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Girasolidarietà
Solidarität leben
Bezirksgemeinschaft Überetsch-Unterland
Sozialsprengel Leifers Branzoll Pfatten in Zusammenarbeit
mit dem Dienst für schulische Integration, Italienisches Schulamt
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Liebe Bürgerinnen und liebe Bürger!
Es freut mich, Ihnen die Publikation
“Girasolidarietà”.
vorzustellen. Dieses Buch möchte den Lesern einen
Querschnitt durch das Leben und Erleben von Menschen mit
Behinderung, ihrer Familienangehörigen sowie der daran
beteiligten Mitarbeiter und Freiwilligen bieten.
Ich danke dem Sozialsprengel Leifers-Branzoll-Pfatten
und vor allem der Gruppe von Mitarbeitern und Freiwilligen,
die mit der wertvollen Unterstützung von Fachleuten der
Freien Universität für Autobiografie von Anghiari mit
Engagement und Einfühlungsvermögen an diesem Vorhaben
mitgewirkt haben.
Einen aufrichtigen Dank möchte ich den Akteuren der
erzählten Geschichten aussprechen.
Ich wünsche Ihnen allen nun eine angenehme Lektüre.
Der Präsident
der Bezirksgemeinschaft Überetsch-Unterland
Oswald Schiefer
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Liebe Bürgerinnen und liebe Bürger!
Seit mehreren Jahren läuft in der Bezirksgemeinschaft
Überetsch-Unterland das Projekt „Sprengel unterwegs“,
dessen Ziel die direkte und aktive Einbindung von Bürgern ist,
die sich an der Planung und Durchführung von konkreten
Initiativen für die Gemeinschaft beteiligen möchten. Den
Interessen und Maßnahmenbereichen entsprechend wurden
mehrere Arbeitsgruppen gebildet.
Unter diesen hat die Gruppe „Menschen mit
Behinderung“ mit Unterstützung einer Gruppe von
Fachleuten der Freien Universität für Autobiografie von
Anghiari ein Vorhaben geplant und verwirklicht, das zur
Veröffentlichung dieses Buches geführt hat.
Vorrangiges Anliegen der Gruppe war es, diejenigen zu
Wort kommen zu lassen, die selten Gelegenheit dazu haben.
Auf diese Weise wollen wir dazu beitragen, eine andere Kultur
der Behinderung zu fördern, indem wir uns als Mitarbeiter,
aber mehr noch als Menschen in eine authentische Beziehung
einbringen zwischen denjenigen, die zuhören, und denjenigen,
die – auf ihre Art und in freizügiger Weise – Begebenheiten
und oftmals intime Ausschnitte ihrer Lebensgeschichte
erzählen.
Ich danke den Menschen dieser Gruppe, die diese
wichtige Herausforderung angenommen und damit schließlich
die Herausgabe und Vorstellung dieses Buches ermöglicht
haben.
Ich überlasse Sie nun der Lektüre der Geschichten und
empfehle Ihnen, sich ohne „Barrieren“ in diese Welten voller
Kraft, Bescheidenheit und Zuneigung entführen zu lassen.
Die Direktorin der Sozialdienste
der Bezirksgemeinschaft Überetsch-Unterland
Dr. Fernanda Mattedi Tschager
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INHALT
1. EINFÜHRUNG
Duccio Demetrio………………………………5
2. GESCHICHTE EINES VORHABENS
Maria Grazia Soldati……………………………13
3. METHODISCHE ASPEKTE
Lucia Portis……………………..…………… 20
4. GESCHICHTEN
• Rauserzählen aus der Spirale: Sonia und Lara
aufgeschrieben von Davide…………………… 27
• Die Kraft der Träume: Lara
aufgeschrieben von Elena…………………… 43
• Die Geschichte von Monia nach der Erzählung von
Paula, ihrer Mutter
aufgeschrieben von Ugo………………… …… 51
• Jolanda und Roberto, Reisegefährten
aufgeschrieben von Maria Cristina………… …57
• Ein Geist, der das Einfache liebt: Renato
aufgeschrieben von Lisa…………………… …68
• Zucchero hat ein anderes Flugzeug genommen
aufgeschrieben von Silvia………………………79
5. NACHTRÄGLICH:
Ein paar einfache Überlegungen………… ……87
6. NACHWORT
Claudio Imprudente……………………………99
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EINFÜHRUNG
Duccio Demetrio, Universität Mailand-Bicocca
Präsident und Gründer der Freien Universität
für Autobiografie von Anghiari
Etwas zur Vorgeschichte
Die Idee, Mnemon-Projekte ins Leben zu rufen (das
griechische Wort bezeichnet eine Figur, die individuelle
Erinnerungen anstelle von anderen aufschreibt), entwickelte
sich gleichzeitig mit dem Entstehen der Freien Universität für
Autobiografie von Anghiari.
Wir wollten nämlich denjenigen, die in die toskanische
Ortschaft kamen, um ihre Geschichte niederzuschreiben, nicht
nur eine Möglichkeit bieten, von sich zu erzählen, um ein
erzählerisches Ego hervorzukehren, das in jedem von uns
dazu neigt, unseren tendenziellen Egotismus zu bekunden
oder gar zu nähren, das auf jeden Fall hin und wieder
verteidigt, gefördert, ermutigt werden muss, wenn es die
Geringschätzung ihm gegenüber, die Lieblosigkeit, das geringe
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten krank machen. Vielmehr
wollten wir einen Ort erfinden, wo man sich dazu legitimiert
fühlen konnte, sich in sich selbst zu sammeln, um unter
Heranziehung der Erinnerung sein eigenes Leben zu
erforschen, vor allem zum Zweck und aus Gründen der
sozialen Solidarität. Das muss immer wieder betont werden,
gegenüber etwaigen skeptischen Kritikern, die an einem
Syndrom leiden, laut dem das Schreiben auf einen unheilbaren,
stets verdächtigen Narzissmus zurückzuführen ist.
Die Autobiografie kann zweifellos ein fragwürdiges
exhibitionistisches Schauspiel sein, sie kann aber auch – und
darum geht es uns – eine unersetzbare Gelegenheit sein, sich
in Formen des Denkens, der Reflexivität, des Befragens zu
versuchen, die allein wegen der Arbeit an sich selbst, die sie in
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Gang bringen lohnend sind, da sie einen Selbstlern- und
Selbstbildungsprozess auslösen.
Für uns also hätten die persönlichen, tagebuchartigen oder
memoirenhaften Aufzeichnungen, die in der zweijährigen
Schule der Freien Universität angeregt wurden, nur das
schwierige und anspruchsvolle (wegen der möglichen Folgen,
die das retrospektive oder introspektive Sichbetrachten stets
mit sich bringt) propädeutische Moment darstellen sollen, das
sicherlich notwendig ist, um zu lernen, wie man von der
Selbstanalyse der eigenen Welt zur Neugier für die Welten und
Geschichten der anderen gelangt, die so verschieden von den
unseren und diesen doch so ähnlich sind.
Das autobiografische und biografische Schreiben sollte somit
eine Art virtuoses Hin und Her besiegeln (und dieser
Verpflichtung blieben und bleiben wir treu), gleichsam eine
gegenseitige Abmachung, die den Übergang vom Recht, sich
ohne allzu große Nachsicht und Selbstgefälligkeit mit sich
selbst zu beschäftigen, und der Pflicht, sich darum zu
bemühen, die Geschichten derjenigen zu bewahren, die keinen
Zugang zum Schreiben finden konnten oder wollten,
erleichtern sollte. Oder die vorher nie gedacht hätten, dass sie
– wie Elias Canetti sagte – zu ihrem eigenen Roman werden
könnten.
Diese berühmte literarische Persönlichkeit wird so zum
Symbol eines Lebens, das, wie es auch war oder ist, stets
abenteuerliche Züge bewahrt. Allein schon wegen der
Wechselfälle, die wir unweigerlich erleben, wegen der
Veränderungen, denen wir uns unterzogen haben, wegen der
Schlusspunkte, die wir erreicht haben, oder wegen der
Horizonte, die für immer unantastbar bleiben werden.
Im Grunde haben wir mit dieser Idee, die dann bei
jeder Auflage der Schule, und nicht nur hier, aufs Neue
unterbreitet wurde, nichts anderes getan, als einen langen und
beschwerlichen menschlichen Weg wiederaufzunehmen und
zu aktualisieren, der mit der Veranlagung und Neigung
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zusammenfällt, das individuelle Leben darzustellen, und zwar
in seinen einmaligen und gültigen Formen, nicht nur materiell
zu leben.
Lang, sehr lang bevor Saverio Tutino und ich im Jahr 1998 die
Freie Universität gründeten, war es sicherlich bereits „gute
Praxis“, sich die Geschichten der Menschen anzuhören, sie
aufzuschreiben, sie zum Zeugnis eines Lebens zu machen,
aber nicht zu historischen oder literarischen oder später
wissenschaftlichen Zwecken. Diese Praxis hatte bereits alle
Voraussetzungen, um sowohl unter dem Gesichtspunkt der
Anerkennung als auch der Dankbarkeit geschätzt zu werden.
Allerdings konnten sich dessen, wie wir wissen, nur begrenzte
aristokratische
Kreise
und
privilegierte
Schichten
jahrtausendelang erfreuen. (Privilegiert waren sie auch deshalb,
weil sie die Möglichkeit hatten, Schreiber zu dingen, die bereit
waren, das zu schreiben, was derjenige, der bezahlte, am
liebsten von sich lesen wollte).
Auf jeden Fall, und abgesehen davon, dass dies auch ein
einträglicher Beruf war, sind die Versuche, jemand abzubilden,
seine Gesichtszüge zu skizzieren und ihm dann die Zeichnung
zu schenken (oder zu verkaufen); ein Gedicht zu schreiben,
das von den Gefühlen beseelt ist, die eine Person auslöst, und
es ihr dann zu widmen (oder zu zerreißen); eine lobende
Inschrift ad memoriam zu verfassen (und dann auszulöschen)
usw., geleitet von unterschiedlichen Leidenschaften und
Interessen, vertrautere und intimere Formen, die auf eine alte
Gepflogenheit von großem humanem, humanistischem und
humanitärem Wert zurückzuführen sind.
Eine dreifache Orientierung
Im ersten Fall, weil die Geste des Bewahrens der
Erinnerung, des Erscheinungsbildes, der beispielhaften Tat
von irgendjemand in ihrer ganzen einfachen Affektivität zu
sehen ist; als Symbol einer gebührenden Dankbarkeit.
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Im zweiten, weil mit diesem Akt, und in einer mehr kulturellen
und philosophischen Bedeutung, die ganze Wertschätzung des
Subjekts, des Individuums, der Person in ihrer unwandelbaren
biografischen Einmaligkeit ausgedrückt werden soll.
Und schließlich stellt in der dritten Option – in Wahrheit aber
können alle miteinander verflochten zu einer authentischen
auto(bio)grafischen Ethik führen – das Erzählen über eine
Frau oder einen Mann in schriftlicher Form oder in einer
anderen Kunstform, wenn sie nur sehr schlicht und einfach
ist, einen Modus dar, der uns zu den Motiven der heidnischen
Pietas, der christlichen Caritas und der Compassio, auch des
Orients, zurückführt.
Also nicht nur in jüngerer Zeit, und keinesfalls nur aus
Forschungsgründen oder um die ganze Vitalität einer
mündlichen und ungebildeten Kultur zu bezeugen, die sonst
kein Andenken hinterlassen würde, gibt es die Biografien oder
auch nur die eine oder andere Daseinsbotschaft, die sich vom
historiografischen Genre zum unmissverständlichen Zeichen
oder Symptom eines Wissens des individuellen Andenkens
gewandelt haben, das noch glaubt, dass es wichtig ist, eine
Ehrerbietung zu erweisen, die nicht mehr schönrednerisch,
lobend, rühmend, vorgetäuscht oder gar eindeutig verlogen,
sondern in ihrer Wesentlichkeit und in ihrem Realismus
einfach und bescheiden ist. Realismus, den man auf jeden Fall
gelegentlich stilistisch umgestalten und verfeinern muss –
ohne allerdings die Erzählung zu verfälschen –, aber nur damit
eine Erzählung dichter, lebhafter und spannender wird.
Kurz und gut, von den sokratischen Dialogen zu den
Evangelien bis hin zum Blütenkranz des heiligen Franziskus –
um nur einige der bekanntesten Zeugnisse des Denkens oder
Glaubens zu zitieren, auch wenn es davon weit atavistischere
Spuren gibt – begegnen wir seit Jahrtausenden der überaus
wichtigen Funktion, die von Plato in der einen Situation, von
den kanonischen oder apokryphen Evangelisten in der
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anderen ausgeübt wurde, oder auch von Anhängern einer
wandernden Gemeinschaft (ganz zu schweigen von Plutarch,
Vasari und Tausenden unbekannten Schreibern, Hagiografen,
von bedeutenden oder unbedeutenden Geschichten und
Taten), nämlich mit der Schrift das zu bewahren, was sonst
unweigerlich in Vergessenheit geraten wäre.
Was wären wir, auf anderen Ebenen, ohne die sokratische
Philosophie, ohne die heiligen Schriften, die beispielhafte
Biografien aufleben lassen, die Geschichten Buddhas und
vieler anderer, die selbst keine Zeile geschrieben haben?
Wenn wir zwischen Wahrheitsgehalt und durch das Schreiben
bedingter mythischer Verklärung nicht auf eine Unzahl von
Schreibern hätten zählen können, die entweder Kopisten aus
Berufung waren oder es zum Vergnügen, aus Leidenschaft
oder Liebe zum anderen taten, bis hin zum hartnäckigen
Bewahren dessen, was dieser in ihren Augen war oder
verkörperte?
Schließlich macht uns die Bereitschaft, uns um Erinnerungen
„an Stelle von“ zu kümmern, an Stelle ihrer legitimer Urheber,
zu Bewahrern von Geschichten, in aller Bescheidenheit
unserer Arbeit. Das geschieht – und sollte immer mehr
geschehen – bei der Ausführung der alltäglichen oder
außergewöhnlichen Aufgaben, für die wir zuständig sind,
wenn wir uns beruflich oder als Freiwillige um die anderen
kümmern, ein Bemühen, das jene dreifache Bedeutung, die wir
erwähnt haben, in sich zusammenfasst.
Wir sind mehr human, weil das Schreiben unsere ganze
Humanität hervorhebt; wir sind mehr humanistisch, weil wir
eine Menschen- und Lebensauffassung haben; wir sind mehr
humanitär, weil wir etwas ganz Einzigartiges tun, eine
„ergänzende“ Tätigkeit oder etwas, das ausdrücklich darauf
ausgerichtet ist, eine neue Art der Pflege – die Pflege des
dialogierenden Zuhörens, der Erzählung, ihrer Bewahrung –
und Begleitung einzuführen. Sowohl gegenüber dem
Menschen, dem wir zufällig oder aufgrund eines
ausdrücklichen Hilfeansuchens begegnen, als auch gegenüber
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denjenigen, die um ihn kreisen und die niedergeschriebenen
Worte geschenkt bekommen werden, die sich auf jemand
beziehen, den man zu kennen glaubte, und die ihn oder sie
zum Protagonisten eines Textes machen, der es uns
ermöglichen wird, sie noch näher, noch besser
kennenzulernen; oder vielleicht werden wir auch beim Lesen
entdecken, dass wir sie im Grunde überhaupt nicht gekannt
haben.
„Den anderen schreiben“ wird folglich zu einem gleichzeitig
beschreibenden, rekonstruierenden, enthüllenden Werk: das
nichtsdestoweniger problematisierend ist.
Denn weder werden wir, und schon gar nicht wird der andere
jemals imstande sein, eine endgültige und sichere Erkenntnis
darüber hervorzubringen, was er/wir im Leben war/waren.
Eine soziale Praxis, die über sich selbst hinausgeht
In viel jüngeren Zeiten bleibt in Italien in diesem
Zusammenhang Nuto Revelli, der namhafte Gelehrte, der die
Bauernkultur untersuchte, ein unübertroffener Meister in
dieser Kunst der Wiedergabe. Neben ihm, dessen
Beharrlichkeit als Erforscher und Hüter der Stimmen der
mündlichen Welt höchste Anerkennung verdient, gab es noch
viele andere, die in einer Art solidarischem Instinkt
aufschrieben, was die Menschen über sich berichten wollten.
Ganz zu schweigen von der ganzen europäischen
literarischen Tradition auf dem Gebiet der Biografie, die heute
endlich aufgewertet wird und die sich damit befasst, Porträts
in Worten zu sammeln, von bescheidenen oder berühmten
Persönlichkeiten, um daraus eine Sammlung zu machen oder
sie ihren Erzählern zu verkaufen. Ihnen allen, den
bekanntesten und wiederum denjenigen, die im Verborgenen
gearbeitet haben, gilt unser Dank.
Mit der Gründung der Freien Universität unter dem
Einfluss der stetigen Arbeit des Tagebucharchivs von Pieve
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Santo Stefano, des unersetzlichen Bezugspunktes für jeden,
der seine eigenen Aufschreibungen oder die anderer nicht sich
selbst überlassen möchte, wollte man – zumindest in unserem
Land – einem staatlichen Programm Gestalt und offiziellen
Charakter verleihen, das sich diese Traditionen zunutze
machen und junge und weniger junge Menschen in eine nicht
alltägliche ehrenamtliche Tätigkeit im sozialen und zivilen
Bereich einbinden sollte. Eine Tätigkeit, die sich also nicht
darauf beschränkte, den Menschen beizustehen, die am
meisten Schwierigkeiten haben, die allein sind, krank sind,
unter Depressionen leiden, um ihnen unter die Arme zu
greifen und eine Hilfe zu bieten, die sich nicht auf ein gutes
Wort gründet, sondern auf die uneingeschränkte und niemals
zensierbare Wertschätzung ihrer Worte. Das heißt, eine
Tätigkeit, die darauf ausgerichtet ist, sie zum Erzählen
anzuspornen, zum Gespräch zu ermutigen und sie auch
anzuregen, etwas von ihrem Leben und ihrem Tagesablauf in
Erinnerung zu bringen; diese Praxis des AufmerksamkeitSchenkens wurde früher von einer Gemeinschaft spontan
gegenüber ihren Kranken und Alten angewendet, um sie aus
der Trägheit, aus einem Zustand der bedingungslosen
Annahme des Unabwendbaren, herauszuholen. Denn wenn
das Wort – wie Freud sagte – die Therapie ist, dann gilt das
nicht minder für das Schreiben über sich selbst und für die
Möglichkeit, dass sich jemand mit uns befasst und nur über
uns und über alle, an die wir uns erinnern, schreibt. In einer
ununterbrochenen
Folge
von
Erinnerungen
und
denkwürdigen Bewahrungen. Gerade angesichts der Tatsache,
dass diese Formen des physiologischen und spontanen
Solidarismus allmählich verloren gehen und sich immer
weniger im mündlichen Heraufbeschwören und Bewahren
dessen äußern, was die Verstorbenen oder die noch Lebenden
verkörpern, erschien es der „mnemonischen Gemeinschaft“
von Anghiari, erschien uns von der Freien Universität richtig,
Initiativen wie die hier vorgestellten zu fördern und zu
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verbreiten, die an die Stelle oder an die Seite dessen treten
könnten, was man früher zu tun pflegte.
Vielleicht ohne Papier und Bleistift, aber bestimmt mit
demselben Geist, derselben humanen und zivilen Berufung.
Bei den gesammelten Erzählungen, also den
Geschichten von Lara, Monia, Jolanda und Roberto, Riccardo
sowie Sonia, handelt es sich um Geschichten des Leidens, aber
auch des persönlichen Widerstandes und des Daseinswillens.
Sie wurden, wie viele andere, von den Schreiberinnen und
Schreibern gut aufbewahrt, die dank des Einsatzes der
Fachfrauen Lucia Portis und Maria Grazia Soldati von der
Freien Universität in diesem neuen Lehrgang ausgebildet
worden waren.
Dass man diesen Geschichten eine lyrisch-literarische
Form verliehen hat, ohne auf eine pedantische Rekonstruktion
von Fakten und Begebenheiten zu achten, ohne auf die strikte
Einhaltung der Unterscheidung zwischen dem Wahren und
dem Imaginären (nicht Phantasievollen), das vom Schreiben in
Szene gesetzt wird, zu bestehen, stellt schließlich eine Art des
Denkens und Anerkennens dar, die nichtsdestotrotz vor den
vielen parallelen Initiativen verteidigt werden muss, die sich –
aus opportunistischen Interessen, die nicht neu sind – gewiss
nicht an jene Grundsätze halten, die dagegen von Anfang an
unsere Arbeit beseelen.
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GESCHICHTE EINES VORHABENS
Maria Grazia Soldati, Kursleiterin FUA
Wissenschaftliche Projektkoordination
Das Projekt „Mnemon“, das von einer Gruppe von
Forschern, Mitarbeitern und Freiwilligen verwirklicht wurde,
die im Sozialsprengel Leifers-Branzoll-Pfatten tätig sind,
entsteht aus dem Wunsch heraus, die Lebensgeschichten
einiger Menschen zu sammeln und zu erzählen, die in diesem
Gebiet leben. Ganz unterschiedliche Geschichten, so wie es
die verschiedenen Existenzen sind, die aber durch das gleiche
Schicksal verbunden sind: die Lebenssituation, die durch das
gekennzeichnet ist, was man Behinderung nennt.
Diese Geschichten zeigen, wie diese Menschen im Verlauf der
Zeit Mut bekommen haben, nicht zu resignieren, und wie in
einigen von ihnen und in ihren Familienangehörigen das
Bewusstsein gewachsen ist, dass sie einzigartige und besondere
Menschen sind.
Die befragten Erzähler sind Menschen mit anderen
Fähigkeiten, und genau sie wurden gebeten, von sich zu
erzählen, angespornt durch ein Interesse und ein stilles
Zuhören, das imstande war, ihre Stimme zum Erklingen zu
bringen.
Mit Hilfe dieses Echos wollten die Forscher weiters auch
jenen vielen Menschen eine Stimme verleihen, die fern von
allem Lärm versuchen, mit ihren schwierigen Bedingungen
zurechtzukommen – nicht immer aufgefangen von der
örtlichen und sozialen Gemeinschaft –, und denen es gelingt,
ein würdevolles Alltagsleben zu führen, wenn es durch das
Vorhandensein jener Wünsche getragen wird, die jede/r
Biograf/in aus den Geschichten heraushören konnte, die
ihm/ihr erzählt wurden und die er/sie aufgeschrieben hat.
Die Erzähler verleihen nämlich sich selbst Ausdruck, ihrem
persönlichen oder familiären Lebenslauf, wobei die einen die
Behinderung in persona erleben, die anderen ein Kind oder
einen Bruder im Leben begleiten. Mit Hilfe des geschriebenen
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Wortes eines Mnemons, der ihnen zuhört und zur Seite steht,
können wir heute eine Botschaft in Umlauf bringen, Wissen
und Erkenntnis schaffen, den Sinn aufzeigen, der diesen
Leben gegeben ist, die uns bisweilen sehr fern und anders
erscheinen mögen.
Die erzählten und dann aufgeschriebenen Worte können
einem Erlebnis die Historizität wiedergeben, und darum
verpflichtet uns das Mnemon-Vorhaben zu Respekt und
Aufmerksamkeit gegenüber denjenigen, die uns aus einer im
Vergleich zu den gesellschaftlichen Schönheits- und
Vollkommenheitsmodellen anderen und benachteiligten
Position zeigen, dass sie in der Lage sind, wertvolle
Ressourcen wie den Willen und die Lebenskraft zum
Ausdruck zu bringen.
Das ist also einer der Gründe, die diese Gruppe von Personen
dazu bewogen haben, sich dafür einzusetzen, dass diese
Botschaft verbreitet wird: die soziale und kulturelle, vor allem
aber ethische Überzeugung, die auch durch den
autobiografischen Ansatz und das Sammeln der Geschichten
unterstützt wird, dass man der Person, dem menschlichen
Wesen, das wir selbst und die anderen sind, im Zuhören und
Kennenlernen begegnet.
Das ist ein erhabener Grund, weil er uns eine wertvolle neue
Sehweise bietet, die es uns ermöglicht, die Welt der Menschen
mit anderen Fähigkeiten zu erkunden, indem man ihnen das
Wort erteilt. Wir stellen dann fest, dass wenn der Erzähler
oder Zuhörer ein Beobachter dieser Welt ist, sich der Schmerz
und die Angst vor der Beeinträchtigung in den Gefühlen von
Unbehagen, Ohnmacht und Wut gegenüber dem Leben zeigt.
Wenn wir aber mit Hilfe der Worte der Akteure in diese Welt
eintreten, verändert dieses Gehen unseren Blick gegenüber
den Erzählungen über sich selbst. Diese werden nicht
vorgetragen, um falsches Mitleid zu erregen, sondern sie
werden mit einer Offenheit in Angriff genommen, die nur
gegenüber einem interessierten und begierigen Zuhören
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möglich ist, auch wenn es zuweilen noch verlegen und
verunsichert sein kann, ohne dass man es deswegen aufgibt.
So soll also durch das Aufschreiben dieser Lebensgeschichten
der ganzen Bevölkerung des Sprengels, und nicht nur ihr, eine
einfache, aber fruchtbare Lebensbotschaft übermittelt werden:
die ethische Kraft dieser Existenzen, die vom Bewusstsein
ihres Soseins durchdrungen sind, ihres Andersseins, das ihren
Handlungsspielraum einschränkt, nicht aber ihren Wunsch
nach Austausch und Begegnung mit den anderen.
Das Projekt Mnemon wurde von Duccio Demetrio1 konzipiert
und von der Freien Universität für Autobiografie von Anghiari
in verschiedenen Ortschaften Italiens gefördert und
durchgeführt. Es besteht in der Ausbildung von Freiwilligen
und Mitarbeitern, die sich mit dem Sammeln und
Aufschreiben der Autobiografien von Menschen befassen, die
nicht in der Lage oder imstande sind, das Recht auf Erzählung
ihrer eigenen Lebensgeschichte zu verwirklichen.
Da jede autobiografische Erzählung nicht nur den Einzelnen
menschliche und existenziale Identität und Würde zurückgibt,
sondern auch eine entscheidende Funktion der Begegnung
und des kulturellen Fortschritts einer Gemeinschaft hat, wird
man sich (falls diese Ansicht geteilt wird), um ihre
Sozialisation auch in künstlerischen Formen kümmern.
Konkret sieht das Projekt vor:
1) die Anfangsausbildung;
2) das Sammeln und Aufschreiben der Geschichten;
3) die Supervision des hervorgebrachten Materials;
4) eine öffentliche Veranstaltung mit Verbreitung der
gesammelten Geschichten.
1 Duccio Demetrio, Professor für Erwachsenenbildung und Philosophie der Erziehung an der Universität
Mailand-Bicocca und gemeinsam mit Saverio Tutino Gründer der Freien Universität für Autobiografie von
Anghiari.
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Die Anfangsausbildung „Wie wird man zum
der eigenen Geschichten“ sieht eine
autobiografische Phase vor, in der die Gruppe aufgefordert
wurde, das Drehbuch ihres Lebens zu verfassen und mit Hilfe
des Schreibens einem Ausschnitt von sich selbst Gestalt zu
verleihen. Die Arbeit in der Gruppe hat zudem erlaubt, das
Sich-selbst-Zuhören in der Beziehung mit den anderen zu
probieren. Ein intensives und tiefes Zuhören, damit es
möglich würde, diese Intensität und Tiefe auch mit dem
Aufschreiben der Geschichte, einiger Ausschnitte der eigenen
Biografie, wiederzugeben. Und so ergeben sich
Aufzeichnungen, Reisenotizen wie diese, wenn eine
Mitarbeiterin schreibt: „… wie oft hat man mich ersucht, mein Leben
Revue passieren zu lassen, in meinen Erinnerungen zu stöbern, an die
Vergangenheit zurückzudenken, als Chip und Chap uns in jenem
Klassenzimmer festhielten, damit wir von uns erzählten …. und ich
schüttelte den Kopf …. Dann kreuzte sich mein Blick mit dem von Sara,
von Aisha, von Manuel … wir schlugen die Augen hoch, hoben die
Schultern und fragten uns: „Warum bin ich überhaupt hier?“ Und was
haben wir gelacht, als der Moment des Einvernehmens kam, und wir
stets zusammen ……… glaubst du wirklich, dass ich meine
Angelegenheiten dem Erstbesten erzähle …! Vier Jahre sind seit damals
und seit jenem Tagebuch vergangen. Natürlich ist mir in diesen Tagen
jene Zeit eingefallen. Doch in diesen vier Jahren habe ich einige Sachen
gemacht, andere sind mir zugestoßen … der Tod von Marco, Aisha und
Dimitri in weniger als einem Monat haben mir einen Schmerz zugefügt,
den ich vorher nie gekannt hatte …“
Eine weitere Mitarbeiterin, die zum Schreiben aufgefordert
wurde, notiert: „… wenn ich daran denke, warum ich mich heute so
entschlossen fühle, kommen mir zwei Momente in den Sinn, die sich mehr
oder weniger gleichzeitig zugetragen haben.
Auf der einen Seite hatte ich bei der Arbeit, die mich seit jeher sehr und
zumeist in angenehmer Weise ausfüllt, ein emotional aufwühlendes
Erlebnis (ich wurde von einer Person „angegriffen“, und zwar nicht nur
mit Worten), und auf der anderen Seite habe ich in der Partnerschaft eine
Harmonie und Stabilität gefunden, die mich schrittweise auch dazu
Bewahrer
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geführt haben, mich von meiner Herkunftsfamilie zu lösen, sodass ich
selbstständiger geworden bin. Vielleicht haben mich diese beiden Extreme,
das Sich-schlecht-Fühlen (was habe ich falsch gemacht, was habe ich nicht
gut gemacht …), wobei ich die Ursachen dafür immer zunächst auf mich
konzentrierte und mich in Frage stellte, und die Harmonie und das
Glück in der Partnerschaft, dazu bewogen, darüber nachzudenken, wie
wichtig es ist, jeder Sache den richtigen Platz zu geben, also auch mir
selbst und der Achtung vor mir selbst als der, die ich bin. Vielleicht ist es
nur ein Moment unter vielen, doch auch wenn es so wäre, hoffe ich, ein
neues und wiedergewonnenes Stück von mir selbst mitzunehmen, das ich
bei meinem Tun und in den Beziehungen mit den anderen Menschen, die
Teil meines Lebens sind und sein werden, einsetzen kann.
Zum Bewahrer seiner eigenen Geschichte werden heißt also,
zweifach zuzuhören, sich selbst und gleichzeitig dem anderen.
Mit Hilfe dieser relationalen Praxis kann man
Gefühlsäußerungen erkennen, das Echo von Worten,
ausgelöst in einem selbst durch die Erzählung anderer, Echos
und Nachklänge im Zusammenhang mit der eigenen
Erfahrung und Lebensgeschichte, Spuren, denen man
nachgehen sollte, um noch tiefer in sich selbst einzudringen
und imstande zu sein, das, was zu einem selbst gehört, von
dem, was zu anderen gehört, zu unterscheiden.
Ein zweifaches Zuhören, das notwendig ist, um die Beziehung
mit einem kranken und/oder behinderten Menschen zu leben,
der imstande ist, tiefe Empfindungen und Gefühle in uns zu
mobilisieren, Gedanken, Vorurteile, Verbundenheit, Distanz
……
„Wie wird man zum Bewahrer der Geschichten
anderer“ hat versucht, die Fähigkeit zum erzählenden
Schreiben in Mitarbeitern zutage zu fördern, die täglich in
Berufen stehen, in denen kein Platz für derlei Aufzeichnungen
vorgesehen ist.
Auf der einen Seite wurden die Methoden und die Bedeutung
des Sammelns einer Biografie vertieft, auf der anderen Seite
wurde die Bindung zu den ausgewählten Erzählern erkundet.
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War die Ausbildung zum Anhören der Geschichte darauf
ausgerichtet, die Tiefe und Dichte der Empfindungen, der
Gefühle zu erfassen, so konnte die Auseinandersetzung mit
dem Schreiben nur die Suche nach einer Wiedergabe sein, in
der auch die emotionale Dimension zutage tritt. Die Erzähler
auszuwählen bedeutete für die Forscher, die alle beruflich oder
als Freiwillige im Behindertenbereich tätig sind, ihre eigenen
Beziehungen zu beobachten und jene Personen zu bestimmen,
deren Nähe oder Ferne zu einem näheren Kennenlernen
einlud. Es bedeutete, über die räumlichen und zeitlichen
Kompetenzen
der
Erzähler
nachzudenken,
auf
Selbsterinnerungen zu setzen und vorauszuplanen, wie
Bruchstücke von Geschichten zusammengesetzt werden
sollten und welche anderen Personen (Familienangehörige)
einbezogen werden sollten. Es bedeutete ferner, sich anders
darzubieten, einen Vertrauenspakt zwischen Personen zu
schließen, als Forscher, die da waren, um autobiografische
Fragen zu stellen, sich die Geschichte anzuhören,
aufzuschreiben, zu gliedern und dann zu einer nachfolgenden
Lektüre wiederzukommen … Ein, zwei, drei Treffen, bis zur
endgültigen Fassung und der Zustimmung zu ihrer
Verwendung für die Allgemeinheit. Es bedeutete, zu
beruhigen und mitzutragen („Was macht ihr mit dieser Geschichte?
Was machen die Menschen damit? Wozu dient das?“). Eine
etappenweise Arbeit, ein komplexer, niemals einfacher,
bisweilen mühsamer Ablauf, eine Arbeit der Bindung
zwischen dem Forscher und demjenigen, der sich dazu
entschließt, seine Lebensgeschichte allen zu schenken.
Geben Sie sich nun der Lektüre der Geschichten hin,
die, so wie sie niedergeschrieben wurden, eine Überraschung
bereithalten – in erster Linie für uns –, ein unvorhergesehenes
Element, das wir genau nicht vorhergesehen hatten.
Natürlich sind es ganz verschiedene Geschichten, so wie die
Leben der Menschen verschieden sind, doch diese
Aufzeichnungen haben etwas Darüberhinausgehendes, eine
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Inhomogenität, über die wir diskutiert und nachgedacht
haben; wir haben uns entschlossen, sie zu erhalten.
Jede Geschichte ist nämlich zur Botschafterin auch der anderen
Fähigkeiten der Biografen geworden, die versucht haben, wie in
einem Spiegel auch jenes unsichtbare Gut aus Emotion,
persönlicher sowie beruflicher Reflexion und Theorie zu
überdenken und aufzuzeigen, die stellenweise auch mit der
Erzählung verflochten sind. Ein Vorgang, der vom Wunsch
geleitet ist, die Niederschrift dieser Geschichten möge
Bewegung und Kultur über das Thema des sozialen Lebens
der Menschen mit anderen Fähigkeiten zeitigen, Lebensläufe
sichtbar machen, die von Bedürfnissen und Schwierigkeiten
durchzogen sind, aber auch von Wünschen und
Errungenschaften, um über die stereotype Sehweise
hinauszugehen, die das Nichtwissen bei vielen nach sich
ziehen kann, indem auch die positiven und nicht nur die
negativen Aspekte dieser Lebensläufe hervorgehoben werden.
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METHODISCHE ASPEKTE
Lucia Portis, Kursleiterin FUA
Fachfrau für autobiografische Methoden
Der
Erzählung
der
Lebensgeschichten
als
Feldforschung auf dem Gebiet der Ausbildung kommen
verschiedene Bedeutungen zu, die vom Individuellen bis zum
Kollektiven reichen. Bei der Erzählung der Geschichten
verraten die Menschen ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche und
ihre Leidenschaften, gleichzeitig verraten sie, was sie als
Angehörige einer Gemeinschaft oder Gruppe definiert,
welches die Symbole dieser Zugehörigkeit sind.
Mit Hilfe der Erzählung können wir die Habitus beschreiben
und gleichzeitig verändern. Der Habitus besteht in jenen
einverleibten Verhaltensweisen, die zu unserer Identität und
unserer Zugehörigkeit zu einer Kultur gehören und die wir
schwerlich erkennen, wenn wir sie nicht mit Hilfe der
Erzählung beschreiben.
Genau aus diesem Grund werden die Lebensgeschichten in
der Forschung verwendet, weil sie das Verständnis der
kollektiven Bedeutungen innerhalb einer Vielzahl von
individuellen Erzählungen erlauben.
Die Erzählforschung sagt uns viel über das Anderssein, aber
auch viel über die Identität.
Die Identität ist nicht jenes verwesentlichte Selbst, an
das uns die positivistisch geprägte Psychologie gewöhnt hat
und das mancher objektiv beobachten zu können glaubte,
sondern eine sich verändernde Identität, ein erzählendes, also
bewegliches und changierendes Selbst, in der Art von Bruner.
Jerome Bruner sagt nämlich, dass die Reflexivität, das Prinzip,
welches das Selbst darstellt, „unsere Fähigkeit ist, sich der
Vergangenheit zuzuwenden und die Gegenwart im Licht jener
Vergangenheit zu verändern oder auch die Vergangenheit im
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Licht jener Gegenwart zu verändern“2. Die Identität ist also
historisch und kulturell, das heißt, in eine Zeit und einen Ort
eingebunden.
Durch die Erzählung der eigenen Geschichte zeigt und
verändert sich die Identität.
Die Identität ist das erste Thema, das in der Erzählforschung
festgestellt wurde, das zweite ist das Anderssein.
Durch die Erzählung der Geschichten verstehen wir den
anderen, und zwar den anderen, so wie er vom Erzähler, aber
auch vom Zuhörer dargestellt wird. Der Forscher ist niemals
ein neutrales und anonymes Wesen, der Forscher ist derjenige,
der sich Fragen über die Bedeutungen stellt, die er dem
beimisst, was er hört, der sich den anderen vorstellt und mit
ihm über die verschiedenen Auslegungen der Geschichte
verhandelt.
Das Endprodukt, die Erzählbiografie, ein schriftlicher Text, ist
immer das Ergebnis des Erzählers und desjenigen, der die
Erzählung sammelt.
Das dritte Thema betrifft die kollektiven Bedeutungen,
die Beschreibung des Habitus. Pierre Bourdieu, ein
französischer Soziologe, definiert den Habitus als „die
Gesamtheit der einverleibten und psychischen Anlagen, die
sozial konstruiert sind“; diese bilden schließlich die kollektiven
Vorstellungen. Der Habitus ist durch die Gesellschaft
strukturiert, gleichzeitig aber strukturiert er die Wirklichkeit; er
ist ein Begriff, der individuelle Merkmale und soziale
Merkmale eng miteinander verknüpft.
Die Erzählung gibt uns heute eine immer unbeständigere und
sich verändernde Wirklichkeit wieder. Die Worte, die wir
verwenden, um die Welt zu beschreiben, sagen uns viel über
2 Jerome Bruner, La ricerca del significato, Bollati Boringhieri, TORINO 1992, S. 108. Dt.: Sinn, Kultur und
Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag, 1997. Orig.: Acts of
Meaning, Cambridge: Harvard University Press, 1991.
21
die Einverleibung, das heißt, über unsere auch körperliche
Wahrnehmung der Wirklichkeit.
In diesem Sinn werden die Geschichten zum Spiegel unserer
Zugehörigkeit, unseres Habitus, unserer Einverleibung.
Wir können die Erzählforschung verwenden, um
kennenzulernen, um zu interpretieren, aber auch um in der
Gemeinschaft zum Nachdenken über die eigenen
Zugehörigkeitssymbole, die eigenen Stereotype und Vorurteile
anzuregen.
Die Erzählforschung steht innerhalb des erzählenden
Denkens in Gegensatz zum paradigmatischen Denken, das
definiert und erklärt, die typische Sprache der Wissenschaft,
während das erzählende Denken das Verfassen von
Geschichten als Modelle für die Interpretation der
Wirklichkeit bevorzugt. Bei der Erzählung geht der Verstand
mittels Zuschreibung von Bedeutungen vor, unterstreicht
dadurch die semantischen Aspekte und wandelt die Erfahrung
in eine zusammenhängende Geschichte um. Beim Verfassen
der Geschichte verbindet der Verstand die Elemente im
Verhältnis zu einer Aktion, zur Absichtlichkeit, zu den Mitteln
und Motivationen, gemäß einem Netz, das die Folgerichtigkeit
der Geschichte nachdrücklich betont und versucht, das
Verhältnis zwischen den einzelnen Teilen und dem Ganzen
wiederherzustellen.
Der autobiografische Ansatz
Die
autobiografische
Ausrichtung
bei
der
Erwachsenenbildung entsteht in den 1990er-Jahren in
Mailand, und zwar im Rahmen der von Prof. Duccio
Demetrio koordinierten Forschungsgruppe „Condizione
adulta e processi formativi“ (Situation der Erwachsenen und
Bildungsprozesse) der staatlichen Universität.
22
Es sind mehrere Gründe, die die Gruppe zur
autobiografischen Praxis sowohl im Bildungs- als auch im
Forschungsbereich bewogen haben:
Das Interesse für eine wissenschaftliche Dimension des
Erwachsenenalters und der Erwachsenenidentität, ausgerichtet
auf die empirische und hermeneutische Dimension, die fruchtlose
Verallgemeinerungen vermeiden soll
Die Konzeption der Entwicklung und des Lernens als
dynamischer Prozess und Möglichkeit zur Veränderung
Die Bedeutung, die Fähigkeit zum biografisch bedeutsamen
autonomen Lernen zu erkennen
Das Erfordernis, die Forschung und die Position des Forschers
von einer neuen Seite zu betrachten, und zwar als denjenigen,
der bei der Erzählpraxis seine Subjektivität ins Spiel bringt
Das Bewusstsein der Wechselseitigkeit von Forschung, Bildung
und Erleben.3
Der autobiografische Ansatz stellt also das Interesse für
die Lebensgeschichten, für die Bedingungen und
Erkennungsprozesse, die die Erzählung in einer Bildungs- und
Erziehungsperspektive ermöglichen, in den Mittelpunkt: ein
autopoietischer Prozess, in dem man Ereignisse,
Entscheidungen und Gefühle ordnet und ihnen Sinn verleiht,
ein Lernprozess, der an den zentralen Zusammenhang
Erfahrung-Erkenntnis gekoppelt ist, und gleichzeitig, parallel,
ein Prozess der Wiederlancierung der eigenen Projekte sowie
der Öffnung und Neugier gegenüber der Subjektivität des
„anderen“.
Der autobiografische Prozess wickelt sich also zwischen
zwei unterschiedlichen Momenten ab: einem selbstreflexiven
Verfahren (autobiografische Erkundung), das auf die eigene
Geschichte zurückblickt und aus dieser den Sinn begreift,
3 Micaela Castiglioni, La ricerca in educazione degli adulti. L’approccio autobiografico, Edizioni UNICOPLI,
Milano 2002.
23
einen organisierten und komplexen Text hervorbringt, der ein
Medium verwendet (eine schriftliche Autobiografie, eine
mündlich erzählte Lebensgeschichte, ein Erzählinterview), und
einem zweiten, „rechtsgeschäftlichen“ Verfahren, einer auf
verhandelter Interaktion beruhende Arbeit über die
kollektiven Bedeutungen, bei der die Gruppe, die am Prozess
der Bildungsforschung und/oder -arbeit beteiligt ist, Sinn und
Bedeutungen der Erlebnisse entdeckt, hervorhebt, lanciert,
vergleicht (ein griechischer Chor, der die Höhepunkte
unterstreicht). Die individuelle Geschichte wird zu einer in
ihren
Kontext
(zeitlicher,
sozialer,
kultureller,
gemeinschaftlicher Kontext) eingebetteten Geschichte,
gleichzeitig wirft sie das Licht ihrer ursprünglichen
Einzigartigkeit auf den Kontext.
Der autobiografische Ansatz betrachtet die Forschung als
Prozess der gemeinsamen Schaffung von Bedeutungen, in
dem alle Beteiligten zu Akteuren werden: Forscher und
Gesprächspartner, Fachleute und „Bürger“.
Der Prozess hat die Merkmale der Aktionsforschung,
das ist eine Art der Forschung, die in dem Moment, in dem sie
durchgeführt wird, Veränderungen herbeiführen möchte. Das
Grundmerkmal der AF ist nämlich, dass sie die den Erwerb
von Kenntnissen (wobei vorwiegend qualitative Instrumente
wie Tiefen- oder Erzählinterviews, Fokusgruppen, örtliche
Tische, Foren usw. verwendet werden) mit der Durchführung
von Aktionen verbindet, die sich gleichzeitig auf die soziale
Wirklichkeit auswirken, die Objekt/Subjekt der Untersuchung
ist.
24
Besonderheiten und Phasen der autobiografischen
Forschung
Die autobiografische Forschung ist, wie gesagt, durch
die aktive Einbeziehung aller am Prozess beteiligten Akteure
gekennzeichnet.
Die verschiedenen Phasen sind folgendermaßen aufgegliedert:
1) Die gemeinsame Ausarbeitung des Projekts mit allen
Akteuren, die durch Sensibilisierungsaktionen
einbezogen werden können.
2) Ausbildung der Geschichtensammler, unterteilt in
zwei Stufen:
eine erste Stufe, die mehr im Hinblick auf das Selbst
und die eigene Geschichte strukturiert ist;
eine zweite Stufe, die mehr im Hinblick auf das
Sammeln der Geschichte des anderen strukturiert ist.
3) Überwachung des Sammelns von Geschichten
Am Ende des Ausbildungsganges werden die
Teilnehmer aufgefordert, die Gesprächspartner zu
bestimmen, um ihre Geschichten zu sammeln und sie
im Zuge der verschiedenen Erzählgespräche
zurückzugeben.
Während des gesamten Ablaufs werden sie von einem
Fachmann für autobiografische Methoden betreut.
4) Veröffentlichung
Die gesammelten Geschichten werden analysiert und
durch eine Publikation nutzbar gemacht, die allen zur
Verfügung gestellt wird, die die Bedeutung des
Erlebens begreifen wollen, sowie auch noch durch
andere Mittel und Ausdrucksformen, um der
Allgemeinheit die Möglichkeit zu geben, sich die aus
der Forschung hervorgegangenen Erkenntnisse
anzueignen (Bühnenperformances, Fotoausstellungen
als Begleitung zu den Texten, Internetseiten).
25
Das Endergebnis sollte neben den Erzähltexten auch
innerhalb der Gemeinschaft Wissen und Bewusstsein über die
kulturellen und sozialen Besonderheiten im Hier und Jetzt
hervorbringen, und es sollte zu Überlegungen über die eigenen
Stereotype anregen: die Geschichten legen uns nahe, diese
auszuräumen, weil im anderen gleichzeitig Geheimnis und
Transparenz, Verschiedenheit und Ähnlichkeit vorhanden
sind.
26
RAUSERZÄHLEN AUS DER SPIRALE
aufgeschrieben von Davide, Schulbetreuer
Vorwort
Der ersehnte Augenblick ist gekommen. Aus der
Erinnerung stellen sich Gedanken, Absichten und Orte ein,
die dazu geführt haben, dass das Erlebnis, von dem ich nun
berichte, einen Wert erhält, der über die Worte hinausgeht,
deren tiefer Sinn sich um eine Spirale aus Empfindungen,
Blicken, Gefühlen und Wünschen rankt. Nun geht es darum,
über die Empfindungen zu reden, die ich im Verlauf eines
Weges erlebt habe, an dessen Ende Sonia der ganzen Welt das
wertvolle Zeugnis eines Lebens schenkt, das sie in einem
komplexen Umfeld wie dem der Behinderung verbracht hat,
das aus Hindernissen, aus einem Auf und Ab besteht.
Zu Beginn möchte ich euch sagen, dass unsere Erfahrungen
als Interviewer, Aufschreiber und Bewahrer der folgenden
Geschichten tiefe Veränderungen in der Seele von uns
„Zuständigen“ ausgelöst und uns eine erhöhte Sensibilität
gegenüber den Menschen verliehen hat, denen seit der Geburt
das Recht auf soziale Partizipation vielfach verweigert wird, da
sie als anders etikettiert und deshalb stigmatisiert sind.
Mein Wunsch ist, dass diese Biografie auch für euch Leser zu
einer verändernden Erfahrung werden möge, angefangen mit
dem Kennenlernen und Aufarbeiten einer Erscheinung, die
Verständnislosigkeit, Missverständnisse, Ängste und Vorurteile
verursachen kann: das Anderssein.
27
Mit meiner Arbeit möchte ich euch einfach nur einige
Schlüssel an die Hand geben, mit deren Hilfe es möglich ist,
mit der Wirklichkeit zu interagieren, von der die Menschen mit
besonderen Bedürfnissen umgeben sind, jenseits vom
Vorurteil, das häufig unsere Köpfe und demnach auch unsere
Fähigkeit zur rationalen Analyse der Erscheinungen, die uns
umgeben, blockiert.
Das Zeugnis von Sonia, die Stimme der Erfahrung, Mutter
eines Mädchens mit anderen Fähigkeiten, ist eine Gelegenheit,
um über uns selbst, die anderen und das Verhältnis
nachzudenken, das wir zum Anderssein aufbauen konnten, das
es in jedem von uns gibt.
Das Mittel, das uns nun hilft, an diesem Abenteuer
teilzuhaben, ist das Zuhören: die erste Erfahrung während
eines Gesprächs zum Sammeln einer Lebensgeschichte ist jene
des Zuhörens, danach die Ausarbeitung und nun erneut das
„Zuhören“. Ich lese und höre die mit Erfahrung ausgemalten
Worte, die Empfindungen, die in mir widerhallen.
Eigentlich werden die Möglichkeiten des „Zuhörens“ immer
mehr durch andere Formen der Interaktion ersetzt. Wir leben
in einer Gesellschaft, die von Durcheinander, von Chaos,
Lärm und virtueller Kommunikation gekennzeichnet ist,
infolgedessen gelingt es uns häufig nicht einmal mehr, uns
selbst zu hören, geschweige denn die anderen.
In diesem Zusammenhang unterbreitet uns Alessandro Bosi 4:
„Gibt es in einer Welt von Worten einen Platz fürs Zuhören? Wir
werden zum Reden erzogen, werden ständig zum Mitreden aufgefordert,
werden danach beurteilt und bewertet, was wir zu sagen haben – sind wir
da mit dem Zuhören überhaupt vertraut? Fähig, dem anderen zuzuhören,
aber auch uns selbst, der Umwelt, in der wir leben und den Dingen, die
uns umgeben? Zuhören können ist Kultur und damit eine Veranlagung,
ja sogar eine Fähigkeit“.
4 A. Bosi, A. Campanili, La cultura dell’ascolto nel presente, Unicopli 1997, S. 13.
28
Die Absicht, die dieser Arbeit zugrunde liegt, besteht also
nicht nur darin, den Menschen mit besonderen Bedürfnissen,
die vielfach ausgegrenzt sind, Öffentlichkeitsresonanz zu
verschaffen, sondern auch darin, einen Raum zu schaffen, in
dem man sich aufhalten und zuhören kann, um der
Verflachung, der die Erinnerungen im Lauf der Zeit ausgesetzt
sind, ihre Dreidimensionalität wiederzugeben5, und zwar dank
ihres Wiederauftauchens aus den Tiefen, die sie manchmal
erdrücken.
Die Lebensgeschichte
Ich erinnere mich gut an die Fülle von
Gefühlsregungen, die ich an jenem Abend nach dem Treffen
mit Sonia mit nach Hause genommen habe. Wenn ich an
dieses Erlebnis zurückdenke, spüre ich noch immer die Flut
von Vibrationen in mir hochsteigen.
Sonias Worte, ihre Blicke und ihre Bewegtheit hallen immer
noch wider: es ist, als ob ihre Geschichte in mich
eingedrungen wäre und sich in einem Winkel meiner
Innenwelt breit gemacht hätte.
Im Leben ist die Tiefe unserer Gewissheiten, oder
Überzeugungen, wenn ihr wollt, im Allgemeinen durch das
Auftreten eines günstigen Moments bestimmt: der Augenblick,
in dem man sie übernehmen kann, um sie sich zu eigen zu
machen. Das ist die Absicht, die meiner Arbeit zugrunde liegt.
Nach zehn Jahren Erfahrung im Sozialbereich, zuerst als
Behindertenbetreuer und jetzt als Schulbetreuer, stellt die
Begegnung mit Sonia eine jener Etappen dar, die meinen
beruflichen und persönlichen Werdegang im Verlauf meines
Lebens am meisten geprägt haben.
Ihre Erzählung als Mutter, die Stimme ihrer als Kämpferin
gelebten Erfahrung, verantwortungsvoll und stets auf das
Recht der behinderten Menschen bedacht, in der Gesellschaft,
5 Andrea Rossi. Der Satz ist der Doktorarbeit „Storie di vita nelle tossicodipendenze“ (Geschichten vom Leben
in Drogenabhängigkeit), S. 82, entnommen.
29
in der wir leben, als vollwertige Bürger betrachtet zu werden,
hat in mir jenen Motivationsschub verstärkt, der für alle
unabdingbar ist, die beruflich im Sozialbereich tätig sind.
In diesem Sinn vermittelt die folgende Lebensgeschichte allen
Lehrern, Müttern, Vätern, öffentlichen Verwaltern, Bürgern
und Jugendlichen eine klare Botschaft. Diese Botschaft zu
beachten ist schlicht eine Frage des Lebens oder Todes der
Seele, des Stillstandes oder der Bewegung, des Mutes oder der
Angst.
Ich entschuldige mich bei allen, die beim Lesen dieser Zeilen
eine übermäßige Strenge wahrnehmen könnten. Ich lade aber
dazu ein, darüber nachzudenken, warum es häufig geschieht,
dass man dem Anderssein den Rücken kehrt, obwohl man
weiß, dass wir früher oder später alle jemand brauchen
werden.
Gute Lektüre!
… Lara und Sonia …
Lara, die Tochter von Sonia, wurde freudig begrüßt,
wie alle Neugeborenen.
Die Mutter wusste nicht, dass Lara mit großen Problemen zur
Welt gekommen war, wie sich später herausstellte. Niemand
hatte ihr etwas gesagt. Der Vater, der über die Situation
unterrichtet war, hatte diese verheimlicht, um Lara und seiner
Frau ein unbeschwertes Heranwachsen zu ermöglichen. In der
ersten Zeit hatte Sonia nichts bemerkt und erzählt uns: „Gott
sei Dank, wenn ich gewusst hätte, dass Lara in ihrem Leben nicht gehen
oder sprechen können würde, wäre ich wahrscheinlich verzweifelt und
hätte meine Reaktion auch dramatisch sein können“.
Nachdem ihr die tatsächliche Situation bewusst geworden war,
hat Sonia weiterhin ein ganz normales Leben geführt und Lara
alles tun lassen, was ein gesundes Kind tun würde. Lara führte
sogar ein aktiveres Leben als viele ihrer Altersgenossen und
wuchs mit einem Lebensprojekt auf, das ihr Glück behütet hat
und behütet.
30
Die Mutter lässt sie alles tun, was ein Kind in ihrem Alter
macht, vielleicht auch ein bisschen mehr: Lara ist auf Rutschen
gestiegen, auf Schaukeln, hat gerodelt, mit zwei Monaten hat
sie bereits geschwommen.
In den ersten Lebensjahren stimuliert Sonia ihre Tochter sehr,
unbewusst, denn damals wusste sie nicht, wie wichtig das war;
sie hat es erst im Lauf der Zeit begriffen.
In diesem Zusammenhang wendet sie sich an junge Eltern, die
das Gleiche durchmachen wie sie, und fordert sie auf, nicht
den Mut zu verlieren. Sonia schlägt vor, die eigenen Kinder
mit jeder Art von Anreiz zu stimulieren, auch wenn er banal
oder mühsam erscheinen mag; einen Baum beobachten, auf
Wörter, Geräusche achten: „Mein Glück war es, dass ich verstanden
habe, wie wichtig meine ständige Gegenwart war, so habe ich meine
Arbeit aufgegeben. Das Erste, was man fast immer aufgeben muss, wenn
ein behindertes Kind zur Welt kommt, ist die Arbeit; das Kind braucht
eine konstante Rehabilitation, es stehen zahlreiche ärztliche
Untersuchungen, Verpflichtungen usw. an …“
Der Stress für ihre Familie ist beträchtlich: von der
Verzweiflung zum Nicht-wahrhaben-Wollen, von der Wut zur
Frustration, von der Angst, dass sich der Gesundheitszustand
des eigenen Kindes verschlechtert, zur Hoffnung.
Sonia gesteht uns, dass es schwierig ist: „Ich glaube, anstelle der
Haut wächst dir Leder … ja, ja … Leder wächst dir. Es ist ein
mühsames Gepäck fürs Heranwachsen: man verbittert mit der Zeit, weil
man ständig zu kämpfen gezwungen ist. Wie gern würde ich nur Mutter
sein, aber das geht nicht, weil du dich um alles kümmern und über alles
gut informiert sein musst, was dein Kind betrifft. Fast immer war ich es,
die Vorschläge machen, sich über die Neuheiten bezüglich der technischen
Hilfsmittel für das Haus, für die Schule usw. informieren musste …“
Sie ist der Meinung, dass die Beratung, vor allem die
fachärztliche, Aufgabe der Institutionen sein sollte: es sollte
kompetente Personen geben, die dafür zuständig sind, die
Familie zu entlasten und ihr zu helfen, unbeschwerter zu
leben.
31
In diesem etwas beschwerlichen Lebensabschnitt wurden viele
Energien investiert. Es ist schön zu wissen, dass Lara und ihre
Familie in diesen Jahren vielen Menschen begegnet sind: „Ich
habe viele nette Leute kennengelernt!” erzählt uns Sonia.
„Andererseits aber gibt es Familien, die wegen der schweren Behinderung
– sowohl körperlich als auch geistig – ihres Kindes viele ehemalige
Freunde verloren haben. Das ist grausam! Du musst nicht nur diese
schmerzliche Erfahrung in Angriff nehmen, du musst auch mit der
Gleichgültigkeit und Ignoranz der anderen fertig werden“.
Die wichtigste Person für Sonia in diesen Jahren war ihre
Mutter. Nun, da sie nicht mehr ist, erinnert sie sich mit großer
Sehnsucht an sie und wendet sich in ihrer Erzählung an mich,
mit zitternder, vor Ergriffenheit erstickter Stimme: „Da waren
ich und sie, meine Mutter, mit der Zuneigung vieler Freunde, richtiger
Freunde, die ich seit dreißig Jahren habe und die immer noch meine
Freunde sind. Wir haben andere kennengelernt … viele, viele gute
Freunde“.
„Das ist Laras Verdienst, denn sie ist ein sympathisches junges
Mädchen, eines, das man einfach gern hat, und das war ein wichtiger
Aspekt, der neue Freundschaften hat entstehen lassen. Dann meine
Brüder, Laras Onkel, die sie alle ein bisschen vergöttern, und ich weiß,
dass ich jederzeit auf sie zählen kann.
Diese besonderen Kinder hast du noch mehr lieb, nicht weil ich es sage,
sondern weil sie es sagen“.
Unter den Spezialisten, Physiotherapeuten, Logopäden und
Neuropsychiater haben Lara und ihre Familie häufig
aufmerksame und hilfsbereite Personen vorgefunden: „Unsere
Kinder sind ein bisschen auch ihre Kinder“, versichert sie.
Ihre Kraft und ihr Verantwortungsgefühl haben Sonia
veranlasst, immer auf die Bedürfnisse ihrer Tochter bedacht
zu sein, sich zu informieren und in den verschiedenen
Situationen einzugreifen: “Ich muss die Erste sein, die versteht, was
zu tun ist und was mit meiner Tochter geschieht, ob es Ergebnisse gibt
oder nicht; darum gehöre ich zu jener Kategorie Eltern, die ständig in
alles ihre Nase stecken.
32
Das Vertrauen baust du dir mit der Zeit auf, du spürst es, und ich hatte
das Glück, Personen zu begegnen, die es sich zu verdienen wussten. Wir
Eltern müssen fast jedes Jahr neues Vertrauen zu irgendjemand
aufbauen: es wechselt der Schulbetreuer, der Stützlehrer, der
Klassenlehrer. Wir müssen das Vertrauen regelmäßig wieder aufbauen!
Das ist nervenaufreibend, denn kaum hast du dich an jemand gewöhnt
und weißt, wie er arbeitet, und stellst dich auf ihn ein … zack! …
kommt ein anderer. Verstehst du, die Kontinuität, von der so viel die
Rede ist, ihre Wichtigkeit. Ich hatte jedenfalls Glück, ich habe immer
klar meine Meinung gesagt, und das hat man geschätzt.
Ich habe keine besonderen Ansprüche, ich möchte nur sagen, dass man
bei unseren Kindern nicht mit der Zeit spielen darf: die Zeit bestimmt den
Grad der Selbstständigkeit, der erreicht wird; ob er größer oder kleiner
ist, hängt von der Schnelligkeit und Ernsthaftigkeit der Maßnahmen für
unsere Kinder ab. Wenn zum Beispiel in der Schule ein Computer einen
Monat ausgeschaltet bleibt, weil eine Steckdose fehlt, macht mich das
wütend: wenn eine Steckdose fehlt, gebe ich dir bis morgen Zeit, denn das
Kind muss mit dem Computer arbeiten. Bei solchen Missständen ärgere
ich mich, gerate ich in Streit!“.
Steckdosen!
Die Tatsache, dass es im Erziehungsbereich zu solchen
Situationen kommen kann (die Steckdose! Das ist nur eines
von vielen Beispielen), ruft Zorn und ungläubiges Staunen
hervor.
Ist das Problem generell auf fehlende Motivation, Sensibilität,
Begeisterung für den Sozialberuf zurückzuführen?
Jeder von uns suche sich seine Antwort: ich sage nur, dass die
Verantwortung des Bürgers eine individuelle und
unbestreitbare Verantwortung ist und dass die Qualität der
schulischen und sozialen Integration eines der wesentlichen
Elemente einer Zivilgesellschaft darstellt.
Das Problem betrifft die für die Integration verantwortlichen
„Personen“, weniger ihre Berufsausbildung, ihren Studientitel,
ihr politisches und religiöses Credo: es bräuchte nur ein
Minimum an Menschenverstand, um sehr viel auszurichten,
33
und vielleicht ist es zu idealistisch zu denken, dass im
Erziehungsbereich diese wertvolle Zutat von vornherein
gegeben ist.
Sehen wir nun, was im sozialen Leben der befragten Familie
im Kontakt mit den Menschen, in den täglichen Beziehungen
passiert.
Sonia berichtet uns von einer ganzen Reihe von Situationen,
die mich an verschiedene Episoden in Fernsehserien erinnern,
die einem tragikomischen Sciencefictionroman im Stil des
Bologneser Schriftstellers Stefano Benni entnommen sind.
Ist es etwa die Ausbildung, die wir genossen haben, das Erbe
einer bis zum vorigen Jahrhundert vorherrschenden
katholischen Kultur, durchtränkt mit Angst und
Weltgerichten, die uns unfähig machen, die andersartigen
Menschen in die Arme zu schließen?
Kinder haben sehr viel weniger Vorurteile als Erwachsene, das
wissen wir alle!
Wo liegt also die Grenze zwischen Natur und Kultur,
zwischen Spontaneität und Konstrukt, zwischen Wirklichkeit
und Fantasie?
Und weiter, was bedeutet Normalität? Und Abnormität? Im
Vergleich zu wem und was?
Und du, lieber Leser, traust du dir zu, zu bestimmen, unter
welche der beiden Kategorien du fällst?
Und doch, wenn wir auf der Straße einem Behinderten
begegnen, ist einer der ersten Gedanken: „Der ist nicht
normal“, behindert, armer Teufel, Pech gehabt.
Also, wo ordnen wir uns ein? In die Welt der Normalen?
Habt ihr gewusst, dass man den Begriff „behindert“ überall
dort verwenden kann, wo eine Person wegen des
Vorhandenseins einer „Barriere“ ein bestimmtes Ziel nicht
erreichen kann? Wenn sich zum Beispiel der Bürgermeister ein
Bein gebrochen hätte (wir wünschen es ihm selbstverständlich
nicht), könnte er in Ermangelung eines Aufzugs nicht die
Treppe hochsteigen, also sein Haus nicht betreten. In diesem
Fall wäre der Bürgermeister ein Behinderter.
34
In unserer Kultur jedoch sind die Behinderten nur diejenigen,
die eine körperliche Beeinträchtigung aufweisen, und sie
werden für immer stigmatisiert: die Situation der Behinderung
stellt ein Hindernis dar, das in dem Augenblick überwunden
werden kann, da es auftritt. Alle können im Leben Behinderte
sein, ein, zwei, drei Mal … Den chronisch oder akut
Behinderten gibt es nicht, weil der Begriff der Behinderung
zeitlos ist, vorausgesetzt, wir verwechseln ihn nicht mit dem
Begriff der Krankheit.
Warum also verwenden wir diesen Begriff weiterhin nur für
Personen mit Down-Syndrom oder im Rollstuhl? Die Gefahr
besteht darin, dass man beleidigt! Die Behinderung, die
Einschränkung, kann Teil des Lebens aller sein, jeden Tag,
mehrmals am Tag.
Ich halte es für angebracht, auch über diese Fragen
nachzudenken, um damit zu beginnen, den Akzent auf jene
Aspekte zu legen, die mit dem Begriff „Andersfähigkeit“
verbunden sind: hier geht es nicht darum zu sagen, was besser
und was schlechter ist, welcher Begriff richtig und welcher
falsch ist.
Es ist schlicht eine Frage von … Ändersfähigkeit: andere
Fähigkeiten. In dieser Aussage kann es keine negative oder
positive Konnotation geben, es gibt nur die Zuerkennung
einer „anderen Fähigkeit“, jeder hat seine.
Genau diese Zuerkennung erlaubt den Menschen die
Ausbildung einer sozialen Identität: jemand, der sich auf
Holzbearbeitung versteht, wird in der Gesellschaft als Tischler
angesehen, jemand, der zeichnen kann, wird als Maler
angesehen; wird jemand, der blind oder tetraplegisch ist und
sich aufs Schreiben versteht, zuerst als Schriftsteller oder als
Behinderter gesehen? Welches ist seine soziale Identität? Was
zählt mehr, wenn man ihn betrachtet, ihm eine soziale Rolle
zuweist: seine Behinderung oder seine Fähigkeit?
In unseren Augen ist klar, dass zuerst der körperliche oder
sensorische Mangel auffällt, also das Fehlen eines
Körpergliedes oder der Sehkraft. Wenn wir aber andere
35
Schlüssel verwenden würden, könnten wir uns fragen, was im
Leben eines Menschen mit anderen Fähigkeiten vorhanden ist,
nicht nur, was fehlt oder nicht funktioniert.
Ich schließe meine Überlegungen mit der Feststellung, dass
wir zuallererst Menschen sind, mit Fähigkeiten, mit einer
sozialen Identität, die uns die anderen zuerkennen, mit einer
persönlichen Identität, die wir uns selbst zuerkennen.
Im Prozess, der den Menschen dazu bringt, sich eine
persönliche Identität zu schaffen, sind wir also alle
verantwortlich.
Im Licht dieser Betrachtung ist nun der geeignete Moment
gekommen, um über die Aussage von Sonia bezüglich des
Verhältnisses zu den Dorfbewohnern nachzudenken: „Was ich
in der Beziehung zu den Menschen suche, ist die Normalität“, sagt sie
uns. „Ich war erschüttert, wenn ich auf den Spielplatz ging und einem
Alten begegnete, der zu Lara sagte: „Du bist aber ganz schön verwöhnt,
warum isst du dein Keks nicht allein, warum hältst du deinen Schnuller
nicht allein und warum hast du so einen komischen Kinderwagen“; oder:
„Du bist so groß und hast schon so große Zähne, und du kannst noch
nicht gehen?“
„Ich habe einen Lastwagen voller Frustrationen in dieser Hinsicht. Das
war es, was mich am meisten störte; mit den jungen Leuten passierte das
nicht so häufig. Dann gab es auch die kleinen Kinder, die sich fragten,
warum Lara im Rollstuhl saß: es störte mich sehr, wenn der Vater oder
die Mutter das Kind wegzerrte und zu ihm sagte: „Ich sage es dir, wenn
wir zu Hause sind, es hat etwas am Bein“. Das machte mich zornig, weil
es mit den Kindern leicht wäre, über das Anderssein zu reden, auf
natürliche Art. Wenn ich persönlich erklären konnte, warum Lara nicht
tat, was sie taten, verstanden sie das Problem und gingen mit Laras
Schwierigkeiten ganz natürlich um.
Diese Dinge habe ich jetzt überwunden, doch damals waren sie eine
schmerzliche Erfahrung für mich.
Den Kindern aber erklärte ich es, wenn sich die Gelegenheit bot, denn die
Kinder wollen verstehen. Ich beantwortete ihre Fragen und sagte ihnen,
dass Lara auf ihre Art und Weise spielt, und sie spielten mit ihr. Mit
36
den Kindern fiel es mir leicht, während es mit den Alten … lassen wir
das … ich lächelte oder ging weg.
Lara ist immer sehr schön gewesen, sehr hübsch, oft aber passierte es,
während wir spazieren gingen, dass sich manche fast unverfroren
umdrehten und ich dachte: „Zum Teufel, sei doch ein wenig …“, doch die
Alten sind halt so, andererseits sind es nicht viele Jahre, seit die
Behinderten aus dem Haus gehen.
In den Tälern, so hört man, ist es noch schlimmer, da gilt so was als von
Gott geschicktes Unglück, während wir junge Eltern mit unseren kleinen
Kindern immer spazieren gingen. Heute gibt es mehr Bewusstsein
gegenüber der Behinderung und ein Behinderter geht ganz normal aus dem
Haus. Weißt du, wie oft sie mich eine Unglückliche genannt haben? Wir
haben es aber nicht nötig, uns als … die Ärmsten bezeichnen zu lassen!
Das Mitleid brauchen wir nicht!
Ein Blick von oben
Die Aussage von Sonia bezüglich „Mitleid“ erinnert
mich an die Worte in einem Buch, das ich vor einiger Zeit im
Zuge der Abfassung meiner Dissertation gelesen habe. Der
Autor ist Erving Goffman und der Titel des Buches lautet
„Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter
Identität“6. Ich nehme die Gelegenheit wahr, um einige
Betrachtungen dieses bekannten und angesehenen
Sozialwissenschaftlers
des
vergangenen
Jahrhunderts
einzuflechten.
Der „Mangel an Gesundheit“, der häufig einhergeht mit dem
Verlust sozialer Chancen wie zum Beispiel Arbeit, erleidet
nicht selten einen zusätzlichen Schaden: die Demütigung
durch die vielen täglichen Interaktionen, in denen man
zunächst nicht als Mensch behandelt wird, sondern im
Hinblick darauf, was der eigene Zustand darstellt. Der Blick
der anderen hat keine Zeit, sich beim Vor- und Nachnamen
6 Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Suhrkamp, Frankfurt/Main
1967. Orig.: Stigma. Notes on the management of spoiled identity, Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall, 1963.
37
eines jeden aufzuhalten: die Beeinträchtigung und die daraus
resultierende Behinderung haben die Oberhand. Nur wenn die
Absicht und das Interesse vorhanden sind, dem Menschen zu
begegnen, ist man in der Lage, über die „schwer verträgliche“
Wirkung des ersten Etiketts hinauszugehen. Nur so erwirbt
man in den Augen des anderen nach und nach die wirkliche
Identität und wird ein bisschen weniger „krank“, ein bisschen
weniger „bedauernswert“, ein bisschen weniger „behindert“:
der Mangel bedingt die gesellschaftliche Distanz, die
zumindest am Anfang da ist.
Die Beziehungen werden von dem geregelt, was am
offenkundigsten ist: die Blindheit zum Beispiel, die den
Menschen vor unseren Augen verbirgt. Nur im Lauf der Zeit
und mit dem Kennenlernen des Individuums wird das
Verhalten gegenüber jenem „Blinden“ nicht mehr von dem
bestimmt, was seine fehlende Sehkraft in uns hervorruft.
Wenn aber die soziale Vorstellung eines Phänomens an das
Vorurteil gebunden ist und zu Ausgrenzung und Misskredit
führt, ist das erste Zeichen, das die „Andersartigen“ in der
Beziehung spüren, ein Gefühl der Diskriminierung.
„Respekt“ im Sinne einer Einstellung und Haltung der
Achtung gegenüber der Würde oder dem Wert eines
Menschen sowie Behandlung als „Berechtigter“; keinesfalls
eine Leistung, die als Zugeständnis, Entgegenkommen,
gleichsam als unter der Hand erwiesene Gefälligkeit aufgefasst
wird, die auf der einen Seite „Überlegenheit“ und auf der
anderen „Mitleid“ und Bedauern durchblicken lassen kann,
zwei Seiten derselben Medaille, die „Diskriminierung“ heißt.
Das Interview mit Sonia geht weiter, und nun stelle ich ihr die
meiner Meinung nach spannendste Frage, deren Beantwortung
voll und ganz die Absicht erreicht, die realen Aspekte
aufzuzeigen, die das Leben der Menschen mit anderen
Fähigkeiten betreffen.
38
Was lehrt uns Laras Leben?
Sonia antwortet: „Es passiert mir häufig, dass ich Menschen
begegne, die sich wundern, wie viel Energie wir haben. Immerzu etwas
organisieren, Lara in den Rollstuhl setzen und aus dem Rollstuhl heben,
an die 15 Mal täglich, sie zum Skifahren, Schwimmen, ins Kino, zu
einer Ausstellung bringen usw. … und sie fragen sich: „Woher nehmen
die bloß diese ganze Energie?“ Nun … ich muss sagen, dass ich davon
überzeugt bin, dass wenn einem diese besonderen Kinder geschenkt
werden, dann wird uns auch die Kraft geschenkt, sie in bestmöglicher
Weise aufzuziehen. Ich bin auch überzeugt, dass diese Kinder Familien
geschenkt werden, die dann zu besonderen Familien werden. Ich möchte,
dass unsere Erfahrung als Beispiel für alle jene dient, die oft unzufrieden
sind, die sich wegen einer Kleinigkeit entmutigen lassen. Sie sollten das
Leben mit mehr Gelassenheit und Vertrauen angehen, sie sollten sich
bewusst werden, wie glücklich sie sein können, auch nur gesund zu sein.
Alle anderen Probleme lassen sich lösen, man muss es nur wollen und
keine Angst haben, sie anzugehen. Wir fühlen uns glücklich, wir
schimpfen selten darüber, was uns zugestoßen ist. Wir werden allenfalls
dann traurig, wenn wir an die Leiden denken, die Lara wegen ihres
Zustandes durchmacht, für sie ist es mühsam, mit den vielen
Unterschieden fertig zu werden, mit denen sie täglich zu kämpfen hat; sie
wird niemals Moped oder Auto fahren, eigenständig in die Diskothek
gehen können …; sie wird immer jemand haben, der für sie entscheidet,
und sei es auch nur in geringem Umfang, wobei zumindest die Hoffnung
besteht, dass sie auf Menschen trifft, die sie gern haben, die ihre
Entscheidungen respektieren, die sie liebevoll auf dem Lebensweg
begleiten, der ihr zugewiesen wurde.
Ich bin überzeugt, dass sich viele ein wenig besser fühlen, wenn sie darüber
nachgedacht haben, wie der Tag eines Behinderten und seiner Familie
abläuft.
Das Unglück der anderen hilft dir, dein eigenes als weniger schwer zu
empfinden. Das habe ich oft gemerkt!
Manche sagen zu mir: „Ich weiß nicht, wie ihr das macht“ … man
schafft es, man schafft’s … natürlich sind die Tage schwer wie
39
Ziegelsteine, ab und zu habe ich Mühe, mich um alles zu kümmern, was
im Lauf des Tages anfällt, doch der Mensch passt sich an alles an …
wenn du einen Menschen in den Dschungel schickst, kommt er zurecht.
Wir haben nette Familien kennengelernt, wirklich nette Familien.
Daran denke ich: dass unsere Erfahrung ein positives Beispiel für die
anderen sein kann.
Als Lara klein war und man noch nicht wusste, welche Probleme sie
hatte, sagte einmal jemand, ein Arzt, den ich nicht besonders hoch
achtete, zu mir: „Diese besonderen Kinder haben die Gabe, das Leben
positiv zu verändern, und das Leid, das ihr in diesem Moment
durchmacht, wird euch helfen, bessere Menschen zu werden“ … Ich
erinnere mich, dass mir diese Worte damals im Hals stecken blieben. Im
Lauf der Jahre habe ich feststellen können, dass es tatsächlich so ist. Das
Leiden macht dich zu einem besseren Menschen, … du verstehst Dinge,
die du vorher nicht verstanden hast. Auch ich habe mich darüber
gewundert …
… nicht das schöne Leben verändert dich, sondern das Leiden.
Bevor ich diese biografische Arbeit abschließe und wir die
letzte Antwort Sonias bezüglich des Vorurteils der Menschen
gegenüber der Behinderung hören, möchte ich euch das
bemerkenswerte Zeugnis einer Person unterbreiten, die an
multipler Sklerose leidet: in den meisten ihrer Worte finde ich
den Sinn dieser unserer Arbeit wieder.
Sowohl der gesunde Geist als auch der gesunde Körper können gelähmt
sein. Die Tatsache, dass die „normalen“ Menschen in der Lage sind, sich
zu bewegen, zu sehen, zu hören, bedeutet nicht, dass sie sehen oder hören.
Es kann sein, dass sie vollkommen blind gegenüber den Dingen sind, die
ihr Glück zerstören, taub gegenüber den Bitten der anderen um
Freundlichkeit und Zuneigung.
Wenn ich an die „Normalen“ denke, fühle ich mich nicht mehr gelähmt
oder invalide, als sie es sind.
Vielleicht bin ich in meinem Kleinen ein Instrument, um ihnen die
Augen zu öffnen über die Schönheiten, die uns umgeben: ein warmer und
40
herzlicher Händedruck, eine Stimme, die ungeduldig darauf wartet, einen
Gruß auszusprechen, die Frühlingsbrise, die Musik zum Anhören, eine
Geste inniger Freundschaft.
Diese Leute sind wichtig für mich und es freut mich zu wissen, dass ich
ihnen helfen kann7.
Die letzte Frage, die ich Sonia stelle, lautet: Welches ist die
erste Barriere in unseren Köpfen, die beseitigt werden müsste,
und welches sind die Vorurteile der Menschen gegenüber dem
Anderssein?
„Die erste Barriere, die es wegzuräumen gilt, ist sicher die Angst, die
pure Unwissenheit. Wenn du nicht weißt, wie du einer behinderten Person
gegenübertreten sollst, verhalte dich auf die natürlichste Art und Weise,
die es gibt, so wie du dich einem Freund gegenüber verhalten würdest, der
nicht behindert ist, denn du hast es nicht mit einer gefährlichen oder
ansteckenden Krankheit zu tun.
Stellen wir uns nicht zu viele Fragen, wenn wir jemand sehen, der anders
ist als wir, nehmen wir ihn so, wie er ist!
Ich glaube, dass von allen Formen des Andersseins die Behinderung
diejenige ist, die am meisten Angst macht. Mir fällt ein, wie ich am Meer
war – Lara war gerade auf die Welt gekommen – und noch nicht wusste,
welche Probleme wir mit ihr bewältigen mussten: Im Restaurant befand
sich eine Gruppe Jugendlicher mit geistigen Behinderungen. Tja, in jenem
Augenblick habe ich gebetet, dass nicht auch wir zu jener Schar dort
gehörten … Ich wollte mich wirklich abgrenzen, diese Welt war so fern
von mir. Darum wundere ich mich nicht, dass es so schwer ist, jemand an
sich heranzulassen, der niemals etwas Derartiges durchgemacht hat.
Wenn ich nämlich junge Menschen wie dich sehe, möchte ich verstehen,
was dahinter ist; denn nur wenn du eine entsprechende Erfahrung hast
… einen Schulkameraden, einen Bruder, Onkel, kommst du dieser Welt
näher. Die Behinderung ist noch so weit entfernt von der Normalität.
Meiner Meinung nach steckt immer eine Erfahrung dahinter, die dir jene
7 Ebd., S. 12 (it. Ausg.).
41
Sensibilität verliehen hat, welche dir die Angst nimmt; die Sensibilität,
diese Formen des Andersseins auf natürliche Art und Weise zu erleben.
Wir brauchen Menschen wie dich, Vereinigungen, Freiwillige.
Man muss sich etwas überlegen, um die einen näher an die anderen
heranzubringen.
Die Behinderten sind die Ersten, die Freunde suchen. Wenn ich mich
umschaue, dann sind die Behinderten von zwanzig Jahren aufwärts
häufig zu Hause eingeschlossen und haben nur wenig gesellschaftliche
Alternativen. Mit Schaudern denke ich daran, dass Lara niemals eine
Verliebte sein wird, deren Gefühle erwidert werden, dass sie nicht die
Lebenserfahrungen machen kann, die wir alle gemacht haben. Wissen,
dass sie vielleicht ein Leben in Einsamkeit verbringen wird. Wenn sie
ständige Freundschaften hätte … Wenn jemand kommt und zu ihr sagt:
„Gehen wir Samstag aus?“, schminkt sich Lara, kleidet sich an,
organisiert sich, hat eine unglaubliche Freude. Sie fragt mich oft, warum
sie nicht ausgehen kann wie die anderen …
… nun, das erwarte ich mir von den Nichtbehinderten: Menschlichkeit,
Freundschaft!
Lara fragt mich, warum sie nur mit Behinderten Umgang haben darf, sie
möchte gesunde Leute kennenlernen, normale Leute.
Das ist ein Kummer, der mein Herz bedrückt: außer der Behinderung
auch noch die Einsamkeit.
Unsere Kinder haben das Recht, in einer vereinten Familie zu leben, die
ihnen die Kraft gibt, in eine freudvolle Zukunft zu blicken; ein Recht, das
übrigens allen Kindern der Welt zusteht. Lara freut sich ständig, jeden
Tag, auch wenn manchmal …
… aber noch viel zahlreicher sind die Freuden, die sie uns schenkt …
Ein herzliches Dankeschön für die Unterstützung bei
der Abfassung: Alessandro Colombi, Emil Girardi, Lorena La
Rocca, Elena Lorenzani, Kathrin Steinmann, Giovanna
Mengarda, Nicola Laurora (Autor der Spirale) und Vanessa
Macchia.
42
DIE KRAFT DER TRÄUME
aufgeschrieben von Elena, Schulbetreuerin
Lara ist ein hübsches junges Mädchen von 16 Jahren,
die dichten, lockigen roten Haare lassen sich nur mit Mühe
bändigen, das Lächeln ist verschmitzt und gewinnend.
Die Augen aufmerksam, auch wenn der Blick manchmal
ihrem Willen entgleitet, die Bewegungen sind mühsam,
bisweilen unkontrolliert, aber sie sind imstande, im Verein mit
ihrem hellen und ansteckenden Lachen die Stimmung, die
Gemütsverfassung, die Gefühle auszudrücken, die sie
empfindet.
Die Worte kommen ihr mühsam, aber kraftvoll über die
Lippen, sie sind überlegt, abgewogen, ehrlich, direkt: sie
vermitteln das Bild einer Kämpferin. Am Anfang bin ich etwas
verlegen, ich komme nicht umhin mich zu fragen, ob es richtig
ist, in ihrem jungen Leben zu stöbern. Es genügt ein
Augenblick und sie räumt meine ganze Unsicherheit beiseite.
Ihr sympathisches Wesen bewirkt, dass ich mich sofort
wohlfühle, und sie erzählt von sich, einfach, unbefangen,
aufrichtig.
Als ich ihr Haus verlasse, nehme ich tausend Eindrücke mit,
gehen mir viele Gedanken durch den Kopf. Jenes Mädchen,
das mich kaum kannte, hat mir ihr Herz geöffnet, hat nicht
nur meine Fragen beantwortet, hat mich zur Hüterin ihrer
größten Träume gemacht, Träume, die mich zuerst aus dem
Konzept gebracht und verwirrt und dann berührt haben.
Träume einer Heranwachsenden, die gezwungen ist, im
Rollstuhl zu sitzen, einem Rollstuhl aber, der die Funktion
ihrer Beine übernommen hat, der dazu dient, ihren Körper
aufzunehmen, nicht aber ihre Gedanken, ihren Kopf.
Der Kopf ist auf eigene Faust unterwegs, kann träumen, kann
denken, erlaubt ihr zu studieren, zu lernen, ihr Leben zu
planen. Ihre Gedanken sind nicht unbeweglich wie ihr Körper,
sondern sie fliegen hoch hinaus, oft fliegen sie den Noten
43
eines Liedes hinterher und kreisen mit der Fantasie, leicht wie
eine Libelle.
Auf dem Nachhauseweg, mit der Aufzeichnung unseres
Gesprächs in der Tasche und in den Ohren noch Laras
Stimme, spüre ich den Wunsch, jedem, der mir über den Weg
läuft, von meiner Begegnung mit diesem besonderen Mädchen
zu erzählen. Ich möchte ihnen jenes Gewirr von Gefühlen
mitteilen, das Laras Worte in mir zurückgelassen haben. Mein
Leben ist um eine neue Erfahrung reicher geworden, die sich
an jene anschließt, die mir durch all die anderen besonderen
Kinder zuteil geworden ist, denen ich dank meines Berufes
begegnet bin.
Das kann ich natürlich nicht, aber ich tue es mit Hilfe dieser
Zeilen, damit jeder, der sie liest, ihre Welt kennenlernen,
erkunden und sich damit auseinandersetzen kann, die Energie,
die sie über ihre Worte zu vermitteln vermag, in seine Seele
einfließen lassen kann.
Es ist nicht schwer, in ihre Welt einzutreten, jene unsichtbare
Mauer zu überwinden, die uns von den Behinderten trennt. Es
genügte, ihr in die Augen zu schauen, mit ihr zu reden und ihr
zuzuhören, um zu entdecken, dass sie, obwohl
bewegungsunfähig, fliegen kann.
Ich wünsche allen, dass sie jene Mauer aus unbegründeten
Ängsten überwinden und in bescheidener und natürlicher Art
und Weise auf die Menschen mit einer Behinderung zugehen,
weil hinter dem, was sichtbar ist, eine Welt voll reicher
Normalität steckt.
Lara
Ich betrete Laras Haus auf Zehenspitzen, ihre Mutter
Sonia empfängt mich mit einem herzlichen Lächeln. Hinter
der milden und sanften Erscheinung steckt eine starke, mutige
und entschlossene Mutter. Seit jeher steht Sonia an vorderster
Linie im täglichen Kampf zur Verteidigung der Rechte ihrer
Tochter, um ihr ein normales Leben zu garantieren; das
bestmögliche Leben.
44
Ihre Gegenwart flößt mir Sicherheit ein, ich gehe davon aus,
dass wir uns zu dritt unterhalten werden; ich sehe sie als
wertvolle Verbündete, die mir helfen kann, die Worte ihrer
Tochter ganz genau zu verstehen.
Lara sieht mich aus ihrem Rollstuhl an, schenkt mir ein
Lächeln, ist bereit für das Gespräch und bittet die Mutter, sich
zu entfernen.
Meine Sicherheit wankt, sie aber ist entschlossen; die Mutter
darf nicht dabei sein!
Sie will ihr Leben allein erzählen.
Ich ahne, dass die Kraft und Entschlossenheit ihrer Mutter
jetzt in ihre junge Seele eingemeißelt sind.
Erinnerungen
„Ich heiße Lara, bin 16 alt und lebe mit Mutter, Vater und
einem kleinen Hund namens Luckj, der mir viel Gesellschaft leistet. Ich
erinnere mich, dass die Mutter die Strengere war, als ich klein war,
Vater war stets auf meiner Seite, er verteidigte mich, beschützte mich,
aber ich sah ihn nur abends nach der Arbeit. Mutter hingegen war immer
da, immer anwesend, immer auf meine Bedürfnisse bedacht, immer darum
besorgt, mich zu beschützen. Als ich klein war, brauchte ich sie öfter …
sie half mir bei allem Möglichen. Jetzt wird es mir zu viel! Auch wenn
ich noch auf Hilfe angewiesen bin, ziehe ich es vor … würde ich es
vorziehen, mir von jemand anderem helfen zu lassen, einem
Außenstehenden, einem Freund.
Ich erinnere mich, dass Mutter immer da war … “
Lara wiederholt mehrmals ein Wort, das ich nicht verstehe.
Ich tue, als ob nichts wäre, fahre fort, stelle ihr eine andere
Frage, doch sie besteht darauf, wiederholt das Wort noch
einmal und immer wieder. Endlich verstehe ich: „Leider“.
Leider war die Mutter immer da, leider bin ich auf ihre Hilfe angewiesen.
Ich erinnere mich nicht, wie es war, als ich klein war, doch jetzt wird mir
dieses Bedürfnis zu einer unerträglichen Last. Ich hätte so gern eine
Schwester gehabt, ich habe immer darunter gelitten, dass ich keine
Schwester hatte, habe die Gesellschaft vermisst, die sie mir hätte leisten
können.
45
Als ich klein war, gaben sich vor allem meine Eltern mit mir ab, immer
sie!
Auch im Kindergarten, erinnere ich mich, waren immer Erwachsene um
mich. Aus der Grundschule erinnere ich mich gern an meinen
Deutschlehrer Markus. Mir gefiel Deutsch sehr gut, ich hatte ein Talent
dafür, und er hatte eine interessante Unterrichtsmethode; er verwendete
Puppen.
Mit meinen Kameraden verstand ich mich nicht besonders gut, denn ich
wollte und will mich weniger auf die Kameraden konzentrieren, sondern
mehr darauf, was ich tun und lernen muss. So ist es jetzt, aber so war es
auch, als ich klein war.
Ich hatte eine Freundin, die meine Freundschaft jedoch nicht erwiderte: sie
hieß Jessica, ich fragte sie, ob sie mit mir spielen wollte, aber sie sagte
immer Nein!
Ich habe eine persönliche Erinnerung an Lara in der
Grundschule: fröhlich und im Schulhof während der Pause
von Kindern umgeben. Ich sage es ihr und sie fragt mich,
engelgleich: „Erinnerst du dich an Daniele?“
„Ich erinnere mich an ihn“, antworte ich ihr.
„Daniele schob immer meinen Rollstuhl, aber nicht, weil ich ihm gefiel,
sondern weil es ihm gefiel, mit ihm herumzufahren“.
Diese Aussage bringt mich in Verlegenheit, ich zögere,
verspüre das absurde Bedürfnis, sie vor diesen ihren
Gedanken verteidigen zu müssen. Ich versuche sie davon zu
überzeugen, dass es wahrscheinlich nur eine Vorstellung von
ihr selbst ist, die jetzige Wahrnehmung einer fernen
Erinnerung.
„Nein! Das dachte ich auch, als ich klein war. Ihm gefielen Autos sehr
und er hatte das Gefühl, eines zu steuern. Das ist alles. Jetzt ist es nicht
mehr so, aber als wir klein waren, war es so“.
Pläne
Laras Jetzt ist durch das mühsame, ernsthafte und
engagierte
Studium
am
Liceo
Classico-Linguistico
gekennzeichnet.
46
„Es war meine Entscheidung, mich am Gymnasium einzuschreiben,
schon seit der ersten Klasse Mittelschule war ich entschlossen, diese Schule
zu besuchen, ich habe mich von niemand beeinflussen lassen. Ich möchte es
wirklich schaffen, erfolgreich Sprachen zu lernen. Wenn ich groß bin,
möchte ich Dolmetscherin werden oder mit Hunden arbeiten. Ich würde
gern Behinderten-, Blinden- oder Rettungshunde abrichten. Wie
Kommissar Rex. Ich habe mir immer einen deutschen Schäferhund
gewünscht; meinen Luckj mag ich, aber er kann mir nur Gesellschaft
leisten. Ein abgerichteter Hund könnte mir behilflich sein, mir die Sachen
bringen … Außerhalb der Schule habe ich Freunde, in der Schule aber
keine; das interessiert mich nicht, ich muss mich auf das Studium
konzentrieren, auf die Prüfungen, ich will mich nicht ablenken lassen“.
An dieser Stelle bitte ich Lara, sich ihre Zukunft vorzustellen.
„Ich träume davon, eine Familie zu haben, zwei Kinder, eine Arbeit. Ich
möchte wegziehen, vielleicht nach Deutschland in eine Großstadt. Die
Großstadt ist meine Hoffnung, ich glaube, da ist alles leichter, leichter
machbar. Hier muss ich für alles nach Bozen fahren, das Auto benutzen,
und das heißt, von jemand abhängig sein. Ich aber möchte alles allein
machen“.
Während ich Lara zuhöre, die mir von ihren Lebensplänen
erzählt, tauchen in meinem Kopf die wunderbaren
Protagonisten aus dem Buch von Candido Cannavò „E li
chiamano disabili8“ auf. Chirurgen, Schriftsteller, Sportler,
Tänzer, Wissenschaftler, Manager, Journalisten, alle vereint
durch denselben nachteiligen Ausgangspunkt, wie Lara
grausam von der Natur bestraft. Und vereint durch dieselben
Vorsätze, die sie ihr wechselvolles und häufig beschwerliches
Leben selbstbewusst meistern ließen und zu Zielen geführt
haben, die eine olympische Medaille verdienen würden.
……… „Ich will nicht auf Hilfe angewiesen sein!“
Leidenschaften
Die Freizeit ist die Zeit der Träume, der Wünsche, der
Leidenschaften, so ist es bei allen. Und so ist es auch bei Lara.
8 Candido Cannavò, E li chiamano disabili, Rizzoli 2005.
47
„Meine große Leidenschaft, eine wirklich starke Leidenschaft, ein Traum
… ist der klassische Tanz. Seit drei Jahren erweckt der Tanz
unbeschreibliche Emotionen in mir, kein anderes Interesse ist derart
stark. Ich kenne die ganze Theorie über den Tanz, doch mit der Theorie
kann man recht wenig anfangen. Um Tanz zu lehren, muss man
Vorführungen machen, und das kann ich nicht, das werde ich nie
können“.
Dieser Traum trifft mich unvorbereitet, ich versuche die
Aufmerksamkeit anderswohin zu lenken. Prompt unterbricht
sie mich. „Zurzeit träume ich von nichts anderem, als zu tanzen; leider
werde ich es nie tun können … aber ich habe mich damit abgefunden“.
Ich versuche es noch einmal, hake mit anderen Fragen nach,
doch sie lässt nicht locker und fährt fort: „Wenn ich jemand
tanzen sehe, werde ich eine andere, ich habe verstanden, dass das meine
Welt ist, es ist das, was ich in diesem Augenblick tun möchte“.
Schließlich fange ich mich, bemerke meinen kindischen
Versuch, sie von ihren Träumen abzubringen und vor ihnen
zu schützen, und mir wird bewusst, dass Lara 16 Jahre alt ist
und wie alle Gleichaltrigen in einer Welt lebt, die voll von
vielleicht unerfüllbaren Träumen und Wünschen ist, so wie es
die meisten Träume von Heranwachsenden sind.
Wichtige Träume, weil sie ihr junges Leben erfüllen, und da
zeige ich ihr endlich ohne Zögern mein ehrliches Interesse für
diese ihre Leidenschaft. „Ich sehe mir immer die Tanzsendungen an,
aber nicht nur im Fernsehen, ich habe den größten italienischen Tänzer
tanzen gesehen, einen von der Scala. Meine Eltern haben mich zu einer
Vorführung von ihm mitgenommen, als Belohnung für die Versetzung,
ich hätte gern mit ihm gesprochen, ihm gratuliert, doch es ist mir nicht
gelungen. In einer Bozner Diskothek habe ich auch Kledj kennengelernt
… er hat mich auch geküsst. Nichts begeistert mich mehr, als wenn ich
gute Tänzer tanzen sehe, eine so große Leidenschaft habe ich noch nie
verspürt, sie ist auch größer als mein Interesse für Sprachen. Wenn ich
jemand tanzen sehe, empfinde ich eine große Freude … danach bin ich
ein wenig traurig. Letzten Sommer habe ich in Apulien eine wunderbare
Tänzerin kennengelernt …“, sie sagt einen Namen, den ich nicht
verstehe; ich denke, dass es nicht wichtig ist, aber
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offensichtlich täusche ich mich, denn sie beharrt darauf.
Mehrmals wiederholt sie vergeblich den Namen, schließlich
ruft sie genervt die Mutter zu Hilfe, die aus einem anderen
Raum – wobei sich die starke Bindung zu ihrer besonderen
Tochter zeigt – sofort herüberruft: „ROSSELLA“.
Ihr Gesicht öffnet sich zu einem Lächeln, ihre Augen leuchten
und sie fährt fort: „Rossella habe ich letzten Sommer in Apulien
kennengelernt, ich machte dort mit meinen Eltern Ferien. Es war sehr
aufregend für mich, sie tanzen zu sehen … sie kennengelernt zu haben.
Sie hat mir ein gutes Gefühl gegeben. Sie kannte mich nicht und hat mit
mir geredet wie mit einem normalen Menschen und sie hatte kaum
Probleme, mich zu verstehen, auch wenn ich französisch mit ihr sprach.
Das Französische ist, wie du wissen wirst, die Sprache des Tanzes“.
Es freut mich, dass sie mich für eine Expertin auf diesem
Gebiet hält, und ich habe eindeutig das Gefühl, dass ich ab
jetzt, jedes Mal, wenn ich jemanden tanzen sehe, unweigerlich
an unsere Begegnung werde zurückdenken müssen, an ihren
Traum, ihre ansteckende Begeisterung.
Schmerzliche geistige Barrieren
„Dank Rossella habe ich mich als normales Mädchen gefühlt,
auch wenn ich diese Arbeit niemals werde machen können, sie hat mit
mir geredet und mich verstanden. Es gibt eine starke Bindung zu ihr, sie
hat mir vorgeschlagen, ihre Vorführung zu besuchen, ich werde hingehen!
Seit ich sie gesehen habe, ist es für mich zu einer fixen Idee geworden.
Dank ihr habe ich mich normal gefühlt und ich habe mir das nicht
erwartet“.
Geschieht das nicht oft? Ich wage es. Ihre Antwort kommt
prompt, direkt, sie tut weh wie eine Ohrfeige.
„Es passiert fast nie. Die Leute lassen mich spüren, dass ich anders bin.
Sie erschrecken vor mir, das sehe ich an ihrem Verhalten. Sie sehen mich
nicht an, sie reden nicht mit mir“.
Mir fällt ein reizendes Märchen ein, das ich gerade meinem
Sohn vorlese: „Il principe del lago”9, geschrieben von einem
9 CLAUDIO IMPRUDENTE, Il principe del lago, Erickson 2001.
49
außergewöhnlichen Menschen, einem Kämpfer in seiner
vollständigen Bewegungslähmung, der dem Leben trotzt und
Tag für Tag wichtige Zeichen darin hinterlässt, mit einer
Zähigkeit,
Kraft
und
Intelligenz,
die
mein
Vorstellungsvermögen übersteigen. Claudio Imprudente
schließt sein Märchen mit folgenden Worten: „ … Ich hatte
vor jemand Angst, den ich nicht einmal kannte, nur weil ich
sah, dass er nicht so war wie ich, und deshalb stellte ich ihn
mir schlimmer vor“.
„Am ersten Schultag redete niemand mit mir, es sprechen mich nur
diejenigen an, die mich kennen. Oder sie reden mit mir, als ob ich ein
kleines Kind wäre, nur weil ich im Rollstuhl sitze. Das geht mir sehr auf
die Nerven … weil ich weiß, dass ich nicht normal bin, aber eine Sache
ist es, wenn ich mir das sage, eine andere, wenn mir die anderen das
sagen“.
Wie viel Weisheit und Reife in diesen Worten, die zwar sehr
schmerzhaft sind, jedoch mit großer Würde ausgesprochen
werden. Erneut treffen mich ihre Aussagen, tun mir weh, und
ich fordere sie auf, ihren Aufruhr hinauszuschreien, zu
verlangen, dass man sie ansieht und anhört. Sie starrt mich
ernst an und entgegnet prompt:
„Ich glaube nicht, dass ich etwas Sonderbares an mir habe!“
Ich auch nicht, Lara, du hast nichts Sonderbares an dir,
aber zweifellos hast du etwas, was dich zu einem ganz
besonderen Menschen macht. Es ist kein Zufall, dass mir
deine Geschichte die großartigen Persönlichkeiten wieder ins
Bewusstsein ruft, die Candido Cannavò dargestellt hat. Sie
hatten den Mut, sich mit keiner Einschränkung abzufinden,
und sie haben die Behinderung zu einer Herausforderung
gemacht, die sie bestanden haben. So wie sie, hast auch du uns
etwas geschenkt:
Die Kraft deiner Träume
50
DIE GESCHICHTE VON MONIA
nach der Erzählung von Paula, ihrer Mutter
aufgeschrieben von Ugo, Freiwilliger
Seit vielen Monaten beteilige ich mich begeistert an
einem Projekt, dessen Ziel es ist, die Lebensgeschichten
behinderter Menschen und ihrer Familien zu sammeln. Diese
sollen veröffentlicht werden, um die Leute für die Probleme
der Behinderung in allen ihren Aspekten zu sensibilisieren.
Insbesondere für die Schwierigkeiten, die die Menschen mit
Behinderung und ihre Familien Tag für Tag bewältigen
müssen, um ein möglichst normales Leben führen zu können.
Deshalb habe ich Monia und ihrer Mutter vorgeschlagen, ihre
jeweiligen Lebensgeschichten zu erzählen. Obwohl es einige
Unsicherheiten gab, haben beide zugestimmt …
Ich hatte Monia und ihre Mutter anlässlich eines
Theaterprojekts
kennengelernt,
das
vom
örtlichen
Sozialsprengel gefördert und organisiert worden war. Im
Rahmen dieses Projekts waren wir viele Monate lang mit den
Vorbereitungen für eine Theateraufführung beschäftigt, an der
sich zahlreiche Behinderte beteiligten, die Gäste des
Wohnheims „Zum Mohren“ waren, und zwar zusammen mit
einigen Mitarbeitern des Wohnheims und anderen behinderten
Menschen, die in der Familie leben, mit ihren
Familienangehörigen, sowie einigen Freiwilligen, zu denen
auch ich gehörte.
Durch die Beteiligung an jenem Theaterprojekt lernte ich
Monia und ihre Mutter kennen, da ich gemeinsam mit ihr
auftrat. Monia ist ein sanftes und freundliches Mädchen von
etwa dreißig Jahren, eher zurückhaltend und anscheinend ohne
Probleme.
Das Einzige, das ich bei ihr in der ganzen Zeit festgestellt
habe, die wir mit dem gemeinsamen Proben verbrachten, war
ihre große Schüchternheit und eine gelegentliche
Schwierigkeit, sich auf Italienisch auszudrücken. Ich hatte dies
51
auf die Sprache zurückgeführt, da sie zu Hause deutsch
spricht.
Monias Mutter
Paula, die Mutter von Monia, ist eine sehr
entschlossene, sichere und überaus gesprächige Frau. Sie
kündigt mir gleich an, dass sie die ganzen Schwierigkeiten und
Bitterkeiten deutlich machen möchte, die sie in Kauf nehmen
musste, ohne aber die persönlichsten und intimsten Aspekte
ihres Lebens durchblicken zu lassen.
Das Verhältnis zu den Sozial- und Gesundheitsdiensten
Als Monia klein war, musste ich mit beträchtlichen
Schwierigkeiten fertig werden, zuerst bei der Bestimmung ihres
Krankheitsbildes und dann, um die für die Behandlung erforderlichen
Medikamente zu bekommen. Leider gab und gibt es auf diesem Gebiet
immer noch viel Bürokratie, sodass ich mich für eine konkrete Hilfe sogar
im Ausland umsehen musste. Erst in Deutschland habe ich das
Verständnis und die Hilfe gefunden, die sowohl für die Erstellung der
Diagnose als auch für die Beschaffung der für die Behandlung
erforderlichen Medikamente notwendig waren.
Die Geburt Monias
Als Monia auf die Welt kam, war sie ein hübsches Kind, völlig
normal, scheinbar gesund und sehr lebhaft. Ich hatte damals eine sehr gute
Stelle als Dekorateurin in einer Keramikfabrik, ich hatte bereits jemand
gefunden, der Monia betreut und mir damit ermöglicht hätte,
weiterzuarbeiten. Somit stellte ich mir, mit zwei Einkommen im Haus,
meinem und jenem meines Mannes, ein ruhiges und unbeschwertes Dasein
vor. Erst nach mehreren Monaten, als ich aufhörte, sie zu stillen, traten
die ersten Anzeichen ihrer Krankheit auf: die Kleine hatte häufig
Kontraktionen und erschien immer weniger lebhaft, doch die Kinderärzte,
an die ich mich wandte, stellten das als unbedeutend hin, sie verstanden
nicht, und dabei handelte es sich um die ersten Anzeichen einer
heimtückischen
Stoffwechselkrankheit
mit
dem
Namen
„Phenylketonurie“. Eine Krankheit, die bei verspäteter Behandlung
52
zu schweren Hirnschäden beim Kind führt, während sie bei rechtzeitiger
Diagnose mit Hilfe einer geeigneten Ernährung und von Medikamenten
unter Kontrolle gehalten werden kann.
Unerfahrenheit und Leichtfertigkeit
Noch heute quäle ich mich wegen der Unerfahrenheit und
Leichtfertigkeit, mit der meine Tochter von einigen Ärzten behandelt
wurde.
Mit 15 Monaten war Monia sehr steif geworden, sie hatte
Schwierigkeiten, sich zu bewegen, fühlte sich bisweilen wie ein Klotz an,
und wenn man sie nicht stützte, fiel sie seitlich um. Ich erinnere mich stets
daran, wie ein Primar aus Parma, wohin wir wegen einer sicheren
Diagnose gefahren waren, eines Tages zu mir sagte: „Liebe Frau, Sie
sind noch jung und können weitere Kinder bekommen, denn das ihre wird
keine zwei Jahre alt werden“. Ungefähr so: Schaffen Sie sich ein
neues Auto an, denn dieses hier ist kaputt und zum
Verschrotten. Für mich waren jene Worte wie ein Stockhieb, ein
fürchterlicher Schlag ins Herz. Ich hatte immer auf eine Lösung gehofft,
doch in jenem Augenblick war jede Illusion dahin.
Die Sonne verfinsterte sich für mich.
Ich trat ans Fester und mir schien, die Sonne würde erlöschen. In
Wahrheit ist für mich die Sonne heute noch verschleiert.
Als sie dann verstanden, dass sie sich geirrt hatten, verschwand auch
die Krankengeschichte. Diese Vorfälle haben unser Leben erschüttert.
Mein Mann wollte den Rechtsweg beschreiten und Schadenersatz fordern,
aber auch hier sind wir nur auf verschlossene Türen gestoßen. Wir haben
uns auch an einen Rechtsanwalt gewandt, aber auch er konnte nichts
erreichen und das Ganze wurde archiviert.
Später erfuhr ich, dass man im Ausland mit der Forschung weiter
vorangeschritten war, also wollte ich nichts unversucht lassen und wandte
mich an die Universitätsklinik von Innsbruck in Österreich.
53
Zynismus und Unverständnis
Ich erinnere mich an die Pilgerfahrten, die mich von Pontius zu
Pilatus und wieder zurück führten, um meine Rechte geltend zu machen,
an die langen Wartezeiten vor den Ämtern, um die erforderlichen
Genehmigungen zu erhalten, damit Monia in Österreich behandelt
werden konnte, wo ich zum Glück Freunde hatte, und dann die Kämpfe
um Rückerstattung der extrem hohen Kosten für Medikamente und
Diätprodukte, die für ihre Gesundheit wesentlich sind, ohne die sie nicht
leben könnte. Dort erhielt ich endlich die ganze Unterstützung, die es
sowohl für die Behandlung als auch für die Rehabilitationstherapien
brauchte, und konnte mich so mit mehr Ruhe und Gelassenheit um meine
Tochter kümmern.
Trotz des gemeinsamen europäischen Marktes sind die Dinge
auch heute noch gleich oder haben sich nur wenig geändert. Die
diätetischen Produkte, die sie zum Überleben unbedingt braucht, sind
extrem teuer und schwierig zu besorgen.
Eine schwierige Entscheidung
Meine Tochter brauchte damals – und braucht immer noch –
meine ganze Bereitschaft und Zuwendung, was mein Mann nicht immer
verstand. Irgendwann haben wir uns getrennt, auch weil sich unsere
Beziehung mit der Zeit verschlechtert hatte; statt zu einer Hilfe, war er
mir eine zusätzlichen Last geworden; er schien auch wegen meiner
Hingabe eifersüchtig zu sein.
Es kam immer häufiger zu Streitereien zwischen uns, auch Monia litt
darunter und versuchte oft, von zu Hause wegzurennen, sich dieser
Situation zu entziehen.
Nun muss ich allein mit dieser Situation fertig werden, ich kann auch
nicht auf meine Verwandten zählen, die weit weg wohnen.
Leider ist diese Krankheit sehr selten, und meines Wissens gibt es in
unserer Region keine Organisationen oder Vereine, die uns beraten oder
behilflich sein könnten. Die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, ist die,
uns an die öffentliche Hand zu wenden, und somit muss ich mich jedes
Mal, wenn ich eine ärztliche Leistung benötige oder Arzneimittel
brauche, auf einen Kampf einstellen.
54
Vor vier Jahren ist zum Beispiel ein neues Diätprodukt auf den Markt
gekommen, das die Einnahme des Wirkstoffs durch Briefchen
ermöglichte, die einfacher zu handhaben waren als das ekelhafte Pulver in
der großen Dose, die man immer mitnehmen musste. Ich habe mir eine
Packung verschreiben lassen, die ich in München bestellt habe. Sie kostete
damals eineinhalb Millionen Lire, eine Summe, die ich mir von
meiner Schwester geliehen habe. Ich war überzeugt, dass sie mir von der
Sanitätseinheit rückerstattet werden würde, aber stattdessen haben sie mir
geantwortet, dass jenes Produkt nicht auf der Liste stehe, und daher: ein
Papierkrieg, ich wurde monatelang von einem Büro ans andere
weitergereicht, ohne dass ich etwas erreicht hätte. Mit der Ausflucht: „Der
Wirkstoff ist in jenem Produkt enthalten, das sie bereits einnimmt“, so
sagte man mir.
Ich könnte ein Buch schreiben, wenn ich all die Schwierigkeiten aufzählen
wollte, auf die ich jedes Mal stoße, wenn ich etwas bekommen möchte.
Eine schwierige Jugend
In dem Maße, wie Monia heranwuchs, wuchsen auch ihre
Probleme, insbesondere jene im Zusammenhang mit der Eingliederung in
die Schule, wo sie vielfach keine Lehrer angetroffen hat, die imstande oder
bereit waren, auf ihre Probleme einzugehen. Das war auch später bei den
mit dem Jugendalter zusammenhängenden Problemen der Fall, nämlich
den Beziehungen zu den Kameraden, mit denen sie sich auseinandersetzte,
und dann als junge Frau, als ihr meine mütterliche Freundschaft
nicht mehr genügte und sie ihre Freundschaften auf die jungen Leute ihres
Alters ausweiten wollte. Monia fürchtete sich vor der Konfrontation mit
ihren Altersgenossen, sie fühlte sich nicht angenommen, vielleicht lag es
auch an ihrer Unsicherheit und Schüchternheit. Heute arbeitet Monia als
Kellnerin in einer Bar in Auer, die Arbeit gibt ihr die Möglichkeit, ihre
ganzen Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen; leider sind die
Arbeitszeiten seit einiger Zeit sehr anstrengend, das führt bei Monia zu
einem Stresszustand und zu Unsicherheit.
Die Schwierigkeiten hören niemals auf
Vor Kurzem habe ich erfahren, dass die medizinische Forschung
in Deutschland neue Medikamente und Diätprodukte entwickelt hat.
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Leider ist unser Gesundheitswesen jetzt der Ansicht, dass die
Voraussetzungen, um sich ins Ausland zu begeben, nicht mehr gegeben
sind, und folglich würden sie mir die entsprechenden Ausgaben nicht mehr
zurückerstatten. Ich bin aber überzeug, dass es hier bei uns noch viele
Lücken auf diesem Gebiet gibt, und auch Monia, die jahrelang in
München behandelt wurde, möchte ungern wechseln. Außerdem glaube
ich, dass es hier bei uns keine anderen vergleichbaren Fälle gibt, mit
denen man sich beraten und auseinandersetzen könnte, zudem kennen
wir den Ort, die Klinik und die Ärzte sehr gut, da sie viele Jahre lang
unser Bezugspunkt waren. Wir waren für lange Zeit dorthin gezogen, um
uns die ständigen Fahrten zu ersparen, und außerdem wohnen einige
meiner Verwandten und Freunde dort. Ich hoffe, dass meine
Unannehmlichkeiten anderen nützen, denen das gleiche Schicksal
widerfahren ist wie uns, dass sie vor allem aber dazu dienen, die
Mediziner und Politiker anzuspornen, an die Lösung der unzähligen
Probleme heranzugehen, die uns bedrücken.
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JOLANDA UND ROBERTO, REISEGEFÄHRTEN
aufgeschrieben von Maria Cristina, Erzieherin
Der Stille eine Stimme geben und Angst haben, sie zu
hören, wissbegierig, aber unfähig, mit Gefühlen umzugehen,
die durch das Teilen des Schmerzes hervorgerufen werden,
bereit für die Auseinandersetzung, aber zu wenig stark, um sie
durchzustehen, das ist der rote Faden, der meinen Prozess des
Kennenlernens von Jolanda und Roberto geleitet hat.
Kein einfaches Leben, eine Geschichte, die so anders und so
gleich ist wie die vieler anderer, mit gedämpfter Stimme
erzählt, mit Würde und äußerster Nüchternheit, heiter und
gelassen.
Jolanda und Roberto, authentische Persönlichkeiten,
miteinander vereint durch eine starke, untrennbare und
einzigartige Bindung, wie sie nur jene zwischen Mutter und
Sohn sein kann, haben eine Geschichte erzählt, ihre
Geschichte, teils die gleiche und teils eine andere im Hinblick
auf Intensität, Nuancen, Wahrnehmungen und Gefühle.
Jolanda, eine zierliche und melancholische Frau, war imstande,
die Prüfungen des Lebens in Angriff zu nehmen, das Schöne
in den kleinen Dingen zu sehen, das Alltägliche und Einfache
zu schätzen.
Ruhig und gefasst hat sie sich von mir befragen lassen und mir
erlaubt, die Erinnerung an die Vergangenheit, die Gewissheit
der Gegenwart und die Ungewissheit der Zukunft zu teilen.
Roberto, heiter und zuversichtlich gegenüber dem Leben, hat
mir die Möglichkeit geschenkt, in seine einfache Welt
einzutreten, und mir erlaubt, mit dem Geist und mit der
Fantasie dorthin zu fliegen, wo alles möglich ist und jeder und
alles die gleiche Würde und Daseinsberechtigung hat.
Danke, danke von Herzen, Reisegefährten, dass ihr mir die
Türen zu einer parallelen, deshalb aber nicht getrennten
Dimension geöffnet habt, dass ihr mich für würdig befunden
habt, den Schatz eines intensiv gelebten und hart erkämpften
Lebens zu bewahren.
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DAS RAUNEN EINES LEBENS …
Etwas früher als ausgemacht, wie es sich gehört, ist sie
zur Verabredung gekommen. Sie hat sich nicht ankündigen
lassen, hat weder Vertraulichkeiten gestattet noch gesucht, hat
auf einem Stuhl Platz genommen, etwas im Hintergrund, und
geduldig auf den Beginn dessen gewartet, worin sie einige Zeit
vorher eingewilligt hatte.
Nachdem ich sie in einem gemütlichen Ambiente habe Platz
nehmen lassen, hat sie ihre Tasche auf den Boden gestellt und
begonnen, eine Geschichte zu erzählen, mit gedämpfter
Stimme, mit einer streckenweise entwaffnenden Natürlichkeit
und Nüchternheit: ihre Lebensgeschichte und die ihres Sohnes
Roberto.
Ich habe 1962 geheiratet, mit 22 Jahren, ebenso wie mein Mann.
Wir hatten nie darüber gesprochen, Kinder zu haben, ich bin aber fast
sofort schwanger geworden. Ich weiß nicht, ob mein Mann darüber
begeistert war, aber die Tatsache, dass es ein Junge war, hat ihn meiner
Meinung nach irgendwie mit Stolz erfüllt. Ich erinnere mich jedenfalls gut
daran, dass ich während der gesamten Schwangerschaft ein Gefühl von
Einsamkeit hatte. Vielleicht habe ich deshalb ungeduldig darauf
gewartet, dass Roberto zur Welt kommt.
Ich habe neun Monate lang davon geträumt, ihn in den Armen zu
halten, und war davon überzeugt, dass ich ihn gut aufziehen und ihm die
richtigen Dinge beibringen würde.
Ich hatte jedoch nie irgendwelche Erwartungen in Bezug auf ihn, die
werden immer enttäuscht, die Kinder gehen ihren eigenen Weg.
Der Lebensgefährte
Mein Mann ist jemand, der sich gern als „ganzer Kerl“ sieht.
Er ist ein guter Mensch, einfach und wortkarg, wie meine
Schwiegermutter, die ihre Gefühle nicht gern zeigt. Ich erinnere mich nicht
daran, dass sie jemals einen ihrer Söhne spontan aus eigenem Antrieb in
die Arme geschlossen hätte.
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Ich glaube, er ist nie imstande gewesen, Verantwortung für etwas zu
übernehmen. In gewissem Sinne ist er immer ein Feigling gewesen, bereit
zu einem Spaß, aber wenn es ernst wird …
Roberto kommt auf die Welt
Als Roberto geboren wurde, war er ein Kind wie alle anderen, er
aß viel und nahm zu.
Die ersten Monate waren schwierig, nachts war ich immer wach, weil er
häufig weinte; ich habe es aber gern getan, ich fühlte mich natürlich als
Mutter. Ich erinnere mich, dass mich die Leute, denen ich beim
Spazierengehen begegnete, häufig nach seinem Alter fragten: er war sehr
frühreif.
Plötzlich sein wahres Leben ………
An einem warmen Julinachmittag, Roberto war acht Monate
alt, wollte ich ihn ankleiden, um spazieren zu gehen, da habe ich
gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er hatte den Blick starr ins Leere
gerichtet und es gelang mir überhaupt nicht, seine Aufmerksamkeit auf
mich zu ziehen. In wenigen Minuten waren wir im Krankenhaus.
In jenen Tagen lag mein krebskranker Vater im Sterben und ich, die ich
gelernt hatte, den Schrecken dieser Krankheit zu fürchten, wollte nur
beruhigt werden, dass es sich um keinen Tumor handelte. Die Ärzte
sprachen von einem epileptischen Anfall und diese Antwort vermochte
mich irgendwie zu beruhigen.
Nach ungefähr einem Monat kam ein zweiter Anfall und Roberto
bekam Medikamente verschrieben, die imstande waren, die Situation zu
stabilisieren und das erneute Auftreten von Anfällen zu verhindern.
Die Schwierigkeit einer Beziehung
Mein Mann erwies sich von Anfang an als ungeeignet, seine
Vaterrolle einzunehmen, und als unfähig, das Problem unseres Sohnes
realistisch zu betrachten. Er hat die Aufgabe, „das Kind“ zu betreuen,
an mich delegiert. Alles, was er getan hat und was er stets tun wird, ist,
ihn zu den Kontrolluntersuchungen zu begleiten, zumindest solange wir
ein Auto hatten.
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Ich kann nicht sagen, ob er sich seiner schämt oder ob die Beziehung zu
Roberto ein Gefühl der versäumten Selbstverwirklichung wachruft. Mit
Sicherheit ist es ihm nie gelungen, eine bedeutungsvolle Beziehung
herzustellen. Er hat es ein paar Mal versucht, ohne dass es ihm jedoch
gelungen ist, bis zum Letzten zu gehen.
Robertos Grenzen
Als Roberto drei Jahre alt ist, legt mir der Vergleich mit den
anderen Kindern den Verdacht nahe, dass er mit der kognitiven
Entwicklung in Rückstand ist. Ich merke es vor allem an seinen
unzulänglichen kommunikativen Fähigkeiten.
Anfangs habe ich die Schuld für seine „mentale Abgestumpftheit“ den
Medikamenten zugeschrieben, die er einnahm, man brauchte aber nur
zuzusehen, wie er mit den anderen Kindern spielte und mit Gegenständen
hantierte, oder zu versuchen, ihm das Sprechen beizubringen, um zu
verstehen, dass einiges mehr nicht stimmte.
In diesem Alter deuten die Ärzte an, dass es sich um eine leichte
Hirnschädigung handeln könnte, sie banalisieren aber das Ganze und
richten das Augenmerk auf die epileptischen Anfälle.
Die Kategorie der „anderen“
Erst 15 Jahre später, als Roberto eine Niere transplantiert
wurde, konnte ich mir eine Vorstellung von der Komplexität seiner
Krankheit machen.
Bei dieser Gelegenheit wurde bei ihm eine Form von tuberöser Sklerose
diagnostiziert, eine Krankheit, die die Weichteile angreift, eine Krankheit,
die ihn in die Kategorie der „anderen“ verbannt hat und für immer
verbannen wird. Im Vergleich mit den anderen Müttern sind nämlich
„jemandes Kinder“ stets nur die „normalen“ Kinder gewesen.
Nichtwissen erlaubt zu träumen …
18 Jahre lang habe ich nicht die Kraft und den Mut gefunden,
Fragen zu stellen, eine Schädigung hieß für mich gar nichts … ich hatte
Angst, dass er einen Hirntumor haben könnte. Das Nichtwissen erlaubte
mir vielleicht zu träumen …
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Robertos Bewusstwerdung
Fünf Jahre nach der Geburt von Roberto kam meine erste
Tochter zur Welt und kurz darauf die zweite. Mit dem Heranwachsen
verschlimmern sich seine Probleme, sodass mich die kleinere Schwester
bereits mit fünf Jahren eines Tages schamhaft fragt, was beim Bruder
nicht stimmt.
Als meine Töchter, obgleich jünger, eine nach der anderen Roberto in
Bezug auf die Lernfähigkeit ein- und überholen, hat er selbst begonnen,
sich seines geistigen Zurückbleibens bewusst zu werden.
Die Schwierigkeit, zu leben
Als wir einmal im Krankenhaus während einer Dialysesitzung
über die Sterilisation unseres Kätzchen sprachen, um zu vermeiden, dass
sie Junge bekam, hat mich Roberto gefragt, ob er und seine Schwestern je
geboren worden wären, wenn man mich sterilisiert hätte. Auf meine
Frage, ob es seiner Ansicht nach richtig gewesen wäre, mich zu
sterilisieren und ob es für ihn einerlei gewesen wäre, auf der Welt zu sein
oder nicht, antwortete er, dass es für ihn besser gewesen wäre, wenn er
nicht geboren wäre, dann hätte er nicht leiden müssen. Nach diesem
Vorfall fühlte ich mich lange Zeit schlecht.
Das Verhältnis zu den „anderen“
Es war immer schwierig: Von klein auf hielten ihn die anderen
Mütter wegen bestimmter Verhaltensweisen, die nur ich verstehen konnte,
für ein böses Kind. In der Schule zeigte er sich bisweilen aggressiv und
lebhaft, während es ihm nicht gelang, mit seinen kleinen Freunden eine
positive Beziehung aufzubauen, sodass er allmählich ausgeschlossen und
ausgegrenzt wurde. Er spielte mit ihnen, aber man spürte, dass es nicht
ehrlich war.
Roberto wächst heran …
In der Jugend traten bei ihm Ängste und Phobien auf, die ich in
der Kindheit nie bemerkt hatte. Ich glaube, dass die Verantwortung dafür
meiner Schwiegermutter zuzuschreiben ist, die seine Krankheit nie
akzeptiert, ihn immerzu angespornt und angeregt und dadurch in
Stresssituationen gebracht hat, ohne zu verstehen, dass Roberto
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zerbrechlich war und beschützt werden musste. Außer ihr und meinem
Mann, der keine Gefühlsbindung zu ihm aufbauen konnte und wollte,
scheint der Rest der Familie Robertos Krankheit problemlos zu
akzeptieren, insbesondere mein Bruder, der ihn stets mit Geschenken und
Aufmerksamkeiten überhäuft hat.
Die Schule, das waren andere Zeiten!
Die Schulgeschichte Robertos war durch Schwierigkeiten und
Verzögerungen gekennzeichnet.
Trotz der Befürchtungen der Direktorin bezüglich der
Unzulänglichkeiten Robertos und nur dank der Hartnäckigkeit einer
Kinderbetreuerin ist es mir gelungen, ihn im Kindergarten unterzubringen.
Er war vier Jahre alt.
Nach zwei Jahren waren wir wieder so weit wie vorher. Zu jener Zeit gab
es nämlich die sogenannten „Sonderklassen“; diese waren aber für die
schulische Eingliederung von Kindern mit Schulproblemen, auf keinen
Fall aber von solchen mit kognitiver Retardierung bestimmt, wie sie
Roberto hatte.
Obwohl seine verbleibenden Fähigkeiten eindeutig größer waren als der
Durchschnitt seiner anderen Kameraden, ist es mir also gelungen, ihn in
ein Vorschulprojekt mit anderen Kindern einzugliedern, die unter
schweren Formen von Behinderung litten.
Erst im Alter von neun Jahren kann Roberto endlich ganztags in eine
„Sonderklasse“ in Bozen eingegliedert werden, die er bis zum Alter von
13 Jahren besucht hat.
Nach der Grundschule haben wir Roberto in die Berufsschule
eingeschrieben, anschließend haben wir ihn in eine geschützte Werkstätte
eingegliedert, die er bis zum Alter von 18 Jahren besucht hat, als bei ihm
eine schwere Nierenerkrankung diagnostiziert wurde.
Es hätte schlimmer kommen können …
Mit der Zeit, während mein Sohn allmählich heranwuchs und
seine Grenzen offenbar wurden, hat meine Enttäuschung gegenüber den
Erwartungen als Mutter der Resignation Platz gemacht.
Ich kann nur sagen, dass ich mich trotz des Unglücks für glücklich halte,
denn es hätte schlimmer kommen können. Ich habe immer gedacht, dass
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ihm alles in allem solch schwierige Situationen erspart bleiben würden, in
die andere Jungen seines Alters häufig gerieten.
Ich habe mich immer akzeptiert gefühlt, obwohl mir einige Vorfälle im
Verlauf der Kindheit Robertos die konkrete Möglichkeit vor Augen
geführt haben, dass er demütigenden und diskriminierenden
Verhaltensweisen seitens gefühlloser oder ganz einfach boshafter Menschen
ausgesetzt werden könnte.
Ich bin nicht mehr imstande zu träumen!
Nun, da ich älter werde und meine Töchter groß sind und eine
eigene Familie haben, beginne ich daran zu denken, dass wenn ich und
mein Mann einmal nicht mehr sein werden, ich mir wünschen würde, dass
sich jemand um Roberto und um seine ganzen großen und kleinen
Anliegen kümmern würde. Ich denke vor allem an die ständigen
Untersuchungen zur Kontrolle der Augen, des Herzens, der Nieren …
Ansonsten bin ich nicht mehr imstande zu träumen!
Die Kraft des gemeinsamen Mittragens
Ein großer Trost ist für mich die Mitgliedschaft im Verein der
Eltern von Kindern, die an Invalidität verursachenden Krankheiten
leiden; das gibt mir moralischen und psychologischen Rückhalt.
Unsere „ersten vierzig gemeinsamen Jahre“
Die Bilanz dieser vierzig Jahre? Alles in allem positiv. Ich kann
mir mein Leben ohne meinen Sohn nicht vorstellen.
Roberto hat seine Vorzüge und seine Fehler: Er ist unglaublich
ordentlich, manchmal pedantisch und fast krankhaft, immer peinlich
genau. Momentan ist die Arbeit alles für ihn. Darin verwirklicht er sich
und findet seine kleinen Befriedigungen.
Und dann ist er immer fröhlich, Mamma mia, welch eine Kraft!
Eine ungewisse Zukunft
Ich kann mir seine Zukunft nur schwer vorstellen: die
Desillusionierung erlaubt mir nicht, mich irgendwelchen Hoffnungen
hinzugeben, und deshalb denke ich, dass unser Schicksal unbestimmt
bleibt.
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Zu Hause wird dieses Thema nicht angesprochen. Ich glaube, für Roberto
ist es normal zu denken, dass er weiterhin so leben wird wie bisher, in
einer wattierten, behüteten, gefilterten Welt. Im Übrigen geht das klar aus
seinen Worten hervor, wenn er sagt: „Ich bin als Stubenhocker geboren
und ich möchte das auch weiterhin bleiben …”.
ICH BIN ALS STUBENHOCKER GEBOREN …
Ich heiße Roberto, bin 42 Jahre alt und im Zeichen der Waage
geboren. Seit 1982 wohne ich in Leifers, vorher lebte ich in Sankt Jakob
und noch früher, als ich ganz klein war, wohnte ich in Steinmannwald,
bei der Carmen.
Meine Familie bestand vormals aus fünf Personen: meinem Vater, der
jetzt 65 Jahre alt ist, meiner Mutter, die gleich alt ist, meinen beiden
jüngeren Schwestern und mir.
Als sie ihre Lebensgefährten fanden, hat sich die Situation zu Hause
geändert, sie sind weggezogen und ich bin mit Mutter und Vater im
Haus geblieben.
Als ich klein war und in Sankt Jakob wohnte, spielte ich im Hof. Ich
fuhr gern Fahrrad, spielte Tischfußball mit dem Sohn einer Nachbarin
und Verstecken mit meinen Schwestern.
Ich verbrachte viel Zeit mit ihnen, wir spielten, bis wir genug hatten; ab
und zu aber „ließen sie mich frei“, dann turnte ich auf einigen Brettern
herum, die sich im Feld daneben befanden.
Mit meinen Schwestern verstand ich mich recht gut, sie schauten auf mich
und beschützten mich; ich hatte Spaß mit ihnen.
Ich erinnere mich nicht an besondere Spiele mit Vater oder Mutter, ich
spielte häufig allein. Ich erinnere mich aber, wie ich mit der
Spielzeugeisenbahn mitten in der Küche spielte, das machte mir großen
Spaß!
Als ich klein war, hatte ich immer ein gutes Verhältnis zu meinen
Eltern. Wenn ich brav war, waren sie lieb zu mir, dagegen waren sie
etwas „ungeschickt“, das heißt, sie schlugen mich, wenn ich mich
„ziemlich schlecht“ benahm. Wie zum Beispiel damals, als ich allein zu
Hause war und zu einem Nachbarn ging, um fernzusehen. Bei ihrer
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Rückkehr hat sich Mutter dermaßen geärgert, dass sie mir eine Ohrfeige
verpasste und sagte, dass wir auch einen Fernseher hatten. Sie war nicht
besorgt, aber sie wollte nicht, dass ich zu fremden Familien nach Hause
ging.
Nach einigen Jahren Kindergarten habe ich im Alter von neun Jahren
begonnen, die Sonderschule Don Bosco zu besuchen.
Es war eine Grundschule, aber meine Mutter nannte sie Sonderschule,
und so bezeichnete auch ich sie, wie soll ich sagen, in derselben Weise.
Es war eine Sonderschule, weil es da andere Jungen wie mich gab, die in
der gleichen Situation waren wie ich.
Ich sehe mich als normale Person, ich bin aber behindert, und zwar in
dem Sinn, dass ich auch körperliche Probleme habe, zum Beispiel
Epilepsie, und deshalb bin ich nicht selbstständig.
Die Krämpfe haben eingesetzt, als ich klein war, ich habe also begonnen,
eine Untersuchung nach der anderen zu machen, auch eine Menge
Medikamente einzunehmen, ich war häufig in verschiedenen
Krankenhäusern und wurde mehrmals operiert.
Zur Schule fuhr ich mit einem Kleinbus der Provinz; er war gelb und trug
auf einer Seite die Aufschrift „Schulbus“.
Auch am allerersten Schultag bin ich mit dem Kleinbus zur Schule
gefahren, allein, Mutter hat mich nicht begleitet.
Mein Klassenzimmer war groß mit nackten Wänden; darin gab es wenige
Bänke, die ein L bildeten, eine Tafel, auf die wir auf Anweisung der
Lehrerin Dinge schrieben, und ein Pult auf einem Podest.
Wir waren zu viert in der Klasse und auch meine Kameraden hatten
Probleme, da sie dieselbe Schule besuchten, eine Sonderschule eben. Mein
liebster Kamerad war Bruno, einer, der keine bösen Streiche spielte.
Während der ganzen Jahre in der Grundschule hatte ich nur zwei
Lehrer: eine Lehrerin und einen Lehrer, sie waren Mann und Frau und
hatten Kinder.
Sie hatten mich ziemlich gern, sie grüßten mich auch, wenn sie das
Klassenzimmer betraten. Die Lehrerin war freundlich und liebevoll, ab
und zu, wenn ich an die Tafel ging, streichelte sie mich.
Ich habe schöne Erinnerungen an meine Sommerferien, vor allem an die
Ausflüge nach Mailand, wo ich Onkel und den Großvater besuchte,
Verwandte meines Vaters; ich hatte auch einen Vetter.
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Ich fuhr gern dorthin, denn im Freien gab es einen sehr geräumigen Hof
und dort konnte ich herumlaufen, und auch wenn ich hinfiel, tat ich mir
nicht weh.
Die Mittelschule habe ich nicht gemacht, nach der fünften Klasse
Grundschule habe ich sofort die Berufsschule besucht.
Ich weiß nicht, welchen Kurs ich besucht habe, von diesen Dingen verstehe
ich nichts, ich weiß nur, dass ich mit Holz gearbeitet habe; ich habe ein
Xylofon aus Buchenholz gemacht, das jetzt im Keller steht.
Nach kurzer Zeit habe ich zu arbeiten begonnen, zuerst in einer
geschützten Werkstätte in der Fagenstraße und dann in der Romstraße.
Seit 19. März 2001 arbeite ich in der geschützten Werkstätte „Der
Kirschbaum“ in der Schloss-Weinegg-Straße.
Ich mache Montagearbeiten, und in letzter Zeit habe ich auch Makramee
gemacht. Meine Arbeit gefällt mir, ich lerne viele neue Dinge und kann
Geld verdienen; die Mitarbeiter verstehen mich und sind sympathisch, ich
komme daher sehr gut mit ihnen aus.
Zu Hause habe ich ein eigenes Zimmer, es ist nicht sehr groß, „aber ich
kann durchaus darin schlafen“. Es verfügt über ein Bett, einen Stuhl,
einen Schrank und ein kleines Möbelstück, in dem ich die Tasche
verstaue, die ich ins Schwimmbad mitnehme, ein Fußballfeld und die
Tribüne, die ich verwende, um Fußballspiele zu simulieren.
Dann ist da noch eine Art Fritteuse, sie ist aber nicht eingeschaltet, sie
dient zum Kartoffelkochen. Ich weiß nicht, wie sie in meinem Zimmer
gelandet ist, wahrscheinlich hat sie Mutter abgestellt.
An den Wänden hängen Bilder, die ein Fußballfeld darstellen, die
Muttergottes und den Papst.
Mit den Dingen, die ich allein machen kann, komme ich zurecht,
während mir bei denen, die ich nicht schaffe, meine Mutter hilft. Es
gefällt mir, wenn sie mich morgens weckt, damit ich zur Arbeit gehe, und
mir das Frühstück ans Bett bringt.
Meine Freizeit verbringe ich immer zu Hause, indem ich Kreuzworträtsel
löse und Patiencen lege. Ab und zu treffe ich mich mit meinem Freund
Giacomo zum Pizzaessen, auch wenn wir uns jetzt schon seit einer Weile
nicht mehr sehen, oder ich nehme an Tätigkeiten des Vereins teil, in den
ich mich zusammen mit meiner Mutter eingeschrieben habe.
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Wenn ich zu Hause bin, sehe ich gern fern und höre normale Musik, das
heißt jene, die nicht zu laut ist.
Von den Sängern mag ich Albano Carrisi sehr gern, wenn ich ihn das
Lied „È la mia vita“ singen höre, bin ich gerührt.
Meine Zukunft? Ich habe keine Ahnung, wo ich in der Zukunft sein
werde, und noch weniger, was ich machen werde, ich denke, ich werde
weiterhin in der Werkstätte arbeiten wie bisher und mit Mutter und
Vater zusammenleben.
Allein etwas zu ändern ist sicher nicht möglich, da ich immer von jemand
begleitet werden muss; ich sehe keine Möglichkeit, selbstständig zu sein.
Nein, ich denke, dass ich immer so weitermachen werde wie bisher, das
heißt, wie soll ich sagen … ich bin als Stubenhocker geboren und möchte
das auch weiterhin bleiben.
E va
il mio pensiero se ne va
seguendo un volo che già sa
in quale cuore andare e arriverà
E va
é la mia età che se ne va
e quanto amore via con lei
è questa vita che passa e dove andrà
(“E’ la mia vita” – Albano Carrisi)
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EIN GEIST, DER DAS EINFACHE LIEBT
aufgeschrieben von Lisa, Sozialassistentin
Ich habe Renato vor etwa zwei Jahren bei einem
kleinen Theateranimationsprojekt für behinderte Menschen,
deren Eltern und Freiwillige kennengelernt. Die Gruppe
bestand aus ungefähr zwanzig Personen, die sich mehrere
Monate lang einmal wöchentlich abends mit Ausdauer und
Bescheidenheit getroffen haben, um eine kleine und flotte
Vorstellung auf die Beine zu stellen und sie der Gemeinschaft
darzubieten.
Wenn ich abends „im Proberaum“ zur Gruppe stieß, war ich
gewöhnlich müde; am Schluss bin ich heiter und mit einem
unbeschwerten Lächeln auf den Lippen nach Hause
zurückgekehrt, ich war glücklich, mit einer Gruppe von
Freunden eine spielerische und unterhaltsame kurze Zeit
geteilt zu haben.
Nach Überwindung eines anfänglichen Moments der
Verlegenheit haben sich alle Teilnehmer geöffnet und in ihrer
Fröhlichkeit und Bescheidenheit gezeigt.
Ein Junge, der mich besonders beeindruckt hat, war Renato; er
war ein Farbtupfer in der Gruppe! Immer wieder gab er
brummelnd provozierende Aussagen und Sprüche von sich
und wartete auf die Reaktion des glücklichen Adressaten, mit
verschmitztem und aufmerksamem Blick, er war genau und
gewissenhaft wie wenige, die ich kenne.
Lieber Renato, liebe Lucia,
ich danke euch dafür, dass ihr mir erlaubt habt, in euer
Leben einzutreten, euch zuzuhören und dann denjenigen, die
es hören wollen, zu erzählen, was für eine reiche persönliche
und familiäre Geschichte Menschen mit Behinderung haben,
was für eine ausgeprägte persönliche Identität, bestehend aus
Wünschen, Meinungen, Vorlieben, Beziehungen und
Gefühlen, die etwas Wertvolles darstellen.
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Ich möchte mit meinen Äußerungen nicht oberflächlich
erscheinen oder die tatsächlichen Schwierigkeiten schmälern,
die die Behinderung für diejenigen, die sie persönlich erleben,
und für die Familienangehörigen mit sich bringt, aber meine
kurze Erfahrung hat mir ermöglicht, eine Seite dieser Realität
kennenzulernen, die heute noch wenig bekannt ist und die es
meiner Meinung nach der Mühe wert ist, entdeckt zu werden.
Die Kommunikation mit dem behinderten Menschen ist
vielfach komplex, ebenso ist es nicht leicht, innezuhalten und
sich die Geschichte eines Familienangehörigen anzuhören,
denn häufig verhindert die Angst, die schmerzliche Erfahrung
zu teilen, eine authentische und gegenseitig bereichernde
Beziehung.
Ich werde versuchen, das getreu wiederzugeben, was
ich sammeln konnte. Ich habe mich dafür entschieden, eine
einzige Geschichte zu erzählen, und zwar mittels der für mich
unauflöslichen Verflechtung zweier verschiedener Interviews,
jenes von Renato und jenes von Lucia, der älteren Schwester.
Mein Bemühen ist darauf ausgerichtet, jenes Gefühl der
Sympathie zu vermitteln, das ich gespürt habe, als ich euch
kennenlernte.
Ja! Denn nachdem ich beide kennengelernt habe, habe ich
gemerkt, dass euch ein gemeinsames Element verbindet: die
Authentizität und die Heiterkeit des Gemüts.
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Ein Geist, der die Natur und die einfachen Dinge liebt
„Da kann man etwas lernen“
„Ich bin aber ein Junge; und das genieße ich auch!“
So hat Renato begonnen, mir von sich zu erzählen. Als
ich ihn nach dem Alter fragte, hat er zunächst ein wenig
„herumgeblödelt“, seine Gedanken gesammelt und mir gesagt,
dass er 34 Jahre alt ist.
Beim Erzählen verwendet er häufig Dialektausdrücke, aber als
ich ihn darauf aufmerksam mache, verneint er entschieden:
„Nein, ich spreche italienisch, spreche ich“.
Er achtet sehr auf die Fragen, die ich ihm stelle; manchmal
beeilt er sich zu antworten, und manchmal bereitet es ihm
mehr Mühe. Häufig gibt er mir dann die Frage weiter und ich
muss antworten. Das scheint mir richtig, oder? In einer
Beziehung muss es einen gerechten Austausch geben; ich bin
mit ihm einverstanden.
„In jenen Jahren wurden nicht gerade viele gründliche
Untersuchungen gemacht“.
Neben Lucia besteht Renatos Familie aus dem
Schwager, „der mit dem Moped Gerichtsakten herumfährt“,
dem dreijährigen Enkelkind, Lucias Schwiegermutter, dem
Onkel und dem Bruder Franco.
Renatos Eltern leben nicht mehr; „sie sind im Himmel und
schauen herab“, seit nunmehr etwa elf Jahren.
Um Renato und seinen ebenfalls behinderten Bruder
kümmern sich Lucia und der Onkel.
Lucia ist nach der Heirat nach Bozen gezogen und lebt eine
halbe Fahrstunde von Renatos jetzigem Wohnort. Da die
Eltern typische Dorfbewohner waren und sich zwischen
Büros und in der Stadt nicht gut auskannten, hat sie sich seit
jeher um alles gekümmert, was Renato betrifft: „Die
Schulversammlungen, Bürogänge, das Invaliditätsverfahren, die
Verschlechterung … aber schon, als die Eltern noch lebten.
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In jenen Jahren wurden nicht gerade viele gründliche Untersuchungen
gemacht. In der Bescheinigung über die Zivilinvalidität steht geschrieben:
… Gehirnerkrankung und Schwierigkeit, mit anderen Beziehungen zu
unterhalten. Sehen wir es aber an einem praktischen Beispiel: wenn er
10.00 € hat, dann weiß er, dass es 10.00 € sind, er hat aber keine
Vorstellung vom Wert. Oder, ich weiß nicht … die Quarzuhr kann er
lesen, aber eine andere nicht, oder … er liest nur das, was er kennt.
Körperlich hat er nur – ich weiß nicht, ob man es jetzt sieht – ein Bein
und einen Arm, die etwas kürzer sind …“
Für Lucia ist der Bruder ein ziemlich verschlossener Typ,
etwas schüchtern, er ist viel allein, methodisch und genau. Und
wenn ihm dann jemand Vertrauen einflößt, den lässt er nicht
mehr los.
Die beiden Brüder besuchen sich nach Möglichkeit einmal in
der Woche, ansonsten verkehrt Renato mit der Schwester
„telefonisch oder über den Anrufbeantworter“.
Auch der Bruder Franco lebt in einer
Wohneinrichtung; Renato bedauert es, dass dieser häufig
Tabletten und Tropfen einnehmen muss, die dazu führen,
„dass er abmagert und dahindöst; so ist er nicht mehr der Franco, der er
einmal war.“
„Zu jener Zeit studierte man“
Renato erinnert sich, dass er, als er klein war, Holz
sammeln ging, und als er mir das sagt, weist er mich darauf
hin, dass er kräftige Muskeln hat, die man gut sehen kann. Er
erinnert sich auch, dass er mit seinen Familienangehörigen
häufig Pilze sammeln ging; er hat aber keine besonderen
Erinnerungen an Vater und Mutter.
Einmal, an einem Feiertagsmorgen … „wurde ich gestochen“.
„Hilfe, Hilfe!“ hat er geschrien, als er in ein Vespennest
getreten ist. „Was für Schmerzen“, erinnert er sich. „Fieber, Blut“;
er musste sich desinfizieren und im Bett bleiben.
Ungefähr zehn Jahre lang fuhr die ganze Familie nach
auswärts, um an Märschen teilzunehmen, an Marathonläufen,
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„keine Leistungswettkämpfe aber“, Wanderungen; „und da war die
Familie wirklich vereint“, erinnert sich Lucia.
Renato wandert und fährt immer noch gern mit Auto und
Bus. Vor Jahren haben sich er und seine Familie auch einmal
verirrt, weil man wegen des Nebels die Straßenschilder nicht
mehr sehen konnte.
Renato kann sich nicht mehr an die Grundschule erinnern, die
er in einem Wohnheim außerhalb der Provinz besucht hat,
und „außerdem“, meint er, „kann ich mich doch nicht an alles
erinnern he!”. Dagegen erinnert er sich noch an den Namen der
Mittelschule, die er in Leifers mit Unterstützung eines
Erziehers besucht hat: die „Fabio Filzi“.
Wir rechnen gemeinsam nach und stellen fest, dass mehr oder
weniger zwanzig Jahre vergangen sind. Renato gesteht, dass er
Herrn Filzi nicht kennt, aber er erinnert sich, wie es in der
Schule aussieht: es waren an die zwanzig Jugendlichen in der
Klasse und „zu jener Zeit studierte man, das waren schöne Zeiten“.
Er schrieb gern die Aufgaben in das Heft; er erinnert sich,
dass die Lehrkräfte ab und zu außerhalb der Schule rauchten,
weil man drinnen nicht rauchen darf: „Das Gesetz schreibt das
vor!“
Nach der Mittelschule hat er die Berufsschule besucht, den
Tischlereikurs.
„Es machte mir große Freude zu lernen, wie man mit Holz arbeitet, und
ich habe sehr gern in der Mensa zu Mittag gegessen”. Heute noch
nennt er Vor- und Zunamen einiger Schulkameraden. Er ist
der Ansicht, dass er ein guter Schüler war, dass er sich bemüht
hat und Spaß gehabt hat, zum Beispiel beim Schweigespiel.
Um die Wahrheit zu sagen: Es fällt mir schwer zu glauben,
dass Renato beim Schweigespiel gut war: er ist dermaßen
geschwätzig!
Im Lauf der Zeit hat es Phasen gegeben, wo Renato
sehr aggressiv war; oft hat er sich, wenn er seine Krisen
bekam, an Lucia oder an Gegenständen abreagiert. „Und dann
… wumm! war alles vorbei, als ob nichts geschehen wäre. Jetzt scheint
sich das beruhigt zu haben …“
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Eine sehr schwierige Entscheidung: werden sie
verstehen?
Seit mehreren Monaten lebt Renato gemeinsam mit
anderen Jugendlichen, die so wie er betreut werden müssen, in
einer geschützten Wohnung in Neumarkt. Vorher hat er einige
Jahre in einem Wohnheim für behinderte Menschen in Leifers
gelebt.
Lucia erinnert sich an die Zeit, als sie vor mehr als acht Jahren
und mehr oder weniger allein die Entscheidung getroffen hat,
Renato und seinen Bruder Franco in entsprechenden
Einrichtungen zur Aufnahme behinderter Menschen
unterzubringen. Sie musste eine wichtige Entscheidung im
Hinblick auf die Zukunft ihrer Geschwister und auf ihre
eigene treffen. Die Mentalität jener Jahre: „Du schiebst sie ab.
Du lässt sie im Stich“ machte die Entscheidung nicht einfach.
Außerdem war auch der Onkel sehr stark in diese
Entscheidung mit einbezogen, hatte er doch jeden
Lebensabschnitt mit ihnen geteilt.
„Es war nicht leicht“. Renato und der Bruder haben dann
langsam „ihr neues Leben begonnen und mir ist bewusst geworden, dass
es auch gut für sie war.
Auch wenn ich nicht geheiratet hätte, wenn ich mit ihnen zu Hause
geblieben wäre, was hätten sie machen können? Sie mussten Umgang mit
anderen Menschen haben, Reisegefährten, eine Beschäftigung haben, eine
Wohnung, verschiedenen Tätigkeiten nachgehen, wie normale
Jugendliche“.
Das Leben in der Gemeinschaft
Das Leben Renatos ist durch den ständigen Wechsel
zweier Phasen bestimmt.
Von Montag bis Freitag Abend lebt er mit anderen
Jugendlichen und unter Betreuung der Mitarbeiter in einer
geschützten Wohnung, während er das Wochenende beim
Onkel in einem anderen kleinen Dorf in der Gegend
verbringt.
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Wenn er sich in der Wohnung aufhält, wird der Tagesablauf
Renatos vom Rhythmus der Arbeit in der Werkstätte und
durch die Hausarbeiten geregelt, wie: „Duschen, Essen zubereiten,
Tassen in die Spülmaschine einräumen, den Tisch säubern, Recycling,
einkaufen, den Wochenplan vorbereiten, der bei den Sitzungen beschlossen
wird … dann gehen wir zusammen zum Arlecchino Eis essen, oder wir
gehen Pizza essen …“
Renato ist ein Naschmaul, er muss aber auf die Ernährung
achten. Der Onkel sagt immer: „Du musst etwas weniger essen,
Renato, nicht immer das Gleiche. Entweder den ersten Gang oder das
Hauptgericht“.
Für ihn geschieht alles normal; er ernennt seine
Lebensgefährten unterschiedslos unter Gästen und
Mitarbeitern, von denen er auch einige Geheimnisse kennt …
Renato geht zudem früh am Abend schlafen, da man morgens
frisch sein muss, schön munter.
Das Haus ist groß; in seinem Einzelzimmer verfügt er über ein
Einzelbett, einen Schrank, Pantoffeln, Zahnpasta. „Ich habe
alles, ich habe auch Licht“ .
Ja, er fühlt sich wohl, „außer damals, als jener Typ da war, der einem
auf die Nerven ging, und jetzt ist er nicht da! Silvio nahm den Fernseher
in Beschlag, die Fernbedienung, dann teilte er auch Fausthiebe aus …
sage ich!“
Vieles macht er allein, während ihm bei anderen Tätigkeiten
die Mitarbeiter helfen, wenn er darum ersucht. Renato gibt mir
zu verstehen, dass in der Wohnung im Allgemeinen ein gutes
Klima herrscht; jeder erledigt etwas und manchmal hilft man
sich. Ab und zu regt sich jemand auf, das geht dann aber
vorbei.
Er hat mir erzählt, wie er einmal, als er eines Abends in das
Wohnheim zurückkehrte, so nervös war, dass er nicht aus dem
Kleinbus aussteigen wollte und dass ihn drei Personen
festhalten mussten, er wollte sich aber nicht so benehmen.
Jetzt, sagt er, geht er ins Freie und macht drei Schritte, wenn
er sich nervös fühlt.
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Renato fragt sich, was aus dem Wohnheim geworden ist, es tut
ihm ein wenig leid, weil sich einiges geändert hat, und ihm
fehlen die Köche. Letztlich aber, versichert er, würde er, wenn
er in einem Wohnheim wäre, jetzt darum ersuchen, in eine
Wohnung ziehen zu können, um dort zu leben.
Wichtige Beziehungen
Wie bereits gesagt, verbringt Renato das Wochenende
beim Onkel und hilft ihm bei den häuslichen Angelegenheiten
wie Tassen spülen, Vogelhäuser säubern, ihn daran zu
erinnern, die Tabletten einzunehmen und das Gebiss
einzusetzen. Außerdem hat er eine wichtige Aufgabe, die ihm
sehr am Herzen liegt: Flaschen, Kartone, Zeitungen, Plastik
sammeln, alles was ihm der Onkel und Freunde im Dorf
herrichten, und den Müll zu trennen. Für ihn ist das „Bewegung,
ein Zeitvertreib“, und er nimmt diese Aufgabe sehr genau.
Renato weiß, dass ihn am Wochenende Freunde aus dem Dorf
besuchen kommen und ihm ist sehr daran gelegen. Als ein
Dorfbewohner vor einiger Zeit aufgehört hat, ihn zu
besuchen, hat er darunter gelitten und ist nervös geworden.
„Wenn man eine Kette loslässt, wenn ein Stück fehlt, leidet Renato
darunter und reagiert manchmal in unangenehmer Weise darauf. Zu
Hause hat es Probleme gegeben, da waren wir, kurzum, nicht mehr
imstande …… Renato hatte eine nervöse Phase, zerschlug Gläser …, da
ist er dann eine Zeit lang nicht mehr nach Hause gekommen und im
Wohnheim geblieben. Der Onkel besuchte ihn oder die Betreuer brachten
ihn auf Besuch zum Onkel“.
Eine Arbeit aussuchen können, die einem gefällt
Renato fährt jeden Morgen mit dem Kleinbus zur
Arbeit in eine geschützte Werkstätte. Er gehört zur
Naturgruppe, die sich um die Sauberhaltung von Grünflächen
kümmert, die ihr von den umliegenden Gemeinden
zugewiesen werden: Parks, Grünanlagen, Rasenflächen. Er ist
gern im Freien; er sammelt Müll auf (Papier, Zigaretten usw.)
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und muss Handschuhe tragen „sonst!“. Er lädt den Müll in den
Schubkarren „und dann muss man Pause machen, muss man“.
Renato macht die Werkstätte Spaß. Früher fuhr er nach
Bozen, und er langweilte sich ein wenig, weil es so viel
Verkehr auf den Straßen gab, dass man lange in der Kolonne
steckte.
Dort kümmerte er sich um die Menüs und verteilte BoBo, eine
kleine Stadtzeitung. Er bleibt nicht gern im Haus.
Er hat sich selbst für die Naturgruppe entschieden, und
vielleicht wird er andere Gruppen ausprobieren, um neue
Sachen zu lernen, neue Leute kennenzulernen und weil es
sonst, wie er sagt „immer nur derselbe Scheiß ist“.
Für Renato heißt Arbeit Praxis, Konzentration, auch Respekt
und Ernsthaftigkeit.
„Wichtig ist, dass man ihn einbezieht“
Renato findet nur schwer etwas, was ihm überhaupt
nicht gefällt, während er mehrere Dinge aufzählt, die er gern
macht oder machen würde: Angeln gehen, Müll einsammeln,
Fernsehen, Fußball, Schwimmen und Turnen. Er würde auch
noch gern BoBo verteilen und hat dem dafür
Verantwortlichen mitgeteilt: „Wenn ich kann, komme ich, ich stehe
zu deiner Verfügung“.
Als er im Wohnheim war, ging er mit einem Freiwilligen zur
Messe und zum Turnen. „Wichtig ist, dass man ihn einbezieht. Man
muss auf ihn zugehen, dann beteiligt er sich“, meint Lucia.
Ein schlimmes Abenteuer, an das sich sowohl Renato als auch
Lucia erinnern, und zwar wegen der Angst, die jeder von
ihnen auf seine Weise ausgestanden hat, hat sich vor einigen
Jahren ereignet.
„Um Äpfel zu essen“, hat sich Renato in den Feldern verirrt.
„Man hat auch die Carabinieri und die Feuerwehr gerufen, um ihn zu
suchen, und am späten Abend haben ihn die Hunde schlafend unter
einem Baum gefunden. Es war ziemlich frisch, es war im Oktober“.
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Lucia erinnert sich, dass man damals sehen wollte, ob Renato
in der Lage war, sich ein wenig eigenständig zu bewegen. „Wir
haben ihn den ganzen Tag gesucht, und damit war der Versuch
gestorben! Erledigt! Jetzt wird er ständig begleitet …“
Das scheint die einzige schlimme Erinnerung Renatos zu sein;
zu den schönen Erfahrungen zählen dagegen die Prämierung
als Gruppe für einen Marsch, einige Theateraktivitäten und
das Pilzesammeln.
„Jeder kann einmal die Nerven verlieren“
Als ich Renato frage, ob es etwas gibt, was er gern tun
würde und was er zurzeit nicht tut, wiederholt er alles, was er
bereits tut. Es sind alles einfache Sachen. Erst als ich insistiere,
sagt er mir, dass er sich die Zukunft nur schwer vorstellen
kann; ihm passt es so, wie es zurzeit ist: „Trinken, essen, mich
wohlfühlen“.
Auch Lucia stellt sich vor, dass „es weder Fortschritte noch
Rückschritte geben wird. Er ist angekommen“. Sie ist guter Dinge,
und wenn alles weiterhin so verläuft wie bisher, ist sie
glücklich für Renato. „Es war hart, es hat viele Probleme gegeben,
aber jetzt muss ich sagen, dass er mir überhaupt nicht so behindert
erscheint. Gut, es hätte anders sein können. Es ist aber so gekommen“.
Wenn sie vielleicht in einer anderen Lebensphase und nicht
jetzt an ihren ganzen Weg zurückgedacht hätte, hätte sich
Lucia vielleicht nicht so gelassen an ihre Erfahrung erinnert
und sie bejaht. Jetzt aber sieht sie alles in einem positiven
Licht. Der Anfang war beschwerlich … aber jetzt ist sie
zufrieden. Sie würde die gleichen Schritte nochmals tun, ohne
große Angst vor den Leuten. Und zum Glück hat sie dieses
Engagement mit dem geliebten Menschen teilen können.
„Renato geht es in letzter Zeit wirklich gut, er hat sich wirklich
verändert, er ist wirklich ruhig. Vorher war er ziemlich nervös, er zog
dich an den Haaren, war aggressiv. Vielleicht hatte er es satt, denn so
viele Jahre im Wohnheim …, eine Werkstätte, die ihm nicht gefiel ….
Jetzt scheint er begeistert zu sein.
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Probleme wird es geben, ich mache mir keine Illusionen, dass es immer so
bleiben wird, …… aber im Moment erscheint er mir ruhig und es passt;
ich möchte nicht, dass sich etwas ändert. Und schließlich kann jeder
einmal die Nerven verlieren“.
„Es wäre nicht schlecht, wenn er etwas mehr unternehmen würde, zum
Beispiel Meeraufenthalte … Stätten besuchen und Leute kennenlernen
… Und wenn sich die Leute mehr auch mit Menschen wie Renato
abgeben würden, sich angewöhnen würden, sie kennenzulernen ……”
(Renato, eine Wohngenossin,
ein Auto und ein kleines Viereck …)
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ZUCCHERO IST IN EIN ANDERES FLUGZEUG
GESTIEGEN
Aufgeschrieben von Silvia, Erzieherin
Ich habe Davide vor einigen Jahren im Zuge meiner
Arbeit kennengelernt. Das Erste, was mich an ihm
beeindruckte, war sein lachendes Gesicht und seine Lust,
etwas von sich zu erzählen, trotz seiner Schüchternheit und
seiner Schwierigkeiten.
Davide ist eine herzliche Person, der es gelungen ist,
mir ihre Lebensbegeisterung, ihre Leidenschaften, ihre
Erinnerungen zu vermitteln …
Er hat jeden seiner Sätze nicht nur mit dem Mund,
sondern auch mit Augen, Händen, Körper und Herz
gesprochen.
Ich habe mich entschlossen, Davide zu treffen, ein
Stückchen seiner Geschichte anzuhören und Teile davon
aufzuschreiben, weil er mir während unserer Begegnung etwas
offenbart hat, was man nur schwer erklären kann … seiner
Geschichte mit gebanntem Blick und offenem Herzen
zuhören, um alle Facetten eines lebensnahen Daseins zu
erfassen, um die Schönheit der alltäglichen kleinen Gesten, der
Dinge und Menschen, denen ich begegnet bin, auszukosten.
Ich hoffe, dass ich mit diesen Aufzeichnungen Davide
die Gelegenheit gebe, seine Erinnerungen, die Gefühle und
Bilder seines vergangenen und gegenwärtigen Lebens zu
bewahren.
Indem ich seine mündlichen Erzählungen schriftlich
festhalte, möchte ich, dass Davide eines Tages seine
persönliche Geschichte aufarbeiten, aufwerten und
weitergeben kann. Eine Geschichte, die erwiesenermaßen
einen Reichtum darstellt, den jeder zur allgemeinen Verfügung
stellen muss.
Die Erzählungen tun demjenigen gut, der sie schreibt,
sie tun demjenigen gut, der sie hört, und ich hoffe, dass sie
auch demjenigen guttun, der sie erzählt hat.
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Danke, Davide, für Deine Solidarität.
Mein Hobby
Im Alter von zwei Jahren habe ich begonnen, Schlagzeug zu
spielen, ich hatte ein kleines, ein Spielzeugschlagzeug, es sah aber wie ein
richtiges aus, hatte einen guten Klang und ich spielte viel darauf. Als ich
Grundschule ging, haben mir Papi und Mami zu meinem Geburtstag am
4. Januar ein richtiges Schlagzeug geschenkt und wir sind in ein Geschäft
gegangen, um es zu kaufen.
Vor Kurzem habe ich mir ein neues gekauft, mit einem
schöneren Klang; es steht unten im Arbeitszimmer. Das andere war ich
nicht mehr imstande zu stimmen, und da habe ich mir gesagt: „Ich kaufe
mir ein etwas besseres Schlagzeug“.
Ich habe allein spielen gelernt, ich habe ein wenig probiert und
dann habe ich gesagt: „Papi, ich möchte Schlagzeugunterricht nehmen!“,
da ist er mit mir nach Leifers gefahren, wo ich das Schlagzeug gekauft
habe, und ich habe ihn gefragt: „Hör zu, kannst du mir Stunden
geben?“. Wir haben uns geeinigt und wenige Zeit später bin ich zu diesem
Freund gegangen, Samstag Nachmittag, gegen drei, halb vier, um
Stunden zu nehmen. Das Schlagzeug gefällt mir als Instrument sehr gut,
ich spiele nichts anderes ... im Augenblick, noch nicht!
Kindheitserinnerungen
Als Kind spielte ich mit Spielzeugautos. Als ich neben Tompsen
wohnte, ging ich in den Hof, zuerst spielte ich allein und dann mit
Freunden, ich habe auch viel mit dem Traktor gespielt, einem aus
Plastik, ich bin damit durch den Hausflur gefahren.
Ich erinnere mich, wie ich vor einigen Jahren, bevor es kalt
wurde, als ich einmal mit dem Fahrrad eine Runde drehte, die
Gangschaltung einlegte, losließ und zack! … lauter Unterlegscheiben und
Bestandteile überall … ich habe alles verloren und kein einziges Teil
wiedergefunden! Ich habe gesucht, aber vergebens. Es ist auch meine Oma
gekommen, wir sind hinuntergegangen, um zu suchen, aber wir haben nur
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ein Stück der Unterlegscheibe gefunden … die Kette und der Rest …
dahin.
Meine Familie
Hier im Haus lebe ich mit Papi, Mami und Giada. Ab und zu
streite ich mit Vater, wenn ich zum Beispiel mit den Schuhen die Treppe
hinaufgehe, falls ich etwas im Zimmer vergessen habe, etwa die Brieftasche
oder das Handy … um schnell zu machen, gehe ich hinauf, ohne mir die
Schuhe auszuziehen … und er schimpft mit mir.
Meine Schwester Giada ist 7 Jahre alt … in ein paar Tagen,
am 29. Oktober, wird sie 8 … mein Gott, wie schnell die Zeit vergeht!
In Mutters Zimmer sind einige Fotos von ihr, als sie klein war. Mit ihr
habe ich nicht viel gespielt, weil sie zu klein war. Manchmal streiten wir,
unser Verhältnis kann man zwischen gut und schlecht bezeichnen, ab
und zu tut sie etwas, was sie nicht darf, wie auf die Möbel klettern, dann
halte ich sie fest, aber sie macht es trotzdem. Ein anderes Mal tut sie
etwas, was mich nicht ruhig lässt, spielt mit dem Gas, aber ich darf sie
nicht einmal berühren, sonst schreit sie schon: „Los … lass mich in
Ruhe!”
Im Haus ist auch meine Katze Mina. Von meinen Eltern lässt
sie sich nicht gern anfassen, sie will immer in meiner Nähe sein, bei ihrem
Herrchen, so wie sich der Hund sein Herrchen wählt, hat sie mich
gewählt.
Wenn ich nicht zu Hause bin, weint sie, und nach einer Weile
erträgt sie Vater nicht mehr, dann öffnet er das Fenster und schickt sie in
den Garten! Diese Katze ist eine besondere Katze, sie bleibt bei mir, ruft
mich, kennt meine Zeitpläne, sie hat gelernt, dass ich am Abend zu einer
bestimmten Zeit ins Zimmer gehe, nach der Zigarette, dann ruft sie mich:
„Miau, miau, …“ bis ich komme, dann geht sie hinauf … und ich
auch! Jetzt ist Mina nicht hier, sie ist oben im Zimmer, vielleicht ist sie
müde. Vorher war sie hier im Wohnzimmer, denn wenn es klingelt,
kommt sie herunter, um zu sehen, wer da ist … sie ist neugierig!
Als ich klein war, hatte ich andere Katzen, sechs oder sieben,
glaube ich … die erste Katze hieß Leo, sie war ein wenig schrecklich, aber
sehr lieb, sie strich immer um die Leute herum und war nicht aggressiv,
aber wenn du sie geärgert hast, dann hat auch sie dich geärgert.
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Dann hatte ich noch eine andere Katze, auch die hieß Leo, weil
die erste gestorben war. Wo ich vorher wohnte, gab es Felder und
Giftköder … ich habe sie unter meinem Bett gefunden … tot … jaja …
sie war wirklich tot.
Mein Haus
Eine Zeit lang habe ich in Bozen gewohnt, dann sind wir
hierher nach Branzoll gezogen. Das erste Haus stand im Dorf, und zwar
dort, wo jetzt der Lidl ist; es war groß, aber die Zimmer waren klein.
Jenes von Mutter war etwas größer als meines, denn der Schrank passte
leicht hinein.
Hier dagegen wohne ich in einer Mansarde, ich habe ein eigenes
Schlafzimmer, wo eine Menge Pflanzen stehen. Ich mag Pflanzen gern,
ich bin nämlich Gärtner, drei Jahre lang habe ich die
Landwirtschaftsschule in Pfatten besucht. Den Hausgarten pflege ich:
wenn es Abend wird, gieße ich ihn, denn wenn die Sonne scheint, darf
man die Pflanzen nicht gießen, sonst verbrennen sie. Jetzt ist es nicht
mehr so heiß und man kann trotzdem ein wenig gießen, abends aber
kannst du ihnen Wasser geben, so viel du willst.
Im Garten räume ich auf, esse Trauben, diejenigen, die ich
kaufe, schmecken mir nicht, mir schmeckt das Obst, das direkt vom
Baum kommt und frisch ist, da fühle ich mich sicher, da gibt es keine
Chemie, keine Gifte, das Obst kommt aus meinem Garten, ich kann es
beruhigt essen. Dann habe ich noch Äpfel, Pflaumen, Pfirsiche, eine
weitere Weinrebe, kleine Aprikosen, Kaki, zwei Feigenbäume und einen
Kirschbaum.
Die Schulzeit
Mein Kindergarten war in Leifers, neben der Mittelschule. Ich
erinnere mich, wie Mutter am ersten Tag eilig weggegangen ist … ich
wollte bei ihr bleiben … anfangs habe ich sehr geweint, dann aber wollte
ich nicht mehr weggehen. Ich spielte viel mit Freunden, ich erinnere mich
aber nicht mehr an die Kindergärtnerin, wir haben auch ein Lied
gesungen … jenes mit den „papaveri alti alti“ … an das erinnere ich
mich!
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Die Grundschule habe ich hier in Branzoll besucht. An den
Mauern der Schule sind noch die Zeichnungen zu sehen, die wir Kinder
an einem Nachmittag gemacht haben … es war vier Uhr, halb fünf …
ich habe sie nur ausgemalt, sie haben gezeichnet. Es sind blaue Fische zu
sehen, eine Giraffe und die ganzen Tiere. Sie sind noch dort … das ist
komisch! Ab und zu gehe ich in die Schule, um die alten Schuldiener zu
grüßen, und schaue auch in meine alten Klassenzimmer rein. Ich erinnere
mich an einen langen Gang … wenn ich jetzt vorbeischaue, ist er kurz,
er ist klein geworden … oder ich vielleicht groß!
Die Bänke sind nicht die von damals, nun gibt es neue. In der
Schule war ich nicht immer mit meinen Kameraden zusammen,
manchmal ging ich mit einem Betreuer, der sich nur um mich kümmerte,
in ein anderes Zimmer. Wir machten alles gemeinsam, man spielte, man
schrieb und sprach miteinander.
Die Lehrerin hieß Ornella, sie war auf Draht, auch die
Kameraden waren das. Wir waren 19 in der Klasse, darunter auch die
Tochter meiner Lehrerin, und wir beide waren immer zusammen. Sie
heißt Marlene, wir hören uns immer noch fast täglich, wir sind Freunde
geblieben, auch wenn wir voneinander entfernt sind. Marlene studiert in
Padua, sie möchte Ärztin werden … so habe ich verstanden.
Die Mittelschule habe ich in Leifers besucht … ich erinnere
mich auch an den einen oder anderen Kameraden, einer ist vor einigen
Tagen gestorben, er war krank. Er war kleiner als ich, aber er war in
meiner Klasse … es hat mir sehr leidgetan.
Die Lehrer waren alle nett, ich erinnere mich besonders an den
Mathelehrer, mit ihm habe ich alles gelernt, Rechnungen, schreiben, er hat
eine Menge Dinge von mir verlangt. Am meisten gefallen hat mir der
Naturkundeunterricht: Experimente durchführen und ins Labor gehen,
wo man sich ein wenig als Chemiker versucht hat.
Nach der Mittelschule habe ich drei Jahre lang die
Landwirtschaftsschule in Pfatten besucht: dort habe ich gelernt,
Traubensaft herzustellen, Essig und Wein, man hat mir gelernt,
Pflanzen zu schneiden, den Garten und die Blumen im Haus … und
dergleichen mehr.
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Die Freizeit
Am Wochenende spiele ich Schlagzeug oder pflege den Garten.
Ich kann nur samstags spielen, weil meine Freunde studieren oder zur
Schule gehen und daher nachmittags beschäftigt sind. Ein Freund arbeitet
donnerstags nachmittags nicht, so wie ich, und ab und zu treffen wir uns,
um gemeinsam zu spielen.
Vor einigen Jahren habe ich zusammen mit einer Gruppe von
Freunden eine CD gemacht. Wir haben gesagt: „Versuchen wir, unsere
erste CD aufzunehmen!”. Wir haben uns geeinigt, und nach einem
kleinen Treffen haben wir den Versuch gestartet … ich würde gern eine
weitere machen. Jene CD habe ich behalten!
Abends, wenn die Freunde keine Schule haben, oder im
Sommer, gehen wir Pizza essen, manchmal bleiben wir auch bis halb
zwei oder zwei Uhr aus. Ansonsten verbringe ich den ganzen Tag hier im
Haus, sehe fern, entspanne mich auf dem Diwan oder trommle ein wenig
auf dem Schlagzeug herum.
Die Ferien
Letztes Jahr bin ich in den Ferien ans Meer gefahren, nach
Cattolica in der Provinz Rimini, wo ich einige Freunde kennengelernt
habe, wir haben uns unterhalten und Freundschaft geschlossen … du
rufst mich an, ich ruf dich an!
Mir gefällt es auch im Gebirge. Wenn ich zu meiner Tante gehe,
die ein Stückchen in den Bergen wohnt, nehme ich mir ein paar Pullover
mit, weil es dort immer feucht und darum frisch ist.
Ich würde gern nach Frankreich fahren, wo der Eiffelturm steht,
da bin ich noch nie gewesen! Meine Tante war vor Kurzem dort, sie hat
fast ganz Frankreich bereist und ist auf den Eiffelturm gestiegen … und
sie hat mir auch ein T-Shirt mitgebracht!
Die Reise nach Kalifornien
Ich dagegen war fast einen Monat lang in den Vereinigten
Staaten, in San Francisco in Kalifornien, wo die Filme gemacht werden.
Ich bin mit der Landwirtschaftsschule dort gewesen, um zu sehen, wie’s
dort aussieht und welche Rebsorten sie haben. Ich habe auch ein Foto
neben einem amerikanischen Polizeiwagen gemacht, weil ich einen
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italienischen Polizisten getroffen habe, der in jener Gegend wohnt und mir
erlaubt hat, ein Foto neben seinem Wagen zu machen.
Es war wirklich schön, ich wäre gern noch ein wenig länger dort
geblieben, es ist ganz anders als hier, die Gärten, die Felder und die
Straßen sind viel größer.
Ich bin auch in eine Straßenbahn gestiegen, ich bin nie mit einer
solchen gefahren … ich hatte ein wenig Angst, weil in der Straßenbahn
musst du ein wenig gebückt stehen, die Straßen sind steil … rauf und
runter … wenn dir etwas runterfällt, rutscht es weg!
In San Francisco habe ich bei einer amerikanischen Familie
gewohnt, sie waren alle sehr sympathisch und freundlich. Ich habe sehr gut
gegessen, immer spät gefrühstückt, mit Speck, Eiern und Fruchtsaft,
nicht nur Milch, sie haben einen anderen Rhythmus, zu Mittag aß man
dann aber nichts mehr.
Dort musste ich ein bisschen englisch sprechen … meine Tante
hat es mir vor der Abreise ein wenig beigebracht: „thank you very much“,
das kann ich! Anfangs ist es mir nicht eingefallen und ich konnte es nicht
sagen, dann habe ich es mir auf ein Stück Papier geschrieben, ich habe es
immer wieder wiederholt, und am Ende hat sich mir der Spruch
eingeprägt und ich konnte ihn sagen!
Einer meiner Kameraden wohnte bei einer Familie außerhalb
der Stadt, auf dem Land, und neben dem Haus war auch ein Pferdestall.
Auch ich hätte gern in einem solchen Haus gewohnt, auch weil ich Pferde
sehr gern mag, von klein auf.
Als ich nach Amerika abreiste, sagte mir meine Tante, dass
auch Zucchero, der Sänger, in jenen Tagen dorthin fliegen würde, und ich
habe gedacht: „Ich fliege am selben Tag wie Zucchero, vielleicht treffe ich
ihn im Flugzeug!”, aber er ist in ein anderes Flugzeug gestiegen …
Er ist nach Amerika geflogen, um seine CD aufzunehmen, er
macht alles in den Vereinigten Staaten, er hat dort ein Haus außerhalb
der Stadt, dort kann er Krach machen, wie er will, ohne jemand zu
stören.
Zu Hause habe ich alle CDs von Zucchero, ich habe ihn auch
live gesehen, als er in Bozen war … live ist es etwas anderes, das ist viel
schöner!
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Was ich arbeite ...
Zurzeit arbeite ich hier in Branzoll unter dem Haus, ich sage
unter dem Haus, weil es unterhalb ist … abwärts. Ich arbeite in einem
Supermarkt, wo ich Aranciata, Getränke, Wasser, Bier, Wein, Essig,
Öl, Bohnen, Sugo, Nudeln, Mehl, Essiggurken in die Regale stelle …
alles Lebensmittel, die es braucht, während sich um die frischen Sachen
und das Joghurt der Direktor kümmert, weil er das machen will.
Ich komme mit allen Kollegen gut zurecht, heute Morgen hat es
Probleme mit dem alten Direktor gegeben, wenn er da ist, muss man
mehr arbeiten … alles muss unter Kontrolle und in Ordnung sein.
... und was ich gern arbeiten möchte!
Ich würde gern etwas anderes machen … als Straßenarbeiter
tätig sein. Mein Hausnachbar arbeitet in Auer, er macht Teer, bringt die
Straßen in Ordnung und pflegt die Bäume und Sträucher neben der
Etsch, dort wo der Fahrradweg ist. Wenn es schneit, fährt er mit dem
Schneeräumgerät und räumt den Schnee und das Eis weg. Letztes Jahr,
oder vielleicht vor zwei Jahren, hat er mich zur Arbeit mitgenommen und
ich habe zuschauen können, was er macht. Ich kenne viele Leute, die
diese Arbeit machen … ich bin nicht gern in einem geschlossenen Raum,
dort fehlt mir die Luft.
Ich würde auch gern als jemand arbeiten, der die Asche aus den
Kaminen entfernt … als Kaminkehrer … denn er trägt immer einen
Arbeitsanzug und hat schmutzige Hände. Mir gefallen jene Arbeiten, wo
man richtig schmutzig wird, mit Staub und Öl. Mein Cousin, der in
Vicenza wohnt, ist Karosseriemechaniker, er ist immer voller Schmieröl
und ich bin immer dort und helfe … so habe auch ich immer schmierige
Hände!
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NACHTRÄGLICH:
Ein paar einfache Überlegungen
Zum Abschluss der Arbeit ein paar einfache Überlegungen,
mit denen die wesentlichen Punkte hervorgehoben werden
sollen, die unserer Meinung nach die verschiedenen Leben
verbinden, von denen berichtet wurde.
Diese Erzählfragmente, die bereits im Textkorpus der
einzelnen Geschichten enthalten sind, werden noch einmal
unter einer Überschrift präsentiert, die unseres Erachtens auf
die Komplexität verweist, von der diese einzigartigen
Existenzen,
aber
auch
der
Lebensablauf
der
Familiengemeinschaft, in die sie eingebunden sind,
durchdrungen sind.
Die Kernpunkte, die ausgemacht wurden, beziehen sich auf
Ereignisse, die den Lebensablauf markieren, mit den damit
verbundenen Emotionen, den besonderen Beziehungen, die
aufgebaut oder aufrechterhalten werden müssen, wie auch den
Widersprüchen, die sich in den Existenzen all derer bilden, die
von einer Behinderung betroffen sind.
Diese Kernpunkte sind:
• Geburt und Diagnose
• Das
Verhältnis
zu
den
Sozialund
Gesundheitsdiensten
• Gruppe für gegenseitige Hilfe und Solidarität:
Ressource oder Mangel?
• Normalität und Alltag
• Freundschaft und soziale Beziehungen
• Träume und Wünsche
Die Komplexität, die aus der Analyse der verschiedenen
Kernpunkte deutlich wird, soll insbesondere allen jenen
vermittelt werden, die beruflich oder als Freiwillige in die Welt
der Menschen mit anderen Fähigkeiten eintreten.
Diese
Kernpunkte
stellen
die
Spuren
eines
Erkenntnisprozesses dar, eines noch nicht abgeschlossenen,
87
sondern offenen Prozesses, der von einer Gruppe in Angriff
genommen wurde, die an die Aufwertung der
autobiografischen Erzählung als Zugang zum Wissen von und
über sich selbst geglaubt hat, eines Reifungsprozesses der
gesamten Gemeinschaft.
Geburt und Diagnose
„Gott sei Dank, wenn ich gewusst hätte, dass Lara in ihrem
Leben nicht gehen oder sprechen können würde, wäre ich wahrscheinlich
verzweifelt und hätte meine Reaktion auch dramatisch sein können“.
Das Erste, was man fast immer aufgeben muss, wenn ein
behindertes Kind zur Welt kommt, ist die Arbeit; das Kind braucht eine
konstante Rehabilitation, es stehen zahlreiche ärztliche Untersuchungen,
Verpflichtungen usw. an …“
Als Monia auf die Welt kam, war sie ein hübsches Kind, völlig
normal, scheinbar gesund und sehr lebhaft. Ich hatte damals eine sehr gute
Stelle als Dekorateurin (…) Ich stellte mir ein ruhiges und unbeschwertes
Dasein vor.
Erst nach mehreren Monaten, als ich aufhörte, sie zu stillen, traten die
ersten Anzeichen ihrer Krankheit auf, (…) doch die Kinderärzte, an die
ich mich wandte, stellten das als unbedeutend hin, sie verstanden nicht,
und dabei handelte es sich um die ersten Anzeichen einer heimtückischen
Stoffwechselkrankheit mit dem Namen „Phenylketonurie“
„Liebe Frau, Sie sind noch jung und können weitere Kinder
bekommen, denn das ihre wird keine zwei Jahre alt werden“. Ungefähr
so: Schaffen Sie sich ein neues Auto an, denn dieses hier
ist kaputt und zum Verschrotten.
In jenen Jahren wurden nicht gerade viele gründliche
Untersuchungen gemacht. In der Bescheinigung über die Zivilinvalidität
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steht geschrieben: … Gehirnerkrankung und Schwierigkeit, mit anderen
Beziehungen zu unterhalten. Sehen wir es aber an einem praktischen
Beispiel: wenn er 10.00 € hat, dann weiß er, dass es 10.00 € sind, er
hat aber keine Vorstellung vom Wert. Oder, ich weiß nicht … die
Quarzuhr kann er lesen, aber eine andere nicht, oder (…)”
Als Roberto geboren wurde, war er ein Kind wie alle anderen, er
aß viel und nahm zu. Die ersten Monate waren schwierig, nachts war ich
immer wach, weil er häufig weinte; ich habe es aber gern getan, ich fühlte
mich natürlich als Mutter. Ich erinnere mich, dass mich die Leute, denen
ich beim Spazierengehen begegnete, häufig nach seinem Alter fragten: er
war sehr frühreif.
An einem warmen Julinachmittag (…) habe ich
gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er hatte den Blick starr ins
Leere gerichtet und es gelang mir überhaupt nicht, seine
Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen (…)
Erst 15 Jahre später (…) ist es mir gelungen, mir eine
Vorstellung von der Komplexität seiner Krankheit zu machen
(…) eine Krankheit, die ihn in die Kategorie der „anderen“
verbannt hat und für immer verbannen wird.
Überlegungen
Die Geburt eines Kindes stellt ein freudiges Ereignis
dar und bringt gleichzeitig enorme Veränderungen für die
Familie mit sich. Es ist ein Übergang vom Traum zur
Wirklichkeit, der sich als schwierig erweist, wenn er vom
Auftreten einer Behinderung begleitet ist.
Welches Lebensprojekt wird hinfällig und welches neue
Lebensprojekt zeichnet sich angesichts dieser neuen Realität
ab?
Die Stellung einer Diagnose ist entscheidend. Auf der einen
Seite erlaubt sie, wenn sie sorgfältig und frühzeitig erfolgt,
Maßnahmen in die Wege zu leiten, die für die Lebensqualität
der behinderten Person und der Familie erforderlich sind, auf
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der anderen Seite kündigt sie eine komplexe Realität an, die
reich an bedeutungsvollen und vielfach widersprüchlichen
Herausforderungen und Emotionen ist.
Das Verhältnis zu den Sozial- und Gesundheitsdiensten
(…) Unsere Kinder sind ein bisschen auch ihre Kinder
(…) Ich muss die Erste sein, die versteht, was zu tun ist und
was mit meiner Tochter geschieht, ob es Ergebnisse gibt oder nicht; darum
gehöre ich zu jener Kategorie Eltern, die ständig in alles ihre Nase
stecken.
Das Vertrauen baust du dir mit der Zeit auf, du spürst es, und ich hatte
das Glück, Personen zu begegnen, die es sich zu verdienen wussten.
(…) Wir müssen das Vertrauen regelmäßig wieder aufbauen!
Als Monia klein war, musste ich mit beträchtlichen
Schwierigkeiten fertig werden, zuerst bei der Bestimmung ihres
Krankheitsbildes und dann, um die für die Behandlung erforderlichen
Medikamente zu bekommen. Leider gab und gibt es auf diesem Gebiet
immer noch viel Bürokratie (…)
Nach der Mittelschule hat er die Berufsschule besucht,
den Tischlereikurs.
„Es machte mir große Freude zu lernen, wie man mit Holz arbeitet, und
ich habe sehr gern in der Mensa zu Mittag gegessen”.
Seit mehreren Monaten lebt Renato gemeinsam mit
anderen Jugendlichen, die so wie er betreut werden müssen, in
einer geschützten Wohnung in Neumarkt (…)
Lucia erinnert sich an die Zeit, als sie vor mehr als acht
Jahren und mehr oder weniger allein die Entscheidung
getroffen hat, Renato und seinen Bruder Franco in
entsprechenden Einrichtungen zur Aufnahme behinderter
90
Menschen unterzubringen. Sie musste eine wichtige
Entscheidung im Hinblick auf die Zukunft ihrer Geschwister
und auf ihre eigene treffen. Die Mentalität jener Jahre: „Du
schiebst sie ab. Du lässt sie im Stich“ machte die
Entscheidung nicht einfach.
Überlegungen
Eines der entscheidenden Bedürfnissen einer Familie mit einer
behinderten Person ist jenes, auf die sozial- und
Gesundheitsdienste bauen zu können, denn sie sind es, denen
die sich anvertrauen müssen, um anderen grundlegenden
Erfordernissen nachkommen zu können, die das Alltagsleben
aufwirft und auferlegt.
Jeder Mensch ist, abgesehen von seinen Fähigkeiten, ein
soziales Wesen, das Bedürfnisse auf relationaler Ebene, vor
allem aber ein starkes Verlangen nach Normalität äußert.
Gruppe für gegenseitige Hilfe und Solidarität: Ressource
oder Mangel?
Ich glaube, anstelle der Haut wächst dir Leder … ja, ja …
Leder wächst dir. Es ist ein mühsames Gepäck fürs Heranwachsen: man
verbittert mit der Zeit, weil man ständig zu kämpfen gezwungen ist. Wie
gern würde ich nur Mutter sein, aber das geht nicht, weil du dich um alles
kümmern und über alles gut informiert sein musst, was dein Kind betrifft.
Fast immer war ich es, die Vorschläge machen, sich über die Neuheiten
bezüglich der technischen Hilfsmittel für das Haus, für die Schule usw.
informieren musste …“
„Ich habe viele nette Leute kennengelernt!” erzählt uns Sonia.
„Andererseits aber gibt es Familien, die wegen der schweren Behinderung
– sowohl körperlich als auch geistig – ihres Kindes viele ehemalige
Freunde verloren haben. Das ist grausam! Du musst nicht nur diese
schmerzliche Erfahrung in Angriff nehmen, du musst auch mit der
Gleichgültigkeit und Ignoranz der anderen fertig werden“.
91
Vor Kurzem habe ich erfahren, dass die medizinische Forschung
in Deutschland neue Medikamente und Diätprodukte entwickelt hat.
Leider ist unser Gesundheitswesen jetzt der Ansicht, dass die
Voraussetzungen, um sich ins Ausland zu begeben, nicht mehr gegeben
sind, und folglich würden sie mir die entsprechenden Ausgaben nicht mehr
zurückerstatten. Ich bin aber überzeug, dass es hier bei uns noch viele
Lücken auf diesem Gebiet gibt (...)
„Es wäre nicht schlecht, wenn er etwas mehr unternehmen
würde, zum Beispiel Meeraufenthalte … Stätten besuchen und Leute
kennenlernen … Und wenn sich die Leute mehr auch mit Menschen wie
Renato abgeben würden, sich angewöhnen würden, sie kennenzulernen
…”
Ein großer Trost ist für mich die Mitgliedschaft im Verein der
Eltern von Kindern, die an Invalidität verursachenden Krankheiten
leiden; das gibt mir moralischen und psychologischen Rückhalt.
Überlegungen
Das starke Verlangen nach Normalität seitens der Menschen
mit besonderen Bedürfnissen und ihrer Familien kollidiert
häufig mit einer Wirklichkeit, die durch die Schwierigkeit
gekennzeichnet ist, Beziehungen herzustellen, die frei von
Ängsten, Vorurteilen und übertriebenen Skrupeln sind.
Die Geburt eines Kindes mit Behinderung ist ein
einschneidendes Ereignis für die Familie, jedes Mitglied ist in
dramatischer Weise davon betroffen. Der Vater nimmt, auch
infolge des Kulturmodells, eine eher marginale Rolle in der
Betreuung und Erziehung ein, während die Mutter zweifellos
am stärksten eingebunden ist. Ihr Alltagsleben wird voll und
ganz davon betroffen und verändert. Sie gibt vielfach ihre
Arbeit auf, sie begleitet das Kind bei der Diagnose,
Behandlung und Rehabilitation, sie in erster Linie durchlebt
rund um die Uhr das Gefühl des Schmerzes, der Ohnmacht
und der Schuld. Gemeinsam mit dem Kind muss sie unzählige
Male auf das Erleben von Normalität verzichten.
92
Auch das Eheleben kann tief greifenden Veränderungen
unterworfen werden und der Weg, den die Familie einschlägt,
kann nicht geradlinig verlaufen, kann durch den ständigen
Wechsel von Emotionen im Zusammenhang mit der
ontologischen Entwicklung des Kindes bestimmt werden. In
diesem komplexen Verlauf entwickelt die Familie eigene
Strategien und Korrekturen, um ein Gleichgewicht zu finden.
Die soziale Integration kann in diesem Verlauf eine Hilfe sein.
Sie wird mittels externer Unterstützungsmaßnahmen
verwirklicht, zum Beispiel einer Gruppe für Eltern,
Freizeittätigkeiten
für
die
Kinder;
diese
Unterstützungsmaßnahmen beeinflussen das Leben der
Familien in maßgebender Weise. Dagegen ist man ohne sie zur
Einsamkeit, zur Frustration und Trostlosigkeit verdammt.
Normalität und Alltag
„Dank Rossella habe ich mich als normales Mädchen gefühlt
… sie hat mit mir geredet und mich verstanden“
„Ich glaube nicht, dass ich etwas Sonderbares an mir habe“
„Ich weiß, dass ich nicht normal bin, aber eine Sache ist es,
wenn ich mir das sage, eine andere, wenn mir die anderen das sagen“.
Beim Erzählen verwendet er häufig Dialektausdrücke,
aber als ich ihn darauf aufmerksam mache, verneint er
entschieden: „Nein, ich spreche italienisch, spreche ich“.
Der Tagesablauf Renatos wird vom Rhythmus der
Arbeit in der Werkstätte und durch die Hausarbeiten geregelt,
wie: „Duschen, Essen zubereiten, Tassen in die Spülmaschine
einräumen, den Tisch säubern, Recycling, einkaufen, den Wochenplan
vorbereiten, der bei den Sitzungen beschlossen wird … dann gehen wir
zusammen zum Arlecchino Eis essen, oder wir gehen Pizza essen …“
93
Ich sehe mich als normale Person, ich bin aber behindert, und
zwar in dem Sinn, dass ich auch körperliche Probleme habe, zum
Beispiel Epilepsie, und deshalb bin ich nicht selbstständig.
Zur Schule fuhr ich mit einem Kleinbus der Provinz; er war gelb
und trug auf einer Seite die Aufschrift „Schulbus“.
Auch am allerersten Schultag bin ich mit dem Kleinbus zur
Schule gefahren, allein, Mutter hat mich nicht begleitet.
Meine Freizeit verbringe ich immer zu Hause, indem ich
Kreuzworträtsel löse und Patiencen lege.
Wenn ich zu Hause bin, sehe ich gern fern und höre normale
Musik, das heißt jene, die nicht zu laut ist.
Ich erinnere mich, wie Mutter am ersten Tag eilig weggegangen
ist … ich wollte bei ihr bleiben … anfangs habe ich sehr geweint, dann
aber wollte ich nicht mehr weggehen.
Im Garten esse ich Trauben, diejenigen, die ich kaufe,
schmecken mir nicht, mir schmeckt das Obst, das direkt vom Baum
kommt und frisch ist …
Überlegungen
Jedes der erzählten Leben stellt eine Normalität im Verhältnis
zum Kontext dar, der den Erzähler umgibt, und bestimmend
sind die signifikanten Beziehungen, die dieser hat.
Die Normalität ist für alle eine Konstruktion, unabhängig
davon, ob unterschiedliche Fähigkeiten vorliegen.
Die Wahrnehmung, die jeder innerhalb eines Systems von sich
hat, und vor allem diejenige, die das konstruierte System dem
Einzelnen vermittelt, kann das Anderssein schaffen oder
unterstreichen.
Für einige der befragten Personen ist die Normalität durch die
Übereinstimmung mit dem Kontext gegeben, mit dem sie
täglich in Beziehung stehen.
94
Die erzählten Geschichten werden nämlich täglich erlebt, und
zwar mittels unterschiedlicher, deshalb jedoch nicht
einschränkender Interpretationscodes.
Das Leben wartet häufig mit Situationen und Ereignissen auf,
die nur durch die Art und Weise, wie sie der Mensch erlebt
und sich mit ihnen in Beziehung setzt, zu einer Quelle der
Behinderung werden.
Es gibt mehrere Normalitäten, und keine davon kann als
positiv oder negativ betrachtet werden. Wir sollten nach
Möglichkeit imstande sein, jeder von uns, ohne Masken und
soziale Konstruktionen zu leben.
Freundschaft und soziale Beziehungen
„Die Leute lassen mich spüren, dass ich anders bin. Sie
erschrecken vor mir, sie sehen mich nicht an, sie reden nicht mit mir“.
„Daniele schob immer meinen Rollstuhl, aber nicht, weil ich ihm
gefiel, sondern weil es ihm gefiel, mit ihm herumzufahren“.
„Außerhalb der Schule habe ich Freunde, in der Schule
aber keine; das interessiert mich nicht“
Für ihn geschieht alles normal; er ernennt seine
Lebensgefährten unterschiedslos unter Gästen und
Mitarbeitern, von denen er auch einige Geheimnisse kennt …
Das Wochenende verbringt Renato beim Onkel und
hilft ihm bei den häuslichen Angelegenheiten (…) Außerdem
hat er eine wichtige Aufgabe, die ihm sehr am Herzen liegt:
Flaschen, Kartone, Zeitungen, Plastik sammeln, alles was ihm
der Onkel und Freunde im Dorf herrichten, und den Müll zu
trennen.
Ab und zu treffe ich mich mit meinem Freund
Giacomo zum Pizzaessen, auch wenn wir uns jetzt schon seit
95
einer Weile nicht mehr sehen, oder ich nehme an Tätigkeiten
des Vereins teil, in den ich mich zusammen mit meiner Mutter
eingeschrieben habe.
Die Lehrerin war auf Draht, auch die Kameraden waren das.
In der Klasse war auch die Tochter meiner Lehrerin, wir waren immer
zusammen. Wir hören uns immer noch fast täglich, wir sind Freunde
geblieben,
Samstags spiele ich Schlagzeug, meine Freunde studieren oder
gehen zur Schule und sind daher nachmittags beschäftigt. Ein Freund
arbeitet donnerstags nachmittags nicht, so wie ich, und ab und zu treffen
wir uns, um gemeinsam zu spielen.
Wenn die Freunde keine Schule haben, oder im Sommer, gehen
wir Pizza essen, manchmal bleiben wir auch bis halb zwei oder zwei Uhr
aus.
In den Ferien am Meer habe ich einige Freunde kennengelernt,
wir haben uns unterhalten und Freundschaft geschlossen … du rufst mich
an, ich ruf dich an!
Überlegungen
Die sozialen Beziehungen entstehen durch die Begegnung
zwischen zwei Teilen, und maßgeblich ist, wie sich jeder
beteiligte Teil einbringt und den anderen mit einbezieht. In der
Gegenüberstellung mit den anderen stellt sich jeder dar und
definiert seine persönliche Identität.
Freundschaft bedeutet, eine auf Zuneigung, Achtung und
Vertrauen gegründete Bindung herzustellen. Wenn derjenige,
der anders ist, tagtäglich mit dem Gefühl von Unbehagen und
Angst, die er im anderen hervorzurufen spürt, kämpfen muss,
wie kann er ihm da mit Freundschaft begegnen, wie kann er
dieses kostbare Gefühl aufkommen lassen?
Die Angst schlägt in die Flucht, die Angst führt dazu, dass
man sich versteckt; zwischen dem, der flüchtet, und dem der
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sich versteckt, ist die Leere, da kann es zu keiner Begegnung
kommen, kann keine Freundschaft entstehen.
Diese Leere tut weh, lastet auf dem Menschen mit besonderen
Bedürfnissen, erstickt ihn und hindert ihn daran, die Schönheit
und Lebenskraft dieser leidvollen Welt zu entdecken, einer
Welt, die aber voller Mut, Willenskraft und Ressourcen ist, die
für uns alle wertvoll sind.
Träume und Wünsche
„Ich träume davon, eine Familie zu haben, zwei
Kinder, eine Arbeit in einer Großstadt“.
„Meine große Leidenschaft, eine wirklich starke
Leidenschaft, ein Traum … ist der klassische Tanz. Der Tanz
weckt unbeschreibliche Emotionen in mir“
„Ich träume davon, zu tanzen; leider werde ich es nie
tun können … aber ich habe mich damit abgefunden“
Renato fragt sich, was aus dem Wohnheim geworden
ist, es tut ihm ein wenig leid, weil sich einiges geändert hat,
und ihm fehlen die Köche. Letztlich aber, versichert er, würde
er, wenn er in einem Wohnheim wäre, jetzt darum ersuchen,
in eine Wohnung ziehen zu können, um dort zu leben.
Als ich Renato frage, ob es etwas gibt, was er gern tun
würde und was er zurzeit nicht tut, wiederholt er alles, was er
bereits tut. Es sind alles einfache Sachen. Erst als ich insistiere,
sagt er mir, dass er sich die Zukunft nur schwer vorstellen
kann; ihm passt es so, wie es zurzeit ist: „Trinken, essen, mich
wohlfühlen“.
Meine Zukunft? Ich habe keine Ahnung, wo ich in der Zukunft
sein werde, und noch weniger, was ich machen werde, ich denke, ich werde
97
weiterhin in der Werkstätte arbeiten wie bisher und mit Mutter und
Vater zusammenleben.
Nein, ich denke, dass ich immer so weitermachen werde wie
bisher, das heißt, wie soll ich sagen … ich bin als Stubenhocker geboren
und möchte das auch weiterhin bleiben.
Wir haben gesagt: „Versuchen wir, unsere erste CD
aufzunehmen!” … und wir haben den Versuch gestartet … ich würde
gern eine weitere machen.
Ich würde gern etwas anderes machen (…) ich bin nicht gern in
einem geschlossenen Raum, dort fehlt mir die Luft. Mir gefallen jene
Arbeiten, wo man richtig schmutzig wird …
Ich war fast einen Monat lang in den Vereinigten Staaten … es
war wirklich schön, ich wäre gern noch ein wenig länger dort geblieben!
Überlegungen
Schwierige oder leichtere Wünsche, unerfüllbare Träume, die
dem Leben Farbe verleihen. Die Welt der Menschen mit
Behinderung verläuft parallel zu jener und ist gleich wie jene
der Nichtbehinderten, die ebenfalls von mehr oder weniger
wichtigen Wünschen angetrieben werden und sich von oft
schwer zu verwirklichenden Träumen tragen lassen. Der
Unterschied liegt im benachteiligten Start, im mühsamen,
steilen Weg voller Hindernisse, den sie beschreiten müssen,
aber oft gehen sie als Sieger durchs Ziel, und die Wünsche
erfüllen sich, die Träume werden wahr.
98
NACHWORT
Claudio Imprudente
Die Lektüre dieses Buches bestärkt mich in einer
Sache, von der ich mich in diesen letzten Jahren überzeugt
habe: die Behinderung darf nicht nur als Studienobjekt seitens
eines
Wissenschaftswissens
(Pädagogik,
Medizin,
Rehabilitation usw.) betrachtet werden, sondern als Blick auf
die Wirklichkeit, als Standpunkt, von dem aus die Ereignisse
unseres Lebens betrachtet und schließlich erzählt werden.
Diese Überlegung ist sehr wichtig, weil sie eine Reihe von
Kenntnissen und Sehweisen wiedereinsetzt und die
spezialistische Selbstgettoisierung verlässt, unter der die
sogenannte „Welt der Behinderung“ leidet, eine Welt, die
meiner Meinung nach als unbewohnt zu betrachten ist. Die
Behinderung ist nicht ausschließlich einer Kategorie von
Menschen zugeordnet, darf nicht nur von den
„Sachverständigen“ angegangen werden, die Integration ist
nicht das Ergebnis eines ausschließlich technischgesetzgeberischen Prozesses. So kommt zum Beispiel wieder
die Würde des Elternwissens zur Geltung, gleichberechtigt
gegenüber dem Wissen des Pädagogen oder des Psychiaters,
und es entsteht das, was letzthin als Pädagogik der Eltern
bezeichnet wird und nichts anderes ist als die Pädagogik des
Vertrauens, die Pädagogik derjenigen, die in das Lebensprojekt
des Kindes investieren, in seine Geschichte, und zwar so viel
wie möglich. Doch neben dem Elternwissen kann es noch
andere Kenntnisse geben, andere Sehweisen, andere
Geschichten zu erzählen, wie zum Beispiel jene des Trainers,
des Arbeitskollegen, des Fans, des Alltagsmenschen, der von
Mal zu Mal verschiedene Rollen innehat. Das sind wesentliche
Figuren, weil sie die Menschen mit Behinderung nicht in die
übliche Dialektik/Dyade Erzieher-Erzogener, BetreuerBetreuter, Therapeut-Therapierter einbinden, sondern in
andere, allgemeinere Rollen, die allen gehören: Eltern-Kind,
Trainer-Trainierter, Kollege-Kollegin usw. Schließlich die
99
Würde und Unabdingbarkeit des Wissens derjenigen, die ihre
Situation in persona erleben und von einem internen
Gesichtspunkt aus erzählen können: anhand dieser Erzählung
definiert man sich zwangsläufig neu, setzt sein Selbstbild in
Bewegung, versteht man es besser, stellt man es sich selbst
gegenüber.
Bewahrer der eigenen Geschichten und jener der anderen zu sein ist
wirklich eines der ersten und wichtigsten Ziele des
menschlichen Wesens als solches, das ein „homo politicus“
und folglich zugleich ein sprechendes, dialogierendes und
erzählendes Wesen ist. Alle meine Bücher sprechen über mich
zunächst zu mir selbst, es sind Geschichten, die ich erlebe und
mit Hilfe des Vergrößerungsglases der Erinnerung wieder
erlebe, es sind Geschichten, die mir ein Selbst zurückschicken,
das in Bewegung ist, sich in Entwicklung befindet
(Verbesserung oder Verschlechterung? Wer weiß?), immer
aber unter dem vitalen Zeichen der Veränderung. Das Projekt
„Calamaio“ (Tintenfass), das 1986 vom „Centro
Documentazione Handicap“ in Bologna ins Leben gerufen
wurde (für weitere Informationen siehe: www.accaparlante.it),
besteht aus einem Team von Animateuren, Menschen mit und
ohne Behinderung, und sein Hauptzweck besteht darin, sich
mit Schulkindern zu treffen und sie zu erziehen, den
Federhalter ins Tintenfass einzutauchen und das weiße Blatt
zu beschmieren, Geschichten zu erzählen, die häufig nicht
erzählt werden und in früheren Zeiten in Vergessenheit
geraten sind. Die Behinderung wurde lange, sehr lange, viel zu
lange in die Vorgeschichte verbannt, die, wie schon das Wort
sagt, die Geschichte vor der Geschichte ist, die
Nichtgeschichte, weil man sich nicht daran erinnert, weil sie
nicht in der Erinnerung und im Gedächtnis der Nachfahren
festgehalten ist, das Zeitalter, in dem das menschliche Wesen,
obwohl es existierte, die Ereignisse seines Lebens nicht
festhielt, wo die Menschheit quasi als einheitlicher Block
erscheint, keine Einzelpersönlichkeiten hervorstechen, es
100
keine Namen gibt, an die man sich erinnert, es keine
einmaligen Menschen gibt (wie oft habe ich sagen hören: „In
jener Klasse ist das behinderte Kind“ oder: „Man weiß, dass
die Mongoloiden die Musik lieben“ usw.). Es ist ein
wesentlicher Tatbestand, dass die Entstehung der Schrift, die
Entstehung der Stadt und die Entstehung der Geschichte
praktisch zusammenfallen. Leider ist die derzeitige Geschichte
vieler Menschen mit Behinderung noch eine Vorgeschichte,
und auch dieses Buch trägt dazu bei, sie dieser zu entreißen.
Von sich zu erzählen und die Geschichte eines Menschen mit
Behinderung zu erzählen bedeutet also in erster Linie, seine
Einmaligkeit zu bekräftigen, sein nicht kategorisierbares Sein,
sein Mehr-Sein (als ein stereotypes und bereits festgelegtes
Bild, als eine einzige Rolle). Der Mensch mit Beeinträchtigung
hat es sehr schwer, als Person als solche akzeptiert zu werden,
sowohl weil er „in seiner Beeinträchtigung versteckt“ ist, also
mit seiner Beeinträchtigung identifiziert wird, als auch weil
seine Situation als etwas Überraschendes erscheint, da sie
irgendwie widersprüchlich, paradox ist. Für die Griechen ist
jemand, der nicht in der Polis ist, der nicht zur Stadt gehört,
der nicht deren Sprache spricht, der außerhalb von ihr steht,
entweder ein Tier oder ein Gott. Das Menschsein des
Menschen mit Behinderung ist eine Tatsache, die theoretisch
von allen anerkannt und akzeptiert wird, aber im konkreten
Alltag ist es nicht so. Für das Kollektivbewusstsein tut sich der
Behinderte schwer, auf der menschlichen Ebene zu bleiben,
und gleitet mal auf die tierische, mal auf die göttliche Ebene
ab. Im Allgemeinen betrachtet man den Behinderten als
jemand, der mehr leidet, ja in gewisser Hinsicht als das Symbol
des Leidens, das, wie wir wissen, ein Begriff ist, dem in der
christlichen Lehre eine sehr wichtige und häufig
missverstandene Rolle zukommt. Leider ist die Auffassung
noch sehr verbreitet, die im Behinderten jemand sieht, der für
die Sünden der Menschheit büßt (und in der archaischeren
Vorstellung für die Verfehlungen der Familie), der direkt in
101
den Himmel kommt, nachdem er dieses Jammertal verlassen
hat. Wenn also der Weg des Leidens ein Weg ist, der zu Gott
führt, dann hat natürlich ein Mensch mit Behinderung weniger
mit der zeitlichen Ebene zu tun, als vielmehr mit der
kommenden Welt, dann verweist die Wahrnehmung des
Behinderten weniger auf das Hier und Jetzt, als vielmehr auf
das Jenseits. Da haben wir ein erstes Paradox: welcher Welt
gehört der Behinderte an?
Als ob das nicht genug wäre, gibt es neben dieser Tendenz –
sagen wir mal – nach oben, eine Tendenz nach unten, die den
Behinderten erdrückt, ihn auf die „irdischen“ Fakten verflacht.
Seine Körperlichkeit fällt nämlich viel stärker auf als die der
Nichtbehinderten (man braucht nur an die primären
Funktionen wie zum Beispiel Essen oder Trinken denken, die
häufig problematisch sind und sofort ins Auge fallen); seine
tierische Natur – aber vielleicht wäre es besser, von
Körperlichkeit zu sprechen (die tierische Natur hat mit der
Seele zu tun, während der behinderte Körper als stumpf, matt,
ohne innere Energiebahnen empfunden werden kann) – tritt
in den Vordergrund. Die tierische Natur, die zwar in jedem
Menschen vorhanden ist, aber durch Erziehung und
Anstandsregeln domestiziert, aufgewertet und sublimiert wird,
wird beim Behinderten zu einem unliebsamen Gast, weil sie
viel zu oft ertragen und nicht verstanden wird. Kehren wir zu
der griechischen Aussage zurück: Wer nicht in der Polis ist, ist
entweder ein Tier oder ein Gott. Wir haben gesehen, dass der
Behinderte zwei gleichzeitig wirkenden Tendenzen ausgesetzt
ist, die in jedem Fall seine menschliche Dimension negieren.
Der Mensch ist ein Wesen, bei dem sowohl die tierische
Gegebenheit als auch die rational-göttliche Komponente
harmonieren. Der Mensch ist Teil der Natur, gehört zur
Natur, gleichzeitig aber ist es, als ob er sie von außen
betrachtete, und zwar gerade dank der Fähigkeit bzw.
menschlichen Dimension schlechthin: des Selbstbewusstseins.
Der Mensch befindet sich auf halbem Weg zwischen dem
102
Tierischen und dem Göttlichen, und in diesem
Zwischenbereich hat er seine Stadt, seine Gemeinschaft
gebaut, in der es wesentlich ist, den Logos, die Sprache zu
teilen, um dazuzugehören. Wenn diese gemeinsame Teilhabe
für den Behinderten problematisch ist, ist die Verbannung aus
der Stadt unausweichlich.
Dieses Buch gibt der Gemeinschaft die Dimension des
Behindert-Seins zurück, weil es der Erzählung, dem Wort die
Würde zurückgibt. Das H (für Handikap) wird von einem
stummen zu einem sprechenden Buchstaben (darum haben
wir 1981 die Zeitschrift HP – „Accaparlante“, das sprechende
H gegründet, dessen Untertitel l’handicap fuori dalla riserva [das
Handikap außerhalb des Reservats] lautete). Mit Hilfe von
Büchern wie diesem kehren die Menschen mit Behinderung
und ihre Familien in die Gemeinschaft zurück, finden den
Mut, um sich neu zu definieren, aus der Identifikation mit der
Beeinträchtigung herauszukommen. Die Debatte über die
Terminologie, die verwendet werden soll (Behinderte,
Menschen mit anderen Fähigkeiten usw.) ist sehr wichtig im
Hinblick darauf, was sie bedeutet. Bei einer Begegnung mit der
Bevölkerung von Ghilarza in Sardinien habe ich mich als
andeutungsweise gleich definiert … worauf begeisterter Beifall und
großes Gelächter folgten. Dieses Ringen um Selbstverständnis
seitens der Menschen mit Behinderung ist sympathisch.
Mancher definiert sich als Vogelscheuche, wie Carlo Marongiu in
seinem Buch, in dem er erzählt, wie er die neurologische
Krankheit erlebt hat, die dazu geführt hat, dass er vollständig
gelähmt ist. Ein sehr schönes und tief gehendes Buch, in dem
sich auch der wunderbare Satz findet: „Ich glaube, dass die
Schwere einer Krankheit nicht nur nach den körperlichen
Schäden beurteilt werde sollte, die sie beim Menschen
hervorruft, sondern auch nach der Fähigkeit des Individuums,
auf diese Krankheit körperlich und geistig zu reagieren“ (S. 28,
aus Pensieri di uno spaventapasseri [Gedanken einer Vogelscheuche],
Ghilarza, 2002).
103
Vielleicht entspringt der Wunsch, aus den Schemas
auszubrechen, sich als Mensch mit anderen Fähigkeiten zu
bezeichnen, oder jemand anderen als schwer nichtbehindert zu
bezeichnen, gerade der Sehweise desjenigen, der die Tatsache,
eine Beeinträchtigung zu haben, nicht als eine statische,
sondern als eine in Bewegung befindliche Situation betrachtet,
die sich je nach der Perspektive ändert, deren Schwere nicht
definiert und nicht definitiv ist. Die Schwere auch einer
schrecklichen Krankheit wie jener von Marongiu, die er selbst
ohne Zögern als die Verfluchte bezeichnet, ist nicht so groß, als
dass sie nicht Platz für die „Leichtigkeit“ der Selbstironie ließe,
für die Würde, sich nicht mit der Krankheit zu identifizieren,
sondern mit einem Menschen, der Feuerwehrmann gewesen
ist, der Ehemann, Vater oder Gläubiger ist, und der darüber
hinaus auch unter jener Krankheit leidet. Es ist die letzte
Freiheit des menschlichen Wesens, das imstande ist, einen
Abstand zwischen sich selbst und der Notwendigkeit,
zwischen dem Gedanken und den Dingen zu setzen. „Ein
Berg ist ein Berg und ein Millimeter ist ein Millimeter. Das
sind zwei ganz verschiedene Dinge, aber für mich gibt es
keinen Unterschied.“ (Ebenda, S. 29)
Zum Schluss möchte ich allen die für mich wichtigste
Botschaft dieses Buches weitergeben, nämlich Bewahrer von
etwas und von jemand zu sein, Bewahrer der eigenen
Geschichten im Wissen, dass unsere Geschichte das Ergebnis
der Verflechtung vieler Geschichten ist, und Bewahrer der
Geschichten der anderen zu sein, weil diese auch unsere
widerspiegeln und beleuchten.
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Dank
Für diese Arbeit möchten wir außer den Fachleuten von der
Freien Universität für Autobiografie von Anghiari, die uns mit viel
Geduld unterstützt haben, noch weiteren Personen danken.
Unser Dank gilt Dr. Antonio Gualtirolo, der dieses Projekt in
die Wege geleitet hat, und Frau Dr. Liliana Di Fede Mosca, die dessen
Durchführung geleitet hat.
Ein herzliches und besonderes Dankeschön geht vor allem an die
befragten Personen für ihren überaus wertvollen und persönlichen Beitrag
und dafür, dass sie uns erlaubt haben, in ihr Leben zu treten, um
anderen zu ermöglichen, etwas Anderes und Neues aus der Welt der
Menschen mit anderen Fähigkeiten kennenzulernen.
Davide, Elena, Lisa, Maria Cristina, Silvia und Ugo
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Bezirksgemeinschaft Überetsch-Unterland
F.-Innerhofer-Straße 15
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Tel. +93 0471 950653, Fax +39 0471 950692
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September 2006.
Grafisches Konzept:
Stefano Boragine – Sozialsprengel Leifers (BZ)
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