in benjamin brittens war requiem

Transcription

in benjamin brittens war requiem
Z U M »C H O R A L « I N B E N J A M I N B R I T T E N S
WAR REQUIEM
STEFAN MORENT
Benjamin Brittens War Requiem steht in der Tradition der Vertonungen der
lateinischen Totenmesse, enthält aber – zumindest vordergründig – keine
direkten Choralzitate. Dennoch nimmt die Vorstellung von Choral bzw.
von Choralartigem – exemplarisch etwa im Vers Te decet des Introitus –
eine unüberhörbar wichtige Funktion in Brittens Komposition ein.
Zwar löst sich in der Geschichte der Requiem-Vertonung die im Vergleich zur sonstigen Messvertonung außergewöhnlich lange und enge Bindung an den liturgischen Cantus firmus der einzelnen Sätze endgültig im
19. Jahrhundert, und Brittens Komposition steht deutlich in der Tradition
der Monumentalwerke von Berlioz, Cherubini und Verdi.1 Der Entstehungsanlass und die Umstände der Uraufführung binden das im Frühjahr
1962 vollendete War Requiem aber doch wieder an einen zumindest paraliturgischen Kontext zurück: Die Wiedererrichtung der zerstörten Kathedrale
von Coventry weist das Werk konkret als ein Requiem für die Gefallenen
des Zweiten Weltkrieges, durch die eingefügten Gedichte von Wilfred
Owen darüber hinaus aber auch als ein Requiem für die Opfer aller Kriege
aus.2 Zusammen mit dem Festhalten an der lateinischen Sprache ist somit
der liturgisch-rituelle Aspekt und damit der Kontext für Choral durchaus
gegeben.
Die besondere Rolle und Bedeutung, die der Choral im War Requiem
einnimmt, muss vor dem Hintergrund von Brittens eigener lebenslanger
Auseinandersetzung mit Choral sowie im Kontext der bereits im 19. Jahrhundert greifbaren Tradition eines Phänomens, das sich mit dem Terminus
»Kunstchoral« benennen ließe, gesehen werden.
Bereits für Brittens Kindheit ist die Begegnung und Vertrautheit mit
Choral dokumentiert: Nach Ausweis von Briefen an seine Mutter hörte und
1
2
Andererseits entstehen im näheren zeitlichen Umfeld der 1960er Jahre eine
ganze Reihe von Requiem-Vertonungen, so z. B. von György Ligeti (1963-1965)
und Bernd Alois Zimmermann (1967-1969).
Britten widmete das Werk vier Freunden, die Opfer des Zweiten Weltkriegs geworden waren; vgl. Humphrey Carpenter: Benjamin Britten. A Biography, London: Faber and Faber 1992, S. 405-408.
193
VON SCHLACHTHYMNEN UND PROTESTSONGS
sang Benjamin Britten in der Schule, der englischen Chortradition entsprechend, Choral. Zur Grundausstattung der Schüler gehörten außerdem lateinische Choralbücher, die Britten später durch weitere Bücher ergänzte. Zu
dieser Sammlung, die sich heute in der Britten-Pears Library in Aldeburgh
befindet, gehörten u.a. ein Officium Vespertinum, Vesperae et Completorium de Dominica und ein Liber Usualis. Britten markierte in diesen Choralausgaben einzelne Gesänge, wie z. B. den Hymnus Te lucis ante terminum,
die er später in Kompositionen verwendete oder verwenden wollte.3
Überblickt man das Gesamtschaffen Brittens, so lässt sich die Verwendung von Choral in drei Kategorien zusammenfassen:
1) Choralzitat in liturgischem oder paraliturgischem Kontext (so z. B. in
der Missa brevis oder in A ceremony of carols)
2) Choralzitat in der Funktion einer couleur locale (z. B. in Peter Grimes
oder in Death in Venice)
3) »Kunstchoral« in liturgischem oder paraliturgischem Kontext wie im
War Requiem
Die bekannteste Komposition, in der sich die Kategorien 1 und 3 verbinden, vermutlich die bekannteste Komposition Brittens überhaupt, stellt sicherlich A ceremony of carols op. 28 von 1942 dar. Britten verwendet hier
bekanntlich für die einleitende Procession bzw. die abschließende Recession die Melodie der Magnificat-Antiphon Hodie Christus natus est der
zweiten Weihnachtsvesper wie sie im Liber Usualis erscheint4 und wie sie
ihm von dem englischen Choralforscher Alec Robertson mitgeteilt wurde.5
Am Schluss fügt Britten allerdings eine mit Alleluia bezeichnete Coda hinzu, die kein Vorbild im Choral hat. Britten hat dieses Alleluia, das sich aus
Motiven des Hodie speist, als selbst verfasste Abrundung der weihnachtlichen Feier hinzugefügt; dies zumindest bei der Eröffnung des Stücks auch
aus dem ganz praktischen Grund, den Sängern mehr Zeit für den Wechsel
ihrer Positionen zu gewähren.6
Ein früher Hinweis für diesen unkompliziert-pragmatischen Umgang
mit solch »künstlichem« Choral findet sich in einem Brief Brittens an sei3
4
5
6
Graham Elliott: »Britten and Plainsong«, in: Melos 19/20 (1997), S. 19-20.
Liber Usualis Missae et Officii, Rom/Tournai: Desclée 1923, S. 379.
Zur genauen Genese vgl. Donald Mitchell (Hg.), Letters from a Life: The Selected Letters and Diaries from Benjamin Britten 1913-1976, Bd. 2: 1939-1945,
London: Faber and Faber 1998, S. 1041 und S. 1110. Kleinere Abweichungen von
Brittens Fassung gegenüber der des Liber Usualis ergeben sich aus der verschiedenen Verteilung von Mehrtongruppen auf die jeweiligen Silben (so z. B. bei
ter-ra ca-nunt) oder durch die unterschiedliche Verwendung von b-molle und bdurum bzw. d’/d’’ und dis’/dis’’ in Brittens transponierter Fassung.
Dass es sich bei diesem Alleluia im Gegensatz zum Hodie um einen Zusatz von
»künstlichem« Choral handelt, wird auch daran deutlich, dass Britten zum 80.
Geburtstag von Alec Robertson 1972 einen dreistimmigen Kanon auf dieses Alleluia verfasste; Mitchell: Letters from a Life, Bd. 2, S. 1110.
194
STEFAN MORENT: ZUM »CHORAL« IN BENJAMIN BRITTENS WAR REQUIEM
nen Bruder Robert von 1936: Auf dessen Bitte, ihn mit Musik für ein historisches Schauspiel an seiner Schule zu versorgen, antwortet Britten mit einigen spontanen Überlegungen zum Charakter einer passenden Musik, die
in einem ebenso spontan skizzierten »künstlichen« Alleluia münden: » […]
medieval tunes, sung by simple folk, possibly highly religious – I should
think some plain-song chant sung by all al’unisono, best, such as: […] Do
you want that sort of thing? Sung absolutely without accompaniment«.7 Offensichtlich erscheint Britten für die Charakterisierung der Szenerie, die
sich aus einer Kombination von Mittelalterlichem und Religiösem zusammensetzt, spontan die Vorstellung von Choral als adäquat. Dass sich dieser
in einem Alleluia-Gesang manifestiert, mag sich wegen des jubelnden Akklamationsgestus der Gattung Alleluia, die Britten besonders passend für
das erwähnte »einfache Volk« erschien, erklären. Zusätzlich artikuliert sich
hier aber auch ein pars pro toto-Gedanke, wie er auch in dem extra hervorgehobenen Hinweis auf die Ausführung im Unisono, ein gängiges kompositorisch-klangliches Signal für Choralsphäre seit dem 18. Jahrhundert, zum
Ausdruck kommt.
Aber bereits in einer der ersten Kompositionen Brittens, den Choralvariationen für gemischten Chor und Knabenchor A boy was born op. 3, die
er als 19-jähriger 1932 verfasste, findet sich der Einsatz von Kunstchoral.
In der fünften Variation mit dem Titel In the bleak mid-winter tragen die
Frauenstimme das gleichnamige Gedicht von Christina Rosetti vor einem
klanglichen Hintergrund-Ostinato zu den Worten »snow on snow« vor. Die
Knaben singen ein Corpus Christi Carol in den Chorsatz hinein, der damit
selbst zum Hintergrund wird. Der Text des anonymen Carols stammt aus
dem 15. Jahrhundert, die choralähnliche Melodie von Britten. Hier lassen
sich gleich mehrere Punkte ausmachen, die für das spätere Schaffen Brittens, aber auch speziell in Hinsicht auf das War Requiem charakteristisch
sind:8 Die Mischung eines mittelalterlichen und eines neuzeitlichen Textes,
die sich gegenseitig beleuchten, findet ihren Niederschlag in zwei musikalischen Schichten, die von dem gemischtem Chor einerseits und dem Knabenchor andererseits repräsentiert werden. Hierbei verkörpern die Knabenstimmen, an die der Kunstchoral gebunden ist, eine Ferne und Distanz, die
gleichsam von Außen zur Ebene des gemischten Chores hinzutritt. Gleichzeitig symbolisieren sie mit dem ihnen anvertrauten Text das Kommen des
Erlösers in eine kalte, raue Welt als unschuldiges Kind, dem bereits sein
7
8
Hervorhebung original; zitiert nach Donald Mitchell (Hg.), Letters from a Life:
The Selected Letters and Diaries from Benjamin Britten 1913-1976, Bd. 1: 19231939, London: Faber and Faber 1998, S. 414-415; Abb. des Alleluia ebda.,
S. 414.
Vgl. die Beobachtungen bei Peter Evans: The Music of Benjamin Britten, London
u. a.: Dent 1979, S. 66-67.
195
VON SCHLACHTHYMNEN UND PROTESTSONGS
Opfertod eingeschrieben steht; Weihnachts- und Passions- bzw. Gralsmotiv
verschränken sich.
Das Moment des Unschuldigen, auch des unschuldig Leidenden in einer dem Tode verfallenen Welt, bildete für Britten eine Thematik, mit der
er sich zeitlebens auseinandersetze;9 und ihre Verbindung mit Knabenstimmen und Choral, wie sie sich hier greifen lässt, scheint – jenseits tendenziöser biographischer Bezüge10 – für Britten geradezu zu einer Chiffre
geworden zu sein, die sich durch sein ganzes Werk zieht.
In der geistlichen Kantate Saint Nicolas op. 42 aus dem Jahr 1948, der
die mittelalterlichen Nikolaus-Mirakel als Vorbild dienen, preisen die eingepökelten Knaben in Nicolas and the Pickled Boys nach ihrer wundertätigen Wiedererweckung zum Leben ihren Erretter und die durch ihn gewirkte
Tat Gottes mit einem Alleluia. Nachdem der begleitende Chor den kurzen
Alleluia-Ruf im Unisono bereits vorgegeben hat, tragen die drei Knaben
das Alleluia ebenfalls einstimmig wiederholt in mehrfachen Sequenzierungen vor. Geradezu topisch tritt in diesem Moment die Orgel mit Verdopplung der Melodie und einer einfachen Begleitfigur hinzu, während das übrige Orchester schweigt; dies gilt auch noch, wenn der Chor wiederum im
Unisono abschließend die Knaben verstärkt. Das Alleluia, für das sich keine unmittelbaren Vorbilder im Choral finden lassen, symbolisiert als
Kunstchoral zusammen mit den Knabenstimmen die Sphäre der Unschuld,
der die Knaben als unschuldige Opfer verbrecherischer Gier angehören.
Der Transzendenzbezug dieser Ebene wird durch die Orgelbegleitung verdeutlicht, die den Orchestersatz plötzlich durchbricht und in denkbar starkem Kontrast zu den bisher den Satz bestimmenden stampfenden Paukenbässen im 4/4-Takt nun einen schwingenden, schwerelosen 3/4-Takt induziert. Erst am Ende der Alleluia-Rufe muss dieser wieder dem erdenschweren Bewegungsmuster des Orchesters weichen. Das Alleluia der Knaben
erscheint somit wie eine lichte Verheißung, die für einen Moment den
Blick auf eine andere Wirklichkeit Preis gibt:
9
Jürgen Schaarwächter: »›as anti-war as possible‹: Versuch einer Annäherung an
Benjamin Brittens Pazifismus«, in: Musikforschung 59 (2006), S. 160.
10 Vgl. hierzu die Kritik an Carpenter: Benjamin Britten bei Donald Mitchell, Philip
Reed, Mervyn Cooke (Hgg.), Letters from a Life: The Selected Letters and Diaries from Benjamin Britten 1913-1976, Bd. 3: 1946-1951, London: Faber and Faber 2004, S. 5f.
196
STEFAN MORENT: ZUM »CHORAL« IN BENJAMIN BRITTENS WAR REQUIEM
Notenbeispiel 1: Benjamin Britten: »Saint Nicolas«, op. 42 (1948):
»Alleluia« aus »Nicolas and the Pickled Boys«.
"
197
VON SCHLACHTHYMNEN UND PROTESTSONGS
Denselben Parametern, die Britten hier einsetzt, begegnen wir in ganz anderem Kontext in der Oper Death in Venice (op. 88, 1971). Hier folgt
Aschenbach in der 9. Szene des zweiten Aktes Tadzio und dessen Familie
durch Venedig bis zur Markusbasilika. Während Tadzio und seine Angehörigen einem Gottesdienst in San Marco beiwohnen, bleibt Aschenbach am
Rande stehen. Aus dem Innern der Kirche klingen Litanei-Rufe an sein
Ohr, die von einem Chor im Unisono mit nur leichten rhythmischen Verschiebungen in den einzelnen Stimmen vorgetragen werden, während das
Orchester schweigt. Dass diese liturgische Sphäre diejenige von Tadzio
repräsentiert, während das Orchester für Aschenbach steht, wird durch die
die Bittrufe interpunktierenden Orchestereinwürfe bestätigt, die mit der erläuternden Beischrift »TADZIO is aware of ASCHENBACH’s presence«
versehen sind. Die unschuldige Natur des laut Regieanweisung zu Beginn
der Szene in der Kirche knienden Jünglings, Quelle von Aschenbachs Verlangen und zugleich seiner inneren Qualen, spiegelt Britten in der Sphäre
des Chorals und in den Bitten um Erbarmen. Zwar handelt es sich diesmal
bei den Rufen »Kyrie eleison«, »Christe eleison«, »Christe audi nos«,
»Christe exaudi nos« und »Sancte Marce, ora pro nobis« um echte Zitate
aus den Litanei-Anrufungen,11 und auch das abschließende »Ite missa est«
hat Britten nach einer der Formen aus dem Liber Usualis gestaltet.12 Die
erkennbare Funktionalisierung des liturgischen Gesangs im Dienste einer
Kontrastbildung zum Orchestersatz hebt ihn aber über ein bloße couleur locale hinaus.
Dies gilt auch für den Ein- und Auszug der Tiere in Brittens geistlicher
Oper Noye’s Fludde op. 59 von 1957. Das liturgischen Vorbildern nachempfundene »Kyrie eleison« und »Alleluia« der Tiere und der Kinder Noahs ist nur vordergründig als einfacher Prozessionsgesang im Kontext eines
geistlichen Spiels zu verstehen, auf den das nach den Chester Miracle
Plays gestaltete Werk ja explizit zurückgreift. Hinter der Ebene des Simplen, ja Naiven, die durch die Kinder und Amateur-Musiker als Ausführende
noch unterstrichen wird, liegt das tiefere Anliegen für Britten wiederum in
der Darstellung des Unschuldigen, hier repräsentiert durch die unschuldige
Kreatur, das seinen musikalischen Ausdruck in der Verwendung von Kinder- und Knabenstimmen gepaart mit dem Element des Kunstchorals findet:
11 Liber Usualis, S. 731-733.
12 Liber Usualis, S. 20.
198
STEFAN MORENT: ZUM »CHORAL« IN BENJAMIN BRITTENS WAR REQUIEM
Notenbeispiel 2: Benjamin Britten: »Noye’s Fludde«, op. 59 (1957):
»Kyrie« und »Alleluia«.
Vergleichbare Beobachtungen lassen sich in der Kirchenparabel Curlew
River op. 71 von 1964 machen, die auch deshalb von besonderem Interesse
ist, da Britten an ihr im Zeitraum zwischen 1956 und 1964, also zeitweise
parallel zur Entstehung des War Requiem, arbeitete.13 Die Vorlage für dieses geistliche Drama bildet ein japanisches Nō-Theaterstück aus dem 15.
Jahrhundert, ein unmittelbarer Reflex von Brittens Japanreise 1956. Zum
Ein- und Auszug singen der Abt und seine Mönche den Komplethymnus Te
lucis ante terminum, jenen Hymnus also, den sich Britten, wie bereits erwähnt, in seinen Choralausgaben zur späteren Verwendung markiert hatte,
und über dessen Funktion er in der Vorbemerkung des Librettos interessante Hinweise gibt:
»It was in Tokyo in January 1956 that I saw a Nō-drama for the first time […]
The whole occasion made a tremendous impression upon me: the simple, touching story, the economy of style, the intense slowness of the action […] The
memory of this play has seldom left my mind in the years since. Was there not
something – many things – to be learnt from it? […] Was it not possible to use
just such a story – the simple one of a demented mother seeking her lost child –
with an English background […]? Surely the Medieval Religious Drama in England
would have had a comparable setting – an all-male cast of ecclesiastics – a simple austere staging in a church – a very limited instrumental accompaniment – a
moral story? And so we came from Sumidagawa to Curlew River […]; and
whereas in Tokyo the music was the ancient Japanese music jealously preserved
by successive generations, here I have started the work with that wonderful
plainsong hymn ›Te lucis ante terminum‹, and from it the whole piece may be
said to have grown.«14
13 Als weiteres Werk, das während der Arbeit am War Requiem entstand und vor
allem in der Behandlung der Knabenstimmen Einflüsse auf Brittens Totenmesse
aufweist, wäre die Missa Brevis von 1959 für Knabenchor und Orgel zu nennen.
14 Zitiert nach Peter F. Alexander: »A study of the origins of Britten’s ›Curlew
River‹«, in: Music & Letters 69 (1988), S. 230-231.
199
VON SCHLACHTHYMNEN UND PROTESTSONGS
Die rituelle Strenge, die äußerste Reduktion der Darstellungsmittel und die
Thematik des traditionellen japanischen Theaterstücks dienen Britten als
Inspirationsquelle für die Darstellung des mittelalterlichen geistlichen
Dramas europäischer Prägung. Im Zuge der Adaption des japanischen Stoffes Sumidagawa für die Kirchenparabel Curlew River im Stil eines mittelalterlichen geistlichen Spiels setzt Britten an Stelle der Musik des NōOrchesters den Prozessionshymnus Te lucis ante terminum. Der Choral erscheint also als Chiffre für das Ursprüngliche, Archaische, auch für das
zeitlich weit Entfernte. Er verbindet sich mit der Sphäre der Unschuld,
wenn der Fährmann über den Tod des Jungen berichtet: Von Orgelklängen
begleitet erklingt ein »Kyrie eleison«, das aus dem Material des Te lucis
ante terminum abgeleitet ist, und damit die Rolle des Hymnus als einer musikalischen Keimzelle bestätigt, von der Britten in der Vorbemerkung
spricht. Wichtig ist, die doppelte Funktion der Orgel an dieser Stelle zu beachten: Sie imitiert zunächst mit ihren irisierenden Mixturklängen die japanische Mundorgel shō,15 hebt aber auch die besondere Situation aus dem
sonstigen Kontext heraus: Sie markiert den Bericht über den unschuldig zu
Tode gekommenen Jungen und damit seinen Übergang in eine andere Welt,
der nicht zufällig von einem Fährmann vorgetragen wird. Das bereits im
Jenseitigen weilende Kind, das nun einer Sphäre des Erlösten und Befreiten
angehört, wird durch die Verbindung der eigentümlich schwebenden Orgelbegleitung mit Choral symbolisiert. Dies findet seine Entsprechung in
einer späteren Szene, wenn der Geist des toten Jungen erscheint. Die musikalische Fassung der aus dem Jenseits herüberschallenden, erlösenden Botschaft des Kindes an seine Mutter (»Go off your way in peace mother«) erinnert in ihrer Kombination aus choralartig gestalteter Melodik,16 Orgelbegleitung und Knabenstimme unmittelbar an das War Requiem.
Dort sind fast ausschließlich die Knabenstimmen Träger von Choral
bzw. Choralartigem; nur einige Stellen im Chor weisen Anklänge an die
jeweiligen liturgischen Vorbilder auf, so z. B. der Beginn des Dies irae17
oder die kleine Sext im Solo-Sopran des Lacrimosa. Die Choralsphäre erscheint zum ersten Mal beim Vers des Introitus, dem in der Geschichte der
Requiem-Vertonung traditionellen Punkt für Choralzitat.18 Hier treffen
auch zum ersten Mal innerhalb des War Requiem die beiden Klangensembles von Orchester/Chor und Orgel/Knabenstimmen aufeinander. Ihre
Verbindung gestaltet Britten programmatisch mit einer Überblendtechnik,
15 Carpenter: Benjamin Britten, S. 435.
16 »Sounds like part of the Mass« vermerkt Carpenter: Benjamin Britten, S. 438 zu
dieser Stelle.
17 Bereits in der dem Andenken seiner Eltern gewidmeten Sinfonia da Requiem zitiert Britten nach eigenen Aussagen das Dies irae der Totenmesse; Mitchell:
Letters from a Life: Bd. 2, S. 704.
18 Als Beispiel sei nur Mozarts Requiem genannt.
200
STEFAN MORENT: ZUM »CHORAL« IN BENJAMIN BRITTENS WAR REQUIEM
die die kontrastierenden Klangwelten nicht nebeneinander stellt, sondern
sich gegenseitig durchdringen lässt. Das Unisono-C des Orchesters bildet
zugleich den ersten Ton des Te decet und den Grundton des F-Quartsextakkordes in der Orgelbegleitung, der bereits einen Schlag vor Beginn
des Verses einsetzt und so die neue Ebene noch im auslaufenden Orchesterklang einführt. Die Orchesterschicht selbst bleibt während des ganzen
Verses einem Mahnmal gleich mit den in den Violinen wechselseitig sich
zum Tritonus-Intervall ergänzenden Tönen C und Fis erhalten.
Das Te decet zitiert nicht den Choralvers, evoziert aber mit seiner Intervallik und Harmonik die Vorstellung von Choral. Die reinen Quarten,
aus denen sich die Melodie fast vollständig bildet, – fünf Quarten allein in
der ersten Vershälfte – zeigen seit dem 19. Jahrhundert die Sphäre des Chorals an und stehen allgemein für die Vorstellung von Mittelalterlichem und
Archaischem.19 Als Beispiel hierfür sei die Gestaltung des Verses in Gabriel Faurés Requiem op. 48 angeführt:
Notenbeispiel 3: Gabriel Fauré: »Requiem«, op. 48 (1893): Vers »Te decet
hymnus« (Beginn).
Auch hier spielt die Quartstruktur f’-b’-es’’ als tektonisches Grundgerüst eine unüberhörbare Rolle und gemahnt an die Quarte F-b bei der gregorianischen Introitus-Psalmodie der Totenmesse:
Notenbeispiel 4: Vers »Te decet hymnus« zum Introitus »Requiem
aeternam« (Beginn).
Als Kennzeichen für Choral sind bei Brittens Gestaltung des Verses auch
die zahlreichen Taktwechsel in den vier Takten der ersten Vershälfte (vom
6/4- zum 3/4-, zum 4/4- und zurück zum 6/4-Takt) zu werten, die eine flexible Textdeklamation erlauben, und damit den Vortrag von Psalmvers
suggerieren. Die rhythmischen Freiheiten, die sich hieraus ergeben, dienen
19 Vgl. Stefan Morent: Das Mittelalter im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Kompositionsgeschichte in Frankreich, Habilitationsschrift Tübingen 2004 [Druck in
Vorbreitung], S. 207-210.
201
VON SCHLACHTHYMNEN UND PROTESTSONGS
auch der Hervorhebung einzelner Akzentsilben: Während de-cet durch das
Quartintervall markiert wird, erfahren red-de-tur (und später ex-au-di) jeweils durch eine Halbe eine Auszeichnung. Das Changieren auf der rhythmisch-metrischen Ebene findet seine Ergänzung in der Harmonik, die in
den blockhaften Orgelakkorden ebenfalls einen eigentümlichen Schwebezustand generiert. Von dem bereits erwähnten F-Quartsextakkord mit seiner öffnenden Wirkung aus gleiten die Akkorde zwölftönig über Fis-Dur
zum abschließenden C-Dur. Sie verhindern dadurch jede tonale Verankerung und vermeiden eine Gerichtetheit, ein harmonisches Streben, was
durch die Quartenmelodik noch verstärkt wird. Nur die Nahtstelle, an der
die zweite Hälfte des Knabenchores die Melodie der ersten Vershälfte in
Intervallumkehrung wiederholt, ist durch die dominantische Wirkung von
Fis-Dur nach h-moll verklammert:20
Notenbeispiel 5: Benjamin Britten: »Requiem« op. 66 (1962): Vers »Te
decet hymnus«.
"
"
20 Vgl. Arnold Whittall: The Music of Britten and Tippett. Studies in themes and
techniques, Cambridge u. a.: Cambridge University Press 19902, S. 181.
202
STEFAN MORENT: ZUM »CHORAL« IN BENJAMIN BRITTENS WAR REQUIEM
Im Zusammenwirken von Rhythmik und Harmonik erscheint der Versvortrag damit merkwürdig heimatlos, bildet durch die fehlende Fixierung eine
schillernde Erscheinung ab, die für einen Moment jeder Erdenschwere entrückt scheint. Im Verlauf des Verses nähert sich seine Melodik jedoch immer stärker der wie unheilvoll im Hintergrund lauernden, durch den Tritonus repräsentierten Chor-Orchester-Sphäre an. Dies geschieht durch schrittweise Reduktion der Melodie zunächst zur Ganztonleiter als Ausfüllung
des Tritonus und schließlich, gemeinsam mit den Violinen, durch wechselseitigen Vortrag der Ecktöne C und Fis durch die beiden Chorhälften der
Knabenstimmen. In diesem Vorgang vollzieht sich eine Verdichtung der
Versmelodik auf ihren Kern, denn bereits die Melodie der ersten Vershälfte
ist zwischen die beiden Pole C und Fis eingespannt, und die Wiederholungen mit umgekehrten Intervallen spiegeln sich an der Achse Fis.
Wenn sich auf die letzten Verssilben die beiden Chorhälften der Knaben zum gemeinsamen Tritonus-Intervall vereinen, die Orgel auf diesem
Klang verweilt und gleichzeitig die Glocken im Orchester und der Chor mit
seinem Requiem aeternam vom Beginn des Introitus mit eben diesem Intervall wieder erklingen, dann verschwindet die Ebene des Unschuldigen
hinter der des Unheilvollen, die ihr aber von Anfang an eingeschrieben
war. Es scheint, als ob die kurzzeitige Erscheinung des Friedens, zu der
sich der Himmel geöffnet hat, gleich einer Vision wieder verblasst.21 Dass
die musikalische Ausgestaltung dieser Spannung zwischen dem Unschuldigen und dem Leiden in der Welt gleich zu Beginn des War Requiem erscheint, verleiht ihr die Qualität eines Prologs, denn sie durchzieht, wie das
symbolhafte Tritonus-Signal, das gesamte Requiem, ja Brittens ganzes
Schaffen.22
Dass es sich bei der postulierten Verknüpfung des Unschuldigen mit
Choral und Knabenstimmen durchaus um keine Überinterpretation handelt,
wird durch das erste interpolierte Gedicht von Wilfred Owen bestätigt. Was
auf der Ebene des lateinischen, liturgischen Textes, der mit seinem rituellen
Charakter das Überindividuelle repräsentiert und in der Andeutung verbleibt, nur musikalisch in Besetzung, Melodik und Harmonik seinen Ausdruck findet, wird auf der Ebene des individuellen Erlebens der OwenGedichte konkretisiert. Auf die Frage »What candles may be held to speed
them all?« reagiert die Oboe zunächst vorausgreifend mit der Melodie des
Te decet, wobei die Harfe die Rolle der Orgelbegleitung übernimmt, und
der Solo-Tenor antwortet mit den Worten »Not in the hands of boys« zu ei21 Alec Robertson: Requiem. Music of Mourning and Consolation, London: Cassell
1967, S. 269, berichtet, wie er seine ursprüngliche Formulierung »celestial
sound« zur Charakterisierung der Knabenstimmen auf Bitten Brittens in »an innocent sound from afar« abänderte; vgl. Alec Robertson: »Britten’s War Requiem«, in: The Musical Times 103 (1962), S. 309.
22 Vgl. hierzu Schaarwächter: »as anti-war as possible«, S. 149-160.
203
VON SCHLACHTHYMNEN UND PROTESTSONGS
ner Melodie, die ganz aus Quarten gebaut ist, und damit direkten Bezug auf
den Introitus-Vers nimmt:
Notenbeispiel 6: Benjamin Britten: »Requiem« op. 66 (1962): »Not in the
hands of boys« (Text von Wilfred Owen).
Beim Offertorium, das von den Knabenstimmen eröffnet wird, versieht
Britten diese mit dem Zusatz »distant«.23 Dies meint nicht nur eine räumliche Trennung von den beiden anderen Ensembles, die Chor und Orchester
sowie die beiden männlichen Solisten mit Kammerorchester bilden, sondern auch eine Trennung im Sinne des Entrückten, nicht Greifbaren, erst
Verheißenen.24 Wie im Introitusvers ist den Knaben die Orgel zugeordnet
und wie dort schafft sie durch einen ständig wiederholten, arpeggierten CisDis-Mixturklang eine unscharfe, irisierende Atmosphäre. Britten gibt als
Alternative sogar ein Harmonium vor, und erklärt im Vorwort des War Requiem, Harmonium oder eine kleine Orgel seien zur Begleitung der Knaben
besonders geeignet, weil der Klang wie aus der Ferne wirken soll.
Der Beginn des Rahmenteils des Offertoriums, den die Knaben vortragen, besteht aus zwei Teilen: Der erste zu den Worten »Domine Jesu
Christe, Domine Rex gloriae« fasst diese Anrufungen in kurze Einwürfe,
die mit den Nebennoten cis’’ und e’’ um die Achse dis’’ pendeln; die
Wortakzente sind durch Akzentzeichen über den Noten hervorgehoben, nur
auf Chri-ste wird die betonte Silbe mit Erreichen der kleinen Terz fis’’ zusätzlich unterstrichen. Dies findet eine Entsprechung im gregorianischen
Offertorium, das zu Beginn die Finalis d umspielt und bei »Christe« erstmals die kleine Terz erreicht.25 Der zweite Teil von »libera animas« an
bringt, vorgetragen von der zweiten Hälfte des Knabenchores, ein rezitie23 Bereits in einem Brief vom 12. Mai 1961 an John Lowe betont Britten, wie wichtig ihm die räumliche Entfernung der Knabenstimmen und ihre Verknüpfung mit
der Orgel sei: »The boys, however, I would like to have placed at a distance;
they perform throughout only with the organ […]«; zitiert nach Philip Reed:
»The War Requiem in progress«, in: Mervyn Cooke: Britten: War Requiem, Cambridge u. a.: Cambridge University Press 1996, S. 24.
24 Zu den verschiedenen Ensembles und ihren Aufgaben im War Requiem vgl. Edward Joseph Lundergan: Benjamin Britten’s War Requiem: Stylistic and Technical Sources, Diss. Univ. of Texas Austin 1991, Ann Arbor/MI: UMI 1991, S. 118.
25 Liber Usualis, S. 1186.
204
STEFAN MORENT: ZUM »CHORAL« IN BENJAMIN BRITTENS WAR REQUIEM
rendes Psalmodieren, diesmal um das bereits in der Orgelbegleitung eingeführte zweite Zentrum cis’, das an das rezitierende Verweilen auf der Finalis dieses Abschnittes im Choral zumindest erinnert. Dass es sich hier für
Britten nur um Anregungen aus dem Chor handelt, es ihm nicht um eine direkte Übernahme in Form von Zitaten, sondern um eine eigenständige
Schicht mit besonderer Nähe zum Choral zu tun ist, wird ersichtlich, wenn
er das »libera eas de ore leonis« wohl wegen seiner sprachlichen Parallele
zum Vorangegangenen entgegen der Choralmelodie auch musikalisch identisch fasst:
Notenbeispiel 7: Benjamin Britten: »Requiem« op. 66 (1962): Beginn des
Offertoriums.
"
"
205
VON SCHLACHTHYMNEN UND PROTESTSONGS
Für die Melodie des Offertorium-Verses ergibt sich keine Ableitung aus der
Choralvorlage,26 wiewohl die Wendung zu »Hostias et preces tibi Domine«
eindeutig aus dem bekannten Formelvorrat des gregorianischen Chorals
schöpft.27 Wiederum ist Britten sehr bemüht, die Schicht der Knabenstimmen mit dem liturgischen Text als eigenständige Instanz zu kennzeichnen,
dies umso mehr, als sie hier zu den männlichen Solisten mit Kammerorchester gleichzeitig erklingt. Britten vermerkt zu diesem Zweck erneut
»distant« und »slower than main tempo« für den Knabenchor, während er
für Orchester und Solisten »always a tempo« und den zusätzlichen Hinweis
»no exact connection with boy’s tempo« vorgibt. Außerdem macht die Notierung des Knabenchors bereits ab der Orgeleinleitung deutlich, dass die
Takte dieses Ensembles gegenüber Orchester und Solisten leicht verschoben sind. Harmonisch steht dem E-Dur des Orchesters die Sexte es’-c’’ der
Orgel gegenüber, die wiederum durch den aus der einleitenden Cis-DisSpannung abgeleiteten stereotypen Wechsel zwischen cis’ und d’’ in der
linken Hand eine beständige Verunsicherung erfährt. Im Zusammenwirken
all dieser Mittel entsteht so der Eindruck einer eigentümlich flirrenden Erscheinung, die die Knabenstimmen unwirklich über Orchester und Solisten
schweben lässt. Sie ist auch Ausdruck der Spannung zwischen dem gleichzeitigen Vortrag des liturgischen Textes, der von den dem Herrn dargebrachten Opfergaben für die Verstorbenen spricht, und dem von Tenor und
Bariton vorgetragenen Abschnitt »So Abram rose« von Owen, der im Sinne
einer kommentierenden und kontrastierenden Tropierung die Ausrottung
der halben Jugend Europas prophezeit.
Diese Spannung weicht einer versöhnenden Geste im letzten Satz des
War Requiem, in dem erstmals alle beteiligten Ensembles vereint werden.
Hier treten zunächst wieder die Knabenstimmen mit Orgelbegleitung zum
Kammerorchester und den männlichen Solisten hinzu. Die Melodie erinnert
einerseits an das Thema der Chorfuge »Quam olim Abrahae«, verrät in ihrem schrittweisen Anstieg aber vor allem einen Anklang an den Beginn des
gregorianischen In paradisum im 7. Ton, ist also wiederum als Kunstchoral
zu bezeichnen.28 Durch den als Orgelpunkt ausgehaltenen Klang d-e-h-d’
ergibt sich im weiteren Verlauf der Melodie eine ins Lydische schillernde
Färbung und der Knabenchor ist durch den zusammengesetzten 2/2-3/226 Liber Usualis, S. 1187.
27 Die Lösung von der liturgischen Vorlage zeigt sich auch darin, dass Britten bei
der Wiederholung der Repetenda nicht auf die Melodie des bereits erklungenen
»Quam olim Abrahae« zurückgreift, sondern eine Sequenzierung des vorangegangenen »fac eas, Domine, de morte transire ad vitam« bringt.
28 Nach Reed: »The War Requiem in progress«, S. 33 und 36, hat Britten bereits in
sein Skizzenheft (GB-ALb: 1-9300837) »below the words of the ›In paradisum‹
[…] the plainsong which is incorporated into the War Requiem’s final pages«
eingetragen. Es wird aus dieser Formulierung nicht klar, ob Reed mit »plainsong« die gregorianische Melodie oder Brittens Version meint.
206
STEFAN MORENT: ZUM »CHORAL« IN BENJAMIN BRITTENS WAR REQUIEM
Takt gegenüber Orchester und Solisten zunächst ebenfalls wieder wie beim
Vers des Offertoriums verschoben:
Notenbeispiel 8: Benjamin Britten: »Requiem« op. 66 (1962): Beginn von
»In paradisum«.
Bei »Chorus Angelorum« klinkt sich der Knabenchor dann allerdings in
den Takt der vereinten Ensembles ein. An dieser Stelle, an der erstmals alle
Ausführenden zusammenfinden, weicht die Melodie in den Knabenstimmen einem auf den Oktaven e’/e’’ vorgetragenen monotonen Rezitieren;
nur die Wortakzente werden durch Längungen und das letzte Wort »requiem« durch eine einzelne Auslenkung nach fis’/fis’’ hervorgehoben:
Notenbeispiel 9: Benjamin Britten: »Requiem« op. 66 (1962): »Chorus
angelorum« aus »In paradisum«.
"
207
VON SCHLACHTHYMNEN UND PROTESTSONGS
Da Chor und Orchester hier zum ersten Mal die Melodik der Knabenstimmen übernehmen und nun den Beginn des In paradisum in breiter Auffächerung intonieren, scheint die von den Knaben repräsentierte Sphäre in einem größeren Ganzen aufzugehen und kann sich auf eine schlichte Rezitation zurückziehen. Diese flexible Handhabung im Dienste der Textausdeutung, die nur der Kunstchoral gestattet, erklärt, warum Britten – entgegen
der Erwartung – gerade im War Requiem auf direkte Choralzitate verzichtet. Der sich an dieser Stelle artikulierende harmonia-Gedanke wird durch
das ostinat wiederholte »let us sleep now« von Tenor und Bariton noch unterstrichen.
Wie trügerisch Britten allerdings dieser vermeintlich Frieden erscheint,
wird ganz zum Schluss des War Requiem deutlich: Gleich einem großen
Fragezeichen sind es diesmal gerade die Knabenstimmen zusammen mit
Orgel und Glocken, die den Beginn des Werkes zu den Worten »Requiem
aeternam« und den damit verbundenen beunruhigenden Tritonus zurückbringen.
208