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P R I V A T P / 68 / Konstantin Totibadze (l.) mit Trainer Alex. Er ist Maler, sein Atelier liegt um die Ecke des Klubs, im Zentrum Moskaus. In New York werden seine Bilder zu dem Preis eines „VW Golfs“ verkauft. KLASSENKÄMPFER Text JAN VOLLMER B I L A P N Z R / I J V u n A i T / 2 0 1 5 Fotos GULLIVER THEIS Im Moskauer Boxklub O K T O B E R schlagen sich örtliche Mittelschichtler. Einfach haben es die Hobbyboxer nicht, denn sie müssen sich auch entscheiden, ob sie für oder gegen das System Putin kämpfen wollen – und ob sie überhaupt kämpfen wollen. / 69 / W P R I V A T / 70 / ladimir Kuwschinow tänzelt durch den Ring, die Ellenbogen dicht am Körper, die roten Boxhandschuhe decken sein Gesicht auf Höhe der Wangenknochen. Sein T-Shirt ist nass, unter seinem Kopfschutz gucken Haarsträhnen hervor und ein Vollbart. Schweiß spritzt. Sein Gegner, Sascha, ist anderthalb Köpfe größer als er und 25 Kilo schwerer. Wenn er angreift, wird aus dem Tänzeln der beiden ein Jagen, wie zwei junge Hunde, einer hinter dem anderen her, und mitten hinein in Saschas Angriff landet Wladimir einen Schwinger, und Sascha reißt die Deckung hoch, und damit wechseln die Rollen, und Wladimir prügelt auf Saschas Deckung ein: und links und rechts und links und rechts und rechts und rechts und links und drängt ihn in die Ecke. Es ist ein Freitag um die Mittagszeit, Wladimir ist IT-Manager, Sascha Investmentberater, sie arbeiten in der Nähe des Gyms , im Zentrum Moskaus, sie können in der Pause eine Stunde oder länger boxen gehen, etwas essen und dann wieder in ihre Firmen zurück, denn sie werden nicht nach Zeit bezahlt, sondern nach Leistung. Nachmittags sind Wladimir und Sascha noch fast allein beim Boxen, aber gegen acht am Abend füllen sich die drei Hallen, wenn die Banker, Berater und Ingenieure der Moskauer Mittelschicht das Licht in ihren Büros ausschalten und sich ihre Sporttaschen über die Schultern werfen. Sie fahren zwei, drei Stationen mit der Moskowskoje metro und steigen an der Kropotkinskaya aus, gehen an der Christi-Erlöser-Kathedrale vorbei, die jetzt besser als „Pussy Riot“-Kirche bekannt ist, marschieren über die Brücke dahinter und übers Gelände der ehemaligen Schokoladenfabrik. In den Backsteinhallen schreiben junge IT-Gründer jetzt Rechnerprogramme, Herrenausstatter verkaufen schmal geschnittene Anzüge, und nicht wenige der Mitglieder des Boxklubs „Oktober“ arbeiten hier auch irgendwo, in Moskaus Brooklyn. Auf ihrem Weg ins Gym laufen sie in einen Hinterhof der Bersenewskij-Gasse, halten sich rechts, passieren ein Café und einen Haufen ausrangierter Sofas, treten durch eine offene Stahltür unter Well- blech, steigen eine schmale Treppe hinauf – nackter Beton, Farbkleckse, Neonröhren – bis in den dritten Stock, gehen durch eine weitere Stahltür in den Klub. Von draußen ist nichts zu hören, aber drinnen mischen sich das Klacken der Springseile auf dem Parkett, das Knallen der Boxhandschuhe in den Schlagpolstern der Trainer und die ungezählten kleinen, quietschenden Schritte der tänzelnden Boxer zum Rhythmus der jungen Aufsteiger Moskaus. Lauter, pumpender Rap, Tupac Shakur, Neues von Tyler, The Creator, man hört, auf welche Klientel der Klub zuge- schnitten ist: die schmale städtische und westeuropäisch gesinnte Mittelschicht. Zwischen 1.300 und 2.000 Euro kostet die Mitgliedschaft im Jahr. Plakate denkwürdiger Kämpfe, ausgetragen irgendwann und -wo auf der Welt, hängen an den Backsteinwänden: De La Hoya vs. Mayweather, Tyson vs. Botha, Lewis vs. Grant. Im Foyer stehen ein paar Sessel im Mies-van-der-Rohe-Stil, überall liegen Boxhandschuhe herum, und an der Decke hängen Fabrikleuchten, Neonröhren und die großen, nackten Stahlblechrohre der Entlüftungsanlage. So echt und wahr und doch nachgeahmt ist alles, dass der Boxklub wie ein Filmset wirkt. Boxen ist ein narzisstischer Sport. So viele Spiegel wie in einem Boxstudio hängen sonst nur in Ballettschulen. Es geht nie um den Gegner, sondern um das Ich und um den Kampf mit sich selbst. Männer üben konzentriert vor den Spiegeln. Bei jeder linken Geraden ein Schritt mit dem linken Bein nach vorn. Jetzt bloß nicht das Gewicht verlagern, nur die Fußspitze aufsetzen und zurück, nie eindeutig, nie abschließend, immer schnell, immer tänzelnd. So eigensüchtig und voller Eigenliebe das Boxen ist, so sehr erdet es die Boxer selbst. Die jungen Mittelschichtler, im Beruf erfolgsverwöhnt, kassieren Schläge ins Gesicht und auf die Rippen und teilen aus und haben keine Zeit, darüber nachzudenken, ob sie vielleicht besser sind als ihr Sparringspartner, und dann wechseln die Gegner, und sie müssen einstecken und warten darauf, dass die Runde endlich vorbeigeht. Die jungen Trainer rufen, und die Boxer legen sich auf den Boden: Liegestütze, bis bei 17 von 20 ihre Arme nachgeben, und Rumpfbeugen, bei denen sie in das Neonlicht starren und sich im Klacken der Springseile der anderen verlieren. Im „Oktober“ trainiert man ehrgeiziger als in anderen Klubs, nicht, weil man besser ist, sondern, weil Ehrgeiz der gemeinsame Antrieb dieser russischen Mittelschicht ist. Es gibt viele Sparrings – als gelte es, die Mitglieder auf einen Kampf vorzubereiten, und ohne Mund- schutz braucht man nicht einmal zum Techniktraining aufzutauchen, denn auch da wird wieder gekämpft. Im „Oktober“ kämpft die Generation, die vor zehn Jahren von den Universitäten kam – eine Generation, die sich ihren Erfolg erarbeiten konnte und nicht auf Glück und Gerissenheit angewiesen war wie die Leute, die in den 90er-Jahren groß wurden. Seit sie mit der Uni fertig sind, wuchs die russische Wirtschaft, und mit ihr wuchs die Selbstgewissheit dieser Generation, ihr Stolz auf den eigenen Aufstieg und darauf, dass Moskau zu einer Stadt in Europa wurde und man sich einen Skiurlaub in Österreich leisten konnte oder ein paar verliebte Tage in Paris. 2014 aber endete der Aufstieg jäh: Der Ölpreis verfiel und mit ihm der Rubel, und junge Paare stornierten ihre Urlaube, denn Paris war jetzt zu teuer. Die Furcht ist groß in der neuesten russischen Klasse, der jungen Mittelschicht, dass die gute Zeit nur von kurzer Dauer und schon bald wieder vorbei und zu Ende ist. Wladimir boxt in der hintersten Halle des „Oktober“, ein Tropfen Blut läuft ihm langsam aus der Nase. Er bemerkt es erst nach dem Sparring. Gut gelaunt, den Kopf in den Nacken geworfen, gibt er Sa- In der Mittagspause geht IT-Manager Wladimir Kuwschinow (29) in den Moskauer Boxklub „Oktober“, zieht seine Handschuhe zu und misst sich bis zur Erschöpfung mit Gegner Sascha. Im „Oktober“ trainieren die Mittelschichtler, ehrgeizige junge Städter, die daran glauben, dass man sich alles erkämpfen kann. scha die Hand und läuft an den Spiegeln vorbei in Richtung Umkleide. In den Duschkabinen aus mattem Glas und breiten, schwarzen Natursteinfliesen spült warmes Wasser das Blut auf den Boden. Erst mit dem Duschen ist der eigentliche Kampf beendet und mit dem Abtrocknen der Übergang in die andere Welt vollzogen, und danach bleiben nur Erschöpfung und ein paar Cuts und blaue Flecken, die sich unter einem frischen Hemd voller Genugtuung tragen lassen wie Knutschflecken unterm Kragen. Nach dem Sparring geht Wladimir in die Strelka-Bar um die Ecke. Seine Fingerknöchel sind aufgeschürft. Wladimir leitet ein 16-köpfiges Team bei einer Suchmaschine für Flugreisen. Er hat sein Rennrad draußen angeschlossen. Ein Fahrrad ist für einen Manager in Moskau ungefähr so ungewöhnlich wie ein „Ford Mustang“ für einen Kreativen in Berlin. Wladimir ist 29, und seit er 16 ist, arbeitet er mehr oder weniger Vollzeit, das Studium nebenher strengte nicht besonders an. Bevor er zu der Flugsuchmaschine kam, arbeitete er für HewlettPackard und hatte eine Firmenkreditkarte und ein Gehalt, mit dem er sich schon mit Mitte 20 einen „Porsche Cayenne“ hätte chartern können. „Ich bin ein Mann der Vernunft“, sagt er, deswegen Fahrrad, und wenn man Vernunft an der Zahl der Fahrräder im Straßenverkehr messen würde, stünde es schlecht um Moskau. Wladimir ist ein Vertreter dieser europäisch geprägten Mittelschicht, die B I L A N Z / J u n i / 2 0 1 5 / 71 / P R I V A T / 72 / sich jetzt etwas einfallen lassen muss, denn die Jahre des Wachstums und der Annäherung an Europa sind vorbei. Seine Eltern gehörten in der Sowjetunion dem Mittelbau der Gesellschaft an: Akademiker, Moskauer, deren Biografie wie die Biografien aller Russen 1991 einen Knick bekam. Für Wladimirs Mutter war das eine unerwartet günstige Wendung, denn sie hatte in englischer Literatur promoviert und durfte schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in die USA reisen und konnte Anfang der 90er als Übersetzerin bei der Wirtschaftsprüfungsfirma KPMG anfangen, als man den Chefs privatisierter Staatskonzerne erklärte, was das überhaupt ist: ein Unternehmen. „Meine Mutter verdiente Dollar“, sagt Wladimir, und die Dollars konnte man gegen eine Menge Rubel tauschen und damit einen Sony-Farbfernseher kaufen. Keiner seiner Freunde hatte einen Farbfernseher. „Zwischendurch gab es eine Zeit, in der meine Mutter kreativ werden musste“, und irgendwann kam zu dem Farbfernseher noch einer der ersten Heimcomputer dazu. Wladimir konnte Tennis spielen und wurde sogar richtig gut und spielte auf den Turnieren der Stadt und denen des neuen Russlands und wäre vielleicht sogar ein Berufsspieler geworden, wenn seine Eltern das Geld gehabt hätten, ihn zu internationalen Turnieren zu fliegen. Wie viele ehemalige Leistungssportler nahm er den Ehrgeiz, ohne den Wettkampfsport nicht funktioniert, und den Willen, an sich zu arbeiten, mit auf die Universität und, weil es dort kaum etwas zu lernen gab, auch mit in seinen Beruf. Die 2000er waren eine gute Zeit für ehrgeizige junge Männer wie Wladimir. So gut, dass sie sich stark genug fühlten, auf die Straße zu gehen, als Putin nach seiner Kunstpause als Premierminister wieder Präsident werden wollte. Mit Zehntausenden Menschen stand Wladimir auf dem Bolotnaja-Platz und forderte ein neues Russland und gerechte Wahlen: „Ich bin vielleicht selbst kein Aktivist, aber auch nur einen oder zwei Handschläge von den Aktivisten entfernt.“ Putin ließ die Protestler protestieren, zur Freude westlicher Medien, doch er vergaß sie nicht und zog langsam, aber unnachgiebig die Schlinge zu, die er seinen Gegnern um den Hals gelegt hatte. Ein paar politische Verhaftungen und Morde später war klar, dass es keinen Russischen Frühling geben würde: „Gut haben sie das gemacht“, sagt Wladimir, „jetzt sind wir die 5. Kolonne.“ Das ist der Name, mit dem der Kreml die Reformer als „Feinde Russlands“ ächtet, mit dem das Fernsehen die alleinerziehenden Mütter und Fabrikarbeiter zwischen Magadan und Woro- Pawel (oben) gehört zu den erfahreneren Boxern im „Oktober“: Der 32-jährige Berater ist fast 1,90 groß und hält seine Gegner auf Distanz, immer eine Hand als Deckung vor dem Gesicht. Konstantin Totibadze (rechte Seite) hängt nach dem Training in den Seilen, ist aber noch lange nicht k.o. nesch gegen die Kritiker hetzt, sodass der Druck von beiden Seiten kommt, von oben aus dem Kreml und durch das Fernsehen von unten. „Damals bin ich auf die Straße gegangen, jetzt nicht mehr“, sagt Wladimir. Schließlich sei er ein Mann der Vernunft, und aus seinem Mund klingt das kein bisschen albern, denn mit 29 ist man in Russland schon etwas älter als mit 29 in Deutschland, und deswegen ist Wladimirs Kind auch schon eineinhalb Jahre alt, und die junge Familie hat Besseres zu tun, als sich von 86 Prozent Russland als 5. Kolonne beschimpfen zu lassen. 86 Prozent, so heißt es, stünden hinter Putin. Die IT-Branche ist neben der Öl-, Gas- und Waffenindustrie der einzige Wirtschaftszweig in Russland, der international konkurrieren kann. Für Programme braucht man nur Rechner und Internet und ist sonst kaum auf staatlichen Unterbau angewiesen. Die Heizungen werden in Moskau im Herbst alle zentral angestellt und im Frühling alle zentral abgestellt, und in der Zwischenzeit lässt man das Fenster auf, wenn einem zu warm wird. Aber schon seit zwei Jahren bestellen die Moskauer ihre Taxis per Telefonanwendung und verfolgen deren Anfahrt auf „Google-Maps“. „Auch in der IT wollen sie jetzt durchgreifen und regulieren, auch dort wird es enger für uns“, sagt Wladimir. „Aber alle Guten arbeiten bei uns und nur die Mittelmäßigen für die.“ Im spektakulärsten Fall dieses „Wir gegen die“ verkaufte Pawel Durow, P der Gründer von V-Kontakte (dem russischen Facebook-Pendant) seine Firmenanteile und verließ Russland, nachdem er von der Polizei vorgeladen worden war: Durow hatte sich geweigert, Nutzerdaten an den Inlandsgeheimdienst FSB weiterzugeben und kritische Gruppen auf V-Kontakte zu schließen. Aber wie lange kann eine Branche durchhalten, wenn die Bürokratie eines Staates gegen sie arbeitet? Was wäre aus Facebook geworden, hätte Mark Zuckerberg es 2010 an einen Freund von Barack Obama verkaufen müssen? „Es gibt zwei Möglichkeiten für die russische Wirtschaft“, sagt Wladimir: „Entweder Putin bleibt, und es geht nicht weiter, oder er geht, und sie stürzt erst mal ab.“ Die Hoffnung auf Reformen hat er aufgegeben. In spätestens zwei Jahren will die Familie auswandern, vielleicht nach Frankreich. In Russland hält sie wenig. Es scheint auch niemanden zu stören, dass die tüchtigsten Leute des Landes lieber woanders hingehen. „Irgendwo habe ich gelesen, dass man nur eine Million Menschen brauchen würde, um Russland als reinen Öl-Staat zu betreiben“, erzählt Wladimir. awel boxt erfahrener als Wladimir. Selbst bei schnellen Links-rechts-Kombinationen bleibt fast immer eine Hand als Deckung vor dem Gesicht, er tobt nicht durch den Ring, nutzt seine Reichweite – er ist fast 1,90 groß. Der 32-Jährige arbeitet bei einer Wirtschaftsberatung in Moskau, er prüft für sie Unternehmen vor Übernahmen oder Krediten. Sein Blick auf Russland ist ein anderer, seine Erinnerungen an die 90er sind andere. Er ist in Podolsk aufgewachsen, einer Stadt 40 Kilometer südlich von Moskau. „Manchmal“, sagt Pawel, „lagen morgens Tote auf meinem Schulweg.“ Männer, die sich totgesoffen hatten und liegengeblieben waren, ein paar Stunden, einen Tag lang, bis sie jemand wegräumte. In Pawels Erinnerung wurde das Leben in Russland dank Putin besser und nicht trotz Putin. Pawel war gerade mit der Schule fertig, studierte in Moskau und danach mit einem Stipendium in Genf und sah aus der Ferne zu, wie dieser graue KGB-Mann das seltsam unförmige 3-D-Puzzle, das Russland damals war, von innen mit Beton auffüllte, damit es nicht zerfiel und in die Brüche ging. Als kleines Kind hatte Pawel immer das Gefühl gehabt, in einem zivilisierten Land zu leben – bis es plötzlich nichts mehr zu essen gab. Er ging mit seinen Eltern auf den zentralen Platz in Podolsk, wo große deutsche Lastwagen standen, auf deren Ladefläche Männer Pakete mit Mehl hinunterwarfen. Doch es war nicht die Not, die Pawel erinnert, eher der raue Umgang der Menschen untereinander. Einer seiner Schulkameraden habe von seinen Eltern eine Spielekonsole geschenkt bekommen. Die anderen Kinder riefen, er müsse sie ihnen geben, aber er weigerte sich. Der Streit wurde immer hitziger, und dann warfen die anderen Kinder den Jungen in den Fluss – und ließen ihn nicht mehr aus dem Wasser. Er ertrank. Pawel wechselte vom Turnen zu Karate, denn Karate war in der UdSSR verboten gewesen, und überall im Land machten nach 1991 Karateschulen auf. Bei Karate war mehr los als beim Turnen, und irgendwie schien es ihm angebrachter in dieser Zeit. B I L A N Z / J u n i / 2 0 1 5 / 73 / P R I V A T / 74 / Am Sonntag kämpft Pawel in einem Verein, der „Flügel des Sowjets“ heißt. Die Halle ist klein, überdacht von einer runden, fensterlosen Kuppel. Der Ring ist mit grellem Scheinwerferlicht ausgeleuchtet, im Dunkel auf den Rängen sitzen Verwandte, Freundinnen und Kumpel der Boxer. Im Scheinwerferlicht leuchten die bedrückten, schwermütigen, ernsthaften Gesichter der Boxer, die Trainer brüllen, und die Zuschauer lachen, und „Flügel des Sowjets“ könnte ein modernes Stück Regie-Theater sein. Eines, das die Menschen liebevoll zynisch betrachtet, weil es im Scheinwerferlicht und in größter Dramatik Sieger und Verlierer produziert, und sobald der nächste Gong ertönt, ist der vorangegangene Kampf sowieso wieder vergessen. Das Publikum im „Flügel der Sowjets“ ist anders als dasjenige im „Oktober“. Breite Männer mit plattgeschlagenen Nasen und engen, in die Hose gesteckten schwarzen Hemden laufen zwischen den Rängen und dem Ring auf und ab. Der Ringrichter trägt weißes Hemd und schwarze Fliege, die Boxer tragen Laufschuhe und ärmellose Unterhemden. Es ist ein anderes Russland, eines, das Fernsehen guckt und in dem Stärke zählt und die Frauen blond sind und Stiefel tragen. Einer der Kämpfer schleicht in seine Ecke mit einem Gesicht, das der Schmerz verzerrt, er geht in die Knie, er hat sich beim Schlag die Schulter ausgerenkt und renkt sie sich in der Ringecke selbst wieder ein, und das Dunkel klatscht Beifall, als er aufsteht und weiterboxt. Pawel ist Nummer 28, und er macht sich in einem Gang unter den Rängen warm. Er passt fast besser in diese Welt als in die Welt des „Oktobers“. Manche haben die 90er so ähnlich erlebt wie er, andere würden ihm widersprechen, sagt Pawel. Für ihn aber war der Kollaps ein so einschneidendes Erlebnis, dass es alles erklärt, was jetzt ist: das Zusammenschrumpfen des Reichs der Sowjets zu einem Entwicklungsland und die Nato, die sich plötzlich bis nach Polen und Tschechien vordrängelte. Einen „imperialen Komplex“ hätten sie jetzt, sagt er, so wie die Engländer und Österreicher. Dazu kommt die gemeinschaftliche Erfahrung der Armut. Er könne sich noch gut daran erinnern, wie er die Mehlpakete von dem Lastwagen aufgefangen hat, was schert es ihn heute, dass es keinen italienischen Büffelmozzarella mehr gibt. „Wir haben nie reich gelebt, gewöhnt euch verdammt noch mal nicht daran“, zitiert Pawel ein russisches Sprichwort. Krankenhäuser, Schulen, Beamtenapparat, Bestechung – natürlich könnte man ein Land besser führen. „Ich habe zwei Arme, zwei Beine, der Rest liegt in meiner Hand“, sagt er, und diesen Spruch hört man oft in Russland. Das Schulterzucken gehört zu Russland wie der Schnee, und da hat Empörung auch noch nie geholfen. Pawel gewinnt Kampf Nr. 28 nach Punkten. K atjas Haare reichen knapp bis über ihre Hüfte. Vor dem Boxen flicht sie daraus einen Zopf, den nimmt sie doppelt und verstaut ihn unter ihrem Kopfschutz. Katja kommt nur zu Einzelstunden mit ihrem Trainer oder zum Sparring mit den Männern, mit Pawel und Wladimir. Einzelstunden für die Technik, Sparring für das Adrenalin. Natürlich ist Katja für die Jungs keine ernste Gegnerin, technisch gut, aber nicht stark genug. Eine harte Rechte an ihren Kopf lässt sie zwei, drei Schritte nach rechts taumeln, sie schaut überrascht, fängt sich wieder und macht weiter. Ihre Schläge sind nur gefährlich, wenn sie genau auf die kurze Rippe treffen oder ins Gesicht. Katja hat ihre eigene Firma, sie gewinnt und verliert mit dem russischen System. Zurzeit gewinnt sie. Katja hat Jura und Wirtschaftswissenschaft studiert, sie sieht aus wie 29 Jahre alt, ist aber 37 und Brokerin beim Zoll: Für die Einfuhr von Waren auf den russischen Markt müssen ausländische Unternehmen in der Regel 18 Prozent Umsatzsteuer zahlen. Das günstigste „Iphone 6“ kostet deswegen in einem russischen Mediamarkt umgerechnet 825 Euro, in einem deutschen Mediamarkt aber nur 679 Euro. Das macht die Einfuhr nach Russland in vielen Fällen zu einer freudlosen Angelegenheit. Es sei denn, man beauftragt eine Zoll-Brokerin wie Katja, die die Waren nach Russland schafft: Manche Zoll-Broker kaufen die Waren selbst im Ausland und verkaufen sie dem Importeur dann wieder, andere importieren als Großhändler und unterlaufen auf diese Weise die 20-Prozent-Hürde. Das Geschäft hat allerlei Facetten, von jungen Mädels, die ein paar Handtaschen bei Chanel in Paris kaufen und in Moskau verticken, bis zu Zigtausenden deutscher Autos auf russischen Straßen. Warum genau Katja aber billiger importieren kann und wie viel billiger sie importieren kann, bleibt unklar, sie möchte nicht ins Detail gehen. Letztendlich bewegt sich ihre Firma in einer Grauzone, deswegen „grauer Import“. Aber das Geschäft läuft gut, nach dem Sparring föhnt sie sich ihre Mähne – den Rest der Woche ist sie surfen und daher nur per Skype auf Bali zu erreichen. Ein gut laufendes Geschäft in einer Grauzone des russischen Gesetzes zu betreiben ist ungefähr so riskant, wie ein völlig legales, gut laufendes Geschäft zu betreiben. Ein speziell russisches Phänomen namens „Reiderstvo“ geht um. Das Wort stammt vom englischen „raid“, das sich mit „Razzia“ oder „Raub“ übersetzen lässt: Behörden durchsuchen Unternehmen, kopieren Unterlagen oder beschlagnahmen sie. Gelegentlich landet der Eigentümer in Untersuchungshaft. Ein Grund findet sich immer. Wenn Behörden sich einig sind, ist das russische Gesetz biegsam und zäh wie eine frische Weidenrute. Während der Eigentümer außer Gefecht gesetzt ist, wechselt das Unternehmen den Besitzer: Urkunden werden umgeschrieben, plötzlich genehmigt und beglaubigt der sonst so träge Apparat, was das Zeug hält. Bevor es zu einer Anhörung in der Sache kommt, hat der neue Besitzer das Unternehmen schon zerlegt und verkauft. Unternehmerin Katja (37) kommt nur zu Einzelstunden mit ihrem Trainer oder zum Sparring mit den Männern, mit Pawel und Wladimir, in den Klub (oben). Pawel tritt auch bei Kämpfen im Verein „Flügel des Sowjets“ an (linke Seite). Im Dunkel auf den Rängen sitzen Freundinnen, Verwandte und Kumpel der Boxer. „Reiderstvo“ funktioniert auf der gesamten Länge der russischen Machtachse: Putins Freunde zerlegen Ölkonzerne wie Chodorkowskis Yukos, Provinzpolizisten übernehmen Tante-Emma-Läden. Einem Freund von Katja wurde auf diese Weise seine Entsorgungsfirma abgenommen. Katja schreibt aus Bali, dass sie sich keine Sorgen mache: Ihr Geschäft ist zu klein für Sorgen. Wahrscheinlich wäre die Firma ohne sie und ihre Verbindungen sowieso wertlos. Aber grauer Import wird nicht immer klappen, sagt sie. Der Druck der Behörden wächst, es ist mehr Gelegenheit als Geschäftsmodell. Wenn man sie fragt, was sie von Putin und der Konfrontation halte und was das für die russische Wirtschaft bedeute, hält sie sich bedeckt. Manche Entscheidungen seien sicherlich falsch, andere richtig. Katja ist eine Seiltänzerin. „Sanktionen stören mein Geschäft, meinen Import nicht direkt.“ Aber manche Kunden haben über die Sanktionen dichtgemacht. Sie möchte keine Prognose wagen über die Wirtschaft und Politik. Sie scheint aber auch keine allzu großen Stücke auf die russische Wirtschaft zu halten. In zwei, drei Jahren möchte sie den Grauimport an den Haken hängen und in Europa eine neue Firma gründen. Vielleicht muss sie dann aber auch gar nicht mehr arbeiten und zieht einfach so nach Bali. Dabei ist Katja wie gemacht für das System Putin, eine Boxerin, die auf dem Seil tanzt. P B I L A N Z / J u n i / 2 0 1 5 / 75 /