BPI Pharmamagazin Hilfe
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Ein Magazin über die Pharmaindustrie Hilfe! – Zwischen Krankheit, Versorgung und Geschäft Der BPI stellt diese Publikation zur Ansicht in elektronischer Form zur Verfügung. Alle Rechte bleiben vorbehalten. Die Veröffentlichung, Vervielfältigung oder sonstige Nutzung, im Ganzen oder in Auszügen in Wort oder Bild, ist unzulässig. Hilfe! Zwischen Krankheit, Versorgung und Geschäft Ein Magazin über die Pharmaindustrie Die Pharmaindustrie auf einen Blick Zahl der pharmazeutischen Betriebe in Deutschland (2009) . . . . . . . . . 903 Unternehmen mit weniger als 100 Mitarbeitern, in Prozent . . . . . . . . . 79,5 Unternehmen mit 100 bis 499 Mitarbeitern, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . 15,0 Unternehmen mit 500 und mehr Mitarbeitern, in Prozent . . . . . . . . . . . . . 5,5 Aufwendungen für Forschung und Entwicklung der deutschen … Maschinenbauindustrie im Jahr 2009, in Millionen Euro . . . . . . . 4944 … Pharmaindustrie im Jahr 2009, in Millionen Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5379 … Fahrzeugbauindustrie im Jahr 2009, in Millionen Euro . . . . . . . . 21 820 Exportwert deutscher pharmazeutischer Erzeugnisse … im Jahr 2000, in Milliarden Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15,2 … im Jahr 2010, in Milliarden Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51,1 Weltweiter Umsatz der Pharmaindustrie mit Arzneimitteln im Jahr 2010, in Milliarden Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633,9 Davon Umsatzanteil in Nordamerika, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38,6 Davon Umsatzanteil in Japan, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11,2 Davon Umsatzanteil in Deutschland, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4,7 Davon Umsatzanteil in Großbritannien, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2,4 Gesamtausgaben für Gesundheit in Deutschland (2009), in Milliarden Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Anteil daran, der auf Arzneimittel entfällt, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Anteil daran, der nach Steuern und Handelsabzügen für die Hersteller verbleibt, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1 Ein Experiment Arzneimittel schützen, verbessern und ermöglichen Leben. Dafür werden sie respektiert und geschätzt – wenn man sie braucht. Ihre Hersteller weniger. Wir agieren im Spannungsfeld zwischen Krankheit, Versorgung, Hoffnung auf Heilung und Geschäft. Wir leben davon, Arzneimittel zu verkaufen. Ohne Umsatz keine Einnahmen für Forschung und Entwicklung, Herstellung und Vertrieb. Und ohne Gewinn keine Investoren, die mit uns Risiken eingehen. Arzneimittel ohne Profit kann es nicht geben. Behandlung und Business: Das sind die zwei Seiten der Medaille für die Pharmaindustrie. Es stimmt: Wir haben Fehler gemacht, denn wer verstanden werden will, muss sich erklären. Der muss sich messen lassen: nicht an Hochglanzbroschüren, sondern an der Realität. Und dazu zählt auch die Kritik am eigenen Tun. Deshalb haben wir dieses Magazin in Auftrag gegeben – und der Redaktion freie Hand gelassen: bei der Auswahl von Themen und Autoren, bei der Wahl von Gesprächspartnern und Inhalten, bei Umsetzung und Gestaltung. Wir haben uns in die Hände von Journalisten begeben – Angehörigen einer Berufsgruppe, die uns meist misstrauisch gegenübersteht – und sie recherchieren lassen. Das Ergebnis ist ein Heft, das wir selbst so nie auf den Weg gebracht hätten. Sie finden darin Kritik an unserer Arbeit, Sie finden Fragen, die wir anders stellen, und Antworten, die wir so nicht geben würden. Die Redaktion lässt Pharmakritiker und Skeptiker genauso zu Wort kommen wie Menschen, die etwas über unsere Industrie sagen, aber nicht mit unserem Verband verbunden sind. Vieles gefällt uns nicht, auf manches hätten wir lieber verzichtet, nicht wenig wird uns Kritik aus den eigenen Reihen eintragen. Aber wir haben auch gelernt. Wir haben uns von Meinungen und Sichtweisen überraschen lassen und Einblick in die Arbeitsweise von Journalisten gewonnen, die kritisch fragen, wissen wollen und an der Sache interessiert sind. Vielleicht werden umgekehrt ja auch ein paar Klischees geradegerückt. Vielleicht entdecken Sie Neues an unserem Tun. Oder Spannendes und Wissenswertes an dieser Branche, die sich aus Überzeugung der Behandlung von Krankheiten und dem Fortschritt verschrieben hat. Dann wäre unser Experiment geglückt. Illustration: Eva Hillreiner BPI – Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie 2 3 Heilsames Wissen Susanne Risch, Chefredakteurin 4 Mit der Pharmaindustrie ist es wie mit Fußball: Jeder kennt sich aus, jeder kann mindestens eine unglaubliche Geschichte dazu erzählen, und jeder hat eine Meinung. Wenn im speziellen Fall auch meist eine negative: Pharma ist übel und gefährlich. Es ist schon erstaunlich, wie weit die Wahrnehmungen auseinanderklaffen. An den Produkten sind wir durchaus interessiert, für viele Menschen sind sie überlebenswichtig. Wir erwarten immer neue, bessere, hilfreiche Medikamente, und das möglichst billig, auf jeden Fall ohne Zuzahlung. Von den Unternehmen, die sie produzieren, halten wir wenig: Sie verdienen an unserem Leid. Sie sind uns zu groß, zu gierig, zu unmoralisch, im günstigsten Fall suspekt, ziemlich oft zuwider. Wer wie Wolf Lotter (Seite 22) im Internet nach dem Wort Pharmaindustrie googelt, der findet massenhaft Begriffskombinationen mit „Manipulation“, „Betrug“, „Gefahr“ und „Schäden“ – und nur ganz selten so etwas wie Interesse am pharmazeutischen Fortschritt, von Anerkennung oder Wertschätzung ganz zu schweigen. Warum sich die Redaktion auf dieses Feld begeben hat? Eben deshalb. Wir wollten wissen, wie sich diese Diskrepanz zwischen Produkt und Hersteller erklärt und wer das wirklich ist – die Pharmaindustrie. Wir wollten verstehen, wie die Branche tickt, wie sie arbeitet, woran sie forscht und in welchem Spannungsfeld sie sich bewegt. Deshalb haben wir Fragen gestellt: Wie entsteht ein neues Medikament? Warum gibt es für Kinder oft immer noch keine adäquate Arznei? Wieso fehlt uns für medizinische Forschung in Deutschland das Geld? Lebt es sich als Patient in anderen Ländern besser? Können wir uns unsere Gesundheit bald nicht mehr leisten? Bringt uns die personalisierte Medizin weiter? Und welche Verantwortung für Hilfe, Heilung und Kosten tragen wir eigentlich selbst? Einfache Antworten haben wir nicht gefunden, dazu sind die Themen zu komplex. Weshalb beispielsweise die so wichtige Impfung gegen Papillomaviren, die Gebärmutterhalskrebs auslösen, zum typisch deutschen Desaster geriet, muss man schon ein wenig ausführlicher erzählen, will man die Geschehnisse in jüngster Vergangenheit wirklich verstehen. Mit der simplen Formel „Pharma ist schuld“ ist es jedenfalls nicht getan – bei der HPV-Impfung so wenig wie bei der Kostensteigerung im Gesundheitswesen oder bei der Frage nach bezahlbaren Medikamenten für die Dritte Welt. Im komplizierten Geflecht aus Bedürfnissen, Erwartungen, Ansprüchen und Möglichkeiten der unterschiedlich Beteiligten im Gesundheitswesen spielt die Pharmaindustrie eine wichtige Rolle. Darin ist sie unersetzlich – und wie jede andere wissensgetriebene Industrie oft auch ungeschickt in der Kommunikation oder im Umgang mit Ängsten und öffentlicher Kritik. Doch wer sich die Mühe macht, genauer hinzuschauen, findet Stärken und Schwächen – und jede Menge Stoff für spannende Geschichten. Die immer gleiche Story vom dritten Tor ist dagegen einfach langweilig. 5 Inhalt 8 Was ist fair? Zu groß, zu mächtig, zu gierig, zu wenig innovativ? Zu einfach. Ein Branchenporträt. 16 „Uns fehlt das Gesicht.“ Warum ist es um das Image von Pharma so schlecht bestellt? Ein Gespräch mit Bernd Wegener (Foto rechts), Vorstandschef des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI). 22 Schluckbeschwerden Skepsis ist gesund. Ignoranz ist dumm und gefährlich. Ein Plädoyer für mehr Vernunft im Umgang mit Pharma. 26 Aus dem Gleichgewicht Komplexer geht es kaum: Der Patient bestellt, der Arzt entscheidet, die Industrie liefert, die Kasse zahlt, die Versichertengemeinschaft stöhnt, die Politik dämpft, die Verbände kämpfen. Dabei wollen doch alle dasselbe: ein funktionierendes, bezahlbares Gesundheitssystem. 36 42 52 58 66 6 Labor der Hoffnung Mit Stammzellen, so hoffen Patienten und Mediziner seit Jahrzehnten, könnten tödliche Krankheiten irgendwann heilbar sein. Britische Forscher sind dem Traum jetzt ein klein wenig näher gekommen. 36 16 26 Kein Sauseschritt zur Therapie Die Entwicklung eines neuen Medikaments dauert Jahre und ist ein teures, mühsames Geschäft. Einen Top-Hit in den Musik-Charts landet auch nicht jeder. Der Wissenschaftler und Ex-Musiker Horst Lindhofer hat im Laufe seiner Karriere gleich beides geschafft. Meilensteine Gewagte Experimente, skurrile Begegnungen, vergessene Petrischalen. Eine Reise in die Medizingeschichte. Immun gegen Vernunft Stolz, Hype, Profit, Skepsis, Polemik. Wie die HPVImpfung in Deutschland zum Desaster geriet. Gute Frage Kümmern sich die Pharmaunternehmen wirklich nicht um Krankheiten in der Dritten Welt? 114 68 Die Zauberformel Wie sorgt man dafür, dass ein neuer Wirkstoff am richtigen Organ auch die richtige Wirkung erzielt? Zu Besuch bei einem, der es wissen muss. 76 Der Glücksfall Ohne Risikokapital ist Arzneimittelforschung für junge Unternehmen nicht finanzierbar. Doch in Deutschland sprudeln die Geldquellen nur spärlich. Was das für Pharma und Biotech bedeutet, diskutieren drei prominente Vertreter der Branche: SAP-Gründer Dietmar Hopp, Friedrich von Bohlen und Halbach und Christof Hettich. 84 Kann das auch explodieren? Die Kosten im Gesundheitswesen steigen seit Jahren stetig. Wo führt das hin? Und wie lange kann das noch gut gehen? Ein Erklärungsversuch. 92 Gute Frage Warum sind die meisten Arzneien, mit denen Kinder behandelt werden, gar nicht für sie zugelassen? 94 Wie geht’s? Das deutsche Gesundheitssystem steht seit Jahren in der Kritik, die Liste der Mängel und Klagen ist lang. Grund genug, sich einmal umzuschauen: Wie geht es eigentlich einem Patienten in China, Großbritannien, Indien, den USA oder Schweden? 114 Kleine Größen Für die einen ist es lediglich plumpes Marketing, die anderen feiern es als Revolution. Was ist dran an der sogenannten personalisierten Medizin? 122 „Keine Menschen in unserem Sinne“ Der britische Naturwissenschaftler Mark Stevenson hat eine optimistische Reise in die Zukunft gemacht. Was er dabei gelernt hat, erzählt er im Interview. 128 Impressum Das Gesundheitswesen in Zahlen Seiten: 25, 75, 83, 113 7 Was ist fair? Von ihren Produkten erwarten wir alles: Medikamente, die helfen, heilen, lindern und außerdem günstig sind. Von ihnen selbst halten wir wenig: Die Unternehmen, die Arzneimittel herstellen, genießen keinen guten Ruf. Ihr Geschäft ist die Gesundheit, oft geht es um Leben oder Tod. Aber auf dem Markt der Ängste und Hoffnungen geht es auch um Milliarden. Und damit automatisch um Moral. brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl Text: Andreas Molitor Illustration: Jindrich Novotny 8 9 3 Irgendwann musste es ja fallen, das böse Wort. Seit geraumer Zeit munkelte, raunte, säuselte es im Wahlkampf durch die Straßen und Säle: „Die grüne Spitzenkandidatin, das ist eine Pharmalobbyistin.“ Gemeint war Andrea Fischer, gut zwei Jahre Bundesgesundheitsministerin unter Gerhard Schröder. Im vergangenen Jahr versuchte sie ein kleines politisches Comeback. Sie wollte Bürgermeisterin im Berliner Bezirk Mitte werden. Ihre Chancen standen nicht schlecht. Aber dann passierte es. Der SPD-Amtsinhaber zog die Pharma-Karte. „Der musste sich nur auf den Marktplatz stellen und sagen: ‚Die grüne Tusse arbeitet für die Pharma industrie‘“, erinnert sich Fischer. Der SPD-Mann sagte es wohl weniger grob, aber mit einem Unterton, der nahelegte, dass es sich dabei um etwas ganz und gar Ehrenrühriges handeln musste. Der Stachel saß, klein, spitz und giftig. Parteifreunde sprachen die grüne Spitzenkandidatin besorgt an. „Lass dir ein paar kluge Sätze einfallen“, mahnte ein alter Kollege – wohl wissend, dass es gegen den Vorwurf der Kumpanei mit der Pharmabranche kein gutes Argument geben würde. „Ich hätte genauso gut für die Freigabe von Rüstungsexporten oder für die Renaissance der Kernenergie plädieren können“, sagt Fischer. „Das wäre auch nicht schlimmer gewesen.“ Was hatte sie falsch gemacht? Nach dem Verlust des Ministeramtes, in dem sie nach Meinung vieler Parteifreunde nicht entschieden genug gegen die Pharmalobby vorgegangen war, hatte sie bei einer Kommunikationsagentur den Bereich Healthcare übernommen und Pharmaunternehmen beraten. Und Dinge gesagt, die nicht ins vertraute Gut-Böse-Schema passten. Dass im Management der Pharmafirmen nicht nur Schurken am Werk sind, zum Beispiel. Das reichte. Andrea Fischer wurde nicht Bezirksbürgermeisterin. Ihrer Partei fehlten am Ende fünf Prozent. Die einstige Ministerin müht sich jetzt als einfache 10 Bezirksverordnete durch die Niederungen der Lokalpolitik. Ob sie ohne den Lobbyismus-Vorwurf Bürgermeisterin geworden wäre? Vielleicht war es der entscheidende Nackenschlag. Nun könnte man sagen: kleinklein. Was hat das Polit-Kabarett von Berlin-Mitte mit der großen Bühne des Landes zu tun? Der Blick in die Zahlen belegt es: Die Pharmaindustrie hat ein enormes Image-Problem. Ihr Ansehen, so wird es immer wieder kolportiert und von Pharmamanagern nicht selten mit einem Hauch Selbstmitleid wiederholt, rangiert nur knapp vor der Rüstungs- und Atomindustrie. Lediglich 56 Prozent der Bundesbürger haben eine gute oder sehr gute Meinung von den forschenden Pharmaherstellern, ergab eine Allensbach-Umfrage im Jahr 2010. Den Produzenten von Nachahmer-Präparaten vertrauen sogar nur 34 Prozent der Befragten. Demgegenüber erscheinen Ärzte und Apotheker mit Zustimmungswerten um die 90 Prozent fast über jeden Zweifel erhaben. Viele Wünsche, wenig Vertrauen Es ist paradox. Die Unternehmen der Pharmaindustrie stellen Arzneimittel her, die Leben retten und Krankheiten heilen; sie treiben die Forschung voran, schaffen Wissen, stärken den Standort und bieten krisenfeste, gut bezahlte Arbeit für mehr als 100 000 Menschen in Deutschland – trotzdem wird jede Kampagne gegen die „Pharma-Multis“ mit öffentlichem Beifall bedacht. Für Politiker im Popularitätstief sind ein paar knackige Sätze gegen die Pharmalobby, am besten über die Bild-Zeitung herausposaunt, das beste Rezept für einen Beliebtheits-Schub. Alle Gesundheitsminister der vergangenen 20 Jahre, von Horst Seehofer bis Daniel Bahr, werden das bestätigen. Gleichzeitig sind die Erwartungen der Bevölkerung hoch: Selbstverständlich wollen wir die besten Medikamente. Der neueste Stand der Forschung ist Pflicht, die Forderung nach Innovationen überdeutlich artikuliert. Laut einer Allensbach-Studie stehen Medikamente gegen Krebs für 95 Prozent der Befragten ganz oben auf der Wunschliste. 87 Prozent erwarten Durchbrüche bei der Behandlung von Alterskrankheiten, 79 Prozent bei der Bekämpfung von Aids. Genauso einhellig ist allerdings auch das Urteil über das wirtschaftliche Gebaren der Hersteller. 88 Prozent der Deutschen finden, dass die Unternehmen für ihre Medikamente zu hohe Preise verlangen und die Hauptverantwortung für die Finanzmisere im Gesundheitswesen tragen. Aussagen wie „Nur am Gewinn orientiert“ und „Preistreiberei“ finden breite Zustimmung. Dass von den 278 Milliarden Euro, die im Jahr 2009 in Deutschland für die Gesundheit der Bürger ausgegeben wurden, gerade einmal 16 Prozent auf Arzneimittel entfielen – wovon zirka zehn Prozent bei den Herstellern landen, der Rest bleibt im Handel –, und dass die Entwicklung neuer Medikamente regelmäßig Milliarden verschlingt, dringt offenbar ebenso wenig in die Öffentlichkeit wie die Tatsache, dass Pharma hierzulande kein Grüppchen von wenigen Giganten ist, sondern eine Menge höchst unterschiedlicher, vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen versammelt. Hersteller von homöopathischen GlobuliKügelchen oder Naturheilpräparaten zählen ebenso dazu wie etablierte Generika-Fabrikanten, Diagnostikfirmen, Biotechnologie-Start-ups und Spezialisten für bestimmte Krankheiten wie Epilepsie oder Parkinson. Aber so ist es nun einmal. Der Pharmamarkt ist eben kein Markt wie der für Autos, Digitalkameras oder Brausegetränke. Es geht nicht um „nice to have“, sondern um die Gesundheit, in vielen Fällen sogar um Leben oder Tod. Es geht um ein paar zusätzliche Jahre schmerzfreien Lebens bei schwersten chronischen Erkrankungen. Es geht um Hoffnung auf den Sieg über Krankheiten, die bislang als unheilbar galten. Um Hoffnung auf einen Etappensieg gegen den Tod durch Krebs, Aids, Multiple Sklerose, Knochenschwund. Niemand bezweifelt, dass die Arzneimittelforschung Millionen kranker Menschen heute ein weitgehend schmerzfreies und normales Leben ermöglicht. Psychisch Kranken etwa, die früher in Zwangsjacken gesteckt und in Irrenanstalten an ihre Betten festgegurtet wurden wie gefährliche Tiere. Oder Menschen mit einer HIV-Infektion. 1987 brachte die Pharmaindustrie das erste Medikament zur Behandlung auf den Markt; seit 1985 haben die Hersteller Präparate mit insgesamt 25 verschiedenen Wirkstoffen entwickelt – mehr als im selben Zeitraum gegen Diabetes. Dank der Arzneien bringen infizierte Mütter mittlerweile fast durchweg gesunde Kinder zur Welt. HIVKranke können ein fast normales Leben führen; ihre Lebenserwartung erreicht annähernd die von Gesunden. Aber natürlich geht es auch um eine Menge Geld. Pharma ist Big Business. Im Jahr 2010 produzierte die Branche in Deutschland, dem drittgrößten Arzneimittelmarkt der Welt hinter den USA und Japan, Medikamente im Wert von 27 Milliarden Euro. Und das bei ziemlich auskömmlichen Gewinnspannen. Die Medikamente, die wir schlucken, bringen mehr Rendite als viele andere Industrieprodukte. Immer wieder kursieren Berichte von traumhaften Umsatzrenditen. Bayer erreichte 2009 im Medikamentengeschäft 27 Prozent, Merck meldete im selben Jahr immerhin noch fast 20. Und auch wenn der Branchenschnitt wohl erheblich darunter rangiert, verdienen die Hersteller noch immer mehr als die zehn Prozent, die in anderen Wirtschaftszweigen als extrem guter Wert gelten. Damit reicht es auch für üppige Managergehälter. Bei Novartis beispielsweise strichen der Konzernchef und der Verwaltungsratspräsident im vergangenen Jahr ein Salär von zusammen mehr als 24 Millionen Euro ein. Wieso ein Gespräch über Gesundheit so selten sachlich bleibt? Weil widersprüchliche Interessen im Spiel sind – und viele falsche Vorstellungen Die Börse bestimmt die Regeln Konzernhochzeiten und spektakuläre Übernahmen sollten die Renditen noch höher schrauben. In den vergangenen 15 Jahren zählten die Pharmafirmen zu den Lieblingskunden der Dealmaker aus den Fusions- und Übernahmesparten der Investmentbanken. 10, 20, 40, 70 Milliarden Dollar – irgendein Konzern hatte immer die Taschen voller Geld. In Deutschland führte das Fusionsfieber dazu, dass Traditionsunternehmen wie Hoechst oder Schering in größeren Konzernen auf- und schließlich untergingen. Angesichts der von den Kapitalmärkten getriebenen Mega-Deals keimt der Verdacht auf, dass die Unternehmen mehr am Wohl ihrer Aktionäre interessiert sind als am Wohl der Patienten, sich also verhalten wie Autohersteller oder Banken. Oder sogar schlimmer. Denn es geht eben nicht nur um die Gewinne 11 aus dem Verkauf von Autos oder Aktienfonds, sondern um einen Markt der Ängste und Hoffnungen – und damit um Moral in einem hochkomplexen Geflecht von Akteuren und Interessen. Da sind die Patienten, die bestens versorgt werden wollen, mit ihrer Lebensweise oft genug aber nur wenig zur Gesundung beitragen, und denen der Preis eines Medikaments im Grunde egal ist – es sei denn, sie sollen zuzahlen oder höhere Krankenkassenbeiträge stemmen. Da sind die Ärzte, die sich ungern die Mühe machen, umfassende Informationen zu beschaffen, den Botschaften der Hersteller aber misstrauen und sich weder von der Industrie noch von den Kassen gern reinreden lassen, was sie verschreiben sollen. Da sind die Krankenkassen, die sich bei ihren Mitgliedern profilieren und gleichzeitig an den Gewinnspeck der Vertragspartner wollen. Die Apotheker, die gern klagen, aber stets dafür sorgen, dass sie ein ordentliches Stück vom Kuchen abbekommen. Die Pharmafirmen, die in ihrer Preisgestaltung möglichst unbehelligt bleiben wollen, um in den ersten Jahren nach der Markteinführung eines Präparats einen möglichst hohen Gewinn zu erwirtschaften, bevor es für einen Bruchteil der Kosten von Generika-Herstellern abgekupfert werden kann. Und da ist nicht zuletzt die Politik, die dafür sorgen muss, dass die Gesundheit auf Kassenrezept bezahlbar bleibt. Die rüden Eingriffe in die Preisbildung, derer sie sich regelmäßig bedient, würden auf jedem anderen Markt als Rückfall in die Planwirtschaft verteufelt. In der Öffentlichkeit dominiert das Bild der Pharmaindustrie als monolithischer Block weniger börsennotierter Großkonzerne. Kein Wunder, schließlich waren sie es, die in der Vergangenheit immer wieder für Diskussionen und öffentliche Empörung sorgten. Wenn Berichte über schwere Nebenwirkungen auftauchten, wie beim Blutfettsenker Lipobay. Wenn ein Medikament weniger wirksam war als angepriesen, wie 12 jüngst beim Grippemittel Tamiflu. Oder wenn ein Hersteller beim Preis besonders drastisch zulangte wie Novartis bei seinem Lucentis, das 30-mal so viel kosten sollte wie das nahezu wirkstoffgleiche Avastin. Was den Kleinen umbrächte … Tatsächlich trifft das Bild vom fröhlichen Oligopol weniger Konzerne nicht ansatzweise die Realität. Anders als etwa in den USA ist die Branche in Deutschland überwiegend mittelständisch geprägt. Nur gut fünf Prozent der 900 pharmazeutischen Unternehmen hierzulande beschäftigen mehr als 500 Mitarbeiter. Knapp 80 Prozent haben weniger als 100 Beschäftigte, fast zwei Drittel sind eigentümergeführt. Unter den zehn größten Pharmafirmen der Welt findet sich kein deutsches Unternehmen. Boehringer Ingelheim und Bayer rangieren erst auf den Plätzen 12 und 13. Die einst so ruhmreichen deutschen Arzneimittelmarken sind heute weitgehend, die GenerikaHersteller nahezu komplett in ausländischer Hand. Hexal, Schwarz-Pharma, Merck Dura, Altana-Pharma und Ratiopharm gingen in den vergangenen Jahren an ausländische Wettbewerber oder Finanzinvestoren. DIE Pharmaindustrie? Branchenriesen und Kleinproduzenten, Forschungshochburgen und Nachahmer, Etablierte und Start-ups verfolgen höchst unterschiedliche Interessen. Dass beispielsweise die Hersteller neuer, patentgeschützter Medikamente bis vor Kurzem ihre Preise nach Belieben festsetzen konnten, ließ bei den Generika-Herstellern schlechte Stimmung aufkommen. Je höher die Forschenden kalkulierten, desto mehr sah sich die Politik gefordert, den Nachahmern Zwangsrabatte abzutrotzen, um die Gesamtausgaben für Arzneimittel zu deckeln. Für einen Weltkonzern wie Pfizer geht es nicht gleich an die Existenz, wenn er auf dem deutschen Markt bei einem Präparat vorübergehend Marktanteile verliert. Wie im Fall des Cholesterinsenkers Sortis, bei dem sich Pfizer der vom deutschen Gesundheitsministerium angeordneten Preissenkung verweigerte. Weil die Mehrzahl der Patienten nicht zu einer Zuzahlung bereit war und sich stattdessen preisgünstigere Präparate verschreiben ließ, brachen binnen weniger Monate 85 Prozent des deutschen Sortis-Umsatzes weg. Das sitzt der Hersteller aus – seit mittlerweile sieben Jahren. Ein Mittelständler, der nahezu seinen gesamten Umsatz in Deutschland erwirtschaftet, hätte das nicht überlebt. Auch im Zusammenhang mit neu entdeckten Wirkstoffen fallen seit Jahren fast nur noch die Namen der Branchenriesen. Denn vor allem sie verfügen über das Finanzpolster, das teure Medikamentenentwicklung hierzulande erst möglich macht. Von 5000 bis 10 000 getesteten Substanzen schafft nach rund zwölf bis fünfzehn Jahren Forschungs- und Entwicklungszeit im Schnitt lediglich ein einziger Wirkstoff den Zugang zum Markt. Einschließlich der zahllosen Fehlschläge verschlingt die Entwicklung eines neuen Präparats durchschnittlich eine halbe Milliarde Euro, in Einzelfällen auch mehr als das Doppelte. Und damit ist noch nicht gesagt, dass sich das Medikament tatsächlich zm Blockbuster mit einem weltweiten Umsatz von mindestens einer Milliarde Dollar jährlich entwickelt. Das sind schwierige Bedingungen – und sie verschlechtern sich kontinuier lich. Eine Vielzahl auslaufender Patente, die stetig rigidere Zulassungspraxis mit dem für die Erstattung geforderten Nachweis eines therapeutischen Zusatznutzens sowie das dichte Netz von Eingriffen der Gesundheitspolitik haben die Forschung unter zunehmenden Druck gesetzt. Gemeinsam schlauer Deshalb setzen viele Unternehmen mittlerweile auf Kooperation. Manchmal finden Große zueinander, beispiels weise GlaxoSmithKline und Pfizer bei ihrem Joint Venture in der Aids-Forschung oder der US-Konzern Merck und sein britisch-schwedischer Konkurrent AstraZeneca beim Test für neue Krebsmedikamente. Anderswo kooperieren Blockbuster-Hersteller mit Biotech-Start-ups in der Hoffnung, mithilfe der kleinen Kreativen ihre leeren Produkt-Pipelines schneller aufzufüllen. Auf der Suche nach den Arzneimitteln der Zukunft verschmelzen Know-how-Welten, die vor wenigen Jahren noch streng voneinander abgeschottet waren. So arbeiten Pharmakonzerne und Diagnostika-Hersteller symbiotisch an Medikamenten, die viel präziser als ihre Vorgänger auf die einzelnen Patienten zugeschnitten sind und das Risiko erfolgloser Therapien mindern. Im Fokus dieser Bündnisse stehen beispielsweise Chemotherapien, die besser und schneller anschlagen und weniger Nebenwirkungen mit sich bringen sollen als die bisherigen Präparate. In Deutschland besteht nach Angaben des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller in diesem Jahr Aussicht auf mehr als 20 Medikamente mit neuem Wirkstoff, insbesondere gegen Krebs und Infektionskrankheiten. Dahinter stecken Millionen von Tests und Versuchsreihen, denn auch wenn der Glanz der Industrie hierzulande verblasst: Die Pharmaindustrie zählt noch immer zu den am stärksten wissensgetriebenen Wirtschaftszweigen. 16 Prozent ihrer Beschäftigten arbeiten in Forschung und Entwicklung – andere Branchen der Spitzentechnologie bringen es im Schnitt auf gut 13 Prozent. Auch beim Anteil des Forschungsbudgets am Branchenumsatz liegt Pharma mit 14,4 Prozent deutlich vor Elektronik/Messtechnik/Optik (12 Prozent), Automobil- (9,9 Prozent) oder Maschinenbau (6,3 Prozent). Gegen die fünf Milliarden Euro, die allein der US-Konzern Pfizer in diesem Jahr in die Suche nach neuen Wirkstoffen steckt, nehmen sich die Forschungsausgaben der gesamten deutschen Pharmaindustrie in Höhe von 5,5 Milliarden Euro allerdings vergleichsweise bescheiden aus. Dafür kommen die Pharmahersteller – im Unterschied zur Autoindustrie, in deren üppig dimensionierten Fabriken gut 700 000 Mitarbeiter etwa fünfeinhalb Millionen Fahrzeuge bauen – mit relativ wenig Beschäftigten aus. 103 000 Mitarbeiter stehen aktuell auf den Gehaltslisten der Arzneimittelunternehmen, ihr Einkommen liegt etwa drei Prozent über den Gehältern in anderen Spitzentechnologiebranchen. Zudem genießen sie bislang den Vorzug eines relativ krisensicheren Jobs. Weil Konjunkturschwankungen kaum auf die Industrie durchschlagen, gab es auch in Rezessionszeiten keine großen Entlassungswellen. Die Menschen benötigen Medikamente – egal, ob die Wirtschaft boomt oder kränkelt. An den letzten großen Streik kann sich kaum noch jemand erinnern. Und von der Stetigkeit der Branche profitierten nicht zuletzt auch die Anleger. Während sich die Dax-Kurse seit Mitte der Neunziger jahre im Schnitt knapp verdreifachten, stieg der Wert der Pharma-Aktien um das Siebenfache. Im vergangenen Jahr, als der wichtigste deutsche Börsenindex um knapp 15 Prozent einbrach, verzeichneten die Aktien im deutschen Segment Pharma & Healthcare immer noch ein Plus von gut acht Prozent. Entsprechend beliebt sind die Besten der Branche als Investition für Anleger – aber auch als Arbeitgeber, vor allem bei Hochschulabsolventen aus den Naturwissenschaften. Für junge Chemiker ist ein Job in der forschungsintensiven Pharmaindustrie so begehrt wie für Ingenieure eine Anstellung bei Audi, BMW oder Siemens. Im Wirtschaftswoche-Ranking der Wunsch-Arbeitgeber von Naturwissenschaftlern landete Bayer voriges Jahr gleich hinter der Max-Planck- und der Fraunhofer-Ge13 Wie viel Wert hat ein Leben und wie viel die Verlängerung eines Lebens um wenige Monate? Wer entscheidet das? Wer steht dafür gerade? 14 sellschaft auf Platz 3, Roche belegte Platz 5, Novartis Platz 6. Auch Merck und Boehringer Ingelheim schafften es unter die Top 10. Aller Konjunkturfestigkeit zum Trotz hat die Branche in den vergangenen Jahren jedoch auch 14 000 Arbeitsplätze verloren. 2010 wurden vier Prozent der Stellen gestrichen, im Jahr zuvor sogar acht Prozent. Der Abbau traf vor allem die Generika-Hersteller. Nach der Gesundheitsreform von 2007 sahen sich viele Unternehmen gezwungen, ihren Außendienst drastisch zu verkleinern. Etliche tausend Pharmavertreter wurden arbeitslos. Die Zeiten schier unendlichen Wachstums sind für die Industrie vorbei. Neue Erkenntnisse, Durchbrüche und Fortschrittsgewinne wie in den Anfängen der medizinischen Forschung sind heute nur noch schwer zu erzielen. In den Geburtsjahren der deutschen Pharmaindustrie ging es um den Kampf gegen Fieber, Wundbrand, Schmerzen, Diphterie. Am 10. August 1897 gelang es Felix Hoffmann bei Bayer, den Wirkstoff Acetylsalicylsäure in reiner und stabiler Form herzustellen. Das Unternehmen gab dem Produkt den Namen „Aspirin“. Es wurde zum Symbol für den weltweiten Erfolg der deutschen Chemieindustrie, für ihren bemerkenswerten Aufstieg zur „Apotheke der Welt“ – und den Deutschlands zur zweitgrößten Handelsnation. Die junge Pharmaindustrie zählte neben der Chemie, dem Maschinenbau und der Elektrotechnik zur New Economy des Kaiserreichs, zu den neuen Leitbranchen, die den Nachzügler Deutschland in ein Hightech-Aufsteigerland verwandelten. Hoechst, Bayer, Schering und Merck wurden Global Player des „ersten deutschen Wirtschaftswunders“, wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler die Epoche des fast grenzenlosen Fortschritts- und Machbarkeitsoptimismus vor dem Ersten Weltkrieg nennt. Binnen weniger Jahre wurden damals aus Werkstätten Weltkonzerne. Die Bewunderung schien grenzenlos. Ein paar Tage nach der Entdeckung des Aspirins schufen die Bayer-Forscher im Labor eine weitere Substanz, die sich zu einem echten Blockbuster jener Jahre entwickelte und in den folgenden Jahrzehnten weltweit als Hustenlöser und Schmerzmittel äußerst erfolgreich verkauft wurde. Bayer startete einen noch nie da gewesenen Werbefeldzug und verschickte Tausende von Gratisproben an Ärzte. „Die Nachbestellungen“, hieß es später, „übertrafen alle Erwartungen.“ Dass Ärzte bereits kurz nach der Markteinführung auf das Suchtpotenzial des Wundermedikaments hingewiesen hatten, interessierte den Hersteller wenig. Aber mit dem Namen des Präparats – Heroin – begann die Debatte um die Janusköpfigkeit pharmazeutischer Innovationen. Contergan: Skandal mit Folgen Sechs Jahrzehnte nach der erfolgreichen Heroin-Synthese verlor die Industrie endgültig ihre Unschuld. Der größte deutsche Arzneimittelskandal aller Zeiten ist seither untrennbar mit einem Namen verbunden: Contergan. Das, wie damals üblich, an Nagetieren, nicht aber an mit Menschen näher verwandten Säugern geschweige denn an Menschen selbst getestete Schlafmittel mit dem Wirkstoff Thalidomid des Aachener Pharmaunternehmens Chemie Grünenthal war ab 1957 in den Apotheken rezeptfrei erhältlich. Bereits ein Jahr später registrierte man eine Zunahme von Fehlbildungen bei Neugeborenen, vor allem verkümmerte Arme und Beine. Obwohl spätestens 1961 der Zusammenhang zwischen der Einnahme von Contergan während der Schwangerschaft und den Missbildungen evident war, reagierte der Hersteller zunächst nicht. Grünenthal vertrieb das Medikament weiter und drohte für den Fall eines Verbots mit Regressansprüchen. Insgesamt kamen damals allein in Deutschland etwa 5000 contergangeschädigte Kinder zur Welt. Die Tragödie hatte weitreichende Folgen: ungeheures Leid für Tausende Menschen und ihre Familien; einen Prozess, in dem sich der Eigentümer des Unternehmens und leitende Mitarbeiter verantworten mussten; einen Vergleich mit einer Entschädigungszahlung in Höhe von 100 Millionen Mark. Und eine 1978 in Kraft getretene, tiefgreifende Reform des Arzneimittelgesetzes mit den heute gültigen strengen Zulassungsverfahren, vor allem dem verpflichtenden Nachweis von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit. Als 1968 der Contergan-Prozess begann, startete eine junge Frau aus Aachen ihr Lehramtsstudium. Die Contergan-Kinder, erinnert sie sich, gehörten damals zum Stadtbild. In Aachen, dem Firmensitz des Herstellers, war das Schlafmittel besonders häufig verkauft worden. Ulla Schmidt ahnte nicht, dass sie es als Gesundheitsministerin einmal mit der Zulassung neuer Arzneimittel zu tun haben würde oder mit der Frage, ob der Profit Vorrang vor dem Wohl des Patienten hat. Acht Jahre lang, von 2001 bis 2009, hatte die Sozialdemokratin das Ministeramt inne. Es gibt kaum einen Pharmamanager oder Verbandsvertreter, mit dem sie nicht über Preise und Zulassungsverfahren verhandelt hätte, über Zwangsrabatte und Kosten-Nutzen-Bewertungen. „Im Gesundheitswesen geht es meist nicht um Rationalität“, sagt sie im Rückblick. „Es geht um Emotionen, um Ängste und Hoffnungen. Die eigentliche Macht der Pharmakonzerne besteht darin, dass sie mit diesen Gefühlen der Menschen spielen können.“ Wie will man einem Patienten in Todesangst auch mit vernünftigen Argumenten begegnen? Transplantationspatienten etwa sind auch nach einer geglückten Organspende für den Rest ihres Lebens auf Medikamente angewiesen, damit das neue Organ nicht vom Immunsystem abgestoßen wird. „Geht jetzt meine neue Leber kaputt?“, fragen sie besorgt, wenn der Arzt ihnen nicht mehr das gewohnte Medikament verschreibt, sondern ein preiswertes Nachahmerpräparat. Rationale Erklärungen? Aus Sorgen wird Munition Wer ein Auto kauft und sich keinen Mercedes leisten kann, wählt vielleicht einen VW. Wem auch der VW zu teuer ist, wird fündig beim Dacia-Händler. Dort kostet ein neues Auto 7000 Euro. „Aber der Patient gibt sich eben nicht mit dem Dacia zufrieden“, sagt Ulla Schmidt. „Er will immer und auf jeden Fall den Mercedes. Wer krank ist, möchte auf der Höhe des medizinischen Fortschritts behandelt werden.“ Als sie noch oberste Gesundheitspolitikerin war, demonstrierten die Eltern zuckerkranker Kinder vor ihrem Ministerium. Es ging um die Erstattung eines vergleichsweise teuren speziellen Diabetesmittels durch die Krankenkassen. Die vom Hersteller des Präparats mit Argumenten munitionierten Eltern fürchteten, dass ihre Kinder ohne das Medikament früher sterben müssten. Schmidt gab nach und widersprach dem Beschluss des G-BA. In anderen Fällen blieb sie eisern. „Sie werden hier in Deutschland nicht diese Preise verlangen!“, rief sie den Managern ausländischer Pharmakonzerne einmal zu. Allerdings schlägt sie sich auch nicht auf die Seite der Krankenkassen. „Die würden die Preise am liebsten immer weiter drücken, und bald hätten wir keine Pharmaforschung mehr. Wenn jemand forscht, muss es sich auch rentieren. Es geht um faire Preise.“ Doch was ist das, ein fairer Preis? Ist es der, den die Hersteller festlegen, wie früher? Ist es ein Preis mit diktierten Rabatten? Einer, bei dem die Politik einfach einen Prozentsatz abzieht? Sind sechs Prozent Abzug dann fair, 16 aber nicht mehr? Ist es fair, wenn zwei Oligopolisten, der Produzent und die gesetzliche Krankenversicherung, den Preis unter sich aushandeln? Wie tief müssen, wie tief dürfen Schnitte ins Fleisch der Pharmahersteller sein? Wer definiert die Grenzen? Und für wen? Darf die Behandlung einer seltenen Krankheit mehr kosten als die Versorgung mit Mitteln, die das Gros der Bevölkerung braucht? Wie viel Wert hat ein Leben, wie viel die Verlängerung eines Lebens um wenige Monate? Ulla Schmidts Amtsvorgängerin Andrea Fischer erinnert sich an ihre erste Preissenkungsrunde. Kurz nachdem sie Ministerin geworden war, saß sie Vertretern der Pharmaindustrie gegenüber. Noch ein paar Wochen zuvor hätte sie mit keinem der Namen etwas anfangen können, sie hatte sich nie mit Gesundheitspolitik befasst. Um wie viele Milliarden Euro es an diesem Tag ging, weiß sie heute nicht mehr. An die Reaktion von Bürgern und Parteifreunden hingegen erinnert sie sich gut. „Die einen sagten: ‚Also Andrea, ich finde, du müsstest viel entschiedener gegen die Pharmaindustrie vorgehen.‘“ Und die anderen? „Die klopften mir auf die Schulter und sagten: ‚Ich bewundere Sie dafür, dass Sie es mit der Pharmaindustrie aufgenommen haben.‘“ Vierzehn Jahre ist das jetzt her. Seitdem ist viel passiert. Deutschland hat medizinische Fortschritte errungen, über Kosten diskutiert, drei weitere Gesundheitsminister und fünf Gesundheitsreformen erlebt. Doch die jüngsten Erfahrungen Andrea Fischers belegen: Das alte Schwarz-Weiß-Schema ist geblieben. Pharma ist böse. Es wäre an der Zeit für ein paar Grautöne.7 15 „Uns fehlt das Gesicht.“ Abzocker, Preistreiber, Goldgräber – um das Image der Pharmaindustrie in Deutschland ist es schlecht bestellt. Zu Recht? Bernd Wegener, Vorstandschef des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) über Fakten, Falschmeldungen und die Fehler seiner Zunft. Interview: Lydia Gless, Susanne Risch Foto: Oliver Helbig Herr Wegener, Ihre Branche ist hilfreich und zählt zu den innovativsten im Land. Im Ansehen rangiert sie dennoch ganz unten. Woran liegt das? Ich wundere mich vor allem über die Diskrepanz zwischen Produkt und Absender. Unsere Produkte haben in der Bevölkerung einen Zustimmungsgrad von 80 Prozent. Die Menschen schätzen und respektieren Arzneimittel. Selbst gentechnologische Präparate werden von 62 Prozent der Bevölkerung akzeptiert, ganz im Gegensatz zu Lebensmitteln etwa. Gleichzeitig ist derjenige, der diese Produkte herstellt, ungefähr so beliebt wie die Vertreter der Atomindustrie. Da kann man sich schon fragen, woran das Auseinanderdriften liegt – zwischen dem Produkt selbst und demjenigen, der es sich ausdenkt, erforscht, entwickelt und produziert. Haben Sie eine Antwort gefunden? Da spielen die unterschiedlichsten Dinge rein. Allen voran natürlich der ständig wiederholte Vorwurf der hohen Renditen, der ja immer gerne in Verbindung mit Pharmapreisen genannt wird. Pharma und Gier – der Zusammenhang wird gezielt und ziemlich erfolgreich in die Öffentlichkeit getragen. Bernd Wegener, promovierter Veterinärmediziner, Unternehmer und Aufsichtsratsvorsitzender der Co.don AG, vertritt den Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie als Vorsitzender des Vorstands seit dem Jahr 2000. 16 Er ist ja auch nicht ganz aus der Luft gegriffen. Ich kenne keine Branche, die in so langen Zeiträumen denken muss wie wir und in der bei den anderen Leistungserbringern innerhalb des Systems so wenig Verständnis für die Situation des Lieferanten existiert. Das sind regelrechte Zyklen, in denen wir beschossen werden. Jetzt zum Beispiel, am Jahresanfang, haben wir wieder die Kampagne der Krankenkassen, in der gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass das Geld in diesem Jahr nicht reicht. Warum? Na klar, weil die Preise der Pharmariesen so hoch sind. Die Kassen machen Stimmung, um ihre Ziele durchzusetzen und sich selbst Handlungsspielräume zu verschaffen. Im Verteilungssystem Gesundheitswesen mit einem gedeckelten Budget geht es am Ende eben immer um Macht. Davon hat die Pharmaindustrie ja nun auch nicht wenig. Sie ist eine der Großen im Land, und ob wir wollen oder nicht: An Ihrer Branche kommt keiner vorbei. Mein Problem beginnt schon mit dem Wort Pharmaindustrie. Journalisten tun gerne so, als sei das ein monolithischer Block. Tatsächlich sind wir eine sehr inhomogene Gruppe von sehr vielen Kleinen und wenigen Großen. Und die sind geschrumpft: Vor zwanzig Jahren hatten wir in Deutschland noch sieben Weltkonzerne. Heute ist nicht mal mehr ein deutscher Hersteller unter den ersten zehn. Aber wir haben es alle zusammen mit einem emotional hoch beladenen Produkt zu tun – der Gesundheit. Sie können sich ein Auto kaufen oder nicht. Sie können Bahn fahren oder nicht. Was uns angeht, haben Sie keine Wahl: Sie brauchen unser Produkt. Und Abhängigkeit schafft keine Sympathie. Zudem betrifft sie jeden, deshalb redet auch jeder mit. Inzwischen gehört es quasi zum guten Ton, Pharma zu kritisieren. Am liebsten mit dem Totschlagargument: Man darf nicht an Krankheit verdienen. Was natürlich völliger Blödsinn ist. Wir müssen an Krankheit verdienen, sonst können wir uns Gesundheit gar nicht leisten. Wer ein wenig differenzierter argumentiert, wird Ihnen diesen Vorwurf kaum machen. Natürlich muss und soll die Branche verdienen. Die Frage ist nur: wie viel? Ob die Gewinne verhältnismäßig sind, können wir gerne diskutieren. Dann müssen wir aber unterscheiden zwischen Deutschland und dem Rest der Welt. Ein Unternehmen, das seine Umsätze hierzulande erzielt, kommt, wenn es Glück 17 hat, auf vielleicht acht oder neun Prozent. Das ist ordentlich, keine Frage. Aber es ist kein Grund, von Goldgräberstimmung zu reden. Eine Umsatzrendite von 20 Prozent und mehr, wie sie Merck oder Pfizer ausweisen und die fälschlicherweise auf die gesamte Industrie übertragen wird, lässt sich allein auf dem US-Markt erzielen. Warum? Weil es sich dort vier Prozent der Weltbevölkerung leisten, 36 Prozent aller weltweiten Arzneimittelausgaben zu bezahlen. Und das nicht etwa, weil sie so viele Medikamente schlucken – sondern durch deren Preisstellung im Markt. Barack Obama hat ja versucht, das zu korrigieren, sich aber eine blutige Nase geholt. Ob ich das richtig finde, ist eine andere Frage. Die Verhältnisse lassen sich jedenfalls nicht auf Deutschland übertragen. Und sie sagen schon gar nichts über DIE Pharmaindustrie. Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass Sie alle nicht schlecht verdienen. Der deutsche Markt ist der drittgrößte der Welt und außerdem einer der hochpreisigsten. So pauschal stimmt das nicht, zudem sind die Preise hierzulande von vielen Faktoren abhängig. In den Medien werden ja immer gerne einzelne Produkte vorgeführt und innerhalb Europas verglichen. Tatsache ist: Wenn ich als Hersteller europaweit beispielsweise einen Blutdrucksenker abgebe, kostet eine Packung mit 30 Tabletten in Spanien vielleicht 6,30 Euro und in Frankreich 12 Euro. In Deutschland zahlen Sie dafür aber rund 15 Euro. Die Differenz erklärt sich durch unterschiedliche nationale Rahmenbedingungen wie Handelsspannen und Mehrwertsteuer. Aber nicht durch Preistreiberei der Pharmaindustrie. Dann sind all die Kritikpunkte an der Industrie nur Polemik? Sie wollen sagen, die Branche selbst hat zu ihrem schlechten Image nichts beigetragen? Oh nein, im Gegenteil. Unser Bild in der Öffentlichkeit prägen wir in hohem Maße mit. Deshalb müssen wir ganz sicher auch kräftig vor unserer eigenen Tür kehren. Die Pharmaindustrie hat Fehler gemacht. Schlimme Fehler. Nehmen Sie nur Contergan. Was damals passiert ist, war eine Tragödie. Und so etwas fällt auf die gesamte Branche zurück. Contergan liegt 50 Jahre zurück. Meinen Sie wirklich, das Image der Branche leidet heute vor allem darunter? Sicher nicht, aber Contergan markierte einen Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung. Damals haben wir unsere Unschuld verloren. Den zweiten großen Schock lösten Anfang der Achtzigerjahre die HIV-kontaminierten Blutkonserven aus. In Frankreich wurden seinerzeit rund 4000 Patienten mit dem Virus infiziert; auch in Deutschland gab es mehr als 1800 Opfer. Das sind für mich schlimme, unverzeihliche Fehler, mit denen wir schlecht umgegangen sind und die wir außerdem sehr unprofessionell kommuniziert haben. 18 Auch andere Branchen machen schlimme Fehler. Wir kennen Ölkatastrophen, Chemieunfälle, massenhafte Rückrufe von Autoherstellern. Jüngst haben die Banken ihr Image eingebüßt. Und trotzdem sind die Industrien in der öffentlichen Wahrnehmung nicht derart schlecht angesehen. Ich fürchte, unsere Industrie wirkt nicht menschlich. Sie hat kein Gesicht. Bei uns gab es nie eine führende Person in der Öffentlichkeit, wie etwa im Bankensektor. Man kann Josef Ackermann gut finden oder nicht, aber er prägt die Industrie mit seinen Fehlern und seinen Stärken. Wir könnten die Sektoren durchgehen – es gibt jede Menge Beispiele für Köpfe, die stellvertretend für eine Branche stehen. Für Pharma gab es nie eine starke Persönlichkeit, die bereit gewesen wäre, sich zu exponieren. Und eine Branche ohne Gesicht kann eben auch keine emotionalen Pluspunkte für sich sammeln. Anonymität wirkt kalt und schreckt ab. Warum ändern Sie das nicht? Das ist weniger eine Frage des Wollens als des Könnens. Unsere Industrie ist inzwischen in vier Verbände aufgeteilt – ein Einzelner bringt heute nicht mehr genug Gewicht in die Waagschale, um als Stellvertreter für alle akzeptiert zu sein. Es würde schon helfen, wenn das einzelne Unternehmen offe ner kommunizieren würde. Patienten sind nicht blauäugig, sie erwarten keine Wunder. Aber sie wollen ernst genommen und verlässlich aufgeklärt werden. Krankheiten sind nun einmal bedrohlich, und Ängsten kann man nur mit Informationen begegnen. Ich bin ganz Ihrer Meinung. Aber Kommunikation ist ein kompliziertes Thema. Und Unternehmen, die selbst ihren Geschäftsbericht nur als Notwehrmaßnahme auslegen, stehen vermutlich nicht in der ersten Reihe, wenn es darum geht, komplexe oder auch unbequeme Wahrheiten zu transportieren. Die Welt ist voll von solchen Unternehmen, nicht nur in unserer Branche. Wer sich nicht erklärt, darf auch nicht darüber klagen, dass sich die Leute ihr eigenes Bild machen. Wir versuchen ja, uns zu erklären. Deshalb haben wir Sie auch beauftragt, ein Magazin über unsere Branche zu produzieren, bei dem wir uns inhaltlich völlig raushalten und auf eine faire journalistische Berichterstattung setzen. Fairness verlangt Transparenz, das gilt für uns wie für andere. Wer sich ein Urteil bilden soll, muss die Fakten kennen. Daran mangelt es aber viel zu oft. Das beklagen Ärzte, Politiker und Patienten genauso wie die Vertreter des IQWiG, des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das die Bundesregierung vor einigen Jahren eingerichtet hat. Das IQWiG ist ein Kapitel für sich. Weil es der Branche Umsatzeinbußen beschert? Schließlich wird dort über den therapeutischen Zusatznutzen von Präparaten entschieden, der nachgewiesen sein muss, damit ein neues Medikament teuer auf den Markt kommen kann. Nein. Sondern weil es ein Gremium ist, das sich bisher nicht von dem Verdacht freimachen konnte, wissenschaftliche Argumente allein mit dem Ziel zu entwickeln, den Wert eines Arzneimittels und damit seine Preisstellung zu reduzieren. Wo ist das Problem? Nutzen und Wert eines Arzneimittels werden sich doch messen lassen. In der Theorie schon. Die Theorie geht ja auch davon aus, dass Medizin eine exakte Wissenschaft ist. Aber das ist Humbug, tut mir leid. Jetzt machen Sie es sich zu leicht. Auch wenn die Medizin nicht jedes Phänomen kennt, erklären oder behandeln kann, muss es doch verlässliche Prüf- und Beurteilungskriterien geben, die dem Patienten ein unabhängiges Urteil und eine gewisse Sicherheit geben – und dann auch als Grundlage für einen angemessenen Preis dienen. Natürlich muss es das geben, aber dazu braucht es diverse Experten. Ich will den Leuten im IQWiG nicht ihre Kompetenz absprechen. Sie haben einen wissenschaftlichen Hintergrund und wissen Studien und Statistiken sehr genau zu beurteilen. Aber damit allein ist es nicht getan. Um Arzneien adäquat beurteilen zu können, braucht es mehr als den rein pharmakologischen Blick. Man müsste den Bewertern zumindest die Vorstände der medizinischen Fachgesellschaften an die Seite stellen oder Vertreter des G-BA, des Gemeinsamen Bundesausschusses, die neben der Pharmakologie den Patienten kennen. Der Wert eines Medikaments lässt sich nur im Gesamtzusammenhang sehen. Aber seine Wirksamkeit ist doch von der Zulassungsbehörde längst geprüft und bescheinigt. Das IQWiG entscheidet danach doch nur über zusätzlichen Nutzen als Grundlage für den Preis. Das ist ja das Problem. Die Wirksamkeit eines Medikaments wird unter Idealbedingungen nachgewiesen. Wenn ich als Hersteller ein Medikament zur Senkung des Blutdrucks auf den Markt bringen will, muss ich beweisen, dass es dem Hypertoniker nützt. Dazu muss ich für meine Studien nach Möglichkeit Patienten finden, die tatsächlich nur unter Bluthochdruck leiden. Der Mensch, der gleichzeitig Diabetes, ein Nierenproblem oder eine Fettstoffwechselerkrankung hat, würde meine Ergebnisse verfälschen. Multimorbidität ist aber nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Ein Drittel der über 70-Jährigen leidet an mindestens fünf chronischen Erkrankungen. Bis zu 20 Prozent der 70bis 99-Jährigen erhalten 13 und mehr Wirkstoffe täglich. Folglich gibt es Interaktionen zwischen den Arzneimitteln – die Struktur des einzelnen Wirkstoffs ist gar nicht mehr klar erkennbar. An dieser Diskrepanz kommen wir nicht vorbei, auch nicht in der Nutzenbewertung. Das IQWiG blendet sie in seiner Beurteilung aber völlig aus. Der Umkehrschluss ist auch keine Lösung. Sollen die Kassen jeden Preis bezahlen, nur weil sich die Wirkungsweise eines Medikaments im Alltag nicht exakt definieren lässt? Ich habe keine perfekte Lösung. Ich versuche nur deutlich zu machen, dass die Fragen sehr komplex sind und dass es sich die Politik ziemlich einfach macht, wenn sie so tut, als gäbe es simple Beurteilungskriterien –, und damit den Verdacht schürt, die Industrie wolle sich die Taschen füllen. Das ist ja auch leicht. Das Image haben wir sowieso schon. Ihre Situation war bis zur Einführung des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) aber auch sehr komfortabel. Bis dahin hatten Sie das Privileg, die Preise für neuartige Medikamente selbst festzusetzen, unabhängig davon, ob sie einen Mehrwert zu existierenden Präparaten bieten. Das AMNOG greift aber zu kurz. Es wird der Wirklichkeit nicht gerecht. Und statt uns immer in Details zu verheddern, sollten wir hierzulande vielleicht einmal überlegen, wie wir Forschungsleistungen bewerten wollen. Ein Medikament zu entwickeln dauert Jahre. In den ersten sieben bis acht Jahren versuchen Sie zunächst einmal nur, die klinische Wertigkeit einer Substanz in Relation zu anderen zu bewerten. Da forschen Sie eigentlich blind. Sie wissen weder, wo das hinführt, noch, ob Sie Ihr Ziel erreichen. Und Sie haben schon gar keine Ahnung, ob und wie viele Ihrer Wettbewerber sich gerade mit denselben Fragen befassen. Erste mögliche – und mit anderen vergleichbare – Ergebnisse erzielen Sie frühestens in Phase II, in der Sie Versuche an Patienten durchführen. Danach gilt es noch zahllose weitere Hürden zu nehmen. Erzielen Sie einen relevanten therapeutischen Effekt? Können Sie die Ethikkommission überzeugen? Kommen Sie überhaupt in Phase III? Schaffen Sie irgendwann die Zulassung? Gesetzt den Fall, all das gelingt Ihnen: Dann sind jetzt 12 bis 15 Jahre vergangen … … und Sie bringen ein neues Medikament auf den Markt. Genau, und dieses Medikament sorgt im Gegensatz zu anderen Substanzen beispielsweise für eine Lebensverlängerung des Patienten um sechs Monate. Ein Zusatznutzen, den Ihnen das IQWiG auch bescheinigt. Damit erzielen Sie am Markt einen hohen Preis. Mir ist der Durchbruch geglückt. Ich bin der Erste. Und mein Wettbewerber? Wann immer er mit seinem Produkt kommt: Er hat schon den Makel me-too. Sein Präparat ist vielleicht nur wenige Monate später am Markt, sein Produkt ist anders gelagert als meines, aber auch seines verlängert das Leben um einige Monate. Er ist trotzdem nur ein Nachahmer. Seine 19 Investitionen sind so hoch wie meine, er hat Hunderte Millionen Euro investiert – und er wird dennoch einen Preisabschlag hinnehmen müssen, weil sein Nutzen dem meinen nicht überlegen ist. Und von welchen Kriterien ist das alles abhängig? Es kann allein daran liegen, dass die Ethikkommission in dem Land, in dem er seine erste Prüfung abgelegt hat, länger für ihre Entscheidung gebraucht hat als meine. Vielleicht war auch sein CEO ein paar Wochen krank, was das Projekt verzögert hat. Oder ein Computervirus hat die Auswertung der Statistiken verzögert. In einem Zeitraum von 15 Jahren gibt es zahllose Gründe für einen Verzug um wenige Monate. Und dennoch: Der Zweite ist in jeder Hinsicht der Verlierer. Wenn Mercedes-Benz vor BMW eine neue Technologie auf den Markt bringt, wird die Marke auch als Star gefeiert. Dann kann sich der Kunde aber immer noch für den BMW entscheiden, wenn ihm das Auto besser gefällt. Zudem kommt keine Behörde, die BMW zwingt, den Preis mindestens 20 Prozent niedriger anzusetzen als den des Mercedes. Und vermutlich sehen sich die Münchener auch nicht dem Vorwurf ausgesetzt, bei ihrer neuen Technologie handele es sich nur um eine Scheininnovation. Die Patienten erwarten bei dem Begriff Innovation vermutlich ein Medikament, das eine bis dahin nicht therapierbare Krankheit heilt. Den Patienten mache ich auch keinen Vorwurf. Behörden, Politikern, Kassen, Instituten oder Medien, die es besser wissen, hingegen schon. Man wird den Verdacht nicht los, dass die Realität aus Kostengründen bewusst ignoriert wird. Was ist die Realität? Unsere Wirklichkeit ist die Verbesserung des Bestehenden. Über die Zeit gesehen, sind das riesige Innovationssprünge. Sie vollziehen sich oft aber nur in kleinen Schritten. Dass etwa Leukämie bei Kindern heute zu 90 Prozent heilbar ist, erforderte einen Entwicklungsprozess von weit mehr als zehn Jahren. Und der Erfolg ist vielen Unternehmen geschuldet. Diesen kranken Kindern wird heute ein Cocktail aus durchschnittlich fünf Arzneien verordnet, die teilweise nur wenig verbessert sind. Aber sie entfalten ihre Wirkung nur, wenn sie in der richtigen Kombination, zum richtigen Zeitpunkt, in der richtigen Dosierung und für die richtige Dauer verabreicht werden. Dahin zu kommen ist ein komplizierter, mühsamer, gemeinsamer Prozess. Den gehen wir bei vielen Krankheiten. Beispielsweise auch bei Aids. Heute hat ein 20-jähriger Patient, bei dem HIV diagnos tiziert wird, eine Lebenserwartung von 66 Jahren. Ende der Neunzigerjahre lag sie noch 15 Jahre darunter. Die Sterblichkeit von Kindern mit Leukämie sank zwischen 1990 und 2004 jedes Jahr um drei Prozent. Sind das Scheininnovationen? 20 Natürlich wünschen auch wir uns große Durchbrüche. Aber die Mega-Entwicklungen liegen erst einmal hinter uns, viele Gebiete sind gut erforscht. Trotzdem gibt es heute von weltweit etwa 30 000 bekannten Erkrankungen noch immer rund 20 000, die wir nicht behandeln können. Das sind keine riesigen Patientengruppen, keine großen Märkte – es sind kleine, unbehandelte Nischen. Sie anzugehen ist die Aufgabe der pharmazeutischen Industrie in den nächsten Jahrzehnten. Manchmal gehen Sie auch Fragen an, deren Antwort keiner verlangt hat, und schaffen sich Ihre Märkte selbst. Jede Kleinigkeit wird heute pathologisiert. Vor ein paar Jahren war der Mensch erschöpft und auch mal traurig, heute leidet er unter Burnout und ist depressiv. Ein Kind, das man früher aufgeweckt genannt hätte, gilt neuerdings als hyperaktiv. Alles Mögliche ist inzwischen angeblich krankhaft und damit behandlungsbedürftig. Das hat aber weniger mit der Pharmaindustrie als mit der sozialen Akzeptanz von Krankheitsprofilen zu tun. In den Zwanzigerjahren fielen die Frauen noch in Ohnmacht, heute heißt es: Trink mal einen Kaffee. Ein Magengeschwür oder ein Herzinfarkt ist noch immer eine Krankheit mit hoher sozialer Anerkennung. Über seine Hämorrhoiden spricht keiner, obwohl die genauso schwierig sein können. Natürlich beobachten wir solche gesellschaftlichen Veränderungen. Wir stellen uns darauf ein, assoziieren Produktnutzen und versuchen, daraus ein Geschäft zu machen. Aber wir erfinden keine Krankheiten. Das einst aufgeweckte Kind leidet heute möglicherweise an ADHS, an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Das ist inzwischen ein anerkanntes Krankheitsbild. Dass Ärzte vielleicht zu viele Kinder so diagnostizieren, ist ein Problem, da gebe ich Ihnen recht. Aber dafür kann doch die Pharmaindustrie nichts. Sie verdienen daran. Richtig, und damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage: Darf man an der Krankheit von Menschen verdienen? Aus diesem Dilemma werden wir nie herauskommen. In diesem Dilemma bewegen Sie sich jetzt seit fast 40 Jahren – in unterschiedlichen Funktionen. Ist das auf Dauer nicht frustrierend? All das, was wir jetzt diskutiert haben, macht vielleicht zehn Prozent meiner Arbeit aus. Ich schöpfe meinen Lebenszweck lieber aus den 90 Prozent, und deshalb fühle ich mich in meiner Branche sehr gut aufgehoben. Weil wir auch in einem sehr hohen Maße Nutzen spenden. Weil wir Neues schaffen, Entwicklungen vorantreiben. Ich bin von Menschen umgeben, die etwas Gutes, etwas Richtiges wollen. Das mag pathetisch klingen, aber so ist es: Wer in die Pharmaindustrie geht, tut das immer auch, um die Welt ein klein wenig besser zu machen. 7 Bernd Wegener: „Wir müssen an Krankheit verdienen, sonst können wir uns Gesundheit gar nicht leisten.“ 21 Schluckbeschwerden Es gibt Leute, die finden Pillen doof. Ich nehm’ das jetzt mal persönlich. Text: Wolf Lotter 22 3 Mein Kumpel Karl-Heinz ist 50 und „kritisch“, sagt jedenfalls Karl-Heinz. Sein Lieblingssatz lautet: „Man darf nicht alles einfach so runterschlucken.“ Deshalb nimmt der Karl-Heinz auch keine Pillen. Die sind nur Betrug. Den Ärzten traut er auch nicht über den Weg. Alles Quacksalber, sagt der Karl-Heinz, denen kannst du nicht trauen, die wollen nur dein Geld. Guck doch mal, mit welchen Autos die rumfahren! Na siehst du. Karl-Heinz sagt das Wort „Pharma“ nie ohne „Konzerne“, und wenn er es sagt, dann verzieht er sein Gesicht. Karl-Heinz sagt auch nie „Gewinn“, sondern nur „Profit“, und das spricht man irgendwie gespuckt aus. Konzerne sind immer Verbrecher. Man muss kritisch bleiben, sagt Karl-Heinz. Die Pillen schluck’ ich nicht. Sie sind alle bitter. Ja, bitter. Vor 30 Jahren wäre Karl-Heinz in der Öffentlichkeit wahrscheinlich noch als Angehöriger einer randständigen Glaubensgemeinschaft oder eines neuen Öko-Kults identifiziert worden. Heute aber steht der kritische Karl-Heinz mit seiner Haltung, wie Gesinnung auf Neudeutsch heißt, mitten in der Gesellschaft. Leute wie Karl-Heinz sind die, die man in Fernseh-Talkshows einlädt, wenn man einen „mündigen Verbraucher“ sucht, und das tut man ja immer. Leute wie Karl-Heinz sind es, die die Einschlägigkeit des Begriffs Pharma neu geprägt haben, etwa im Internet. Das ist der Ort, der, wenn man in ihm nach dem Wort „Pharmaindustrie“ googelt, massenhaft Begriffskombinationen mit Wörtern wie „Manipulation“, „Betrug“, „Gefahr“ und „Schäden“ hergibt und nur ganz selten das Gegenteil. Für Karl-Heinz werden die ganzen „kritischen“ Fernsehmagazine gemacht und all die „kritischen“ Blogs und Geschichten in Zeitschriften und Tageszeitungen. Wenn es um die Pharmazie geht, um die bitteren Pillen, dann wird der kritische Unterton zum Hintergrundrauschen, das letztlich alles andere übertönt. Das gilt selbst für solche Storys, in denen nicht ein dauerempörtes, aber nur bedingt auch ausrecherchiertes „Ich klage an!“ auf Sendung geht. Um die Karl-Heinzis dieser Welt, den neuen Mainstream, der nicht alles schluckt, ruhigzustellen, braucht man ein Ritual, in dem zunächst mal klargestellt wird, wer die Guten und wer die Bösen sind. Die Guten: Das sind immer die, die nicht für den Konzern arbeiten und die keine Pillen drehen. Ein Beispiel dafür lieferte ein Interview, das der Berliner Tagesspiegel im Juni 2011 mit der neuen Chefin des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller führte. Birgit Fischer war zuvor Vorstandsvorsitzende einer der mitgliederstärksten deutschen Krankenkassen gewesen. Die Frage zu Beginn des Interviews lautete: „Frau Fischer, warum sind Sie von den Guten zu den Bösen gewechselt?“ Der Rest des Interviews hatte weniger von diesen Klischees zu bieten – aber wen interessiert das dann noch? Zuerst müssen mal die „richtigen Fragen“ gestellt werden. Die Bösen sind immer die Pharmakonzerne. Gut ist, wer dagegen ist. Aber wer ist bei einer solchen Haltung eigentlich der Dumme? Klar hat Karl-Heinz recht. Man muss kritisch bleiben. Nicht alles schlucken. Ganz gleich, was einem serviert wird – Pillen oder Propaganda. Die Pharmaindustrie geht mit komplexen Produkten um, und sie findet sich in komplizierten Verhältnissen zwischen Ärzten und Patienten wieder. Die Antwort darauf war lange das, was auch in der Schulmedizin und in der Großtechnologie zum Standard gemacht wurde: Die Leute verstehen das nicht. Fangen wir erst gar nicht an, es zu erklären. In Branchen und bei Technologien, wo man das lange dachte, gibt es heute eine massive Schieflage im öffentlichen Meinungsbild. In einer offenen Gesellschaft muss man auch offen reden, selbst wenn der Gegenstand, über den man etwas sagen soll, komplex ist – vielleicht gerade dann. Wer nicht verteufelt werden will, muss sich verständlich machen. Alles andere erhöht die Nebenwirkungen. 23 „Auch Misstrauen kann Ihre Gesundheit gefährden. Es bleibt dabei: Wissen heilt. Vorurteile nicht.“ 24 Die sind in der Tat nicht ohne. Es ist auch die Folge einer verantwortungslosen Gesinnung, die hier sichtbar wird. Impfen gilt bei vielen jungen Eltern mittlerweile als schlecht. So warnen Experten seit Jahren davor, beispielsweise auf die Masern-Impfung zu verzichten. Zunehmend gibt es Fälle von SSPE, subakuter sklerosierender Panenzephalitis, die tödlich verläuft – und die heimtückischerweise durchschnittlich sieben Jahre nach der Maserninfektion ausbricht. Weltweit sterben an Komplikationen nach einer Masernerkrankung mehr als 160 000 Menschen – pro Jahr. Deutschland hat, als Folge einer mangelnden Impfdisziplin, heute wieder eine der höchsten Masern-Infizierungsraten Europas. Die „harmlose Kinderkrankheit“ Masern muss nicht tödlich verlaufen. Einschneidend ist auch eine Gehirnentzündung mit Fieberschüben, Krämpfen und Schüttelfrost. Ich weiß, wovon ich rede. Als ich vier war, brachte mir mein Bruder Masern aus dem Kindergarten mit – und die führte bei mir zu einer solchen Enzephalitis, die mich die nächsten Jahre beschäftigen sollte. Kindergarten gab es für mich nicht, stattdessen mitternächtliche Besuche des Hausarztes. Nach zwei solcher Jahre schielte ich wie Opossum Heidi, die „harmlose Kinderkrankheit“ hatte noch eine Reihe anderer unangenehmer Effekte – aber ich war am Leben, weil ich viel Glück hatte, was man im Jargon auch Medikamente nennt. Da hilft nur Meditation, da musst du Yoga machen, entspann dich. Das hörte ich von ganz normalen, wohlmeinenden Mitmenschen 35 Jahre später, als es mir, schon einige Tage, im Rücken stach und ich Fieber hatte, mich schlapp fühlte. So was wird heute sofort als kleiner Burnout identifiziert, von Leuten, die das meist im Internet gelesen oder in einer Talkshow gehört haben. Da reicht Kamillentee oder alternativ „ein gutes Gespräch“. Stimmt schon: Nicht alle der 20 000 Menschen, die pro Jahr in Deutschland an einer ambulant erworbenen Lungenentzündung sterben, tun das, weil sie mit dieser Mischung aus Aberglauben und Skepsis gegenüber der Naturwissenschaft statt mit Medikamenten versorgt werden. Aber wenn es im Rücken sticht, das Fieber nicht geht, man sich schlapp fühlt – dann sind die Tipps der Karl-Heinzis gefährlich. Hier heißt es: zurückzweifeln. Alles andere wäre reine Selbstverstümmelung. Das gilt auch, wo die Karl-Heinzis Therapie in eigener Sache anwenden. Es war vor gut einem Jahr. Wieder ein Stechen, aber diesmal in der Brust. Kurz darauf eine schwierige Operation, dann folgte eine Reha – und Gelegenheit, Karl-Heinz in Aktion zu erleben. Ein Patient, der nach zwei Herzinfarkten und einer langen Operation gerade wieder laufen lernte – um seinen Mitpatienten stolz zu berichten, dass er seine Tabletten regelmäßig im Klo runterspült. Denn Pillen, sagt er, sind nur Betrug. Irgendwann kam Karl-Heinz dann nicht mehr. Das war kein Fake. Er war echt tot. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat im Jahr 2003 eine Studie über das Pilleneinnahmeverhalten von Patienten veröffentlicht. Nicht einmal die Hälfte der Kranken in den reichen, medizinisch gut versorgten Ländern nimmt ihre Pillen nach Vorschrift. Das kostet Menschenleben und führt mit zu einem enorm teuren Gesundheitssystem. Auch dafür gibt es viele Gründe, zum Beispiel Vergesslichkeit, also echte Demenz – und jene Art Vergesslichkeit der Karl-Heinzis, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse deshalb nicht schätzen, weil sie ganz selbstverständlich und alltäglich für sie bereitstehen. Keine Frage: Zweifeln ist richtig. Kritik ist wichtig. Aber auch Misstrauen kann Ihre Gesundheit gefährden. Man muss nicht alles schlucken. Aber es bleibt dabei: Wissen heilt. Vorurteile nicht. Das kann man ruhig so schlucken – und es mal ganz persönlich nehmen. 7 Das Gesundheitswesen in Zahlen Krankenversicherungen Deutschland USA Ungefähre Zahl der Personen in Deutschland ohne Krankenversicherungsschutz im Jahr 2009: Anteil der Nichtversicherten an der Gesamtbevölkerung Deutschlands im Jahr 2009, in Prozent: Ungefähre Zahl der Personen in den USA ohne Krankenversicherungsschutz im Jahr 2009: Anteil der Nichtversicherten an der Gesamtbevölkerung der USA im Jahr 2009, in Prozent: Zahl Zahl Zahl Zahl der der der der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) in Deutschland im Jahr 1970: GKV in Deutschland im Jahr 2010: privaten Krankenversicherungen (PKV) in Deutschland im Jahr 1988: PKV in Deutschland im Jahr 2010: Einnahmen der GKV je Mitglied im Jahr 2010, in Euro: Ausgaben der GKV je Mitglied im Jahr 2010, in Euro: 45 000 0,06 46 000 000 15 1815 165 37 43 3418,1 3425,7 Ausgaben der GKV für Arzneimittel im Jahr 1995, in Milliarden Euro: Ausgaben der GKV für Arzneimittel im Jahr 2010, in Milliarden Euro: 16,4 32,0 Ausgaben der GKV für ärztliche Behandlungen im Jahr 1995, in Milliarden Euro: Ausgaben der GKV für ärztliche Behandlungen im Jahr 2010, in Milliarden Euro: 19,7 33,0 Anteil der verordneten Generika am Arzneimittelgesamtmarkt in Deutschland, die zulasten der GKV anfielen, im Jahr 1981, in Prozent: Anteil der verordneten Generika am Arzneimittelgesamtmarkt in Deutschland, die zulasten der GKV anfielen, im Jahr 2008, in Prozent Umsatzanteil der verordneten Generika am Arzneimittelgesamtmarkt in Deutschland, die zulasten der GKV anfielen, im Jahr 1981, in Prozent: Umsatzanteil der verordneten Generika am Arzneimittelgesamtmarkt in Deutschland, die zulasten der GKV anfielen, im Jahr 2008, in Prozent Durchschnittliche Arzneimittelausgaben pro GKV-Versicherten in Deutschland in 2010, in Euro: Durchschnittliche Arzneimittelausgaben pro GKV-Versicherten im Kreisverband Bayern in 2010, in Euro: Durchschnittliche Arzneimittelausgaben pro GKV-Versicherten im Kreisverband Berlin in 2010, in Euro: 10,9 68,6 10,9 36,8 405 362 505 25 Der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem, Professor für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen Aus dem Gleichgewicht Es klingt nach einem klaren gemeinsamen Ziel: Wir alle wünschen uns die bestmögliche Versorgung zu vernünftigen Preisen zum Wohle von Patienten, Gemeinschaft und Industrie. So weit die Theorie. Die Wirklichkeit im Gesundheitsmarkt ist leider komplizierter, wie ein Streifzug durch die Praxis zeigt. Text: Christian Sywottek Illustration: Eva Hillreiner 26 Der Arzneimittelmarkt ist nicht wie jeder andere. Es geht um die Gesundheit und damit um eine Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Daraus ergibt sich eine ganz besondere Sensibilität, und dass es dabei zu Konflikten kommt, ist nicht verwunderlich. Viele entzünden sich an der Balance zwischen einer guten Versorgung und ihren Kosten. Das kennen wir auch aus anderen Industrien, aber im Pharmamarkt ist die Nachfrageseite einzigartig: Der Konsument ist nicht derjenige, der ein Produkt auch bezahlt. Es gibt den Patienten, den Mediziner, den Versicherer und die Versichertengemeinschaft, also eine Krankenversicherung, die die gesamte Bevölkerung einschließt. Diese Aufspaltung ist ein Problem. Die Patienten sehen vor allem ihren individuellen Nutzen. Auch für den Arzt ist der Rezeptblock eher ein Versorgungs- als ein ökonomisches Instrument. Die Krankenkasse wiederum hat auf die Verordnungspraxis keinen direkten Einfluss – sie bekommt die Rechnung und muss zähneknirschend zahlen. Wenn sich aber weder Arzt noch Patient um die Kosten kümmern, entwickelt sich kaum ein Preisbewusstsein. Der Pharmaindustrie ging es sehr lange sehr gut, das war auch politisch so gewollt, denn Deutschland ist traditionell stark in der Pharmaforschung, und der Standort sollte gestärkt werden. Die Bedeutung des Forschungsstandortes Deutschland hat allerdings in den vergangenen 20 Jahren deutlich abgenommen. Erst in jüngerer Zeit nimmt die Politik größeren Einfluss auf die Preise. Sie hat mit Rabatten bei den Generika reguliert und mit Festbeträgen bei Analogpräparaten. Da verschwand die Preisautonomie, und der Industrie ist viel Geschäft weggebrochen. Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) zwingt Hersteller jetzt außerdem zum Nachweis des zusätzlichen Nutzens eines neuen, innovativen Medikaments, sonst zahlen die Kassen dafür deutlich weniger Geld. Das ist nicht ohne, denn bislang hat die Industrie Renditeverluste in bestimmten Bereichen durch eine Hochpreispolitik in anderen Sparten ausgleichen können. Nun aber schließt die Politik nach und nach die üppig sprudelnden Profitquellen, zudem werden die Krankenkassen selbstbewusster – die Bedingungen für die Pharmaindustrie verschlechtern sich. Dass die sich wehrt, ist verständlich, denn die Spielregeln ändern sich, und das schmerzt, zumal Deutschland für internationale Konzerne bislang als leichter Markt galt. Über ihre Methoden dabei kann man streiten, aber man sollte nicht pauschalieren. Ja, es gibt einige schwarze Schafe, die gegen den fixierten Ehrenkodex ihrer Branche verstoßen, und man darf erwarten, dass dies nicht geschieht. Man sollte allerdings auch nicht verlangen, dass sich die Unternehmen selbst beschränken, denn natürlich sind auch Arzneien ein ökonomisches Gut, wie die Brötchen beim Bäcker. Der backt sie auch nicht vorrangig, um Menschen zu versorgen, sondern um damit Geld zu verdienen. Moralische Appelle werden deshalb kaum zur notwendigen Regulierung führen. Wir müssen die Probleme ökonomisch lösen. Es stimmt schon: Die Klagen forschender Arzneimittelhersteller sind nicht immer unbegründet. Andererseits waren die Preise in Deutschland lange wirklich außergewöhnlich hoch, und sie sind es oft immer noch. Wenn sie sinken, stellt das keine allumfassende Bedrohung der Forschung dar. Und auch ein verschärfter NutzenNachweis ist für mich kein Grund für Mitleid, selbst wenn es jetzt Medikamente betrifft, für die die Forschung schon vor zehn Jahren begann. Irgendwann muss man schließlich anfangen. Ob es durch die neuen Regeln wirklich zu einer Kräftebalance zwischen Anbietern und Nachfragern von Medikamenten kommt, wird sich erst zeigen. Wir werden die Kosten aber nur in den Griff bekommen, wenn sich auch auf der Nachfrageseite etwas ändert. Für Laborleistungen wird der Arzt, der traditionell zur Freiheit von der Ökonomie erzogen wurde, schon heute umso besser bezahlt, je weniger er in Auftrag gibt. Warum sollte eine ähnliche Steuerung nicht auch bei Medikamenten möglich sein? Damit sind wir beim Patienten. Braucht er wirklich all das, was er verlangt? Um jeden Preis? Bislang zeigt er sich wenig kostenbewusst und spielt seine Rolle im eingefahrenen System. Da traut sich die Politik nicht ran, aber wenn der Patient sein Verhalten nicht ändert, wird er möglicherweise zum Opfer des Systems. Ganz einfach, weil es nicht mehr funktioniert.“ 27 Die Politikerin Der Mediziner Birgitt Bender, Gesundheitspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen Wolf-Dieter Ludwig, Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie im Helios Klinikum Berlin-Buch und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) Auf dem Arzneimittelmarkt legt man nicht einfach einen Hebel um und fertig. Man dreht an einem Rad, und plötzlich geraten ganz viele Räder in Bewegung, aber nicht immer so, wie man sich das vorher dachte. Deshalb geht es oft zwei Schritte vor und einen zurück – und dann zeigt jeder mit dem Finger auf andere. Als Politikerin steckt man immer mitten im Meinungskampf. Ziel einer guten Pharmapolitik ist die umfassende Versorgung mit bezahlbaren, guten Medikamenten. Dass Unternehmen Geld verdienen wollen, ist legitim, aber als Politikerin habe ich Verantwortung für das Solidarsystem. Die Beiträge müssen für die Versicherten bezahlbar bleiben, deshalb müssen sich auch die Gewinnerwartungen der Hersteller in Grenzen halten. Aber Entwicklung und Forschung an neuen Medikamenten dürfen nicht gefährdet werden. Über die richtige Balance gibt es freilich unterschiedliche Auffassungen, deshalb muss ich den Unternehmen zuhören und von ihnen lernen – wie ich mit jeder Seite sprechen muss, weil der Markt so komplex ist. Dabei kann ich keine Samthandschuhe tragen, man darf nie in Verdacht geraten, der Industrie zu Willen zu sein. Wobei klar ist: Auch wenn die Pharmaindustrie in der Öffentlichkeit oft wie ein negativer Block dasteht, sind es doch viele verschiedene Unternehmen, die sich sehr unterschiedlich verhalten. Dass die Politik insgesamt kritischer geworden ist, liegt am Markt, der an seine Finanzierungsgrenzen stößt. Außerdem haben Institutionen wie das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zu mehr Transparenz geführt – Politiker wissen heute mehr als früher. Einfacher ist es dadurch jedoch nicht geworden, denn wir bewegen uns im Spannungsfeld zwischen Wirtschaftsund Gesundheitspolitik. Markt oder Solidargemeinschaft – da besteht meist ein Zielkonflikt. Wobei es durchaus Überlappungen geben kann, etwa beim geforderten Nachweis des Zusatznutzens bei neuen Medikamenten: Indem wir Scheininnovationen bekämpfen, zwingen wir die Hersteller zur Forschung an wirklichen Innovationen, und das macht sie langfristig doch nur stärker. Wie wir verhindern, dass die Arzneimittelkosten jedes Jahr signifikant steigen? Es ist schwierig, denn mit jeder 28 neuen Regel im Markt gibt es auch viele Versuche, diese zu umgehen, um einen höheren Preis zu erzielen. Unternehmen entwickeln dabei mitunter eine erstaunliche Fantasie, etwa bei neuen Medikamenten für seltene Krankheiten, die vom Nachweis eines Zusatznutzens ausgenommen sind. In der Folge werden plötzlich diverse Erkrankungen in Untergruppen eingeteilt und dann als „selten“ definiert – da fühlt man sich schon veräppelt. Durchdachte Strategien brauchen Zeit, und das kommt öffentlich nicht gut an, weshalb Politiker oft zu symbolischen Handlungen neigen. Aktionismus aber verhindert ernsthafte Diskussionen und wirkt gerade auf dem Arzneimittelmarkt verheerend. Ist dafür allein die Politik verantwortlich? Ich glaube, das greift zu kurz, denn es ist schließlich auch „das Volk“, das danach verlangt. Egal, was man macht, als Politikerin im Gesundheitsbereich macht man es niemals allen recht. Ich fühle mich manchmal wie ein Hase, der über ein Minenfeld läuft. Aber man darf sich nicht hetzen lassen, muss allen Seiten etwas abverlangen, auch Kassen und Patienten, selbst wenn es Wähler sind. So muss man beispielsweise immer wieder klarmachen, dass maximale Versorgung nicht immer die beste ist – obwohl das gar nicht gut ankommt. Auf anderen Märkten verschieben sich die Sättigungsgrenzen, auf dem Arzneimittelmarkt hingegen muss der Kuchen noch aufs Backblech passen, und jede Seite will sich das größte Stück sichern. Ich wünschte mir, die Teilnehmer auf dem Pharmamarkt würden nicht nur auf ihre eigenen Interessen, sondern auch auf das Gesamtsystem achten. Das heißt für Hersteller: angemessene Preise. Kassen und Ärzte sollten weniger über Geld, stattdessen vielleicht über neue Versorgungsstrukturen reden. Und auch der Patient trägt Verantwortung. Der Medikamentenverbrauch hängt auch vom Lebensstil ab. Jeder kann Einfluss nehmen auf den Markt.“ Wir Ärzte befinden uns in einem Dilemma. Unser primäres Interesse ist die optimale Versorgung von Patienten, dafür brauchen wir gute therapeutische Möglichkeiten, und Arzneimittel stehen dabei weit oben. Auf der anderen Seite sind wir als Verordner diejenigen, die begrenzte Ressourcen vernünftig einsetzen und deshalb auch ökonomisch denken. Und für die pharmazeutischen Hersteller sind wir besonders wichtig, weil wir letztlich entscheiden, welches Medikament auf dem Markt besteht. Das bringt uns in eine schwierige Situation – gerade im Verhältnis zur Pharmaindustrie. Denn auch wenn uns die Industrie mit wichtigen Arzneien versorgt, sind unsere Interessen doch verschieden. Unternehmen sind profitorientiert, Mediziner hingegen wollen vor allem die bestmögliche Therapie verordnen. Natürlich ist die Pharmaindustrie nicht per se mein Feind, die Unternehmen handeln sehr unterschiedlich. Einige folgen hohen ethischen Standards, andere aber sind rücksichtslos bei der Durchsetzung ihrer Interessen. Da werden Ärzten Beraterverträge angeboten und üppige Vortragshonorare gezahlt. Es werden negative Studienergebnisse verheimlicht, positive überhöht, und statt mit sachgerechten Informationen werden die Praxen mit geschönten Broschüren geflutet. Ich weiß, dass die Branche einen eigenen Verhaltenskodex aufgestellt hat, aber die Praxis beweist, dass zu oft dagegen verstoßen wird. Das ist ein großes Problem, denn um medizinisch begründet zu entscheiden, ob man ein Medikament einsetzt oder nicht, braucht man unabhängige Informationen. Die aber sind hierzulande nur selten zu bekommen. Sind die neuen, teuren Medikamente wirklich sinnvoll? Im Alltag fallen angesichts dieser Frage meist Bauchentscheidungen. Und am Ende merkt man, dass weniger als ein Drittel einen therapeutischen Fortschritt bringt. Gerade bei Neuheiten gibt es ein deutliches Wissensgefälle zwischen Industrie und Medizinern, dadurch entsteht oft eine zumindest gefühlte Abhängigkeit. Und die nutzen Pharmaunternehmen gezielt aus. Was ich aber genauso kritikwürdig finde: Ärzte machen in diesem Spiel mit, sie versuchen oft nicht einmal, sich unabhängig zu informieren. Viele meinen, dass ein neues Arzneimittel automatisch auch besser wirksam ist und sofort verordnet werden sollte. Klar, es ist nicht einfach, den Einflüsterungen der Industrie zu widerstehen. Wir brauchen für medizinische Forschun- gen ja auch Geld von der Industrie, weil öffentliche Gelder gestrichen wurden. Viele Ärzte fühlen sich auch geschmeichelt, wenn sie zu einem Vortrag eingeladen werden, junge Mediziner verdienen sich gerne ein Zubrot. Und neben all dem ist es nun einmal bequemer, abends auf der Couch eine kostenlose Broschüre zu lesen, als sich mühsam eigene Informationsquellen zu suchen und Originalliteratur zu lesen. Ich habe das als junger Arzt auch gemacht, heute erscheint es mir vollkommen widersinnig. Denn man wird desinformiert, gerät in einen inneren Widerspruch – und natürlich beeinflussen solche Beziehungen auch die Verordnungspraxis. Inzwischen weiß ich es besser: Man kann sich ohne Informationsverlust von der Marketingmaschine abschotten. In der von mir geleiteten Klinik kommt kein Pharmavertreter mehr auf die Station, höchstens noch in mein Zimmer und muss dann bei echten Neuheiten vor großer Runde – Klinikbesprechung mit allen Ärzten – bestehen. Hochglanzbroschüren sind unerwünscht und werden sofort entsorgt, Geschenke sind tabu. Wir wissen trotzdem nicht weniger als andere Kollegen. Es gibt unabhängige Informationsquellen wie den „Arzneimittelbrief“ oder die Mitteilungen der AkdÄ, man kann Originalstudien und die Bewertungen des IQWiG lesen. Das ist deutlich mehr Arbeit, aber wenn ich ein Auto kaufe, frage ich ja auch nicht nur den Hersteller nach dessen Vorzügen. Ich glaube nicht, dass die Industrie jemals aufhören wird, zumindest ein bisschen zu mogeln. Deshalb müssten schon Medizinstudenten auf Selbstschutz trainiert werden. Und es müsste mehr unabhängige Forschung geben, die als Ziel den medizinischen Fortschritt hat und sich nicht an Umsatzerwartungen orientiert. Dann bekämen wir eher die Medikamente, die wir wirklich brauchen, und es gäbe auch keine Mondpreise mehr, weil sich wirklich gute Medikamente immer durchsetzen und rentieren werden. Ich bin skeptisch, ob die Pharmaindustrie das selbst leisten kann. Dahinter verbergen sich ja oft international agierende Konzerne mit Verkaufsdruck und Leistungszielen – mit wissenschaftlicher Argumentation allein sind die kaum zu erreichen. Die müssen ja geradezu tricksen. Manchmal tun sie mir deshalb regelrecht leid.“ 29 Der Gesundheitsexperte Die Verbandsvertreterin Stefan Etgeton, Gesundheitsexperte bei der Bertelsmann Stiftung, vormals Fachbereichsleiter Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) Gesundheit/Ernährung beim Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) Politiker und Krankenkassen erwarten von Patienten, dass sie sich bei Arzneimitteln rational verhalten. Aber Patienten handeln nicht immer rational. Die Heilungs-, ja Heilserwartungen gegenüber Medikamenten sind nicht selten übertrieben, das Risikobewusstsein dagegen ist eher schwach ausgeprägt. Verbraucher spielen eine Doppelrolle im System – als Patienten und als Versicherte. Wenn sie krank sind, wollen sie die optimale Versorgung um jeden Preis. Als Versicherte aber wollen sie geringe Beiträge zahlen und fragen sich, warum das alles so teuer ist. Verbraucher im Gesundheitswesen verhalten sich also durchaus ambivalent. Dass sie den komplexen Pharmamarkt verstehen, kann man kaum erwarten. Aber sie können ihrer Systemverantwortung gerecht werden. Etwa bei Generika, wenn sie in der Apotheke aufgrund der Rabattverträge der Krankenkasse plötzlich ein anderes Medikament erhalten und sich an eine neue Tablette gewöhnen müssen. Systemverantwortung heißt dann: die Umstellung mitzumachen, damit meine Krankenkasse die Vorteile des Rabattvertrages nutzen kann. Umso besser, wenn die Patienten einen Anreiz zum Mitmachen haben, weil sie zum Beispiel auf diese Medikamente keine Zuzahlungen leisten müssen. Anders verhält es sich bei lebensverlängernden Arzneien, etwa in der Krebstherapie. Wenn es um die letzten Lebensmonate geht, ist ein Patient mitunter abhängig von einem sehr teuren Medikament. Da trägt er vor allem Verantwortung für sich selbst, finde ich. Nur er kann entscheiden, ob er noch eine dritte oder gar vierte aufreibende Behandlung durchstehen will. Die Kosten der Behandlung dürfen bei dieser sehr individuellen Entscheidung keine Rolle spielen. Die Verantwortungsübernahme der Patienten kann man nicht erzwingen, aber fördern. Mehr unabhängige Informationen wären hilfreich. Bislang gibt es sie nur in Ansätzen, etwa beim IQWiG, bei der Unabhängigen Patientenberatung, der Stiftung Warentest und der Verbraucherzentrale. Diese Institutionen bilden aber kaum ein Gegengewicht zum Marketing der Industrie, die sich über Broschüren und das Internet direkt an Patienten wendet – was kritisch zu sehen ist. Wo für verschreibungspflichtige Arzneimittel frei geworben werden darf – wie in den USA –, verursachen die meistbeworbenen Arzneimittel auch die höchsten Kosten. 30 Als organisierte Patientenschaft Einfluss zu nehmen ist nicht leicht. Patienten haben vor allem symbolische Macht, deshalb spannen Industrie und Politik sie auch gern für ihre jeweiligen Interessen ein. Unternehmen sponsern Selbsthilfegruppen, wenn sie in diesem Indikationsbereich Arzneien anbieten, andere gehen leer aus. Politiker argumentieren mit dem Patientenwohl, wenn sie konfliktträchtige Entscheidungen begründen. So kommt es zu punktuellen Bündnissen und internen Konflikten, weshalb der Anspruch, mit einer Stimme zu sprechen, nicht immer erfüllt werden kann. Dabei wollen Patienten eigentlich alle dasselbe: gute, innovative Medikamente. Die Industrie legt auch keinen Wert auf therapeutische Flops, insofern gibt es durchaus gemeinsame Interessen. Allerdings haben die Bedingungen in Deutschland in der Vergangenheit auch solche Firmen belohnt, die in einen übersättigten Markt weitere patentgeschützte Präparate ohne nachweisbaren Mehrnutzen eingeschleust haben. Dafür konnten satte Preise erzielt werden, ohne dass damit ein therapeutischer Fortschritt verbunden gewesen wäre. Auf der anderen Seite ist Forschung teuer, Flops sind unausweichlich – um das aufzufangen, braucht die Industrie Kapitalgeber mit hoher Risikobereitschaft und entsprechend hoher Renditeerwartung. Die HIV-Therapie ist einer der letzten großen Innovationssprünge in der Pharmakotherapie. Heute tröpfelt es eher aus den Pipelines der Arzneimittelforscher. Trotzdem muss man sich sehr genau überlegen, ob man Neuheiten noch strenger und früher auf ihren zusätzlichen Nutzen prüft und damit Zulassungen verzögert. Wäre das in den neunziger Jahren bei den Medikamenten gegen HIV so gewesen, wären deutlich mehr Menschen gestorben. Ich halte das AMNOG daher für einen guten Kompromiss, weil es Innovationen schnell zugänglich macht, wenn auch mitunter zu niedrigeren Preisen, als sich die Industrie das wünscht. Was auf den Markt kommt, entscheiden die Hersteller, und über die Erstattung wird auf Basis einer unabhängigen Nutzenbewertung verhandelt. Die Patienten sind auf jeden Fall mit Medikamenten versorgt. Außerdem lehren uns die Pharma-Skandale der Vergangenheit, dass das allerneueste Präparat nicht immer gleich das beste sein muss. Das zu akzeptieren ist auch ein Stück Systemverantwortung.“ Wir Arzneimittelhersteller sind ein integraler Bestandteil des Gesundheitssystems, weil wir medizinische Versorgung sichern, mit neuen Medikamenten, aber auch durch die Zusammenführung von Arzneien und Technologien. Wir geben Impulse für den gesamten medizinischen Fortschritt. Das Bild von hohen Preisen, Scheininnovationen und aggressivem Marketing, das von Teilen der Öffentlichkeit so gerne gezeichnet wird, ist eher von Vorurteilen als von der Realität geprägt. Natürlich haben einzelne Unternehmen in der Vergangenheit Fehler gemacht, aber damit eine ganze Branche zu assoziieren ist nicht gerechtfertigt. Die Kritik ist wohl dem traditionellen Kästchendenken auf dem Pharmamarkt geschuldet. Jeder Teilnehmer hat lange nur an seine eigenen Interessen gedacht und die anderen damit konfrontiert. Da nehme ich uns nicht aus. Ein komplexer Markt erfordert jedoch ein faires Miteinander. Deshalb wollen wir raus aus der Konfrontation und hin zur Kooperation. Wir haben gar keine andere Wahl, denn die Probleme auf dem Markt sind nicht mehr mit Silodenken zu lösen. Die Verteilungskonflikte sind mittlerweile zu groß für Alleingänge, genau wie die Kernfrage, die nur gemeinsam zu beantworten ist: Wie wollen wir künftig mit Medikamenten eine gute Versorgung sicherstellen? Dafür müssen die verschiedenen Akteure auf dem Verhandlungsweg Lösungen finden. Man muss nicht alles gesetzlich regeln – wir müssen miteinander reden, und das tun wir inzwischen auch. Die Verhältnisse untereinander haben sich längst verändert. Bei Rabattverhandlungen kommen Unternehmen und Kassen in direkten Kontakt, auch das AMNOG zwingt uns zum gemeinsamen Handeln. Das erfordert ein neues Rollenverständnis und Transparenz auf allen Seiten: Man legt gemeinsame Ziele fest und überlegt, wer welchen Beitrag wozu leisten kann. Unser Beitrag ist traditionell die Forschung. Wir wollen aber auch den Zugang der Patienten zu Medikamenten sichern, also die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems gewährleisten. Ja, es stimmt, diese Perspektive haben wir lange vernachlässigt. Heute sehen wir darin eine besondere Verpflichtung. Finanzierbarkeit heißt jedoch nicht, dass die Preise für innovative Medikamente gesenkt werden. Natürlich ist es legitim, niedrigere Kosten zu fordern, beispielsweise bei bestimmten Analogpräparaten. Aber Forschung hat ihren Preis, und das gilt auch für Forschungslinien, die nicht zum Erfolg führen. Flops sind unausweichlich, ohne sie kann es keine Innovationen geben. Wir brauchen eine Refinanzierung der Forschung. Uns pauschal zweistellige Umsatzrenditen vorzuwerfen ist ein Totschlagargument. Vor allem aber löst ein Drehen an der Preisschraube nicht die Probleme bei der Versorgung. Die Lösung liegt eher in der Steigerung der Effizienz im Gesundheitssystem. Dabei geht es um neue Versorgungsformen und Kooperationen, etwa zwischen Ärzten in Praxen, Krankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen. Bei solchen patientenbezogenen Versorgungsfragen wollen wir in Zukunft unseren Beitrag leisten, unsere Forschungsarbeit entsprechend erweitern und Lösungen vorschlagen. Das ist ein ganzheitlicher Ansatz, und ich würde mir wünschen, dass auch die forschenden Arzneimittelhersteller ein wenig differenzierter betrachtet würden. Bislang werden Arzneimittel vor allem als Kosten wahrgenommen, aber nicht als Innovationen, die einen individuellen, aber auch volkswirtschaftlichen Nutzen erzeugen können, beispielsweise in einer alternden Gesellschaft. Dass die Arzneimittelausgaben steigen werden, ist allen klar. Aber nicht jeder sieht, dass Menschen auch dank guter Medikamente gesünder alt werden können, was andernorts Gesundheitskosten sparen kann, etwa bei der Pflege. Es wäre also nicht klug, an Innovationen zu sparen. Und es gibt noch viele Probleme zu lösen. Krebs, Demenz, Parkinson, Hepatitis – das sind schwere oder tödliche Krankheiten. Daran arbeiten wir, und das tun wir für die betroffenen Menschen und die Gesellschaft.“ 31 Der Vertreter der Krankenkasse Der Hersteller Norbert Klusen, Vorstandsvorsitzender, Techniker Krankenkasse Hanspeter Quodt, Geschäftsführer, MSD Sharp & Dohme GmbH Viele Konflikte im Gesundheitswesen basieren auf den steigenden Kosten. Man kriegt sie schwer unter Kontrolle, weil Marktmechanismen nur bedingt greifen. Eine Schokolade setzt sich durch, wenn die Qualität stimmt, und dazu gehört auch der Preis. Ein Patient aber kauft seine Medikamente nicht, sie werden verschrieben. Vom Verschreiber werden sie aber auch nicht bezahlt, sondern von den Krankenkassen, also von der Versichertengemeinschaft. Unser Problem ist: Wir zahlen nicht selten für Verschwendung. Die Pharmaindustrie konzentriert sich oft auf Scheininnovationen, für die sie bei geringem Aufwand hohe Preise erzielen will. Unser Ziel ist aber die bestmögliche Versorgung mit bewährten Medikamenten und Innovationen, die wirklich einen therapeutischen Fortschritt bringen. Wir sind nicht bereit, hohe Preise für Arzneien zu zahlen, die das Geld nicht wert sind. Und deshalb haben wir unseren Interessenkonflikt mit der Industrie – auf deren Seite muss sich etwas ändern. Die Kassen selbst haben in diesem Bereich relativ wenig Einfluss. Wir entscheiden nicht über die Zulassung von Medikamenten. Unser Spitzenverband spricht zwar mit im Gemeinsamen Bundesausschuss bei der Frage, welche Arzneien von den Kassen erstattet werden, aber ausgeschlossen wird da praktisch nichts. Und als einzelne Kasse kann ich zwar bei Generika Rabatte aushandeln, aber letztlich kann ich dem Arzt nicht vorschreiben, was er zu verschreiben hat, und das will ich auch gar nicht. Was ich mir daher vorstellen könnte, wäre eine kasseneigene Positiv-Liste – man könnte damit ausgezeichnet behandeln, und gleichzeitig wäre es ein wirksames, marktkonformes Instrument, weil wir als Einkäufer auftreten könnten. Voraussetzung dafür wäre natürlich, dass diese Liste alle medizinisch notwendigen Behandlungsmöglichkeiten abdeckte. Natürlich tragen auch wir Verantwortung für ein finanzierbares Gesundheitssystem. Aber wir können und wollen deswegen keine notwendigen Medikamente verweigern. Wir informieren Patienten über das Für und Wider von Arzneien und haben Verträge für die Integrierte Versorgung, was ja auch Kosten senkt. Wir machen das, obwohl Versicherte schnell argwöhnen könnten, dass ihre Kasse nur Geld sparen will. In die Therapiefreiheit der Mediziner greifen wir jeden32 falls nicht ein. Ärzte verschreiben mittlerweile ohnehin wirtschaftlicher, weil auch sie kritischer geworden sind. An dieser Schraube zu drehen löst die Probleme nicht. Bleibt also die Industrie. Ich sage nicht generell ,Preise runter‘, und ich will auch keinen ,VEB Pharma‘, sondern pharmazeutische Vielfalt. Aber ich will wirkungsvolle Medikamente, bei denen Kosten und Nutzen im Verhältnis stehen. Die frühe Nutzenbewertung im AMNOG begrüße ich deshalb sehr. Der Kampf gegen hohe Preise kann zwar zu sinkenden Renditen bei den Herstellern führen, aber das gefährdet die pharmazeutische Forschung nicht. Warum müssen Pharmaunternehmen eine Umsatzrendite von 20 Prozent erzielen? In anderen, auch risikoreichen Branchen sind es zwei oder drei Prozent. Ich habe nichts gegen Gewinne, aber da wird auf sehr hohem Niveau gejammert. Wenn man Firmenrepräsentanten darauf anspricht, ist ihnen das selbst oft peinlich. Als die Rabatte auf Generika eingeführt wurden, hieß es auch, kleinere Pharmaunternehmen würden vom Markt verschwinden. Das ist aber nicht passiert. Durch solche Scheinargumente hat die Industrie viel Vertrauen verspielt. Wenn sie nun von Kooperation spricht, begrüße ich das, aber ganz ehrlich: Ich habe wenig Hoffnung. Weshalb sollten Konzerne freiwillig auf Rendite verzichten? Ihr Zielkonflikt zwischen Gewinnerwartung und Gesamtverantwortung ist schwer auflösbar. Die Industrie will sich jetzt Gedanken machen über effiziente Versorgungskonzepte? Prima, gute Modelle habe ich da jedoch noch nicht gesehen. Wir als Kasse stehen dem offen gegenüber, auch wenn es aus wettbewerbsrechtlichen Gründen schwierig ist, mit einzelnen Unternehmen zu kooperieren. Grundsätzlich ist eine Zusammenarbeit sicher leichter als früher. Noch vor wenigen Jahren war alles sehr ideologisch aufgeladen, heute sind wir raus aus den Schützengräben und gehen die Probleme pragmatischer an. Was allerdings nicht heißt, dass immer sachlich argumentiert wird. Auch kämpft jede Seite weiter für ihre eigenen Ziele. Um Lösungen zu finden, bedarf es da gelegentlich der Politik. Natürlich verhandeln wir mit Herstellern, aber selbst als große Kasse haben wir zu wenig Verhandlungsmöglichkeiten, gerade bei Neuerungen. Da brauchen wir Hilfe, sonst gibt es ein Preisdiktat.“ Eines ist klar: Mit der Einführung des AMNOG hat sich das jahrzehntelange Geschäftsmodell der forschenden Pharmaunternehmen überholt. Wir haben neue Produkte entwickelt, sie bepreist, haben unsere Informationen dazu verbreitet, und dann konnte sich der Erfolg über einige Jahre einstellen. Jetzt besteht unsere Herausforderung darin, bereits vor der Markteinführung nachzuweisen, dass ein neues Medikament einen zusätzlichen Nutzen hat, und dessen Prüfung durch das IQWiG und den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) ist ein recht monopolisierter Prozess. So einen Paradigmenwechsel hat es noch nie gegeben. Die Grundidee aber finde ich positiv, denn jeder muss seinen Beitrag leisten für ein funktionierendes Gesundheitssystem – also eines, das bezahlbar ist und trotzdem Innovationen ermöglicht. Und die neue Nutzenbewertung ist auch eine Chance, sich von Wettbewerbern abzuheben. Dafür müssen Innovationen aber wirklich anerkannt werden, und ich bin mir nicht sicher, ob das geschieht. Bislang wurden nur etwa 20 Prozent aller geprüften Neuheiten mit Einschränkungen ein Zusatznutzen bescheinigt – da kommt man schon ins Grübeln. Manch eine Entscheidung kann ich wirklich nicht nachvollziehen, etwa bei unserem neuen Medikament Boceprevir für die Therapie der chronischen Hepatitis C. Das IQWiG kam in seinem Gutachten zu dem Schluss, dass es Hinweise auf einen Zusatznutzen gegenüber der Standardtherapie gibt, konnte ihn jedoch nicht quantifizieren. Denn es erkannte nicht an, dass die Elimination des Virus einer Heilung und damit einer Verringerung von Folgeerkrankungen gleichkommt. International gilt die Elimination des Hepatitis C-Virus als Heilung – warum soll das in Deutschland anders sein? Zum Glück hat der G-BA die Beurteilung durch das IQWiG teilweise korrigiert, doch bleiben viele Fragen offen. Und trotzdem: Ich empfinde die aktuellen Herausforderungen nicht nur als Belastung. Derzeit bilden alle Marktteilnehmer ein lernendes System – jeder positioniert sich, alle müssen sich zusammenraufen. Wir haben jetzt auch die Chance, vieles neu zu machen. Viel zu lange war das Verhältnis zu den Kostenträgern durch Konfrontation geprägt, aber das nützt natürlich keiner Seite. Ein Pharmahersteller trägt Verantwortung für das ganze System – und so wollen wir uns auch verhalten: weg vom bloßen Pillenlieferanten hin zu einem Gesundheitsunternehmen, das umfassende Lösungen erarbeitet. So wie ein Autokonzern, der nicht nur Fahrzeuge, sondern Mobilitätskonzepte anbietet. Was das bedeutet? In der Forschung werden wir noch gezielter vorgehen und uns schon Jahre vor einer eventuellen Marktreife mit den Zulassungsbehörden abstimmen. Das klassische Marketing für Ärzte wird an Bedeutung verlieren zugunsten früher Abstimmungsprozesse mit Politik und dem Spitzenverband der Krankenkassen. In Sachen Bezahlbarkeit wollen wir mit Kassen Mehrwertverträge schließen, die nicht nur auf Rabatte hinauslaufen, sondern auf gemeinsame Ziele. Wie viele Diabetiker weniger müssen nach einer bestimmten Anzahl an Jahren medikamentöser Behandlung trotzdem ins Krankenhaus? Wie viele Tage ist ein Patient weniger krankgeschrieben, nimmt er ein bestimmtes Präparat? Man könnte auch gemeinsam Fortbildungen für Ärzte anbieten. Es geht um qualitative, langfristige Ziele – auch weil wir verlorenes Vertrauen zurückgewinnen wollen. Als Unternehmen wollen wir natürlich Gewinne erzielen, zugleich müssen die Preise bezahlbar und neue Medikamente innovativ sein. Das klingt widersprüchlich, und ich empfinde es nicht selten auch als Quadratur des Kreises. Aber andernorts gibt es ja Beispiele für gemeinsame Lösungen, etwa in Neuseeland mit Gesundheitsplänen für Ernährung, Diagnose und Therapien. An solchen Vorbildern kann man sich ausrichten. Gemeinsamkeit erfordert allerdings auch Vertrauen, und da fühle ich mich mitunter allein gelassen. Nehmen Sie nur das jüngste Beispiel: Da wurde der Zwangsrabatt für Medikamente jenseits der Festbetragsregelung von zehn auf 16 Prozent erhöht – und nun verfügen die Krankenkassen über einen Milliardenüberschuss. Der Rabatt wird jedoch nicht ausgesetzt. Gemeinsamkeit sieht anders aus. Natürlich lebt auch auf Seiten der Industrie noch mancher in der alten Welt, in der man sich lieber gegenseitig Vorwürfe macht als sich zusammen an einen Tisch zu setzen. Aber wir stehen unter Beobachtung – was ich in Ordnung finde, weil es zu mehr Sorgfalt führt. Und um Sorgfalt geht es, will ich meinen Patienten gerecht werden. Denn das ist schließlich unser gesellschaftlicher Auftrag.“ 33 Der oberste Verwalter Der Patient Rainer Hess, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) Siegfried Schwarze, zuständig für HIV und Therapie im Delegiertenrat der Deutschen AIDS-Hilfe, Vorstand des Projekt Information e.V. (www.projektinfo.de) Als oberstes Selbstverwaltungsgremium der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen konkretisieren wir den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung, und wir entscheiden im Rahmen des AMNOG auf Grundlage von Herstellerdossiers, Nutzenbewertungen des IQWiG und Ergebnissen von Anhörungen über den Zusatznutzen von neuen Medikamenten. Auf Basis unserer Bewertung verhandelt der Spitzenverband der Krankenkassen – sofern ein Zusatznutzen festgestellt wurde – anschließend mit den Herstellern den Erstattungsbetrag – je höher der Zusatznutzen gegenüber anderen Therapien, desto höher der Preis. Wenn kein Zusatznutzen belegt ist, wird das Medikament in eine Festbetragsgruppe eingeordnet, oder der Preis der Vergleichstherapie bildet die Obergrenze für Erstattungspreisverhandlungen. Mit unserer Arbeit sind wir den Versicherten und deren guter, solidarisch finanzierbarer Versorgung verpflichtet. Dass sich die Industrie für das solidarische System verantwortlich fühlt, würde ich nicht erwarten. Wir entscheiden aber nicht über den Marktzugang von Arzneimitteln, der ist nach wie vor frei. Wir legen lediglich Wegmarken für die Erstattungspreise fest. Deswegen verhindern wir auch keine Innovationen. Und wir entscheiden nach Nutzen beziehungsweise Zusatznutzen und nicht nach gesundheitsökonomischen Grundsätzen. Der G-BA macht keine Marktpolitik. Natürlich gibt es innerhalb des Ausschusses bei Entscheidungen über Medikamente durchaus auch unterschiedliche Auffassungen zwischen Ärzten und Kassen. Aber die Bänke einigen sich meist relativ schnell auf der Grundlage objektiver Daten. Diese Auseinandersetzungen werden absolut transparent geführt und sind Teil unserer Arbeit. Auf dem Weg zum AMNOG hat es von der Industrie massiven Druck auf die Politik gegeben. Das ist zwar legitim, hat aber zu Regeln geführt, die ich nicht gutheiße. So können wir seit 2011 etwa kein zugelassenes Medikament mehr ausschließen, weil es – einmal am Markt – automatisch als nützlich gilt. Wir können über die Zusatznutzenbewertung nur noch auf den Preis Einfluss nehmen. Auch die Abstufung dieses Zusatznutzens hat uns die Politik vorgegeben. Und obwohl wir von den Unternehmen jetzt einen Nachweis über 34 die Zweckmäßigkeit ihrer Arzneien verlangen können, sind wir mit dem Status quo noch nicht glücklich: Bis so eine Studie vorliegt, vergehen etwa drei Jahre, und so lange bleibt das Medikament am Markt und muss mit dem vereinbarten oder festgesetzten Erstattungspreis bezahlt werden. Aber all das ist jetzt Gesetz, und wir gehen damit um. Unser Verhältnis zur Politik ist trotzdem mitunter angespannt, weil sie einerseits Wert legt auf Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, sich andererseits aber wiederholt inhaltlich einmischt. Die Indifferenz ist den heftigen Interessenskämpfen der Industrie geschuldet, die die Politik natürlich weiterhin bearbeitet, und das prallt an Politikern ja nicht ab. Als parteiisch würde ich die Politik dennoch nicht bezeichnen. Sie hat sich mit dem neuen Gesetz in einem echten Kraftakt mit der Industrie angelegt, und wir sind nun einmal ein Verbändestaat. Politik ist da immer ein Kompromiss. Wir bearbeiten zurzeit etwa 20 Verfahren der frühen Nutzenbewertung, und wir haben keine grundlegenden Probleme mit den betreffenden Pharmaunternehmen. Natürlich streitet man sich bei der Bewertung über die zweckmäßigen Vergleichstherapien, aber das kann ja auch gar nicht anders sein. Insgesamt gehen die Unternehmen fair mit uns um, denn auch sie wollen fair behandelt werden. Und wir sind schließlich nicht in einem Boxkampf, sondern in einem Lernprozess. Wie sich unsere Nutzenbewertung am Ende auf die Preise neuer Medikamente auswirken wird, lässt sich noch nicht sagen, weil bislang noch kein Verfahren bis zu konkreten Preisverhandlungen gediehen ist. Aber die Politik wird die Sache sehr genau beobachten und nicht akzeptieren, dass Innovationen nicht anerkannt werden oder die Preise unangemessen in den Keller gehen. Wir müssen jetzt erst einmal in Ruhe arbeiten und erst dann gegebenenfalls nachjustieren, wenn genügend Erfahrungen bestehen. Aber das ist völlig normal. In einem komplexen System brauchen gute Lösungen nun einmal ihre Zeit.“ Ich bin seit über 20 Jahren HIV-positiv, und es sind Medikamente, die mich seitdem am Leben halten. Die mich aber nicht nur überleben lassen, sondern mir auch ein weitgehend normales Leben ermöglichen. Medikamente haben bei Aids das große Sterben beendet, auch bei Freunden und Bekannten, und dank dieser Mittel bin ich nicht mehr infektiös, also auch keine Gefahr für andere Menschen. Ich will, dass gute Medikamente im Markt bleiben und die Entwicklung weiter vorangeht, damit sich Wirksamkeit und Verträglichkeit erhöhen und eine HIV-Infektion vielleicht wirklich einmal geheilt werden kann. Aber so klar diese Position ist, ergeben sich aus ihr auch Konflikte – mit der Pharmaindustrie, den Ärzten, der Politik, den Zulassungsbehörden. Wenn es um die Versorgung geht, bin ich mit der Pharmaindustrie sehr zufrieden. Die HIV-Therapie ist eine Erfolgsgeschichte – selten wurden so schnell so gute Medikamente entwickelt, die Grundlagenforschung ist hervorragend. Und auch wenn jetzt langsam Medikamente auftauchen, über deren Sinn man sich streiten kann, gibt es kein großes Problem mit Scheininnovationen – was freilich auch daran liegt, dass der Markt noch so jung ist. Was mich allerdings stört, ist das überzogene Marketing. Es gibt Hersteller, die vermarkten ihre Medikamente über die Rocklänge ihrer Vertreterinnen, andere machen Deals mit Ärzten. Eine Rolex als Dankeschön für Verschreibungen – so etwas ist zwar rückläufig, kommt aber immer noch vor. Ich habe es auch selbst erlebt, dass sich ein Sponsor zurückzog, weil sein Name in einer Publikation nicht genannt wurde. Und all diese glücklichen, muskulösen Menschen in der Werbung – das ist völlig unrealistisch und birgt – gekoppelt mit oft verzögerten Informationen über Nebenwirkungen – die Gefahr, dass selbst ein gut informierter Schwerpunktarzt dem Marketing erliegt und HIV-Patienten nicht das für sie beste Medikament bekommen. Grundsätzlich geben Unternehmen viel zu viel Geld für Marketing aus. Das könnten sie sich sparen und stattdessen die Medikamente günstiger anbieten. Spielraum dafür gäbe es durchaus – jenseits der Proteasehemmer sind HIV-Medikamente in der Herstellung oft Cent-Artikel, die für einen Bruchteil der jetzigen Preise angeboten werden könnten. Aber das macht natürlich keiner, denn sind die Preise erst einmal hoch, werden sie selten gesenkt, zumal sich die Hersteller bei der Preisfindung vor allem an den Mitbewerbern orientieren. Jeder nimmt, was er kriegen kann, das ist auf dem Pharmamarkt wie in anderen Branchen. Ein besonderer ethischer Anspruch ist Unsinn, es geht ums Geschäft, da ist die Politik gefragt. Aber auch auf deren Seite läuft meiner Meinung nach nicht alles optimal. Die Regulierungen auf dem Pharmamarkt ähneln doch sehr der Flickschusterei. Die neuen Regeln des AMNOG bilden keine Ausnahme. Die frühe Nutzenbewertung halte ich für ein verkapptes Instrument zur Preisreduktion. Warum ist man nicht ehrlich und legt die Preise einfach gesetzlich fest? Und wie soll man einen ,Zusatznutzen‘ definieren? Selbst wenn das Urteil negativ ausfällt, kann ein Medikament bestimmten Patienten nützen. Und wie soll man über eine Arznei urteilen, die etwa bei HIV die Viruslast besonders effektiv senkt, dafür aber mehr Nebenwirkungen hervorruft? Nutzen ist eine sehr individuelle Sache, und man darf wirksame Medikamente nicht wegen irgendwelcher exotischen Nebenwirkungen abstrafen. Viele Leute sind darauf angewiesen. Natürlich tragen auch Patienten Verantwortung für das Gesundheitssystem – sie können mit den Ressourcen sorgsam umgehen. Irgendwann wird es auf dem deutschen Markt auch Generika-Präparate gegen HIV geben. In der eigentlichen Therapie aber gibt es zu Medikamenten keine Alternative – wer sie nicht nimmt, stirbt. Einfach mal verzichten – diese Forderung wäre vermessen. Doch selbst HIV-Patienten können etwas tun, etwa beim Nebenwirkungsmanagement oder der Psychohygiene. Ich sage immer: Wer Depressionen hat, soll erst mal Sport machen, bevor er sich Pillen verschreiben lässt. Und wenn ich einmal gut eingestellt bin, muss ich auch nicht alle drei Monate zur Neu-Diagnose zum Arzt rennen, um alle möglichen Laborwerte bestimmen zu lassen. Bei der Verantwortung der Patienten liegt noch einiges im Argen, was sicher an der mangelnden Aufklärung liegt. Viele folgen einer Maschinen-Ideologie, nach der man den Körper mit Medikamenten eben repariert. Ein Fach ,Gesundheitskunde‘ in der Schule wäre nicht schlecht, und bei Arzneien sollten mehr Informationen auch den Patienten direkt zugänglich sein, nicht nur den Ärzten. Wobei das eigentliche Problem nicht fehlende Informationen sind, sondern ihre Bewertung. Aber da habe ich auch keine perfekte Lösung.“ 35 Labor der Hoffnung Werden mit Stammzellen irgendwann tödliche Krankheiten heilbar sein? Patienten und Ärzte träumen davon seit rund 30 Jahren, britische Forscher sind auf dem weiten Weg jetzt zumindest einen kleinen Schritt weitergekommen. Zu Besuch in Moorfields, einer der führenden Augenkliniken der Welt. Text: Sebastian Borger Fotos: Peter Günzel Die Messung von Augeninnendruck und Augenhintergrund zählt auch in der Spezialklinik in London zum Standardrepertoire der Mediziner. 3 Marcus Hilton hat gelernt, mit seiner Behinderung umzugehen. Auf den ersten Blick ist dem 34-jährigen Betreiber zweier Gaststätten im nordenglischen Wakefield kaum anzumerken, dass er an einer schweren Erkrankung leidet. Erst wenn sich Hilton tief über die Registrierkasse beugt, um die korrekte Bestellung einzugeben, wird sein Problem offensichtlich: Dem Gastronom fehlt in beiden Augen die Schärfe im zentralen Sehfeld. Er leidet an Morbus Stargardt, einer seltenen erblichen Degeneration der Netzhaut. „Das war von klein auf so“, berichtet Hilton. „In der Schule konnte ich die Tafel nicht richtig erkennen, heute kann ich weder Auto fahren noch Zeitung lesen.“ Morbus Stargardt, benannt nach einem deutschen Mediziner, gilt – allen medizinischen Fortschritten zum Trotz – bis heute als unheilbar und ist damit eine Diagnose, die Patienten und Ärzte gleichermaßen trifft. „Wenn ich Stargardt-Patienten vor mir habe“, sagt Professor James Bainbridge, „sinkt meine Stimmung: Es ist so schwer, ihnen Hoffnung zu machen.“ Bainbridge arbeitet an der besten Augenklinik Großbritanniens, vielleicht sogar Europas. Das Londoner Moorfields Eye Hospital macht seit mehr als zwei Jahrhunderten mit bahnbrechenden neuen Behandlungen vielen Blinden und Augenleidenden weltweit Mut. Und das jüngste Aufeinandertreffen von Hilton und Bainbridge könnte vielleicht schon bald ein weiteres Kapitel in der an Triumphen reichen Geschichte dieser Institution aufschlagen. Marcus Hilton war im Januar dieses Jahres der erste europäische Teilnehmer eines klinischen Versuchs mit embryonalen Stammzellen, von dem sich Ärzte und Wissenschaftler Großes erhoffen. Während einer etwa anderthalbstündigen Operation unter Vollnarkose spritzte ihm Professor Bainbridge rund 50 000 Stammzellen tief ins rechte Auge, wo sie die beschädigte Netzhaut reparieren sollen. Die teure Zelllösung stammt aus dem Labor der amerikanischen Biotech-Firma Advanced Cell Technology (ACT). Es handle sich um „einen Meilenstein“, schwärmt Firmenchef Gary Rabin, „für die Wissenschaft, 37 für Befürworter der Stammzell-Therapie, für die Patienten und für ACT.“ Erste Ergebnisse eines parallel in den USA laufenden Feldversuchs geben tatsächlich Anlass zur Hoffnung. ACT zufolge waren zwei Patientinnen auch vier Monate nach der Stammzell-Spritze noch immer frei von Nebenwirkungen; weder kam es zur Abstoßung der fremden Zellen durch das körpereigene Immunsystem, noch bildeten sich Tumoren, wozu embryonale Stammzellen theoretisch in der Lage sind. Liberale Gesetzgebung Beides sind extrem gute Nachrichten. Denn ganz unabhängig von ethischen Fragen und dem erhofften therapeutischen Nutzen einer Stammzell-Therapie, stellen ihre möglichen Risiken und negativen Nebenwirkungen für die Forscher weltweit derzeit das größte Problem dar. Sowohl bei der Versuchsreihe in den Vereinigten Staaten als auch bei der klinischen Anwendung in Moorfields geht es deshalb zunächst nur um die Sicherheit. Über einen Zeitraum von 18 Monaten werden auf beiden Seiten des Atlantiks je zwölf Freiwillige behandelt und beobachtet. Eine Verbesserung der Sehfähigkeit gilt einstweilen als Bonus – tatsächlich machten die beiden Amerikanerinnen Fortschritte, die allerdings schwer messbar blieben. Die Erwartungen an den Feldversuch sind dennoch enorm. Potenziell geht es nicht nur um Hilfe für Millionen von Augenkranken weltweit. Die TestBehandlung bedeutet vielleicht auch den lang vorhergesagten Durchbruch der ersten Stammzell-Therapie – und würde damit Medizin und Wissenschaft ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Wenn im Auge die „Reparatur“ eines Organs gelingt, ohne dass sich unerwünschte Nebenwirkungen einstellen, könnte das über kurz oder lang auch für Herz, Leber und alle anderen Vitalorgane gelten. Am Horizont stünde dann vielleicht sogar der Sieg über Krebs, Parkinson, multiple Sklerose und 38 viele andere tödliche Krankheiten. „Wir sind sehr aufgeregt“, sagt James Bainbridge folglich, was man ihm kaum glauben mag. Der Augenarzt wirkt im Gespräch wie die Inkarnation des sprichwörtlich vollkommen unerschütterlichen Engländers. Sein Pragmatismus mag mit ein Grund für die Auswahl des Klinikums gewesen sein. Dass sich die US-Biotechfirma ACT für den ersten europäischen Stammzell-Versuch an Moorfields und Bainbridge wandten, liegt vor allem aber an deren Betätigungsfeld. Das Auge eignet sich wegen seiner Abgeschlossenheit und vergleichsweise geringen Durchblutung besser als viele andere Organe für eng umgrenzte Stammzell-Versuche. Körperfremde Zellen werden dort nicht sofort vom Immunsystem angegriffen wie anderswo im Körper. Daneben schätzen die Amerikaner aber auch die vergleichsweise liberale Gesetzgebung auf der Insel. Während beispielsweise in Deutschland nur mit importierten embryonalen Stammzellen unter strengen Bedingungen geforscht werden darf, erlauben die Briten den Wissenschaftlern mittlerweile nicht nur die Herstellung, sondern auch das Klonen der umstrittenen Alleskönner. Dem jüngsten Gesetz von 2008 zufolge dürfen in Großbritannien Embryonen aus menschlichen, aber auch aus menschlichen und tierischen Zellen, sogenannte Chimären, hergestellt werden. Für die Forschung mit diesen zytoplasmischen Hybriden wird den Eizellen von Kühen im Labor ihre eigene genetische Information weitgehend (99,9 Prozent) entnommen, um sie dann mit menschlicher DNA zu verschmelzen. Ebenso erlaubt, allerdings noch nicht umgesetzt, ist die Forschung an sogenannten echten Hybriden. Dabei wird die Eizelle einer Kuh mit menschlichem Sperma befruchtet oder umgekehrt. Auf Kuh-Zellen greifen die Forscher zurück, weil zur Herstellung der Stammzell-Linien nicht genug menschliche Eizellen von guter Qualität zur Verfügung stehen. Denn sämtliche Embryonen, so schreibt es das Gesetz vor, und muss den Richter spielen, wenn schwierige ethische Abwägungen zu treffen sind. Dabei hat sie im Laufe der Jahre immer wieder demonstriert, dass sie – unter Wahrung eines gesellschaftlichen Konsenses – innovativer Forschung nur ungern im Wege steht. Im vergangenen Jahrzehnt wurden in einem Zeitraum von drei Jahren (2005 bis 2007) 429 Embryos eigens hergestellt – die HEFA zählt bei dieser ethisch heiklen Forschung genau mit. Und sie beugt möglichen Geschäftemachern vor: Die Ei- und Samenzellen stammen von Spendern, denen Kliniken und Forschungslabors höchstens 300 Euro Aufwandsentschädigung zahlen dürfen, meist deutlich weniger. Was darf Forschung? Schon im Jahr 1805 wurden in Moorfields 600 Patienten behandelt. Dank moderner Technik zählt die Klinik heute rund eine halbe Million Patientenkontakte pro Jahr. Angenehm fürs Auge: ein Patientenzimmer im neuen Klinikanbau, der nach seinem Sponsor Richard Desmond benannt wurde. müssen spätestens 14 Tage nach der Verschmelzung zerstört werden. Die massiven Einwände der Gegner („Wir sollten uns nicht mit Tieren vermischen“) und die wütenden Proteste der katholischen Kirche („monströse Frankenstein-Forschung“) wurden von einer überparteilichen Parlamentsmehrheit ignoriert. In Umfragen befürworten rund 70 Prozent der Briten die ver- gleichsweise weitgehende EmbryonenForschung auf der Insel. Schon 1991 hat das Londoner Unterhaus eine Behörde eingerichtet, die dieser Stimmung Rechnung trägt. Seitdem vergibt die Human Fertilisation and Embryology Authority (HFEA) landesweit Lizenzen für die künstliche Befruchtung, die In-Vitro-Fertilisation, entscheidet über Forschungsprojekte – Dem 18-köpfigen HFEA-Beirat, den der Gesundheitsminister ernennt, gehören erfahrene Praktiker an, Gynäkologen, eine Genetik-Professorin, eine Krankenschwester. Das Gesetz schreibt aber vor, dass eine Beiratsmehrheit Laien sein sollen. Derzeit zählen drei Juristen dazu, eine Buchhalterin, ein Philosophie-Professor, eine Historikerin, zwei Journalistinnen. Vor zehn Jahren leitete noch ein Bischof der anglikanischen Staatskirche den HFEA-Ethikausschuss, inzwischen haben die Religionsgemeinschaften kein Mitglied mehr im Rat der 18, von denen 14 Frauen sind. Sollte sich der Erfolg einer solchen Aufsichtsbehörde daran messen lassen, dass sie es keinem recht macht? Dann könnte die HFEA ihre Bilanz stolz herzeigen. Denn auch wenn der Ausschuss dem medizinischen Fortschritt viel Raum gibt, fallen die Aufseher doch regelmäßig jenen Ärzten und Forschern auf die Nerven, die aus Menschenfreundlichkeit oder weniger noblen Motiven die Grenzen des Machbaren und Erlaubten noch viel weiter hinausschieben wollen. Und natürlich gibt es andererseits auf der Insel auch jene, denen jegliche Forschung an Embryonen ein Gräuel ist und bleibt. 39 Seit 2006 haben es die Befürworter der Stammzell-Therapie mit noch einem Aufseher zu tun: Die Human Tissue Authority (HTA) wacht über die ordnungsgemäße Aufbewahrung und Verwendung jeglicher menschlicher Substanz. Neben Autopsie-Proben und Leichnamen zur medizinischen Lehre gehören dazu auch sämtliche Stammzell-Linien nach ihrer Entnahme aus den Embryonen. Und auch bei der HTA sollen die Fachleute aus Medizin und Forschung nicht unter sich bleiben: Dem Aufsichtsrat – sieben Frauen und fünf Männer – gehören ein Moraltheologe, eine Journalistin, eine Juristin sowie mehrere Spitzenbeamte an. Britischer Pragmatismus Der Rat ist streng – der Freiraum der Wissenschaft aber offenbar trotzdem groß genug. Julie Daniels, Professorin für Regenerative Medizin und Zelltherapie am Institut für Augenheilkunde des University College London (UCL), das gleich hinter der Moorfields-Klinik liegt, berichtet jedenfalls von einem hervorragenden Verhältnis zu den HTAInspektoren. Daniels forscht seit Jahren mit Stammzellen. Als die Mikrobiologin 2005 mit der Kultivierung adulter Stammzellen aus dem menschlichen Auge begann, „waren die Regularien noch keineswegs eindeutig“. Auch die Abgrenzung zu einer dritten Behörde blieb seinerzeit zunächst unklar: Die Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) ist sowohl für die Kontrolle medizinischer Produkte als auch für klinische Versuchsreihen zuständig. Inzwischen sind die Terrains definiert. Gemeinsam und mit bester britischer Nüchternheit fanden die Aufseher und das Team um Daniels einen Modus vivendi, bei dem sich weder die Wissenschaftler gegängelt, noch die Inspektoren im Unklaren gelassen fühlen. Seitdem schreitet die Wissenschaft voran, was an den erlaubten Möglichkeiten, vor allem aber an der räumlichen 40 und inhaltlichen Nähe und der engen Verzahnung von Forschung und Heilkunst liegt. UCL und Moorfields betreiben ein gemeinsames Forschungszentrum, an dem auch Julie Daniels einst als Post-Doktorandin beschäftigt war. „Diese sehr enge Kooperation müsste man anderswo erst mühselig herstellen. Hier entsteht durch die ganze Infrastruktur ein Schwung, der uns gegenseitig beflügelt“, sagt sie. Professor Peng Khaw, Direktor des Forschungszentrums und einstiger Mentor von Daniels, lobt außerdem die „hervorragende Unterstützung“ durch das Nationale Institut für Gesundheitsforschung, das im Gesundheitsministerium angesiedelt ist. Damit meint er nicht zuletzt die finanzielle Ausstattung, auf die das Moorfields/UCL-Zentrum als eines von landesweit elf Forschungseinrichtungen bauen kann, die von der besonderen Förderung der Zentralregierung profitieren. Dafür qualifiziert hat sich Moorfields aus unterschiedlichen Gründen. Allen voran durch Größe. Keine andere Augenklinik in vergleichbaren Industrienationen kann auch nur annähernd so viele Behandlungen vorweisen. Die Zentrale an der City Road mit ihren 19 Filialen in und um London zählt pro Jahr rund eine halbe Million Patientenkontakte. Das sorgt bei den Ärzten für ein hohes Maß an Erfahrung in der Behandlung von häufigen, aber auch seltenen Augenleiden. „Da entsteht eine kritische Masse an Expertise“, sagt Khaw. Daneben hat sich die Klinik in den vergangenen Jahren immer wieder auch durch Spitzenleistungen in der Forschung hervorgetan. Die StammzellTherapie bildet dabei lediglich den aktuellen Höhepunkt. So ist Direktor Peng Khaw, der sich selbst „Augenchirurg aus Leidenschaft“ nennt, auf die Behandlung von Glaukom-Patienten spezialisiert – und hat damit auch selbst zum Ruhm des Klinikums über die Landesgrenzen hinaus beigetragen. Der Schaden am Sehnerv, häufig entstanden durch eine Erhöhung des Augendrucks, macht 2,4 Prozent aller Menschen über 49 zu schaffen; bei den über 80-Jährigen liegt der Anteil noch deutlich höher, besonders in der schwarzen Bevölkerung (13 Prozent). Für Linderung bei den Grüne-StarPatienten sorgt seit Langem eine Operation, die der Augenflüssigkeit eine neue Möglichkeit schafft, zu entweichen. Weil der menschliche Körper aber stets versucht, „Löcher“ zu stopfen, setzt bald eine Vernarbung ein und macht den Erfolg der Operation nicht selten zunichte. Die Folge: weitere Operationen und Krankenhausaufenthalte. Wertvolle Innovationen Gemeinsam mit Professor Stephen Brocchini von der Londoner School of Pharmacy entwickelte Khaw eine Tablette, die zur Zeit der Operation eingenommen wird. Sie führt dem Körper über einen längeren Zeitraum als bisher üblich einen Wirkstoff zu, der die Vernarbung aufhält. Sollten sich die bisherigen Erfolge bestätigen, könnte diese Therapie auch an anderen Körperstellen helfen, wo postoperative Narben die Heilung von Patienten behindern. Mit einer weiteren Innovation ließe sich außerdem noch sparen. Bereits 2003 kostete die Behandlung von GlaukomPatienten den britischen Steuerzahler nach Schätzungen von Medizinökonomen zwischen 1,1 und 3,7 Milliarden Pfund. Eine frühere Diagnose könnte die Kosten sowohl der unmittelbaren Behandlung als auch der Sekundärkosten wie Sozialleistungen und Arbeitsausfall erheblich reduzieren. Dazu soll ein neuartiger Test beitragen, den ein anderes Forscherteam in Moorfields entwickelt hat und derzeit erprobt. Solche Forschungen kosten viel Geld, weshalb die Wissenschaftler nicht nur ihre Kontakte zu den staatlichen Förder- und Prüfinstitutionen, sondern auch einen höchst sachlichen Umgang mit Partnern und Mäzenen aus Industrie und Wirtschaft pflegen. Der Verleger Richard Desmond beispielsweise, der Das Moorfields Eye Hospital: einst „Londoner Armenapotheke zur Erleichterung der an Auge und Ohr Leidenden“, heute Forschungs-, Behandlungs- und Lehrstätte von Weltruf. sein Vermögen zu großen Teilen mit Porno-Magazinen gemacht hat, spendete Moorfields als ehemaliger Patient im Jahr 2006 knapp vier Millionen Euro. Nach ihm wurde ein neuer Anbau speziell zur Behandlung von Kindern benannt. Die Eröffnung übernahm Queen Elizabeth II höchstpersönlich. Augenheilkunde seit 1805 Dabei trafen zwei urbritische Institutionen aufeinander. Die eine, inzwischen seit 60 Jahren stilvolle und unerschütterliche Regentin im Land. Die andere, eine der ältesten Augenkliniken der Welt, gegründet 1805 als „Londoner Armenapotheke zur Erleichterung der an Auge und Ohr Leidenden“. Den Anstoß gab eine Militär-Expedition: Im Rahmen der Napoleonischen Kriege war die britische Armee mehrere Jahre im ägyptischen Abukir stationiert, dort litten viele Menschen am Trachom. Die meisten Soldaten kehrten mit dieser bakteriellen Augenentzündung zurück und steckten ihrerseits im ganzen Land viele Menschen an. Auf Initiative eines jungen Arztes, John Cunningham Saunders, mietete ein reicher Bankier ein Haus, in dem die Kranken behandelt werden konnten. Ein Jahr später beschränkte Saunders seine Tätigkeit auf Augen, nannte sein Haus schon deutlich ambitionierter „Spital zur Heilung von Augenkrankheiten“. Und nach 15 Jahren zog das Krankenhaus an eine Straße, deren Name an ihre Vergangenheit als Sumpf außerhalb der damaligen Stadtmauer erinnert: Moorfields. Auch dieser Standort wurde dem nunmehr offiziell „Königlichen Londoner Augenkrankenhaus“ bald zu klein, seit mehr als hundert Jahren liegt das Moorfields Eye Hospital deshalb einen Kilometer weiter nördlich an der belebten City Road. Der populäre alte Name aber ist ihm geblieben. Von Anfang an zog die Augenklinik Ärzte aus aller Herren Länder zur Weiterbildung an – daran hat sich bis heute nichts geändert. Im Team von Professor James Bainbridge beispielsweise arbeiten 30 Ärzte und Wissen- schaftler aus einem Dutzend Nationen. Sein Büro hat die Größe einer besseren Besenkammer, die Kollegen sitzen auf engstem Raum Ellbogen an Ellbogen vor ihren Computern. Trotz guter Unterstützung müsse seine teure Forschung oft „mit denkbar knappen Mitteln auskommen“, sagt er. Und ja, natürlich sehne er sich manchmal auch nach den erheblich großzügiger ausgestatteten Einrichtungen in den USA. Aber weggehen aus London? Nie und nimmer und jetzt schon gar nicht. In den nächsten 18 Monaten folgen noch eine Reihe von Patienten auf Marcus Hilton, den ersten MoorfieldsStammzell-Kandidaten. Bainbridge wird dabei bleiben, es soll nichts schiefgehen bei dem teuren, vielleicht wegweisenden Experiment der neuen Therapie, schließlich steht viel auf dem Spiel. Das Wohl der Patienten. Der Fortschritt der Wissenschaft. Und untrennbar damit verbunden auch das Wohl jener Unternehmen, ohne deren inhaltlichen und finanziellen Einsatz die wenigsten der Feldversuche überhaupt möglich wären. „Wir sind stark daran interessiert, dass unsere wissenschaftlichen Fortschritte auch wirklich beim Patienten ankommen“, sagt Institutsleiter Khaw. „Ohne die Industrie wäre das sehr schwierig.“ Deshalb müssten Wissenschaftler die breite Öffentlichkeit auch in die Pflicht nehmen. „Natürlich wollen die Leute, dass wir ihre Krankheiten auch mit neuen Methoden heilen“, sagt Khaw. „Umgekehrt müssen wir sie daran erinnern, dass es ohne ihre Unterstützung nicht dazu kommen wird.“ Auch Marcus Hilton hat seinen Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt geleistet. Mit der Gelassenheit, die vielen Einheimischen der Grafschaft Yorkshire nachgesagt wird, wartet der 34-Jährige jetzt auf Ergebnisse, die frühestens in einigen Wochen zu erwarten sind. Er mache sich keine falschen Hoffnungen, sagt er, es gehe ja zunächst nur um die Sicherheit des klinischen Versuchs. „Selbst die kleinste Verbesserung der Augen wäre ein Bonus.“ 7 41 Kein Sauseschritt zur Therapie Ideen gibt’s reichlich. Das gilt für Musik wie für neue Medikamente. Tatsächlich aber entstehen nur selten echte Hits daraus. In der Musik genauso wie bei Medikamenten. Doch Horst Lindhofer aus München ist beides geglückt. Szenen eines ungewöhnlichen Forscherlebens. 3 Seinen ersten Hit landet Horst Lindhofer kurz nach dem Abitur. Der Song „Pogo in Togo“ dudelt durch alle deutschen Diskotheken. Die Band „United Balls“ surft ganz oben auf der Neuen Deutschen Welle mit. Heute, dreißig Jahre später, nach Biologiestudium, Doktorarbeit und Firmengründung, macht der gebürtige Münchner wieder Schlagzeilen. Mit seiner Biotech-Firma Trion Pharma hat er es in der dreißig Jahre alten deutschen Biotech-Industrie als Erster geschafft, eine Idee für eine Krebstherapie komplett in Deutschland zu entwickeln, auf den Markt und zur Anwendung am Patienten zu bringen. Zwei Karrieren, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Denn Show-Geschäft und Arzneimittelentwicklung haben nun wirklich nichts miteinander zu tun. Oder doch? Ist es ein Zufall, dass ausgerechnet einem unkonventionellen, rebellischen Ex-Lead-Gitarristen einer Punk-Band Wenn einer mit Lust bei der Sache ist: Rund drei Jahrzehnte liegen zwischen diesen beiden Porträts von Horst Lindhofer. Der Gitarrist von einst sorgt inzwischen nur noch Text: Sascha Karberg 42 als Wissenschaftler für Aufsehen. gelingt, was die deutsche Biotech-Branche seit Jahrzehnten vergeblich versucht? Nur Zufall, dass sich ein ehemaliger Musiker lieber verlässliche und langfristige Partner für seine Firma sucht statt anonyme, nur am schnellen Gewinn interessierte Risikokapitalgeber? Dann wäre es wohl auch nur ein Zufall, dass Lindhofers Idee von Anfang an von einem finanzstarken Partner, dem Frese- 01* [Grundlagenforschung] Kosten: in Deutschland etwa 2,5 Prozent des deutschen Bruttosozialproduktes pro Jahr Dauer: nicht messbar Erfolgswahrscheinlichkeit einer Idee, als Arznei zugelassen zu werden: weniger als 7 Prozent. Würmer, Fliegen und Hefepilze haben vermutlich mehr zur Entwicklung neuer Medikamente beigetragen als Ratten und Mäuse. Denn das Erforschen dieser Modellorganismen, das zunächst gar keine Arzneimittelentwicklung bezweckt, hat Erkenntnisse über molekulare Vorgänge in Zellen und somit auch über die Ursachen von Krankheiten ermöglicht. Dadurch ergeben sich neue Ansatzpunkte für Medikamente, sogenannte Zielmoleküle, wie etwa Enzyme, die Stoffwechselreaktionen katalysieren, oder Rezeptoren, die auf Hormone oder andere Signalstoffe reagieren. *Quelle: DiMasi, Hausen, Grabowski: The Price of Innovation: new estimates of drug development nius-Konzern, gefördert wurde – so wie eine junge Band unter den Fittichen des etablierten Musik-Labels. Man kann es sehen, wie man will. Zumindest am Anfang gibt es zwischen den beiden Welten durchaus Ähnlichkeiten. Während Musiker in tristen Garagen proben, nach coolen Riffs, eingängigen Beats und Melodien suchen, sitzen Biologen, Chemiker oder Mediziner in ähnlich nüchternen Labors der öffentlich finanzierten Grundlagenforschungsinstitute (siehe Grafik). Hier entstehen die meisten Ideen für Arzneimittel. Denn im Idealfall ist hier das „Herumspielen“, das Testen verrückter Ideen möglich. „Wir sind dafür da, auch mal was Neues zu probieren, nicht nur dem Mainstream zu folgen, sondern auch unwahrscheinliche Hypothesen zu überprüfen“, hat Stefan Thierfelder immer gesagt. Der Leiter des Instituts für Immunologie der Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF) unterstützt Anfang der Neunzigerjahre einen ehrgeizigen Jungforscher: Horst Lindhofer. In Thierfelders Labor entwickelt der Biologe spezielle Wirkstoffe, sogenannte trifunktionale Antikörper – und viele ForscherKollegen warnen, er sei auf dem Holzweg. Viel zu potent, viel zu gefährlich seien diese Antikörper. Aus dieser Idee könne gar kein Medikament werden. Tausende Ideen scheitern So ist das immer auf dem mühsamen Weg von der Idee zum Produkt. Besonders in der Medikamentenentwicklung. Am Anfang gibt es zahllose Gründe, warum es nicht klappen kann. Später auch. Und meist haben die Nörgler auch noch recht. Denn von 100 Wirkstoffen, die zum ersten Mal am Menschen getestet werden (Phase I), wird nur etwa einer als Medikament zugelassen. Vorher sind bereits Tausende Wirkstoffe daran gescheitert, dass sie zu giftig sind, zu lange oder zu kurz im Körper verbleiben, Mutationen auslösen, krebserregend, fruchtschädigend 43 oder einfach zu teuer in der Herstellung sind. Und so weiter und so fort. Manche Ideen für neue Arzneien bleiben aber auch aus ganz banalen Gründen blanke Theorie: Ein Forscher wechselt in ein anderes Labor. Einer Biotech-Firma geht das Geld aus. Ein Fehler in der Statistik verfälscht ein Studienergebnis – in jeder Phase bleiben potenzielle Arzneien auf der Strecke. Denn auch wenn es Forscher, Pharmafirmen, Ärzte und Gesundheitspolitiker in schicken Broschüren gern so darstellen: Ein stringentes System, in dem jede Idee hinreichend und unabhängig von wirtschaftlichen Interessen auf ihre Wirksamkeit am Menschen getestet wurde, existiert nicht. Kein Wunder, dass die Produktivität der Pharmaindustrie sinkt. Obwohl der Aufwand für die Entwicklung eines neuartigen Medikaments seit 1970 jährlich um etwa sieben Prozent auf schätzungsweise 800 Millionen Dollar gestiegen ist, schaffen es damals wie heute nur 20 bis 30 Medikamente pro Jahr durch die Zulassung auf den Markt. Nach wie vor regiert der Zufall, und das Risiko ist hoch, nur mühsam gebändigt durch das enorme Engagement Einzelner, manchmal sogar ehemaliger Musiker. Risikofreudig und hartnäckig ist Horst Lindhofer schon in Teenager-Tagen, als er noch Raketen in den Münchner Himmel jagt. Als Musiker schießt er die Warnungen des Vaters („Diese Musik ist doch nichts Richtiges“) und die Selbstzweifel („Ich bin wohl kein John Lennon“) in den Wind – und hat Erfolg. Der Musikerkarriere kehrt er den Rücken, als ihn die Neugier packt. Dem damals 22-Jährigen springt ein Artikel aus dem Magazin Spektrum der Wissenschaft ins Auge: Darin ging es um Antikörper und darum, was man mit ihnen machen kann. Kurzentschlossen schreibt sich Lindhofer in der Ludwig-Maximilians-Universität ein, absolviert ein Biologiestudium und landet schließlich im Labor des Antikörper-Spezialisten Stefan Thierfelder. 44 Dort befasst man sich gerade mit einer Projektidee für Antikörper, die zwei Zielmoleküle erkennen können, sogenannte bispezifische Antikörper. Normalerweise sind Antikörper monospezifisch: Die beiden kurzen Arme des yförmigen Proteins können nur ein bestimmtes Molekül greifen – so wie ein Schlüssel nur in ein Schloss passt. Bispezifische Antikörper greifen mit dem einen Arm des Y ein krebstypisches Molekül und mit dem anderen eine Immunzelle, um sie so zum Tumor zu führen. „Das fand ich total faszinierend, dass man die Abwehrzellen gewissermaßen an die Hand nehmen und gegen den Tumor dirigieren kann“, sagt Lindhofer. Er merkt schnell, dass das Verschmelzen der beiden Antikörpertypen quälend aufwendig und alles andere als wirtschaftlich ist. Doch er findet einen Ausweg. Die richtige Dosis entscheidet „Es war Glück, dass ich in einem Labor gearbeitet habe, das zufällig auch Antikörper in Ratten herstellt.“ Denn es stellt sich heraus, dass das Verschmelzen eines Maus-Antikörpers mit einem Ratten-Antikörper viel einfacher ist. Das allein macht die neue Antikörpertechnik schon relevant für die Anwendung. Aber Lindhofer fällt noch ein weiterer Kniff ein. Er will den langen Arm, den „Fuß“ des Y, optimieren. Dieses dritte Ende des Antikörpers bestimmt, welche Aktionen das Immunsystem gegen die Krebszelle oder das Bakterium einleitet. „Es können zum Beispiel Fresszellen herangeholt werden, wenn der Antikörper ein Bakterium gegriffen hat“, sagt Lindhofer. Als einer der Ersten verändert er dieses dritte Bein – die meisten Kollegen haben Bedenken, dass das Immunsystem dadurch überaktiv wird und sich gegen die Zellen des Patienten richten könnte. Doch Lindhofer macht weiter. Unbeirrt verfolgt er seine Idee eines „trifunktionalen“ Antikörpers, der nicht 02 [Präklinik] Kosten: 121 Millionen Dollar Dauer: 3 bis 5 Jahre Erfolgswahrscheinlichkeit: 7,1 % Mithilfe von Gentechnik ist es seit etwa 20 Jahren möglich, körpereigene Substanzen (Biologics) wie Antikörper, Botenstoffe oder Wachstumsfaktoren herzustellen und gegen krankheitsverursachende Zielmoleküle einzusetzen. Im Normalfall werden Zigtausende von chemischen Verbindungen (Small Molecules) automatisiert im Reagenzglas getestet, ob eines davon ein Treffer ist und das Zielmolekül beeinflussen kann. Pharmafirmen haben dafür Substanz-Bibliotheken angelegt. Die Hit-Substanz muss Tests auf chemische, biophysikalische, physiologische, toxische, mutagene, krebserregende und fruchtschädigende Eigenschaften bestehen, bevor sie als sogenannte Leitsubstanz chemisch so optimiert und mit Trägersubstanzen gekoppelt wird (Stichwort Galenik), dass sie im Körper die bestmögliche Wirkung hat, an die richtige Stelle im Körper gelangt, ausreichend lange im Körper bleibt, abgebaut und ausgeschieden werden kann. Die Reagenzglasund Zellkulturtests werden von gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuchen ergänzt, um Wirkung und Nebenwirkung des Wirkstoffs in einem lebenden Organismus abzuschätzen. nur Tumor- und Killer-T-Zellen zusammenbringt, sondern gleich auch noch die Fresszellen der Körperabwehr dazu. „Krebs ist so hartnäckig, dass wir das volle Potenzial des Immunsystems brauchen“, sagt er, und das bayerische R rollt gewaltig. Seine Beharrlichkeit zahlt sich aus: Die Aggressivität der trifunktionalen Antikörper bekommt Lindhofer durch eine tausendfach geringere Dosierung in den Griff – ein weiterer Vorteil für die Vermarktung, weil so viel weniger des teuren Wirkstoffs hergestellt werden muss. An ein Medikament oder gar eine eigene Firma denkt Lindhofer zu jenem Zeitpunkt, 1993, allerdings nicht. Wie die meisten Grundlagenforscher treiben ihn Neugier und die Anerkennung von Wissenschaftskollegen. Als er auf einer Krebsforschungskonferenz in den USA mit seinen Ergebnissen einen Preis gewinnt, wird er in München plötzlich 03 wahrgenommen. „Professoren, die mich vorher nie beachtet hatten, luden mich ein, boten mir das Du an.“ Eitelkeit? Nicht nur: „Wissenschaft funktioniert nur durch Austausch, und der kommt erst in Gang, wenn sich andere für deine Arbeit interessieren.“ Trotzdem lässt sich Lindhofer von seinem Chef überzeugen, auf seine Entdeckungen Patente anzumelden, obwohl solch ein Ansinnen von vielen Grundlagenforschern 1993 noch als Verrat an der Freiheit der Forschung eingestuft wird. „Aus meiner Musikerzeit kannte ich die Vorteile, sich die Rechte auf die eigene kreative Arbeit zu sichern“, sagt Lindhofer. „Das Geld für die Konzerte war kaum der Rede wert. Aber wenn die eigenen Kompositionen im Radio oder Fernsehen laufen, dann wirft das schon was ab.“ Für „Pogo in Togo“ bekommt er bis heute jedes Jahr ein paar Euro von der GEMA. [Phase I] Kosten: 15,2 Millionen Dollar Dauer: 2 Jahre Erfolgswahrscheinlichkeit: 9,5 % Die ersten Tests mit geringen Mengen des neuen Wirkstoffs klären zunächst an wenigen (10 bis 80) gesunden Freiwilligen, ob die Substanz sicher und welche Dosis optimal ist. Bei bestimmten Krankheiten (etwa Krebs) sind es Patienten, die in sogenannten Phase I/II-Studien erstmals mit neuen Wirkstoffen konfrontiert werden, weil die verwendeten Substanzen (zum Beispiel Zellgifte bei Krebs) gesunden Menschen nicht zumutbar sind. Durch Untersuchung des Blutes, des Urins und diverser anderer Körperfunktionen der Probanden ergibt sich ein Bild, wie sich die Substanz im Körper verhält. Sofern keine bedenklichen Nebenwirkungen auftreten, wird die Dosis so lange erhöht, bis das optimale Verhältnis von Wirkung und Nebenwirkung erreicht ist. Phase-I-Studien erlauben noch keine Aussage über die Wirksamkeit der Arznei. 1995 beginnt Lindhofer, seine Antikörper auf den Einsatz am Menschen vorzubereiten. Zuerst testet er an Mäusen, und tatsächlich: Die Antikörper schaffen es, die Tiere vom Krebs zu befreien. „Ein großartiges Gefühl“, sagt er. „Wir haben uns gefühlt wie Könige.“ Auch dieses Ergebnis führt zu Patenten, doch eine eigene Firma kommt dem Forscher noch immer nicht in den Sinn. „Ich dachte eher, dass sich irgendwann ein Pharmakonzern melden würde, der das dann entwickelt“, sagt Lindhofer und lacht über seine damalige Naivität. Pokern für ein neues Verfahren Ein Technologietransferbeauftragter der GSF bringt ihn schließlich auf die Idee, die Sache selbst anzupacken. Lindhofer lernt, dass es meist nicht die großen Pharmafirmen sind, die Neuentwicklungen aus der Grundlagenforschung aufgreifen, sondern dass um die Ideen herum kleine Biotech-Firmen gegründet werden – und zwar meist von den Forschern selbst. Das nötige Geld stammt von Risikokapitalgesellschaften, die darauf wetten, ihre Investition samt Rendite nach ein paar Jahren von den großen Pharmafirmen zurückzubekommen – wenn das Start-up bewiesen hat, dass seine Idee zur Arznei taugt und sie ihm abgekauft wird. Auf dem Weg zum Jungunternehmer bewirbt sich Lindhofer 1997 bei einem Start-up-Wettbewerb von McKinsey und schreibt auf, wie seine Forschungsergebnisse zur Krebstherapie werden könnten. Er gewinnt – und plötzlich sitzt der Grundlagenforscher in Meetings, schreibt Businesspläne, verhandelt mit Risikokapitalgebern und handelt beim GSF Exklusivlizenzen auf die eigenen Forschungsergebnisse aus. Mit Nebenwirkungen: „Das war so viel Stress, dass ich erst einmal einen Hörsturz bekam.“ Als Trion Pharma, wie die neue Firma heißen soll, fast am Start ist, passiert etwas, das für die Branche sehr 45 ungewöhnlich ist: Lindhofer wird vom Vorstand des Fresenius-Konzerns eingeladen, seine Idee vorzustellen. Bei dem Medizintechnik-Unternehmen, das in den Neunzigern mit dem Verkauf von Dialysegeräten rasant gewachsen war, kannte man den Münchner Forscher bereits als Stipendiat der Else KrönerFresenius-Stiftung. Lindhofer wittert seine Chance, und er hat gelernt: Um Fresenius seine Antikörper-Idee schmackhaft zu machen, schlägt er nicht etwa ein Arzneimittel vor, sondern eine Art Staubsauger-Medizinprodukt. Weil die Antikörper Krebszellen greifen, könnten sie das Knochenmark, das krebskranken Patienten seinerzeit vor der aggressiven Chemo- und Strahlentherapie entnommen wird, von Krebszellen befreien, sagt er. Eine wichtige Voraussetzung, damit der Patient nur seine blutbildenden Stammzellen zurückbekommt. Nicht minder wichtig: Ein solcher „Staubsauger“ ließe sich, wie in der Medizintechnik üblich, in zwei Jahren Entwicklungszeit realisieren. Das war hoch gepokert, sagt er heute. „Aber auf ein zehnjähriges Arzneimittelentwicklungs-Projekt hätte sich Fresenius bestimmt nicht eingelassen.“ Die Partie geht an ihn. Der Vorstand sei interessiert, ließ man ihn wissen. „Und das mit dem Risikokapital solle ich mal ganz schnell vergessen.“ Im März 1998 gründet der ExMusiker, Ex-Grundlagenforscher und Neu-Unternehmer Horst Lindhofer die Trion Pharma – in der Tasche ein Kooperations- und Lizenzvertrag von Fresenius. Obwohl der Partner zunächst vor allem an dem Staubsauger interessiert ist, sichert sich Fresenius auch die weltweiten Vermarktungsrechte für Medikamente auf Basis der trifunktionalen Antikörper. Lindhofers Rechnung geht auf. „Unser Vorteil war, dass wir komplett finanziert waren“, sagt er. Und er nutzt das Geld nicht allein, um die Antikörper für die Staubsauger-Technik fit zu machen. Es ermöglicht ihm auch die 46 ersten präklinischen Tests der Antikörper in Zellkulturen, Mäusen und Affen, die nach den Regularien der europäischen Zulassungsbehörde EMA für neue Medikamente nötig sind. Dazu gehören umfangreiche toxikologische Untersuchungen, aber auch Nachweise darüber, wie lange der Wirkstoff im Körper verbleibt, wie er abgebaut wird, ob er auf die Fruchtbarkeit Einfluss hat, ob er Mutationen oder Krebs auslöst, und welche Dosis für den ersten Einsatz im Menschen vermutlich sinnvoll wäre. Eine große Investition (im einstelligen Millionenbereich) ist außerdem für eine Produktionsstätte nötig, die den EMA-Richtlinien und denen der nationalen Behörden entsprechen müssen, damit die Antikörper so produziert werden können, dass sie sicher sind für den Einsatz am Menschen. Eine Therapie wird überflüssig Für das Medizinprodukt, das der Unternehmer nebenbei vorantreibt, sind viele der Tests gar nicht nötig. Aber sie sind Voraussetzung, um mithilfe der GSF (heute Helmholtz Zentrum München) die ersten Krebspatienten am Klinikum Großhadern der Ludwig-MaximiliansUniversität mit trifunktionalen Antikörpern zu behandeln. Und Lindhofer tut gut daran. Denn die positiven Ergebnisse aus dieser Pilotstudie (wie bei Krebsbehandlungen üblich Phase I/II) helfen ihm über eine kritische Zeit in der Zusammenarbeit mit Fresenius hinweg: Die Staubsauger-Technik funktioniert zwar, doch sie ist inzwischen überflüssig geworden. Mittlerweile sind die Ärzte nicht mehr überzeugt, dass aufwendiges Transplantieren von Knochenmark und Hochdosis-Chemotherapien ihren Patienten tatsächlich helfen. „Das ganze Therapiekonzept fiel in sich zusammen. Unser Medizinprodukt hatte plötzlich keinen Markt mehr“, sagt Lindhofer. Jetzt ist Feierabend, dachte er, jetzt wird sich Fresenius zurückziehen. Statt auf die Kündigung der Kooperation zu warten, tritt er die Flucht nach vorn an. Er legt dem Fresenius-Vorstand die positiven Daten aus den Pilotstudien in Großhadern vor: Hätte das Unternehmen vielleicht Interesse daran, eine Arzneimittelentwicklung zu wagen? Das ist eine freche Frage. Denn Lindhofer stellt sie zu einer Zeit, in der die deutsche Biotech-Branche gerade in eine tiefe Krise stürzt. Während die Euphorie um den Neuen Markt in den 04 [Phase II] Kosten: 23,5 Millionen Dollar Dauer: 2 bis 3 Jahre Erfolgswahrscheinlichkeit: 17 % Um einen ersten Hinweis auf die Wirksamkeit eines Medikaments zu bekommen, werden – je nach Indikation – 100 bis 500 Patienten mit dem Mittel behandelt. Dabei werden die Patienten im Idealfall per Los auf zwei Gruppen aufgeteilt, von denen eine den Wirkstoff bekommt, die andere nicht. Bei Doppelblind-Studien wissen weder die Ärzte noch die Patienten (oder die Pharmafirma, die die Studie in Auftrag gibt), welche Patienten Pillen mit oder ohne Wirkstoff bekommen haben. Erst am Ende der Studie werden die gesammelten Daten komplett offengelegt, um ein von äußeren Einflüssen möglichst unabhängiges Ergebnis zu erhalten. Neunzigerjahren noch Investoren in Scharen lockt und die Aktienkurse von Biotech-Firmen in die Höhe schießen, platzt die Blase im Millennium-Jahr mit lautem Knall, als den Investoren das Risiko und die Langwierigkeit der Medikamentenentwicklung klar wird. In diesem Jahr ist so mancher Traum ausgeträumt, doch an der Spitze von Fresenius steht kein Spekulant, der mit der Investition in Trion Pharma allein eine schnelle Rendite erwartet. Gerd Krick ist Unternehmer. Und der gelernte Ingenieur weiß, dass jede Technik eigenen Entwicklungsgesetzen folgt. Auch der Dialysefilter, den Krick einst selbst ersann und auf dessen Basis Fresenius globaler Marktführer für Dialysetechnik werden konnte, hatte mehr 05 [Phase III] Kosten: 86,5 Millionen Dollar Dauer: 2 bis 3 Jahre Erfolgswahrscheinlichkeit: 68,5 % Am Ende der klinischen Prüfung eines Medikaments steht die statistische Absicherung des Wirksamkeitsnachweises an möglichst vielen, mitunter Tausenden von Patienten. Nicht selten treten in den größeren Patientengruppen Nebenwirkungen auf, die in Phase I oder II noch nicht beobachtet werden konnten. Am Ende müssen Wirksamkeit und unerwünschte Nebenwirkungen gegeneinander abgewogen werden. Zeit und Kosten in Anspruch genommen, als geplant war. In jenem Jahr 2000 entscheidet sich Krick deshalb wie schon zuvor für Geduld und unternehmerisches Risiko. Trion Pharma kann weitermachen. Lindhofer bekommt die Chance, die Wirksamkeit seiner trifunktionalen Antikörper zu beweisen. ten. In einer Nischenindikation könnten die Antikörper schneller getestet werden. Nicht zuletzt deshalb kommen Lindhofers Innovationen zunächst an Patienten mit malignem Aszites zum Einsatz, einer Erkrankung, bei der sich große Flüs sigkeitsmengen im Bauch des Patienten ansammeln. Auf diese Patienten stieß Lindhofer Lernprozess für Immunzellen durch Zufall – eine Technische Assistentin seiner Forschungsgruppe war an Das war eine für die Industrie unge- Krebs erkrankt, und in der Folge füllte wöhnliche, oft belächelte Entscheidung sich ihre Bauchhöhle mit Gewebeflüs– bei Fresenius habe man gar nicht ge- sigkeit: maligner Aszites, wie ihn etwa wusst, worauf man sich einließ, hieß es. 30 000 Patienten pro Jahr in Europa entSchließlich gehen Konzerne wie Novar- wickeln. Die Betroffenen müssen regeltis, Roche oder Pfizer in der Regel erst mäßig zur Punktion, um die Flüssigkeit dann eine Kooperation mit kleinen Bio- abzulassen. Weil damit auch wichtige tech-Firmen ein, wenn deren Wirkstoff- Proteine verloren gehen, sterben die kandidaten in Phase-II-Studien bewiesen Patienten meist nicht am Krebs, sondern haben, dass sie Einfluss auf die Krank- an Auszehrung. Die erkrankte Kollegin heit der Patienten haben. Bei Tausenden ist eine der ersten Patientinnen, deren von Biotech-Buden mit ebenso vielen Leiden die Antikörper erkennbar linEntwicklungsprojekten weltweit ist das dern. In den Monaten, die Lindhofers Risiko für die Unternehmen viel zu hoch, Kollegin noch lebte, trat kein Aszites in eine Firma zu investieren, deren Arz- mehr bei ihr auf. Für Trion Pharma erweist sich die neimittel-Idee sich möglicherweise als Flop herausstellt. Lieber zahlen sie weit- Nischenindikation tatsächlich als ideale aus mehr Geld für Projekte, die schon Abkürzung zum Wirksamkeitsnachweis die wichtigsten Hürden in der Arznei- für Lindhofers Antikörper. „Erstens mittelentwicklung erfolgreich genom- konnten wir den Behörden zeigen, was im Körper passiert – bevor, während men haben. Die ersten Jahre, den Transfer ihres Wis- und nachdem wir die Antikörper eingesens aus der Grundlagenforschung in leitet haben.“ Während die Forscher vor die klinische Prüfung der Wirkstoffe am der Behandlung sehr viele Tumorzellen Menschen, müssen die jungen Unter- in der Bauchhöhlenflüssigkeit messen, nehmen deshalb mit öffentlichen För- ist sie nachher nahezu frei von Krebsdergeldern und vor allem mithilfe von zellen, dafür aber voller Immunzellen, Risikokapital-Investoren bestreiten. die von den Antikörpern herangeschafft Aber Ende 2000, als Biotech-Firmen wurden. „Und zweitens konnten wir an der Börse auf 20 Prozent ihres Vor- beim malignen Aszites mit wenigen Pajahreswertes abgeschmiert waren, hätte tienten und innerhalb kurzer Zeit einen Horst Lindhofer wohl kaum einen Cent messbaren Vorteil für die Kranken zeigen“, sagt Lindhofer. Die Behandlung Risikokapital bekommen. Fresenius bleibt an Bord, pumpt erspart nicht nur die wöchentlichen weiter Geld in die Entwicklung der tri- Punktionen. Inzwischen ist sich der Forfunktionalen Antikörper – drängt aber scher sicher, dass die Patienten auch auch auf eine schnelle Wirksamkeits - eine höhere Überlebenschance haben: prüfung. Häufige (also lukrative) Krebs- Das Immunsystem lernt, dass es gegen Indikationen erfordern aufwendige und rückkehrende Tumorzellen eine Immunteure Studien an 500 oder mehr Patien- reaktion auslösen muss. 47 Als sich abzeichnet, dass Trions Antikörper, genannt Removab, sicher und wirksam sind, gründet Fresenius 2003 die Tochtergesellschaft Fresenius Biotech. Ein unglücklicher Name, denn das Unternehmen soll tun, was die Aufgabe einer Pharmafirma ist: klinische Studien vorbereiten und organisieren, mit den Zulassungsbehörden kommunizieren, zugelassene Medikamente vermarkten, bewerben, vertreiben. Man könnte auch sagen: Fresenius Biotech soll das Label für Trion Pharma werden und die trifunktionalen Antikörper zum Hit machen. Üblicherweise schließen BiotechFirmen spätestens nach dem ersten Wirksamkeitsnachweis in der klinischen Prüf-Phase II einen Kooperationsvertrag mit einer erfahrenen Pharmafirma, die dann die weitere Entwicklung, Zulassung und Vermarktung übernimmt. Denn der Weg von der Idee zum Markt und zum kommerziellen Erfolg braucht eben mehr als finanzielles Engagement, erklärt Christian Schetter, Geschäftsführer der Fresenius Biotech GmbH. Die 2003 neu gegründete Tochter musste die dafür nötige Infrastruktur erst aufbauen. So wächst mit Voranschreiten der Removab-Entwicklung auch die Fresenius Biotech. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen 180 Mitarbeiter, die nicht nur die letzte, entscheidende Phase-III-Studie organisieren, sondern Removab auch durch die Zulassung bringen. Und das ist alles andere als eine Formalie. Obwohl nur Medikamentenkandidaten zur Zulassung eingereicht werden, die sich auch noch in der letzten klinischen Prüfung bewährt haben, scheitern zehn Prozent aller Arzneien an dieser Hürde. Fresenius reicht Removab Ende 2007 zur Zulassung bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA ein. Auf elektronischem Weg, denn sonst hätten schätzungsweise 85 000 Blatt Papier mit den von der Behörde geforderten Informationen nach London geschafft werden müssen. 48 Danach läuft die Uhr. Nach 180 Tagen muss die EMA erstmals antworten, fragt Details nach, fordert weitere Daten. Bei Fresenius sind mehrere „Rapid Response Teams“ allein damit beschäftigt, binnen vorgeschriebener Zeiträume zu antworten, um den Prozess nicht unnötig zu verzögern. Im April 2009 ist es geschafft: Die EMA erteilt die Zulassung für Removab als Therapie gegen malignen Aszites. Am Ziel allerdings ist das Medikament damit noch lange nicht. „Man hat zwar das Gefühl, dass man bereits den Gipfel erreicht hat“, sagt Schetter. „Aber im Grunde ist man erst im Basislager. 06 [Zulassung] Kosten: keine Angabe Dauer: bis zu 2 Jahre (seit Präklinik: 8,2 bis 9,5 Jahre) Erfolgswahrscheinlichkeit: 90 % Sind die Ergebnisse einer Phase-III-Studie hinreichend aussagekräftig, kann die Zulassung eines Medikaments beantragt werden. Dazu müssen alle relevanten Daten aus den klinischen Studien und Befunde aus der Präklinik in einem umfangreichen Dossier bei den Zulassungsbehörden (BfArM für Deutschland, EMA für Europa, FDA für die USA) eingereicht werden. Dort wird vor allem das Nutzen-RisikoVerhältnis des Wirkstoffs bewertet. Ein letzter, aber harter Aufstieg steht erst noch bevor.“ Denn auch wenn das Medikament durch die EMA jetzt europaweit zugelassen ist, muss Schetters Mannschaft Removab in jedem europäischen Land außerdem noch zur Vermarktung anmelden. Kein leichtes Unterfangen, denn ob Frankreich, Spanien oder Italien, überall gibt es dafür unterschiedliche Verfahren und Preiskommissionen. Und jede will erneut viele der Unterlagen sehen, die bereits der Europäischen Arzneimittelbehörde vorlagen und den Preis von 11 500 Euro pro Behandlungsrunde rechtfertigen sollen. Zwei weitere Jahre gehen damit ins Land, und Schetter gewinnt den Eindruck, dass die Kommissionen auch unter politischem Druck stehen. Mit Verzögerungen sei im Grunde aber immer zu rechnen, denn „was noch nicht fertig geprüft ist, kann auch das Budget noch nicht belasten“. Ein Mittel nur für Spezialisten Ob der Preis für Removab nun angemessen oder zu hoch ist? Fresenius’ Kalkulation berücksichtigt jedenfalls bereits die kommenden Einsatzgebiete für das Medikament in früheren Krebsstadien. „Removab hat mehr Potenzial, als nur die Bauchwassersucht im Endstadium einer Krebserkrankung zu kontrollieren“, sagt Schetter, im Wissen, dass die Substanz bereits erste positive Daten in Phase-II-Studien als frühe Therapie gegen Eierstockkrebs oder Magenkarzinom erbracht hat. Solche künftigen Anwendungen spielen bei der Preiskalkulation eine wichtige Rolle, denn einmal eingeführt, lässt sich ein Preis später nur noch mit Mühe korrigieren. In Deutschland, Italien und Belgien wird Removabs Preis akzeptiert, in Frankreich und Spanien noch nicht. Neben den Preisverhandlungen muss sich Fresenius auch ums Marketing kümmern, denn die behandelnden Ärzte müssen von Removab erfahren und überzeugt werden. „Kein Arzt ver- von Umsätzen, wie sie der Pharmakonzern Roche mit seinem monofunktionalen Antikörper Avastin erzielt, den die Biotechfirma Genentech entwickelt hat: 4,4 Milliarden Euro allein in 2011. Wenn die trifunktionalen Antikörper als Ein ganzes Leben für eine Arznei Standardtherapie für Eierstock- oder Magenkrebs zugelassen würden, sei Mit schwarzen Zahlen rechnet der Spe- auch ein wirtschaftlicher Erfolg auf zialist, der neben dem trifunktionalen breiter Basis möglich, sagt Schetter. Antikörper noch ein zweites Produkt „Letztlich wird Fresenius Biotech, aber vertreibt, erst im Laufe der nächsten auch der Lizenzgeber, also Trion, daran Jahre. Removab hat Fresenius bislang gemessen, wie sich das Medikament am etwa acht Millionen Euro eingespielt – Markt macht.“ Dessen Chef, Horst Lindhofer, noch weit entfernt von den 20 bis 40 Millionen Euro, die bei einer üblicher- denkt längst über den Einsatz bei der weise anzunehmenden Marktpenetra - Bauchwasserkrankheit hinaus und hat tion von 20 bis 30 Prozent der Patien- am Berliner Universitätsklinikum Chaten mit malignem Aszites in Europa rité Studien mit angestoßen, um den erreichbar sein könnten. Weit entfernt trifunktionalen Antikörper an Patientinauch von dem schätzungsweise knapp nen mit frühen Stadien von Eierstockdreistelligen Millionenbetrag, den Frese- krebs zu testen. Danach sieht es gut aus nius seit 1993 schon in Lindhofers Idee für die große Vision. Normalerweise investiert hat. Und noch weiter entfernt haben etwa Dreiviertel der Patientinnen nach der Operation des Eierstock-Tumors und der anschließenden Chemotherapie einen Rückfall. „Und wer einen Rückfall hat, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit sterben. Es gibt dann keine heilende Behandlung mehr.“ Also [Vermarktung] wurden seine Antikörper – im Rahmen einer klinischen Studie – bei PatientinKosten: keine Angabe nen gleich nach der Operation in den Dauer: 1 bis 2 Jahre Bauchraum gespritzt. Während nach zwei Jahren üblicherweise nur noch 30 Prozent der Patientinnen rückfallfrei Nachdem eine Arznei zugelassen ist, ist sie noch nicht automatisch sind, blieben von den mit Trions Antiauf dem Markt. In den meisten EU-Ländern sind Anmeldungen bei körpern behandelten Frauen 60 Prozent den jeweiligen nationalen Preiskommissionen und Verhandlungen rückfallfrei. mit den Erstattungsinstanzen (Krankenkassen) erforderlich. Bis aus all den Ergebnissen eine Parallel muss das Medikament auch bei den zuständigen Ärzten zugelassene Therapie werden kann, benötige er sicher noch einmal fünf bis bekannt gemacht werden (Marketing). Sobald das Medikament sieben Jahre, sagt Lindhofer seufzend. von Patienten konsumiert wird, muss der Hersteller in Phase-IVIm Grunde dauere es immer ein ganzes Studien Hinweise von Ärzten und Patienten auf unerwünschte Forscherleben lang, um eine neuartige Nebenwirkungen sammeln und auswerten. Grund ist, dass besonWirkstoff-Technik nutzbar zu machen. ders seltene Nebenwirkungen statistisch erst dann mit dem Songs schreiben geht schneller, stellt er Wirkstoff korreliert werden können, wenn Daten über sehr viele fest und klingt müde. „,Pogo in Togo‘ – das hatten wir in zwanzig Minuten Patienten vorliegen. Das kann zu einer Einschränkung oder sogar geschrieben, und nach einem Jahr war’s zum Erlöschen der Zulassung führen. schon ein Hit.“ 7 schreibt das Medikament, weil es ein toller neuer und sogar trifunktionaler Antikörper ist“, sagt Schetter. Entscheidend sei am Ende, ob es in die ärztlichen Richtlinien für die Behandlung des malignen Aszites aufgenommen wird. „Unser Ziel ist, Removab zum Mittel der Wahl zu machen.“ Dazu hat Fresenius Biotech eine eigene Vertriebsmannschaft, kooperiert aber auch mit Partnern, in Schweden beispielsweise mit Swedish Orphan Biovitrum. Der Aufwand, den der Mittelständler treiben muss, ist groß. Auch ein Grund, warum die Entwicklung von Removab als Medikament für malignen Aszites – trotz seiner Wirksamkeit – in großen Pharmakonzernen vermutlich gestoppt worden wäre, glaubt Schetter: „Es gab früher diese magische Marktgröße von etwa 300 Millionen. Darunter rechnete es sich für die Vertriebsapparate der großen Pharmafirmen einfach nicht.“ Das eröffne Möglichkeiten für „Speciality“-Pharma-Firmen wie Fresenius Biotech: „Für Innovationen, die kleinen Patientengruppen helfen, die aber bei den großen Firmen durch den Rost fallen würden.“ 07 49 Dem Zufall auf die Schliche kommen Nur wenige Substanzen erreichen das Ziel 50 auf den Zufall zu setzen und Hunderttausende verschiedener chemischer Substanzen (Small Molecules) zu testen. Inzwischen schneidern Forscher sich den passenden Wirkstoff gegen ein krank machendes Protein im Labor zurecht. Dafür sucht entweder ein Computer solche Small Molecules heraus, die wie Knebel in die Öffnungen eines krank machenden Proteinmoleküls passen und es damit stilllegen. Oder aber die Forscher hetzen Substanzen auf die Krankheitswurzel, wie sie der gesunde Körper sonst selbst produzieren würde: sogenannte Biologics, Biopharmazeutika wie zum Beispiel Antikörper. „Die Entwicklungszeiten sind kürzer, die Ent wicklungskosten geringer und die Erfolgswahrscheinlichkeit der Biologics ist größer als die der Small Molecules“, sagt Jochen Maas. Zudem steht dahinter die Hoffnung, dass mit dem molekularbiologischen Wissen über die Vorgänge in den Zellen nicht nur die für eine Krankheit wie Krebs ursächlichen, defekten Proteine gefunden werden. Im Idealfall lassen sich Biopharmazeutika wie Antikörper auch schneller herstellen als Small Molecules. Der Trend gilt weltweit. Laut einer Studie der Tufts University sind seit dem Jahr 2000 fast doppelt so viele Biopharmazeutika (65) zugelassen worden wie in der Dekade davor (39) und fünfmal so viele wie in den Achtzigerjahren (13). Auch in Deutschland stammen mittlerweile 17 Prozent der zugelassenen Medikamente aus dem Labor, 2010 waren sogar 27 Prozent aller neu zugelassenen Medikamente Biologics (6 von 22). „Ziel ist es, in den nächsten Jahren auf 50 Prozent zu kommen“, sagt Maas. Sicher auch deshalb, weil es deutlich schwieriger, oft sogar unmöglich ist, Biopharmazeutika zu kopieren. Das zahlt sich für das jeweilige Pharmaunternehmen aus. Während der Preis von Small MoleculeMedikamenten nach Ablauf des Patentschutzes sofort um rund 80 Prozent fällt, weil billige Nachahmerprodukte (Generika) den Markt überschwemmen, sind Biosimilars kaum 30 Prozent günstiger als die Original-Biologics, denn sie müssen in aufwendigeren klinischen Studien getestet werden als Generika. Zudem lassen sich mit Biologics oft hohe Preise erzielen: Eine Therapie mit dem Krebsmedikament Glivec (Imatinib) von Novartis beispielsweise kostet pro Jahr und Patient 56 000 Dollar. 7 .............................................................................................................................................................................................................. Jahre 3 Der Aufwand für die Entwicklung eines neuen Medikaments wird selbst von Experten leicht unterschätzt. Mindestens fünf Jahre braucht es in der Regel, bis Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sich in der Arzneimittelentwicklung niederschlagen, schätzt Richard Bergström, Generaldirektor der European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA). Elias Zerhouni, einst Chef der größten öffentlichen Forschungsorganisation der USA, den National Institutes of Health, gestand nach seinem Wechsel zum Pharmakonzern Sanofi-Aventis, dass das Aufgreifen von Forschungsergebnissen und das Umsetzen in Produkte „viel schwieriger“ sei, als er erwartet habe. Das hängt auch mit der Art und Weise zusammen, wie Pharmafirmen den Puls der Forschung fühlen. Nicht nur die Wissenschaftler von SanofiAventis durften beispielsweise ihre Forschungsergebnisse bis vor Kurzem nicht publizieren – was die Zusammenarbeit mit öffentlichen Forschungseinrichtungen unmöglich macht. Diese Praxis haben die Firmen inzwischen geändert, schließlich gibt es nur eine begrenzte Zahl kluger Köpfe innerhalb der eigenen vier Wände. 95 Prozent aller Medikamenten-Innovationen werden außerhalb der großen Pharmafirmen entwickelt, schätzt Jochen Maas, der Forschungschef von Sanofi-Aventis Deutschland. Deshalb schließt das Unternehmen derzeit Kooperationen mit der Berliner Charité, der Münchner Ludwig-Maximilians- und der Heidelberger Universität. Das Mitspielen in der großen Kapelle der öffentlichen Grundlagenforschung soll helfen, die molekularen Ursachen von Krankheiten besser zu verstehen, um künftig planvoller nach einem Gegenmittel suchen zu können als bisher. Unter dem Stichwort „offene Innovation“ lässt Elias Zerhouni, der seit einem Jahr die weltweite Forschung bei Sanofi-Aventis leitet, seine Kollegen gemeinsam mit Grundlagenforschern ergründen, welche Gen-, Protein- oder Stoffwechselveränderungen eine Krankheit beeinflussen. Diese Strategie, die sogenannte Translationale Medizin, ist inzwischen blanke Notwendigkeit: Gegen viele Krankheiten, insbesondere Krebs, lassen sich mit der traditionellen Methode der Medikamentensuche – Herumprobieren – keine neuen Arzneien mehr finden. Kein Pharmaunternehmen kann es sich heute noch leisten, allein 1 .... 2 .... 3 .... 4 .... durchschnittlich 5000 bis 10 000 Substanzen* Forschung Vielschrittige Substanzoptimierung, Wirkungstests im Reagenzglas, vereinzelt im Tierversuch . . . . .3 .................................................................................................................................................................. 12,4 Substanzen Vorklinische Entwicklung Reagenzglas- und Tierversuche zu Wirksamkeit 5 .... und möglichen Schadwirkungen . . . . .3 .................................................................................................................................................................. 8,6 Substanzen Klinische Phase I 6 .... Tests auf Verträglichkeit mit gesunden Menschen .................................................................................................................................................................. 7. . . . .3 4,6 Substanzen Klinische Phase II Erprobung mit wenigen Patienten 8 .... 9 .... . . . . .3 .................................................................................................................................................................. 1,6 Substanzen Klinische Phase III . . . . Erprobung mit meist mehreren 10 Tausend Patienten 11 .... 12. . . . .3 .................................................................................................................................................................. 1,1 Substanzen Zulassung beantragt Pru? fung der Unterlagen durch die EMA oder andere Zulassungsbehörden 13 . . . . . . . . .3 . . . . . . . . . . . . . . . .Eine . . . . . .Substanz, . . . . . . . . . . . .zugelassen . . . . . . . . . . . . . nach . . . . . . .durchschnittlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .13,5 . . . . . .Jahren .................................................................................. Quelle: vfa 51 Meilensteine Skurrile Zufälle, unbeirrbare Forscher, überraschende Erkenntnisse – ohne sie ist die Geschichte der Medizin mit ihren Errungenschaften undenkbar. Ein Rückblick. 1846 Im Dienste der Wissenschaft: Am 16. Oktober 1846 demonstriert William T. G. Morton im Massachusetts General Hospital die erste öffentliche Operation unter Narkose. (Gemälde von Robert Hinckley, 1882). DIE ENTDECKUNG DER ANÄSTHESIE Ein Volksfest in Connecticut, Dezember 1844. Der Zahnarzt Horace Wells beobachtet, wie ein Zuschauer im Lachgasrausch über eine Kante stolpert und sich verletzt, dabei jedoch offenbar keine Schmerzen empfindet. Lachgas kannte man damals nur wegen seiner berauschenden Wirkung. Studenten inhalierten es auf Partys; auf Jahrmärkten diente es zur Belustigung der Besucher. Wells wurde schlagartig eine ganz neue Verwendungsmöglichkeit klar: als Betäubungsmittel. In den folgenden Wochen zog er erstmals Zähne unter Einsatz von Lachgas. Und tatsächlich ließ sich das Schmerzempfinden damit ausschalten. Weil dem Entdecker die Erfahrungswerte fehlten, stellte die richtige Dosierung allerdings ein Problem dar. So auch Anfang 1845, als Wells seine Erkenntnisse der medizinischen Fachwelt mit einer Zahn-Extraktion vorstellen wollte. Die Dosis war zu niedrig, der Patient schrie vor Schmerzen. Wells wurde zum Gespött seiner Kollegen. Zu Unrecht: Lachgas wird bis heute weltweit von Anästhesisten verwendet, die es vor allem wegen seiner guten Verträglichkeit schätzen. Gut ein Jahr nach Wells’ Debakel demonstrierte auch der amerikanische Zahnarzt William T. G. Morton eine Operation unter Narkose. Er ließ dem Buchdrucker Gilbert Abbott einen Hauttumor am Hals entfernen. Zur Betäubung verwendete Morton einen in Schwefeläther getränkten Schwamm in einem beidseitig geöffneten Glaskolben. Der Patient inhalierte die mit Äther versetzte Luft und atmete über ein Ventil in die Umgebung aus: das erste halb offene Narkosesystem. Abbott wachte ohne Schmerzen auf, die Fachwelt war beeindruckt. Heute wird Äther wegen seiner Nebenwirkungen allerdings nicht mehr angewendet. Anfang 1848 setzte der schottische Gynäkologe James Young Simpson erstmals bei einer Entbindung Chloroform ein, das schneller wirkt und verträglicher ist als Äther. Doch Simpson und die Anästhesie im Allgemeinen erhielten schnell Gegenwind. Nicht nur die Kirche, auch Ärzte sprachen sich gegen die schmerzbefreiende Narkose aus. Begründung: Der Geburtsschmerz sei den Frauen für den Sündenfall auferlegt. Überhaupt glaubte man lange, Schmerzen seien für den Heilungsverlauf wichtig und dürften nicht gedämpft werden. Erst als bekannt wurde, dass Queen Victoria ein Kind unter Chloroform zur Welt gebracht hatte, nahmen die Vorbehalte ab, Narkosen wurden immer üblicher. Vor der Erfindung von Anästhetika war bei Chirurgen übrigens eher Schnelligkeit als Präzision gefragt: Ihnen blieben jeweils nur Sekunden für die Operation, während mehrere Helfer den Patienten fixierten. Foto: picture-alliance/akg-images, picture alliance/Everett Collection, picture-alliance/OKAPIA KG, Germany, picture-alliance/Mary Evans Picture Library, picture-alliance/United Archives/TopFoto 52 IMPFUNG GEGEN TOLLWUT 1885 Als der neunjährige elsässische Bäckersohn Joseph Meister von einem tollwütigen Hund gebissen wurde, war das eigentlich sein Todesurteil. Damals, 1885, gab es nichts, was verhindern konnte, dass das Rabiesvirus das Nervensystem angreift und so eine tödliche Gehirnentzündung verursacht. Doch den Jungen rettete die Entwicklung eines Impfstoffes, die Louis Pasteur gerade abgeschlossen hatte. Der französische Chemiker hatte aus dem Rückenmark eines an Tollwut gestorbenen Kaninchens eine Substanz entnommen und sie so lange getrocknet, bis die enthaltenen Erreger nicht mehr pathogen waren, sondern so abgeschwächt, dass sie keine Infektion mehr auslösen konnten. Als sie dem infizierten Jungen per Injektion verabreicht wurden, lösten sie eine Immunreaktion des Körpers gegen den Erreger aus. So wurde Joseph Meister zum ersten Menschen, der eine Tollwutinfektion überlebte. Bis heute ist eine rechtzeitige Impfung die einzige Möglichkeit, die Virusinfektion zu bekämpfen. Deutschland gilt inzwischen als tollwutfrei; in Indien und China hingegen besteht – vor allem durch streunende Wildhunde – ein hohes Infektionsrisiko. DIPHTHERIE-ANTISERUM 1891 Als Stabsarzt Emil von Behring an das Pharmakologische Institut der Universität von Bonn versetzt wurde, forschte man dort an chemischen Arzneimitteln zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Von Behring hatte eine andere Idee: Er suchte nach Substanzen, die der infizierte Körper selbst entwickelt, um die Krankheit abzuwehren. 1889 fand er heraus, dass im Blut von diphtheriekranken Tieren ein sogenanntes Antitoxin entsteht, ein Antikörper, der die Diphtherie-Bakterien bindet und dadurch unschädlich macht. Damals starb jedes zweite Kind, das an Diphtherie erkrankte. Die hochansteckende Erkrankung wird durch eine Infektion der oberen Atemwege mit dem Diphtherie-Bakterium ausgelöst und lässt die Rachenschleimhaut stark anschwellen. Ohne rechtzeitige Behandlung verläuft sie häufig tödlich. Mit der Entdeckung des Antitoxin konnte von Behring 1891 eine Serumtherapie entwickeln, bei der hochkonzentrierte Antikörper im menschlichen Organismus das Gift des Bakteriums neutralisieren. Die Farbwerke Hoechst vertrieben das Diphtherie-Antiserum ab 1894 flächendeckend; es rettete Hunderttausenden Kindern das Leben. Von Behring erhielt im Jahr 1901 den allerersten Nobelpreis für Medizin. ACETYLSALICYLSÄURE (ASS) 1899 Kaum ein Wirkstoff ist so untrennbar mit seinem Markennamen verbunden: Schon seit 1899 wird Acetylsalicylsäure von der Bayer AG als Aspirin vermarktet. ASS wirkt schmerzstillend, fiebersenkend sowie entzündungs- und gerinnungshemmend. Es bremst im Körpergewebe die Produktion bestimmter Botenstoffe, sogenannter Prostaglandine, und lindert dadurch Schmerz- und Entzündungsreaktionen. Prostaglandine sind hormonähnliche Substanzen, die für die Schmerzübertragung in den Nervenzellen, den Anstieg von Fieber und das Anschwellen von Gewebe bei Entzündungen verantwortlich sind. Chemisch gesehen, ist Acetylsalicylsäure ein Derivat der Salicylsäure, einer oxidativen Aufbereitung von Salicin, das aus der Rinde von Weidenbäumen gewonnen wird. Seine schmerzlindernde Wirkung nutzte man schon in der Antike, als die 53 Rinde des Weidenbaums gekocht und der Sud als Allheilmittel gegen diverse Beschwerden getrunken wurde. Der Vorläufer von ASS war die Salicylsäure, die seit 1874 als Schmerzmittel auf dem Markt war. Der deutsche Chemiker Friedrich von Heyden hatte ein Verfahren zur Herstellung entwickelt. Doch eine flächendeckende Verbreitung blieb aus, weil die Arznei nicht nur bitter schmeckte, sondern oft auch Magenbeschwerden verursachte. Am 10. August 1897 gelang es dem Bayer-Chemiker Felix Hoffmann – unter Anleitung des Chemikers Arthur Eichengrün – erstmals, Acetylsalicylsäure, eine wesentlich verträglichere Weiterentwicklung der Salicylsäure, in einer reinen und stabilen Form zu synthetisieren. Knapp zwei Jahre später begann für Bayer eine bis heute anhaltende Erfolgsgeschichte: Die Marke Aspirin wurde mit der Nummer 36433 in die Warenzeichenrolle des Kaiserlichen Patentamtes in Berlin aufgenommen und konnte fortan weltweit vertrieben werden. Aspirin ist das meisteingesetzte Schmerzmittel der Welt, seit Markteinführung wurden nach Schätzungen mehr als eine Billion Pillen eingenommen. Seinen Wirkungsmechanismus hat erst 1971 der britische Pharmakologe Sir John Robert Vane entschlüsselt, der dafür den Medizin-Nobelpreis erhielt. Heute ist ASS Bestandteil einer Vielzahl von Fertigmedikamenten und wird von der WHO in der Liste der unentbehrlichen Medikamente geführt. 1922 Am Anfang war der Hund: Frederick Grant Banting auf einem Foto aus dem Jahr 1933. Er wurde als erster Kanadier mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. 54 INSULIN ZUR DIABETESBEHANDLUNG Schon viele Wissenschaftler vor ihnen hatten es versucht, aber erst sie waren erfolgreich: Im Sommer 1921 gelang dem kanadischen Chirurgen Frederick Grant Banting zusammen mit seinem Assistenten Charles Best die erstmalige Extraktion von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse eines Hundes. Damit waren die Weichen für eine künstliche Herstellung gestellt. Das lebensnotwendige Hormon, das in den Langerhansinseln – Zellansammlungen in der Bauchspeicheldrüse – gebildet wird, senkt den Blutzuckerspiegel. Insulin beschleunigt die Aufnahme von Zuckermolekülen in den Körperzellen. Dabei wird der aufgenommene Zucker verbrannt und liefert so notwendige Energie. Beim Diabetes mellitus Typ 1 sind die Insulin produzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse zerstört, was zu einer chronischen Erhöhung des Blutzuckerspiegels führt. Langfristig schädigt das die Organe schwerwiegend. Beim Diabetes mellitus Typ 2, unter dem 80 bis 90 Prozent aller Diabetiker leiden, kann das Insulin nicht richtig wirken. Die Krankheit ist weltweit verbreitet und betrifft mehr als 250 Millionen Menschen. Banting und Best injizierten das gewonnene Sekret einem Versuchshund, dem zuvor die Bauchspeicheldrüse entfernt worden war, sodass er zuckerkrank war. Durch die Gabe des entnommenen Insulins konnte das Tier am Leben erhalten werden. Am 11. Januar 1922 behandelte Banting – nach einigen Selbstversuchen – erstmals einen Diabetes-Patienten, den 14-jährigen Leonard Thompson. Er war der erste Mensch, der sein Überleben der künstlichen Zufuhr von Insulin verdankte. Bereits ein Jahr später erhielt Banting den Nobelpreis für Medizin. Jetzt begann die pharmazeutische Industrie, tierisches Insulin im großen Stil zu isolieren. Ihre Präparate retteten weltweit Millionen Menschen das Leben. Doch die immense Nachfrage stellte die Hersteller schon bald vor ein Problem: Das tierische Material reichte nicht aus. Also suchten Wissenschaftler nach einer vollsynthetischen Methode zur Replikation von Insulin. Seit den Achtzigerjahren ist sie mittels Gentechnik möglich. Heute werden allein in Deutschland schon mehr als sieben Millionen Menschen wegen Diabetes behandelt. AKTIVIMPFUNG GEGEN DIPHTHERIE 1923 AKTIVIMPFUNG GEGEN TETANUS 1927 HEPARIN – GERINNUNGSHEMMER 1939 PENICILLIN 1944 Das erste Antibiotikum entstand durch einen Zufall. Der schottische Arzt und Bakteriologe Sir Alexander Fleming, der an der University of London forschte und lehrte, hatte vor seinen Ferien im Labor eine Petrischale mit einer anaeroben Bakteriensorte vergessen. Zurück aus dem Urlaub, im September 1928, hatte sich in der Staphylokokken-Kultur ein Schimmelpilz ausgebreitet. Fleming fiel auf, dass die Staphylokokken rund um den Pilz durchsichtig, wie aufgelöst schienen. Der Pilz hatte die Bakterien zerstört. Fleming identifizierte ihn als Penicillium notatum und nannte die bakterienauflösende Substanz Penicillin. Weil es ihm anschließend aber nicht gelang, den Wirkstoff zu isolieren, stellte er seine Forschung ein. Die entzündungshemmende Wirkung von Schimmelpilzen war schon lange vor dieser Entdeckung bekannt. So behandelte man bereits im alten China Entzündungen und Wunden mit verschiedenen Lebensmittelpilzen. Penicillin behindert die Zellteilung von Bakterien und dadurch auch deren Verbreitung im menschlichen Körper. Im Gegensatz zu anderen Pilzkulturen lässt es allerdings die für die Abwehr von schädlichen Krankheitserregern verantwortlichen weißen Blutkörperchen unbehelligt. Fast zehn Jahre nach Fleming widmete sich eine neue Forschergruppe den Schimmelpilzen. Wissenschaftler um den australischen Pathologen Sir Howard Walter Florey und den deutsch-britischen Bakteriologen Ernst Boris Chain waren auf der Suche nach einem wirksamen und verträglichen Antibiotikum und stießen auf die Aufzeichnungen über das Penicillium notatum. 1940 gelang es ihnen, Nährkulturen zu züchten und daraus Penicillin zu extrahieren. Ein erster großer Tierversuch mit 50 Mäusen verlief sogar erfolgreich – eine industrielle Produktion war jedoch nicht möglich: Um eine für die Behandlung am Patienten ausreichende Menge an Penicillin herstellen zu können, benötigte man zu viel der Kulturflüssigkeit. Das machte größere klinische Studien am Menschen unmöglich. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs gewann die Entwicklung eines wirksamen Antibiotikums an Bedeutung: Viele verwundete Soldaten mussten behandelt werden. Die Suche nach einem geeigneten Medikament wurde zum Politikum, die industrielle Fertigung wanderte in die USA. Mit der großtechnischen Produktion fielen schließlich auch die Preise für Penicillin. Schon 1945, nach dem Ende des Krieges, erhielten Sir Alexander Fleming, Sir Howard Walter Florey und Ernst Boris Chain den Nobelpreis für Physiologie beziehungsweise Medizin. Zum Glück vergessen: Zurück aus dem Urlaub, findet Sir Alexander Fleming (1881–1955) in einer vergessenen Petrischale einen Schimmelpilz – und nennt seine Entdeckung später Penicillin. CHLOROQUIN – PROPHYLAXE UND THERAPIE VON MALARIA 1945 CORTISON – ERSTE ANWENDUNG 1948 55 1956 Dem Virus auf der Spur: Der Serologe Karl Landsteiner (1868–1943) entdeckte den Auslöser für Kinderlähmung und erhielt 1930 den Nobelpreis für Medizin. ERSTER EINSATZ DER IMPFUNG GEGEN KINDERLÄHMUNG IN DEUTSCHLAND IMPFSTOFF GEGEN MASERN 1963 Dass die Kinderlähmung heute als nahezu ausgerottet gilt, ist der beharrlichen Arbeit vieler Wissenschaftler zu verdanken, die jahrzehntelang versuchten, einen Impfstoff gegen die schwere Infektionskrankheit zu entwickeln. Kinderlähmung, auch Poliomyelitis, wird durch Polioviren ausgelöst. Sie verteilen sich im Körper über die Blutbahn und befallen die muskelsteuernden Nervenzellen des Rückenmarks, was zu Lähmungen bis hin zum Tod durch Atemlähmung führen kann. Als Entdecker des Polio-Virus gilt der österreichische Pathologe und Serologe Karl Landsteiner, der 1908 den Erreger aus dem Rückenmark eines an Kinderlähmung verstorbenen Kindes auf einen Affen übertrug. So wies er nach, dass die Krankheit nicht durch ein Bakterium, sondern durch ein Virus ausgelöst wird. Doch erst 1949 entwickelte ein Forscherteam der Harvard Medical School durch die Züchtung von Polio-Viren in Gewebekulturen einen Impfstoff. Wenige Jahre später gelang es dem Virologen Jonas Salk von der University of Pittsburgh, einen Totimpfstoff herzustellen, der inaktivierte Polio-Viren enthielt. Dafür ließ er Zehntausende Rhesus- und Java-Affen importieren. Er entnahm den Tieren die Nieren, verarbeitete deren Zellen und züchtete darauf den Polio-Virus, den er anschließend mit Formalin abtötete. Nach einigen erfolgreichen Selbstversuchen sowie einer Versuchsreihe mit Tausenden amerikanischen Schulkindern erhielt Salks Präparat am 12. April 1955 die Zulassung als erster Impfstoff gegen Poliomyelitis durch die oberste amerikanische Gesundheitsbehörde. BETABLOCKER – HERZFREQUENZ- UND BLUTDRUCKSENKEND 1964 ACE-HEMMER – BLUTDRUCKSENKUNG 1980 HIV-PRÄPARAT 1987 BLUTGERINNUNGSFAKTOR VIII 1992 1960 IMMUNSUPPRESSIVUM BEI ORGANTRANSPLANTATIONEN 1960 EINFÜHRUNG DER PILLE ZUR EMPFÄNGNISVERHÜTUNG IN DEN USA Im Dienste der Frauen: Margaret Sanger (1879–1966), Aktivistin und Krankenschwester, sorgte für Bewegung in Sachen Geburtenkontrolle. 56 Die Idee: Um eine Schwangerschaft zu verhindern, täuscht man dem Körper vor, bereits schwanger zu sein. So wird der Eisprung verhindert, und es kann keine Eizelle mehr befruchtet werden. Nimmt eine Frau also Schwangerschaftshormone ein, wird sie zeitweise unfruchtbar. Der Innsbrucker Physiologe Ludwig Haberlandt gilt als Pionier der hormonellen Kontrazeption. Ihm gelang es Mitte der Zwanzigerjahre, Mäusen die Zeugungsfähigkeit zu nehmen, indem er ihnen den Extrakt tierischer Eierstöcke verabreichte. Seine Ergebnisse ließen sich allerdings nicht auf den Menschen übertragen: Der Hormongehalt der tierischen Eierstöcke war zu gering für eine Wirkung beim Menschen. Anfang der Fünfzigerjahre wurde das Problem von Carl Djerassi gelöst. Dem US-Chemiker mit österreichischen Wurzeln gelang erstmals eine synthetische Replikation des weiblichen Sexualhormons Progesteron. Er extrahierte es aus der Yamswurzel. Dank einer großzügigen Spende der „Amerikanischen Liga für Geburtenkontrolle“, der die Krankenschwester und Frauenrechtlerin Margaret Sanger vorstand, konnte die zwei Millionen Dollar teure großtechnische Entwicklung einer Antibabypille realisiert werden: Nach sechs Jahren Forschung mit mehr als 200 Substanzen wurde 1957 das erste Verhütungsmittel, „Enovid“, als „Medikament gegen Menstruationsstörungen“ zugelassen. Erst drei Jahre später bekam Enovid die offizielle Zulassung als erstes hormonelles Verhütungspräparat. Die erste Pille in Deutschland hieß 1961 „Anovlar“, was „kein Eisprung“ bedeutet. Ein Kind fällt aufs Knie, es blutet. Im Normalfall kein Problem: Schnell sorgen die Gerinnungsfaktoren im Blut dafür, dass die Blutplättchen miteinander verkleben und die Wunde abdichten. Leider klappt der Selbstschutz nicht immer. Wer unter Hämophilie leidet, dem fehlen die Gerinnungsfaktoren oder sie funktionieren nicht richtig. „Bluter“ sind selbst bei kleinen Verletzungen in Gefahr: Die Blutung stoppt nicht, auch innere Blutungen, vor allem in den Gelenken, sind möglich. Die Krankheit wird durch ein Gen vererbt, das auf dem X-Chromosom sitzt. Mütter übertragen es – ohne selbst zu erkranken – an ihre Söhne, weshalb die Hämophilie fast ausschließlich Männer betrifft. Eine prominente Überträgerin war Queen Victoria. Sie hat die lebensbedrohliche Bluterkrankheit über ihre Töchter nicht nur innerhalb der englischen Königsfamilie weitergegeben, sondern auch an die russische Zarenfamilie. Heilbar ist Hämophilie nicht, behandelt wird sie, indem der Gerinnungsfaktor vorbeugend oder bei Bedarf gegeben wird. Weltweit leiden heute etwa 400 000 Menschen an der Bluterkrankheit, die meisten davon an Hämophilie A, der „klassischen“ Hämophilie, bei der der Blutgerinnungsfaktor VIII nicht funktioniert. 1963 konnte der Faktor VIII erstmals aus menschlichem Blutplasma gewonnen werden – 1966 gab es das erste Medikament für Hämophilie-A-Patienten. Ein riesiger Fortschritt, doch der Glanz blieb getrübt. Wegen fehlender Untersuchungsmethoden barg diese Art der Faktor-VIII-Produktion immer das Risiko einer Verunreinigung – und führte in den Achtzigerjahren schließlich zur Katastrophe: Damals wurden Tausende von Patienten durch verunreinigtes Blutplasma mit HIV oder Hepatitis infiziert. Seit diesem „Blutskandal“ suchten Forscher in aller Welt nach einem Weg, sich von biologischem Material unabhängig zu machen. 1992 war es so weit: Amerikanischen Biochemikern glückte die gentechnische Herstellung von Faktor VIII. ETANERCEPT – WIRKSTOFF GEGEN RHEUMA 2000 IMPFUNG GEGEN GEBÄRMUTTERHALSKREBS 2006 MEDIKAMENT ZUR LEBENSVERLÄNGERUNG BEI LEBERKREBS 2007 57 Immun gegen Vernunft Impfen rettet Leben. Warum wird dann noch so viel darüber diskutiert? Eine Fallstudie. I. Gut gemeint Als im September 2006 der erste Impfstoff gegen humane Papillomaviren – der HPV-Impfstoff – in Europa zugelassen wurde, war die Begeisterung groß. Medien feierten die „Impfung gegen Krebs“, weil die Warzenviren verantwortlich sind für die meisten Tumoren am Gebärmutterhals. Die Industrie war stolz. Die Krankenkassen beeilten sich, die teure Impfung in ihre Kataloge aufzunehmen. Die Impfzahlen stiegen. Im Grunde hätte es ein Lehrbuchbeispiel dafür werden können, wie Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung in ein Arzneimittel übersetzt werden – ein Erfolg deutscher Forschung noch dazu. Doch es kam anders. Diese Geschichte hat alles, was ein Epos braucht. Eine profitorientierte Industrie, befangene Experten, verwirrte Gremien, verunsicherte Mädchen, eine panische Öffentlichkeit, Medien auf der Suche nach einfachen Wahrheiten und einen Nobelpreisträger. Sie zeigt, dass aggressives Marketing genauso schädlich sein kann wie die Beißreflexe mancher Kritiker. Und sie ist zu einem Lehrstück darüber geraten, was alles falsch laufen kann, wenn man Menschen vor Leid bewahren möchte. II. Denkmal für eine Kuh Text: Hanno Charisius 58 Um zu verstehen, was sich seit 2006 in Deutschland abgespielt hat, muss man etwas weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Konkret: ins 18. Jahrhundert in eine Grafschaft im Südwesten Englands. Dort will der britische Landarzt Edward Jenner am achtjährigen Sohn seines Gärtners eine seiner Hypothesen testen. Es ist der 14. Mai 1796, als der Mediziner dem Jungen mit einer sauberen Klinge die Haut an den Unterarmen aufritzt. In die etwa zwei Zentimeter langen Schnitte reibt er Eiter, den er aus einer Kuhpockenpustel von der Hand einer kranken Melkerin gequetscht hatte. Der Bub wird krank, doch die Infektion nimmt einen milden Verlauf, kein Vergleich zu den echten Pocken. Nach gut einer Woche ist der Kleine wieder auf den Beinen – und reif für das zweite Experiment. Das folgt am 1. Juli, gleiche Prozedur, diesmal allerdings mit dem Sekret aus menschlichen Pockenbeulen. Der Gärtnerssohn übersteht sie, ohne zu erkranken. Die Pocken sind zu jener Zeit Todesursache Nummer eins in Europa. 400 000 Menschen sterben jedes Jahr daran, vor allem Kinder sind betroffen. James Phipps, so heißt der Sohn des Gärtners, ist Jenners 17. Testkandidat. Nach fünf weiteren Probanden ist er sich seiner Sache sicher und beschreibt die schützende Wirkung der Kuhpocken in einem Fachartikel. Den Vorgang der Immunisierung nennt er „Vakzinierung“, nach dem lateinischen Wort „vacca“, die Kuh. Was als äußerst fragwürdiger Menschenversuch begann, zählt längst zu den bedeutsamsten Errungenschaften der Medizin. Impfungen regen den Körper dazu an, Abwehrstoffe gegen Krankheitserreger zu produzieren. Das für den Menschen relativ harmlose Kuhpockenvirus machte James Phipps für ein paar Tage fiebrig, dann hatte seine Immunabwehr den Erreger im Griff. Als seine Abwehrzellen kurz darauf mit dem menschlichen Pockenerreger konfrontiert waren, erinnerten die spezialisierten Gedächtniszellen den artverwandten Eindringling und attackierten ihn. Nach diesem Prinzip funktionieren Impfstoffe bis heute – und retten Leben. In den Spritzen gegen Grippeviren oder Masern beispielsweise stecken – dem von Jenner entwickelten Vakzin nicht unähnlich – Krankheitserreger, die zuvor chemisch abgeschwächt worden sind. Sie alarmieren die Körperabwehr, in manchen Fällen lösen sie auch leichte Symptome der Krankheit aus. Die zweite Sorte heutiger Impfstoffe nutzt abgetötete Keime oder nur Teile von ihnen. Im HPV-Impfstoff stecken zum Beispiel nur die leeren Hüllen der Viren. Sie kommen ohne Erbgut und können deshalb keine Infektion, wohl aber eine Immunreaktion auslösen. Dank weltweiter Impfprogramme gelten die Pocken seit 1980 als ausgerottet. Die Weltgesundheitsorganisation WHO setzte sich auch das Ziel, den Erreger der Kinderlähmung, das Poliovirus, oder Masern zu eliminieren. Ein zäher Kampf auch deshalb, weil die Menschen in den Industrienationen impfmüde geworden sind. Deutschland ist dabei ein besonders schlechtes Vorbild. So schlecht, dass die Gesundheitsbehörden in den USA ihre Bürger im Jahr 2006 davor warnten, ohne Impfschutz nach Deutschland zu reisen. Während sich jenseits des Atlantiks kaum 1000 Menschen pro Jahr mit Masern anstecken, waren es hierzulande im Jahr 2001, dem vorläufigen Höhepunkt, fast 7500 – und damit mehr als 80 Prozent aller Fälle in Europa. Selbst im Jahr 2011 wurden 1600 Fälle registriert. III. Abwehrkräfte Impfungen regen nicht nur die Widerstandskräfte des Körpers an: Bis zu fünf von 100 Deutschen lehnen die künstliche Immunisierung kategorisch ab, schätzt das Robert-Koch-Institut in Berlin. Sie würden nicht weiter ins Gewicht fallen, behielten sie ihre lebensgefährliche 59 Haltung für sich. Doch sie posaunen sie in die Welt hinaus, schreiben Bücher über die Gefahr aus der Spritze, schicken Briefe und E-Mails, wenn ein Journalist sich ihrer Meinung nach nicht kritisch genug dem Thema nähert. Sie verteilen Info-Blätter unter jungen Eltern. Sie säen Zweifel. Unwissenheit ist ein fruchtbarer Boden. „Es gibt so viele widersprüchliche Informationen zum Thema. Wie soll der medizinisch nicht Vorgebildete entscheiden, was richtig ist?“, fragt Christian Dannecker, Leitender Oberarzt in der Universitätsfrauenklinik München. Er kann nachvollziehen, dass manche den Piekser fürchten: „Bei einer Impfung injiziert man gesunden Menschen eine Substanz, die ihr Immunsystem abwehrbereit machen soll. Kein Wunder, dass so etwas Skepsis hervorruft.“ Als der britische Landarzt vor mehr als 200 Jahren seine Idee präsentierte, wurde er ausgelacht. Die Zeitgenossen verhöhnten ihn, später warnten Kritiker vor der „Vertierung des Charakters“. In Deutschland erkannte zuerst die Regierung Bayerns den Nutzen und führte 1807 eine Zwangsimpfung für alle Säuglinge ein. Aber erst nach Einführung des Reichsimpfgesetzes 1874, in Verbindung mit einem besseren Impfstoff, ging die Zahl der Infektionen spürbar zurück. Umstritten blieb die Impfung gleichwohl, nicht nur bei der armen Bevölkerung. Auch Intellektuelle wie Immanuel Kant lehnten die Maßnahmen ab, mit Argumenten, die bis heute wiederholt werden – zuletzt gegen die HPV-Impfung: angeblich fehlender Nachweis der Wirksamkeit, Nebenwirkungen, Beschneidung der Persönlichkeitsrechte sowie eine korrupte Obrigkeit, die aus der Zwangsimpfung Kapital schlage. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sammelten Gegner rund 100 000 Unterschriften gegen die staatlich verordnete Immunisierung und veröffentlichten pseudowissenschaftliche Bücher, in denen sie postulierten, „der Aberglaube an Krankheitskeime und der Hexenglaube“ seien Produkte derselben Geisteshaltung. Oder dass „die Ursache der Erkrankung in der Anlage jedes Einzelnen“ zu suchen sei. Behauptungen, die, etwas anders formuliert, noch immer von Impfgegnern strapaziert werden. Dabei sind deren Argumente von Land zu Land recht unterschiedlich, wie das Bundesgesundheitsblatt darlegt. In Frankreich reiten die Gegner auf einem angeblichen Zusammenhang zwischen Hepatitis-BImpfung und multipler Sklerose herum, in den USA wird vor allem dem Impfzusatzstoff Thiomersal angelastet, die gesundheitliche Entwicklung von Kindern zu stören. In Italien proklamieren die Kritiker einen Zusammenhang zwischen künstlicher Immunisierung 60 Fast jeder sexuell aktive Mensch infiziert sich im Laufe seines Lebens mindestens einmal mit HPV-Viren. und plötzlichem Kindstod. Und in England hält sich das Gerücht, dass der Kombi-Impfstoff gegen Mumps, Masern und Röteln Autismus auslöst, obwohl längst belegt ist, dass die Studie, die diesen Zusammenhang belegen sollte, von Impfgegnern gekauft worden war. Die vergleichsweise wenigen Totalverweigerer in Deutschland haben nicht so klare Feindbilder. Die Fachliteratur unterscheidet heute zwischen der ideologisch motivierten kleinen Gruppe der absoluten Verweigerer, die irrational und wissenschaftsfeindlich argumentieren, und Skeptikern, die Impfungen nicht prinzipiell ablehnen, aber „spezielle Ansichten über Zeitpunkt, Wirksamkeit, Sicherheit und Nebenwirkungen vertreten“, wie es in einer Analyse im Bundesgesundheitsblatt heißt. Oft spielen bei der Ablehnung religiöse Gründe eine Rolle. Genau wie die Ausbildung. Denn zu den Gegnern zählen nicht nur medizinische Laien. Eine englische Studie belegte vor Jahren, dass nur 30 Prozent der Ärzte mit homöopathischer Zusatzausbildung Impfungen ablehnen – unter den VollblutHomöopathen lag die Quote bei 100 Prozent, obwohl sich weder der Homöopathie-Begründer Samuel Hahnemann noch die Fachgesellschaften gegen Impfungen aussprechen. Besonders bei jungen Eltern ist die Akzeptanz von Impfungen von der Einstellung der Ärzte abhängig, die sie mit ihren Kindern aufsuchen. Auch Hebammen haben großen Einfluss auf die Entscheidung. Umfragen zeigen, dass Eltern Impfempfehlungen von Ärzten haben wollen, nicht von der Regierung, nicht vom Apotheker und erst recht nicht von den Medien. IV. Krebsviren Als der junge Harald zur Hausen 1967 im Kinderhospital von Philadelphia ein paar Minuten im Büro seines Chefs warten muss, fällt sein Blick auf einen Fachartikel, der sein Leben verändern sollte. Manche Warzen können zu Krebsgeschwüren mutieren, heißt es da. Eine Information, die ihn nicht mehr loslässt und aus der Jahre später die Erkenntnis wächst, dass Papillomaviren Gebärmutterhalskrebs auslösen. Im Jahr 2008 empfängt er für diese Entdeckung den Nobelpreis für Medizin. Auch Harald zur Hausen muss gegen viele Widerstände ankämpfen. Die Lehrmeinung macht lange Zeit Herpesviren für diese Tumorart verantwortlich. Als er 1973 auf einem Kongress erstmals seine Hypothese vorstellt, stößt er auf Skepsis. Kollegen zweifeln seine Experimente offen an. „Erst 13 Jahre nachdem wir zum ersten Mal Papillomaviren in einem Gebärmutterhalstumor gefunden hatten, wurde ich zu einem deutschen Gynäkologenkongress eingeladen, um über sie als Ursache für Gebärmutterhalskrebs zu sprechen“, erinnert sich der Nobelpreisträger. Heute steht in jedem Lehrbuch, dass sich ohne eine dauerhafte Infektion mit mindestens einem krebsauslösenden HPV-Typus keine auffälligen Krebsvorstufen im Gewebe der Gebärmutter bilden können, die schließlich zum Tumor führen. Mehr als 100 HPV-Varianten sind inzwischen bekannt, 40 befallen den Genitaltrakt, viele sind harmlos. 15 jedoch gelten derzeit als krebsauslösend, die besonders aggressiven Typen 16 und 18 sind weltweit für 70 Prozent der Tumoren am Gebärmutterhals verantwortlich. Nach den jüngsten Schätzungen der WHO erkranken jährlich eine halbe Million Frauen daran, mehr als die Hälfte von ihnen stirbt qualvoll an dem Tumor. Weltweit ist das Zervixkarzinom die zweithäufigste Krebserkrankung und die dritthäufigste mit Todesfolge in Entwicklungsländern, dabei sind die Heilungschancen sehr gut, wenn der Krebs früh genug entdeckt wird. Deshalb sieht die Situation in Deutschland auch anders aus. Hier erkranken jedes Jahr etwa 6500 Frauen, 1700 sterben an den Folgen. Noch in den Siebzigerjahren, bevor die Untersuchung zur Früherkennung landesweit eingeführt wurde, war die Rate wesentlich höher. Die jährliche Kontrolle beim Gynäkologen, die etwa jede zweite Frau wahrnimmt, hat die Erkrankungszahlen spürbar gesenkt. Wenn nämlich der Arzt eine verdächtige Veränderung an der Schleimhaut entdeckt, kann er sie herausschneiden. 140 000 solcher Konisationen führen deutsche Frauenärzte pro Jahr durch, schätzt Ingrid Mühlhauser vom Lehrstuhl für Gesundheit an der Universität Hamburg. Fast jeder sexuell aktive Mensch infiziert sich im Laufe seines Lebens mindestens einmal mit HPVViren. Warum nur so wenige erkranken, ist eines der großen Rätsel der HPV-Forschung. Harald zur Hausen vermutet, dass andere Faktoren wie etwa Rauchen oder hormonelle Verhütungsmittel die Krebsentstehung fördern. Sicher ist: Von der Infektion bis zum Tumor vergehen meist Jahrzehnte – und trotzdem sind auffällig viele junge Frauen von dieser Krebsart betroffen, weil die Infektion früh in ihrem Leben stattfindet. Eine britische Studie zeigte, dass sich mehr als 50 Prozent der jungen Frauen bereits vier Jahre nach dem ersten Sex mit dem Virus angesteckt hatten, das einigen von ihnen Jahre später den Tod brachte. Betrachtet man hierzulande nur Frauen unter 60 Jahren, so ist Gebärmutterhalskrebs in dieser Gruppe die dritthäufigste Krebsart. V. Impfung gegen Krebs Nachdem der Erreger identifiziert war, lag die Idee nahe, einen Impfstoff gegen ihn zu entwickeln. Doch als Harald zur Hausen 1984 mit seinem Vorschlag an deutsche Pharmaunternehmen herantrat, winkten die ab. Der erste Impfstoff gegen Hepatitis-Viren, die Leberkrebs verursachen können, war schon auf dem Markt, das Konzept der Impfung gegen Krebs also nicht neu. Und trotzdem: „Entweder erschienen ihnen unsere Daten unzureichend, oder mir wurde erzählt, es gebe wichtigere Probleme als einen Impfstoff gegen Gebärmutterhalskrebs“, schreibt zur Hausen in seinem Buch „Gegen Krebs“. Unternehmen im Ausland erkannten das Poten zial schneller und kooperierten mit Forschergruppen, denen zur Hausen Virusmaterial zu Testzwecken überlassen hatte. An einen Patentschutz für seine Entdeckung hatte er nicht gedacht – „sehr naiv“, wie er einräumt. So musste er zusehen, wie andere Verträge mit der Industrie abschlossen und sein Arbeitgeber, das Deutsche Krebsforschungszentrum DKFZ in Heidelberg, erst vor Gericht zumindest Anteile an den Lizenzgebühren erstritt. Die Entwicklung eines Impfstoffes ist so langwierig wie bei jeder anderen Arznei. 1991 erscheint der erste Fachartikel, der beschreibt, wie man die Moleküle, aus denen sich die Hüllen der gefährlichsten HPVTypen zusammensetzen, künstlich im Labor herstellen kann. Die Bauteile der Viren sollen ausreichen, um das Immunsystem der Impflinge gegen echte Papilloma viren zu mobilisieren. Es dauert noch weitere 15 Jahre, bis der erste HPV-Impfstoff für Menschen zugelassen wird. Die deutsche Entdeckung wird von einem amerikanischen und einem britischen Konzern weiterentwickelt. 61 VI. Kampf um den Markt Der HPV-Impfstoff gelangt am 20. September 2006 auf den europäischen Markt. Gardasil schützt vor vier Virustypen, darunter die gefährlichen Typen 16 und 18 sowie zwei weitere, die keinen Krebs verursachen, sondern lediglich lästige Genitalwarzen. In den USA hat Merck bereits im Juli mit der Vermarktung des Präparats begonnen. Für Europa übernimmt Sanofi Pasteur MSD die Vertriebsrechte. Jetzt nimmt eine Kampagne ihren Lauf, wie es sie hierzulande selten gab. Das Unternehmen tritt eine Marketinglawine los – und alle machen mit. Die Techniker Krankenkasse bucht Anfang Dezember 2006 Werbeblöcke vor den Fernsehnachrichten und verkündet, die Kosten für die Impfung von 11- bis 17-jährigen Mädchen zu übernehmen. Andere Kassen ziehen nach, sie wollen keine Kunden verlieren. Die oberste Impfbehörde bringt die Lawine dann richtig ins Rollen: Schon im Februar 2007 gibt die Ständige Impfkommission des Robert-Koch-Instituts (Stiko) in Berlin ihre Empfehlung ab, Mädchen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren zu impfen – ein Vorgang, der üblicherweise Jahre dauert, nicht Monate. Damit sind alle Krankenkassen in der Pflicht: Sie müssen die rund 500 Euro für drei Spritzen übernehmen. Und nun bricht in den deutschen Arztpraxen eine von keiner Behörde gesteuerte oder kontrollierte Impfwelle los, die vom Hersteller nur zu gern befeuert wird. Eine weitere Kampagne von Sanofi Pasteur MSD (SPMSD) geht im März an den Start – über Fernsehen, Zeitungen und im Internet. Sie findet namhafte Unterstützung. Der Spiegel feiert die „Krebsspritze für Kinder“. Die taz klärt auf, dass „drei Spritzen vor Schmerzen und Tod bewahren“. Die Berliner Zeitung verspricht „guten Schutz für den Gebärmutterhals“. Wer jetzt noch immer nicht von der Notwendigkeit dieser Impfung überzeugt ist, lernt es spätestens im Herbst, denn am 20. September 2007, exakt ein Jahr nach Gardasil, gelangt der zweite Impfstoff auf den Markt. Cervarix von GlaxoSmithKline GSK. Jetzt muss es schnell gehen. Der Wettbewerb erhöht den Druck. Daneben drängt das „Catch-up-Phänomen“. So nennen Arzneimittelvermarkter die Situation, in der es möglich ist, mehrere Geburten-Jahrgänge zu impfen. Sobald alle in einer bestimmten Zeitspanne geborenen Menschen durchgeimpft sind, hat man es in der Folgezeit nur noch jeweils mit einem Jahrgang nach dem anderen zu tun. Man muss sich also beeilen, um viele junge Frauen zu erreichen, bevor sie aus der zur 62 Das Unternehmen tritt eine Marketingkampagne los – und alle machen mit. Impfung empfohlenen Altersgruppe herauswachsen – insbesondere, wenn man sich den Markt mit einem Konkurrenten teilt. Folglich gilt es, möglichst schnell möglichst viele Impfdosen abzusetzen. In Europa und in den USA begleiten aufwendige Informationskampagnen die Vermarktung. Die Lobbyarbeit schloss „jeden Meinungsbildner ein, jede Frauengruppe, jede medizinische Fachgesellschaft, Politiker, und sie richtete sich direkt an die Menschen – es entstand ein Gefühl der Panik, dass du diesen Impfstoff jetzt haben musst“, schreibt die New York Times später in einer Analyse. Die amerikanischen Gesundheitswissenschaftler Sheila und David Rothman vom Columbia College im US-Bundesstaat New York erkennen eine völlig neue Strategie: Zum ersten Mal werde eine Impfung nach der Krankheit benannt, vor der sie schützen soll, und nicht nach dem Erreger. So werde davon abgelenkt, dass es sich um eine durch Sex übertragene Erkrankung handelt, und verallgemeinernd so getan, als wäre die Gefahr für jeden Menschen gleich groß. Außerdem wird übertrieben. So verspricht SPMSD beispielsweise im Jahr 2007 in einer Pressemitteilung „einen bis zu hundertprozentigen Schutz vor Gebärmutterhalskrebs und weiteren HPV-bedingten Erkrankungen“, obwohl zu diesem Zeitpunkt der Schutz vor Zervix-Krebs zwar logisch, aber noch nicht bewiesen ist – und hundert Prozent Sicherheit nicht einmal theoretisch erreichbar sind. „Es war eine massiv irrefüh rende Kampagne“, bilanziert die Gesundheitsexpertin Ingrid Mühlhauser. Um ihr Ziel zu erreichen, arbeiten die Unternehmen mit offenen und verdeckten Werbestrategien. Sie versorgen Fachverbände und medizinisches Personal mit Schulungsunterlagen und Ratgebern für die Gesprächsführung mit Patientinnen. Sie verteilen Infobroschüren an Schulen. Sie lancieren Webseiten wie tellsomeone.de, die den Nutzen der Impfung und die Gefahr durch Gebärmutterhalskrebs übertrieben darstellen. In den USA wenden sie sich an Schülerinnen und Studenten mit E-Mails, in denen sie den Schutz vor Krebs anpreisen, damit sie sich „wenigstens um eine Sache weniger sorgen“ müssten. Ähnliche Post bekommen die Eltern. All das bleibt nicht ohne Wirkung. Anfang 2007 schießen die Impfzahlen in die Höhe und erreichen in einigen Bundesländern Hochrechnungen zufolge knapp 60 Prozent der Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren. Bundesweit bleibt die Durchimpfung unter der 40-Prozent-Marke. Bis Ende 2008 machen die beiden Hersteller weltweit mehr als eine Milliarde Dollar Umsatz mit ihren Anti-HPV-Präparaten. VII. Druck erzeugt Gegendruck Der Wirbel ruft allerdings auch die Skeptiker auf den Plan. Anfang 2008, als bekannt wird, dass in Deutschland und Österreich zwei Mädchen kurz nach einer HPV-Spritze verstorben sind, knicken die Impfzahlen leicht ein. Mehr als einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Tod und Impfung können zwar weder die Europäische Arzneimittelagentur EMA noch das PaulEhrlich-Institut feststellen, das in Deutschland für die Zulassung und Sicherheit von Impfstoffen zuständig ist. Doch die Dynamik ist damit gebremst – und die Zweifler erkennen ihre Chance. Ende 2008 kippt die Stimmung komplett. Schwer zu sagen, ob ein öffentliches Positionspapier den Ausschlag gab. In ihm forderten 13 keineswegs generell impfkritische deutsche Wissenschaftler die „Neubewertung der HPV-Impfung und ein Ende der irreführenden Informationen“. Weil die beiden Impfstoffhersteller auch nach Monaten der Kritik ihre Maßnahmen nicht stoppen und sogar Vertreter in Vorlesungen von Professoren schicken, die für ihre kritische Position gegenüber der Impfung bekannt sind, ist das Maß für die Gruppe der 13 jedenfalls voll. Erstes Ärgernis aus ihrer Sicht ist die Blitz-Entscheidung der Stiko, die Impfung zu empfehlen. Insbesondere das undurchsichtige Entscheidungsverfahren und die schriftliche Begründung stehen in der Kritik. Das Gutachten des Impfgremiums enthält tatsächlich Passagen, die an seiner Kompetenz zweifeln lassen. So verspricht es etwa eine „lebenslange Impfaktivität von 92,5 Prozent“, obwohl sich zu diesem Zeitpunkt noch nichts über die Wirkungsdauer der Impfung, die Notwendigkeit von Nachimpfungen oder zur Effektivität sagen lässt. Deshalb fordert auch der Gemeinsame Bundesausschuss, die Selbstverwaltungsinstanz der Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen, eine Neubewertung der Impfung. Der zweite Vorwurf betrifft die Wirksamkeit der Impfung. Die Kritiker halten es zu diesem Zeitpunkt für unbewiesen, dass die Impfstoffe – selbst bei flächendeckender Durchimpfung – die Zahl der Gebärmutterhals-Tumoren um die versprochenen 70 Prozent senken können, die durch die beiden gefährlichsten Virustypen 16 und 18 hervorgerufen werden und gegen die sich beide Impfstoffe richten. Diese Vorhersage gilt nur, wenn sich die Mädchen vor der Impfung noch nicht mit dem Virus infiziert haben. In die Zulassungsstudien wurden jedoch auch Frauen mit Vorinfektionen aufgenommen. Bezieht man sie in die Auswertung des Impferfolgs ein, steht es plötzlich schlecht um den behaupteten Erfolg, denn die Impfstoffe helfen nicht gegen bereits vorhandene Infektionen. Die 13 Autoren argumentieren mit dem verhältnismäßig geringen Nutzen, den der Impfstoff hätte, wenn ihn alle Frauen bekämen. Zudem bemängeln sie, dass noch nicht klar sei, wie viele Tumoren die Impfstoffe wirklich verhindern können, weil zur Wirksamkeitsabschätzung nur Krebsvorstufen analysiert worden waren. Als die 13 ihre Stellungnahme publizieren – viele Medien nennen sie „Manifest“ –, sind entscheidende Studienergebnisse noch nicht veröffentlicht. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die Impfungen sogar mehr Krebsvorstufen verhindern, als anfangs erwartet, weil die Impfstoffe nicht nur gegen die Virustypen 16 und 18 wirken, sondern auch gegen mindestens fünf weitere. Ingrid Mühlhauser hält an ihrer Kritik trotzdem fest – sie fürchtet, dass sich Frauen durch die HPVSpritzen in falscher Sicherheit wiegen könnten, weil bei der Einführung des Impfstoffes suggeriert worden sei, dass er vollständig vor Gebärmutterhalskrebs schütze. Wer die Zahl der Gebärmutterhalskrebs-Erkrankungen zuverlässig senken wolle, sollte in mehr Akzeptanz und höhere Qualität der Früherkennung investieren. Auch die Europäische Arzneimittelagentur betont die Bedeutung des Screenings schon bei der Einführung des Impfstoffes. Doch ein koordiniertes Programm, wie die Impfung in die bestehende Krebsvorsorge eingebaut werden soll, entsteht auch in den Folgejahren nicht. 63 VIII. Nebenwirkungen Die Kritik der Experten mit den postwendend aufgestellten Gegenmeinungen erregt natürlich auch das Interesse der Medien, die den Streit so bereitwillig in die Öffentlichkeit tragen wie zuvor den Hype. Da ist vom „Schnellschuss mit fehlender Präzision“ (SZ) die Rede, von einem „Experiment an Gesunden“ (FR), die taz konstatiert, dass der „Streit um Krebsimpfung wuchert“ und sieht „Mädchen in Gefahr“. Auch der Tod einer jungen Frau in Großbritannien ist vielerorts Thema – von der Nachricht, dass die Spritze gar nicht ursächlich gewesen war, nehmen weit weniger Notiz. Auch die Resonanz auf die klinischen Daten, die die Wirksamkeit der Impfung mit neuen Zahlen untermauern, ist gering. Stattdessen bleibt die Sicherheit ein Reizthema. Richtig ist: Ganz ohne Nebenwirkung ist eine Impfung nicht zu haben. „Sie regt das Immunsystem an, und dabei ist nie auszuschließen, dass es überreagiert“, sagt Harald zur Hausen. „Die Folge einer jeden Impfung können Hautreaktionen, Kreislaufprobleme und im allerschlimmsten und extrem seltenen Fall bei unerkannten Vorerkrankungen auch der Tod sein. Dagegen steht, dass wir jedes Jahr weltweit vielleicht mehr als 200 000 Frauen vor dem Tod durch Gebärmutterhalskrebs retten können. Und dass Mädchen und Frauen auch chirurgische Eingriffe zur Entfernung von Vorstufen zu 70 bis 80 Prozent erspart bleiben.“ In den Datenbanken der internationalen Meldebehörden sind inzwischen mehrere Zehntausend Fälle von Nebenwirkungen beschrieben. Die meisten betreffen Rötungen an der Einstichstelle der Nadel; Schwindelgefühl und Ohnmachtsanfälle sind häufig, es gibt aber auch Tote. Allerdings konnte bislang noch kein Todesfall zweifelsfrei mit der Impfung kausal in Zusammenhang gebracht werden. Für Harald zur Hausen ist der Impfstoff damit als „sehr sicher“ einzustufen. Er verweist auf Australien, wo durch staatliche Impfprogramme bereits mehr als 1,7 Millionen Dosen injiziert wurden und nur in 25 Fällen gravierende Nebenwirkungen auftraten, wovon jedoch nur „drei als echte Reaktion gewertet werden können“. Nach derzeitiger Datenlage böten die beiden Impfstoffe gegen HPV eine vergleichbare Sicherheit wie andere, seit Langem verwendete Impfstoffe, etwa solche gegen Tetanus, Diphtherie oder Hepatitis B. Aus Sicht der Befürworter ist die wahrscheinlich schädlichste Nebenwirkung der Impfstoffe die Debatte, die um sie entbrannt ist. Ob nun in Folge des Manifests oder als Reaktion auf die negativen Berichte: Die Impf- 64 zahlen brachen ein und haben sich nicht wieder erholt. Bei den zwölfjährigen Mädchen liegt die Durchimpfung nur noch zwischen zehn und zwölf Prozent, schätzt Klaus Schlüter, Geschäftsführer bei Sanofi Pasteur MSD und dort verantwortlich für die Bereiche Medizin, Marktzugang und Erstattung. Der Berliner Tumorbiologe Andreas Kaufmann sieht die Quote in allen sechs zur Impfung empfohlenen Jahrgängen „gefühlt bei 40 Prozent“. Viele jüngere Mädchen würden die HPVImpfung gar nicht kennen, sagt er. Für ihn steht fest, wer die Schuld an dem Informationsdefizit trägt: Das Manifest der Kritiker, sagt er, habe hohen Schaden angerichtet. Danach sei das Thema politisch derart aufgeladen gewesen, dass sich niemand mehr damit habe beschäftigen wollen. „Viele Mädchen haben die laufenden Impfzyklen abgebrochen. Mütter und Ärzte waren verunsichert, und es gab keine Informationen mehr, die ihnen bei einer Entscheidung geholfen hätten. Die 13 haben eine riesige Verantwortung auf sich geladen.“ IX. Kosten und Nutzen Die spürt auch Klaus Schlüter, obwohl er die Geschehnisse nur aus der Distanz kennt. Der Arzt und Gesundheitsökonom, der Mitte 2010 von Pfizer zu SPMSD wechselte, blickt auf die Zeit der Impfstoffeinführung als eine längst vergangene Epoche. Damals sei vom Unternehmen ein „enormer Druck“ aufgebaut worden, schließlich ging es um die Erschließung eines neuen Marktes. Das Kapitel sei abgeschlossen, eine Wiederholung werde es nicht geben. „Ich möchte nicht, dass eine aus meiner Sicht wichtige Impfung durch unter Umständen fragwürdige Marketingmaßnahmen gefährdet wird.“ Heute argumentiere Sanofi Pasteur MSD wissenschaftlich und konzentriere sich darauf, den Nutzen von Prävention allgemein zu verdeutlichen. Wie es um den Nutzen der HPV-Impfung bestellt ist, ist eine Frage, deren Antwort – je nach Standpunkt – sehr unterschiedlich ausfällt. Aus Sicht einer jungen Frau, die noch keine Papillomaviren in sich trägt, bieten die heute verfügbaren Impfstoffe Schutz vor den aggressivsten Erregern und reduzieren ihr Krebsrisiko. Zahlen, die das zweifelsfrei belegen können, wird es allerdings erst in Jahrzehnten geben. Daten aus Taiwan belegen, dass man geduldig sein muss, wenn man den Krebsschutz durch Impfungen statistisch relevant aus Sterbezahlen herauslesen will. Erst seit 2009 – und damit 25 Jahre nach ihrem Start – steht unzweifelhaft fest, dass die flächendeckende Einführung der Hepatitis-B-Impfung in Taiwan die Leber- krebsrate um 70 Prozent gesenkt hat. Selbst wenn die Zahl der Cervix-Tumoren in den nächsten zehn Jahren sinken würde, wäre das noch kein Hinweis auf den Impfeffekt, sagt Andreas Kaufmann, sondern wahrscheinlich eher auf Verbesserungen in der Früherkennung. Durch Impfschutz gesenkte Sterbezahlen erwartet der Mediziner frühestens in zwanzig Jahren. In Entwicklungsländern ohne Früherkennungsprogramme könnten Impferfolge schon früher messbar sein. Dort sieht Harald zur Hausen deshalb auch den größten Nutzen der Impfung. Doch gibt es einen Vorteil, der auf unsere Verhältnisse übertragbar ist und greifbar nahe liegt. Eine australische Studie zeigte, dass bereits ein halbes Jahrzehnt nach Einführung der Impfung die Zahl der operativen Eingriffe zurückgegangen war. „Diese Konisationen sind nicht nur eine große Belastung für die Frauen. Sie erhöhen auch das Risiko für Frühgeburten deutlich“, sagt Christian Dannecker von der Universitätsklinik München. So reduziert die Impfung in Industrieländern mit bestehendem Früherkennungsprogramm zwar noch nicht nachweislich die Zahl der Krebstoten – aber schon bald die Zahl der voller Angst durchwachten Nächte von Frauen mit verdächtigem Befund. Ob diese Rechnung auch gesundheitsökonomisch aufgeht, wird in der Fachliteratur mittlerweile auf mehreren Hundert Seiten diskutiert. Der wichtigste Aspekt ist dabei die Frage, wie lange und vor wie vielen Virustypen die Impfung Schutz bietet. Bislang steht fest: Der Schutz hält mindestens achteinhalb Jahre – so weit liegen die ersten Impfungen zu Studienzwecken schon zurück. Dannecker prognostiziert einen „wahrscheinlich jahrzehntelangen Schutz“, Harald zur Hausen schätzt ihn auf „wenigstens 15 Jahre“. Andreas Kaufmann von der Berliner Charité greift noch weiter und bleibt dennoch pragmatisch: „Ich gehe von 20 Jahren aus, aber ich bin kein Ökonom. Falls nötig, können wir den Impfschutz auch nach zehn Jahren schon auffrischen, wenn wir Frauen dadurch Leid ersparen.“ Nach den Modellrechnungen des Gesundheitsökonomen Oliver Damm von der Universität Bielefeld steht heute nicht mehr infrage, ob der Impfstoff in Deutschland auch ökonomisch sinnvoll ist – trotz des hohen Preises von fast 500 Euro pro Person. Entscheidend sei vielmehr: welcher der beiden Impfstoffe, ab welchem Alter? Das klang in einer ersten ökonomischen Abschätzung aus dem Jahr 2009, an der er mitgearbeitet hatte, noch deutlich skeptischer. Damals stuften die Autoren den ökonomischen Nutzen noch als fragwürdig ein. Hätten die deutschen Gesundheitsbehörden bei Einführung des Impfstoffes mit den Unternehmen verhandelt, wäre die Bilanz vielleicht schon früher positiv ausgefallen. Die Regierungen anderer Länder schlossen jedenfalls Lieferverträge mit den Herstellern und gaben dabei erheblich weniger pro Dosis aus. X. Therapeutische Maßnahmen Verglichen mit der HPV-Impfung, ging die Einführung der Hepatitis-Immunisierung in Deutschland geräuschlos ab. Heute liegt diese Durchimpfung bei 90 Prozent im Kindesalter. Für HPV scheinen Harald zur Hausen derartige Werte illusorisch. Er erklärt sich das mit einer merkwürdigen generellen deutschen Skepsis gegenüber Impfungen. Man kann es ruhig so sagen: Bei der Einführung der HPV-Impfung hat sich Deutschland blamiert. Dabei hätte man sich die Nachbarländer zum Vorbild nehmen können. Dänemark etwa legte ein nationales HPV-Programm auf und holte für eine konsensfähige Strategie alle Interessengruppen an einen Tisch. So erreichte das Land eine Impfquote von 80 Prozent in der Zielgruppe. Großbritannien schloss Verträge mit den Herstellern und verteilte Impfdosen an Schulen. Letzteres erscheint in Deutschland heute undenkbar. Dabei wäre gerade die Schulimpfung ein sinnvolles Mittel, um auch die Kinder jener Gesellschaftsgruppen zu erreichen, die an Vorsorgeprogrammen üblicherweise nicht teilnehmen. Studien haben mehrfach gezeigt, dass in Industrieländern meist diejenigen zur Impfung kommen, die später wahrscheinlich auch zur Früherkennung gehen. Nobelpreisträger zur Hausen hält es deshalb für eine gute Idee, Jugendliche früh, etwa zwischen neun und vierzehn Jahren zu impfen. Dabei schließt er Jungen ausdrücklich ein, weil sie die Überträger der Krebsviren sind, aber seltener Tumoren an den Genitalien entwickeln. „Das hätte den Vorteil, dass nicht nur Gynäkologen, sondern die Kinderärzte diese Impfung übernähmen, die in Deutschland ohnehin die Impfärzte sind.“ Zudem sinke die Arztaffinität im Jugendalter dramatisch. Als Standardmaßnahme in eine der Vorsorgeuntersuchungen für Kinder eingebaut, könnte die Impfung viel mehr Menschen erreichen. Die Industrie arbeitet längst an neuen HPV-Impfstoffen, die vor noch mehr Virustypen schützen sollen. Wenn sie in einigen Jahren auf den Markt kommen, kann Deutschland zeigen, ob es aus dem HPV-Desaster etwas gelernt hat. 7 65 Gute Frage Kümmern sich die Pharmakonzerne wirklich nicht um Krankheiten in der Dritten Welt? Text: Julia Groß 3 Es ist ein Vorwurf, den die Pharmabranche seit Jahrzehnten nicht los wird: Die überaus gut verdienenden Konzerne wären zu profitgierig, um kranken Menschen in Entwicklungsländern zu helfen, die sich Medikamente nicht leisten können. Ganz abgesehen davon, ob die Anschuldigung stimmt: Sie zeugt vor allem davon, dass Pharmaunternehmen von der Öffentlichkeit mit anderen Augen gesehen werden als andere Industriezweige. Keiner verlangt, dass Autohersteller ihre Fahrzeuge in der Dritten Welt verschenken oder dass Energieversorger umsonst Strom nach Zentralafrika liefern. Doch mit der Gesundheit anderer Geld zu verdienen scheint ein Geschäftsmodell zu sein, das mit besonderen moralischen Verpflichtungen verbunden ist. Ob zu Recht oder nicht, ist ein anderes, ein philosophisches Problem. Richtig ist: Die Eingangsfrage lässt mit einem „doch, sie kümmern sich durchaus“ beantworten – zumindest oberflächlich betrachtet. „Kein Pharmakonzern getraut sich mehr so zu erscheinen, als würde er das Thema ignorieren, spätestens seit Corporate Social Responsibility auch für Investoren eine wichtige Rolle spielt“, sagt Oliver Moldenhauer, Koordinator der Medikamentenkampagne für Ärzte ohne Grenzen in Deutschland. 66 Deshalb finden sich auch bei nahezu jedem Unternehmen entsprechende Projekte: Novartis beispielsweise liefert vielen Ländern die Malaria-Arznei Coartem zum Selbstkostenpreis, Pfizer engagiert sich bei der Bekämpfung des Trachoms, einer häufigen Augeninfektion, Bayer arbeitet an einem Tuberkulose-Mittel, das den Armen der Welt zugute kommen soll, und stellt der WHO ein Mittel gegen die Schlafkrankheit zur Verfügung. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Viel schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob die Pharmakonzerne genug gegen Krankheiten in der Dritten Welt tun. Denn was genau ist schon genug? Und wie will man das messen? In ihren Jahresberichten gehen nur wenige Konzerne über Beschreibungen und eindrucksvolle Fotos von Hilfsprojekten hinaus und nennen auch die investierten Beträge. Und bei denen, die es tun, sind die Berechnungen kaum miteinander vergleichbar und teilweise auch schwer nachvollziehbar. So beziffert Novartis den Wert seiner Programme, die Zugang zu Medikamenten schaffen sollen, für 2010 auf eindrucksvolle 1,54 Milliarden Dollar. Dafür setzen die Schweizer die abgegebenen Produkte aber überwiegend zum Großhandelspreis an. Die Summe entspräche etwa einem Fünftel des For- schungsbudgets und weniger als einem Achtel vom Betriebsergebnis. GlaxoSmithKline nennt 222 Millionen Pfund als „Global Community Investment“ für 2010. Das ist ein Zwanzigstel der Forschungsaufwendungen und ein Siebzehntel vom Betriebsgewinn. Allerdings kalkulieren die Briten für Medikamentenspenden (147 Millionen Pfund) nur mit den reinen Produktionskosten. Viel Geld – aber tun die Firmen damit auch das Richtige? Oliver Moldenhauer ist skeptisch: „Oft handelt es sich bei diesen Programmen um wenig nachhaltige Einzelrabatte, die vor allem der Image-Pflege dienen sollen und weniger auf das eigentliche Interesse der Patienten zielen“, sagt er. Grundsätzlich zu unterscheiden seien zwei Arten des Engagements. Die eine: neue Medikamente gegen die sogenannten vernachlässigten Krankheiten zu entwickeln. Diese Leiden, wie etwa Leishmaniose und Chagas oder die Schlafkrankheit, kommen praktisch ausschließlich in Entwicklungsländern vor und betreffen somit vor allem Patienten, die sich keine Medikamente leisten können. Weil es aus wirtschaftlicher Sicht wenig Sinn macht, ist die Pharmabranche hier kaum aktiv. „Mittlerweile beteiligen sich allerdings einige Firmen an sogenannten Product Development Partnerships wie der Drugs for Neglected Diseases initiative (DNDi), die als Non-Profit-Organisation die Erforschung und Entwicklung solcher Arzneimittel übernimmt“, sagt Moldenhauer. „Wobei diese Arbeit dann häufig von der öffentlichen Hand finanziert wird.“ Die andere Möglichkeit sich für Patienten in der Dritten Welt einzusetzen, besteht darin, ihnen den Zugang zu patentgeschützten Medikamenten zu ermöglichen. Unternehmen können ihre Arzneimittel, etwa gegen HIV/Aids, Malaria oder Tuberkulose, verschenken oder Generika-Herstellern erlauben, sie für bestimmte bedürftige Länder billig herzustellen. In diesem Bereich ist die Bilanz in der Branche gemischt. Aus gutem Grund: Arzneimittel zu spenden ist aufwendig. Damit die Medikamente wirken und richtig eingenommen und angewendet werden können, braucht es geschulte Ärzte, Pfleger und Apotheker. Zudem ist die Logistik in schlecht erschlossenen, oft mit Korruption kämpfenden Regionen eine Herausforderung, die nicht jeder stemmen kann. „Der Vertrieb vieler Generikaunternehmen ist zum Beispiel in Afrika oft besser organisiert als der von den Originalherstellern“, weiß Moldenhauer. Mit der Patentfreigabe für Dritte-WeltLänder zögern dennoch viele Pharmaunternehmen. Der 2009 in Genf gegründete Medicines Patent Pool der internationalen Hilfsorganisation UNITAID will Ab hilfe schaffen: Er verhandelt die Abgabe von Lizenzen mit Pharmafirmen und gibt sie gebündelt an geeignete Generikahersteller weiter. „Insgesamt war das Engagement der Pharmabranche schon viel schlechter“, sagt Jürgen May, Professor für Infektionsepidemiologie am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin. Neben dem erwachten CSRBewusstsein dürfte das auch an der wachsenden Zahl von Public-Private Partnerships liegen, bei denen Industrie, internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, Universitäten, NGO und Stiftungen wie die Bill & Melinda Gates Foundation zusammenarbeiten. Der Vorteil: Jeder Partner tut nur das, was er am besten kann. Dass all die Bemühungen noch nicht ausreichen, ist unbestritten. Ebenso klar ist, dass Pharmakonzerne ein unverzichtbarer Teil der Lösung sind. Denn akademische Institutionen oder Produktentwicklungsinitiativen können zwar viel leisten, bei der Durchführung klinischer Studien mit Tausenden von Patienten wird der organisatorische Aufwand für sie aber zu groß. „Eine Medikamentenentwicklung“, sagt Epidemiologe Jürgen May, „ist ab einem gewissen Punkt nicht mehr ohne die Firmen zu stemmen.“ 7 „Insgesamt war das Engagement der Pharmabranche schon viel schlechter.“ Jürgen May, Epidemiologe 67 Die Zauberformel Ein neuartiger Pharmawirkstoff ist das eine. Wie aber sorgt man dafür, dass er am richtigen Organ die richtige Wirkung erzielt? Wie, dass er vom Markt akzeptiert, von Ärzten verschrieben und von Patienten zuverlässig eingenommen wird? Über Fragen wie diese grübeln Galeniker. Michael Ausborn, oberster Rezepteur beim Pharmariesen Hoffmann-La Roche, ist einer von ihnen. Text: Harald Willenbrock Fotos: Anne Morgenstern 68 3 Wer den Biochemiker Michael Ausborn sprechen will, wer also im vierten Stock des nagelneuen, schneeweißen „Bau 97“, das die Stararchitekten Herzog & de Meuron mitten in den Baseler Roche-Komplex gesetzt haben, aus dem Fahrstuhl tritt, stößt im Vorzimmer auf ein Kuriosum. Unter der Plexiglashaube einer Ausstellungsvitrine ruht dort ein tiefroter, massiver Backstein mit leicht abgebröselten Ecken. Ein Schild klärt den Besucher überflüssigerweise darüber auf, dass es sich hier um eine Materie von hohem Schmelzpunkt und geringer Löslichkeit handelt. Das Schild darüber fordert den Betrachter auf: „Formulate this!“ („Verwandeln Sie dies in eine Rezeptur!“), was ebenfalls ironisch zu verstehen sein dürfte. Denn dass man diesen Brocken nicht knacken kann, sieht jeder. Und doch ist genau das der Job von Michael Ausborn. Der schlaksige Deutsche, der in Schwerin aufwuchs und in Halle Pharmazie studierte, wechselte nach ein paar Jahren bei Sandoz und Novartis 2005 zum Pharmakonzern Roche, dem Weltmarktführer bei krebstherapeutischen Medikamenten. Visitenkarten habe er leider keine zur Hand, entschuldigt sich der 49-Jährige, als er dem Besucher aus seinem hellen Büro entgegenkommt, den letzten Schwung Karten habe er gerade bei einer Tagung im indischen Ahmedabad verteilt. Als oberster Galeniker im Haus muss Ausborn häufig irgendwo in der Welt präsentieren, diskutieren und referieren. Geschäftssprache ist Englisch, auch deshalb wimmelt es in seinem Redefluss von Anglizismen wie von Leukozyten in einer Blutbahn: „exposure“, „pill burden“, „druggability“, „area under the curve“. Letzteres übersetzt Ausborn geduldig als die Konzentration eines Pharmakons im Blut, also die Schlagkraft, die ein Wirkstoff letztlich im Körper eines Kranken entfalte. Die wiederum hänge nicht zuletzt von der Form ab, in der man ihn schluckt, spritzt oder per Infusion verabreicht. „Selbst zwei Tabletten mit derselben Wirkstoffmenge, aber unterschiedlichen Hilfsstoffen, können unterschiedliche Wirkstoffkonzentrationen im Blutplasma erzeugen.“ Damit ein Wirkstoff nicht wirkungslos verpufft oder in Folge von Konzentrationsspitzen zu Nebenwirkungen führt, braucht es die richtige „Darreichungsform“. Diese Zauberformel suchen Galeniker, der Berufsstand, der die Lehre von der Zubereitung der Arzneimittel beherrscht und seinen Namen dem nach Hippokrates berühmtesten Arzt der Antike verdankt: Galenus. Im Grunde tun Galeniker nichts anderes, als Backsteine in Medikamente zu verwandeln. Die Backsteine, mit denen es Michael Ausborn zu tun hat, sind Proteine, Antikörper und chemisch synthetisierte Moleküle, die seine Kollegen aus den Forschungsabteilungen als medizinische Wirkstoffe identifiziert haben. Das bedeutet: In jeder dieser Substanzen kann theoretisch ein schlagkräftiges Krebsmittel oder Rheumamittel, ein Segen für Kranke und ein Blockbuster für Ausborns Arbeitgeber stecken — vorausgesetzt, man bringt den Wirkstoff in der richtigen Dosis und zum richtigen Zeitpunkt an die richtige Stelle im Patientenkörper. „Auf den ersten Blick“, sagt Ausborn und schiebt einen Stapel Studien auf seinem Schreibtisch beiseite, deren Titel so kompliziert klingen, als erfordere ihr Verständnis mindestens ein Pharmazie-Studium, „wirkt das wie eine triviale Aufgabe. Der Patient schluckt eine Pille oder bekommt eine Spritze, and that’s it. In Wirklichkeit aber müssen wir, damit ein Wirkstoff den gewünschten Effekt erzielt, viele Hürden überwinden. Nehmen Sie nur einmal die naheliegendste: die Zeit.“ Zeit ist für einen Menschen, der etwa an Migräne leidet, ein enorm kritischer Faktor. Ein Schmerzmittel muss sich daher schnell im Magen auflösen und sofort wirken. „Ideal ist ein Anfluten des Wirkstoffs binnen weniger Minuten“, erklärt Ausborn und greift zu zwei Röntgenbildern eines menschlichen Körpers, die einen weiteren Aspekt des Problems Zeit illustrieren. Auf einem Bild sind eine Vielzahl von Krebsmetastasen in Form dunkler Flecken zu erkennen, die den Michael Ausborn hat einen Beruf, den kaum einer kennt, aber jeder braucht, der krank wird: Der Galeniker entwickelt die perfekte Darreichungsform für Medikamente. 69 „Wir versuchen, die Darreichungsform so simpel und zuverlässig wie irgend möglich anzulegen.“ Michael Ausborn Patientenkörper durchsetzen wie Stockflecken ein Stück Stoff, das lange Feuchtigkeit ausgesetzt war. „Hier sehen Sie, dass unser Krebsmittel vom Patienten nicht ausreichend aufgenommen wurde. Aufgrund seiner schlechten Löslichkeit hat es sich während der Magen-Darm-Passage nicht schnell genug zersetzt.“ Ausborn und seine Kollegen verlegten sich daher auf einen Trick und versetzten den Wirkstoff in eine amorphe, höchst instabile Form, die bei Berührung mit Flüssigkeit zerfällt wie Zucker in heißem Wasser. Sein zweites Bild zeigt eine Aufnahme desselben Patienten, 15 Tage nachdem er erstmals die neue Wirkstoffformel geschluckt hatte: Die dunklen Flecken sind fast vollständig verschwunden. Galenik, so lernt man, ist auch ein Wettlauf gegen die Zeit, und dabei gibt es zahllose Varianten. Bei Schlaftabletten beispielsweise ist es genau umgekehrt wie bei Kopfschmerzmitteln: Hier kommt es weniger auf ein schnelles Einsetzen als vielmehr auf das zuverlässige Abklingen der Wirkung an, damit Patienten nach dem Aufstehen nicht noch stundenlang müde sind. Bei Cholesterinsenkern oder Antikörpern in der Krebstherapie hingegen ist weder eine besonders schnelle noch exakt limitierte, sondern eine möglichst lang anhaltende Wirkung erwünscht. Natürlich könnte man dafür einfach die Wirkstoffkonzentration pro Tablette erhöhen, was jedoch zu hohen Konzentrationen im Blut und damit zu unerwünschten Nebenwirkungen führen würde. Der Trick besteht im „Modified Release“, also in Verzögerungsformeln, dank derer sich die Wirkung erst mit Zeitverzögerung entfaltet. Manchen dieser Retard-Tabletten werden dafür per Laser Löcher eingeschossen. Sobald die Tablette im Magen angekommen und der äußere Tablettenfilm vom Magensaft zersetzt worden ist, dringt durch die Löcher Flüssigkeit in die Tablette ein und bringt dort eine gelartige Matrix zum Quellen. Hat die Matrix ein bestimmtes Volumen erreicht, drückt sie nach und nach den Wirkstoff in exakt berechneten Intervallen aus der Tablette – eine Art Dosierung mit Nachbrenner-Effekt. Manchmal machen sich Galeniker auch das Prinzip Zeitbombe zunutze. Dabei werden Gelatinekapseln mit Pellets oder Tabletten unterschiedlicher Zusammensetzung bestückt, die ihre Wirkstoffe zeitversetzt freigeben. Auf diese Weise hat ein Patient, der morgens eine einzige Pille schluckt, über 24 Stunden hinweg einen konstanten Wirkspiegel im Blut – die ideale „area under the curve“. Eine Tablette pro Tag – für Ausborn ist das die ideale, weil einfachste Darreichungsform. „Grundsätzlich gilt: Wir müssen immer versuchen, die Darreichungsform so simpel und zuverlässig wie irgend möglich anzulegen.“ Älteren oder dementen Patienten fällt es zum Beispiel oft besonders schwer, sich komplexe Einnahmeschemata zu merken. Überhaupt, die alternde Bevölkerung: Für Roche sei sie ein Riesenthema. Das ist sie übrigens auch für Ausborn selbst. „Meine Eltern sind in einem Alter, in dem sie nicht nur eine, sondern gleich mehrere Tabletten pro Tag schlucken müssen. Das ist gar nicht so einfach, schließlich darf man die Medikamentengaben weder vergessen noch verwechseln. Viele ältere Menschen haben außerdem Schluckbeschwerden, was die Einnahme verkompliziert. Und fast alle trinken zu wenig, wenn man bedenkt, dass pro Pille 200 bis 250 Milliliter Flüssigkeit zur Einnahme empfohlen werden.“ Die wichtigste Regel jedoch gilt für ältere wie für junge Patienten gleichermaßen: Arzneimittel nimmt niemand gern. „Eigentlich will ja niemand darüber nachdenken, dass er krank ist. Das tut er aber zwangsläufig jedes Mal, wenn er zur Medikamentenpackung greifen oder sogar ins Krankenhaus fahren muss, um 70 brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl Prinzip Zeitbombe 71 Pille entscheidet über den Erfolg eines Präparats mit: Schlafmittel sind blau, Magenmittel grün. 72 sich ein Mittel per Infusion verabreichen zu lassen. Obwohl sie Leben retten oder zumindest verlängern können, werden Medikamente nicht gerne genommen.“ Mangelnde „Compliance“, also die Nichtbefolgung der ärztlichen Einnahmevorgaben, ist daher ein weitverbreitetes Problem. Nicht selten justieren Patienten eigenmächtig ihre Dosis oder setzen das Medikament ganz ab, sobald es ihnen ein bisschen besser geht – ein klassischer Fehler bei Antibiotika und eine Ursache für viele Resistenzen, die Bakterienstämme mittlerweile entwickelt haben. Aufgabe der Pharmazeuten sei es, sagt Ausborn, dafür zu sorgen, dass Präparate trotzdem genommen werden und – noch wichtiger – überhaupt genommen werden können. Für Parkinsonkranke beispielsweise kann eine verschweißte Pillenpackung ein unüberwindliches Hindernis darstellen. Rheumapatienten mit arthritischen Fingern wiederum wäre mit Infusionslösungen, die sie selbst aufziehen und spritzen müssen, wenig geholfen. Für andere Patienten hingegen bedeutet gerade das eigenhändige Spritzen eine enorme Erleichterung, wie das Beispiel Herceptin zeigt. Herceptin ist der Markenname eines Roche-Krebsmedikaments, das bei Brustkrebs die Ausbreitung von Tumorzellen hemmt. Bislang mussten Patientinnen sich zur Herceptin-Therapie alle drei Wochen ins Krankenhaus begeben, wo ihnen das Präparat mit einer 30- bis 60-minütigen Infusion ins Blut gepumpt wurde. „Niemand aber geht gerne ins Krankenhaus, vor allem nicht, wenn man sich eigentlich längst wieder gesund fühlt“, sagt Ausborn. „Wir haben uns deshalb gefragt: Gibt es nicht eine Möglichkeit, den Wirkstoff subkutan zu injizieren?“ Heute gibt es diese Möglichkeit, sie heißt „Single Injection Device (SID)“ und ist ein iPod-großer Kasten aus grauem Plastik, der gerade in den Roche-Labors erprobt wird. Herzstück des SID ist eine miniaturisierte Spritze, die an eine Dosierungseinheit für Herceptin gekoppelt ist. Zusammen mit einem speziellen Enzym, das die Injektion vereinfacht, soll sich der Wirkstoff künftig mit diesem unscheinbaren Kasten binnen fünf Minuten von jedem Hausarzt spritzen lassen. „Auf diese Weise ersparen wir den Patientinnen viel Zeit – und dem Gesundheitssystem hohe Krankenhauskosten.“ Kosteneffizienz ist in Zeiten ausgelaugter Gesundheitssysteme ein kritischer Faktor für jedes neue Medikament. Für Ausborn und seine Kollegen kommt es daher auch darauf an, ihre Rezepturen von Anfang an so zu formulieren, dass sie zu vertretbaren Kosten hergestellt und angeboten werden können. Denn „druggable“, also markttauglich, ist ein Wirkstoff erst, wenn er nicht nur von Patienten, sondern auch von Krankenkassen, Zulassungskommissionen und der Ärzteschaft geschluckt wird. „Erst die Rezeptur entscheidet darüber, ob aus einem großartigen Molekül ein großartiges Medikament werden kann“, sagt Michael Ausborn. Dazu muss es allerdings auch erst einmal gekauft werden. Rezeptfreie Arzneimittel, die Patienten selber bezahlen müssen, sollten daher neben ihrer medizinischen noch eine ganz andere Wirkung entfalten: Anziehungskraft. Nicht wenige werden deshalb extra so designt, dass sie die Aura einer echten Marke verströmen. Viagra-Pillen etwa sind unverkennbar blau gehalten, SpaltKopfschmerztabletten ähneln nicht zufällig einem Knauf, mit dem sich der Schmerz vermeintlich abschalten lässt. Eine Pille gegen die Knochenkrankheit Osteoporose hat der US-Pharmakonzern Merck & Co. in Knochenform gepresst. Und wer den Klassiker Aspirin schluckt, schluckt immer auch ein Bayer-Kreuz: Erfolgreicher als der deutsche Pharmariese hat vermutlich kaum jemand je ein Medikament in eine Marke verwandelt. Dabei kann selbst die Farbe einer Pille mit über den Erfolg eines Präparats entscheiden. So werden Schlafmittel typischerweise in Blau, Magenpillen in Grün, starke Schmerzmittel in Rot und Antibabypillen in Lavendel oder Rosa eingefärbt – die Patienten trauen ihnen einfach mehr zu als anderen Pillen. „Die Farben allein haben für sich genommen schon einen gewissen Effekt auf die Wirkung, den sogenannten Placebo-Effekt“, erklärt ein Sprecher des Pharmakonzerns Schering (heute Bayer HealthCare Pharmaceuticals). Wissenschaftlich belegt ist dieser Effekt beispielsweise für Schlaftabletten in blauer Tönung: So schliefen Probanden nach der Einnahme einer blauen Tablette deutlich länger als Versuchspersonen, die denselben Wirkstoff in andersfarbigen Rezepturen geschluckt hatten. Mikrochips unter der Haut brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl Selbst die Farbe der Ob ein Medikament von den Patienten akzeptiert wird, ist nicht zuletzt auch eine Frage der Kultur. In Europa beispielsweise hilft man kranken Kleinkindern mit fiebersenkenden Zäpfchen. In den USA hingegen würde keine Mutter je auf die Idee kommen, ihrem Kind ein Medikament rektal zu verabreichen. „Das ist kulturell einfach nicht zu vermitteln“, weiß Michael Ausborn. Für den amerikanischen Markt haben Pharmazeuten deshalb Pellets entwickelt, die sich wie Schokostreusel über Joghurt streuen oder in Limonade auflösen lassen. Grundsätzlich bevorzugen US-Amerikaner eher bunte Pillen, die schon rein äußerlich einen Wirkmix suggerieren, während Japaner tendenziell pur-weißen Präparaten vertrauen. Für Länder mit muslimischer Bevölkerung wiederum gilt es zu bedenken, dass die Kapseln keine Schweinegelatine enthalten. Damit Konzerne wie Roche den Weltmarkt beliefern können, müssen ihre Produkte außerdem auch ein paar Tage bei 40 Grad Celsius und hoher Luftfeuchtigkeit überstehen, die sie mitunter auf irgendeinem tropischen Rollfeld auf ihren Weitertransport warten. Danach müssen sie ihre Wirksamkeit auch noch rund drei Jahre im Regal eines Apothekers erhalten – auf diesen Zeitraum ist das „shelf life“ der meisten Medikamente ausgelegt. „Die Vielfalt der Formulierungen“, sagt Ausborn, „ist fast so groß wie die Zahl der neuartigen Ansätze, die wir verfolgen.“ So gibt es heute für Tumorpatienten Schmerzmittel in Lutscherform, die bei akuten Schmerzattacken über die Mundschleimhaut schneller aufgenommen werden als Tabletten. Ein anderes Konzept besteht darin, Medikamente über Nasensprays zu verabreichen und auf diese Weise den Umweg über Magen und Darm zu sparen. Wirkstoffe wiederum, die über längere Zeit und in geringen Dosen aufgenommen werden sollen, können häufig einfach per Pflaster aufgetragen werden. Ein paar Millimeter tiefer, nämlich unter die Haut, wollen die Forscher eines amerikanischen Start-ups gehen, mit denen Michael Ausborn vor einiger Zeit kooperierte. Ihre Idee: Wirkstoffe auf Mikrochips zu speichern und unter die Haut zu transplantieren. Auf diesen Mikrochips lassen sich nämlich gleichzeitig auch individuelle Programme einspeichern, die den Wirkstoff je nach Patientenprofil Tag für Tag in individuellen Dosen herausschießen. Damit wären Probleme wegen Überdosierung oder vergessener Tabletten ausgeschlossen, und bei Laborratten hat die Medizin, die unter die Haut geht, schon funktioniert. Von der Anwendung beim Menschen sind die Forscher allerdings noch weit entfernt. Selbst eine Mini-Dosis von nur zehn Milligramm pro Tag würde sich bei längerem Einsatz auf ein Wirkstoffdepot von durchaus spürbaren 300 Milligramm Gewicht pro Monat summieren. Außerdem müsste ein solcher Chip ja nicht nur eingesetzt, sondern auch chirurgisch wieder entfernt werden. „Damit diese Technik Zukunft hat, brauchen wir hoch potenzierte Wirkstoffe und biologisch abbaubare Mikrochips, die sich nach Gebrauch im Körper von selbst zersetzen“, sagt Ausborn, und es ist ihm anzusehen, dass ihn die Möglichkeiten der Zukunft faszinieren. Vorher gilt es für ihn allerdings noch eine andere Aufgabe zu lösen: „bioverfügbare Proteine“, sie sind seine größte Herausforderung. Dahinter verbirgt sich das Ziel, Proteine in Pillen zu packen, was überraschend profan klingt, schließlich Schuhe in der Schleuse: vor dem Reinraum beim Pharmakonzern Hoffmann-La Roche 73 Das Gesundheitswesen in Zahlen Arzneimittel apothekenpflichtig frei verkäuflich Jahr vor Christus, in dem die bisher älteste gefundene Arznei-Rezeptesammlung vermutlich erstellt wurde: Jahrhundert nach Christus, in dem Stätten der professionellen Arzneimittelzubereitung aufkamen: Jahr, in dem der Beruf des Arztes und der des Arzneimittelherstellers erstmals juristisch unterschieden wurden: Pro-Kopf-Ausgaben inklusive Mehrwertsteuer für Arzneimittel in Deutschland im Jahr 1999, in Euro: Pro-Kopf-Ausgaben inklusive Mehrwertsteuer für Arzneimittel in Deutschland im Jahr 2010, in Euro: 3000 9 1241 339 525 Hier erforschen und entwickeln die Biochemiker ihre Rezepturen. In diesem Raum werden speziell Pulver analysiert. Die derzeit größte Herausforderung: eine Proteinpille. An dieser Aufgabe sind bisher noch alle Galeniker gescheitert. 74 schluckt jeder von uns jeden Tag Proteine in Form von Nüssen, Fleisch, Milchprodukten oder Fisch. Für einen Galeniker jedoch, sinniert Ausborn, seien Proteine in Tablettenform „so etwas wie der Heilige Gral“. Aufgrund ihrer Größe und Oberfläche kann der menschliche Verdauungstrakt Proteine nämlich nicht absorbieren. Magen und Darm sitzen deshalb voller hochwirksamer Enzyme, die Proteine in ihre kleinsten Bestandteile zerlegen. Dasselbe würden sie auch mit Insulin anstellen, das als Peptid zur Familie der Proteine gehört und dabei seine Wirksamkeit verlöre. Für eine Proteinpille müsste also eine widerstandsfähige Darreichungsform gefunden werden, die zunächst den Enzymangriff schadlos übersteht, um danach irgendwie durch die Darmwand in den Blutkreislauf zu gelangen und dort noch ihre Wirkung zu entfalten. Die Aufgabe ist so vertrackt, dass bisher alle Galeniker an ihr gescheitert sind. Michael Ausborn aber hält es durchaus für denkbar, dass der Geniestreich noch während seiner aktiven Berufszeit glücken könnte, was eine enorme Erleichterung für Millionen Patienten in aller Welt wäre. Zuckerkranke könnten ihr Insulin künftig einfach schlucken, statt es sich täglich selbst spritzen zu müssen. Kinder, denen der Arzt Wachstumshormone spritzt, könnten sie in Pillenform nehmen, auch Osteoporosepatienten bliebe der regelmäßige Gang zum Arzt erspart. Überflüssig zu erwähnen, dass in diesem Durchbruch nicht nur eine medizinische Sensation, sondern auch ein potenzielles Milliardengeschäft steckt. Man könnte auch sagen: Proteine in Pillenform sind der größte derzeit bekannte Backstein. 7 Zahl der veröffentlichten Patentanmeldungen und -erteilungen zu Arzneimitteln in Deutschland durch deutsche Anmelder im Jahr 2007: Zahl der veröffentlichten Patentanmeldungen und -erteilungen zu Arzneimitteln in Deutschland durch deutsche Anmelder im Jahr 2010: Durchschnittliche Dauer von der Entwicklung bis zur Zulassung eines Medikaments, in Jahren: Maximale Patentlaufzeit, die einem pharmazeutischen Hersteller für ein neu entwickeltes Medikament in Deutschland gewährt wird, in Jahren: Maximale Zahl der Jahre, die sich an den Grundpatentschutz eines Arzneimittels durch die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats anschließen können: Preis des Rheumamittels Humira in Deutschland im Juni 2010, in Euro pro Verpackungseinheit: Preis des Rheumamittels Humira in Schweden im Juni 2010, in Euro pro Verpackungseinheit: Betrag, den der Humira-Hersteller nach Abzug von Handelsanteil, Steuer und Rabatten im Juni 2010 in Schweden erhält, in Euro: Betrag, den der Humira-Hersteller nach Abzug von Handelsanteil, Steuer und Rabatten im Juni 2010 in Deutschland erhält, in Euro: Aufschlag, den deutsche Kassen für dieses Arzneimittel im Vergleich zu Schweden zahlen, in Prozent: Durchschnittlicher Aufschlag, den deutsche Kassen im Jahr 2010 im Vergleich zu Schweden zahlen (errechnet für die 50 umsatzstärksten Arzneimittel), in Prozent: Mehrwertsteuersatz Mehrwertsteuersatz Mehrwertsteuersatz Mehrwertsteuersatz in Deutschland, in Prozent: in Schweden, in Prozent: auf verschreibungspflichtige Arzneimittel in Deutschland, in Prozent: auf verschreibungspflichtige Arzneimittel in Schweden, in Prozent: 1956 1214 12 20 5 1919 1149 1109,6 1293,4 16,5 4,5 19 25 19 0 75 Der Glücksfall Es ist der Stoff, ohne den sich Forscherideen nicht in Arzneien verwandeln: „Venture Capital“ wird es im Pokerspieler-Land USA genannt. „Risikokapital“ schimpft es sich im zaudernden Sparkassen-Deutschland. Entsprechend rar ist solches Geld in Deutschland. Und vielen BiotechFirmen hierzulande wäre längst die Luft ausgegangen, wenn es nicht wagemutige Unternehmer wie den SAP-Gründer Dietmar Hopp gäbe. In den vergangenen sieben Jahren hat der Multimilliardär rund 800 Millionen Euro in 17 Biotech-Unternehmen investiert. Ein Glücksfall für die Branche, der allerdings auch verschleiert, dass viele teuer erforschte Ideen in Deutschland nicht zu Medikamenten werden können, weil Kapital und Strukturen flächendeckend fehlen. Woran das liegt und was es langfristig für die Branche und den Standort bedeutet, diskutieren prominente Vertreter der deutschen BiotechIndustrie: Diplom-Ingenieur Dietmar Hopp, Biotech-Experte Friedrich von Bohlen und Halbach und Rechtsanwalt Christof Hettich. Interview: Sascha Karberg Fotos: Hartmut Naegele Christof Hettich, Dietmar Hopp und Friedrich von Bohlen und Halbach (v.l.n.r.) 76 77 3 Herr Hopp, von anfangs hundert Medikamentenkandidaten in der klinischen Phase I wird in der Regel nur eines zugelassen. Pro neuartigem Wirkstoff fallen – je nach Schätzung – Kosten von wenigen Hundert Millionen bis mehr als eine Milliarde Dollar an. Gleichzeitig drückt die Politik auf die Arzneimittelpreise, und Blockbuster-Medikamente, die jährlich Milliarden einspielen, werden immer seltener. Warum investieren Sie ausgerechnet in eine so riskante Branche? Hopp: Wenn mir vor sieben Jahren jemand gesagt hätte, dass nur jeder hundertste Wirkstoffkandidat eine Chance hat, ins Ziel zu kommen, wäre ich vermutlich abgeschreckt worden. Aber ich bin nicht so pessimistisch gewesen, weil ich Experten an meiner Seite habe, die aus den vielen Möglichkeiten hoffentlich die richtigen ausgewählt haben. Wir investieren zurzeit in 15 Firmen, und wenn wir zwei bis vier davon zum Erfolg führen können, dann bekomme ich wahrscheinlich mein Geld wieder, vielleicht sogar ein bisschen mehr. Aber darüber hinaus habe ich wertvolle Arbeitsplätze in Deutschland und in der Schweiz geschaffen – und vielleicht auch bessere Medikamente zur Verfügung gestellt. „In Deutschland hat sich die Eichhörnchenmethode entwickelt.“ Dietmar Hopp Sie sind 2004 in die Branche eingestiegen, also lange nachdem viele Investoren mit dem Platzen der Biotech-Blase 2001 hatten lernen müssen, dass mit Medikamentenentwicklung kein schnelles Geld zu verdienen ist. Hat Sie das nicht auch abgeschreckt? Hopp: Die Zeit, in der die pure Idee eines Forschers an der Börse einen Wert hatte, war in der Tat schon vorbei. Es war Ernüchterung eingetreten. Und die Biotech-Unternehmer, die damals Geld brauchten, waren realistisch. Ich bin aber auch neugierig. Herrn Bohlen habe ich vor zehn Jahren auf einer Geburtstagsfeier kennengelernt, wo wir beide Vorträge gehalten haben. Bei mir ging es um die Zukunft der Software, das Fernsteuern des Kühlschranks vom Handy aus, er hat über die Zukunft der Medizin, über personali sierte Medizin gesprochen. Das hat mich begeistert, und so sind wir ins Gespräch gekommen. Aus Ihrer Begegnung entstand die dievini Beteiligungsgesellschaft. Alle Unternehmen, in die dievini investiert, sind in einer 30 Jahre alten Branche, der es bislang nur ein einziges Mal gelungen ist, aus einer Idee eines deutschen Forschers ein Medikament auf den Markt zu bringen. Das ist mutig. 78 Bohlen: Dass deutsche Biotech-Unternehmen bislang kaum Erfolge vorweisen konnten, hat zwei Ursachen. Zum Teil fehlt es an Kapital. Vor allem aber mangelt es am Verständnis. Die Entwicklung von Medikamenten wurde hierzulande bisher viel zu sehr auf schnelle Erfolge hin geplant. Wer eine Medikamentenentwicklung beginnt, muss gewisse Laufzeiten, Studiengrößen, Regulierungen und insbesondere einen entsprechenden Kostenrahmen akzeptieren. Wenn ich die Geduld und das Geld nicht habe, ist es weiser, gar nicht erst anzufangen, als mit wenigen Mitteln zu starten und dann zu hoffen, dass es schon irgendwie gut gehen wird. In der Arzneimittelentwicklung geht es eben nicht irgendwie gut. Wir müssen es gut werden lassen. Das dauert, das kostet, und beides mussten wir in Deutschland erst mühsam lernen. Die Erwartung schneller Resultate, die Fehleinschätzungen der Möglichkeiten und das vielfache Scheitern, das in der Natur der Sache liegt, haben den Optimismus von Investoren zusätzlich gedämpft – und dann die ganze Biotech-Branche in eine Negativ-Spirale geführt. Trotzdem birgt das Geschäft enorme Chancen: Der Antikörper Avastin, den die US-Biotech-Firma Genentech (heute ein Teil des Roche-Konzerns) entwickelt hat, spielte 2010 mehr als sechseinhalb Milliarden Dollar Umsatz ein. Und Geld für Investitionen hätten wir hierzulande doch genug. Weshalb also scheuen wir das Risiko? Hopp: Zweimal wurde Deutschland arg gebeutelt: durch Inflation und totale Geldentwertung. Da hat sich, anders als in den USA, wo es Vergleichbares so noch nicht gab, eine andere Mentalität entwickelt – die Eichhörnchenmethode. Der Deutsche vergräbt sein Geld lieber an sicherer Stelle für Notzeiten, als es riskant, aber gewinnträchtig zu investieren? Hopp: Genau. Wobei man fairerweise sagen muss, dass es in Relation zu den USA hierzulande auch nicht so viele reiche Menschen gibt, die genug Geld übrig haben, um in derart risikoreiche Unternehmungen zu investieren. Daneben ist es in den Vereinigten Staaten ganz normal, in die Selbstständigkeit zu gehen. Bei uns muss man sich diesen Schritt reiflich überlegen, weil Scheitern ein gesellschaftlicher Makel ist. Für die Branche ist das schwierig. Kultur und Mentalität sorgen dafür, dass immer weniger in die Medikamentenentwicklung investiert wird, was deren Erfolgsaussichten weiter schmälert. Ein Teufelskreis, den sich fremde Kapitalgeber zunutze machen: Zwei Drittel des Risikokapitals deutscher Biotech-Firmen stammen mittlerweile schon aus dem Ausland. Hettich: Auf Dauer ist das fatal, aber es stimmt schon: In Deutschland betreibt man eher Risikovermeidung – und für Bohlen: Unsere Investitionen haben klare Meilensteine. Mitte dieses Jahres erwarten wir zum Beispiel die Ergebnisse einer Phase-III-Studie der Agennix AG, und Ende des Jahres wird die Wilex AG Phase-III-Daten präsentieren. Wenn diese Ergebnisse positiv sind, dann besteht allein darin ein Wert, der sich über Partnerschaften mit großen Pharmafirmen auszahlen kann. Dann ginge ein Pharmakonzern beispielsweise mit der Hopp’schen Biotechfirma Agennix für eine Summe X eine Partnerschaft ein, um das Lungenkrebsmedikament Talactoferrin vermarkten zu können? Dietmar Hopp (71) stammt aus Hoffenheim, hat Nachrichtentechnik studiert und war Mitgründer der SAP AG. Neben seinen derzeitigen Investment-Tätigkeiten hat er eine Stiftung ins Leben gerufen und engagiert sich auch sportlich stark: Er ist Mäzen der TSG Hoffenheim. Risikobereitschaft wird man bestraft. Das betrifft den Finanzmarkt genauso wie die staatlichen Fördermaßnahmen und die öffentliche Meinung. Deshalb funktioniert die Medizintechnik in unserem Land auch recht gut: Sie ist zwar nicht so innovativ und lukrativ, dafür aber weniger riskant. Aber Medikamentenentwicklung ist nun einmal ausgesprochen schwer planbar. In Ländern wie den USA ist die Bereitschaft, ein höheres Risiko für einen höheren Ertrag einzugehen, einfach größer. Es ist ja bezeichnend, dass mehr als die Hälfte aller Biotech-Investitionen im Jahr 2010 in Deutschland von Unternehmerpersönlichkeiten wie Herrn Hopp oder den Hexal-Gründern Andreas und Thomas Strüngmann stammen. Totale Abhängigkeit von zwei, drei risikobereiten Gönnern – das kann doch wohl kein Konzept für eine nachhaltige Medikamentenentwicklung in Deutschland sein? Hopp: Die Hoffnung ist, dass der Investitionstopf sich wieder füllt für Re-Investitionen, sodass ein Mittelkreislauf entsteht, der letztlich der gesamten deutschen Biotech zugute kommt. Aber wenn aus 15 Investments null herauskommen sollte, dann ist tatsächlich Ende der Fahnenstange. Haben Sie den Zeitpunkt für dieses Ende schon definiert? Hopp: Nein, aber auch meine Mittel haben natürlich Grenzen, und die gehen nicht wesentlich über die bis jetzt aufgewendeten 800 Millionen hinaus. Bohlen: Das wäre eine Möglichkeit. Wir müssen einen Medikamentenkandidaten ja nicht allein auf den Markt bringen, sondern nur so weit entwickeln, bis Pharmafirmen wie Bayer, Novartis oder Pfizer Interesse zeigen, uns ein Projekt zu einem vernünftigen Preis abzukaufen. Unser Ziel ist es nicht, eigenständige Pharmafirmen aufzubauen. Wir wollen vielversprechende Ideen bis zur Produktreife entwickeln. Und das benötigt einen bestimmten Zeithorizont. Wenn eine Medikamentenentwicklung 10 bis 15 Jahre dauert, dann haben wir jetzt mit sieben Jahren Halbzeit. Und wir gehen davon aus, in den nächsten ein, zwei Jahren jene Erfolge zu erzielen, mit denen sich das Portfolio wieder auffüllen lässt. Dann hätten wir ein perpetuierendes Modell, das zwar nicht die ganze deutsche Biotech wird tragen können. Aber es macht vielleicht anderen Investoren neuen Mut, wieder in die Medikamentenentwicklung einzusteigen. Um mit anderen Nationen mithalten zu können, brauchen wir allerdings eine ganz gehörige Portion Mut. In den USA haben Venture-Capital-Gesellschaften im vergangenen Jahr 4,7 Milliarden Dollar in Biotech-Unternehmen investiert. In Deutschland flossen im Jahr 2011 nur knapp 150 Millionen Euro. Sieht ganz so aus, als passten deutsches Risikokapital, kurzfristige Renditeerwartungen und langwierige Medikamentenentwicklung einfach nicht zusammen. Hopp: Wäre ich vor sieben Jahren Manager eines VC-Fonds gewesen und hätte mich rechtfertigen müssen, dann hätte ich wohl auch nicht in Biotech investiert. Risikokapitalgeber machen den Fehler, dass sie die Horizonte zu eng wählen. Nur fünf Jahre bis zur Rentabilität zu veranschlagen ist für Biotech-Investitionen einfach zu kurz. Wer das Thema wirklich ernst nimmt, muss andere Laufzeiten ansetzen. Bohlen: Ein Medikament gegen eine bestimmte Krankheit zu entwickeln dauert eine bestimmte Zeit und hat einen ganz bestimmten, unverhandelbaren Preis. Dasselbe Ziel mit nur der Hälfte des Geldes erreichen zu wollen – das ist, als schickte man ein halb voll getanktes Flugzeug über den Atlantik. 79 Herr Hopp versteht das, obwohl er nicht aus der Branche kommt. Aber der Investmentmanager eines Risikokapitalfonds hat nun mal seine Investoren im Hintergrund, die jeden Tag anrufen und fragen, wo ihr Geld bleibt. In so einer Situation ist es natürlich schwierig, noch einmal eine Million zuzuschießen, um eine Studie abschließen zu können. Unsere Aufstellung ist schon ein großes Privileg. Das muss aber trotzdem nicht heißen, dass Risikokapital und Medikamentenentwicklung nicht zusammenpassen. Die VC-Fonds müssen sich verändern. Bohlen: Es kommt noch ein Problem hinzu. Früher gab es ein ungeschriebenes Gesetz: Die guten Ergebnisse einer Phase-II-Studie bedeuteten, dass das Projekt im Grunde sicher an ein Pharmaunternehmen verkauft war. Heute bekundet ein Unternehmen zwar noch Interesse, wartet aber lieber die Phase III ab, bevor es investiert. Und darauf sind VC-Gesellschaften nun überhaupt nicht vorbereitet. Denn die Phase III kostet ja rund das Doppelte von all dem, was die Medikamentenentwicklung bis dahin schon gekostet hat. Das hebelt das klassische VC-Modell endgültig aus. Hettich: Ein Beispiel aus unserem Portfolio: Die Phase-IIIStudie des Lungenkrebsmedikaments der Agennix AG dauert drei Jahre, von der Vorbereitung der Studie, über die Laufzeit bis zur Nachbearbeitung. Eher sogar etwas mehr, bis die Früchte der Arbeit geerntet werden können. Und das ist nur die Phase III. Auch die gesamte Entwicklung von der Präklinik über Phase I und II hat mehr als fünf Jahre gedauert. Wie soll das funktionieren mit einer VC-Fonds-Laufzeit von insgesamt nur fünf Jahren? Soll man dann mitten in einer solchen Studie aussteigen? Zu einem Zeitpunkt, an dem man nur halbe oder noch gar keine Ergebnisse hat? Aber wie kann es sein, dass Pharmafirmen nicht mehr kaufen wollen, was sich in Phase II, also der ersten Wirksamkeitsprüfung, bewährt hat? Die Firmen suchen doch eigentlich händeringend nach neuen Wirkstoffen. Die Fragen stellen sich anderswo doch auch. Sind die Wagniskapitalgeber in den USA denn geduldiger? Bohlen: Die Bostoner Biotechfirma Vertex Pharmaceuticals hat 20 Jahre gebraucht, um am Markt erfolgreich zu sein. Da sind insgesamt rund zwei Milliarden VC-Gelder geflossen. Die Antwort auf die Frage lautet also: ja. Allerdings ist das Risikokapitalvolumen in den USA ungleich größer als in Deutschland. In der Nähe des Silicon Valley gibt es eine Straße, die Sand Hill Road in Menlo Park, in der Dutzende VC-Gesellschaften nebeneinander residieren. Bohlen: Es ist aber so: Die Pharmaindustrie gibt heute lieber viel Geld aus für ein kaum noch riskantes Projekt, das alle Studien bestanden hat und kurz vor der Zulassung steht, als dass sie ein Zehntel des Geldes in ein Projekt mit 20 Prozent Restrisiko investiert. Deshalb suchen die Unternehmen hierzulande inzwischen ihr Heil woanders. Die Münchner MorphoSys oder die Hamburger Evotec haben sich auf Auftragsforschung verlegt – also klar umrissene Serviceleistungen wie zum Beispiel das Entwickeln und Produzieren von Antikörpern gegen ein bestimmtes Zielmolekül. Damit generieren sie immerhin Umsatz und hoffen so, langfristig ihre Medikamentenentwicklung finanzieren zu können. Ist das eine gangbare Strategie? Friedrich von Bohlen und Halbach (49) hat Biochemie, Neurobiologie Verhältnisse wie diese werden wir hierzulande vermutlich nie haben. Dann ist es ja vielleicht nur konsequent, wenn sich die wenigen deutschen Geldgeber sukzessive aus der BiotechBranche zurückziehen. Hopp: Nicht unbedingt. Man könnte mehr selektieren. Vor allem aber müsste man seinen Finanzpartnern viel deutlicher sagen, dass es Investitionen gibt, bei denen man einen längeren Atem braucht, an deren Ende dann aber durchaus Früchte zu ernten sind. Mir war von Anfang an klar, dass ich in meinem Lebenshorizont nicht mehr alle Früchte würde ernten können – wenn es denn welche zu ernten gibt, was ich natürlich hoffe. Deshalb freue ich mich über positive Nachrichten, bin aber nicht zu enttäuscht über negative, weil ich weiß, dass längst nicht jedes Projekt durchkommen kann. 80 Bohlen: Alle Beispiele, auch die genannten, zeigen, dass man mit einem Servicegeschäft keine Medikamentenentwicklung finanzieren kann. Die Margen sind einfach zu gering. Um eine Phase-III-Studie finanzieren zu können, brauche ich pro Monat gut und gerne mindestens zwei Millionen Euro. Die lassen sich mit 70 Millionen Euro Umsatz im Jahr nun einmal nicht generieren. Service und Medikamentenentwicklung zu kombinieren funktioniert aber auch deshalb nicht, weil man jeweils ganz andere Experten braucht. Ein Serviceunternehmen ist ein kostenoptimiertes, durchgetaktetes, prozessorientiertes Unternehmen. Bei einem forschenden Arzneimittelunternehmen steht eher der Umgang mit den klinischen Zentren, mit den Zulassungsbehörden im Vordergrund. Beides zu kombinieren würde bedeuten, man hätte zwei völlig unterschiedliche Unternehmen unter einem Dach, und das trauen sich nicht einmal große Pharmafirmen wie Novartis oder Pfizer. Aber verständlich ist die Entwicklung schon: Die Kapitalsituation in Deutschland zwingt Unternehmen mitunter dazu, sich auf den Service zu konzentrieren und die Medikamentenentwicklung hintanzustellen. „Von mir aus können alle öffentlichen Fördermittel gestrichen werden.“ Friedrich von Bohlen und Halbach tionen einsetzen ließe. Das wäre dann auch ein finanzieller Durchbruch, und zwar für das gesamte dievini-Portfolio. Die Logik der Industrie erschließt sich dennoch nicht. Einerseits haben sich die Pharmakonzerne aus der frühen Medikamentenentwicklung weitgehend zurückgezogen und verlassen sich auf junge Biotech-Firmen. Auf der anderen Seite stammt die Hälfte der Risikokapitalinvestitionen in deutsche Biotech-Firmen von Fonds der Großen wie Sanofi, Novartis oder Pfizer. Wie ist das zu erklären? Bohlen: Sie haben recht. Eigentlich ist es absurd, dass Pharmafirmen Fonds gründen, die in Biotech-Firmen investieren. Denn damit geben sie ja in gewissem Sinne zu, dass sie die Innovationskraft außerhalb ihrer Firmen für größer halten als innerhalb. Es ist natürlich trotzdem gut, dass es diese Pharma-Fonds gibt. Einfach deshalb, weil es nun mal kaum andere Finanzierungsquellen gibt. Daneben betreiben die Konzerne mit diesen Investitionen auch Scouting, sodass einige Biotech-Firmen schon früh auf dem Radar der Konzerne erscheinen und so Kontakte für spätere Partnerschaften entstehen können. Können auch öffentliche Gelder helfen, junge, attraktive Kandidaten so fit zu machen, dass Pharma anschließend zugreift? Nun hat ja nicht jede Medikamentenentwicklung ein gleich hohes Risiko. Projekte, in denen bewährte Wirkstofftypen wie zum Beispiel Antikörper entwickelt werden, müssten doch eher Investoren finden als Projekte mit neuartigen, bislang kaum getesteten Substanzen wie etwa die Erbgutmoleküle RNA oder DNA? Bohlen: Von mir aus können alle öffentlichen Fördermittel gestrichen werden. Die Politik könnte viel Intelligenteres tun, indem sie die steuerliche Abschreibung auf Investitionen in die Medikamentenentwicklung wiederherstellt. Das ist uns gestrichen worden und einer der Gründe, weshalb es so wenig Risikokapitalinvestitionen in Deutschland gibt. Wenn in Hochrisikobranchen wie der Biotechindustrie die Verluste steuerlich nicht mehr geltend gemacht werden können, dann ist die Motivation zu investieren begrenzt. Das zu ändern wäre viel wichtiger als Fördergelder. Bohlen: Wir haben sowohl das eine als auch das andere in unserem Portfolio – ganz bewusst. Aber wir haben überwiegend in innovative Projekte investiert, wie sie die CureVac GmbH und immatics GmbH, die AC Immune SA, die Agennix AG und die Apogenix GmbH verfolgen. Diese Firmen entwickeln völlig neue Typen von Medikamenten, sogenannte First-in-Class-Wirkstoffe. Und weil diese Ideen noch niemand vorher getestet hat, gehen sie natürlich mit viel höheren Risikoprofilen einher. Wir haben mit Dietmar Hopp aber jemanden, der dieses Risiko mitgeht. Denn wenn so ein Ansatz durchkommt, dann ist man ganz vorn mit dabei. Sollten sich zum Beispiel die RNA-Impfstoffe der CureVac bewähren, dann kann das ein deutsches Genentech werden, ein Multi-Milliarden-Unternehmen, denn damit wäre erstmalig eine Produktklasse eingeführt, die sich in zahllosen Indika- Hettich: Es ist das Natürlichste der Welt, dass Gewinne gegen Verluste verrechenbar sind. Das ist die Grundidee des Steuersystems. Aber die wird in Deutschland kaputt gemacht – wenn auch mit einer guten Intention: Der Gesetzgeber will verhindern, dass sich Investoren bei einem Gesellschafterwechsel in ein Unternehmen nur einkaufen, um sich dessen Verlustvorträge für andere, gewinnbringende Aktivitäten zu beschaffen. Eigentlich eine prima Idee, aber die Biotech-Industrie funktioniert nun mal nur über Finanzierungsrunden. Und bei jeder Runde kommt mindestens ein neuer Gesellschafter hinzu, sodass über einen Zeitraum von zehn Jahren ständig neue, sich ergänzende Gesellschafterkreise entstehen. Weil das deutsche Steuerrecht die Verlustvorträge aus den ersten Finanzierungsrunden aber nicht mehr akzeptiert, wird die deutsche Biotech-Branche international benachteiligt. und Betriebswirtschaft studiert. Er ist ein Neffe von Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, dem letzten Chef der Krupp-Werke. Zusammen mit Christof Hettich führt er bei dievini die Geschäfte. 81 Christof Hettich (52) ist promovierter Jurist und gründete zusammen mit Dietmar Hopp und Friedrich von Bohlen die Beteiligungsgesellschaft dievini, die in Life und Health Sciences investiert. Im Portfolio sind Biotech-, Medizintechnik- und Bioinformatikunternehmen. Große Pharmafirmen haben dieses Problem nicht: Sie können die Verluste aus der Entwicklung immer mit Gewinnen aus laufenden Geschäften gegenrechnen. Statt neue Förderprogramme aufzulegen, muss die Politik endlich begreifen, dass das System nicht mehr stimmt. Eigentlich passen Biotech und Pharma als wissensgetriebene Industrien ideal zu Deutschland. Tatsächlich geht die Wertschöpfung spätestens in Phase III einer Medikamentenentwicklung ins Ausland. Diesen Verlust holt man nicht mit Fördergeldern auf, sondern nur mit grundsätzlich anderen Strukturen. Welche Auswirkungen haben AMNOG- und ZwangsrabattPolitik auf Investitionen? Bohlen: Produkte, die einen eindeutigen Vorteil für den Patienten haben, betreffen die Änderungen ja im Grunde nicht. Diese Gesetze sind die Reaktion auf eine Situation, in der neue Medikamente nur marginale Vorteile bringen, wie der x-te Antikörper, der lediglich noch einmal einen halben Monat Überlebensvorteil bringt. Hettich: Ich halte das Desinteresse für viel bedenklicher als die jüngsten Gesetzesvorstöße. Bislang hat sich noch kein Politiker die Zeit genommen, mit uns die Bedingungen der deutschen Biotech-Industrie und die Bedingungen für die Entwicklung neuer Medikamente zu diskutieren. Stattdessen werden mit Studien von Beratungsunternehmen wie McKinsey, die kein Geld investiert haben, Urteile über die Industrie gefällt. Mit den Akteuren selbst hingegen wird nicht geredet. 82 Wir wollen weder Geld noch Zuschüsse. Aber wenn ich Gesundheits- oder Wirtschaftsminister wäre, würde mich schon interessieren, wie die deutsche Biotech-Industrie funktioniert. Ich würde wissen wollen, wie Investitionsanreize wirken, welche Potenziale diese Industrie hat und welche Auswirkungen sie auf andere Branchen haben kann. Wir haben viel Geld investiert und wichtige Erfahrungen gesammelt, zum Teil auch bittere, die für politische Strukturentscheidungen interessant wären. Aber nicht wir werden gefragt, sondern Verbände oder der Vorsitzende der Geschäftsleitung von Boehringer Ingelheim, der aber ganz andere Herausforderungen hat als ein Biotech-Start-up. Die Politik tut viel, um Forschungseinrichtungen mit Geld auszustatten und die Wissenschaft zu stärken. Das ist gut so, aber nur der erste Schritt. Wir brauchen auch Schritt zwei und drei. Wir brauchen eine industrielle Basis, um Wissen in wirtschaftlichen Erfolg umzusetzen, sonst gibt es diese Industrie in Deutschland bald nicht mehr. „Mit den Akteuren der Biotech-Branche wird nicht geredet.“ Christof Hettich Bohlen: Ich habe manchmal das Gefühl, wir kämpfen hier wie Asterix und Obelix. Wir sind umgeben von Legionen, die weder verstehen, welche Auswirkungen die Steuerpolitik auf die Medikamentenentwicklung hat, noch wissen, wo Fördergelder sinnvoll eingesetzt werden können oder dass sich das Gesundheitssystem im Umbruch hin zu einer personalisierteren Medizin befindet. Das ist mitunter schon befremdlich. Trotzdem bin ich optimistisch: Die Asterix-Geschichten gehen ja eigentlich immer gut aus. Das Gesundheitswesen in Zahlen Gesundheitsausgaben & Finanzierung Gesundheitsreform Gesundheitsreform Gesundheitsreform Gesundheitsreform Zahl der Gesundheitsreformen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949: Davon in den vergangenen zehn Jahren: Jahr, in dem das Wort „Gesundheitsreform“ zum Wort des Jahres in Deutschland gewählt wurde: Jahr, in dem das Wort „Gesundheitsreform“ zum Unwort des Jahres in Deutschland nominiert wurde: Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland im Jahr 2009, in Milliarden Euro: Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP im Jahr 2009, in Prozent: Gesamtausgaben für Gesundheit in Deutschland im Jahr 1999, in Milliarden Euro: Gesamtausgaben für Gesundheit in Deutschland im Jahr 2009, in Milliarden Euro: Anstieg der Ausgaben für Gesundheit in Deutschland zwischen 1999 und 2009, in Prozent: Anstieg des BIP in Deutschland zwischen 1999 und 2009, in Prozent: 16 7 1988 1996 2397,1 11,6 207,4 278,4 34,2 25,2 Mit Dietmar Hopp haben Sie – in finanzieller Hinsicht – aber auch so etwas wie einen Zaubertrank. Was macht die deutsche Biotech, wenn dieser Kelch mal leer ist? Anteil der gesetzlichen Krankenversicherungen an den Gesamtausgaben für Gesundheit im Jahr 2009, in Prozent: Anteil der privaten Krankenversicherungen an den Gesamtausgaben für Gesundheit im Jahr 2009, in Prozent: Anteil der privaten Haushalte an den Gesamtausgaben für Gesundheit im Jahr 2009, in Prozent: 57,8 9,3 13,5 Bohlen: Ich bin mir dessen sehr bewusst: Die Aufstellung, die wir mit der dievini genießen, ist in vielerlei Hinsicht ein Glücksfall. Für die 15 Unternehmen und natürlich auch für mich ganz persönlich. Es kann auch einer für die vielen Patienten werden, für die diese Firmen die Medikamentenkandidaten entwickeln. Es ist hoffentlich bald ein finanzieller Glücksfall für Dietmar Hopp. Und wenn es am Ende auch noch ein Glücksfall für die deutsche Biotech-Branche wäre – herzlich gerne. 7 Ausgaben für ärztliche Leistungen in Deutschland im Jahr 1999, in Milliarden Euro: Ausgaben für ärztliche Leistungen in Deutschland im Jahr 2009, in Milliarden Euro: Anstieg der Ausgaben für ärztliche Leistungen in Deutschland zwischen 1999 und 2009, in Prozent: 55,7 75,9 36,2 Ausgaben für Arzneimittelversorgung in Deutschland im Jahr 1999, in Milliarden Euro: Ausgaben für Arzneimittelversorgung in Deutschland im Jahr 2009, in Milliarden Euro: Anstieg der Ausgaben für Arzneimittelversorgung in Deutschland zwischen 1999 und 2009, in Prozent: 30,5 45,2 48,2 Anteil der Bundesbürger, die annehmen, dass durch die Gesundheitsreform im Jahr 2010 die Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems langfristig gesichert ist, in Prozent: Anteil der in Deutschland tätigen Ärzte, die annehmen, dass durch die Gesundheitsreform im Jahr 2010 die Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems langfristig gesichert ist, in Prozent: 10 2 83 2.054.658 785 5.520.258. 4.250.45 65.469 8.007.05 45.786.748. 4.250.45 45.786.748. 5.786.748. 84 Kann das auch explodieren? Die Kosten im Gesundheitssystem steigen kontinuierlich. Immer weniger Beitragszahler, immer höhere Beiträge. Kann das auf Dauer gut gehen? Und wo führt das hin? Schauen wir mal. Text: Ralf Grötker 1. BEGRIFFSSTUTZIG Es war schon damals eine ziemlich beeindruckende Zahl: Durchschnittlich 143 000 Euro Gesundheitskosten würde jeder neugeborene männliche Säugling im Laufe seines Lebens verursachen. Die Summe stammt aus dem Jahr 1992, wir rechneten noch in der alten Währung, und knapp 280 000 D-Mark waren seinerzeit gewaltig. Inzwischen hat sich ja nicht nur der Deutsche an größere Summen gewöhnt. Aber die aktuelle Zahl hat es in sich: Jeder Junge, der heute auf die Welt kommt, wird das System über die Jahre im Schnitt etwa 264 500 Euro kosten. Wenn Politiker und Ökonomen heute mit Ziffern wie diesen hantieren, verknüpfen sie ihre Analysen und Prognosen gern mit dem schönen Wort Kostenexplosion, ohne das man hierzulande über Gesundheit oder Krankheit eigentlich gar nicht mehr redet. Klingt ja auch logisch. Wenn die Kosten alle zwanzig Jahre um 80 Prozent steigen, kann sich schließlich jeder leicht ausrechnen, wohin das führt. Aber ist die Rechnung wirklich so einfach? Und falls ja: Was bedeutet das für die Zukunft? Werden wir künftig nicht mehr rundum mit Versorgung rechnen können? Wird das medizinisch Notwendige an Arzneimitteln und Behandlungen für einen Großteil der Bürger womöglich gar nicht mehr zur Verfügung stehen? Werden wir sogar „explizite Prioritäten setzen“ müssen, wie es die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2007 in einem Gutachten forderte? Glaubt man der Politik, ist die Antwort klar: Nein, das werden wir nicht. „Eine Prioritätenliste für medizinische Leistungen wird es nicht geben“, verkündete 2009 SPD-Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Ihr Nachfolger Philipp Rösler erklärte, dass er eine „Rangfolge“ von medizinischen Leistungen mit seinen ethischen Vorstellungen als Arzt nicht in Einklang bringen könne: „Keine Abstufung, Rangfolge oder Rationierung.“ Nicht anders Daniel Bahr. Der Bundesminister für Gesundheit hat die Sache klargestellt: „Die Finanzierung des Gesundheitswesens muss so stabil gestaltet werden, dass Debatten über eine Rationierung oder Priorisierung unnötig werden.“ Was das konkret bedeutet, soll ein Anruf im Bundesgesundheitsministerium klären. Doch die Auskunft des zuständigen Pressereferenten erweist sich als wenig hilfreich. Im Grunde, gibt der Mann allen Ernstes zu Protokoll, kümmere man sich in Berlin nur um die Gesundheitspolitik für das jeweils kommende Jahr. Das erklärt natürlich vieles, hilft aber wenig bei der Suche nach Antworten, deshalb ist es vielleicht nützlich, sich zunächst einmal die Zahlen anzuschauen. Wir messen die Ausgaben für Gesundheit in Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP), also dem Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die im Land in einem bestimmten Zeitraum produziert werden. Anfang des 20. Jahrhunderts gaben die westlichen Industrienationen kaum mehr als ein Prozent des BIP für ihre Gesundheit aus. 1960 waren es schon 4,5 Prozent. Danach wurde es bedrohlich: In Deutsch85 land und in weiten Teilen Europas konnte man von Mitte der Sechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre zum Teil zweistellige Zuwachsraten im Gesundheitsbereich beobachten. In den Niederlanden waren die Ausgaben innerhalb des Jahrzehnts sogar um 30 Prozent gewachsen. Deutschland steigerte seinen Anteil der Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung am BIP von 3,18 Prozent im Jahr 1963 auf immerhin 5,67 Prozent im Jahr 1975. Es war die Zeit, in der auch der Begriff der „Kostenexplosion“ geboren wurde. 1974 tauchte er erstmals auf, in einem Gutachten mit dem Titel „Krankenversicherungsbudget“, das Heiner Geißler, damals Sozialminister in RheinlandPfalz, vorlegte. Ein Jahr später titelte der Spiegel: „Krankheitskosten: Die Bombe tickt.“ Experten schätzten damals, dass bei Andauer des Trends das gesamte bundesdeutsche Bruttosozialprodukt bis zum Jahr 2019 allein durch die Gesundheitsausgaben ausgeschöpft sein würde. Nun waren in den Siebzigerjahren nicht nur die Ausgaben für die Gesundheit dramatisch gestiegen. Auch der Ölpreis, die Ausgaben des Staates für den Eisenbahnverkehr und die Kosten des deutschen Bildungswesens kletterten deutlich nach oben. Deshalb dauerte es auch nicht lange, und die Aufregung hatte sich gelegt. Gegen Ende des Jahrzehnts entspannte sich die Situation wieder. Die düsteren Prognosen bewahrheiteten sich nicht. Die Beschwörungsformel von der Kostenexplosion ist geblieben. Richtig ist: Inzwischen investieren wir 11,6 Prozent des BIP (2009) in unsere Gesundheit, das sind gut 278 Milliarden Euro jährlich – 3400 Euro pro Kopf. Rund 76 Milliarden davon lassen wir uns ärztliche Leistungen kosten, 65 Milliarden fließen in den Posten „Pflegerische und therapeutische Leistungen“, also in Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, 45 Milliarden Euro geben wir in Deutschland für Arzneimittel aus. Seit einiger Zeit aber schlagen die Experten wieder Alarm, diesmal lauter als je zuvor. In wenigen Jahren, so heißt es, werden wir uns unsere Gesundheit nicht mehr leisten können. Entweder steigen die Kosten und jeder von uns muss direkt (durch höhere Krankenkassenbeiträge) oder indirekt (über höhere Steuern) einen beträchtlichen Anteil seines Einkommens – Experten sprechen von 30 Prozent (die Kosten für Pflege noch nicht eingerechnet) – in seine Gesundheit investieren. Oder wir begrenzen die Leistungen, das heißt: Nicht alles, was medizinisch machbar oder vielleicht angezeigt ist, wird künftig auch verfügbar sein. Das nennt man Rationierung, ganz egal, ob das der dann amtierende oberste Gesundheitshüter mit seinen ethischen Vorstellungen vereinbaren kann oder nicht. Ist das jetzt wieder nur Panikmache? Oder basieren die heutigen Prognosen auf härteren Fakten als lediglich den Zeitkurven der vergangenen Jahre? 86 2. SPURENSUCHE Je nachdem, welches Institut gefragt wird, sieht die Zukunft hierzulande hellgrau, dunkelgrau oder auch schwarz aus. Einigkeit immerhin herrscht in der Frage der Kostentreiber. Danach haben die steigenden Gesundheitskosten zwei wesentliche Ursachen: 1. Der medizinische Fortschritt und damit verbunden die Ausweitung des medizinischen Leistungskatalogs. 2. Der mit dem demografischen Wandel verbundene Rückgang der Einnahmen der Kassen und gleichzeitige Anstieg älterer und behandlungsbedürftiger Menschen. 3. MEHR GELD – MEHR GESUNDHEIT? In den Berechnungen der Experten ist der medizinisch-technische Fortschritt der wichtigste Kostentreiber. Strittig ist, ob mit den steigenden Kosten auch ein höherer Nutzen einhergeht. Die Frage ist zentral, denn wenn uns das Geld, das wir in Medikamente und bessere ärztliche Versorgung investieren, nicht gesünder macht, dann könnten wir uns den Aufwand auch sparen – und das Thema Kostenexplosion wäre endgültig vom Tisch. Einen Hinweis darauf, dass mehr Ausgaben nicht zwangsläufig eine bessere Gesundheit garantieren, liefern die Vereinigten Staaten. Das US-amerikanische Gesundheitssystem ist das mit Abstand teuerste der Welt – und doch bewegt sich die Lebenserwartung der Bürger in den USA deutlich unter dem Niveau von anderen Industrienationen. Viel Geld macht also nicht automatisch gesünder. Das gilt nur leider nicht generell. Denn dieselben statistischen Datensätze, die die Schlusslicht-Position der USA belegen, zeigen auch: In allen OECD-Ländern geht das Wuchern bei technischen und medizinischen Leistungen sehr wohl mit einer steigenden Lebenserwartung einher. Zwischen 1970 und 2003 ist in OECD-Ländern der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP um rund 75 Prozent gestiegen – parallel dazu hat sich die Lebenserwartung um sieben Jahre erhöht. Und der Zuwachs lässt sich ganz konkret an der immer besseren medizinischen Versorgung festmachen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: 1969 wurde hierzulande die erste koronare Bypass-Operation durchgeführt – 2009 zählten wir 162 417 derartige Herzoperationen in Deutschland. Das erste künstliche Hüftgelenk haben deutsche Ärzte 1956 implantiert – im Jahr 2009 wurde rund 160 000 Patienten ein neues Hüftgelenk eingesetzt. 1971 erfolgten die ersten Untersuchungen mit Computer-Tomografen, im Jahr 2009 ist die Zahl auf vier Millionen gestiegen. Auch bei den endoskopischen Untersuchungen ist der Fortschritt belegt: 1983 war hierzulande Premiere, vor drei Jahren wurden allein im stationären Bereich mehr als eine Million Gastroskopien, also Magenspiegelungen, durchgeführt. Können wir uns all diese Hüftgelenke, Bypässe und Endoskopien wirklich sparen, ohne dass sich dadurch die gesundheitliche Versorgung verschlechtert? 4. GESTORBEN WIRD NUR EINMAL Die Zahl der Jungen, die das Gesundheitssystem mit ihren Beiträgen finanzieren, sinkt, die Zahl der Älteren steigt. Und mehr Ältere brauchen mehr Versorgung. Nach jüngsten Berechnungen wird die Gruppe der über 67-Jährigen stark zunehmen. 2008 lebten in Deutschland 14,9 Millionen Menschen dieser Altersklasse, 2020 werden es 16,5 Millionen sein, 2030 soll ihre Zahl auf knapp 20 Millionen steigen. So weit, so unstrittig. Uneinig waren die Beobachter bislang in der Frage, ob die Gesundheitskosten des Menschen über die gesamte Lebenszeit hinweg steigen, wir also für das System teurer werden, je länger wir leben, oder ob nur die Behandlung am Lebensende immer kostspieliger wird. Die rechnerisch willkommenere Variante ist natürlich die Teuerung vor allem zum Lebensende. Denn auch, wenn wir alle länger leben: Gestorben wird nur einmal – sodass sich auch bei einer insgesamt älter werdenden Bevölkerung der Anstieg der Behandlungskosten im Rahmen hielte. Leider hat eine aktuelle Untersuchung auf Basis von 1,2 Millionen privat Versicherten belegt, dass die Rechnung nicht aufgeht. Das Wissenschaftliche Institut der Privaten Krankenversicherungen WIP hat nachgewiesen, dass der Ausgabenanstieg in allen Altersstufen erfolgt. Also keine Entwarnung. Entsprechend düster sind die abgeleiteten Prognosen. Der Baseler Gesundheitsökonom Stefan Felder, auf den sich die AOK in ihrem Versorgungs-Report 2012 stützt, sagt für das Jahr 2050 einen Anstieg der Beitragssätze um 19 Prozent voraus, resultierend allein aus demografischen Faktoren. Folgt man seiner Argumentation, würde das bedeuten, dass wir diese 19 Prozent künftig zusätzlich zum Anstieg durch den medizinisch-technischen Fortschritt schultern müssen. 5. MEHR EFFIZIENZ? Die Behauptung wird immer wieder gern aufgestellt: Eine effizientere Struktur des Gesundheitswesens wird die steigenden Kosten kompensieren können! Rationalisierung statt Rationierung also. Der amtierende Gesundheitsminister Daniel Bahr gehört zu den Verfechtern der These. Wir erinnern uns: „Die Finanzierung des Gesundheitswesens muss so stabil gestaltet werden, dass Debatten über eine Rationierung oder Priorisierung unnötig werden.“ Klingt prima, Effizienz ist ja auch ein schönes Wort, das in Industrie-Sektoren durchaus schon bewiesen hat, was es bewirken kann. Im Zusammenhang mit der Gesundheit erweist sich die Politikerfloskel allerdings als fadenscheinig. Bislang haben jedenfalls alle politischen Maßnahmen lediglich Einmaleffekte erzielt – kleine Knicke in der ansonsten stetig nach oben strebenden Verlaufskurve. Und das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für unsere europäischen Nachbarländer. 6. UMVERTEILUNG? Umverteilung ist ebenfalls ein schönes Wort, das nicht nur den Vertretern der Partei Die Linke gut gefällt. Auch der Mediziner und Gesundheitsökonom Michael Schlander mag es. Dass der Gründer und Leiter des Instituts für Innovation und Evaluation im Gesundheitswesen, der an der Universität Heidelberg lehrt, damit hierzulande allerdings nur selten zitiert wird, hängt vermutlich mit der Radikalität seiner Ansichten zusammen. Absolut betrachtet, wird Gesundheit immer teurer. Relativ betrachtet hingegen, meint Schlander, bleibt alles mehr oder weniger beim Alten. Denn die KostenexplosionsVerfechter haben die Rechnung ohne das Wirtschaftswachstum gemacht. Durch unser Wachstum steht für Gesundheit immer mehr Geld zur Verfügung, deshalb ist der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt in jüngster Vergangenheit auch kaum gestiegen – nämlich nur um zwei Prozentpunkte von 9,6 Prozent in 1992 auf 11,6 Prozent in 2009. Dass die Krankenkassen dennoch stöhnen, liegt nach Ansicht des Experten nicht an den steigenden Kosten, sondern an einer „Erosion der Bemessungsgrundlage“: Das Wirtschaftswachstum ist in den Portemonnaies jener 90 Prozent der Bürger, die über die Krankenkasse versichert sind, nicht angekommen. Lohnzuwächse sind ausgeblieben. Deshalb haben die Krankenkassen weniger Einnahmen erzielt und waren gezwungen, die Beiträge zu erhöhen. Schlanders Berechnungen zeigen, wie sich die Beitragssätze entwickelt hätten, hätten die Gehälter mit dem Wirtschaftswachstum Schritt gehalten. Das Resultat: Wir wären mit den Beiträgen heute auf dem Stand der Achtzigerjahre. Statt mit einer Kostenexplosion haben wir es seiner Ansicht nach deshalb lediglich mit „distributiven Fragen“ zu tun. Die Politik muss nur für eine entsprechende Umverteilung sorgen, dann macht sich das Wirtschaftswachstum auch im Budget der Krankenkassen bemerkbar. So könnten wir auf unserem heutigen Konsumniveau bleiben und alle zusätzlichen Kapazitäten, die uns das Wirtschaftswachstum bringt, in die 87 Gesundheit investieren. Im Grunde machen wir das sowieso schon. Denn während in anderen Bereichen des Konsums mit zunehmendem Wohlstand einer Gesellschaft eine Sättigung eintritt, ist dies bei Gesundheitsleistungen nicht der Fall. Ökonomen nennen das „Einkommenselastizität“. Professor Schlander hat ausgerechnet, dass wir uns auf diese Weise bis etwa 2050 weiterhangeln könnten. Vielleicht sogar noch länger. Denn wenn die steigenden Investitionen in die medizinische Betreuung außerdem noch dazu führen, dass sich auch die allgemeine Gesundheit verbessert, dann erhält das Wachstum so noch einen Extra-Schub. Das wiederum haben Ökonomen mithilfe des sogenannten GrangerTests herausgefunden. Der Test kann zwischen zwei Größen, die statistisch betrachtet miteinander korrelieren, jene Größe ermitteln, die als Ursache die andere bedingt. Das Ergebnis schien eindeutig: Mehr Gesundheit bewirkt ein größeres BIPWachstum, nicht umgekehrt. Der Haken bei der Sache: Die „distributiven Fragen“ sind so leicht natürlich nicht zu klären. Sie erfordern übergreifende Maßnahmen zur Eindämmung der Lohn-Ungleichheit, eine stärkere Besteuerung von Kapitaleinkünften, vielleicht auch so etwas wie eine radikale Anhebung der Mehrwertsteuer oder eine Bürgerversicherung, in der die privaten und die gesetzlichen Krankenversicherungen zusammengeführt werden. All dies ist im Prinzip möglich – politisch allerdings schwer durchsetzbar und angesichts weit in die Zukunft reichender Versorgungsansprüche vor allem der Beamtenschaft ganz sicher nicht kurzfristig realisierbar. 7. SPAREN? Halten wir noch einmal kurz fest: Die Kosten im Gesundheitswesen werden steigen. Wir können das System durch höhere Beiträge finanzieren – teuer. Wir können effizienter werden – schwierig. Wir können umverteilen – langwierig. Zudem politisch nicht gewollt, denn so ein Vorhaben kostet Wählerstimmen. Bleibt als eine weitere Option: sparen. Nur wo? An welcher Stelle künftig der Hebel angesetzt werden muss, hängt nicht zuletzt davon ab, wie genau sich der medizinische Fortschritt auf die Kostenentwicklung auswirken wird. Heute ist es Konsens, dass bei lebensbedrohlichen Erkrankungen ohne Rücksicht auf Kosten behandelt wird. „Lebensschutz“ hat höchste Priorität. So steht es in der Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Thema „Priorisierung medizinischer Leistungen“ von 2007. Und so bestimmt es auch das Bundesverfassungsgericht in seinem „Nikolausbeschluss“ vom 6. Dezember 2005: In Fällen lebensbedrohlicher Erkrankungen besteht eine Leistungspflicht der Krankenkassen selbst dann, wenn der medi88 zinische Nutzen der gewünschten Behandlung nicht nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse nachgewiesen ist. Ob wir uns solche Prinzipien in Zukunft leisten können, hängt auch von der Entwicklung des Marktes für Arzneimittel und Gesundheitstechnik ab. Nur wenn exorbitant teure Behandlungen von Einzelfällen nicht überproportional zunehmen, wird es auch künftig möglich sein, bei lebensbedrohlichen Erkrankungen nicht auf die Kosten zu schauen. Untersuchungen für die USA zeigen, dass ein Großteil der Zusatzkosten nicht durch einige wenige „Superstars“ an Medikamenten und Behandlungsmethoden verursacht wird, sondern durch die Ausweitung vorhandener Therapien auf eine größere Zahl von Patienten. Das Urteil der Experten in der Sache ist dennoch gespalten. Eine Untersuchung des (industrienahen) IGES-Instituts geht der Kostenentwicklung bei innovativen Spezialpräparaten am Beispiel der Krebsmedikamente nach. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Umsatzentwicklung in diesem gemeinhin als besonders kostenintensiv erachteten Segment in Wirklichkeit nur unwesentlich höher liegt als in anderen Bereichen. Das IGES prognostizierte eine Steigerungsrate von jährlich 4,8 Prozent für den Zeitraum zwischen 2009 bis 2013. Nun ist eben diese Studie von anderen Experten wie dem (kassennahen) Leiter des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen, Gerd Glaeske, stark angegriffen worden. Er kritisierte den zu eng abgesteckten Untersuchungszeitraum (geht man weiter zurück als 2009, lassen sich doch starke Steigerungen erkennen) sowie, dass der Einsatz von Medikamenten im Krankenhaus nicht berücksichtigt wurde. Im Gegensatz zum IGES sieht Glaeske insbesondere im Markt für innovative Krebsmedikamente ein wachsendes und ernstes Problem für die Krankenkassen. Wenn Glaeske recht hat, dann werden uns die steigenden Gesundheitskosten in Zukunft nötigen, mit dem zentralen Grundsatz zu brechen, bei lebensbedrohlichen Erkrankungen ohne Rücksicht auf Kosten und nachgewiesenen Nutzen zu behandeln. Es gibt aber noch weitere Baustellen. Nach dem am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen „Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes“ (AMNOG) durchlaufen neue Medikamente, die aufgrund der Seltenheit der mit ihnen behandelten Krankheiten „Orphan drugs“ (Waisenkinder) genannt werden, nur oberhalb einer Umsatzgrenze von 50 Millionen Euro eine externe Zusatznutzenprüfung durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Unterhalb dieser Umsatzgrenze gilt für neue Medikamente die Nutzenprüfung der Europäischen Kommission, die ohnehin bereits davor stattfand – und der Hersteller verhandelt seinen Preis (unabhängig vom IQWiG) ausschließlich mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung. Unter den 30 teuersten Arzneimitteln in Deutschland befinden sich derzeit 18 Produkte mit Orphan-drug-Status. Umstritten ist dabei vielfach, ob die Medikamente dem Patienten im Vergleich zu den bisherigen Behandlungsoptionen einen zusätzlichen Nutzen bringen. Das Nierenkrebsmedikament Afinitor (Kosten pro Packung mit 30 Tabletten: mehr als 4700 Euro) geriet vor einiger Zeit in die Schlagzeilen, weil sich zeigte, dass das Fortschreiten der Erkrankung mithilfe von Afinitor lediglich um drei Monate hinausgeschoben werden konnte – obwohl das Medikament als neuer Anti-Krebs-Bestseller gepriesen wurde. Hinausgeschobenes Krebswachstum ist dabei nicht notwendig gleichbedeutend mit einer Verlängerung des Lebens. In manchen Fällen kämpfen die Medikamente zwar Krebszellen für einige Zeit nieder – dafür wachsen andere anschließend umso schneller nach. Der vorübergehenden Verbesserung folgt eine umso rasantere Verschlechterung; womöglich stirbt der Patient sogar früher. Vieles deutet darauf hin, dass die Krankenkassen die Kosten für Orphan drugs in Zukunft nicht mehr ohne Preisverhandlungen übernehmen werden. Für diesen Fall gibt es folgende Szenarien: 1. Die Verhandlungen mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung könnten die Hersteller nötigen, die Preise für die teuren Spezialpräparate zu senken. 2. Die Pharmaindustrie könnte in Zukunft vermehrt darauf verzichten, entwicklungsintensive und in der Anwendung kostspielige Innovationen auf den Markt zu bringen. 3. Der Pharmaindustrie könnte es nicht gelingen, Innovationen auf den Markt zu bringen, die einen zusätzlichen Nutzen im Vergleich zur Standardtherapie haben. Was aber, wenn die Industrie weiterhin innovative Medikamente zu hohen Preisen auf den Markt bringt, deren Nutzen sie klar belegen kann? Die Kosten könnten für die Versichertengemeinschaft den Rahmen des Tragbaren sprengen. Mit diesem Szenario geht es ans Eingemachte: Die geschmähte Rationierung, also das Vorenthalten bestimmter Leistungen, wäre die Folge. Wie aber könnte so etwas aussehen? 8. RATIONIERUNG? Bislang sieht der Gesetzgeber vor, dass Medikamente, die neu auf den Markt kommen, vom IQWiG auf ihren Zusatznutzen und gegebenenfalls auch auf ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis geprüft werden. Dabei werden jedoch ausschließlich Therapien und Medikamente verglichen, die demselben Zweck dienen. Mit dieser Beschränkung will man die moralische Zwickmühle vermeiden, zwischen der Relevanz zum Beispiel einer Krebs- und einer Schlaganfall-Therapie unterscheiden zu müssen. Gut möglich, dass man in Zukunft nicht um solche Vergleiche herumkommt. Dies zeigt ein Fall, der Ende 2010 das Schweizer Bundesgericht beschäftigte. Dabei ging es um die Frage, ob eine Krankenversicherung dazu verpflichtet ist, die Kosten einer Behandlung mit Myozyme zu übernehmen – einem der weltweit teuersten Medikamente überhaupt. Die Therapiekosten werden pro Patient auf mehr als 400 000 Euro im Jahr beziffert. In dem zur Diskussion stehenden Fall galt die Wirksamkeit zwar als erwiesen, aber als sehr gering. Myozyme sollte eingesetzt werden zur Therapie im Spätstadium der seltenen Stoffwechselkrankheit Morbus Pompe. Die Krankheit führt zu einer Muskelschwäche besonders der Atem- und Skelettmuskulatur. Von der Behandlung mit dem Medikament versprachen sich die Ärzte eine Verbesserung der Lungenfunktion und eine Vergrößerung des Radius, innerhalb dessen sich die Patientin, an der sich der Streitfall entzündete, fußläufig bewegen kann. Konkret ging es um einen zu erwartenden Vorteil von 28 zusätzlichen Metern. Das Gericht entschied gegen eine Erstattungspflicht. Dabei berief es sich auf den Grundsatz der Gleichheit. Weil in der Schweiz viele Menschen mit ähnlich limitierter Gehstrecke wie die betroffene Patientin leben, so das Urteil, könnten unmöglich jedem von ihnen 400 000 Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt werden, auch wenn sie hinsichtlich ihrer Lebensqualität vermutlich profitieren würden. So leiden zum Beispiel 2,8 Prozent der Schweizer an einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung. Würde jeder von ihnen auf vergleichbare Weise behandelt, entstünden dadurch Kosten in Höhe von 74 Milliarden Euro. Für die Finanzierung müssten die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung pro Mitglied um monatlich 900 Euro steigen. Obwohl das Urteil von vielen Experten begrüßt wurde, darunter der Baseler Gesundheitsökonom Stefan Felder, regten sich auch Zweifel. Müsste man nach derselben Logik nicht auch Organtransplantationen verbieten? Schließlich stehen dafür nicht genug Organe zur Verfügung und viele Patienten sterben, weil es zu wenige Spender gibt. Das Gleichheitsprinzip kommt hier also auch nicht zur Anwendung. Trotzdem wird dem Einzelnen die benötigte Organtransplantation nicht vorenthalten. Andere Kritiker bemängelten nicht das Gleichheitsprinzip, sie wiesen stattdessen auf die Schwierigkeit hin, eine angemessene Vergleichsbasis zu finden. Muss in Betracht gezogen werden, dass die Behandlung der Patientin womöglich nicht nur mehr Bewegungsfreiheit ermöglicht, sondern auch ihr Leben verlängert? Kommt es nicht auch darauf an, wie gut oder schlecht es einem Patienten vor der Behandlung geht? Sollte denen, denen es besonders schlecht geht, bevorzugt geholfen werden? Oder muss das Geld vielmehr dort investiert werden, wo der größte Zuwachs an Lebensqualität zu erwarten ist? 89 9. WAS IST LEBENSQUALITÄT? 10. VORSORGE Sind ein drei Monate längeres Leben ein Zuwachs von Lebensqualität? Sind es weniger Schmerzen? Geringere Nebenwirkungen? Ein Bewegungsradius von einigen Metern mehr? Wer will das definieren – und wie? Gesundheitsökonomen nehmen das Qaly-Verfahren zu Hilfe, das schon Ende der Fünfzigerjahre entwickelt wurde. Mit ihm bestimmen sie das Kosten-Nutzen-Verhältnis einer Behandlung. Qaly steht für „quality-adjusted life year“ und ist nicht unkompliziert. Um herauszufinden, ob eine neue Therapie sinnvoll und nützlich für den Patienten ist, wird mithilfe von Studien zunächst ermittelt, um wie viele Jahre sich seine Lebenserwartung im Vergleich zur bisherigen Therapie verlängert. Gewonnene Lebensjahre reichen für eine Beurteilung aber nicht aus – wichtig ist, mit welcher Lebensqualität sie verbunden sind. Über Fragebögen wird deshalb erfasst, wie der Patient die Lebensqualität der gewonnenen Jahre beurteilt, gemessen auf einer Skala zwischen null und eins. Eins entspricht vollkommener Gesundheit – null dem Tod. Im nächsten Schritt werden für beide Behandlungsalternativen die gewonnenen Lebensjahre mit der Lebensqualität multipliziert. Dabei hat beispielsweise ein halbes gewonnenes Lebensjahr bei vollständiger Gesundheit denselben Wert wie ein ganzes gewonnenes Jahr mit eingeschränkter Lebensqualität. In beiden Fällen führt die Rechnung zu 0,5 Qalys. Der Zugewinn an Qalys macht die unterschiedlichen Behandlungsalternativen messbar. So weit das Grundprinzip des Verfahrens. Die Probleme, die sich aus einer solchen Bewertung von Lebensqualität ergeben, sind dieselben wie bei Myozyme: Sind Beurteilungen von Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen überhaupt miteinander vergleichbar? Und: Welche sind die relevanten Eigenschaften, aufgrund derer ein Fall dieser oder jener Gruppe zugeordnet werden soll? Wäre es nicht fair, die Patienten zu bevorzugen, denen es von vornherein schlechter geht? Trotz der grundsätzlichen Probleme wird das Qaly-Verfahren mittlerweile von Gesundheitsökonomen vor allem in den angelsächsischen Ländern verwendet. In Deutschland hat sich die Regierung dagegen entschieden, eine KostenNutzen-Bewertung auf „qualitätsbereinigte Lebensjahre“ durch das IQWiG vornehmen zu lassen. Doch es gibt auch Alternativen zu Qaly. Eine neue vielversprechende Methode, die systematische Verzerrungen vermeiden will, kommt aus der empirischen Ethik. Anstelle von Entscheidungsprinzipien wird hierbei – und zwar über alle Einzelfälle hinweg – die Meinung aus der Bevölkerung eingeholt: Wer soll welche Hilfe erhalten? Solche Diskussionen werden uns blühen, wenn das Gesundheitssystem teure Medikamente und ihre Anwendung auf breiterer Basis nicht mehr finanzieren kann. Und was kommt dann? Etwa die Zwei-Klassen Medizin? Haben wir die nicht längst? Kann schon sein, dass beim Einsatz innovativer Medika mente die Schere zwischen „Gesetzlicher“ und „Privater“ bereits heute auseinandergeht. Der Bochumer Sozialrechtler Stefan Huster ist sich trotzdem sicher: „Eine Zwei-KlassenMedizin sollte es nicht geben.“ Huster ist Mitglied der Forschergruppe „FOR 655“, die sich mit der Priorisierung in der Medizin befasst, und er spielt auf einen ganz anderen, deutlich größeren Hebel zur Vermeidung einer Kostenexplosion an, wenn er sagt: „Gesundheit wird nicht nur beim Arzt entschieden.“ Die Basis für Gesundheit und Krankheit wird in den meisten Fällen viel früher gelegt. Soziodemografische Faktoren wie das Einkommen oder das Bildungsniveau der Eltern wiegen schwerer als das Level medizinischer Versorgung, ja selbst schwerer als Übergewicht, Rauchen oder chronischer Schlafmangel. Ob Jugendliche rauchen, wie oft und in welchen Mengen sie Alkohol trinken oder Haschisch konsumieren, hängt vor allem vom Schultyp ab. Das Risiko eines schädlichen Mundgesundheitsverhaltens korreliert mit dem Migrationshintergrund. Generell gilt zudem: Menschen, die an der Armutsgrenze leben, leiden vermehrt an Angstzuständen und Depressionen, an Harninkontinenz, Arthrose, Arthritis und Gelenkrheumatismus sowie an Migräne und häufigen Kopfschmerzen. Bei Frauen steigt das Vorkommen von Diabetes und Bluthochdruck mit sinkendem Einkommen. Männer in der Armutsrisikogruppe haben ein 1,5-mal so hohes Adipositas-Risiko wie Männer der höchsten Einkommensgruppe, bei Frauen ist das Risiko sogar doppelt so hoch. Keine Frage: Wir leben in einer Mehrklassengesellschaft. Nur ist gerade die Arztpraxis nicht der Ort, wo sie sich am deutlichsten zeigt. Innovative Behandlungsmethoden und wirksamere Medikamente werden – egal wie teuer – die aufgeführten Missstände kaum beheben können. Investitionen in Prävention und Gesundheitserziehung hingegen könnten dazu führen, dass die Kosten künftig nicht mehr in dem Tempo steigen werden wie bisher. Auch dies wäre ein mögliches Szenario – und ein Effizienzgewinn bisher ungekannten Ausmaßes. Damit hätte sich die Kostenexplosion auf einfache Weise erledigt. Allerdings müsste dafür in Generationen und nicht in Legislaturperioden gedacht werden. Mit einem Bundesgesundheitsministerium, das sich jeweils nur um das kommende Jahr kümmert, ist das nicht zu machen. 7 90 45.786.748. 45.786.748. 1257 1257 468 5.520.258. 5.520.258. 45.786.748. 45.786.748. 4.250.45 4.250.45 45.786.7 45.786.748. 78 65.469 78 65.469 5.520.258. 1257 5.520.258. 1257 78.007.05 78.007.05 4.250.45 120.0 120.00 45.786.748. 45.786.748. 4.250.45 4.250.45 5.520.25 5.520.258. 45.786.748. 65.469 45.786.748. 65.46978.007.05 4.250.45 45.786.748. 4.250.45 45.786.748. 4.250.4 468 4.250.45 468 4.250.45 4.250.45 78.007.05 4.250.45 5.520.258. 45.786.748 5.520.258. 45.786.748. 65.469 4.250.45 65.469 65.469 78.007.0 65.469 78.007.05 78.007.05 45.786.748. 78.007.05 45.786.748. 4.250.45 91 Gute Frage Warum sind die meisten Arzneien, mit denen Kinder behandelt werden, gar nicht für sie zugelassen? Text: Hanno Charisius 3 Kranke Kleinkinder bringen Ärzte häufig in eine Zwickmühle. Rund zwei Drittel aller Medikamente haben nämlich nur eine Zulassung für erwachsene Patienten. Doch ohne spezielle Arznei, deren Dosierung klinisch geprüft und die kindgerecht aufbereitet ist – etwa als Saft oder in Tropfen –, bleibt Medizinern nur eine Chance: improvisieren. Die Ärzte müssen Kinder wie kleine Erwachsene behandeln, sie rechnen die Dosierung des Wirkstoffs auf Größe und Gewicht ihrer Patienten herunter und hoffen, dass es gut geht. Aber der Einsatz von Arzneimitteln außerhalb der genehmigten Zulassung (Off-Label-Use) ist riskant. „Die Entwicklung der Kinder verläuft nicht linear“, warnt Hannsjörg Seyberth, der in der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin die Kommission für Arzneimittelsicherheit leitet. „Man kann die Dosis nicht einfach klein rechnen.“ Wie Erfahrungen zeigen, brauchen Neugeborene mal größere Wirkstoffmengen als Säuglinge, mal geringere. Manche Arzneimittel wirken bei Kleinkindern erst in der zweieinhalbfachen Erwachsenen-Dosis, andere wiederum sind von vornherein tabu. Die Enzyme im Kinderkörper haben eine andere Aktivität als in Erwachsenen, sodass Wirkstoffe mitunter viel langsamer abgebaut werden – manche auch gar nicht. Ärzte müssen sich darauf einstellen, dass junge Nerven92 bahnen besonders empfindlich und die Organe von Kindern noch nicht ausgereift sind. Das macht jede Behandlung zur Gratwanderung. Der Marburger Pädiater Seyberth beziffert den Anstieg der Komplikationsrate aus Erfahrung auf etwa 50 Prozent. Deswegen werde im ärztlichen Alltag auf solche Mittel möglichst verzichtet. Doch auf einer Intensivstation mit Kinderbetten und Brutkästen geht es oft gar nicht anders. Dort ist Off-Label-Use nicht die Ausnahme, sondern die Regel. „Bei Frühgeborenen liegt die Quote für Komplikationen meist über 90 Prozent“, sagt der Kinderarzt Wolfgang Rascher, pädiatrischer Intensivmediziner am Universitätsklinikum Erlangen und am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in einer Kom mission für Kinder und Jugendliche zuständig. In den meisten Kinderkliniken werde etwa jedes zweite Medikament außerhalb der amtlichen Zulassung eingesetzt, in Kinderarztpraxen liege der Anteil bei zehn Prozent. Mit einer EU-Verordnung aus dem Jahr 2006 wurden die Weichen gestellt, um dem Mangel an kindgerechten Medikamenten abzuhelfen. Arzneimittelhersteller müssen seitdem für neue Zulassungen generell auch Prüfkonzepte für Kinder ausarbeiten. Ausgenommen sind nur solche Krankheitsbilder, die bei Kindern nicht vorkommen, wie etwa Kinder sind keine kleinen Erwachsenen: Die Arznei, die einem Zweijährigen hilft, kann ein Frühchen vielleicht umbringen. Prostatakrebs oder Raucherlunge. Im Gegenzug wird der Patentschutz dann um sechs Monate verlängert. Auch um für bereits auf dem Markt eingeführte Medikamente oder patentfreie Generika nachträglich die pädiatrische Zulassung zu erlangen, werden klinische Studien an Minderjährigen verlangt. Für diesen Aufwand wird Pharmaunternehmen ein zehnjähriger Unterlagenschutz gegenüber Wettbewerbern eingeräumt. Doch die Resonanz zeigt: Neue Richtlinien allein bringen noch keine bessere Versorgung mit geeigneten Arzneien und wirken auch nicht im Handumdrehen. In den ersten drei Jahren nach Inkrafttreten der Verordnung stieg die Zahl der Anträge um 1,2 Prozent. Insgesamt rund 800 Anträge zur Genehmigung eines pädiatrischen Prüfplans (PIP) gingen seit 2007 bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) in London ein. Die meisten betreffen laut Pharma-Fachpresse neue, noch nicht zugelassene Wirkstoffe. Bis diese auch als kindgerechte Medikamente auf dem Markt sind und die Versorgungslage verbessern, vergehen Jahre. Was sich schon daraus ergibt, dass klinische Studien mit neu entwickelten Wirkstoffen zuerst an Erwachsenen erforderlich sind, bevor ihre Eignung – in angepasster Dosierung – überhaupt an Kindern erprobt werden darf. Der Kinderarzt Hannsjörg Seyberth spricht dennoch von einer „Hinhaltetaktik“ seitens der Industrie. Die meisten Arzneimittel, mit denen Kinder im Krankenhaus behandelt würden, seien Generika. „Bei 80 Prozent der Präparate ist der Patentschutz bereits abgelaufen“, sagt er. Deshalb lassen sich nur wenige Hersteller nachträglich auf Studien für Wirkstoffe ein, die bereits auf dem Markt sind. Durchaus nachvollziehbar aus Sicht der Industrie. „Unsere Wirkstoffe werden vor allem Kindern verordnet – obwohl sie dafür keine Zulassung haben“, sagt beispielsweise Martin Zentgraf, Geschäftsführer der Desitin Arzneimit- tel GmbH in Hamburg. „Von den Krankenkassen bekommen wir in jedem Fall nur den Festbetrag, egal, ob wir ein etabliertes Präparat für Kinder in einer neuen Darreichungsform entwickeln oder nicht. Es gibt also keinen Anreiz, weil das Präparat ja bereits in seiner alten Form die Patienten erreicht.“ Die geänderten Zulassungsregeln können sogar Innovation verhindern, wenn das pädiatrische Komitee der EMA die Richtlinien eng auslegt und Kinderstudien fordert. So plant Zentgrafs Unternehmen etwa, ein neues Kombinationspräparat gegen Migräne aus alten Wirkstoffen herzustellen. „Wir wissen bereits, dass diese Wirkstoffe bei Erwachsenen gut, bei Kindern dagegen nicht oder kaum wirken.“ Die Entwicklung allein für Erwachsene würde sich zwar lohnen. „Wir müssen jedoch damit rechnen, dass die Kommission Kinderstudien verlangt, obwohl wir nicht mit einem positiven Ausgang rechnen. Dies wiederum beeinträchtigt die Gesamtrentabilität so sehr, dass wir das Produkt nicht entwickeln würden.“ Ein weiteres Problem für Arzneimittelhersteller: Bei der Planung klinischer Studien an Kindern oder Jugendlichen in Deutschland ist es schwierig, junge Probanden zu finden. „Für Studien mit bereits zugelassenen Arzneimitteln ist das noch relativ einfach“, sagt Zentgraf. „Da gehen fast alle Eltern mit.“ Völlig anders bei frisch entwickelten Wirkstoffen. In solchen Fällen sei es fast unmöglich, das Einverständnis der Eltern zu erhalten. Diese Tests wandern deshalb oft ins Ausland. Zwar sind Eltern in den USA oder in Osteuropa nicht weniger um ihren Nachwuchs besorgt als die Deutschen, doch für die Erprobung neuer Therapien eher aufgeschlossen – vielleicht als Folge überwiegend privat finanzierter Gesundheitssysteme. Im Alltag deutscher Kinderärzte und pädiatrischer Stationen wird sich therapeutisch wohl erst etwas ändern, wenn sich für die pharmazeutischen Unternehmen mehr Anreize ergeben. Bis dahin wird es bei der Behandlung von Kindern vielfach Experimente geben, bei denen die Ärzte auf sich allein gestellt sind. Für viele Erkrankungen haben Fachgesellschaften zwar Richtlinien für den Einsatz von Medikamenten außerhalb der regulären Zulassung erarbeitet, die zumindest eine grobe Richtung vorgeben. Trotzdem kostet es noch immer viel Zeit, einen Therapieplan für kleine Patienten aufzustellen. Mit „zwei bis drei Stunden im Schnitt“ rechnet Stefan Bernitzki, Kinderarzt und Neonatologe vom Herzzentrum des Universitätsklinikums Köln. Darin enthalten seien Recherchen in der Fachliteratur, Besprechungen mit Kollegen und die Suche nach verbindlichen Leitlinien. „In der wissenschaftlichen und rechtlichen Grauzone, in der wir uns bewegen, müssen wir unsere Entscheidungen immer sehr gut begründen können“, sagt Bernitzki. Denn im Zweifel haftet der Arzt bei Komplikationen. Martin Zentgraf würde den Medizinern gern helfen. Wie alle Pharmahersteller verfolgt auch sein Unternehmen Veröffentlichungen über den Off-LabelUse der eigenen Wirkstoffe sehr genau. „Doch wir dürfen das Wissen nicht teilen, weil uns das als Werbung für den Off-Label-Gebrauch ausgelegt werden könnte.“ Nur wenn ein Arzt mit exakt formulierten Fragen käme, dürfe man Studien herausgeben. Um den Mangel zu überbrücken und Wissen zu bündeln, helfen sich die Ärzte deshalb inzwischen selbst. Beispielsweise auf der Web-Plattform Mydosis, die der Kinderarzt Bernitzki eingerichtet hat. Dort werden Dosierempfehlungen zum Off-Label-Use in der pädiatrischen Praxis ähnlich wie bei Wikipedia zusammengeführt. Irgendwann könnten Kinderärzte dort ein Netzwerk knüpfen und ihre Erfahrungen koordinieren, hofft der Initiator. Das wäre ein guter Anfang. Doch wirkliche Sicherheit – für die kleinen Patienten und ihre Ärzte – können nur systematische Studien schaffen. 7 93 Wie geht’s? Egal, wo man lebt auf der Welt: Krank sein will keiner. In Deutschland beklagen wir steigende Preise, Zuzahlungen und Versicherungsprämien. Doch sind andere Nationen besser dran? Wie geht es einem, der krank ist in China, Großbritannien, Indien, den Vereinigten Staaten oder in Schweden? Eine Reise um die Welt. Fotos: Xxxxxxx Xxxxxxx China Früher waren alle Chinesen arm, heute sind die Wohlstandsunterschiede gewaltig. Der Wandel hat auch das Gesundheitssystem erfasst: Aus sozialistischer Totalversorgung wurde marktgetriebene Vielklassenmedizin. Text: Bernhard Bartsch 96 H erzrhythmusstörungen sind eine beängstigende Erfahrung. Herr Wu machte sie vor zwei Jahren. Der 38-jährige Pekinger hatte vorher nie gesundheitliche Probleme gehabt, als er eines Tages das Stottern in seiner Brust bemerkte. Im Krankenhaus erklärte ihm der Arzt, dass eine aufwendige Operation nötig sei. Nicht der einzige Schock: Die Behandlung würde teuer werden und Herrn Wu mehrere Monatsgehälter kosten. Herr Wu gehört zur chinesischen Mittelschicht, jenen rund 300 Millionen Glücklichen, denen Chinas WirtschaftsBoom Erfolg und Wohlstand beschert hat. Er hat einen festen Job bei einem Staatsbetrieb, wohnt mit Frau und Tochter in einer Eigentumswohnung, die er in Raten abbezahlt, und macht Urlaub im Ausland. Doch ein unregelmäßiger Herzschlag reichte aus, um die scheinbar gesicherte Existenz zu bedrohen. Mindestens 50 000 Yuan (6000 Euro) würde die Operation kosten, überschlug der Arzt – das entsprach dem Einkommen von einem halben Jahr. „Allerdings riet er mir, importierte Medikamente und OP-Materialien zu benutzen, weil man der chinesischen Qualität nicht vertrauen könne“, erinnert sich Wu. „Die Kosten würden sich dadurch aber verdoppeln.“ Wu erkundigte sich bei der staatlichen Krankenkasse, in die er monatlich acht Prozent seines Bruttolohns einzahlt. Für eine Behandlung mit chinesischen Medikamenten könne er 80 Prozent der Kosten erstattet bekommen, bei Importpharmaka nur die Hälfte. Doch wer will schon bei einer lebensbedrohlichen Krankheit knausern? Herr Wu entschied sich, an seine Ersparnisse zu gehen. „Letztendlich hatte ich dann Glück im Unglück“, erzählt er. Als er ins Krankenhaus eincheckte, waren alle OP-Säle und Betten belegt. Nach einer Nacht auf einer Pritsche im Korridor wurde Wu am nächsten Tag von einer Ärztin untersucht, die ihm einen anderen Rat gab als ihr Kollege. Bevor er sich einer Operation unterziehe, solle er eine Therapie mit Stromschlägen versuchen. Diese war weniger riskant, kostete nur 6800 Yuan (820 Euro) – und funktionierte. „Womöglich wollte mich der erste Arzt nur operieren, weil er an den Kosten verdiente“, sagt Wu im Nachhinein. „Ich war der Ärztin so dankbar, dass ich ihr hinterher ein Geschenk geschickt habe.“ Wer in China zum Arzt geht, muss auf Überraschungen gefasst sein, und nur selten folgen den schlechten Nachrichten am Ende noch so gute wie im Fall von Herrn Wu. Gesundheitliche Sorgen werden oft zu finanziellen, und Patienten kämpfen nicht nur mit Krankheiten, sondern auch mit einem undurchsichtigen Gesundheitssystem aus Krankenhäuern, Versicherungen und Behörden. Die einzige Gewissheit: Kranksein ist in China teuer, und gesund wird nur, wer es sich leisten kann. Ein unregelmäßiger Herzschlag reicht aus, um die scheinbar gesicherte Existenz zu bedrohen. Medizin gegen Bares Das widerspricht grundsätzlich der Idee eines sozialistischen Staates. Tatsächlich verfolgten Chinas Kommunisten ursprünglich andere Ideale. Nach der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 organisierten sie ihren Staat nach sowjetischem Vorbild: Die Menschen wurden Arbeitseinheiten zugewiesen, die alle Bereiche ihres Lebens regelten. Die sogenannte „eiserne Reisschüssel“ versprach ihnen Verpflegung, Arbeit und Ausbildung, eine Wohnung und Sozialleistungen. Kranke sollten in staatlichen Krankenhäusern kostenlos behandelt werden. Doch die Rundum-Versorgung blieb Theorie, für die Realisierung fehlten Ressourcen. Hospitäler mit qualifizierten Ärzten, modernen Geräten und Medikamenten gab es in der MaoZeit nur für die Partei-Elite. Das änderte sich mit Beginn der Reformpolitik Anfang der Achtzigerjahre. Unter Deng Xiaoping tauschte die Partei ihre sozialistischen Wunschvorstellungen gegen marktwirtschaftlichen Pragmatismus ein. Das Totalversorgungsversprechen wurde aufgekündigt. 97 Was an Ansprüchen übrig bleibt, hängt seitdem davon ab, zu welcher sozialen Gruppe man gehört und wie viel Geld man hat. Staatsbedienstete und Stadtbewohner bekommen nach wie vor subventionierte Leistungen. Die armen Landbewohner und die vielen Wanderarbeiter sind davon ausgeschlossen. Gleichzeitig entstanden neue Krankenhäuser, die zwar nominell staatlich sind, aber wie profitorientierte Unternehmen operieren. Arztpraxen gibt es in China kaum. Wer sich mit modernen Geräten untersuchen oder von einem im Ausland oder an Chinas Top-Universitäten ausgebildeten Arzt behandeln lassen will, muss dafür einen Aufschlag bezahlen. Missbrauch sind dabei Tür und Tor geöffnet. Denn nicht nur die Krankenhausgesellschaften suchen ihren Profit, sondern oft auch jeder einzelne Arzt. Verschreibt er teure Behandlungen oder Medikamente, wird er an den Einnahmen beteiligt, sowohl von seinem Arbeitgeber als auch von den Pharmafirmen. Kontrollmechanismen, die derartigen Machenschaften einen Riegel vorschieben, sind schwach. Unabhängige Verbraucherschützer, Patientenvereinigungen oder Gerichte lässt das Ein-ParteiSystem nicht zu. Aus dem sozialistischen Gleichheitsgrundsatz wurde so in kürzester Zeit eine marktgetriebene Vielklassenmedizin. In welche Klasse sie selbst gehören, erfahren Patienten in der Regel erst im Ernstfall. So wie Herr Zou, ein Rentner aus dem nordchinesischen Shenyang, bei dem kürzlich ein Tumor in der Schilddrüse entdeckt wurde. Im örtlichen Krankenhaus war man nicht bereit, ihn zu operieren. Als ehemaliger Beamter hat er Anrecht auf eine Behandlung zu Tarifen, die von der staatlichen Versicherung festgelegt werden. „Man sagte mir, dass ich wahrscheinlich ein Verlustgeschäft sein werde und deshalb bitte ein anderes Krankenhaus aufsuchen möge“, erzählt er. Falls er doch auf einer Behandlung bestehe, solle er zustimmen, nach einer Woche das Spital zu verlassen und erst 15 Tage später wiederzukommen, dann könne man der Versicherung eine neue Behandlung in Rechnung stellen. Doch Zou wusste, dass es noch eine andere Möglichkeit geben würde, aufgenommen zu werden: Er drückte den Ärzten Geldumschläge in die Hand. „Erst haben sie sich geziert, aber dann haben sie es doch angenommen“, sagt er. Für die Operation berechnete das Krankenhaus den subventionierten Preis von 9000 Yuan (1080 Euro), zwei Drittel davon bezahlte Zous Versicherung. Nach der OP musste er eine Woche bleiben. Die Familie zahlte den Aufpreis für ein Einzelzimmer, in dem auch seine Frau auf einem Klappbett übernachtete, um ihn versorgen zu können. Pflege und Essen sind in chinesischen Kliniken nicht inbegriffen. Wer keine Familienmitglieder hat, die sich kümmern, muss auf eigene Kosten eine Pflegeschwester anheuern. Mit der Behandlung ist Herr Zou trotz der Anfangsschwierigkeiten hoch zufrieden. „Die Ärzte waren von einer angesehenen Universität, und die Klinik war gut ausgestattet“, sagt er. „Vor zehn oder zwanzig Jahren hätte man von einer solchen medizinischen Versorgung nur träumen können.“ Verzweifelte Patienten Für die Mehrheit der Chinesen ist es bisher allerdings beim Träumen geblieben. Denn wer nicht wie Herr Zou oder Herr Wu über das nötige Geld verfügt, ist vom Fortschritt ausgeschlossen oder muss sich für seine Gesundheit in Schulden stürzen. In der Öffentlichkeit ist diese Ungleichheit ein viel diskutiertes Thema. Immer wieder berichten Medien von den Tragödien derer, die an die Grenzen des Systems stoßen. So machte der Fall der Bäuerin Zhang Yan aus der Provinz Anhui Schlagzeilen, die sich in einer Krankenhaustoilette mit dem Kabel ihres Handyaufladegeräts erhängt hatte. 2007 waren bei Yan Nierenprobleme aufgetreten, die regelmäßige Dialyse erforderten. Das Geld dafür lieh sie sich von Verwandten und Freunden. In vier Jahren häufte sie Schulden von 300 000 Yuan (36 200 Euro) an. Auf dem Land entspricht das dem mehr als 50-fachen eines durchschnittlichen jährlichen Ein- Gesundheit in Zahlen Deutschland ................................. Großbritannien Indien USA 11,6 ............................................ Aufwendungen für das Gesundheitswesen, in Milliarden Dollar ..................................... 9,8 ...................................... 4,2 ....................................... .................................... Durchschnittliche Lebenserwartung in Jahren 374,0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4129 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 .............................. ........................................... Aufwend.für das Gesundheitswesen pro Kopf, in Internationalen Dollar* 5,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278,4. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 ........................................... Schweden 217,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3399 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 17,4 .................................... 10,0 ....................................... 52,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2441,0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7410. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 47,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3690. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Quellen: Seite 98: WHO, OECD, 2009; Seite 99: Gesundheitsbarometer 2010, Ernst & Young; *Internationaler Dollar: eine von der Weltbank berechnete Vergleichswährung 98 derarbeitern, die zusammen etwa zwei Drittel der chinesischen Bevölkerung ausmachen, eine gewisse Absicherung gibt. Seit 2010 werden Bauern angehalten, für eine kleine Summe eine staatliche Police zu kaufen. Viele Leistungen werden dafür zwar nicht geboten, die Aktion hat bisher eher pädagogischen Charakter und soll den Bauern das Konzept der Versicherung nahebringen und sie anregen, bei privaten Anbietern weitere Abdeckung zu kaufen. Laut offiziellen Angaben sind auf diese Weise mehr als 90 Prozent der Bevölkerung Teil des staatlichen Gesundheitssystems. Nutzlose Versicherungen Erfahrungen mit dieser Minimalversicherung machte Sun Defang. Die 40jährige stammt aus einem Dorf in der Provinz Anhui. Als junge Frau ging sie nach Schanghai, um in einer Textilfabrik Geld zu verdienen. Vor neun Jahren zog sie nach Peking, wo sie als Haushälterin arbeitet. Obwohl sie seit fast zwanzig Jahren in der Stadt lebt und nur zum Neujahrsfest für zwei Wochen in ihre Heimat zurückfährt, gilt sie nach dem chinesischen Meldesystem noch immer als Landbewohnerin. Rund 3000 Yuan (360 Euro) verdient sie im Monat, bar auf die Hand, ohne Steuern oder Sozialabgaben. Allerdings schloss auch sie die Bauernversicherung ab, für die der Dorfbürgermeister einmal im Jahr die Gebühren einsammelt. Als sie kurz darauf schwanger wurde, zog sie in die Heimat zurück. „Das Kind in Peking zu bekommen wäre wahnsinnig teuer gewesen“, erzählt sie. Im Landkrankenhaus sollte die Entbindung dagegen nur 2000 Yuan (240 Euro) kosten, 70 Prozent davon würde die Versicherung übernehmen. Doch nach Voruntersuchungen befand ihr Arzt, dass es bei der Geburt Komplikationen geben könnte und lehnte die Behandlung ab. Sun ging daraufhin in eine besser ausgestattete Stadtklinik. Dort kostete die Entbindung das Doppelte, 4000 Yuan (480 Euro), ihre Versicherung übernahm aber nur 30 Prozent. 2800 Yuan (338 Euro), rund einen Monatslohn, musste Sun selbst aufbringen. „Diese Versicherung ist keine große Hilfe“, sagt Sun. „Sie reduziert die Kosten nur wenig, das meiste muss man selbst tragen.“ Einfache Behandlungen übernimmt die Versicherung ohnehin nicht. Allerdings hat die pädagogische Absicht des Staates bei Sun Wirkung gezeigt. Für ihre Tochter hat sie eine kommerzielle Versicherung gekauft. Fünf Jahre lang muss sie jährlich 3800 Yuan (458 Euro) bezahlen, dann soll ihr Kind bis zum 18. Lebensjahr abgesichert sein, lautet das Versprechen. Welche Leistungen das umfasst, weiß sie allerdings nicht. „Die Verträge verstehe ich nicht, aber Freunde haben mir gesagt, das sei eine gute Sache“, sagt Sun. „Ich will mir doch um mein Baby keine Sorgen machen müssen.“ 7 Wie beurteilen die Deutschen …? Anteil am BIP für Aufwendungen für das Gesundheitswesen, in Prozent China kommens. Eine Versicherung hatte Yan nicht. „Sie hatte zwar längst verstanden, dass ein schwerkranker Landbewohner eigentlich nur auf seinen Tod warten kann“, schrieb die Zeitung Nanfang Zhoumo. „Aber sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben.“ Am Ende waren es die Schulden, die sie in den Tod trieben, nicht ihre Krankheit. Ihr Bruder hingegen, der an der gleichen Nierenstörung litt, entschied sich von vornherein, seiner Familie nicht zur Last zu fallen und auf eine Behandlung zu verzichten. Vier Monate später war er tot. Für Aufsehen sorgte auch der Fall des Arztes Luo Jun aus dem südchinesischen Shenzhen, der im November 2011 von einem Vater zusammengeschlagen worden war. Die Frau des Angreifers hatte kurz zuvor ein Baby zur Welt gebracht, das unter schwerem Sauerstoffmangel litt. Aus Angst vor hohen Behandlungskosten und möglichen Folgebehinderungen hatte der Vater von dem Arzt verlangt, das Baby sterben zu lassen. Doch der Mediziner rettete das Kind. „Was ist China für ein Land, in dem Väter ihre Kinder töten wollen, aus Angst, dass sie die Familie ruinieren“, sinnierte ein Blogger im Internet. „Bis unser Volk in Wohlstand lebt, ist es noch ein langer Weg.“ Weil die Ungleichheit sozialen Sprengstoff birgt, baut die Kommunistische Partei neuerdings ein Versicherungssystem auf, das auch den Landbewohnern und den mehr als 200 Millionen Wan- … … … … … … … … … … die die die die die die die die die die Qualität der Gesundheitsversorgung insgesamt .................................................................................................. gut/sehr gut: 87 Qualität der medizinischen Versorgung durch praktische Ärzte ...................................................................... eher gut/gut: 92 Qualität der medizinischen Versorgung durch Fachärzte .................................................................................. eher gut/gut: 90 Qualität der medizinischen Versorgung durch Krankenhäuser ......................................................................... eher gut/gut: 87 Nähe zu praktischen Ärzten .................................................................................................................................. eher gut/gut: 94 Nähe zu Krankenhäusern ....................................................................................................................................... eher gut/gut: 90 Nähe zu Fachärzten ................................................................................................................................................ eher gut/gut: 84 Wartezeit bei praktischen Ärzten .......................................................................................................................... eher gut/gut: 67 Wartezeit in Krankenhäusern ................................................................................................................................ eher gut/gut: 62 Wartezeit bei Fachärzten ........................................................................................................................................ eher gut/gut: 55 Prozent Prozent Prozent Prozent Prozent Prozent Prozent Prozent Prozent Prozent 99 England Trotz aller Mängel lieben die Briten ihren NHS, das staatliche Gesundheitssystem. Das spürt jetzt die Politik: Sie wagt sich an Reformen und stößt auf Widerstand von allen Seiten. brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl Text: Sebastian Borger 100 T horsten Ruffle-Brandt, 44, hat einen neuen Arbeitgeber. Gut zehn Jahre lang war der deutsche Arzt einer von 1,7 Millionen Angestellten des National Health Service (NHS) in Großbritannien – eine Institution, die auf der Insel so viel Ansehen genießt wie höchstens noch die Queen. Seit Ende 2011 erhält der erfahrene Stationsarzt aus Plymouth sein Gehalt von einem neu gegründeten örtlichen Gesundheitsverbund. „Sonst hat sich bisher nichts geändert.“ Bisher. Wie der deutsche Einwanderer ist die große Mehrheit der (früheren) NHS-Angestellten voller Misstrauen gegenüber einer milliardenteuren Umstrukturierung, von der sich die konservativ-liberale Regierung in London mehr Dezentralisierung und Effizienz erhofft. Kritiker hingegen befürchten die Kommerzialisierung des bisher überwiegend steuerfinanzierten Systems, vor allem eine Aufweichung des ehernen Prinzips der Kostenfreiheit. Genau dies aber schätzen die Briten über alles, berichtet Ruffle-Brandt: „Wer immer man ist, was auch immer man verdient: Die Behandlung ist kostenlos.“ Zusatzleistungen. Die Normalbürger sind hingegen auf ihren Hausarzt, den sogenannten Generalpraktiker (GP), angewiesen. Ihn kann man innerhalb eines größeren Wohnbezirks frei wählen und bei Problemen auch wechseln. GPs fungieren als Zugangsschleuse zum NHS, nur durch sie erhalten Patienten eine Überweisung zum Facharzt, zur Krankengymnastik oder zu Routine-Eingriffen im Krankenhaus. In den vergangenen Jahren hat es im Gesundheitsbereich Rekord-Investitionen gegeben: Davon zeugen allerorten neue Krankenhäuser. Dennoch weist der Service für die Bürger erhebliche Mängel auf. Noch immer warten Kranke wochen- und monatelang auf Termine bei Spezialisten. Profit, Auslastung, Effizienz Im vergangenen Jahrzehnt, unter Labour, wurde an vielen Stellen Wettbewerb ermöglicht. Das habe in den Spitälern zu einer „spürbaren Entsolidarisierung“ geführt, lautet die Beobachtung eines Internisten, der an mehreren Krankenhäusern tätig ist. „In den Besprechungen geht es meist nur noch um Profit, Auslastung, Effizienz.“ Service mit Mängeln Für notwendige Eingriffe können In Großbritannien gibt es keine Kran- Patienten unter vier Krankenhäusern kenversicherungspflicht, und das NHS wählen, von denen eines privat geführt ist auch keine Krankenkasse, keine Ver- sein darf. Tatsächlich bleibt es aber sicherung. Niemand zahlt Beiträge, und meist bei der Auswahl durch den Hausman ist auch nicht Mitglied. Jeder, der arzt. Einer Publikation der Gesundheitskrank oder verletzt ist, wird grundsätz- Consultancy Laing & Buisson zufolge lich gemäß der medizinischen Notwen- entschieden sich im vergangenen Jahr digkeit behandelt und nicht nach sei- nur 4,8 Prozent der Patienten für eine nem Geldbeutel. Damit ist das NHS Privatklinik. Landesweit beschäftige das NHS, der Prototyp einer staatlichen Gesundheitsversorgung. Die Kosten werden zu so lautet ein gängiger Stoßseufzer, so 87 Prozent aus dem Steueraufkommen viele Menschen wie sonst nur noch finanziert, der Rest stammt aus priva- die chinesische Volksarmee und sei desten Quellen. Das Gesundheitsministe - halb auch entsprechend bürokratisch. rium erhält sein Budget direkt vom Die Klagen von Bediensteten – neben Finanzministerium und verteilt es auf Ärzten, Pflegern und Schwestern auch Zehntausende von Verwaltern – und die regionalen Verwaltungen. Rund 15 Prozent der Briten zahlen Patienten über Papierkrieg, Personalin private Versicherungen ein und si- mangel und marode Gebäude sind chern sich damit freie Arztwahl und sprichwörtlich. Doch bei aller Kritik: Die Reform von Gesundheitsminister Andrew Lansley sehen die Briten mit Argwohn. Zäh halten sie an dem System fest, das die Labour-Regierung 1948 einführte, um endlich die medizinische Versorgung für die ganze Bevölkerung sicherzustellen. Zu den jungen Wissenschaftlern, die damals mit großem Idealismus ans Werk gingen, gehörte auch Lansleys Vater. „Schon deshalb“, beteuert der 55jährige Konservative, „betrachte ich das NHS als meine Mission und würde es niemals schädigen.“ Daran zweifeln selbst seine Parteifreunde. Der mächtige, konservativ dominierte Gesundheitsausschuss des Unterhauses schlug Lansley die geplante Reform im Januar um die Ohren. Ärztliche Dienste, häusliche Pflege, Krankengymnastik und ähnliche Leistungen würden „in einer Art Salamitaktik“ immer stärker beschnitten, um sowohl den Sparvorgaben als auch der Reform des Ministers Rechnung zu tragen. Anfang Februar gab Lansley an einer wichtigen Stelle nach: Auch in Zukunft bleibt der Gesundheitsminister persönlich für die Gleichbehandlung aller Patienten in England verantwortlich. So stand es bisher im Gesetz, und so wird es bleiben. Das Zugeständnis wird aber nichts daran ändern, dass es wie schon bisher regionale Unterschiede gibt. Die ärztliche Versorgung von Schotten, Walisern und Nordiren steht in der Verantwortung der jeweiligen Regionalregierung, auch in den englischen Regionen entscheiden die örtlichen Verwaltungen unterschiedlich. Beispielsweise genießt auf dem Papier jeder Bürger denselben Anspruch auf Pflege im Alter wie auf Gesundheitsversorgung im NHS, eine eigene Pflegeversicherung gibt es nicht. Aber nur die Regionalregierung von Schottland ist der Empfehlung einer Königlichen Untersuchungskommission gefolgt und bezahlt komplett die Pflege alter Menschen sowohl in Heimen als auch in den eigenen vier Wänden. In England und 101 Undurchsichtige Bewertungen Die Nice-Entscheidungen haben jedoch Wirkungskraft weit über die Insel hinaus. Als weltweit erste Behörde unternahm das Institut den Versuch, den Wert einer medikamentösen Behandlung nicht nur an der rein biologischen Überlebenszeit zu messen, sondern auch an der Lebensqualität. Resultat ist der sogenannte Qaly-Index. Mit ihm wird eine komplizierte Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt. Je nach Ergebnis hebt oder senkt sich der Daumen der mächtigen Arzneimittel-Bewerter. Die unvermeidlichen Kontroversen rund um Nice-Entscheidungen drehten sich in den vergangenen Jahren besonders um Patienten, die an selteneren 102 Karzinomen leiden. Das Institut arbeite zu langsam, sei teuer und bürokratisch, urteilen führende Krebsmediziner. „Die unwissenschaftlichen und subjektiven Beurteilungen durch Nice treiben Patienten und Kliniker zur Verzweiflung“, sagt Jonathan Waxman, Professor für Onkologie am weltberühmten Londoner Imperial College. Betroffen vom Nice-Bannstrahl waren im Laufe der Jahre alle großen Pharma-Konzerne, binnen eines Jahres (2009) traf es Pfizer (Medikament: Sutent), Roche (Avastin) und GlaxoSmithKline (Tyverb). Alle wurden abgelehnt. Um Tyverb dennoch am Markt durchzusetzen, bot der britische Konzern dem NHS Sonderkonditionen an. Auch andere Firmen haben daraufhin ihre Preise gesenkt, um den Einwänden von Nice entgegenzukommen. Alleingelassene Patienten Damit hat die Behörde einen wichtigen Zweck schon erfüllt, schließlich machen sich Gesundheitspolitiker allerorten Gedanken darüber, wie sich die Kosten im Gesundheitswesen dämpfen lassen. Nice gehe dabei „transparenter vor, als das in Deutschland bisher der Fall war“, urteilt der Tübinger Medizinethiker Dietrich Rössler. Trotz des vergleichsweise offenen Umgangs mit den Themen Lebensverlängerung und Lebensqualität liegt bei der Palliativmedizin einiges im Argen, dabei stellt gerade sie für viele deutsche Ärzte ein Vorbild dar. Immer noch sterben viel zu viele im Krankenhaus statt zu Hause, wie von ihnen gewünscht. Eine Experten-Studie im Regierungsauftrag fand „erstaunliche Ungerechtigkeiten“ in der landesweiten Palliativ-Versorgung der rund 500 000 Sterbenden pro Jahr. In manchen Bezirken budgetiert die lokale Verwaltung pro Sterbenskrankem umgerechnet 222 Euro, in anderen 7409 Euro. „Am Ende ihres Lebens werden viele Patienten wie ein Jo-Jo behandelt, also ständig ins Krankenhaus eingeliefert und bald wieder entlassen“, analysiert Thomas HughesHallett von der Krebshilfe Marie Curie. Diese unwürdigen Zustände kennt Gesundheitsminister Lansley aus erster Hand, zählte doch sein Vater 2010 zu den Opfern unzulänglicher Palliativmedizin. Als Thomas Lansley, 89, in den Monaten vor seinem Tod mehrfach ins Spital eingeliefert wurde, geschah einmal so lange nichts, bis sich der erfahrene Wissenschaftler kurzerhand selbst entließ. An einem Sonntag musste der Minister anderthalb Stunden telefonieren, bis er herausgefunden hatte, wohin der Krankenwagen seinen alten Vater gebracht hatte. Der alte Herr musste mehrere Tage zur Beobachtung in der Notaufnahme verbringen, weil kein reguläres Krankenhausbett frei war. Die letzten sechs Monate vor dem Tod des Vaters „waren sehr schwierig“, berichtete Lansley im vergangenen Jahr auf einer Tagung zur Palliativmedizin. Dabei rühmt sich Großbritannien gern eines vergleichsweise unverkrampften Umgangs mit dem Tod. Bei der Pflege von schwerstkranken und sterbenden Menschen wird schon seit Längerem „auch auf die Kosten geachtet“, hat ein deutscher Arzt in britischen Hospitälern beobachtet. Seit Jahren veröffentlicht das Ministerium regelmäßig die Fortschreibung einer „Strategie für die Betreuung am Lebensende“; außerdem wird gern behauptet, die Insel sei als Ausgangspunkt der modernen Hospizbewegung „weltweit führend“ in der Palliativmedizin. Wer Angehörige in den Acht-BettZimmern britischer Hospize hat sterben sehen, wird sich dieser Bewertung nicht unbedingt anschließen. 7 Indien Im Land der Extreme gibt es alles und nichts: modernste Medizintechnik für wenige, schlimmste hygienische Zustände für die meisten. Und 80 Prozent aller Inder sind gar nicht krankenversichert. Text: Gerhard Waldherr brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl Wales müssen die Betroffenen eine Einkommenserklärung abgeben. Wer mehr als 28 000 Euro besitzt, zahlt selbst. Weil viele alte Menschen nur ein geringes Einkommen und wenig Ersparnisse haben, aber Wohnungen und Häuser besitzen, die zuletzt stark im Wert gestiegen sind, mussten Zehntausende ihre Immobilien verkaufen und in Pflegeheime umziehen. Für Verbitterung unter den Betroffenen sorgt auch die Gesundheitsversorgung von Pflegebedürftigen. Das NHS verweigerte der steigenden Zahl von Demenzkranken lange Zeit aus Kostengründen bestimmte Medikamente, die im Frühstadium noch hätten helfen können. Pharmafirmen und die Alzheimer-Gesellschaft riefen deshalb sogar das Höchste Gericht an. Im Kreuzfeuer der Kritik steht immer wieder das „Nationale Institut für Gesundheit und klinische Exzellenz“, abgekürzt Nice. Es entstand bereits 1999 als Antwort auf anhaltende Klagen über die „Postleitzahl-Lotterie“: Bis dahin entschied die örtlich zuständige NHSBehörde darüber, welche Behandlung bezahlt wurde. Stattdessen erlässt nun Nice landesweit geltende Regeln, an denen sich die regionalen Behörden im Normalfall orientieren. 103 U pper Middle Working Class“, sagt er, so würde er sich einstufen. Oberer Durchschnitt. Parvish Pandya ist 53, Doktor der Biologie, geschieden, zwei Kinder. Er unterrichtet Zoologie am Bhavans College in Mumbai, Stadtteil Andheri, wo er auch wohnt, in seinem einstöckigen Haus, drei Zimmer, Küche, Bad. In seiner Freizeit widmet er sich der Ornithologie und Naturexpeditionen, oft mit ehemaligen Schülern; sie stellen das Gros seiner 2098 Freunde auf Facebook. Wenn man ihn fragt, was er für seine Gesundheit tut, sagt Pandya: „Strikte Diät.“ Häufig Fisch, Reis, viel Gemüse und Obst, selten Fleisch, wenn möglich wenig Fett und Brot, kaum Alkohol. „Auch deswegen hatte ich zum Glück noch nie eine größere Operation oder war lange im Krankenhaus.“ Dennoch hat Pandya zwei Krankenversicherungen: Eine von New India Assurance unter dem Label „Mediclaim“; der Beitrag von 7400 Rupien (112 Euro) im Jahr deckt 30 Krankenhaustage à 600 Rupien (9 Euro), dazu die Behandlung davor und danach. Die andere ist von ICICI Lombard, kostet 5763 Rupien (88 Euro) im Jahr und garantiert die Übernahme von Behandlungskosten bis 800 000 Rupien (12 200 Euro). Zusätzlich genießt Pandya noch Versicherungsschutz durch seinen Arbeitgeber. Die Ausgaben für die beiden Versicherungen, sagt Pandya, würden ihn finanziell nicht sehr belasten, er leiste sich dazu einen wöchentlichen Besuch bei einer Homöopathin. Kosten: 150 Rupien (2,30 Euro). Überhaupt keine Probleme? „Den richtigen Arzt zu finden ist wichtig“, so Pandya. „Aber da meine Ex-Frau Ärztin ist, kenne ich Leute.“ Und sonst? „Meine letzte Erfahrung mit Krankenhäusern war 1996, als mir ein Backenzahn entfernt wurde und ich eine Nacht stationär lag.“ Die Kosten von 6000 Rupien (92 Euro) wurden von der Versicherung anstandslos bezahlt. Anderswo auf der Welt wäre Dr. Parvish Pandya ein aussagekräftiges Bei104 spiel, stellvertretend für das Gesundheitssystem seines Landes. Einer von Millionen, statistisch irgendwo in der Mitte. Doch in Indien ist der Durchschnitt meist nicht mehr als ein statistisches Vehikel zwischen Gegensätzen und Extremen – und damit im Zweifel die Ausnahme. Die Gegensätze: siebtgrößtes Land der Erde, im Norden der Himalaya, im Süden Tropen, dazwischen Regenwald, Gebirge, gemäßigte Zonen, Steppen, Wüsten. 1,2 Milliarden Einwohner, 23 offizielle Sprachen, vier Weltreligionen. Ein soziales Panoptikum. Mehrere Dutzend politische Parteien. 300 Arten, eine Kartoffel zuzubereiten. Kaum gemeinsame Nenner. Das Leben der Menschen unterscheidet sich dramatisch nach Ethnie, Religions- und Kastenzugehörigkeit, im gesellschaftlichen Status und in den wirtschaftlichen Möglichkeiten. Und nicht zuletzt darin, ob jemand in der Stadt lebt oder auf dem Land, wie etwa zwei Drittel aller Inder. Weniger als 1,25 $ zum Leben Die Extreme: Indiens Wirtschaft wächst seit mehr als zwei Jahrzehnten kontinuierlich, gehört zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt. Aber: Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner betrug im Jahr 2010 lediglich 1475 USDollar, damit belegt Indien nur einen Platz im unteren Drittel der von der Weltbank mit diesem Indikator bewerteten Länder, hinter Nachbar Bhutan, und nicht weit vor Krisenländern wie Jemen oder Sudan. Von den rund 460 Millionen Erwerbsfähigen des Landes sind nur knapp die Hälfte überhaupt erwerbstätig, von denen wiederum nur ein kleiner Teil im formellen Sektor. Das Gros verteilt sich auf Selbstständige, Lohn- und Wanderarbeiter, Tagelöhner. Während es in Mumbai, der wirtschaftlichen Metropole des Landes, rund 70 000 Dollarmillionäre geben soll, leben etwa ein Viertel aller Inder von weniger als 1,25 Dollar am Tag. Seit 1950 garantiert die Verfassung allen Indern sozialen Schutz, darunter die kostenlose Gesundheitsversorgung. Die Umsetzung dessen obliegt Regierung, Bundesstaaten und Kommunen gemeinsam. Zunächst verfolgte Indien dabei ein staatliches System. Seit der wirtschaftlichen Öffnung des Landes 1991 haben sich die öffentlichen Ausgaben aber zunehmend in den privaten Bereich verlagert. Diese Schieflage spiegelt sich in der Krankenversicherung wider. Das staatliche Modell wird finanziert durch Beiträge von Arbeitnehmern (1,75 Prozent vom Arbeitslohn), Arbeitgebern (4,75 Prozent vom Arbeitslohn) und durch staatliche Zuschüsse (12,5 Prozent der anfallenden medizinischen Kosten). Erhältlich ist es jedoch nur für Beamte und die schon genannten acht Prozent Arbeitnehmer im formellen Arbeitsmarkt. Und das auch nur, wenn sie weniger als 15 000 Rupien (225 Euro) monatlich verdienen. Zusammen mit dem Teil der Bevölkerung, der privat versichert ist, bedeutet das: Nur 20 Prozent sind überhaupt versichert, vier von fünf Indern sind gar nicht gegen Krankheit oder Unfall abgesichert. Hinzu kommt: Weder die staatliche noch die private Versicherung deckt in aller Regel die Kosten für die ambulante Behandlung bei niedergelassenen Ärzten, auch der Service in Krankenhäusern muss vorab bezahlt werden. Zwar wären sie per Gesetz verpflichtet, Patienten aus unterprivilegierten Schichten kostenlos zu behandeln. Doch in der Praxis werden vor allem Mitglieder der 635 Unterkasten (Unberührbare) und Stammesangehörige aus Prinzip abgewiesen. Es gibt in Indien geschätzt 22 000 staatliche Primary Healthcare Centers (Primärstationen, die der Grundversorgung dienen) und 137 000 Unterzentren, dazu 12 000 sekundäre (Fachkliniken) und tertiäre (Spezialkliniken) Krankenhäuser, 3000 kommunale Gesundheitszentren und 3500 Familienbetreuungszentren. Einige der großen staatlichen Lange Wartezeiten, veraltete Technik, mangelnde Hygiene. Betten ohne Laken, Gestank, Ungeziefer. Es ist ein Albtraum. Krankenhäuser – wie das AIIMS in Delhi, das KEM in Mumbai oder das PGIMER in Chandigarh – haben in Indien einen passablen Ruf. Dem westlichen Betrachter mag das nicht einleuchten. Wer einmal im KEM in Mumbai war, sieht Menschen, die neben Tieren auf dem Flur schlafen; Säle mit bis zu 300 Betten, die Patienten liegen mitunter zwischen den Betten auf dem Boden. Vor Visiten schicken die Patienten ihre Angehörigen zur Apotheke, um Spritzen und Gummihandschuhe für die Blutabnahme zu kaufen. Liegen diese nicht am Bett, wenn der Arzt kommt, wird kein Blut abgenommen. Geradezu desaströs ist die Lage auf dem Land, wo Primärstationen häufig weit entfernt von Dörfern liegen, schwer zu erreichen sind und nicht einmal über rudimentäre Technik verfügen. Erhältlich sind oft nur gängige Schmerztabletten wie Paracetamol. Auch in sekundären oder tertiären Krankenhäusern ist die Versorgung unzureichend. Was auch daran liegt, dass 75 Prozent des Budgets für Personal ausgegeben wird. Und das, obwohl die Ärzte und Pfleger schlecht ausgebildet sind und sich noch Geld im besser bezahlten privaten Sektor dazuverdienen, wo 80 Prozent aller ärztlichen Dienstleistungen stattfinden. Im Schnitt sind die Ärzte bei staatlichen Einrichtungen in der Hälfte der Arbeitszeit gar nicht anwesend. Hinzu kommen Probleme wie Korruption und Missbrauch bei Medikamenten- und Arztrechnungen. Stundenlange, manchmal tagelange Wartezeiten. Veraltete Medizintechnik. Mangelnde Hygiene. Nicht sterile Instrumente. Betten ohne Laken. Gestank. Ungeziefer. Dr. Abhishek Bhargav, Allgemeinarzt in Mumbai, sagt: „Es ist ein Albtraum.“ Völlig anders die Situation im privaten Sektor. In Indien sind in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl von Krankenhausketten entstanden, die gefördert werden mit staatlichen Zuschüssen, Steuervorteilen, kostenlosem Bauland. Wer sich die Behandlung in Einrichtungen der Unternehmen Apollo, Fortis, Wockhardt, Hiranandani oder Lilavati leisten kann, trifft auf westlichen Standard und modernste Technik. Man muss sie sich vorstellen wie Polikliniken mit Spezialisten aller medizinischen Fachbereiche, mit eigenen Labors, Apotheken. Die Behandlung erfolgt prompt, das Personal ist kompetent. Indiens führende Universitäten, die zu den besten der Welt zählen, bilden hervorragende Mediziner aus. Und die lassen den Medizintourismus seit Jahren boomen: Für eine Herzoperation, die in den USA mehr als 300 000 Dollar kosten kann, fallen in einem der besten indischen Krankenhäuser etwa 8000 Dollar an. Neben im Ausland lebenden Indern kommen vor allem Amerikaner, Europäer und wohlhabende Afrikaner. Offeriert werden inzwischen Pauschalreisen inklusive Erholungsurlaub. Und nicht nur hier boomt es: Auf dem Schwarzmarkt gibt es einen schwunghaften Handel mit Organen, hauptsächlich Nieren. Gängiger Preis pro Niere: 1000 Dollar. 0,6 Ärzte und 0,9 Betten pro 1000 Einwohner Dr. Amit Mukherjee steht im Tinplate Hospital, Jamshedpur, Bundesstaat Jharkhand. „Der Staat“, sagt Mukherjee, „hat sein Versprechen auf eine Gesundheitsversorgung der Bevölkerung nie eingelöst.“ Ein vornehmer älterer Herr, dunkles Haar, Schnurrbart. Er fragt, wie ein Volk adäquat versorgt werden soll bei statistisch 0,6 Ärzten und 0,9 Krankenbetten pro 1000 Einwohnern? Indiens Gesundheitswesen sei zu einem Abbild des Wirtschaftswunderlandes geworden, sagt er. Erste Welt, Hightech und internationaler Standard für wenige, der riesige Rest dagegen Entwicklungsland, Not und Elend. Zwar ist die Lebenserwartung zuletzt auf 65 Jahre gestiegen, doch Indien hat weiter eine sehr hohe Säuglingssterblichkeit. Unter der armen Bevölkerung grassieren Tuberkulose, Malaria, Typhus, Lepra und Aids. Fünf 105 „Als Inder lebt man mit seinen Leiden, bis man stirbt.“ Dr. Amit Mukherjee Prozent der Kinder sterben, bevor sie ein Jahr alt sind – häufig an Masern, Durchfall, Wurmerkrankungen. Jeder achte Inder hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Mukherjee: „Und wir sind nicht in der Lage, den zunehmenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Asthma, Osteoporose zu begegnen. Diabetes könnte sich schon bald zu einer Epidemie entwickeln.“ Viele Lücken im staatlichen System Er hat in Deutschland gearbeitet, Klinikum Steglitz. Das war Ende der Siebzigerjahre, als sein Vater in Berlin Generalkonsul war. Mukherjee wäre gern geblieben, doch seine Mutter erinnerte ihn daran, dass seine Landsleute ihn dringend brauchten. Er ging nach Hazirabagh in Jharkhand, einen der ärmsten Bundesstaaten Indiens, wo er als Allgemeinarzt 22 Dörfer betreute. Nun arbeitet er für Tata Steel, das in Jamshedpur Stahl produziert und mit dem Tinplate Hospital insgesamt drei Krankenhäuser betreibt. Tata ist einer der ältesten und größten indischen Mischkonzerne, dessen Gründer für seine philanthropische Gesinnung legendär war. Gerade hat Mukherjee einen Patienten mit gebrochenem Schienbein operiert, gleich wird er rausfahren zum Parkplatz der Lkw-Fahrer, um sie über Aids aufzuklären, später in einem von 22 Familienzentren, die Tata unterhält, bei der Sterilisation von Männern assistieren. Unternehmen wie Tata schließen zusammen mit Nichtregierungsorganisationen, die ebenfalls Krankenstationen betreiben und Versicherungen anbieten, zumindest einen Teil der Versorgungslücken, die das staatliche indische System hinterlässt. Mukherjee sagt: „Unser System funktioniert nicht, weil Geld in Indien sakrosankt geworden ist und die menschlichen Werte vergessen werden. Wir verkaufen unsere Kultur.“ Was also bleibt Abermillionen mittellosen Indern, die krank oder invalide 106 werden, sich aber eine professionelle Behandlung nicht leisten können? Wenn sie sich nicht verschulden – jeder fünfte Krankenhauspatient fällt durch die Behandlungskosten in Armut –, greifen sie zu traditionellen Hausmitteln. Kräuterpasten, Kräutertees, traditionellen Tinkturen. Sie setzen auf die Heilkraft von Gewürzen und Wurzeln. Oder suchen sogenannte „Quack Doctors“ auf, die in Slums am Straßenrand praktizieren, mit archaischen Instrumenten Zähne ziehen, direkt neben Kloaken. Etwa 1,5 Millionen „Heiler“ praktizieren in Indien. Dazu zählen auch mindestens 120 000 Ayurveda-Ärzte. Doch auch bei Ayurveda (wörtlich: das Wissen vom Leben), das landesweit in mehr als 100 Schulen gelehrt wird, wie auch bei den traditionellen Praktiken Unani und Siddha oder der in Städten zunehmend populären Homöopathie, hängt die Qualität der Leistung entscheidend vom Preis ab. USA Das Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten ist ein Dschungel. Wer sich darin zurechtfinden will, muss sich auf Irrungen, Wirrungen, horrende Preisunterschiede und ein starkes Leistungsgefälle gefasst machen. Text: Steffan Heuer Heilungschancen wie beim Lotto Der Markt der Heiler gleicht für westliche Betrachter – wie ganz Indien – einem heillosen Durcheinander ohne nachvollziehbare Strukturen und Regeln. Lizenzen, Registrierung, Kontrollen – all das gibt es nicht. Nicht einmal in großen Teilen des staatlichen und privaten Gesundheits- und Apothekensystems. Allerdings sind die meisten Medikamente, auch verschreibungspflichtige, in Shops erhältlich, die sich „Medical Store“, „Chemists & Druggists“ oder „Pharmacy“ nennen. Aber auf sachgemäße Behandlung oder gar Heilung hat man ähnlich hohe Chancen wie auf den Jackpot beim Lotto. Dr. Amit Mukherjee sagt: „Die meisten Inder kennen nur eine Perspektive: Man lebt mit seinen Leiden, bis man stirbt.“ 7 107 M rs. P. bringt in einem ganz normalen Krankenhaus in San Francisco einen ganz normalen, gesunden Sohn zur Welt. Die Rechnung für Arzt, Hebamme, Anästhesist, Schwestern und drei Tage Aufenthalt kommt postwendend: mehr als 75 000 Dollar. Nach dem ersten Schrecken setzt sich die Bürokratie in Gang. Die Versicherung der Mutter teilt dem Krankenhaus per Computerausdruck mit, dass sie für Geburten wie diese nur 25 000 Dollar erstattet. Die Differenz muss die Klinikverwaltung schlucken, auch wenn sie noch drei Mahnungen an die jungen Eltern schickt. Die Klinik akzeptiert den ZwangsDiscount der Versicherung – nur so kann es zumindest einen Teil seiner Kosten decken, wohingegen sonst in der Entbindungsstation tagein, tagaus Mütter versorgt werden, die illegal im Land sind und deswegen keinen Cent zahlen. Die Fehlbeträge gleicht eine Mischkalkulation aus, indem an zahlungskräftige Patienten überhöhte Rechnungen gestellt werden. Wäre Mrs. P. privat oder gar nicht versichert, hätte sie den vollen Betrag per Kreditkarte zahlen oder in Raten abstottern dürfen, abzüglich eines vom Verhandlungsgeschick des Patienten abhängigen Rabatts. Willkommen im Chaos. Das Diktat des freien Marktes hat das Gesundheitswesen in den Vereinigten Staaten in ein sündhaft teures Biotop verwandelt, in dem sich hilfesuchende Patienten und selbst Dienstleister wie Ärzte, Labors und Krankenhäuser kaum noch zurechtfinden. Angefangen bei der Frage, wer sich wie und wofür versichern kann, bis zum Besuch bei einem Facharzt – bei allen kleinen und großen Nöten an Leib und Seele ist hartnäckiger Spürsinn gefragt und ein ausgiebiger Papierkrieg fast unvermeidlich. Wer sich etwa im Bundesstaat Kalifornien die Gallenblase laparoskopisch entfernen lässt, zahlte im Jahr 2009 dafür am Medical Center der University of Southern California in Los Angeles 6082 Dollar; gerade einmal 26 Kilome108 ter weiter südlich, im Kindred Hospital South Bay, kostete dieselbe Operation 184 376 Dollar. Im Norden, in San Francisco, verlangte das California Pacific Medical Center 38 656 Dollar. Das sind allerdings nur die Listenpreise der Krankenhäuser, die in der Regel als Verhandlungsbasis dienen – ähnlich dem Schachern beim Neuwagenkauf. Sowohl die drei staatlichen Versicherungsprogramme namens Medicaid (für Einkommensschwache), Medicare (für Senioren und Behinderte) und die Veteranen-Versicherung sowie alle privaten Krankenversicherungen handeln mit jedem Dienstleister eigene Tarife aus. So kommt es, dass der Patient im Notfall zwar von keinem Krankenhaus zurückgewiesen wird, aber für normale ambulante wie stationäre Behandlungen einen ausgiebigen Irrlauf durch die Instanzen antreten muss, um herauszufinden, welche Ärzte und Kliniken die jeweilige Police akzeptieren und welche Behandlungen sie erlauben. Enorme Ausgaben – und seltsame Auswüchse Der freie Markt für ein öffentliches Gut hat seinen Preis. „Kein anderes fortschrittliches Land gibt einen höheren Anteil seines Bruttoinlandsproduktes für das Gesundheitswesen aus als die USA, fast zweieinhalbmal so viel pro Kopf wie die Europäer. Geld ist also mehr als genug da, um alle gut zu versorgen“, kritisiert Arnold Relman, Professor Emeritus der Harvard Medical School und ehemaliger Chefredakteur des New England Journal of Medicine. Trotz der hohen Kosten sind keineswegs alle der mehr als 300 Millionen US-Bürger ausreichend versichert. Knapp die Hälfte aller Einwohner hat eine Krankenversicherung über den Arbeitgeber, 17 Prozent sind als Einkommensschwache über Medicaid versichert, weitere zwölf Prozent als Senioren oder Behinderte über Medicare sowie fünf Prozent über persönliche Policen. 16 Prozent oder fast jeder sechste US-Bür- ger besitzen keine Krankenversicherung und müssen nicht nur bei Vorsorgeuntersuchungen, sondern auch bei der Behandlung von chronischen Erkrankungen auf angemessene ärztliche Versorgung verzichten oder riskieren den persönlichen Bankrott. Die Tatsache, dass die Mehrheit der Bevölkerung über ihren Arbeitgeber versichert ist, führt zu seltsamen Auswüchsen, denn die Abdeckung der von den Unternehmen angebotenen Krankenversicherungen schwankt je nach Spendierlaune oder sozialem Gewissen der Firma. Unternehmen handeln über Makler ein Bündel an Versicherungs paketen aus, unter denen die Angestellten wählen. Normalerweise können sie ihre Police nur einmal im Jahr während eines mehrwöchigen Zeitraums ändern, im Fachjargon die „Jagdsaison“ (Open Season) genannt. Je nach Unternehmen und Vorliebe können Arbeitnehmer wählen zwischen einer Basisversicherung, die nur teure Katastrophen abdeckt, einer sogenannten HMO, die den Zugang zu Ärzten, Spezialisten und Medikamenten streng deckelt, sowie einer großzügigeren Variante namens PPO, die relativ freie Arzt- und Krankenhauswahl erlaubt. Zahn- und Augenarzt-Versicherung sind in der Regel teure Extras, ebenso Versicherungen, die Rezepte bis auf eine kleine Zuzahlung abdecken. Die verwirrende Vielfalt hat einen einfachen Grund: Es gibt keine Solidargemeinschaft im europäischen Sinne. Jedes Unternehmen handelt je nach Risiko-Pool seiner Belegschaft eigene Prämien aus, von denen die Arbeitnehmer nur einen Bruchteil selbst bezahlen – etwa 50 oder 75 Dollar bei einem monatlichen Beitrag von 500 Dollar oder mehr. Die relativ geringe Zuzahlung der Beschäftigten war ursprünglich als Anreiz gedacht, damit Unternehmen in den Boom-Zeiten der Nachkriegsjahre besser um knappe Arbeitskräfte konkurrieren konnten. Inzwischen sind diese Policen einer der größten Lohnnebenkostenblocks geworden. So schlug im Jahr 2010 die durchschnittliche Arbeitnehmerpolice (über die in der Regel auch die Familie mitversichert ist) mit 13 770 Dollar zu Buche, wovon der Arbeitgeber 9773 Dollar übernahm. Die Splittung klingt gut, hat aber Nachteile: Die Versicherung ist stets an den Job gebunden. Wer also entlassen wird oder den Arbeitgeber wechselt, verliert fast immer die Versicherungsgesellschaft und das an sie angeschlossene Netzwerk an Ärzten, Kliniken und selbst Apotheken, die die Police akzeptieren. Eine neue Stelle ist gleichbedeutend mit der Suche nach einem neuen Hausarzt, Kinderarzt oder Frauenarzt, mit dem die neue Versicherung günstige Konditionen ausgehandelt hat. Das soziale Netz hängt durch Wer länger arbeitslos ist, kann sich dank einer Bundesregelung bei der Kasse des alten Arbeitgebers bis zu drei Jahren weiterversichern, muss allerdings plötzlich den vollen Betrag aus eigener Tasche zahlen – was oft einer zehnfachen Beitragserhöhung gleichkommt. Und je nachdem, mit welchem der „Pharmacy Benefit Manager“ die Versicherung einen Vertrag für die Ausgabe rezeptpflichtiger Medikamente abgeschlossen hat, ist auch die Apotheke um die Ecke plötzlich tabu. Privatpatienten, die sich auf eigene Faust versichern, haben einen schweren Stand, da die wenigsten Versicherungen einem Individuum über den Weg trauen: Wer keiner Gruppe angehört, für den lassen sich auch keine Risiken hochrechnen. So werden chronisch Kranke routinemäßig abgewiesen oder nur mit einem Leistungsausschluss für bestimmte Krankheiten aufgenommen. Policen können jederzeit erhöht werden, wenn ein Kunde eine neue Diagnose erhält, teure Medikamente einnimmt oder hohe Behandlungskosten verursacht. Viele Versicherungspolicen enthalten zudem Klauseln, die eine Deckungssumme festlegen, bis zu der ein Patien- tenleben lang maximal gezahlt wird. Jenseits dieses Maximums ist auch ein vermeintlich gut versicherter Arbeitnehmer plötzlich auf sich und sein Erspartes gestellt, wenn für Chemo- oder andere kostenintensive Therapien Hunderttausende Dollar fällig sind. So kamen die renommierten Gesundheitsexperten David Himmelstein, Deborah Thorne, Elizabeth Warren und Steffie Woolhandler in einer viel beachteten Studie zu dem Ergebnis, dass fast zwei Drittel aller persönlichen Bank rotte auf Schulden aus medizinischer Behandlung zurückzuführen sind – und das, obwohl drei Viertel der Betroffenen versichert waren. „Das US-Gesundheitswesen behandelt physische Wunden, aber schlägt finanzielle“, lautete das ernüchternde Fazit der Akademiker. Das soziale Netz jenseits der Notaufnahme hängt durch: Wer unter eine bestimmte Armutsschwelle sinkt, kann sich über das Medicaid-Programm versichern. Einer der Hauptnutznießer sind Familien mit kleinen Kindern, die zu den sogenannten „working poor“ gehören, die also in Haushalten mit geringem Einkommen leben. So besitzt jedes sechste Kind in Texas keine Krankenversicherung – in der Grenzregion des Rio Grande etwa strömen Bürger einmal im Jahr zu kostenlosen Feldlazaretten der Nationalgarde. Auch bei Medicaid sind die Details verwirrend und führen je nach Wohnort zu einem drastischen Versorgungsgefälle, denn jeder Bundesstaat legt aus politischen Motiven eine eigene Berechnungsgrenze fest. So darf eine Schwangere in Iowa bis zum Dreifachen der landesweiten Armutsgrenze verdienen, ohne die Versicherung für sich und ihr Kind über Medicaid zu riskieren. In Colorado und North Dakota ist sie dagegen bereits nicht mehr förderungsberechtigt, wenn ihr Einkommen die Armutsgrenze um ein Drittel überschreitet. Zudem akzeptieren immer mehr Ärzte und Krankenhäuser keine Medicaid-Patienten, da ihnen die erstattungsfähigen Tarife zu niedrig sind. Wer wie Mrs. P. zu den Glücklichen gehört, die eine Versicherung besitzen, muss bei fast jeder Frage erst einmal am Hausarzt als Türsteher vorbei. Als Primärversorger entscheidet er über jede Überweisung zu einem Spezialisten, und dementsprechend können es sich nur wenige leisten, eine zweite Meinung einzuholen oder ihren Arzt nach Belieben zu wechseln. Wer überwiesen wird, muss Formulare ausfüllen, eine Zuzahlung leisten – und kann wie Mrs. P. trotzdem sicher sein, über Monate hinweg Rechnungen von den Labors und Fachärzten sowie Schreiben von Inkasso-Büros zu erhalten. Nicht zufällig verschlingen Buchhaltung und Verwaltung sieben Prozent der amerikanischen Gesundheitsausgaben. Die Gesundheitsreform der ObamaRegierung, die eine Versicherungspflicht für alle Privatpersonen vorsieht, dürfte nach Expertenmeinung nur wenige dieser strukturellen Probleme lösen. Ein republikanischer Präsident wird die Neuregelungen aufzuheben versuchen, und der Oberste Gerichtshof untersucht bereits, ob eine solche Versicherungspflicht gegen die Verfassung verstößt. Sollten die Reformen wie geplant ab 2014 schrittweise in Kraft treten, müssten alle Bundesstaaten einen Versicherungsmarktplatz – eine sogenannte „Exchange“ – für ihre Bürger einrichten. Zum ersten Mal könnten sie dann Preise vergleichen. Aber selbst diese Vorschrift geht vielen konservativen Bundesstaaten als vermeintliche Bevormundung aus Washington bereits zu weit. Obama würde also nur ein paar Schneisen in den Dschungel schlagen. 7 109 Schweden Hier treffen neuerdings zwei Welten aufeinander: staatlich und privat. Doch entgegen aller Theorie ist das Ende des jahrzehntelangen Staatsmonopols nicht immer zum Vorteil der Patienten. Text: Clemens Bomsdorf T rostlos und trüb wie in einem Mankell-Film präsentiert sich das schwedische Gesundheitssystem: Die Ärztezentrale von Malmö ist in einem schlichten, jahrzehntealten Bau aus gelbem Backstein an einer Ausfallstraße zu Hause. Durch die Fenster scheint Leuchtstoffröhrenlicht hinter weißen Jalousien. Eine Betonrampe und ein paar ebenso graue Stufen führen zum Eingang, der dem eines Mietshauses ähnelt. Wohl um die Tristesse eines Sozialbaus zu vermeiden, sind weinrote Markisen angebracht, auf denen in hübscher Schreibschrift „Sorgenfri“ steht. „Wir Ärzte bei Sorgenfri werden vom Staat bezahlt, und die Patienten zahlen nichts, von einer Praxisgebühr abgesehen“, sagt die Chefin Annika Brorsson und fügt hinzu: „Aber alle bekommen den gleichen Service.“ Damit fasst sie den Kerngedanken des schwedischen Gesundheitssystems zusammen, geprägt von jahrzehntelanger sozialdemokratischer Politik: Geben nach Möglichkeit, nämlich über die Steuer – Nehmen nach Bedürfnis. Egal, ob Steuerzahler oder nicht, jeder, der in Schweden lebt oder arbeitet, hat Anrecht auf kostenlose ärztliche Behandlung. Die Finanzierung erfolgt über die allgemeine Einkommensteuer. Eine extra selbst finanzierte Krankenversicherung ist nicht notwendig. Doch seit 2006, als Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt mit seiner konservativ-liberalen Koalition ins Amt kam, hat sich vor allem im Gesundheits system einiges geändert. Der von den Sozialdemokraten immer verteidigte Anti-Privatisierungskurs bei Apotheken, Krankenhäusern und Praxen wurde umgekehrt. Seitdem gingen zahlreiche Praxen sowie vereinzelt Krankenhäuser von staatlicher in private Regie über, und Apotheken wurden an Investoren verkauft. Ziel war es, das Angebot zu verbessern und privates Unternehmertum dort zuzulassen, wo bisher der Staat ein Monopol hatte, und so für mehr Beschäftigung zu sorgen. „Ich begrüße die Privaten. Vielfalt und Wettbewerb sind gut“, sagt Annika Brorsson von Sorgenfri. Sie konkurriert seitdem mit privaten Praxen um Patienten. Alle Schweden können jetzt zwischen einer privaten oder öffentlichen Hausarztpraxis wählen. Wer mehr will, also Zusatzleistungen, die nicht bezahlt werden, kann sie dazukaufen oder sie mit einer privaten Versicherung finanzieren. Gesundheitskontrollen sind solche Zusatzleistungen, die die privaten Praxen anbieten, wo man übrigens auch schneller drankommt als in der staatlichen Warteschleife. Die Privatisierung führt zu Zweiklassenmedizin Fredrik Westander, freier Berater im Gesundheitswesen, kritisiert, dass dadurch eine Zweiklassenmedizin entstehe. „Der, der den größten Bedarf hat, sollte als Erster behandelt werden, nicht der mit mehr Geld“, sagt Westander, der im Oktober im Auftrag des Thinktanks Arena einen Bericht über die Privatisierung des Gesundheitssystems veröffentlicht hat. Die Vorteile der Privatversicherungen wie zusätzliche Behandlungen und kürzere Wartezeiten wögen die Nachteile nicht auf. Der Berater sieht zudem die Gefahr, dass private Firmen, die an ärztlichen Leistungen verdienen, Patienten Behandlungen verkaufen, die gar nicht unbedingt notwendig sind – nicht nur volkswirtschaftlich ein fragwürdiger Effekt. Die Zahl der Privatversicherten hat in jüngster Zeit zugenommen und liegt heute bei rund vier Prozent der Bevölkerung. Damit bleibt Schweden aber noch weit hinter Dänemark und Großbritannien zurück, wo das Gesundheitssystem auch grundsätzlich steuerfinanziert ist. Genau genommen ist es eine private Zusatzversicherung, denn die Patienten nutzen wie alle anderen auch weiter das staatliche System. Offizielle Statistiken zu Einnahmen und Ausgaben der privaten Versicherungen gibt es nicht, doch Westander rechnet mit maximal 150 Millionen Euro jährlich, die die Privatversicherungen für ihre rund 400 000 Versicherten abdecken. In Schweden wird das Gesundheitssystem also einerseits öffentlich via Steuern finanziert und andererseits privat via Versicherung. Und die Hausarztpraxen, ob nun privat oder staatlich betrieben, funktionieren alle nach demselben Prinzip: Die, die nicht primär Privatpatienten nehmen, finanzieren sich durch die Pauschalbeträge, die jährlich pro Patient vom Staat überwiesen werden. Im Falle von Sorgenfri beträgt der Grundbetrag rund 300 Euro, die die Region Skåne, zu der Malmö gehört, überweist. Für einige Leistungen wie Augenuntersuchungen wird noch zusätzlich Geld gezahlt. „Vor 2009 haben Verwaltung und Politik unser Budget festgeschrieben, ohne viel Logik; so wie jetzt ist es besser“, findet Brorsson. Rund 12 000 Patienten sind in ihrer Praxis gemeldet, sie werden von zehn Ärzten betreut. Prinzipiell kann jeder seinen Hausarzt frei wählen und auch wechseln. Es ist aber notwendig, diese Wahl registrieren zu lassen. Üblicherweise bleibt man mehrere Jahre bei seinem Hausarzt, der dann entsprechend lange Geld überwiesen bekommt. „Die Kommunen und Regionen können selber entscheiden, nach welchem Schlüssel sie Geld an die Praxen verteilen“, sagt Stefan Ackerby vom Kommunalverband SKL. Gut gedacht – schecht gemacht Auch wenn das System über Steuern finanziert wird, müssen die Bürger sich an Kosten für Arztbesuch und Medizin bis zu einem gewissen Grad beteiligen. Arzneimittel bis rund 100 Euro pro Jahr zahlt jeder selbst. An allem, was darüber liegt, beteiligt sich der Staat, wobei niemand auf jährlichen Kosten von mehr als 200 Euro sitzen bleibt. Ähnlich sieht es bei der Praxisgebühr aus: Im Jahr werden nie mehr als 100 Euro fällig. Zahnarztbehandlungen hingegen müssen überwiegend selbst bezahlt werden. 111 Der Apothekenmarkt in Schweden wurde im Jahr 2009 privatisiert, die Auswirkung ist offensichtlich. Sah man früher im Stadtbild nur den grünen Schriftzug der staatlichen Monopolapotheken, leuchtet jetzt an jeder Ecke ein anderes Apothekenschild. Am Platz Triangeln in der Malmöer Innenstadt liegen keine 100 Meter voneinander entfernt gleich drei Apotheken. Die konservativ-liberale Regierung hat vor allem aus ideologischen Gründen privatisiert. Mehr Wettbewerb sollte mehr Service für die Kunden bedeuten, und mit mehr Apotheken sollten mehr Schweden versorgt werden. Statistisch gesehen hat das funktioniert: Die Zahl der Apotheken ist um rund ein Drittel gestiegen. Doch die Kunden der drei Apotheken am Triangeln stellen keine bessere Servicequalität fest. So beklagt sich Kristina Blomquist, die gerade mit einer kleinen Tüte eine „Medstop-Apotheke“ verlässt: „Früher konnten die im Computer nachschauen, wo ein Medikament vorrätig ist, wenn sie es selbst nicht hatten. Jetzt muss ich überall hinlaufen.“ Konkurrenz über die Preise der Arzneimittel ist nicht möglich: Die sind staatlich reguliert und in allen Apotheken gleich. Trotz Privatisierungswelle ist das Krankenhaussystem in Schweden überwiegend staatlich geblieben. Schmuckstück in Malmö ist das neue Universitätskrankenhaus, das von außen auch als Designhotel durchgehen würde. Das Gebäude ist rund, die Fassade teils aus Glas, teils farbenfroh in Grün, Orange oder Rot. Der Eingangsbereich der Notaufnahme ist licht und großzügig gestaltet – hier erinnert nichts an ein Krankenhaus, eher würde man meinen, sich in der VIP-Lounge eines Flughafens zu befinden. Wenn es nach Per Wihlborg gehen würde, wäre es hier noch ruhiger. „Dreißig bis vierzig Prozent der Patienten schicken wir wieder nach Hause, weil ihr Leiden gar nicht akut ist“, sagt der Oberarzt der Notaufnahme. Wihlborgs Bemerkungen sind spitz. Hauptsächlich beklagt er die Überlas112 tung des Krankenhauses. „Die Hausärzte sind überfordert, weil sie zu wenig Kapazitäten haben, deshalb schicken sie zu viele Patienten zu uns. Oder die kommen gleich von selbst, obwohl das gar nicht nötig wäre“, sagt er. Da schrecke auch die Patientenabgabe von 40 Euro nicht ab. Der Andrang in der Notaufnahme belege Kapazitäten, die anderswo zur Behandlung benötigt würden und treibe die Kosten in die Höhe. Fehlende Hausärzte – volle Krankenhäuser Es müsse doppelt so viele Hausärzte geben, sagt auch Marie Widen, die Vorsitzende des Ärzteverbundes. Besonders auf dem Land herrsche Mangel – die Arbeit in der Großstadt oder im nahen Norwegen, wo besser bezahlt wird, sei attraktiver. Seit einigen Jahren sollen Telemedizinprojekte die Unterversorgung mit Ärzten ausgleichen: Die Kommunikation zwischen Patient und Arzt erfolgt über eine Art Skype, und auch Daten wie Blutdruckwerte werden elektronisch übermittelt, sodass beide Hunderte von Kilometern voneinander entfernt sein können. Der Arzt kann mehr Patienten behandeln, unnötige Krankenhausbesuche werden vermieden. Die Krankenhausleitung von Malmö muss im Budget künftig rund 50 Millionen Euro einsparen und hat unter anderem den Vorschlag gemacht, nur noch Patienten anzunehmen, die überwiesen worden sind. Das gab viel Kritik, vom Tisch ist die Idee aber noch nicht. Bis jetzt darf man also noch einfach so ins Krankenhaus gehen, und genau das hat Johan Carlsson auch gemacht. Der 31-jährige Tischler liegt in einem Krankenhausbett im offenen Bereich der Notaufnahme und wartet auf einen Röntgentermin, der in drei Stunden sein soll. „Ich hatte bei der Arbeit ziemliche Bauchschmerzen, und da ich vor Kurzem eine Adipositas-Operation hatte, wollte ich das lieber kontrollieren lassen“, sagt er. Obwohl es schon drei Stunden her ist, dass er einen Arzt gesehen hat, wartet Carlsson geduldig. „Ich bin ja in guten Händen“, sagt er. Muss er in der Klinik bleiben, zahlt er eine Tagesgebühr von zehn Euro, Operationen sind komplett subventioniert. Wartezeiten bei Operationen sind neben der Unterversorgung im ländlichen Raum und teilweise bei den städtischen Hausärzten eines der großen Probleme im schwedischen Gesundheitssystem. Carlsson hat auf die Operation wegen seiner Fettleibigkeit Monate warten müssen, doch auch Voruntersuchungen und lebensnotwendige Behandlungen erfolgen häufig erst sehr spät. So schwankt die durchschnittliche Wartezeit für Behandlungen bei Prostatakrebs – dem bei Männern am häufigsten vorkommenden Krebs – je nach Kommune zwischen 126 und 295 Tagen, zeigt ein neuer Bericht des Sozialrats. Selbst wenn der Krebs schon Metastasen gebildet hat, müssen Patienten mitunter noch Monate auf die Behandlung warten. Ähnliche Probleme gibt es auch bei anderen Krebsarten und regelmäßig bei Augen- oder Hüftoperationen. Manch einer lässt sich deshalb lieber im Ausland operieren. Immerhin: Die Wartezeiten sind inzwischen kürzer als noch vor 2010. Damals wurde eine ganz konkrete marktwirtschaftliche Komponente eingeführt: eine Bonuszahlung für die Kommunen, wenn sie 80 Prozent der nicht akuten Fälle binnen 90 Tagen operieren. Ein finanzieller Anreiz im Staatssektor, der Gutes bewirkt hat. 7 Das Gesundheitswesen in Zahlen Krankenhaus & Apotheke Deutschland Japan Zahl Zahl Zahl Zahl der der der der Krankenhäuser Krankenhäuser Krankenhäuser Krankenhäuser Durchschnittliche Durchschnittliche Durchschnittliche Durchschnittliche Zahl Zahl Zahl Zahl in in in in der der der der Deutschland Deutschland Deutschland Deutschland mit mit mit mit weniger als 50 Betten im Jahr 1991: weniger als 50 Betten im Jahr 2008: 800 und mehr Betten im Jahr 1991: 800 und mehr Betten im Jahr 2008: Krankenhausbetten Krankenhausbetten Krankenhausbetten Krankenhausbetten in in in in Japan im Jahr 2009, pro 1000 Einwohner: Deutschland im Jahr 2009, pro 1000 Einwohner: Dänemark im Jahr 2009, pro 1000 Einwohner: Mexiko im Jahr 2009, pro 1000 Einwohner: Nettoumsatz der öffentlichen Apotheken in Deutschland im Jahr 2000, in Milliarden Euro: Nettoumsatz der öffentlichen Apotheken in Deutschland im Jahr 2010, in Milliarden Euro: Zahl der Einwohner je Apotheke in Deutschland im Jahr 2010: Zahl der Einwohner je Apotheke in Griechenland im Jahr 2010: Zahl der Einwohner je Apotheke in Dänemark im Jahr 2010: Anteil des Arzneimittelpreises eines patentgeschützten Medikaments, der in Deutschland im Jahr 2010 an Hersteller entfällt, in Prozent: Anteil des Arzneimittelpreises eines patentgeschützten Medikaments, der in Deutschland im Jahr 2010 an Apotheken entfällt, in Prozent: Anteil des Arzneimittelpreises eines durchschnittlichen Generikums, der in Deutschland im Jahr 2010 an Hersteller entfällt, in Prozent: Anteil des Arzneimittelpreises eines durchschnittlichen Generikums, der in Deutschland im Jahr 2010 an Apotheken entfällt, in Prozent: 331 417 125 86 13,7 8,2 3,5 1,7 26,9 39,9 3800 1200 17 200 75,5 4 44,6 36,0 113 Kleine Größen Dick, dünn, groß, klein, schwarz, weiß – Menschen sind verschieden. Doch für alle gab es bisher nur die Standard-Pille. Die hilft bestimmt, dachte man. Tut sie oft aber auch nicht. Jetzt wird der Patient vermessen, bevor die Therapie gewählt wird. Das klappt noch nicht immer. Aber immer öfter. Text: Sascha Karberg Foto: Michael Hudler 114 Nun geht der Laie ja davon aus, dass genau das bei jedem Arztbesuch passiert, weshalb Professor Peter M. Schlag, Direktor des Krebszentrums der Charité, die personalisierte Medizin konzeptionell auch „neuer Wein in alten Schläuchen“ nennt. Ärzte hätten sich schon immer bemüht, ihre Patienten so individuell wie möglich zu behandeln, sagt er. Was aber nicht bedeute, dass sich in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren nicht viel getan hätte. Neue Werkzeuge, mit denen die Vorgänge in den Krebszellen einzelner Patienten besser beobachtet werden können, versetzen Mediziner heute in die Lage, vielleicht nicht unbedingt personalisiert, aber doch sehr viel zielgerichteter zu behandeln, sagt er. Denn wer die individuelle Ausprägung bestimmter Gene, Proteine oder Zellen eines Tumors und auch die sonstigen biologischen Eigenheiten des Patienten lesen kann, der könne auch die am besten passende Therapie auswählen: „Bislang konnten wir mithilfe von Studien nur abschätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Standard-Therapie einem bestimmten Patienten helfen könnte“, sagt der Chirurgische Onkologe. Wenn jetzt bei einem Patienten zum Beispiel eine bestimmte Proteinstruktur auf der Zelloberfläche seiner TumorzelVorige Seite: Verwaltungsgebäude von Sanofi-Aventis in Frankfurt am Main len fehle, sei das ein klares Zeichen geOben: Gefrierschrank für Gewebeproben gen den Einsatz eines Medikaments, das dieses Protein braucht, um zu wirken. Sandra Kern traf die Diagnose 3 Irgendwann danach steht sie in der ration folgte eine Strahlentherapie. Von Dessous-Abteilung eines Kaufhauses. der üblichen Chemotherapie riet man „Brustkrebs“ nicht unvorbereitet. GroßWas der Arzt im Detail gesagt hat, erin- ihr ab. „Die haben da irgend so einen mutter und Tante waren an der Krankheit gestorben, als Risikopatientin ging nert sie nicht. In ihrem Kopf war nur Test gemacht“, sagt Kern. das eine Wort: Brustkrebs. Sie hatten Tatsächlich hat die Ladenbesitze- sie in den vergangenen 15 Jahren jedes einen Tumor gefunden. Rechts. Nun rin aus Berlin – ohne es so recht zu Jahr zur Mammografie. „Und Ende steht sie da und greift wahllos nach bemerken – von einem Behandlungs- April 2010 war da was.“ Es dauerte Büstenhaltern in kleinen Größen. konzept profitiert, das die einen als nicht lange, dann hatte sie Gewissheit. Sandra Kern* ist 56 Jahre alt. Seit plumpes Marketing abtun, während es Und in der Klinik als Gegenüber eine der Diagnose ist ein Jahr vergangen, andere als Revolution feiern: personali- junge Ärztin, die ihr unmittelbar nach doch kleinere BHs braucht sie bis heute sierte Medizin. Hinter diesem Schlag- der Diagnose von einer Studie erzählte, nicht. Die Ärzte an der Berliner Univer- wort steckt die Idee, die Krankheit eines an der sie unbedingt teilnehmen solle. Was Kern zunächst verunsichert, sitätsklinik Charité konnten den Tumor Patienten möglichst so exakt zu diagnos brusterhaltend entfernen. Auf die Ope- tizieren, dass ihm genau die Therapie wird ihr später bei der Entscheidung für verordnet werden kann, die am besten oder gegen eine Chemotherapie helfen – jenen Cocktail aggressiver Gifte, der zu ihm passt. *Name von der Redaktion geändert 116 alle schnell wachsenden Zellen zerstört, seien es gesunde Haarwurzelzellen oder wuchernde Krebszellen. Die Chemo ist ziemlich genau das Gegenteil einer zielgerichteten Therapie, und doch ist sie bis heute Standard für die meisten Brustkrebspatientinnen. Mit ihrer Hilfe sollen nach der Operation eventuell verbliebene Krebszellen abgetötet werden, um Rückfälle zu verhindern. Inzwischen mehren sich jedoch die Hinweise, dass manche Frauen gar nicht davon profitieren und unnötig Nebenwirkungen ertragen müssen. Ob eine Patientin zu der einen oder anderen Gruppe gehört, lässt sich neuerdings in vielen Fällen herausfinden. Dazu wird eine Probe ihres Tumorgewebes einem Gentest unterzogen, den die US-Biotechfirma Genomic Health entwickelte: Oncotype DX. Der Test untersucht die Aktivität von 21 Genen, die in die Entstehung und Entwicklung einer Brustkrebserkrankung involviert sind. „Wir nehmen damit einen genetischen Fingerabdruck des Tumors“, erklärt Gerald Wiegand, der Deutschland-Chef des Unternehmens. Durch Vergleiche mit den Krebssignaturen von Tausenden Gewebeproben amerikanischer Brustkrebspatientinnen und deren Krankheitsverläufen kann das Unternehmen zwei statistische Aussagen treffen. Für Sandra Kern bedeutet das: Welches Rückfallrisiko hat sie? Und: Ist eine Chemotherapie bei ihrer Tumorbiologie sinnvoll oder nicht? Erst Test, dann Therapie Wo die Mediziner bislang auf Erfah rung, Wahrscheinlichkeit und Hoffnung bauen mussten, lassen sich heute valide Entscheidungen treffen. Das Ergebnis: Bei knapp 40 Prozent aller Patientinnen revidieren die Ärzte nach dem Test ihre Empfehlung für eine Chemotherapie, zitiert Wiegand aus Studien. Diesen Frauen bleibt die Prozedur erspart. Andererseits wird etwa einem Viertel der Patientinnen, denen man ursprünglich abriet, nach dem Test eine Chemo- therapie empfohlen. Das Produkt vermeide also sowohl Über- als auch Untertherapie, sagt Wiegand, was insgesamt betrachtet zu einer knapp 20prozentigen Netto-Reduktion von Chemotherapien führe. Knapp 4000 Frauen hierzulande haben Oncotype DX, das seit mehr als zwei Jahren auch in Deutschland erhältlich ist, bislang in Anspruch genommen. Kern erfährt ihr Testergebnis kurz nach der Operation. Die junge Ärztin, deren Eifer sie zunächst überfordert hatte, teilt ihr mit, dass eine Chemotherapie bei ihrem Brustkrebstyp unnötig sei, und rät stattdessen zu Bestrahlungen. Auch diese Behandlung ist eine Tortur. Die von den Strahlen verursachten Verbrennungen sind schmerzhaft, zudem fühlt sich Kern ständig müde und erschöpft, selbst Lesen oder Reden ist zu anstrengend. „Ich war wie ein Häufchen Nüscht“, sagt die Berlinerin. Doch die Entscheidung gegen die Chemotherapie stellt sie bis heute nicht infrage. Das ist ein Problem der jungen personalisierten Medizin, sagt Professor Jochen Maas, Forschungschef der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, den das Thema seit Langem umtreibt: Die moderne Diagnostik könne Patienten zwar von einer für sie nicht nützlichen Therapie ausklammern – ein personalisiertes Alternativangebot könne man diesen Aussortierten, den sogenannten NonRespondern, heute aber noch nicht machen. Natürlich ist es bereits ein großer Vorteil, Patienten unnötige Behandlungen und die damit verbundenen Nebenwirkungen zu ersparen. „Das Ziel ist aber nicht, zwischen Respondern und Non-Respondern zu unterscheiden, sondern eine passende Therapie für jeden Patienten anzubieten.“ Doch so weit sei man noch nicht. Im Moment begnügt sich die personalisierte Medizin noch damit, die Krankheit, die bislang pauschal Brustkrebs heißt, genauer zu definieren, um sie dann spezifischer behandeln zu können. Mittlerweile lassen sich Dutzende Arten von Brustkrebs unterscheiden und Patientinnen in Subpopulationen einteilen, in „kleine Größen“. Sandra Kerns Krebs ist „hormonrezeptor-positiv, östrogenrezeptor-positiv und HER2-neu-negativ“ – die komplexe Signatur aus molekularbiologischen Diagnosen beschreiben dem Arzt die besondere Beschaffenheit des Tumors und damit auch die möglichen Angriffspunkte für eine zielgerichtete Therapie. Fingerabdruck vom Tumor Für Onkologen wie Peter Schlag tritt die Herkunft des Krebses damit teilweise in den Hintergrund. Ob Dickdarm-, Magen-, Lungen- oder Brustkrebs ist oft nicht mehr die vorrangige Frage – entscheidend für die Behandlung ist auch der molekulare Fingerabdruck, die Signatur des Tumors. Diese Signatur kann sich bei Tumoren an unterschiedlichen Organen sogar ähneln. So hatte die Medizin etwa einen seltenen Darmtumor namens Gist (Gastro-Intestinaler Stroma-Tumor) jahrzehntelang für einen Weichgewebstumor gehalten und entsprechend behandelt – ohne Erfolg. Erst die molekularbiologischen Untersuchungen zeigten, dass Gist-Zellen aus speziellen Zellen der Darmwand hervorgehen und auf ihrer Zelloberfläche massenhaft ein bestimmtes Molekül tragen – genau wie bei einer Blutkrebsform, die bereits erfolgreich mit einem Medikament namens Glivec bekämpft werden konnte. Seit Kurzem wird es auch bei Gist angewandt. Das Ergebnis: „Wir haben sofort Tumorrückbildungs- und Überlebensraten erzielt, die vorher gar nicht denkbar waren“, sagt Schlag. Um die vielen verschiedenen Krebstypen der Patienten besser zu verstehen, werden an der Charité zurzeit Proben von Haut- und Dickdarmkarzinomen genommen und ihre Erbinformationen komplett entziffert. „Wir finden in den Krebszellen im Schnitt 600 Mutationen“, berichtet Schlag. „Aber welche davon sind diejenigen, die bei einem bestimmten Patienten den Tumor an117 treiben? Darüber wissen wir noch zu wenig.“ Der Mediziner hofft, dass sich die entscheidenden Gendefekte bei den verschiedenen Krebstypen wiederholen. Doch er weiß: „Es wird auch sehr viele Tumortypen geben, bei denen mehrere Signalwege in den Zellen betroffen sind, und gegen die man mehrere Wirkstoffe kombinieren müsste.“ So wenig man einen Menschen nur über seine Haarund Hautfarbe beschreiben kann, so oberflächlich seien im Moment noch die technischen Mittel, mit denen die Tumore charakterisiert und bekämpft werden können. Dabei liegt die personalisierte Medizin in der Krebsforschung vorn: Von den 23 Medikamenten, die diesem Konzept folgen und in deutschen Kliniken angewandt werden, sind immerhin 18 Krebsmedikamente. Bei so komplexen Erkrankungen wie Alzheimer oder Diabetes sei man noch viel weiter von einem personalisierten Ansatz entfernt, sagt Sanofi-AventisForschungschef Maas. „Diabetes etwa ist nicht nur auf ein paar Genmutationen zurückzuführen. Da spielen auch Umweltfaktoren eine Rolle.“ Um einen Biomarker zu finden, der eine verlässliche Aussage über den Verlauf der Zuckerkrankheit oder die Wirksamkeit eines Medikaments erlaubt, müssten gleich mehrere betroffene Organe des Patienten untersucht werden: Leber, Bauchspeicheldrüse, Darm, Muskeln. Das ist deutlich komplexer, als eine Tumorprobe zu untersuchen. brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl Wer spricht worauf an? 118 Für eine breite Anwendung personalisierter Medizin mangelt es aber nicht allein an Basiswissen, sondern ebenso an der Integration bereits vorhandener Methoden. So hat auch Sandra Kern erlebt, dass ihre individuelle genetische Konstitution nicht berücksichtigt wurde, bevor ihr nach der Strahlentherapie ein Medikament gegen eventuell verbliebene Krebszellen verschrieben wurde, die sogenannte Hormontherapie. Zwar blieb ihr durch den Oncotype-Test Links: Stickstofftank für die Lagerung von Gewebeproben Oben: Der Scan einer Probe auf dem Bildschirm die Chemotherapie erspart. Mit einem ausführlichen weiteren Test hätte sie aber auch von den Nebenwirkungen der Hormontherapie mit dem Medikament Tamoxifen verschont werden können. Tamoxifen ist eine jener 23 „personalisierten“ Arzneien, die derzeit am Markt sind. Der Wirkstoff blockiert Andockstellen für das Hormon Östrogen auf den Tumorzellen, sodass das Signal zum Wachsen und Teilen der Krebszellen ausbleibt. Ein Test kann abklären, ob der Tumor einer Patientin solche Andockstellen überhaupt hat. Dieser Test wurde auch gemacht. Allerdings muss der Wirkstoff im Körper der Patienten erst aktiviert werden, aus Tamoxifen muss Endoxifen werden. Bei etwa zehn Prozent der Patienten vollzieht sich diese Umwandlung nur langsam – aufgrund „langsamer“ Genvarianten im Erbgut. Als Folge reichert sich Tamoxifen an und löst Nebenwirkungen aus. Wie Kern auf das Medikament ansprechen würde, hätte ein weiterer Gentest klären können. Doch der gehört bei uns noch nicht zum Standard, auch bei ihr bleibt er aus. Ein Jahr lang schlägt sie sich mit miserablen Blutwerten und belastenden Nebenwirkungen herum, bevor ihre Therapie umgestellt wird. Das ist keine Seltenheit, sondern leider Normalfall. Allein in den USA haben jährlich 2,2 Millionen Menschen mit schweren Arzneimittel-Nebenwirkungen zu kämpfen, bei 20 bis 50 Prozent der Patienten sprechen die verordneten Medikamente gar nicht an. 106 000 Todesfälle und etwa 100 Milliarden Dollar Kosten zieht das nach sich. In Deutschland sind rund sechs Prozent aller Krankenhauseinweisungen auf Arzneimittel-Nebenwirkungen zurückzuführen, rund 16 000 Menschen sterben hierzulande jährlich an den Folgen. Gute Gründe also für mehr Diagnostik, mehr personalisierte Medizin. Dafür sprechen aus Sicht der Pharmaindustrie auch ökonomische Argumente. „Ich bin überzeugt davon, dass die Medikamentenentwicklung für eine personalisierte Medizin preiswerter wird, weil die Patientengruppen in den klinischen Studien kleiner werden können“, 119 sagt etwa Forschungschef Maas. Denn mithilfe von Gen- und Proteintests können die Firmen nur solche Patienten für klinische Studien auswählen, bei denen der Wirkstoff aller Wahrscheinlichkeit nach wirken könnte. Die Tests messen bei den Patienten sogenannte Biomarker: Genmutationen, erhöhte Konzentrationen von Proteinen oder abnorme Enzyme dienen als Signale, bei welcher Patientengruppe ein Wirkstoff wirken kann und bei welcher nicht. Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) rechnet vor: Wenn sich mithilfe von Biomarkern die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Wirkstoffs in der klinischen Prüfung auch nur um etwa zehn Prozent besser abschätzen ließe, könnten pro Medikamentenentwicklung im Schnitt 100 Millionen Dollar eingespart werden. Kein Wunder, dass der Schweizer Pharmakonzern Roche jedem Arzneimittelentwicklungsteam einen Biomarker-Experten seiner Tochter Roche Diagnostics zur Seite stellt. Der Trend lässt sich verallgemeinern: Während vor 1990 nur in vier Prozent aller klinischen Studien Biomarker gemessen wurden, sind es seit 2005 schon 20 Prozent. Wachstum der Krebszellen hemmen – allerdings nur bei eben jenen 28 Pro zent der Patientinnen mit HER-2-Überschuss. Wenn ein Medikament bei zwei Dritteln der Patienten versagt, sind die Aussichten für eine Zulassung üblicherweise nicht gut. Doch 1998 gab die FDA Herceptin frei – verbunden mit der Auflage, dass ein Gentest bei den Brustkrebspatientinnen die HER-2-Kopien nachweisen müsse. Ohne den Test wäre eine Zulassung nicht denkbar gewesen: Hätte man das Mittel, wie früher üblich, an allen Brustkrebspatientinnen blind getestet, hätten zu wenige profitiert, um statistisch einen Vorteil dokumentieren zu können. Von den Nebenwirkungen für das Gros der Frauen ganz zu schweigen. Die Entwicklung wäre eingestellt worden. So macht sich die personalisierte Medizin auf den Weg. Ob sich mit ihrer Hilfe auch Kosten senken lassen, muss sich allerdings erst zeigen. Axel Heinemann, Biotech- und Pharmaexperte bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group, glaubt zwar, dass die Entwicklung von Medikamenten mittels Biomarkern günstiger wird. Dafür aber werde sich der Pharmavertrieb auf viel kleinere Patientengruppen und damit auf ein viel stärker differenEntwicklung wird günstiger ziertes Produktspektrum einstellen müsDas Biotechunternehmen Genentech, sen. Statt Allgemeinärzte über wenige das heute zum Roche-Konzern gehört, Blockbuster-Medikamente zu informiehat schon früh die Erfahrung gemacht, ren, müssten die Referenten künftig dass sich Biomarker bezahlt machen hochspezialisierte Arzneien an unterkönnen. In den Achtzigerjahren er- schiedliche Fachärzte herantragen. Was forschte der deutsche Molekularbiologe in der Entwicklung Geld spart, dürfte Axel Ullrich in den Genentech-Labors also die Kosten bei Marketing und Verein Gen namens HER-2. In 28 Prozent trieb in die Höhe treiben. Zudem müssen auch Entwicklung, der Tumoren von Brustkrebspatientinnen fand Ulrich dieses Gen mitunter Prüfung und Validierung der Biomarker häufiger als 50-fach kopiert vor: Je mehr bezahlt werden. In den USA hat die Kopien, desto aggressiver wächst der FDA zu diesem Zweck ein Biomarker Tumor und desto geringer sind die Consortium gegründet. Das Pendant in der EU ist die Innovative Medicines Überlebenschancen der Patientinnen. Ullrich entwickelte einen Antikör- Initiative (IMI), in der die meisten groper, ein Fängermolekül, mit dem das ßen Pharmafirmen mit den Behörden Proteinprodukt des HER-2-Gens blo - und Forschungsinstitutionen zusammenckiert wird. Und tatsächlich ließ sich mit arbeiten, um Biomarker zu prüfen. Das Herceptin, so der Name der Arznei, das Budget dafür umfasst zwei Milliarden 120 Euro, zu gleichen Teilen von den Pharmafirmen und der öffentlichen Hand. „Wichtigstes Ziel ist es, weltweit verbindliche Standards für die Verwendung von Biomarkern in klinischen Studien zu etablieren“, sagt Karl Broich, Vizepräsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), und nennt das Beispiel Alzheimer: „Bislang können Medikamentenkandidaten gegen Alzheimer erst getestet werden, wenn die Krankheit schon weit fortgeschritten ist, weil sie erst so spät diagnostiziert werden kann.“ Dann sind 90 Prozent der Hirnzellen aber schon zugrunde gegangen – und das Retten der letzten zehn Prozent lässt kaum noch einen therapeutischen Effekt erwarten. „Mit Biomarkern können wir die Krankheit früher diagnostizieren und den Krankheitsverlauf messbar machen“, sagt Broich. „Damit erhöhen wir die Chancen, therapeutische Veränderungen nachzuweisen.“ Konsortien für Biomarker Doch welcher Biomarker taugt als Vorhersage-Werkzeug? Wie verlässlich zeigt das Messen irgendeiner Proteinkonzentration im Blut eine erst zehn Jahre später erkennbare Alzheimer-Erkrankung an? Das ist nicht nur für die Patienten eine essenzielle Frage. Broichs Behörde muss am Ende entscheiden, ob es schon für eine Zulassung ausreicht, wenn der Wirkstoff nur einen Alzheimer-Biomarker positiv beeinflusst. „Wir haben beispielsweise lernen müssen, dass der Blutfarbstoff HbA-1c als Maß für den durchschnittlichen Blutzuckerspiegel nicht immer der beste Marker für Diabetes-Studien ist“, sagt Broich. Für den Erfolg laufender und zukünftiger Studien von Diabetes-Medikamenten ist es für die Pharmaunternehmen aber ganz entscheidend, dass die Behörden die Biomarker anerkennen, auf denen die Studien basieren. Das gilt umso mehr, sollen die Marker als Ersatz für klinische Parameter dienen. Das BfArM prüft deshalb akribisch. Bei Sanofi-Aventis im Industriepark Hoechst Aber Broich weiß auch, wie kostspielig die Qualitätsprüfung der Biomarker ist. „Wenn eine Pharmafirma den Aufwand allein schultert und einen Biomarker erfolgreich validiert, dann würden alle anderen davon kostenlos profitieren. Deshalb kann das auch nur in Konsortien funktionieren.“ Die Bereitschaft der Pharmafirmen zur Zusammenarbeit sei da. Und für die Patienten in Deutschland sind mittlerweile auch erste Auswirkungen der personalisierten Medizin spürbar – genau wie deren Kosten. Sandra Kern musste die 3200 Euro für den Oncotype DX- Test, der ihr die Chemotherapie erspart hat, nicht selbst zahlen – die Charité finanzierte ihn aus dem Budget der klinischen Studie, an der sie teilnahm. Viele andere müssen ihn aus eigener Tasche bezahlen oder darauf verzichten – die Krankenkassen tragen die Kosten bislang nur im Einzelfall. Kern, die im Moment als geheilt gilt, hätte das Geld im Zweifel auch selbst aufgebracht, irgendwie. Sie habe alles, was ihr sinnvoll erschien, machen lassen. Und sie zahlt auch jetzt, nachdem sie ihr Geschäft verkauft hat und arbeitslos ist, für ihre Genesung. Die Bayerische Beamtenkasse erstattet der Privatversicherten nur 80 Prozent ihrer Auslagen. „184 Euro im Monat kostet mich mein Medikament Aromasin, 147 Euro davon bekomme ich zurück. Das läppert sich.“ Das Gesundheitssystem könne von der personalisierten Medizin keine Netto-Reduktion der Ausgaben erwarten, auch wenn bei der Entwicklung Geld eingespart wird, glaubt Unternehmensberater Axel Heinemann. Es wird in Zukunft mehr teure Tests wie Oncotype DX geben. Und die personalisierten Arzneien werden wegen ihrer zielgerichteten, auf bestimmte Patientengruppen zugeschnittenen Wirkungsprofile weiter hohe Preise nach sich ziehen. Schon heute gehören zu den 23 personalisierten Medikamenten am Markt mit Herceptin (37 000 Dollar pro Jahr) und Glivec (56 000 Dollar pro Jahr) zwei ausgesprochen teure Arzneien. Ob sie ihr Geld wert sind? Im Moment nur schwerlich, da muss Peter Schlag von der Charité nicht lange überlegen. Natürlich solle der Anreiz für die Industrie, neue Medikamente zu entwickeln, erhalten bleiben. Die Diskussion über Nutzen und Preise jedoch müsse von Herstellern, Kostenträgern, Politik, Patienten und Ärzten gemeinsam geführt werden. Wenn personalisierte Medizin so teuer sei, dass sie die Gesundheitssysteme sprenge, sei niemandem geholfen. Schon gar nicht beim Stand von heute. Schlag mag eine Lebensverlängerung von ein paar Monaten jedenfalls nicht bejubeln. Geschichten wie von jener Mutter, die im Mai gestorben wäre und dank personalisierter Medizin die Einschulung ihres Kindes im August noch erleben durfte, seien zwar rührselig, aber Augenwischerei. „Wir müssen erreichen, dass die Mutter ihr Kind erlebt, wenn es Abitur macht. Dann sind die Medikamente auch ihr Geld wert.“ Letzteres sieht ein todgeweihter Patient vermutlich anders. 7 121 „Keine Menschen in unserem Sinne“ Der britische Zukunftsforscher Mark Stevenson über Genomanalyse, Stammzellforschung und seine Vorliebe für Fisch. brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl Interview: Sebastian Borger Fotos: Peter Günzel 3 Herr Stevenson, Sie haben eine „optimistische Reise in die Zukunft“ absolviert, wie es im Untertitel Ihres Buches heißt. Was macht Sie so optimistisch? Ich werde ja häufig als sorgloser und uneingeschränkter Optimist dargestellt. Der bin ich nicht. Ich sehe mich so: bewusst optimistisch in Bezug darauf, was wir in Zukunft erreichen können; sehr pragmatisch in Bezug auf die Wege dorthin. Meinem Eindruck nach haben viele westliche Gesellschaften ihre Zukunfts-Ambitionen aufgegeben. Sie haben den Glauben verloren, dass wir eine bessere Welt bauen können. Und diesem eingebauten Pessimismus wollen Sie gern gegensteuern? Genau. Wenn ich in Schulen Vorträge halte, sage ich den Kindern: Ihr habt eine große Zukunft vor euch. Es gibt viele wirklich schwerwiegende Probleme zu lösen: Krankheiten wie Krebs, den Klimawandel, die Energiebedürfnisse der Menschheit und Ähnliches. Richtig tolle Aufgaben kommen auf eure Generation zu – viel Spaß dabei! Wie ist die Reaktion? Na, die sind natürlich zunächst überrascht. Denn die überwiegende Haltung der Gesellschaft ist doch: Oje, schon wieder ein Problem! Ich predige die Einstellung von Ingenieuren: Ein Problem, fantastisch! Los, wie lösen wir das? Auf Ihrer Reise spielte die Medizin eine große Rolle. Haben die Gespräche mit Ärzten, Biologen und anderen Wissenschaftlern Sie in Ihrem Optimismus bestärkt? Ich habe die ungeheuren Möglichkeiten, die aus der medizinischen Forschung entstehen, kennengelernt. Das kann Fortschritt sein, das können auch Probleme sein. Die Sequenzierung des menschlichen Genoms bringt die Möglichkeit einer ganz aufs Individuum zugeschnittenen Behandlung von Gesundheitsproblemen mit sich. Das ist eine ganz außergewöhnliche Entwicklung. Darüber wird immer viel geredet, die Ergebnisse sind bisher bescheiden. Das liegt daran, dass der Preis noch immer sehr hoch ist. Es kostete rund 300 Millionen Dollar, bis es dem Biochemiker Craig Venter gelang, die erste vollständige menschliche Genomsequenz zu erstellen. Vor zwei Jahren bekam man das schon für knapp 100 000 Dollar. Heute spricht eine Firma in Kalifornien davon, den Preis bald auf 1000 Dollar senken zu können. Das kann jeder behaupten. Aber das Tempo der Preisverringerung bleibt atemberaubend. In den vergangenen fünf Jahren ist die Sequenzie124 rung alle vier Monate um die Hälfte billiger geworden. Wenn das so weitergeht, wird es nicht lange dauern, bis jeder Mensch seine Genomsequenz für zehn oder sogar nur noch einen Dollar bekommen kann. Sollen wir uns wünschen, die Einzelheiten unserer genetischen Disposition zu kennen? Laufen wir nicht Gefahr, dass uns Krankenversicherungen diese Daten abverlangen und uns bei zu großem Krankheitsrisiko ablehnen? Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Auswirkungen das haben wird. Aber garantieren kann ich eines: Wir halten diese Technik nicht auf. Statt den Kopf in den Sand zu stecken, ist es doch besser, über die Folgen zu diskutieren. Je mehr Leute gut informiert sind, desto besser. Was wird diese enorme Datenmenge auslösen? Ich übertreibe nicht: Hier bahnt sich wirklich eine Revolution an. Das kann für den Kranken sehr positiv sein. Überlegen Sie mal, wie viele Medikamente es heute schon gibt, die nicht verabreicht werden dürfen, weil sie bei einer kleinen Gruppe potenzieller Patienten schlimme Nebenwirkungen auslösen. Das mag für die gesellschaftliche Diskussion gelten. Stimmt es aber auch für den individuellen Patienten: Wer besser informiert ist, hat ein besseres Leben? Daran glaube ich. Die Kenntnis der eigenen Schwächen und Nachteile ist natürlich nicht der einzige Faktor, der darüber bestimmt, aber ein wichtiger. Zum Beispiel? Sehr bekannt ist doch der Fall des Medikaments Vioxx … … eine verbreitete Handelsmarke des Wirkstoffes Rofecoxib, das als Schmerzmittel eingesetzt wurde. Es wurde chronischen Schmerz-Patienten wie Arthritiskranken verschrieben. Dann ergab eine Studie: Das Risiko einer Herzerkrankung hatte sich bei längerer Einnahme von 0,75 auf 1,5 Prozent verdoppelt. Deshalb wurde das Medikament vom Markt genommen. Die Arzneimittelbehörden handhaben die Zulassung sehr restriktiv, aus nachvollziehbaren Gründen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Wenn man aber die Risikogruppe mittels des individuellen Genoms stärker eingrenzt, kann ein Medikament der großen Mehrheit helfen. Zudem würden die Kosten für die Entwicklung und Prüfung von Arzneimitteln stark sinken. Ich frage danach, weil uns seit 50 Jahren eingehämmert wird: Rauchen ist schädlich für die Gesundheit. Aber hochintelligente Leute rauchen weiter. Na ja, da kommt dann der übliche Spruch: Ich weiß, dass Rauchen schädlich ist, aber Onkel Alan hat auch geraucht und ist 90 geworden. Mark Stevenson, 40, ist Naturwissenschaftler, Autor und Comedian. Das ergänzt sich bei ihm sehr gut: Er erarbeitet Lernkonzepte für Museen und schreibt als Wissenschaftsjournalist für „The Times“ oder „The Economist“. Abends steht er auf der Bühne und erklärt seinem Publikum, welche Möglichkeiten uns die Zukunft bringen wird. Für sein Buch „An Optimist’s Tour of the Future“ traf er Erfinder Derzeit spricht man von bis zu rund einer Milliarde Dollar, die es kostet, ein neues Medikament zu entwickeln und einzuführen. Da weiß man auch, warum die Arzneimittel so teuer sind. Die persönliche Genomik würde dies ändern, weil mit ihrer Hilfe die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass eine Studie scheitert. Einer Vielzahl neuer oder bereits bekannter Wirkstoffe würde das den Weg ebnen. Derzeit wird nur einer von einigen Tausend bei den Behörden zur Prüfung eingereichten Wirkstoffkandidaten für den Menschen freigegeben. Und selbst von diesen scheitern noch drei Viertel im klinischen Versuch. und Wissenschaftler auf der ganzen Welt und ließ sich von deren Individuell zugeschnittene Medikamente, ein längeres Leben – das klingt ja fast zu schön, um wahr zu sein. Sie bringen für die Gesellschaft aber auch ganz neue Fragestellungen. Wenn wir deutlich länger leben und dabei gesund bleiben – was bedeutet das für den Arbeitsmarkt, für die Altersversorgung, für die Pensionskassen? Darüber müssen wir dringend debattieren. Das deckt sich mehr oder weniger mit der Statistik. Aber wenn ich mich besser ernähre, mehr Sport treibe, fleißig weiterarbeite, weniger Alkohol trinke, steht meine Chance nicht schlecht, älter als 90 zu werden. Wenn ich bei diesem Alter angelangt bin, und die Lebenserwartung steigt auch in Zukunft immer weiter, könnte ich weitere zwölf Lebens jahre hinzugewinnen. Das finde ich ermutigend. Visionen anstecken. Als Sie 1971 geboren wurden, lag die durchschnittliche Lebenserwartung eines Engländers bei 69 Jahren. Jetzt, als 40-Jähriger, können Sie sich schon auf fast 79 Jahre freuen. Reicht das nicht? Sie sind nicht sehr großzügig. Ich habe mir von mehreren Lebenserwartungsrechnern im Internet meine Aussichten ermitteln lassen. Die prophezeiten mir bei gleich bleibender Lebensweise den Tod zwischen 80 und 85. Seit mindestens 30 Jahren predigen die Behörden, wir sollten bewusster essen. Trotzdem werden immer mehr Leute immer fetter. Was der Alkohol anrichtet, weiß jedes Kind. Dennoch steigt die Zahl der Leber-Erkrankungen in Großbritannien deutlich, besonders unter jungen Menschen. Die müssten es doch besser wissen. Sie haben recht. Es geht um die Unfähigkeit, die vorhandene Information umzusetzen. Dennoch finde ich: Es ist gut, diese Information zunächst einmal überhaupt zu haben. Immerhin behauptet heute niemand mehr, Rauchen könne der Gesundheit nützen. Trauen Sie der Menschheit nicht vielleicht zu viel Eigenverantwortung zu? Natürlich sind wir Menschen keine rationalen Wesen. Bei Gesundheitsthemen verfahren wir wie beim Klimawandel: Wir halten an dem fest, was für uns emotional angenehm ist. Andererseits sind immer jene Menschen erfolgreich, die eine Fähigkeit zu komplexem Denken besitzen oder entwickeln. Aber ich stimme Ihnen zu: Zunächst einmal ist jeder Mensch irrational. Wenn man die Schädeldecke öffnet, kommt da eine dicke Suppe aus Emotionen, Instinkten und irrationalem Verhalten zum Vorschein. Mit einer dünnen Verstandesschicht obendrauf. Deshalb ist die wissenschaftliche Debatte so wichtig. Sie stellt einen Ausgleich her zu unserem dummen Benehmen. 125 Sie meinen: Je mehr Leute sich an einer wissenschaftlichen Debatte beteiligen können, desto besser für die Menschheit? Unsere Methode, Entscheidungen zu treffen, würde sich sicherlich verbessern. Sie haben von der Biotech-Firma 23andMe Ihr eigenes Erbgut analysieren lassen. Ja, denen habe ich ins Röhrchen gespuckt. Herausgekommen ist aber keine vollständige Analyse meines Genoms, sondern nur von Teilen. Unter anderem wurde Ihnen mitgeteilt: Sie haben gegenüber einem durchschnittlichen Mann eine leicht erhöhte Wahrscheinlichkeit, an einem kolorektalen oder einem ProstataKarzinom zu erkranken. Deshalb esse ich jetzt deutlich mehr Fisch als früher. Und ich habe mir vorgenommen, in regelmäßigen Abständen zur Vorsorgeuntersuchung zu gehen. Beides schadet sicher nicht. Aber die Informationsbasis, auf der diese Verhaltensänderung beruht, ist doch sehr dünn. Das weiß ich. Ist es nicht so, dass Sie ohnehin gern Fisch essen? Na ja, ich habe kein Problem mit Fisch. Und je mehr ich davon esse, desto besser schmeckt er mir. Würden Sie immer noch so viel davon essen, wenn Sie Fisch nicht ausstehen könnten? Dann würde ich wahrscheinlich irgendwelche Tabletten mit Wirkstoffen nehmen. Mich interessiert Folgendes: Ebenso wie die Gene stellt Ihr Verhalten, insbesondere Ihr Essverhalten, einen wichtigen Faktor dar in der Frage, ob Sie Krebs bekommen oder nicht. Das sage ich ja. Ein weiterer wichtiger Faktor scheint zu sein, ob ein Mensch mit sich im Einklang lebt. Wenn Sie nun etwas dauernd und in großen Mengen essen, nur weil der Doktor es empfiehlt, Sie dadurch aber permanent unglücklich sind, erhöht das nicht auch Ihr Krebsrisiko? Na ja, Krebs zu bekommen würde mich sehr unglücklich machen. Es ist doch so: Eine Vielzahl von Studien legt den Verdacht nahe, dass Fisch gesünder ist als Fleisch. Insofern mache ich nichts falsch. Nein, aber diese generelle Information hat nichts mit Ihrem individuellen Genom zu tun. Was bei der Analyse übrigens noch herauskam: Ich habe eine deutlich höhere Chance, an einer Arhythmie des Herzens zu erkranken. Das kann man durch regelmäßiges Training zu 126 verhindern versuchen. Also habe ich jetzt dreimal die Woche einen Personal Trainer. Das fällt ebenso in die Kategorie „Vernünftiges Verhalten für Männer ab 40“. Unsere Gesundheit kann bestimmt von mehr Wissen profitieren. Könnte aber mehr Wissen der Gesundheit auch schaden? Auch das ist möglich. Es hat ja in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Dinge gegeben, von denen wir glaubten, sie seien gut für die Gesundheit. Heroin war um 1900 herum ein beliebtes Schmerzmittel. Und von den negativen Wirkungen von Nikotin hatte man auch lange Zeit keine Ahnung. Inzwischen wissen wir: Das Gegenteil ist der Fall. Haben alle Menschen so gute Fähigkeiten, mit Informationen, auch negativen oder widersprüchlichen Aussagen, über die eigene Gesundheit umzugehen wie Sie? Ach, ich bin natürlich genauso irrational wie der Nächstbeste. Ich sage ja nicht, dass die Genomanalyse der Stein der Weisen ist. Aber ich glaube, dass sie, richtig angewandt, einen Fortschritt für die Menschheit darstellt. Und was machen wir mit der Versicherungsgesellschaft, die Sie wegen Anomalien Ihres Genoms ablehnt? Ich muss davon ausgehen, dass Versicherungen sich in den kommenden Jahren genauso verhalten werden. Andererseits bin ich der Meinung: Eigentlich sind diese Unternehmen genau wie das staatliche Gesundheitswesen daran interessiert, dass die Bürger gesund bleiben und lange leben. Dann zahlen sie auch länger Steuern und Versicherungsbeiträge. Das wäre nützlich. Ich glaube also, dass die Antwort auf Ihre Frage genau in den Zukunfts-Techniken liegt: Die Biotech-Revolution, die Gentherapie, die Stammzell-Therapie verleihen uns die Chance, bisher unheilbare Krankheiten zu bekämpfen. Davon reden Visionäre seit mehr als einem Jahrzehnt. Kennen Sie ein Beispiel? Erst kürzlich ist es Forschern in Cambridge gelungen, ein defektes Gen zu reparieren. Sie verwendeten dabei adulte Stammzellen aus der Haut. Und im Versuch mit Mäusen konnte dadurch eine bisher unheilbare Erkrankung der Leber geheilt werden. Als nächster Schritt muss jetzt die Übertragbarkeit dieser Technik auf den Menschen geprüft werden. Natürlich, wir sind noch keineswegs am Ziel. Aber ein wichtiger Schritt ist getan. Inzwischen werden doch schon ganze Organe im Labor gezüchtet. Es wird der Moment kommen, wo der Arzt dem Patienten sagen kann: Wir stellen eine neue Leber für Sie her. Das mag Ihren Kontostand verringern, aber es ist besser für Sie selbst, für die Versicherung und für die Nation. Denn dann können Schwerkranke wieder ein lebenswertes Leben führen und zum Steueraufkommen beitragen. Wie geht die Gesellschaft in Zukunft mit Behinderten um? Es wird keine Behinderten mehr geben. Wie bitte? Das können Sie nicht ernst meinen. Schauen Sie sich mal Oscar Pistorius an. Den an beiden Beinen amputierten südafrikanischen Läufer? Der hat es auf seinen Karbon-Prothesen bei der letzten Leichtathletik-WM ins 400-Meter-Halbfinale geschafft. Ich würde mal davon ausgehen: Spätestens bei den Olympischen Spielen 2020 wird Pistorius selbst oder ein ähnlicher Läufer unschlagbar sein. Und diese Vorstellung gefällt Ihnen? Das ist eine andere Frage. Aber welch ein Fortschritt! Wir sind dazu in der Lage, künstliche Körperglieder zu bauen, die besser funktionieren als das natürliche Vorbild. Schon in zehn Jahren könnten Schwerhörige besser hören als ihre normal hörenden Altersgenossen. Da wird sich Musikern die Frage stellen, ob sie nicht auch ein Hörgerät haben wollen, um ihre Musik besser hören zu können. Das klingt ein bisschen nach dem perfekten Menschen utopischer Romane. Die Leute glauben, unsere Evolution sei vorbei. Wahrscheinlich beschäftigen sie sich zu viel mit den PräsidentschaftsVorwahlen in Amerika. Wir können ihn ignorieren, was unverantwortlich wäre. Oder wir können versuchen, ihn zu beeinflussen. Das scheint mir die einzige vernünftige Lösung zu sein. Schon Albert Einstein hat gesagt: Unsere Technik ist über unsere Menschlichkeit hinausgewachsen. Ja, so reden bis heute viele. Ich glaube, das ist falsch. Ob wir das wollen oder nicht: Die Menschheit entwickelt sich durch kulturelle und technologische Einflüsse immer weiter fort. Und deshalb läuft Oscar Pistorius bald schneller als ein normaler Athlet. Pistorius ist ein tolles, aber doch sehr ungewöhnliches Beispiel. Er kann in einer Wettkampfsituation schnell laufen, bleibt aber doch ein doppelt Bein-Amputierter. Sicher, ich benutze ihn auch nur als Beispiel für einen Trend, den ich für unaufhaltsam halte. Wenn wir uns in 15 Jahren gegenübersitzen, haben Sie vielleicht eine Handprothese, die so täuschend echt ist, dass ich sie gar nicht bemerke. Wahrscheinlich funktioniert Ihre künstliche Hand besser als meine natürliche. Eine gruselige Vorstellung. Da kann einem angst und bange werden, natürlich. Aber noch mal: Die einzige rationale Antwort lautet, dass wir den Wandel erkennen und beeinflussen müssen. Und am Ende steht der perfekte Mensch? Das werden keine Menschen in unserem Sinne mehr sein. In dieser Wahrnehmung stecken wir jetzt noch fest. Dabei stellen auch wir nur eine Phase dar in der Evolution. Es sei denn, Sie sind tief religiös und glauben, dass die Menschen so auf der Welt erschienen, wie sie heute aussehen. Dazu gehöre ich sicher nicht. 7 Der Gedanke liegt ja auch nicht ganz fern. Aber in Wirklichkeit entwickeln wir uns doch weiter. Und heutzutage können wir unsere Evolution durch die Technik und die Biologie selbst bestimmen. Das jagt vielen Leuten einen großen Schrecken ein. Ihnen auch? Natürlich. Jedenfalls bin ich zwiegespalten. Einerseits denke ich: Toll, wenn ich einen Unfall habe, bekomme ich einen neuen Arm und lebe besser als zuvor. Wir werden länger leben, studieren, arbeiten können … … mehr Unsinn machen. Das gehört dazu. Andererseits fürchte ich mich vor einer Zukunft mit Robo-Menschen. Mark Stevenson: Morgen ist heute gestern. Und zu welchem Schluss kommen Sie? Ich halte mich an den Grundsatz: Der Wandel kommt bestimmt – wir haben drei Möglichkeiten, damit umzugehen. Wir können versuchen, ihn aufzuhalten. Das ist zwecklos. Eine optimistische Reise in die Zukunft. Aus dem Englischen von Hans Freundl und Werner Roller, Piper-Verlag, München; 448 Seiten, gebunden; 22,99 Euro 127 Impressum Herausgeber Redaktion Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) e.V. 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