale Präpositionen: an, auf, außerhalb, ab, abseits, diesseits, jenseits, hinter, von, durch, entlang, über, gegenüber, unterhalb, oberhalb, aus, längs ... 3. modale Konjunktionen: 3. modale Präpositionen: indem, wie, als ob, dadurch - dass, ohne - bei, anstatt, außer, ohne, wider, zuwider, dass ... gegen, ungeachtet, nach, ausschließlich .. 4. kausale Konjunktionen: 4.1. kausal: weil, da, zumal ... 4.2. final: dass, damit, um - zu, auf dass ... 4.3. konsekutiv: dass, sodass, als dass ... 4.4. konzessiv: obwohl, obgleich, obschon, wenngleich, wiewohl, trotzdem 4.5. konditional: wenn, falls, sofern, es sei denn, dass ... 5. komparative Konjunktionen: wie, als wenn, als, als ob, gleich wie ... 4. kausale Präpositionen: wegen, dank, kraft, durch, zwecks ... zur, infolge, zum ... bis - zu trotz, bei ... bei, anlässlich ... komparative Präpositionen: wie, als Wir haben die Nebensätze bisher gemäß ihrer inhaltlichen Funktion unterschieden. Betrachten wir die Nebensätze formal, also aus grammatikalischer Sicht, dann unterscheiden wir Konjunktionalsätze Relativsätze indirekte Fragesätze Infinitivsätze Partizipialsätze Konjunktionalsätze sind solche Nebensätze, die mit (unterordnenden) Konjunktionen (als, weil, obwohl ...) eingeleitet werden (z.B. alle Adverbialsätze) Relativsätze sind solche Nebensätze, die mit Relativpronomen (der, die, das, welcher, welche, welches) eingeleitet werden (z.B. alle Attributsätze) indirekte Fragesätze sind jene Nebensätze, die mit einem Fragewort (Interrogativpronomen) eingeleitet werden, also z.B. mit den Pronomen wer, wie, ob ... Infinitivsätze sind formal keine Sätze, weil sie keinen vollständigen Satzkern 147 besitzen, aber sie haben i.d.R. das Gewicht eines Nebensatzes und können auch in einen (normalen) Nebensatz umgeformt werden (Sie bat ihn nach Hamburg zu kommen. Sie bat ihn, dass er nach Hamburg komme. Ich freue mich (darüber) im Lotto gewonnen zu haben. Ich ... darüber, dass ich ...; Ich ...über meinen Lottogewinn.). Partizipialsätze sind (wie die Infinitivsätze) formal keine Sätze, haben aber das Gewicht eines Nebensatzes (Nach Hamburg reisend besuchte er seine Tochter. Indem er nach Hamburg reiste, besuchte er seine Tochter.). 3.4. Kommaregel Wir erinnern uns: Die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebensätzen ist für die Zeichensetzung wichtig. Die Grundregel heißt nämlich: Das Komma trennt Haupt- und Nebensätze voneinander. Bei den Infinitiv- und Partizipialsätzen hat sich die Regel geändert. Neuerdings können (erweiterte) Infinitiv- oder Partizipialsätze vom übrigen Satz durch Komma abgetrennt werden (Kann-Regelung). Aber sie müssen durch Kommas getrennt werden, wenn - der Infinitiv- oder Partizipialsatz durch ein Hinweiswort angekündigt oder - durch ein Rückverweiswort auf sie Bezug genommen wird oder - wenn sie zwischen Subjekt und Prädikat eingeschoben sind - wenn Missverständnisse ausgeschlossen werden müssen Beispiele: Die Abgaskontrolle dient dazu, die Umwelt zu schützen. So, von Zweifel getrieben, eilte er nach Hause. Mich den Zuhörern verständlich zu machen, das war meine Absicht. Von Zweifeln getrieben, so eilte er nach Hause. Jenny, bitterlich weinend, lief hinaus. Die Eltern, ohne das Kind zu beachten, rauchten weiter. Wir empfehlen ihm, zu folgen. Wir empfehlen, ihm zu folgen. Anne veranlasste ihn gestern, zu fahren. Sie veranlasste ihn, gestern zu fahren. Sie hatte Angst im Dunkeln, hinzufallen. Sie hatte Angst, im Dunkeln hinzufallen. 2. Regel: Infinitive mit zu, die mit um, ohne, statt, anstatt, außer, als eingeleitet sind, muss man grundsätzlich mit Kommas vom Gesamtsatz abtrennen, auch wenn sie nicht erweitert sind. Beispiele: Er redet lieber, anstatt zuzuhören. Sie ist zu ihm gegangen, um ihm zu helfen. 148 Es konnte ihr nichts Besseres passieren, als ihn zu treffen. Er lief weg, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie gab das Geld lieber aus, statt es zu sparen. Grammatik - Test (Satzglied - Nebensatz) A. Bestimmen Sie das unterstrichene Satzglied und wandeln Sie es um in einen Nebensatz! 1. Regelmäßiges Üben führt zur Überwindung der Defizite. 1.1. _______________________ 1.2. ______________________________________________________________. 2. Die Möglichkeit der Heilung ist bei Früherkennung sehr groß. 2.1. ________________ 2.2. ______________________________________________________________. 3. Defekt gelieferte Ware kann umgetauscht werden. 3.1. __________________ 3.2. ______________________________________________________________. 4. Der Hausmeister registrierte die starke Verschmutzung der Räume. 4.1. ____________________ 4.2.______________________________________________________________. 5. Er erklärte trotz der knapp gewordenen Zeit alles ganz genau. 5.1. _______________ 5.2. ______________________________________________________________. 6. Vor Bekanntgabe der Ergebnisse herrschte eine große Spannung. 6.1. ___________________________ 6.2.______________________________________________________________. 149 7. Die Dauer des Fluges kann exakt ausgerechnet werden. 7.1. ____________________________ 7.2. ______________________________________________________________. 8. Das gestern thematisierte Gedicht soll auswendig gelernt werden. 8.1. _____________________________ 8.2. ______________________________________________________________. 9. Den Ausbruch eines Gewitters erwarten wir noch heute. 9.1. ____________________________ 9.2. ______________________________________________________________. 10. Der alte Schäfer ist auch der Hüter der Schafe am Berghang. 10.1. ____________________________ 10.2. _____________________________________________________________. 11. Relativ präzise beschrieb er das Aussehen des Tatverdächtigen. 11.1. ____________________________ 11.2. _____________________________________________________________. B. Bestimmen Sie die Nebensätze und wandeln Sie diese um in Satzglieder! 1. Alle klatschten Beifall, als der Sänger die Bühne betrat. 1.1. ___________________ 1.2. __________________________________________________________. 2. Sie tat nichts, obwohl sie eindringlich gewarnt worden war. 2.1. ______________________ 2.2. ______________________________________________________________. 3. Dass alle die Grammatik beherrschen, ist schon wünschenswert. 3.1. ______________________ 3.2. ______________________________________________________________. 150 4. Wer trinkt, um zu vergessen, sollte vorher bezahlen. 4.1. ________________________ 4.2. ______________________________________________________________. 5. Der Abgeordnete nahm wieder zurück, was er beantragt hatte. 5.1. _______________________ 5.2. ______________________________________________________________. 6. Wenn dieser Test gut gelingt, sind Sie grammatikfest. 6.1. ______________________ 6.2. ______________________________________________________________. 7. Es wurde recht schnell aufgedeckt, dass einige Beträge fehlten. 7.1. _____________________________ 7.2. ______________________________________________________________. 8. Die Baustoffe müssen geliefert sein, bevor wir mit dem Bau beginnen. 8.1.______________________________ 8.2. ______________________________________________________________. 9. Die Flut, die immer größer wurde, konnte eingedämmt werden. 9.1. ______________________________ 9.2. ______________________________________________________________. 10. Der Täter, der aus der Haft entflohen war, wurde wieder eingefangen. 10.1. _____________________________ 10.2. _____________________________________________________________. 11. Es freut die Kunden, dass die Preise ständig fallen. 11.1.______________________________ 11.2. _____________________________________________________________. 151 12. Sie rechnete fest damit, dass sie versetzt würde. 12.1. _______________________________ 12.2 ___________________________________________________________. Test: Grammatik (Satzglied - Nebensatz) A. Bestimmen Sie das unterstrichene Satzglied und wandeln Sie es um in einen Nebensatz! 1. Vor Bekanntgabe der Ergebnisse herrschte eine große Spannung. 1.1. _______________________ 1.2. ______________________________________________________________. 2. Das Fehlen etlicher Beträge wurde schnell aufgeklärt. 2.1. ________________ 2.2. ______________________________________________________________. 3. Ich zweifle an der Echtheit des Ringes. 3.1. __________________ 3.2. ______________________________________________________________. 4. Der reich gedeckte Tisch war für alle eine Augenweide. 4.1. ____________________ 4.2.______________________________________________________________. 5. Schnee ist die Ursache vieler Auffahrunfälle. 5.1. _______________ 5.2. ______________________________________________________________. 6. Er verneinte mit energischem Kopfschütteln. 6.1. ___________________________ 6.2.______________________________________________________________. 152 7. Wegen eines Täuschungsversuchs wurde ihm das Heft abgenommen. 7.1. ____________________________ 7.2. ______________________________________________________________. B. Bestimmen Sie die Nebensätze und wandeln Sie diese um in Satzglieder! 1. Er führte sich auf, als ob er der Besitzer sei. 1.1. ___________________ 1.2. __________________________________________________________. 2. Es befremdete alle, wie er vor Gericht auftrat. 2.1. ______________________ 2.2. ______________________________________________________________. 3. Wir erwarten alle, dass sie uns alsbald besucht. 3.1. ______________________ 3.2. ______________________________________________________________. 4. Seit die Maschine abgehoben hat, habe ich ein seltsames Gefühl im Bauch. 4.1. ________________________ 4.2. ______________________________________________________________. 5. Das Gedicht, das wir gestern thematisiert haben, stammt von Schiller. 5.1. _______________________ 5.2. ______________________________________________________________. 6. Wenn der Motor ausfällt, müssen wir aufhören. 6.1. ______________________ 6.2. ______________________________________________________________. 7. Noch für heute erwarten wir, dass ein Gewitter ausbricht. 7.1. _____________________________ 7.2. ______________________________________________________________. 153 8. Er würde alles richtig machen, wenn er die Regeln beherrschen würde. 8.1. _____________________________ 8.2. ______________________________________________________________. 9. Sie wusste noch genau, woher er seine Zitate genommen hatte. 9.1. ____________________________ 9.2. ______________________________________________________________. 10. Keiner konnte sich erinnern, von wem der Flugzettel verteilt worden war. 10.1. ____________________________ 10.2. ______________________________________________________________. 154 Text und Textarten 1. Was ist ein Text? 2. Textarten 3. Pragmatische Texte (Sachtexte) 4. Literarische Texte - Unterhaltungsliteratur - ästhetische Literatur - literarische Wertung 5. Gattungen der Literatur 155 156 156 157 159 166 1. Was ist ein Text? Ein Text (lat.: texere = weben, flechten, zusammenfügen) ist ein Geflecht von Sätzen (Sinneinheiten), die nach bestimmten Regeln zusammengefügt sind. Die Regeln berücksichtigen formale (Grammatik, Semantik, Syntaktik, Stilistik) und inhaltliche (Thema, Problem, Kontexte) Anforderungen. Ein Text ist also ein geordnetes, geschlossenes Sprachganzes. 2. Textarten Das Kriterium für die Unterscheidung und Einteilung von Texten ist die Intention (Aussageabsicht). Gemäß den Vorstellungen und Zielen, die ein Verfasser realisieren will, lassen sich Textarten und Textsorten unterscheiden und einteilen. Aufgabe: Lesen und vergleichen Sie die beiden folgenden Texte in Bezug auf die Intention die Textart die Sprachverwendung Text 1 Hormone sind Botenstoffe, die von Teilen des Nervensystems, besonderen Hormondrüsen und manchen Geweben gebildet werden. Das Blut verteilt sie im Körper. Sie wirken in winzigen Mengen, nachhaltiger, aber weniger gezielt als die Impulse des Nervensystems. Ihre Wirkung entfalten die Hormone nur in solchen Zellen, die besondere "Auffangmoleküle" besitzen. Je mehr Auffangmoleküle in einer Zelle vorhanden sind, um so stärker kann sich das betreffende Hormon auswirken. In den Zellen wirken die Hormone auf die DNA-Verdoppelung, die Eiweißsynthese an den Ribosomen, den Energieumsatz in den Mitochondrien und die Durchlässigkeit der Plasmamembranen. Text 2 Zum Marktplatz kam neuerdings auch ein Wanderfriseur nach Suleyken, ein kleiner vergnügter Mann, der den Leuten das Haar im Freien abnahm, mitten im Quieken der Ferkel, im heiseren Brummen der Ochsen, zwischen all den Gerüchen eines masurischen Marktes, zwischen dem erdigen Geruch nach neuen Kartoffeln und dem Gestank nach altem Kohl, zwischen dem scharfen Geruch nach Kisten und Bretterzeug, nach Fischen, Hafer und Terpentin, zwischen dem sanften Kalkgeruch ausgenommener Hühner und dem sauberen Duft nach Äpfeln und Mohrrüben. Zwischen all den Gerüchen und Geräuschen in dieser hochschwangeren Luft, bediente der Wanderfriseur an einem trauten Herbstmorgen einen großen, schwarzhaarigen Mann, den schönen Alec, wie er genannt wurde, ein Wunder an Wuchs, auch wenn dieses Wunder barfüßig ging. 156 Sie werden in der Regel den ersten als pragmatischen Text oder Sachtext eingeordnet und den zweiten Text als literarischen Text erkannt haben. Der pragmatische Text könnte aus einem biologischen Sachbuch oder aus einem Schulbuch (Biologie) stammen. Die wesentlichen Merkmale solcher Texte können an ihm aufgezeigt werden: Pragmatische Texte (Sachtexte) sind realitätsbezogen, d.h., sie haben einen unmittelbaren Bezugspunkt in der Realität sind zweckorientiert, d.h., sie haben eine konkrete Funktion (z.B. in einem Lehrbuch) sind sachlich in der Darstellung sind eindeutig in der Intention (Information) richten sich an den Verstand (verstehender Nachvollzug) Der literarische Text (Text 2) ist der Beginn der Erzählung „Das war Onkel Manoah“ aus dem Buch „So zärtlich war Suleyken“ von Siegfried Lenz. Das Buch besteht aus 20 Erzählungen über die Bewohner der masurischen Stadt Suleyken , ihre Lebensumstände und Auseinandersetzungen. Doch dieser Ort Suleyken existiert so wenig wie seine Einwohner; auf keiner Karte ist er zu finden. Erst in der Vorstellung des Lesers wird der erfundene Markt zu einem Ort, wie er tatsächlich sein könnte. Dem Erzähler ist es gelungen, den Markt so anschaulich zu schildern, dass der Leser sich ihn gut vorstellen kann. Der Erzähler hat wirkliche Gegenstände ausgewählt und mit Erdachtem gemischt. Der Markt von Suleyken ist also sowohl Erfindung (Fiktion) als auch Wirklichkeit, eine erfundene Wirklichkeit, die dem Leser ebenso interessant erscheinen kann wie die reale Lebenswirklichkeit, mit der er sich täglich auseinandersetzen muss. Auch an diesem Text lassen sich in einer ersten Herangehensweise und im Unterschied zu den Sachtexten die wesentlichen Merkmale literarischer Texte aufzeigen: Literarische Texte sind nicht wirklichkeitsgebunden, sondern fiktiv, d.h., sie schaffen eine eigene Wirklichkeit sind nicht zweckgebunden, sie haben keine feste Funktion sind kreativ und vielschichtig in der Darstellung (Sprachkunstwerk) sind nicht eindeutig in der Intention richten sich an den ganzen Menschen 3. Pragmatische Texte (Sachtexte) Es gibt eine scheinbar unüberschaubare Fülle von Sachtexten. Kochrezepte und Zeitungsartikel sind hier ebenso einzuordnen wie Vereinssatzungen und Polizeiberichte. Um diese Fülle unterschiedlicher Textsorten dennoch zu ordnen, hilft auch hier der Blick auf die Intention. Fragt man , was die einzelnen Texte wollen, bekommt man ein übersichtliches Bild. Wir können demnach unterscheiden informative (mitteilende) Texte kognitive (belehrende) Texte normative (regelnde) Texte appellative (auffordernde) Texte 157 ⇒ Informative Texte sind mitteilende, berichtende, beschreibende und Meldungen übermittelnde Texte Textsorten: Meldung, Nachricht, Beschreibung, Charakteristik, Protokoll, Kommentar, die meisten journalistischen Formen: Leitartikel, Leserbrief, Rezension, Interview, Klappentext, Karikatur ... ⇒ Kognitive Texte (lat. kogitare = erkennen) sind auf Erkenntnis gerichtete, belehrende, unterrichtende, auf Denken beruhende und abzielende Texte Textsorten: wissenschaftliche Texte, Fachbücher, Lehrbücher, Sachbücher und -artikel, populärwissenschaftliche Texte; aber auch schriftliche schulische Formen: Erörterung, Textanalyse, Begriffsbestimmung, Facharbeit ⇒ NormativeTexte sind zum einen solche mit amtlichem oder nichtamtlichem Charakter (z.B. Gesetze, Erlasse, Abkommen, Verträge, Urteile, Vorschriften, Verordnungen, Satzungen, Anweisungen, Bestimmungen, Hinweise ...), zum anderen solche Texte, die unmittelbar normieren und mittelbar wirken (z.B. Gesetze, Verbote, Gebote, Verordnungen, Richtlinien, Verträge, Aufrufe, Reden, Arbeitsanleitungen, Ratschläge ...) ⇒ Appellative Texte (lat.: appellare = um Hilfe ansprechen, aufrufen) sind solche Texte, die sich auffordernd bzw. werbend an den Adressaten wenden und ihn zu einem bestimmten Verhalten oder zu einer bestimmten Handlung aufrufen. Textsorten: Zu den appellativen Texten werden gezählt: → die manipulativen Texte, die gezielt den Adressaten lenken, auch mit unterschwelliger Beeinflussung, mit List und Tricks; solche Texte kommen aus den Bereichen: Politik, Wirtschaft, Kultur (Rundschreiben, plakative Texte, Flugblätter, Aufrufe, Einladungen, Prospekte usw.) → die persuasiven (überredenden) Texte aus Wirtschaft und Werbung (Slogans, Prospekte, Annoncen, Programme usw.) → die agitativen (aufreizenden, aufhetzenden) Texte aus den Bereichen Politik und Wirtschaft (Propagandatexte, Rundschreiben, Aufrufe, Vorträge usw.) → die provokativen (herausfordernden) Texte aus den Bereichen Politik und Kultur (Schlagzeilen, Flugblätter, Handzettel usw.) → die suggestiven (einredenden) Texte (Werbetexte, Selbstdarstellungen, Erfolgsberichte usw.) → die demagogischen (aufwiegelnden) Texte (Aufklärungsschriften, Ansprachen, Warnungen, Vorträge, Reden usw.) . 158 4. Literarische Texte Aufgabe: Lesen und vergleichen Sie die folgenden Texte in Bezug auf - Stil und Sprache - Wirkung Text 1 Peter brauchte daher ein paar Sekunden, bis er sich in der Lage fühlte, ihr eine Antwort geben zu können. Er spürte, wie sein Herz rascher schlug, und auf einmal rauschte das Blut in seinen Adern. Gefühle, die monatelang verschüttet gewesen waren, brachen sich nun auf einmal Bahn. Der Mann in ihm war erwacht ... Da stand eine hübsche, begehrenswerte Frau vor ihm, und sie hatte ihm soeben ihre Liebe gestanden. In ihren blauen Augen las er ihre Bereitschaft, und das brachte sein Blut in Wallung, fast von einem Moment zum anderen. Peters Stimme klang verändert. „Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit“, erwiderte er. „Wissen Sie, dass Sie mir eine große Freude damit bereiten?“ „Ich fürchtete eher, dass Sie ...“ Ihr Blick war eine einzige Lockung. „Es ist immer gut zu erkennen, dass man von anderen Menschen nicht nur als Arbeitsmaschine gewertet wird“, sagte Peter Hoffmann mit rau gewordener Stimme. „Sie haben sich hier als Arbeitsmaschine eingeführt“, sagte sie mit dunkler Stimme, „aber das sind Sie im Grunde genommen gar nicht. Als Frau hat man ein feines Gespür dafür. Sie sind ein Mensch wie jeder andere, ein Mann mit Ausstrahlung, der man sich als Frau nur schlecht entziehen kann, auch wenn man sachlich miteinander zusammen arbeitet. Aber vielleicht ist es besser, wenn wir dieses Thema abbrechen.“ Ohne dass es ihm bewusst wurde, trat er einen halben Schritt näher an sie heran. „Warum sollte es besser sein?“ fragte er. Ihr Blick irrte ab, aber nur für eine Sekunde. „Weil ... ich fürchte, Sie könnten mein Bekenntnis falsch auslegen“, antwortete sie stockend. „Inwiefern?“ „Sie ... Sie sehen sehr gut aus, Sie sind sehr reich ... welche Frau wünscht sich da nicht, sich an Ihre Seite stellen zu können?“ Ein unergründliches Lächeln schwebte um ihren Mund. „Haben Sie denn noch nie von jenen Frauen gehört, die alles daran setzen, einen reichen Mann an die Angel zu bekommen, damit sie für den Rest ihres Lebens ausgesorgt haben? Ich möchte auf keinen Fall mit diesen Frauen verwechselt werden. Deswegen ist es wohl ratsam, wenn wir uns von jetzt an nur noch über das Wetter unterhalten.“ Eine Woge brach über Peter Hoffmann zusammen, eine Woge, die alles Denken und Fühlen, alle Erinnerung in ihm auslöschte. Ohne dass es ihm so recht bewusst wurde, zog er Nancy in seine Arme. Ihre blauen Augen flammten auf. Der lockende Mund öffnete sich ein wenig, und Peter glaubte zu fühlen, dass sie am ganzen Körper zitterte. Plötzlich küsste er sie. Dämme brachen in ihm, die Flut, die hereinbrach, raubten ihm den klaren Verstand. Er küsste eine fremde Frau, er küsste sie voller Leidenschaft und Verlangen, und er dachte nicht mehr daran, dass es daheim eine andere gab, die sich in Sehnsucht nach ihm verzehrte, der sein Herz gehörte. Peter küsste Nancy heiß und verzehrend, und die Frau in seinen Armen erwiderte den Kuss mit glutvoller Leidenschaft. Sie ergab sich diesem Kuss, sie kannte keine Scheu und keine Hemmungen. Ihr ganzes Wesen und ihr ganzes Herz schienen in diesem Kuss zu liegen, und ein wenig erschrak Peter vor ihrer stürmischen Heftigkeit, bevor ihm das klare Denken vollends abhanden geriet ... 159 Text 2 (Brief an Wilhelm, geschrieben am 16. Julius) Ach wie mir das durch alle Adern läuft, wenn mein Finger unversehens den ihrigen berührt, wenn unsere Füße sich unter dem Tisch begegnen! Ich ziehe zurück wie vom Feuer, und eine geheime Kraft zieht mich wieder vorwärts - mir wird’s so schwindelig vor allen Sinnen. - O! und ihre Unschuld, ihre unbefangene Seele fühlt nicht, wie sehr mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn sie gar im Gespräch ihre Hand auf die meinige legt und im Interesse der Unterredung näher zu mir rückt, dass der himmlische Atem ihres Mundes meine Lippen erreichen kann: ich glaube zu versinken, wie vom Wetter gerührt. - Und Wilhelm! Wenn ich mich jemals unterstehe, diesen Himmel, dieses Vertrauen -! Du verstehst mich. Nein, mein Herz ist so verderbt nicht! Schwach! Schwach genug! - Und ist das nicht Verderben? Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart. Ich weiß nie, wie mir ist, wenn ich bei ihr bin; es ist, als wenn die Seele sich mir in allen Nerven umkehrte. - Sie hat eine Melodie, die sie auf dem Klavier spielet mit der Kraft eines Engels, so simpel und so geistvoll! Es ist ihr Leiblied, und mich stellt es von aller Pein, Verwirrung und Grillen her, wenn sie nur die erste Note davon greift. Kein Wort von der Zauberkraft der alten Musik ist mir unwahrscheinlich. Wie mich der einfache Gesang angreift! Und wie sie ihn anzubringen weiß, oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor den Kopf schießen möchte! Die Irrung und Finsternis meiner Seele zerstreut sich, und ich atme wieder freier. _________________________________ Beide Texte sind fiktiv, geben erfundene Wirklichkeiten wieder. Sie haben jedoch sicherlich bemerkt, dass sie sich in Darstellung und Wirkung unterscheiden. Wir stoßen damit auf ein wichtiges Problem, das nicht unumstritten ist, nämlich auf das Problem der literarischen Wertung. Es kann in der Frage zusammengefasst werden: Wer entscheidet nach welchen Kriterien darüber, ob etwas hochwertige Literatur, also Kunst ist? Die Alternative zur literarischen Differenzierung wäre die kollektive Gleichwertigkeit aller literarischen Gebilde und damit ein auswegloser Relativismus. Ein Relativismus ist aber nicht haltbar, da - wie Sie an den beiden Beispielen gesehen haben - die verschiedenen Werke durchaus deutliche Qualitätsunterschiede aufweisen. Ein Textvergleich zeigt diese Unterschiede, und zwar sowohl auf der Inhaltsebene als auch auf der formalen Ebene. Der Unterschied ergibt sich - wie noch zu belegen ist - auch aus den verschiedenen Intentionen. Die sogenannte Kunstliteratur, mit der Sie es im Deutschunterricht zu tun haben, verfolgt andere Absichten als die sogenannte Unterhaltungsliteratur. Text 1 ist dem Silvia-Roman „So grenzenlos kann Liebe sein“ von Lore von Holten entnommen, also einem Heftchen-Roman, hier aus dem Bastei Verlag (Band 571, o.J.). Diese erscheinen wöchentlich oder monatlich und bedienen Millionen von Leserinnen und Lesern. Die Auflagen dieser Unterhaltungsliteratur sind ungleich höher als die der Kunstliteratur. Das muss Gründe haben. Schauen wir uns zunächst die Merkmale der Unterhaltungsliteratur an: Unterhaltungsliteratur oder Trivialliteratur ist eine umstrittene Bezeichnung für eine umstrittene Form der Literatur; schon die Bezeichnung enthält ein Werturteil, insofern sie die Minderwertigkeit dieser literarischen Erzeugnisse behauptet, die inhaltlich und sprachlich-stilistisch nicht den geltenden Normen der sog. "hohen" Literatur 160 entsprechen. Im Unterschied zur Kunstliteratur ist die Unterhaltungsliteratur Zeugnis einer Massenkultur, die mehr Menschen erreicht als die Kunstliteratur. Unterhaltungsliteratur wird serienmäßig, häufig pseudonym von vertraglich bestellten Autoren verfasst. Die Arten und Textsorten der Unterhaltungsliteratur sind vielfältig: Kriminalromane, Groschenhefte, Liebes-, Frauen-, Arzt-, Schicksals, Adels-, Fortsetzungs-, Abenteuer-, Science Fiction-Romane, Western, Biographien von Prominenten, Comics, Trivialdramen (Volksstücke), Schlagertexte, Gelegenheitsgedichte, Erbauungsschriften, Bildergeschichten usw. Die Inhalte sind meist durch die Textsorte festgelegt. Ein Liebesroman handelt von der Liebe, von Beziehungen, von Liebesglück, Liebesleid, von Konflikten; Landserromane handeln vom Krieg, vom Soldatenleben, von Heldentaten usw. Entscheidender ist hierbei die Art der Darbietung. Grob verallgemeinert darf gesagt werden, dass die Unterhaltungsliteratur beinhaltet: durchschaubare menschliche und äußere Situationen, typische und typisierte Personen bzw. Personengruppen mit vorgeprägtem Schicksal, wenige Grundmuster bzw. Schablonen hinsichtlich Aufbau und Erzählstruktur, Wortwahl und Satzbau, stereotype Handlungen und Verhaltensweisen je nach Art des Romans, eine einfache, durchschaubare "innere" Welt an Vorstellungen, Einstellungen, Wünschen, Stilisierung auf Wunscherfüllung und Gegenwelten (z.B. Idylle), Verknüpfung märchenhafter Elemente mit realen sozialen Gegebenheiten (Trivialisierung des Lebens), Illusion der Realitätsmeisterung in allen Situationen, klischeehafte Reduzierungen der Wirklichkeit auf klare überschaubare Segmente, Banalitäten, Scheinprobleme, Sentimentalitäten, Preziositäten; Fehlen der kritischen und ironischen Distanz. Auf drei wesentliche Formprinzipien der Unterhaltungsliteratur kann hingewiesen werden: 1. das Prinzip der Voraussagbarkeit, das es dem Leser ermöglicht, immer zu wissen, wie es weitergeht und wie es enden wird 2. das Prinzip der Vertauschbarkeit, das durch die Typisierung und Stilisierung der Personen, der Handlungen, der Denk- und Fühlweisen u.a. erreicht wird 3. das Prinzip der Häufung von Schicksalen, Verhaltensweisen, Wirkungen u.ä. Die Verfasser solcher Texte beabsichtigen zu unterhalten, zu entspannen, abzulenken, indem sie weder vom Inhalt noch von der Sprache her besondere Ansprüche oder Anforderungen stellen Scheinbefriedigungen anzubieten, Wünsche zu erfüllen, Sehnsüchte zu stillen, Prestige zu heben usw. mit Menschen, Vorstellungen und Verhaltensweisen vertraut zu machen, die Modellcharakter besitzen, typisch sein und zur Identifikation anregen sollen; 161 den Leser in Traumwelten, Schein-, Zukunfts- oder Abenteuerwelten zu versetzen, in denen er sich glücklich und anerkannt fühlen kann; durch "Nervenkitzel" Spannung und Anreiz zu erzeugen und zum weiteren Konsum solcher Texte zu veranlassen. So wie die Inhaltsschemata je nach Textsorte variiert werden, passen sich auch die Sprachmuster diesen Gegebenheiten an. Im einzelnen können folgende sprachliche Eigenheiten genannt werden: Unterschiedliche Sprachebenen: Idiolekte, Dialekte, Soziolekte, Hochsprache, poetische Sprache; die Science Fiktion-Romane ahmen eine wissenschaftliche Sprache nach, der Bergroman bevorzugt den Dialekt, Arztromane die Hochsprache; in einzelnen Fällen kann geradezu von einer Sondersprache gesprochen werden. Oft ist die Mitteilungskraft der gewählten Sprache sehr eingeschränkt, oft schrumpft sie zum Klischee (Verwendung von Sprichwörtern, Redensarten, Redewendungen, umgangssprachliche Formeln als Ausdruck der "Volksnähe"). Verben und Adjektive sind jeweils personen-, geschehens- und situationstypisch und haben zumeist charakterisierende oder Atmosphäre erzeugende Funktion. Wort- und Ausdruckswiederholungen entsprechen dem Formprinzip der Häufung (das liebe, zarte, geschmeidige Mädchen lächelt, tänzelt und schmiegt sich in die Arme ...). Wortmalereien und poetisierende Wendungen finden sich häufig bei Landschaftsschilderungen, oft auch gekünstelte Formulierungen, seltene Wortbildungen, gezierte und überladene Bilder, Übertreibungen. Bilder, Metaphern und Vergleiche (meist aus der Natur) werden zum Zweck der Reizerhöhung eingesetzt. Sprachliche Überhöhungen (durch Superlative, Reizwörter o.ä. oder durch formale Möglichkeiten des Drucks - Kursiv- oder Sperrdruck, Großbuchstaben) dienen der Eindringlichkeit. Kurze Sätze, Satzreihen, Prinzip der Häufung, Ausrufesätze, kurze Dialoge, wörtliche Rede (umgangssprachlich). Die spezifischen Merkmale der Unterhaltungsliteratur zeigen deutlich die Absicht dieser Art von Literatur: Die Leserin bzw. der Leser soll unterhalten werden dadurch, dass eine Gegenwelt zur faktisch gesellschaftlichen Wirklichkeit aufgebaut wird, in der sie bzw. er die geheimen oder „wahren“ Bedürfnisse ausleben kann, allerdings nur im Traum. Ersatzbefriedigungen und Fluchtmöglichkeiten werden angeboten, die wenigstens für die Zeit des Lesens den (grässlichen) Alltag ausblenden. Die Unterhaltungsliteratur ist von vornherein auf diese eher psychologische Intention orientiert und hat deshalb nicht den Anspruch der Kunstliteratur. Der Vorwurf der Minderwertigkeit der Unterhaltungsliteratur ist nicht gerechtfertigt, weil sie nicht an den völlig anderen Kriterien der Kunstliteratur gemessen werden kann. Dass die Unterhaltungsliteratur oft auch fragwürdige ideologische Ziele anstrebt (z.B. Stabilisierung gesellschaftlicher Zustände, Festlegung geschlechtlicher Rollenbilder usw.) und häufig auch moralisch bedenkliche Werte festschreibt (z.B. Reichtum, Liebe, Schönheit, gesellschaftliches Prestige), wird nur dem kritischen Leser auffallen. Aber vielleicht entsprechen diese Ziele und Werte ja den heimlichen Wünschen der Leserschaft. 162 Text 2 stammt aus Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“, einem Briefroman, der 1774 erschienen ist. Darin geht es um einen jungen Mann aus dem wohlhabenden Bürgertum, der sich, seiner vertrauten gesellschaftlichen Umgebung überdrüssig, zurückgezogen hat und sich auf dem Lande, in der Natur, im Umgang mit den Dorfbewohnern und mit Kindern erholt, mit Malen und Lesen beschäftigt. So meint er, ein neues, befreiteres Leben finden zu können. In dieser Aufbruchstimmung begegnet er Lotte, der Tochter eines fürstlichen Amtmanns, die anstelle der verstorbenen Mutter die große Familie versorgt. Werther verliebt sich in Lotte, aber sie ist bereits verlobt. Als er Albert, ihren Bräutigam, kennenlernt, entwickelt sich ein gutes Verhältnis, doch Werther kann sich mit dem Verlöbnis nicht abfinden. Er vergleicht seine Liebe zu Lotte mit einer lebensgefährlichen Krankheit - er denkt an Selbstmord. Der Verlauf der weiteren Handlung zeigt dann die unterschiedlichen „Leiden des jungen Werthers“ auf, die sich nicht nur auf die unglückliche Liebe zu Lotte beschränken. Zuletzt erschießt sich Werther. In dem oben abgedruckten Auszug (Text 2) erinnert sich Werther an die körperliche Berührung mit Lotte, die in ihm ein erotisches Verlangen auslöst, das aber keine Erfüllung finden darf. Das sexuelle Begehren wird mit Schuldgefühlen besetzt, womit Lottes Unschuld noch höher erhoben wird. Lottes Heiligkeit und ihr Klavierspiel bewirken die Wandlung, die Abkehr vom Sinnlich-Erotischen und die Hinwendung zur Musik, zum Sinnlich-Geistigen. Diese Sublimierung wird von Werther als Befreiung erlebt. Schon diese grobe Inhaltsanalyse lässt erkennen, dass hier ein vielschichtiges und in etlichen Kontexten verwobenes Geschehen dargeboten ist. Da ist zunächst der empfindsame Werther, der in Lotte eine Seelenverwandte, also eine ebenso empfindsame Seele, erkennt, zu der er sich stark hingezogen fühlt. Die körperliche Berührung löst schwärmerische Begeisterung, aber auch den Argwohn seiner Selbstkontrolle aus. Er weiß, dass Lotte verlobt ist, und muss deshalb eine Strategie finden, seine innere Zerrissenheit zu überwinden. Die Art und Weise seines Vorgehens spiegelt das Normen- und Wertesystem seiner gesellschaftlichen Zugehörigkeit wider, worin wiederum politisch-gesellschaftliche Zustände sichtbar werden. Noch andere Inhaltsaspekte fallen auf: Lottes Verhalten, die Rolle der Musik usw. Die Form (Briefroman) und die Sprache (Sprache des Herzens), in der das Geschehen dargeboten werden, verweisen auf den literaturhistorischen Zusammenhang (Epoche der Empfindsamkeit). Schließlich ist auch noch der biografische Entstehungszusammenhang (Goethes Leben und Denken, Einflüsse und Anregungen) zu nennen, der ebenfalls in das Erzählte hineinspielt und zum Verständnis des Ganzen beiträgt. Zusammengefasst können wir hier schon einmal festhalten: Jedes Werk der sogenannten Kunstliteratur basiert auf biografischen, literaturgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Entstehungszusammenhängen. Diese ermöglichen auch das Verständnis und die Interpretation der literarischen Werke. Der wichtigste von den dreien ist der literaturhistorische Kontext, weil darin die besonderen Eigenheiten z.B. einer Epoche oder Generation wie ästhetische Besonderheiten, Kunstauffassung, Selbstverständnis des Künstlers usw. enthalten sind. Am vorliegenden Beispiel („Werther“) stellt sich z.B. die Frage: Wieso „Briefroman“? Oder breiter gefragt: Wieso gibt es im 18.Jh. in ganz Europa diese neue Gattung? Es hat zu tun mit der Entdeckung der Subjektivität im 18. Jh., mit Rousseau, mit der Zivilisationskritik, mit der Kritik an der rationalistischen Aufklärung usw. Der Briefroman ist Ausdruck eines subjektiven Schreibens, im Brief, ähnlich wie im 163 Tagebuch, können innere Empfindungen und Gefühle unmittelbar ausgedrückt werden, weil die Distanz eines Erzählers wegfällt. Werther schreibt seine Briefe an seinen Freund Wilhelm. Weil Werther von seinen innigsten Gefühlen und ureigenen Empfindungen redet, ist der Briefroman die adäquate Form. Versuchen wir nun die wichtigsten Merkmale der Kunstliteratur zusammenzufassen (in Zukunft nennen wir die Kunstliteratur oder die poetisch-ästhetische Literatur oder die Literatur im engeren Sinne nur noch „Literatur“, weil wir wesentlich nur mit dieser zu tun haben): Literarische Texte sind vielschichtig (polyvalent, multidimesional): Sie haben eine vordergründige Handlung, ein oberflächliches Geschehen und sie besitzen eine Tiefendimension (das eigentlich Gemeinte). Das Dargestellte ist lediglich eine Veranschaulichung des Gemeinten, eine Konkretisierung, ein Beispiel. Das eigentlich Gemeinte - auch Gehalt genannt - geht über das Dargestellte weit hinaus und verweist auf größere, abstrakte (gesellschaftliche, historische, philosophische ...) Zusammenhänge. Die Vielschichtigkeit hat zur Folge, dass literarische Texte prinzipiell unausschöpflich sind; sie sind unausschöpfbar, insofern sie jedem Leser, jeder Generation neue Deutungsmöglichkeiten und Sinnbezüge bietet und also nie zu Ende interpretiert werden können. Die Multidimensionalität zeigt sich beispielsweise in einem Roman in der Vielzahl der Elemente, die er in sich vereint. Dabei können unterschieden werden: 1. das rezeptive Element (In dem Text werden Begebenheiten, Fantasien, Wünsche und Normen der jeweiligen Gesellschaft aufgenommen. Der Text spiegelt die Zeit sowie soziale Prototypen wider) 2. das reflektive Element (Im Text wird ein zentrales Problem aufgedeckt, das die Menschen in der jeweiligen Zeit beschäftigt hat; der Autor zeichnet ein Bild mit besonderer Tiefenschärfe und konfrontiert den Leser mit Gegebenheiten der jeweiligen Gesellschaft.) 3. das ideologische Element (Im Text werden Strukturen, Praktiken, Ziele der Gesellschaft konserviert, kritisiert oder abgelehnt und durch andere Normen ersetzt.) 4. das kommunikative Element (Der Text ist Botschaft des Autors für eine bestimmte Zielgruppe und Anlass zu einem Meinungs- und Ideenaustausch zwischen Autor und Leser. Über den Text beeinflusst der Autor den Leser, der selbst wiederum auf den Autor zurückwirkt; hierbei sind Autor und Leser aufeinander angewiesen.) 5. das normative Element (Der Text enthält möglicherweise Aufforderungen an den Konsumenten, Gegebenheiten und Normen, Regeln und Gesetze anzuerkennen.) 6. das aktivierende Element (Durch reflektive und ideologische Elemente im Text wird der Leser u.U. zur 164 Aktion veranlasst. Der Leser ist gewissermaßen der verlängerte Arm des Autors.) 7. das revolutionäre Element (Literatur, die ein bestehendes Gesellschaftssystem in Frage stellt, ein Gegenmodell erstellt und fordert, enthält revolutionäre Elemente.) 8. das ästhetische Element (Literarische Produkte sind nach den Regeln der Ästhetik hergestellt. Diese beschäftigt sich mit der Fähigkeit, das Kunstschöne und ästhetisch Belangvolle (das Tragische, Komische usw.) zu schaffen, zu erkennen, zu werten und zu erleben. Poetiken, Analysen und Interpretationen geben Auskunft über die ästhetische Struktur von Texten.) Literatur ist fiktiv, d.h. sie liefert eine erfundene Wirklichkeit. Literatur muss immer - auch wenn sie die naturalistische Widerspiegelung anstrebt - etwas prinzipiell anderes sein als das, was sie abbildet (Gegenstand, Gesellschaft, Thema, Problem). Als fiktive ist Literatur umbildende Abbildung und als Kunstwerk muss sie in der Formstruktur die Stimmigkeit eines in sich geschlossenen Ganzen erhalten. Nur dadurch kann die Illusion der zweiten Wirklichkeit erzeugt werden. Damit wird die Form zu einem notwendigen Konstitutiv des Inhalts. Form und Inhalt bedingen einander: Jeder Inhalt spiegelt sich in der adäquaten Form, die Form bringt den Inhalt allererst hervor. Diese stilistische Stimmigkeit aller Einzelmomente bezieht sich ebenso auf die inhaltlichen Aspekte wie auf die Strukturelemente und auf die sprachlichen Mittel. Literatur meint Kunstwerk, Sprachkunstwerk, d.h. die Sprache ist Werkzeug und Mittel, Stil und Form. Mittels Sprache wird das "Innere", das Eigentliche, der Gehalt sichtbar gemacht. Wort, Satz und Text sind nicht nur grammatisch zu verstehen und zu bewerten; sie haben funktionale Bedeutung: stilistische, formale, kompositionelle. Die fiktive Wirklichkeit zu gestalten und dabei das Eigentliche aufscheinen zu lassen, das ist die Funktion der literarischen Sprache. Am eindruckvollsten wird das in der Lyrik deutlich. Das bedeutet: Die Sprache bzw. die sprachlichen Zeichen bekommen in der Literatur eine weitere Dimension. Zu der denotativen (bezeichnenden) und konnotativen (mitbezeichnenden, kontextumfassenden) Bedeutung kommt die literarisch-symbolische Ebene, die das sprachliche Zeichen im und durch das Ganze (Kunstwerk) gewinnt - jene tiefere Dimension, die "zwischen den Zeilen" erkennbar wird. Literarische Texte erfordern einen aktiven Leser, der von dem dargestellten Geschehen angeregt, evtl. auch emotional einbezogen wird und darüber hinaus durch Reflexion die eigentliche Intention erfassen soll. Diese zeigt sich nicht sofort und automatisch, sondern muss erschlossen werden. Literarisches Sprechen ist "uneigentliches Sprechen", weil das Gemeinte nicht konkret und direkt, sondern verschlüsselt (enkodiert) dargestellt ist. Die Entschlüsselung (Dekodierung) geschieht über Analyse und Interpretation. Das Verständnis literarischer Texte setzt beim Leser bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten voraus. (Das gilt für die Kunst generell.) Literarische Texte wollen gleichzeitig unterhalten, erfreuen, aufklären, belehren, 165 nachdenklich machen, kritisieren, verändern und verbessern; sie wollen Lebensanschauungen, Überzeugungen und Gewohnheiten relativieren und den Horizont des Lesers durch neue Seh- und Denkmöglichkeiten erweitern. 5. Gattungen der Literatur Seit der Antike gibt es Dichtung in den drei Grundformen: Epik, Lyrik und Dramatik. Aristoteles hat in seiner „Poetik“ als erster den Versuch unternommen, diese drei Gattungen zu definieren. Danach ist 1. die Epik der monologische Bericht einer Handlung; neben einer möglichen Handlung kann auch ein bloßes Geschehen berichtet werden, etwa Naturvorgänge, oder es können Landschaftsschilderungen gegeben werden; 2. die Lyrik die monologische Darstellung eines Zustandes; hier können vor allem Gefühle, Stimmungen und innere Erlebnisse künstlerisch ausgedrückt werden; 3. die Dramatik die dialogische Darstellung einer Handlung; der handelnde Mensch steht im Zentrum des dramatischen Geschehens. 166 Literarische Texte erschließen Texte erschließen 1. Literarische Texte erschließen 1.1. Untersuchendes Erschließen: Textinterpretation 1.1.1. die Epik Beispiel: „Neapel sehen“ von Kurt Marti - Inhaltsanalyse - Strukturanalyse - Sprachanalyse Die wichtigsten stilistischen Mittel Leitfragen für die Textinterpretation Methodik der Textinterpretation (Zsfg.) 169 169 169 169 173 176 179 185 192 197 200 Textsorte: Kurzgeschichte P. Bichsel: Die Tochter W. Wondratschek: Mittagspause R. Musil: Ein Verkehrsunfall M.L. Kaschnitz: Hobbyraum Ein ruhiges Haus St. Andres: Das Trockendock G. Wohmann: Kompakt P. Bichsel: San Salvador S. Kirsch: Katzenpfote G. Wohmann: Die Klavierstunde H. Heckmann: Das Henkersmahl F. Kafka: Der Nachbar W. Schnurre: Die Prinzessin W. Borchert: Die Küchenuhr Mein bleicher Bruder I. Aichinger: Das Fenster - Theater 201 201 202 203 204 204 205 207 207 208 209 211 212 213 214 216 218 167 Textsorte: Parabel A. Schopenhauer: Die Stachelschweine J.G. Herder: Die Ratte in der Bildsäule F. Kafka: Gib’s auf Die Maus B. Brecht: In Erwartung großer Stürme Wenn die Haifische Menschen wären M. Buber: Der Palast E. Bloch: Armer und reicher Teufel W. Schnurre: Das Los unserer Stadt A. Schnitzler: Parabeln 220 220 220 221 221 221 221 222 223 223 224 1.1.2 die Lyrik Beispiel: „Er ist’s“ von E. Mörike Gedichtformen Grundbegriffe der Lyrik Methodische Tipps für die Gedichtinterpretation Gedichte (eine Auswahl) 225 225 232 233 234 238 Textsorte Ballade (eine Auswahl) 244 1.1.3. die Dramatik Formen des Dramas Wichtige Begriffe in der Dramatik Beispiele (drei Szenen) Methodik der Szenenanalyse Beispiel einer Szenenanalyse 253 253 254 257 266 267 1.2. Erörterndes Erschließen literarischer Texte: die literarische Erörterung 271 1.3. Gestaltendes Erschließen pragmatischer Texte: Adressatenbezogenes Schreiben 272 168 Texte erschließen Der Begriff erschließen ist heute zur zentralen Kategorie des Arbeitens im Deutschunterricht geworden, und das gilt sowohl in Bezug auf literarische als auch auf pragmatische Texte. Erschließen umfasst folgende Arbeitsschwerpunkte: erfassen (Inhalt, Form, Sprache, Aufbau) verstehen (Aussage, Funktion, Intention) erläutern (Kontext, übergreifende Zusammenhänge, Einflüsse, Traditionen) strukturieren (Schwerpunktbildung, Begriffsdefinition, Abstraktion) argumentieren (text-, thema-, sachbezogen, wissenschaftlich fundiert) urteilen (begründete Schlussfolgerungen, Stellungnahme) verfassen (eigenständig gestalten in text-, thema-, sach-, stil- und strukturadäquater Form) Die zentrale Aufgabe des Erschließens prägt alle Aufgabenarten und hat drei verschiedene Aspekte, die des untersuchenden, des erörternden und des gestaltenden Erschließens. Bezieht man diese Aspekte auf literarische und pragmatische Texte, dann ergeben sich für die Arbeit im Fach Deutsch und also auch für das Berliner Abitur sechs verschiedene Aufgabentypen: Untersuchendes Erschließen literarischer Texte (Textinterpretation) Untersuchendes Erschließen pragmatischer Texte (Textanalyse) Erörterndes Erschließen literarischer Texte (Literarische Erörterung) Erörterndes Erschließen pragmatischer Texte (Texterörterung) Gestaltendes Erschließen pragmatischer Texte (Adressatenbezogenes Schreiben) Im Folgenden werden die einzelnen Aufgabenarten vorgestellt und deren methodische Besonderheiten aufgezeigt. 1. literarische Texte erschließen 1.1. Untersuchendes Erschließen literarischer Texte: Textinterpretation Da, wie wir wissen, die Literatur drei Gattungen umfasst, kann sich die Textinterpretation auf epische, lyrische oder dramatische Texte beziehen. Diese sollen nacheinander thematisiert werden. Wir beginnen mit der Epik. 1.1.1. die EPIK Epik meint die erzählende Dichtung; sie ist entstanden aus der Urform des Erzählens, nämlich aus der Situation, dass ein leibhaftiger Erzähler in einem Kreis von Zuhörern sitzt und diesen etwas erzählt. In der Epik werden als vergangen angenommene Geschehnisse und Handlungen vergegenwärtigt; deswegen findet 169 sich als Erzähltempus vorwiegend das epische Präteritum (in Ausnahmefällen kann auch das historische Präsens verwendet werden). Dargeboten wird das Geschehen von einem Erzähler. Erzähler In epischen Texten ist der Erzähler nicht identisch mit dem Autor. Der Autor erfindet oder wählt einen Erzähler, der gleichsam zwischen Autor und Leser vermittelt und dem Leser die erzählte Welt präsentiert. Der Erzähler hat eine ganz bestimmte Sicht auf das Geschehen (Erzählperspektive), er kann es von außen erzählen (Außenperspektive), sodass er jederzeit die gesamten Geschehnisse überschaut (Allwissenheit). Er kann die Ereignisse aber auch aus der Perspektive einer am Geschehen beteiligten Person bzw. Figur erzählen (Innenperspektive). So ergeben sich mehrere Möglichkeiten der Erzählperspektive, auf die wir später noch eingehen werden. Neben der Perspektive, aus der erzählt wird, gibt es natürlich noch eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie der Erzähler das Geschehen darbieten kann (Erzählstrategie). Der Erzähler kann die Ereignisse beispielsweise chronologisch wiedergeben, er kann aber auch mit Rückblenden oder Vorausdeutungen arbeiten oder das ganze Geschehen mit Hilfe der Montagetechnik zerstückelt darbieten, sodass sich der Zusammenhang des Geschehens beim Leser erst nach und nach, sozusagen mosaikartig zusammensetzt. Außerdem nimmt der Erzähler zum Erzählten eine bestimmte Haltung ein. Die Erzählhaltung meint die Einstellung, mit der der Erzähler dem Leser das Geschehen vermittelt; sie kann sachlich, distanziert, ironisch, humorvoll, kritisch, melancholisch usw. sein. Diese wirkt sich natürlich auf die Art der Darbietung und auf die Sprachverwendung aus. Handlung Der Autor wählt für seine erzählte Welt einen Stoff, der als Grundlage dient wie z.B. eine Liebesgeschichte, einen Kriminalfall, einen Historischen Stoff usw. Die Ereignisse verknüpft der Autor zu einem sinnvollen Zusammenhang in einer schlüssigen und glaubhaften Abfolge. Dieses durch Komposition gestaltete Gesamtgeschehen nennt man Handlung. Im Laufe der kulturellen Entwicklung haben sich bestimmte Handlungsmuster herausgebildet, auf die Autoren zurückgreifen und die die umgestalten können (Liebestragödien, der Kampf gegen das Böse, Menschen in Extrem- oder Konfliktsituationen, Abenteuer usw.). Hinsichtlich der Komposition unterscheidet man - Haupthandlung und Nebenhandlung(en) - Rahmen- und Binnenhandlung - äußere Handlung (äußere Ereignisse) - innere Handlung (Gefühle, Gedanken X der Figuren). Die Handlung kann strukturiert sein - durch die zeitliche Abfolge der Ereignisse - durch die Handlungsstränge - durch Motive oder andere formale Elemente. 170 Figurenkonzeption In der erzählten Welt treten Figuren (Personen) auf, die der Erzähler auf vielfältige Weise gestalten kann. Er kann sie z. B. direkt charakterisieren (beschreibend, bewertend) oder von einer anderen Figur charakterisieren lassen. Er kann sie auch indirekt charakterisieren, sodass sich der Leser aus dem Verhalten und den Äußerungen der Figur selbst ein Bild von dessen Charakter machen kann. Immer liegt der Gestaltung einer Figur eine bestimmte Konzeption zugrunde: Figuren können gestaltet sein als Typen, individuelle Charaktere, statisch, dynamisch usw. Aspekte der Charakterisierung können sein: - das äußere Erscheinungsbild (Aussehen, Kleidung, Alter X) - das äußere Verhalten (Sprechweise, Mimik, Gestik, Handeln X) - die innere Einstellung (Interessen, Absichten, Gedanken, Gefühle X) - die Lebensumstände (Beruf, gesellschaftliches Umfeld, ökonomische Lage X) Figurenkonstellation Der Erzähler plant die Beziehungen zwischen den Figuren sorgfältig, die man in einer Art Soziogramm (mit Namen und Pfeilen) abbilden kann. Hierbei zeigen sich Hauptund Nebenfiguren sowie Grundkonstellationen wie Protagonist und Antagonist (Hauptfigur und Gegenspieler), Verbündete, Nahestehende, Sympathisanten, Feinde usw. Raum / Raumgestaltung Der Erzähler kann den Schauplatz oder Raum der Handlung gestalten, je nachdem, welche Bedeutung und Funktion er habne soll. Man kann Grundfunktionen der Schauplatzgestaltung unterscheiden: - Der Schauplatz oder Ort der Handlung kann bedeutungskonstituierend sein (Innenraum, öffentlicher Raum X); die einfache Beschreibung des Ortes kann bereits Aufschluss über Figurenkonstellation und Handlungszusammenhänge geben. - Die soziale Umwelt in ihrer Funktion als kausal-determinierendes Milieu prägt die Figur in ihrem Denken, Sprechen, Fühlen und Handeln; die soziale Umwelt ist Ausdruck des gesellschaftlichen Lebensstils einer Figur (Kleidung, Haltung, Wohnung usw. - Der Stimmungsraum unterstreicht den Gemütszustand einer Figur durch eine bestimmte Atmosphäre, z.B. Gewitterschwüle (kurz vor einem Gefühlsausbruch der Figur), Sonnenschein (Heiterkeit und Gelassenheit der Figur), Regen (Traurigkeit der Figur) usw. - Der symbolische Raum verdichtet die gesamte Thematik, z.B. eines Romans, in anschaulichen, bedeutsamen Bildern (Symbolen) mit deutlicher Verweisfunktion. 171 Zeit / Zeitgestaltung Der Erzähler kann die Zeit unterschiedlich gestalten. Dabei kann man unterscheiden zwischen erzählter Zeit, also der Zeit, über die sich das gesamte Geschehen erstreckt, und der Erzählzeit, also der Zeit, die man zum Erzählen, Vortragen oder Lesen braucht. Der Erzähler kann die erzählte Zeit raffen (Zeitraffung), dehnen (Zeitdehnung) oder Deckungsgleichheit zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit herstellen (Zeitdeckung). Er kann auch zeitneutral erzählen (z.B. beim Beschreiben oder beim Erzählerkommentar), er kann in der Zeit springen (Zeitsprung), er kann zurückspringen (Rückblende) oder auf Künftiges vorausdeuten (Vorausdeutung). Formen der Epik Im Laufe der Literaturgeschichte hat sich eine Fülle epischer Formen herausgebildet, auf die ein Autor zurückgreifen kann; denn jede feststehende Form besitzt bestimmte Charaktermerkmale und eignet sich für bestimmte Absichten besonders. So eignet sich z. B. die Anekdote für historisch markante Ereignisse, die Fabel ermöglicht dem Autor ein bildhaft-verstecktes Sprechen. Eine Übersicht über die wichtigsten epischen Formen zeigt die Vielfalt der Möglichkeiten: 172 Um aufzuzeigen, wie die Literaturbetrachtung bzw. Literaturanalyse in der Epik vorgeht und welche Besonderheiten gegenüber den anderen Gattungen zu beachten sind, wählen wir eine epische Kurzform: die Kurzgeschichte. Als Beispiel nehmen wir: Kurt Marti: Neapel sehen 5 10 15 20 25 30 35 Er hatte sich eine Bretterwand gebaut. Die Bretterwand entfernte die Fabrik aus seinem häuslichen Blickkreis. Er hasste die Fabrik. Er hasste seine Arbeit in der Fabrik. Er hasste die Maschine, an der er arbeitete. Er hasste das Tempo der Maschine, das er selber beschleunigte. Er hasste die Hetze nach Akkordprämien, durch welche er es zu einigem Wohlstand, zu Haus und Gärtchen gebracht hatte. Er hasste seine Frau, sooft sie ihm sagte, heut Nacht hast du wieder gezuckt. Er hasste sie, bis sie es nicht mehr erwähnte. Aber die Hände zuckten weiter im Schlaf, zuckten im schnellen Stakkato der Arbeit. Er hasste den Arzt, der ihm sagte, Sie müssen sich schonen, Akkord ist nichts mehr für Sie. Er hasste den Meister, der ihm sagte, ich gebe dir eine andere Arbeit, Akkord ist nichts mehr für dich. Er hasste so viele verlogene Rücksicht, er wollte kein Greis sein, er wollte keinen kleineren Zahltag, denn immer war das die Hinterseite von so viel Rücksicht, ein kleinerer Zahltag. Dann wurde er krank, nach vierzig Jahren Arbeit und Hass zum ersten Mal krank. Er lag im Bett und blickte zum Fenster hinaus. Er sah sein Gärtchen. Er sah den Abschluss des Gärtchens, die Bretterwand. Weiter sah er nicht. Die Fabrik sah er nicht, nur den Frühling im Gärtchen und eine Wand aus gebeizten Brettern. Bald kannst du wieder hinaus, sagte die Frau, es steht alles in Blust1. Er glaubte ihr nicht. Geduld, nur Geduld, sagte der Arzt, das kommt schon wieder. Er glaubte ihm nicht. Es ist ein Elend, sagte er nach drei Wochen zu seiner Frau, ich sehe immer das Gärtchen, sonst nichts, nur das Gärtchen, das ist mir zu langweilig, immer dasselbe Gärtchen, nehmt doch einmal zwei Bretter aus der verdammten Wand, damit ich was anderes sehe. Die Frau erschrak. Sie lief zum Nachbarn. Der Nachbar kam und löste zwei Bretter aus der Wand. Der Kranke sah durch die Lücke hindurch, sah einen Teil der Fabrik. Nach einer Woche beklagte er sich, ich sehe immer das gleiche Stück der Fabrik, das lenkt mich zu wenig ab. Der Nachbar kam und legte die Bretterwand zur Hälfte nieder. Zärtlich ruhte der Blick des Kranken auf seiner Fabrik, verfolgte das Spiel des Rauches über dem Schlot, das Ein und Aus der Autos im Hof, das Ein des Menschenstromes am Morgen, das Aus am Abend. Nach vierzehn Tagen befahl er, die stehen gebliebene Hälfte der Wand zu entfernen. Ich sehe unsere Büros nie und auch die Kantine nicht, beklagte er sich. Der Nachbar kam und tat, wie er wünschte. Als er die Büros sah, die Kantine und so das gesamte Fabrikareal, entspannte ein Lächeln die Züge des Kranken. Er starb nach einigen Tagen. (aus: Marti, Kurt: Wohnen zeitaus, Zürich 1967) 1 Blust (oberdt.) : Blüte 173 Eine schöne Kurzgeschichte? Eine traurige, eine deprimierende? Wie auch immer Sie spontan emotional auf die Geschichte reagiert haben - dieses Gefühl ist von dieser Geschichte erzeugt worden und muss seine Gründe haben. Die emotionale Reaktion eröffnet meistens einen guten Zugang zum Dargestellten und zu dessen Absicht. Denn die Frage, warum sich dieses oder jenes Gefühl eingestellt hat, verweist auf das Erzählte zurück und drängt zu Antworten, die nur im Text gefunden werden können. Man könnte über Martis Kurzgeschichte sagen: Der Text erzählt in extrem knapper Form von der Arbeit, der Krankheit und dem Tod eines Arbeiters. Diese Aussage ist sicherlich zutreffend. Aber ist damit das Wesentliche des Textes erfasst? Weiß man damit schon, weshalb Marti den Text geschrieben hat? Weiß man damit, was Marti dem Leser, also uns, eigentlich mitteilen will? Die eben gemachte Aussage über die Kurzgeschichte erfasst nur Teile der Oberfläche, des Vordergrundes. Will man fundierte Aussagen über den Text und dessen Intention machen, muss man den Text analysieren. Oder anders: Die Textanalyse hat den Sinn, begründete Deutungen eines literarischen Textes zu liefern. Wir erinnern uns, was wir über die Eigenart von Literatur gesagt haben: Literarische Texte sind Sprachkunstwerke, in denen der Dichter oder Schriftsteller in verschlüsselter Form seine Absicht verwirklicht. Das Dargestellte ist dabei nicht identisch mit dem Gemeinten (Gehalt), sondern nur dessen Veranschaulichung, Konkretisierung (wie bei einem Gemälde). Das Gemeinte muss entdeckt, entschlüsselt werden. Genau dazu dient die Textanalyse. Das bedeutet: Jeder literarische Text besitzt zumindest zwei Dimensionen, eine Oberflächen- und eine Tiefendimension. Die Oberflächendimension zeigt sich in dem, was schon beim ersten Lesen erfasst werden kann: die äußere Handlung, das erzählte Geschehen. Bezogen auf unser Beispiel wären dies: die Arbeit, die Krankheit und der Tod des Akkordarbeiters. Die Tiefendimension (oder der „doppelte Boden“ oder „das zwischen den Zeilen“) muss erschlossen werden mit Hilfe von Analyse und Interpretation, wobei die Analyse die Grundlage für die Interpretation bildet. Was aber meint hier „Texterschließung“? Aus dem Begriff können drei Aspekte abgeleitet werden: Die Textschließung hat als Grundlage einen Text (oder mehrere Texte) hat ein Ziel, nämlich eine begründete Deutung des Textes (oder der Texte) benutzt ein Verfahren, eine Methode, um das Ziel zu erreichen Es ist einleuchtend, dass die Methode das Wichtigste ist zum Erreichen des Zieles. Das ist nicht nur bei der Texterschließung der Fall, sondern bei fast allen menschlichen Vorhaben und Tätigkeiten. Will ich einen Fluss überqueren oder einen Tisch bauen, will ich eine Arbeit über das Verhalten der Elefanten schreiben oder den „Satz des Pythagoras“ beweisen - immer brauche ich eine (für das Ziel geeignete) Methode. Die Methode ist der Weg zum Ziel; Methode meint eine systematische Vorgehensweise, die aus einer sinnvollen Aufeinanderfolge von Einzelschritten besteht. Wie kommt man zu einer sinnvollen Methode der Texterschließung? Die Methode wird bestimmt vom Ziel und von der Grundlage. Das heißt: Will man einen Text verstehen, muss man sich auf den Text einlassen; man muss ihn analysieren. Analysieren heißt: den Text zergliedern nach den Elementen, aus denen er besteht. 174 Woraus besteht ein Text? Jeder Text, auch ein literarischer, besteht aus zwei bzw. drei Elementen: Jeder Text hat eine Form und transportiert einen Inhalt. Daraus folgt: Die Textanalyse besteht aus Form- und Inhaltsanalyse. Die Inhaltsanalyse bezieht sich auf die inhaltlichen Aspekte eines Textes, also auf Thema, Problem, Handlung, Ort und Zeit, Personen, Personenkonstellation und Charaktere. Die Formanalyse bezieht sich einerseits auf die Struktur eines Textes andererseits auf die Sprache. Die Strukturanalyse betrachtet alle Strukturelemente eines Textes, also den Aufbau, die Gliederung, die Erzählperspektive, Spannungskurve, Höhe- und Wendepunkt(e), Erzählzeit und erzählte Zeit Die Sprachanalyse bezieht sich auf die Sprachverwendung. Und da Sprache immer aus Wörtern, Sätzen und Stilelementen besteht, meint Sprachanalyse die Analyse der Wortwahl (Semantik) Analyse des Satzbaus (Syntaktik) Analyse des Stils (Stilistik) Daraus ergibt sich: Die Textanalyse umfasst Inhalts-, Struktur- und Sprachanalyse. Wie man dabei vorgeht, womit man beginnt usw., ist individuell unterschiedlich und hängt auch vom jeweiligen Text ab. Die Analyse eines Romans wird anders vorgehen als die Analyse einer Kurzgeschichte, obwohl beide sich gleichermaßen auf Inhalt, Struktur und Sprache beziehen. - Das bisher Gesagte lässt sich in folgendem Strukturbild zusammenfassen: Textanalyse Inhaltsanalyse Thema / Problem Handlung / Geschehen Ort und Zeit der Handlung Personen / Personenkonstellation Personencharakteristik Strukturanalyse Aufbau / Gliederung / Handlungssequenzen Spannungskurve / Höhepunkt / Wendepunkt Erzählperspektive Erzählstrategie Erzählzeit / erzählte Zeit Sprachanalyse Semantik Syntaktik Stilistik 175 Im Folgenden soll am Beispiel der Kurzgeschichte von Kurt Marti eine Vorgehensweise bei der Textanalyse demonstriert werden, und zwar die Methode, die die einzelnen Analyseteile nacheinander in Angriff nimmt. Diese Analyse soll ein Musterbeispiel sein; sie gibt nicht vor, was von Ihnen erwartet wird. Auch bei der Textanalyse gilt, was anderswo schon öfter gesagt worden ist: Je intensiver und detaillierter die Vorarbeiten durchgeführt werden, umso leichter fällt später die zusammenhängende Darstellung bzw. die Reinschrift. Zunächst sollte man den Text mehrfach lesen, Wesentliches und Auffälliges markieren, Randnotizen machen, Stichwörter herausschreiben usw. Dann kann man mit den Analyseteilen beginnen. - Wir wollen hier mit der Inhaltsanalyse beginnen. Diese bezieht sich - wie schon gesagt - auf die Inhaltsaspekte der vorliegenden Kurzgeschichte. → Inhaltsanalyse Welche inhaltlichen Aspekte sind in der Kurzgeschichte bestimmend? Folgende sind hier wichtig: die Hauptfigur und deren Einstellung zu Arbeit und Fabrik die Nebenfiguren die Bretterwand die Krankheit der Hauptfigur der Tod der Hauptfigur die Überschrift der Kurzgeschichte Schauen wir uns nun die einzelnen Aspekte genauer an: 1. Was erfahren wir über die Hauptfigur? Aus der ersten Texthälfte können wir entnehmen: • Der Mann ist namenlos, identitätslos, anonym, damit austauschbar und verallgemeinerbar. • Er ist Fabrikarbeiter, Akkordarbeiter, dessen Arbeit vom Takt und Tempo der Maschine diktiert wird. • Seine Einstellung zur Fabrik und zu seiner Arbeit ist äußerst negativ; er hasst alles, womit er zu tun hat. • Die negative Einstellung bestimmt auch seinen Umgang mit anderen Menschen und seine Privatsphäre. • Er besitzt aufgrund seiner Arbeit ein Haus mit Garten in der Nähe der Fabrik. • Er lebt in zwei Daseinsbereichen, Haus und Fabrik, die durch eine Bretterwand getrennt sind. • Er will sein Älterwerden nicht wahrhaben, möchte nicht weniger verdienen und nimmt gut gemeinte Ratschläge nicht an. • Er wird nach 40 Arbeitsjahren krank. 2. Was können wir über die Bretterwand sagen? Dem Text ist zu entnehmen: • Die Bretterwand soll Fabrik und Privatsphäre, Arbeitswelt und den familiären Lebensraum strickt trennen. • Die Bretterwand ist Ausdruck einer Illusion bzw. Täuschung; denn die 176 Fabrik wird nur äußerlich aus dem Blickfeld entfernt, aber nicht aus Gefühl und Bewusstsein. • Im zweiten Teil des Textes ist sie das Objekt, an dem die Veränderungen der Hauptfigur veranschaulicht werden: Der Abbau der Wand ermöglicht ein neues Sehen. 3. Was hat die Krankheit zu bedeuten? • Die Krankheit ist der Einschnitt in den von der Fabrik bestimmten Lebensrhythmus. • Sie zwingt den Arbeiter zur Ruhe, die dann die Distanz zu Arbeit und Fabrik ermöglicht. • Sie ermöglicht eine neue Form der Wahrnehmung und Einschätzung. • Sie ist die Ursache für die inneren Veränderungen des Arbeiters. 4. Welche Bedeutung kommt den Nebenfiguren zu? • Sie sind Mahner und Besorgte: Sie wollen nur das Beste. • Sie müssen als Objekte des Hasses, als Sündenböcke herhalten. • Sie bieten die Außensicht auf die Hauptfigur. 5. Wieso stirbt die Hauptfigur? • Der Tod schließt die innere Entwicklung des Arbeiters vom alles umfassenden Hass über die Identifizierung mit der Fabrik bis zum zufriedenen Lächeln vor dem Tod ab. • Die Begründung für den Tod wird nur indirekt gegeben, nämlich in der auffälligen Überschrift der Kurzgeschichte. 6. Was leistet die Überschrift? • Neapel kommt im Text nicht vor; es gibt aber ein italienisches Sprichwort („Neapel sehen und dann sterben.“). Die erste Hälfte erscheint als Überschrift, die andere Hälfte veranschaulicht die Kurzgeschichte. • Das italienische Sprichwort steht für einen unerreichbaren Wunsch oder für etwas Ersehntes, Erstrebtes, für ein Ideal. • Das Sehen des Ganzen und das Sterben fallen in der Geschichte zusammen: Der Arbeiter versöhnt sich zuletzt mit der Fabrik, blendet alles Negative aus, idealisiert seine Fabrik; er konstruiert sich sein Neapel und kann zufrieden sterben. Ist die Vorarbeit (bezogen nur auf die Inhaltsanalyse) so weit erstellt, fällt die Ausführung nicht mehr schwer. Sie könnte folgendermaßen ausfallen: Im Mittelpunkt der Kurzgeschichte steht ein namenloser Fabrikarbeiter, dessen Akkordarbeit vom Rhythmus der Maschine bestimmt wird. Die Folge dieser unmenschlichen Arbeit ist ein tief greifender Hass, der sich auf alles richtet, was mit der Arbeit zu tun hat. Aufgrund seines Alters scheint er mit der Akkordarbeit überfordert, aber er will die Warnungen seiner Frau, seines Meisters und des Arztes nicht zur Kenntnis nehmen; im Gegenteil: Er hasst sie dafür, dass sie ihm die Wahrheit sagen. Weil er die Ursache seines Hasses nicht treffen kann, müssen die Menschen seiner nächsten Umgebung als Sündenböcke herhalten. Eine andere Folge seiner Arbeit stellt der Besitz eines Hauses mit Garten in der Nähe der Fabrik dar. Damit sind die beiden Lebensbereiche des Arbeiters 177 genannt: Fabrik und Haus, Arbeitsbereich und Privatsphäre. Abgegrenzt werden beide Bereiche durch eine Bretterwand. Allerdings wird schnell klar, dass die strickte Trennung nicht gelingt, denn die Bretterwand ändert nichts an der Situation des Arbeiters oder an seinem Verhältnis zur Arbeit. Die Fabrik bestimmt auch im Privatbereich das Fühlen und Denken des Arbeiters bis in den Schlaf hinein: Nachts zucken die Hände „im schnellen Stakkato der Arbeit“ (Z.9). Die Bretterwand entfernt zwar die Fabrik aus dem Blickfeld, kann das Verhasste aber nicht aus dem Bewusstsein und Leben verbannen. Insofern steht die Bretterwand zu Beginn für die Selbsttäuschung und Entfremdung des Arbeiters. Es muss für ihn unter den gegebenen Umständen eine pure Illusion bleiben zu glauben, er könnte Arbeit und Freizeit, Beruf und Privatbereich strickt voneinander trennen. Als einschneidende Folge der Arbeit, des Hasses und der Selbsttäuschung muss hier die Krankheit angesehen werden. Über die Art der Krankheit erfährt man nichts, aber sie bedeutet für den Arbeiter eine deutliche Zäsur in dem von der Fabrik bestimmten Lebensrhythmus. Allerdings ermöglicht sie dem Arbeiter die Ruhe zum Nachdenken und die Distanz von Fabrik und Arbeit. Schließlich bewirkt sie eine schrittweise voranschreitende Veränderung der Wahrnehmung und Einstellung des Kranken. Symbolisch wird diese innere Veränderung an der Bretterwand dargestellt. Während die Wand zu Beginn die strickte Trennung zwischen dem verhassten Fabrikbereich und der scheinbar freien Privatsphäre veranschaulichen soll, symbolisiert nun der schrittweise Abbau die innere Wandlung des Arbeiters. Schrittweise wird die Selbsttäuschung abgebaut und ein neues Sehen und Erkennen eröffnet - im wahrsten Sinne des Wortes, aber auch im übertragenen Sinn. Am deutlichsten zeigt sich das, nachdem die halbe Wand beseitigt ist: Von diesem Zeitpunkt an ist der Blick des Kranken „zärtlich“ (Z.31) und er „verfolgt das Spiel des Rauches über dem Schlot“ (Z.32). Aus der einstmals verhassten Fabrik ist nun seine Fabrik (vgl. Z.32) geworden, deren Schönheit er sogar entdecken kann. Die Fabrik zu sehen und zwar das ganze Areal, das wird dem Kranken sogleich zum dringenden Bedürfnis. Nachdem die ganze Wand abgebaut und der Blick auf das Ganze frei geworden ist, kann sich der Arbeiter entspannen. Die ganze Anspannung der 40 Arbeitsjahre, die Hetze, Aggression und Selbstlüge verschwinden mit der Erkenntnis, dass diese Fabrik sein Lebensinhalt war und ist. Am Ende seines Lebens versöhnt sich der Arbeiter mit der Fabrik, identifiziert sich mit ihr und idealisiert sie sogar. Wer sich dann fragt, warum der Arbeiter am Ende stirbt, bekommt mit der Überschrift der Kurzgeschichte den entscheidenden Hinweis. Der Titel „Neapel sehen“ muss beim ersten Lesen verwirrend wirken; denn Neapel kommt in der Kurzgeschichte gar nicht vor, aber die Formulierung soll den Leser auf ein italienisches Sprichwort stoßen: „Neapel sehen und dann sterben.“ Die erste Hälfte der Redewendung erscheint als Titel, die andere Hälfte erzählt die Kurzgeschichte. Wichtig hierbei ist die Bedeutung des italienischen Sprichwortes: Es steht für ein unerreichbares Ziel, für das Höchste der Wünsche, für etwas, was man erstrebt, ersehnt, erleben möchte, für ein großes Ideal. Auf die Kurzgeschichte übertragen, ergibt sich für den Schluss: Der Arbeiter hat zuletzt „sein Neapel“ gesehen und kann zufrieden sterben. Wie dieses Ende der Kurzgeschichte allerdings verstanden werden kann, darauf soll später, bei der Darlegung der Intention, noch Bezug genommen werden. An dieser Stelle der Analyse kann festgestellt werden, dass der Autor 178 offenbar das italienische Sprichwort in Beziehung gesetzt hat zum Leben eines Akkordarbeiters und dass es ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des Textes ist. → Strukturanalyse Welche Strukturelemente sind in der Kurzgeschichte wichtig? Wir sammeln wieder auf dem Konzeptpapier: 1. Aufbau: deutliche Zweiteilung des Textes, ab Z. 15 beginnt der 2.Teil (Krankheit) 2. Erzählstrategie: beide Teile stehen antithetisch zueinander Teil 1 Fabrik, Arbeitsbedingungen, Hass Maschinen, Akkord, Hetze, Zahltag Bretterwand als Schutz vor Fabrik Hass als Ausdruck der Ohnmacht gegenüber dem Arbeitsprozess Teil 2 Krankheit, innere Wandlung, Tod Ruhe, Identifizierung, Zufriedenheit Abbau der Bretterwand für die Versöhnung mit der Fabrik Sehen, Erkenntnis, Entspannung 3. Spannungskurve: im 1.Teil: Aneinanderreihung, kaum Spannungssteigerung; im 2. Teil: Darstellung des Wandlungsprozesses, stufenweise Steigerung; am Ende fallen Höhepunkt (innerer Frieden) und Tod zusammen. Letzter Satz schließt Geschehen ab. 4. Erzählperspektive: Was ist damit gemeint? Wir müssen einen längeren Exkurs unternehmen: Exkurs : Möglichkeiten der Erzählperspektive Bei literarischen Werken, deren wesentliches Kennzeichen die Fiktionalität ist, muss zunächst unterschieden werden zwischen dem Autor und dem Erzähler. Der Autor hat die Idee, er erfindet eine Handlung, macht ein Konzept, ordnet den Geschehensablauf und dessen Elemente. Erzählt wird die Geschichte dann von einem fiktiven Erzähler, sozusagen von einer Zwischeninstanz, einem Medium zwischen Autor und Leser. Für diese Erzählerrolle weist der Autor dem Erzähler eine Perspektive, eine Erzählsituation, einen Standort zu, also eine Sichtweise, aus der das Erzählte gesehen und dargeboten wird. Erzählperspektive meint die literarische Gestaltungstechnik, also die Art und Weise, wie die epische Handlung aus der Sicht des Erzählers dargeboten wird. 179 Die Möglichkeiten der Erzählperspektive unterscheiden sich nach dem Standort des Erzählers, der entweder außerhalb des Geschehens steht (Außenperspektive) oder innerhalb (Innenperspektive): 1. die auktoriale Erzählperspektive (auctor = Urheber, Verfasser) Sichtweise und Organisation des Geschehens werden von einem Standpunkt aus bestimmt, der außerhalb der Romanfiguren und -handlung liegt. Eine solche Außensicht ermöglicht es dem Erzähler, das erzählte Geschehen an jeder beliebigen Stelle zu überschauen, jederzeit zu kommentieren, sich einzuschalten und sich der Vorausschau und des Rückblicks zu bedienen. Auf diese Weise erweckt er den Anschein der epischen Allwissenheit. Er steht außerhalb bzw. über der epischen Handlung. Eine solche Perspektive kann viele Grade durchlaufen: Der Held der Erzählung kann z.B. die Ideale des Autors artikulieren; der Erzähler kann sich aber auch völlig von dem erzählten Geschehen distanzieren. Dem auktorialen Erzähler ist auch die Einsicht in die inneren Vorgänge seiner Figuren möglich, da er ja über dem Geschehen steht und sozusagen die Handlung nach seinem Willen gestaltet. 2. die personale Erzählperspektive Hierbei wählt der Erzähler seinen Standort innerhalb des dargestellten Geschehens, indem er sich z.B. unter den Figuren der Handlung einen 'Stellvertreter' sucht und aus dessen Perspektive das Geschehen erzählt. Damit fällt das erzählende Medium weg, und für den Leser entsteht die Illusion, er befinde sich selbst auf dem Schauplatz des Geschehens oder er betrachte die dargestellte Welt mit den Augen der Romanfigur. Dabei wird das Geschehen nicht (wie beim auktorialen Erzähler) "erzählt", denn dazu wäre Distanz nötig, sondern das Geschehen spiegelt sich gleichsam in der Wahrnehmung und im Bewusstsein der Romanfigur wider. Bewusstseinsvorgänge können nicht erzählt, sondern allenfalls reproduziert werden. Die dargestellte Welt wird nicht von außen betrachtet, sondern von innen erfahren. Somit ist nicht der äußere Ablauf einer Handlung interessant, sondern wie sich diese Handlung im Bewusstsein der erlebenden Figur spiegelt mit allen damit verbundenen Gedanken, Vorstellungen, Ängsten und Wünschen. Primär ist also das wahrnehmende, denkende und erlebende Subjekt, also dessen innere Vorgänge; die äußeren Abläufe treten zurück. Es ist klar, dass diese Innenperspektive immer nur einen Ausschnitt einer Welt (gemäß der Wahrnehmung der einzelnen Figur), nie das Ganze (wie bei der auktorialen Perspektive) bieten kann, also eingeschränkt und einseitig bleiben muss. Diese Einschränkung entspricht unserem heutigen Verhältnis zur Wirklichkeit; sie verleiht damit dem Erzählten Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit und erweckt gleichzeitig ein intensives Interesse des Lesers. Eine solche unmittelbare und intensive Darstellungsmöglichkeit heißt personale Erzählperspektive. Ein Sonderfall hinsichtlich Außen- und Innenperspektive ist 3. die Ich - Erzählperspektive Sie zeigt den Erzähler als selbst unmittelbar am erzählten Geschehen beteiligt. Er hat das Erzählte erlebt, beobachtet oder direkt von den eigentlichen Akteuren in Erfahrung gebracht. Selbstverständlich ist das Ich dabei lediglich eine fiktive Gestalt und nicht mit dem Verfasser identisch. Diese Perspektive, die durchgängig 180 in der 1.Person Singular, meist des erzählenden Präteritums, dargeboten wird, ist eingeschränkt durch die Grenzen der Figur bzw. Rolle. Das Ich kann / darf nicht mehr erzählen, als es seinem Alter, seinem Bildungsgrad, seiner gesellschaftlichen Erfahrung usw. gemäß wissen kann; sonst wird es unglaubwürdig. Der Vorteil dieser Erzählperspektive liegt in der Glaubwürdigkeit, Lebendigkeit und Direktheit des Erzählens. Gegenüber dem personalen Erzählen kann das erzählende Ich in der Erinnerung eine möglichst große Distanz zum Erzählten und damit eine annähernde Außenperspektive einnehmen. Fallen jedoch erzählendes und erlebendes Ich eng zusammen, ist nur die Innenperspektive möglich, die jene Unmittelbarkeit erzeugt, die der Ich-Erzähler beabsichtigt. Darstellungsformen in der Epik Neben der Erzählperspektive gibt es in der Epik noch die sog. Darstellungsformen. Dabei unterscheiden wir die szenische Darstellung und die Bewusstseinswiedergabe. - Szenische Darstellung meint die Darstellung von Gesprochenem (Dialoge, Gespräche usw.), was als direkte Rede (1.Person; Indikativ) erscheint. Er sagte: „Ich muss sie treffen. Ich darf auf keinen Fall zu spät kommen.“ - Bewusstseinswiedergabe meint die Darstellung von inneren Vorgängen der literarischen Personen. Hier unterscheiden wir drei verschiedene Formen: 1. der innere Monolog meint das unmittelbare (stumme) Selbstgespräch ohne alle Zwischenglieder; unausgesprochene Gedanken werden in direkter Form und in der 1.Person Singular des Präsens wiedergegeben, sodass für den Leser eine unmittelbare Identifikation mit den Gedanken, Assoziationen und Vorstellungen der auf diese Weise sich äußernden Figur möglich wird. Hoffentlich treffe ich sie. Dass ich bloß nicht wieder zu spät komme. 2. die erlebte Rede ist die Wiedergabe von Bewusstseinsvorgängen in der 3.Person Singular, meist des Präteritums; dabei sollen die Gedanken aus der Sicht der handelnden bzw. betroffenen Person, nicht aus der des Erzählers wiedergegeben werden. Die erlebte Rede kann als Zwischenform zwischen direkter und indirekter Rede angesehen werden. Er musste sie treffen. Sofort. Durfte nicht wieder zu spät kommen. Bloß das nicht. 3. der Bewusstseinsstrom (vom engl. 'stream of consciousness') meint die direkte, unfertig formulierte Wiedergabe der sich im Bewusstsein einer erlebenden Figur vollziehenden Abläufe, Bilder, Assoziationen, die dem Leser unter psychologischem Aspekt einen tieferen Einblick in die Charakterstruktur einer Figur erlauben. 181 Im Unterschied zu den beiden vorherigen Formen ist der Bewusstseinsstrom die Möglichkeit, momentane Sinneseindrücke, Gedankenfetzen, sekundenhafte Gefühlsregungen, selbst unterbewusste Regungen ungebrochen und ohne Rücksicht auf Regeln der Sprache einzufangen. Während der innere Monolog noch weitgehend assoziativ zusammengehalten wird, stellt sich der Bewusstseinsstrom als ein oft pausenloser Monolog nebeneinander eingeblendeter Gedankenfetzen und sich überlappender Vorstellungen dar. Eine derart tiefenpsychologische Charakterenthüllung, die minutiös alle Regungen unterschiedlicher Bewusstseinsebenen zur Darstellung bringt, muss notwendigerweise den zeitlichen Ablauf eines Geschehens äußerst stark dehnen, da Bewusstseinsakte ungleich schneller ablaufen, als gesprochene oder geschriebene Sprache sie darstellen können. Sie. Nur sie. Rote Ampel. Kurz vor vier – verdammt, das wird knapp 4 Aufgabe: Bestimmen Sie bei den folgenden Textauszügen die Erzählperspektive und die Darstellungsform! a) „Da er Raat hieß, nannte ihn die ganze Stadt Unrat. Nichts konnte einfacher und natürlicher sein. Der und jener Professor wechselten zuweilen ihr Pseudonym. Ein neuer Schub Schüler gelangte in die Klasse, legte mordgierig eine vom vorigen Jahrgang noch nicht genug gewürdigte Komik an dem Lehrer bloß und nannte sie schonungslos beim Namen. Unrat aber trug den seinigen seit vielen Generationen, der ganzen Stadt war er geläufig, seine Kollegen benutzten ihn außerhalb des Gymnasiums und auch drinnen, sobald er den Rücken drehte. Die Herren, die in ihrem Hause Schüler verpflegten und sie zur Arbeit anhielten, sprachen vor ihren Pensionären vom Professor Unrat. Der aufgeweckte Kopf, der den Ordinarius der Untersekunda hätte neu beobachten und nochmals abstempeln wollen, wäre nie durchgedrungen; schon darum nicht, weil der gewohnte Ruf auf den alten Lehrer noch so gut seine Wirkung übte wie vor sechsundzwanzig Jahren.“ (aus: Heinrich Mann: Professor Unrat) b) „Gott sei Dank, dass ich die Pulver habe. Das ist die einzige Rettung. Wo sind sie denn? Um Gottes willen, man wird sie mir doch nicht gestohlen haben. Aber nein, da sind sie ja. Da in der Schachtel. Sind sie noch alle da? Ja, da sind sie. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Ich will sie ja nur ansehen, die lieben Pulver. Es verpflichtet ja zu nichts. Eins, zwei, - aber ich bringe mich ja sicher nicht um. Fällt mir gar nicht ein. Drei, vier, fünf - davon stirbt man auch noch lange nicht. Es wäre schrecklich, wenn ich das Veronal nicht mit hätte. Da müsste ich mich zum Fenster hinunterstürzen und dazu hätt’ ich doch nicht den Mut. Aber das Veronal, man schläft langsam ein, wacht nicht mehr auf, keine Qual, kein Schmerz. Man legt sich ins Bett; in einem Zuge trinkt man es aus, träumt, und alles ist vorbei. Vorgestern habe ich auch ein Pulver genommen und neulich sogar zwei. Pst, niemandem sagen. Heut’ werden es halt ein bissl mehr sein. Es ist ja nur für alle Fälle. Wenn es mich gar, gar zu sehr grausen sollte. Aber warum soll es mich denn grausen? Wenn er mich anrührt, so spucke ich ihm ins Gesicht. Ganz einfach.“ (aus: Arthur Schnitzler: Fräulein Else) 182 c) „Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (sodass ich wohl in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärts schreiten können), indem ich mich also anschicke, meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule denn auch gewachsen bin. Allein, da alles, was ich mitzuteilen habe, sich aus meinen eigensten und unmittelbarsten Erfahrungen, Irrtümern und Leidenschaften zusammensetzt und ich also meinen Stoff vollkommen beherrsche, so könnte jener Zweifel höchstens den mir zu Gebote stehenden Takt und Anstand des Ausdrucks betreffen, und in diesen Dingen geben regelmäßige und wohlbeendete Studien nach meiner Meinung weit weniger den Ausschlag als natürliche Begabung und eine gute Kinderstube.“ (aus: Thomas Mann: Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull) d) „Der Mississippi wäre das Richtige, dachte der Junge, auf dem Mississippi konnte man einfach ein Kanu klauen und wegfahren, wenn es stimmt, was im Huckleberry Finn stand. Auf der Ostsee würde man mit einem Kanu nicht sehr weit kommen, ganz abgesehen davon, dass es an der Ostsee nicht mal schnelle, wendige Kanus gab, sondern nur so olle schwere Ruderboote. Er sah vom Buch auf, unter der Treenebrücke floss das Wasser still und langsam durch; die Weide, unter der er saß, hing ins Wasser rein, und gegenüber, in der alten Gerberei, regte sich, wie immer, nichts. Der Mississippi wäre besser als die Speicher in der alten, verlassenen Gerberei und die Weide am langsamen Fluss. Auf dem Mississippi wäre man weg, während man sich auf den Speichern in der Gerberei und unter der Weide nur verstecken konnte. Unter der Weide auch nur, solange sie Blätter hatte, und die hatten schon mächtig begonnen abzufallen und trieben gelb auf dem braunen Wasser davon. Verstecken war übrigens nicht das Richtige, dachte der Junge, - man musste weg sein.“ (aus: Alfred Andersch: Sansibar oder Der letzte Grund) e) „ ... also das war ja doch eine Erleichterung fasse dich kurz lass einen Furz wer weiß vielleicht war das Schweinskotelett was ich gegessen hab mit der Tasse Tee hinterher nicht mehr ganz gut bei der Hitze gerochen hab ich an sich nichts also dieser Mann in dem Metzgerladen der immer so komisch guckt der ist bestimmt ein großer Gauner ich hoffe die Lampe da qualmt nicht krieg sonst die ganze Nase voll Ruß aber immer noch besser wie wenn er die ganze Nacht das Gas anlässt ich hab selbst in meinem Bett in Gibraltar nicht richtig schlafen können weil ich ewig aufstehn musste um nachzusehn wieso bin ich bloß so verdammt nervös deswegen obwohl im Winter mag ichs eigentlich ganz gerne ist irgendwie gemütlicher oh mein Gott war das lausig kalt in dem Winter damals wie ich erst so zehn war oder war ich ja doch stimmt ich hatte die große Puppe damals mit all den komischen Kleidchen hab sie andauernd angezogen und wieder aus ... „ (aus: James Joyce: Ulysses) ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------Kehren wir wieder zu unserer Kurzgeschichte zurück! Welche Erzählperspektive hat Kurt Marti seinem Erzähler zugedacht? Wir können feststellen, dass in „Neapel sehen“ durchgängig die auktoriale Perspektive vorherrscht, allerdings mit wechselnder Distanz zum Erzählten. 183 5. Erzählzeit - erzählte Zeit: im 1. Teil sind 40 Arbeitsjahre zusammengefasst; im 2. Teil sind wenige Wochen dargestellt Erzählzeit: ca. fünf Minuten Das Konzeptpapier zur Strukturanalyse sieht nun folgendermaßen aus: 1. Aufbau: deutliche Zweiteilung des Textes, ab Z. 15 beginnt der 2.Teil (Krankheit) 2. Erzählstrategie: beide Teile stehen antithetisch zueinander Teil 1 Fabrik, Arbeitsbedingungen, Hass Maschinen, Akkord, Hetze, Zahltag Bretterwand als Schutz vor Fabrik Hass als Ausdruck der Ohnmacht gegenüber dem Arbeitsprozess Teil 2 Krankheit, innere Wandlung, Tod Ruhe, Identifizierung, Zufriedenheit Abbau der Bretterwand für die Versöhnung mit der Fabrik Sehen, Erkenntnis, Entspannung 3. Spannungskurve: im 1.Teil: Aneinanderreihung, kaum Spannungssteigerung; im 2. Teil: Darstellung des Wandlungsprozesses, stufenweise Steigerung; am Ende fallen Höhepunkt (innerer Frieden) und Tod zusammen. Letzter Satz schließt Geschehen ab. 4. Erzählperspektive: durchgängig die auktoriale Perspektive, allerdings mit wechselnder Distanz zum Erzählten. 5. Erzählzeit - erzählte Zeit: im 1. Teil sind 40 Arbeitsjahre zusammengefasst; im 2. Teil sind wenige Wochen dargestellt Erzählzeit: ca. fünf Minuten Die Ausführung könnte wie folgt erstellt werden: Äußerlich erscheint die Kurzgeschichte als ein Block ohne Abschnitte. Die Darstellung weist jedoch eine deutliche Zweiteilung auf. Im 1. Teil (Z. 1-15) sind die 40 Arbeitsjahre des Arbeiters äußerst knapp zusammengefasst: Es beginnt mit der Bretterwand, die beide Lebensbereiche des Arbeiters voneinander abtrennen soll, und wendet sich dann dem vielfältigen Hass zu, der den Arbeiter völlig bestimmt. Dabei erhält der Leser einen Einblick in die Fabrik und in die Arbeitsbedingungen, aber auch in den Privatbereich des Arbeiters. Der Hass wird so als Ausdruck der Ohnmacht gegenüber dem Arbeitsprozess erkennbar. Im 2. Teil (Z. 15 - 39) werden die Krankheit, die äußeren Veränderungen und die innere Wandlung des Arbeiters dargestellt. Während der 1.Teil wesentlich aus der Aneinanderreihung von Objekten des Hasses besteht und nur wenig Spannung erzeugt, steigt die Spannungskurve im 2.Teil stufenweise an, und zwar parallel zum schrittweisen Abbau der Bretterwand. Diese allmähliche Horizonterweiterung führt letztlich zur Erkenntnis des Ganzen. Damit ist der 184 Höhepunkt erreicht, in dem Entspannung und Versöhnung sowie der Tod des Arbeiters zusammenfallen. Damit endet auch die Kurzgeschichte. Dargeboten wird das Geschehen aus der auktorialen Erzählperspektive. Auch wenn sich der Erzähler ab und zu seiner Hauptfigur annähert und dessen Sichtweise und Wertungen übernimmt (Gärtchen, verlogener Zahltag, Spiel des Rauches), bleibt die Außenperspektive doch durchgängig erhalten. Selbst die innere Wandlung des kranken Arbeiters wird auktorial dargeboten, indem sie symbolisch als äußeres Geschehen (Abbau der Wand) erscheint. Was leistet diese Erzählperspektive? Warum hat der Autor sie gewählt? Diese Frage kann vielleicht beantwortet werden, wenn man sich die Alternative vorstellt. Hätte Marti zumindest die innere Veränderung des Arbeiters aus dessen Perspektive, also als Bewusstseinsstrom, erlebte Rede oder innerer Monolog, gestaltet, hätte der Leser viel intensiver mit dem Arbeiter gefühlt, hätte tiefes Mitleid mit ihm empfunden, wäre emotional stärker angesprochen worden. Die auktoriale Erzählperspektive weist dem Leser die distanzierte Beobachterposition zu. So betrachtet der Leser Handlung und Hauptfigur von außen und kann die rationalen Zusammenhänge des erzählten Geschehens erfassen. (Bei der Darstellung der Intention der Kurzgeschichte kommen wir hierauf zurück.) Das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit ist im vorliegenden Beispiel für die Interpretation nicht so wichtig. Feststellen kann man jedoch, dass hierbei die Zweiteilung des Geschehens bestätigt wird. Im 1. Teil der Kurzgeschichte sind 40 Arbeitsjahre knapp zusammengefasst; der 2. Teil erzählt über einen Zeitraum von einigen Wochen. Die Erzählzeit beträgt etwa fünf Minuten. Aber - so darf man hier fragen was gewinnt man aus diesen Feststellungen für die Interpretation? Es gibt Texte, bei denen das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit ein ganz wesentlicher Schlüssel zum Verständnis darstellt; in unserem Beispiel können wir es vernachlässigen. → Sprachanalyse Die Sprachanalyse umfasst die semantische, die syntaktische und die stilistische Analyse. Was aber bedeuten diese Begriffe? Wir müssen Exkurse in die Sprachbetrachtung unternehmen: - Semantische Analyse Die Analyse der Semantik bezieht sich auf die Wortwahl und fragt: Welche Wörter und Begriffe wählt der Erzähler bzw. Autor ? Warum wählt er gerade dieses Wort oder jenen Begriff? Die Analyse der Wortwahl ist deswegen sinnvoll, weil die Sprache zur Bezeichnung von Dingen, Gegenständen, Sachverhalten, Eigenschaften usw. reichhaltige Alternativen zur Verfügung stellt, die inhaltlich nie identisch sind, sondern voneinander abweichen, mal geringfügig, mal deutlicher (z.B. Selbstmord, Selbsttötung, Selbstentleibung, Suizid, Befreiung vom Leben). Oft sind Wörter mit bestimmten Wertungen (Auf- oder Abwertung, negative Besetzung usw.) verbunden, sodass ihre Wahl etwas über die Aussageabsicht des Sprechers bzw. Autors verraten. Die Frage „Welche Wörter wählt der Autor?“ schließt eine weitere Frage mit ein: Aus 185 welchem Bereich stammt das Wort? Mit „Bereichen“ sind jene Unterteilungen gemeint, nach denen wir unsere Wirklichkeit ordnen. Danach gibt es z: B. den Bereich der Natur, der Politik, der Wissenschaft, der Ethik, der Religion, der Technik usw. Wenn beispielsweise ein Autor gesellschaftliche Vorgänge mit Begriffen aus der Natur oder Biologie darstellt, hat er offenbar eine andere Auffassung zur Gesellschaft als ein Autor, der dieselben Vorgänge mit politischen und juristischen Begriffen beschreibt. Schauen wir auf Martis Kurzgeschichte und betrachten wir sie unter semantischem Aspekt, dann dürften mehrere Punkte auffallen. Wir markieren sie im Text und fassen sie auf dem Konzeptpapier zusammen: 29-mal „er“ 7-mal „Bretterwand“ bzw. „Wand“ 9-mal „hasste“ (1. Teil) 12-mal „sehen“ bzw. „blicken“ (2.Teil) 6-mal „Gärtchen“ (Verkleinerungsform, Diminutivum) Begriffe aus der Arbeitswelt (1.Teil): Fabrik, Arbeit, Maschine, Tempo, Akkord, Meister, Zahltag Privatbereich: Wohlstand, Haus, Gärtchen Abwertung des Gärtchens (2.Teil): langweilig Abwertung der Bretterwand (2.Teil): „verdammte Wand“ Aufwertung der Fabrik (2.Teil): zärtlich, seine Fabrik, unsere Büros Die Ausarbeitung kann so aussehen: Die Sprachanalyse bestätigt das, was die Inhaltsanalyse erbracht hat. Schon beim ersten Lesen fällt die Wiederholung bestimmter Wörter auf, z.B. des Wortes „hassen“ oder des Wortes „Bretterwand“ bzw. „Wand“. Das anonyme Personalpronomen „er“, womit der Text beginnt, taucht gleich 29-mal auf, womit deutlich ein Aspekt des Textes unterstrichen wird (Anonymität, Verallgemeinerung). Die schon festgestellte Zweiteilung des Textes wird auch sprachlich bestätigt. Im 1.Teil dominiert das Verb „hassen“; es wird 9-mal wiederholt und zeigt deutlich die innere Situation des Arbeiters: Er wird vom Hass bestimmt. Dieser Hass hat seine Ursache in der Arbeitswelt, die in einem breiten semantischen Feld vertreten ist: Fabrik, Maschine, Tempo, Akkord, Meister, Hetze, Kantine, Büros, Fabrikareal. Der Zusammenhang von Arbeit und Hass (vgl. Z.16) bestimmt den ersten Textteil. Der Privatbereich des Arbeiters wird nur relativ kurz erwähnt (Wohlstand, Haus, Gärtchen). Auffällig hierbei ist die Verkleinerungsform, das Diminutivum „Gärtchen“, ein positiv emotionaler Lichtblick innerhalb des allumfassenden Hasses. Während im 1.Teil das Verb „hassen“ dominiert, wird der 2.Teil des Textes vom Verb „sehen“ bzw. „blicken“ bestimmt; gleich 12-mal sind diese Verben der äußeren Wahrnehmung zu finden, die in Verbindung mit den Objekten den Wandlungsprozess des Arbeiters - jetzt auch „der Kranke“ genannt - anzeigen. Auch in der Wahrnehmung des „Gärtchens“ spiegelt sich die innere Veränderung: Sechsmal wird das Diminutivum wiederholt, zuletzt in Verbindung mit dem Adjektiv „langweilig“ (Z.24). Die Bretterwand, im 1.Teil lediglich zweimal genannt, wird im 2.Teil zum Schlüsselwort. Auch an der Bretterwand oder genauer: an der Wahrnehmung der Wand wird die 186 Veränderung des Arbeiters demonstriert. Im 1.Teil als Trennung zwischen Fabrik und Privatsphäre eingeführt, wird sie nun als „verdammte(n) Wand“ (Z.25/26) wahrgenommen, die den Blick auf die Fabrik verwehrt. Abwertung und Abbau der Wand gehen einher mit einer zunehmenden Aufwertung der ehedem verhassten Fabrik. Die neue Sicht des Arbeiters belegen vor allem das Adjektiv „zärtlich“ (Z.31) und das Possessivpronomen („seiner Fabrik“, Z.32). Die Fabrik bzw. das, was von ihr wahrgenommen wird, erscheint jetzt als etwas Schönes (vgl. Z.32) und Lebendiges (vgl. Z.33). Bestätigt wird die neue Wahrnehmung und Einstellung des Arbeiters durch seine Reaktion: Sein entspanntes Lächeln (vgl. Z.38) erscheint als äußeres Zeichen der inneren Versöhnung. Der letzte Satz der Kurzgeschichte klingt wie ein lapidarer Kommentar, eine Bestätigung dessen, was der Titel schon erwarten lässt. - Die syntaktische Analyse Die syntaktische Analyse bezieht sich auf den Satz als Sinn- und Bedeutungseinheit und untersucht Sätze eines Textes in Bezug auf ihre Leistung, Konstruktion und Wirkung. Die Leistung von Sätzen ist u.a. durch die Satzarten festgelegt. Wir unterscheiden Aussagesätze Aufforderungssätze Befehlssätze Fragesätze Wunschsätze Ausrufesätze Bei der Konstruktion bzw. Organisation von Sätzen unterscheiden wir Parataxe (meint eine Aneinanderreihung von Hauptsätzen, die sogenannte Satzreihe; in ihr dokumentiert sich eine „einfache“ Sicht auf die Realität, in der jedes Element gleich wichtig ist (vgl. Kindersprache); sie kann aber auch bewusst als Stilmittel eingesetzt werden) Hypotaxe (meint die Verflechtung von Haupt- und Nebensätzen, das sogenannte Satzgefüge; diese komplizierte Satzorganisation spiegelt eine differenzierte Sicht auf die Realität wider; auf Grund der Verbindung zwischen den Sätzen werden in Hypotaxen Zusammenhänge, Abhängigkeiten, Ursachen, Wirkungen und andere Faktoren dargelegt) Besondere Wirkungen können mit den sogenannten Satzfiguren erzeugt werden. Diese weichen vom üblichen Satzbau ab und sind dadurch auffällig; sie werden als stilistische Mittel eingesetzt (siehe auch Stilanalyse). Die wichtigsten Satzfiguren sind: Ellipse (Auslassung eines wichtigen Satzgliedes) Parallelismus (Wiederholung derselben Satzgliedfolge in mehreren aufeinander folgenden Sätzen) Anakoluth (Satzbruch) 187 Chiasmus (syntaktisch symmetrische Überkreuzstellung) Anapher (Wiederholung desselben Satzanfangs) Zeugma (syntaktische Unebenheit) Inversion (ungewöhnliche Umstellung der Satzglieder) Klimax (syntaktische stufenweise Steigerung) (Diese Satzfiguren mit Erläuterungen und Beispielen finden Sie im Folgenden bei der Stilanalyse oder im Anhang unter „Die wichtigsten stilistischen Mittel“.) Schauen wir uns mit diesen Kenntnissen Martis Kurzgeschichte an und achten nun auf die Syntax! Die Auffälligkeiten notieren wir auf ein Konzeptpapier: 1.Teil: extrem kurze Sätze, Parataxe, einzelne kleinere Hypotaxen gleiche Satzanfänge, unverbundene Satzreihe, isolierte Sätze Parallelismen, Gleichförmigkeit des Satzbaus 2.Teil: beginnt ebenfalls mit kurzen Sätzen, dann längere Sätze Parataxe und Hypotaxe Sätze werden miteinander verbunden variabler Satzbau Schluss: kurzer, lapidarer Aussagesatz in der wörtlichen Rede: Aussage- und Befehlssätze Die Ausarbeitung kann dann so aussehen: Auch in der Syntax wird die Zweiteilung des Textes sichtbar. Im 1.Teil fällt die Reihung von extrem kurzen Sätzen auf. Deren Unverbundenheit und Gleichförmigkeit erzeugen beim Lesen jenen abgehackten Rhythmus, in dem das „Stakkato der Arbeit“ hörbar wird. Die vorherrschende Parataxe wird zweimal unterbrochen von kurzen hypotaktischen Sätzen, in denen die wörtliche Rede wiedergegeben ist. Der 2.Teil beginnt zwar ebenfalls mit kurzen Sätzen, aber der Satzbau fällt variabler aus; zudem sind nun die Sätze miteinander verbunden, sodass der harte Rhythmus des 1.Teils verschwunden ist. Die kurzen bis mittellangen Sätze sind hauptsächlich parataktisch organisiert. Das gilt auch für die Sätze der wörtlichen Rede. Erst am Ende des Textes erscheinen drei relativ kurze hypotaktische Sätze, in denen das Geschehen zum Höhepunkt gesteigert wird. Wie im 1.Teil so finden sich auch im 2.Teil fast durchgängig einfache Aussagesätze. Die wörtlichen Rede des Kranken enthalten indirekte Aufforderungen, einmal ist sogar ein direkter Befehlssatz formuliert, in denen der Kranke den Abbau der Bretterwand anordnet (vgl. Z.25/26). Darin bekundet sich der feste Wille des Kranken, den Prozess der Wahrnehmungserweiterung bis zur freien Sicht auf das Ganze fortzusetzen. Die Folge seiner Anordnung ist im wichtigsten Satz des Textes hypotaktisch dargestellt (vgl. Z.37-39). Mit der darin ausgedrückten Zufriedenheit des Kranken könnte der Text bzw. die Kurzgeschichte enden. Es folgt jedoch noch der schon einmal erwähnte Schlusssatz, der kurz und lapidar das im Titel angeschlagene Sprichwort vervollständigt. 188 - Die stilistische Analyse Die Stilanalyse untersucht im Wesentlichen, von welchen möglichen Ausdrucks- und Darstellungsvarianten ein Verfasser im besonderen Maße Gebrauch gemacht hat und welche Prinzipien (z.B. Prinzip der Anschaulichkeit, Prinzip der Wiederholung usw.) er einsetzt, um seine Intention verständlich zu machen. Wir unterscheiden hierbei: 1. Stil- bzw. Sprachschicht; diese kann sein: a) dichterisch (feierlich, poetisch, oft altertümlich), b) bildungssprachlich (gebildet, Kenntnisse voraussetzend), c) fachsprachlich (z.B. wissenschaftlich), d) gehoben (gepflegt, nicht alltäglich), e) bürokratisch (Amtsdeutsch, behördlich, steif, unpersönlich), f) umgangssprachlich (gelockerte, alltagssprachliche Ausdrucksweise) g) vulgär (derbe Ausdrucksweise). 2. Stilistische Prinzipien Es gibt mehrere Stilprinzipien, die jedoch für einen Autor und damit auch für die Stilanalyse unterschiedlich wichtig sind. Die zwei wohl wichtigsten Prinzipien sind: - das Prinzip der Anschaulichkeit (Die Veranschaulichung von komplexen Zusammenhängen, Wirkungen und Handlungen erhöht deren Verständlichkeit. Veranschaulichung kann Beispieloder Beweisfunktion haben. Sie wird vor allem durch die Verbildlichung des Wesentlichen, des Kerns erreicht, sodass durch das veranschaulichte Besondere ein Zugang zum Umfassenden und Schwierigen ermöglicht wird.) - das Prinzip der Wiederholung bzw. Eindringlichkeit (Die Wiederholung von Wörtern oder Sätzen ist kein Zeichen für den Mangel an Ausdrucksfähigkeit, sondern ein bewusstes Stilmittel, das immer dann eingesetzt wird, wenn ein Verfasser besonders eindringlich wirken will. Die Wiederholung betont das Besondere, verstärkt Wirkung und Eindruck, verweist auf Wichtiges und zeigt dem Leser an, worauf er besonders achten sollte. Wiederholungen gibt es nicht nur als wörtliche, es gibt auch bedeutungsmäßige Wiederholungen.) Daneben gibt es noch: - das Prinzip der Lebendigkeit (die Darstellung soll lebendig, abwechslungsreich und dynamisch sein. Das kann z.B. durch die unterschiedlichen Redeformen erreicht werden: wörtliche, indirekte Rede, innerer Monolog usw.) - das Prinzip der Folgerichtigkeit (Folgerichtigkeit meint die logische Aneinanderreihung der Aussagen, den stimmigen, schritt- und stufenweisen Aufbau eines Textes, die innere kausale Stimmigkeit der Sätze) 189 - das Prinzip der Klarheit (Klarheit meint die Klarheit des Ausdrucks, die Eindeutigkeit und Bestimmtheit der Sachverhalte, der Argumentation, des Geschehens usw.) - das Prinzip der Angemessenheit (Stil und darzustellender Inhalt sollen angemessen sein) - das Prinzip der Einheitlichkeit (Einheitlichkeit bezieht sich auf die innere Harmonie, Geschlossenheit inhaltlicher, sprachlicher, situativer Art) - das Prinzip der Variation und des Wechsels (Abwandlung des Vorgegebenen in verschiedene sprachliche Formen, Wechsel des Ausdrucks) - das Prinzip der Glaubwürdigkeit (die Darstellung muss überzeugen, eine Manipulation des Lesers muss vermieden werden) - das Prinzip der Spannungssteigerung (die Darstellung soll aufregend, einnehmend und spannend sein, vielleicht auch mit Überraschungen aufwarten) - das Prinzip der kommunikativen Einbeziehung des Lesers (der Leser kann direkt oder indirekt in die Darstellung einbezogen werden, z.B. durch Ansprache oder rhetorische Fragen) 3. Stilarten Wir unterscheiden drei Stilarten: a) Nominalstil: beim Nominalstil herrschen nominale Formen vor, die hauptsächlich den Inhalt des Textes tragen. Der Stil ist nüchtern, sachlich, trocken, nicht flüssig, kompliziert und äußerst komprimiert. Der Charakter ist zwingend, ordnend und bestimmend. Der Nominalstil ist charakteristisch für kognitive und normative, z.T. auch für informative Texte. b) Verbalstil: beim Verbalstil trägt das Verb die wesentliche Information der Sätze. Handlungen, Vorgänge und Ereignisse werden differenziert dargestellt, Ziele, Vorstellungen und Erwartungen werden anschaulich konkretisiert. Der Stil ist flüssig, dynamisch, lebendig, die Sprache leicht verständlich. Der Verbalstil ist kennzeichnend für informative, unterhaltende und literarische Texte. c) Adjektivstil: beim Adjektivstil dominiert das beschreibende und bewertende Adjektiv, das den Dingen und der Realität bestimmte Qualitäten zuspricht, ausschmückt, auf- oder abwertet, überhöht usw. und beim Leser eine gezielte Atmosphäre erzeugt. Der Adjektivstil ist charakteristisch für Schilderungen, für triviale, unterhaltende und Werbetexte. 190 In der Reinform kommen die einzelnen Stilarten selten vor; bei literarischen Texten finden sich in der Regel Mischformen. Darüber hinaus kann auch die Fachsprache (mit Fachwortschatz und fachbezogener Bildlichkeit) als Stilart eingesetzt werden, wenn es darum geht, eine spezifische und bedeutungsvolle Wirklichkeit wiederzugeben. Ihr Vorteil liegt in der Genauigkeit der Benennung und der Aussage und in der Eindeutigkeit der Information. 4. Stilmittel Bei den Stilmitteln unterscheiden wir: a) Schlüsselwörter, Leitmotive, b) Personifikation, Verdinglichung, c) Ironie (uneigentliches Sprechen: Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem) d) Redeformen: die wörtliche Rede (mal mit, mal ohne redeeinleitende Zeichen (Anführungszeichen) oder sonstige Satzzeichen; die direkte Rede gibt dem epischen Text einen dramatischen Akzent; sie unterbricht zwar den Erzählfluss, aber sie macht einen Text lebendig, szenisch unmittelbar; zudem dient sie der indirekten Charakterisierung des Sprechenden) der innere Monolog, das "stumme Selbstgespräch" (meint eine Darbietungsform des Erzählens in der 1. Person Singular Indikativ Präsens; ermöglicht die Innensicht ohne kommentierende Einmischung des Erzählers; der Erzähler schlüpft in eine Figur hinein und gibt deren Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen wieder; er ist als Erzähler dann nicht mehr präsent) die erlebte Rede (ist eine Darbietungsform des Erzählens, und zwar in der 3.Person Singular Präteritum Indikativ; meist ohne redeeinleitende Verben schlüpft der Erzähler in eine Figur, um deren Gedanken und Gefühle eindrücklich wiederzugeben; er ist aber als Erzähler noch spürbar) die indirekte Rede (referiert die Figurenrede, erzeugt Distanz zum erzählten Geschehen auf Grund der grammatischen Verschiebung in den Konjunktiv und in die dritte Person; der Erzähler wird dabei als Vermittler des Geschehens deutlich) e) stilistische Figuren: Sie werden wegen ihrer Wirkung auf den Leser eingesetzt. Im Wesentlichen gibt es fünf Wirkungsakzente und dazu entsprechende stilistische Mittel und Figuren: Anschaulichkeit, Eindringlichkeit, Spannungssteigerung, Überraschungseffekt, kommunikativer Akzent 191 Übersicht: Anschaulichkeit Eindringlichkeit Spannungssteigerung Allegorie Beispiel Bild Metapher Metonymie Personifikation Synästhesie Synekdoche Vergleich Emphase Euphemismus Hyperbel Inversion Litotes Periphrase Wiederholung Antithese Asyndeton Chiasmus Ellipse Klimax Parallelismus Raffung Überraschungseffekt Kommunikativer Akzent Anakoluth Anspielung Ironie Oxymoron Paradoxon Wortspiel Zeugma Anrede Einschub Parenthese Rhetorische Frage Vorgriff Die wichtigsten stilistischen Mittel Allegorie Alliteration Allusion Anakoluth Anapher Antithese Asyndeton Bild Chiasmus Sinnbild, Gleichnis: Verbildlichung eines abstrakten Begriffs (Das Rad des Schicksals dreht sich; Justitia mit Waage und Augenbinde) auch Stabreim genannt: gleicher Anlaut der betonten Silben bei mehreren Wörtern (mit Mann und Maus; Milch macht müde Männer munter) Anspielung (Er fällte ein salomonisches Urteil.) Satzbruch ("Korf erfindet eine Mittagszeitung, welche, wenn man sie gelesen hat, ist man satt." Morgenstern) Wiederholung des gleichen Anfangswortes bei aufeinander folgenden Sätzen, Versen, Strophen ("Ihr unsterblichen Seelen. Ihr, die ihr nicht von dieser Welt seit. Ihr Weltoffenen." Handke) Entgegenstellung (Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Heiß ist die Liebe, kalt ist der Tod. Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit.) Unverbundenheit: Aneinanderreihung ohne Konjunktion (Alles rennet, rettet, flüchtet ... ; Veni, vidi, vici) Bildlichkeit: Gesamtbegriff für sprachliche Mittel, die abstrakte Sachverhalte anschaulich machen, z.B. Allegorie, Chiffre, Metapher, Symbol, Vergleich. Überkreuzstellung: syntaktische Überkreuzung zweier an sich parallel gebauter Sätze ("Die Kunst ist lang, und kurz ist unser 192 Chiffre Ellipse Euphemismus Hyperbel Hypotaxe Inversion Ironie Katachrese Klimax Litotes Metapher Metonymie Motiv Neologismus Onomatopoesie Oxymoron Parataxe Parenthese Paradoxon Leben." Goethe) Geheimzeichen, Verschlüsselung: zu Zeichen reduzierte Symbole od. Stimmungsträger, die das Gemeinte nur andeuten, das Wirkliche verfremden ("Mit allen Augen sieht die Kreatur nur das Offene." Rilke) Auslassung eines für die vollständige syntaktische Konstruktion notwendigen Satzgliedes (Je schneller, desto besser! Was nun? Alles klar?) verhüllende oder beschönigende Umschreibung einer unangenehmen Sache (statt sterben: entschlafen, verscheiden, ableben, heimgehen; vollschlank) Übertreibung (Er hat einen Mund wie ein Scheunentor. "Ich fühle eine Armee in meiner Faust." - Schiller) Satzorganisation in Form der Über- und Unterordnung von Haupt- und Nebensätzen; komplizierter Satzbau, kunstvoll geschachteltes Gefüge von Sätzen Umstellung, Umkehrung: Bezeichnung für eine von der üblichen und gebräuchlichen Wortfolge abweichende Umstellung von Wörtern bzw. Satzgliedern (In seinen Armen das Kind war tot. Goethe, Erlkönig) Form des uneigentlichen Sprechens: sagt das Gegenteil dessen, was eigentlich gemeint ist (eine schöne Bescherung; die Hellste!) Bildbruch (Der Zahn der Zeit hat schon manche Träne getrocknet. Der Lungenkrebs reibt sich vergnügt die Scheren. Sobald der Krach mit Fortschritt zu tun hat, drückt unser Ohr ein Auge zu.) Kunstvolle Steigerung (Es dauerte Tage, Wochen, Monate, ja Jahre. In jeder Partei gibt es Eifrige, Übereifrige und Allzueifrige.) Bejahung durch doppelte Verneinung, Milderung des Gesagten (nicht unschön; er ist nicht gerade ein Held; er freute sich nicht wenig) Bildliche Bezeichnung (Flussbett, Drahtesel, Wüstenschiff); zu unterscheiden sind: Genitivmetaphern: der Korall der Lippen Adjektivmetaphern: süßer Ton, dunkler Klang Verbmetaphern: umgreifen, besetzen, gipfeln Satzmetaphern: Sein Herz drohte zu brechen. Umbenennung: ein Teil steht für das Ganze, pars pro toto (im Kreml und im weißen Haus .. er kann den ganzen Novalis auswendig; er trank fünf Glas) sich wiederholende, vorgeprägte typische Handlungsteile Wortneubildung, neu gebildeter sprachlicher Ausdruck (z.B. Waschbrettbauch) Lautmalerei bei Wortbildungen (knistern, ächzen, girren, klirren, brausen, sausen) Kopplung einander widersprechender Wörter (bittersüß, helldunkel, beredtes Schweigen, alter Knabe) Satzreihe: Reihung von Hauptsätzen Einschub (Das war - kurz gesagt - seine Meinung) Widersprüchlichkeit, Scheinwiderspruch (Einmal ist keinmal. Das 193 Parallelismus Personifikation Pleonasmus Rhetorische Frage Sentenz Symbol Synästhesie Synekdoche Synonymie Tautologie Vergleich Zeugma Zitat Leben nach dem Tod. Es ist merkwürdig, wie wenig im ganzen die Erziehung - verdirbt.) Gleichbau mehrerer Sätze, Verse, Strophen ("Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident!" - Goethe) Belebung eines Dinges oder Abstraktums ("Es kam die Nacht und blätterte gleichgültig in den Bäumen." - Rilke) das doppelte Ausdrücken einer Sache (weißer Schimmel, wieder von neuem, alter Greis) Frage, auf die keine Antwort erwartet wird (Was ist gewisser als des Menschen Ende?) kurzer Denkspruch (Humor ist, wenn man trotzdem lacht.) Wahrzeichen, Merkmal: bildhafter Ausdruck für einen auf etwas Höheres, Umfassenderes verweisenden Vorgang oder Zusammenhang (Kreuz, Adler, Flagge) Zugleichempfindung: Mischung mehrerer Sinnesgebiete (Farbhören, die Sprache des Geschmacks, die Musik des Herzens) Begriffsvertauschung: ein Teil steht für das Ganze ("Dach" für Haus; "Klinge" statt Schwert) Kombination sinnverwandter Wörter (Es gibt kein Ende, keinen Ausgang, keine Auflösung. Mein Liebster, mein Bräutigam, mein Verlobter!) Bezeichnung desselben Gegenstandes oder Sachverhalts durch verschiedene, gleichbedeutende Worte (nackt und bloß; einzig und allein) Verbindung eines gemeinsamen Gehalts zweier Bereiche (Er ist stark wie ein Löwe, groß wie ein Baum und reich wie das Meer.) Verbindung mehrerer Nomen durch ein Verb, das sinngemäß aber nicht zu allen passt (Ich heiße Schmidt und Sie herzlich willkommen! Der Hund hob den Blick und ein Bein 'gen Himmel.) Übernahme und Verwendung wörtlich wiedergegebener Äußerungen als Beleg für die eigene Auffassung ( ... wie Goethe seinerzeit schon sagte: "Es irrt der Mensch, solang er strebt.") --------------------------------------------------------------------------------------Sie haben jetzt einen Einblick bekommen in die Stilistik, die dem Schriftsteller praktisch unendlich viele Möglichkeiten an die Hand gibt, seine Absicht sprachlich umzusetzen. Was Sie allerdings jetzt auch festgestellt haben, ist die Tatsache, dass man diese sprachlichen Feinheiten gar nicht wahrnehmen kann, wenn man sie nicht kennt. Es mag sein, dass eine bestimmte Wirkung, die sprachlich erzeugt wird, beim Leser spürbar wird; aber er weiß nicht, warum es so ist. Wenn man die sprachlichstilistischen Mittel und Möglichkeiten kennt, weiß man auch, warum sich gerade diese oder jene Wirkung einstellt. Und mehr noch: Man kann dann selbst sprachliche Mittel zu bestimmten Wirkungen einsetzen. Sie sollten angesichts der Vielzahl stilistischer Möglichkeiten keinen Schrecken bekommen, weil Sie vielleicht vermuten, dass bei der stilistischen Analyse alle Mittel auch herausgearbeitet und nachgewiesen werden müssen. Davon kann keine Rede sein; es wäre zeitlich auch gar nicht machbar, innerhalb normaler Klausurzeiten alle sprachlichen Mittel beispielsweise der Marti-Kurzgeschichte zu analysieren und deren Wirkung aufzuzeigen. 194 Die stilistische Analyse verlangt lediglich, die wichtigsten, auffälligsten stilistischen Ausdrucksformen zu erkennen und deren Funktion aufzuzeigen. Der häufigste Fehler, der hierbei zu beobachten ist, besteht in der Auffassung, man müsse lediglich die stilistischen Mittel feststellen, also, es genüge z.B. zu sagen: In der 5. Zeile findet sich eine Metapher, in der 9. Zeile sehen wir eine Antithese und in der 15. Zeile kann eine Hyperbel ausgemacht werden. Stilistische Feinheiten wahrzunehmen ist nur die notwendige Voraussetzung der Analyse; viel wichtiger ist es, deren Funktion innerhalb des Textes und in Bezug auf die Aussageabsicht des Autors aufzuzeigen. Schon aus diesem Grunde sollten Sie sich bei der Stilanalyse nur auf die wesentlichen Mittel beschränken. Bezogen auf den Marti-Text und dessen auffälligste Stilmittel muss man die Fragen beantworten: Warum werden im Text bestimmte Wörter so häufig wiederholt? Warum wird die Bretterwand personifiziert? Warum setzt der Erzähler im 1.Teil so häufig die Anapher und den Parallelismus ein? Warum werden so auffällige Metaphern (Z. 9, 13/14, 15, 31/32, 38/39) verwendet? Warum wird die wörtliche Rede eingesetzt? Aufgabe: Verfassen Sie eine Stilanalyse der Kurzgeschichte von K. Marti! Nachdem Sie nun den letzten Analyseteil vervollständigt haben und somit die Analyse abgeschlossen ist, können wir zum Ziel des Ganzen übergehen, zur Intention des Autors. Wir fragen also: Was hat die Analyse ergeben? Welche Aussageabsicht können wir aus der Analyse folgern? Die Analyse hat ergeben, dass der Arbeiter im Mittelpunkt der Kurzgeschichte steht; auf ihn ist das Augenmerk gerichtet, sowohl auf seine Arbeit als auch auf seine Krankheit. Die Zweiteilung des Geschehens und damit auch des Textes zeigt antithetisch die zwei Lebenssituationen des Arbeiters, seine Arbeit und als Folge davon seine Krankheit. Die 40 Jahre Arbeit sind von Hass geprägt, die Zeit der Krankheit von der sich verändernden Wahrnehmung und Einstellung. Der Schwerpunkt des Erzählten liegt deutlich auf dem Veränderungsprozess, der durch die Krankheit bedingt parallel zu ihr verläuft. Die innere Veränderung führt letztlich zu Versöhnung und Zufriedenheit, während die Krankheit im Tod endet. Es wird also ein eher unauffälliges Geschehen dargeboten: Ein Arbeiter, der seine Arbeit hasst, wird krank und stirbt zuletzt doch zufrieden. Das ist zwar tragisch, aber es wäre nichts Besonderes, wenn nicht der auffällige Titel der Kurzgeschichte wäre. Das italienische Sprichwort, das nur zur Hälfte im Titel erscheint, legt die Vermutung nahe, dass der Verwandlungsprozess des Arbeiters für „sein Neapel“ steht: Kurz vor seinem Tod konstruiert sich der 195 Arbeiter „sein Neapel“, idealisiert das, was er 40 Jahre lang gehasst hat. Er blendet alles Negative aus, versöhnt sich mit seiner Fabrik und mit seiner Arbeit, d.h. mit seinem Leben, und kann zufrieden sterben. Der Tod des Arbeiters vervollständigt die italienische Redensart und - eröffnet neue Fragen: Versöhnt der Tod mit dem Leben? Muss man sich „sein Neapel“ künstlich konstruieren, damit man sich ein erfülltes Leben einreden kann? Erlebt jeder Mensch eine solche Verwandlung vor dem Tod? Wird im Angesicht des Todes alles Erlebte idealisiert? Die Kurzgeschichte handelt von einem anonymen „Er“, dessen Arbeitsbedingungen relativ genau dargestellt sind. Man kann davon ausgehen, dass der Arbeiter als Beispiel für eine bestimmte Arbeits- und Lebensweise steht: der Akkordarbeiter in einer Fabrik. An ihm werden die Auswirkungen, die psychischen und körperlichen Folgen dieser Arbeit aufgezeigt. Akkordarbeit, Hass, Zucken im Schlaf und Entfremdung von der Arbeit und von sich selbst bilden jene unheilvolle Spirale, die in Krankheit und Tod gipfelt. Der Akkordarbeiter wird so zum Opfer der Arbeitsbedingungen, die er akzeptiert, aber nur teilweise mitbestimmen kann. Er wird für den Arbeitsprozess funktionalisiert und vollkommen von ihm bestimmt. Unter solchen Bedingungen ist ein humanes, sinnvolles oder gar erfülltes Leben nicht vorstellbar. Dass ein solcher Arbeiter erst krank werden muss, um seine Sicht auf die Welt und auf sich selbst im positiven Sinne verändern zu können, ist Anklage genug. Aber dabei lässt es Marti nicht bewenden; seine Gesellschaftskritik geht noch weiter. Wenn der Arbeiter sich vor dem Tod „sein Neapel“ konstruieren muss, um zufrieden sterben zu können, dann wirft dies doch ein bezeichnendes Licht auf eine Gesellschaft, in der Menschen so leben (müssen) wie der Protagonist und in der „Neapel“ zum Krankheitserlebnis geschrumpft scheint. Martis gesellschaftskritische Intention klagt jene Arbeitsbedingungen an, die Menschen verdinglichen und entfremden; er klagt eine Gesellschaft an, in der solche Arbeits- und Lebensbedingungen nichts Ungewöhnliches sind, in der die Maschine den Rhythmus bestimmt und der Verlust humaner Prinzipien in Kauf genommen wird. (Diese Interpretation der Kurzgeschichte ist nur eine Deutungsmöglichkeit. Sie ist nicht zwingend und nicht allein gültig. Literatur - so haben wir schon gesagt - ist polyvalent, also nie eindeutig. Andere Deutungen, die sich ebenfalls auf die Analyse stützen können, sind denkbar und möglich. Wichtig dabei ist aber, dass die Interpretation nicht willkürlich erstellt wird, sondern durch die Analyse gestützt wird. Die Analyse ist die Begründung für die Deutung.) Sie haben nun eine Methodik der Textanalyse kennengelernt. Diese Methode hat schrittweise - sehr detailliert - die einzelnen Analyseschwerpunkte nacheinander betrachtet. So kann man vorgehen, so muss man nicht vorgehen. Wählt man diese Methode, gibt es mehrere Varianten, je nach dem, womit man beginnt. 196 Mit folgenden Leitfragen können Texte nach dieser Methode erschlossen werden: Strukturanalyse Welche Erzählschritte (Gliederung) sind erkennbar? Hat das Erzählte einen Spannungsbogen? Gibt es einen Höhepunkt bzw. mehrere Höhepunkte? Hat das Geschehen einen Wendepunkt, von dem aus die Entwicklung in eine neue Richtung verläuft? Wie beginnt bzw. wie endet der Erzählvorgang? Gibt es eine Einleitung oder blendet sich der Erzähler in ein Geschehen ein? Hat der Text einen abgeschlossenen oder einen offenen Schluss? Wird chronologisch erzählt? Gibt es Rückblenden, Vorwegnahmen, Vorausdeutungen? Aus welcher Perspektive wird erzählt (auktorial, personal, Ich-Perspektive)? Werden innere Vorgänge dargestellt? In welcher Form (innerer Monolog, erlebte Rede)? Wie steht der Erzähler zum Geschehen? Gibt er sich überhaupt zu erkennen? Kommentiert er das Geschehen, gibt er Vorausdeutungen? Spielt das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit in der Darstellung des Geschehens eine Rolle? Ist der Erzählvorgang (oder sind einzelne Sequenzen) durch Zeitraffung gekürzt oder zeitlich gedehnt? Wird der Eintritt eines Ereignisses (künstlich) hinausgeschoben? Inhaltsanalyse Wovon handelt der Text? Welches Thema / Problem wird angesprochen? Wie entwickelt der Text das Problem / Thema? Welches Geschehen, welche Handlung stellt der Text dar? Wann und wo spielt das Geschehen? Welche Rolle spielen Ort und Zeit der Handlung? Wer sind die Handlungsträger? Gibt es eine Hauptfigur, gibt es Gegenfiguren? Nebenfiguren? Funktionsträger? Wie stehen die Figuren zueinander? Welche Haltung nehmen sie zum Geschehen / Problem ein? Wie sind die handelnden Figuren charakterisiert? Was tun sie? Was sagen sie? Wie verhalten sie sich? Welche besonderen Merkmale haben sie? Welche Bedeutung kommt der Überschrift des Textes zu? Sprachanalyse Aus welchem (n) Bereich(en) nimmt der Erzähler seine Nomen? Gibt es auffällige Begriffe? Haben die Adjektive eher beschreibende oder bewertende (Auf- oder Abwertung) Funktion? Welche Verben werden eingesetzt, und welche Bedeutung kommt ihnen für die Darstellung des Geschehens zu? Welche Wortart(en) trägt (tragen) den Inhalt des Dargestellten am deutlichsten (Nominal-, Verbal-, Adjektivstil)? Ist der Text von der Stilebene her poetisch, fachsprachlich, bürokratisch, umgangssprachlich ... gehalten? 197 Welche stilistischen Mittel setzt der Erzähler zu welchem Zweck ein (sprachliche Bilder, Personifikation, Wiederholung, Ironie, Leitmotive usw.)? Erfassen der Intention Warum wird die Geschichte überhaupt erzählt? Will der Autor den Leser belehren, mahnen, aufklären, unterhalten, belustigen, manipulieren, zum Handeln auffordern oder ... ? Welche Einstellung des Autors zum Dargestellten wird erkennbar? Welche Überzeugung, Erfahrung will er vermitteln? Welche Zusammenhänge (historische, gesellschaftliche, ideologische, politische ...) lässt der Text erkennen? Wie stehen Entstehungszeit und Intention zueinander? Andere Erschließungsmethoden Bei der Erschließung der Kurzgeschichte von Kurt Marti haben wir eine Methode kennengelernt, die man die „Block-Methode“ nennen könnte: Nacheinander werden die Analyse-Blöcke (Inhalts-, Sprache- und Strukturanalyse) erarbeitet, wobei die Reihenfolge nicht festgelegt ist. Eine mögliche andere Methode ergibt sich, wenn man den jeweiligen Text zuerst in kleinere Einheiten (Erzählschritte) unterteilt und dann diese Einheiten nach allen Hinsichten (Struktur, Inhalt, Sprache) hin analysiert. Diese Methode beginnt also mit einem Aspekt der Struktur, nämlich mit der Darstellung der Gliederung des Textes. Die festgestellten Einzelteile des Textes können dann mit folgenden Leitfragen analysiert werden: 1. 2. 3. 4. Was wird inhaltlich dargestellt? Wie ist das sprachlich-stilistisch gemacht? Welche Strukturmerkmale sind eingesetzt? Welche Funktion hat die Einheit (Erzählschritt, Abschnitt) für das Ganze? Diese Vorgehensweise endet mit einer zusammenfassenden Darstellung der Intention des gesamten Textes. Eine weitere Methode konzentriert sich auf die inhaltlichen Schwerpunkte der Erzählung und analysiert von diesen her die Darstellung. Im Überblick sieht diese Methode etwa folgendermaßen aus: 1. 2. 3. 4. Welche Inhaltsaspekte enthält die Erzählung? Wie sind diese sprachlich dargestellt? In welcher Struktur erscheinen die Inhaltsaspekte? Welche Intention ergibt sich aus den Analysen? 198 Die vierte Methode, die noch kurz genannt werden soll, orientiert sich an den Naturwissenschaften und arbeitet mit der Hypothesenbildung. Das bedeutet: Nach dem Lesen der Erzählung stellt man eine Hypothese über die Aussageabsicht des Textes auf und versucht diese dann durch die Analyse des Textes zu beweisen. Im Überblick sieht diese Methode etwa so aus: 1. Welche Aussageabsicht könnte der Text verfolgen? 2. Wird meine Hypothese durch die Inhaltselemente bestätigt? 3. Bestätigt die Sprachverwendung meine Hypothese? 4. Bestätigen die Strukturelemente die Hypothese? Diese Methode birgt – auch wenn sie auf den ersten Blick überzeugend erscheint – eine große Gefahr: Bei der Analyse kann der Blick verengt werden auf die bestätigenden Elemente, sodass alles andere übersehen wird. Es mag noch viele andere Methoden der Textanalyse geben; alle müssen sich auf den Text beziehen, denn der Text ist zunächst das Einzige, das dem Leser zur Verfügung steht. Wenn man den Autor besser kennt, dessen Ideologie und Zeithintergrund (und anderes), dann eröffnen sich noch andere Zugänge zum Text. Die Analyse ändert sich dadurch aber nicht. Immer hat man es mit den drei Dimensionen des Textes zu tun; sie bilden die Grundlage für die Analyse. Nun wissen wir, dass schulische Darstellungsformen, also auch die Textanalyse, besonders in Klausuren in der Regel dreiteilig angelegt sind, weil eine Klausur nicht nur zielgerichtet (Erfassen der Intention), sondern auch adressatenbezogen verfasst werden soll. Das bedeutet, dass der Adressat, der Leser der Klausur (nicht nur die Lehrerin oder der Lehrer), geführt werden muss im Verständnis des Dargestellten. Diesem Zweck dienen u.a. die Einleitung und der abrundende Schluss. Einleitung und Schluss bilden bei schulischen Darstellungsformen immer den Rahmen für die eigentliche Aufgabe bzw. Arbeit. Berücksichtigen wir diese verlangte Dreigliedrigkeit, dann können wir die Anforderung der Texterschließung literarischer Texte in folgendem Schema zusammenfassen: 199 Methodik der Texterschließung (literarischer, vor allem epischer Texte) I. Einleitung 1. Angaben zum Verfasser und zum Entstehungsjahr 2. Angaben zur Textsorte 3. Knappe inhaltliche Einordnung des Textes (Thema, Problem und Zusammenhang) II. Analyseteil 1. Inhaltsanalyse: - Thematik, Problementfaltung - Handlung, Handlungsgefüge - Ort und Zeit der Handlung - Personen und Personenkonstellation - Personencharakteristik 2. Formanalyse 2.2. Strukturanalyse: - Aufbau, Gliederung, Handlungssequenzen - Höhepunkt, Wendepunkt, Spannungsbogen - Erzählweise, Erzählperspektive - Erzählzeit, erzählte Zeit 2.2. Sprachanalyse - Semantik - Syntax - Stilistik 3. Interpretation - Intention des Textes - Zusammenhang zwischen Intention und Entstehungszeit - Angaben zum ideologischen Standort des Autors III. Schluss - Abrundung der Textanalyse, vielleicht durch die Wiederholung und Ausweitung des wichtigsten Ergebnisses der Analyse oder durch einen kurzen Hinweis auf Thema und Intention eigene Stellungnahme zum Thema und Einordnung des dargestellten Problems in einen übergeordneten, allgemeineren Gesichtspunkt 200 Textsorte Kurzgeschichte 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Die Tochter Peter Bichsel Abends warteten sie auf Monika. Sie arbeitete in der Stadt, die Bahnverbindungen sind schlecht. Sie, er und seine Frau, saßen am Tisch und warteten auf Monika. Seit sie in der Stadt arbeitete, aßen sie erst um halb acht. Früher hatten sie eine Stunde eher gegessen. Jetzt warten sie täglich eine Stunde am gedeckten Tisch, an ihren Plätzen, der Vater oben, die Mutter auf dem Stuhl nahe der Küchentür, sie warteten vor dem leeren Platz Monikas. Einige Zeit später dann auch vor dem dampfenden Kaffee, vor der Butter, dem Brot, der Marmelade. Sie war größer gewachsen als sie, sie war auch blonder und hatte die Haut, die feine Haut der Tante Maria. „Sie war immer ein liebes Kind", sagte die Mutter, während sie warteten. In ihrem Zimmer hatte sie einen Plattenspieler, und sie brachte oft Platten mit aus der Stadt, und sie wusste, wer darauf sang. Sie hatte auch einen Spiegel und verschiedene Fläschchen und Döschen, einen Hocker aus marokkanischem Leder, eine Schachtel Zigaretten. Der Vater holte sich seine Lohntüte auch bei einem Bürofräulein. Er sah dann die vielen Stempel auf einem Gestell, bestaunte das sanfte Geräusch der Rechenmaschine, die blondierten Haare des Fräuleins, sie sagte freundlich „Bitte schön", wenn er sich bedankte. Über Mittag blieb Monika in der Stadt, sie aß eine Kleinigkeit, wie sie sagte, in einem Tearoom. Sie war dann ein Fräulein, das in Tearooms lächelnd Zigaretten raucht. Oft fragten sie sie, was sie alles getan habe in der Stadt, im Büro. Sie wusste aber nichts zu sagen. Dann versuchten sie wenigstens, sich genau vorzustellen, wie sie beiläufig in der Bahn ihr rotes Etui mit dem Abonnement aufschlägt und vorweist, wie sie den Bahnsteig entlang geht, wie sie sich auf dem Weg ins Büro angeregt mit Freundinnen unterhält, wie sie den Gruß eines Herrn lächelnd erwidert. Und dann stellten sie sich mehrmals vor in dieser Stunde, wie sie heimkommt, die Tasche und ein Modejournal unter dem Arm, ihr Parfum; stellten sich vor, wie sie sich an ihren Platz setzt, wie sie dann zusammen essen würden. Bald wird sie sich in der Stadt ein Zimmer nehmen, das wussten sie, und dass sie dann wieder um halb sieben essen würden, dass der Vater nach der Arbeit wieder seine Zeitung lesen würde, dass es dann kein Zimmer mehr mit Plattenspieler gäbe, keine Stunde des Wartens mehr. Auf dem Schrank stand eine Vase aus blauem schwedischem Glas, eine Vase aus der Stadt, ein Geschenkvorschlag aus dem Modejournal. „Sie ist wie deine Schwester", sagte die Frau, „sie hat das alles von deiner Schwester. Erinnerst du dich, wie schön deine Schwester singen konnte." „Andere Mädchen rauchen auch", sagte die Mutter. „Ja", sagte er, „das habe ich auch gesagt." - „Ihre Freundin hat kürzlich geheiratet", sagte die Mutter Sie wird auch heiraten, dachte er, sie wird in der Stadt wohnen. Kürzlich hatte er Monika gebeten: „Sag mal etwas auf französisch." „Ja", hatte die Mutter wiederholt, „sag mal etwas auf Französisch." Sie wusste aber nichts zu sagen. Stenografieren kann sie auch, dachte er jetzt. „Für uns wäre das zu schwer", sagten sie oft zueinander. 201 50 Dann stellte die Mutter den Kaffee auf den Tisch. „Ich habe den Zug gehört", sagte sie. (aus: Bichsel, P.: Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen; Olten 1964) Mittagspause 5 10 15 20 25 30 35 Wolf Wondratschek Sie sitzt im Straßencafé. Sie schlägt sofort die Beine übereinander. Sie hat wenig Zeit. Sie blättert in einem Modejournal. Die Eltern wissen, dass sie schön ist. Sie sehen es nicht gern. Zum Beispiel. Sie hat Freunde. Trotzdem sagt sie nicht, das ist mein bester Freund, wenn sie zu Hause einen Freund vorstellt. Zum Beispiel. Die Männer lachen und schauen herüber und stellen sich ihr Gesicht ohne Sonnenbrille vor. Das Straßencafe ist überfüllt. Sie weiß genau, was sie will. Auch am Nebentisch sitzt ein Mädchen mit Beinen. Sie hasst Lippenstift. Sie bestellt einen Kaffee. Manchmal denkt sie an Filme und denkt an Liebesfilme. Alles muss schnell gehen. Freitags reicht die Zeit, um einen Cognac zum Kaffee zu bestellen. Aber freitags regnet es oft. Mit einer Sonnenbrille ist es einfacher, nicht rot zu werden. Mit Zigaretten wäre es noch einfacher. Sie bedauert, dass sie keine Lungenzüge kann. Die Mittagspause ist ein Spielzeug. Wenn sie nicht angesprochen wird, stellt sie sich vor, wie es wäre, wenn sie ein Mann ansprechen würde. Sie würde lachen. Sie würde eine ausweichende Antwort geben. Vielleicht würde sie sagen, dass der Stuhl neben ihr besetzt sei. Gestern wurde sie angesprochen. Gestern war der Stuhl frei. Gestern war sie froh, dass in der Mittagspause alles sehr schnell geht. Beim Abendessen sprechen die Eltern davon, dass sie auch einmal jung waren. Vater sagt, er meine es nur gut. Mutter sagt sogar, sie habe eigentlich Angst. Sie antwortet, die Mittagspause ist ungefährlich. Sie hat mittlerweile gelernt, sich nicht zu entscheiden. Sie ist ein Mädchen wie andere Mädchen. Sie beantwortet eine Frage mit einer Frage. Obwohl sie regelmäßig im Straßencafe sitzt, ist die Mittagspause anstrengender als Briefe schreiben. Sie wird von allen Seiten beobachtet. Sie spürt sofort, dass sie Hände hat. Der Rock ist nicht zu übersehen. Hauptsache, sie ist pünktlich. Im Straßencafe gibt es keine Betrunkenen. Sie spielt mit der Handtasche Sie kauft jetzt keine Zeitung. Es ist schön, dass in jeder Mittagspause eine Katastrophe passieren könnte. Sie könnte sich sehr verspäten. Sie könnte sich sehr verlieben. Wenn keine Bedienung kommt, geht sie hinein und bezahlt den Kaffee an der Theke. An der Schreibmaschine hat sie viel Zeit, an Katastrophen zu denken. Katastrophe ist ihr Lieblingswort. Ohne das Lieblingswort wäre die Mittagspause langweilig. (aus: Wondratschek, Früher begann der Tag mit einer Schusswunde, München 1969) 202 Ein Verkehrsunfall Robert Musil Die beiden Menschen, die eine breite, belebte Straße hinaufgingen, gehörten ersichtlich einer bevorzugten Gesellschaftsschicht an, waren vornehm in Kleidung, Haltung und in der Art, wie sie miteinander sprachen, trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche gestickt, und ebenso, das heißt 5 nicht nach außen gekehrt, wohl aber in der feinen Unterwäsche ihres Bewusstseins, wussten sie, wer sie seien und dass sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt auf ihrem Platze befanden. Diese beiden hielten nun plötzlich ihren Schritt an, weil sie vor sich einen Auflauf bemerkten. Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprun10 gen, eine querschlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen war es, wie sich zeigte, wo er, mit einem Rad auf der Bordschwelle, gestrandet dastand. Wie die Bienen um das Flugloch hatten sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt, den sie in ihrer Mitte freiließen. 15 Von seinem Wagen herabgekommen, stand der Lenker darin, grau wie Packpapier, und erklärte mit groben Gebärden den Unglücksfall. Die Blicke der Hinzukommenden richteten sich auf ihn und sanken dann vorsichtig in die Tiefe des Lochs, wo man einen Mann, der wie tot dalag, an die Schwelle des Gehsteigs gebettet hatte. Er war durch seine eigene Unachtsamkeit zu Schaden 20 gekommen, wie allgemein zugegeben wurde. Abwechselnd knieten Leute bei ihm nieder, um etwas mit ihm anzufangen; man öffnete seinen Rock und schloss ihn wieder, man versuchte ihn aufzurichten oder im Gegenteil, ihn wieder hinzulegen; eigentlich wollte niemand etwas anderes damit, als die Zeit ausfüllen, bis mit der Rettungsgesellschaft sachkundige und befugte Hilfe käme. 25 Auch die Dame und ihr Begleiter waren herangetreten und hatten, über Köpfe und gebeugte Rücken hinweg, den Daliegenden betrachtet. Dann traten sie zurück und zögerten. Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-MagenGrube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es war ein unentschlossenes, lähmendes Gefühl; Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr: „Diese 30 schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg“. Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses Wort wohl schon manchmal gehört, aber sie wusste nicht, was ein Bremsweg sei, und wollte es auch nicht wissen; es genügte ihr, dass damit dieser grässliche Vorfall in irgendeine Ordnung zu 35 bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging'. Man hörte jetzt auch schon die Pfeife eines Rettungswagens schrillen, und die Schnelligkeit seines Eintreffens erfüllte alle Wartenden mit Genugtuung. Bewundernswert sind diese sozialen Einrichtungen. Man hob den Verunglückten auf eine Tragbahre und schob ihn mit dieser in den Wagen. 40 Männer in einer Art Uniform waren um ihn bemüht, und das Innere des Fuhrwerks, das der Blick erhaschte, sah so sauber und regelmäßig wie ein Krankensaal aus. Man ging fast mit dem berechtigten Eindruck davon, dass sich ein gesetzliches und ordnungsgemäßes Ereignis vollzogen habe. ,;Nach den amerikanischen Statistiken", so bemerkte der Herr, „werden dort jährlich durch 45 Autos 190000 Personen getötet und 450000 verletzt." „Meinen Sie, dass er tot ist'" fragte seine Begleiterin und hatte noch immer das unberechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben. ;Ich hoffe, er lebt", erwiderte der Herr. „Als man ihn in den Wagen hob, sah es ganz so aus. (aus: Musil, R.: Der Mann ohne Eigenschaften; Hamburg 1952) 203 Hobbyraum Marie Luise Kaschnitz Meine Söhne, sagt Herr Fahrenkamp, sind wortkarg genug. Ich frage sie dieses und jenes, ich bin kein Unmensch, es interessiert mich, was die Jugend denkt, schließlich war man selbst einmal jung. Wie soll nach eurer Ansicht die Zukunft aussehen, frage ich und bekomme keine Antwort, entweder meine 5 Söhne wissen es selber nicht oder sie wollen sich nicht festlegen, es soll alles im Fluss bleiben, ein Fluss ohne Ufer sozusagen, mir geht das auf die Nerven, offen gesagt. Darüber, was es nicht mehr geben soll, äußern sich meine Söhne freimütiger, auch darüber, wen es nicht mehr geben soll, den Lehrer, den Richter, den Unternehmer, alles Leute, die unseren Staat aufgebaut 10 haben, in größtenteils demokratischer Gesinnung, aus dem Nichts, wie man wohl behaupten kann, und das ist jetzt der Dank. Schön und gut, sagen meine Söhne, aber Ihr habt etwas versäumt, und ich frage, was wir versäumt haben, die Arbeiter sind zufrieden, alle Leute hier sind satt und zufrieden und was gehen uns die Einwohner von Bolivien an. Ihr habt etwas versäumt, sagen 15 meine Söhne und gehen hinunter in den Hobbyraum, den ich ihnen vor kurzem habe einrichten lassen. Was sie dort treiben, weiß ich nicht. Meine Frau meint, dass sie mit Bastelarbeiten für Weihnachten beschäftigt sind. (aus: Kaschnitz, Marie Luise: Steht noch dahin. Neue Prosa; Frankfurt a.M. 1970, S.171) Ein ruhiges Haus 5 10 15 20 Marie-Luise Kaschnitz Ein ruhiges Haus, sagen Sie? Ja, jetzt ist es ein ruhiges Haus. Aber noch vor kurzem war es eine Hölle. Über uns und unter uns Familien mit kleinen Kindern, stellen Sie sich das vor. Das Geheul und Geschrei, die Streitereien, das Trampeln und Scharren der kleinen zornigen Füße. Zuerst haben wir nur den Besenstiel gegen den Fußboden und gegen die Decke gestoßen. Als das nichts half, hat mein Mann telefoniert. Ja, entschuldigen Sie, haben die Eltern gesagt, die Kleine zahnt, oder die Zwillinge lernen gerade laufen. Natürlich haben wir uns mit solchen Ausreden nicht zufrieden gegeben. Mein Mann hat sich beim Hauswirt beschwert, jede Woche einmal, dann war das Maß voll. Der Hauswirt hat den Leuten oben und den Leuten unten Briefe geschrieben und ihnen mit der fristlosen Kündigung gedroht. Danach ist es gleich besser geworden. Die Wohnungen hier sind nicht allzu teuer, und diese jungen Ehepaare haben gar nicht das Geld, umzuziehen. Wie sie die Kinder zum Schweigen gebracht haben? Ja, genau weiß ich das nicht. Ich glaube, sie binden sie jetzt an den Bettpfosten fest, so dass sie nur kriechen können. Das macht weniger Lärm. Wahrscheinlich bekommen sie starke Beruhigungsmittel. Sie schreien und juchzen nicht mehr, sondern plappern nur noch vor sich hin, ganz leise, wie im Schlaf. Jetzt grüßen wir die Eltern wieder, wenn wir ihnen auf der Treppe begegnen. Wie geht es den Kindern, fragen wir sogar. Gut, sagen die Eltern. Warum sie dabei Tränen in den Augen haben, weiß ich nicht. (aus: Kaschnitz, Marie Luise: Steht noch dahin. Neue Prosa; Frankfurt a.M. 1970, S.171) 204 DAS TROCKENDOCK 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Stefan Andres Das erste Trockendock in Toulon, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts von einem Ingenieur namens Grognard erbaut wurde, verdankt seinen Ursprung einer merkwürdigen Begebenheit. Schauplatz war ein Seearsenal, im eigentlichen Sinne aber das Gesicht eines Galeerensträflings - das Antlitz eines für einen Augenblick um seine Freiheit verzweifelt ringenden Menschen. Bevor es den von Grognard erbauten Wasserbehälter gab, der mit seinem steigenden Spiegel das Schiff in den Fluss hinausschob, war es üblich, dass ein Galeerensträfling die letzten Dockstützen des vom Stapel laufenden Schiffes, freilich unter Lebensgefahr, wegschlug, worauf dann im gleichen Augenblick der Koloss donnernd und mit funkenstiebendem Kiel ins Wasser schoss. Gelang es dem die Stützen fortschlagenden gefangenen Manne, nicht nur dem Schiff die erste Bewegung zu geben, sondern auch sich selbst mit einem gedankenschnellen riesigen Satz aus der Nachbarschaft des herabrutschenden hölzernen Berges zu bringen, dann war er im gleichen Augenblick in seine Freiheit und in ein neues Leben gesprungen; gelang es ihm nicht, blieb von seinem Körper nichts übrig als eine schleimige Blutspur. Der Ingenieur Grognard, der sich erstmalig zu einem solchen Stapellauf eingefunden hatte, ergötzte seine Augen an den übrigen festlichen Gästen auf den Tribünen und ließ, ganz den düsteren und ehernen Wundern des Arsenals hingegeben, den Silberknauf seines Stockes zu den immer neuen Märschen mehrerer Militärkapellen auf die hölzerne Balustrade fallen, wo er sich mit andern Ehrengästen befand. Die Kommandos gingen in der Musik unter, gleichwohl bewegten sich die Arbeiter, die freien und die Sträflinge, des gewohnten Vorgangs wie stumme Ameisen kundig, mit Tauen und Ketten und Stangen hantierend, als hinge ein jeder an einem unsichtbaren Faden. Grognard hatte einen der besten Plätze, er stand dem Bug, etwa fünfzig Schritt entfernt, gerade gegenüber. Wiewohl er vom Hörensagen wusste, auf welch gefährliche Weise man das Schiff flottmachte und ins Wasser ließ, so hatte er sich doch nicht den Vorgang aus den Worten in eine deutliche Vorstellung überführt. Ja, er war sogar unbestimmt der Ansicht, dass es menschlich und gut sei, wenn ein ohnehin verwirktes Leben durch einen kühnen Einsatz sich entweder für die Allgemeinheit nützlich verbrauche oder für sich selber neu beginne. Nun aber, als endlich die Stützen am Schiffsrumpf alle bis auf die am Bug fortgenommen; als die Arbeiter zurückkommandiert und die Matrosen an Bord gegangen waren; als schließlich die Musik mit ihren in die Weite schreitenden Takten plötzlich abbrach; als nur noch ein Trommelwirbel dumpf und knöchern gegen die düsteren Mauern des Arsenals anrollte – und verstummte -, da kam ein einzelner Mann in seiner roten Sträflingsjacke mit den schweren hufnagelbeschlagenen Schuhen über das Pflaster gegen das Schiff geschlurft. Er trug einen riesigen Zuschlaghammer in der Hand, der zuerst herabhing, dann, je näher der Mann dem schwarzen Schiffsbauch kam, sich zögernd hob und, als seine winzige Gestalt der Fregatte so nahe war, dass ihr gewölbter Rumpf ihn wie ein schwarzer Fittich überschattete, einmal pickend und vorsichtig pochend eine Stütze berührte, schließlich aber in der Hand des Mannes auf dieselbe Weise herabhing. 205 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 Es lag eine gefährliche Stille über der Fregatte und den Zuschauern. Grognard bemerkte, dass er zitterte und mit dem Silberknauf seines Stockes die vorsichtig antastende Bewegung des Zuschlaghammers mitgetan hatte. Und als ob dieses winzige Geräusch des Stockes sein Ohr erreicht hätte, - der Sträfling wandte sich plötzlich wie hilfesuchend um. Grognard konnte die Nummer an der grünfarbenen Mütze des lebenslänglich Verurteilten lesen - es war die Nummer 3222 - und zugleich mit der Zahl und wie durch sie hindurch sah er das zitternde Lächeln, in welchem der Sträfling seine Zähne entblößte und einmal langsam die Augen verdrehte, als wollte er Schiff, Zuschauer, Mauern und Himmel mit diesem einen Blick gierig verschlingen. Aber sofort wandte er sich wieder dem Schiff zu - mit einem Ruck, so als könnte die Fregatte etwa hinter ihm arglistig ohne sein Zutun entrinnen. Einen Atemzug lang blieb er regungslos stehen, den Hammer gesenkt, dann hob er ihn langsam... Es ging ein Stöhnen über den Platz, man wusste nicht, kam es aus dem Publikum, dem ächzenden Gebälk des Schiffes oder der Brust des Mannes, der im gleichen Augenblick zuschlug: einmal, zweimal, hin- und herspringend, gelenkig wie ein Wiesel und wild wie ein Stier, und dreimal zuschlug und viermal-, man zählte nicht mehr. Das Schiff knackte, mischte seine vom Hammer geweckte Stimme in dessen Schläge - und da, als noch ein Schlag kam, sprang es mit einem Satz vor, und auch der Mann sprang, den Hammer wie in Abwehr gegen den plötzlich bebenden Schiffsrumpf werfend, sprang noch einmal, blieb aber, als nun alles aufschrie, das Gesicht in den Händen, stehen, wie ein Mensch im Traum - und der Schiffsrumpf rüttelte zischend und dröhnend über ihn fort. Dieser Vorgang, der nur wenige Atemzüge lang gedauert hatte, löste einen brünstigen vieldeutigen Schrei aus, der hinter der Fregatte herschnob - über die blutige Spur fort, die. alsbald einige Sträflinge mit Sand zu tilgen kamen. Auch Grognard hatte im allgemeinen Jubel einen Schrei getan und mit dem Schrei zugleich einen Schwur. Dieser Schwur aber enthielt im ersten Augenblick seines Entstehens einen Kern: und in diesem barg sich das Bild eines Trockendocks. Als hätte er gewusst, dass seine Lächerlichkeit damit besiegelt sei, wenn er die eigentliche Triebkraft zu diesem Plan enthüllte: er führte nur Beweggründe ins Feld, die das öffentliche Wohl und den Fortschritt betrafen. Und als endlich trotz aller Widerstände das Dock mit Becken und Schleusentor fertig war, geschah es, dass der Urheber, der sich nun von jenem zwischen Hoffnung und Todesangst verzerrten Lächeln des Galeerensträflings erlöst glaubte, von einem Gefangenen mit einem Hammer niedergeschlagen wurde - es war, als Grognard gerade den Platz am Trockendock überschritt. Der Gefangene trug die grüne Wollmütze der Lebenslänglichen und schleppte seine Kette gemächlich hinter sich her. Eine Weile war er um Grognard in immer enger werdenden Kreisen langsam herumgegangen, bis er schließlich vor ihm stand. Grognard sah offenbar zuerst nur die Mütze und die Nummer daran, bei deren Anblick er wie über einer geheimnisvollen Zahl jäh erstarrte. Doch da schrie auch schon der Mensch, seinen Hammer schwingend: „Das ist der Mann des Fortschritts, der uns den Weg zur Freiheit nahm! Zur Hölle mit dir!" Die herbeieilenden Wachen, die sich des Sterbenden annahmen, sahen, wie der noch einmal die Augen aufschlug und hörten, wie er mit einer Stimme, die voller Verwunderung schien, flüsterte: „Ah -3222 - Pardon - ich habe mich geirrt!“ (aus: Andres, Stefan: Die Verteidigung der Xantippe. Zwölf Geschichten. München 1962) 206 Kompakt Gabriele Wohmann „Das Meer ist fast grün", sagte die amerikanische Kusine Susan. „Wie gestern", sagte Lore. „Langweilig, langweilig", sagte Meline. Es war gegen zwei und zu heiß. Die drei Frauen lagen im Schattenparallelogramm, das die Badehütte nach Norden warf. „Mir fällt kein so heißer Sommer ein", sagte Meline. „Bloß gut für die Kinder." „Sie spielen nett", sagte Susan. Wieder ärgerten sich die beiden andern über ihren Singsang. Lore machte die Augen zu. Meline starrte über ihr Buch weg in Richtung Meer. Winzig vor dessen Blaugrün die Kinder. Mickey, Fredchen, Babette - sie zählte nur drei, oder nur bis drei, kam nicht weiter, döste vielleicht ein, und fuhr dann fort zu lesen. „Es sind aber nur drei", sagte Susan laut. „Ich seh nur drei Kinder." Lore seufzte. Sie war nie mehr richtig wach, seit sie hier waren. Seit Alfreds Abschiedskuss am Hafen. Oder schon früher. Diese Hitze, die sich gleich blieb. Sie wälzte sich auf den Bauch. Meline legte das Buch weg und nutzte die Gelegenheit, unbehelligt Lores Krampfader zu beäugen, befriedigt gewann sie den hässlichen Eindruck. „Sie schaufeln und schaufeln", sagte Susan. „Ich seh nur drei von ihnen." „Gäb's nur Regen", sagte Lore, sie machte ihren Unterarm nass dabei, schmeckte Schweiß auf der sandigen Zunge. „He, steh nicht rum, Fred, die Stelle muss noch dichter werden." Mickey schnaubte vor Anstrengung und Stolz. Mickey war ein Angeber, fand Fred. Er merkte auf einmal, dass das hier nicht gut für ihn war. Seit dem Scharlach wurde ihm jetzt manchmal schlecht, wenn er sich anstrengte. Er hatte auf einmal Angst, wovor? Mickey gab ihm einen leichten Stoß. Er hieb wieder sein Schaufelblatt in den Sand. Aber er sah gar nicht mehr richtig. „Du, Lore", rief Susan, „Meline! Ich seh das Evchen überhaupt nicht." Susan stand auf. Ihr erschrockenes und kühles Gesicht reizte die beiden andern. „Letzter Schliff, so!" sagte Mickey. Der Berg war plattgeklopft, er war kompakt, sein Fundament zuverlässig. Auf dem Gipfel eine Mütze aus Tang. Fredchen fühlte sich wieder wohler und stellte sich eifrig neben den tüchtigen Mickey. Jetzt war Babette niedergeschlagen. Bloß diese zwei Bösewichter zum Spielen. Sie spielte viel lieber mit Evchen. Liebes weiches zusammengekauertes Evchen tief unten im Sandberg. Wie lang war's noch bis zur Flut? (aus: Wohmann, Gabriele: Habgier. Düsseldorf 1973) San Salvador I II III IV Peter Bichsel Er hatte sich eine Füllfeder gekauft. Nachdem er mehrmals seine Unterschrift, dann seine Initialen, seine Adresse, einige Wellenlinien, dann die Adresse seiner Eltern auf ein Blatt gezeichnet hatte, nahm er einen neuen Bogen, faltete ihn sorgfältig und schrieb: „Mir ist es hier zu kalt", dann „ich gehe nach Südamerika", dann hielt er inne, schraubte die Kappe auf die Feder, betrachtete den Bogen und sah, wie die Tinte eintrocknete und dunkel wurde (in der Papeterie garantierte man, dass sie schwarz werde), dann nahm er seine Feder erneut zur Hand und setzte noch großzügig seinen Namen Paul darunter. Dann saß er da. Später räumte er die Zeitungen vom Tisch, überflog dabei die Kinoinserate, dachte an irgendetwas, schob den Aschenbecher beiseite, zerriss den Zettel 207 mit den Wellenlinien, entleerte die Feder und füllte sie wieder. Für die Kinovorstellung war es jetzt zu spät. V Die Probe des Kirchenchores dauert bis neun Uhr, um halb zehn würde Hildegard zurück sein. Er wartete auf Hildegard. Zu all dem Musik aus dem Radio. Jetzt drehte er das Radio ab. VI Auf dem Tisch, mitten auf dem Tisch, lag nun der gefaltete Bogen, darauf stand in blauschwarzer Schrift sein Name Paul. VII „Mir ist es hier zu kalt", stand auch darauf. VIII Nun würde also Hildegard heimkommen, um halb zehn. Es war jetzt neun Uhr. Sie läse seine Mitteilung, erschräke dabei, glaubte wohl das mit Südamerika nicht, würde dennoch die Hemden im Kasten zählen, etwas IX müsste ja geschehen sein. X Sie würde in den „Löwen" telefonieren. XI Der „Löwen" ist mittwochs geschlossen. XII Sie würde lächeln und verzweifeln und sich damit abfinden, vielleicht. XIII Sie würde sich mehrmals die Haare aus dem Gesicht streichen, mit dem Ringfinger der linken Hand beidseitig der Schläfe entlang fahren, dann langsam den Mantel aufknöpfen. XIV Dann saß er da, überlegte, wem er einen Brief schreiben könnte, las die Gebrauchsanweisung für den Füller noch einmal - leicht nach rechts drehen – las auch den französischen Text, verglich den englischen mit dem deutschen, sah wieder seinen Zettel, dachte an Palmen, dachte an Hildegard. XV Saß da. XVI Und um halb zehn kam Hildegard und fragte: „Schlafen die Kinder? " XVII Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. (aus: Bichsel, Peter: Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen; Olten 1964) Katzenpfote Sarah Kirsch Sarah Kirsch wurde 1935 in Limlingerode (Harz) geboren. Auf das Studium Biologie und Literatur folgte die Arbeit in verschiedenen Betrieben der damaligen DDR, bevor sie zur freien Schriftstellerin wurde. Sie schrieb zunächst Gedichte mit sozialistischer Thematik, später Natur- und Liebeslyrik. 1976 wurde sie wegen ihrer Beteiligung am Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann (vgl. S. 304 £) aus dem Schriftstellerverband der damaligen DDR ausgeschlossen, stellte einen Ausreiseantrag und übersiedelte 1977 nach Berlin (West), später nach Norddeutschland. Als Lyrikerin und Autorin kurzer Prosa gewann sie mehrere Literaturpreise. 5 So viele verschiedene Existenzformen ich hatte, vielleicht würde ich gerne noch einmal durch die ihnen zugeordneten Wohnungen geh’n. Allen gemeinsam wäre ein Straußenei, welches ich immer mitnahm wohin es auch ging. Man kann daraus schließen dass es mir besonders am Herzen lag aber das stimmt ebenso wenig wie es zu leugnen ist. Beeindruckt hat es mich wohl ob seiner Exotik und von den Hühnereiern fortgeführt zeit meines Lebens. Aber jetzt zu den Wohnungen hin. Zuerst in die Wehrstedter Straße wo die Kindheit angestammt ist: ach da liefe ich gleich durch den Schneeglöckchengarten, den Hausflur wo unter der Treppe der Abdruck eine 208 10 Katzenpfote im roten Zementfußboden eingegraben ist. Könnte auch sein ich stiege in den Apfelkeller des Großvaters hinab, das Gruseln im Nacken dass die Falltüre zuschlagen könnte, ich bin auf ewig gefangen. Oder ich schliche die weißgescheuerte seidige Treppe wie jetzt noch im Traum hinauf, an Türen vorüber hinter denen sowohl die Eltern eines SS-Mitgliedes als auch die eines 15 Jungkommunisten wohnten, und weder der eine noch andere kehrte wieder. In unserer Wohnung hörte ich in der Ofenecke unter hohlgelegten Dielen die jungen Ratten wispern und schreien während die Standuhr ihre Bemerkungen macht. Im Kleiderschrank befände sich der rot-weiß-gestreifte Beutel mit dunkelgelbem Rohzucker, der so merkwürdig verzögert zusammenrutscht, 20 wenn ich mich mit einer Puppentasse bediene. Meine anderen Wohnungen aber möchte ich sie wirklich betreten? Die gekachelte Herrschaftsküche in H. mit dem Geruch der Weinkelterei? Da stand ich am Fenster und schaute über die Dächer in den Schneehimmel hinein, der Architektentüll riss mir die Brust auf. Ich schlich an seinem Arbeitszimmer vorüber, keine Lust auf Gespräche. 25 Oder schnell in die Wohnmaschine Fischerinsel mal rein- da fällt mir ne Gänsehaut zu und das Würgen sitzt mir im Hals. Mobilität ist mein Segen gewesen. Um Gottes Willen, wäre ich dort oder bei Schlesisch Himmelreich oder Prins Herzlos2 geblieben, nicht auszumalen. Sind mir darüber Flügel gewachsen und eines Tages war ich ein Schwan, auf und davon. Unhaltbar im 30 sozialistischen Vaterland noch. Kein Verständnis für Beton, niemals und nirgends. __________ 1 Prins Herzlos: Phantasiefigur in Sarah Kirschs Prosa; erinnert an „Märchenprinz` und „Prinz Eisenherz" (aus: Kirsch, Sarah: Schwingrasen; Stuttgart 1991) Die Klavierstunde 5 10 15 Gabriele Wohmann Das hatte jetzt alles keine Beziehung zu ihm: die flackernden Sonnenkleckse auf dem Kiesweg, das Zittern des Birkenlaubs; die schläfrige Hitze zwischen den Hauswänden im breiten Schacht der Straße. Er ging da hindurch (es war höchstens eine feindselige Beziehung) mit hartnäckigen kleinen Schritten. Ab und zu blieb er stehen und fand in sich die fürchterliche Möglichkeit, umzukehren, nicht hinzugehen. Sein Mund trocken vor Angst: er könnte wirklich so etwas tun. Er war allein; niemand, der ihn bewachte. Er könnte es tun. Gleichgültig, was daraus entstünde. Er hielt still, sah finster geradeaus und saugte Spucke tief aus der Kehle. Er brauchte nicht hinzugehen, er könnte sich widersetzen. Die eine Stunde möglicher Freiheit wog schwerer als die mögliche Unfreiheit eines ganzen Nachmittags. Erstrebenswert: der ungleiche Tauschhandel; das einzig Erstrebenswerte jetzt in dieser Minute. Er tat so, als bemerke er nichts davon, dass er weiterging, stellte sich überrascht, ungläubig. Die Beine trugen ihn fort, und er leugnete vor sich selbst den Befehl ab, der das bewirkte und den er gegeben hatte. Gähnend, seufzend, streckte sie die knochigen Arme, ballte die sehr dünnen Hände zu Fäusten; sie lag auf der Chaiselongue. Dann griff die rechte Hand 209 20 25 30 35 40 45 50 55 60 tastend an die Wand, fand den Bilderrahmen, in dem der Stundenplan steckte; holte ihn, hielt ihn vor die tränenden Augen. Owehowehoweh. Die Hand bewahrte den sauber geschriebenen Plan wieder zwischen Bild und Rahmen auf; müde, renitent hob sich der Oberkörper von den warmen Kissenmulden. Owehowehoweh. Sie stand auf; empfand leichten Schwindel, hämmernde Leere hinter der faltigen Stirnwand; setzte sich wieder, den nassen Blick starr, freudlos auf das schwarze Klavier gerichtet. Auf einem imaginären Bildschirm hinter den Augen sah sie den Deckel hochklappen, Notenhefte sich voreinanderschieben auf dem Ständer; verschwitzte Knabenfinger drückten fest und gefühllos auf die geblichen Tasten, die abgegriffenen; erzeugten keinen Ton. Eins zwei drei vier, eins zwei drei vier. Der glitzernde Zeiger des Metronoms pendelte beharrlich und stumm von einer auf die andere Seite seines düsteren Gehäuses. Sie stand auf, löschte das ungerufene Bild. Mit der Handfläche stemmte sie das Gewicht ihres Arms gegen die Stirn und schob die lappige lose Haut in die Höhe bis zum Haaransatz. Owehoweh. Sie entzifferte die verworrene Schrift auf dem Reklameband, das sich durchs Halbdunkel ihres Bewusstseins schob: Kopfschmerzen. Unerträgliche. Ihn wegschicken. Etwas Lebendigkeit kehrte in sie zurück. Im Schlafzimmer fuhr sie mit dem kalten Waschlappen über ihr Gesicht. Brauchte nicht hinzugehen. Einfach wegbleiben. Die Umgebung wurde vertraut: ein Platz für Aktivität. Er blieb stehen, stellte die schwere Mappe mit den Noten zwischen die Beine, die Schuhe klemmten sie fest. Ein Kind rollerte vorbei; die kleinen Räder quietschten; die abstoßende Ledersohle kratzte den Kies. Nicht hingehen, die Mappe loswerden und nicht hingehen. Er wusste, dass er nur die Mappe loszuwerden brauchte. Das glatte warme Holz einer Rollerlenkstange in den Händen haben. Die Mappe ins Gebüsch schleudern und einen Stein in die Hand nehmen oder einen Zweig abreißen und ihn tragen, ein Baumblatt mit den Fingern zerpflücken und den Geruch von Seife wegbekommen. Sie deckte den einmal gefalteten Waschlappen auf die Stirn und legte den Kopf, auf dem Bettrand saß sie, weit zurück, bog den Hals. Noch mal von vorne. Und eins und zwei und eins. Die schwarze Taste, b, mein Junge. Das hell beschriftete Reklameband erleuchtete die dämmrigen Bewusstseinskammern: Kopfschmerzen. Ihn wegschicken. Sie saß ganz still, das nasse Tuch beschwichtigte die Stirn; sie las den hoffnungsweckenden Slogan. Feucht und hart der Lederhenkel in seiner Hand. Schwer zerrte das Gewicht der Hefte: jede einzelne Note hemmte seine kurzen Vorwärtsbewegungen. Fremde Wirklichkeit der Sonne, die aus den Wolkenflocken zuckte, durch die Laubdächer flackerte, abstrakte Muster auf den Kies warf, zitterndes Gesprenkel. Ein Kind; eine Frau, die bunte Päckchen im tiefhängenden Netz trug; ein Mann auf dem Fahrrad. Er lebte nicht mit ihnen. Der Lappen hatte sich an der Glut ihrer Stirn erwärmt: und nicht mehr tropfig hörte er auf, wohl zu tun. Sie stellte sich vor den Spiegel, ordnete die grauen Haarfetzen. Im Ohr hämmerte der jetzt auch akustisch wirkende Slogan. Die Mappe loswerden. Einfach nicht hingehen. Seine Beine trugen ihn langsam, mechanisch in die Nähe der efeubeklecksten Villa. 210 Kopfschmerzen, unerträgliche. Sie klappte den schwarzen Deckel hoch; rückte ein verblichenes Foto auf dem Klaviersims zurecht; kratzte mit dem Zeigefingernagel ein trübes Klümpchen unter dem Daumennagel hervor. 65 Hinter dem verschnörkelten Eisengitter gediehen unfarbige leblose Blumen auf winzigen Rondellen, akkuraten Rabatten. Er begriff, dass er sie nie wie wirkliche Pflanzen sehen würde. 70 Auf den dunklen steifen Stuhl mit dem Lederpolster legte sie das grüne, schwach gemusterte Kissen, das harte, platte. Sah dem imaginären Bildschirm die länglichen Dellen, die seine nackten Beine zurückließen. Einfach nicht hingehen. Das Eisentor öffnete sich mit jammerndem Kreischlaut in den Angeln. 75 Kopfschmerzen, unerträgliche. Wegschicken. Widerlicher kleiner Kerl. Die Mappe loswerden, nicht hingehen. Widerliche alte Tante. Sie strich mit den Fingern über die Stirn. Die Klingel zerriss die Leuchtschrift, übertönte die Lockworte. „Guten Tag", sagte er. „Guten Tag", sagte sie. Seine (von wem nur 80 gelenkten?) Beine tappten über den dunklen Gang; seine Hand fand den messingnen Türgriff. Sie folgte ihm und sah die nackten braunen Beine, platt und breit werden auf dem grünen Kissen; sah die geschrubbten Hände Hefte aus der Mappe holen, sie auf den Ständer übereinanderschieben. Schrecken in den Augen, Angst vibrierte im Hals. Sie öffnete das Aufgabenbuch, las: 85 erinnerte mit dem (von wem nur gelöschten?) Bewusstsein. Eins zwei drei vier. Töne erzeugten seine steifen Finger; das Metronom tickte laut und humorlos. (aus: Wohmann, Gabriele: Erzählungen. München 1966) Das Henkersmahl Herbert Heckmann Fress ich mich arm: und sauff mich zu tod, so hab ich gewiss gewalt über den Tod. Johann Fischart Auf die Frage, welches sein letzter Wunsch sei, antwortete er, ohne Umschweife, er wolle sich noch einmal satt essen, ehe man ihn vom Leben in den Tod bringe. „Satt", wiederholte er und deutete auf seinen mageren Leib, der krumm und mit Schwären überdeckt an der Kerkermauer lehnte. „Satt", 5 sagte er zum dritten Mal und hob die Hände mit den Ketten bis zur Mundhöhe. Die Wächter lachten übermütig und versprachen ihm ein fürstliches Mahl mit silbernen Löffeln und Gabeln, die er jedoch dann nicht mehr stehlen könne. „Wir werden dir etwas auftischen, dass du weißt, was du in der Hose hast." Sie ergingen sich in saftigen Schilderungen opulenter Speisen, dass dem 10 Delinquenten das Wasser im Munde zusammenlief. Sie priesen das Spanferkel, den Ochsen am Spieß, die fetten Hämmel, gebratene Tauben und Kapaune - und stießen sich an, wenn ihr Opfer die Augen lüstern verdrehte. 211 15 20 25 30 35 40 „Macht schon!" Wieder mit sich allein, hatte der zum Tode Verurteilte plötzlich die Vorstellung, alles, ja rundherum alles, sei essbar, er presste den Mund an die Mauer und riss sich die Lippen blutig. Kraftlos sank er auf sein Lager zurück und träumte von offenen Mündern. Als sie ihn dann zum Essen weckten, konnte er kaum den Löffel führen. Sein Kopf sank bis in Tellernähe, und der Dampf von sauren Kutteln stieg in seine Nase. Die Wächter hockten sich vor ihm hin und beobachteten, wie er erst langsam und zittrig, dann zuversichtlicher den Löffel handhabte, die Backen vollstopfte und versonnen kaute, mit jedem Bissen mehr Übersicht gewinnend. Bald war der Teller leer, der Humpen vakant, das Maul gewischt, aber der Hunger ungebrochen. Um mehr bat er und streckte seine Glieder, sodass die Ketten klirrten. „Es sei dir gewährt", sagten die Wächter und brachten neue Schüsseln herbei und jungfräuliche Flaschen. Sie lachten, als sie das tapfere Zupacken ihres Opfers sahen, wetteten untereinander, wie viel er noch verschlingen könne. „Es gilt." Und es galt, er kaute, schluckte, rülpste und schnaufte. „Tapfer!" schrieen sie. „Mehr!" sagte er und aß, was ihm vorgesetzt wurde, aß und aß. „Er wird uns noch die Haare vom Kopfe fressen." Aber sehr bald wurde ihre Freude kleinlauter. Längst schon waren die Ketten von seinen Händen und Füßen gesprungen, sein Leib dehnte sich, schon aß er mit der Wildheit eines Scheunendreschers und wuchs zur Decke hin. Der Schemel krachte unter ihm zusammen. In furchtbarer Nacktheit stand er da. Die Wächter flohen aus der Zelle, aber unverdrossen aß er weiter und zwang seine Bewacher, ihm immer mehr aufzutischen, sei es, was es wolle. Sie taten es ängstlich und blieben außer Reichweite seines Löffels, zitterten, wenn er vor Hunger schrie. Die Decke barst über seinem Kopf, das Dach brach auseinander, es kümmerte ihn wenig, er aß. Seine Wächter verschlang er mit den Trümmern, er verschlang Straßen und Häuser, den Richter samt seiner Frau, spülte sie mit dem Fluss hinunter. Sein Adamsapfel hatte die Größe einer Kirchglocke. Der Schatten seines unförmigen Körpers wächst drohend über das Land. Ich habe gerade noch Zeit, dies niederzuschreiben. Ich höre das Donnern von Schritten, die Erde ächzt. Der Hunger sei mir gnädig. (aus: Heckmann, Herbert: Schwarze Geschichten. Frankfurt/M. 1964) Der Nachbar Franz Kafka Mein Geschäft ruht ganz auf meinen Schultern. Zwei Fräulein mit Schreibmaschinen und Geschäftsbüchern im Vorzimmer, mein Zimmer mit Schreibtisch, Kasse, Beratungstisch, Klubsessel und Telephon, das ist mein ganzer Arbeitsapparat. So einfach zu überblicken, so leicht zu führen. Ich bin ganz 5 jung und die Geschäfte rollen vor mir her. Ich klage nicht, ich klage nicht. Seit Neujahr hat ein junger Mann die kleine, leerstehende Nebenwohnung, die ich ungeschickterweise so lange zu mieten gezögert habe, frischweg gemietet. Auch ein Zimmer mit Vorzimmer, außerdem aber noch eine Küche. - Zimmer und Vorzimmer hätte ich wohl brauchen können - meine 10 zwei Fräulein fühlten sich schon manchmal überlastet -, aber wozu hätte mir die Küche gedient? Dieses kleinliche Bedenken war daran schuld, dass ich 212 mir die Wohnung habe nehmen lassen. Nun sitzt dort dieser junge Mann. Harras heißt er. Was er dort eigentlich macht, weiß ich nicht.; Auf der Tür steht: „Harras, Bureau“. Ich habe Erkundigungen eingezogen, man hat mir 15 mitgeteilt, es sei ein Geschäft ähnlich dem meinigen. Vor Kreditgewährung könne man nicht geradezu warnen, denn es handle sich doch um einen jungen, aufstrebenden Mann, dessen Sache vielleicht Zukunft habe, doch könne man zum Kredit nicht geradezu raten, denn gegenwärtig sei allem Anschein nach kein Vermögen vorhanden. Die übliche Auskunft, die man gibt, 20 wenn man nichts weiß. Manchmal treffe ich Harras auf der Treppe, er muss es immer außerordentlich eilig haben, er huscht förmlich an mir vorüber. Genau gesehen habe ich ihn noch gar nicht, den Büroschlüssel hat er schon vorbereitet in der Hand. Im Augenblick hat er die Tür geöffnet. Wie der Schwanz einer Ratte ist er 25 hineingeglitten und ich stehe wieder vor der Tafel :„Harras, Bureau", die ich schon viel öfter gelesen habe, als sie es verdient. Die elend dünnen Wände; die den ehrlich tätigen Mann verraten, den Unehrlichen aber decken. Mein Telefon ist an der Zimmerwand angebracht, die mich von meinem Nachbar trennt. Doch hebe ich das bloß als besonders 30 ironische Tatsache hervor. Selbst wenn es an der entgegengesetzten Wand hinge, würde man in der Nebenwohnung alles hören. Ich habe mir abgewöhnt, den Namen der Kunden beim Telefon zu nennen. Aber es gehört natürlich nicht viel Schlauheit dazu, aus charakteristischen, aber unvermeidlichen Wendungen des Gesprächs die Namen zu erraten: - Manchmal 35 umtanze ich, die Hörmuschel am Ohr, von Unruhe gestachelt, auf den Fußspitzen den Apparat und kann es doch nicht verhüten, dass Geheimnisse preisgegeben werden. Natürlich werden dadurch meine geschäftlichen Entscheidungen unsicher, meine Stimme zittrig. Was macht Harras, während ich telefoniere? Wollte ich 40 sehr übertreiben - aber das muss man oft, um sich Klarheit zu verschaffen -, so könnte ich sagen: Harras braucht kein Telefon, er benutzt meines, er hat sein Kanapee an die Wand gerückt und horcht, ich dagegen muss, wenn geläutet wird, zum Telefon laufen, die Wünsche des Kunden entgegennehmen, schwerwiegende Entschlüsse fassen, großangelegte Überredungen ausführen 45 vor allem aber während des Ganzen unwillkürlich durch die Zimmerwand Harras Bericht erstatten. Vielleicht wartet er gar nicht das Ende des Gespräches ab, sondern erhebt sich nach der Gesprächsstelle, die ihn über den Fall genügend aufgeklärt hat, huscht nach seiner Gewohnheit durch die Stadt und, ehe ich die Hörmuschel 50 aufgehängt habe, ist er vielleicht schon daran, mir entgegenzuarbeiten. (1917) (aus: Kafka, Franz: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt/M. 1970) Die Prinzessin Wolfdietrich Schnurre Ein Käfig; auf, ab, trottet es drin, auf, ab; zerfranst, gestreift: die Hyäne. Mein Gott, wie sie stinkt! Und Triefaugen hat sie, die Ärmste; wie kann man nur mit derart grindligen Blicken überhaupt noch was sehen: Jetzt kommt sie zum Gitter, ihr Pestatem trifft mich am Ohr. 5 „Glauben Sie mir?" „Auf’s Wort", sage ich fest. 213 10 15 20 25 30 35 40 Sie legt die Pfote ans Maul: „Ich bin nämlich verzaubert." „Was Sie nicht sagen; richtig verzaubert?" Sie nickt. „In Wirklichkeit nämlich -„ „In Wirklichkeit nämlich -?" „- bin ich eine Prinzessin", haucht sie bekümmert. „ja, aber um Himmels willen!" rufe ich, „kann Ihnen denn da gar keiner helfen?" „Doch", flüstert sie; „die Sache ist so: jemand müsste mich einladen.“ Ich überschlage im Geist meine Vorräte; es ließe sich machen. „Und Sie würden sich tatsächlich verwandeln?" „Auf Ehre." „Also gut", sage ich, „dann seien Sie heute zum Kaffee mein Gast." Ich gehe nach Hause und ziehe mich um. Ich koche Kaffee und decke den Tisch. Rosen noch aus dem Garten, die Cornedbeefbüchse spendiert nun kann sie kommen. Pünktlich um vier geht die Glocke. Ich öffne, es ist die Hyäne. „Guten Tag", sagt sie scheu; „Sie sehen, da bin ich." Ich biete ihr den Arm und wir gehen zum Tisch. Tränen laufen ihr über die zottigen Wangen, „Blumen - ", schluchzt sie, „oh je!" „Bitte", sage ich, „nehmen Sie Platz. Greifen Sie zu." Sie setzt sich geziert und streicht sich geifernd ein Brötchen. „Wohl bekomm's", nicke ich. „Danke", stößt sie kauend hervor. Man kann Angst bekommen, was sie verschlingt. Brötchen auf Brötchen verschwindet; auch die Cornedbeefbüchse ist leer. Dazwischen schlürft sie schmatzend den Kaffee und lässt erst zu, dass ich ihr neu eingieße, wenn sie den Rest herausgeleckt hat. „Na -?" frage ich, „schmeckt es?" „Sehr", keucht sie rülpsend. Doch dann wird sie unruhig. „Was ist denn?" erkundige ich mich. Sie stößt abermals auf und blickt vor sich nieder; Aasgeruch hängt im Fell, rötliche Zecken kriechen ihr über die kahlen Stellen hinter den Ohren. „Nun -?" ermutige ich sie. Sie schluchzt. „Ich habe Sie belogen", röchelt sie heiser und dreht hilflos einen Rosenstiel zwischen den Krallen; „ich - ich bin gar keine Prinzessin." „Schon gut", sage ich; „ich wusste es längst." (aus: Schnurre, Wolfdietrich: Das Los unserer Stadt. Olten 1959) Die Küchenuhr 5 Wolfgang Borchert Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, dass er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, was er in der Hand trug. „Das war unsere Küchenuhr", sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die auf der Bank in der Sonne saßen. „Ja, ich habe sie noch gefunden. Sie ist übriggeblieben.« Er hielt eine runde, tellerweiße Küchenuhr vor sich hin und tupfte mit den Fingern die blaugemalten Zahlen ab. 214 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 „Sie hat weiter keinen Wert", meinte er entschuldigend, „das weiß ich auch. Und sie ist auch nicht so besonders schön. Sie ist nur wie ein Teller, so mit weißem Lack. Aber die blauen Zahlen sehen doch ganz hübsch aus, finde ich. Die Zeiger sind natürlich nur aus Blech. Und nun gehen sie auch nicht mehr. Nein. Innerlich ist sie kaputt, das steht fest. Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch wenn sie jetzt nicht mehr geht." Er machte mit den Fingerspitzen einen vorsichtigen Kreis auf dem Rand der Telleruhr entlang. Und er sagte leise: „Und sie ist übriggeblieben." Die auf der Bank in der Sonne saßen, sahen ihn nicht an. Einer sah auf seine Schuhe, und die Frau sah in ihren Kinderwagen. Dann sagte jemand: „Sie haben wohl alles verloren?" „ja, ja", sagte er freudig, denken Sie, aber auch alles! Nur sie hier, sie ist übrig." Und er hob die Uhr wieder hoch, als ob die anderen sie noch nicht kannten. „Aber sie geht doch nicht mehr", sagte die Frau. „Nein, nein, das nicht. Kaputt ist sie, das weiß ich wohl. Aber sonst ist sie doch noch ganz wie immer: weiß und blau." Und wieder zeigte er ihnen seine Uhr. „Und was das Schönste ist", fuhr er aufgeregt fort, das habe ich Ihnen ja überhaupt noch nicht erzählt. Das Schönste kommt nämlich noch: Denken Sie mal, sie ist um halb drei stehen geblieben. Ausgerechnet um halb drei, denken Sie mal." „Dann wurde Ihr Haus sicher um halb drei getroffen", sagte der Mann und schob wichtig die Unterlippe vor.„ Das habe ich schon oft gehört. Wenn die Bombe runtergeht, bleiben die Uhren stehen. Das kommt von dem Druck." Er sah seine Uhr an und schüttelte überlegen den Kopf. „Nein, lieber Herr, nein, da irren Sie sich. Das hat mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von den Bomben reden. Nein. Um halb drei war ganz etwas anderes, das wissen Sie nur nicht. Das ist nämlich der Witz, dass sie gerade um halb drei stehen geblieben ist. Und nicht ein Viertel nach vier oder um sieben. Um halb drei kam ich nämlich immer nach Hause. Nachts, meine ich. Fast immer um halb drei. Das ist ja gerade der Witz." Er sah die anderen an, aber die hatten ihre Augen von ihm weggenommen. Er fand sie nicht. Da nickte er seiner Uhr zu: „Dann hatte ich natürlich Hunger, nicht wahr? Und ich ging immer gleich in die Küche. Da war es, dann fast immer halb drei. Und dann, dann kam nämlich meine Mutter. Ich konnte noch so leise die Tür aufmachen, sie hat mich immer gehört. Und wenn ich in der dunklen Küche etwas zu essen suchte, ging plötzlich das Licht an. Dann stand sie da in ihrer Wolljacke und mit einem roten Schal um. Und barfuss. Immer barfuss. Und dabei war unsere Küche gekachelt. Und sie machte ihre Augen ganz klein, weil ihr das Licht so hell war. Denn sie hatte ja schon geschlafen. Es war ja Nacht. ,So spät wieder`, sagte sie dann. Mehr sagte sie nie. Nur: So spät wieder.` Und dann machte sie mir das Abendbrot warm und sah zu, wie ich aß. Dabei scheuerte sie immer die Füße aneinander, weil die Kacheln so kalt waren. Schuhe zog sie nachts nie an. Und sie saß so lange bei mir, bis ich satt war. Und dann hörte ich sie noch die Teller wegsetzen, wenn ich in meinem Zimmer schon das Licht ausgemacht hatte. Jede Nacht war es so. Und meistens immer um halb drei. Das war ganz selbstverständlich, fand ich, dass sie mir nachts um halb drei in der Küche das Essen machte. Ich fand das ganz selbstverständlich. Sie tat das ja immer. Und sie hat nie mehr gesagt als: 215 60 So spät wieder.` Aber das sagte sie jedes Mal. Und ich dachte, das könnte nie aufhören. Es war mir so selbstverständlich, das alles. Es war doch immer so gewesen." Einen Atemzug lang war es ganz still auf der Bank. Dann sagte er leise: „Und jetzt?" Er sah die anderen an. Aber er fand sie nicht. Da sagte er der Uhr leise 65 ins weißblaue, runde Gesicht: „Jetzt , jetzt weiß ich, dass es das Paradies war. Das richtige Paradies." Auf der Bank war es ganz still. Dann fragte die Frau: Und Ihre Familie?" Er lächelte sie verlegen an: „Ach, Sie meinen meine Eltern? Ja, die sind auch mit weg. Alles ist weg. Alles, stellen Sie sich vor. Alles weg." 70 Er lächelte verlegen von einem zum andern. Aber sie sahen ihn nicht an. Da hob er wieder die Uhr hoch, und er lachte. Er lachte: „Nur sie hier. Sie ist übrig. Und das Schönste ist ja, dass sie ausgerechnet um halb drei stehen geblieben ist. Ausgerechnet um halb drei." Dann sagte er nichts mehr. Aber er hatte ein ganz altes Gesicht. Und der Mann, der neben ihm saß, sah auf seine 75 Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort Paradies. (1946) (aus: Borchert, Wolfgang: Das Gesamtwerk; Hamburg 1949) Mein bleicher Bruder 5 10 15 20 25 Wolfgang Borchert Noch nie war etwas so weiß wie dieser Schnee. Er war beinah blau davon. Blaugrün. So fürchterlich weiß. Die Sonne wagte kaum gelb zu sein vor diesem Schnee. Kein Sonntagmorgen war jemals so sauber gewesen wie dieser. Nur hinten stand ein dunkelblauer Wald. Aber der Schnee war neu und sauber wie ein Tierauge. Kein Schnee war jemals so weiß wie dieser an diesem Sonntagmorgen. Kein Sonntagmorgen war jemals so sauber. Die Welt, diese schneeige Sonntagswelt, lachte. Aber irgendwo gab es dann doch einen Fleck. Das war ein Mensch, der im Schnee lag, verkrümmt, bäuchlings, uniformiert. Ein Bündel Lumpen. Ein lumpiges Bündel von Häutchen und Knöchelchen und Leder und Stoff. Schwarzrot überrieselt von angetrocknetem Blut. Sehr tote Haare, perückenartig tot. Verkrümmt, den letzten Schrei in den Schnee geschrieen, gebellt oder gebetet vielleicht: Ein Soldat, Fleck in dem nie gesehenen Schneeweiß des saubersten aller Sonntagmorgende. Stimmungsvolles Kriegsgemälde, nuancenreich, verlockender Entwurf für Aquarellfarben: Blut und Schnee und Sonne. Kalter, kalter Schnee mit warmem dampfendem Blut drin. Und über allem die liebe Sonne. Unsere liebe Sonne. Alle Kinder auf der Welt sagen: die liebe, liebe Sonne. Und die bescheint einen Toten, der den unerhörten Schrei aller toten Marionetten schreit: Den stummen fürchterlichen stummen Schrei! Wer unter uns, steh auf, bleicher Bruder, oh, wer unter uns hält die stummen Schreie der Marionetten aus, wenn sie von den Drähten abgerissen so blöde verrenkt auf der Bühne rumliegen? Wer, oh, wer unter uns erträgt die stummen Schreie der Toten? Nur der Schnee hält das aus, der eisige. Und die Sonne. Unsere liebe Sonne. Vor der abgerissenen Marionette stand eine, die noch intakt war. Noch funktionierte. Vor dem toten Soldaten stand ein lebendiger. An diesem sau- 216 30 35 40 45 50 55 60 65 beren Sonntagmorgen im nie gesehenen weißen Schnee hielt der Stehende an den Liegenden folgende fürchterlich stumme Rede: Ja. Ja ja. Ja ja ja. Jetzt ist es aus mit deiner guten Laune, mein Lieber. Mit deiner ewigen guten Laune. Jetzt sagst du gar nichts mehr, wie? Jetzt lachst du wohl nicht mehr, wie? Wenn deine Weiber das wüssten, wie erbärmlich du jetzt aussiehst, mein Lieber. Ganz erbärmlich siehst du ohne deine gute Laune aus. Und in dieser blöden Stellung. Warum hast du denn die Beine so ängstlich an den Bauch rangezogen? Ach so, hast einen in die Eingeweide gekriegt. Hast dich mit Blut besudelt. Sieht unappetitlich aus, mein Lieber. Hast dir die ganze Uniform damit bekleckert. Sieht aus wie schwarze Tintenflecke. Man gut, dass deine Weiber das nicht sehn. Du hattest dich doch immer so mit deiner Uniform. Saß alles auf Taille. Als du Korporal wurdest, gingst du nur noch mit Lackstiefeletten. Und die wurden stundenlang gebohnert, wenn es abends in die Stadt ging. Aber jetzt gehst du nicht mehr in die Stadt. Deine Weiber lassen sich jetzt von den andern. Denn du gehst jetzt überhaupt nicht mehr, verstehst du? Nie mehr, mein Lieber. Nie nie mehr. Jetzt lachst du auch nicht mehr mit deiner ewig guten Laune. Jetzt liegst du da, als ob du nicht bis drei zählen kannst. Kannst du auch nicht. Kannst nicht mal mehr bis drei zählen. Das ist dünn, mein Lieber, äußerst dünn. Aber das ist gut so, sehr gut so. Denn du wirst nie mehr „Mein bleicher Bruder Hängendes Lid" zu mir sagen. Jetzt nicht mehr, mein Lieber. Von jetzt ab nicht mehr. Nie mehr, du. Und die andern werden dich nie mehr dafür feiern. Die andern werden nie mehr über mich lachen, wenn du „Mein bleicher Bruder Hängendes Lid" zu mir sagst. Das ist viel wert, weißt du? Das ist eine ganze Masse wert für mich, das kann ich dir sagen. Sie haben mich nämlich schon in der Schule gequält. Wie die Läuse haben sie auf mir herumgesessen. Weil mein Auge den kleinen Defekt hat und weil das Lid runterhängt. Und weil meine Haut so weiß ist. So käsig. Unser Blässling sieht schon wieder so müde aus, haben sie immer gesagt. Und die Mädchen haben immer gefragt, ob ich schon schliefe. Mein eines Auge wäre ja schon halb zu. Schläfrig, haben sie gesagt, du, ich wäre schläfrig. Ich möchte mal wissen, wer von uns beiden jetzt schläfrig ist. Du oder ich, wie? Du oder ich? Wer ist jetzt „Mein bleicher Bruder Hängendes Lid"? Wie? Wer denn, mein Lieber, du oder ich? Ich etwa? Als er die Bunkertür hinter sich zumachte, kamen ein Dutzend grauer Gesichter aus den Ecken auf ihn zu. Eins davon gehörte dem Feldwebel. Haben Sie ihn gefunden, Herr Leutnant? fragte das graue Gesicht und war fürchterlich grau dabei. Ja. Bei den Tannen. Bauchschuss. Sollen wir ihn holen? Ja. Bei den Tannen. Ja, natürlich. Er muss geholt werden. Bei den Tannen. Das Dutzend grauer Gesichter verschwand. Der Leutnant saß am Blechofen und lauste sich. Genau wie gestern. Gestern hatte er sich auch gelaust. Da sollte einer zum Bataillon kommen. Am besten der Leutnant, er selbst. Während er dann das Hemd anzog, horchte er. Es schoss. Es hatte noch nie 70 so geschossen. Und als der Melder die Tür wieder aufriss, sah er die Nacht. Noch nie war eine Nacht so schwarz, fand er. Unteroffizier Heller, der sang. Der erzählte in einer Tour von seinen Weibern. Und dann hatte dieser Heller mit seiner ewig guten Laune gesagt: Herr Leutnant, ich würde nicht zum Bataillon gehen. Ich würde erst mal doppelte Ration beantragen. Auf Ihren Rippen kann man ja Xylophon spielen. Das ist ja ein Jammer, wie Sie 217 75 aussehen. Das hatte Heller gesagt. Und im Dunkeln hatten sie wohl alle gegrinst. Und einer musste zum Bataillon, Da hatte er gesagt: Na, Heller, dann kühlen Sie Ihre gute Laune mal ein bisschen ab. Und Heller sagte: Jawohl. Das war alles. Mehr sagte man nie. Einfach: Jawohl. Und dann war Heller gegangen. Und dann kam Heller 80 nicht wieder. Der Leutnant zog sein Hemd über den Kopf, er hörte, wie sie draußen zurückkamen. Die andern. Mit Heller. Er wird nie mehr „Mein bleicher Bruder Hängendes Lid" zu mir sagen, flüsterte der Leutnant. Das wird er von nun an nie mehr zu mir sagen. 85 Eine Laus geriet zwischen seine Daumennägel. Es knackte. Die Laus war tot. Auf der Stirn - hatte er einen kleinen Blutspritzer. (1946) (aus: Borchert, Wolfgang: Das Gesamtwerk; Hamburg 1949) DAS FENSTER-THEATER Ilse Aichinger I Die Frau lehnte am Fenster und sah hinüber. Der Wind trieb in leichten Stößen vom Fluss herauf und brachte nichts Neues. Die Frau hatte den starren Blick neugieriger Leute, die unersättlich sind. Es hatte ihr noch niemand den Gefallen getan, vor ihrem Haus niedergefahren zu werden. Außerdem wohnte sie im vorletzten Stock, die Straße lag zu tief unten. Der Lärm rauschte nur mehr leicht herauf. Alles lag zu tief unten. Als sie sich eben vom Fenster abwenden wollte, bemerkte sie, dass der Alte gegenüber Licht angedreht hatte. Da es noch ganz hell war, blieb dieses Licht für sich und machte den merkwürdigen Eindruck, den aufflammende Straßenlaternen unter der Sonne machen. Als hätte einer an seinen Fenstern die Kerzen angesteckt, noch ehe die Prozession die Kirche verlassen hat. Die Frau blieb am Fenster. Il Der Alte öffnete und nickte herüber. Meint er mich? dachte die Frau. Die Wohnung über ihr stand leer und unterhalb lag eine Werkstatt, die um diese Zeit schon geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte wieder. Er griff sich an die Stirne, entdeckte, dass er keinen Hut aufhatte, und verschwand im Innern des Zimmers. III Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und lächelte. Dann nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu winken. Erst leicht und dann immer eifriger. Er hing über die Brüstung, dass man Angst bekam, er würde vornüberfallen. Die Frau trat einen Schritt zurück, aber das schien ihn nur zu bestärken. Er ließ das Tuch fallen, löste seinen Schal vom Hals - einen großen bunten Schal - und ließ ihn aus dem Fenster wehen. Dazu lächelte er. Und als sie noch einen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete ihr so lange Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht 218 gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die Polizei verständigt. IV Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, sodass sich sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loszureißen. V Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen suchte, erklärten sie einstimmig, in diesem Hause zu wohnen. Einige davon kamen bis zum letzten Stock mit. Von den Stufen beobachteten sie, wie die Männer, nachdem ihr Klopfen vergeblich blieb und die Glocke allem Anschein nach nicht funktionierte, die Tür aufbrachen. Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich hinter ihnen her. VI Als die Tür aufflog, stand der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder abnahm, als bedeutete er jemandem, dass er schlafen wolle. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah. VII Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb musste eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht. (aus: Aichinger, Ilse: Der Gefesselte. Erzählungen; Frankfurt/M. 1953) 219 Textsorte PARABEL Die Stachelschweine Arthur Schopenhauer Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem Wintertage recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der 5 Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel; sodass sie zwischen beiden hin- und hergeworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten. - So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Inneren entsprungen, die 10 Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und Fehler stoßen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: „Keep your distance!“ (Wahre deinen Abstand!) 15 Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden. - Wer jedoch viel eigene innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben noch zu empfangen. (1851) Die Ratte in der Bildsäule Johann Gottfried Herder Hoan-Kong fragte einst seinen Minister, den Koang-Tschong, wofür man sich wohl in einem Staat am meisten fürchten müsse. Koang-Tschong antwortete: „Prinz, nach meiner Einsicht hat man nichts mehr zu fürchten, als was man nennet: die Ratte in der Bildsäule.“ 5 Hoan-Kong verstand diese Vergleichung nicht: Koang-Tschong erklärte sie ihm also: „Ihe wisset, Prinz, dass man an vielen Orten dem Geiste des Orts Bildsäulen aufzurichten pflegt; diese hölzernen Statuen sind inwendig hohl und von außen bemalet. Eine Ratte hatte sich in eine hineingearbeitet und man wusste nicht, wie man sie verjagen sollte. Feuer dabei zu gebrauchen, 10 getraute man sich nicht, aus Furcht, dass solches das Holz der Statue angreife; die Bildsäule ins Wasser zu setzen, getraute man sich auch nicht, aus Furcht, man möchte die Farben an ihr auslöschen. Und so bedeckte und beschützte die Ehrerbietung, die man vor der Bildsäule hatte, die - Ratte.“ „Und wer sind diese Ratten im Staate?“ fragte Hoan-Kong. 15 „Leute,“ sprach der Minister, „die weder Verdienst noch Tugend haben und gleichwohl die Gunst des Fürsten genießen. Sie verderben alles; man siehet es und seufzet darüber; man weiß aber nicht, wie man sie angreifen, wie man ihnen beikommen soll. Sie sind die Ratten in der Bildsäule.“ (1788) 220 Gib’s auf Franz Kafka Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, 5 ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: „Von mir willst du den Weg erfahren?“ „Ja,“ sagte ich, „da ich ihn selbst nicht finden kann.“ „Gib’s auf, gib’s auf,“ sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem 10 Lachen allein sein wollen. (1922) Die Maus Franz Kafka „Ach,“ sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im 5 Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ - „Du musst nur die Laufrichtung ändern,“ sagte die Katze und fraß sie. (1920) In der Erwartung großer Stürme Bertolt Brecht In einem alten Buch über die Fischer der Lofoten lese ich: Wenn die ganz großen Stürme erwartet werden, geschieht es immer wieder, dass einige der Fischer ihre Schaluppen am Strand vertäuen und sich an Land begeben, andere aber eilig in See stechen. Die Schaluppen, wenn überhaupt 5 seetüchtig, sind auf hoher See sicherer als am Strand. Auch bei ganz großen Stürmen sind sie auf hoher See durch die Kunst der Navigation zu retten, selbst bei kleineren Stürmen werden sie am Strand von den Wogen zerschmettert. Für ihre Besitzer beginnt dann ein hartes Leben. (1948) Wenn die Haifische Menschen wären Bertolt Brecht „Wenn die Haifische Menschen wären,“ fragte Herrn K. die kleine Tochter seiner Wirtin, „wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?“ „Sicher,“ sagte er. „Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie am Meer für die kleinen Fische gewaltige Kästen bauen lassen, mit allerhand Nahrung drin, 5 sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie würden sorgen, dass die Kästen immer frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt allerhand sanitäre Maßnahmen treffen. Wenn zum Beispiel ein Fischlein sich die Flosse verletzen würde, dann würde ihm sogleich ein Verband gemacht, damit es den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die Fischlein nicht 10 trübsinnig würden, gäbe es ab und zu große Wasserfeste; denn lustige Fischlein schmecken besser als trübsinnige. Es gäbe natürlich auch Schulen in den großen Kästen. In diesen Schulen würden die Fischlein lernen, wie 221 15 20 25 30 35 40 45 50 man in den Rachen der Haifische schwimmt. Sie würden zum Beispiel Geografie brauchen, damit sie die großen Haifische, die faul irgendwo liegen, finden könnten. Die Hauptsache wäre natürlich die moralische Ausbildung der Fischlein. Sie würden unterrichtet werden, dass es das Größte und Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freudig aufopfert, und dass sie alle an die Haifische glauben müssten, vor allem, wenn sie sagten, sie würden für eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den Fischlein beibringen, dass diese Zukunft nur gesichert ist, wenn sie Gehorsam lernten. Vor allen niedrigen, materialistischen, egoistischen und marxistischen Neigungen müssten sich die Fischlein hüten und es sofort den Haifischen melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen verriete. Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie natürlich auch untereinander Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde Fischlein zu erobern. Die Kriege würden sie von ihren eigenen Fischlein führen lassen. Sie würden die Fischlein lehren, dass zwischen ihnen und den Fischlein der anderen Haifische ein riesiger Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden sie verkünden, sind bekanntlich stumm, aber sie schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und können einander daher unmöglich verstehen. Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein, feindliche, in einer anderen Sprache schweigende Fischlein, tötete, würden sie einen kleinen Orden aus Seetang anheften und den Titel Held verleihen. Wenn die Haifische Menschen wären, gäbe es bei ihnen natürlich auch eine Kunst. Es gäbe schöne Bilder, auf denen die Zähne der Haifische in prächtigen Farben, ihre Rachen als reine Lustgärten, in denen es sich prächtig tummeln lässt, dargestellt wären. Die Theater auf dem Meeresgrund würden zeigen, wie heldenmütige Fischlein begeistert in die Haifischrachen schwimmen, und die Musik wäre so schön, dass die Fischlein unter ihren Klängen, die Kapelle voran, träumerisch und in allerangenehmste Gedanken eingelullt, in die Haifischrachen strömten. Auch eine Religion gäbe es da, wenn die Haifische Menschen wären. Sie würde lehren, dass die Fischlein erst im Bauch der Haifische richtig zu leben begännen. Übrigens würde es auch aufhören, wenn die Haifische Menschen wären, dass alle Fischlein, wie es jetzt ist, gleich sind. Einige von ihnen würden Ämter bekommen und über die anderen gesetzt werden. Die ein wenig größeren dürften sogar die kleineren auffressen. Das wäre für die Haifische nur angenehm, da sie dann selber öfter größere Brocken zu fressen bekämen. Und die größeren, Posten habenden Fischlein würden für die Ordnung unter den Fischlein sorgen, Lehrer, Offiziere, Ingenieure im Kastenbau usw. werden. Kurz, es gäbe überhaupt erst Kultur im Meer, wenn die Haifische Menschen wären. (1948) Der Palast Martin Buber Ein König baute einst einen großen und herrlichen Palast mit zahllosen Gemächern, aber nur ein Tor war geöffnet. Als der Bau vollendet war, wurde verkündet, es sollten alle Fürsten vor dem König erscheinen, der in dem letzten der Gemächer throne. Aber als sie eintraten, sahen sie: da waren 5 Türen offen nach allen Seiten, von denen führten gewundene Gänge in die Fernen, und da waren wieder Türen und wieder Gänge, und kein Ziel erstand vor dem verwirrten Auge. Da kam der Sohn des Königs und sah, dass all die 222 Irre eine Spiegelung war, und sah seinen Vater sitzen in der Halle vor seinem Angesicht. (1955) Armer und reicher Teufel 5 10 15 20 25 30 Ernst Bloch Wer genug Geld hat, wird manchmal merkwürdig gut. Er gönnt den Nächsten auch etwas, denkt sich etwas Schönes für sie aus. Reiche Leute wollen gern spielen, setzen dabei arme ein. So hielt es auch jener Amerikaner, als er den sonderbarsten Wettbewerb erließ. Ein junger Mann war gesucht, am liebsten ein Bergarbeiter, gesund und anstellig. Aus den hunderttausend Bewerbern wurde einer angenommen; der junge Mann meldete sich. Ein hübscher Bursche, hatte nun nichts zu tun, als die weiteren Bedingungen zu erfüllen: nämlich auf gute Manier zu essen und zu trinken, feine Kleider mit Schick zu tragen, Figur machen. Ein Hofmeister brachte ihm die Künste der Welt bei, Reiten, Golf, gebildete Sprache vor Damen und was sonst ein amerikanischer Gentleman braucht. Alles mit dem Geld seines Schutzherrn; nach beendetem Schliff trat der Glückliche eine dreijährige Reise um die Welt an, mit Kreditbriefen in der Tasche, die jeden noch so exotischen Wunsch erfüllen ließen. Nur eine kleine letzte Bedingung stand noch aus: der junge Mann musste nach der Reise wieder ins Bergwerk zurück, als wäre nichts geschehen. Musste dort mindestens zehn Jahre bleiben, als Grubenarbeiter wie bisher. Auch dies unterschrieb der Glückspilz, hielt sich ans Leben, das näher lag; die Zeit der goldenen Jugend begann. Reiste in den Opernglanz von Europa, hatte Glück bei Frauen und hatte Begabung dafür, jagte indische Tiger und speiste bei Vizekönigen, kurz, führte das Leben von Prinzen, mit Kontrast-Beleuchtung obendrein. Bis zu dem Tag, wo er heimkehrte und seinem Gönner fast wohlgesättigt dankte, wie einem Gastgeber beim Abschied. Zog die alten Kleider wieder an und stieg in die Grube zurück, zu den Kohlen, blinden Pferden, Kameraden, die ihm so fremd geworden waren und die ihn verachteten. Stieg ins Bergwerk zurück unvorstellbar jetzt die ersten Tage, Monate, der Gegenschein und jetzige Kontrast, die Einfahrt ums Morgengrauen, die Arbeit auf dem Rücken, das Schwitzen, Husten, der Kohlestaub in den Augen, der schlechte Fraß, das Bett mit dreien. Nun hätte der Bursche den Vertrag freilich brechen können; auf gute Manier, indem er eine andere Stelle mit ihr suchte, oder auf revolutionäre, als Arbeiterführer. Stattdessen streikte er verblüffend, fuhr nach New York, sah seinen Wohltäter, erschoss ihn. Für den Arbeiter post festum hatte man Verständnis; das Gericht sprach ihn frei. (1967) Das Los unserer Stadt Wolfdietrich Schnurre Ingenieure haben bei Befestigungsarbeiten am Rande der Stadt eine furchtbare Entdeckung gemacht. Sie sprengten eben einen die Zufahrtstraße bedrohenden Felsen vom Berg, als sich unterhalb der Gesteinswunde ein ungeheures Auge auftat. Zugleich wurden in allen Teilen der Stadt macht- 223 5 volle Erdstöße verspürt, und seit Stunden schon hallt aus den Rissen im Pflaster ein pumpendes Pochen herauf, als sei im Erdschoß eine Höllenmaschine verborgen. Inzwischen ist die schlimmste aller Befürchtungen Wahrheit geworden: Unsere Stadt wurde auf der Brust eines schlafenden Riesen erbaut; nun 10 haben die Ingenieure ihm eine Braue gesprengt, und er beginnt zu erwachen. Es sind bereits zahlreiche Kommissionen ernannt worden, die den Auftrag erhielten, das Ohr des Riesen zu finden, um ihm den Wunsch vorzutragen, er möge die Gewohnheit haben, doch noch einige Zeit liegen zu 15 bleiben, und die Ingenieure haben vor seinem Auge ein großes Schild angebracht, auf dem sie sich dafür entschuldigen, dass er verletzt worden ist. Er scheint jedoch nicht unsere Sprache zu sprechen; sein Auge blickt starr durch die Inschrift des Schildes hindurch; und auch sein Ohr hat bisher noch keine Kommission entdeckt. So wird wohl die Stadt in Kürze 20 vergehen und als bröckelnder Sandstaub an den Gliedern des Riesen herabwehen. (1959) Parabeln Arthur Schnitzler Ein frommer Jüngling macht einen Ausflug zu Rad. Wie er bei einer Kirche vorbeikommt, nimmt er eine Hand von der Lenkstange und schlägt ein Kreuz. In diesem Augenblick verliert er das Gleichgewicht und bricht sich einen Arm. ________________________________________________ Ein braver, frommer Mann hatte sich nach einem Leben voll Arbeit in einer schönen Gegend ein Haus gebaut und ließ über das Tor in goldenen Buchstaben die Worte setzen: Gesegnet sei dies Haus und jeder, der geht ein und aus. Bald nachdem er mit seiner jungen Frau und seinen unmündigen Kindern das Haus bezogen hatte, wurde er und seine Familie ermordet, beraubt und das Haus selbst niedergebrannt. Die Wirkung des frommen Spruches aber sollte sich bald aufs Herrlichste erweisen. Der Mörder wurde nämlich niemals entdeckt und durfte sich sein ganzes Leben lang an dem Genuss des geraubten Gutes ungestört und reuelos erfreuen. (1917) 224 1.1.2. die Lyrik Das Wort Lyrik ist vom griechischen Wort „lyrikós“ (= zum Spiel der Lyra gehörend, Lyrabegleitung) entlehnt und meint ursprünglich einen Gesang, der von der Lyra (= erstes Saiteninstrument) begleitet wurde. Die ursprüngliche Bindung an die Musik ist nie ganz verloren gegangen; sie zeigt sich bei der Lyrik in der besonderen Art und Weise, wie Sprache hier verwendet wird. Im Unterschied zu den anderen Literaturgattungen ist die Lyrik von wesentlich drei Grundvorstellungen geprägt: Lyrik ist die ursprüngliche und erste dichterische Gattung Lyrik ist empfindsam-subjektiver Ausdruck von Unmittelbarkeit, Gemüt und Gefühl Lyrik ist eine natürliche Lebensäußerung, an der gemeinsame Elemente von Sprache, Tanz und Musik Anteil haben Wichtig ist: Die Lyrik ist die Gattung, in der ein Ich sich unmittelbar ausdrücken kann, seine Empfindungen, Gefühle, Gedanken usw. Mit dieser Feststellung ist schon - wie wir noch sehen werden - ein Kriterium gegeben, nach dem lyrische Texte unterschieden werden können: Es gibt also Empfindungslyrik, romantische Gefühlslyrik, Gedankenlyrik usw. Betrachten wir ein Beispiel: Eduard Mörike Er ist’s Frühling lässt sein blaues Band Wieder flattern durch die Lüfte; Süße, wohlbekannte Düfte Streifen ahnungsvoll das Land. Veilchen träumen schon, Wollen balde kommen. - Horch, von fern ein leiser Harfenton! Frühling, ja du bist’s! Dich hab ich vernommen! Zunächst ist man geneigt zu sagen, Mörike stellt in diesem Gedicht den Frühling dar. Beim genaueren Lesen oder Hören wird aber klar, dass der Frühling, die Jahreszeit, nur den Anlass, den Auslöser bietet für das subjektive Erleben. Das Nahen des Frühlings wird als subjektives Erlebnis, als alle Sinne umfangendes, inneres Ereignis, dargestellt. Also nicht die Jahreszeit steht im Zentrum, sondern die Innerlichkeit des Subjekts. Die äußere Veränderung in der Natur wird als innere Verwandlung erlebt. Denn das erlebende Ich wird erfasst von den alles verändernden Wirkungen des nahenden Frühlings. Aus der anfänglichen Vorfreude entsteht ein Enthusiasmus, in dem sich die Einheit von Natur und Mensch ausdrückt. Den Beweis für diese Deutung muss auch die Formanalyse liefern. Fragen wir also: Wie hat Mörike sein Thema gestaltet? An diesem berühmten Gedicht von Mörike, das dieser 1828 veröffentlicht hat, lassen sich fast alle Merkmale der Lyrik aufzeigen. Schon die äußere Form unterscheidet Gedichte von den anderen Gattungen. Gedichte bestehen aus einer oder mehreren kompakten Einheiten, Strophen genannt. Im vorliegenden Beispiel besteht das 225 Gedicht aus einer Strophe. Eine Strophe besteht aus mehreren Versen oder Zeilen. Mörikes Gedicht umfasst neun Zeilen bzw. Verse, die offensichtlich unterschiedlich lang sind; die 7. Zeile fällt optisch sofort auf wegen ihrer Länge. Jede Zeile, jeder Vers besteht aus mehreren Einheiten, Metren (Singular: Metrum; deutsch: Versmaß) genannt. Metrum meint die (regelmäßige) Abfolge von betonten und unbetonten Silben. Zusammen mit dem Inhalt ergibt sich beim Lesen ein bestimmter Rhythmus. Die Begriffe Metrum und Rhythmus stammen aus der Musik und weisen auf den schon erwähnten Ursprung der Lyrik bzw. Dichtung zurück. Beim Lesen oder Hören des Gedichtes haben Sie auch bemerkt, dass die Zeilen miteinander verbunden sind, nämlich durch das Zeilenende. Den Gleichklang am Versende nennt man Reim; bezogen auf das ganze Gedicht spricht man vom Reimschema. Finden sich in einem Gedicht die eben genannten Merkmale, dann spricht man von einer gebundenen Sprache: Die Sprache ist gebunden durch Metrum, Rhythmus, Vers, Reim und Strophe. Bis ins 20. Jahrhundert ist die gebundene Sprache das wesentliche Merkmal der Lyrik. Betrachten wir die genannten Merkmal im Einzelnen: → Die Metrik Metrik ist die Wissenschaft vom taktmäßig - rhythmischen Bau der gebundenen Sprache. Die Grundeinheit der Metrik ist der Vers, die Zeile; die kleinste metrische Einheit heißt Takt, Versfuß oder metrische Grundform. Der Takt benennt die Abfolge von betonten und unbetonten Silben und er besteht i.d.R. aus zwei Hälften, die unterschiedlich aufgeteilt sein können, z.B. eine betonte und eine unbetonte Silbe wie bei den Wörtern: Lüfte, Düfte, Frühling usw. oder eine betonte Silbe und zwei Viertel (-silben) wie bei den Wörtern: Königin, Heiliger, Neulinge usw. Die betonten Silben heißen Hebungen, die unbetonten Senkungen. Um die Hebungen und Senkungen zu kennzeichnen, gibt es unterschiedliche Methoden der metrischen Notation. Wir verwenden im Folgenden die heute gängige Version, bei der jede Silbe mit einem „x“ dargestellt wird. Ist eine Silbe betont, so bekommt das „x“ einen Akzent, also x. Jedes Taktende wird mit einem vertikalen Strich angezeigt. Die erste Zeile des Mörike-Gedichtes sieht dann so aus: x x I x x I x x Ix Die Metrik unterscheidet vier metrische Grundformen (Taktarten): Jambus (xx) eine Folge von Senkung und Hebung (z.B. gelehrt, Verbot, Betrug, hinweg, gesagt ...) Trochäus (xx) eine Folge von Hebung und Senkung (z.B. Leben, Liebe, Rose, Tiefe, sicher, außen ...) Daktylus (xxx od. eine Folge von einer Hebung und zwei Senkungen x∪ ∪∪) (z.B. Königin, Neulinge, Schweifende, Heilige ...) Anapäst (xxx od. ∪∪x) eine Folge von zwei Senkungen und einer Hebung (z.B. Paradies, Malerei, nebenbei ...) 226 Woran erkennt man nun Hebungen und Senkungen in einem Gedicht? Das ist gar nicht so schwer, denn die Betonung der Silben wird nicht willkürlich vom jeweiligen Dichter festgelegt. Sie folgt vielmehr den Vorgaben der „natürlichen“ Betonung der Wörter bzw. der normalen gesprochenen Hochsprache. Im Deutschen wird z.B. das Wort Apfel auf der ersten Silbe betont, das Wort Zitrone auf der zweiten und das Wort Apfelsine auf der dritten Silbe. Der Dichter verwendet die Wörter so, dass ein (regelmäßiger) Wechsel von betonter und unbetonter Silbe, auch Alternation (Verb: alternieren) genannt, entsteht. Einsilbige Wörter können innerhalb eines Metrums sowohl Hebung als auch Senkung darstellen. In der 1. Zeile von Mörikes Gedicht ist das Wort „sein“ eine Senkung, das Wort „ich“ in der letzten Zeile eine Hebung. Das Mörike-Gedicht besteht also aus einer Strophe mit neun Zeilen oder Versen. Das durchgängige Metrum ist der Trochäus. Allerdings ist die Anzahl der Trochäen pro Zeile unterschiedlich. Die ersten vier Zeilen bestehen jeweils aus vier Trochäen, die 5. und 6. Zeile haben jeweils nur drei, die 7. Zeile hat fünf, die 8. Zeile und die letzte Zeile haben jeweils 3 Trochäen. Symbolisch dargestellt zeigt das Gedicht folg. äußere Form: x x I x x I x x Ix x x I x x I x x Ix x x x I x x I x x Ix x x x I x x I x x Ix xxIxxIx xxIxxIxx x x I x x I x x Ix xI x xxIxxIx xxIxxIxx → Der Reim Unter Reim versteht man den Gleichklang von Wörtern oder genauer: den Gleichklang von Wörtern vom letzten betonten Vokal ab (z.B. singen - klingen; kommen - vernommen; Lüfte - Düfte; Band - Land). Es gibt mehrere Formen des Reimes. Zunächst soll uns nur der sog. Endreim interessieren, also die klangliche Übereinstimmung von Versenden. Denn damit haben wir es beim Mörike-Gedicht zu tun. Um die Reimfolge oder das Reimschema darzustellen, benutzt man die kleinen Buchstaben als Symbole, also a für den ersten, b für den zweiten usw. Das Reimschema des Mörike-Gedichtes sieht demnach so aus: a b b a c d c e d. Sogleich fällt auf, dass eine Zeile reimlos ist, nämlich die 8. Zeile. Eine reimlose Zeile wird in der Lyrik „Waise“ genannt und mit dem Buchstaben „w“ symbolisiert. Das Gedicht hat also das Reimschema: a b b a c d c w d. Eine Waise ist immer ein formaler Hinweis auf etwas Besonderes. Im vorliegenden Gedicht ist die Funktion der Waise deutlich zu erkennen: In der 8. Zeile ist der Höhepunkt des enthusiastischen Gefühls dargestellt, die Gewissheit, dass der Frühling das erlebende Ich ganz erfasst und erfüllt hat. Das bestätigt auch die Sprachverwendung: direkte Ansprache, Interjektion und Ausruf spiegeln die höchste seelische Erregung wider. Eine solche 227 überschwängliche Freude muss geradezu das Reimschema sprengen. Wenn Sie nochmals auf die Reime des Gedichtes schauen, wird Ihnen auffallen, dass es zwei verschiedene Endreime gibt, nämlich einsilbige (Band - Land) und zweisilbige (Lüfte Düfte) bzw. mehrsilbige (Harfenton). Einen einsilbigen Endreim nennt man eine männliche oder stumpfe Kadenz, einen zweisilbigen (ausklingenden) Versschluss nennt man eine weibliche oder klingende Kadenz (Kadenz = Versschluss). Beim Mörike-Gedicht sind die a- und c-Reime männlich, die b- und d-Reime weiblich; die Waise ist eine männliche Kadenz, weil sie auf der letzten Silbe betont ist (nicht ausklingt). Männliche Reinschlüsse werden mit einem „m“, weibliche mit einem „w“ gekennzeichnet. Will man bei der Analyse der äußeren Form eines Gedichtes die zeitaufwendige Aufzeichnung der metrischen Struktur und des Reimschemas abkürzen, so bieten die Zahlen und Buchstaben eine gute Möglichkeit dafür. Die erste Zeile des MörikeGedichtes kann so aussehen: 4 m a (4 Takte, männliche Kadenz, a-Reim), die zweite Zeile so: 4 w b usw. Das Ergebnis der formalen Analyse sieht dann so aus, wie auf der rechten Seite dargestellt: x x I x x I x x Ix x x I x x I x x Ix x x x I x x I x x Ix x x x I x x I x x Ix xxIxxIx xxIxxIxx x x I x x I x x Ix xI x xxIxxIx xxIxxIxx a b b a c d c w d 4ma 4wb 4wb 4ma 3mc 3wd 5mc 3mw 3wd Der Vorteil dieser verkürzten Darstellung ist offensichtlich: Die Auffälligkeiten einer Strophe, eines Gedichtes zeigen sich viel schneller als bei der metrischen Darstellung. Sichtbar wird sofort die Zweiteilung des Gedichtes. Die ersten vier Zeilen bilden vom Reim und von der Anzahl der Takte her eine Einheit . Ähnliches kann von den restlichen Zeilen gesagt werden, die von den c- und d-Reimen verbunden werden, auch wenn die Reimfolge anders als im ersten Teil gestaltet ist. Auffällig ist auch die Überlänge der 7. Zeile und die Waise in der 8. Zeile, zwei Besonderheiten, auf die man sofort gestoßen wird und die gute Fragen für die Texterschließung aufwerfen: Warum diese Unregelmäßigkeiten? Worauf weisen sie hin? Die 7. Zeile könnte lauten: „Horch, ein Harfenton!“ Dann würde sie der anderen Zeile mit c-Reim (Z. 5) entsprechen, nämlich 3 m c; sie könnte auch lauten: „Horch, ein leiser Harfenton!“ oder: „Horch, von fern ein Harfenton!“, also jeweils 4 m c. Die Alternativen deuten darauf hin, was bei einer Verkürzung verloren ginge. Die überlange 7. Zeile hat nicht nur die letzte sinnliche (akustische) Empfindung zum Inhalt, sondern auch eine Stille, ein Verzögern, ein Anschwellen, sozusagen die Ruhe vor dem Sturm, vor dem Ausbruch der enthusiastischen Freude. Auch der Gedankenstrich am Anfang der 228 Zeile lässt die vorherige Bewegung zur Ruhe kommen. Und in diese Ruhe hinein tönt der letzte Beweis, ganz entfernt, aber deutlich, unüberhörbar. Und dann entlädt sich die Spannung im freudigen Aufschrei (Z. 8). Ergänzend zum bisher Gesagten über den Reim sollten die wichtigsten Reimformen und Reimfolgen erwähnt werden: Bei den Reimformen unterscheiden wir neben den schon genannten männlichen oder stumpfen und weiblichen oder klingenden Reimen noch: reine Reime (genauer Gleichklang in Vokal und Schlusskonsonant vom letzten Vokal an, z.B. Band - Land; Raub - Staub; Schatten Matten) unreine Reime (ungenauer Gleichklang entweder der Vokale oder der Schlusskonsonanten, z.B. Lied - Gemüt; grüßen - sprießen; Weite - Geläute) Sind nur die Vokale am Gleichklang beteiligt, spricht man von Assonanzen (z.B. sehen - regen; Geläute - Häuser; Menge - Kapelle) rührende Reime (Reime zwischen phonetisch gleichlautenden, aber bedeutungsverschiedenen Wörtern, z.B. Wirt - wird; Rain - rein; heute - Häute) identische Reime (reimen mit demselben Wort) gleitende oder reiche Reime (dreisilbige Reime, z.B. Greifender Durchschweifender; Wiedersehn - nie gescheh’n) Bei den Reimfolgen unterscheiden wir den Paarreim (aa, bb, cc ...) den Kreuzreim (abab, cdcd ...) den umarmenden Reim (abba, cddc ...) den Schweifreim (aab, ccb ...) den verschränkten Reim (abc, abc) den Kehrreim oder Refrain (Wiederholung eines Verses z.B. am Ende der Strophen) den Anfangreim (Reim des ersten Wortes aufeinander folgender Verse, z.B. Krieg! Ist das Losungswort. Sieg! Und so klingt es fort. (Goethe) den Schlagreim (Reim zweier unmittelbar aufeinander folgender Wörter in einem Vers, z.B. quellende, schwellende Nacht - steigendes, neigendes Leben) den Binnenreim (Reime innerhalb eines Verses, z.B. bei stiller Nacht zur ersten Wacht - kein Vogelsang noch Freudenklang) den Schüttelreim (Reime auf mehreren Silben bei wechselseitiger Vertauschung der Anfangskonsonanten, z.B. Die böse Tat den Schächer reut, Doch nur, weil er den Rächer scheut. → Der Rhythmus Rhythmus meint die gleichmäßige, abgemessene Bewegung (Musik, Lyrik u.a.). Ein Bestandteil des Rhythmus ist das Versmaß. Aber ein gleiches Metrum ergibt nicht immer den gleichen Rhythmus. Der Grundrhythmus eines Verses bzw. eines 229 Gedichtes wird zwar vom Metrum wesentlich mitbestimmt; es kommen jedoch andere Aspekte hinzu, vor allem der Inhalt und die sog. rhythmischen Mittel. Unter rhythmische Mittel versteht man den sprecherischen und melodischen Akzent (Tonhöhe, Tonlänge), die Pausen (Verseinschnitte), abhängig vom Sinn gebenden Sprechen, das Tempo, abhängig von der Gesamtgestimmtheit, die Klangfarbe (entsteht durch die wiederholte Folge von Vokalen und bzw. oder Konsonanten, z.B. Alliterationen) Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass es im Prinzip so viele Arten des Rhythmus gibt wie Gedichte. Das ist grundsätzlich zwar richtig, denn der Rhythmus kann die gesamte Bandbreite durchlaufen von gleichmäßig bis zerhackt. Das heißt: Der Rhythmus kann gleichmäßig-fließend, ruhig-getragen, schreitend, tänzerisch oder tänzelnd, hüpfend, wogend und drängend sein, aber auch gestaut, holprig und unruhig-zerhackt. Jedoch lassen sich bestimmte Rhythmustypen in der Geschichte der Lyrik ausmachen, die sich unabhängig von Dichter und Zeit immer mal wieder zeigen. Die wichtigsten seien kurz genannt: der fließende Rhythmus (eine drängende Bewegung mit Leichtigkeit und Gleichmäßigkeit wie z.B. in den Liedern) der strömende Rhythmus (eine ständig weiter drängende Bewegung mit großem Schwung, großer Spannung und etwas Feierlichkeit) der tänzerische Rhythmus (gleichmäßig fließend, aber größere Straffheit des Sprechens und stärkere Akzentuierung der Hebungen) der bauende Rhythmus (mehrfaches erneutes Einsetzen und Aufsteigen, Anhalten und Steigern, relativ selbstständige Teile, die ein nachdrückliches und beherrschtes Sprechen verlangen) der spröde oder gestaute Rhythmus (Folge mehrerer unterschiedlicher rhythmischer Einheiten; relativ lange Pausen, die die Bewegung immer wieder aufhalten) → Der Vers Vers (lat.: versus = Furche, Reihe; Bild vom Pflüger) meint eine Gedichtzeile, eine rhythmisch und durch eine Taktregel (Metrum) geformte Einheit eines Gedichtes. Im Laufe der Zeit haben sich bestimmte Versformen bzw. Taktreihen herausgebildet. Die wichtigsten seinen kurz genannt: Bei den Versen, in denen der Jambus dominiert, spricht man von den jambisch steigernden Taktreihen; die wichtigsten sind der steigernde Viertakter (vier Jamben mit stimmlicher Steigerung zu lesen) z.B. Man lobt nâch tode manegen man der lob zer werlde nie gewan. (Freidank) der Knittelvers (vier unregelmäßige, holprige Jamben, bis zu 14 Silben umfassender Vers) 230 z.B. Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin Und leider auch Theologie Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. (Goethe) der steigernde Fünftakter (fünf Jamben) z.B. Ein zart Geheimnis webt in stillen Räumen die Erde löst die diamantnen Schleifen, und nach des Himmels süßen Strahlen greifen die Blumen, die der Mutter Kleid besäumen. (Eichendorff) der Blankvers (ungereimter Vers mit fünf Jamben) z.B. Es eifre jeder seiner unbestochnen, Von Vorurteilen freien Liebe nach. (Lessing) der steigernder Sechstakter (sechs Jamben; bevorzugter Vers für alle ernsten Gattungen des hohen Stils in der Antike und im Barock) z.B. Das Recht des Herrschers üb’ ich aus zum letzten Mal. (Schiller) der Alexandriner (sechs Jamben mit Zäsur in der Mitte, nach dem dritten Jambus) z.B. Wer groß im Kleinen ist, wird größer sein im Großen. (Goethe) Bei den Versen mit dem Trochäus als Versmaß spricht man von den trochäisch fallenden Taktreihen; die wichtigsten sind: der fallende Viertakter (vier Trochäen) z.B. Eines nur ist Glück hienieden, Eins: des Innern stiller Frieden Und die schuldbefreite Brust. (Grillparzer) der fallende Fünftakter (fünf Trochäen) z.B. Nach Korinthus von Athen gezogen Kam ein Jüngling, dort noch unbekannt. (Goethe) der fallende Achtakter (acht Trochäen; Versmaß der römischen Komödie) z.B. Nächtlich am Busento lispeln bei Consenza dumpfe Lieder Aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wipfeln klingt es wieder. (Platen) Bei den Versen, die von Daktylen gebildet werden spricht man von den daktylisch doppelfallenden Taktreihen; die wichtigsten sind: der Hexameter (sechs Daktylen) z.B. Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen; es grünten und blüten Feld und Wald; auf Hügeln und Höhen, in Büschen und Hecken Übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel. (Goethe) der Pentameter (fünf Daktylen) z.B. Aber der große Moment findet ein kleines Geschlecht. 231 (Goethe) → Die Strophe Strophe (ursprünglich der gesungene Teil des Chorgesangs) meint die Verbindung von mehreren Versen von gleichem oder ähnlichem Bau zu einer zusammengehören-den Einheit. Im Laufe der lyrischen bzw. literaturhistorischen Entwicklung haben sich etliche Strophenformen herausgebildet. Die wichtigsten sind: die Volksliedstrophe (gewöhnlich vier Verse umfassend, drei oder vier Hebungen pro Vers) die Terzine (Dreizeiler mit jeweils fünf Jamben und auffälligem Reimschema, z.B. aba - bcb - cdc -ded ...) die Kanzonenstrophe (Strophenform des Minnesangs; Zweiteilung: Aufgesang mit zwei Stollen und Abgesang; z.B. abc - abc - ded) die Stanze (Strophe aus acht Versen mit jeweils fünf Jamben und besonderem Reimschema, z.B. ab ab ab cc ) das Dichtichon (Zweizeiler mit jeweils fünf oder sechs Hebungen) → Gedichtformen Formale Einteilung: Inhaltliche Einteilung: Idealtypische Einteilung nach Lied Alltagslyrik der Gestaltung: • Gesang • Volkslied • Kunstlied Ballade Arbeiterlyrik Bildgedichte Erzählgedichte Experimentelle Lyrik • Heldenlied • Volksballade • Kunstballade Ode Elegie Hymne Sonett Madrigal Epigramm Kanzone Gebrauchslyrik Gedankenlyrik Gedichte über Gedichte Hermetische Lyrik Kinderlyrik Konkrete Poesie Liebeslyrik Mundartlyrik Naturlyrik Ökolyrik Politische Lyrik Religiöse Lyrik Das Liedhafte (z.B. Naturvorgänge und Erlebnisse in einfacher Sprache) Das Hymnische (Lob, Preis und Jubel in erhabener Sprache) Das Lehrhafte (z.B. Gedankenlyrik) Das Erzählerische (z.B. die Ballade) 232 Weitere Grundbegriffe der Lyrik Alexandriner Allegorie : 6-hebiger Jambus mit Zäsur in der Mitte Verbildlichung eines abstrakten Begriffs, oft in Form der Personifikation Bildlichkeit : Gesamtbegriff für sprachliche und dichterische Mittel, die abstrakte Sachverhalte anschaulich machen, z.B. Allegorie, Metapher, Symbol ... Chiffre : Stimmungsträger, die der Einbildungskraft einen weiten Spielraum lassen; in der modernen Dichtung werden Symbole häufig zu Chiffren reduziert, die die Wirklichkeit verfremden; sie deuten das Gemeinte nur an Dinggedicht : Gedicht, das einen Gegenstand oder ein Lebewesen distanziert und objektiv, gleichsam aus dem „Ding selbst“ beschreibt Elegie : seit der Barockzeit ein Gedichtform zum Ausdruck von Trauer und Liebe Emblem : Sinnbild oder Zeichen mit einem bestimmten Bedeutungsinhalt (z.B. Ölzweig für Frieden, Palme für Beständigkeit) Enjambement : Versbrechung, Zeilensprung; die syntaktische Einheit greift von einem Vers (Strophe) in den folgenden über freie Rhythmen : reimlose Versfolgen - mit oder ohne Strophengliederung - , die keinem metrischen Schema folgen, sodass jeder Vers von individueller Länge und Zusammensetzung ist Hymne : urspr. kultischer Gesang zum feierlichen Lob und Preis eines Gottes; heute allgemein: Lob- und Preisgedicht lyrisches Ich : der Sprechende im Gedicht, erschließbare dichterische Figur und vom Autor zu unterscheiden (ähnlich wie der Erzähler in epischen Texten) lyrisches Präsens : Bezeichnung für die im Gedicht weithin übliche Gegenwartsform mit durativem (dauernden) Stilwert Motiv : sich wiederholende, vorgeprägte typische Textteile (z.B. ein Begriff oder eine Grundsituation wie das Lösen eines Rätsels oder die Feindschaft zwischen Familien oder die Begegnung eines Liebenden mit dem Geist der toten Geliebten u.ä. Ode : lyrische Form eines strophisch gebauten feierlichen Gedichtes Quartett : Vierzeilenstrophe beim Sonett Refrain : Kehrreim; in strophischen Gedichten am Ende der Strophen stets wiederkehrende Verse Terzett : Dreizeilenstrophe beim Sonett Terzine : dreizeilige Strophe nach dem Reimschema aba, bcb, cdc ... zyz (Kettenreim) Volkslied : jedes Lied, das in schlichter Symbolik (goldener Ring, zerbrochenes Mühlrad u.ä.) einfaches Naturempfinden oder elementares menschliches Fühlen ausdrückt: Lust und Leid, Schmerz der Trennung, Abschied und Wiederkehr usw. Zäsur : Einschnitt, Pause in einer meist längeren Verszeile (z.B. im Alexandriner) (Die wichtigsten stilistischen Mittel finden Sie im „Anhang“.) 233 Methodische Tipps für die Gedichtinterpretation Wenn Sie ein Gedicht nach dem ersten Lesen nicht sogleich verstanden haben, so ist das ganz normal. Denn schließlich hat sich der Autor in der Regel viel Mühe gegeben, vielleicht sogar wochen- oder monatelang um die Form gerungen, um seine Intention optimal auszudrücken. Da wäre es ja fast ein Wunder, wenn man als Leser das Ergebnis dieser mühevollen Arbeit schon auf den ersten Blick erfassen könnte. Deshalb sollten Sie zunächst das Gedicht mehrmals und wenn möglich auch laut lesen. Das mehrmalige Lesen oder Hören des Textes kann einige Verständnisprobleme lösen und gute Zugänge zur Aussageabsicht eröffnen. Zum Wesen der Literatur gehört, dass sie nicht eindeutig ist oder auf eine absolute Wahrheit ausgerichtet ist, die der Leser finden muss. Wir fragen also heute nicht mehr: Was wollte uns der Autor sagen? Interpretieren heißt: deuten, sich annähern, annähern an ein mögliches und wahrscheinliches Verständnis dessen, was der Autor mit seinem Gedicht beabsichtigt hat. Wenn wir sagen: Literatur ist vieldeutig, vielschichtig, polyvalent, so treffen wir damit ein Wesensmerkmal von Literatur. Aber diese Aussage bedeutet nicht, dass nun alle Deutungen gleich „zutreffend“ sind, dass alles willkürlich ist. Das Gedicht selbst gibt dem Leser Hinweise und Hilfen, um ein mögliches und wahrscheinliches Verständnis der Intention zu finden. Da ist der Text, der Titel, das Thema und vor allem die Form, die Struktur und die kunstvolle Sprache. Wie Sie bei der Betrachtung des Mörike-Gedichtes gesehen haben, bietet die Herangehensweise über die äußere Form gute Zugänge zum Gedicht und zur Intention. Diese Methodik bietet sich auch deswegen an, weil Sie zunächst mit handfesten Aspekten, also sozusagen mit empirisch nachweisbaren Fakten, beginnen können. Dass das betreffende Gedicht so viele Strophen umfasst, dass jede Strophe so viele Zeilen besitzt, dass die Zeilen so viele Metren hat, dass das Reimschema so oder so aussieht, sind ja wohl (in der Regel) unstrittige Gegebenheiten. Hat man diese Dinge bei einem Gedicht festgestellt, bekommt man mit dem „Bild“ der äußeren Form schon deutliche Hinweise. Das Bild der äußeren Form vom Mörike-Gedicht lenkt - wie wir gesehen haben - die Aufmerksamkeit des Lesers sofort auf die vorletzte Zeile mit der Waise und eröffnet möglicherweise den entscheidenden Zugang zum Gedicht. Aus einem zweiten Grund heraus empfiehlt sich die Herangehensweise über die Form. Da in der Lyrik Form und Inhalt unmittelbarer zusammengehören als bei den anderen literarischen Gattungen, müssen die Frage nach der Form und die Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt hierbei ergiebiger sein. Für die Frage nach der Form bieten sich geeignete W - Fragen an: Um welche Gedichtform handelt es sich? Was für eine Strophenform liegt vor? Welche Metren (Versfüße) lassen sich ausmachen? Wie sieht das Versmaß aus? Welches Reimschema wird verfolgt? Wie sieht der Satzbau bzw. das Verhältnis von Zeile und Satzbau aus? Welche Wortwahl trifft der Autor? Wer spricht das Gedicht bzw. ist das lyrische Ich erkennbar? 234 Für die Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt kann man fragen: Was ist das Thema des Gedichtes? Passt die Wortwahl zum Thema bzw. was sagt die Wortwahl über die Einstellung des Autors zum Thema aus? Hält der Dichter Formen ein oder durchbricht er sie (Reimschema, Strophen, Versmaß, Satzbau, Grammatik) ? Wann wurde das Gedicht geschrieben? Was weiß ich über diese Zeit bzw. Literaturepoche? Was weiß ich über den Autor des Gedichtes? Eine systematisierte „Methodik der Gedichtinterpretation“ kann so aussehen: I. Einleitung II. Analyseteil - allgemeine Angaben zum Gedicht, Autor und Thema - Angaben zur Entstehungszeit (wenn bekannt) 1. Formbeschreibung - Beschreibung des äußeren Aufbaus (Strophe, Zeile) - Angaben zur Gedichtform (Sonett, Ode ...) - Angaben zum Reim und Reimschema - Angaben zum Metrum und Rhythmus - Angaben zum Vers und Satzbau (Kongruenz X) - Zusammenfassung: Darlegungen zur Gesamtwirkung der optisch-klanglichen Mittel (Regelmäßigkeit, Harmonie, Brüche) 2. Inhalts- und Sprachanalyse - Angaben zum Gedichttyp (z.B. Naturlyrik) - Darlegung der inhaltlichen Abfolge in den Strophen bzw. Zeilen - Angaben zur Sprachgestaltung (stilistische Mittel - Herstellen von Querverbindungen von Inhalt und Sprache - Angaben zum lyrischen Ich: Einstellung zum Gegenstand oder Problem 3. Interpretation - Darlegung der Intention: Zusammenfassung der - inhaltlichen und formalen Analyse in Hinblick - auf die Aussageabsicht des Autors - Einordnung des Gedichtes bzw. der Intention in den literaturhistorischen Zusammenhang III. Schluss (Abrundung der Darstellung, z.B. mit einer wertenden Stellungnahme zum Gedicht, zu seiner Aussage und Wirkung) 235 Beispiel einer Gedichtinterpretation Aufgabenart : Textinterpretation Aufgabe : Analysieren und interpretieren Sie das Gedicht „Er Ist’s“ von Eduard Mörike. Beim vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Er Ist’s“, das 1828 von E. Mörike veröffentlicht worden ist. Es ist ein einstrophiges Gedicht mit neun Zeilen. Die Zeilen sind unterschiedlich lang, sodass der erste Eindruck weder Harmonie noch Gleichförmigkeit vermittelt. Als Metrum ist durchgängig der Trochäus gewählt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich eine deutliche Zweiteilung des Gedichtes, die durch Taktanzahl und Reimschema bestätigt wird. Denn die Zeilen 1 – 4 haben jeweils vier Takte, die Zeilen 5, 6, 8, 9 drei Takte und die auffällig lange Zeile 7 umfasst fünf Takte. Das Reimschema zeigt eine besonders kunstvolle Gestaltung und eine deutliche Auffälligkeit: abba cdcwd. Die Zeilen 1 – 4 werden bestimmt durch einen umfassenden Reim (a) und einen Paarreim (b); der zweite Teil, Z. 5 – 9, würde einen Kreuzreim aufweisen, wenn, ja, wenn da nicht in Z. 7 eine Waise eingefügt wäre. Diese zweifache Besonderheit dieser Zeile, nämlich die Waise und die Zeilenlänge, muss die Inhaltsanalyse aufklären. Hier ist zum Reimschema noch zu sagen, dass die Reimschlüsse gemäß den Reimen männliche (a,c,w) und weibliche Kadenzen (b,d) aufweisen. Die Formanalyse hat ergeben, dass erst der zweite, genauere Blick auf das Gedicht die kunstvolle Gestaltung offenbart. Allerdings wird auch deutlich, dass der Dichter mit der auffälligen 7. Zeile dem Leser einen deutlichen Hinweis geben wollte. Wenden wir uns im Folgenden dem Inhalt und der Sprachverwendung zu. Der sachliche Titel des Gedichtes, „Er ist’s“, verrät nichts über Thema und Inhalt; er soll die Neugierde des Lesers wecken und zum Lesen auffordern. Das Gedicht beginnt mit Beschreibungen von Naturwahrnehmungen (Z. 1 – 4), wobei schon zugleich deutlich wird, dass nicht die äußeren Naturerscheinungen im Zentrum stehen, sondern die subjektive Wahrnehmung des lyrischen Ich. Denn die Vorboten des Frühlings sind Sinneseindrücke, die durch Auge, Geruch und Gehör vermittelt werden. Bestätigt wird diese subjektive Wahrnehmung durch eine metaphorische Sprache, die im Leser bekannte Bilder und Assoziationen der ersehnten Jahreszeit lebendig werden lässt. Zunächst wird die Farbe des Frühlings angesprochen. Dabei wird der Frühling personifiziert und mit zwei Qualitäten ausgestattet. Die schon erwähnte Farbe ist mit der Metapher „blaues Band“ beschrieben; blau deutet auf die Himmelsfarbe, das Band zeigt das Umfassende, das alles Verbindende an. In Verbindung mit dem blauen Band steht die Verbmetapher „flattert“ (Z. 2). Das Flattern spiegelt das sanfte, aber entschlossene Heranrücken des Frühlings wie das Flattern einer Siegesfahne. Auch die zweiten Vorboten des Frühlings, die „Düfte“, sind personifiziert. Sie sind mit aufwertenden Adjektiven („süße, wohlbekannte“) versehen und ihr Tun in eine Verbmetapher („streifen“) gekleidet, die zudem mit einer auffälligen Modalbestimmung („ahnungsvoll“) verstärkt wird. Diese Wortwahl unterstreicht die positiven Erwartungen, die der Frühling weckt, und lässt eine romantische Stimmung anklingen. Während die Zeilen 1 – 4 Sinneseindrücke widerspiegeln, wird in den folgenden zwei Zeilen ein konkretes Frühlingsphänomen bzw- -symbol angesprochen. Auch die „Veilchen“ (Z. 5) sind personifiziert, ihnen wird ein menschliches Erleben („träumen“) 236 und ein Bestreben zugesprochen: Sie drängen danach, sich endlich zu zeigen als Fanale der heranrückenden Jahreszeit. Natürlich soll der Leser hierbei die Farbe und den Duft der Veilchen als Bestätigung des in Z. 1 – 4 Gesagten entdecken. Die schon mehrfach angesprochene 7. Zeile beginnt mit einem Gedankenstrich, sozusagen die Ruhe vor dem Sturm oder hier: ein Innehalten vor der entscheidenden Gewissheit. Wir, die Leser, werden angesprochen und mit einem Imperativ (Horch“) aufgefordert, unsere ganze Konzentration auf unser Gehör zu richten, um aus der Ferne einen „Harfenton“ zu vernehmen. Es ist nur „ein leiser Harfenton“, weshalb man ihn nur äußerst konzentriert wahrnehmen kann. Die Wortwahl „Harfenton“ soll in uns alle Assoziationen hervorrufen, die sich mit dem vornehen, erhabenen Instrument verbinden. Die akustische Wahrnehmung wird hier zur Gewissheit. Alles, was zuvor gesagt wurde, sind Ahnungen, sinnliche Vorboten des Frühlings. Der Harfenton ist der Beweis für den endgültigen Einzug des Frühlings. Um dieses Ende des sehnsüchtigen Wartens, um die endgültige Gewissheit, um die erhoffte Erlösung besonders deutlich herauszuheben, ist diese Verszeile auch formal zweifach herausgehoben (Verslänge, Waise). Nach dieser Gewissheit, nach dem Beweis des Frühlings entläd sich die Freude des lyrische Ich in einem enthusiastischen Ausruf (Z. 8, 9). Der Frühling wird dreimal angesprochen, die Gewissheit bestätigt („ja du bist’s“) und nochmals wiederholt (Z. 9). Wieder wird der Frühling personifiziert, er wird direkt angesprochen und überschwänglich begrüßt. Der Enthusiasmus des lyrischen Ich wird auch mit den drei Ausrufezeichen jeweils am Ende der letzten drei Zeilen unterstrichen. Die Analyse hat ergeben, dass es sich bei dem Gedicht nicht um reine Naturlyrik handelt. Denn die äußere Veränderung in der Natur wird hier als innere seelische Erfahrung erlebt. Nicht die Natur steht hier im Zentrum, sondern das innere Erlebnis des lyrischen Ich. Der Vorfrühling ist Anlass, Auslöser, er wird erlebt als übermächtiges, lebendiges Wesen (Personifikation), das unser Gemüt für Sinneseindrücke öffnet, die unmittelbar das seelisch-geistige Empfinden anrühren. Die Veränderungen in der Natur beim Übergang vom Winter zum Frühling finden ihre Entsprechung in den Veränderungen im Menschen. In seinem Inneren erlebt er das, was in der äußeren Natur geschieht. Es ist klar, dass eine solche Betrachtungsweise aus einer Zeit stammen muss, in der der Mensch–Natur-Zusammenhang als ein unmittelbarer gesehen wurde. Der Mensch ist hier Teil der Natur und in ihr aufgehoben. Die Natur ist nicht Objekt, sondern ein göttlicher, allumfassender Organismus, der sich im Subjekt spiegelt. Diese Denkweise finden wir in der Empfindsamkeit, beim jungen Goethe, bei Klopstock u.a., aber vor allen in der Romantik. Auch wenn Mörike in der Literaturgeschichte in die Biedermeier-Epoche eingeordnet wird, so muss beim vorliegenden Gedicht gesagt werden, dass es sich um ein romantisches Gedicht handelt. Dafür sprechen die Wahl des Themas (Mensch-Natur), die Wahl des Genres (Erlebnislyrik), die metaphorische Sprache, hier besonders die Verwendung von „ahnungsvoll“ (Ahnung oder Ahndung ist ein Hochwertbegriff der Romantik) und nicht zuletzt die Intention des Gedichtes. 237 Ludwig Heinrich Christoph Hölty Frühlingslied Die Luft ist blau, das Tal ist grün, Die kleinen Maienglocken blühn Und Schlüsselblumen drunter; Der Wiesengrund Ist schon so bunt Und malt sich täglich bunter. Drum komme, wem der Mai gefällt Und freue sich der schönen Welt Und Gottes Vatergüte, Die solche Pracht Hervorgebracht, Den Baum und seine Blüte. Ludwig Uhland Frühlingsglaube Die linden Lüfte sind erwacht, Sie säuseln und weben Tag und Nacht, Sie schaffen an allen Enden. O frischer Duft, o neuer Klang! Nun, armes Herze, sei nicht bang! Nun muss sich alles, alles wenden. Die Welt wird schöner mit jedem Tag, Man weiß nicht, was noch werden mag, Das Blühen will nicht enden. Es blüht das fernste, tiefste Tal : Nun, armes Herz, vergiss die Qual! Nun muss sich alles, alles wenden. Rainer Maria Rilke Vorfrühling Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung An der Wiesen aufgedecktes Grau. Kleine Wasser ändern die Betonung. Zärtlichkeiten, ungenau, Greifen nach der Erde aus dem Raum. Wege gehen weit ins Land und zeigen’s. Unvermutet siehst du seines Steigens Ausdruck in dem leeren Baum Friedrich Hölderlin 238 Hälfte des Lebens Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Weh mir, wo nehm ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. Rainer Maria Rilke Herbsttag Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, Und auf den Fluren lass die Winde los. Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; Gib ihnen noch zwei südlichere Tage, Dränge sie zur Vollendung hin und jage Die letzte Süße in den schweren Wein. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben Und wird in den Alleen hin und her Unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. Oktoberlied Theodor Storm Der Nebel steigt, es fällt das Laub; Schenk ein den Wein, den holden! Wir wollen uns den grauen Tag Vergolden, ja vergolden! Und geht es draußen noch so toll, Unchristlich oder christlich, Ist doch die Welt, die schöne Welt, So gänzlich unverwüstlich! 239 Und wimmert auch einmal das Herz, Stoß an und lass es klingen! Wir wissen’s doch, ein rechtes Herz Ist gar nicht umzubringen. Der Nebel steigt, es fällt das Laub; Schenk ein den Wein, den holden! Wir wollen uns den ganzen Tag Vergolden, ja vergolden! Wohl ist es Herbst; doch warte nur, Doch warte nur ein Weilchen! Der Frühling kommt, der Himmel lacht, Es steht die Welt in Veilchen. Die blauen Tage brechen an, Und ehe sie verfließen, Wir wollen sie, mein wackrer Freund, Genießen, ja Genießen! Verfall Georg Trakl Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten, Folg ich der Vögel wundervollen Flügen, Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen, Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten. Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten Träum ich nach ihren helleren Geschicken Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken. So folg ich über Wolken ihren Fahrten. Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern. Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen. Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern, Indes wie blasser Kinder Todesreigen Um dunkle Brunnenränder, die verwittern, Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen. Mondnacht Joseph von Eichendorff Es war, als hätt der Himmel Die Erde still geküsst, Dass sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müsst. 240 Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten leis die Wälder, So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus. Der Panther Rainer Maria Rilke Im Jardin des Plantes, Paris Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe So müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe Und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, Der sich im allerkleinsten Kreise dreht, Ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, In der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille Sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, Geht durch der Glieder angespannte Stille Und hört im Herzen auf zu sein. Fragen eines lesenden Arbeiters Bertolt Brecht Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Und das mehrmals zerstörte Babylon Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war Die Maurer? Das große Rom Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang, Die Ersaufenden nach ihren Sklaven. Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? 241 Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte Untergegangen war. Weinte sonst niemand? Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer Siegte außer ihm? Jede Seite ein Sieg. Wer kochte den Siegesschmaus? Alle zehn Jahre ein großer Mann. Wer bezahlte die Spesen? So viele Berichte. So viele Fragen. Kurt Marti Eine Leichenrede als sie mit zwanzig ein kind erwartete wurde ihr heirat befohlen als sie geheiratet hatte wurde ihr verzicht auf alle studienpläne befohlen als sie mit dreißig noch unternehmenslust zeigte wurde ihr dienst im haus befohlen als sie mit vierzig noch einmal zu leben versuchte wurde ihr anstand und tugend befohlen als sie mit fünfzig verbraucht und enttäuscht war zog ihr mann zu einer jüngeren frau liebe gemeinde wir befehlen zu viel wir gehorchen zu viel wir leben zu wenig 242 Ingeborg Bachmann Reklame Wohin aber gehen wir ohne sorge sei ohne sorge wenn es dunkel und wenn es kalt wird sei ohne sorge aber mit musik was sollen wir tun heiter und mit musik und denken heiter angesichts eines Endes mit musik und wohin tragen wir am besten unsere Fragen und den Schauer aller Jahre in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge was aber geschieht am besten wenn Totenstille eintritt Karl Krolow Müdigkeit Die Luft ist heißgebackener Staub. Mit verklebtem Auge lebt schattenlos die Müdigkeit. Langsam fällt eine Hand aus der Tasche zu Boden. Die mit Wasser begossenen Blätter erinnern an Grün. Vergeblich versuche ich, eine Beziehung herzustellen zwischen einer stillstehenden Uhr und dem Licht. 243 Textsorte Balladen Johann Wolfgang von Goethe Der Erlkönig Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlkönig mit Kron’ und Schweif? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. „Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir; Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand, Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“ Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind! In dürren Blättern säuselt der Wind. „Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn, Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau Es scheinen die alten Weiden so grau. „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“ Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind, Er hält in den Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Müh und Not In seinen Armen das Kind war tot. 244 Johann Wolfgang von Goethe Der Zauberlehrling Ach! Und hundert Flüsse Stürzen auf mich ein. Nein, nicht länger Kann ich’s lassen; Will ihn fassen. Das ist Tücke! Ach, nun wird mir immer bänger! Welche Miene, welche Blicke! Hat der alte Hexenmeister Sich doch einmal wegbegeben! Und nun sollen seine Geister Auch nach meinem Willen leben. Seine Wort’ und Werke Merkt’ ich und den Brauch, Und mit Geistesstärke Tu’ ich Wunder auch. Walle! Walle Manche Strecke, Dass zum Zwecke Wasser fließe Und mit reichem, vollem Schwalle Zu dem Bade sich ergieße. O, du Ausgeburt der Hölle! Soll das ganze Haus ersaufen? Seh’ ich über jede Schwelle Doch schon Wasserströme laufen. Ein verruchter Besen, Der nicht hören will! Stock, der du gewesen, Steh doch wieder still! Willst’s am Ende Gar nicht lassen? Will dich fassen, Will dich halten Und das alte Holz behände Mit dem scharfen Beile spalten. Und nun komm, du alter Besen! Nimm die schlechten Lumpenhüllen; Bist schon lange Knecht gewesen; Nun erfülle meinen Willen! Auf zwei Beinen stehe, Oben sei ein Kopf, Eile nun und gehe Mit dem Wassertopf! Walle! Walle Manche Strecke, Dass zum Zwecke Wasser fließe Und mit reichem, vollem Schwalle Zu dem Bade sich ergieße. Seht, da kommt er schleppend wieder! Wie ich mich nur auf dich werfe, Gleich, o Kobold, liegst du nieder; Krachend trifft die glatte Schärfe. Wahrlich! Brav getroffen! Seht, er ist entzwei! Und nun kann ich hoffen. Und ich atme frei. Wehe! Wehe! Beide Teile Stehn in Eile Schon als Knechte Völlig fertig in die Höhe! Helft mir, ach! Ihr hohen Mächte! Seht, er läuft zum Ufer nieder; Wahrlich! Ist schon an dem Flusse, Und mit Blitzesschnelle wieder Ist er hier mit raschem Gusse Schon zum zweiten Male! Wie das Becken schwillt! Wie sich jede Schale Voll mit Wasser füllt! Stehe! Stehe! Denn wir haben Deiner Gaben Vollgemessen! Ach, ich merk’ es! Wehe! Wehe! Hab’ ich doch das Wort vergessen! Und sie laufen! Nass und nässer Wird’s im Saal und auf den Stufen. Welch entsetzliches Gewässer! Herr und Meister! Hör mich rufen! Ach, da kommt der Meister! Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, Wird ich nun nicht los. “ In die Ecke, Besen, Besen! Seid’s gewesen! Denn als Geister Ruft euch nur zu seinem Zwecke Erst hervor der alte Meister." Ach! das Wort, worauf am Ende Er das wird, was er gewesen. Ach, er läuft und bringt behände! Wärst du doch der alte Besen! Immer neue Güsse Bringt er schnell herein, 245 Friedrich Schiller Die Bürgschaft Da stößt kein Nachen vom sichern Strand, Der ihn setze an das gewünschte Land, Kein Schiffer lenket die Fähre, Und der wilde Strom wird zum Meere. Zu Dionys, dem Tyrannen schlich Damon, den Dolch im Gewande; Ihn schlugen die Häscher in Bande. „Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!“ Entgegnet ihm finster der Wüterich. „Die Stadt vom Tyrannen befreien!“ „Das sollst du am Kreuze bereuen.!“ - Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht, Die Hände zum Zeus erhoben: „O hemme des Stromes Toben! Es eilen die Stunden, im Mittag steht Die Sonne, und wenn sie niedergeht Und ich kann die Stadt nicht erreichen, So muss der Freund mir erbleichen.“ „Ich bin“, spricht jener, „zu sterben bereit Und bitte nicht um mein Leben; Doch willst du Gnade mir geben, Ich flehe dich um drei Tage Zeit, Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit; Ich lasse den Freund dir als Bürgen Ihn magst du, entrinn ich, erwürgen.“ Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut, Und Welle auf Welle zerrinnet, Und Stund an Stunde entrinnet. Da treibt ihn die Angst, da fasst er sich Mut Und wirft sich hinein in die brausende Flut, Und teilt mit gewaltigen Armen Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen. Da lächelt der König mit arger List Und spricht nach kurzem Bedenken: „Drei Tage will ich dir schenken. Doch wisse, wenn verstrichen, die Frist, Eh du zurück mir gegeben bist, So muss er statt deiner erblassen, Doch dir ist die Strafe erlassen.“ Und gewinnt das Ufer und eilet fort Und danket dem rettenden Gotte; Da stürzet die raubende Rotte Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort, Den Pfad ihm sperrend, und schnaubet Mord Und hemmt des Wanderers Eile Mit drohend geschwungener Keule. Und er kommt zum Freunde: „Der König gebeut, Dass ich am Kreuz mit dem Leben Bezahle das frevelnde Streben; Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit, Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit. So bleib du dem König zum Pfande, Bis ich komme, zu lösen die Bande.“ „Was wollt ihr?“, ruft er, vor Schrecken bleich, „Ich habe nichts als mein Leben, Das muss ich dem Könige geben!“ Und entreißt die Keule dem nächsten gleich: „Um des Freundes willen erbarmet euch!“ Und drei mit gewaltigen Streichen Erlegt er, die andern entweichen. Und schweigend umarmt ihn der treue Freund Und liefert sich aus dem Tyrannen, Der andere ziehet von dannen. Und ehe das dritte Morgenrot scheint, Hat er schnell dem Gatten die Schwester vereint, Eilt heim mit sorgender Seele, Damit er die Frist nicht verfehle. Da gießt unendlicher Regen herab, Von den Bergen stürzen die Quellen, Und die Bäche, die Ströme schwellen. Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab Da reißet die Brücke der Strudel hinab, Und donnernd sprengen die Wogen Des Gewölkes krachenden Bogen. Und die Sonne versendet glühenden Brand, Und von der unendlichen Mühe Ermattet sinken die Kniee: „O hast du mich gnädig aus Räubershand, Aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land, Und soll hier verschmachtend verderben, Und der Freund mir , der liebende, sterben!“ Und trostlos irrt er an Ufers Rand; Wie weit er auch spähet und blicket Und die Stimme, die rufende schicket - Und horch! Da sprudelt es silberhell Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen, Und stille hält er, zu lauschen; 246 Ein Retter, willkommen erscheinen, So soll mich der Tod ihm vereinen. Des rühme der blutge Tyrann sich nicht, Dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht, Er schlachte der Opfer zweie Und glaube an Liebe und Treue!“ Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell, Springt murmelnd hervor ein lebendigerQuell, Und freudig bückt er sich nieder Und erfrischet die brennenden Glieder. Und die Sonne blickt durch der Zweige Grün Und malt auf den glänzenden Matten Der Bäume gigantischen Schatten; Und zwei Wanderer sieht er die Straße ziehn, Will eilenden Laufes vorüber flieht, Da hört er die Worte sie sagen: „Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen.“ Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor Und sieht das Kreuz schon erhöhet, Das die Menge gaffend umstehet; An dem Seile schon zieht man den Freund empor, Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor: „Mich, Henker!“, ruft er, „erwürget! Da bin ich, für den er gebürget!“ Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß, Ihn jagen der Sorgen Qualen; Da schimmern in Abendrots Strahlen Von fern die Zinnen von Syrakus, Und entgegen kommt ihm Philostratus, Des Hauses redlicher Hüter Der erkennt entsetzt den Gebieter: Und Erstaunen ergreift das Volk umher, In den Armen liegen sich beide Und weinen vor Schmerzen und Freude. Da sieht man kein Auge tränenleer, Und zum König bringt man die Wundermär; Der fühlt ein menschliches Rühren, Lässt schnell vor den Thron sie führen. „Zurück! Du rettest den Freund nicht mehr, So rette das eigene Leben! Den Tod erleidet er eben. Von Stunde zu Stunde gewartet’ er Mit hoffender Seele der Wiederkehr, Ihm konnte den mutigen Glauben Der Hohn des Tyrannen nicht rauben.“ - Und blicket sie lange verwundert an; Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen, Ihr habt das Herz mir bezwungen, Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn So nehmet auch mich zum Genossen an. Ich sei, gewährt mir die Bitte, In eurem Bunde der Dritte.“ „Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht, Annette von Droste-Hülshoff Der Knabe im Moor O schaurig ist's übers Moor zu gehn, Wenn es wimmelt vom Heiderauche, Sich wie Phantome die Dünste drehn Und die Ranke häkelt am Strauche, Unter jedem Tritte ein Quellchen springt, Wenn aus der Spalte es zischt und singt, O schaurig ist's übers Moor zu gehn, Wenn das Röhricht knistert im Hauche! Vom Ufer starret Gestumpf hervor, Unheimlich nicket die Föhre, Der Knabe rennt, gespannt das Ohr, Durch Riesenhalme wie Speere; Und wie es rieselt und knittert darin! Das ist die unselige Spinnerin, Das ist die gebannte Spinnlenor', Die den Haspel dreht im Geröhre! Fest hält die Fibel das zitternde Kind Und rennt als ob man es jage; Hohl über der Fläche sauset der Wind Was raschelt da drüben im Hage? Das ist der gespentische Gräberknecht, Der dem Meister die besten Torfe verzecht; Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind! Hinducket das Knäblein zage. Voran, voran! Nur immer im Lauf, Voran, als woll' es ihn holen; Vor seinem Fuße brodelt es auf, Es pfeift ihm unter den Sohlen Wie eine gespenstige Melodei; Das ist der Geigemann ungetreu, 247 Ein Gräber im Moorgeschwehle. Das ist der diebische Fiedler Knauf, Der den Hochzeitheller gestohlen! Da mählich gründet der Boden sich, Und drüben, neben der Weide, Die Lampe flimmert so heimatlich, Der Knabe steht an der Scheide. Tief atmet er auf, zum Moor zurück Noch immer wirft er den scheuen Blick: Ja, im Geröhre war's fürchterlich, O schaurig war's in der Heide! Da birst das Moor, ein Seufzer geht Hervor aus der klaffenden Höhle; Weh, weh, da ruft die verdammte Margret: "Ho, ho, meine arme Seele!" Der Knabe springt wie ein wundes Reh, Wär nicht Schutzengel in seiner Näh', Seine bleichenden Knöchelchen fände spät Heinrich Heine Belsazar Nur oben in des Königs Schloss, Da flackert's, da lärmt des Königs Tross. Und der König ergriff mit frevler Hand Einen heiligen Becher, gefüllt bis am Rand. Und er leert ihn hastig bis auf den Grund Und ruft laut mit schäumendem Mund: Dort oben in dem Königssaal Belsazar hielt sein Königsmahl. "Jehovah! dir künd ich auf ewig Hohn Ich bin der König von Babylon!" Die Knechte saßen in schimmernden Reihn Und leerten die Becher mit funkelndem Wein. Doch kaum das grause Wort verklang, Dem König ward's heimlich im Busen bang. Die Mitternacht zog näher schon; In stummer Ruh lag Babylon. Das gellende Lachen verstummte zumal; Es wurde leichenstill im Saal. Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht; So klang es dem störrigen Könige recht. Und sieh! und sieh! an weißer Wand Das kam's hervor, wie Menschenhand; Des Königs Wangen leuchten Glut; Im Wein erwuchs ihm kecker Mut. Und schrieb, und schrieb an weißer Wand Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand. Und blindlings reißt der Mut ihn fort; Und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort. Der König stieren Blicks da saß, Mit schlotternden Knien und totenblass. Und er brüstet sich frech und lästert wild; Die Knechtenschar ihm Beifall brüllt. Die Knechtschar saß kalt durchgraut, Und saß gar still, gab keinen Laut. Der König rief mit stolzem Blick; Der Diener eilt und kehrt zurück. Die Magier kamen, doch keiner verstand Zu deuten die Flammenschrift an der Wand. Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt; Das war aus dem Tempel Jehovahs geraubt. Belsazar ward aber in selbiger Nacht Von seinen Knechten umgebracht. 248 Theodor Fontane Die Brück’ am Tay (28. Dezember 1879) meet again? When shall we three Macbeth „Wann treffen wir drei wieder zusamm'?“ „Um die siebente Stund', am Brückendamm.“ „Am Mittelpfeiler.“ „Ich lösche die Flamm'.“ „Ich mit.“ „Ich komme vom Norden her.“ „Und ich von Süden.“ „Und ich vom Meer.“ „Hei, das gibt einen Ringelreihn, Und die Brücke muss in den Grund hinein.“ „Und der Zug, der in die Brücke tritt Um die siebente Stund'?“ „Ei der muss mit.“ „Muss mit.“ „Tand, Tand, Ist das Gebilde von Menschenhand!“ Auf der Norderseite, das Brückenhaus Alle Fenster sehen nach Süden aus, Und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh Und in Bangen sehen nach Süden zu, Sehen und warten, ob nicht ein Licht Übers Wasser hin „ich komme“ spricht, „Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug, Ich, der Edinburger Zug.“ Und der Brückner jetzt: „Ich seh einen Schein Am anderen Ufer. Das muss er sein. Nun Mutter, weg mit dem bangen Traum, Unser Johnie kommt und will seinen Baum, Und was noch am Baume von Lichtern ist, Zünd' alles an wie zum heiligen Christ, Der will heuer zweimal mit uns sein Und in elf Minuten ist er herein.“ Und es war der Zug. Am Süderturm Keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm, Und Johnie spricht:“Die Brücke noch! Aber was tut es, wir zwingen es doch. Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf, Die bleiben Sieger in solchem Kampf, Und wie's auch rast und ringt und rennt, Wir kriegen es unter, das Element. 249 Und unser Stolz ist unsre Brück'; Ich lache, denk ich an früher zurück, An all den Jammer und all die Not Mit dem elend alten Schifferboot; Wie manche liebe Christfestnacht Hab ich im Fährhaus zugebracht, Und sah unsrer Fenster lichten Schein, Und zählte und konnte nicht drüben sein.“ Auf der Norderseite, das Brückenhaus Alle Fenster sehen nach Süden aus, Und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh Und in Bangen sehen nach Süden zu; Denn wütender wurde der Winde Spiel, Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel, Erglüht es in niederschießender Pracht Überm Wasser unten ... Und wieder ist Nacht. „;Wann treffen wir drei wieder zusamm'?“ „Um Mitternacht, am Bergeskamm.“ „Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm.“ Ich komme.“ „Ich mit.“ „Ich nenn euch die Zahl.“ „Und ich die Namen.“ „Und ich die Qual.“ „Hei! Wie Splitter brach das Gebälk entzwei!“ „Tand, Tand, Ist das Gebilde von Menschenhand.“ Wolf Biermann Ballade auf den Dichter FranÇois Villon 1 Mein großer Bruder Franz Villon Wohnt bei mir mit auf Zimmer Wenn Leute bei mir schnüffeln gehn Versteckt Villon sich immer Dann drückt er sich in’ Kleiderschrank Mit einer Flasche Wein Und wartet bis die Luft rein ist Die Luft ist nie ganz rein Er stinkt, der Dichter, blumensüß Muss er gerochen haben Bevor sie ihn vor Jahr und Tag Wie’n Hund begraben haben Wenn mal ein lieber Freund da ist Vielleicht drei schöne Fraun Dann steigt er aus dem Kleiderschrank Und trinkt bis morgengraun Und singt vielleicht auch mal ein Lied Balladen und Geschichten Vergisst er seinen Text, soufflier Ich ihm aus Brechts Gedichten 2 Mein großer Bruder Franz Villon War oftmals in den Fängen Der Kirche und der Polizei Die wollten ihn aufhängen Und er erzählt, er lacht und weint Die dicke Margot dann Bringt jedesmal zum Fluchen Den alten dicken Mann 250 Ich wüsste gern, was die ihm tat Doch will ich nicht drauf drängen Ist auch schon lange her Er hat mit seinen Bittgesängen Mit seinen Bittgesängen hat Villon sich oft verdrückt Aus Schuldturm und aus Kerkerhaft Das ist ihm gut geglückt Mit seinen Bittgesängen zog Er sich oft aus der Schlinge Er wollt nicht, dass sein Hinterteil Ihm schwer am Halse hinge Drei Pfund Patronenblei Und flucht und spuckt und ist doch voll Verständnis für uns zwei 5 Natürlich kam die Sache raus Es lässt sich nichts verbergen In unserm Land ist Ordnung groß Wie bei den sieben Zwergen Es schlugen gegen meine Tür Am Morgen früh um 3 Drei Herren aus dem großen Heer Der Volkespolizei „Herr Biermann“ - sagten sie zu mir „Sie sind uns wohl bekannt Als treuer Sohn der DDR Es ruft das Vaterland Gestehen Sie uns ohne Scheu Wohnt nicht seit einem Jahr Bei Ihnen ein gewisser Franz Fillonk mit rotem Haar? Ein Hetzer, der uns Nacht für Nacht In provokanter Weise Die Grenzsoldaten bange macht!“ - ich antworte leise: 3 Die Eitelkeit der höchsten Herrn Konnt meilenweit er riechen Verewigt hat er manchen Arsch In den er musste kriechen Doch scheißfrech war FranÇois Villon Mein großer Zimmergeist Hat er nur freie Luft und roten Wein geschluckt, geprasst Dann sang er unverschämt und schön Wie Vögel frei im Wald Beim Lieben und beim Klauengehn Nun sitzt er da und lallt Der Wodkaschnaps aus Adlershof Der drückt ihn aufs Gehirn Mühselig liest er das „ND“ (Das Deutsch tut ihn verwirrn) Zwar hat man ihn als Kind gelehrt Das hohe Schul-Latein Als Mann jedoch ließ er sich mehr Mit niederm Volke ein 6 „Jawohl, er hat mich fast verhetzt Mit seinen frechen Liedern Doch sag ich Ihnen im Vertraun: Der Schuft tut mich anwidern! Hätt ich in diesen Tagen nicht Kurellas Schrift gelesen Von Kafka und der Fledermaus Ich wär verlorn gewesen Er sitzt im Schrank, der Hund Ein Glück, dass Sie ihn endlich holn Ich lief mir seine Frechheit längst ab von den Kindersohln Ich bin ein frommer Kirchensohn Ein Lämmerschwänzchen bin ich Ein stiller Bürger. Blumen nur In Liedern sanft besing ich.“ 4 Besuch mich abends mal Marie Dann geht Villon solang Spazieren auf der Mauer und Macht dort die Posten bang Die Kugeln gehen durch ihn durch Doch aus den Löchern fließt Bei Franz Villon nicht Blut heraus Nur Rotwein sich ergießt Dann spielt er auf dem Stacheldraht Aus Jux die große Harfe Die Grenzer schießen Rhythmus zu Verschieden nach Bedarfe Erst wenn Marie mich gegen früh Fast ausgetrunken hat Und steht Marie ganz leise auf Zur Arbeit in die Stadt Dann kommt Villon und hustet wild Die Herren von der Polizei Erbrachen dann den Schrank Sie fanden nur Erbrochenes Das mählich niedersank 251 252 1.1.3. Die Dramatik Formen des Dramas: 1. Tragödie Griechische Tragödie Klassische Tragödie Historisches Ideendrama Bürgerliches Trauerspiel Soziales Drama Schauspiel 4. Lustspiel Comedie larmoyante Unterhaltungslustspiel Romantisches Lustspiel Konversationslustspiel Dramatischer Schwank 5. Sonderformen 2. Komödie Volksstück Antike Komödie Charakterkomödie Intrigenkomödie Situationskomödie Dramatische Satire Tendenzstück Formen in Verbindung mit Musik: Singspiel Operette Oper Musical 3. Tragikomödie Hörspiel Film Fernsehspiel Drama ist der Oberbegriff für die dichterische Gestaltung eines durch Rollenträger vorgeführten Geschehens. Ein Drama ist in Redeform (Dialog, Monolog) geschrieben; es ist eine Sprechhandlung. Der Sprechtext kann durch erklärende Informationen und Regieanweisungen ergänzt werden, z.B. wann und wo eine Handlung spielt, wie sich der Autor die Bühnengestaltung vorstellt usw. Diese Informationen gehören nicht zum Sprechtext, sondern richten sich an den Regisseur, an die Schauspieler. Ein Drama unterteilt sich in Akte und Szenen bzw. Szenenfolgen. Im klassischen Drama besteht ein Akt aus mehreren Szenen. Szenen können durch Ortswechsel oder Personenwechsel voneinander abgegrenzt sein. Die deutsche Bezeichnung „Auftritt“ besagt, dass Personen abtreten und andere auftreten. Ein Drama wird primär für die Aufführung auf einer Bühne vor einem Publikum verfasst, nicht zum Lesen. Die Inszenierung gehört wesentlich zu einem Drama; dennoch ist jede Inszenierung eine Interpretation des Dramas. Hält ein Regisseur sich eng an die Gestaltungsvorstellungen (Regieanweisungen) des Autors, spricht man vor einer „werkgetreuen“ Inszenierung. Der Dramentext des Autors kann aber auch als Vorlage für eine „neue“ oder „aktualisierte“ Aufführung des Dramenstoffes dienen. Im Mittelpunkt des Dramas steht die Handlung. Im Unterschied zu einer Romanhandlung wird eine Dramenhandlung nicht durch einen vermittelnden Erzähler wiedergegeben, sondern von Schauspielern (Handlungs- oder Rollenträger), die bestimmte Personen der Handlung darstellen. 253 Die Handlung wird durch handelnde Personen dargestellt und ausgeführt. Diese Personen verkörpern bestimmte Typen oder Charaktere, was sich in ihren Äußerungen und Handlungen zeigt. Ein Typus oder Typ ist durch einseitige Betonung eines oder weniger Merkmale festgelegt und „geprägt“ (z.B. der Narr). Ein Charakter umfasst die gesamte Persönlichkeit eines Menschen, seine Individualität; dies gilt auch für die Bühnefiguren, wenn sie nicht als Typen, sondern als individuell gestaltete Personen auftreten. Charaktere sind vielschichtig; ihre Entscheidungen hängen von vielen Überlegungen ab. Das macht eine Dramenhandlung eigentlich erst spannend. Die Hauptfigur ist der „Held“ im Drama; sie bestimmt den Handlungsverlauf ganz entscheidend. Häufig steht dem Helden ein Gegenspieler gegenüber. Der Held kann ein „aktiver Held“ sein (bestimmt bzw. beeinflusst die Handlung); er kann ein „passiver Held“ sein (Opfer der Verhältnisse). Held kann auch eine soziale Gruppe sein (z.B. „Die Weber“); dann spricht man vom „kollektiven Helden“. Dramen können in Versform oder in Prosa geschrieben sein; die Sprache kann poetisch gestaltet oder alltägliche Umgangssprache sein. Die Sprechweise einer Person, wie sie sich ausdrückt, wie sie argumentiert, dient der Charakterisierung dieser Person. Die Bühne ist der Spielort der Handlung; sie ist nicht die Wirklichkeit, sondern Ersatzort für die Wirklichkeit; sie besitzt jedoch eine Eigenwirklichkeit, die durch ihre Gestaltung (Bühnenbild, Kulisse, Requisiten usw.) zum Ausdruck kommt. Wichtige Begriffe in der Dramatik Akt (lat.: Handlung) : Ein Drama ist meistens in Akte eingeteilt; die häufigsten Formen sind das dreiaktige und das fünfaktige Drama, bei einer kürzeren Handlung kann das Stück auch nur aus einem Akt (Einakter) bestehen. Der Akt ist ein in sich geschlossener größerer Handlungsabschnitt innerhalb der Gesamthandlung, der in der Regel in Szenen unterteilt ist. Charakter (griech.: eingeritztes Merkmal) : Charakter meint die Individualität oder Persönlichkeit eines Menschen, wie sie sich gibt und handelt. Im Drama unterscheidet man zwischen Typus und Charakter. Der Typus ist leicht erkennbar entweder äußerlich durch seine Kleidung und sein Auftreten oder durch die ihm zugewiesene Rolle. Typus meint ein vereinfachter oder festgelegter Charakter (z.B. Typus des Harlekins). Der Charakter kann dagegen vielschichtig sein; zwar mögen einzelne markante Eigenarten überwiegen, aber er ist nicht so schnell und einfach festlegbar wie ein Typus. Gerade die Unvorhersagbarkeit seines Handelns und seiner Reaktion gibt der dramatischen Darstellung ihre Spannung. Dialog (griech.: Unterredung, Wechselgespräch) Dialog meint das Wechselgespräch oder den Gedankenaustausch zwischen zwei oder mehreren Personen. Ziel dabei kann sein, sich gegenseitig zu informieren oder einen Konflikt zu lösen. Für das Erreichen des Gesprächsziels ist es wichtig, wie die Teilnehmer sich zueinander verhalten, ob sie zuhören können oder nur blind ihre Meinung vortragen, ob sie sich gegenseitig als gleichberechtigte Partner anerkennen oder jeder nur von oben her redet; wichtig ist also die Beziehungsebene. 254 Epilog (griech.: Schlussrede): Im Epilog - wie auch im Prolog - wendet sich ein Sprecher, der als Schauspieler oder als eine andere Person aus dem Stück auftreten kann, an das Publikum mit den möglichen Absichten: Ein Schauspieler oder der Theaterdirektor bedankt sich für das Interesse der Zuschauer und hängt noch eine kleine „Moral“ an den Ausgang der Handlung. Der Autor rechtfertigt seine Interpretation des Ausgangs der Handlung. Das Stück endet offen, ohne einen befriedigenden Schluss; das Publikum wird aufgefordert, sich selbst Gedanken zu machen, wie der Konflikt gelöst werden könnte. Exposition (lat.: Darlegung, erklärende Einführung) : Die Exposition ist ein wichtiger Bestandteil des Dramas; sie eröffnet sozusagen die Handlung. In ihr wird die Ausgangssituation bzw. Vorgeschichte der Handlung dargestellt, die Personen und ihre Beziehungen vorgestellt, die Konfliktlage aufgezeigt. In den meisten Stücken ist die Exposition mit dem ersten Akt abgeschlossen. Fabel (lat.: Erzählung) : Der Begriff Fabel hat zwei Bedeutungen: Zum einen bezeichnet sie die epischen Kleinform (Tiere als Handlungsträger), zum anderen meint Fabel eine kurze, prägnante Information über das Handlungsschema und die Kernaussage einer Erzählung oder eines Dramas, also eine extrem verdichtete Information über Thema und Motiv (nicht Inhalt) auf die Frage: Worum geht es in der Geschichte bzw. Handlung? (Beispiel: In Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ geht es um die Verführbarkeit zuvor rechtschaf-fender Bürger zu Rechtsbeugung und sogar zu Mord durch die Aussicht auf eine stattliche Belohnung, die den wirtschaftlichen Nöten ein Ende setzen könnte). Handlung : Im Unterschied zu einer Romanhandlung wird eine Dramenhandlung nicht durch einen vermittelnden Erzähler wiedergegeben, sondern von Schauspielern, die bestimmte Personen der Handlung darstellen, vor einem Publikum auf der Bühne in einer bestimmten zeitlichen Länge aufgeführt. Das bedeutet, der Autor muss die gesamte Handlung in Redeform niederschreiben, denn die sichtbaren und hörbaren Handlungsträger sind die Gestalten auf der Bühne. Das Publikum ist in seinem Verständnis der Handlung auf das angewiesen, was auf der Bühne geschieht. Held : Der Held ist die Hauptfigur in einem Drama; oft erscheint er schon im Titel. Er kann - muss nicht - der bestimmende Handlungsführer sein, dann ist er der Motor des Geschehens, der mit seinen Entscheidungen, Aktionen und Reaktionen die Handlung bestimmt. Der Held kann aber auch das Opfer der Verhältnisse sein, kann passiver und tragischer Held (Antiheld) werden. Inszenierung : Selten ist der Autor eines Dramas auch derjenige, der das Stück inszeniert, d.h. auf die Bühne bringt. Die Inszenierung hängt von der Zusammenarbeit vieler Mitarbeiter ab. Verantwortlich für die Inszenierung ist der Regisseur. Er beauftragt z.B. einen Dramaturgen, die Textvorlage zu überarbeiten, er bestimmt die Schwerpunkte der Auslegung, er besetzt die 255 einzelnen Rollen mit Schauspielern, er beauftragt Bühnenbildner, Masken- und Kostümbildner, Beleuchter und Tongestalter. Komödie (griech.: heiterer Umzug mit Gesang) : Die Komödie ist eine Grundform des Dramas. Sie basiert meist auf einer erfundenen Geschichte aus dem Alltag und agiert mit Charakteren und Typen aus dem „Volk“, meist komische Figuren mit kleinen Fehlern. Der Handlungsverlauf ist auf einen glücklichen, versöhnlichen Ausgang ausgerichtet, auch wenn einzelne Personen der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Im Unterschied zur Tragödie wird hierbei die Alltagssprache verwendet. Lehrstück : Das Lehrstück ist eine besondere Form der politisch-agitatorischen Lehrdichtung, in der eine Ideologie (z.B. der Marxismus) szenisch erläutert und das Publikum über das „richtige“ Verhalten belehrt werden sollte (z.B. bei Brecht). Monolog (griech.: Selbstgespräch): Monolog meint einmal: allein reden und zum anderen: mit sich selbst reden (sprachlich laut denken). Im Drama ist der Monolog eine Sprechweise, die an das Publikum gerichtet ist. Der Sprechende teilt seine inneren Empfindungen oder Gedanken mit. Was das Publikum aus den dargestellten Situationen nicht erfahren kann, was aber für das Verständnis und den Verlauf der Handlung wichtig ist, das erfährt es durch Monologe. Peripetie (griech.: Wendung, Verkehrung) : Die Peripetie ist ein Strukturelement der Tragödie und bezeichnet den meist plötzlich eintretenden Umschlag der dramatischen Handlung in die tragische Richtung (Katastrophe). Kennzeichen der Peripetie ist die „Krisis“ (Wendpunkt), in der die Umstände plötzlich umschlagen und dem Helden die Möglichkeit zum freien Handeln entzogen wird. Möglichkeiten der Peripetie sind z.B. der Umschlag von Glück in Unglück, vom Nichterkennen zum Erkennen usw. Person (lat.: Maske des Schauspielers) : In antiken Theater haben die Schauspieler Masken getragen. Die Bezeichnung wurde auf die Gestalten übertragen, die von den Schauspielern auf der Bühne verkörpert wurden. Person kann eine vielschichtiger oder widersprüchlicher Charakter sein oder auch ein Typus (auf bestimmte Eigenschaften festgelegt). Prolog (griech.: Vorrede) : Der Prolog ist meist eine kommentierende Einführung in das nachfolgende Spiel auf der Bühne; er ist Teil der Aufführung. Ein Sprecher (Schauspieler oder andere Person des Stücks) wendet sich direkt ans Publikum (vor dem geschlossenen Vorhang). Der Prolog kann Teil der Exposition sein und die Handlung vorwegnehmen und erläutern. Spiel im Spiel : oder: Bühne auf der Bühne : ist mit der Rahmenerzählung in der Epik vergleichbar; in beiden Fällen ist es eine Geschichte in der Geschichte. Auf der Bühne wird das Spiel im Spiel als Aufführung innerhalb des Bühnenspektakels inszeniert; es ist Teil der Argumentation des gespielten Dramas. Stück : Sammelbegriff für alle Texte, die von Schauspielern auf einer Bühne für Zuschauer gesprochen und in Handlung umgesetzt werden 256 Szene (griech.: Bühne, offener Bühnenaufbau) . Unter Szene verstand man ursprünglich den offenen Bühnenaufbau im Hintergrund, vor dem ohne Vorhang gespielt wurde. Heute meint Szene die kleinste Gliederungseinheit innerhalb eines Aktes. Szenen können durch Ortswechsel oder durch Personenwechsel voneinander abgegrenzt sein. Die deutsche Bezeichnung „Auftritt“ besagt, dass Personen abtreten und andere auftreten. Tragikomödie : Mischform aus Tragödie und Komödie, in der sich tragische und komische Elemente zu einem Handlungsgefüge verbinden; sie hat viele Facetten, sie ist kein formales Nebeneinander oder Nacheinander von ernsten und heiteren Szenen; sie ist vielmehr ein Spiegel der widersprüchlichen Vielfalt unserer Erfahrungswelt Tragödie (griech.: Bocksgesang) : Die Bedeutungsgeschichte des Wortes liegt im Dunkeln; Möglicherweise sind Kultgesänge gemeint, die von einem Chor in Tierkleidung vorgetragen wurden. Die Tragödie gehört zu den Grundformen des Dramas. Sie nimmt ihren Stoff aus dem Mythos oder der Geschichte, ihre Personen sind in der Regel Vertreter der gehobenen Gesellschaftsschichten, die mit einem „edlen Charakter“ versehen sind. Der Handlungsverlauf ist auf die Peripetie gerichtet, in der die Handlung ins Tragische umschlägt und mit der Katastrophe endet. Der Sprachstil der Tragödie ist in der Regel eine feierliche Redeweise. ____________________________________________ Szenenbeispiele Wenden wir uns nun einigen Beispielen zu, in denen die Merkmale der dramatischen Literatur sichtbar werden. Beim ersten Beispiel handelt es sich um eine Szene aus dem Drama „Leben des Galilei“ von Bert Brecht,das 1938/39 geschrieben wurde. Der historische Galileo Galilei (1564 - 1642) dient als Vorlage. Dieser hatte die Lehre des Kopernikus (heliozentrische Weltbild) wissenschaftlich beweisen können, war aber in Konflikt mit der päpstlichen Inquisition geraten und zum Widerruf gezwungen worden. Von der Inquisition entlassen, kehrte Galileo als 68-Jähriger nach Florenz zurück und lebte bis zu seinem Tod als Gefangener der Inquisition in einem Landhaus. Obwohl er in den letzten Jahren fast erblindet war, führte er seine naturwissenschaftlichen Studien fort. Den biografischen Gegebenheiten folgt auch Brechts Drama. Die 14. Szene, aus der der folgende Auszug stammt, spielt im Landhaus in der Nähe von Florenz, wo Galilei als Gefangener seine letzten Lebensjahre verbringt. (Es wird am Tor geklopft. Virginia geht in den Vorraum. Der Mönch öffnet. Es ist Andrea Sarti. Er ist jetzt ein Mann in den mittleren Jahren.) Andrea: Guten Abend. Ich bin im Begriff, Italien zu verlassen, um in Holland wissenschaftlich zu arbeiten, und bin gebeten worden, ihn auf der Durchreise aufzusuchen, damit ich über ihn berichten kann. Virginia: Ich weiß nicht, ob er dich sehen will. Du bist nie gekommen. Andrea: Frag ihn. 257 (Galilei hat die Stimme erkannt. Er sitzt unbeweglich. Virginia geht hinein zu ihm.) Galilei: Ist es Andrea? Virginia: Ja. Soll ich ihn wegschicken? Galilei (nach einer Pause): Führ ihn herein. Virginia (zum Mönch): Er ist harmlos. Er war sein Schüler. So ist er jetzt sein Feind. Galilei: Lass mich allein mit ihm, Virginia. Virginia: Ich will hören, was er erzählt. (Sie setzt sich.) Andrea (kühl): Wie geht es Ihnen? Galilei: Tritt näher. Was machst du? Erzähl von deiner Arbeit. Ich höre, es ist über Hydraulik. Andrea: Fabrizius in Amsterdam hat mir aufgetragen, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen. (Pause) Galilei: Ich befinde mich wohl. Man schenkt mir große Aufmerksamkeit. Andrea: Es freut mich, berichten zu können, dass Sie sich wohl befinden. Galilei: Fabrizius wird erfreut sein, es zu hören. Und du kannst ihn informieren, dass ich in angemessenem Komfort lebe. Durch die Tiefe meiner Reue habe ich mir die Gunst meiner Oberen so weit erhalten können, dass mir in bescheidenem Umfang wissenschaftliche Studein unter geistlicher Kontrolle gestattet werden konnten. Andrea: Jawohl. Auch wir hörten, dass die Kirche mit Ihnen zufrieden ist. Ihre völlige Unterwerfung hat gewirkt. Es wird versichert, die Oberen hätten mit Genugtuung festgestellt, dass in Italien kein Werk mit neuen Behauptungen mehr veröffentlicht wurde, seit Sie sich unterwarfen. Galilei (horchend): Leider gibt es Länder, die sich der Obhut der Kirche entziehen. Ich fürchte, dass die verurteilten Lehren dort weitergefördert werden. Andrea: Auch dort trat infolge Ihres Widerrufs ein für die Kirche erfreulicher Rückschlag ein. Galilei: Wirklich? (Pause) Nichts von Descartes? Nichts aus Paris? Andrea: Doch. Auf die Nachricht von Ihrem Widerruf stopfte er seinen Traktat über die Natur des Lichts in die Lade. (Lange Pause) Galilei: Ich bin in Sorge einiger wissenschaftlicher Freunde wegen, die ich auf die Bahn des Irrtums geleitet habe. Sind Sie durch meinen Widerruf belehrt worden? Andrea: Um wissenschaftlich arbeiten zu können, habe ich vor, nach Holland zu gehen. Man gestattet nicht dem Ochsen, was Jupiter sich nicht gestattet. Galilei: Ich verstehe. Andrea: Federzoni schleift wieder Linsen, in irgendeinem Mailänder Laden. Galilei (lacht): Er kann nicht Latein. (Pause) Andrea: Fulganzio, unser kleiner Mönch, hat die Forschung aufgegeben und ist in den Schoß der Kirche zurückgekehrt. Galilei: Ja. (Pause) Galilei: Meine Oberen sehen m e i n e r seelischen Wiedergesundung entgegen. Ich mache bessere Fortschritte, als zu erwarten war. Andrea: So. Virginia: Der Herr sei gelobt. Galilei (barsch): Sieh nach den Gänsen, Virginia. (Virginia geht zornig hinaus. Im Vorbeigehen wird sie vom Mönch angesprochen.) Der Mönch: Der Mensch missfällt mir. 258 Virginia: Er ist harmlos. Sie hören doch. (Im Weggehen) Wir haben frischen Ziegenkäse bekommen. (Der Mönch folgt ihr hinaus.) Andrea: Ich werde die Nacht durchfahren, um die Grenze morgen früh überschreiten zu können. Kann ich gehen? Galilei: Ich weiß nicht, warum du gekommen bist, Sarti. Um mich aufzustören? Ich lebe vorsichtig und ich denke vorsichtig, seit ich hier bin. Ich habe ohnedies meine Rückfälle. Andrea: Ich möchte Sie lieber nicht aufregen, Herr Galilei Galilei: Barberini nannte es die Krätze. Er war selber nicht gänzlich frei davon. Ich habe wieder geschrieben. Andrea: So? Galilei: Ich schrieb die „Discorsi“ fertig. Andrea: Was? Die „Gespräche, betreffend zwei neue Wissenszweige: Mechanik und Fallgesetze“? Hier? Galilei: Oh, man gibt mir Papier und Feder. Meine Oberen sind keine Dummköpfe. Sie wissen, dass eingewurzelte Laster nicht von heute auf morgen abgebrochen werden können. Sie schützen mich vor misslichen Folgen, indem sie Seite für Seite wegschließen. Andrea: O Gott! Galilei: Sagtest du was? Andrea: Man lässt Sie Wasser pflügen! Man gibt Ihnen Papier und Feder, damit Sie sich beruhigen! Wie konnten Sie überhaupt schreiben mit diesem Ziel vor Augen? Galilei: Oh, ich bin ein Sklave meiner Gewohnheiten. Andrea: Die „Discorsi“ in der Hand der Mönche! Und Amsterdam und London und Prag hungern danach! Galilei: Ich kann Fabrizius jammern hören, pochend auf sein Pfund Fleisch, selber in Sicherheit sitzend in Amsterdam. Andrea: Zwei neue Wissenszweige so gut wie verloren! Galilei: Es wird ihn und einige andre ohne Zweifel erheben zu hören, dass ich die letzten kümmerlichen Reste meiner Bequemlichkeit aufs Spiel gesetzt habe, eine Abschrift zu machen, hinter meinem Rücken sozusagen, aufbrauchend die letzte Unze Licht der hellen Nächte von sechs Monaten. Andrea: Sie haben eine Abschrift? Galilei: Meine Eitelkeit hat mich bisher davon zurückgehalten, sie zu vernichten. Andrea: Wo ist sie? Galilei: „Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus.“ Wer immer das schrieb, wusste mehr über Komfort als ich. Ich nehme an, es ist die Höhe der Torheit, sie auszuhändigen. Da ich es nicht fertiggebracht habe , mich von wissenschaftlichen Arbeiten fernzuhalten, könnt ihr sie eben so gut haben. Die Abschrift liegt im Globus. Solltest du erwägen, sie nach Holland mitzunehmen, würdest du natürlich die gesamte Verantwortung zu schultern haben. Du hättest sie in diesem Fall von jemanden gekauft, der Zutritt zum Original im Heiligen Offizium hat. (Andrea ist zum Globus gegangen. Er holt die Abschrift heraus.) Andrea: Die „Discorsi“! (Er blättert in dem Manuskript.) Andrea (liest): „Mein Vorsatz ist es, eine sehr neue Wissenschaft aufzustellen, handelnd von einem sehr alten Gegenstand, der Bewegung. Ich habe durch Experimente einige ihrer Eigenschaften entdeckt, die wissenswert sind.“ Galilei: Etwas musste ich anfangen mit meiner Zeit! 259 Andrea: Das wird eine neue Physik begründen. Galilei: Stopf es untern Rock. Andrea: Und wir dachten, Sie wären übergelaufen! Meine Stimme war die lauteste gegen Sie! Galilei: Das gehörte sich. Ich lehrte dich Wissenschaft, und ich verneinte die Wahrheit. Andrea: Dies ändert alles. Alles. Galilei: Ja? Andrea: Sie versteckten die Wahrheit. Vor dem Feind. Auch auf dem Felde der Ethik waren Sie uns um Jahrhunderte voraus. Galilei: Erläutere das, Andrea. Andrea: Mit dem Mann auf der Straße sagen wir: Er wird sterben, aber er wird nie widerrufen. - Sie kamen zurück: Ich habe widerrufen, aber ich werde leben. – Ihre Hände sind befleckt, sagten wir. - Sie sagen: Besser befleckt als leer. Galilei: Besser befleckt als leer. Klingt realistisch. Klingt nach mir. Neue Wissenschaft, neue Ethik. Andrea: Ich vor allen andern hätte es wissen müssen! Ich war elf, als Sie eines andern Mannes Fernrohr an den Senat von Venedig verkauften. Und ich sah Sie von diesem Instrument unsterblichen Gebrauch machen. Ihre Freunde schüttelten die Köpfe, als Sie sich vor dem Kind in Florenz beugten: die Wissenschaft gewann Publikum. Sie lachten schon immer über die Helden. „Leute, welche leiden, langweilen mich“, sagten Sie. „Unglück stammt von mangelhaften Berechnungen.“ Und: „Angesichts von Hindernissen mag die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten die krumme sein.“ Galilei: Ich entsinne mich. Andrea: Als es Ihnen dann gefiel, einen volkstümlichen Punkt Ihrer Lehren zu widerrufen, hätte ich wissen müssen, dass Sie sich lediglich aus einer hoffnungslosen politischen Schlägerei zurückzogen, um das eigentliche Geschäft der Wissenschaft weiter zu betreiben. Galilei: Welches besteht in ... Andrea: ... dem Studium der Eigenschaft der Bewegung, Mutter der Maschinen, die allein die Erde so bewohnbar machen werden, dass der Himmel abgetragen werden kann. Galilei: Aha! Andrea: Sie gewannen die Muße, ein wissenschaftliches Werk zu schreiben, dass nur Sie schreiben konnten. Hätten Sie in einer Gloriole von Feuer auf dem Scheiterhaufen geendet, wären die anderen die Sieger gewesen. Galilei: Sie sind die Sieger. Und es gibt kein wissenschaftliches Werk, das nur ein Mann schreiben kann. Andrea: Warum dann haben Sie widerrufen? Galilei: Ich habe widerrufen, weil ich den körperlichen Schmerz fürchtete. Andrea: Nein! Galilei: Man zeigte mir die Instrumente. Andrea: So war es kein Plan? Galilei: Es war keiner. (Pause) Andrea (laut): Die Wissenschaft kennt nur ein Gebot: den wissenschaftlichen Beitrag. Galilei: Und den habe ich geliefert. Willkommen in der Gosse, Bruder der Wissenschaft und Vetter im Verrat! Isst du Fisch? Ich habe Fisch. Was stinkt, ist nicht mein Fisch, sondern ich. Ich verkaufe aus, du bist ein Käufer. O unwidersteh260 licher Anblick des Buches, der geheiligten Ware! Das Wasser läuft im Mund zusammen, und die Flüche ersaufen. Die Große Babylonische, das mörderische Vieh, die Scharlachene, öffnet die Schenkel, und alles ist anders! Geheiligt sei unsre schachernde, weißwaschende, Tod fürchtende Gemeinschaft! Andrea: Todesfurcht ist menschlich! Menschliche Schwächen gehen die Wissenschaft nichts an. Galilei: Nein! - Mein lieber Sarti, auch in meinem gegenwärtigen Zustand fühle ich mich noch fähig, Ihnen ein paar Hinweise darüber zu geben, was die Wissenschaft alles angeht, der Sie sich verschrieben haben. (Eine kleine Pause) Galilei (akademisch, die Hände über den Bauch gefaltet): In meinen freien Stunden, deren ich viele habe, bin ich meinen Fall durchgegangen und habe darüber nachgedacht, wie die Welt der Wissenschaft, zu der ich mich selber nicht mehr zähle, ihn zu beurteilen haben wird. Selbst ein Wollhändler muss, außer billig einkaufen und teuer verkaufen, auch noch darum besorgt sein, dass der Handel mit Wolle unbehindert vor sich gehen kann. Der Verfolg der Wissenschaft scheint mir diesbezüglich besondere Tapferkeit zu erheischen. Sie handelt mit Wissen, gewonnen durch Zweifel. Wissen verschaffend über alles für alle, trachtet sie, Zweifler zu machen aus allen. Nun wird der Großteil der Bevölkerung von ihren Fürsten, Grundbesitzern und Geistlichen in einem perlmutternen Dunst von Aberglauben und alten Wörtern gehalten, welcher die Machinationen dieser Leute verdeckt. Das Elend der Vielen ist alt wie das Gebirge und wird von Kanzel und Katheder herab für unzerstörbar erklärt wie das Gebirge. Unsere neue Kunst des Zweifelns entzückte das große Publikum. Es riss uns das Teleskop aus der Hand und richtete es auf seine Peiniger. Diese selbstischen und gewalttätigen Männer, die sich die Früchte der Wissenschaft gierig zunutze gemacht haben, fühlten zugleich das kalte Auge der Wissenschaft auf ein tausendjähriges, aber künstliches Elend gerichtet, das deutlich beseitigt werden konnte, indem sie beseitigt wurden. Sie überschütteten uns mit Drohungen und Bestechungen, unwiderstehlich für schwache Seelen. Aber können wir uns der Menge verweigern und doch Wissenschaftler bleiben? Die Bewegungen der Himmelskörper sind übersichtlicher geworden; immer noch unberechenbar sind den Völkern die Bewegungen ihrer Herrscher. Der Kampf um die Messbarkeit des Himmels ist gewonnen durch Zweifel; durch Gläubigkeit muss der Kampf der römischen Hausfrau um Milch immer aufs Neue verloren gehen. Die Wissenschaft, Sarti, hat mit beiden Kämpfen zu tun. Eine Menschheit, stolpernd in diesem tausendjährigen Perlmutterdunst von Aberglauben und alten Wörtern, zu unwissend, ihre eigenen Kräfte voll zu entfalten, wird nicht fähig sein, die Kräfte der Natur zu entfalten, die ihr enthüllt. Wofür arbeitet ihr? Ich halte dafür, dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wenn Wissenschaftler, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens aufzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden, und eure neuen Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschritt von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages so groß werden, dass euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte. - Ich hatte als Wissenschaftler eine einzigartige Möglichkeit. In meiner Zeit erreichte die Astronomie die Marktplätze. Unter diesen ganz besonderen Umständen hätte die Standhaftigkeit eines Mannes große Erschütterungen 261 hervorrufen können. Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden! Wie es nun steht, ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können. Ich habe zudem die Überzeugung gewonnen, Sarti, dass ich niemals in wirklicher Gefahr schwebte. Einige Jahre lang war ich ebenso stark wie die Obrigkeit. Und ich überlieferte mein Wissen den Machthabern, es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, es zu missbrauchen, ganz, wie es ihren Zwecken diente. (Virginia ist mit einer Schüssel hereingekommen und bleibt stehen.) Galilei: Ich habe meinen Beruf verraten. Ein Mensch, der das tut, was ich getan habe, kann in den Reihen der Wissenschaftler nicht geduldet werden. Virginia: Du bist aufgenommen in den Reihen der Gläubigen. (Sie geht weiter und stellt die Schüssel auf den Tisch.) Galilei: Richtig. - Ich muss jetzt essen. (Andrea hält ihm die Hand hin. Galilei sieht die Hand, ohne sie zu nehmen.) Galilei: Du lehrst jetzt selber. Kannst du es dir leisten, eine Hand wie die meine zu nehmen? (Er geht zum Tisch.) Jemand, der hier durchkam, hat mir Gänse geschickt. Ich esse immer noch gern. Andrea: So sind Sie nicht mehr der Meinung, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist? Galilei: Doch. - Gib Acht auf dich, wenn du durch Deutschland kommst, die Wahrheit unter dem Rock. Andrea (außerstande zu gehen): Hinsichtlich Ihrer Einschätzung des Verfassers, von dem wir sprachen, weiß ich Ihnen keine Antwort. Aber ich kann mir nicht denken, dass Ihre mörderische Analyse das letzte Wort sein wird. Galilei: Besten Dank, Herr. (Er fängt an zu essen.) Virginia (Andrea hinausgleitend): Wir haben Besucher aus der Vergangenheit nicht gern. Sie regen ihn auf. (Andrea geht. Virginia kommt zurück.) Galilei: Hast du eine Ahnung, wer die Gänse geschickt haben kann? Virginia: Nicht Andrea. Galilei: Vielleicht nicht. Wie ist die Nacht? Virginia (am Fenster): Hell. ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------2. Beispiel: Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker (1961) Der folgende Text entstammt dem 2.Akt der 1962 uraufgeführten Komödie. Möbius, ein genialer Physiker, versteckt sich in einem als Sanatorium getarnten Irrenhaus, da er eine Formel gefunden hat, deren Anwendung ungeheure Energien freisetzen würde. Außer ihm leben dort zwei weitere Physiker, Agenten östlicher und westlicher Geheimdienste, die ebenfalls vorgeben, verrückt zu sein, nämlich sich für Newton bzw. Einstein zu halten, um an diese Formel zu kommen. Schließlich geben sie sich einander zu erkennen und besprechen die Lage. Möbius: Es gibt Risiken, die man nie eingehen darf: Der Untergang der Menschheit ist ein solches. Was die Welt mit den Waffen anrichtet, die sie schon besitzt, wissen wir, was sie mit jenen anrichten würde, die ich ermögliche, können wir 262 uns denken. Dieser Einsicht habe ich mein Handeln untergeordnet. Ich war arm. Ich besaß eine Freu und drei Kinder. Auf der Universität winkte der Ruhm, in der Industrie das Geld. Beide Wege waren zu gefährlich. Ich hätte meine Arbeiten veröffentlichen müssen, der Umsturz unserer Wissenschaft und das Zusammenbrechen des wirtschaftlichen Gefüges wären die Folgen gewesen. Die Verantwortung zwang mir einen anderen Weg auf. Ich ließ meine akademische Karriere fahren, die Industrie fallen und überließ meine Familie ihrem Schicksal. Ich wählte die Narrenkappe. Ich gab vor, der König Salomo erscheine mir, und schon sperrte man mich in ein Irrenhaus. Newton: Das war doch keine Lösung! Möbius: Die Vernunft forderte diesen Schritt. Wir sind in unserer Wissenschaft an die Grenzen des Erkennbaren gestoßen. Wir wissen einige genau erfassbare Gesetze, einige Grundbeziehungen zwischen unbegreiflichen Erscheinungen, das ist alles, der gewaltige Rest bleibt Geheimnis, dem Verstande unzugänglich. Wir haben das Ende unseres Weges erreicht. Aber die Menschheit ist noch nicht so weit. Wir haben uns vorgekämpft, nun folgt uns niemand nach, wir sind ins Leere gestoßen. Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. Wir müssen unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen. Es gibt keine andere Lösung, auch für euch nicht. Einstein: Was wollen Sie damit sagen? Möbius: Ihr müsst bei mir im Irrenhaus bleiben. Newton: Wir? Möbius: Ihr beide. (Schweigen) Newton: Möbius! Sie können von uns doch nicht verlangen, dass wir ewig Möbius: Ihr besitzt Geheimsender? Einstein: Na und? Möbius: Ihr benachrichtigt eure Auftraggeber. Ihr hättet euch geirrt Ich sei wirklich verrückt. Einstein: Dann sitzen wir hier lebenslänglich. Gescheiterten Spionen kräht kein Hahn mehr nach. Möbius: Meine einzige Chance, doch noch unentdeckt zu bleiben. Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff. 3. Beispiel: Heinar Kipphardt, In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964) 1954 musste sich der Atomphysiker J. Robert Oppenheimer vor einem Untersuchungsausschuss der Atomenergiekomission der USA verantworten. Ihm, dem „Vater der Atombombe“ und Regierungsbeauftragten für Fragen der Atomphysik, wurde vorgeworfen, Verbindungen zu Kommunisten unterhalten und die Entwicklung der Wasserstoffbombe verzögert zu haben. Tatsächlich hatte sich Oppenheimer unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki einige Zeit geweigert, an diesem Projekt mitzuarbeiten. Heinar Kipphardts 1964 uraufgeführtes dokumentarisches Drama „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ hält sich - in großen Teilen wörtlich - an das Protokoll der Aussagen vor dem Untersuchungsausschuss. Im folgenden Ausschnitt aus der 7.Szene äußert sich der Physiker Edward Teller, zeitweise Mitarbeiter 263 Oppenheimers, aber bei der Entwicklung der Wasserstoffbombe sein Rivale, als Zeuge. Evans: Haben Sie niemals moralische Skrupel hinsichtlich der Wasserstoffbombe gehabt? Teller: Nein. Evans: Wie sind Sie mit dem Problem fertig geworden? Teller: Ich habe das nicht als mein Problem angesehen. Evans: Sie meinen, man kann etwas machen, eine Wasserstoffbombe machen oder so etwas und sagen: was jetzt damit wird, das ist nicht mein Problem, seht zu, wie ihr damit fertig werdet? Teller: Es ist mir nicht gleichgültig, aber ich kann die Folgen, die Anwendungsmöglichkeiten, die in einer Entdeckung stecken, nicht voraussehen. Evans: Kann man die Anwendungsmöglichkeiten einer Wasserstoffbombe nicht ganz gut voraussehen? Teller: Nein. Es kann gut sein, und wir alle hoffen das, dass sie niemals angewendet wird und dass ihr Prinzip, die künstlich herstellbare Sonnenenergie, die billigste und gewaltigste Energie, die wir kennen, in zwanzig oder dreißig Jahren das Gesicht der Erde wohltuend verändert hat. Evans: Ihr Wort in Gottes Ohr, Dr. Teller. Teller: Als Hahn in Deutschland die erste Uranspaltung gelang, dachte er zum Exempel überhaupt nicht an die Möglichkeit, die freiwerdende Energie für Explosionszwecke zu verwenden. Evans: Wer hat als erster daran gedacht? Teller: Oppenheimer. Und es war ein furchtbarer Gedanke, den nur naive Leute unmoralisch nennen. Evans: Das müssen Sie einem älteren Kollegen erklären. Teller: Ich meine, dass Entdeckungen weder gut noch böse sind, weder moralisch noch unmoralisch, sondern nur tatsächlich. Man kann sie gebrauchen oder missbrauchen. Den Verbrennungsmotor wie die Atomenergie. In schmerzhaften Entwicklungen haben es die Menschen schließlich immer gelernt, sie zu gebrauchen. Evans: Obwohl Sie der Vernunft, nach Ihren eigenen Worten, wenig trauen? Teller: Ich traue den Tatsachen, die schließlich sogar Vernunft hervorbringen, gelegentlich. Evans: Ich habe kürzlich in der Zeitung gelesen, dass es bei einem unserer SuperTests einen fürchterlichen Zwischenfall gegeben hat Teller: Bikini?٭ Evans: Ja, kürzlich, es kamen 23 japanische Fischer ums Leben. Teller: Ich glaube. Evans: Wie konnte das passieren? Teller: Der Fischdampfer geriet in ein radioaktives Schneegestöber, weil sich der Seewind plötzlich von Norden nach Süden drehte, fatalerweise. Evans: Wie haben Sie die Nachricht von diesen Fischern aufgenommen? Teller: Wir haben eine Kommission eingesetzt, um alle Folgen zu beobachten, und wir haben die meteorologischen Voraussagen für unsere Tests sehr verbessern können. __________ ٭Bikiniatoll: Gebiet der Atombombenversuche der USA im Pazifik, etwa 3000 km von der japanische Küste entfernt 264 Die drei Beispiele bzw. Ausschnitte beziehen sich auf Dramen mit einer vergleichbaren Thematik: Es geht um die Wissenschaft oder konkreter: um die Verantwortung des Wissenschaftlers - also um ein hochbrisantes Problem. Diese Beispiele sollen einen kleinen Einblick in die Dramatik vorwiegend der 2. Hälfte des 20 Jahrhunderts vermitteln. Sie sollen aber auch neugierig machen und anregen, das ganze Drama im Unterricht zu lesen. Es ist klar, dass die Analyse einer dramatischen Szene, wie sie in der Schule erwartet wird, andere Schwerpunkte haben muss als die Analyse eines Gedichtes oder eines epischen Textes. Zwar stehen auch hier die alle Texte konstituierenden Prinzipien (Inhalt, Struktur, Sprache) im Mittelpunkt der Analyse, aber die Dramatik hat - wie schon gesagt wurde - besondere Strukturelemente: Dialog, Gesprächsverlauf, Gesprächssituation, Beziehungsebene der Teilnehmer usw. Grundsätzlich können bei dramatischen Textes folgende Fragen gestellt werden: Wer sind die Teilnehmer am Gespräch? In welcher Situation kommt das Gespräch zu Stande? Warum findet das Gespräch überhaupt statt? Welche Absichten und Interessen verfolgen die einzelnen Teilnehmer? In welcher Beziehung stehen die Teilnehmer zueinander? Was ist der Gesprächsgegenstand bzw. das Thema? Wie verläuft das Gespräch? Zu welchem Ergebnis führt das Gespräch? Welchen Stellenwert bzw. welche Funktion hat das Gespräch oder die Szene im ganzen Drama? Aus diesen Fragen und aus den bekannten schulischen Anforderungen ergibt sich folgende mögliche Methodik für die Analyse dramatischer Texte: 265 Analyse dramatischer Texte (Szenen- bzw. Dialoganalyse) Die Textanalyse, deren Grundlage ein dramatischer Text ist, stellt im Prinzip die gleichen Anforderungen wie die Analyse und Interpretation eines epischen Textes (z.B. Kurzgeschichte), nämlich Struktur-, Inhalts- und Sprachanalyse. Allerdings müssen hierbei die Besonderheiten der Gattung (Dialog, Monolog) berücksichtigt werden. Für die Analyse und Interpretation einer Dramenszene oder eines Szenenausschnitts hat sich die folgende Methodik bewährt: I. Einleitung Informationen über Szene, Drama, Autor, Entstehungszeit knappe Angaben zum Stellenwert der Szene bzw. Szenenausschnitts im ganzen Drama kurze Zusammenfassung der vorausgegangenen Handlung II. Szenenbeschreibung knappe Zusammenfassung des Szeneninhalts bzw. des Gesprächs, Dialogs oder Monologs Angaben über die Gesprächssituation (äußere Situation, Ort, Zeit, Anlass ...) Angaben über die Gesprächsteilnehmer (Rolle, Funktion ... im Drama) III. Analyse Gesprächsverlauf (Aufbau, Sequenzen, Höhe- und Wendepunkte ...) Sprachverwendung (Sprachebene, auffällige sprachlich-stilistische Mittel ...) Gesprächsgegenstand (Thema, Problem, Zusammenhang ...) Interessen und Intentionen der Teilnehmer (Ziele, Strategien, vorgebliche und eigentliche Absichten ...) Beziehungsebene der Teilnehmer (offen, partnerschaftlich, autoritär, Abhängigkeitsverhältnis ...) IV. Interpretation Ergebnis des Gesprächs bzw. Monologs (Kompromiss, Klärung eines Konflikts, Verschiedenheit, Streit, Trennung) Funktion des Gesprächs bzw. Monologs (für die beteiligte(n) Figur(en) und für den Fortgang der Handlung ...) Stellenwert des Gesprächs / Monologs für das Drama bzw. für die Intention des Dramas (z.B. Schlüsselszene für die innere Entwicklung einer Figur oder für die äußere Handlung oder ...) Einordnung der Szene und des Dramas in den literaturhistorischen Zusammenhang (typische inhaltliche und formale Merkmale ...) V. Schluss Abrundung der Darstellung, z.B. mit einer Aktualisierung des Dramas, des Themas, eines Dramen- oder Szenenelements o.ä. 266 Beispiel einer Szenenanalyse a) der Text Humbrecht: Wo? wo ist sie, mein Evchen? - meine Tochter, meine einige Tochter? (erblickt sie auf dem Bett) Ha! bist du da, Hure, bist da? - Hier Alte! dein Geld! (wirft einen Sack hin, Fr. Marthan hebt ihn auf und thut ihn beyseite.) - Hängst den Kopf wieder? Hasts nicht Ursach, Evchen, ‘s ist dir alles verziehn, alles! 5 (schüttelt sie) Komm! sag ich, komm! wir wollen Nachball halten - - ja, da möchte man sich ja kreutzigen und segnen über so ein Aas: wenn der Vater zankt, so laufts davon, gibt er gute Worte, so ists taub. - (schüttelt sie noch heftiger) Willst reden? oder ich schlag dir das Hirn ein! Fr. Marthan (reißt ihn zurück): Thut er doch, als wenn er einen Ochsen vor sich hätt! 10 Kein Wunder, wenn sie die Gichter bekäm - Kann er nicht ordentlich reden? Humbrecht: Hast Recht, Alte! vollkommen Recht! wart! wie mach ichs? (kniet nieder vor seiner Tochter) Liebs, guts Evchen! Hab doch Mitleiden mit deinem gedemüthigten Vater! verstoß ihn nicht ganz; nimm ihn zu Gnaden wieder auf! sieh, auf den Knieen liegt er vor dir und bittet dich. Hast deine Mutter vor der 15 Zeit ins Grab gebracht, sey so gut, ich beschwör dich darum, und gib auch mir den letzten Stoß, mir, deinem Vater Evchen (die sich auf die letzt langsam aufrichtete, erblickt neben ihr das Kind, deutet darauf und fällt mit dem Gesicht wieder aufs Bett): Da! da ist er! Fr. Marthan (bringt eine angesteckte Lampe, stellt sie auf den Tisch, geht ans Bett 20 und deckt das Kind auf, eben so geschwind aber wieder halb zu): Du lieber Herr Gott! was seh ich! das muß ich gleich gehen anzeigen, sonst bin ich verlohren. - In der Seele dauert sie mich - aber (lauft ab). Humbrecht (springt auf): Da! was ist da? ein Kind! ha! wies lächelt! - dein Kind, Evchen? Soll auch meins seyn! Mein Bastert, ganz allein mein, wer sagt, daß er 25 dein ist, liebs Evchen! dem will ich das Genick herumdrehn. ______________ Z. 1 einige = einzige Z. 5 Nachball halten = etwas nachholen Z.10 Gichter = Krämpfe b) Aufgabenstellung: Analysieren und interpretieren Sie den Textauszug aus dem Drama „Die Kindermörderin“ von Heinrich Leopold Wagner! c) Ausführung: Die vorliegende Szene stammt aus dem Schlussakt des Dramas "Die Kindermör derin" von H.L.Wagner; es handelt sich genau um die 4.Szene des VI. Aktes. Das Drama von 1776 thematisiert das zeittypische Motiv des Kindsmords und zeigt am Beispiel von Evchen Humbrecht die sozialen, moralischen und juristischen Hintergründe auf. Evchen wird hinterlistig von dem adligen Leutnant v. Gröningseck verführt und geschwängert. Nach der Tat ist der Leutnant jedoch bereit, ihr Liebe zu schwören und 267 das Heiratsversprechen zu geben. Während der Leutnant wegen der Einwilligung zur Heirat zu seinen Eltern reist und dort längerfristig krank wird, spinnt sein Freund Hasenpoth eine gemeine Intrige, um die standesungemäße Heirat zu verhindern. Er redet Evchen ein, sie sei von Gröningseck verlassen worden. Daraufhin und aus Angst vor der Entdeckung ihrer Schwangerschaft und aus Furcht vor dem strengen Vater flieht Evchen aus dem Elternhaus, kommt bei der Lohnwäscherin Marthan unter, bringt ihr Kind zur Welt und tötet es. Unmittelbar an die Tötungsszene schließt sich die vorliegende Szene an, in der Vater und Tochter nach deren Flucht zum ersten Mal wieder aufeinandertreffen. Anwesend ist auch Frau Marthan, in deren Haus diese Szene spielt. Herbeigeführt wurde dieses Treffen zwischen Vater und Tochter von Evchen selbst, die Frau Marthan wegen der hohen Belohnung, die der Vater für das Auffinden Evchens ausgeschrieben hatte, zu ihm geschickt hat. Mit dem Eintreffen der beiden in das Zimmer, in dem sich Evchen und das Kind befinden, beginnt die Szene, die beherrscht wird von den emotionalen Reaktionen des Vaters auf das Wiedersehen seiner Tochter. Die Szene gliedert sich in sechs Gesprächssequenzen, die auch etliche Regieanweisungen enthalten. Die meisten Sprechanteile kommen dem Vater zu, der auch mit der Frage nach Evchen beginnt. Aufgewühltheit und Freude bestimmen seine Sprache. Seine Aufgeregtheit zeigt sich in der Wiederholung des Fragewortes (Wo, wo ist sie ..."), seine übergroße Freude spiegelt sich in der dreimaligen Verwendung und Steigerung des Possessivpronomens ("mein Evchen?- meine Tochter, meine einige Tochter?"). Aber schon im nächsten Satz spricht er seine Tochter als "Hure" an. Nachdem er der Marthan die Belohnung zugeworfen hat, wendet er sich erneut Evchen zu, die er nun trösten will, indem er nachhaltig sagt, dass ihr alles verziehen sei. Aus der Regieanweisung geht hervor, dass Evchen nicht reagiert, weshalb der Vater sie "schüttelt" (Z.5). Er wird nun ungehalten, sichtbar an den wiederholten Imperativen ("Komm! sag ich, komm!"). Da Evchen anscheinend auch jetzt nicht reagiert, zieht sich der Vater einen Augenblick lang zurück, indem er mit sich selbst spricht und sich über das für ihn unverständliche Verhalten seiner Tochter beschwert. Er nennt sie ein "Aas", das vor dem strengen Vater flieht und vor dem liebenden Vater schweigt. Und während er sie dann - laut Regieanweisung - noch heftiger schüttelt, verliert er allmählich die Beherrschung und fällt in seinen alten, autoritären, drohen-den Ton des strengen Familienoberhauptes (wie im II.Akt) zurück ("Willst reden? oder ich schlag dir das Hirn ein!"). Diese Unbeherrschtheit resultiert aus seiner Verkennung der Situation. Der Vater freut sich, Evchen endlich wiedergefunden zu haben, aber er kennt die verzweifelte Situation seiner Tochter nicht, die kurz zuvor ihr Kind erstochen hat. So kann er nicht verstehen, dass Evchen seine Freude über das Wiedersehen nicht teilt und auf seine Verzeihung nicht reagiert. Auf die Ungehaltenheit des Vaters reagiert jedoch in der 2.Sequenz Frau Marthan, die ihn zurückhält und ihm sein unbeherrschtes Verhalten unmissverständlich vorwirft. Sie redet dabei in ihrer bildhaft-derben Sprache, indem sie sein Einreden auf Evchen mit dem Verhalten einem "Ochsen" (Z.9) gegenüber vergleicht und mögliche schlimmen Folgen andeutet ("Kein Wunder, wenn sie die Gichter bekäm"). Ihre abschließende rhetorische Frage "Kann er nicht ordentlich reden?" wiederholt den Vorwurf der Unbeherrschtheit und Unangemessenheit. Frau Marthan kennt Herrn Humbrecht, Evchens Vater, kaum, und es ist nur aus der konkreten Situation heraus erklärlich, dass sie um Evchen willen in den Konflikt eingreift und es trotz des Standesunterschieds wagt, gegen den Vater Vorwürfe zu erheben. Sie hat Evchen in deren Not aufgenommen und deren Lebensgeschichte kennengelernt. Evchen hat ihr ganzes Mitgefühl. Der Vater muss ihr wie ein Grobian der eigenen Tochter gegenüber vorkommen, weshalb sie ihn deutlich zurechtweist. 268 Wider Erwarten - und auch nur aus der Situation erklärlich - zeigt der Vater Einsicht (3.Sequenz). Er gesteht Frau Marthan zweimal zu, dass sie Recht habe. Er ist verunsichert, er weiß nicht, wie er sich Evchen gegenüber verhalten soll. Aus der Regieanweisung geht hervor, dass er sich vor Evchen niederkniet, bevor er sie erneut anspricht. Gestik und Ansprache zeigen deutliche Anklänge eines Gebets. Die Anrede "Liebs, guts Evchen!" schlägt den flehentlichen Gebetston an, der mit der Bitte um "Mitleiden" (Z.12) und "Gnaden" (Z.13) fortgesetzt wird. Er nennt sich selbst einen "gedemüthigten Vater", der nicht verstoßen werden will, der "auf den Knieen liegt ... und bittet" (Z.14). Dann jedoch folgt eine Bitte ("Hast deine Mutter ins Grab gebracht, ... gib auch mir den letzten Stoß"), die entweder die tiefe Verzweiflung des Vaters in Bezug auf Evchens Schande widerspiegelt oder als bewusste Provokation eingesetzt wird, damit Evchen endlich eine Reaktion zeigt. Denn die Anspielung auf Evchens Schuld am Tod der Mutter - sie war nach Evchens Flucht aus Kummer gestorben will nicht so ganz in den Kontext passen, weil der Vater sich zuvor über das Wiedersehen so gefreut und ihr alles verziehen hat. Nun jedoch scheint es, als wolle er nicht länger leben. Offenbart sich in dieser Widersprüchlichkeit die innere Zerrissenheit des Vaters, der seine Tochter liebt, der aber die gesellschaftliche Schande nicht ertragen kann? Auf jeden Fall reagiert Evchen nun endlich (4.Sequenz). Sie bringt jedoch nur vier Worte hervor. Aus der Regieanweisung ist zu entnehmen, dass sie auf das getötete Kind zeigt, dann "mit dem Gesicht wieder aufs Bett" (Z.18) fällt. So, als wolle sie dem Vater tatsächlich "den letzten Stoß" geben, sagt sie nur: Da! da ist er!" (Z.18), als sei damit die ganze Ursache ihres Unglücks bezeichnet. Dass Evchen in dieser Szene so passiv ist, belegt ihre Opfer-Rolle. Zur aktiven Teilnahme an einem Gespräch mit dem Vater ist sie gar nicht fähig; zu sehr wird sie von ihrer Verzweiflung und ihrem Unglück eingeschnürt. Auf den Ausruf Evchens reagiert zuerst Frau Marthan (5.Sequenz). Die Regieanweisung macht deutlich, dass sie das getötete Kind entdeckt, es aber schnell wieder halb zudeckt. Ihre etwas seltsam anmutende Reaktion verbindet zwei sehr unterschiedliche Aspekte: Sie ist entsetzt, denkt aber sofort an ihre staatsbürgerliche Pflicht, den Mord anzuzeigen, um nicht straffällig zu werden ("..., sonst bin ich verlohren."). Ihre Autoritätshörigkeit ist stärker als ihr menschliches Mitempfinden, was auch in ihrem abschließenden Satz besätigt wird ("In der Seele dauert sie mich aber"). Mitleid und Bedauern werden zwar empfunden, "aber" es gibt in dieser Situation Wichtigeres. Diese Priorität der staatsbürgerlichen Pflicht weist Frau Marthan als Untertan genau jenes Systems aus, das Wagner für den Kindsmord wesentlich verantwortlich macht. Hierdurch bekommt Frau Marthan eine neue Funktion innerhalb der Figurenkonstellation: Ihre autoritätshörige Reaktion deutet an, warum die brutale Justiz der Kindermörderinnen so lange unhinterfragt bestehen konnte. In der letzten Sequenz der vorliegenden Szene reagiert der Vater auf Evchens Hinweis bzw. auf Frau Marthans Verhalten. Er "springt auf"(Z.23) und sieht das halb zugedeckte Kind, erkennt aber nicht, dass es tot ist. Er sieht das Lächeln des Kindes und ist angetan, was im Wechsel von elliptischen Ausrufen und Fragen zum Ausdruck kommt. Er erklärt Evchens Kind für das seine, und zwar ausschließlich für das seine, was mit einer dreifachen Wiederholung des Possessivpronomens unterstrichen wird ("soll auch meins seyn! Mein Bastert, ganz allein mein"). Und um diesen Anspruch noch zu verstärken, droht er in seiner grobschlächtigen Art allen, die das Kind als Evchens Kind behaupten, an, er wolle ihnen "das Genick herumdrehn" (Z.25). Dass er das Kind "Bastert" nennt, zeigt, dass er sich Evchens Problematik als einer ledigen Mutter sehr wohl bewusst ist; indem er 269 das Kind als sein eigenes bezeichnet und allen droht, die etwas anderes behaupten, stellt er sich väterlich vor seine Tochter, um sie vor den sozialen Folgen zu schützen. Am Ende der Szene ist das Verhältnis des Vaters zu seiner Tochter aus dessen Sicht bereinigt. Er hat seine Tochter wiedergefunden, und er nimmt Mutter und Kind in seinen väterlichen Schutz. Allerdings weiß der Vater hier noch nicht, dass Evchen das Kind erstochen hat. Die Szene wird dominiert von Humbrechts Reden und emotionalen Reaktionen. Ein Gespräch zwischen den anwesenden Personen kommt nicht zustande. Frau Marthan und Evchen reagieren nur auf Humbrechts Reden, Frau Marthan, indem sie den aufgebrachten Vater zurechtweist, Evchen, indem sie auf das Kind zeigt. Die äußere Situation lässt hier gar kein Gespräch, keinen Austausch zwischen den Personen erwarten, da Humbrechts psychische Hin- und Hergerissenheit die Szene beherrschen: seine Freude, seine Ungehaltenheit, sein "Gebet" und zuletzt seine Väterlichkeit. Die wichtigste Funktion der vorliegenden Szene für den Handlungsverlauf liegt in der Versöhnung des Vaters mit der Tochter, in der die innere Veränderung des Vaters zum Ausdruck kommt. Er wandelt sich vom sittenstrengen, von äußeren, gesellschaftlichen Normen bestimmten Familienoberhaupt zum liebenden Vater, der seine Mitschuld an Evchens Werdegang erkennt und der sie zuletzt vor gesellschaftlichen Nachteilen schützen will. Mit der Vaterfigur zu Beginn des Dramas weist Wagner deutlich auf die Unmenschlichkeit der bürgerlichen Moral und Rollenverteilung hin. Wenn Prinzipien wichtiger sind als Menschen, wenn die Moral sich gegen die Menschen selbst richtet, wenn der Tugendrigorismus sich gegen Humanität und Liebe stellt, dann haben Freiheit und Selbstbestimmung keine Chance mehr. Auf diesen inneren Widerspruch in der bürgerlichen Ideologie haben wie Wagner viele Stürmer und Dränger in ihren gesellschaftskritischen Werken hingewiesen. Evchen und alle Kindermörderinnen im 18.Jh. sind die Opfer inhumaner gesellschaftlicher Normen, Gesetze, Verordnungen. - Mit der Vaterfigur zum Schluss des Dramas deutet Wagner die Richtung der Veränderung im bürgerlichen und menschlichen Selbstverständnis an. Eine weitere Funktion der Szene liegt darin, dass hier der Fortgang der Handlung angedeutet wird. Mit Frau Marthans Entschluss, den Kindsmord anzuzeigen, wird die Öffentlichkeit informiert und die Justiz in Gang gebracht. Damit ist der tragische Schluss vollends eingeleitet, der nach Wagners Willen die Empörung des Zuschauers und Lesers wecken soll. Es ist offensichtlich, dass H.L. Wagner, der Jurist war, mit seinem Drama in die zu seiner Zeit hochaktuelle Auseinandersetzung um den Kindsmord und um die extrem harte Bestrafung der Kindermörderinnen, denen ausschließlich die Schuld für ihr Tun angelastet wurde und die in der Regel mit dem Tod bestraft wurden, eingreifen wollte. An Evchens Beispiel zeigt er auf, dass gesellschaftliche Faktoren die unfreiwilligen Mütter zu ihren Taten drängen und dass somit die ausschließlich von der subjektiven Schuld der Täterin ausgehende Justiz die wahren Ursachen verkennt. In dieser Form der Gesellschaftskritik zeigt sich das Denken der Sturm und Drang-Zeit, die im Unter-schied zur Aufklärung die gesellschaftlichen Bedingungen des Menschseins ins Zentrum rücken und im Menschen primär ein gesellschaftliches Wesen sehen. Ob damit auch schon die Schuldfrage - bezogen auf das im Drama vorliegende Grundproblem - geklärt ist, bleibt offen. 270 1.2. Erörterndes Erschließen literarischer Texte: Literarische Erörterung Die literarische Erörterung meint die Auseinandersetzung mit Fragen, Problemen und Sachverhalten, die in literarischen Texten zum Ausdruck kommen. Eine solche Auseinandersetzung setzt natürlich das Verständnis bzw. die Textinterpretation des zu Grunde liegenden Textes voraus. Als Themen dieses Aufgabentyps kommen beispielsweise die in literarischen Werken dargestellten Wahrnehmungsweisen, Menschenbilder, Gesellschaftsentwürfe und Wirklichkeitsauffassungen sowie Fragen des literarischen und kulturellen Lebens in Frage. Beispielsweise können die Themen - immer bezogen auf einen konkreten literarischen Text bzw. bei einem Vergleich auf mehrere Texte - wie folgt lauten: Darstellung und Bedeutung der Familie in der Literatur Das Motiv des Reisens in der Literatur Die Verführbarkeit des Menschen in der Literatur Künstlerfiguren in der Literatur Generationskonflikte als Gegenstand der Literatur Tabuverletzung in der Literatur Vergleich der Deutschlandbilder in zwei Werken Funktion und Aufgabe der Literatur Zum letzt genannten Thema wollen wir uns ein Beispiel anschauen. Der zu Grunde liegende Text ist ein Zitat des Dichters Dieter Wellershoff. Zitat: „Die Literatur ist ein der Lebenspraxis beigeordneter Simulationsraum, Spielfeld für ein fiktives Handeln, in dem man als Autor und als Leser die Grenzen seiner praktischen Erfahrung und Routine überschreitet, ohne ein wirkliches Risiko dabei einzugehen“ (Dieter Wellershof in: Literatur und Veränderung, Köln 1969). Aufgabe: Erörtern Sie diese These anhand von Beispielen und nehmen Sie Stellung! Methodik Für das Abfassen einer literarischen Erörterung gilt im Prinzip dieselbe planmäßige und nach einzelnen Arbeitsschritten gestaffelte Vorgehensweise wie bei jeder Problemerörterung, nämlich 1. 2. 3. 4. 5. 6. Erschließung des Themas Stoffsammlung Stoffordnung und Gliederung Entwurf der Einleitung Argumentationsführung im Hauptteil Formulierung des Schlussgedankens Kernstück jeder Erörterung ist eine schlüssige, stimmige und anschauliche Argumentation. 271 Bei der literarischen Erörterung bedient man sich für die Argumentation vornehmlich folgender Aspekte: Sachwissen (z.B. aus der Fachliteratur) über Autoren, Werke, Epochen, Gattungen, Erzähltechniken usw. Ergebnisse und Aussagen der Sekundärliteratur bezüglich bestimmter Werke, Probleme und Fragestellungen (z.B. Interpretationen, motivgeschichtliche Untersuchungen usw.) eigene aus dem (den) zu bearbeiteten Text(en) oder Werk(en) gewonnene Erkenntnisse und Einsichten An die Stelle der Beispiele bei der Problemerörterung treten beim literarischen Aufsatz die Textstellen (Belegstellen). Für das Anführen bzw. die Wiedergabe von Textstellen gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten: 1. Zusammenfassung eines Textes / einer Texteinheit in der Art einer Inhaltsangabe 2. Umschreibung einer Textpassage mit eigenen Worten in Form der Paraphrase 3. Wörtliches Zitat Nachdem Sie nun ein Beispiel kennen gelernt haben und über die notwendigen methodischen Kenntnisse verfügen, können Sie sich selbst an dieser Aufgabenart versuchen. Nehmen wir als Textgrundlagen zwei Kurzgeschichten, die hier im Arbeitsbuch abgedruckt sind. Thema: Die Darstellung der Familie in der Literatur der Gegenwart Aufgabe: Erörtern Sie vergleichend die Gestaltung der Familie in den Kurzgeschichten „Die Tochter“ von P. Bichsel und „Hobbyraum“ von M.L. Kaschnitz! --------------------------------------------------------------------------------------------------------------- 1.3. Gestaltendes Erschließen pragmatischer Texte: Adressatenbezogenes Schreiben Adressatenbezogenes Schreiben hat das Ziel, einen pragmatischen Text durch eine gestaltende Antwort auf seinen zuvor analysierten Inhalt, seine Argumentationsstrategie und Sprache zu erschließen. Das bedeutet, adressatenbezogenes Schreiben umfasst in der Regel zwei Anforderungen: zuerst die Analyse eines pragmatischen Textes( z.B. einer politischen Rede) und im zweiten Schritt eine gestaltende (kreative) Darstellung (z.B. einen Brief). Der Aufgabenschwerpunkt ist der Gestaltungsauftrag, die argumentative Auseinandersetzung mit einer Textvorlage, bezogen auf eine bestimmte Kommunikationssituation bzw. einen bestimmten Verwendungszweck. Gestaltungsformen können z.B. sein: Brief, Kommentar, Essay, Rede, Debattenbeitrag, Rezension, Flugblatt u.a. Der zu schreibende Text muss sich zum einen an den formalen und sprachlichen Bedingungen der vorgegebenen Gestaltungsform orientieren und zum anderen den kommunikativen Kontext, insbesondere die Adressatengruppe, berücksichtigen. 272 Aufgabenbeispiele a) Textgrundlage ist ein Auszug aus einem Artikel aus DIE ZEIT, in dem ein Herr Joffe seine Meinung über den gegenwärtigen Sprachgebrauch äußert. Die Aufgabenstellung kann dann so aussehen: Gestalten Sie einen Kommentar zur Sprachkritik des Journalisten Josef Joffe, der in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT in der Rubrik „Leserartikel“ erscheinen soll. Untersuchen Sie hierfür zunächst die Position des Autors unter Berücksichtigung der sprachlichen Gestaltung des Textes. Schreiben Sie zur Untersuchungs- und Gestaltungsaufgabe jeweils einen eigenen Text. b) Textgrundlage ist ein Auszug aus einer Rede Hitlers. Die Aufgabenstellung kann dann so aussehen: Gestalten Sie eine Reaktion von deutschen Emigranten auf Hitlers Rede in Form eines Flugblattes, das von den Alliierten über Deutschland abgeworfen werden soll. Untersuchen Sie dafür zunächst den Auszug aus Hitlers Rede. Beachten Sie besonders die sprachlichen Aspekte. Schreiben Sie zur Untersuchungs- und Gestaltungsaufgabe jeweils einen Text. c) Textgrundlage ist das Manuskript eines Vortrags von M. Heuwagen, die ihre Auffassung über die Anglisierung der deutschen Sprache vertritt. Die Aufgabenstellung kann so aussehen: Gestalten Sie einen Redebeitrag als Reaktion auf den Vortrag Marianne Heuwagens. Setzen Sie sich darin mit den Positionen Heuwagens zu fremdsprachlichen Einflüssen auf die deutsche Sprache auseinander. Untersuchen Sie dazu zunächst die Argumentation von M. Heuwagen. Verfassen Sie zur Untersuchungs- und Gestaltungsaufgabe jeweils einen zusammenhängenden Text. 273 274 Pragmatische Texte Erschließen 1. das untersuchende Erschließen pragmatischer Texte: die Textanalyse Beispiel Pragmatische Texte E: Canetti: Der Beruf des Dichters G. Lehnert: Mit dem Handy in die Peepshow H. von Hofmannsthal: Brief des Lord Chandos M. Walser: Warum liest man überhaupt? Methodik der Textanalyse 282 283 285 287 288 2. das erörternde Erschießen pragmatischer Texte: die Texterörterung Beispiel: A. Schopenhauer: Über Lesen und Bücher Exkurs: Möglichkeiten der Textwiedergabe Grundtypen des Urteils 289 289 293 297 Texte M. Walser: Über Leseerfahrungen R. de Weck: Die Gier der Medien E. Uhl: Medien fördern Fantasie und Kreativität H.M. Enzensberger: Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor Erzeugnissen der Poesie Ch. Noll: Volk ohne Sprache N. Postman: Unterricht als Unterhaltung R. Klüger: Frauen lesen anders 3. das gestaltende Erschließen pragmatischer Texte: adressatenbezogenes Schreiben Beispiel 275 276 276 299 300 300 301 302 304 305 307 307 Pragmatische Texte erschließen 1. das untersuchende Erschließen pragmatischer Texte: Textanalyse Das untersuchende Erschließen pragmatischer Texte meint nichts anderes als die Analyse von Sachtexten. Sie erfordert das Erfassen des Textes in seinen wesentlichen Elementen und Strukturen das Aufzeigen der Position und Intention des Verfassers die Prüfung der Argumentation auf Stichhaltigkeit und Schlüssigkeit die Darlegung des Adressaten- und Situationsbezugs die Analyse von Sprache und Struktur die Beurteilung der Wirkung des Textes die Einordnung des Textes in übergreifende Zusammenhänge Wir gehen von einem Beispiel aus, und zwar nehmen wir den folgenden Text von Marion Gräfin Dönhoff als Grundlage. Marion Gräfin Dönhoff: Wo bleibt das Ethos? Am puren Egoismus geht jede Gesellschaft zugrunde (Auszug) 5 10 15 20 25 In der vorigen Woche schrieb Robert Leicht in einem Leitartikel - mit dem er für ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz eintrat - , es komme für die Frage, wer ein guter Staatsbürger sei, nicht auf das Ethnische an, sondern auf das Ethische. Er hat so Recht. Aber wo in unserer modernen Industriegesellschaft findet man eigentlich das Ethische? Wo verbirgt es sich? Unsere Gesellschaft wird zusammengehalten durch Leistung, technischen Fortschritt, optimale Rationalität und ein Höchstmaß an Produktion und Konsum. Kultur, Geist, Philosophie - überhaupt die Humanitas - spielen eine immer geringere Rolle. Von Ethik redet kein Mensch. Typisch für unsere Gesellschaft ist das ungebremste Streben nach immer neuem Fortschritt, nach Befriedigung der ständig wachsenden Erwartungen: Alles muss immer größer werden, von allem muss es immer mehr geben - mehr Freiheit, Wachstum, Profit ... Wir leben eben in einer dynamischen Epoche und nicht, wie Jahrhunderte zuvor, in einer Welt, die durch Statik charakterisiert war. Das Menschenbild, das diese Gesellschaft vor Augen hat, entspricht diesem Szenario: Es ist das Bild des Homo oeconomicus, der mit unbarmherziger Präzision und unfehlbarer Rationalität seinen Gewinn optimiert. Die ausschließliche Diesseitigkeit, die den Menschen von seinen metaphysischen Quellen abschneidet, der totale Positivismus, der sich nur mit der Oberfläche der Dinge beschäftigt und jede Tiefendimension vergessen lässt, kann aber als einzige Sinngebung den Menschen auf Dauer nicht befriedigen. Schließlich wird alles noch in besonderer Weise durch das herrschende Wirtschaftssystem verstärkt. Bei der Marktwirtschaft, die ja auf dem System des Wettbewerbs, also der Konkurrenz beruht, kommt alles darauf an, besser zu sein als die anderen. Der Motor dieses Systems ist daher der Egoismus. Und dieser Egoismus macht vor nichts halt. In seinem Gefolge wächst die Brutalität, die unseren Alltag kennzeichnet, wie auch die Korruption, die in 276 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 vielen Ländern mittlerweile bis hinauf ins Kabinett reicht. Jeder denkt an sich, an seine Lustmaximierung - für das Allgemeinwohl soll gefälligst der Staat sorgen. Aber jede Gesellschaft braucht Bindungen. Ohne Spielregeln, ohne einen bestimmten Konsens über Verhaltensnormen kann kein Gemeinwesen bestehen, nicht einmal ein Club oder ein Verein. Eine Gesellschaft, die nicht über einen ethischen Minimalkonsens einig ist und die keine allgemeinen moralischen Barrieren akzeptiert, wird mit der Zeit unweigerlich zerfallen. Ohne Zweifel ist die Marktwirtschaft das effizienteste Wirtschaftssystem, das existiert. Ihm verdanken wir den raschen Wiederaufbau unseres durch den Zweiten Weltkrieg zerstörten Landes, den Wohlstand unserer Gesellschaft und wohl auch die Stabilität unserer Demokratie. Aber in das Marksystem ist neben dem Trieb des Egoismus auch ein Faktor der Maßlosigkeit eingebaut, wodurch ein Klima allgemeiner Bereicherung erzeugt wird: Allenthalben ist Raffgier die Folge. Wenn es nicht gelingt, sich auf einen ethischen Minimalkonsens zu einigen, dann wird unsere vielgerühmte freie Marktwirtschaft allmählich zu einem Catch-as-cath-can entarten und vielleicht eines Tages so zusammenbrechen wie vor kurzem das sozialistische System. (...) Manchmal fragt man sich besorgt: Wird die Demokratie unten den obwaltenden Umständen weiter bestehen können? Nicht, dass die Gesellschaft ihrer überdrüssig wäre, sie bejaht Pluralismus, ist froh über Rechtssicherheit und Freiheit, aber sie lehnt viele derzeitige Erscheinungsformen der Demokratie ab. Die Bürger sind verdrossen, sie treten aus der Kirche aus, aus den Parteien, den Gewerkschaften, sie schimpfen über die Politiker, haben kein Vertrauen mehr zu den Parlamentariern, behaupten, diese dächten nur an ihre Wiederwahl und kümmerten sich nicht um die wirklichen Probleme. Die Politiker ihrerseits erklären, die Medien seien an allem schuld. Die Gesellschaft ist ganz einfach frustriert. (...) Was aber können wir tun? Wir müssen uns zunächst klar darüber sein, dass Verantwortungsethik durch den Erziehungsprozess im Elternhaus, in der Schule und in der Gemeinschaft erworben wird, dass also die civil society sich weder von selbst einstellt noch durch Anordnung von oben erzwingen lässt. Denn der moderne Staat, dessen Grundlage ja nicht die Religion ist, sondern vielmehr ein Ensemble bestimmter Grundsätze - the rule of law -, will nicht und kann nicht ethische Richtlinien angeben; er muss sich jedoch auf zivilisatorische Formen und sittliche Grundhaltungen in der Gemeinschaft verlassen können. Ist aber ein potenzielles Reservoir an ethischer Gesinnung überhaupt vorhanden? Gibt es einen Fundus, der sich akzeptieren lässt? Man spürt allenthalben Ansätze dazu und auch eine echte Sehnsucht vieler Bürger nach Sinnerfüllung und nach Bereitschaft zum Handeln. Waren jene Millionen Menschen, die auf die Straße gingen und Lichterketten bildeten, um gegen Mord und Brandanschläge auf Ausländer zu protestieren, nicht ein Beweis dafür, dass ein solcher Fundus existiert? Und die Protestbewegungen, die Solidarität und Mitwirkung an Entscheidungen fordern, zeigen doch auch, dass die Aversion gegen Politik nicht aus dem Gefühl geboren wird: „Politik, ein garstig Lied“, sondern dass im Gegenteil, die Betreffenden beteiligt sein wollen. 277 80 85 90 In Amerika gibt es seit einigen Jahren eine Bewegung, deren Mitglieder sich communitarians nennen. Gemeinschaftler, wenn man so will. Ihr gehören vorwiegend Intellektuelle an: Akademiker, Sozialwissenschaftler, Philosophen. Sie wollen durch Partizipation das Verantwortungsgefühl der Bürger für die Gemeinschaft neu beleben: den Markt, der seinen „ethischen Unterbau“ verloren hat, wieder in einen moralischen und sozialen Kontext stellen: also dem Konsum-Kapitalismus ein Wertesystem entgegensetzen. Außerdem treten sie für das Subsidiaritätsprinzip ein, also dafür, nur noch jene Aufgaben an den Staat zu delegieren, die in der Familie und auf lokaler Ebene nicht erledigt werden können. Auf diese Weise, so hoffen sie, werden die Bürger das Gemeinwesen als „ihren“ Staat anerkennen, sich sozusagen in ihm wiedererkennen. Die communitarians haben bereits ein Netz solcher Organisationen in den USA aufgebaut. Vielleicht sind dies Hinweise, denen auch wir nachgehen sollten. (aus: DIE ZEIT, Nr 28 vom 5.7.1996, S.7) Was können Sie tun, wenn die Aufgabe hier lautet: Analysieren Sie den Text von Marion Gräfin Dönhoff? Sie können folgendermaßen vorgehen: 1. Lesen des Textes mit vorläufigen Unterstreichungen wichtiger Textstellen 2. Mit einem zweiten, intensiven Lesen wird das Textverständnis überprüft. Dabei werden zentrale Begriffe, Kerngedanken, gedankliche Folgerungen und stilistische Auffälligkeiten markiert (möglichst mit unterschiedlichen Farben). 3. Nun können Sie den Text in Sinneinheiten gliedern und die Argumentation analysieren: Was ist die übergeordnete Aussage (These) des jeweiligen Abschnitts und wie wird diese begründet? Sind die Argumente schlüssig und überzeugend? Welche sprachlichen Mittel werden eingesetzt? (Das ist der wichtigste und umfangreichste Arbeitsschritt der Textanalyse.) 4. Jetzt können Sie im Zusammenhang der Gesamtanalyse die Intention des Textes bestimmen: Was will der Verfasser erreichen? Warum hat er den Text überhaupt geschrieben? 5. Zuletzt können Sie mit Bezug auf die Entstehungszeit des Textes die Bedeutung und Wirkung kritisch würdigen und Ihre eigene Auffassung argumentativ darlegen. Aufgabe: Erproben Sie die fünf methodischen Schritte an dem Dönhoff-Text, indem Sie ein Konzeptpapier erstellen, das als Grundlage für die Reinschrift dienen könnte. Aufgabe: Lesen Sie die folgende Ausarbeitung, vergleichen Sie die Ergebnisse mit Ihren eigenen und prüfen Sie, ob der Schreiber alle Anforderungen des Aufgabentyps zufriedenstellend erfüllt hat. 278 Bei dem vorgelegten Text von Marion Gräfin Dönhoff handelt es sich um einen Textauszug, welcher der Wochenzeitschrift DIE ZEIT vom 5.7.1996 entnommen worden ist. Dieser Auszug ist der Textkategorie Sachtext bzw. pragmatischer Text zuzuordnen. Gräfin Dönhoff ist nicht nur bekannt als Verfasserin vieler publizistischer Artikel, sondern auch als Herausgeberin der Wochenzeitschrift DIE ZEIT für Politik, Wirtschaft, Handel und Kultur. Bevor man den Text liest, wird bereits augenfällig, dass die Autorin mit der Wahl ihrer Überschrift in Form einer rhetorischen Frage eine Position in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung gerückt haben möchte, die den Leser animiert, den Gedankengang der Fragestellerin zu verfolgen. Die in der Folge gewählte kontrastierende Zwischenüberschrift „Am puren Egoismus geht jede Gesellschaft zugrunde“ stellt eine These in den Raum, welche im Verlaufe des Textes zu beweisen sei. Der aufmerksame Leser wird für sich zunächst geklärt haben wollen, was unter dem Begriff „Ethos” im Allgemeinen und bei Dönhoff im Besonderen zu verstehen sei. Im allgemeinen Verständnis des Begriffes „Ethos”, welcher aus dem griechischen ethos hergeleitet und in etwa mit Gewohnheit, Brauch, Gesittung beziehungsweise mit Charakter und Herkommen übersetzt worden ist, wird aus heutiger Sicht unter bildungssprachlichem Aspekt eine vom Bewusstsein sittlicher Werte geprägte Gesinnung als Gesamthaltung verstanden. So gesehen wird also mit dem Begriff „Ethos“ eine moralische Grundhaltung, ein sittliches Weltbewusstsein einer sozialen Gruppe bezeichnet. Interessant ist dabei aber auch, dass diese Ideale und Maßstäbe des sittlichen Handelns sich weitgehend von der Moral dadurch unterscheiden, dass sie nicht immer vernünftig und begründbar sein müssen. Damit muss Ethos historisch bedingt erfasst und begründet werden. Ethos ist demnach ein Ausdruck historisch entwickelter Normen, Werte und moralischer Handlungsmuster, die sich in der sozialen Gruppe oder in Absprache der Menschen als gesellschaftliche Wesen in einer Gesellschaftsformation durchgesetzt haben und von den Mitgliedern einer sozialen Gruppe beziehungsweise der jeweiligen Gesellschaft anerkannt worden sind. Gräfin Dönhoff setzt in ihrem Text dagegen, dass sie im Einklang mit dem Autor Robert Leicht steht, der in einem Leitartikel in DIE ZEIT für ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz eintritt und meint, es komme bei der Frage, was ein guter Bürger sei, nicht auf das Ethnische, sondern auf das Ethische an (vgl. Z. 2/3). Besorgt fragt sich die Verfasserin jedoch, wo in „unserer modernen Industriegesellschaft „man eigentlich das Ethische” (Z. 4/5) finde. Offen bleibt ihr konkret definierter Begriff von einem Ethos. Als zweiter zentraler Begriff wird der „Egoismus”, hier als purer „Egoismus”, der „jede Gesellschaft zugrunde” richte, angesprochen. Egoismus unter dem Aspekt moralischer Handlungsmuster kann nur als Gegensatz zum Altruismus verstanden werden. Das Individuum hat demnach eine moralische Haltung eingenommen, von der es nur handelt, wenn das Handeln auf das Erreichen eigennütziger Zwecke ausgerichtet ist. Psychoanalytisch gesehen dient ein „gesunder” Egoismus der Entfaltung des Ego, des Ichs im Sinne der Verwirklichung des Selbsterhaltungstriebes. Nach heutiger Erkenntnis wird Egoismus erst dann moralisch verwerflich, wenn das Leben und die Persönlichkeit anderer Individuen einer menschlichen Gesellschaft beengt beziehungsweise beeinträchtigt werden. Selbst Immanuel Kant (1724—1804) unterschied schon verschiedene Arten von Egoismus. Stellvertretend seien an dieser Stelle genannt: der metaphysische, der logische, der ästhetische und der moralische Egoismus. Dönhoff bezieht sich in ihrem Beitrag auf den moralischen Egoismus, der jede Gesellschaft zugrunde richte. 279 Beim ersten Lesen des vorgelegten Textes wird erkennbar, dass die Verfasserin die Absicht verfolgt, die Gefahr des Verlustes ethischer Normen der Gesellschaft transparent zu machen. Deutlich wird auch, dass ein Verlust moralischer Werte und Normen die Stabilität einer Gesellschaft erschüttere. Sie meint, eine Gesellschaft, die nicht über einen ethischen Minimalkonsens einig sei und die keine allgemeinen moralischen Barrieren akzeptiere, „werde mit der Zeit unweigerlich zerfallen (vgl. Z. 33-35). Mithilfe der appellativen Argumentationsweise gelingt es der Autorin, ihre Kritik an den Werteverlusten der Gesellschaft der heutigen Zeit zu begründen, gleichzeitig aber auch Wege zu offerieren, die Möglichkeiten aufzuzeigen, diesem gesellschaftlichen Dilemma zu entkommen. Gräfin Dönhoff bedient sich einer Vielzahl rhetorischer Fragen, welche insbesondere dann gestellt werden, wenn Kritikpunkte von allgemeinem Interesse sind, so zum Beispiel die Frage nach dem Ethischen in der modernen Industriegesellschaft, wenn es da heißt : „Xaber wo in unserer modernen Industriegesellschaft findet man eigentlich das Ethische? Wo verbirgt es sich?" (Z. 4/5) oder die Frage nach dem Bestand der Demokratie bei allem Pluralismus, wenn sie formuliert: „Wird die Demokratie unter den obwaltenden Umständen weiter bestehen können?” (Z. 47/48). Die Autorin nutzt innerhalb ihrer Argumentation neben rhetorischen Fragen und Thesendarstellung des Öfteren die kontrastierenden Formen des Pro und Contra bei der Bereitstellung von Argumenten und Beispielen. Das jedoch in einem ausgewogenen Maße. Dabei verwendet sie innerhalb der adversativen Beantwortung der Fragen häufig die Konjunktion „aber”, so zum Beispiel in den Zeilen 4, 31, 39,50, 57. Neben der Nutzung des Stilmittels der Antithese (vgl. Z. 3/4, 12—14, 17—21 etc.) verwendet die Verfasserin die Stilfiguren der Akkumulation (Z. 8—12, 69/70 etc.), des Weiteren sprachliche Bilder wie Metaphern und Vergleiche, um ihre Intentionen nachhaltiger dem Leser gegenüber verdeutlichen zu können. Wenn sie formuliert: „Wir leben eben in einer dynamischen Epoche und nicht, wie Jahrhunderte zuvor, in einer Welt, die durch Statik charakterisiert war” (Z.13/14), dann gelingt es der Schreiberin, ein antithetisches Bild aufzubauen. In der heutigen Zeit ist die Gesellschaft eben nicht mehr statisch, sondern dynamisch, was an die heutigen Menschen neue Anforderungen stellt, nämlich sich in dieser Welt zurechtzufinden und seine Mitmenschen trotz freier Marktwirtschaft zu achten. Marion Gräfin Dönhoff bringt in ihre Argumentationsstruktur zur Unterstützung ihrer Aussagen neben treffenden Personifikationen gleichsam wertende Attribute in den Redefluss, so zum Beispiel „unsere moderne Industriegesellschaft” (Z. 4), „das ungebremste Streben” (Z. 10), „der ständig wachsenden Erwartungen” (Z. 11) etc. Ausgehend von den Überlegungen über ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz (vgl. Z. 2) stellt die Autorin einleitend die Frage nach dem Verbleib des Ethischen in unserer Gesellschaft. Im Folgenden untersucht sie die stabilisierenden Kräfte der Gesellschaft und stellt antithetisch fest, dass von Ethik kein Mensch mehr rede (vgl. Z. 9). Bei der Analyse des modernen Menschenbildes gelangt sie zu der Erkenntnis, dass es dem heutigen Menschenbild an „Tiefendimension” (Z. 20) und befriedigender Sinngebung fehle. Unter Beachtung der neuzeitlichen Verhaltensweisen des derzeit herrschenden Wirtschaftssystems mit seinem harten Wettbewerb konstatiert die Autorin, dass vor allem der Egoismus die Triebkraft des Systems der freien Marktwirtschaft sei. Sie nutzt die Metapher „Motor” (Z. 25) für die Versinnbildlichung der Triebkraft des Egoismus, indem sie verabsolutiert: „Der Motor dieses Systems ist daher der Egoismus.” (Z. 25). Verständlich erscheint deshalb Dönhoffs Ruf nach sogenannten „Spielregeln” (Z. 31) und einem „ethischen Minimalkonsens” (Z. 34). In antithetischer Argumentationsweise wägt die Autorin weiterführend im Text Vorzüge und Nachteile der freien 280 Marktwirtschaft ab und wiederholt den Ruf nach jenem ethischen Konsens, um Auswüchsen des herrschenden Wirtschaftssystems zu begegnen und um noch weiteren negativen Entwicklungen wie etwa dem „sozialistischen System” (Z. 46) vorzubeugen. So wäre also auch weiterhin an den Bestand der Demokratie zu denken. Einerseits, so Dönhoff, fördere Demokratie den Pluralismus, biete Recht und Freiheit, aber anderseits offenbare sich verstärkt bei den Bürgern eine Politikverdrossenheit (vgl. Z. 51 f.). Die Bejahung der Vorzüge und die Politikverdrossenheit der Bürger sind zwei antithetische Pole ihres Nachdenkens über den Erhalt der Demokratie als Staatsform. Mit ihrer Aussage „Die Gesellschaft ist ganz einfach frustriert.” (Z. 57) rundet sie den Komplex ihrer Kritik ab und leitet nun über auf ihre Bemühungen, Wege zu zeigen, um aus dem aufgezeigten Dilemma herauszufinden. Man kann mit Marion Gräfin Dönhoff übereinstimmen, wenn sie meint, dass bei der Suche nach der Schuld für das Stimmungstief und den Frust der Gesellschaft die Politiker nicht unbelastet seien. Es bestehe Handlungsbedarf zur Wahrung des Sittlichen. Eine „Verantwortungsethik” (Z. 59) müsse dem modernen demokratischen Staat die Sicherheit geben, sich auf Zivilisation und sittliche Grundhaltungen verlassen zu können (vgl. Z. 66). Wiederum antithetisch wird auch über das Vorhandensein ethischer Gesinnung nachgedacht: „Ist aber ein potenzielles Reservoir an ethischer Gesinnung überhaupt vorhanden? Gibt es einen Fundus , 'der sich aktivieren lässt?” (Z. 68). Die Verfasserin spürt trotz allem aber Ansätze von Handlungsbereitschaft bei vielen Bürgern auf der Suche nach Sinnerfüllung. Gerade die Beispiele, die für ein verantwortungsbewusstes politisches Handeln stehen, wie Protestbewegungen gegen Ausländerfeindlichkeit, Solidarität und Mitwirkung an Entscheidungen (vgl. Z. 74), können als Zeichen der Hoffnung gewertet werden. Mit dem Blick auf Amerika, das seit einigen Jahren zu einem Land der communitarians (der Gemeinschaftler) geworden ist, welches sich mit weniger Staat und mehr Eigenverantwortlichkeit gestaltet, appelliert Dönhoff an die Leser, ihr Verantwortungsgefühl als Bürger neu zu belegen, sich eine Identifikation zu schaffen, sich in „ihrem” Staat der Demokratie wiederzuerkennen (vgl. Z. 88). Zaghaft versucht sie im letzten Satz des letzten Absatzes die Leser zu ermutigen, ihren Hinweisen zu folgen. Da sie jedoch annimmt, mehr oder weniger auf „verlorenem” Posten zu stehen, schränkt sie ihr Anliegen ein, indem sie diesen Satz einleitet mit dem Adverb „vielleicht” und gleichsam den Konjunktiv für die Gesamtaussage benutzt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Autorin Marion Gräfin Dönhoff dem Leser hier einen argumentativen Text mit appellativen Einschüben vorlegt, welcher sich mit der Frage nach dem Verbleib des Ethos (im moralischen Sinne) in unserer Gesellschaft beschäftigt. Dabei gelangt sie zu dem Ergebnis, dass jedes Individuum in der modernen Industriegesellschaft dafür Sorge zu tragen habe, Ethik und Moral gegenüber dem sich verbreitenden gnadenlosen Egoismus in der freien Marktwirtschaft zu verteidigen. Diesem Anliegen ist voll zuzustimmen; denn auch als Schülerin oder Schüler der gymnasialen Oberstufe wird man mehr und mehr beherrscht vom rivalisierenden Kampf um Leistungspunkte. Dabei passiert es immer häufiger, dass man vordergründig nur das eigene Ich im Blickfeld hat, ohne sich um andere noch zu kümmern. Der appellative Charakter des analysierten Textes hat mich angeregt, meine eigene Verhaltensweise zu überdenken und Ansatzpunkte zu finden, auch den Menschen an meiner Seite verstehen zu wollen. Hilfsbereitschaft, Solidarität, Freiheit und Verantwortungsbewusstsein sind Werte innerhalb einer geschaffenen Demokratie, die es zu bewahren gilt. (Weitere Texte zum Üben) 281 Elias Canetti (1905 – 1994) Der Beruf des Dichters (Münchener Rede, Januar 1976) Zu den Worten, die während einiger Zeit in hilfloser Ermattung daniederlagen, die man mied und verheimlichte, durch deren Gebrauch man sich zum Gespött machte, die man solange entleerte, bis sie verschrumpft und hässlich zur Warnung wurden, gehört „Dichter“. Wer sich auf die Tätigkeit, die wie immer weiterbestand, dennoch einließ, nannte sich „Jemand, der schreibt“. Man hätte denken können, dass es darum ging, einen falschen Anspruch aufzugeben, neue Maßstäbe zu gewinnen, strenger zu werden, gegen sich, und alles besonders zu vermeiden, was zu nichtswürdigen Erfolgen führt. In Wirklichkeit geschah das Gegenteil, eben von denen, die auf das Wort „Dichter“ erbarmungslos losschlugen, wurden die Methoden, Aufsehen zu erregen, bewusst entwickelt und gesteigert. Die kleinliche Meinung, dass alle Literatur tot sei, wurde in pathetischen Worten als Proklamation gefasst, auf kostbares Papier gedruckt und so ernst und feierlich diskutiert, als handele es sich um ein komplexes, schwieriges Denkgebilde. Gewiss, dieser besondere Fall ersoff bald in seiner Lächerlichkeit, aber auch andere, die nicht steril genug waren, sich in einer Proklamation zu erschöpfen, die bittere und sehr begabte Bücher verfassten, brachten es als „Jemand, der schreibt“ sehr bald zu Ansehen und taten nun, was früher Dichter zu tun pflegen: Statt zu verstummen, schrieben sie dasselbe Buch immer wieder. So verbesserungsunfähig und todeswürdig die Menschheit ihnen erschien, eine Funktion war ihr geblieben: ihnen zu applaudieren. Wer dazu keine Lust verspürte, wer die immerselben Ergüsse satt hatte, war doppelt verdammt: einmal als Mensch, damit war es schon nichts, und dann als einer, der sich weigerte, die endlose Sterbesucht dessen, der schrieb, als das Einzige anzuerkennen, das überhaupt noch von Wert war. Sie werden begreifen, dass ich angesichts solcher Phänomene denen, die nur schreiben, nicht weniger Misstrauen entgegenbringe als denen, die sich auch weiterhin selbstgefällig Dichter nennen. Ich sehe keinen Unterschied zwischen ihnen, sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen, eine Geltung, die sie einmal erlangt haben, scheint ihnen ein verbrieftes Recht. Denn in Wirklichkeit ist es so, dass heute niemand ein Dichter ist, der nicht ernsthaft an seinem Recht, es zu sein, zweifelt. Wer den Zustand der Welt, in der wir leben, nicht sieht, hat schwerlich etwas über sie zu sagen. Ihre Gefährdung, früher ein Hauptanliegen der Religionen, hat sich ins Diesseits verlagert. Ihr Untergang, mehr als einmal geprobt, wird von solchen, die keine Dichter sind, kühl ins Auge gefasst, es gibt welche, die seine Chancen errechnen, einen Beruf daraus machen und darüber fetter und fetter werden. Seit wir unsere Prophezeiungen Maschinen anvertraut haben, haben Prophezeiungen jeden Wert verloren. Je mehr wir von uns abspalten, je mehr wir leblosen Instanzen anvertrauen, desto weniger sind wir Herren über das, was geschieht. Aus unserer wachsenden Macht über alles, Unbelebtes wie Belebtes und besonders über Unseresgleichen, ist eine Gegenmacht geworden, die wir nur scheinbar kontrollieren. Hundert und tausend Dinge wären darüber zu sagen, aber es ist alles bekannt, das ist das Sonderbarste daran, es ist in jeder Einzelheit zur täglichen Zeitungsnotiz, zur verruchten Banalität geworden. Sie werden von mir nicht erwarten, dass ich es alles wiederhole, ich habe mir heute etwas anderes, etwas Bescheideneres vorgenommen. Vielleicht ist es der Mühe wert, darüber nachzudenken, ob es in dieser Situation der Erde etwas gibt, wodurch Dichter oder was man bisher dafür hielt, sich nützlich machen könnten. Immerhin ist, trotz aller Schicksalsschläge, die das Wort für sie zu erdulden hatte, etwas von seinem Anspruch geblieben. Literatur mag sein, was sie 282 will, sie ist eines nicht, so wenig wie die Menschheit, die noch an ihr festhält: sie ist nicht tot. Worin müsste das Leben dessen bestehen, der sie heute vertritt, was sollte er zu bieten haben? Durch Zufall bin ich kürzlich auf die Aufzeichnung eines anonymen Autors gestoßen, dessen Namen ich schon darum nicht nennen kann, weil niemand ihn kennt. Sie trägt das Datum: 23. August 1939, das war eine Woche vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, und lautet: „Es ist aber alles vorüber. Wäre ich wirklich ein Dichter, ich müsste den Krieg verhindern können.” Welch ein Unsinn, sagt man sich heute, da man weiß, was seither geschehen ist, welche Anmaßung! Was hätte ein Einzelner verhindern können, und warum gerade ein Dichter? Lässt sich ein Anspruch denken, der wirklichkeitsferner ist? Und was unterscheidet diesen Satz vom Bombast derer, die durch ihre Sätze bewusst den Krieg herbeigeführt haben? Ich las ihn irritiert, ich schrieb ihn mit steigender Irritation heraus. Hier, dachte ich, habe ich gefunden, was mir an diesem Wort ,Dichter' am meisten zuwider ist, einen Anspruch, der in krassestem Widerspruch steht zu dem, was ein Dichter bestenfalls vermöchte, ein Beispiel für die Großsprecherei, die dieses Wort diskreditiert hat und einen mit Misstrauen erfüllt, sobald einer der Gilde sich auf die Brust schlägt und mit seinen kolossalen Absichten herausrückt. Aber dann, während der folgenden Tage, spürte ich zu meinem Erstaunen, dass der Satz mich nicht losließ, dass er mir immer wieder in den Sinn kam, dass ich ihn hernahm, zerlegte, wegstieß und wieder hernahm, als liege es nur an mir, einen Sinn darin zu finden. Es war schon sonderbar, wie er begann: „Es ist aber alles vorüber”, Ausdruck einer vollkommenen und hoffnungslosen Niederlage zu einer Zeit, da die Siege beginnen sollten. Da alles auf sie abgestellt wurde, spricht er bereits die Trostlosigkeit des Endes aus und zwar so, als wäre es unvermeidlich. Der eigentliche Satz aber: „Wäre ich wirklich ein Dichter, ich müsste den Krieg verhindern können” enthält bei näherem Zusehen das Gegenteil einer Großsprecherei, nämlich das Eingeständnis kompletten Versagens. Noch mehr aber drückt er das Eingeständnis einer Verantwortung aus und zwar dort – das ist das Verwunderliche daran –, wo man von Verantwortung im üblichen Sinne des Wortes am wenigsten sprechen könnte. [...] Gertrud Lehnert (geb. 1956) Mit dem Handy in der Peepshow — Die Inszenierung des Privaten im öffentlichen Raum [...] Die Modegattung des 18. und 19. Jahrhunderts war nicht zufällig der Roman, dessen exklusiver Gegenstand das Private ist — und der dieses Private paradoxerweise vollkommen öffentlich macht. Romane haben zwar seit ein paar Jahrzehnten ihre wahrnehmungsprägende Bedeutung eingebüßt, sie sind durch Film und Fernsehen ersetzt worden. Ein großer Roman jedoch dominiert unsere Kultur, wie kein anderer zuvor es jemals vermochte: die Psychoanalyse. Sigmund Freud hat um 1900 eine Sprache entwickelt, die das bislang unsagbar Intime sagbar machte, und dieses Intime wurde gleichzeitig reduziert auf Sexualität. Seither erzählt und deutet uns die Psychoanalyse unsere individuellen Lebensgeschichten und macht sie zu kohärenten und sinnvollen Lebens- und Gesellschaftsromanen. Die Psychoanalyse hat unsere kulturelle Wahrnehmung verändert und unsere 283 Realitätsauffassung umstrukturiert. [...] Die Psychoanalyse bezieht sich aufs Individuum, aber sie meint alle Individuen. Denn in ihrer Perspektive teilen wir alle mehr oder weniger die gleiche Leidensgeschichte und die gleiche Hoffnung auf Heilung. Sie präsentiert unsere zeitgenössische Kultur als eine prekäre und in ihrem Gleichgewicht stets bedrohte Mischung partikularer Egoismen. Die Psychoanalyse ist der Mythos des 20. Jahrhunderts geworden. Als dann in den 90er Jahren die — trivialisierte — Psychoanalyse auf die neuen Kommunikationsmedien traf, entstand aus dieser Verbindung eine gänzlich neue kulturelle Situation, die dennoch konsequent an die historische Entwicklung anknüpft. Gott ist zwar definitiv ersetzt worden durch das allmächtige „Ich”, das omnipräsente Auge Gottes aber ist mutiert in das jeweilige elektronische Kommunikationsinstrument — das Handy zum Beispiel oder den PC mit Internetzugang — das jedes Individuum jederzeit und überall von einem körperlosen Publikum erreichbar und beobachtbar macht. „Big Brother” spioniert uns nicht mehr gegen unseren Willen aus, wir holen ihn freiwillig in unsere Wohnzimmer. Der in der letzten Dekade möglich gewordene globale Austausch des Privatesten und Banalsten hat die Intimität selbst endgültig durch die permanente Inszenierung von Intimität ersetzt. Privatheit findet auf der Straße oder im Internet statt, und das Publikum ist allgegenwärtig. Selbst wenn wir in unseren vier Wänden sind, können via Telefon, Fernsehen oder auf anderen Wegen jederzeit andere Menschen (und auch deren Intimität) in unsere Privatsphäre eindringen. Ein grundlegender Wandel hat sich damit in den Lebensbedingungen der Industriestaaten vollzogen: Die ursprünglich nur für Großstädte charakteristische Situation ist zur universellen Lebenssituation geworden. Auch auf dem „platten Lande” herrscht der Dualismus zwischen der Sehnsucht nach Intimität und der Notwendigkeit, ja dem Drang, sie öffentlich zu inszenieren. Längst ist auch hier die Möglichkeit, immer und überall mit jedermann auf der ganzen Welt zu kommunizieren, ständig dicht von anderen Menschen bedrängt zu werden oder sie zu bedrängen, zur Normalität geworden. Da wir jederzeit mit Zuschauern rechnen müssen, fühlen wir uns unaufhörlich beobachtet. Das liegt daran, dass wir die Zuschauerinstanz in unsere Köpfe verlagern, so dass wir auf unserer imaginären Bühne, selbst wenn wir tatsächlich allein sind, doch immer auch von (mindestens) einem imaginären Zuschauer beobachtet werden: von uns selbst, und unser Verhalten dementsprechend einrichten. Wir inszenieren uns, selbst wenn wir allein sind. So könnten wir jederzeit von realen Zuschauerinnen überrascht werden, ohne je auf dem linken Fuß erwischt zu werden. [...] Die Inflation der Handys in unserem Alltag ist ein besonders anschauliches Beispiel dafür, wie wenig sich heute noch (vermeintlich) „authentisches” Verhalten und Inszenierung unterscheiden lassen. Tatsächlich jedoch findet die Inszenierung der Intimität im öffentlichen Raum auf Hunderte von unterschiedlichen Weisen statt. In nachmittäglichen Talkshows schwatzen „Menschen wie du und ich” vor einem Millionenpublikum ganz schamlos über ihre intimsten Gefühle und über ihre sexuellen Praktiken und Probleme. Zeitungen und Zeitschriften berichten ausführlich über das offizielle oder heimliche Liebesleben von Prominenten. Der amerikanische Präsident Clinton wäre fast an seiner Sex-Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky gescheitert – oder doch zumindest an seiner mangelnden Aufrichtigkeit in dieser Angelegenheit, auf die die Öffentlichkeit ein Recht zu haben glaubt: Sie will informiert werden – und aufrichtig informiert werden – über das, was der Präsident im Bett und außerhalb des Bettes tut, und sie richtet ihr politisches Verhalten nach diesen höchst intimen Details. Prinzessin Diana hat, so will es ihr inzwischen festgezimmerter Mythos, dieses 284 Interesse des Publikums an ihrem Privatleben buchstäblich zugrunde gerichtet, und noch nach ihrem Tod lässt ihr die öffentliche Neugier keine Ruhe. Diese Inszenierung der fremden Intimität im öffentlichen Raum in der allgegenwärtigen Bilderflut vermag im Extremfall unser eigenes Leben zu vertreten und überflüssig zu machen, solange wir mit Bildern von anderen gefüttert werden. Unsere privaten Räume scheinen fast ausnahmslos zu mehr oder weniger öffentlichen Bühnen mutiert zu sein. Niemals zuvor haben Menschen ihr Innerstes so konsequent nach außen gekehrt. Alles scheint jederzeit und überall sagbar und zeigbar zu sein. Ist das die „Tyrannei der Intimität”, wie der Untertitel eines Buches von Richard Sennett lautet? Oder ist unsere Kultur an dem Punkt angekommen, an dem Intimität nur noch eine Maskerade ist, hinter der sich nichts verbirgt, weil nichts mehr geheim ist? [... ] ______________ Big Brother: zunächst Anspielung auf den „Big Brother” titulierten Führer eines diktatorisch regierten Staates in George Orwells 1949 veröffentlichtem Roman 1984, in dessen Namen mittels allgegenwärtiger Fernsehmonitore die Bevölkerung überwacht und manipuliert wird; zugleich Verweis auf die Fernsehserie „Big Brother”, in der vom Sender ausgewählte Personen freiwillig für 100 Tage unter ständiger Beobachtung durch Fernsehkameras zusammenleben und die Zuschauer in regelmäßigen Abständen darüber entscheiden, wer die Gruppe zu verlassen hat. Zuschauerinnen: Die Autorin verwendet häufig die feminine Form hei der Bezeichnung von Personengruppen. Richard Senett: amerikanischer Soziologe, geb. 1943; sein Buch „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens”, dessen Untertitel zitiert wird, erschien 1974 in New York. Hugo von Hofmannsthal: Brief des Lord Chandos (1901/02) Philipp Lord Chandos ist der von Hofmannsthal gewählte fiktive Verfasser des Textes, der dieser Fiktion nach im Jahre 1603 an Francis Bacon schreibt, um sich bei diesem Freunde "wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu entschuldigen." (...) Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit anhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte "Geist", "Seele" oder "Körper" nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. Es begegnete mir, dass ich meiner vierjährigen Tochter Katherina Pompilia eine kindische Lüge, deren sie sich schuldig gemacht hätte, verweisen und sie auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, hinführen wollte und dabei die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen, dass ich den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir 285 unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn, das Kind allein ließ, die Tür hinter mir zuschlug und mich erst zu Pferde, auf der einsamen Hutweide einen guten Galopp nehmend, wieder einigermaßen herstellte. Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. Es wurden mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urteile, die leichthin und mit schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, dass ich aufhören musste, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen. Mit einem unerklärlichen Zorn, den ich nur mit Mühe notdürftig verbarg, erfüllte es mich, dergleichen zu hören, wie: diese Sache ist für den oder jenen gut oder schlecht ausgegangen; Sheriff N. ist ein böser, Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist zu bedauern, seine Söhne sind Verschwender; ein anderer ist zu beneiden, weil seine Töchter haushälterisch sind; ein Familie kommt in die Höhe, eine andere ist im Hinabsinken. Dies alles erschien mir so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich. Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muss: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins' Leere kommt. (...) Seitdem führe ich ein Dasein, das Sie, fürchte ich, kaum begreifen können, so geistlos, so gedankenlos fließt es dahin; ein Dasein, das sich freiwillig von dem meiner Nachbarn, meiner Verwandten und der meisten Land besitzenden Edelleute dieses Königreiches kaum unterscheidet und das nicht ganz ohne freudige und belebende Augenblicke ist. Es wird mir nicht leicht, Ihnen anzudeuten, worin diese guten Augenblicke bestehen; die Worte lassen mich wiederum im Stich. Denn ist es ja etwas völlig Unbenanntes und auch wohl kaum Benennbares, das in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Lebens wie ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet. Ich kann nicht erwarten, dass Sie mich ohne Beispiel verstehen, und ich muss Sie um Nachsicht für die Albernheit meiner Beispiele bitten. Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes oder rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen. (...) Text aus: H. von Hofmannsthal: Gesammelte Werke, Prosa 11, Frankfurt 1959, S. 7—20 (Auszüge) _____________ Blachfeld = flaches Feld 286 Martin Walser: Warum liest man überhaupt'? Weil die Großmutter aufgehört hat zu erzählen; sei es, weil sie tot ist oder sich endgültig vor dem Fernsehapparat eingerichtet hat. Warum richte ich mich nicht auch endgültig vor dem Fernsehapparat ein? Weil es mir auf die Dauer zu anstrengend ist, so passiv zu sein. Ist das nur eine Papierblüte, dass das Passivsein, also das Nichtstun anstrengend sei, oder steckt etwas dahinter? Wenn das Bewusstsein oder die Seele oder der Geist — egal wie wir unsere innere Unruhe nennen —, wenn diese imaginäre Wesensmilch längere Zeit nicht selber brodeln darf, wird sie sauer. Unser Bewusstseinsseelengeist will ja selber ein Film sein, der andauernd läuft, und er geht einfach ein, wenn er längere Zeit bloß dem Beschuss oder Genuss fix und fertiger Außenfilme ausgesetzt ist. Wird also die Seele oder das Bewusstsein beim Lesen aktiver als beim Filmanschauen'? Ja, weil das Geschriebene unfertig ist und von jedem Leser erst zum Leben erweckt und dadurch vollendet werden muss; kein bisschen anders als die Notenschrift des Komponisten durch den Sänger, den Pianisten undsoweiter. Der Leser braucht die gleichen Voraussetzungen, die der Musizierende braucht. Ich spreche nicht von Bildungsquanten. Wie klänge ein Schubert-Lied, wenn der, der es singt, nichts hätte als eine Stimme und eine Ausbildung, von dem Unerträglichen aber, gegen das diese Lieder geschrieben wurden, hätte er keine Ahnung! So wenig genügt es, lesen gelernt zu haben, um Kafka lesen zu können. Wer, zum Beispiel, unter Umständen lebt, die ihn über seine Lage hinwegtäuschen, liest nicht. Wer glaubt, nichts mehr zu fürchten und nichts mehr zu wünschen zu haben, kann ganz sicher keinen Kafka mehr lesen. Wer zum Beispiel glaubt, er sei an der Macht, er sei oben, er sei erstklassig, er sei gelungen, er sei vorbildlich, wer also zufrieden ist mit sich, der hat aufgehört, ein Leser zu sein. Der geht wahrscheinlich in die Oper. Wer aber noch viel zu wünschen und noch mehr zu fürchten hat, der liest. Lesen hat keinen anderen Anlass als Schreiben. Auch das Schreiben findet statt, weil einer etwas zu wünschen und zu fürchten hat. Lesen und Schreiben wären also eng verwandt? Es sind zwei Wörter für eine Tätigkeit, die durch die unser Wesen zerreißende Arbeitsteilung zu zwei scheinbar unterscheidbaren Tätigkeiten gemacht wurde. Also weil einem etwas fehlt, schreibt er und weil ihm etwas fehlt, liest er? Wenn der Leser nicht die gleichen Erfahrungen gemacht hat, die der Autor gemacht hat, sagt ihm das Buch nichts, es ist tot für ihn. Man sagt dann, er kann mit dem Buch nichts anfangen. Ein Buch, das dem Wünschen und Fürchten von sehr vielen Menschen entspricht, mit dem schon sehr viele Menschen etwas anfangen konnten, ist, zum Beispiel, Robinson Crusoe. Jeder will weit fort und es soll letzten Endes doch gut ausgehen. Die Wirklichkeit macht meistens nicht mit. Sie vereitelt unseren Wunsch, unseren Anspruch, unser Recht. Auf die Vereitelung, auf dieses Dreinpfuschen der Wirklichkeit antwortet jedes Buch. Man nennt den Wunschcharakter, den diese Antwort annimmt, Fiktion. In der Fiktion bestreiten wir der Wirklichkeit ihr Recht, in unsere Erwartungen hineinzupfuschen. Man muss es hundertmal sagen, dass das Schreiben nicht Darstellen ist, nicht Wiedergeben ist, sondern Fiktion, also eo ipso Antwort auf Vorhandenes, Passiertes, Wirkliches, aber nicht Wiedergabe von etwas Passiertem. Deshalb ist Lesen auch nicht Zurkenntnisnehmen, sondern Entgegnung. Der Leser antwortet. Er antwortet mit seinem eigenen Wünschen und Fürchten. Er antwortet auf die Fiktion des Schreibens mit seiner Fiktion. Der Leser potenziert also die Fiktion. Erst in ihm entfaltet also die Fiktion ihre Protestkraft, Kritikkraft, Wunschkraft. Auch ein Buch, das kein happy end hat, zeigt durch seine Stimmung, dass es lieber 287 gut ausginge; dass es den Zustand beklagt, der zu diesem unhappy end führt; dass es eine Wirklichkeit wünscht, in der das Ende glücklich wäre. Ich kenne nicht ein einziges Buch, in dem ein unglückliches Ende bejubelt wird, in dem der Schreiber sich glücklich zeigt über das unglückliche Ende, das seine Geschichte unter den herrschenden Umständen nehmen musste Das ist das Gemeinsame: Leser und Schreiber wünschen ein besseres Ende jeder Geschichte, d. h., sie wünschen, die Geschichte verliefe überhaupt besser. Nur wenn die große und ganze Geschichte besser verläuft, können die unzähligen einzelnen Lebensgeschichten besser ausgehen. Leser und Schreiber sind also uneinverstandene Leute, Leute, die sich nicht abgefunden haben. Noch nicht. Hätten sie sich abgefunden, wären sie zufrieden mit sich und allem, würden sie nicht mehr lesen und schreiben, sondern gingen andauernd in die Oper. (Text aus: Martin Walser: "Über den Leser — soviel man in einem Festzelt sagen sollte"; in: "literatur konkret", 2. Jg. 1978, H. 3, Hamburg 1978, S. 59) Methodik der Textanalyse (pragmatische Texte) I. Einleitung Informationen über den Text bzw. Textauszug: Verfasser, Titel, Veröffentlichungsdatum, Thema, Textsorte, Medium geben II. Erfassen des Textes in den wesentlichen Elementen und Strukturen 1. 2. 3. 4. 5. III. Strukturierte Textwiedergabe erstellen: Aufbau und Inhalt die Argumentation auf Sachlichkeit und Schlüssigkeit prüfen sprachliche und stilistische Auffälligkeiten herausstellen die Position und Intention des Textes / Verfassers herausstellen den Adressaten- und Situationsbezug darlegen Beurteilung des Textes 1. die Wirkung des Textes bezüglich der Intention bewerten 2. den Text in übergreifende Zusammenhänge einordnen (z.B. Sachgebiet, historischer Kontext, politische und soziale Verhältnisse, Bedingumgen der medialen Vermittlung usw.) 288 2. das erörternde Erschließen pragmatischer Texte: Texterörterung Die Erörterung einer Textvorlage erfordert a) das Verstehen des Inhalts des Textes, also das Thema, das Problem den Hauptgedanken, die Kernthese die Argumentation die verwendeten Begriffe und die Beziehungen zwischen den Aussagen b) das Erkennen des Verwendungszusammenhangs des Textes, also die Position und Absicht des Verfassers der Entstehungszusammenhang des Textes c) die kritische Prüfung der Textvorlage, also die Überzeugungskraft der Argumente die Vollständigkeit der Argumentationen die Haltbarkeit der Verfasserposition d) das eigene Urteil zur Textvorlage, also die eigene Stellungnahme zum Problem die Beurteilung und Wertung der Textvorlage Der wichtigste Teil einer solchen Erörterung ist die kritische Prüfung des Textes, bei der eine sachliche Auseinandersetzung mit Inhalt, Argumentation, Position und Absicht der Textvorlage bzw. des Verfassers verlangt ist. Diese Auseinandersetzung wird geführt auf der Grundlage der eigenen Auffassung und Wertung (z.B. eines literarischen Textes). Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist dann eine Beurteilung der Textvorlage bzw. der Verfasserposition. Dabei sind grundsätzlich drei Richtungen möglich: Zustimmung, Ablehnung, Differenzierung. Entweder stimmt man dem Verfasser zu, oder man lehnt seine Auffassung ab, oder man stimmt nur teilweise zu. An einem Beispiel sollen die einzelnen Arbeitsschritte aufgezeigt werden. Wir legen folgenden Text zu Grunde: Arthur Schopenhauer: Über Lesen und Bücher Wenn wir lesen, denkt ein anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Prozess. Es ist damit, wie wenn beim Schreibenlernen der Schüler die vom Lehrer mit Bleistift geschriebenen Züge mit der Feder nachzieht. Demnach ist beim Lesen die Arbeit des Denkens uns zum größten Teile abgenommen. Daher 5 die fühlbare Erleichterung, wenn wir von der Beschäftigung mit unsern eigenen Gedanken zum Lesen übergehen. Aber während des Lesens ist unser Kopf doch eigentlich nur der Tummelplatz fremder Gedanken.. Wenn nun diese endlich abziehen, was bleibt? Daher kommt es, dass, wer sehr viel und fast den ganzen Tag liest, dazwischen aber sich in gedankenlosem Zeitvertreib erholt, die 10 Fähigkeit selbst zu denken allmählich verliert - wie einer, der immer reitet, zuletzt 289 15 20 25 30 das Gehen verlernt. Solches aber ist der Fall sehr vieler Gelehrten: Sie haben sich dumm gelesen. Denn beständiges, in jedem freien Augenblicke sogleich wieder aufgenommenes Lesen ist noch geisteslähmender als beständige Handarbeit, da man bei dieser doch den eigenen Gedanken nachhängen kann. Aber wie eine Springfeder durch den anhaltenden Druck eines Körpers ihre Elastizität endlich einbüßt, so der Geist die seine durch fortwährendes Aufdringen fremder Gedanken. Und wie man durch zu viele Nahrung den Magen verdirbt und dadurch dem ganzen Leib schadet, so kann man auch durch zu viele Geistesnahrung den Geist überfüllen und ersticken. Denn je mehr man liest, desto weniger Spuren lässt das Gelesene im Geist zurück: Er wird wie eine Tafel, auf der vieles übereinander geschrieben ist. Daher kommt es nicht zur Rumination3: Aber durch diese allein eignet man sich das Gelesene an, wie die Speisen nicht durch das Essen, sondern durch die Verdauung uns ernähren. Liest man hingegen immerfort, ohne späterhin weiter daran zu denken, so fasst es nicht Wurzeln und geht meistens verloren. Überhaupt aber geht es mit der geistigen Nahrung nicht anders als mit der leiblichen: Kaum der fünfzigste Teil von dem, was man zu sich nimmt, wird assimiliert; das übrige geht durch Evaporation4, Respiration5 oder sonst ab. Zu diesem allen kommt, dass zu Papier gebrachte Gedanken überhaupt nichts weiter sind als die Spur eines Fußgängers im Sand: Man sieht wohl den Weg, welchen er genommen hat; aber um zu wissen, was er auf dem Weg gesehen, muss man seine eigenen Augen gebrauchen. (aus: Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. In: Sämtliche Werke, Band 5; Frankfurt / M. 1986, S.651/2) Die erste Voraussetzung der Texterörterung ist natürlich die Texterfassung: Der Text muss allererst verstanden sein, damit eine Auseinandersetzung mit ihm möglich wird. Dazu ist es nötig bzw. ratsam, den Text mehrmals durchzulesen und dabei Wichtiges zu markieren, herauszuschreiben oder sich Stichwörter zu notieren. Damit wir das Wichtige einem Text finden, fragen wir: Zu welchem Thema oder Problem äußert sich der Verfasser überhaupt? Welche Meinung bzw. Position vertritt er zu diesem Thema? Wie begründet er seine Auffassung? Diese Fragen vor Augen lesen Sie den Text noch einmal und arbeiten im Text, indem Sie Wesentliches markieren und die Abfolge des Gedankenganges stichwortartig am Rand vermerken. Das Ergebnis dieses Arbeitsschrittes kann z.B. auch wie folgt aussehen: 3 reifliche Überlegung Ausdünstung 5 Atmung 4 290 291 Schon beim ersten Lesen ist klar geworden, dass Schopenhauer sich mit dem Lesen oder genauer gesagt: mit der Wirkung des Lesens auf den Leser beschäftigt. Das ist sein Thema. Seine Auffassung zu diesem Thema scheint negativ zu sein: Er wertet das Lesen ab und gibt einige Gefahren des Viellesens an. Aber - wie genau verläuft sein Gedankengang? → Analyse des Textes Kognitive Texte (z.B. wissenschaftliche Texte) und informative Texte (z.B. viele journalistische Texte) sind von der Struktur her gesehen immer argumentative Texte. Die Analyse solcher Texte konzentriert sich auf die Argumentationsstrukturen, formal und inhaltlich. Wenn Sie Schwierigkeiten haben beim Erkennen von Argumentationsstrukturen, dann stehen Ihnen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, diese zu ermitteln. Da wie Sie schon wissen - Argumentation formal bedeutet, Aussagen bzw. Sätze kausal miteinander zu verbinden, können Sie bei argumentativen Texten versuchen, die einzelnen Sätze mit „weil“ zu verbinden und prüfen, ob das funktioniert. Wenn das inhaltlich stimmig ist, dann wissen Sie zunächst schon, dass der Weil-Satz vom anderen abhängig ist und in der Argumentation diesem untergeordnet ist. Ob der andere Satz damit schon eine These ist, muss in gleicher Weise mit den anderen Sätzen geprüft werden. Dies ist natürlich ein zeitaufwändiges Verfahren. Ein anderes Verfahren ist vielleicht nahe liegender: Sie schreiben die wichtigen Aussagen des Textes auf: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Beim Lesen wiederholt man nur den mentalen Prozess eines anderen. Beim Lesen wird einem das eigene Denken abgenommen. Wer viel liest, verliert allmählich die eigene Denkfähigkeit. Man kann sich wie viele Gelehrten dumm lesen. Der Geist kann durch zu viel Geistesnahrung überfüllt und erstickt werden. Vielleserei führt dazu, dass nur ganz wenig aufgenommen wird. Geschriebenes ist wie eine Lesespur, die nur die Richtung weist. Schauen Sie sich nun den Gedankengang an, dann sehen Sie, dass Schopenhauer drei Aspekte (Teilthemen) hat: Er spricht über eine Eigenart des Lesens, er spricht über die Folgen des Viellesens und er spricht zuletzt (metaphorisch) von einer Eigenart von Texten bzw. Büchern. Zu diesem Ergebnis gelangen Sie auch, wenn Sie die Sätze nach dem schon genannten Verfahren mit „weil“ verbinden. Sie sehen dann, dass die beiden ersten Sätze mit „weil“ verbunden werden können (2. Satz ist übergeordnet), dass aber der 3.Satz weder mit dem 1. noch mit dem 2. Satz verbunden werden kann. Sehr wohl können jedoch die Sätze 4, 5 und 6 mit dem 3. Satz kausal verbunden werden (Man verliert die eigene Denkfähigkeit, weil man sich dumm lesen kann, weil den Geist ersticken kann, weil nur ganz wenig hängen bleibt.). Zuletzt sehen Sie auch, dass der 7.Satz nicht vom 3.Satz abhängig ist, sondern einen neuen Aspekt nennt, der mit dem 1. Satz zu tun hat, aber nicht kausal mit diesem verbunden werden kann. 292 Daraus ergibt sich, dass Schopenhauers Text drei Thesen umfasst, die sehr unterschiedlich begründet sind. Das Schwergewicht liegt bei der Darlegung der Folgen des Lesens (Mittelteil); sie umfasst die meisten Begründungen. Wenn Sie den Text so weit durchschaut haben, können Sie die Textwiedergabe anfertigen; denn sie bildet in der künftigen Reinschrift (Fließtext) nach der Einleitung den zweiten Teil der Ausarbeitung. Diese Textreproduktion hat besonders bei Klausuren vor allem zwei Funktionen: Da das Verständnis der Textvorlage bei diesem Aufgabentyp die notwendige Voraussetzung für die weitere Arbeit bildet, soll die Textwiedergabe zeigen, von welchem Textverständnis der Schüler bei seinen Darlegungen ausgeht. Da Klausuren nicht nur zielgerichtete, sondern auch adressatenbezogene Darstellungsformen sind, soll die Textwiedergabe den Leser mit der Grundlage der Klausur vertraut machen, sodass er den weiteren Ausführungen folgen kann. Exkurs: Textwiedergabe Für die Textwiedergabe stehen Ihnen prinzipiell drei unterschiedliche Verfahren zur Verfügung: 1. die Textwiedergabe in der indirekten Rede (im Konjunktiv) 2. die thesenartige Textwiedergabe (im Indikativ) 3. die Textbeschreibung bzw. umschreibende Textwiedergabe (im Indikativ) 1. Textwiedergabe in der indirekten Rede (Konjunktiv) Zu Beginn sagt Schopenhauer, dass man beim Lesen lediglich den mentalen Prozess eines anderen wiederhole. Deshalb werde einem das eigene Denken weitgehend abgenommen. Während des Lesens sei unser Kopf „eigentlich nur der Tummelplatz fremder Gedanken“. Wer viel lese, verliere allmählich die Fähigkeit selbst zu denken, wie ein dauerhafter Reiter die Gehfähigkeit verliere. Der Geist könne wie der Magen durch zu viel Nahrung überfüllt und erstickt werden. Vielleserei verhindere auch die gedankliche Aneignung und führe dazu, dass nur ganz wenig haften bleibe. Zuletzt sagt Schopenhauer, dass Geschriebenes wie Spuren im Sand lediglich den Weg weise, aber das eigene Denken nicht ersetzen könne. 2. Textwiedergabe in Thesenform (Indikativ) In seinen Ausführungen „über Lesen und Bücher“ stellt Schopenhauer folgende Thesen auf: 1. Beim Lesen wird uns das eigene Denken abgenommen. 2. Wer viel liest, verliert allmählich seine eigene Denkfähigkeit. 3. Bücher können nur den Weg weisen, aber nicht das eigene Denken ersetzen. 293 3. Textwiedergabe als Textbeschreibung (Indikativ) In seinen Ausführungen „über Lesen und Bücher“ gibt Schopenhauer seine Auffassung über das Lesen bzw. über die Wirkung des Lesens auf den Leser wieder. Für ihn ist das Lesen nur die Wiederholung fremder Gedanken. Er warnt davor, zu viel zu lesen, weil er die Gefahr sieht, dass dabei die eigene Denkfähigkeit verloren geht. Er vergleicht diese Gefahr mit einem dauerhaften Reiter, der das Gehen verlernt. Er unterstellt vielen Gelehrten Dummheit auf Grund ihres Lesens. Mit einem weiteren Vergleich untermauert er die Gefahren des Lesens: Wie die Völlerei den Magen verdirbt, so erstickt die Vielleserei den Geist. Das Bild von Nahrung und Verdauung führt Schopenhauer dahingehend fort, dass auch Lesen und Reflexion („Rumination“) zusammengehören, wenn das Gelesene nicht verloren gehen soll. Im letzten Abschnitt bietet Schopenhauer noch einen anschaulichen Vergleich für die Funktion von Geschriebenem: Wie die Spuren im Sand lediglich den Weg weisen, so können fremde Gedanken nur anregen, aber nicht das eigene Denken ersetzen. Diese drei Alternativen erfüllen gleichermaßen den Zweck der Textreproduktion: Sie zeigen das Textverständnis und geben dem Leser eine gute Grundlage für das Verständnis der folgenden Arbeitsschritte. Von da her sind diese Textwiedergaben gleichwertig. → Prüfung der Argumentation Der nächste Arbeitsschritt - wir befinden uns immer noch bei den Vorarbeiten besteht darin, die Argumentation Schopenhauers zu überprüfen; das bedeutet zu fragen Werden die Behauptungen (Thesen) begründet? Wie werden sie begründet (vollständig, folgerichtig) ? Welche sprachlichen Besonderheiten fallen auf? Sind die Begründungen sachbezogen (oder eher unsachlich) ? Sind die Aussagen überzeugend? Mit diesen Fragen gehen wir nun an den Text heran und beginnen die eigentliche Erörterung, die Auseinandersetzung mit dem Verfasser. Methodisch kann man dabei so vorgehen, dass man die Gedankenschritte bzw. Argumentationen nacheinander betrachtet und prüft. Dabei beschreibt man zunächst die äußere Struktur einer Sinneinheit, um sich damit sozusagen die „Angriffsflächen“ für die Auseinandersetzung zu schaffen. Bezogen auf den ersten Teil unseres Textbeispiels kann dies etwa folgendermaßen ausgeführt werden: In seiner ersten These behauptet Schopenhauer, dass uns beim Lesen das eigene Denken abgenommen wird. Er begründet diese Meinung mit der Aussage, dass beim Lesen ein anderer für uns denkt und wir nur dessen Gedanken wiederholen, wie ein Schüler beim Schreibenlernen das Vorgeschriebene nachschreibt. Ein zweites Argument, das Schopenhauer vorbringt, bekräftigt lediglich das schon Gesagte: Beim Lesen sei unser Kopf „eigentlich nur der 294 Tummelplatz fremder Gedanken“. An Schopenhauers Sprache fällt einerseits auf, dass er auffällige Metaphern verwendet, um die Lesetätigkeit als fremdbestimmt abzuwerten. Das Denken wird uns „abgenommen“ (Z.4) und unser Kopf ist beim Lesen nur „der Tummelplatz fremder Gedanken“ (Z.7). Zum anderen fallen die Vergleiche auf, die Schopenhauer ebenfalls einsetzt, um die Minderwertigkeit und Gefährlichkeit des Lesens zu unterstreichen. Der Schüler, der das Schreiben lernt, imitiert nur, der Reiter, der das Gehen verlernt, kann nur noch verlacht werden, und die Gelehrten verdummen beim Lesen. Damit ist der erste Teil des Textes erfasst. Die Beschreibung hat mindestens vier Ansätze bzw. Angriffsflächen für die Erörterung ergeben: die These, die Argumente und der Vergleich. An diese Ansätze stellt man nun die Standardfragen: Stimmt es überhaupt, dass ...?, Ist es richtig, dass ...?, Ist es überzeugend, dass ...? Bei dieser Vorgehensweise zeigt sich die enge Verwandtschaft zwischen der dialektischen und der Texterörterung und es wird klar, warum die dialektische Erörterung die beste Voraussetzung für die Texterörterung darstellt. Bei der dialektischen Erörterung läuft alles auf Pro- und Contra-Argumentationen hinaus. Bei der Texterörterung ist es ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass die Grundlage der Erörterung mit dem Text schon vorliegt. Statt der Frage „Stimmte es, dass ...?“ kann ich auch fragen: Was spricht für die Auffassung des Verfassers? Was spricht gegen die Auffassung des Verfassers? Bezieht man diese Fragen auf Schopenhauers These und Argumentation des ersten Textteils, wird man eine Menge von Gedanken und Einfällen haben, die man stichwortartig auf dem Konzeptpapier notieren sollte, getrennt nach Pro und Contra. Je ausführlicher man diese Arbeitsschritte durchführt, um so leichter fällt später die Ausführung, die zusammenhängende schriftliche Darstellung. Bezogen auf unser Textbeispiel kann die Ausführung zur ersten Argumentation etwa so lauten: Schopenhauer hat Recht mit seiner Aussage, dass wir beim Lesen fremde Gedanken nachdenken. Man muss sich ja in die Gedankenwelt des Schreibers hineinversetzen, um seine Gedanken verstehen zu können. Oft kommt es dabei vor, dass man sich so intensiv in das im Buch Dargestellte versenkt, dass man als Leser aus der realen Welt herausgerissen wird, Ort und Zeit vergisst und sich ganz in die Gedanken- oder Fantasiewelt des Buches begibt. Aber - so muss man doch fragen - ist das ein so passiver Vorgang, wie es bei Schopenhauer anklingt? Einen Gedanken nachdenken und ihn verstehen ist doch nur möglich, wenn man ihn in die eigene Gedankenwelt integrieren kann, wenigstens für die Zeitspanne des Aufnehmens und Verstehens. Dazu ist ein aktives Nach- und Mitdenken nötig; das geschieht nicht quasi automatisch, wie Schopenhauer glauben machen will. Wenn es nicht so wäre, würde jeder Leser schon über die Gedanken des Schreibers verfügen, würde den gleichen Bewusstseinszustand und den gleichen Erfahrungshorizont haben wie der Schreiber. Nur dann wäre das Lesen eine Wiederholung eines mentalen Prozesses; dann würde auch Schopenhauers Vergleich mit dem Schreibenlernen über295 zeugen. Da sich aber Bewusstsein und Erfahrungshintergrund aller Menschen voneinander unterscheiden, sind Lesen und Verstehen fremder Gedanken immer mit eigener Denkarbeit verbunden. Lesen kann in diesem Sinne auch nie mit einem „Tummelplatz fremder Gedanken“ beschrieben werden. Diese abwertende Wortwahl trifft nicht einmal für das Lesen der anspruchlosesten Unterhaltungsliteratur zu, die den Leser in eine heile Welt hineinzieht. Auch hier muss das Geschriebene verstanden, die Bilder und Handlungen in die Welt des Lesers transformiert werden. Man wird sicherlich zugestehen, dass bei dieser Art von Literatur der Aufwand des Lesers geringer ist als z.B. bei philosophischer Literatur. Von daher müssen auch Schopenhauers Verallgemeinerungen und seine undifferenzierte Verabsolutierung als provokativ, ja ärgerlich wirken. Mit seiner Formulierung, beim Lesen werde uns die Arbeit des Denkens „zum größten Teil“ abgenommen, gesteht Schopenhauer jedoch selbst zu, dass seine Aussage, beim Lesen „denkt ein anderer für uns“ , nicht ganz stimmig ist. Besonders deutlich wird die Unhaltbarkeit von Schopenhauers Auffassung, wenn man an das Lesen von Gedichten, Dramen oder Romanen denkt, wie es in der Schule üblich ist. Es ist ja gerade ein Wesensmerkmal dieser sog. Kunstliteratur, dass sie multidimensional und polyvalent ist und sich dem oberflächlichen Lesen entzieht. Ein Rilke-Gedicht beispielsweise kann man gar nicht so lesen, wie Schopenhauer es beschreibt. Wer nicht „zwischen den Zeilen“ lesen kann oder den „doppelten Boden“ nicht wahrnimmt, wird keinen Zugang zum Gedicht bekommen, geschweige denn Rilkes Gedanken „wiederholen“ können. Bei diesem Einwand gegen Schopenhauers Überzeugung meldet sich sogleich ein weiterer: Die Beschäftigung mit Literatur belegt immer wieder neu, dass es gänzlich unmöglich ist, dass ein Leser die Gedanken des Schreibers „wiederholt“. Das literarische Werk wie andere geistige Werke auch (z.B. philosophische) sind in der Regel lediglich das Endprodukt eines oft tagelangen, wochenlangen oder gar jahrelangen Schaffensprozesses eines Dichters oder Denkers. Als Leser müsste man den gesamten Schaffensprozess genauso durchleben wie der Autor, um seine Gedanken wiederholen zu können. Man muss hier nicht unbedingt Goethes „Faust“, an dem der Dichter über fünfzig Jahre gearbeitet hat, als Beispiel anführen, um die Absurdität von Schopenhauers Auffassung zum Lesen zu erkennen, aber es belegt überzeugend, was für alle anderen literarischen Werke genau so gilt. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass der Philosoph Schopenhauer die Unhaltbarkeit seiner Aussagen nicht selbst noch klarer gesehen hat, als es dem Leser möglich ist. Aber dann stellt sich die Frage, warum er seine Überlegung so extrem und provokativ formuliert hat bzw. was seine wahre Absicht mit dieser Meinungsäußerung ist. Formal in ähnlicher Weise kann die Erörterung der anderen beiden Thesen geführt werden, sodass man bei unserem Beispiel dann im erörternden Teil drei Blöcke hat. Dann kommen wir zum Sinn des Ganzen. Sie erinnern sich: Ziel der textbezogenen Erörterung ist ein fundiertes Urteil über die Textvorlage. 296 Grundtypen des Urteils Die Auseinandersetzung mit vorgegebenen Aussagen kann im Prinzip zu drei unterschiedlichen Ergebnissen führen: entweder stimmt man zu oder man widerspricht oder man differenziert die Aussage, indem man nur teilweise zustimmt. Es gibt also drei Grundtypen des Urteils bei Texterörterungen: 1. Zustimmung In diesem Fall stimmt man mit den Aussagen und Ausführungen der Textvorlage völlig überein und sieht keinen Ansatz für eine Gegenargumentation. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Text ist hierbei am schwersten. Denn es genügt nicht, einfach zu sagen: Ich stimme in allen Punkten zu. Auch die Zustimmung muss argumentativ vorgebracht werden und über den Wortlaut des Textes hinausreichen. Dazu können Sie folgendes tun: Sie können die Thesen des Verfassers mit eigenen Erkenntnissen und Erfahrungen weiter abstützen. Sie können mögliche Gegenargumente zu den Thesen des Textes, auch wenn sie gar nicht im Text erscheinen, entkräften. Sie können die logische Schlüssigkeit der vom Verfasser entwickelten Position durch eine persönliche Rekonstruktion der Hauptgedanken nachweisen. 2. Ablehnung In diesem Fall sind Sie anderer Meinung als der Verfasser und es dürfte Ihnen dann nicht schwer fallen, die Aussagen des Textes zu entkräften. Hierbei begründen Sie Ihren Widerspruch bzw. Ihre Entgegenhaltungen und stellen dem Text die eigene Meinung gegenüber. Dazu sollten Sie folgendes tun: Sie ziehen die Stichhaltigkeit einer Aussage durch Gegenargumente bzw. Gegenbeispiele in Zweifel, z.B. dadurch, dass Sie einen anderen Verfasser und dessen Position referieren oder eigene Erfahrungen dagegenhalten. Sie entkräften vorgetragene Argumente, indem Sie die Geltung der Beweise (Normen, Tatsachen ...) anzweifeln. Sie überprüfen die Vollständigkeit und Schlüssigkeit der Argumentation des Verfassers und problematisieren mögliche Ungereimtheiten. Sie können die Aussagen des Verfassers grundsätzlich akzeptieren, aber ihre Geltung eingrenzen, indem der Sachverhalt zergliedert und differenziert wird („Das-kommt-darauf-an“-Methode). Sie können die Prämissen von Aussagen des Verfassers aufdecken (weltanschauliche Grundlagen, wissenschaftliche Denkschule, persönliche Interessenlage) und so den Text kritisch einordnen. 3. Differenzierung Meistens ist es wohl so, dass Sie mit einigen, vielleicht sogar mit zentralen Positionen des Verfassers übereinstimmen. Andererseits gibt es aber auch Aussagen, denen Sie widersprechen möchten. Die Denkoperationen, die hierbei möglich sind, stellen eine Mischung aus den Grundtypen 1. und 2. dar. 297 Für die Darstellung des Urteils in der Gesamtkonzeption (Klausur) kommen zwei unterschiedliche „Stellen“ in Frage: entweder jeweils am Ende der Erörterung einer These oder nach der (ganzen) Erörterung. Vermeiden Sie auf jeden Fall, Ihre Erörterung mit dem Urteil zu beginnen; denn dann verengt sich Ihre gesamte Argumentation auf die Begründung dieses Urteils, und es kommt gar nicht mehr zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit den Textaussagen. Es ist für die Erörterung und für ein überzeugendes Urteil immer besser, sich zuerst auf den Text einzulassen, die Aussagen ernst zu nehmen und zunächst gelten zu lassen. Geht man gleich zustimmend an einen Text heran, verengt sich die Wahrnehmung auf die Zustimmungsaspekte, dann sieht man die Fragewürdigkeiten nicht mehr. Geht man ablehnend an den Text heran, nimmt man nur noch wahr, was diese Ablehnung bestätigt; berechtigte und zutreffende Aspekte werden so gar nicht wahrgenommen. Beispiel für ein abschließendes Urteil: Stellen Sie sich vor, dass die Auseinandersetzung mit Schopenhauers erster These so verlaufen ist, wie oben dargestellt. Stellen Sie sich weiter vor, dass die Erörterung der zweiten These (Verlust der Denkfähigkeit) ebenso ablehnend ausgefallen ist wie bei der 1. These, dass aber die 3.These Zustimmung erfahren hat, dann kann das abschließende Urteil folgendermaßen ausfallen: Die Erörterung der Textvorlage hat ergeben, dass Schopenhauers erste These kaum haltbar ist. Gewichtige, besonders erkenntnistheoretische Bedenken sprechen dagegen, dass einem Menschen überhaupt - nicht nur beim Lesen - das Denken abgenommen werden kann oder dass man Denkvorgänge anderer Menschen wiederholen kann. Auch Schopenhauers zweite These ist in dieser Form unhaltbar. Durch Lesen kann kein Mensch, auch nicht die erwähnten Gelehrten, die Denkfähigkeit verlieren. Ersetzt man die Denkfähigkeit durch Kritikfähigkeit, kann man dem Verfasser schon eher zustimmen. Aber dass Vielleserei den Geist „überfüllen und ersticken“ könnte, ist gar nicht vorstellbar, so anschaulich Schopenhauer seine Vergleiche auch vorbringt. Zustimmen muss man ihm allerdings bei dem Gedanken, dass Gelesenes quasi verdaut werden muss, soll es Wurzeln schlagen. Ohne Auseinandersetzung mit dem Gelesenen hat der Leser kaum einen Vorteil aus seinem Tun. Der letzten These Schopenhauers kann man am ehesten zustimmen. Es versteht sich fast von selbst, dass der Leser „seine eigenen Augen gebrauchen“ muss, also aktiv lesen, das eigene Denken aktivieren muss, um das Gelesene nachvollziehen und verstehen zu können. Ohne reflektierende Aufmerksamkeit ist ein Verstehen von Texten oder Büchern nicht möglich. Das dürfte für das Metier, in dem Schopenhauer hauptsächlich tätig war, die Philosophie, besonders einleuchtend sein. 298 → Einleitung und Schluss Wenn Sie die Vorarbeiten bis zur Darstellung des Urteils beendet haben, folgt nun im letzten Arbeitsschritt die Festlegung von Einleitung und Schluss. Denn wie bei den anderen Aufgabentypen schon gesehen, werden die schriftlichen Darstellungsformen des Faches Deutsch dreiteilig ausgeführt. Die eigentliche Aufgabe wird von Einleitung und Schluss eingerahmt (Adressatenbezug). Vorschläge hierfür finden Sie in der folgenden methodischen Zusammenfassung. Aufgabe: Probieren Sie die Methodik am folgenden Text aus und verfassen Sie eine textbezogene Erörterung! Nutzen Sie den Rand für Ihre Notizen! Martin Walser: Über Leseerfahrungen Ich muss gestehen, ich lese nicht zu meinem Vergnügen, ich suche weder Entspannung noch Ablenkung, noch andere Freuden dieser Art. Ein Buch ist für mich eine Art Schaufel, mit der ich mich umgrabe. Obwohl ich das nicht zu meinem Vergnügen tue, sondern einfach aus einem Bedürfnis, für das ich keine Gründe mehr anzugeben weiß, keine Gründe auf jeden Fall, die von anderer Art wären als die, die uns veranlassen zu atmen oder zu essen, trotzdem macht mir das Lesen, dieses Herumgraben in mir selbst, oft mehr Vergnügen als das Atmen, ja es macht mir zuweilen sogar das Atmen wieder vergnüglicher. (...) Wer Tag für Tag einer Sache zugewandt ist, am Schalter steht und sechzehntausend Gesichter sieht, wer ein paar hundert Schrauben zu drehen hat, Zimmerwände tapezieren, Zähne aufbohren oder Schülern das Einmaleins beibringen muss, der kommt nicht dazu, die Möglichkeiten seines Bewusstseins zu erschöpfen; für den muss die Menschheit, die Wirklichkeit eine vielgliedrige Maschinerie sein, bei der es aufs Funktionieren ankommt. Wie der Arzt nun dafür zu sorgen hat, dass der Leib all dieser Handelnden nicht verkümmert, nicht zu einer einzigen rechten Hand wird oder zu einer Schulterbewegung, weil alles andere nicht mehr gebraucht wird, so kann der Schriftsteller dem Bewusstsein sich zuwenden; seine Sache ist der Mensch in allen seinen Beziehungen. Der Schriftsteller, durch keine andere Hantierung abgelenkt, ist der Beobachter und als solcher auch Korrektiv. Das wäre zumindest eine seiner Möglichkeiten. Wer Proust liest, wird sich selbst vielleicht als eine Kümmerform menschlichen Daseins empfinden. Man hat das Gefühl, als habe man eigentlich von den Möglichkeiten des eigenen Bewusstseins bisher noch kaum Gebrauch gemacht! Proust befreit die von Zwecken und Gewohnheiten verschüttete Wirklichkeit; ich kann mir nicht vorstellen, dass man nach dieser Lektüre in einem 299 Eisenbahnabteil genauso halbblind zwischen den Leuten sitzt wie vorher. Trotzdem könnte man sagen: was er beschreibt, ist nicht unsere Wirklichkeit, wir werden durch die Lektüre nun nicht alle zu höchst sensiblen Prousts. Das ist leider wahr. Aber nur zum Teil. Denn es genügt schon, einmal zu sehen, zu lesen, zu erleben, wie unendlich vielgestaltig die Wirklichkeit ist, wie unendlich differenziert jeder Mensch, ganz gleich wie dumm oder klug oder gut oder böse er sein mag, es genügt, den Reichtum zu erleben, den Proust sichtbar macht, um selbst wenigstens ein bisschen reicher zu werden. Roger de Weck: Die Gier der Medien Guter Journalismus ist zugleich informativ und unterhaltsam: Lesefreude und Erkenntnislust vermengen sich. Neugierde ist ein Trieb, Dramatik eine Sehnsucht, die nach Wort und Bild riefen, längst bevor die Presse entstand. Doch jetzt gedeiht ein Journalismus der Nullinformation. Denn es gibt mehr Medien, als Stoff vorhanden ist - mit zwei Folgen: Einerseits tobt der Verteilungskampf um Informationen, andererseits schaffen viele Medien künstlichen Stoff; die Stunde des Kunststoffjournalismus. Die Gier nach Stoff, wie bei einem Junkie, verleitet zur Dramatisierung des Belanglosen. Die Mediengesellschaft macht Unwichtiges wichtig und Wichtiges unwichtig. Es fehlt der Respekt. Das Angebot richtet sich an übersättigte „Medienkonsumenten“, nicht mehr an den Staatsbürger. Und weil es - beim Heißhunger solcher Medien - zu wenig „verkäufliche“ Informationen gibt, erfinden sie Events, die eben keine Ereignisse sind. In ihrer Scheinwelt gefangen, sind viele Journalisten, die berufshalber Wirklichkeit vermitteln sollen, von der Lebensrealität weiter entfernt als ihr Publikum. Unter dem Quotendruck ist die Hand voll Weltverbesserer, die durch die Medienlandschaft zog, einem Heer standpunktloser Zyniker gewichen; sie wollen bloß den Effekt. Sie bieten am wenigsten, was am meisten gefragt ist: Orientierung. (aus: Die Gier der Medien. Zur Feier des Tages: Ein paar Fragen an uns Journalisten; von Roger de Weck. In: Die Zeit, Nr. 1 vom 29.12.’99, S. 1) Elisabeth Uhl: Medien fördern Fantasie und Kreativität Medien sind in der Öffentlichkeit allgegenwärtig und bestimmen unser Denken und Handeln mehr, als wir es wahrnehmen. Fernsehen, Video und Computer spielen vor allem im Alltag von Kindern und Jugend300 lichen eine dominante Rolle. Sie nutzen diese Technologien überwiegend in ihrer Freizeit und greifen dabei in erster Linie auf kommerzielle Angebote der Freizeitindustrie zurück. Die Aufgabe einer emanzipatorischen Medienpädagogik besteht darin, den Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz zu vermitteln. Sie soll zum aktiven, selbstbestimmten und kritischen, sozial verantwortlichen Umgang mit den Medien als Kommunikationsmittel befähigen. Die Vorteile aktiver Medienarbeit sind dabei vielfältig. Der Umgang mit den modernen Informations- und Kommunikationstechnologien ist ein geeignetes Mittel, um Fantasie und Kreativität zu entfalten und eigene, gestalterische Ausdrucksformen zu entwickeln. So werden beispielsweise bei dem Aufbau von Computernetzwerken - selbst wenn diese nur dazu dienen, sogenannte Ballerspiele auf den Monitor zu zaubern - Fähigkeiten im Umgang mit Soft- und Hardware erworben, die wiederum den Jugendlichen in ihrem späteren Berufsleben helfen können. Aktive Medienarbeit ermöglicht Jugendlichen, sich mit ihren Ideen, Gedanken und Vorstellungen in die öffentliche Diskussion einzubringen. Letztlich macht die aktive Gestaltung der Medien Spaß. Die außerschulische Jugendmedienarbeit zeichnet sich im Gegensatz zur schulischen durch Freiwilligkeit aus, was die Bedingungen für lustvolles und engagiertes Arbeiten verbessert. Um eine konstruktive Zusammenarbeit der verschiedenen pädagogischen Institutionen zu erreichen, ist eine größere Vernetzung der einzelnen Institutionen gefordert, vor allem im schulischen und außerschulischen Bereich. Damit auch den sozial Benachteiligten der Zugriff auf die Medien ermöglicht wird, ist für eine angemessene technische Ausstattung der pädagogischen Einrichtungen zu sorgen. Zudem sind ein breites Angebotsspektrum sowie Mobilität und Engagement der Mitarbeiter gefordert. In einer Zeit, in der die Medien zum Leben gehören, ist ein kompetenter und kritischer Umgang mit ihnen Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Denken und Handeln. (aus: Der Tagesspiegel vom 15.9.1999) Hans Magnus Enzensberger: Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor Erzeugnissen der Poesie [...] Was aber die Literatur betrifft, so verdankt sie ihren Charme nicht zuletzt der Tatsache, dass es jedermann freisteht, sie zu ignorieren — ein Recht, von dem bekanntlich die Mehrheit unserer Mitbürger entschiedenen Gebrauch macht und dessen Verteidigung jedem Schriftsteller am Herzen liegen muss [...] Nur für die Minderjährigen unter unsern Mitbürgern hat das Recht auf freie Lektüre 301 keine Geltung. Sie, die ohnehin täglich in Betonbunkern gefangen gehalten werden, welche das Gemeinwesen eigens zu diesem Zweck errichtet hat, zwingt man fortgesetzt Gedichte zu lesen und, was noch viel entsetzlicher ist, zu interpretieren, Gedichte, an denen sie in den meisten Fällen keinerlei Interesse bekundet haben. Wohl weiß ich, dass die Deutschlehrer diesen widerwärtigen Zustand, unter dem sie vermutlich selber leiden, durchaus nicht mutwillig herbeigeführt haben. Die wahren Schuldigen sind im Unterholz von Instituten zu suchen, die von einer gewöhnlichen Schule so weit entfernt sind wie Kafkas Schloss. Es handelt sich um eine Horde von Bürokraten und Curriculum-Forschern, die außerordentlich schwer dingfest zu machen ist. Ihre wahren Absichten liegen im Dunkeln. Was sie zu dem Projekt bewegt, in unseren Oberschulen hunderttausend von Sub-Germanisten heranzuzüchten und die Interpretation von Gedichten als Zwangsarbeit zu verhängen, das wissen wir nicht. Wir werden es nie erraten. Dass unter solchen Umständen Verschwörungstheorien ins Kraut schießen, kann nicht wundernehmen. Zwei von ihnen habe ich bereits erwähnt. Leute, die in dem Wahn leben, die Lyrik sei eine umstürzlerische Kunst von unerhörter Brisanz, haben daraus den Schluss ziehen wollen, ihre Behandlung im Deutschunterricht sei einer Impfung zu vergleichen; die Gesellschaft schütze sich vor der Subversion durch Gedichte, indem sie diese sorgfältig vernichte. Die Fertigkeiten des Deutschlehrers seien mit denen eines Sprengmeisters zu vergleichen; mit Hilfe der Interpretation werde dem gefährlichen Produkt sozusagen der Zünder abgeschraubt. Die entgegengesetzte Lehrmeinung, der die Poesie aus dem umgekehrten Grunde verdächtig scheint, hält dafür, dass den armen Schülern Gedichte in den Rachen gestopft werden im sie mit den herrschenden Zuständen zu versöhnen: Das süße Gift sei dazu angetan, jede Rebellion in ihnen zu ersticken und sie zu lammfrommen Anhängern des Status quo zu machen. Diese beiden Hypothesen kommen mir ebenso unsinnig vor wie die Erscheinung, die sie erklären möchten. Schön wäre es ja, wenn der Kapitalismus auf so schwachen Füßen stünde, dass er es nötig hätte, seine Herrschaft durch die Interpretation von Gedichten zu „stabilisieren”, doch fürchte ich, dass sein Fortbestand sich auf weit handgreiflichere Tatsachen stützt. Und warum ausgerechnet Gedichte? Warum werden nicht ganze Schulklassen zwangsweise in die Popkonzerte geschleppt um dann, als Klassenarbeit, die „richtige” Interpretation von Pink Floyd zu „erarbeiten”? (aus: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt 1988) _____________ Das Schloss: Roman von Franz Kafka (1926); Schloss: Chiffre für etwas Unerreichbares Status quo: gegenwärtige Zustand Chaim Noll (geb. 1954) Dritte Nacht: Volk ohne Sprache [...] Kaum ist jemand mit Karriereaussichten irgendwo „eingestiegen”, hört er auf, sich verständlich zu äußern. Er kann sich, wenn er Karriere machen will, das Mitschwingen des Mentalen und Emotionalen nicht mehr leisten. Der populäre Erfolg, das Einverständnis mit den Zuhörern oder Lesern liegt hierzulande im Zerstören jedes mentalen Klangs. Wo nichts klingt, wird aber in Wahrheit, trotz vieler Worte, auch nichts gesagt. Doch das Nichts-Sagen, Nichts-Ausdrücken mit Hilfe von Worten scheint dieser Nation die höchste Kunst — ein deutlicheres Zeichen für ihr verstörtes 302 Verhältnis zur spät gewonnenen Sprache ist nicht denkbar. Die Atomisierung der deutschen Sprache lässt auch die Nation zerfallen, schafft, auch wenn äußerlich immer noch Friede herrscht, einen Vorkriegszustand nationaler Sprachlosigkeit. Neben der Formelwelt der professionellen Schreiber gibt es noch das alles zerredende Deutsch der Politiker, das Halb-Amerikanisch der Geschäftsleute und ein Dutzend spezifische Wissenschaftssprachen, wobei jede Sparte sich auf die ihre besonders viel zugute hält und um kein Jota davon abrücken will. Insgesamt steht diesen höheren Branchendialekten zunehmend ein trauriges, verhängnisvolles Pendant entgegen: das bis zum neuen Analphabetentum gehende Verrohen der Alltagssprache. Sie ist heute ganz im Abgerissenen, Bruchstückhaften, Lallenden angekommen, trägt bloß mehr ein Lumpenkleid, ist bar jeder Überzeugungskraft. Zahllose Poeten, die im Sprachvulgarismus ihr Heil suchen, können mich, auch wenn sie heute Mode sind, nicht vom Gegenteil überzeugen. Das Deutsch, das im Alltag gesprochen wird, ist nicht nur arm an Worten, sondern auch arm an Empfindungen, Klängen, Nuancen, es ist brutal, von vornherein auf Abschließung und Ablehnung aus, es ist primitive Parole, ein Hervorstoßen eigenen Unmuts und daher jedem Gespräch, jeder Unterhaltung feind. Alles Verbindliche wurde daraus verbannt: Die eigene Forderung, mühsam hervorgebracht, erschlägt durch ihren dumpf-bösen Unterton jeden Einwand. Fehlende Ausdruckskraft wird durch die Wucht einer populistischen Gemeinschaft ersetzt. Der vulgärsprachige Deutsche sagt zunehmend lieber „wir” als „ich”. Wir einfachen Leute, Wir Taxi-Fahrer oder Fußgänger, Wir Deutschen, Wir, das Volk, Wir Alten oder Jungen, Wir Einwohner, Anwohner und so weiter — Sprache soll hier nicht differenzieren und Wahrheit erspüren, sondern Front bilden. Ein plumpes Vokabular steht der fordernden Aggressivität zur Verfügung wie Keulen, Sensen, stachelbewehrte Morgensterne. Fernsehen und Gazetten werfen die Parolen unters Volk und geben die Formeln aus, die dann über Tage und Wochen zu hören sind, um endlich spurlos zu verschwinden und dem nächsten verbalen Stumpfsinn Platz zu machen. Dieser Vorgang hat etwas Grausiges an sich, weil dabei Sprache verschlissen und verbraucht wird wie eine Fast-food-Mahlzeit, weil Worte vernichtet werden, deutsche Worte immerhin, die für jeden, der diese Sprache liebt, fortan unbrauchbar sind. Aus diesen Niederungen flüchten sich die Intellektuellen in luftige Höhen, wo das Wort nun wiederum verdorrt. Schreiben soll hierzulande angeblich in einem luftleeren Raum angesiedelt sein, in dem die Miasmen der Iaaesgeschäfte unbekannt sind. Realiter sind die deutschen Literaten heimliche Machiavellisten: Pragmatiker, Anpasser, Politiker wie andere auch. Sie wollen aber moralischer sein als andere und haben eine vertrackte „Innerlichkeit”, „Betroffenheit” oder sonst eine Verabredung erfunden, die ihnen hilft, inmitten des Schmutzes deutscher Wirklichkeiten tapfer die Augen zu schließen. [...] (Chaim Noll, Nachtgedanken über Deutschland, Rowohlt Verlag Hamburg 1992, S. 79— 81.) _____________ Sprache: Im ersten Teil dieses Essays wird betont, dass das Deutsche im Gegensatz zum Lateinischen oder Griechischen recht spät, eigentlich erst mit der Weimarer Klassik, eine Blüte erlebte. Realiter: lateinisch „in Wirklichkeit” 303 Neil Postman Unterricht als Unterhaltung: Die „Sesamstraße” und die Folgen Als im Jahre 1969 die erste Folge von Sesamstraße gesendet wurde, schien ausgemacht, dass sie bei Kindern, Eltern und Erziehern begeisterte Aufnahme finden würde. Den Kindern gefiel die Sendung, weil sie mit Werbespots groß geworden waren und intuitiv wussten, dass sie die am besten gemachte Unterhaltung im Fernsehen ist. Diejenigen, die noch nicht zur Schule gingen, und auch die, die gerade in die Schule gekommen waren, fanden nichts Komisches dabei, dass der Unterricht aus einer Serie von Werbespots bestand. Und dass das Fernsehen zu ihrer Unterhaltung da war, war für sie ohnehin selbstverständlich. Die Eltern begrüßten Sesamstraße aus mehreren Gründen – nicht zuletzt deshalb, weil die Sendung ihre Schuldgefühle angesichts der Tatsache dämpfte, dass sie nicht im Stande oder nicht willens waren, den Zugang ihrer Kinder zum Fernsehen zu beschränken. Sesamstraße schien zu rechtfertigen, dass man Vier- und Fünfjährigen erlaubte, während langer Zeitspannen reglos vor dem Bildschirm zu verharren. Die Eltern gaben sich der Hoffnung hin, das Fernsehen werde ihren Kindern noch etwas anderes beibringen als die Antwort auf die Frage, welche Cornflakes die knusprigsten sind. Gleichzeitig enthob Sesamstraße sie der Verpflichtung, ihren Kindern, soweit sie noch im Vorschulalter waren, das Lesen beizubringen – gewiss keine Kleinigkeit in einer Kultur, in der Kinder häufig als lästig empfunden werden. [...] Sesamstraße erschien als eine fantasievolle Hilfe bei der Lösung des immer größer werdenden Problems, den Amerikanern das Lesen beizubringen, und gleichzeitig schien sie die Kinder zu ermuntern, die Schule zu lieben. Heute wissen wir, dass Sesamstraße die Kinder nur dann ermuntert, die Schule zu lieben, wenn es in der Schule zugeht wie in Sesamstraße. Mit anderen Worten, wir wissen, dass Sesamstraße die herkömmliche Idee des Schulunterrichts untergräbt. Während das Klassenzimmer ein Ort sozialer Interaktionen ist, bleibt der Platz vor dem Bildschirm Privatgelände. Während man in einem Klassenzimmer den Lehrer etwas fragen kann, kann man dem Bildschirm keine Fragen stellen. Während es in der Schule hauptsächlich um die Sprachentwicklung geht, verlangt das Fernsehen Aufmerksamkeit für Bilder. Während der Schulbesuch vom Gesetz vorgeschrieben ist, ist Fernsehen ein freiwilliger Akt. Während man in der Schule eine Strafe riskiert, wenn man nicht auf den Lehrer Acht gibt, wird fehlende Aufmerksamkeit vor dem Bildschirm nicht geahndet. Während man mit dem Verhalten in der Schule zugleich gewisse Regeln des Sozialverhaltens beachtet, braucht man sich beim Fernsehen an solche Regeln nicht zu halten, das Fernsehen hat keinen Begriff von Sozialverhalten. Während der Spaß im Klassenzimmer immer nur Mittel zum Zweck ist, wird er im Fernsehen zum eigentlichen Zweck. [...] Das Fernsehen bietet eine wunderbare und, wie gesagt, höchst originelle Alternative zu alledem. Man könnte sagen, dass die vom Fernsehen propagierte Bildungstheorie im Wesentlichen drei Gebote umfasst. Der Einfluss dieser Gebote lässt sich an Fernsehsendungen aller Art beobachten. [...] 1. Du sollst nichts voraussetzen. Jede Fernsehsendung muss eine in sich geschlossene Einheit sein. Vorwissen darf nicht verlangt werden. Nichts darf darauf hinweisen, dass Lernen ein Gebäude ist, das auf einem Fundament errichtet ist. Dem Lernenden muss jederzeit Zutritt gewährt werden, ohne dass er dadurch benachteiligt wäre. 2. Du sollst nicht irritieren. Im Fernsehunterricht ist die Irritation der kürzeste Weg zu niedrigen Einschaltquoten. 304 Ein irritierter Fernsehschüler ist ein Schüler, der auf einen anderen Sender umschaltet. Die Sendungen dürfen also nichts enthalten, was man behalten, studieren, mit Fleiß verfolgen oder – das Schlimmste überhaupt – geduldig erarbeiten müsste. Man geht davon aus, dass jede Information, jeder Bericht, jeder Gedanke unmittelbar zugänglich gemacht werden kann, denn nicht die Entwicklung des Lernenden, sondern seine Zufriedenheit ist entscheidend. 3. Du sollst die Erörterung meiden wie die zehn Plagen, die Ägypten heimsuchten. Von allen Feinden des Fernsehunterrichts, zu denen auch die Kontinuität und die Irritation gehören, ist die Erörterung der furchtbarste. Argumente, Hypothesen, Darlegungen, Gründe, Widerlegungen und all die anderen traditionellen Instrumente eines vernünftigen Diskurses lassen das Fernsehen zum Radio werden, schlimmer, sie machen aus ihm ein drittklassiges Druckerzeugnis. Deshalb erfolgt der Fernsehunterricht stets in der Form von Geschichtenerzählen, geleitet von dynamischen Bildern und von Musik unterstützt. [...] Im Fernsehen wird nichts gelehrt, was sich nicht visualisieren und in den Kontext einer dramatischen Handlung stellen lässt. Einen Unterricht ohne Voraussetzungen, ohne Irritation und ohne Erörterung darf man wohl als Unterhaltung bezeichnen. (aus: Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie; Frankfurt /Main, 1985, S. 174ff.) Ruth Klüger: Frauen lesen anders Fest steht: Es gibt eine Mädchen- und eine Jungenliteratur. Sie ist nicht streng und absolut geschieden, doch lesen Mädchen eher Jungenbücher als umgekehrt. Ein Grund dafür ist sicher die Sozialisierung. Jungen werden eher von ihren Altersgenossen verspottet, wenn sie „Pippi Langstrumpf” oder „Heidi” lesen, während Mädchen es sich erlauben können, mit einem Band Karl May in der Hand gesehen zu werden. Dazu kommen in den vergangenen zwei Jahrzehnten, in Amerika wie in Deutschland, Romane, die sich ausdrücklich mit den Problemen heranwachsender Mädchen beschäftigen, also von vornherein einen ausschließlich weiblichen Markt anvisieren, was natürlich weder für noch gegen die Qualität dieser Werke spricht. [...] Der Mensch ist lernfähig. Wir Frauen lernen lesen, wie die Männer lesen. Es ist nicht so schwer. Die interessanten Menschen in den Büchern, die als wertvoll gelten, sind männliche Helden. Wir identifizieren uns mit ihnen und klopfen beim Lesen jede Frauengestalt auf ihr Identifikationsangebot ab, um sie meist seufzend links liegen zu lassen. Denn wer will schon ein verführtes Mädchen oder ein verführendes Machtweib oder eine selbstmörderische Ehebrecherin oder ein puppenhaftes Lustobjekt sein? Höhenflüge und Abenteuer wollen wir und widmen uns dementsprechend den Männergestalten, denen wir das allgemein Menschliche abgewinnen. Wir werden dadurch aufmerksame Leserinnen, während die meisten männlichen Leser oft wenig anfangen können mit Büchern, die von Frauen geschrieben sind und in denen Frauen die Hauptrollen spielen. [...] Ja, aber, denken Sie jetzt, große Literatur handelt doch vom allgemein Menschlichen, an dem beide Geschlechter teilhaben. Und Ahnliches hätte ich noch selbst gerade im Zusammenhang mit Hamlet und Faust gesagt, bevor ich die implizite Gleichsetzung von „menschlich” mit „männlich” kritisierte. In richtigem und schönem Deutsch sind Frauen und Männer gleichermaßen Mensch, während es im Englischen wie im Französischen nur ein Wort für beides, Mensch und Mann, gibt. 305 Als ich Schillers „An die Freude” als Zehnjährige las, fühlte ich mich ausgeschlossen gerade von den Versen, bei denen sich alle mit eingeschlossen fühlen sollen. Da hieß es zunächst: „Alle Menschen werden Brüder.” Eigentlich, so dachte ich, sollte es „Geschwister” heißen, wenn auch Frauen gemeint sind. Doch entschuldigte ich den Dichter: Auf „Geschwister” findet sich nicht so leicht ein Reimwort, „Geschwister” ist unpoetisch, also gut, „Brüder”. Doch dann las ich: Wem der große Wurf gelungen Eines Freundes Freund zu sein, Wer ein holdes Weib errungen Mische seinen Jubel ein. Ich dachte, zur Not könnte es mir ja in ferner Zukunft gelingen, ein holdes Weib zu werden, wiewohl mir diese Aussicht als nicht eindeutig erstrebenswert erschien. Da ich naturgemäß nie in der Lage sein würde, ein solches, nämlich ein holdes Weib, zu erringen, würde ich bestenfalls einen Mann zum Jubeln veranlassen, doch selber mitzujubeln schien mir der Dichter zu versagen, und das in seiner menschheitsumfassenden Versöhnungshymne. Ein Mensch konnte ich offensichtlich nicht sein, nur eines Menschen Weib. Später lernte ich, eine solche Reaktion auf ein großes Gedicht sei kindisch. Ich musste alt werden, um ihre spontane Richtigkeit zu erkennen. [...] Wenn es stimmt, dass wir auch als erwachsene und erfahrene Leser und Leserinnen dem Identifikationsprinzip nie entgehen, so ist der Kern oder auch der Gott eines solchen engagierten Lesens der Eros. Da überschneidet und scheidet sich männlich und weiblich und wird es, so meine ich, auch bei fortschreitender Gleichheit der sozialen Rollen tun. Da liegen die Unterschiede, die bleiben, wenn wir die unnötigen Unterschiede in der Erziehung der Geschlechter überwunden haben, was indessen noch Iange dauern wird. Und inzwischen müssen wir diese Unterschiede besser kennenlernen, um ihnen in unserer Ästhetik gerecht zu werden. Und so ist vielleicht auch der Titel dieses Aufsatzes falsch, denn er unterstellt ja die Richtigkeit männlicher Normierung, er unterstellt, dass noch immer das Heiligtum der Freude, das bei Schiller alle Menschen umfasste, doch ein Rotarierklub von „Brüdern” ist, in dem Frauen nur als von Männern errungene „holde Weiber” etwas zu suchen haben. „Männer lesen anders” wäre ein alternativer Titelvorschlag. Dieselbe These im Gewande der Antithese. Die Synthese lässt einstweilen warten. (Aus: Ruth Klüger, Frauen lesen anders. © 1996 Deutscher Taschenbuch Verlag, München) 306 2.3. Das gestaltende Erschließen pragmatischer Texte: Adressatenbezogenes Schreiben Das gestaltende Erschließen pragmatischer Texte basiert auf der Textanalyse eines Sachtextes. Da diese Aufgabenart auf das adressatenbezogenes Schreiben orientiert ist, erfordert sie vom Schreiber das Erfassen der Vorlage bzw. die Sichtung, Auswertung und Erschließung von Materialien das Erkennen der Möglichkeiten der Vorlage für die eigene Gestaltung die argumentative Auseinandersetzung mit der Thematik die Entwicklung und Gestaltung eigener Darstellungsformen unter Berücksichtigung des Adressatenbezugs dem vorgegebenen kommunikativen Kontext sprachlich und strategisch gerecht zu werden die eigene Vorgehensweise, die getroffenen Entscheidungen, die entwickelten Darstellungsformen zu begründen und zu reflektieren Wir beginnen mit einem Beispiel. Die Aufgabenstellung könnte so lauten: Das „Gymnasium am Stadtwald“ soll einen neuen Namen erhalten, der Identifikationsangebote für die Schülerinnen und Schüler enthält. Der Schulsprecher bezieht im Rahmen seiner Abiturrede Position zu dem an der Schule kontrovers diskutierten Vorschlag, die Schule nach Hilde Domin zu benennen. Vor diesem Hintergrund bearbeiten Sie bitte folgende Aufgaben: - Arbeiten Sie wesentliche inhaltliche Aspekte der Würdigung Hilde Domins aus dem Text von Harald Hartung heraus. - Verfassen Sie die Abiturrede. Beziehen Sie die Ihnen wichtig erscheinenden Gesichtspunkte des Zeitungsartikels ein. - Erläutern Sie die wesentlichen gestalterischen Entscheidungen Ihrer Textproduktion. Harald Hartung Der Baum blüht trotzdem Zum 90. Geburtstag von Hilde Domin (1999) Mit Hölderlin-Zitaten sollte man gewiss sparsam sein. Aber heute - an Hilde Domins Neunzigstem - darf man wohl an einen Satz aus Hölderlins Rhein-Hymne erinnern: „Das meiste nämlich vermag die Geburt.” Hilde Domin nämlich hat die besondere Art ihrer Geburt einmal selbst beschrieben und gedeutet: „Ich, H. D., bin erstaunlich jung. Ich kam erst 1951 auf die Welt. Weinend, wie jeder in diese Welt kommt. Es war nicht in Deutschland, obwohl Deutsch meine Muttersprache ist. Es wurde spanisch gesprochen, und der Garten vor dem Haus stand voller Kokospalmen. Genauer; es waren elf Palmen. Alles männliche Palmen und also ohne Früchte. Meine Eltern waren tot, als ich auf die Welt kam. Meine Mutter war wenige Wochen 307 zuvor gestorben.” Hilde Domin kam also zweimal auf die Welt: das erste Mal natürlich und gleichsam provisorisch, das zweite Mal parthenogenetisch, aber definitiv -- man kann sagen: durch Erweckung. Diese zweite Geburt geschah durch Sprache. „Ich habe ein Gedicht geschrieben”, mit diesem Satz überraschte die Vierzigjährige eines Morgens ihren ungläubigen, ja unwillig reagierenden Mann. Die Szene war exotisch, in einem Haus am Rande der Welt, wo der Pfeffer wächst, im Exil, und die Geburt der Lyrikerin war der Anfang einer Heimkehr: Heimkehr in der Sprache, Heimkehr in jenes Land, in dem die Sprache gesprochen wurde, in der Hilde Palm als Hilde Domin fortan ihre Gedichte schriebe. Domin - das Pseudonym blieb als Dankesabtrag an Santo Domingo, an die Dominikanische Republik, die der Exilierten Schutz gewährt hatte. „Das war nicht vorgesehen. Es hätte nie passieren brauchen” - mit diesen Worten hat Hilde Domin ihr Erweckungserlebnis heruntergespielt, aber zugleich das Wunder bekräftigt. Wunder stoßen nicht jedem Beliebigen zu. Das Leben nahm sich Zeit für die zweite Geburt der in Köln geborenen Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts. Doch schon was und wie sie studierte, lässt aufmerken. In Heidelberg, Köln und Berlin studierte sie Rechts- und Staatswissenschaften, Soziologie und Philosophie und erfuhr entscheidende Impulse durch Karl Jaspers und Karl Mannheim. Sie sah auch deutlicher als andere, was Deutschland bevorstand, und ging im Oktober 1932 mit dem Archäologiestudenten Erwin Walter Palm nach Italien. Die jungen Leute heirateten 1936, und die junge Frau promovierte im gleichen Jahr mit einer Arbeit zur Staatstheorie der Renaissance. Dann aber, nach einem kurzen Aufenthalt in England, das eigentliche Exil: die zwölf in einer windstillen Phase der Trujillo-Diktatur verbrachten Jahre in Santo Domingo; 1954 kehrten die Palms nach Deutschland zurück, verbrachten aber längere Aufenthalte in Spanien. Seit 1961, mit der Berufung ihres Mannes dorthin, ist Hilde Domin in Heidelberg ansässig. „Die Rückkehr aus dem Exil ist vielleicht noch aufregender als das Verstoßenwerden”, schrieb sie über Brecht. Sie schrieb es mit besonderem Recht über sich selbst. Hans-Georg Gadamer, der Freund, hat Hilde Domin die „Dichterin der Rückkehr” genannt. Die Poetin, die „der Sprache wegen” zurückgekehrt war, wollte aber nicht wegen ihrer Rückkehr nach Deutschland gefeiert werden oder gar als Alibi einer falschen Versöhnung dienen. Ihre Verse sprachen für sich selbst. Sie sprachen, seit ihrem Debüt „Nur eine Rose als Stütze” (1959), immer auch von dem prekären Charakter von Leben und Dichtung: „Meine Hand greift nach einem Halt und findet nur eine Rose als Stütze.” Dichtung lebt aber vom Paradox, dass das Fragilste das Haltbarste sein kann, und so boten die Rosen der Dominschen Poesie nicht nur Halt für die Dichterin, sondern auch für Tausende von Lesern und Leserinnen. Die Gedichte gingen und gehen von Hand zu Hand. Sie wurden -- mit den Worten der Autorin – zu magischen Gebrauchsgegenständen, „die, wie die Körper der Liebenden, in der Anwendung erst richtig gedeihen”. Sie wurden es, weil sie ästhetische Faszination und moralische Anmutung auf diskrete Weite miteinander verbanden. Domins Gedichtbücher sind Bücher, die leben. Die Auflagen zeigen es auch heute noch. Das „Zimmer in der Luft”, wo es Akrobaten und Vögel gab, war auch Raum für Trost und Hoffnung. Und über die Jahre wurden die zart surrealen Poesien aus der spanischen Schule mehr und mehr zu engagierten Zurufen, die weniger didaktisch als Brecht, weniger aggressiv als Enzensberger klangen, doch niemals kompromisslerisch oder unentschieden. „Gewöhn dich nicht”, heißt einer ihrer Imperative. Und eine Zeitlang mochte es Hilde Domin erscheinen, als lebten wir wieder in „Grauen Zeiten” und in einem Land, in dem „die Toten sich fürchten”. 308 Was Hilde Domin politisch zu sagen hat, vertraut sie lieber noch ihren Reden und Essays an. Als die Literatur für tot und überflüssig gehalten wurde, wies sie, die Tochter eines Anwalts, die Existenzberechtigung der Poesie „am ungeeignetsten Objekt” nach, am politischen Gedicht. Als „politischer Mensch vom Scheitel bis zur Sohle” kritisierte sie die Neigung der Intellektuellen, die Gegenstände ihres aufgeregten verbalen Engagements (Vietnam, Kambodscha usw.) aktualitätssüchtig wieder fallen zu lassen. Und 1972 wirkte sie auf den herrschenden Linksopportunismus wie ein rotes Tuch, als sie bekannte, dass für sie die Bundesrepublik der „gutartigste Staat” sei, den es seit Hermann dem Cherusker auf diesem Territorium gegeben habe. An Courage fehlt es Hilde Domin auch heute nicht. In einer Rede hat sie Roswitha von Gandersheim, die erste deutsche Dichterin .,eine starke Ruferin" genannt. Auch wenn die Stimme zarter und brüchiger geworden ist, darf die erste deutsche Dichterin unserer Gegenwart diese Charakterisierung auch auf sich beziehen. Hilde Domin will gehört werden und wird gehört. (...) (849 Wörter) (Text aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.07.1999) _____________________________________________________________ Was müssen Sie tun? Wie können Sie vorgehen? Schauen Sie sich die Aufgabe genau an: Was ist verlangt? 1. Lesen Sie den Text noch einmal intensiv durch und markieren Sie die für Sie wesentlichen Informationen, die er über die Dichterin bietet (Lebensgeschichte, historischer Kontext, Beginn des Schreibens, Intention des Schreibens, Lyrik und Politik in den 68-er Jahren, anhaltende Bedeutung der Dichterin). 2. Die von Ihnen markierten Textstellen bzw. Informationen sollen die Basis für die Abiturrede bilden, die Sie konzipieren sollen. Zuerst sollten Sie Ihre Position festlegen hinsichtlich der Namensgebung: Soll die Schule den Namen einer Lyrikerin bekommen? Bietet die Dichterin Identifikationsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler sowie für die Schulgemeinde? 3. Wenn Sie Ihre Position festgelegt haben, überlegten Sie sich die Argumentationen. Dabei können Sie auf die markierten Textstellen zurückgreifen und Sie in Ihre Begründungen einarbeiten. Nach diesem Arbeitsschritt ist das Gerüst Ihrer Rede fertig. Danach sollten Sie überlegen, wie Sie die Rede einleiten, in welcher Reihenfolge Sie die Argumentationen vorbringen und wie Sie die Rede beenden wollen. Achten Sie bei den Formulierungen auch darauf, dass Ihnen etliche rhetorische Mittel zur Verfügung stehen, um bestimmte Wirkungen zu erzeugen. 4. Wenn Sie die Rede erfolgreich abgeschlossen haben, dann sollen Sie gemäß der 3. Aufgabe Ihre Entscheidungen hinsichtlich Ihrer Gestaltung erläutern: Warum habe ich diese Einleitung gewählt? Warum habe ich diese Abfolge der Argumente gewählt? Warum habe ich z.B. rhetorische Fragen eingebaut? Usw. Alle diese Erläuterungen verfassen Sie zusammenhängend in Form eines Fließtextes. 309 310 Anhang Die Technik des Zitierens Die wichtigsten stilistischen Mittel Methodik der Gedichterschließung Die Charakterisierung literarischer Figuren Die Kurzgeschichte (Merkmale) Die Parabel (Merkmale) Die Novelle (Merkmale) Die Ballade (Merkmale) Lektüre - Empfehlungen Die 13 wichtigsten Kommaregeln Vorbereitung auf die Deutschklausur Korrekturschlüssel im Fach Deutsch 311 312 313 316 317 318 319 320 321 323 326 328 332 Die Technik des Zitierens Zitate sind wörtliche Übernahmen aus einem Text, die im Prinzip nicht verändert werden dürfen und grundsätzlich (wie die wörtliche Rede) mit Anführungszeichen kenntlich gemacht werden müssen. Der Quellennachweis, die Seiten- oder Zeilenzahl, erfolgt in Klammern am Ende des Zitats. Die wichtigsten Regeln für das Zitieren lauten: 1. Das Zitat muss dem Original genau entsprechen. 2. Das Zitat muss mit Anführungszeichen markiert werden. 3. Auslassungen innerhalb eines Zitats werden mit drei Punkten innerhalb der Anführungszeichen gekennzeichnet. 4. Das Zitat wird immer mit Belegstelle angegeben. Die Quellen- bzw. Zeilenangabe dient als Beleg und gehört zum Satz, d.h. der Punkt steht danach. 5. Das Zitat muss syntaktisch passen, d.h., der eigene Satzbau muss dem Zitat angepasst werden, nicht umgekehrt. 6. Nichtwörtliches Zitieren wird mit Vergleichshinweisen gekennzeichnet, z.B. (vgl. Z.5). 7. Hinzufügungen innerhalb eines Zitates werden in Klammern und mit einer Anmerkung angezeigt, z.B. (Anm. des Verfassers). Die Anmerkung fällt weg, wenn lediglich Kasusendungen verändert werden; diese werden in eckige Klammern gesetzt. 8. Das Zeilenende im Originaltext - besonders bei Gedichten - wird beim Zitieren mit einem Schrägstrich (... / ...) angezeigt. Beispiele 1. Im ersten Textabschnitt kommen viele Nomen vor, welche die Arbeitswelt repräsentieren, so z.B. „Fabrik“, „Maschine“ und „Akkord“. 2. „Zärtlich ruhte der Blick des Kranken auf seiner Fabrik“ (Z.31/32) . Diesem zentralen Satz im zweiten Textteil, besonders dem Adjektiv „zärtlich“, kann man entnehmen, dass der Arbeiter eine neue Einstellung zur Arbeitswelt gewonnen hat. 3. Im zweiten Teil ist zu erkennen, wie die Hauptperson eine fast liebevoll zu nennende Einstellung zu Arbeit und Fabrik gewinnt. Denn nun heißt es: „Zärtlich ruhte der Blick des Kranken auf seiner Fabrik, verfolgte ... das Ein des Menschenstroms am Morgen, das Aus am Abend“ (Z.31-34). 4. An einer Stelle beklagt sich der Kranke darüber, dass er nur „immer das gleiche Stück der Fabrik“ (Z.29/30) sehe. 5. Nach den beiden Eingangssätzen folgen einige, die anaphorisch mit den Worten „Er hasste“ beginnen (vgl. Z.2ff.). Diese Wiederholungen heben das Gefühl des Arbeiters hervor, das den ersten Teil bestimmt. 6. „Hass“ ist im ersten Teil der Kurzgeschichte das Schlüsselwort, womit die Innenwelt des Arbeiters charakterisiert wird. 7. Der Arzt rät dem Arbeiter, sein Arbeitstempo zu reduzieren („Akkord ist nichts mehr für Sie“; Z.10/11). 8. Der Mann missachtet die Ratschläge des Arztes, denn „er wollte kein Greis sein“ (Z. 13) - er ignoriert sein Alter (Anm. des Verfassers) - „er wollte keinen kleineren Zahltag“ (Z.13/14). 9. Aus der zuerst schützenden Bretterwand wird zuletzt die „verdammte[n]Wand“ (Z.25/26). 312 Die wichtigsten stilistischen Mittel Allegorie Sinnbild, Gleichnis: Verbildlichung eines abstrakten Begriffs (Das Rad des Schicksals dreht sich; Justitia mit Waage und Augenbinde) Alliteration auch Stabreim genannt: gleicher Anlaut der betonten Silben bei mehreren Wörtern (mit Mann und Maus; Milch macht müde Männer munter) Allusion Anspielung (Er fällte ein salomonisches Urteil.) Anakoluth Satzbruch ("Korf erfindet eine Mittagszeitung, welche, wenn man sie gelesen hat, ist man satt." Morgenstern) Anapher Wiederholung des gleichen Anfangswortes bei aufeinander folgenden Sätzen, Versen, Strophen ("Ihr unsterblichen Seelen. Ihr, die ihr nicht von dieser Welt seit. Ihr Weltoffenen." Handke) Antithese Entgegenstellung (Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Heiß ist die Liebe, kalt ist der Tod. Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit.) Asyndeton Unverbundenheit: Aneinanderreihung ohne Konjunktion (Alles rennet, rettet, flüchtet ... ; Veni, vidi, vici) Bild Bildlichkeit: Gesamtbegriff für sprachliche Mittel, die abstrakte Sachverhalte anschaulich machen, z.B. Allegorie, Chiffre, Metapher, Symbol, Vergleich. Chiasmus Überkreuzstellung: syntaktische Überkreuzung zweier an sich parallel gebauter Sätze ("Die Kunst ist lang, und kurz ist unser Leben." Goethe) Chiffre Geheimzeichen, Verschlüsselung: zu Zeichen reduzierte Symbole od. Stimmungsträger, die das Gemeinte nur andeuten, das Wirkliche verfremden ("Mit allen Augen sieht die Kreatur nur das Offene." Rilke) Ellipse Auslassung eines für die vollständige syntaktische Konstruktion notwendigen Satzgliedes (Je schneller, desto besser! Was nun? Alles klar?) Euphemismus verhüllende oder beschönigende Umschreibung einer unangenehmen Sache (statt sterben: entschlafen, verscheiden, ableben, heimgehen; vollschlank) Hyperbel Übertreibung (Er hat einen Mund wie ein Scheunentor. "Ich fühle eine Armee in meiner Faust." - Schiller) 313 Hypotaxe Satzorganisation in Form der Über- und Unterordnung von Haupt- und Nebensätzen; komplizierter Satzbau, kunstvoll geschachteltes Gefüge von Sätzen Inversion Umstellung, Umkehrung: Bezeichnung für eine von der üblichen und gebräuchlichen Wortfolge abweichende Umstellung von Wörtern bzw. Satzgliedern (In seinen Armen das Kind war tot. Goethe, Erlkönig) Ironie Form des uneigentlichen Sprechens: sagt das Gegenteil dessen, was eigentlich gemeint ist (eine schöne Bescherung; die Hellste!) Katachrese Bildbruch (Der Zahn der Zeit hat schon manche Träne getrocknet. Der Lungenkrebs reibt sich vergnügt die Scheren. Sobald der Krach mit Fortschritt zu tun hat, drückt unser Ohr ein Auge zu.) Klimax Kunstvolle Steigerung (Es dauerte Tage, Wochen, Monate, ja Jahre. In jeder Partei gibt es Eifrige, Übereifrige und Allzueifrige.) Litotes Bejahung durch doppelte Verneinung, Milderung des Gesagten (nicht unschön; er ist nicht gerade ein Held; er freute sich nicht wenig) Metapher Bildliche Bezeichnung (Flussbett, Drahtesel, Wüstenschiff); zu unterscheiden sind: Genitivmetaphern: der Korall der Lippen Adjektivmetaphern: süßer Ton, dunkler Klang Verbmetaphern: umgreifen, besetzen, gipfeln Satzmetaphern: Sein Herz drohte zu brechen. Metonymie Umbenennung: ein Teil steht für das Ganze, pars pro toto (im Kreml und im weißen Haus .. er kann den ganzen Novalis auswendig; er trank fünf Glas) Motiv sich wiederholende, vorgeprägte typische Handlungsteile Neologismus Wortneubildung, neu gebildeter sprachlicher Ausdruck (z.B. Waschbrettbauch) Onomatopoesie Lautmalerei bei Wortbildungen (knistern, ächzen, girren, klirren, brausen, sausen) Oxymoron Kopplung einander widersprechender Wörter (bittersüß, helldunkel, beredtes Schweigen, alter Knabe) Parataxe Satzreihe: Reihung von Hauptsätzen Parenthese Einschub (Das war - kurz gesagt - seine Meinung) 314 Paradoxon Widersprüchlichkeit, Scheinwiderspruch (Einmal ist keinmal. Das Leben nach dem Tod. Es ist merkwürdig, wie wenig im ganzen die Erziehung - verdirbt.) Parallelismus Gleichbau mehrerer Sätze, Verse, Strophen ("Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident!" - Goethe) Personifikation Belebung eines Dinges oder Abstraktums ("Es kam die Nacht und blätterte gleichgültig in den Bäumen." - Rilke) Pleonasmus das doppelte Ausdrücken einer Sache (weißer Schimmel, wieder von neuem, alter Greis) Rhetorische Frage Frage, auf die keine Antwort erwartet wird (Was ist gewisser als des Menschen Ende?) Sentenz kurzer Denkspruch (Humor ist, wenn man trotzdem lacht.) Symbol Wahrzeichen, Merkmal: bildhafter Ausdruck für einen auf etwas Höheres, Umfassenderes verweisenden Vorgang oder Zusammenhang (Kreuz, Adler, Flagge) Synästhesie Zugleichempfindung: Mischung mehrerer Sinnesgebiete (Farbhören, die Sprache des Geschmacks, die Musik des Herzens) Synekdoche Begriffsvertauschung: ein Teil steht für das Ganze ("Dach" für Haus; "Klinge" statt Schwert) Synonymie Kombination sinnverwandter Wörter (Es gibt kein Ende, keinen Ausgang, keine Auflösung. Mein Liebster, mein Bräutigam, mein Verlobter!) Tautologie Bezeichnung desselben Gegenstandes oder Sachverhalts durch verschiedene, gleichbedeutende Worte (nackt und bloß; einzig und allein) Vergleich Verbindung eines gemeinsamen Gehalts zweier Bereiche (Er ist stark wie ein Löwe, groß wie ein Baum und reich wie das Meer.) Zeugma Verbindung mehrerer Nomen durch ein Verb, das sinngemäß aber nicht zu allen passt (Ich heiße Schmidt und Sie herzlich willkommen! Der Hund hob den Blick und ein Bein 'gen Himmel.) Zitat Übernahme und Verwendung wörtlich wiedergegebener Äußerungen als Beleg für die eigene Auffassung ( ... wie Goethe seinerzeit schon sagte: "Es irrt der Mensch, solang er strebt.") 315 Methodik der Gedichterschließung Die Analyse und Interpretation eines Gedichtes (bzw. der Gedichtvergleich) erfordern die gleichen Fertigkeiten wie die Textanalyse eines epischen Textes. Allerdings müssen die spezifischen Besonderheiten der Lyrik auch entsprechend berücksichtigt werden. Die Möglichkeiten des Vorgehens bei der Analyse / Interpretation sind vielfältig. Es kommt aber immer wesentlich darauf an, bei der Analyse den Zusammenhang von Form und Inhalt aufzuzeigen. Da in der Lyrik Form und Inhalt besonders eng zusammenhängen, genügt es nicht, die auffälligen Formelemente zu nennen, d.h. die Formanalyse isoliert vom Gehalt zu betrachten. Es muss vielmehr darum gehen aufzuzeigen, was die Form für den Inhalt leistet. Hierfür bietet sich ein bewährtes methodisches Grundmodelle an: I. Einleitung allgemeine Angaben zum Gedicht, Autor und Thema Angaben zur Entstehungszeit (wenn bekannt) II. Analyseteil 1. Formanalyse Beschreibung des äußeren Aufbaus (Strophe, Zeilen) Angaben zur Gedichtform (Sonett, Ode ...) Angaben zum Reim und Reimschema Angaben zum Metrum und Rhythmus Angaben zum Vers und Satzbau (Kongruenz ...) Zusammenfassung: Darlegungen zur Gesamtwirkung der optischklanglichen Mittel (Regelmäßigkeit, Harmonie, Brüche ...) 2. Inhalts- und Sprachanalyse Angaben zum Gedichttyp (z.B. Naturlyrik) Darlegung der inhaltlichen Abfolge in den Strophen bzw. Zeilen Angaben zur Sprachgestaltung (stilistische Mittel) Herstellen von Querverbindungen von Inhalt und Sprache Angaben zum lyrischen Ich: Einstellung zum Gegenstand oder Problem 3. Interpretation Darlegung der Intention: Zusammenfassung der inhaltlichen und formalen Analyse in Hinblick auf die Aussageabsicht des Autors Einordnung des Gedichtes bzw. der Intention in den literaturhistorischen Zusammenhang III. Schluss (Abrundung der Darstellung, z.B. mit einer wertenden Stellungnahme zum Gedicht, zu seiner Aussage und Wirkung) 316 Die Charakterisierung literarischer Figuren Die Analyse und Interpretation literarischer Texte umfasst notwendigerweise auch die im literarischen Geschehen agierenden oder erscheinenden Figuren; denn die Figurenkonzepte sind wesentliche, oft die wichtigsten Konstituenten des Dargestellten und der Intention. Literarische Figuren sind keine Personen aus Fleisch und Blut, sondern fiktive Konzepte im literarischen Ganzen, also Funktionen. Dennoch erstellt der Leser in seinem Bewusstsein aus den im Text verstreuten Angaben zu einer Figur ein kohärentes Bild einer Person (nach den gelernten Schemata der PersonenWahrnehmung). Bei der Charakterisierung literarischer Figuren ist der Interpret angewiesen auf die im Text direkt oder indirekt vermittelten Angaben zu den Figuren. Nicht alle literarischen Figuren sind vom Autor gleichartig ausgearbeitet; die Hauptfiguren sind natürlich differenzierter, komplexer, umfassender gestaltet; die Nebenfiguren sind oft auf wenige Merkmale reduziert. Das Gesamtbild einer literarischen Figur ergibt sich aus dem Gesamteindruck zusammengefügter Mosaiksteine, die über den gesamten Text verstreut sind. Zur Erstellung einer Charakteristik kommt es also zunächst darauf an, die unterschiedlichen Informationen im Text zu sammeln und aufzulisten. Diese Einzelinformationen lassen sich kategorisieren etwa nach folgenden Punkten: das äußere Erscheinungsbild der Figur, die soziale Situation, die Eigenschaften die Verhaltensweisen und die Handlungen. Gemäß diesen Kategorien ergibt sich ein Fragenkatalog, der zu einer Liste von Merkmalen führt, die Grundlage der Charakteristik sein kann: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Was wird über das Äußere (Gesicht, Figur, Kleidung usw.) mitgeteilt? Welche Mitteilungen werden zur sozialen Situation gemacht? Welche Angaben werden zum Beruf und zur finanziellen Lage gemacht? Was erfährt man über die Biografie? Welche Mitteilungen werden zu Vorlieben und Abneigungen gemacht? Welche Informationen erhält man über die Lebensbedingungen? Was wird über die Verhaltensweisen erzählt? Was sagt die Figur? Was tut sie (in bestimmten Situationen)? 8. Was wird über ihre Einstellungen (zu bestimmten Problemen oder Fragen) mitgeteilt? 9. Welche charakterlichen Eigenschaften werden hervorgehoben? Die Beantwortung dieser Fragen ist nicht identisch mit dem Figurenkonzept, sondern bilden lediglich dessen Einzelteile (Mosaiksteine), aus denen der Gesamteindruck erst im Zusammenhang erstellt werden muss. 317 Die Kurzgeschichte 1. Entstanden ist die Kurzgeschichte (short story) als eine neue literarische Form im 19.Jh. in Amerika; sie entsprach dem dortigen Lebensgefühl, das von Schnellebigkeit und Momenthaftigkeit geprägt war. Dies findet in der knappen, überschaubaren Gestaltung der unmittelbaren Lebensverhältnisse durch die Kurzgeschichte seine Entsprechung. Unverkennbar ist der Einfluss der publizistischen Gegebenheiten der Entstehungszeit auf Struktur und Gehalt: für die Veröffentlichung in Zeitungen gedacht, durfte das Erzählte nicht viel Platz verbrauchen, sollte jedoch den meist flüchtigen Leser vom ersten Satz an faszinieren. 2. Die Kurzgeschichte beschränkt ihren Stoff auf eine einzige Situation. Während der Roman eine Vielzahl sich ineinander verschlingender Ereignisse und Zustände darstellt, hebt die Kurzgeschichte brennpunktartig eine einzige, oft alltägliche Situation aus dem Strom des Geschehens heraus. Die Kurzgeschichte ist auf die Fixierung eines Augenblicks und dessen Inhalte gerichtet. Von daher bekommt das Belanglose, das scheinbar Unbedeutende, ein Einzelgegenstand, eine Geste oder ein Wort tragende Bedeutung. 3. Der Gegenstand der Kurzgeschichte ist nicht eine Handlung, sondern eher ein Zustand, eine Stimmung, eine spezifische Atmosphäre, in die der Leser sich mit jedem Satz tiefer hineinbohrt. Die Geschehnisse erscheinen mehrdeutig, labyrinthisch; sie werden jedoch nur andeutend dargestellt. 4. Meist zeigt die Kurzgeschichte zu Beginn einen harmlosen Ausschnitt einer Lebenswirklichkeit, in die ein unvorhergesehenes Ereignis hineinbricht, das den geregelten Ablauf zerstört und den / die Menschen zur Reaktion zwingt. Vom Schicksalsschlag übermächtigt, werden die Protagonisten grundlegend (in ihrem Charakter) verändert. Die Wiedergabe eines schicksalhaften Moments ist geradezu das Urmotiv der Kurzgeschichte. 5. Die Kurzgeschichte lebt von der Psychologie. Die Intention liegt in der Offenbarung und psychologischen Durchdringung eines Stückes Lebenswirklichkeit: das vieldeutige, rätselhafte, unentwirrbare menschliche Dasein. 6. Die Kurzgeschichte beginnt ohne Einleitung und hat einen offenen Schluss. Der Leser springt sozusagen auf einen fahrenden Zug und springt während der Fahrt wieder ab. Keine Lösung wird geboten. Dem Leser bleibt es selbst überlassen, 318 damit fertig zu werden. 7. Die Kurzgeschichte arbeitet mit typischen Formelementen: Einblendemethode, Abblendverfahren, Ausspartechnik, Raffung, Andeutung, Doppelbödigkeit der Sprache, komprimierte Symbolik, Gestik, Einzelworte. Der Verlauf der Kurzgeschichte ist linear: sie hat keine Nebenhandlung, keine Spannungs- und Höhepunkte im üblichen Sinne. 8. Die Kurzgeschichte will nicht unterhalten; sie will schockieren ("Eine Axt für das gefrorene Meer in uns"), provozieren, desillusionieren, demaskieren und so den Leser zwingen, sich einem wichtigen Problem zu stellen. Es soll ein Stachel zurückbleiben, der das Denken nicht zur Ruhe kommen lassen will. Die Parabel (gr. paraballein = daneben werfen, an die Stelle setzen, nebeneinander halten, vergleichen) 1. In der antiken Rhetorik ist „Parabel“ ein Terminus für eine Weise des Sprechens, die nicht im eigentlichen Sinne verstanden werden soll, sondern in der Weise der Übertragung (gleichnishaftes Sprechen). 2. Als literarische Gattung ist die Parabel wie die Fabel eine Form des bildhaften Sprechens; beide bedienen sich der Form des Gleichnisses: Sie stellen Sachverhalte nicht um ihrer selbst willen dar, sondern wollen mit ihrer Darstellung auf etwas anderes verweisen (z.B. auf eine Wahrheit, die hinter dem Gesagten fassbar werden soll). Das Gesagte ist also nicht das Gemeinte, sondern lediglich dessen Konkretisierung: Ein Ereignis wird als Beispiel dargeboten für etwas Allgemeines. Die besondere Form der Entschlüsselung verlangt, das konkret gegebene Bild (Bildteil) auf eine allgemeine, abstrakte Aussage (Reflexionsteil) zu übertragen. 3. Es lassen sich somit drei Merkmale der Parabel feststellen: das uneigentliche, gleichnishafte Sprechen der Unterschied zwischen Bild- und Reflexionsteil die Herleitung des Gemeinten aus dem dargestellten Beispiel 4. Die Parabel muss von verwandten Formen abgegrenzt werden: Im Unterschied zur Allegorie, Metapher und zum Symbol steht bei der Parabel das Bild nicht anstelle der Sache, sondern daneben, außerhalb. Allegorie, Metapher und Symbol sind bildhafte Ausdrücke, bildhafte Darstellungen eines Begriffs oder Sachverhalts; die Parabel meint ein bildhaftes Erzählen in Form eines Gleichnisses. 5. Die Parabel ist eine Zwischenform zwischen Kurzgeschichte und Allegorie; mit der Kurzgeschichte hat die Parabel gemeinsam, dass sie zweifellos eine kurze 319 Geschichte (epische Kleinform) ist. Die Kurzgeschichte wird allerdings erst zur Parabel, wenn die erzählte Geschichte eine Lehre, Einsicht oder Frage verkörpert, die über den Einzelfall ins Allgemeine, Abstrakte hinausgreift. Mit der Allegorie hat die Parabel gemeinsam, dass sie ein Abstraktum in sinnliche Gestalt kleidet und zu ihrer Deutung vom Bild auf das Abstraktum hin übertragen werden muss. Die Allegorie bezieht sich auf ein Bild, die Parabel auf eine Geschichte. 6. Der formale Bau der Parabel ist auf eine Pointe hin komponiert, die die zuvor aufgebaute Denkerwartung nicht erfüllt. In der Regel ist die Parabel dreiteilig aufgebaut: Ausgangssituation, das eigentliche Geschehen, Pointe. Formal unterscheidet man zwischen offenen und geschlossenen Parabeln. Eine geschlossene Parabel liefert auch den Reflexionsteil zum Bildteil, eine offene nur den Bildteil. 7. Es gibt drei Arten von Parabeln, die nach inhaltlichen Kriterien unterschieden werden: die religiöse Parabel (Altes Testament, Martin Buber ...) die phänomenologische P. (Dürrenmatt, Frisch ...) die politische P. (Brecht, Kunert, Kunze ...) 8. Die politische Parabel ist eine bevorzugte literarische Form in Zeiten mit zugespitzten politischen Gegensätzen. Sie ist dann die getarnte Waffe von Literaten, die von der Macht zur Tarnung gezwungen werden. Deshalb kommt die Parabel in totalitären Regimen häufiger vor als in demokratischen. 9. Wie die Fabel gehört die Parabel zu den didaktischen Formen der Literatur. Sie will den Leser belehren. Die Novelle Novelle (ital. novella = kleine Neuigkeit) meint eine merkwürdige (geschichtliche) Begebenheit, die durch eine unerwartete, entscheidende Wendung (Wendepunkt) zu einem unerhörten Ereignis wird. Goethe nennt die Novelle „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“. Die Novelle ist gesellschaftlich orientiert; sie zeigt den Menschen als Individuum in der Krise, in der Welt der Wirklichkeit, schicksalhaft in Konfliktsituationen gestellt, häufig dem tragischen Ausgang überantwortet. Folgende Strukturmerkmale sind charakteristisch für eine Novelle: begrenzter Umfang: im Mittelpunkt steht ein Ereignis, an dem nur wenige Personen beteiligt sind; die Novelle ist an der inneren Entwicklung eines Charakters („Ausnahmemensch“), der erprobt wird, interessiert; dieser Charakter steht immer in einer bestimmten historischen Situation, das bedeutet: das Geflecht von Charakter und Vorfall, die Verknüpfung von Individuum und 320 Schicksal und die Frage ihrer Verflechtung machen das Wesentliche aus Kristallisation und Wendepunkt: während der Roman mehrere Handlungen und Geschehnisse verknüpft, wird in der Novelle alles in einem einzigen Vorfall zusammengefasst; dieser Vorfall ist von besonderer („unerhörter“) Art; er führt zum Wendepunkt, der mit einem Dingsymbol, einem äußeren, gegenständlichen Zeichen, angezeigt wird; nach einer Novelle von Boccaccio, in der ein Falke diese Rolle spielt, wird das Dingsymbol auch „Falke“ genannt Konzentration des Erzählten: die Novelle ist auf äußerste Verdichtung und abgekürzte Darstellung aus; ähnlich wie die Anekdote gipfelt die Handlungsführung in einem einzigen Punkt; die Verwandtschaft der Novelle mit dem Drama zeigt sich in einer knappen Exposition am Anfang, in dem zusammenraffenden Hinführen zum Höhe- und Wendepunkt, in dem Abfall oder Ausklang am Schluss Zurücktreten der äußeren Umstände und der psychischen Zustände: keine ausführliche Milieuschilderungen; die Schauplätze sind oft wie Bühnenbilder gestaltet; die Erscheinungen der Dingwelt werden zu neuer Bedeutung erhoben, werden Leitmotive; diese sind transparent und lassen eine höhere Wirklichkeit durchschimmern; sie verbinden die Erzählschritte zu einem geschlossenen Ganzen (geschlossene Form) Sprachliche Gestaltung: Novellen sind in der Regel sparsam in der Anwendung von Stilmitteln; kurze, genaue Striche geben den Eindruck eines vollständigen Porträts: kurze, dramatisch scharf beleuchtete Szenen, Vergleiche, Metaphern, prägnante, phantasieweckende Bilder, Vorausdeutungen, Rückschau, Zu unterscheiden sind folgende Arten: • • • • Gesellschaftsnovelle Problemnovelle Schicksalsnovelle Novellenkranz (zusammengehörende Novellensammlung) Die Ballade 1. Die Ballade (lat.: ballare = tanzen und singen) meint ein erzählendes Gedicht. In Strophenform wird ein episches oder dramatisches Geschehen dargestellt. Die Grundstimmung ist hierbei meist düster. Der Erzählstoff kann aus der Sage, der Legende oder der Geschichte stammen. Oft liegt der Glaube an Schicksal, Dämonie und Magie zu Grunde. 2. Die Ballade will modellhaft menschliche Grunderfahrungen und Probleme aufzeigen. Sie will das Krisenhafte einer Begebenheit darstellen: das Bedrohtsein des Menschen durch unheimliche, unfassbare Mächte, die ihn vernichten wollen oder ihn mit einem Schrecken entlassen. Der Einbruch überpersönlicher Mächte in die menschliche Welt, und damit verbunden, die kritische Wende im Leben des/r 321 handelnden Menschen ist das eigentliche Metier der Ballade. Zwischen Welt und Schicksal gestellt, ist der Mensch zur Entscheidung aufgerufen. 3. Die innere Struktur der Ballade wird geprägt von lyrischen, epischen und dramatischen Elementen. Es vollzieht sich ein Ringen in dramatischer Spannung: Exposition, erregendes Moment, steigende Handlung, Höhepunkt, Umschwung, fallende Handlung, Katastrophe bzw. Wiederherstellung der Ordnung. Der innere Zusammenschluss der Aussagen wird mit Leitmotiv(en) und Dingsymbol(en) erreicht. Das Geschehen wird relativ knapp skizziert, nur ein szenischer Ausschnitt wird gezeigt in rascher Zeitabfolge. Die Ballade konzentriert sich auf die Zuspitzung der Konfliktsituation und ist deswegen zielgerichtet (Finalität), auf eine Art Pointe am Schluss angelegt. 4. Die äußere Struktur wird geprägt von der rhythmischen Form und vom metrischen Schema, von Zeitstufen, Klaggebilden und dichterischen Bildern, welche die äußere und innere Spannung sichtbar machen. 5. Die Mittel der sprachlichen Gestaltung sind: schlichte Wörter, einfache Satzgebilde, einfache, überschaubare Strophenform, beseelte Tonlage. Die sachlich genaue Berichterstattung (Erzählgedicht) ist ebenso möglich wie dramatische Sprechhaltungen (Dialog, Monolog). Der häufig auftretende Refrain deutet noch hin auf den ursprünglichen Charakter eines Tanzliedes; dabei wird der Kehrreim oft als Mittel der Wiederholung, Steigerung und Abrundung eingesetzt. 6. Die Ballade hat stark belehrenden Charakter: Sie will am Modell, am konkreten Geschehen etwas Bestimmtes aufzeigen. Die dargestellte Handlung ist somit zweischichtig bzw. mehrschichtig: das vordergründige Geschehen, die dramatische Handlung ist die Konkretisierung eines hintergründigen Gehalts. Typische Situationen der Ballade sind: das hybride Überschreiten gesetzter Grenzen, das Sühnen verborgener Schuld, das Eingreifen überirdischer Mächte. Weil der Mensch in der Auseinandersetzung mit den anonymen Mächten meist unterliegt, in seiner Sicherheit aufgeschreckt oder vernichtet wird, ist der Ballade ein pessimistischer Grundzug zueigen. 7. Im Wesentlichen unterscheidet man folgende Typen von Balladen: die Heldenballade oder heroische B. (stellt eine heldenhafte Haltung dar wie z.B. Tapferkeit, Mut, Treue, Selbstaufopferung usw.) die Schicksals- oder Ideenballade (der Mensch im Konflikt - das sittliche Gesetz) die numinose Ballade (Auseinandersetzung des Menschen mit geheimnisvollen, naturmagischen oder totenmagischen Mächten) das Erzählgedicht (soziale Ballade, humoristische B., engagierte B.) 322 Lektüre-Empfehlungen : Bibliothek der Weltliteratur Wer Anregungen sucht auf die Frage, was „man unbedingt gelesen haben sollte“, bekommt hier die ultimativen Tipps. Der folgende Überblick über die angeblich besten Bücher der europäischen Literatur soll Sie neugierig machen. Die Bücher sind alphabetisch geordnet. Achebe, Chinua : Andersen, Hans Christian : Austen, Jane : Okonkwo oder Das Alte stürzt Märchen und Geschichten Stolz und Vorurteil Balzac, Samuel : Boccaccio, Giovanni : Borges, Jorge Luis : Brontë, Emily : Molloy, Malone stirbt, Der Namenlose (Trilogie) Das Dekameron Fiktionen Sturmhöhe Camus, Albert : Celan, Paul : Céline, Luis Ferdinand : Cervantes, Miguel de : Chaucer, Geoffrey : Conrad, Joseph : Der Fremde Gedichte Reise ans Ende der Nacht Don Quijote Die Canterbury - Erzählungen Nostromo Dante Alighieri : Dickens, Charles : Diderot, Denis : Döblin, Alfred : Dostojewski, Fjodor M. : Die göttliche Komödie Große Erwartungen Jacques der Fatalist und sein Herr Berlin Alexanderplatz Schuld und Sühne Der Idiot Die Dämonen Die Brüder Karamasow Middlemarch Der unsichtbare Mann Medea Eliot, George : Ellison, Ralph : Euripides : Faulkner, William : Flaubert, Gustave : Garcia Lorca, Federico : Garcia Marquez Gabriel : Absalom, Absalom! Schall und Wahn Madame Bovary Jules und Henry oder Die Schule des Herzens Zigeunerromanzen Hundert Jahre Einsamkeit Die Liebe in den Zeiten der Cholera Gilgamesch - Epos Goethe, Johann Wolfgang : Gogol, Nikolai W. : Grass, Günter : Guimarães Rosa João : Faust Die toten Seelen Die Blechtrommel Grando Sertão Hamsun, Knut : Hemingway, Ernest : Hunger Der alte Mann und das Meer 323 Das Buch Hiob (Altes Testament) Homer : Ilias Odyssee Ibsen, Hendrik : Nora oder Ein Puppenheim Joyce, James : Ulysses Kafka, Franz : Kalidasa : Kawabata, Yasunari : Kasantzakis, Nikos : Die Verwandlung und andere Erzählungen Der Prozess Das Schloss Sakuntala Ein Kirschbaum im Winter Alexis Sorbas Laurence, D.H. : Laxness, Halldor K. : Leopardi, Giacomo : Lessing, Doris : Lu Xun : Söhne und Liebhaber Sein eigener Herr Gesänge Das goldene Notizbuch Das Tagebuch eines Verrückten Mahfus, Nagib : Mann, Thomas : Melville, Herman : Montaigne, Michel de : Morante, Elsa : Morrison, Toni : Murasaki, genannt Shikibu : Musil, Robert : Die Kinder unseres Viertels Die Buddenbrooks Der Zauberberg Moby Dick Essais La Storia Menschenkind Die Geschichte vom Prinzen Genji Der Mann ohne Eigenschaften Nabokov, Vladimir : Orwell, George : Ovid : Pessoa, Fernando : Poe, Edgar Allan : Proust, Marcel : Lolita 1984 Metamorphosen Das Buch der Unruhe Erzählungen Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Rabelais, François : Rulfo, Juan : Pedro Rumi, Dschalaluddin : Rushdie, Salman : Gargantua und Pantagruel Páramo Mathnawi Mitternachtskinder Sadi : Die Saga von Njal Salih, Tayyib : Saramago, José : Shakespeare, William : Obstgarten Zeit der Auswanderung in den Norden Die Stadt der Blinden Hamlet König Lear Othello 324 Sophokles Stendhal : Sterne, Laurence Stevo, Italo : Tausendundeine Nacht Tolstoi, Leo N. : König Ödipus Rot und schwarz Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys Zeno Cosini Tschechow, Anton P. : Twain, Mark : Krieg und Frieden Anna Karenina Der Tod des Iwan Iljitsch und andere Geschichten Erzählungen Die Abenteuer des Huckleberry Finn Valmiki : Vergil : Ramayana Aeneis Whitman, Walt : Woolfe, Virginia : Grashalme Mrs. Dalloway Die Fahrt zum Leuchtturm Ich zähmte die Wölfin Yourenar, Marguerite : -------------------------------------------------------------------------Wenn Sie eines dieser Bücher kennen oder gelesen haben, dann sollten Sie es der Klasse vorstellen und empfehlen. Das können Sie wie folgt tun: 1. 2. 3. 4. 5. Sie sprechen mit der Lehrerin bzw. dem Lehrer einen Termin ab. Sie schreiben dann Titel, Autor und Veröffentlichungsjahr an die Tafel. Sie geben eine kurze Inhaltsangabe (nicht den Schluss des Buches). Sie sagen kurz, worum es in dem Buch geht (Thema, Problematik). Sie geben eine kurze Wertung des Buches (subjektive Sicht), indem Sie sagen, was Ihnen besonders gut gefallen hat. 6. Sie können eine typische Passage des Buches vorlesen, wenn Sie diese für anregend halten. 7. Sie machen Angaben über Verlag und Preis. Da Sie lediglich Appetit machen wollen, sollte Ihre Vorstellung bzw. Ihr Vortrag nur ein paar Minuten dauern. Wollen Sie eine Passage vorlesen, so sollte diese nicht allzu lang sein und möglichst aus den vorderen Teilen des Buches stammen. Wenn Sie die Pointe des Buches bzw. den Schluss vorwegnehmen, zerstören Sie möglicherweise die Intention des Ganzen. 325 13 Regeln zur Kommasetzung 1. Das Komma trennt Hauptsätze, wenn sie nicht durch „und“ oder „oder“ verbunden sind (Satzreihe). - Morgens regnete es, gegen Mittag kam dann die Sonne heraus. - Fabian spielt mit der Eisenbahn, Peter schaut dabei zu. 2. Das Komma trennt Hauptsatz und Nebensatz (Satzgefüge). - Mein Magen knurrt, weil ich Hunger habe. - Wenn du Lust hast, gehen wir ins Kino. - Die CD, die du mir geschenkt hast, ist fantastisch. - Du willst also, dass ich mit dir gehe. - Ich weiß nicht, was es bedeuten soll. - Ich frage mich, worüber ihr gelacht habt. 3. Das Komma trennt Nebensätze unterschiedlichen Grades. - Ich finde, das das, was du da machst, Wahnsinn ist. - Ich gehe zur Schule, damit ich lerne, was ich für die Uni brauche. - Sag mir doch, was ich tun soll, damit du zufrieden bist. (Folglich steht kein Komma bei Nebensätzen gleichen Grades, wenn sie mit „und“ oder „oder“ verbunden sind: - Ich weiß, dass du klug bist und dass du Ehrgeiz besitzt. - Ich gehe zur Schule, damit ich etwas lerne und damit für die Uni gerüstet bin. 4. Das Komma trennt Glieder einer Aufzählung, wenn sie nicht durch „und“, „oder“, „sowohl – als auch“, „weder – noch“, „entweder – oder“ verbunden sind. - Zu meinem Geburtstag kamen Peter, Uschi, Nicole und Axel. - Bring doch bitte Tomaten, Käse, Salat und Sahne mit. - Ich kaufe weder die schwarze noch die blaue Hose. Merke: Kein Komma steht dann, wenn das letzte Adjektiv einer Aufzählung mit dem folgenden Nomen einen Gesamtbegriff bildet. - Am liebsten esse ich frischen holländischen Käse. - Ich zeige dir meine schöne, neue elektrische Eisenbahn. 5. Das Komma trennt eine Apposition (nachgestellte Beifügung) vom übrigen Satz. - Beate, unsere Klassensprecherin, beschwert sich beim Direktor. - Mit meinem Nachbarn, einem Tischler, verstehe ich mich sehr gut. 6. Das Komma trennt nähere Erläuterungen ab. - Raubkatzen, vor allem Tiger, sind meine Lieblingstiere. - Ich backe viel, z.B. Kuchen und zu Weihnachten auch Plätzchen. 7. Anreden und Ausrufe werden durch Komma abgetrennt. - Na, wie geht es dir heute, Isabelle? - Monika, mach bitte das Fenster zu! - Hey, lass mich endlich in Ruhe! 326 8. Indirekte Aussagesätze, vor allem auch die indirekte Rede (es handelt sich ja um Nebensätze), werden mit Komma abgetrennt. - Nico beteuerte, er habe nicht abgeschrieben. - Ich frage mich, ob das die beste Lösung ist. 9. Folgt der direkten Rede ein Nachsatz, dann steht ein Komma - „Ich gehe heim“, sagte er. - „Warum bleibst du nicht?“, fragte sie. - „Wie schade, schluchzte sie, „dann gehe ich alleine ins Kino.“ 10. Das Komma trennt den erweiterten Infinitiv ab. Es kann auch beim nicht erweiterte Infinitiv gesetzt werden. Infinitive mit „zu“, die mit „um“, „ohne“, „statt“, „anstatt“, „außer“ oder „als“ eingeleitet werden, müssen grundsätzlich mit Kommas abgetrennt werden, auch wenn sie nicht erweitert sind. - Ich habe große Lust, mich mit dir zu treffen. - Er wagte nicht (,) sich zu rühren. - Sie arbeitete weiter, ohne aufzuschauen. - Ohne aufzuschauen, arbeitete sie weiter. - Sie arbeite, ohne aufzuschauen, weiter. - Anstatt zuzuhören, redete sie weiter. Merke: Das Komma muss auch dann gesetzt werden, wenn die Infinitivgruppe von einem Verweiswort abhängt. - Sabine mag es, mit Fabian zu reden, - Fabian hat nicht damit gerechnet, Sabine zu treffen. Das Komma muss auch gesetzt werden, um Missverständnisse zu vermeiden. - Ich hoffe, jede Woche etwas zu gewinnen. - Ich hoffe jede Woche, etwas zu gewinnen. 11. Das Komma trennt erweiterte Partizipien ab. - Lachend sah sie mich an. - Aus vollem Mund lachend, sah sie mich an. - Den Jubel der Zuschauer auskostend, dreht er eine Ehrenrunde. - Der neue Comuter, gerade erst gekauft, ist schon defekt. 12. Kommasetzung bei Vergleichen mit „als“, „wie“, „so – wie“ Kein Komma steht, wenn nur Satzteile miteinander verknüpft werden. - Ich bin schneller als du. - Sie ist so groß wie du. Kommas müssen gesetzt werden, wenn „als“, „wie“, „so – wie“ Nebensätze einleiten. - Ich bin schneller, als du denken kannst. - Sie ist so groß, wie du vor zwei Jahren warst. 13. Kommasetzung bei Zeit- und Ortsangaben: Zwischen den Gliedern von Zeit- und Ortsangaben steht ein Komma. Nach dem letzten Bestandteil kann ein Komma stehen. - Ich fahre am Mittwoch, dem 3. Mai, morgens um acht Uhr (,) mit dem Zug. - Der Maler stellt seine Bilder in Berlin, Seestraße 7, 2. Obergeschoss links (,) aus. 327 Vorbereitung auf die Deutschklausur 1. Allgemeines Die Klausur im Fach Deutsch ist - im Unterschied zu anderen Fächern - eine zusammenhängende, in sich geschlossene Darstellung; d.h., es gibt weder (Teil-)Überschriften noch Nummerierungen, sondern formulierte Überleitungen und Querverbindungen. Klausuren werden immer im Präsens geschrieben, auch wenn deren Textgrundlage im Präteritum verfasst ist. Die einzelnen Arbeitsschritte (Sinneinheiten, methodische Einzelteile) werden durch Absätze sichtbar gemacht; Absätze ersetzen jedoch nicht die Überleitungen. Die Klausur soll in einer deutlich lesbaren Schreibschrift verfasst werden. Unleserliche Wörter oder nicht eindeutig identifizierbare Buchstaben (z.B. bei der Groß- und Kleinschreibung) werden als R-Fehler angestrichen. Die Zahlen bis zwölf werden (als Wörter) ausgeschrieben; ausgenommen sind die Ordnungszahlen (z.B. der 4. Abschnitt) und die Zeilenangabe: a) beim Zitat z.B. : (Z. 5) b) beim Gedicht z.B. : (II,3) - heißt: 2. Strophe, 3. Zeile c) beim Drama z.B. : (III,4) - heißt: 3. Akt, 4.Szene Der Gedankenstrich hat eine andere Funktion als das Komma; beide sind nicht einfach vertauschbar. Zitieren: Die wichtigsten Regeln für das Zitieren lauten: a) Das Zitat muss dem Original genau entsprechen. b) Das Zitat muss mit Anführungszeichen markiert werden. c) Auslassungen innerhalb des Zitates werden mit drei Punkten innerhalb der Anführungszeichen gekennzeichnet. d) Das Zitat wird immer mit Belegstelle angegeben. Die Quellen- bzw. Zeilenangabe dient als Beleg und gehört zum Satz (d.h., der Punkt steht danach). e) Das Zitat muss syntaktisch passen, d.h., der eigene Satzbau muss dem Zitat angepasst werden (nicht umgekehrt). f) Nichtwörtliches Zitieren wird mit Vergleichshinweisen gekennzeichnet, z.B. (vgl. Z.5). g) Hinzufügungen innerhalb eines Zitates werden in Klammern und mit einer Anmerkung angezeigt, z.B. (Anm. des Verfassers). Die Anmerkung fällt weg, wenn lediglich Kasusendungen verändert werden; diese werden in eckige Klammern gesetzt. h) Das Zeilenende im Originaltext - besonders bei Gedichten - wird beim Zitieren mit einem Schrägstrich (... / ...) angezeigt. 328 Einen Duden bekommen Sie bei jeder Deutschklausur, damit Sie in Zweifelsfällen (Rechtschreibung, Zeichensetzung, Abkürzungen) nachschauen können. Machen Sie Gebrauch davon !!! 2. Vermeidung besonders häufiger Einzelfehler 2.1. Grammatik - Konjunktiv und indirekte Rede: Die wichtigsten Regeln lauten: a) Die Wiedergabe von Äußerungen oder Gedanken anderer Personen wird in Form der indirekten Rede, also mit dem Konjunktiv, angezeigt. In der Regel ist dabei der Konjunktiv I zu verwenden. • Sie sagte: „Ich muss mich beeilen.“ (direkte Rede) • Sie sagte, dass sie sich beeilen müsse. (indirekte Rede) • Sie sagte, sie müsse sich beeilen. (indirekte Rede) b) Sind die Formen des Konjunktivs I identisch mit den Formen des Indikativs, wird auf den Konjunktiv II zurückgegriffen. • Sie sagte: „Wir haben Glück gehabt.“ • Sie sagte, sie hätten Glück gehabt. c) Wird in der direkten Rede Vorzeitiges, also zum Zeitpunkt des Sprechens schon Abgeschlossenes, ausgedrückt, wird das mit dem Konjunktiv Perfekt wiedergegeben. • Er sagte: „Es war ein schönes Erlebnis.“ • Er sagte, es sei ein schönes Erlebnis gewesen. das / dass a) ‘das’ ist ein bestimmter Artikel, ein Demonstrativ- oder Relativpronomen; für ‘das’ kann „dieses“ oder „welches“ eingesetzt werden. • Das Kind mag das Spiel, das (welches) wir gestern gespielt haben. (Relativsatz) b) ‘dass’ ist eine Konjunktion, die ganz bestimmte Nebensätze (Gliedsätze), z.B. Subjekt-, Objekt- oder Konsekutivsätze, einleitet. • Dass sie es gewesen ist, ist offensichtlich. • Ich hoffe, dass du gut angekommen bist. • Er war so groß, dass es sich bücken musste. 329 durch ist eine Präposition, die häufig unkorrekt verwendet wird (durch den Kälteeinbruch, durch seinen Glauben) korrekt: wegen, aufgrund, infolge ‘nachdem’ ist eine temporale Konjunktion, die Vorzeitiges, also bereits Abgeschlossenes, zum Ausdruck bringt. Die hierbei korrekten Tempi sind das Plusquamperfekt oder das Perfekt. • Nachdem sie die Klausur geschrieben hatte, war sie froh. 2.2. Rechtschreibung Regeln der neuen Rechtschreibung: (Bitte nachschauen im Arbeitsbuch des Vorkurses !!!) Genitiv bei Namen: Im Deutschen wird einfach ein ‘s’ angehängt (Goethes Werk, Schillers Dramen, Helgas Studio, Rolfs Schänke Ausnahme: Nur dann, wenn ein Eigenname auf s,ß,x,z,tz endet, wird zur Kennzeichnung des Genitivs ein Apostroph nachgestellt: Aristoteles’ Schriften, Grass’ Romane, Felix’ Aufsatz, Löns’ Lyrik 2.2.1. Groß- und Kleinschreibung 1. Nach den Wörtern (Mengenangaben): etwas, alles, viel, wenig, nichts werden Adjektive großgeschrieben: • etwas Schönes, viel Gutes, nichts Besonderes 2. Bezeichnungen von Tageszeiten werden nach Adverbien großgeschrieben: • heute Abend, morgen Mittag, gestern Morgen 4. Bezeichnungen von Tageszeiten, die als Adverbien verwendet sind, werden kleingeschrieben: • morgens, abends, montags, dienstags morgens 5. Nach einem Doppelpunkt wird großgeschrieben, wenn ein vollständiger Satz folgt, und kleingeschrieben, wenn z.B. eine Aufzählung folgt: • Und so wird es gemacht: Man nehme zuerst einen Eimer. • Und das braucht man: viel Farbe, Wasser, Papier. 2.2.2. Getrennt- und Zusammenschreibung (Bitte nachschauen im Arbeitsbuch des Vorkurses !!!) 2.3. Zeichensetzung Kommaregeln: Die wichtigsten Regeln finden Sie im vorherigen Kapitel 330 bei Abkürzungen: mit Punkt(en): z.B. - usw. - z.T. - u.a. ohne Punkt: TÜV, ARD, BGB, km/h, kg, DM (alle gängigen Abkürzungen stehen im Duden) bei Zitaten: Zitate werden in Anführungszeichen gesetzt; die Quellenangabe (Zeilenangabe) dient als Beleg und gehört damit zum Satz. (s.o. unter "Zitieren") Dann erwähnt Gryphius den Menschen, er bezeichnet ihn als "das Spiel der Zeit" (III,2). 3. Stilistik Wirkung und Überzeugungskraft einer Klausur hängen auch vom Stil, vom richtigen Wort, vom treffenden Ausdruck, von klaren Formulierungen ab. Natürlich ist der Stil etwas Subjektives - jeder hat seinen persönlichen Stil, auch in der Schriftsprache -, aber doch (nur) innerhalb der sprachlich-stilistischen Möglichkeiten und Grenzen. Sprache und Stil sind stets abhängig von der Intention. Die Absicht der Deutschklausur besteht sowohl bei der Analyse, bei der Interpretation als auch bei der Problemerörterung in der sachlichen, aufgabengerechten und zusammenhängenden Darstellung von Sachverhalten und Gedankengängen. Der entsprechende sachliche Stil ist bestimmt von den Prinzipien der Klarheit, Angemessenheit und Folgerichtigkeit. Verstöße gegen diese Stilprinzipien bedingen die häufigsten stilistischen Fehler und Mängel. Sie beziehen sich auf: Umgangssprache (Bullen, glotzen, quatschen, veräppeln ...) bürokratische Ausdrücke (Inangriffnahme, Kenntnisnahme, zum Einsatz bringen, in Erwägung ziehen, zu Papier bringen ...) Flickwörter und Füllsel (eigentlich, letztendlich, irgendwie, praktisch, perfekt, restlos, selbstverständlich, in der Tat ...) Modewörter (total, absolut, geil, super, irre, platt, unterschwellig, einsame Spitze, nicht drin sein, in sein ...) Vulgärsprache (Beispiele erübrigen sich) Redestilelemente (ja, also, irgendwie, nicht wahr? ...) schwerfällig wirkende Verwendungen des Relativpronomens 'welcher' (der Mann, welcher gestern starb, ... mit welchem ich ...) stilistisch besser: der, mit dem unvollständige Sätze (Das ist ein romantisches Gedicht. Volksliedstrophe. Harmonischer Inhalt. Sagte ich schon) unangemessener Nominalstil (Vor der Inangriffnahme der Analyse der Intention ist eine gründliche Überprüfung der Inhaltsschwerpunkte und der Sprachstruktur erforderlich.) unangemessene Hypotaxen (Bevor wir mit der Analyse, die sich auf die Intention, die dem Gedicht zugrunde liegt, bezieht, beginnen können, müssen wir den Inhalt, bezogen auf dessen Schwerpunkte, untersuchen, dürfen dabei jedoch Struktur und Sprache, die ja den Inhalt erst hervorbringen, und zwar in der spezifischen Weise des hier vorliegenden Autors, der, als er das Werk verfasste, 23 Jahre alt war, nicht unterschlagen.) 331 Charlotte-Wolff-Kolleg Fachbereich Deutsch Korrekturschlüssel 1. Sprachrichtigkeit R Z Z (Zitat) G - Rechtschreibungsfehler Zeichensetzungsfehler Interpunktion beim Zitat unkorrekt Grammatikfehler (Genus-, Kasus-, Modus-, Numerus-, Tempus-, Satzbaufehler oder fehlerhafte Konjunktion, Präposition, fehlerhaftes Pronomen, Lexemfehler oder fehlerhafter Bezug) 2. Sprachgestaltung A (b:) A (ugs) A (WW) A (Wdh) A (St) Zitat - Ausdrucksfehler (besser: ...) Ausdrucksfehler (umgangssprachlich) Wortwahl fehlerhaft Wiederholung Stilfehler Zitat unkorrekt - falscher Fachausdruck fragwürdiger Inhalt unkorrekter Inhalt (jeweils mit Kommentar) - siehe oben, z.B. bei Wiederholungsfehlern (R s.o.) muss getilgt werden muss eingefügt werden Umstellung der Wörter 3. Inhalt FA I (?) I (...) 4. weitere Zeichen s.o. [-] √ \ 5. Hinweise zur Zählung der Fehler (Fehlerquotient) bei eingeschobenen Nebensätzen und Appositionen werden die Kommafehler markiert, es wird jedoch nur ein Fehler gezählt Modusfehler bei der Textwiedergabe werden markiert, es wird jedoch nur ein Fehler pro Satz bzw. Absatz gezählt Fehler aufgrund von Tempuswechsel (z.B. bei der Textwiedergabe, Inhaltsangabe u.ä.) werden markiert, gezählt wird jedoch nur ein Fehler pro Tempuswechsel 332