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Konstantin Totibadze (l.)
mit Trainer Alex. Er ist Maler,
sein Atelier liegt um die Ecke
des Klubs, im Zentrum
Moskaus. In New York werden
seine Bilder zu dem Preis
eines „VW Golfs“ verkauft.
KLASSENKÄMPFER
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JAN VOLLMER
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Fotos
GULLIVER THEIS
Im Moskauer Boxklub O K T O B E R schlagen sich örtliche Mittelschichtler. Einfach
haben es die Hobbyboxer nicht, denn sie müssen sich auch entscheiden, ob sie für
oder gegen das System Putin kämpfen wollen – und ob sie überhaupt kämpfen wollen.
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ladimir Kuwschinow tänzelt durch den
Ring, die Ellenbogen dicht am Körper,
die roten Boxhandschuhe decken sein
Gesicht auf Höhe der Wangenknochen.
Sein T-Shirt ist nass, unter seinem Kopfschutz gucken Haarsträhnen hervor und
ein Vollbart. Schweiß spritzt.
Sein Gegner, Sascha, ist anderthalb
Köpfe größer als er und 25 Kilo schwerer. Wenn er angreift, wird aus dem
Tänzeln der beiden ein Jagen, wie zwei
junge Hunde, einer hinter dem anderen
her, und mitten hinein in Saschas Angriff
landet Wladimir einen Schwinger, und
Sascha reißt die Deckung hoch, und damit wechseln die Rollen, und Wladimir
prügelt auf Saschas Deckung ein: und
links und rechts und links und rechts
und rechts und rechts und links und
drängt ihn in die Ecke.
Es ist ein Freitag um die Mittagszeit,
Wladimir ist IT-Manager, Sascha Investmentberater, sie arbeiten in der Nähe
des Gyms , im Zentrum Moskaus, sie
können in der Pause eine Stunde oder
länger boxen gehen, etwas essen und
dann wieder in ihre Firmen zurück, denn
sie werden nicht nach Zeit bezahlt, sondern nach Leistung.
Nachmittags sind Wladimir und Sascha noch fast allein beim Boxen, aber
gegen acht am Abend füllen sich die drei
Hallen, wenn die Banker, Berater und
Ingenieure der Moskauer Mittelschicht
das Licht in ihren Büros ausschalten und
sich ihre Sporttaschen über die Schultern werfen.
Sie fahren zwei, drei Stationen mit
der Moskowskoje metro und steigen an
der Kropotkinskaya aus, gehen an der
Christi-Erlöser-Kathedrale vorbei, die
jetzt besser als „Pussy Riot“-Kirche bekannt ist, marschieren über die Brücke
dahinter und übers Gelände der ehemaligen Schokoladenfabrik.
In den Backsteinhallen schreiben junge IT-Gründer jetzt Rechnerprogramme, Herrenausstatter verkaufen schmal
geschnittene Anzüge, und nicht wenige
der Mitglieder des Boxklubs „Oktober“
arbeiten hier auch irgendwo, in Moskaus
Brooklyn.
Auf ihrem Weg ins Gym laufen sie in
einen Hinterhof der Bersenewskij-Gasse,
halten sich rechts, passieren ein Café und
einen Haufen ausrangierter Sofas, treten
durch eine offene Stahltür unter Well-
blech, steigen eine schmale Treppe hinauf – nackter Beton, Farbkleckse, Neonröhren – bis in den dritten Stock, gehen
durch eine weitere Stahltür in den Klub.
Von draußen ist nichts zu hören, aber
drinnen mischen sich das Klacken der
Springseile auf dem Parkett, das Knallen
der Boxhandschuhe in den Schlagpolstern der Trainer und die ungezählten
kleinen, quietschenden Schritte der tänzelnden Boxer zum Rhythmus der jungen Aufsteiger Moskaus.
Lauter, pumpender Rap, Tupac Shakur, Neues von Tyler, The Creator, man
hört, auf welche Klientel der Klub zuge-
schnitten ist: die schmale städtische und
westeuropäisch gesinnte Mittelschicht.
Zwischen 1.300 und 2.000 Euro kostet die Mitgliedschaft im Jahr. Plakate
denkwürdiger Kämpfe, ausgetragen irgendwann und -wo auf der Welt, hängen an den Backsteinwänden: De La
Hoya vs. Mayweather, Tyson vs. Botha,
Lewis vs. Grant.
Im Foyer stehen ein paar Sessel im
Mies-van-der-Rohe-Stil, überall liegen
Boxhandschuhe herum, und an der Decke hängen Fabrikleuchten, Neonröhren
und die großen, nackten Stahlblechrohre
der Entlüftungsanlage. So echt und wahr
und doch nachgeahmt ist alles, dass der
Boxklub wie ein Filmset wirkt.
Boxen ist ein narzisstischer Sport.
So viele Spiegel wie in einem Boxstudio
hängen sonst nur in Ballettschulen. Es
geht nie um den Gegner, sondern um das
Ich und um den Kampf mit sich selbst.
Männer üben konzentriert vor den
Spiegeln. Bei jeder linken Geraden ein
Schritt mit dem linken Bein nach vorn.
Jetzt bloß nicht das Gewicht verlagern,
nur die Fußspitze aufsetzen und zurück,
nie eindeutig, nie abschließend, immer
schnell, immer tänzelnd.
So eigensüchtig und voller Eigenliebe
das Boxen ist, so sehr erdet es die Boxer
selbst. Die jungen Mittelschichtler, im
Beruf erfolgsverwöhnt, kassieren Schläge ins Gesicht und auf die Rippen und
teilen aus und haben keine Zeit, darüber
nachzudenken, ob sie vielleicht besser
sind als ihr Sparringspartner, und dann
wechseln die Gegner, und sie müssen
einstecken und warten darauf, dass die
Runde endlich vorbeigeht.
Die jungen Trainer rufen, und die Boxer legen sich auf den Boden: Liegestütze,
bis bei 17 von 20 ihre Arme nachgeben,
und Rumpfbeugen, bei denen sie in das
Neonlicht starren und sich im Klacken
der Springseile der anderen verlieren.
Im „Oktober“ trainiert man ehrgeiziger als in anderen Klubs, nicht, weil man
besser ist, sondern, weil Ehrgeiz der
gemeinsame Antrieb dieser russischen
Mittelschicht ist. Es gibt viele Sparrings
– als gelte es, die Mitglieder auf einen
Kampf vorzubereiten, und ohne Mund-
schutz braucht man nicht einmal zum
Techniktraining aufzutauchen, denn
auch da wird wieder gekämpft.
Im „Oktober“ kämpft die Generation,
die vor zehn Jahren von den Universitäten kam – eine Generation, die sich ihren Erfolg erarbeiten konnte und nicht
auf Glück und Gerissenheit angewiesen
war wie die Leute, die in den 90er-Jahren
groß wurden.
Seit sie mit der Uni fertig sind, wuchs
die russische Wirtschaft, und mit ihr
wuchs die Selbstgewissheit dieser Generation, ihr Stolz auf den eigenen Aufstieg
und darauf, dass Moskau zu einer Stadt
in Europa wurde und man sich einen Skiurlaub in Österreich leisten konnte oder
ein paar verliebte Tage in Paris.
2014 aber endete der Aufstieg jäh: Der
Ölpreis verfiel und mit ihm der Rubel,
und junge Paare stornierten ihre Urlaube,
denn Paris war jetzt zu teuer. Die Furcht
ist groß in der neuesten russischen Klasse, der jungen Mittelschicht, dass die gute
Zeit nur von kurzer Dauer und schon bald
wieder vorbei und zu Ende ist.
Wladimir boxt in der hintersten Halle des „Oktober“, ein Tropfen Blut läuft
ihm langsam aus der Nase. Er bemerkt es
erst nach dem Sparring. Gut gelaunt, den
Kopf in den Nacken geworfen, gibt er Sa-
In der Mittagspause geht IT-Manager
Wladimir Kuwschinow (29) in den
Moskauer Boxklub „Oktober“, zieht
seine Handschuhe zu und misst sich
bis zur Erschöpfung mit Gegner Sascha.
Im „Oktober“ trainieren die
Mittelschichtler, ehrgeizige junge
Städter, die daran glauben,
dass man sich alles erkämpfen kann.
scha die Hand und läuft an den Spiegeln
vorbei in Richtung Umkleide.
In den Duschkabinen aus mattem
Glas und breiten, schwarzen Natursteinfliesen spült warmes Wasser das Blut auf
den Boden. Erst mit dem Duschen ist der
eigentliche Kampf beendet und mit dem
Abtrocknen der Übergang in die andere
Welt vollzogen, und danach bleiben nur
Erschöpfung und ein paar Cuts und blaue
Flecken, die sich unter einem frischen
Hemd voller Genugtuung tragen lassen
wie Knutschflecken unterm Kragen.
Nach dem Sparring geht Wladimir in
die Strelka-Bar um die Ecke. Seine Fingerknöchel sind aufgeschürft. Wladimir
leitet ein 16-köpfiges Team bei einer
Suchmaschine für Flugreisen. Er hat sein
Rennrad draußen angeschlossen. Ein
Fahrrad ist für einen Manager in Moskau
ungefähr so ungewöhnlich wie ein „Ford
Mustang“ für einen Kreativen in Berlin.
Wladimir ist 29, und seit er 16 ist,
arbeitet er mehr oder weniger Vollzeit,
das Studium nebenher strengte nicht
besonders an. Bevor er zu der Flugsuchmaschine kam, arbeitete er für HewlettPackard und hatte eine Firmenkreditkarte und ein Gehalt, mit dem er sich schon
mit Mitte 20 einen „Porsche Cayenne“
hätte chartern können.
„Ich bin ein Mann der Vernunft“, sagt
er, deswegen Fahrrad, und wenn man
Vernunft an der Zahl der Fahrräder im
Straßenverkehr messen würde, stünde
es schlecht um Moskau.
Wladimir ist ein Vertreter dieser europäisch geprägten Mittelschicht, die
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sich jetzt etwas einfallen lassen muss,
denn die Jahre des Wachstums und der
Annäherung an Europa sind vorbei.
Seine Eltern gehörten in der Sowjetunion dem Mittelbau der Gesellschaft
an: Akademiker, Moskauer, deren Biografie wie die Biografien aller Russen
1991 einen Knick bekam.
Für Wladimirs Mutter war das eine
unerwartet günstige Wendung, denn sie
hatte in englischer Literatur promoviert
und durfte schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in die USA reisen
und konnte Anfang der 90er als Übersetzerin bei der Wirtschaftsprüfungsfirma
KPMG anfangen, als man den Chefs privatisierter Staatskonzerne erklärte, was
das überhaupt ist: ein Unternehmen.
„Meine Mutter verdiente Dollar“,
sagt Wladimir, und die Dollars konnte
man gegen eine Menge Rubel tauschen
und damit einen Sony-Farbfernseher
kaufen. Keiner seiner Freunde hatte einen Farbfernseher. „Zwischendurch gab
es eine Zeit, in der meine Mutter kreativ
werden musste“, und irgendwann kam
zu dem Farbfernseher noch einer der
ersten Heimcomputer dazu.
Wladimir konnte Tennis spielen und
wurde sogar richtig gut und spielte auf
den Turnieren der Stadt und denen des
neuen Russlands und wäre vielleicht sogar ein Berufsspieler geworden, wenn
seine Eltern das Geld gehabt hätten, ihn
zu internationalen Turnieren zu fliegen.
Wie viele ehemalige Leistungssportler nahm er den Ehrgeiz, ohne den Wettkampfsport nicht funktioniert, und den
Willen, an sich zu arbeiten, mit auf die
Universität und, weil es dort kaum etwas
zu lernen gab, auch mit in seinen Beruf.
Die 2000er waren eine gute Zeit für
ehrgeizige junge Männer wie Wladimir.
So gut, dass sie sich stark genug fühlten,
auf die Straße zu gehen, als Putin nach
seiner Kunstpause als Premierminister
wieder Präsident werden wollte.
Mit Zehntausenden Menschen stand
Wladimir auf dem Bolotnaja-Platz und
forderte ein neues Russland und gerechte Wahlen: „Ich bin vielleicht selbst
kein Aktivist, aber auch nur einen oder
zwei Handschläge von den Aktivisten
entfernt.“
Putin ließ die Protestler protestieren,
zur Freude westlicher Medien, doch er
vergaß sie nicht und zog langsam, aber
unnachgiebig die Schlinge zu, die er seinen Gegnern um den Hals gelegt hatte.
Ein paar politische Verhaftungen und
Morde später war klar, dass es keinen
Russischen Frühling geben würde: „Gut
haben sie das gemacht“, sagt Wladimir,
„jetzt sind wir die 5. Kolonne.“
Das ist der Name, mit dem der Kreml
die Reformer als „Feinde Russlands“
ächtet, mit dem das Fernsehen die alleinerziehenden Mütter und Fabrikarbeiter zwischen Magadan und Woro-
Pawel (oben) gehört zu den
erfahreneren Boxern im „Oktober“:
Der 32-jährige Berater ist fast
1,90 groß und hält seine Gegner auf
Distanz, immer eine Hand als
Deckung vor dem Gesicht. Konstantin
Totibadze (rechte Seite) hängt
nach dem Training in den Seilen, ist
aber noch lange nicht k.o.
nesch gegen die Kritiker hetzt, sodass
der Druck von beiden Seiten kommt,
von oben aus dem Kreml und durch das
Fernsehen von unten.
„Damals bin ich auf die Straße gegangen, jetzt nicht mehr“, sagt Wladimir.
Schließlich sei er ein Mann der Vernunft,
und aus seinem Mund klingt das kein
bisschen albern, denn mit 29 ist man in
Russland schon etwas älter als mit 29 in
Deutschland, und deswegen ist Wladimirs Kind auch schon eineinhalb Jahre
alt, und die junge Familie hat Besseres
zu tun, als sich von 86 Prozent Russland
als 5. Kolonne beschimpfen zu lassen. 86
Prozent, so heißt es, stünden hinter Putin.
Die IT-Branche ist neben der Öl-,
Gas- und Waffenindustrie der einzige
Wirtschaftszweig in Russland, der international konkurrieren kann. Für Programme braucht man nur Rechner und
Internet und ist sonst kaum auf staatlichen Unterbau angewiesen.
Die Heizungen werden in Moskau im
Herbst alle zentral angestellt und im Frühling alle zentral abgestellt, und in der Zwischenzeit lässt man das Fenster auf, wenn
einem zu warm wird. Aber schon seit zwei
Jahren bestellen die Moskauer ihre Taxis
per Telefonanwendung und verfolgen deren Anfahrt auf „Google-Maps“.
„Auch in der IT wollen sie jetzt
durchgreifen und regulieren, auch dort
wird es enger für uns“, sagt Wladimir.
„Aber alle Guten arbeiten bei uns und
nur die Mittelmäßigen für die.“
Im spektakulärsten Fall dieses „Wir
gegen die“ verkaufte Pawel Durow,
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der Gründer von V-Kontakte (dem
russischen Facebook-Pendant) seine
Firmenanteile und verließ Russland,
nachdem er von der Polizei vorgeladen
worden war: Durow hatte sich geweigert, Nutzerdaten an den Inlandsgeheimdienst FSB weiterzugeben und
kritische Gruppen auf V-Kontakte zu
schließen.
Aber wie lange kann eine Branche
durchhalten, wenn die Bürokratie eines
Staates gegen sie arbeitet? Was wäre aus
Facebook geworden, hätte Mark Zuckerberg es 2010 an einen Freund von Barack Obama verkaufen müssen?
„Es gibt zwei Möglichkeiten für die russische Wirtschaft“, sagt Wladimir: „Entweder Putin bleibt, und es geht nicht weiter,
oder er geht, und sie stürzt erst mal ab.“
Die Hoffnung auf Reformen hat er
aufgegeben. In spätestens zwei Jahren
will die Familie auswandern, vielleicht
nach Frankreich. In Russland hält sie
wenig. Es scheint auch niemanden zu
stören, dass die tüchtigsten Leute des
Landes lieber woanders hingehen.
„Irgendwo habe ich gelesen, dass man
nur eine Million Menschen brauchen
würde, um Russland als reinen Öl-Staat
zu betreiben“, erzählt Wladimir.
awel boxt erfahrener als Wladimir.
Selbst bei schnellen Links-rechts-Kombinationen bleibt fast immer eine Hand
als Deckung vor dem Gesicht, er tobt
nicht durch den Ring, nutzt seine Reichweite – er ist fast 1,90 groß.
Der 32-Jährige arbeitet bei einer Wirtschaftsberatung in Moskau, er prüft für
sie Unternehmen vor Übernahmen oder
Krediten. Sein Blick auf Russland ist ein
anderer, seine Erinnerungen an die 90er
sind andere.
Er ist in Podolsk aufgewachsen, einer Stadt 40 Kilometer südlich von
Moskau. „Manchmal“, sagt Pawel, „lagen morgens Tote auf meinem Schulweg.“ Männer, die sich totgesoffen hatten und liegengeblieben waren, ein paar
Stunden, einen Tag lang, bis sie jemand
wegräumte.
In Pawels Erinnerung wurde das Leben in Russland dank Putin besser und
nicht trotz Putin. Pawel war gerade mit
der Schule fertig, studierte in Moskau und
danach mit einem Stipendium in Genf
und sah aus der Ferne zu, wie dieser
graue KGB-Mann das seltsam unförmige 3-D-Puzzle, das Russland damals war,
von innen mit Beton auffüllte, damit es
nicht zerfiel und in die Brüche ging.
Als kleines Kind hatte Pawel immer
das Gefühl gehabt, in einem zivilisierten Land zu leben – bis es plötzlich
nichts mehr zu essen gab. Er ging mit
seinen Eltern auf den zentralen Platz in
Podolsk, wo große deutsche Lastwagen
standen, auf deren Ladefläche Männer
Pakete mit Mehl hinunterwarfen. Doch
es war nicht die Not, die Pawel erinnert,
eher der raue Umgang der Menschen
untereinander.
Einer seiner Schulkameraden habe
von seinen Eltern eine Spielekonsole
geschenkt bekommen. Die anderen
Kinder riefen, er müsse sie ihnen geben, aber er weigerte sich. Der Streit
wurde immer hitziger, und dann warfen
die anderen Kinder den Jungen in den
Fluss – und ließen ihn nicht mehr aus
dem Wasser. Er ertrank.
Pawel wechselte vom Turnen zu
Karate, denn Karate war in der UdSSR
verboten gewesen, und überall im Land
machten nach 1991 Karateschulen auf.
Bei Karate war mehr los als beim Turnen, und irgendwie schien es ihm angebrachter in dieser Zeit.
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Am Sonntag kämpft Pawel in einem
Verein, der „Flügel des Sowjets“ heißt.
Die Halle ist klein, überdacht von einer
runden, fensterlosen Kuppel. Der Ring
ist mit grellem Scheinwerferlicht ausgeleuchtet, im Dunkel auf den Rängen
sitzen Verwandte, Freundinnen und
Kumpel der Boxer.
Im Scheinwerferlicht leuchten die
bedrückten, schwermütigen, ernsthaften
Gesichter der Boxer, die Trainer brüllen,
und die Zuschauer lachen, und „Flügel
des Sowjets“ könnte ein modernes Stück
Regie-Theater sein. Eines, das die Menschen liebevoll zynisch betrachtet, weil
es im Scheinwerferlicht und in größter
Dramatik Sieger und Verlierer produziert, und sobald der nächste Gong ertönt, ist der vorangegangene Kampf sowieso wieder vergessen.
Das Publikum im „Flügel der Sowjets“
ist anders als dasjenige im „Oktober“.
Breite Männer mit plattgeschlagenen
Nasen und engen, in die Hose gesteckten
schwarzen Hemden laufen zwischen den
Rängen und dem Ring auf und ab.
Der Ringrichter trägt weißes Hemd
und schwarze Fliege, die Boxer tragen
Laufschuhe und ärmellose Unterhemden. Es ist ein anderes Russland, eines,
das Fernsehen guckt und in dem Stärke
zählt und die Frauen blond sind und
Stiefel tragen.
Einer der Kämpfer schleicht in seine
Ecke mit einem Gesicht, das der Schmerz
verzerrt, er geht in die Knie, er hat sich
beim Schlag die Schulter ausgerenkt und
renkt sie sich in der Ringecke selbst wieder ein, und das Dunkel klatscht Beifall,
als er aufsteht und weiterboxt.
Pawel ist Nummer 28, und er macht
sich in einem Gang unter den Rängen
warm. Er passt fast besser in diese Welt
als in die Welt des „Oktobers“.
Manche haben die 90er so ähnlich
erlebt wie er, andere würden ihm widersprechen, sagt Pawel. Für ihn aber war
der Kollaps ein so einschneidendes Erlebnis, dass es alles erklärt, was jetzt ist: das
Zusammenschrumpfen des Reichs der
Sowjets zu einem Entwicklungsland und
die Nato, die sich plötzlich bis nach Polen
und Tschechien vordrängelte.
Einen „imperialen Komplex“ hätten
sie jetzt, sagt er, so wie die Engländer
und Österreicher. Dazu kommt die gemeinschaftliche Erfahrung der Armut.
Er könne sich noch gut daran erinnern, wie er die Mehlpakete von dem
Lastwagen aufgefangen hat, was schert
es ihn heute, dass es keinen italienischen
Büffelmozzarella mehr gibt.
„Wir haben nie reich gelebt, gewöhnt
euch verdammt noch mal nicht daran“,
zitiert Pawel ein russisches Sprichwort.
Krankenhäuser, Schulen, Beamtenapparat, Bestechung – natürlich könnte man
ein Land besser führen.
„Ich habe zwei Arme, zwei Beine, der
Rest liegt in meiner Hand“, sagt er, und
diesen Spruch hört man oft in Russland.
Das Schulterzucken gehört zu Russland
wie der Schnee, und da hat Empörung
auch noch nie geholfen. Pawel gewinnt
Kampf Nr. 28 nach Punkten.
K
atjas Haare reichen knapp bis über ihre
Hüfte. Vor dem Boxen flicht sie daraus
einen Zopf, den nimmt sie doppelt und
verstaut ihn unter ihrem Kopfschutz.
Katja kommt nur zu Einzelstunden mit
ihrem Trainer oder zum Sparring mit
den Männern, mit Pawel und Wladimir.
Einzelstunden für die Technik, Sparring
für das Adrenalin. Natürlich ist Katja für die Jungs keine ernste Gegnerin,
technisch gut, aber nicht stark genug.
Eine harte Rechte an ihren Kopf lässt sie
zwei, drei Schritte nach rechts taumeln,
sie schaut überrascht, fängt sich wieder
und macht weiter.
Ihre Schläge sind nur gefährlich, wenn
sie genau auf die kurze Rippe treffen oder
ins Gesicht. Katja hat ihre eigene Firma,
sie gewinnt und verliert mit dem russischen System. Zurzeit gewinnt sie.
Katja hat Jura und Wirtschaftswissenschaft studiert, sie sieht aus wie
29 Jahre alt, ist aber 37 und Brokerin
beim Zoll: Für die Einfuhr von Waren
auf den russischen Markt müssen ausländische Unternehmen in der Regel
18 Prozent Umsatzsteuer zahlen. Das
günstigste „Iphone 6“ kostet deswegen
in einem russischen Mediamarkt umgerechnet 825 Euro, in einem deutschen
Mediamarkt aber nur 679 Euro.
Das macht die Einfuhr nach Russland
in vielen Fällen zu einer freudlosen Angelegenheit. Es sei denn, man beauftragt
eine Zoll-Brokerin wie Katja, die die
Waren nach Russland schafft: Manche
Zoll-Broker kaufen die Waren selbst im
Ausland und verkaufen sie dem Importeur dann wieder, andere importieren als
Großhändler und unterlaufen auf diese
Weise die 20-Prozent-Hürde.
Das Geschäft hat allerlei Facetten,
von jungen Mädels, die ein paar Handtaschen bei Chanel in Paris kaufen und in
Moskau verticken, bis zu Zigtausenden
deutscher Autos auf russischen Straßen.
Warum genau Katja aber billiger
importieren kann und wie viel billiger
sie importieren kann, bleibt unklar, sie
möchte nicht ins Detail gehen.
Letztendlich bewegt sich ihre Firma in
einer Grauzone, deswegen „grauer Import“. Aber das Geschäft läuft gut, nach
dem Sparring föhnt sie sich ihre Mähne
– den Rest der Woche ist sie surfen und
daher nur per Skype auf Bali zu erreichen.
Ein gut laufendes Geschäft in einer
Grauzone des russischen Gesetzes zu
betreiben ist ungefähr so riskant, wie ein
völlig legales, gut laufendes Geschäft zu
betreiben. Ein speziell russisches Phänomen namens „Reiderstvo“ geht um.
Das Wort stammt vom englischen
„raid“, das sich mit „Razzia“ oder „Raub“
übersetzen lässt: Behörden durchsuchen
Unternehmen, kopieren Unterlagen
oder beschlagnahmen sie. Gelegentlich landet der Eigentümer in Untersuchungshaft. Ein Grund findet sich immer. Wenn Behörden sich einig sind, ist
das russische Gesetz biegsam und zäh
wie eine frische Weidenrute.
Während der Eigentümer außer Gefecht gesetzt ist, wechselt das Unternehmen den Besitzer: Urkunden werden umgeschrieben, plötzlich genehmigt
und beglaubigt der sonst so träge Apparat, was das Zeug hält. Bevor es zu einer
Anhörung in der Sache kommt, hat der
neue Besitzer das Unternehmen schon
zerlegt und verkauft.
Unternehmerin Katja (37) kommt nur
zu Einzelstunden mit ihrem Trainer
oder zum Sparring mit den Männern,
mit Pawel und Wladimir, in den
Klub (oben). Pawel tritt auch bei
Kämpfen im Verein „Flügel des
Sowjets“ an (linke Seite). Im Dunkel
auf den Rängen sitzen Freundinnen,
Verwandte und Kumpel der Boxer.
„Reiderstvo“ funktioniert auf der gesamten Länge der russischen Machtachse:
Putins Freunde zerlegen Ölkonzerne
wie Chodorkowskis Yukos, Provinzpolizisten übernehmen Tante-Emma-Läden. Einem Freund von Katja wurde
auf diese Weise seine Entsorgungsfirma
abgenommen.
Katja schreibt aus Bali, dass sie sich
keine Sorgen mache: Ihr Geschäft ist zu
klein für Sorgen. Wahrscheinlich wäre
die Firma ohne sie und ihre Verbindungen sowieso wertlos. Aber grauer Import
wird nicht immer klappen, sagt sie. Der
Druck der Behörden wächst, es ist mehr
Gelegenheit als Geschäftsmodell.
Wenn man sie fragt, was sie von Putin und der Konfrontation halte und was
das für die russische Wirtschaft bedeute,
hält sie sich bedeckt. Manche Entscheidungen seien sicherlich falsch, andere
richtig. Katja ist eine Seiltänzerin.
„Sanktionen stören mein Geschäft,
meinen Import nicht direkt.“ Aber manche Kunden haben über die Sanktionen
dichtgemacht. Sie möchte keine Prognose wagen über die Wirtschaft und Politik. Sie scheint aber auch keine allzu großen Stücke auf die russische Wirtschaft
zu halten.
In zwei, drei Jahren möchte sie den
Grauimport an den Haken hängen und
in Europa eine neue Firma gründen.
Vielleicht muss sie dann aber auch gar
nicht mehr arbeiten und zieht einfach so
nach Bali. Dabei ist Katja wie gemacht
für das System Putin, eine Boxerin, die
auf dem Seil tanzt.
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