Mehrsprachigkeit - Historisches Lexikon der Schweiz

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Mehrsprachigkeit - Historisches Lexikon der Schweiz
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18/07/2013 |
Mehrsprachigkeit
Die Schweiz ist sowohl demografisch wie in ihrem Selbstverständnis
mehrsprachig, weil sie erstens im Gegensatz zu vielen Nachbarstaaten
ihre Identität nicht aus einer einzigen, sondern mehreren Sprachen
schöpft (territoriale M.) und in ihren vier Sprachgebieten in der Regel
nur eine Sprache offiziell ist (sprachliches Territorialprinzip), weil sie
zweitens mit Deutsch, Französisch, Italienisch und, in geringerem
Masse, Rätoromanisch vier offizielle Sprachen anerkennt und sich der
Bund ihrer im Verkehr mit den betreffenden Sprachgemeinschaften
bedient (institutionelle M.), und weil drittens M. (und ihr Grenzfall
Zweisprachigkeit) in der Schweiz im Repertoire zahlreicher Individuen
vorhanden ist (individuelle M.).
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Die territoriale M. geht weit in die vorgeschichtl. Zeit zurück.
Verschiedene vorindogerm. Sprachen wurden zunächst von kelt.
Varietäten überlagert. Nach der Eroberung durch die Römer um die
Zeitenwende wurden weite Teile der Schweiz latinisiert
(Romanisierung). Nicht zuletzt wegen der sprachlich vielfältigen
Substrate (aber auch unter dem Einfluss lombard. und burgund.
Einwanderer) entwickelten sich versch. Regionalvarietäten des Lateins
(rätorom., lombard., frankoprovenzal. und franz. Dialekte). Ab der 2.
Hälfte des 6. Jh. wanderten Gruppen mit alemann. Mundarten ein und
boten der Ausbreitung der rom. Varietäten Einhalt. Im MA pendelten
sich die Grenzen zwischen Deutsch, Italienisch und Französisch ein und
blieben seit der frühen Neuzeit bemerkenswert stabil. Im Gegensatz
dazu wurde das Rätoromanische, das ursprünglich bis zum Walensee
und zum Bodensee reichte, vom Deutschen immer mehr in die Bündner
Täler zurückgedrängt. Dort war es zu Beginn des 21. Jh. in keinem
zusammenhängenden Territorium mehr Mehrheitssprache, vielmehr ist
es in fünf Regionalvarietäten zerfallen.
Institutionell ist die Schweiz erst seit der Mitte des 19. Jh. mehrsprachig. Die alte Eidgenossenschaft war bis
1798 einsprachig deutsch. Italienisch und namentlich Französisch wurden zwar im Herrschaftsgebiet der
Eidgenossenschaft gesprochen, und zwar nicht nur vom gemeinen Volk, sondern auch von den aristokrat.
Eliten. In der bern. Waadt bediente sich die Obrigkeit mit grosser Differenziertheit der nebeneinander
bestehenden Varietäten (Deutsch, Französisch, Dialekte). Auch im Fürstbistum Basel wurden in der Regel
Amtspersonen mit guten Französischkenntnissen eingesetzt, die sich für Verlautbarungen und Dekrete in der
lokalen Sprache an die Bevölkerung wandten. In den ennetbirg. Vogteien spielte z.T. der Landschreiber die
Rolle des Übersetzers und Dolmetschers. Dennoch hatten Französisch und Italienisch als Amtssprachen in der
Eidgenossenschaft nur geringe Bedeutung. Bezeichnenderweise wechselte Freiburg zur Zeit der Annäherung
an die Alten Orte im 15. Jh. zunehmend zum Deutschen als Amtssprache; erst nach dem Zusammenbruch der
alten Eidgenossenschaft wurde die Sprache der französischsprachigen Mehrheit wieder offiziell. Allerdings
bedienten sich die polit. Eliten schon seit dem 17. und v.a. im 18. Jh. zunehmend des Französischen als
internat. Kultur- und Verkehrssprache. Viele Orte hatten besondere vertragl. Beziehungen zu Frankreich. Die
Bedeutung Frankreichs und des Französischen erreichte in der kurzen Zeit der Helvetik einen Höhepunkt. Die
Aufwertung der nicht deutschsprachigen Kantone blieb aber auch über die Mediation hinaus im Bewusstsein
der Schweizer Politiker erhalten und führte dazu, dass in der Bundesverfassung von 1848 "die drei
Hauptsprachen" Deutsch, Französisch und Italienisch als "Nationalsprachen des Bundes" bezeichnet wurden.
Erst 1938 wurde auch das Rätoromanische in die Liste der "Nationalsprachen" aufgenommen. Noch heute
unterscheidet die Bundesverfassung zwischen Landessprachen und Amtssprachen des Bundes, wobei das
Rätoromanische nur in beschränktem Masse als Amtssprache gilt. Die Leitidee von der mehrsprachigen
Schweiz, basierend auf einer Partnerschaft zwischen Sprachmehrheit und Sprachminderheiten nach dem
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Prinzip der Gleichwertigkeit, bildete sich also erst im 19. und 20. Jh. heraus.
Im Gegensatz dazu hat die individuelle M. auf Schweizer Boden eine lange Tradition. Die kulturellen und polit.
Eliten im Ancien Régime waren bemerkenswert oft mehrsprachig. Die Liste prominenter Beispiele reicht vom
Zürcher Naturforscher Konrad Gessner über den Walliser Handelsherrn Kaspar Stockalper, den Basler
Mathematiker Leonhard Euler, den Berner Anatomen, Arzt und Dichter Albrecht von Haller und den Basler
Staatsmann Peter Ochs bis zum Berner Gelehrten, Politiker und Diplomaten Philipp Albert Stapfer. Aber auch
unter Ungeschulten ist individuelle M. bezeugt, sei es an der Sprachgrenze, sei es aufgrund von
Wanderungsbewegungen. Zwar sind die meisten Schweizer immer noch von Haus aus einsprachig, auch wenn
viele Sprachwissenschafter die doppelte Kompetenz in Standarddeutsch (Schriftsprache) und
Schweizerdeutsch (Umgangssprache) als eine Form von Zweisprachigkeit betrachten. Dennoch sind
Kenntnisse in mehreren Sprachen weit verbreitet. Diese sind einerseits das Resultat eines mehrsprachigen
Alltags, etwa im dreisprachigen Kt. Graubünden, in extremer Weise im rätorom. Sprachgebiet, dann an der
dt.-franz. Sprachgrenze (besonders in den institutionell zweisprachigen Kt. Wallis, Freiburg und Bern,
namentlich in Biel, Freiburg, Murten und deren Umgebung) sowie in Fam. von Einwanderern und
Binnenwanderern. Zu Beginn des 21. Jh. ist jener Bevölkerungsteil, der keine Landessprache spricht, auf fast
10% angewachsen. Dagegen scheint die M. in den Landessprachen trotz der grösseren Mobilität der
Bevölkerung und der Vervielfachung der Kontaktmöglichkeiten durch die neuen Medien eher zurückzugehen.
Während längere Sprachaufenthalte (Welschlandjahr), auf Dauer angelegte Arbeitsmigration (z.B.
Deutschschweizer in der Uhrenindustrie) und eine vollständige Integration in die Gastsprachgemeinschaft bis
ins 20. Jh. hinein die Regel waren, sind heute Kurzaufenthalte bzw. Arbeitspendlerbewegungen
vorherrschend. Integrierende Institutionen wie die Armee und die Regiebetriebe des Bundes haben an
Bedeutung verloren; grenzüberschreitende Medien in den Nationalsprachen der Nachbarländer und der
Weltsprache Englisch beginnen zu überwiegen.
Eine umso grössere Bedeutung für die nationale und internat. Verständigung erhält die ständig wachsende
Zahl von Menschen, die Zweit-, Dritt- und Viertsprachen auf schul. Weg erlernt haben. Dabei muss
individuelle M. keineswegs immer quasi muttersprachl. Kenntnisse in mehreren Sprachen bedeuten. Je nach
Lebenslauf, Bedürfnis und Häufigkeit des Gebrauchs kann der Grad der Beherrschung von mehreren Sprachen
stark variieren. In diesem Fall spricht man von funktionaler M. So ist das Ziel des schul.
Fremdsprachenunterrichts in der Schweiz eine funktionale M. Neben der lokalen Landessprache soll eine
zweite Landessprache und Englisch beherrscht werden. Eine besondere Herausforderung stellen dabei die seit
einigen Jahrzehnten zunehmende Bedeutung der internat. Verkehrssprache Englisch in Wissenschaft und
Wirtschaft auch innerhalb der Schweiz und die damit verbundene sinkende Bereitschaft zum Erlernen der
Landessprachen dar. Die polit. Diskussion um das gewandelte sprachl. Selbstverständnis hat erst begonnen.
Wenn auf einem gemeinsamen Territorium (Stadt, Region, Staat) in ein und derselben Gesellschaft (d.h. ohne
Segregation) unterschiedliche sprachl. Varietäten (Sprachen und Dialekte) gesprochen werden, spricht man
von Polyglossie (mit der Diglossie als Minimalvariante). Dabei üben die koexistierenden Varietäten in der
Regel unterschiedl. Funktionen aus. Beinahe prototypisch ist die "mediale" Diglossie zwischen schweizerdt.
Ortsdialekten für die mündl. Kommunikation und Standarddeutsch als Schriftsprache. Diglossisch ist auch das
Verhältnis zwischen "Dialetto" und Italienisch in der Südschweiz; von einer Quadriglossie könnte man im
rätorom. Sprachgebiet reden (Regionalsprache, Rumantsch Grischun, Bündnerdeutsch, Standarddeutsch); in
Freiburg herrschte im 15. und 16. Jh. gar eine Pentaglossie (Latein, überregionales Deutsch, alemann. Dialekt,
Französisch, frankoprovenzal. Dialekt). Die Wissenschaftssprachen Latein, Französisch und Deutsch haben,
wie es heute mit dem Englischen der Fall ist, die lokalen Repertoires immer als zusätzl. Varietät überlagert.
Die Aufteilung der Funktionen kann, muss aber nicht mit Prestigeunterschieden einhergehen:
"Schwyzertütsch" ist trotz der geringeren kommunikativen Reichweite wohl nicht weniger prestigeträchtig als
Standarddeutsch. Im Tessin ist der Dialekt die Sprache der Vertrautheit, hat aber in der Öffentlichkeit
geringeres Ansehen. Prestige und Akzeptanz in der Bevölkerung sind hingegen im Fall der übergeordneten
Standardvarietät Rumantsch Grischun trotz der grösseren Reichweite (und der Verwendung durch den Bund)
zweifellos geringer als jene der rätorom. Regionalvarietäten. Polyglossie kann mit Machtkämpfen und mit
Sprachverlust verbunden sein. So haben erstens die modernen Standardsprachen das Latein als
Prestigevarietät abgelöst, hat zweitens das Französische in der Westschweiz die lokalen frankoprovenzal., im
Nordjura franz. Dialekte während einer längeren Diglossiephase nach und nach fast vollständig verdrängt und
wird drittens das Rätoromanische seit Jahrhunderten vom Deutschen immer mehr in die Alpentäler
zurückgedrängt. Sehr viel rascher verändert sich gegenwärtig das Verhältnis zwischen den Funktionen der
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Sprachen der Migration und den lokalen Sprachrepertoires in Migrantengemeinschaften: Die
Herkunftssprache verschwindet in der Regel innerhalb weniger Generationen. Generell stellt sich in labilen
Polyglossiesituationen die Frage nach einem Regelungsbedarf, d.h. nach einer Steuerung der Funktionen mit
gesetzgeber. Mitteln. Normative Regelungen, wie sie zugunsten von Regional- und Landessprachen in
anderen europ. Ländern getroffen wurden (sie reichen von der Aufforderung zur Verwendung einer Sprache in
einer bestimmten Situation bis zum Verbot der Verwendung einer anderen), haben in der Schweiz kaum
Tradition.
Zusammenfassend muss die heutige Schweiz ungeachtet ihrer hist. Viersprachigkeit als in vielfältiger Weise
mehrsprachig beschrieben werden, wobei sich die Polyglossie weitgehend selbst steuert, die territoriale und
institutionelle Zwei- bis Viersprachigkeit auf einer normativen Regelung beruht und die individuelle M.
einerseits das Resultat natürl. Sprachkontakte, andererseits eine Folge einer bewussten, wenn auch nicht
ganz einheitl. Schulsprachenpolitik ist.
Literatur
– S. Bianconi, Lingua matrigna, 1980
– G. Lüdi, B. Py, Etre bilingue, 1986 (32003)
– S. Bianconi, I due linguaggi, 1989
– M. - eine Herausforderung, hg. von H. Bickel, R. Schläpfer, 1994
– G. Lüdi et al., Die Sprachenlandschaft Schweiz, 1997
– Wieviel Englisch braucht die Schweiz?, hg. von M. Mittler, 1998
– Die viersprachige Schweiz, hg. von H. Bickel, R. Schläpfer, 22000
– S. Bianconi, Lingue di frontiera, 2001
– N. Furrer, Die vierzigsprachige Schweiz, 2 Bde., 2002
– J. Widmer et al., Die Schweizer Sprachenvielfalt im öffentl. Diskurs, 2004
– G. Lüdi et al., Die Sprachenlandschaft in der Schweiz, 2005
Autorin/Autor: Georges Lüdi
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