BPI Pharmamagazin Hilfe

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BPI Pharmamagazin Hilfe
Ein Magazin über die Pharmaindustrie
Hilfe! – Zwischen Krankheit, Versorgung und Geschäft
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Hilfe!
Zwischen Krankheit, Versorgung und Geschäft
Ein Magazin über die
Pharmaindustrie
Die Pharmaindustrie auf einen Blick
Zahl der pharmazeutischen Betriebe in Deutschland (2009) . . . . . . . . . 903
Unternehmen mit weniger als 100 Mitarbeitern, in Prozent . . . . . . . . . 79,5
Unternehmen mit 100 bis 499 Mitarbeitern, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . 15,0
Unternehmen mit 500 und mehr Mitarbeitern, in Prozent . . . . . . . . . . . . . 5,5
Aufwendungen für Forschung und Entwicklung der deutschen
… Maschinenbauindustrie im Jahr 2009, in Millionen Euro . . . . . . . 4944
… Pharmaindustrie im Jahr 2009, in Millionen Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5379
… Fahrzeugbauindustrie im Jahr 2009, in Millionen Euro . . . . . . . . 21 820
Exportwert deutscher pharmazeutischer Erzeugnisse
… im Jahr 2000, in Milliarden Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15,2
… im Jahr 2010, in Milliarden Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51,1
Weltweiter Umsatz der Pharmaindustrie mit Arzneimitteln
im Jahr 2010, in Milliarden Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633,9
Davon Umsatzanteil in Nordamerika, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38,6
Davon Umsatzanteil in Japan, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11,2
Davon Umsatzanteil in Deutschland, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4,7
Davon Umsatzanteil in Großbritannien, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2,4
Gesamtausgaben für Gesundheit in Deutschland (2009),
in Milliarden Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
Anteil daran, der auf Arzneimittel entfällt, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Anteil daran, der nach Steuern und Handelsabzügen für
die Hersteller verbleibt, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
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Ein Experiment
Arzneimittel schützen, verbessern und ermöglichen Leben. Dafür werden sie respektiert und
geschätzt – wenn man sie braucht. Ihre Hersteller weniger.
Wir agieren im Spannungsfeld zwischen Krankheit, Versorgung, Hoffnung auf Heilung und
Geschäft. Wir leben davon, Arzneimittel zu verkaufen. Ohne Umsatz keine Einnahmen für Forschung und Entwicklung, Herstellung und Vertrieb. Und ohne Gewinn keine Investoren, die mit
uns Risiken eingehen. Arzneimittel ohne Profit kann es nicht geben. Behandlung und Business: Das
sind die zwei Seiten der Medaille für die Pharmaindustrie.
Es stimmt: Wir haben Fehler gemacht, denn wer verstanden werden will, muss sich erklären.
Der muss sich messen lassen: nicht an Hochglanzbroschüren, sondern an der Realität. Und dazu
zählt auch die Kritik am eigenen Tun.
Deshalb haben wir dieses Magazin in Auftrag gegeben – und der Redaktion freie Hand
gelassen: bei der Auswahl von Themen und Autoren, bei der Wahl von Gesprächspartnern und
Inhalten, bei Umsetzung und Gestaltung. Wir haben uns in die Hände von Journalisten begeben
– Angehörigen einer Berufsgruppe, die uns meist misstrauisch gegenübersteht – und sie recherchieren lassen.
Das Ergebnis ist ein Heft, das wir selbst so nie auf den Weg gebracht hätten. Sie finden
darin Kritik an unserer Arbeit, Sie finden Fragen, die wir anders stellen, und Antworten, die wir so
nicht geben würden. Die Redaktion lässt Pharmakritiker und Skeptiker genauso zu Wort kommen
wie Menschen, die etwas über unsere Industrie sagen, aber nicht mit unserem Verband verbunden
sind. Vieles gefällt uns nicht, auf manches hätten wir lieber verzichtet, nicht wenig wird uns
Kritik aus den eigenen Reihen eintragen.
Aber wir haben auch gelernt. Wir haben uns von Meinungen und Sichtweisen überraschen
lassen und Einblick in die Arbeitsweise von Journalisten gewonnen, die kritisch fragen, wissen wollen und an der Sache interessiert sind.
Vielleicht werden umgekehrt ja auch ein paar Klischees geradegerückt. Vielleicht entdecken
Sie Neues an unserem Tun. Oder Spannendes und Wissenswertes an dieser Branche, die sich aus
Überzeugung der Behandlung von Krankheiten und dem Fortschritt verschrieben hat. Dann wäre
unser Experiment geglückt.
Illustration: Eva Hillreiner
BPI – Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie
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Heilsames Wissen
Susanne Risch,
Chefredakteurin
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Mit der Pharmaindustrie ist es wie mit Fußball: Jeder kennt sich aus, jeder kann mindestens eine
unglaubliche Geschichte dazu erzählen, und jeder hat eine Meinung. Wenn im speziellen Fall auch
meist eine negative: Pharma ist übel und gefährlich.
Es ist schon erstaunlich, wie weit die Wahrnehmungen auseinanderklaffen. An den Produkten sind wir durchaus interessiert, für viele Menschen sind sie überlebenswichtig. Wir erwarten
immer neue, bessere, hilfreiche Medikamente, und das möglichst billig, auf jeden Fall ohne Zuzahlung. Von den Unternehmen, die sie produzieren, halten wir wenig: Sie verdienen an unserem Leid.
Sie sind uns zu groß, zu gierig, zu unmoralisch, im günstigsten Fall suspekt, ziemlich oft zuwider.
Wer wie Wolf Lotter (Seite 22) im Internet nach dem Wort Pharmaindustrie googelt, der findet
massenhaft Begriffskombinationen mit „Manipulation“, „Betrug“, „Gefahr“ und „Schäden“ – und
nur ganz selten so etwas wie Interesse am pharmazeutischen Fortschritt, von Anerkennung oder
Wertschätzung ganz zu schweigen.
Warum sich die Redaktion auf dieses Feld begeben hat? Eben deshalb.
Wir wollten wissen, wie sich diese Diskrepanz zwischen Produkt und Hersteller erklärt und
wer das wirklich ist – die Pharmaindustrie. Wir wollten verstehen, wie die Branche tickt, wie sie
arbeitet, woran sie forscht und in welchem Spannungsfeld sie sich bewegt. Deshalb haben wir
Fragen gestellt: Wie entsteht ein neues Medikament? Warum gibt es für Kinder oft immer noch
keine adäquate Arznei? Wieso fehlt uns für medizinische Forschung in Deutschland das Geld?
Lebt es sich als Patient in anderen Ländern besser? Können wir uns unsere Gesundheit bald nicht
mehr leisten? Bringt uns die personalisierte Medizin weiter? Und welche Verantwortung für Hilfe,
Heilung und Kosten tragen wir eigentlich selbst?
Einfache Antworten haben wir nicht gefunden, dazu sind die Themen zu komplex. Weshalb
beispielsweise die so wichtige Impfung gegen Papillomaviren, die Gebärmutterhalskrebs auslösen,
zum typisch deutschen Desaster geriet, muss man schon ein wenig ausführlicher erzählen, will man
die Geschehnisse in jüngster Vergangenheit wirklich verstehen. Mit der simplen Formel „Pharma
ist schuld“ ist es jedenfalls nicht getan – bei der HPV-Impfung so wenig wie bei der Kostensteigerung im Gesundheitswesen oder bei der Frage nach bezahlbaren Medikamenten für die Dritte Welt.
Im komplizierten Geflecht aus Bedürfnissen, Erwartungen, Ansprüchen und Möglichkeiten
der unterschiedlich Beteiligten im Gesundheitswesen spielt die Pharmaindustrie eine wichtige Rolle.
Darin ist sie unersetzlich – und wie jede andere wissensgetriebene Industrie oft auch ungeschickt
in der Kommunikation oder im Umgang mit Ängsten und öffentlicher Kritik. Doch wer sich die
Mühe macht, genauer hinzuschauen, findet Stärken und Schwächen – und jede Menge Stoff für
spannende Geschichten. Die immer gleiche Story vom dritten Tor ist dagegen einfach langweilig.
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Inhalt
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Was ist fair?
Zu groß, zu mächtig, zu gierig, zu wenig innovativ?
Zu einfach. Ein Branchenporträt.
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„Uns fehlt das Gesicht.“
Warum ist es um das Image von Pharma so schlecht
bestellt? Ein Gespräch mit Bernd Wegener (Foto rechts),
Vorstandschef des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI).
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Schluckbeschwerden
Skepsis ist gesund. Ignoranz ist dumm und gefährlich.
Ein Plädoyer für mehr Vernunft im Umgang mit Pharma.
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Aus dem Gleichgewicht
Komplexer geht es kaum: Der Patient bestellt, der Arzt
entscheidet, die Industrie liefert, die Kasse zahlt, die
Versichertengemeinschaft stöhnt, die Politik dämpft, die
Verbände kämpfen. Dabei wollen doch alle dasselbe: ein
funktionierendes, bezahlbares Gesundheitssystem.
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6
Labor der Hoffnung
Mit Stammzellen, so hoffen Patienten und Mediziner
seit Jahrzehnten, könnten tödliche Krankheiten irgendwann heilbar sein. Britische Forscher sind dem Traum
jetzt ein klein wenig näher gekommen.
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Kein Sauseschritt zur Therapie
Die Entwicklung eines neuen Medikaments dauert
Jahre und ist ein teures, mühsames Geschäft. Einen
Top-Hit in den Musik-Charts landet auch nicht jeder.
Der Wissenschaftler und Ex-Musiker Horst Lindhofer
hat im Laufe seiner Karriere gleich beides geschafft.
Meilensteine
Gewagte Experimente, skurrile Begegnungen, vergessene Petrischalen. Eine Reise in die Medizingeschichte.
Immun gegen Vernunft
Stolz, Hype, Profit, Skepsis, Polemik. Wie die HPVImpfung in Deutschland zum Desaster geriet.
Gute Frage
Kümmern sich die Pharmaunternehmen wirklich nicht
um Krankheiten in der Dritten Welt?
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Die Zauberformel
Wie sorgt man dafür, dass ein neuer Wirkstoff am
richtigen Organ auch die richtige Wirkung erzielt?
Zu Besuch bei einem, der es wissen muss.
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Der Glücksfall
Ohne Risikokapital ist Arzneimittelforschung für junge Unternehmen nicht finanzierbar. Doch in Deutschland sprudeln die Geldquellen nur spärlich. Was das
für Pharma und Biotech bedeutet, diskutieren drei
prominente Vertreter der Branche: SAP-Gründer Dietmar Hopp, Friedrich von Bohlen und Halbach und
Christof Hettich.
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Kann das auch explodieren?
Die Kosten im Gesundheitswesen steigen seit Jahren stetig. Wo führt das hin? Und wie lange kann das
noch gut gehen? Ein Erklärungsversuch.
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Gute Frage
Warum sind die meisten Arzneien, mit denen Kinder behandelt werden, gar nicht für sie zugelassen?
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Wie geht’s?
Das deutsche Gesundheitssystem steht seit Jahren in
der Kritik, die Liste der Mängel und Klagen ist lang.
Grund genug, sich einmal umzuschauen: Wie geht
es eigentlich einem Patienten in China, Großbritannien, Indien, den USA oder Schweden?
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Kleine Größen
Für die einen ist es lediglich plumpes Marketing, die
anderen feiern es als Revolution. Was ist dran an der
sogenannten personalisierten Medizin?
122
„Keine Menschen in unserem Sinne“
Der britische Naturwissenschaftler Mark Stevenson
hat eine optimistische Reise in die Zukunft gemacht.
Was er dabei gelernt hat, erzählt er im Interview.
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Impressum
Das Gesundheitswesen in Zahlen
Seiten: 25, 75, 83, 113
7
Was ist fair?
Von ihren Produkten erwarten wir alles: Medikamente, die helfen, heilen,
lindern und außerdem günstig sind. Von ihnen selbst halten wir wenig:
Die Unternehmen, die Arzneimittel herstellen, genießen keinen guten Ruf.
Ihr Geschäft ist die Gesundheit, oft geht es um Leben oder Tod. Aber auf
dem Markt der Ängste und Hoffnungen geht es auch um Milliarden. Und
damit automatisch um Moral.
brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl
Text: Andreas Molitor Illustration: Jindrich Novotny
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3 Irgendwann musste es ja fallen, das
böse Wort. Seit geraumer Zeit munkelte, raunte, säuselte es im Wahlkampf
durch die Straßen und Säle: „Die grüne
Spitzenkandidatin, das ist eine Pharmalobbyistin.“ Gemeint war Andrea Fischer, gut zwei Jahre Bundesgesundheitsministerin unter Gerhard Schröder.
Im vergangenen Jahr versuchte sie ein
kleines politisches Comeback. Sie wollte Bürgermeisterin im Berliner Bezirk
Mitte werden. Ihre Chancen standen
nicht schlecht. Aber dann passierte es.
Der SPD-Amtsinhaber zog die
Pharma-Karte. „Der musste sich nur auf
den Marktplatz stellen und sagen: ‚Die
grüne Tusse arbeitet für die Pharma industrie‘“, erinnert sich Fischer. Der
SPD-Mann sagte es wohl weniger grob,
aber mit einem Unterton, der nahelegte, dass es sich dabei um etwas ganz
und gar Ehrenrühriges handeln musste.
Der Stachel saß, klein, spitz und giftig.
Parteifreunde sprachen die grüne
Spitzenkandidatin besorgt an. „Lass dir
ein paar kluge Sätze einfallen“, mahnte
ein alter Kollege – wohl wissend, dass
es gegen den Vorwurf der Kumpanei
mit der Pharmabranche kein gutes
Argument geben würde. „Ich hätte
genauso gut für die Freigabe von Rüstungsexporten oder für die Renaissance
der Kernenergie plädieren können“,
sagt Fischer. „Das wäre auch nicht
schlimmer gewesen.“
Was hatte sie falsch gemacht?
Nach dem Verlust des Ministeramtes,
in dem sie nach Meinung vieler Parteifreunde nicht entschieden genug gegen
die Pharmalobby vorgegangen war, hatte sie bei einer Kommunikationsagentur den Bereich Healthcare übernommen und Pharmaunternehmen beraten.
Und Dinge gesagt, die nicht ins vertraute Gut-Böse-Schema passten. Dass im
Management der Pharmafirmen nicht
nur Schurken am Werk sind, zum Beispiel. Das reichte.
Andrea Fischer wurde nicht Bezirksbürgermeisterin. Ihrer Partei fehlten am Ende fünf Prozent. Die einstige
Ministerin müht sich jetzt als einfache
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Bezirksverordnete durch die Niederungen der Lokalpolitik. Ob sie ohne den
Lobbyismus-Vorwurf Bürgermeisterin
geworden wäre? Vielleicht war es der
entscheidende Nackenschlag.
Nun könnte man sagen: kleinklein. Was hat das Polit-Kabarett von
Berlin-Mitte mit der großen Bühne des
Landes zu tun? Der Blick in die Zahlen
belegt es: Die Pharmaindustrie hat ein
enormes Image-Problem.
Ihr Ansehen, so wird es immer
wieder kolportiert und von Pharmamanagern nicht selten mit einem Hauch
Selbstmitleid wiederholt, rangiert nur
knapp vor der Rüstungs- und Atomindustrie. Lediglich 56 Prozent der Bundesbürger haben eine gute oder sehr
gute Meinung von den forschenden
Pharmaherstellern, ergab eine Allensbach-Umfrage im Jahr 2010. Den Produzenten von Nachahmer-Präparaten
vertrauen sogar nur 34 Prozent der
Befragten. Demgegenüber erscheinen
Ärzte und Apotheker mit Zustimmungswerten um die 90 Prozent fast
über jeden Zweifel erhaben.
Viele Wünsche, wenig Vertrauen
Es ist paradox. Die Unternehmen der
Pharmaindustrie stellen Arzneimittel her,
die Leben retten und Krankheiten heilen; sie treiben die Forschung voran,
schaffen Wissen, stärken den Standort
und bieten krisenfeste, gut bezahlte
Arbeit für mehr als 100 000 Menschen
in Deutschland – trotzdem wird jede
Kampagne gegen die „Pharma-Multis“
mit öffentlichem Beifall bedacht. Für
Politiker im Popularitätstief sind ein paar
knackige Sätze gegen die Pharmalobby,
am besten über die Bild-Zeitung herausposaunt, das beste Rezept für einen
Beliebtheits-Schub. Alle Gesundheitsminister der vergangenen 20 Jahre, von
Horst Seehofer bis Daniel Bahr, werden
das bestätigen.
Gleichzeitig sind die Erwartungen
der Bevölkerung hoch: Selbstverständlich wollen wir die besten Medikamente. Der neueste Stand der Forschung ist
Pflicht, die Forderung nach Innovationen überdeutlich artikuliert. Laut einer
Allensbach-Studie stehen Medikamente
gegen Krebs für 95 Prozent der Befragten ganz oben auf der Wunschliste. 87
Prozent erwarten Durchbrüche bei der
Behandlung von Alterskrankheiten, 79
Prozent bei der Bekämpfung von Aids.
Genauso einhellig ist allerdings
auch das Urteil über das wirtschaftliche
Gebaren der Hersteller. 88 Prozent der
Deutschen finden, dass die Unternehmen für ihre Medikamente zu hohe
Preise verlangen und die Hauptverantwortung für die Finanzmisere im Gesundheitswesen tragen. Aussagen wie
„Nur am Gewinn orientiert“ und „Preistreiberei“ finden breite Zustimmung.
Dass von den 278 Milliarden Euro,
die im Jahr 2009 in Deutschland für die
Gesundheit der Bürger ausgegeben wurden, gerade einmal 16 Prozent auf Arzneimittel entfielen – wovon zirka zehn
Prozent bei den Herstellern landen, der
Rest bleibt im Handel –, und dass die
Entwicklung neuer Medikamente regelmäßig Milliarden verschlingt, dringt
offenbar ebenso wenig in die Öffentlichkeit wie die Tatsache, dass Pharma hierzulande kein Grüppchen von wenigen
Giganten ist, sondern eine Menge höchst
unterschiedlicher, vor allem kleiner und
mittlerer Unternehmen versammelt. Hersteller von homöopathischen GlobuliKügelchen oder Naturheilpräparaten
zählen ebenso dazu wie etablierte Generika-Fabrikanten, Diagnostikfirmen,
Biotechnologie-Start-ups und Spezialisten für bestimmte Krankheiten wie Epilepsie oder Parkinson.
Aber so ist es nun einmal. Der Pharmamarkt ist eben kein Markt wie der
für Autos, Digitalkameras oder Brausegetränke. Es geht nicht um „nice to
have“, sondern um die Gesundheit, in
vielen Fällen sogar um Leben oder Tod.
Es geht um ein paar zusätzliche Jahre
schmerzfreien Lebens bei schwersten
chronischen Erkrankungen. Es geht um
Hoffnung auf den Sieg über Krankheiten, die bislang als unheilbar galten. Um
Hoffnung auf einen Etappensieg gegen
den Tod durch Krebs, Aids, Multiple
Sklerose, Knochenschwund.
Niemand bezweifelt, dass die Arzneimittelforschung Millionen kranker
Menschen heute ein weitgehend schmerzfreies und normales Leben ermöglicht.
Psychisch Kranken etwa, die früher in
Zwangsjacken gesteckt und in Irrenanstalten an ihre Betten festgegurtet
wurden wie gefährliche Tiere. Oder
Menschen mit einer HIV-Infektion.
1987 brachte die Pharmaindustrie
das erste Medikament zur Behandlung
auf den Markt; seit 1985 haben die
Hersteller Präparate mit insgesamt 25
verschiedenen Wirkstoffen entwickelt –
mehr als im selben Zeitraum gegen
Diabetes. Dank der Arzneien bringen
infizierte Mütter mittlerweile fast durchweg gesunde Kinder zur Welt. HIVKranke können ein fast normales Leben
führen; ihre Lebenserwartung erreicht
annähernd die von Gesunden.
Aber natürlich geht es auch um eine
Menge Geld. Pharma ist Big Business.
Im Jahr 2010 produzierte die Branche in
Deutschland, dem drittgrößten Arzneimittelmarkt der Welt hinter den USA
und Japan, Medikamente im Wert von
27 Milliarden Euro. Und das bei ziemlich auskömmlichen Gewinnspannen.
Die Medikamente, die wir schlucken,
bringen mehr Rendite als viele andere
Industrieprodukte.
Immer wieder kursieren Berichte
von traumhaften Umsatzrenditen. Bayer
erreichte 2009 im Medikamentengeschäft 27 Prozent, Merck meldete im
selben Jahr immerhin noch fast 20. Und
auch wenn der Branchenschnitt wohl
erheblich darunter rangiert, verdienen
die Hersteller noch immer mehr als
die zehn Prozent, die in anderen Wirtschaftszweigen als extrem guter Wert
gelten. Damit reicht es auch für üppige
Managergehälter. Bei Novartis beispielsweise strichen der Konzernchef und der
Verwaltungsratspräsident im vergangenen Jahr ein Salär von zusammen mehr
als 24 Millionen Euro ein.
Wieso ein Gespräch
über Gesundheit so
selten sachlich bleibt?
Weil widersprüchliche
Interessen im Spiel
sind – und viele
falsche Vorstellungen
Die Börse bestimmt die Regeln
Konzernhochzeiten und spektakuläre
Übernahmen sollten die Renditen noch
höher schrauben. In den vergangenen
15 Jahren zählten die Pharmafirmen zu
den Lieblingskunden der Dealmaker aus
den Fusions- und Übernahmesparten
der Investmentbanken. 10, 20, 40, 70
Milliarden Dollar – irgendein Konzern
hatte immer die Taschen voller Geld. In
Deutschland führte das Fusionsfieber
dazu, dass Traditionsunternehmen wie
Hoechst oder Schering in größeren
Konzernen auf- und schließlich untergingen. Angesichts der von den Kapitalmärkten getriebenen Mega-Deals keimt
der Verdacht auf, dass die Unternehmen
mehr am Wohl ihrer Aktionäre interessiert sind als am Wohl der Patienten,
sich also verhalten wie Autohersteller
oder Banken.
Oder sogar schlimmer. Denn es
geht eben nicht nur um die Gewinne
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aus dem Verkauf von Autos oder Aktienfonds, sondern um einen Markt der
Ängste und Hoffnungen – und damit
um Moral in einem hochkomplexen
Geflecht von Akteuren und Interessen.
Da sind die Patienten, die bestens
versorgt werden wollen, mit ihrer Lebensweise oft genug aber nur wenig zur
Gesundung beitragen, und denen der
Preis eines Medikaments im Grunde
egal ist – es sei denn, sie sollen zuzahlen oder höhere Krankenkassenbeiträge
stemmen. Da sind die Ärzte, die sich
ungern die Mühe machen, umfassende
Informationen zu beschaffen, den Botschaften der Hersteller aber misstrauen
und sich weder von der Industrie noch
von den Kassen gern reinreden lassen,
was sie verschreiben sollen.
Da sind die Krankenkassen, die
sich bei ihren Mitgliedern profilieren
und gleichzeitig an den Gewinnspeck
der Vertragspartner wollen. Die Apotheker, die gern klagen, aber stets dafür
sorgen, dass sie ein ordentliches Stück
vom Kuchen abbekommen. Die Pharmafirmen, die in ihrer Preisgestaltung möglichst unbehelligt bleiben wollen, um in
den ersten Jahren nach der Markteinführung eines Präparats einen möglichst
hohen Gewinn zu erwirtschaften, bevor
es für einen Bruchteil der Kosten von
Generika-Herstellern abgekupfert werden kann.
Und da ist nicht zuletzt die Politik,
die dafür sorgen muss, dass die Gesundheit auf Kassenrezept bezahlbar bleibt.
Die rüden Eingriffe in die Preisbildung,
derer sie sich regelmäßig bedient, würden auf jedem anderen Markt als Rückfall in die Planwirtschaft verteufelt.
In der Öffentlichkeit dominiert das
Bild der Pharmaindustrie als monolithischer Block weniger börsennotierter
Großkonzerne. Kein Wunder, schließlich waren sie es, die in der Vergangenheit immer wieder für Diskussionen und
öffentliche Empörung sorgten. Wenn
Berichte über schwere Nebenwirkungen
auftauchten, wie beim Blutfettsenker
Lipobay. Wenn ein Medikament weniger wirksam war als angepriesen, wie
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jüngst beim Grippemittel Tamiflu. Oder
wenn ein Hersteller beim Preis besonders drastisch zulangte wie Novartis bei
seinem Lucentis, das 30-mal so viel kosten sollte wie das nahezu wirkstoffgleiche Avastin.
Was den Kleinen umbrächte …
Tatsächlich trifft das Bild vom fröhlichen Oligopol weniger Konzerne nicht
ansatzweise die Realität. Anders als
etwa in den USA ist die Branche in
Deutschland überwiegend mittelständisch geprägt. Nur gut fünf Prozent der
900 pharmazeutischen Unternehmen
hierzulande beschäftigen mehr als 500
Mitarbeiter. Knapp 80 Prozent haben
weniger als 100 Beschäftigte, fast zwei
Drittel sind eigentümergeführt.
Unter den zehn größten Pharmafirmen der Welt findet sich kein deutsches Unternehmen. Boehringer Ingelheim und Bayer rangieren erst auf den
Plätzen 12 und 13. Die einst so ruhmreichen deutschen Arzneimittelmarken
sind heute weitgehend, die GenerikaHersteller nahezu komplett in ausländischer Hand. Hexal, Schwarz-Pharma,
Merck Dura, Altana-Pharma und Ratiopharm gingen in den vergangenen Jahren an ausländische Wettbewerber oder
Finanzinvestoren.
DIE Pharmaindustrie? Branchenriesen
und Kleinproduzenten, Forschungshochburgen und Nachahmer, Etablierte
und Start-ups verfolgen höchst unterschiedliche Interessen. Dass beispielsweise die Hersteller neuer, patentgeschützter Medikamente bis vor Kurzem
ihre Preise nach Belieben festsetzen
konnten, ließ bei den Generika-Herstellern schlechte Stimmung aufkommen.
Je höher die Forschenden kalkulierten,
desto mehr sah sich die Politik gefordert, den Nachahmern Zwangsrabatte
abzutrotzen, um die Gesamtausgaben
für Arzneimittel zu deckeln.
Für einen Weltkonzern wie Pfizer
geht es nicht gleich an die Existenz,
wenn er auf dem deutschen Markt bei
einem Präparat vorübergehend Marktanteile verliert. Wie im Fall des Cholesterinsenkers Sortis, bei dem sich Pfizer
der vom deutschen Gesundheitsministerium angeordneten Preissenkung verweigerte. Weil die Mehrzahl der Patienten nicht zu einer Zuzahlung bereit war
und sich stattdessen preisgünstigere Präparate verschreiben ließ, brachen binnen
weniger Monate 85 Prozent des deutschen Sortis-Umsatzes weg.
Das sitzt der Hersteller aus – seit
mittlerweile sieben Jahren. Ein Mittelständler, der nahezu seinen gesamten
Umsatz in Deutschland erwirtschaftet,
hätte das nicht überlebt.
Auch im Zusammenhang mit neu
entdeckten Wirkstoffen fallen seit Jahren fast nur noch die Namen der Branchenriesen. Denn vor allem sie verfügen
über das Finanzpolster, das teure Medikamentenentwicklung hierzulande erst
möglich macht.
Von 5000 bis 10 000 getesteten
Substanzen schafft nach rund zwölf bis
fünfzehn Jahren Forschungs- und Entwicklungszeit im Schnitt lediglich ein
einziger Wirkstoff den Zugang zum
Markt. Einschließlich der zahllosen
Fehlschläge verschlingt die Entwicklung
eines neuen Präparats durchschnittlich
eine halbe Milliarde Euro, in Einzelfällen auch mehr als das Doppelte. Und
damit ist noch nicht gesagt, dass sich
das Medikament tatsächlich zm Blockbuster mit einem weltweiten Umsatz
von mindestens einer Milliarde Dollar
jährlich entwickelt.
Das sind schwierige Bedingungen
– und sie verschlechtern sich kontinuier lich. Eine Vielzahl auslaufender Patente,
die stetig rigidere Zulassungspraxis mit
dem für die Erstattung geforderten
Nachweis eines therapeutischen Zusatznutzens sowie das dichte Netz von
Eingriffen der Gesundheitspolitik haben
die Forschung unter zunehmenden
Druck gesetzt.
Gemeinsam schlauer
Deshalb setzen viele Unternehmen mittlerweile auf Kooperation. Manchmal
finden Große zueinander, beispiels weise GlaxoSmithKline und Pfizer bei
ihrem Joint Venture in der Aids-Forschung oder der US-Konzern Merck
und sein britisch-schwedischer Konkurrent AstraZeneca beim Test für neue
Krebsmedikamente.
Anderswo kooperieren Blockbuster-Hersteller mit Biotech-Start-ups in
der Hoffnung, mithilfe der kleinen
Kreativen ihre leeren Produkt-Pipelines
schneller aufzufüllen. Auf der Suche
nach den Arzneimitteln der Zukunft
verschmelzen Know-how-Welten, die
vor wenigen Jahren noch streng voneinander abgeschottet waren. So arbeiten
Pharmakonzerne und Diagnostika-Hersteller symbiotisch an Medikamenten,
die viel präziser als ihre Vorgänger auf
die einzelnen Patienten zugeschnitten
sind und das Risiko erfolgloser Therapien mindern.
Im Fokus dieser Bündnisse stehen
beispielsweise Chemotherapien, die besser und schneller anschlagen und weniger Nebenwirkungen mit sich bringen
sollen als die bisherigen Präparate. In
Deutschland besteht nach Angaben des
Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller in diesem Jahr Aussicht auf
mehr als 20 Medikamente mit neuem
Wirkstoff, insbesondere gegen Krebs
und Infektionskrankheiten.
Dahinter stecken Millionen von Tests
und Versuchsreihen, denn auch wenn
der Glanz der Industrie hierzulande verblasst: Die Pharmaindustrie zählt noch
immer zu den am stärksten wissensgetriebenen Wirtschaftszweigen. 16
Prozent ihrer Beschäftigten arbeiten in
Forschung und Entwicklung – andere
Branchen der Spitzentechnologie bringen es im Schnitt auf gut 13 Prozent.
Auch beim Anteil des Forschungsbudgets am Branchenumsatz liegt Pharma
mit 14,4 Prozent deutlich vor Elektronik/Messtechnik/Optik (12 Prozent),
Automobil- (9,9 Prozent) oder Maschinenbau (6,3 Prozent). Gegen die fünf
Milliarden Euro, die allein der US-Konzern Pfizer in diesem Jahr in die Suche
nach neuen Wirkstoffen steckt, nehmen
sich die Forschungsausgaben der gesamten deutschen Pharmaindustrie in Höhe
von 5,5 Milliarden Euro allerdings vergleichsweise bescheiden aus.
Dafür kommen die Pharmahersteller – im Unterschied zur Autoindustrie,
in deren üppig dimensionierten Fabriken
gut 700 000 Mitarbeiter etwa fünfeinhalb Millionen Fahrzeuge bauen – mit
relativ wenig Beschäftigten aus. 103 000
Mitarbeiter stehen aktuell auf den Gehaltslisten der Arzneimittelunternehmen,
ihr Einkommen liegt etwa drei Prozent
über den Gehältern in anderen Spitzentechnologiebranchen.
Zudem genießen sie bislang den
Vorzug eines relativ krisensicheren Jobs.
Weil Konjunkturschwankungen kaum
auf die Industrie durchschlagen, gab es
auch in Rezessionszeiten keine großen
Entlassungswellen. Die Menschen benötigen Medikamente – egal, ob die
Wirtschaft boomt oder kränkelt. An den
letzten großen Streik kann sich kaum
noch jemand erinnern. Und von der
Stetigkeit der Branche profitierten nicht
zuletzt auch die Anleger. Während sich
die Dax-Kurse seit Mitte der Neunziger jahre im Schnitt knapp verdreifachten,
stieg der Wert der Pharma-Aktien um
das Siebenfache. Im vergangenen Jahr,
als der wichtigste deutsche Börsenindex
um knapp 15 Prozent einbrach, verzeichneten die Aktien im deutschen Segment
Pharma & Healthcare immer noch ein
Plus von gut acht Prozent.
Entsprechend beliebt sind die Besten der Branche als Investition für Anleger – aber auch als Arbeitgeber, vor
allem bei Hochschulabsolventen aus den
Naturwissenschaften. Für junge Chemiker ist ein Job in der forschungsintensiven Pharmaindustrie so begehrt wie für
Ingenieure eine Anstellung bei Audi,
BMW oder Siemens. Im Wirtschaftswoche-Ranking der Wunsch-Arbeitgeber von Naturwissenschaftlern landete
Bayer voriges Jahr gleich hinter der
Max-Planck- und der Fraunhofer-Ge13
Wie viel Wert hat ein
Leben und wie viel
die Verlängerung eines
Lebens um wenige
Monate? Wer
entscheidet das? Wer
steht dafür gerade?
14
sellschaft auf Platz 3, Roche belegte
Platz 5, Novartis Platz 6. Auch Merck
und Boehringer Ingelheim schafften es
unter die Top 10.
Aller Konjunkturfestigkeit zum
Trotz hat die Branche in den vergangenen Jahren jedoch auch 14 000 Arbeitsplätze verloren. 2010 wurden vier Prozent der Stellen gestrichen, im Jahr
zuvor sogar acht Prozent. Der Abbau
traf vor allem die Generika-Hersteller.
Nach der Gesundheitsreform von 2007
sahen sich viele Unternehmen gezwungen, ihren Außendienst drastisch zu verkleinern. Etliche tausend Pharmavertreter wurden arbeitslos.
Die Zeiten schier unendlichen
Wachstums sind für die Industrie vorbei.
Neue Erkenntnisse, Durchbrüche und
Fortschrittsgewinne wie in den Anfängen der medizinischen Forschung sind
heute nur noch schwer zu erzielen. In
den Geburtsjahren der deutschen Pharmaindustrie ging es um den Kampf
gegen Fieber, Wundbrand, Schmerzen,
Diphterie. Am 10. August 1897 gelang
es Felix Hoffmann bei Bayer, den Wirkstoff Acetylsalicylsäure in reiner und
stabiler Form herzustellen. Das Unternehmen gab dem Produkt den Namen
„Aspirin“. Es wurde zum Symbol für
den weltweiten Erfolg der deutschen
Chemieindustrie, für ihren bemerkenswerten Aufstieg zur „Apotheke der
Welt“ – und den Deutschlands zur
zweitgrößten Handelsnation.
Die junge Pharmaindustrie zählte
neben der Chemie, dem Maschinenbau
und der Elektrotechnik zur New Economy des Kaiserreichs, zu den neuen Leitbranchen, die den Nachzügler Deutschland in ein Hightech-Aufsteigerland
verwandelten. Hoechst, Bayer, Schering
und Merck wurden Global Player des
„ersten deutschen Wirtschaftswunders“,
wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler
die Epoche des fast grenzenlosen Fortschritts- und Machbarkeitsoptimismus
vor dem Ersten Weltkrieg nennt. Binnen weniger Jahre wurden damals aus
Werkstätten Weltkonzerne. Die Bewunderung schien grenzenlos.
Ein paar Tage nach der Entdeckung des
Aspirins schufen die Bayer-Forscher im
Labor eine weitere Substanz, die sich
zu einem echten Blockbuster jener Jahre entwickelte und in den folgenden
Jahrzehnten weltweit als Hustenlöser
und Schmerzmittel äußerst erfolgreich
verkauft wurde. Bayer startete einen
noch nie da gewesenen Werbefeldzug
und verschickte Tausende von Gratisproben an Ärzte. „Die Nachbestellungen“, hieß es später, „übertrafen alle
Erwartungen.“
Dass Ärzte bereits kurz nach der
Markteinführung auf das Suchtpotenzial des Wundermedikaments hingewiesen hatten, interessierte den Hersteller
wenig. Aber mit dem Namen des Präparats – Heroin – begann die Debatte
um die Janusköpfigkeit pharmazeutischer Innovationen.
Contergan: Skandal mit Folgen
Sechs Jahrzehnte nach der erfolgreichen
Heroin-Synthese verlor die Industrie
endgültig ihre Unschuld. Der größte
deutsche Arzneimittelskandal aller Zeiten ist seither untrennbar mit einem
Namen verbunden: Contergan.
Das, wie damals üblich, an Nagetieren, nicht aber an mit Menschen
näher verwandten Säugern geschweige
denn an Menschen selbst getestete
Schlafmittel mit dem Wirkstoff Thalidomid des Aachener Pharmaunternehmens Chemie Grünenthal war ab 1957
in den Apotheken rezeptfrei erhältlich.
Bereits ein Jahr später registrierte man
eine Zunahme von Fehlbildungen bei
Neugeborenen, vor allem verkümmerte
Arme und Beine. Obwohl spätestens
1961 der Zusammenhang zwischen der
Einnahme von Contergan während der
Schwangerschaft und den Missbildungen evident war, reagierte der Hersteller zunächst nicht. Grünenthal vertrieb
das Medikament weiter und drohte für
den Fall eines Verbots mit Regressansprüchen. Insgesamt kamen damals
allein in Deutschland etwa 5000 contergangeschädigte Kinder zur Welt.
Die Tragödie hatte weitreichende Folgen: ungeheures Leid für Tausende
Menschen und ihre Familien; einen Prozess, in dem sich der Eigentümer des
Unternehmens und leitende Mitarbeiter
verantworten mussten; einen Vergleich
mit einer Entschädigungszahlung in
Höhe von 100 Millionen Mark. Und
eine 1978 in Kraft getretene, tiefgreifende Reform des Arzneimittelgesetzes
mit den heute gültigen strengen Zulassungsverfahren, vor allem dem verpflichtenden Nachweis von Qualität,
Wirksamkeit und Unbedenklichkeit.
Als 1968 der Contergan-Prozess
begann, startete eine junge Frau aus
Aachen ihr Lehramtsstudium. Die Contergan-Kinder, erinnert sie sich, gehörten damals zum Stadtbild. In Aachen,
dem Firmensitz des Herstellers, war das
Schlafmittel besonders häufig verkauft
worden. Ulla Schmidt ahnte nicht, dass
sie es als Gesundheitsministerin einmal
mit der Zulassung neuer Arzneimittel
zu tun haben würde oder mit der Frage,
ob der Profit Vorrang vor dem Wohl des
Patienten hat.
Acht Jahre lang, von 2001 bis
2009, hatte die Sozialdemokratin das
Ministeramt inne. Es gibt kaum einen
Pharmamanager oder Verbandsvertreter, mit dem sie nicht über Preise und
Zulassungsverfahren verhandelt hätte,
über Zwangsrabatte und Kosten-Nutzen-Bewertungen. „Im Gesundheitswesen geht es meist nicht um Rationalität“, sagt sie im Rückblick. „Es geht
um Emotionen, um Ängste und Hoffnungen. Die eigentliche Macht der
Pharmakonzerne besteht darin, dass sie
mit diesen Gefühlen der Menschen spielen können.“
Wie will man einem Patienten in
Todesangst auch mit vernünftigen Argumenten begegnen? Transplantationspatienten etwa sind auch nach einer
geglückten Organspende für den Rest
ihres Lebens auf Medikamente angewiesen, damit das neue Organ nicht vom
Immunsystem abgestoßen wird. „Geht
jetzt meine neue Leber kaputt?“, fragen
sie besorgt, wenn der Arzt ihnen nicht
mehr das gewohnte Medikament verschreibt, sondern ein preiswertes Nachahmerpräparat. Rationale Erklärungen?
Aus Sorgen wird Munition
Wer ein Auto kauft und sich keinen
Mercedes leisten kann, wählt vielleicht
einen VW. Wem auch der VW zu teuer
ist, wird fündig beim Dacia-Händler.
Dort kostet ein neues Auto 7000 Euro.
„Aber der Patient gibt sich eben nicht
mit dem Dacia zufrieden“, sagt Ulla
Schmidt. „Er will immer und auf jeden
Fall den Mercedes. Wer krank ist, möchte auf der Höhe des medizinischen Fortschritts behandelt werden.“
Als sie noch oberste Gesundheitspolitikerin war, demonstrierten die Eltern zuckerkranker Kinder vor ihrem
Ministerium. Es ging um die Erstattung
eines vergleichsweise teuren speziellen
Diabetesmittels durch die Krankenkassen. Die vom Hersteller des Präparats
mit Argumenten munitionierten Eltern
fürchteten, dass ihre Kinder ohne das
Medikament früher sterben müssten.
Schmidt gab nach und widersprach dem
Beschluss des G-BA.
In anderen Fällen blieb sie eisern.
„Sie werden hier in Deutschland nicht
diese Preise verlangen!“, rief sie den
Managern ausländischer Pharmakonzerne einmal zu. Allerdings schlägt sie
sich auch nicht auf die Seite der Krankenkassen. „Die würden die Preise am
liebsten immer weiter drücken, und bald
hätten wir keine Pharmaforschung mehr.
Wenn jemand forscht, muss es sich auch
rentieren. Es geht um faire Preise.“
Doch was ist das, ein fairer Preis?
Ist es der, den die Hersteller festlegen,
wie früher? Ist es ein Preis mit diktierten Rabatten? Einer, bei dem die Politik
einfach einen Prozentsatz abzieht? Sind
sechs Prozent Abzug dann fair, 16 aber
nicht mehr? Ist es fair, wenn zwei Oligopolisten, der Produzent und die gesetzliche Krankenversicherung, den Preis
unter sich aushandeln? Wie tief müssen,
wie tief dürfen Schnitte ins Fleisch der
Pharmahersteller sein? Wer definiert die
Grenzen? Und für wen? Darf die Behandlung einer seltenen Krankheit mehr
kosten als die Versorgung mit Mitteln,
die das Gros der Bevölkerung braucht?
Wie viel Wert hat ein Leben, wie viel
die Verlängerung eines Lebens um wenige Monate?
Ulla Schmidts Amtsvorgängerin
Andrea Fischer erinnert sich an ihre
erste Preissenkungsrunde. Kurz nachdem sie Ministerin geworden war, saß
sie Vertretern der Pharmaindustrie gegenüber. Noch ein paar Wochen zuvor
hätte sie mit keinem der Namen etwas
anfangen können, sie hatte sich nie
mit Gesundheitspolitik befasst. Um wie
viele Milliarden Euro es an diesem Tag
ging, weiß sie heute nicht mehr. An die
Reaktion von Bürgern und Parteifreunden hingegen erinnert sie sich gut. „Die
einen sagten: ‚Also Andrea, ich finde,
du müsstest viel entschiedener gegen
die Pharmaindustrie vorgehen.‘“ Und
die anderen? „Die klopften mir auf die
Schulter und sagten: ‚Ich bewundere Sie
dafür, dass Sie es mit der Pharmaindustrie aufgenommen haben.‘“
Vierzehn Jahre ist das jetzt her.
Seitdem ist viel passiert. Deutschland
hat medizinische Fortschritte errungen,
über Kosten diskutiert, drei weitere
Gesundheitsminister und fünf Gesundheitsreformen erlebt. Doch die jüngsten
Erfahrungen Andrea Fischers belegen:
Das alte Schwarz-Weiß-Schema ist geblieben. Pharma ist böse. Es wäre an der
Zeit für ein paar Grautöne.7
15
„Uns fehlt das Gesicht.“
Abzocker, Preistreiber, Goldgräber – um das Image der Pharmaindustrie in
Deutschland ist es schlecht bestellt. Zu Recht? Bernd Wegener,
Vorstandschef des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI)
über Fakten, Falschmeldungen und die Fehler seiner Zunft.
Interview: Lydia Gless, Susanne Risch Foto: Oliver Helbig
Herr Wegener, Ihre Branche ist hilfreich und zählt zu den
innovativsten im Land. Im Ansehen rangiert sie dennoch
ganz unten. Woran liegt das?
Ich wundere mich vor allem über die Diskrepanz zwischen
Produkt und Absender. Unsere Produkte haben in der Bevölkerung einen Zustimmungsgrad von 80 Prozent. Die Menschen schätzen und respektieren Arzneimittel. Selbst gentechnologische Präparate werden von 62 Prozent der Bevölkerung akzeptiert, ganz im Gegensatz zu Lebensmitteln etwa.
Gleichzeitig ist derjenige, der diese Produkte herstellt, ungefähr so beliebt wie die Vertreter der Atomindustrie. Da kann
man sich schon fragen, woran das Auseinanderdriften liegt
– zwischen dem Produkt selbst und demjenigen, der es sich
ausdenkt, erforscht, entwickelt und produziert.
Haben Sie eine Antwort gefunden?
Da spielen die unterschiedlichsten Dinge rein. Allen voran
natürlich der ständig wiederholte Vorwurf der hohen Renditen, der ja immer gerne in Verbindung mit Pharmapreisen
genannt wird. Pharma und Gier – der Zusammenhang wird
gezielt und ziemlich erfolgreich in die Öffentlichkeit getragen.
Bernd Wegener, promovierter Veterinärmediziner, Unternehmer und Aufsichtsratsvorsitzender der Co.don AG,
vertritt den Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie als Vorsitzender des Vorstands seit dem Jahr 2000.
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Er ist ja auch nicht ganz aus der Luft gegriffen.
Ich kenne keine Branche, die in so langen Zeiträumen denken muss wie wir und in der bei den anderen Leistungserbringern innerhalb des Systems so wenig Verständnis für
die Situation des Lieferanten existiert. Das sind regelrechte
Zyklen, in denen wir beschossen werden.
Jetzt zum Beispiel, am Jahresanfang, haben wir wieder die
Kampagne der Krankenkassen, in der gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass das Geld in diesem Jahr nicht reicht. Warum? Na klar, weil die Preise der Pharmariesen so hoch sind.
Die Kassen machen Stimmung, um ihre Ziele durchzusetzen
und sich selbst Handlungsspielräume zu verschaffen. Im Verteilungssystem Gesundheitswesen mit einem gedeckelten
Budget geht es am Ende eben immer um Macht.
Davon hat die Pharmaindustrie ja nun auch nicht wenig. Sie
ist eine der Großen im Land, und ob wir wollen oder nicht:
An Ihrer Branche kommt keiner vorbei.
Mein Problem beginnt schon mit dem Wort Pharmaindustrie. Journalisten tun gerne so, als sei das ein monolithischer
Block. Tatsächlich sind wir eine sehr inhomogene Gruppe
von sehr vielen Kleinen und wenigen Großen. Und die sind
geschrumpft: Vor zwanzig Jahren hatten wir in Deutschland
noch sieben Weltkonzerne. Heute ist nicht mal mehr ein
deutscher Hersteller unter den ersten zehn.
Aber wir haben es alle zusammen mit einem emotional hoch
beladenen Produkt zu tun – der Gesundheit. Sie können sich
ein Auto kaufen oder nicht. Sie können Bahn fahren oder
nicht. Was uns angeht, haben Sie keine Wahl: Sie brauchen
unser Produkt. Und Abhängigkeit schafft keine Sympathie.
Zudem betrifft sie jeden, deshalb redet auch jeder mit. Inzwischen gehört es quasi zum guten Ton, Pharma zu kritisieren.
Am liebsten mit dem Totschlagargument: Man darf nicht an
Krankheit verdienen. Was natürlich völliger Blödsinn ist. Wir
müssen an Krankheit verdienen, sonst können wir uns Gesundheit gar nicht leisten.
Wer ein wenig differenzierter argumentiert, wird Ihnen diesen Vorwurf kaum machen. Natürlich muss und soll die
Branche verdienen. Die Frage ist nur: wie viel?
Ob die Gewinne verhältnismäßig sind, können wir gerne diskutieren. Dann müssen wir aber unterscheiden zwischen
Deutschland und dem Rest der Welt. Ein Unternehmen, das
seine Umsätze hierzulande erzielt, kommt, wenn es Glück
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hat, auf vielleicht acht oder neun Prozent. Das ist ordentlich,
keine Frage. Aber es ist kein Grund, von Goldgräberstimmung zu reden.
Eine Umsatzrendite von 20 Prozent und mehr, wie sie Merck
oder Pfizer ausweisen und die fälschlicherweise auf die gesamte Industrie übertragen wird, lässt sich allein auf dem
US-Markt erzielen. Warum? Weil es sich dort vier Prozent der
Weltbevölkerung leisten, 36 Prozent aller weltweiten Arzneimittelausgaben zu bezahlen. Und das nicht etwa, weil sie so
viele Medikamente schlucken – sondern durch deren Preisstellung im Markt. Barack Obama hat ja versucht, das zu
korrigieren, sich aber eine blutige Nase geholt.
Ob ich das richtig finde, ist eine andere Frage. Die Verhältnisse lassen sich jedenfalls nicht auf Deutschland übertragen.
Und sie sagen schon gar nichts über DIE Pharmaindustrie.
Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass Sie alle nicht
schlecht verdienen. Der deutsche Markt ist der drittgrößte
der Welt und außerdem einer der hochpreisigsten.
So pauschal stimmt das nicht, zudem sind die Preise hierzulande von vielen Faktoren abhängig. In den Medien werden
ja immer gerne einzelne Produkte vorgeführt und innerhalb
Europas verglichen. Tatsache ist: Wenn ich als Hersteller
europaweit beispielsweise einen Blutdrucksenker abgebe,
kostet eine Packung mit 30 Tabletten in Spanien vielleicht
6,30 Euro und in Frankreich 12 Euro. In Deutschland zahlen
Sie dafür aber rund 15 Euro. Die Differenz erklärt sich durch
unterschiedliche nationale Rahmenbedingungen wie Handelsspannen und Mehrwertsteuer. Aber nicht durch Preistreiberei der Pharmaindustrie.
Dann sind all die Kritikpunkte an der Industrie nur Polemik?
Sie wollen sagen, die Branche selbst hat zu ihrem schlechten
Image nichts beigetragen?
Oh nein, im Gegenteil. Unser Bild in der Öffentlichkeit prägen wir in hohem Maße mit. Deshalb müssen wir ganz
sicher auch kräftig vor unserer eigenen Tür kehren. Die Pharmaindustrie hat Fehler gemacht. Schlimme Fehler. Nehmen
Sie nur Contergan. Was damals passiert ist, war eine Tragödie. Und so etwas fällt auf die gesamte Branche zurück.
Contergan liegt 50 Jahre zurück. Meinen Sie wirklich, das
Image der Branche leidet heute vor allem darunter?
Sicher nicht, aber Contergan markierte einen Wendepunkt in
der öffentlichen Wahrnehmung. Damals haben wir unsere
Unschuld verloren. Den zweiten großen Schock lösten
Anfang der Achtzigerjahre die HIV-kontaminierten Blutkonserven aus. In Frankreich wurden seinerzeit rund 4000 Patienten mit dem Virus infiziert; auch in Deutschland gab es mehr
als 1800 Opfer. Das sind für mich schlimme, unverzeihliche
Fehler, mit denen wir schlecht umgegangen sind und die wir
außerdem sehr unprofessionell kommuniziert haben.
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Auch andere Branchen machen schlimme Fehler. Wir kennen
Ölkatastrophen, Chemieunfälle, massenhafte Rückrufe von
Autoherstellern. Jüngst haben die Banken ihr Image eingebüßt. Und trotzdem sind die Industrien in der öffentlichen
Wahrnehmung nicht derart schlecht angesehen.
Ich fürchte, unsere Industrie wirkt nicht menschlich. Sie hat
kein Gesicht. Bei uns gab es nie eine führende Person in der
Öffentlichkeit, wie etwa im Bankensektor. Man kann Josef
Ackermann gut finden oder nicht, aber er prägt die Industrie
mit seinen Fehlern und seinen Stärken. Wir könnten die Sektoren durchgehen – es gibt jede Menge Beispiele für Köpfe,
die stellvertretend für eine Branche stehen.
Für Pharma gab es nie eine starke Persönlichkeit, die bereit
gewesen wäre, sich zu exponieren. Und eine Branche ohne
Gesicht kann eben auch keine emotionalen Pluspunkte für
sich sammeln. Anonymität wirkt kalt und schreckt ab.
Warum ändern Sie das nicht?
Das ist weniger eine Frage des Wollens als des Könnens.
Unsere Industrie ist inzwischen in vier Verbände aufgeteilt –
ein Einzelner bringt heute nicht mehr genug Gewicht in die
Waagschale, um als Stellvertreter für alle akzeptiert zu sein.
Es würde schon helfen, wenn das einzelne Unternehmen offe ner kommunizieren würde. Patienten sind nicht blauäugig,
sie erwarten keine Wunder. Aber sie wollen ernst genommen
und verlässlich aufgeklärt werden. Krankheiten sind nun einmal bedrohlich, und Ängsten kann man nur mit Informationen begegnen.
Ich bin ganz Ihrer Meinung. Aber Kommunikation ist ein
kompliziertes Thema. Und Unternehmen, die selbst ihren
Geschäftsbericht nur als Notwehrmaßnahme auslegen, stehen vermutlich nicht in der ersten Reihe, wenn es darum
geht, komplexe oder auch unbequeme Wahrheiten zu transportieren. Die Welt ist voll von solchen Unternehmen, nicht
nur in unserer Branche.
Wer sich nicht erklärt, darf auch nicht darüber klagen, dass
sich die Leute ihr eigenes Bild machen.
Wir versuchen ja, uns zu erklären. Deshalb haben wir Sie
auch beauftragt, ein Magazin über unsere Branche zu produzieren, bei dem wir uns inhaltlich völlig raushalten und auf
eine faire journalistische Berichterstattung setzen.
Fairness verlangt Transparenz, das gilt für uns wie für andere. Wer sich ein Urteil bilden soll, muss die Fakten kennen.
Daran mangelt es aber viel zu oft. Das beklagen Ärzte, Politiker und Patienten genauso wie die Vertreter des IQWiG, des
Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das die Bundesregierung vor einigen Jahren eingerichtet hat.
Das IQWiG ist ein Kapitel für sich.
Weil es der Branche Umsatzeinbußen beschert? Schließlich
wird dort über den therapeutischen Zusatznutzen von Präparaten entschieden, der nachgewiesen sein muss, damit ein
neues Medikament teuer auf den Markt kommen kann.
Nein. Sondern weil es ein Gremium ist, das sich bisher nicht
von dem Verdacht freimachen konnte, wissenschaftliche Argumente allein mit dem Ziel zu entwickeln, den Wert eines
Arzneimittels und damit seine Preisstellung zu reduzieren.
Wo ist das Problem? Nutzen und Wert eines Arzneimittels
werden sich doch messen lassen.
In der Theorie schon. Die Theorie geht ja auch davon aus,
dass Medizin eine exakte Wissenschaft ist. Aber das ist Humbug, tut mir leid.
Jetzt machen Sie es sich zu leicht. Auch wenn die Medizin
nicht jedes Phänomen kennt, erklären oder behandeln kann,
muss es doch verlässliche Prüf- und Beurteilungskriterien
geben, die dem Patienten ein unabhängiges Urteil und eine
gewisse Sicherheit geben – und dann auch als Grundlage für
einen angemessenen Preis dienen.
Natürlich muss es das geben, aber dazu braucht es diverse
Experten. Ich will den Leuten im IQWiG nicht ihre Kompetenz absprechen. Sie haben einen wissenschaftlichen Hintergrund und wissen Studien und Statistiken sehr genau zu
beurteilen. Aber damit allein ist es nicht getan. Um Arzneien
adäquat beurteilen zu können, braucht es mehr als den rein
pharmakologischen Blick. Man müsste den Bewertern zumindest die Vorstände der medizinischen Fachgesellschaften an
die Seite stellen oder Vertreter des G-BA, des Gemeinsamen
Bundesausschusses, die neben der Pharmakologie den Patienten kennen. Der Wert eines Medikaments lässt sich nur im
Gesamtzusammenhang sehen.
Aber seine Wirksamkeit ist doch von der Zulassungsbehörde
längst geprüft und bescheinigt. Das IQWiG entscheidet danach
doch nur über zusätzlichen Nutzen als Grundlage für den Preis.
Das ist ja das Problem. Die Wirksamkeit eines Medikaments
wird unter Idealbedingungen nachgewiesen. Wenn ich als
Hersteller ein Medikament zur Senkung des Blutdrucks auf
den Markt bringen will, muss ich beweisen, dass es dem
Hypertoniker nützt. Dazu muss ich für meine Studien nach
Möglichkeit Patienten finden, die tatsächlich nur unter Bluthochdruck leiden. Der Mensch, der gleichzeitig Diabetes, ein
Nierenproblem oder eine Fettstoffwechselerkrankung hat,
würde meine Ergebnisse verfälschen.
Multimorbidität ist aber nicht die Ausnahme, sondern die
Regel. Ein Drittel der über 70-Jährigen leidet an mindestens
fünf chronischen Erkrankungen. Bis zu 20 Prozent der 70bis 99-Jährigen erhalten 13 und mehr Wirkstoffe täglich.
Folglich gibt es Interaktionen zwischen den Arzneimitteln –
die Struktur des einzelnen Wirkstoffs ist gar nicht mehr klar
erkennbar. An dieser Diskrepanz kommen wir nicht vorbei,
auch nicht in der Nutzenbewertung. Das IQWiG blendet sie
in seiner Beurteilung aber völlig aus.
Der Umkehrschluss ist auch keine Lösung. Sollen die Kassen
jeden Preis bezahlen, nur weil sich die Wirkungsweise eines
Medikaments im Alltag nicht exakt definieren lässt?
Ich habe keine perfekte Lösung. Ich versuche nur deutlich zu
machen, dass die Fragen sehr komplex sind und dass es sich
die Politik ziemlich einfach macht, wenn sie so tut, als gäbe
es simple Beurteilungskriterien –, und damit den Verdacht
schürt, die Industrie wolle sich die Taschen füllen. Das ist ja
auch leicht. Das Image haben wir sowieso schon.
Ihre Situation war bis zur Einführung des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) aber auch sehr
komfortabel. Bis dahin hatten Sie das Privileg, die Preise für
neuartige Medikamente selbst festzusetzen, unabhängig davon, ob sie einen Mehrwert zu existierenden Präparaten bieten.
Das AMNOG greift aber zu kurz. Es wird der Wirklichkeit
nicht gerecht. Und statt uns immer in Details zu verheddern,
sollten wir hierzulande vielleicht einmal überlegen, wie wir
Forschungsleistungen bewerten wollen.
Ein Medikament zu entwickeln dauert Jahre. In den ersten
sieben bis acht Jahren versuchen Sie zunächst einmal nur, die
klinische Wertigkeit einer Substanz in Relation zu anderen zu
bewerten. Da forschen Sie eigentlich blind. Sie wissen weder,
wo das hinführt, noch, ob Sie Ihr Ziel erreichen. Und Sie
haben schon gar keine Ahnung, ob und wie viele Ihrer Wettbewerber sich gerade mit denselben Fragen befassen.
Erste mögliche – und mit anderen vergleichbare – Ergebnisse
erzielen Sie frühestens in Phase II, in der Sie Versuche an
Patienten durchführen. Danach gilt es noch zahllose weitere
Hürden zu nehmen. Erzielen Sie einen relevanten therapeutischen Effekt? Können Sie die Ethikkommission überzeugen?
Kommen Sie überhaupt in Phase III? Schaffen Sie irgendwann die Zulassung? Gesetzt den Fall, all das gelingt Ihnen:
Dann sind jetzt 12 bis 15 Jahre vergangen …
… und Sie bringen ein neues Medikament auf den Markt.
Genau, und dieses Medikament sorgt im Gegensatz zu anderen Substanzen beispielsweise für eine Lebensverlängerung
des Patienten um sechs Monate.
Ein Zusatznutzen, den Ihnen das IQWiG auch bescheinigt.
Damit erzielen Sie am Markt einen hohen Preis.
Mir ist der Durchbruch geglückt. Ich bin der Erste. Und mein
Wettbewerber? Wann immer er mit seinem Produkt kommt:
Er hat schon den Makel me-too. Sein Präparat ist vielleicht
nur wenige Monate später am Markt, sein Produkt ist anders
gelagert als meines, aber auch seines verlängert das Leben um
einige Monate. Er ist trotzdem nur ein Nachahmer. Seine
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Investitionen sind so hoch wie meine, er hat Hunderte Millionen Euro investiert – und er wird dennoch einen Preisabschlag hinnehmen müssen, weil sein Nutzen dem meinen
nicht überlegen ist.
Und von welchen Kriterien ist das alles abhängig? Es kann
allein daran liegen, dass die Ethikkommission in dem Land,
in dem er seine erste Prüfung abgelegt hat, länger für ihre Entscheidung gebraucht hat als meine. Vielleicht war auch sein
CEO ein paar Wochen krank, was das Projekt verzögert hat.
Oder ein Computervirus hat die Auswertung der Statistiken
verzögert. In einem Zeitraum von 15 Jahren gibt es zahllose
Gründe für einen Verzug um wenige Monate. Und dennoch:
Der Zweite ist in jeder Hinsicht der Verlierer.
Wenn Mercedes-Benz vor BMW eine neue Technologie auf
den Markt bringt, wird die Marke auch als Star gefeiert.
Dann kann sich der Kunde aber immer noch für den BMW
entscheiden, wenn ihm das Auto besser gefällt. Zudem
kommt keine Behörde, die BMW zwingt, den Preis mindestens 20 Prozent niedriger anzusetzen als den des Mercedes.
Und vermutlich sehen sich die Münchener auch nicht dem
Vorwurf ausgesetzt, bei ihrer neuen Technologie handele es
sich nur um eine Scheininnovation.
Die Patienten erwarten bei dem Begriff Innovation vermutlich ein Medikament, das eine bis dahin nicht therapierbare
Krankheit heilt.
Den Patienten mache ich auch keinen Vorwurf. Behörden,
Politikern, Kassen, Instituten oder Medien, die es besser wissen, hingegen schon. Man wird den Verdacht nicht los, dass
die Realität aus Kostengründen bewusst ignoriert wird.
Was ist die Realität?
Unsere Wirklichkeit ist die Verbesserung des Bestehenden.
Über die Zeit gesehen, sind das riesige Innovationssprünge.
Sie vollziehen sich oft aber nur in kleinen Schritten.
Dass etwa Leukämie bei Kindern heute zu 90 Prozent heilbar ist, erforderte einen Entwicklungsprozess von weit mehr
als zehn Jahren. Und der Erfolg ist vielen Unternehmen geschuldet. Diesen kranken Kindern wird heute ein Cocktail aus
durchschnittlich fünf Arzneien verordnet, die teilweise nur
wenig verbessert sind. Aber sie entfalten ihre Wirkung nur,
wenn sie in der richtigen Kombination, zum richtigen Zeitpunkt, in der richtigen Dosierung und für die richtige Dauer
verabreicht werden. Dahin zu kommen ist ein komplizierter,
mühsamer, gemeinsamer Prozess.
Den gehen wir bei vielen Krankheiten. Beispielsweise auch bei
Aids. Heute hat ein 20-jähriger Patient, bei dem HIV diagnos tiziert wird, eine Lebenserwartung von 66 Jahren. Ende der
Neunzigerjahre lag sie noch 15 Jahre darunter. Die Sterblichkeit von Kindern mit Leukämie sank zwischen 1990 und 2004
jedes Jahr um drei Prozent. Sind das Scheininnovationen?
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Natürlich wünschen auch wir uns große Durchbrüche. Aber
die Mega-Entwicklungen liegen erst einmal hinter uns, viele
Gebiete sind gut erforscht. Trotzdem gibt es heute von weltweit etwa 30 000 bekannten Erkrankungen noch immer rund
20 000, die wir nicht behandeln können. Das sind keine
riesigen Patientengruppen, keine großen Märkte – es sind
kleine, unbehandelte Nischen. Sie anzugehen ist die Aufgabe
der pharmazeutischen Industrie in den nächsten Jahrzehnten.
Manchmal gehen Sie auch Fragen an, deren Antwort keiner
verlangt hat, und schaffen sich Ihre Märkte selbst. Jede Kleinigkeit wird heute pathologisiert. Vor ein paar Jahren war der
Mensch erschöpft und auch mal traurig, heute leidet er unter
Burnout und ist depressiv. Ein Kind, das man früher aufgeweckt genannt hätte, gilt neuerdings als hyperaktiv. Alles
Mögliche ist inzwischen angeblich krankhaft und damit
behandlungsbedürftig.
Das hat aber weniger mit der Pharmaindustrie als mit der
sozialen Akzeptanz von Krankheitsprofilen zu tun. In den
Zwanzigerjahren fielen die Frauen noch in Ohnmacht, heute
heißt es: Trink mal einen Kaffee. Ein Magengeschwür oder
ein Herzinfarkt ist noch immer eine Krankheit mit hoher
sozialer Anerkennung. Über seine Hämorrhoiden spricht keiner, obwohl die genauso schwierig sein können.
Natürlich beobachten wir solche gesellschaftlichen Veränderungen. Wir stellen uns darauf ein, assoziieren Produktnutzen
und versuchen, daraus ein Geschäft zu machen. Aber wir
erfinden keine Krankheiten. Das einst aufgeweckte Kind leidet heute möglicherweise an ADHS, an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Das ist inzwischen ein
anerkanntes Krankheitsbild. Dass Ärzte vielleicht zu viele
Kinder so diagnostizieren, ist ein Problem, da gebe ich Ihnen
recht. Aber dafür kann doch die Pharmaindustrie nichts.
Sie verdienen daran.
Richtig, und damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage:
Darf man an der Krankheit von Menschen verdienen? Aus
diesem Dilemma werden wir nie herauskommen.
In diesem Dilemma bewegen Sie sich jetzt seit fast 40 Jahren
– in unterschiedlichen Funktionen. Ist das auf Dauer nicht
frustrierend?
All das, was wir jetzt diskutiert haben, macht vielleicht zehn
Prozent meiner Arbeit aus. Ich schöpfe meinen Lebenszweck
lieber aus den 90 Prozent, und deshalb fühle ich mich in meiner Branche sehr gut aufgehoben. Weil wir auch in einem sehr
hohen Maße Nutzen spenden. Weil wir Neues schaffen, Entwicklungen vorantreiben. Ich bin von Menschen umgeben,
die etwas Gutes, etwas Richtiges wollen.
Das mag pathetisch klingen, aber so ist es: Wer in die Pharmaindustrie geht, tut das immer auch, um die Welt ein klein
wenig besser zu machen. 7
Bernd Wegener: „Wir müssen an Krankheit verdienen, sonst können wir uns Gesundheit gar nicht leisten.“
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Schluckbeschwerden
Es gibt Leute, die finden
Pillen doof.
Ich nehm’ das jetzt
mal persönlich.
Text: Wolf Lotter
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3
Mein Kumpel Karl-Heinz ist 50 und „kritisch“, sagt jedenfalls Karl-Heinz.
Sein Lieblingssatz lautet: „Man darf nicht alles einfach so runterschlucken.“ Deshalb nimmt der Karl-Heinz auch keine Pillen. Die sind nur Betrug. Den Ärzten
traut er auch nicht über den Weg. Alles Quacksalber, sagt der Karl-Heinz, denen
kannst du nicht trauen, die wollen nur dein Geld. Guck doch mal, mit welchen
Autos die rumfahren! Na siehst du.
Karl-Heinz sagt das Wort „Pharma“ nie ohne „Konzerne“, und wenn er es
sagt, dann verzieht er sein Gesicht. Karl-Heinz sagt auch nie „Gewinn“, sondern
nur „Profit“, und das spricht man irgendwie gespuckt aus. Konzerne sind immer
Verbrecher. Man muss kritisch bleiben, sagt Karl-Heinz. Die Pillen schluck’ ich
nicht. Sie sind alle bitter.
Ja, bitter. Vor 30 Jahren wäre Karl-Heinz in der Öffentlichkeit wahrscheinlich noch als Angehöriger einer randständigen Glaubensgemeinschaft oder eines
neuen Öko-Kults identifiziert worden. Heute aber steht der kritische Karl-Heinz
mit seiner Haltung, wie Gesinnung auf Neudeutsch heißt, mitten in der Gesellschaft. Leute wie Karl-Heinz sind die, die man in Fernseh-Talkshows einlädt, wenn
man einen „mündigen Verbraucher“ sucht, und das tut man ja immer.
Leute wie Karl-Heinz sind es, die die Einschlägigkeit des Begriffs Pharma neu
geprägt haben, etwa im Internet. Das ist der Ort, der, wenn man in ihm nach dem
Wort „Pharmaindustrie“ googelt, massenhaft Begriffskombinationen mit Wörtern
wie „Manipulation“, „Betrug“, „Gefahr“ und „Schäden“ hergibt und nur ganz
selten das Gegenteil.
Für Karl-Heinz werden die ganzen „kritischen“ Fernsehmagazine gemacht und
all die „kritischen“ Blogs und Geschichten in Zeitschriften und Tageszeitungen.
Wenn es um die Pharmazie geht, um die bitteren Pillen, dann wird der kritische
Unterton zum Hintergrundrauschen, das letztlich alles andere übertönt. Das gilt
selbst für solche Storys, in denen nicht ein dauerempörtes, aber nur bedingt auch
ausrecherchiertes „Ich klage an!“ auf Sendung geht.
Um die Karl-Heinzis dieser Welt, den neuen Mainstream, der nicht alles
schluckt, ruhigzustellen, braucht man ein Ritual, in dem zunächst mal klargestellt
wird, wer die Guten und wer die Bösen sind. Die Guten: Das sind immer die, die
nicht für den Konzern arbeiten und die keine Pillen drehen. Ein Beispiel dafür
lieferte ein Interview, das der Berliner Tagesspiegel im Juni 2011 mit der neuen Chefin des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller führte. Birgit Fischer war zuvor Vorstandsvorsitzende einer der mitgliederstärksten deutschen Krankenkassen
gewesen. Die Frage zu Beginn des Interviews lautete: „Frau Fischer, warum sind
Sie von den Guten zu den Bösen gewechselt?“ Der Rest des Interviews hatte
weniger von diesen Klischees zu bieten – aber wen interessiert das dann noch?
Zuerst müssen mal die „richtigen Fragen“ gestellt werden. Die Bösen sind immer
die Pharmakonzerne. Gut ist, wer dagegen ist. Aber wer ist bei einer solchen Haltung eigentlich der Dumme?
Klar hat Karl-Heinz recht. Man muss kritisch bleiben. Nicht alles schlucken.
Ganz gleich, was einem serviert wird – Pillen oder Propaganda. Die Pharmaindustrie geht mit komplexen Produkten um, und sie findet sich in komplizierten Verhältnissen zwischen Ärzten und Patienten wieder. Die Antwort darauf war lange
das, was auch in der Schulmedizin und in der Großtechnologie zum Standard
gemacht wurde: Die Leute verstehen das nicht. Fangen wir erst gar nicht an, es zu
erklären. In Branchen und bei Technologien, wo man das lange dachte, gibt es
heute eine massive Schieflage im öffentlichen Meinungsbild. In einer offenen Gesellschaft muss man auch offen reden, selbst wenn der Gegenstand, über den man
etwas sagen soll, komplex ist – vielleicht gerade dann. Wer nicht verteufelt werden
will, muss sich verständlich machen. Alles andere erhöht die Nebenwirkungen.
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„Auch Misstrauen
kann Ihre Gesundheit
gefährden. Es bleibt
dabei: Wissen heilt.
Vorurteile nicht.“
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Die sind in der Tat nicht ohne. Es ist auch die Folge einer verantwortungslosen
Gesinnung, die hier sichtbar wird. Impfen gilt bei vielen jungen Eltern mittlerweile als schlecht. So warnen Experten seit Jahren davor, beispielsweise auf die
Masern-Impfung zu verzichten. Zunehmend gibt es Fälle von SSPE, subakuter
sklerosierender Panenzephalitis, die tödlich verläuft – und die heimtückischerweise durchschnittlich sieben Jahre nach der Maserninfektion ausbricht. Weltweit sterben an Komplikationen nach einer Masernerkrankung mehr als 160 000
Menschen – pro Jahr. Deutschland hat, als Folge einer mangelnden Impfdisziplin, heute wieder eine der höchsten Masern-Infizierungsraten Europas.
Die „harmlose Kinderkrankheit“ Masern muss nicht tödlich verlaufen. Einschneidend ist auch eine Gehirnentzündung mit Fieberschüben, Krämpfen und
Schüttelfrost. Ich weiß, wovon ich rede. Als ich vier war, brachte mir mein Bruder Masern aus dem Kindergarten mit – und die führte bei mir zu einer solchen
Enzephalitis, die mich die nächsten Jahre beschäftigen sollte. Kindergarten gab
es für mich nicht, stattdessen mitternächtliche Besuche des Hausarztes. Nach
zwei solcher Jahre schielte ich wie Opossum Heidi, die „harmlose Kinderkrankheit“ hatte noch eine Reihe anderer unangenehmer Effekte – aber ich war am
Leben, weil ich viel Glück hatte, was man im Jargon auch Medikamente nennt.
Da hilft nur Meditation, da musst du Yoga machen, entspann dich. Das
hörte ich von ganz normalen, wohlmeinenden Mitmenschen 35 Jahre später,
als es mir, schon einige Tage, im Rücken stach und ich Fieber hatte, mich
schlapp fühlte. So was wird heute sofort als kleiner Burnout identifiziert, von
Leuten, die das meist im Internet gelesen oder in einer Talkshow gehört haben.
Da reicht Kamillentee oder alternativ „ein gutes Gespräch“.
Stimmt schon: Nicht alle der 20 000 Menschen, die pro Jahr in Deutschland an einer ambulant erworbenen Lungenentzündung sterben, tun das, weil
sie mit dieser Mischung aus Aberglauben und Skepsis gegenüber der Naturwissenschaft statt mit Medikamenten versorgt werden. Aber wenn es im Rücken
sticht, das Fieber nicht geht, man sich schlapp fühlt – dann sind die Tipps der
Karl-Heinzis gefährlich. Hier heißt es: zurückzweifeln. Alles andere wäre reine
Selbstverstümmelung.
Das gilt auch, wo die Karl-Heinzis Therapie in eigener Sache anwenden.
Es war vor gut einem Jahr. Wieder ein Stechen, aber diesmal in der Brust. Kurz
darauf eine schwierige Operation, dann folgte eine Reha – und Gelegenheit,
Karl-Heinz in Aktion zu erleben. Ein Patient, der nach zwei Herzinfarkten und
einer langen Operation gerade wieder laufen lernte – um seinen Mitpatienten
stolz zu berichten, dass er seine Tabletten regelmäßig im Klo runterspült. Denn
Pillen, sagt er, sind nur Betrug. Irgendwann kam Karl-Heinz dann nicht mehr.
Das war kein Fake. Er war echt tot.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat im Jahr 2003 eine Studie über
das Pilleneinnahmeverhalten von Patienten veröffentlicht. Nicht einmal die
Hälfte der Kranken in den reichen, medizinisch gut versorgten Ländern nimmt
ihre Pillen nach Vorschrift. Das kostet Menschenleben und führt mit zu einem
enorm teuren Gesundheitssystem. Auch dafür gibt es viele Gründe, zum Beispiel Vergesslichkeit, also echte Demenz – und jene Art Vergesslichkeit der
Karl-Heinzis, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse deshalb nicht schätzen,
weil sie ganz selbstverständlich und alltäglich für sie bereitstehen.
Keine Frage: Zweifeln ist richtig. Kritik ist wichtig. Aber auch Misstrauen
kann Ihre Gesundheit gefährden. Man muss nicht alles schlucken. Aber es bleibt
dabei: Wissen heilt. Vorurteile nicht. Das kann man ruhig so schlucken – und
es mal ganz persönlich nehmen. 7
Das Gesundheitswesen in Zahlen
Krankenversicherungen
Deutschland
USA
Ungefähre Zahl der Personen in Deutschland ohne Krankenversicherungsschutz im Jahr 2009:
Anteil der Nichtversicherten an der Gesamtbevölkerung Deutschlands im Jahr 2009, in Prozent:
Ungefähre Zahl der Personen in den USA ohne Krankenversicherungsschutz im Jahr 2009:
Anteil der Nichtversicherten an der Gesamtbevölkerung der USA im Jahr 2009, in Prozent:
Zahl
Zahl
Zahl
Zahl
der
der
der
der
gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) in Deutschland im Jahr 1970:
GKV in Deutschland im Jahr 2010:
privaten Krankenversicherungen (PKV) in Deutschland im Jahr 1988:
PKV in Deutschland im Jahr 2010:
Einnahmen der GKV je Mitglied im Jahr 2010, in Euro:
Ausgaben der GKV je Mitglied im Jahr 2010, in Euro:
45 000
0,06
46 000 000
15
1815
165
37
43
3418,1
3425,7
Ausgaben der GKV für Arzneimittel im Jahr 1995, in Milliarden Euro:
Ausgaben der GKV für Arzneimittel im Jahr 2010, in Milliarden Euro:
16,4
32,0
Ausgaben der GKV für ärztliche Behandlungen im Jahr 1995, in Milliarden Euro:
Ausgaben der GKV für ärztliche Behandlungen im Jahr 2010, in Milliarden Euro:
19,7
33,0
Anteil der verordneten Generika am Arzneimittelgesamtmarkt in Deutschland, die zulasten
der GKV anfielen, im Jahr 1981, in Prozent:
Anteil der verordneten Generika am Arzneimittelgesamtmarkt in Deutschland, die zulasten
der GKV anfielen, im Jahr 2008, in Prozent
Umsatzanteil der verordneten Generika am Arzneimittelgesamtmarkt in Deutschland, die zulasten
der GKV anfielen, im Jahr 1981, in Prozent:
Umsatzanteil der verordneten Generika am Arzneimittelgesamtmarkt in Deutschland, die zulasten
der GKV anfielen, im Jahr 2008, in Prozent
Durchschnittliche Arzneimittelausgaben pro GKV-Versicherten in Deutschland in 2010, in Euro:
Durchschnittliche Arzneimittelausgaben pro GKV-Versicherten im Kreisverband Bayern in 2010, in Euro:
Durchschnittliche Arzneimittelausgaben pro GKV-Versicherten im Kreisverband Berlin in 2010, in Euro:
10,9
68,6
10,9
36,8
405
362
505
25
Der Gesundheitsökonom
Jürgen Wasem, Professor für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen
Aus dem Gleichgewicht
Es klingt nach einem klaren gemeinsamen Ziel: Wir alle wünschen uns die bestmögliche
Versorgung zu vernünftigen Preisen zum Wohle von Patienten, Gemeinschaft und Industrie.
So weit die Theorie.
Die Wirklichkeit im Gesundheitsmarkt ist leider komplizierter, wie ein Streifzug durch die
Praxis zeigt.
Text: Christian Sywottek Illustration: Eva Hillreiner
26
Der Arzneimittelmarkt ist nicht wie jeder andere. Es
geht um die Gesundheit und damit um eine Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Daraus ergibt
sich eine ganz besondere Sensibilität, und dass es dabei zu
Konflikten kommt, ist nicht verwunderlich.
Viele entzünden sich an der Balance zwischen einer
guten Versorgung und ihren Kosten. Das kennen wir auch
aus anderen Industrien, aber im Pharmamarkt ist die Nachfrageseite einzigartig: Der Konsument ist nicht derjenige, der
ein Produkt auch bezahlt. Es gibt den Patienten, den Mediziner, den Versicherer und die Versichertengemeinschaft, also
eine Krankenversicherung, die die gesamte Bevölkerung einschließt. Diese Aufspaltung ist ein Problem.
Die Patienten sehen vor allem ihren individuellen Nutzen. Auch für den Arzt ist der Rezeptblock eher ein Versorgungs- als ein
ökonomisches Instrument. Die Krankenkasse wiederum hat auf die Verordnungspraxis keinen direkten Einfluss –
sie bekommt die Rechnung und muss
zähneknirschend zahlen. Wenn sich
aber weder Arzt noch Patient um die
Kosten kümmern, entwickelt sich kaum
ein Preisbewusstsein.
Der Pharmaindustrie ging es sehr
lange sehr gut, das war auch politisch
so gewollt, denn Deutschland ist traditionell stark in der Pharmaforschung,
und der Standort sollte gestärkt werden. Die
Bedeutung des Forschungsstandortes Deutschland hat allerdings in den vergangenen 20 Jahren deutlich abgenommen.
Erst in jüngerer Zeit nimmt die Politik größeren Einfluss
auf die Preise. Sie hat mit Rabatten bei den Generika reguliert
und mit Festbeträgen bei Analogpräparaten. Da verschwand
die Preisautonomie, und der Industrie ist viel Geschäft weggebrochen. Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) zwingt Hersteller jetzt außerdem zum Nachweis des
zusätzlichen Nutzens eines neuen, innovativen Medikaments,
sonst zahlen die Kassen dafür deutlich weniger Geld. Das ist
nicht ohne, denn bislang hat die Industrie Renditeverluste in
bestimmten Bereichen durch eine Hochpreispolitik in anderen Sparten ausgleichen können.
Nun aber schließt die Politik nach und nach die üppig
sprudelnden Profitquellen, zudem werden die Krankenkassen
selbstbewusster – die Bedingungen für die Pharmaindustrie
verschlechtern sich. Dass die sich wehrt, ist verständlich,
denn die Spielregeln ändern sich, und das schmerzt, zumal
Deutschland für internationale Konzerne bislang als leichter
Markt galt.
Über ihre Methoden dabei kann man streiten, aber man
sollte nicht pauschalieren. Ja, es gibt einige schwarze Schafe,
die gegen den fixierten Ehrenkodex ihrer Branche verstoßen,
und man darf erwarten, dass dies nicht geschieht. Man sollte
allerdings auch nicht verlangen, dass sich die Unternehmen
selbst beschränken, denn natürlich sind auch Arzneien ein
ökonomisches Gut, wie die Brötchen beim Bäcker. Der backt
sie auch nicht vorrangig, um Menschen zu versorgen, sondern um damit Geld zu verdienen. Moralische Appelle werden deshalb kaum zur notwendigen Regulierung führen. Wir
müssen die Probleme ökonomisch lösen.
Es stimmt schon: Die Klagen forschender Arzneimittelhersteller sind nicht immer
unbegründet. Andererseits waren die Preise
in Deutschland lange wirklich außergewöhnlich hoch, und sie sind es oft immer
noch. Wenn sie sinken, stellt das keine
allumfassende Bedrohung der Forschung
dar. Und auch ein verschärfter NutzenNachweis ist für mich kein Grund für Mitleid, selbst wenn es jetzt Medikamente
betrifft, für die die Forschung schon vor
zehn Jahren begann. Irgendwann muss
man schließlich anfangen.
Ob es durch die neuen Regeln wirklich zu einer Kräftebalance zwischen Anbietern und Nachfragern von Medikamenten kommt, wird sich erst zeigen. Wir werden die Kosten aber nur in den Griff bekommen, wenn sich auch auf der
Nachfrageseite etwas ändert. Für Laborleistungen wird der
Arzt, der traditionell zur Freiheit von der Ökonomie erzogen
wurde, schon heute umso besser bezahlt, je weniger er in
Auftrag gibt. Warum sollte eine ähnliche Steuerung nicht
auch bei Medikamenten möglich sein?
Damit sind wir beim Patienten. Braucht er wirklich all
das, was er verlangt? Um jeden Preis? Bislang zeigt er sich
wenig kostenbewusst und spielt seine Rolle im eingefahrenen System. Da traut sich die Politik nicht ran, aber wenn der
Patient sein Verhalten nicht ändert, wird er möglicherweise
zum Opfer des Systems. Ganz einfach, weil es nicht mehr
funktioniert.“
27
Die Politikerin
Der Mediziner
Birgitt Bender, Gesundheitspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
Wolf-Dieter Ludwig, Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie im
Helios Klinikum Berlin-Buch und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)
Auf dem Arzneimittelmarkt legt man nicht einfach
einen Hebel um und fertig. Man dreht an einem Rad,
und plötzlich geraten ganz viele Räder in Bewegung, aber
nicht immer so, wie man sich das vorher dachte. Deshalb geht
es oft zwei Schritte vor und einen zurück – und dann zeigt
jeder mit dem Finger auf andere. Als Politikerin steckt man
immer mitten im Meinungskampf.
Ziel einer guten Pharmapolitik ist die umfassende Versorgung mit bezahlbaren, guten Medikamenten. Dass Unternehmen Geld verdienen wollen, ist legitim, aber
als Politikerin habe ich Verantwortung für das
Solidarsystem. Die Beiträge müssen für die
Versicherten bezahlbar bleiben, deshalb
müssen sich auch die Gewinnerwartungen der Hersteller in Grenzen halten.
Aber Entwicklung und Forschung an
neuen Medikamenten dürfen nicht gefährdet werden.
Über die richtige Balance gibt es freilich
unterschiedliche Auffassungen, deshalb muss ich
den Unternehmen zuhören und von ihnen lernen
– wie ich mit jeder Seite sprechen muss, weil der
Markt so komplex ist. Dabei kann ich keine Samthandschuhe tragen, man darf nie in Verdacht geraten, der Industrie zu Willen zu sein. Wobei klar
ist: Auch wenn die Pharmaindustrie in der Öffentlichkeit oft wie ein negativer Block dasteht, sind
es doch viele verschiedene Unternehmen, die
sich sehr unterschiedlich verhalten. Dass die Politik
insgesamt kritischer geworden ist, liegt am Markt, der an
seine Finanzierungsgrenzen stößt. Außerdem haben Institutionen wie das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen (IQWiG) zu mehr Transparenz geführt –
Politiker wissen heute mehr als früher.
Einfacher ist es dadurch jedoch nicht geworden, denn
wir bewegen uns im Spannungsfeld zwischen Wirtschaftsund Gesundheitspolitik. Markt oder Solidargemeinschaft – da
besteht meist ein Zielkonflikt. Wobei es durchaus Überlappungen geben kann, etwa beim geforderten Nachweis des
Zusatznutzens bei neuen Medikamenten: Indem wir Scheininnovationen bekämpfen, zwingen wir die Hersteller zur Forschung an wirklichen Innovationen, und das macht sie langfristig doch nur stärker.
Wie wir verhindern, dass die Arzneimittelkosten jedes
Jahr signifikant steigen? Es ist schwierig, denn mit jeder
28
neuen Regel im Markt gibt es auch viele Versuche, diese zu
umgehen, um einen höheren Preis zu erzielen. Unternehmen
entwickeln dabei mitunter eine erstaunliche Fantasie, etwa bei
neuen Medikamenten für seltene Krankheiten, die vom Nachweis eines Zusatznutzens ausgenommen sind. In der Folge
werden plötzlich diverse Erkrankungen in Untergruppen eingeteilt und dann als „selten“ definiert – da fühlt man sich
schon veräppelt.
Durchdachte Strategien brauchen Zeit, und das kommt
öffentlich nicht gut an, weshalb Politiker oft zu symbolischen
Handlungen neigen. Aktionismus aber verhindert ernsthafte Diskussionen und wirkt gerade auf dem Arzneimittelmarkt verheerend. Ist dafür allein die Politik verantwortlich? Ich glaube, das greift zu kurz, denn es ist
schließlich auch „das Volk“, das danach verlangt.
Egal, was man macht, als Politikerin im Gesundheitsbereich macht man es niemals allen recht. Ich fühle mich manchmal wie ein Hase, der über ein Minenfeld läuft. Aber man darf sich nicht hetzen lassen,
muss allen Seiten etwas abverlangen, auch Kassen und Patienten, selbst wenn es Wähler
sind. So muss man beispielsweise immer
wieder klarmachen, dass maximale
Versorgung nicht immer die beste ist
– obwohl das gar nicht gut ankommt.
Auf anderen Märkten verschieben sich die Sättigungsgrenzen, auf dem Arzneimittelmarkt hingegen muss der
Kuchen noch aufs Backblech passen, und jede Seite will sich
das größte Stück sichern. Ich wünschte mir, die Teilnehmer
auf dem Pharmamarkt würden nicht nur auf ihre eigenen
Interessen, sondern auch auf das Gesamtsystem achten. Das
heißt für Hersteller: angemessene Preise. Kassen und Ärzte
sollten weniger über Geld, stattdessen vielleicht über neue
Versorgungsstrukturen reden. Und auch der Patient trägt Verantwortung. Der Medikamentenverbrauch hängt auch vom
Lebensstil ab. Jeder kann Einfluss nehmen auf den Markt.“
Wir Ärzte befinden uns in einem Dilemma. Unser
primäres Interesse ist die optimale Versorgung von
Patienten, dafür brauchen wir gute therapeutische Möglichkeiten, und Arzneimittel stehen dabei weit oben. Auf der anderen Seite sind wir als Verordner diejenigen, die begrenzte
Ressourcen vernünftig einsetzen und deshalb auch ökonomisch denken. Und für die pharmazeutischen Hersteller sind
wir besonders wichtig, weil wir letztlich entscheiden, welches
Medikament auf dem Markt besteht. Das bringt uns in eine
schwierige Situation – gerade im Verhältnis zur Pharmaindustrie. Denn auch wenn uns die Industrie mit wichtigen Arzneien versorgt, sind unsere Interessen doch verschieden.
Unternehmen sind profitorientiert, Mediziner hingegen wollen vor allem die bestmögliche Therapie verordnen.
Natürlich ist die Pharmaindustrie nicht per se mein Feind,
die Unternehmen handeln sehr unterschiedlich. Einige folgen hohen ethischen Standards, andere aber sind
rücksichtslos bei der Durchsetzung ihrer Interessen.
Da werden Ärzten Beraterverträge angeboten
und üppige Vortragshonorare gezahlt. Es
werden negative Studienergebnisse verheimlicht, positive überhöht, und statt
mit sachgerechten Informationen werden die Praxen mit geschönten Broschüren
geflutet. Ich weiß, dass die Branche einen eigenen Verhaltenskodex aufgestellt hat, aber die Praxis beweist, dass zu oft
dagegen verstoßen wird.
Das ist ein großes Problem, denn um medizinisch begründet zu entscheiden, ob man ein Medikament einsetzt oder
nicht, braucht man unabhängige Informationen. Die aber sind
hierzulande nur selten zu bekommen. Sind die neuen, teuren
Medikamente wirklich sinnvoll? Im Alltag fallen angesichts
dieser Frage meist Bauchentscheidungen. Und am Ende
merkt man, dass weniger als ein Drittel einen therapeutischen
Fortschritt bringt.
Gerade bei Neuheiten gibt es ein deutliches Wissensgefälle zwischen Industrie und Medizinern, dadurch entsteht
oft eine zumindest gefühlte Abhängigkeit. Und die nutzen
Pharmaunternehmen gezielt aus. Was ich aber genauso kritikwürdig finde: Ärzte machen in diesem Spiel mit, sie versuchen oft nicht einmal, sich unabhängig zu informieren.
Viele meinen, dass ein neues Arzneimittel automatisch auch
besser wirksam ist und sofort verordnet werden sollte.
Klar, es ist nicht einfach, den Einflüsterungen der Industrie zu widerstehen. Wir brauchen für medizinische Forschun-
gen ja auch Geld von der Industrie, weil öffentliche Gelder
gestrichen wurden. Viele Ärzte fühlen sich auch geschmeichelt, wenn sie zu einem Vortrag eingeladen werden, junge
Mediziner verdienen sich gerne ein Zubrot. Und neben all
dem ist es nun einmal bequemer, abends auf der Couch eine
kostenlose Broschüre zu lesen, als sich mühsam eigene Informationsquellen zu suchen und Originalliteratur zu lesen.
Ich habe das als junger Arzt auch gemacht, heute erscheint
es mir vollkommen widersinnig. Denn man wird desinformiert, gerät in einen inneren Widerspruch – und natürlich
beeinflussen solche Beziehungen auch die Verordnungspraxis.
Inzwischen weiß ich es besser: Man
kann sich ohne Informationsverlust
von der Marketingmaschine abschotten. In der von mir geleiteten Klinik
kommt kein Pharmavertreter mehr auf
die Station, höchstens noch in mein
Zimmer und muss dann bei echten
Neuheiten vor großer Runde – Klinikbesprechung mit allen Ärzten – bestehen.
Hochglanzbroschüren sind unerwünscht und
werden sofort entsorgt, Geschenke sind tabu.
Wir wissen trotzdem nicht weniger als andere
Kollegen. Es gibt unabhängige Informationsquellen wie
den „Arzneimittelbrief“ oder die Mitteilungen der AkdÄ, man
kann Originalstudien und die Bewertungen des IQWiG
lesen. Das ist deutlich mehr Arbeit, aber wenn ich ein Auto
kaufe, frage ich ja auch nicht nur den Hersteller nach dessen
Vorzügen.
Ich glaube nicht, dass die Industrie jemals aufhören wird,
zumindest ein bisschen zu mogeln. Deshalb müssten schon
Medizinstudenten auf Selbstschutz trainiert werden. Und es
müsste mehr unabhängige Forschung geben, die als Ziel den
medizinischen Fortschritt hat und sich nicht an Umsatzerwartungen orientiert. Dann bekämen wir eher die Medikamente,
die wir wirklich brauchen, und es gäbe auch keine Mondpreise mehr, weil sich wirklich gute Medikamente immer
durchsetzen und rentieren werden.
Ich bin skeptisch, ob die Pharmaindustrie das selbst leisten kann. Dahinter verbergen sich ja oft international agierende Konzerne mit Verkaufsdruck und Leistungszielen – mit
wissenschaftlicher Argumentation allein sind die kaum zu
erreichen. Die müssen ja geradezu tricksen. Manchmal tun
sie mir deshalb regelrecht leid.“
29
Der Gesundheitsexperte
Die Verbandsvertreterin
Stefan Etgeton, Gesundheitsexperte bei der Bertelsmann Stiftung, vormals Fachbereichsleiter
Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (vfa)
Gesundheit/Ernährung beim Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv)
Politiker und Krankenkassen erwarten von Patienten, dass sie sich bei Arzneimitteln rational verhalten.
Aber Patienten handeln nicht immer rational. Die Heilungs-,
ja Heilserwartungen gegenüber Medikamenten sind nicht
selten übertrieben, das Risikobewusstsein dagegen ist eher
schwach ausgeprägt. Verbraucher spielen eine Doppelrolle
im System – als Patienten und als Versicherte. Wenn sie krank
sind, wollen sie die optimale Versorgung um jeden Preis. Als
Versicherte aber wollen sie geringe Beiträge zahlen und fragen
sich, warum das alles so teuer ist. Verbraucher im Gesundheitswesen verhalten sich also durchaus ambivalent.
Dass sie den komplexen Pharmamarkt verstehen, kann
man kaum erwarten. Aber sie können ihrer Systemverantwortung gerecht werden. Etwa bei
Generika, wenn sie in der Apotheke aufgrund der Rabattverträge der Krankenkasse plötzlich ein anderes Medikament erhalten und sich an
eine neue Tablette gewöhnen
müssen. Systemverantwortung
heißt dann: die Umstellung mitzumachen, damit meine Krankenkasse die Vorteile des Rabattvertrages nutzen kann. Umso besser, wenn die Patienten
einen Anreiz zum Mitmachen haben, weil sie zum Beispiel
auf diese Medikamente keine Zuzahlungen leisten müssen.
Anders verhält es sich bei lebensverlängernden Arzneien,
etwa in der Krebstherapie. Wenn es um die letzten Lebensmonate geht, ist ein Patient mitunter abhängig von einem sehr
teuren Medikament. Da trägt er vor allem Verantwortung für
sich selbst, finde ich. Nur er kann entscheiden, ob er noch
eine dritte oder gar vierte aufreibende Behandlung durchstehen will. Die Kosten der Behandlung dürfen bei dieser sehr
individuellen Entscheidung keine Rolle spielen.
Die Verantwortungsübernahme der Patienten kann man
nicht erzwingen, aber fördern. Mehr unabhängige Informationen wären hilfreich. Bislang gibt es sie nur in Ansätzen,
etwa beim IQWiG, bei der Unabhängigen Patientenberatung,
der Stiftung Warentest und der Verbraucherzentrale. Diese
Institutionen bilden aber kaum ein Gegengewicht zum Marketing der Industrie, die sich über Broschüren und das Internet direkt an Patienten wendet – was kritisch zu sehen ist.
Wo für verschreibungspflichtige Arzneimittel frei geworben
werden darf – wie in den USA –, verursachen die meistbeworbenen Arzneimittel auch die höchsten Kosten.
30
Als organisierte Patientenschaft Einfluss zu nehmen ist nicht
leicht. Patienten haben vor allem symbolische Macht, deshalb
spannen Industrie und Politik sie auch gern für ihre jeweiligen Interessen ein. Unternehmen sponsern Selbsthilfegruppen, wenn sie in diesem Indikationsbereich Arzneien anbieten, andere gehen leer aus. Politiker argumentieren mit dem
Patientenwohl, wenn sie konfliktträchtige Entscheidungen
begründen. So kommt es zu punktuellen Bündnissen und
internen Konflikten, weshalb der Anspruch, mit einer Stimme
zu sprechen, nicht immer erfüllt werden kann.
Dabei wollen Patienten eigentlich alle dasselbe: gute,
innovative Medikamente. Die Industrie legt
auch keinen Wert auf therapeutische Flops,
insofern gibt es durchaus gemeinsame Interessen. Allerdings haben die Bedingungen in
Deutschland in der Vergangenheit auch solche Firmen belohnt, die in einen übersättigten Markt weitere patentgeschützte
Präparate ohne nachweisbaren Mehrnutzen eingeschleust haben. Dafür konnten satte Preise
erzielt werden, ohne dass
damit ein therapeutischer
Fortschritt verbunden gewesen wäre. Auf der anderen Seite
ist Forschung teuer, Flops sind unausweichlich – um das aufzufangen, braucht die Industrie Kapitalgeber mit hoher Risikobereitschaft und entsprechend hoher Renditeerwartung.
Die HIV-Therapie ist einer der letzten großen Innovationssprünge in der Pharmakotherapie. Heute tröpfelt es eher
aus den Pipelines der Arzneimittelforscher. Trotzdem muss
man sich sehr genau überlegen, ob man Neuheiten noch
strenger und früher auf ihren zusätzlichen Nutzen prüft und
damit Zulassungen verzögert. Wäre das in den neunziger Jahren bei den Medikamenten gegen HIV so gewesen, wären
deutlich mehr Menschen gestorben.
Ich halte das AMNOG daher für einen guten Kompromiss, weil es Innovationen schnell zugänglich macht, wenn
auch mitunter zu niedrigeren Preisen, als sich die Industrie
das wünscht. Was auf den Markt kommt, entscheiden die
Hersteller, und über die Erstattung wird auf Basis einer unabhängigen Nutzenbewertung verhandelt. Die Patienten sind
auf jeden Fall mit Medikamenten versorgt. Außerdem lehren
uns die Pharma-Skandale der Vergangenheit, dass das allerneueste Präparat nicht immer gleich das beste sein muss. Das
zu akzeptieren ist auch ein Stück Systemverantwortung.“
Wir Arzneimittelhersteller sind ein integraler Bestandteil des Gesundheitssystems, weil wir medizinische Versorgung sichern, mit neuen Medikamenten, aber
auch durch die Zusammenführung von Arzneien und Technologien. Wir geben Impulse für den gesamten medizinischen Fortschritt.
Das Bild von hohen Preisen, Scheininnovationen und
aggressivem Marketing, das von Teilen der Öffentlichkeit
so gerne gezeichnet wird, ist eher von Vorurteilen als von
der Realität geprägt. Natürlich haben einzelne Unternehmen
in der Vergangenheit Fehler gemacht, aber damit
eine ganze Branche zu assoziieren ist nicht
gerechtfertigt.
Die Kritik ist wohl dem traditionellen Kästchendenken auf dem Pharmamarkt geschuldet. Jeder Teilnehmer hat
lange nur an seine eigenen Interessen gedacht und die anderen damit konfrontiert.
Da nehme ich uns nicht aus. Ein komplexer Markt erfordert jedoch ein faires
Miteinander. Deshalb wollen wir raus aus der
Konfrontation und hin zur Kooperation.
Wir haben gar keine andere Wahl, denn die
Probleme auf dem Markt sind nicht mehr mit Silodenken zu lösen. Die Verteilungskonflikte sind mittlerweile zu groß für Alleingänge, genau wie die Kernfrage, die nur gemeinsam zu beantworten ist: Wie
wollen wir künftig mit Medikamenten eine gute Versorgung sicherstellen?
Dafür müssen die verschiedenen Akteure auf dem
Verhandlungsweg Lösungen finden. Man muss nicht alles
gesetzlich regeln – wir müssen miteinander reden, und das
tun wir inzwischen auch. Die Verhältnisse untereinander
haben sich längst verändert. Bei Rabattverhandlungen kommen Unternehmen und Kassen in direkten Kontakt, auch
das AMNOG zwingt uns zum gemeinsamen Handeln. Das
erfordert ein neues Rollenverständnis und Transparenz auf
allen Seiten: Man legt gemeinsame Ziele fest und überlegt,
wer welchen Beitrag wozu leisten kann.
Unser Beitrag ist traditionell die Forschung. Wir wollen
aber auch den Zugang der Patienten zu Medikamenten
sichern, also die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems
gewährleisten. Ja, es stimmt, diese Perspektive haben wir
lange vernachlässigt. Heute sehen wir darin eine besondere
Verpflichtung.
Finanzierbarkeit heißt jedoch nicht, dass die Preise für innovative Medikamente gesenkt werden. Natürlich ist es legitim,
niedrigere Kosten zu fordern, beispielsweise bei bestimmten
Analogpräparaten. Aber Forschung hat ihren Preis, und das
gilt auch für Forschungslinien, die nicht zum Erfolg führen.
Flops sind unausweichlich, ohne sie kann es keine Innovationen geben. Wir brauchen eine Refinanzierung der Forschung. Uns pauschal zweistellige Umsatzrenditen vorzuwerfen ist ein Totschlagargument.
Vor allem aber löst ein Drehen an der Preisschraube
nicht die Probleme bei der Versorgung. Die Lösung liegt
eher in der Steigerung der Effizienz im Gesundheitssystem. Dabei geht es um neue Versorgungsformen und Kooperationen, etwa zwischen Ärzten in Praxen, Krankenhäusern und
Rehabilitationseinrichtungen. Bei solchen patientenbezogenen Versorgungsfragen wollen
wir in Zukunft unseren Beitrag leisten, unsere
Forschungsarbeit entsprechend erweitern und
Lösungen vorschlagen.
Das ist ein ganzheitlicher Ansatz, und ich
würde mir wünschen, dass auch die forschenden Arzneimittelhersteller ein wenig differenzierter betrachtet
würden. Bislang werden Arzneimittel vor allem als Kosten wahrgenommen, aber nicht als Innovationen, die
einen individuellen, aber auch volkswirtschaftlichen Nutzen erzeugen können, beispielsweise in einer alternden
Gesellschaft. Dass die Arzneimittelausgaben steigen
werden, ist allen klar. Aber nicht jeder sieht, dass Menschen auch dank guter Medikamente gesünder alt werden
können, was andernorts Gesundheitskosten sparen kann,
etwa bei der Pflege. Es wäre also nicht klug, an Innovationen
zu sparen. Und es gibt noch viele Probleme zu lösen. Krebs,
Demenz, Parkinson, Hepatitis – das sind schwere oder tödliche Krankheiten. Daran arbeiten wir, und das tun wir für
die betroffenen Menschen und die Gesellschaft.“
31
Der Vertreter der Krankenkasse
Der Hersteller
Norbert Klusen, Vorstandsvorsitzender, Techniker Krankenkasse
Hanspeter Quodt, Geschäftsführer, MSD Sharp & Dohme GmbH
Viele Konflikte im Gesundheitswesen basieren auf
den steigenden Kosten. Man kriegt sie schwer unter
Kontrolle, weil Marktmechanismen nur bedingt greifen. Eine
Schokolade setzt sich durch, wenn die Qualität stimmt, und
dazu gehört auch der Preis. Ein Patient aber kauft seine Medikamente nicht, sie werden verschrieben. Vom Verschreiber
werden sie aber auch nicht bezahlt, sondern von den Krankenkassen, also von der Versichertengemeinschaft.
Unser Problem ist: Wir zahlen nicht selten für Verschwendung. Die Pharmaindustrie konzentriert sich oft auf
Scheininnovationen, für die sie bei geringem Aufwand hohe
Preise erzielen will. Unser Ziel ist aber die bestmögliche Versorgung mit bewährten Medikamenten und Innovationen,
die wirklich einen therapeutischen Fortschritt bringen. Wir
sind nicht bereit, hohe Preise für Arzneien zu zahlen, die
das Geld nicht wert sind. Und deshalb haben wir
unseren Interessenkonflikt mit der Industrie – auf deren Seite muss sich
etwas ändern.
Die Kassen selbst haben in
diesem Bereich relativ wenig
Einfluss. Wir entscheiden nicht
über die Zulassung von Medikamenten. Unser Spitzenverband spricht zwar mit im Gemeinsamen Bundesausschuss bei der Frage, welche Arzneien von
den Kassen erstattet werden, aber ausgeschlossen wird da
praktisch nichts. Und als einzelne Kasse kann ich zwar bei
Generika Rabatte aushandeln, aber letztlich kann ich dem
Arzt nicht vorschreiben, was er zu verschreiben hat, und das
will ich auch gar nicht. Was ich mir daher vorstellen könnte,
wäre eine kasseneigene Positiv-Liste – man könnte damit
ausgezeichnet behandeln, und gleichzeitig wäre es ein wirksames, marktkonformes Instrument, weil wir als Einkäufer
auftreten könnten. Voraussetzung dafür wäre natürlich, dass
diese Liste alle medizinisch notwendigen Behandlungsmöglichkeiten abdeckte.
Natürlich tragen auch wir Verantwortung für ein finanzierbares Gesundheitssystem. Aber wir können und wollen
deswegen keine notwendigen Medikamente verweigern. Wir
informieren Patienten über das Für und Wider von Arzneien
und haben Verträge für die Integrierte Versorgung, was ja
auch Kosten senkt. Wir machen das, obwohl Versicherte
schnell argwöhnen könnten, dass ihre Kasse nur Geld sparen
will. In die Therapiefreiheit der Mediziner greifen wir jeden32
falls nicht ein. Ärzte verschreiben mittlerweile ohnehin wirtschaftlicher, weil auch sie kritischer geworden sind. An dieser Schraube zu drehen löst die Probleme nicht.
Bleibt also die Industrie. Ich sage nicht generell ,Preise
runter‘, und ich will auch keinen ,VEB Pharma‘, sondern
pharmazeutische Vielfalt. Aber ich will wirkungsvolle Medikamente, bei denen Kosten und Nutzen im Verhältnis stehen.
Die frühe Nutzenbewertung im AMNOG begrüße ich deshalb sehr.
Der Kampf gegen hohe Preise kann zwar zu sinkenden
Renditen bei den Herstellern führen, aber das gefährdet die
pharmazeutische Forschung nicht. Warum müssen Pharmaunternehmen eine Umsatzrendite von 20 Prozent erzielen?
In anderen, auch risikoreichen Branchen sind es zwei oder
drei Prozent. Ich habe
nichts gegen Gewinne, aber da
wird auf sehr hohem Niveau gejammert. Wenn man Firmenrepräsentanten darauf anspricht, ist ihnen das selbst oft peinlich. Als die
Rabatte auf Generika eingeführt wurden, hieß es auch,
kleinere Pharmaunternehmen würden vom Markt
verschwinden. Das ist aber nicht passiert.
Durch solche Scheinargumente hat die Industrie viel Vertrauen verspielt. Wenn sie nun von Kooperation spricht, begrüße ich das, aber ganz ehrlich:
Ich habe wenig Hoffnung. Weshalb sollten Konzerne freiwillig auf Rendite verzichten? Ihr Zielkonflikt zwischen Gewinnerwartung und Gesamtverantwortung ist schwer auflösbar.
Die Industrie will sich jetzt Gedanken machen über
effiziente Versorgungskonzepte? Prima, gute Modelle habe
ich da jedoch noch nicht gesehen. Wir als Kasse stehen dem
offen gegenüber, auch wenn es aus wettbewerbsrechtlichen
Gründen schwierig ist, mit einzelnen Unternehmen zu kooperieren. Grundsätzlich ist eine Zusammenarbeit sicher leichter
als früher. Noch vor wenigen Jahren war alles sehr ideologisch aufgeladen, heute sind wir raus aus den Schützengräben und gehen die Probleme pragmatischer an.
Was allerdings nicht heißt, dass immer sachlich argumentiert wird. Auch kämpft jede Seite weiter für ihre eigenen Ziele. Um Lösungen zu finden, bedarf es da gelegentlich
der Politik. Natürlich verhandeln wir mit Herstellern, aber
selbst als große Kasse haben wir zu wenig Verhandlungsmöglichkeiten, gerade bei Neuerungen. Da brauchen wir
Hilfe, sonst gibt es ein Preisdiktat.“
Eines ist klar: Mit der Einführung des AMNOG hat
sich das jahrzehntelange Geschäftsmodell der forschenden Pharmaunternehmen überholt. Wir haben neue
Produkte entwickelt, sie bepreist, haben unsere Informationen dazu verbreitet, und dann konnte sich der Erfolg über
einige Jahre einstellen. Jetzt besteht unsere Herausforderung
darin, bereits vor der Markteinführung nachzuweisen, dass
ein neues Medikament einen zusätzlichen Nutzen hat, und
dessen Prüfung durch das IQWiG und den Gemeinsamen
Bundesausschuss (G-BA) ist ein recht monopolisierter Prozess.
So einen Paradigmenwechsel hat es noch nie gegeben.
Die Grundidee aber finde ich positiv, denn jeder muss seinen
Beitrag leisten für ein funktionierendes Gesundheitssystem –
also eines, das bezahlbar ist und trotzdem Innovationen ermöglicht. Und die neue Nutzenbewertung ist auch eine Chance, sich von Wettbewerbern abzuheben. Dafür müssen Innovationen aber wirklich anerkannt werden, und
ich bin mir nicht sicher, ob das geschieht. Bislang wurden nur etwa 20 Prozent aller
geprüften Neuheiten mit Einschränkungen ein Zusatznutzen bescheinigt – da kommt man
schon ins Grübeln.
Manch eine Entscheidung kann ich wirklich nicht nachvollziehen, etwa bei unserem neuen Medikament Boceprevir
für die Therapie der chronischen Hepatitis C. Das IQWiG
kam in seinem Gutachten zu dem Schluss, dass es Hinweise auf einen Zusatznutzen gegenüber der Standardtherapie
gibt, konnte ihn jedoch nicht quantifizieren. Denn es erkannte nicht an, dass die Elimination des Virus einer Heilung und
damit einer Verringerung von Folgeerkrankungen gleichkommt. International gilt die Elimination des Hepatitis C-Virus als Heilung – warum soll das in Deutschland anders sein?
Zum Glück hat der G-BA die Beurteilung durch das IQWiG
teilweise korrigiert, doch bleiben viele Fragen offen.
Und trotzdem: Ich empfinde die aktuellen Herausforderungen nicht nur als Belastung. Derzeit bilden alle Marktteilnehmer ein lernendes System – jeder positioniert sich, alle
müssen sich zusammenraufen. Wir haben jetzt auch die
Chance, vieles neu zu machen.
Viel zu lange war das Verhältnis zu den Kostenträgern
durch Konfrontation geprägt, aber das nützt natürlich keiner
Seite. Ein Pharmahersteller trägt Verantwortung für das ganze
System – und so wollen wir uns auch verhalten: weg vom
bloßen Pillenlieferanten hin zu einem Gesundheitsunternehmen, das umfassende Lösungen erarbeitet. So wie ein Autokonzern, der nicht nur Fahrzeuge, sondern Mobilitätskonzepte anbietet.
Was das bedeutet? In der Forschung werden wir noch
gezielter vorgehen und uns schon Jahre vor einer eventuellen Marktreife mit den Zulassungsbehörden abstimmen. Das
klassische Marketing für Ärzte wird an Bedeutung verlieren
zugunsten früher Abstimmungsprozesse mit Politik und dem
Spitzenverband der Krankenkassen. In Sachen Bezahlbarkeit
wollen wir mit Kassen Mehrwertverträge schließen, die nicht
nur auf Rabatte hinauslaufen, sondern auf gemeinsame Ziele.
Wie viele Diabetiker weniger müssen nach einer bestimmten
Anzahl an Jahren medikamentöser Behandlung trotzdem ins Krankenhaus? Wie viele Tage ist ein Patient weniger krankgeschrieben, nimmt er
ein bestimmtes Präparat? Man
könnte auch gemeinsam Fortbildungen für Ärzte anbieten. Es geht um qualitative, langfristige Ziele –
auch weil wir verlorenes Vertrauen zurückgewinnen wollen.
Als Unternehmen wollen wir
natürlich Gewinne erzielen, zugleich
müssen die Preise bezahlbar und neue Medikamente innovativ sein. Das klingt widersprüchlich, und ich empfinde es
nicht selten auch als Quadratur des Kreises. Aber andernorts
gibt es ja Beispiele für gemeinsame Lösungen, etwa in Neuseeland mit Gesundheitsplänen für Ernährung, Diagnose und
Therapien. An solchen Vorbildern kann man sich ausrichten.
Gemeinsamkeit erfordert allerdings auch Vertrauen, und
da fühle ich mich mitunter allein gelassen. Nehmen Sie nur
das jüngste Beispiel: Da wurde der Zwangsrabatt für Medikamente jenseits der Festbetragsregelung von zehn auf 16
Prozent erhöht – und nun verfügen die Krankenkassen über
einen Milliardenüberschuss. Der Rabatt wird jedoch nicht
ausgesetzt. Gemeinsamkeit sieht anders aus.
Natürlich lebt auch auf Seiten der Industrie noch mancher in der alten Welt, in der man sich lieber gegenseitig Vorwürfe macht als sich zusammen an einen Tisch zu setzen.
Aber wir stehen unter Beobachtung – was ich in Ordnung
finde, weil es zu mehr Sorgfalt führt. Und um Sorgfalt geht
es, will ich meinen Patienten gerecht werden. Denn das ist
schließlich unser gesellschaftlicher Auftrag.“
33
Der oberste Verwalter
Der Patient
Rainer Hess, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA)
Siegfried Schwarze, zuständig für HIV und Therapie im Delegiertenrat der Deutschen AIDS-Hilfe,
Vorstand des Projekt Information e.V. (www.projektinfo.de)
Als oberstes Selbstverwaltungsgremium der Ärzte,
Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und
Krankenkassen konkretisieren wir den Leistungskatalog der
gesetzlichen Krankenversicherung, und wir entscheiden im
Rahmen des AMNOG auf Grundlage von Herstellerdossiers,
Nutzenbewertungen des IQWiG und Ergebnissen von Anhörungen über den Zusatznutzen von neuen Medikamenten. Auf
Basis unserer Bewertung verhandelt der Spitzenverband der
Krankenkassen – sofern ein Zusatznutzen festgestellt wurde
– anschließend mit den Herstellern den Erstattungsbetrag –
je höher der Zusatznutzen gegenüber anderen Therapien,
desto höher der Preis. Wenn kein Zusatznutzen belegt ist,
wird das Medikament in eine Festbetragsgruppe eingeordnet, oder der Preis der Vergleichstherapie bildet die Obergrenze für
Erstattungspreisverhandlungen.
Mit unserer Arbeit sind wir den Versicherten und deren guter, solidarisch
finanzierbarer Versorgung verpflichtet. Dass sich die Industrie für das
solidarische System verantwortlich
fühlt, würde ich nicht erwarten. Wir
entscheiden aber nicht über den Marktzugang von Arzneimitteln, der ist nach wie
vor frei. Wir legen lediglich Wegmarken für
die Erstattungspreise fest. Deswegen verhindern
wir auch keine Innovationen. Und wir entscheiden
nach Nutzen beziehungsweise Zusatznutzen und nicht nach
gesundheitsökonomischen Grundsätzen. Der G-BA macht
keine Marktpolitik.
Natürlich gibt es innerhalb des Ausschusses bei Entscheidungen über Medikamente durchaus auch unterschiedliche Auffassungen zwischen Ärzten und Kassen. Aber die
Bänke einigen sich meist relativ schnell auf der Grundlage
objektiver Daten. Diese Auseinandersetzungen werden absolut transparent geführt und sind Teil unserer Arbeit.
Auf dem Weg zum AMNOG hat es von der Industrie
massiven Druck auf die Politik gegeben. Das ist zwar legitim,
hat aber zu Regeln geführt, die ich nicht gutheiße. So können wir seit 2011 etwa kein zugelassenes Medikament mehr
ausschließen, weil es – einmal am Markt – automatisch als
nützlich gilt. Wir können über die Zusatznutzenbewertung
nur noch auf den Preis Einfluss nehmen. Auch die Abstufung
dieses Zusatznutzens hat uns die Politik vorgegeben. Und
obwohl wir von den Unternehmen jetzt einen Nachweis über
34
die Zweckmäßigkeit ihrer Arzneien verlangen können, sind
wir mit dem Status quo noch nicht glücklich: Bis so eine Studie vorliegt, vergehen etwa drei Jahre, und so lange bleibt das
Medikament am Markt und muss mit dem vereinbarten oder
festgesetzten Erstattungspreis bezahlt werden.
Aber all das ist jetzt Gesetz, und wir gehen damit um.
Unser Verhältnis zur Politik ist trotzdem mitunter angespannt,
weil sie einerseits Wert legt auf Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, sich andererseits aber wiederholt inhaltlich einmischt. Die Indifferenz ist den heftigen Interessenskämpfen
der Industrie geschuldet, die die Politik natürlich weiterhin
bearbeitet, und das prallt an Politikern ja nicht ab. Als parteiisch würde ich die Politik dennoch nicht bezeichnen. Sie
hat sich mit dem neuen Gesetz in einem echten Kraftakt mit
der Industrie angelegt, und wir sind nun einmal
ein Verbändestaat. Politik ist da immer ein
Kompromiss.
Wir bearbeiten zurzeit etwa 20 Verfahren
der frühen Nutzenbewertung, und wir
haben keine grundlegenden Probleme mit
den betreffenden Pharmaunternehmen.
Natürlich streitet man sich bei der
Bewertung über die zweckmäßigen Vergleichstherapien, aber das
kann ja auch gar nicht anders sein.
Insgesamt gehen die Unternehmen fair mit uns
um, denn auch sie wollen fair behandelt werden. Und
wir sind schließlich nicht in einem Boxkampf, sondern in
einem Lernprozess.
Wie sich unsere Nutzenbewertung am Ende auf die
Preise neuer Medikamente auswirken wird, lässt sich noch
nicht sagen, weil bislang noch kein Verfahren bis zu konkreten Preisverhandlungen gediehen ist. Aber die Politik wird die
Sache sehr genau beobachten und nicht akzeptieren, dass
Innovationen nicht anerkannt werden oder die Preise unangemessen in den Keller gehen. Wir müssen jetzt erst einmal
in Ruhe arbeiten und erst dann gegebenenfalls nachjustieren,
wenn genügend Erfahrungen bestehen. Aber das ist völlig
normal. In einem komplexen System brauchen gute Lösungen nun einmal ihre Zeit.“
Ich bin seit über 20 Jahren HIV-positiv, und es sind
Medikamente, die mich seitdem am Leben halten.
Die mich aber nicht nur überleben lassen, sondern mir auch
ein weitgehend normales Leben ermöglichen. Medikamente
haben bei Aids das große Sterben beendet, auch bei Freunden und Bekannten, und dank dieser Mittel bin ich nicht
mehr infektiös, also auch keine Gefahr für andere Menschen.
Ich will, dass gute Medikamente im Markt bleiben und
die Entwicklung weiter vorangeht, damit sich Wirksamkeit
und Verträglichkeit erhöhen und eine HIV-Infektion vielleicht
wirklich einmal geheilt werden kann.
Aber so klar diese Position ist, ergeben sich aus ihr auch Konflikte –
mit der Pharmaindustrie, den Ärzten, der Politik, den Zulassungsbehörden.
Wenn es um die Versorgung geht, bin
ich mit der Pharmaindustrie sehr zufrieden. Die
HIV-Therapie ist eine Erfolgsgeschichte – selten wurden so schnell so gute Medikamente
entwickelt, die Grundlagenforschung ist
hervorragend. Und auch wenn jetzt langsam Medikamente auftauchen, über deren Sinn man
sich streiten kann, gibt es kein großes Problem mit
Scheininnovationen – was freilich auch daran liegt,
dass der Markt noch so jung ist.
Was mich allerdings stört, ist das überzogene Marketing. Es gibt Hersteller, die vermarkten ihre
Medikamente über die Rocklänge ihrer Vertreterinnen,
andere machen Deals mit Ärzten. Eine Rolex als Dankeschön für Verschreibungen – so etwas ist zwar rückläufig,
kommt aber immer noch vor. Ich habe es auch selbst erlebt,
dass sich ein Sponsor zurückzog, weil sein Name in einer
Publikation nicht genannt wurde. Und all diese glücklichen,
muskulösen Menschen in der Werbung – das ist völlig unrealistisch und birgt – gekoppelt mit oft verzögerten Informationen über Nebenwirkungen – die Gefahr, dass selbst ein
gut informierter Schwerpunktarzt dem Marketing erliegt und
HIV-Patienten nicht das für sie beste Medikament bekommen.
Grundsätzlich geben Unternehmen viel zu viel Geld für
Marketing aus. Das könnten sie sich sparen und stattdessen
die Medikamente günstiger anbieten. Spielraum dafür gäbe
es durchaus – jenseits der Proteasehemmer sind HIV-Medikamente in der Herstellung oft Cent-Artikel, die für einen
Bruchteil der jetzigen Preise angeboten werden könnten. Aber
das macht natürlich keiner, denn sind die Preise erst einmal
hoch, werden sie selten gesenkt, zumal sich die Hersteller bei
der Preisfindung vor allem an den Mitbewerbern orientieren.
Jeder nimmt, was er kriegen kann, das ist auf dem Pharmamarkt wie in anderen Branchen. Ein besonderer ethischer
Anspruch ist Unsinn, es geht ums Geschäft, da ist die Politik gefragt. Aber auch auf deren Seite läuft meiner Meinung
nach nicht alles optimal. Die Regulierungen auf dem Pharmamarkt ähneln doch sehr der Flickschusterei.
Die neuen Regeln des AMNOG bilden keine Ausnahme. Die frühe Nutzenbewertung halte ich für ein verkapptes
Instrument zur Preisreduktion. Warum ist man nicht ehrlich
und legt die Preise einfach gesetzlich fest? Und wie soll man
einen ,Zusatznutzen‘ definieren? Selbst wenn das Urteil negativ ausfällt, kann ein Medikament bestimmten Patienten
nützen. Und wie soll man über eine Arznei urteilen, die
etwa bei HIV die Viruslast besonders effektiv senkt,
dafür aber mehr Nebenwirkungen hervorruft?
Nutzen ist eine sehr individuelle Sache, und
man darf wirksame Medikamente nicht wegen
irgendwelcher exotischen Nebenwirkungen abstrafen. Viele Leute sind darauf angewiesen.
Natürlich tragen auch Patienten Verantwortung für das Gesundheitssystem – sie können mit
den Ressourcen sorgsam umgehen. Irgendwann
wird es auf dem deutschen Markt auch Generika-Präparate gegen HIV geben. In der eigentlichen
Therapie aber gibt es zu Medikamenten keine
Alternative – wer sie nicht nimmt, stirbt. Einfach
mal verzichten – diese Forderung wäre vermessen.
Doch selbst HIV-Patienten können etwas tun,
etwa beim Nebenwirkungsmanagement oder der Psychohygiene. Ich sage immer: Wer Depressionen hat, soll erst mal
Sport machen, bevor er sich Pillen verschreiben lässt. Und
wenn ich einmal gut eingestellt bin, muss ich auch nicht alle
drei Monate zur Neu-Diagnose zum Arzt rennen, um alle
möglichen Laborwerte bestimmen zu lassen.
Bei der Verantwortung der Patienten liegt noch einiges
im Argen, was sicher an der mangelnden Aufklärung liegt.
Viele folgen einer Maschinen-Ideologie, nach der man den
Körper mit Medikamenten eben repariert. Ein Fach ,Gesundheitskunde‘ in der Schule wäre nicht schlecht, und bei Arzneien sollten mehr Informationen auch den Patienten direkt
zugänglich sein, nicht nur den Ärzten. Wobei das eigentliche
Problem nicht fehlende Informationen sind, sondern ihre
Bewertung. Aber da habe ich auch keine perfekte Lösung.“
35
Labor der Hoffnung
Werden mit Stammzellen irgendwann tödliche Krankheiten heilbar sein?
Patienten und Ärzte träumen davon seit rund 30 Jahren, britische Forscher sind
auf dem weiten Weg jetzt zumindest einen kleinen Schritt weitergekommen.
Zu Besuch in Moorfields, einer der führenden Augenkliniken der Welt.
Text: Sebastian Borger Fotos: Peter Günzel
Die Messung von Augeninnendruck
und Augenhintergrund zählt auch in
der Spezialklinik in London zum
Standardrepertoire der Mediziner.
3 Marcus Hilton hat gelernt, mit seiner
Behinderung umzugehen. Auf den ersten Blick ist dem 34-jährigen Betreiber
zweier Gaststätten im nordenglischen
Wakefield kaum anzumerken, dass er
an einer schweren Erkrankung leidet.
Erst wenn sich Hilton tief über die
Registrierkasse beugt, um die korrekte
Bestellung einzugeben, wird sein Problem offensichtlich: Dem Gastronom
fehlt in beiden Augen die Schärfe im
zentralen Sehfeld. Er leidet an Morbus
Stargardt, einer seltenen erblichen Degeneration der Netzhaut. „Das war von
klein auf so“, berichtet Hilton. „In der
Schule konnte ich die Tafel nicht richtig erkennen, heute kann ich weder
Auto fahren noch Zeitung lesen.“
Morbus Stargardt, benannt nach
einem deutschen Mediziner, gilt – allen
medizinischen Fortschritten zum Trotz
– bis heute als unheilbar und ist damit
eine Diagnose, die Patienten und Ärzte
gleichermaßen trifft. „Wenn ich Stargardt-Patienten vor mir habe“, sagt Professor James Bainbridge, „sinkt meine
Stimmung: Es ist so schwer, ihnen
Hoffnung zu machen.“
Bainbridge arbeitet an der besten Augenklinik Großbritanniens, vielleicht sogar
Europas. Das Londoner Moorfields Eye
Hospital macht seit mehr als zwei Jahrhunderten mit bahnbrechenden neuen
Behandlungen vielen Blinden und Augenleidenden weltweit Mut. Und das
jüngste Aufeinandertreffen von Hilton
und Bainbridge könnte vielleicht schon
bald ein weiteres Kapitel in der an
Triumphen reichen Geschichte dieser
Institution aufschlagen.
Marcus Hilton war im Januar dieses Jahres der erste europäische Teilnehmer eines klinischen Versuchs mit embryonalen Stammzellen, von dem sich
Ärzte und Wissenschaftler Großes erhoffen. Während einer etwa anderthalbstündigen Operation unter Vollnarkose
spritzte ihm Professor Bainbridge rund
50 000 Stammzellen tief ins rechte
Auge, wo sie die beschädigte Netzhaut
reparieren sollen. Die teure Zelllösung
stammt aus dem Labor der amerikanischen Biotech-Firma Advanced Cell
Technology (ACT). Es handle sich um
„einen Meilenstein“, schwärmt Firmenchef Gary Rabin, „für die Wissenschaft,
37
für Befürworter der Stammzell-Therapie, für die Patienten und für ACT.“
Erste Ergebnisse eines parallel in
den USA laufenden Feldversuchs geben
tatsächlich Anlass zur Hoffnung. ACT
zufolge waren zwei Patientinnen auch
vier Monate nach der Stammzell-Spritze noch immer frei von Nebenwirkungen; weder kam es zur Abstoßung der
fremden Zellen durch das körpereigene
Immunsystem, noch bildeten sich Tumoren, wozu embryonale Stammzellen
theoretisch in der Lage sind.
Liberale Gesetzgebung
Beides sind extrem gute Nachrichten.
Denn ganz unabhängig von ethischen
Fragen und dem erhofften therapeutischen Nutzen einer Stammzell-Therapie, stellen ihre möglichen Risiken und
negativen Nebenwirkungen für die Forscher weltweit derzeit das größte Problem dar. Sowohl bei der Versuchsreihe
in den Vereinigten Staaten als auch bei
der klinischen Anwendung in Moorfields geht es deshalb zunächst nur um
die Sicherheit. Über einen Zeitraum von
18 Monaten werden auf beiden Seiten
des Atlantiks je zwölf Freiwillige behandelt und beobachtet. Eine Verbesserung
der Sehfähigkeit gilt einstweilen als
Bonus – tatsächlich machten die beiden
Amerikanerinnen Fortschritte, die allerdings schwer messbar blieben.
Die Erwartungen an den Feldversuch sind dennoch enorm. Potenziell
geht es nicht nur um Hilfe für Millionen
von Augenkranken weltweit. Die TestBehandlung bedeutet vielleicht auch
den lang vorhergesagten Durchbruch
der ersten Stammzell-Therapie – und
würde damit Medizin und Wissenschaft
ganz neue Möglichkeiten eröffnen.
Wenn im Auge die „Reparatur“
eines Organs gelingt, ohne dass sich
unerwünschte Nebenwirkungen einstellen, könnte das über kurz oder lang
auch für Herz, Leber und alle anderen
Vitalorgane gelten. Am Horizont stünde dann vielleicht sogar der Sieg über
Krebs, Parkinson, multiple Sklerose und
38
viele andere tödliche Krankheiten. „Wir
sind sehr aufgeregt“, sagt James Bainbridge folglich, was man ihm kaum
glauben mag. Der Augenarzt wirkt im
Gespräch wie die Inkarnation des
sprichwörtlich vollkommen unerschütterlichen Engländers.
Sein Pragmatismus mag mit ein
Grund für die Auswahl des Klinikums
gewesen sein. Dass sich die US-Biotechfirma ACT für den ersten europäischen Stammzell-Versuch an Moorfields und Bainbridge wandten, liegt
vor allem aber an deren Betätigungsfeld. Das Auge eignet sich wegen seiner
Abgeschlossenheit und vergleichsweise
geringen Durchblutung besser als viele
andere Organe für eng umgrenzte
Stammzell-Versuche. Körperfremde Zellen werden dort nicht sofort vom Immunsystem angegriffen wie anderswo
im Körper.
Daneben schätzen die Amerikaner
aber auch die vergleichsweise liberale
Gesetzgebung auf der Insel. Während
beispielsweise in Deutschland nur mit
importierten embryonalen Stammzellen
unter strengen Bedingungen geforscht
werden darf, erlauben die Briten den
Wissenschaftlern mittlerweile nicht nur
die Herstellung, sondern auch das Klonen der umstrittenen Alleskönner. Dem
jüngsten Gesetz von 2008 zufolge dürfen in Großbritannien Embryonen aus
menschlichen, aber auch aus menschlichen und tierischen Zellen, sogenannte
Chimären, hergestellt werden. Für die
Forschung mit diesen zytoplasmischen
Hybriden wird den Eizellen von Kühen
im Labor ihre eigene genetische Information weitgehend (99,9 Prozent) entnommen, um sie dann mit menschlicher
DNA zu verschmelzen. Ebenso erlaubt,
allerdings noch nicht umgesetzt, ist die
Forschung an sogenannten echten Hybriden. Dabei wird die Eizelle einer Kuh
mit menschlichem Sperma befruchtet
oder umgekehrt.
Auf Kuh-Zellen greifen die Forscher zurück, weil zur Herstellung der
Stammzell-Linien nicht genug menschliche Eizellen von guter Qualität zur
Verfügung stehen. Denn sämtliche Embryonen, so schreibt es das Gesetz vor,
und muss den Richter spielen, wenn
schwierige ethische Abwägungen zu
treffen sind. Dabei hat sie im Laufe der
Jahre immer wieder demonstriert, dass
sie – unter Wahrung eines gesellschaftlichen Konsenses – innovativer Forschung nur ungern im Wege steht. Im
vergangenen Jahrzehnt wurden in einem
Zeitraum von drei Jahren (2005 bis
2007) 429 Embryos eigens hergestellt –
die HEFA zählt bei dieser ethisch heiklen Forschung genau mit. Und sie beugt
möglichen Geschäftemachern vor: Die
Ei- und Samenzellen stammen von
Spendern, denen Kliniken und Forschungslabors höchstens 300 Euro Aufwandsentschädigung zahlen dürfen,
meist deutlich weniger.
Was darf Forschung?
Schon im Jahr 1805 wurden in Moorfields 600 Patienten behandelt. Dank moderner
Technik zählt die Klinik heute rund eine halbe Million Patientenkontakte pro Jahr.
Angenehm fürs Auge: ein Patientenzimmer im neuen Klinikanbau,
der nach seinem Sponsor Richard Desmond benannt wurde.
müssen spätestens 14 Tage nach der
Verschmelzung zerstört werden. Die
massiven Einwände der Gegner („Wir
sollten uns nicht mit Tieren vermischen“) und die wütenden Proteste der
katholischen Kirche („monströse Frankenstein-Forschung“) wurden von einer
überparteilichen Parlamentsmehrheit
ignoriert. In Umfragen befürworten
rund 70 Prozent der Briten die ver-
gleichsweise weitgehende EmbryonenForschung auf der Insel.
Schon 1991 hat das Londoner
Unterhaus eine Behörde eingerichtet,
die dieser Stimmung Rechnung trägt.
Seitdem vergibt die Human Fertilisation
and Embryology Authority (HFEA) landesweit Lizenzen für die künstliche
Befruchtung, die In-Vitro-Fertilisation,
entscheidet über Forschungsprojekte –
Dem 18-köpfigen HFEA-Beirat, den der
Gesundheitsminister ernennt, gehören
erfahrene Praktiker an, Gynäkologen,
eine Genetik-Professorin, eine Krankenschwester. Das Gesetz schreibt aber vor,
dass eine Beiratsmehrheit Laien sein sollen. Derzeit zählen drei Juristen dazu,
eine Buchhalterin, ein Philosophie-Professor, eine Historikerin, zwei Journalistinnen. Vor zehn Jahren leitete noch ein
Bischof der anglikanischen Staatskirche
den HFEA-Ethikausschuss, inzwischen
haben die Religionsgemeinschaften kein
Mitglied mehr im Rat der 18, von denen 14 Frauen sind.
Sollte sich der Erfolg einer solchen
Aufsichtsbehörde daran messen lassen,
dass sie es keinem recht macht? Dann
könnte die HFEA ihre Bilanz stolz herzeigen. Denn auch wenn der Ausschuss
dem medizinischen Fortschritt viel
Raum gibt, fallen die Aufseher doch
regelmäßig jenen Ärzten und Forschern
auf die Nerven, die aus Menschenfreundlichkeit oder weniger noblen
Motiven die Grenzen des Machbaren
und Erlaubten noch viel weiter hinausschieben wollen. Und natürlich gibt es
andererseits auf der Insel auch jene,
denen jegliche Forschung an Embryonen ein Gräuel ist und bleibt.
39
Seit 2006 haben es die Befürworter der
Stammzell-Therapie mit noch einem
Aufseher zu tun: Die Human Tissue
Authority (HTA) wacht über die ordnungsgemäße Aufbewahrung und Verwendung jeglicher menschlicher Substanz. Neben Autopsie-Proben und
Leichnamen zur medizinischen Lehre
gehören dazu auch sämtliche Stammzell-Linien nach ihrer Entnahme aus den
Embryonen. Und auch bei der HTA
sollen die Fachleute aus Medizin und
Forschung nicht unter sich bleiben:
Dem Aufsichtsrat – sieben Frauen und
fünf Männer – gehören ein Moraltheologe, eine Journalistin, eine Juristin sowie mehrere Spitzenbeamte an.
Britischer Pragmatismus
Der Rat ist streng – der Freiraum der
Wissenschaft aber offenbar trotzdem
groß genug. Julie Daniels, Professorin
für Regenerative Medizin und Zelltherapie am Institut für Augenheilkunde
des University College London (UCL),
das gleich hinter der Moorfields-Klinik
liegt, berichtet jedenfalls von einem hervorragenden Verhältnis zu den HTAInspektoren.
Daniels forscht seit Jahren mit
Stammzellen. Als die Mikrobiologin
2005 mit der Kultivierung adulter
Stammzellen aus dem menschlichen
Auge begann, „waren die Regularien
noch keineswegs eindeutig“. Auch die
Abgrenzung zu einer dritten Behörde
blieb seinerzeit zunächst unklar: Die
Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) ist sowohl für
die Kontrolle medizinischer Produkte
als auch für klinische Versuchsreihen
zuständig. Inzwischen sind die Terrains
definiert. Gemeinsam und mit bester
britischer Nüchternheit fanden die Aufseher und das Team um Daniels einen
Modus vivendi, bei dem sich weder die
Wissenschaftler gegängelt, noch die Inspektoren im Unklaren gelassen fühlen.
Seitdem schreitet die Wissenschaft
voran, was an den erlaubten Möglichkeiten, vor allem aber an der räumlichen
40
und inhaltlichen Nähe und der engen
Verzahnung von Forschung und Heilkunst liegt. UCL und Moorfields betreiben ein gemeinsames Forschungszentrum, an dem auch Julie Daniels einst
als Post-Doktorandin beschäftigt war.
„Diese sehr enge Kooperation müsste
man anderswo erst mühselig herstellen.
Hier entsteht durch die ganze Infrastruktur ein Schwung, der uns gegenseitig beflügelt“, sagt sie.
Professor Peng Khaw, Direktor des
Forschungszentrums und einstiger Mentor von Daniels, lobt außerdem die
„hervorragende Unterstützung“ durch
das Nationale Institut für Gesundheitsforschung, das im Gesundheitsministerium angesiedelt ist. Damit meint er
nicht zuletzt die finanzielle Ausstattung,
auf die das Moorfields/UCL-Zentrum
als eines von landesweit elf Forschungseinrichtungen bauen kann, die von der
besonderen Förderung der Zentralregierung profitieren.
Dafür qualifiziert hat sich Moorfields aus unterschiedlichen Gründen.
Allen voran durch Größe. Keine andere
Augenklinik in vergleichbaren Industrienationen kann auch nur annähernd so
viele Behandlungen vorweisen. Die Zentrale an der City Road mit ihren 19 Filialen in und um London zählt pro Jahr
rund eine halbe Million Patientenkontakte. Das sorgt bei den Ärzten für ein
hohes Maß an Erfahrung in der Behandlung von häufigen, aber auch seltenen
Augenleiden. „Da entsteht eine kritische
Masse an Expertise“, sagt Khaw.
Daneben hat sich die Klinik in
den vergangenen Jahren immer wieder
auch durch Spitzenleistungen in der
Forschung hervorgetan. Die StammzellTherapie bildet dabei lediglich den aktuellen Höhepunkt. So ist Direktor Peng
Khaw, der sich selbst „Augenchirurg aus
Leidenschaft“ nennt, auf die Behandlung von Glaukom-Patienten spezialisiert – und hat damit auch selbst zum
Ruhm des Klinikums über die Landesgrenzen hinaus beigetragen.
Der Schaden am Sehnerv, häufig
entstanden durch eine Erhöhung des
Augendrucks, macht 2,4 Prozent aller
Menschen über 49 zu schaffen; bei
den über 80-Jährigen liegt der Anteil
noch deutlich höher, besonders in der
schwarzen Bevölkerung (13 Prozent).
Für Linderung bei den Grüne-StarPatienten sorgt seit Langem eine Operation, die der Augenflüssigkeit eine
neue Möglichkeit schafft, zu entweichen. Weil der menschliche Körper
aber stets versucht, „Löcher“ zu stopfen, setzt bald eine Vernarbung ein und
macht den Erfolg der Operation nicht
selten zunichte. Die Folge: weitere Operationen und Krankenhausaufenthalte.
Wertvolle Innovationen
Gemeinsam mit Professor Stephen
Brocchini von der Londoner School of
Pharmacy entwickelte Khaw eine Tablette, die zur Zeit der Operation eingenommen wird. Sie führt dem Körper
über einen längeren Zeitraum als bisher
üblich einen Wirkstoff zu, der die Vernarbung aufhält. Sollten sich die bisherigen Erfolge bestätigen, könnte diese
Therapie auch an anderen Körperstellen helfen, wo postoperative Narben die
Heilung von Patienten behindern.
Mit einer weiteren Innovation ließe
sich außerdem noch sparen. Bereits 2003
kostete die Behandlung von GlaukomPatienten den britischen Steuerzahler
nach Schätzungen von Medizinökonomen zwischen 1,1 und 3,7 Milliarden
Pfund. Eine frühere Diagnose könnte
die Kosten sowohl der unmittelbaren
Behandlung als auch der Sekundärkosten wie Sozialleistungen und Arbeitsausfall erheblich reduzieren. Dazu soll
ein neuartiger Test beitragen, den ein
anderes Forscherteam in Moorfields
entwickelt hat und derzeit erprobt.
Solche Forschungen kosten viel
Geld, weshalb die Wissenschaftler nicht
nur ihre Kontakte zu den staatlichen
Förder- und Prüfinstitutionen, sondern
auch einen höchst sachlichen Umgang
mit Partnern und Mäzenen aus Industrie
und Wirtschaft pflegen. Der Verleger
Richard Desmond beispielsweise, der
Das Moorfields Eye Hospital: einst „Londoner Armenapotheke zur Erleichterung der an
Auge und Ohr Leidenden“, heute Forschungs-, Behandlungs- und Lehrstätte von Weltruf.
sein Vermögen zu großen Teilen mit
Porno-Magazinen gemacht hat, spendete Moorfields als ehemaliger Patient im
Jahr 2006 knapp vier Millionen Euro.
Nach ihm wurde ein neuer Anbau speziell zur Behandlung von Kindern benannt. Die Eröffnung übernahm Queen
Elizabeth II höchstpersönlich.
Augenheilkunde seit 1805
Dabei trafen zwei urbritische Institutionen aufeinander. Die eine, inzwischen
seit 60 Jahren stilvolle und unerschütterliche Regentin im Land. Die andere,
eine der ältesten Augenkliniken der
Welt, gegründet 1805 als „Londoner
Armenapotheke zur Erleichterung der
an Auge und Ohr Leidenden“.
Den Anstoß gab eine Militär-Expedition: Im Rahmen der Napoleonischen
Kriege war die britische Armee mehrere
Jahre im ägyptischen Abukir stationiert,
dort litten viele Menschen am Trachom.
Die meisten Soldaten kehrten mit dieser bakteriellen Augenentzündung zurück und steckten ihrerseits im ganzen
Land viele Menschen an. Auf Initiative
eines jungen Arztes, John Cunningham
Saunders, mietete ein reicher Bankier
ein Haus, in dem die Kranken behandelt
werden konnten.
Ein Jahr später beschränkte Saunders seine Tätigkeit auf Augen, nannte
sein Haus schon deutlich ambitionierter
„Spital zur Heilung von Augenkrankheiten“. Und nach 15 Jahren zog das
Krankenhaus an eine Straße, deren
Name an ihre Vergangenheit als Sumpf
außerhalb der damaligen Stadtmauer
erinnert: Moorfields. Auch dieser Standort wurde dem nunmehr offiziell „Königlichen Londoner Augenkrankenhaus“
bald zu klein, seit mehr als hundert Jahren liegt das Moorfields Eye Hospital
deshalb einen Kilometer weiter nördlich
an der belebten City Road. Der populäre alte Name aber ist ihm geblieben.
Von Anfang an zog die Augenklinik Ärzte aus aller Herren Länder zur
Weiterbildung an – daran hat sich bis
heute nichts geändert. Im Team von
Professor James Bainbridge beispielsweise arbeiten 30 Ärzte und Wissen-
schaftler aus einem Dutzend Nationen.
Sein Büro hat die Größe einer besseren
Besenkammer, die Kollegen sitzen auf
engstem Raum Ellbogen an Ellbogen
vor ihren Computern. Trotz guter Unterstützung müsse seine teure Forschung
oft „mit denkbar knappen Mitteln auskommen“, sagt er. Und ja, natürlich
sehne er sich manchmal auch nach den
erheblich großzügiger ausgestatteten
Einrichtungen in den USA.
Aber weggehen aus London? Nie
und nimmer und jetzt schon gar nicht.
In den nächsten 18 Monaten folgen
noch eine Reihe von Patienten auf Marcus Hilton, den ersten MoorfieldsStammzell-Kandidaten. Bainbridge wird
dabei bleiben, es soll nichts schiefgehen
bei dem teuren, vielleicht wegweisenden Experiment der neuen Therapie,
schließlich steht viel auf dem Spiel. Das
Wohl der Patienten. Der Fortschritt der
Wissenschaft. Und untrennbar damit
verbunden auch das Wohl jener Unternehmen, ohne deren inhaltlichen und
finanziellen Einsatz die wenigsten der
Feldversuche überhaupt möglich wären.
„Wir sind stark daran interessiert,
dass unsere wissenschaftlichen Fortschritte auch wirklich beim Patienten
ankommen“, sagt Institutsleiter Khaw.
„Ohne die Industrie wäre das sehr
schwierig.“ Deshalb müssten Wissenschaftler die breite Öffentlichkeit auch
in die Pflicht nehmen. „Natürlich wollen die Leute, dass wir ihre Krankheiten
auch mit neuen Methoden heilen“, sagt
Khaw. „Umgekehrt müssen wir sie daran erinnern, dass es ohne ihre Unterstützung nicht dazu kommen wird.“
Auch Marcus Hilton hat seinen
Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt geleistet. Mit der Gelassenheit,
die vielen Einheimischen der Grafschaft
Yorkshire nachgesagt wird, wartet der
34-Jährige jetzt auf Ergebnisse, die frühestens in einigen Wochen zu erwarten
sind. Er mache sich keine falschen Hoffnungen, sagt er, es gehe ja zunächst nur
um die Sicherheit des klinischen Versuchs. „Selbst die kleinste Verbesserung
der Augen wäre ein Bonus.“ 7
41
Kein Sauseschritt zur Therapie
Ideen gibt’s reichlich.
Das gilt für Musik
wie für neue Medikamente.
Tatsächlich aber entstehen
nur selten echte Hits daraus.
In der Musik genauso wie
bei Medikamenten.
Doch Horst Lindhofer aus
München ist beides geglückt.
Szenen eines ungewöhnlichen
Forscherlebens.
3
Seinen ersten Hit landet Horst
Lindhofer kurz nach dem Abitur. Der
Song „Pogo in Togo“ dudelt durch alle
deutschen Diskotheken. Die Band „United Balls“ surft ganz oben auf der Neuen Deutschen Welle mit. Heute, dreißig
Jahre später, nach Biologiestudium, Doktorarbeit und Firmengründung, macht
der gebürtige Münchner wieder Schlagzeilen. Mit seiner Biotech-Firma Trion
Pharma hat er es in der dreißig Jahre
alten deutschen Biotech-Industrie als
Erster geschafft, eine Idee für eine
Krebstherapie komplett in Deutschland
zu entwickeln, auf den Markt und zur
Anwendung am Patienten zu bringen.
Zwei Karrieren, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Denn
Show-Geschäft und Arzneimittelentwicklung haben nun wirklich nichts
miteinander zu tun.
Oder doch?
Ist es ein Zufall, dass ausgerechnet
einem unkonventionellen, rebellischen
Ex-Lead-Gitarristen einer Punk-Band
Wenn einer mit Lust bei der Sache ist:
Rund drei Jahrzehnte liegen zwischen diesen
beiden Porträts von Horst Lindhofer. Der
Gitarrist von einst sorgt inzwischen nur noch
Text: Sascha Karberg
42
als Wissenschaftler für Aufsehen.
gelingt, was die deutsche Biotech-Branche seit Jahrzehnten vergeblich versucht?
Nur Zufall, dass sich ein ehemaliger
Musiker lieber verlässliche und langfristige Partner für seine Firma sucht statt
anonyme, nur am schnellen Gewinn
interessierte Risikokapitalgeber? Dann
wäre es wohl auch nur ein Zufall, dass
Lindhofers Idee von Anfang an von
einem finanzstarken Partner, dem Frese-
01* [Grundlagenforschung]
Kosten: in Deutschland etwa
2,5 Prozent des deutschen
Bruttosozialproduktes pro Jahr
Dauer: nicht messbar
Erfolgswahrscheinlichkeit einer
Idee, als Arznei zugelassen zu
werden: weniger als 7 Prozent.
Würmer, Fliegen und Hefepilze haben vermutlich mehr
zur Entwicklung neuer
Medikamente beigetragen
als Ratten und Mäuse. Denn
das Erforschen dieser Modellorganismen, das zunächst gar
keine Arzneimittelentwicklung
bezweckt, hat Erkenntnisse über
molekulare Vorgänge in Zellen
und somit auch über die
Ursachen von Krankheiten
ermöglicht. Dadurch ergeben
sich neue Ansatzpunkte für
Medikamente, sogenannte
Zielmoleküle, wie etwa Enzyme,
die Stoffwechselreaktionen katalysieren, oder Rezeptoren, die
auf Hormone oder andere
Signalstoffe reagieren.
*Quelle: DiMasi, Hausen, Grabowski: The Price of
Innovation: new estimates of drug development
nius-Konzern, gefördert wurde – so wie
eine junge Band unter den Fittichen des
etablierten Musik-Labels.
Man kann es sehen, wie man will.
Zumindest am Anfang gibt es zwischen
den beiden Welten durchaus Ähnlichkeiten. Während Musiker in tristen
Garagen proben, nach coolen Riffs, eingängigen Beats und Melodien suchen,
sitzen Biologen, Chemiker oder Mediziner in ähnlich nüchternen Labors der
öffentlich finanzierten Grundlagenforschungsinstitute (siehe Grafik). Hier
entstehen die meisten Ideen für Arzneimittel. Denn im Idealfall ist hier das
„Herumspielen“, das Testen verrückter
Ideen möglich. „Wir sind dafür da, auch
mal was Neues zu probieren, nicht nur
dem Mainstream zu folgen, sondern
auch unwahrscheinliche Hypothesen zu
überprüfen“, hat Stefan Thierfelder immer gesagt. Der Leiter des Instituts für
Immunologie der Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF) unterstützt Anfang
der Neunzigerjahre einen ehrgeizigen
Jungforscher: Horst Lindhofer. In Thierfelders Labor entwickelt der Biologe
spezielle Wirkstoffe, sogenannte trifunktionale Antikörper – und viele ForscherKollegen warnen, er sei auf dem Holzweg. Viel zu potent, viel zu gefährlich
seien diese Antikörper. Aus dieser Idee
könne gar kein Medikament werden.
Tausende Ideen scheitern
So ist das immer auf dem mühsamen
Weg von der Idee zum Produkt. Besonders in der Medikamentenentwicklung.
Am Anfang gibt es zahllose Gründe,
warum es nicht klappen kann. Später
auch. Und meist haben die Nörgler
auch noch recht. Denn von 100 Wirkstoffen, die zum ersten Mal am Menschen getestet werden (Phase I), wird
nur etwa einer als Medikament zugelassen. Vorher sind bereits Tausende
Wirkstoffe daran gescheitert, dass sie
zu giftig sind, zu lange oder zu kurz im
Körper verbleiben, Mutationen auslösen, krebserregend, fruchtschädigend
43
oder einfach zu teuer in der Herstellung
sind. Und so weiter und so fort.
Manche Ideen für neue Arzneien
bleiben aber auch aus ganz banalen
Gründen blanke Theorie: Ein Forscher
wechselt in ein anderes Labor. Einer
Biotech-Firma geht das Geld aus. Ein
Fehler in der Statistik verfälscht ein Studienergebnis – in jeder Phase bleiben
potenzielle Arzneien auf der Strecke.
Denn auch wenn es Forscher, Pharmafirmen, Ärzte und Gesundheitspolitiker
in schicken Broschüren gern so darstellen: Ein stringentes System, in dem jede
Idee hinreichend und unabhängig von
wirtschaftlichen Interessen auf ihre
Wirksamkeit am Menschen getestet
wurde, existiert nicht.
Kein Wunder, dass die Produktivität der Pharmaindustrie sinkt. Obwohl
der Aufwand für die Entwicklung eines
neuartigen Medikaments seit 1970 jährlich um etwa sieben Prozent auf schätzungsweise 800 Millionen Dollar gestiegen ist, schaffen es damals wie heute nur
20 bis 30 Medikamente pro Jahr durch
die Zulassung auf den Markt. Nach wie
vor regiert der Zufall, und das Risiko ist
hoch, nur mühsam gebändigt durch das
enorme Engagement Einzelner, manchmal sogar ehemaliger Musiker.
Risikofreudig und hartnäckig ist
Horst Lindhofer schon in Teenager-Tagen, als er noch Raketen in den Münchner Himmel jagt. Als Musiker schießt er
die Warnungen des Vaters („Diese Musik ist doch nichts Richtiges“) und die
Selbstzweifel („Ich bin wohl kein John
Lennon“) in den Wind – und hat Erfolg. Der Musikerkarriere kehrt er den
Rücken, als ihn die Neugier packt. Dem
damals 22-Jährigen springt ein Artikel
aus dem Magazin Spektrum der Wissenschaft ins Auge: Darin ging es um Antikörper und darum, was man mit ihnen
machen kann. Kurzentschlossen schreibt
sich Lindhofer in der Ludwig-Maximilians-Universität ein, absolviert ein Biologiestudium und landet schließlich im
Labor des Antikörper-Spezialisten Stefan Thierfelder.
44
Dort befasst man sich gerade mit einer
Projektidee für Antikörper, die zwei
Zielmoleküle erkennen können, sogenannte bispezifische Antikörper. Normalerweise sind Antikörper monospezifisch: Die beiden kurzen Arme des yförmigen Proteins können nur ein
bestimmtes Molekül greifen – so wie
ein Schlüssel nur in ein Schloss passt.
Bispezifische Antikörper greifen mit
dem einen Arm des Y ein krebstypisches Molekül und mit dem anderen
eine Immunzelle, um sie so zum Tumor
zu führen. „Das fand ich total faszinierend, dass man die Abwehrzellen gewissermaßen an die Hand nehmen und
gegen den Tumor dirigieren kann“, sagt
Lindhofer. Er merkt schnell, dass das
Verschmelzen der beiden Antikörpertypen quälend aufwendig und alles andere als wirtschaftlich ist. Doch er findet einen Ausweg.
Die richtige Dosis entscheidet
„Es war Glück, dass ich in einem Labor
gearbeitet habe, das zufällig auch Antikörper in Ratten herstellt.“ Denn es
stellt sich heraus, dass das Verschmelzen
eines Maus-Antikörpers mit einem Ratten-Antikörper viel einfacher ist. Das
allein macht die neue Antikörpertechnik
schon relevant für die Anwendung.
Aber Lindhofer fällt noch ein weiterer
Kniff ein. Er will den langen Arm, den
„Fuß“ des Y, optimieren. Dieses dritte
Ende des Antikörpers bestimmt, welche
Aktionen das Immunsystem gegen die
Krebszelle oder das Bakterium einleitet.
„Es können zum Beispiel Fresszellen
herangeholt werden, wenn der Antikörper ein Bakterium gegriffen hat“, sagt
Lindhofer.
Als einer der Ersten verändert er
dieses dritte Bein – die meisten Kollegen haben Bedenken, dass das Immunsystem dadurch überaktiv wird und sich
gegen die Zellen des Patienten richten
könnte. Doch Lindhofer macht weiter.
Unbeirrt verfolgt er seine Idee eines
„trifunktionalen“ Antikörpers, der nicht
02
[Präklinik]
Kosten: 121 Millionen Dollar
Dauer: 3 bis 5 Jahre
Erfolgswahrscheinlichkeit: 7,1 %
Mithilfe von Gentechnik ist es
seit etwa 20 Jahren möglich,
körpereigene Substanzen
(Biologics) wie Antikörper,
Botenstoffe oder Wachstumsfaktoren herzustellen und gegen
krankheitsverursachende
Zielmoleküle einzusetzen. Im
Normalfall werden Zigtausende
von chemischen Verbindungen
(Small Molecules) automatisiert
im Reagenzglas getestet, ob
eines davon ein Treffer ist und
das Zielmolekül beeinflussen
kann. Pharmafirmen haben
dafür Substanz-Bibliotheken
angelegt. Die Hit-Substanz
muss Tests auf chemische, biophysikalische, physiologische,
toxische, mutagene, krebserregende und fruchtschädigende
Eigenschaften bestehen, bevor
sie als sogenannte Leitsubstanz
chemisch so optimiert und mit
Trägersubstanzen gekoppelt
wird (Stichwort Galenik), dass
sie im Körper die bestmögliche
Wirkung hat, an die richtige
Stelle im Körper gelangt, ausreichend lange im Körper bleibt,
abgebaut und ausgeschieden
werden kann. Die Reagenzglasund Zellkulturtests werden von
gesetzlich vorgeschriebenen
Tierversuchen ergänzt, um
Wirkung und Nebenwirkung
des Wirkstoffs in einem lebenden Organismus abzuschätzen.
nur Tumor- und Killer-T-Zellen zusammenbringt, sondern gleich auch noch
die Fresszellen der Körperabwehr dazu.
„Krebs ist so hartnäckig, dass wir das
volle Potenzial des Immunsystems brauchen“, sagt er, und das bayerische R
rollt gewaltig. Seine Beharrlichkeit zahlt
sich aus: Die Aggressivität der trifunktionalen Antikörper bekommt Lindhofer durch eine tausendfach geringere
Dosierung in den Griff – ein weiterer
Vorteil für die Vermarktung, weil so viel
weniger des teuren Wirkstoffs hergestellt werden muss.
An ein Medikament oder gar eine
eigene Firma denkt Lindhofer zu jenem
Zeitpunkt, 1993, allerdings nicht. Wie
die meisten Grundlagenforscher treiben
ihn Neugier und die Anerkennung von
Wissenschaftskollegen. Als er auf einer
Krebsforschungskonferenz in den USA
mit seinen Ergebnissen einen Preis gewinnt, wird er in München plötzlich
03
wahrgenommen. „Professoren, die mich
vorher nie beachtet hatten, luden mich
ein, boten mir das Du an.“ Eitelkeit?
Nicht nur: „Wissenschaft funktioniert
nur durch Austausch, und der kommt
erst in Gang, wenn sich andere für
deine Arbeit interessieren.“
Trotzdem lässt sich Lindhofer von
seinem Chef überzeugen, auf seine Entdeckungen Patente anzumelden, obwohl
solch ein Ansinnen von vielen Grundlagenforschern 1993 noch als Verrat an
der Freiheit der Forschung eingestuft
wird. „Aus meiner Musikerzeit kannte
ich die Vorteile, sich die Rechte auf die
eigene kreative Arbeit zu sichern“, sagt
Lindhofer. „Das Geld für die Konzerte
war kaum der Rede wert. Aber wenn
die eigenen Kompositionen im Radio
oder Fernsehen laufen, dann wirft das
schon was ab.“ Für „Pogo in Togo“
bekommt er bis heute jedes Jahr ein
paar Euro von der GEMA.
[Phase I]
Kosten: 15,2 Millionen Dollar
Dauer: 2 Jahre
Erfolgswahrscheinlichkeit: 9,5 %
Die ersten Tests mit geringen Mengen des neuen Wirkstoffs klären
zunächst an wenigen (10 bis 80) gesunden Freiwilligen, ob die
Substanz sicher und welche Dosis optimal ist. Bei bestimmten
Krankheiten (etwa Krebs) sind es Patienten, die in sogenannten
Phase I/II-Studien erstmals mit neuen Wirkstoffen konfrontiert
werden, weil die verwendeten Substanzen (zum Beispiel Zellgifte
bei Krebs) gesunden Menschen nicht zumutbar sind. Durch Untersuchung des Blutes, des Urins und diverser anderer Körperfunktionen der Probanden ergibt sich ein Bild, wie sich die Substanz im
Körper verhält. Sofern keine bedenklichen Nebenwirkungen auftreten, wird die Dosis so lange erhöht, bis das optimale Verhältnis
von Wirkung und Nebenwirkung erreicht ist. Phase-I-Studien
erlauben noch keine Aussage über die Wirksamkeit der Arznei.
1995 beginnt Lindhofer, seine Antikörper auf den Einsatz am Menschen vorzubereiten. Zuerst testet er an Mäusen,
und tatsächlich: Die Antikörper schaffen es, die Tiere vom Krebs zu befreien.
„Ein großartiges Gefühl“, sagt er. „Wir
haben uns gefühlt wie Könige.“ Auch
dieses Ergebnis führt zu Patenten, doch
eine eigene Firma kommt dem Forscher
noch immer nicht in den Sinn. „Ich
dachte eher, dass sich irgendwann ein
Pharmakonzern melden würde, der das
dann entwickelt“, sagt Lindhofer und
lacht über seine damalige Naivität.
Pokern für ein neues Verfahren
Ein Technologietransferbeauftragter der
GSF bringt ihn schließlich auf die Idee,
die Sache selbst anzupacken. Lindhofer
lernt, dass es meist nicht die großen
Pharmafirmen sind, die Neuentwicklungen aus der Grundlagenforschung
aufgreifen, sondern dass um die Ideen
herum kleine Biotech-Firmen gegründet werden – und zwar meist von den
Forschern selbst. Das nötige Geld
stammt von Risikokapitalgesellschaften,
die darauf wetten, ihre Investition samt
Rendite nach ein paar Jahren von den
großen Pharmafirmen zurückzubekommen – wenn das Start-up bewiesen hat,
dass seine Idee zur Arznei taugt und sie
ihm abgekauft wird.
Auf dem Weg zum Jungunternehmer bewirbt sich Lindhofer 1997 bei
einem Start-up-Wettbewerb von McKinsey und schreibt auf, wie seine Forschungsergebnisse zur Krebstherapie
werden könnten. Er gewinnt – und
plötzlich sitzt der Grundlagenforscher
in Meetings, schreibt Businesspläne,
verhandelt mit Risikokapitalgebern und
handelt beim GSF Exklusivlizenzen auf
die eigenen Forschungsergebnisse aus.
Mit Nebenwirkungen: „Das war so viel
Stress, dass ich erst einmal einen Hörsturz bekam.“
Als Trion Pharma, wie die neue
Firma heißen soll, fast am Start ist,
passiert etwas, das für die Branche sehr
45
ungewöhnlich ist: Lindhofer wird vom
Vorstand des Fresenius-Konzerns eingeladen, seine Idee vorzustellen. Bei dem
Medizintechnik-Unternehmen, das in
den Neunzigern mit dem Verkauf von
Dialysegeräten rasant gewachsen war,
kannte man den Münchner Forscher
bereits als Stipendiat der Else KrönerFresenius-Stiftung.
Lindhofer wittert seine Chance,
und er hat gelernt: Um Fresenius seine
Antikörper-Idee schmackhaft zu machen, schlägt er nicht etwa ein Arzneimittel vor, sondern eine Art Staubsauger-Medizinprodukt. Weil die Antikörper Krebszellen greifen, könnten sie
das Knochenmark, das krebskranken
Patienten seinerzeit vor der aggressiven
Chemo- und Strahlentherapie entnommen wird, von Krebszellen befreien, sagt
er. Eine wichtige Voraussetzung, damit
der Patient nur seine blutbildenden
Stammzellen zurückbekommt. Nicht
minder wichtig: Ein solcher „Staubsauger“ ließe sich, wie in der Medizintechnik üblich, in zwei Jahren Entwicklungszeit realisieren.
Das war hoch gepokert, sagt er
heute. „Aber auf ein zehnjähriges Arzneimittelentwicklungs-Projekt hätte sich
Fresenius bestimmt nicht eingelassen.“
Die Partie geht an ihn. Der Vorstand sei
interessiert, ließ man ihn wissen. „Und
das mit dem Risikokapital solle ich mal
ganz schnell vergessen.“
Im März 1998 gründet der ExMusiker, Ex-Grundlagenforscher und
Neu-Unternehmer Horst Lindhofer die
Trion Pharma – in der Tasche ein Kooperations- und Lizenzvertrag von Fresenius. Obwohl der Partner zunächst
vor allem an dem Staubsauger interessiert ist, sichert sich Fresenius auch die
weltweiten Vermarktungsrechte für Medikamente auf Basis der trifunktionalen
Antikörper. Lindhofers Rechnung geht
auf. „Unser Vorteil war, dass wir komplett finanziert waren“, sagt er. Und er
nutzt das Geld nicht allein, um die Antikörper für die Staubsauger-Technik fit
zu machen. Es ermöglicht ihm auch die
46
ersten präklinischen Tests der Antikörper in Zellkulturen, Mäusen und Affen,
die nach den Regularien der europäischen Zulassungsbehörde EMA für
neue Medikamente nötig sind. Dazu
gehören umfangreiche toxikologische
Untersuchungen, aber auch Nachweise
darüber, wie lange der Wirkstoff im
Körper verbleibt, wie er abgebaut wird,
ob er auf die Fruchtbarkeit Einfluss hat,
ob er Mutationen oder Krebs auslöst,
und welche Dosis für den ersten Einsatz im Menschen vermutlich sinnvoll
wäre. Eine große Investition (im einstelligen Millionenbereich) ist außerdem für
eine Produktionsstätte nötig, die den
EMA-Richtlinien und denen der nationalen Behörden entsprechen müssen,
damit die Antikörper so produziert werden können, dass sie sicher sind für den
Einsatz am Menschen.
Eine Therapie wird überflüssig
Für das Medizinprodukt, das der Unternehmer nebenbei vorantreibt, sind viele
der Tests gar nicht nötig. Aber sie sind
Voraussetzung, um mithilfe der GSF
(heute Helmholtz Zentrum München)
die ersten Krebspatienten am Klinikum
Großhadern der Ludwig-MaximiliansUniversität mit trifunktionalen Antikörpern zu behandeln. Und Lindhofer tut
gut daran. Denn die positiven Ergebnisse aus dieser Pilotstudie (wie bei
Krebsbehandlungen üblich Phase I/II)
helfen ihm über eine kritische Zeit in
der Zusammenarbeit mit Fresenius hinweg: Die Staubsauger-Technik funktioniert zwar, doch sie ist inzwischen überflüssig geworden.
Mittlerweile sind die Ärzte nicht
mehr überzeugt, dass aufwendiges
Transplantieren von Knochenmark und
Hochdosis-Chemotherapien ihren Patienten tatsächlich helfen. „Das ganze
Therapiekonzept fiel in sich zusammen.
Unser Medizinprodukt hatte plötzlich
keinen Markt mehr“, sagt Lindhofer.
Jetzt ist Feierabend, dachte er, jetzt wird
sich Fresenius zurückziehen. Statt auf
die Kündigung der Kooperation zu warten, tritt er die Flucht nach vorn an. Er
legt dem Fresenius-Vorstand die positiven Daten aus den Pilotstudien in Großhadern vor: Hätte das Unternehmen
vielleicht Interesse daran, eine Arzneimittelentwicklung zu wagen?
Das ist eine freche Frage. Denn
Lindhofer stellt sie zu einer Zeit, in der
die deutsche Biotech-Branche gerade
in eine tiefe Krise stürzt. Während die
Euphorie um den Neuen Markt in den
04
[Phase II]
Kosten: 23,5 Millionen Dollar
Dauer: 2 bis 3 Jahre
Erfolgswahrscheinlichkeit: 17 %
Um einen ersten Hinweis auf
die Wirksamkeit eines
Medikaments zu bekommen,
werden – je nach Indikation –
100 bis 500 Patienten mit dem
Mittel behandelt. Dabei werden die Patienten im Idealfall
per Los auf zwei Gruppen aufgeteilt, von denen eine den
Wirkstoff bekommt, die andere
nicht. Bei Doppelblind-Studien
wissen weder die Ärzte noch
die Patienten (oder die
Pharmafirma, die die Studie in
Auftrag gibt), welche Patienten
Pillen mit oder ohne
Wirkstoff bekommen haben.
Erst am Ende der Studie
werden die gesammelten Daten
komplett offengelegt, um
ein von äußeren Einflüssen
möglichst unabhängiges
Ergebnis zu erhalten.
Neunzigerjahren noch Investoren in
Scharen lockt und die Aktienkurse von
Biotech-Firmen in die Höhe schießen,
platzt die Blase im Millennium-Jahr
mit lautem Knall, als den Investoren
das Risiko und die Langwierigkeit der
Medikamentenentwicklung klar wird.
In diesem Jahr ist so mancher Traum
ausgeträumt, doch an der Spitze von
Fresenius steht kein Spekulant, der mit
der Investition in Trion Pharma allein
eine schnelle Rendite erwartet.
Gerd Krick ist Unternehmer. Und
der gelernte Ingenieur weiß, dass jede
Technik eigenen Entwicklungsgesetzen
folgt. Auch der Dialysefilter, den Krick
einst selbst ersann und auf dessen Basis
Fresenius globaler Marktführer für Dialysetechnik werden konnte, hatte mehr
05
[Phase III]
Kosten: 86,5 Millionen Dollar
Dauer: 2 bis 3 Jahre
Erfolgswahrscheinlichkeit: 68,5 %
Am Ende der klinischen
Prüfung eines Medikaments
steht die statistische
Absicherung des Wirksamkeitsnachweises an möglichst vielen,
mitunter Tausenden von
Patienten. Nicht selten treten in
den größeren Patientengruppen
Nebenwirkungen auf, die
in Phase I oder II noch nicht
beobachtet werden konnten.
Am Ende müssen
Wirksamkeit und unerwünschte
Nebenwirkungen gegeneinander abgewogen werden.
Zeit und Kosten in Anspruch genommen, als geplant war. In jenem Jahr
2000 entscheidet sich Krick deshalb wie
schon zuvor für Geduld und unternehmerisches Risiko. Trion Pharma kann
weitermachen. Lindhofer bekommt die
Chance, die Wirksamkeit seiner trifunktionalen Antikörper zu beweisen.
ten. In einer Nischenindikation könnten
die Antikörper schneller getestet werden.
Nicht zuletzt deshalb kommen Lindhofers Innovationen zunächst an Patienten
mit malignem Aszites zum Einsatz, einer
Erkrankung, bei der sich große Flüs sigkeitsmengen im Bauch des Patienten
ansammeln.
Auf diese Patienten stieß Lindhofer
Lernprozess für Immunzellen
durch Zufall – eine Technische Assistentin seiner Forschungsgruppe war an
Das war eine für die Industrie unge- Krebs erkrankt, und in der Folge füllte
wöhnliche, oft belächelte Entscheidung sich ihre Bauchhöhle mit Gewebeflüs– bei Fresenius habe man gar nicht ge- sigkeit: maligner Aszites, wie ihn etwa
wusst, worauf man sich einließ, hieß es. 30 000 Patienten pro Jahr in Europa entSchließlich gehen Konzerne wie Novar- wickeln. Die Betroffenen müssen regeltis, Roche oder Pfizer in der Regel erst mäßig zur Punktion, um die Flüssigkeit
dann eine Kooperation mit kleinen Bio- abzulassen. Weil damit auch wichtige
tech-Firmen ein, wenn deren Wirkstoff- Proteine verloren gehen, sterben die
kandidaten in Phase-II-Studien bewiesen Patienten meist nicht am Krebs, sondern
haben, dass sie Einfluss auf die Krank- an Auszehrung. Die erkrankte Kollegin
heit der Patienten haben. Bei Tausenden ist eine der ersten Patientinnen, deren
von Biotech-Buden mit ebenso vielen Leiden die Antikörper erkennbar linEntwicklungsprojekten weltweit ist das dern. In den Monaten, die Lindhofers
Risiko für die Unternehmen viel zu hoch, Kollegin noch lebte, trat kein Aszites
in eine Firma zu investieren, deren Arz- mehr bei ihr auf.
Für Trion Pharma erweist sich die
neimittel-Idee sich möglicherweise als
Flop herausstellt. Lieber zahlen sie weit- Nischenindikation tatsächlich als ideale
aus mehr Geld für Projekte, die schon Abkürzung zum Wirksamkeitsnachweis
die wichtigsten Hürden in der Arznei- für Lindhofers Antikörper. „Erstens
mittelentwicklung erfolgreich genom- konnten wir den Behörden zeigen, was
im Körper passiert – bevor, während
men haben.
Die ersten Jahre, den Transfer ihres Wis- und nachdem wir die Antikörper eingesens aus der Grundlagenforschung in leitet haben.“ Während die Forscher vor
die klinische Prüfung der Wirkstoffe am der Behandlung sehr viele Tumorzellen
Menschen, müssen die jungen Unter- in der Bauchhöhlenflüssigkeit messen,
nehmen deshalb mit öffentlichen För- ist sie nachher nahezu frei von Krebsdergeldern und vor allem mithilfe von zellen, dafür aber voller Immunzellen,
Risikokapital-Investoren
bestreiten. die von den Antikörpern herangeschafft
Aber Ende 2000, als Biotech-Firmen wurden. „Und zweitens konnten wir
an der Börse auf 20 Prozent ihres Vor- beim malignen Aszites mit wenigen Pajahreswertes abgeschmiert waren, hätte tienten und innerhalb kurzer Zeit einen
Horst Lindhofer wohl kaum einen Cent messbaren Vorteil für die Kranken zeigen“, sagt Lindhofer. Die Behandlung
Risikokapital bekommen.
Fresenius bleibt an Bord, pumpt erspart nicht nur die wöchentlichen
weiter Geld in die Entwicklung der tri- Punktionen. Inzwischen ist sich der Forfunktionalen Antikörper – drängt aber scher sicher, dass die Patienten auch
auch auf eine schnelle Wirksamkeits - eine höhere Überlebenschance haben:
prüfung. Häufige (also lukrative) Krebs- Das Immunsystem lernt, dass es gegen
Indikationen erfordern aufwendige und rückkehrende Tumorzellen eine Immunteure Studien an 500 oder mehr Patien- reaktion auslösen muss.
47
Als sich abzeichnet, dass Trions Antikörper, genannt Removab, sicher und
wirksam sind, gründet Fresenius 2003
die Tochtergesellschaft Fresenius Biotech. Ein unglücklicher Name, denn das
Unternehmen soll tun, was die Aufgabe einer Pharmafirma ist: klinische Studien vorbereiten und organisieren, mit
den Zulassungsbehörden kommunizieren, zugelassene Medikamente vermarkten, bewerben, vertreiben. Man
könnte auch sagen: Fresenius Biotech
soll das Label für Trion Pharma werden
und die trifunktionalen Antikörper zum
Hit machen.
Üblicherweise schließen BiotechFirmen spätestens nach dem ersten
Wirksamkeitsnachweis in der klinischen
Prüf-Phase II einen Kooperationsvertrag
mit einer erfahrenen Pharmafirma, die
dann die weitere Entwicklung, Zulassung und Vermarktung übernimmt.
Denn der Weg von der Idee zum Markt
und zum kommerziellen Erfolg braucht
eben mehr als finanzielles Engagement,
erklärt Christian Schetter, Geschäftsführer der Fresenius Biotech GmbH. Die
2003 neu gegründete Tochter musste
die dafür nötige Infrastruktur erst aufbauen. So wächst mit Voranschreiten
der Removab-Entwicklung auch die
Fresenius Biotech. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen 180 Mitarbeiter,
die nicht nur die letzte, entscheidende
Phase-III-Studie organisieren, sondern
Removab auch durch die Zulassung
bringen. Und das ist alles andere als
eine Formalie.
Obwohl nur Medikamentenkandidaten zur Zulassung eingereicht werden,
die sich auch noch in der letzten klinischen Prüfung bewährt haben, scheitern
zehn Prozent aller Arzneien an dieser
Hürde. Fresenius reicht Removab Ende
2007 zur Zulassung bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA ein.
Auf elektronischem Weg, denn sonst
hätten schätzungsweise 85 000 Blatt
Papier mit den von der Behörde geforderten Informationen nach London geschafft werden müssen.
48
Danach läuft die Uhr. Nach 180 Tagen
muss die EMA erstmals antworten,
fragt Details nach, fordert weitere Daten. Bei Fresenius sind mehrere
„Rapid Response Teams“ allein damit
beschäftigt, binnen vorgeschriebener
Zeiträume zu antworten, um den Prozess nicht unnötig zu verzögern. Im
April 2009 ist es geschafft: Die EMA
erteilt die Zulassung für Removab als
Therapie gegen malignen Aszites.
Am Ziel allerdings ist das Medikament damit noch lange nicht. „Man hat
zwar das Gefühl, dass man bereits den
Gipfel erreicht hat“, sagt Schetter. „Aber
im Grunde ist man erst im Basislager.
06
[Zulassung]
Kosten: keine Angabe
Dauer: bis zu 2 Jahre (seit
Präklinik: 8,2 bis 9,5 Jahre)
Erfolgswahrscheinlichkeit: 90 %
Sind die Ergebnisse einer
Phase-III-Studie hinreichend
aussagekräftig, kann die
Zulassung eines Medikaments
beantragt werden.
Dazu müssen alle relevanten
Daten aus den klinischen
Studien und Befunde aus der
Präklinik in einem umfangreichen Dossier bei den
Zulassungsbehörden (BfArM
für Deutschland, EMA für
Europa, FDA für die USA)
eingereicht werden. Dort wird
vor allem das Nutzen-RisikoVerhältnis des Wirkstoffs
bewertet.
Ein letzter, aber harter Aufstieg steht
erst noch bevor.“ Denn auch wenn das
Medikament durch die EMA jetzt europaweit zugelassen ist, muss Schetters
Mannschaft Removab in jedem europäischen Land außerdem noch zur Vermarktung anmelden. Kein leichtes Unterfangen, denn ob Frankreich, Spanien
oder Italien, überall gibt es dafür unterschiedliche Verfahren und Preiskommissionen. Und jede will erneut viele der
Unterlagen sehen, die bereits der Europäischen Arzneimittelbehörde vorlagen
und den Preis von 11 500 Euro pro Behandlungsrunde rechtfertigen sollen.
Zwei weitere Jahre gehen damit ins
Land, und Schetter gewinnt den Eindruck, dass die Kommissionen auch
unter politischem Druck stehen. Mit
Verzögerungen sei im Grunde aber immer zu rechnen, denn „was noch nicht
fertig geprüft ist, kann auch das Budget
noch nicht belasten“.
Ein Mittel nur für Spezialisten
Ob der Preis für Removab nun angemessen oder zu hoch ist? Fresenius’ Kalkulation berücksichtigt jedenfalls bereits
die kommenden Einsatzgebiete für das
Medikament in früheren Krebsstadien.
„Removab hat mehr Potenzial, als nur
die Bauchwassersucht im Endstadium
einer Krebserkrankung zu kontrollieren“, sagt Schetter, im Wissen, dass die
Substanz bereits erste positive Daten
in Phase-II-Studien als frühe Therapie
gegen Eierstockkrebs oder Magenkarzinom erbracht hat. Solche künftigen Anwendungen spielen bei der Preiskalkulation eine wichtige Rolle, denn einmal
eingeführt, lässt sich ein Preis später nur
noch mit Mühe korrigieren. In Deutschland, Italien und Belgien wird Removabs Preis akzeptiert, in Frankreich und
Spanien noch nicht.
Neben den Preisverhandlungen
muss sich Fresenius auch ums Marketing kümmern, denn die behandelnden
Ärzte müssen von Removab erfahren
und überzeugt werden. „Kein Arzt ver-
von Umsätzen, wie sie der Pharmakonzern Roche mit seinem monofunktionalen Antikörper Avastin erzielt, den
die Biotechfirma Genentech entwickelt
hat: 4,4 Milliarden Euro allein in 2011.
Wenn die trifunktionalen Antikörper als
Ein ganzes Leben für eine Arznei Standardtherapie für Eierstock- oder
Magenkrebs zugelassen würden, sei
Mit schwarzen Zahlen rechnet der Spe- auch ein wirtschaftlicher Erfolg auf
zialist, der neben dem trifunktionalen breiter Basis möglich, sagt Schetter.
Antikörper noch ein zweites Produkt „Letztlich wird Fresenius Biotech, aber
vertreibt, erst im Laufe der nächsten auch der Lizenzgeber, also Trion, daran
Jahre. Removab hat Fresenius bislang gemessen, wie sich das Medikament am
etwa acht Millionen Euro eingespielt – Markt macht.“
Dessen Chef, Horst Lindhofer,
noch weit entfernt von den 20 bis 40
Millionen Euro, die bei einer üblicher- denkt längst über den Einsatz bei der
weise anzunehmenden Marktpenetra - Bauchwasserkrankheit hinaus und hat
tion von 20 bis 30 Prozent der Patien- am Berliner Universitätsklinikum Chaten mit malignem Aszites in Europa rité Studien mit angestoßen, um den
erreichbar sein könnten. Weit entfernt trifunktionalen Antikörper an Patientinauch von dem schätzungsweise knapp nen mit frühen Stadien von Eierstockdreistelligen Millionenbetrag, den Frese- krebs zu testen. Danach sieht es gut aus
nius seit 1993 schon in Lindhofers Idee für die große Vision. Normalerweise
investiert hat. Und noch weiter entfernt haben etwa Dreiviertel der Patientinnen
nach der Operation des Eierstock-Tumors und der anschließenden Chemotherapie einen Rückfall. „Und wer einen
Rückfall hat, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit sterben. Es gibt dann
keine heilende Behandlung mehr.“ Also
[Vermarktung]
wurden seine Antikörper – im Rahmen
einer klinischen Studie – bei PatientinKosten: keine Angabe
nen gleich nach der Operation in den
Dauer: 1 bis 2 Jahre
Bauchraum gespritzt. Während nach
zwei Jahren üblicherweise nur noch
30 Prozent der Patientinnen rückfallfrei
Nachdem eine Arznei zugelassen ist, ist sie noch nicht automatisch
sind, blieben von den mit Trions Antiauf dem Markt. In den meisten EU-Ländern sind Anmeldungen bei
körpern behandelten Frauen 60 Prozent
den jeweiligen nationalen Preiskommissionen und Verhandlungen
rückfallfrei.
mit den Erstattungsinstanzen (Krankenkassen) erforderlich.
Bis aus all den Ergebnissen eine
Parallel muss das Medikament auch bei den zuständigen Ärzten
zugelassene Therapie werden kann,
benötige er sicher noch einmal fünf bis
bekannt gemacht werden (Marketing). Sobald das Medikament
sieben Jahre, sagt Lindhofer seufzend.
von Patienten konsumiert wird, muss der Hersteller in Phase-IVIm Grunde dauere es immer ein ganzes
Studien Hinweise von Ärzten und Patienten auf unerwünschte
Forscherleben lang, um eine neuartige
Nebenwirkungen sammeln und auswerten. Grund ist, dass besonWirkstoff-Technik nutzbar zu machen.
ders seltene Nebenwirkungen statistisch erst dann mit dem
Songs schreiben geht schneller, stellt er
Wirkstoff korreliert werden können, wenn Daten über sehr viele
fest und klingt müde. „,Pogo in Togo‘
– das hatten wir in zwanzig Minuten
Patienten vorliegen. Das kann zu einer Einschränkung oder sogar
geschrieben, und nach einem Jahr war’s
zum Erlöschen der Zulassung führen.
schon ein Hit.“ 7
schreibt das Medikament, weil es ein
toller neuer und sogar trifunktionaler
Antikörper ist“, sagt Schetter. Entscheidend sei am Ende, ob es in die ärztlichen Richtlinien für die Behandlung des
malignen Aszites aufgenommen wird.
„Unser Ziel ist, Removab zum Mittel
der Wahl zu machen.“ Dazu hat Fresenius Biotech eine eigene Vertriebsmannschaft, kooperiert aber auch mit Partnern, in Schweden beispielsweise mit
Swedish Orphan Biovitrum.
Der Aufwand, den der Mittelständler treiben muss, ist groß. Auch ein
Grund, warum die Entwicklung von
Removab als Medikament für malignen
Aszites – trotz seiner Wirksamkeit – in
großen Pharmakonzernen vermutlich
gestoppt worden wäre, glaubt Schetter:
„Es gab früher diese magische Marktgröße von etwa 300 Millionen. Darunter rechnete es sich für die Vertriebsapparate der großen Pharmafirmen einfach
nicht.“ Das eröffne Möglichkeiten für
„Speciality“-Pharma-Firmen wie Fresenius Biotech: „Für Innovationen, die
kleinen Patientengruppen helfen, die
aber bei den großen Firmen durch den
Rost fallen würden.“
07
49
Dem Zufall auf die Schliche kommen
Nur wenige Substanzen erreichen das Ziel
50
auf den Zufall zu setzen und Hunderttausende verschiedener chemischer Substanzen (Small Molecules)
zu testen.
Inzwischen schneidern Forscher sich den passenden Wirkstoff gegen ein krank machendes Protein im
Labor zurecht. Dafür sucht entweder ein Computer
solche Small Molecules heraus, die wie Knebel in die
Öffnungen eines krank machenden Proteinmoleküls
passen und es damit stilllegen. Oder aber die Forscher hetzen Substanzen auf die Krankheitswurzel,
wie sie der gesunde Körper sonst selbst produzieren
würde: sogenannte Biologics, Biopharmazeutika wie
zum Beispiel Antikörper.
„Die Entwicklungszeiten sind kürzer, die Ent wicklungskosten geringer und die Erfolgswahrscheinlichkeit der Biologics ist größer als die der Small
Molecules“, sagt Jochen Maas. Zudem steht dahinter
die Hoffnung, dass mit dem molekularbiologischen
Wissen über die Vorgänge in den Zellen nicht nur die
für eine Krankheit wie Krebs ursächlichen, defekten
Proteine gefunden werden. Im Idealfall lassen sich Biopharmazeutika wie Antikörper auch schneller herstellen als Small Molecules.
Der Trend gilt weltweit. Laut einer Studie der
Tufts University sind seit dem Jahr 2000 fast doppelt
so viele Biopharmazeutika (65) zugelassen worden
wie in der Dekade davor (39) und fünfmal so viele wie
in den Achtzigerjahren (13). Auch in Deutschland
stammen mittlerweile 17 Prozent der zugelassenen
Medikamente aus dem Labor, 2010 waren sogar 27
Prozent aller neu zugelassenen Medikamente Biologics (6 von 22). „Ziel ist es, in den nächsten Jahren
auf 50 Prozent zu kommen“, sagt Maas. Sicher auch
deshalb, weil es deutlich schwieriger, oft sogar unmöglich ist, Biopharmazeutika zu kopieren.
Das zahlt sich für das jeweilige Pharmaunternehmen aus. Während der Preis von Small MoleculeMedikamenten nach Ablauf des Patentschutzes sofort
um rund 80 Prozent fällt, weil billige Nachahmerprodukte (Generika) den Markt überschwemmen, sind
Biosimilars kaum 30 Prozent günstiger als die Original-Biologics, denn sie müssen in aufwendigeren
klinischen Studien getestet werden als Generika.
Zudem lassen sich mit Biologics oft hohe Preise erzielen: Eine Therapie mit dem Krebsmedikament Glivec
(Imatinib) von Novartis beispielsweise kostet pro Jahr
und Patient 56 000 Dollar. 7
..............................................................................................................................................................................................................
Jahre
3 Der Aufwand für die Entwicklung eines neuen
Medikaments wird selbst von Experten leicht unterschätzt. Mindestens fünf Jahre braucht es in der Regel,
bis Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sich
in der Arzneimittelentwicklung niederschlagen,
schätzt Richard Bergström, Generaldirektor der European Federation of Pharmaceutical Industries and
Associations (EFPIA). Elias Zerhouni, einst Chef der
größten öffentlichen Forschungsorganisation der
USA, den National Institutes of Health, gestand nach
seinem Wechsel zum Pharmakonzern Sanofi-Aventis,
dass das Aufgreifen von Forschungsergebnissen und
das Umsetzen in Produkte „viel schwieriger“ sei, als
er erwartet habe.
Das hängt auch mit der Art und Weise zusammen, wie Pharmafirmen den Puls der Forschung
fühlen. Nicht nur die Wissenschaftler von SanofiAventis durften beispielsweise ihre Forschungsergebnisse bis vor Kurzem nicht publizieren – was die
Zusammenarbeit mit öffentlichen Forschungseinrichtungen unmöglich macht.
Diese Praxis haben die Firmen inzwischen geändert, schließlich gibt es nur eine begrenzte Zahl kluger
Köpfe innerhalb der eigenen vier Wände. 95 Prozent
aller Medikamenten-Innovationen werden außerhalb
der großen Pharmafirmen entwickelt, schätzt Jochen
Maas, der Forschungschef von Sanofi-Aventis
Deutschland. Deshalb schließt das Unternehmen
derzeit Kooperationen mit der Berliner Charité, der
Münchner Ludwig-Maximilians- und der Heidelberger Universität. Das Mitspielen in der großen Kapelle
der öffentlichen Grundlagenforschung soll helfen, die
molekularen Ursachen von Krankheiten besser zu verstehen, um künftig planvoller nach einem Gegenmittel suchen zu können als bisher.
Unter dem Stichwort „offene Innovation“ lässt
Elias Zerhouni, der seit einem Jahr die weltweite
Forschung bei Sanofi-Aventis leitet, seine Kollegen
gemeinsam mit Grundlagenforschern ergründen,
welche Gen-, Protein- oder Stoffwechselveränderungen eine Krankheit beeinflussen. Diese Strategie, die
sogenannte Translationale Medizin, ist inzwischen
blanke Notwendigkeit: Gegen viele Krankheiten, insbesondere Krebs, lassen sich mit der traditionellen
Methode der Medikamentensuche – Herumprobieren
– keine neuen Arzneien mehr finden. Kein Pharmaunternehmen kann es sich heute noch leisten, allein
1
....
2
....
3
....
4
....
durchschnittlich 5000 bis 10 000 Substanzen*
Forschung
Vielschrittige Substanzoptimierung, Wirkungstests
im Reagenzglas, vereinzelt im Tierversuch
. . . . .3
..................................................................................................................................................................
12,4 Substanzen
Vorklinische Entwicklung
Reagenzglas- und Tierversuche zu Wirksamkeit
5 ....
und möglichen Schadwirkungen
. . . . .3
..................................................................................................................................................................
8,6 Substanzen
Klinische Phase I
6 ....
Tests auf Verträglichkeit
mit gesunden Menschen
..................................................................................................................................................................
7. . . . .3
4,6 Substanzen
Klinische Phase II
Erprobung mit wenigen Patienten
8
....
9
....
. . . . .3
..................................................................................................................................................................
1,6 Substanzen
Klinische Phase III
.
.
.
.
Erprobung mit meist mehreren
10
Tausend Patienten
11
....
12. . . . .3
..................................................................................................................................................................
1,1 Substanzen
Zulassung beantragt
Pru?
fung der Unterlagen durch die EMA
oder andere Zulassungsbehörden
13 . . . .
. . . . .3
. . . . . . . . . . . . . . . .Eine
. . . . . .Substanz,
. . . . . . . . . . . .zugelassen
. . . . . . . . . . . . . nach
. . . . . . .durchschnittlich
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .13,5
. . . . . .Jahren
..................................................................................
Quelle: vfa
51
Meilensteine
Skurrile Zufälle, unbeirrbare Forscher, überraschende Erkenntnisse – ohne
sie ist die Geschichte der Medizin mit ihren Errungenschaften undenkbar.
Ein Rückblick.
1846
Im Dienste der Wissenschaft:
Am 16. Oktober 1846 demonstriert
William T. G. Morton im Massachusetts
General Hospital die erste öffentliche
Operation unter Narkose.
(Gemälde von Robert Hinckley, 1882).
DIE ENTDECKUNG DER ANÄSTHESIE
Ein Volksfest in Connecticut, Dezember 1844. Der Zahnarzt Horace Wells beobachtet, wie ein Zuschauer im Lachgasrausch über eine Kante stolpert und sich verletzt, dabei jedoch offenbar keine Schmerzen empfindet. Lachgas kannte man
damals nur wegen seiner berauschenden Wirkung. Studenten inhalierten es auf
Partys; auf Jahrmärkten diente es zur Belustigung der Besucher. Wells wurde schlagartig eine ganz neue Verwendungsmöglichkeit klar: als Betäubungsmittel. In den
folgenden Wochen zog er erstmals Zähne unter Einsatz von Lachgas. Und tatsächlich ließ sich das Schmerzempfinden damit ausschalten.
Weil dem Entdecker die Erfahrungswerte fehlten, stellte die richtige Dosierung allerdings ein Problem dar. So auch Anfang 1845, als Wells seine Erkenntnisse der medizinischen Fachwelt mit einer Zahn-Extraktion vorstellen wollte. Die
Dosis war zu niedrig, der Patient schrie vor Schmerzen. Wells wurde zum Gespött
seiner Kollegen. Zu Unrecht: Lachgas wird bis heute weltweit von Anästhesisten
verwendet, die es vor allem wegen seiner guten Verträglichkeit schätzen.
Gut ein Jahr nach Wells’ Debakel demonstrierte auch der amerikanische
Zahnarzt William T. G. Morton eine Operation unter Narkose. Er ließ dem Buchdrucker Gilbert Abbott einen Hauttumor am Hals entfernen. Zur Betäubung verwendete Morton einen in Schwefeläther getränkten Schwamm in einem beidseitig geöffneten Glaskolben. Der Patient inhalierte die mit Äther versetzte Luft und
atmete über ein Ventil in die Umgebung aus: das erste halb offene Narkosesystem.
Abbott wachte ohne Schmerzen auf, die Fachwelt war beeindruckt. Heute wird
Äther wegen seiner Nebenwirkungen allerdings nicht mehr angewendet.
Anfang 1848 setzte der schottische Gynäkologe James Young Simpson erstmals bei einer Entbindung Chloroform ein, das schneller wirkt und verträglicher
ist als Äther. Doch Simpson und die Anästhesie im Allgemeinen erhielten schnell
Gegenwind. Nicht nur die Kirche, auch Ärzte sprachen sich gegen die schmerzbefreiende Narkose aus. Begründung: Der Geburtsschmerz sei den Frauen für den
Sündenfall auferlegt. Überhaupt glaubte man lange, Schmerzen seien für den Heilungsverlauf wichtig und dürften nicht gedämpft werden. Erst als bekannt wurde,
dass Queen Victoria ein Kind unter Chloroform zur Welt gebracht hatte, nahmen
die Vorbehalte ab, Narkosen wurden immer üblicher.
Vor der Erfindung von Anästhetika war bei Chirurgen übrigens eher Schnelligkeit als Präzision gefragt: Ihnen blieben jeweils nur Sekunden für die Operation,
während mehrere Helfer den Patienten fixierten.
Foto: picture-alliance/akg-images, picture alliance/Everett Collection, picture-alliance/OKAPIA KG,
Germany, picture-alliance/Mary Evans Picture Library, picture-alliance/United Archives/TopFoto
52
IMPFUNG GEGEN TOLLWUT
1885
Als der neunjährige elsässische Bäckersohn Joseph Meister von einem tollwütigen
Hund gebissen wurde, war das eigentlich sein Todesurteil. Damals, 1885, gab es
nichts, was verhindern konnte, dass das Rabiesvirus das Nervensystem angreift und
so eine tödliche Gehirnentzündung verursacht. Doch den Jungen rettete die Entwicklung eines Impfstoffes, die Louis Pasteur gerade abgeschlossen hatte.
Der französische Chemiker hatte aus dem Rückenmark eines an Tollwut
gestorbenen Kaninchens eine Substanz entnommen und sie so lange getrocknet,
bis die enthaltenen Erreger nicht mehr pathogen waren, sondern so abgeschwächt,
dass sie keine Infektion mehr auslösen konnten. Als sie dem infizierten Jungen per
Injektion verabreicht wurden, lösten sie eine Immunreaktion des Körpers gegen
den Erreger aus. So wurde Joseph Meister zum ersten Menschen, der eine Tollwutinfektion überlebte. Bis heute ist eine rechtzeitige Impfung die einzige Möglichkeit, die Virusinfektion zu bekämpfen.
Deutschland gilt inzwischen als tollwutfrei; in Indien und China hingegen
besteht – vor allem durch streunende Wildhunde – ein hohes Infektionsrisiko.
DIPHTHERIE-ANTISERUM
1891
Als Stabsarzt Emil von Behring an das Pharmakologische Institut der Universität
von Bonn versetzt wurde, forschte man dort an chemischen Arzneimitteln zur
Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Von Behring hatte eine andere Idee: Er
suchte nach Substanzen, die der infizierte Körper selbst entwickelt, um die Krankheit abzuwehren. 1889 fand er heraus, dass im Blut von diphtheriekranken Tieren
ein sogenanntes Antitoxin entsteht, ein Antikörper, der die Diphtherie-Bakterien
bindet und dadurch unschädlich macht.
Damals starb jedes zweite Kind, das an Diphtherie erkrankte. Die hochansteckende Erkrankung wird durch eine Infektion der oberen Atemwege mit dem
Diphtherie-Bakterium ausgelöst und lässt die Rachenschleimhaut stark anschwellen. Ohne rechtzeitige Behandlung verläuft sie häufig tödlich. Mit der Entdeckung
des Antitoxin konnte von Behring 1891 eine Serumtherapie entwickeln, bei der
hochkonzentrierte Antikörper im menschlichen Organismus das Gift des Bakteriums neutralisieren. Die Farbwerke Hoechst vertrieben das Diphtherie-Antiserum
ab 1894 flächendeckend; es rettete Hunderttausenden Kindern das Leben. Von
Behring erhielt im Jahr 1901 den allerersten Nobelpreis für Medizin.
ACETYLSALICYLSÄURE (ASS)
1899
Kaum ein Wirkstoff ist so untrennbar mit seinem Markennamen verbunden: Schon
seit 1899 wird Acetylsalicylsäure von der Bayer AG als Aspirin vermarktet. ASS
wirkt schmerzstillend, fiebersenkend sowie entzündungs- und gerinnungshemmend.
Es bremst im Körpergewebe die Produktion bestimmter Botenstoffe, sogenannter Prostaglandine, und lindert dadurch Schmerz- und Entzündungsreaktionen.
Prostaglandine sind hormonähnliche Substanzen, die für die Schmerzübertragung
in den Nervenzellen, den Anstieg von Fieber und das Anschwellen von Gewebe
bei Entzündungen verantwortlich sind.
Chemisch gesehen, ist Acetylsalicylsäure ein Derivat der Salicylsäure, einer oxidativen Aufbereitung von Salicin, das aus der Rinde von Weidenbäumen gewonnen
wird. Seine schmerzlindernde Wirkung nutzte man schon in der Antike, als die
53
Rinde des Weidenbaums gekocht und der Sud als Allheilmittel gegen diverse
Beschwerden getrunken wurde.
Der Vorläufer von ASS war die Salicylsäure, die seit 1874 als Schmerzmittel
auf dem Markt war. Der deutsche Chemiker Friedrich von Heyden hatte ein Verfahren zur Herstellung entwickelt. Doch eine flächendeckende Verbreitung blieb
aus, weil die Arznei nicht nur bitter schmeckte, sondern oft auch Magenbeschwerden verursachte. Am 10. August 1897 gelang es dem Bayer-Chemiker Felix Hoffmann – unter Anleitung des Chemikers Arthur Eichengrün – erstmals, Acetylsalicylsäure, eine wesentlich verträglichere Weiterentwicklung der Salicylsäure, in
einer reinen und stabilen Form zu synthetisieren. Knapp zwei Jahre später begann
für Bayer eine bis heute anhaltende Erfolgsgeschichte: Die Marke Aspirin wurde
mit der Nummer 36433 in die Warenzeichenrolle des Kaiserlichen Patentamtes in
Berlin aufgenommen und konnte fortan weltweit vertrieben werden.
Aspirin ist das meisteingesetzte Schmerzmittel der Welt, seit Markteinführung
wurden nach Schätzungen mehr als eine Billion Pillen eingenommen. Seinen
Wirkungsmechanismus hat erst 1971 der britische Pharmakologe Sir John Robert
Vane entschlüsselt, der dafür den Medizin-Nobelpreis erhielt. Heute ist ASS
Bestandteil einer Vielzahl von Fertigmedikamenten und wird von der WHO in
der Liste der unentbehrlichen Medikamente geführt.
1922
Am Anfang war der Hund:
Frederick Grant Banting auf einem Foto aus
dem Jahr 1933. Er wurde als erster Kanadier
mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
54
INSULIN ZUR DIABETESBEHANDLUNG
Schon viele Wissenschaftler vor ihnen hatten es versucht, aber erst sie waren
erfolgreich: Im Sommer 1921 gelang dem kanadischen Chirurgen Frederick Grant
Banting zusammen mit seinem Assistenten Charles Best die erstmalige Extraktion
von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse eines Hundes. Damit waren die Weichen
für eine künstliche Herstellung gestellt.
Das lebensnotwendige Hormon, das in den Langerhansinseln – Zellansammlungen in der Bauchspeicheldrüse – gebildet wird, senkt den Blutzuckerspiegel.
Insulin beschleunigt die Aufnahme von Zuckermolekülen in den Körperzellen.
Dabei wird der aufgenommene Zucker verbrannt und liefert so notwendige Energie. Beim Diabetes mellitus Typ 1 sind die Insulin produzierenden Zellen der
Bauchspeicheldrüse zerstört, was zu einer chronischen Erhöhung des Blutzuckerspiegels führt. Langfristig schädigt das die Organe schwerwiegend. Beim Diabetes mellitus Typ 2, unter dem 80 bis 90 Prozent aller Diabetiker leiden, kann das
Insulin nicht richtig wirken. Die Krankheit ist weltweit verbreitet und betrifft mehr
als 250 Millionen Menschen.
Banting und Best injizierten das gewonnene Sekret einem Versuchshund,
dem zuvor die Bauchspeicheldrüse entfernt worden war, sodass er zuckerkrank
war. Durch die Gabe des entnommenen Insulins konnte das Tier am Leben erhalten werden. Am 11. Januar 1922 behandelte Banting – nach einigen Selbstversuchen – erstmals einen Diabetes-Patienten, den 14-jährigen Leonard Thompson. Er
war der erste Mensch, der sein Überleben der künstlichen Zufuhr von Insulin verdankte. Bereits ein Jahr später erhielt Banting den Nobelpreis für Medizin.
Jetzt begann die pharmazeutische Industrie, tierisches Insulin im großen Stil
zu isolieren. Ihre Präparate retteten weltweit Millionen Menschen das Leben. Doch
die immense Nachfrage stellte die Hersteller schon bald vor ein Problem: Das
tierische Material reichte nicht aus. Also suchten Wissenschaftler nach einer vollsynthetischen Methode zur Replikation von Insulin. Seit den Achtzigerjahren ist
sie mittels Gentechnik möglich. Heute werden allein in Deutschland schon mehr
als sieben Millionen Menschen wegen Diabetes behandelt.
AKTIVIMPFUNG GEGEN DIPHTHERIE
1923
AKTIVIMPFUNG GEGEN TETANUS
1927
HEPARIN – GERINNUNGSHEMMER
1939
PENICILLIN
1944
Das erste Antibiotikum entstand durch einen Zufall. Der schottische Arzt und Bakteriologe Sir Alexander Fleming, der an der University of London forschte und
lehrte, hatte vor seinen Ferien im Labor eine Petrischale mit einer anaeroben Bakteriensorte vergessen. Zurück aus dem Urlaub, im September 1928, hatte sich in
der Staphylokokken-Kultur ein Schimmelpilz ausgebreitet. Fleming fiel auf, dass
die Staphylokokken rund um den Pilz durchsichtig, wie aufgelöst schienen. Der
Pilz hatte die Bakterien zerstört. Fleming identifizierte ihn als Penicillium notatum
und nannte die bakterienauflösende Substanz Penicillin. Weil es ihm anschließend
aber nicht gelang, den Wirkstoff zu isolieren, stellte er seine Forschung ein.
Die entzündungshemmende Wirkung von Schimmelpilzen war schon lange
vor dieser Entdeckung bekannt. So behandelte man bereits im alten China Entzündungen und Wunden mit verschiedenen Lebensmittelpilzen. Penicillin behindert die Zellteilung von Bakterien und dadurch auch deren Verbreitung im menschlichen Körper. Im Gegensatz zu anderen Pilzkulturen lässt es allerdings die für die
Abwehr von schädlichen Krankheitserregern verantwortlichen weißen Blutkörperchen unbehelligt.
Fast zehn Jahre nach Fleming widmete sich eine neue Forschergruppe den
Schimmelpilzen. Wissenschaftler um den australischen Pathologen Sir Howard
Walter Florey und den deutsch-britischen Bakteriologen Ernst Boris Chain waren
auf der Suche nach einem wirksamen und verträglichen Antibiotikum und stießen
auf die Aufzeichnungen über das Penicillium notatum. 1940 gelang es ihnen, Nährkulturen zu züchten und daraus Penicillin zu extrahieren. Ein erster großer Tierversuch mit 50 Mäusen verlief sogar erfolgreich – eine industrielle Produktion war
jedoch nicht möglich: Um eine für die Behandlung am Patienten ausreichende
Menge an Penicillin herstellen zu können, benötigte man zu viel der Kulturflüssigkeit. Das machte größere klinische Studien am Menschen unmöglich.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs gewann die Entwicklung eines wirksamen Antibiotikums an Bedeutung: Viele verwundete Soldaten mussten behandelt
werden. Die Suche nach einem geeigneten Medikament wurde zum Politikum, die
industrielle Fertigung wanderte in die USA. Mit der großtechnischen Produktion
fielen schließlich auch die Preise für Penicillin.
Schon 1945, nach dem Ende des Krieges, erhielten Sir Alexander Fleming,
Sir Howard Walter Florey und Ernst Boris Chain den Nobelpreis für Physiologie
beziehungsweise Medizin.
Zum Glück vergessen:
Zurück aus dem Urlaub, findet Sir Alexander
Fleming (1881–1955) in einer vergessenen
Petrischale einen Schimmelpilz – und nennt
seine Entdeckung später Penicillin.
CHLOROQUIN – PROPHYLAXE UND THERAPIE VON MALARIA
1945
CORTISON – ERSTE ANWENDUNG
1948
55
1956
Dem Virus auf der Spur:
Der Serologe Karl Landsteiner (1868–1943)
entdeckte den Auslöser für Kinderlähmung
und erhielt 1930 den Nobelpreis für Medizin.
ERSTER EINSATZ DER IMPFUNG GEGEN KINDERLÄHMUNG
IN DEUTSCHLAND
IMPFSTOFF GEGEN MASERN
1963
Dass die Kinderlähmung heute als nahezu ausgerottet gilt, ist der beharrlichen
Arbeit vieler Wissenschaftler zu verdanken, die jahrzehntelang versuchten, einen
Impfstoff gegen die schwere Infektionskrankheit zu entwickeln. Kinderlähmung,
auch Poliomyelitis, wird durch Polioviren ausgelöst. Sie verteilen sich im Körper
über die Blutbahn und befallen die muskelsteuernden Nervenzellen des Rückenmarks, was zu Lähmungen bis hin zum Tod durch Atemlähmung führen kann.
Als Entdecker des Polio-Virus gilt der österreichische Pathologe und Serologe Karl Landsteiner, der 1908 den Erreger aus dem Rückenmark eines an Kinderlähmung verstorbenen Kindes auf einen Affen übertrug. So wies er nach, dass
die Krankheit nicht durch ein Bakterium, sondern durch ein Virus ausgelöst wird.
Doch erst 1949 entwickelte ein Forscherteam der Harvard Medical School durch
die Züchtung von Polio-Viren in Gewebekulturen einen Impfstoff.
Wenige Jahre später gelang es dem Virologen Jonas Salk von der University
of Pittsburgh, einen Totimpfstoff herzustellen, der inaktivierte Polio-Viren enthielt.
Dafür ließ er Zehntausende Rhesus- und Java-Affen importieren. Er entnahm den
Tieren die Nieren, verarbeitete deren Zellen und züchtete darauf den Polio-Virus,
den er anschließend mit Formalin abtötete. Nach einigen erfolgreichen Selbstversuchen sowie einer Versuchsreihe mit Tausenden amerikanischen Schulkindern
erhielt Salks Präparat am 12. April 1955 die Zulassung als erster Impfstoff gegen
Poliomyelitis durch die oberste amerikanische Gesundheitsbehörde.
BETABLOCKER – HERZFREQUENZ- UND BLUTDRUCKSENKEND
1964
ACE-HEMMER – BLUTDRUCKSENKUNG
1980
HIV-PRÄPARAT
1987
BLUTGERINNUNGSFAKTOR VIII
1992
1960
IMMUNSUPPRESSIVUM BEI ORGANTRANSPLANTATIONEN
1960
EINFÜHRUNG DER PILLE ZUR EMPFÄNGNISVERHÜTUNG IN DEN USA
Im Dienste der Frauen:
Margaret Sanger (1879–1966), Aktivistin
und Krankenschwester, sorgte für
Bewegung in Sachen Geburtenkontrolle.
56
Die Idee: Um eine Schwangerschaft zu verhindern, täuscht man dem Körper vor,
bereits schwanger zu sein. So wird der Eisprung verhindert, und es kann keine
Eizelle mehr befruchtet werden. Nimmt eine Frau also Schwangerschaftshormone
ein, wird sie zeitweise unfruchtbar.
Der Innsbrucker Physiologe Ludwig Haberlandt gilt als Pionier der hormonellen Kontrazeption. Ihm gelang es Mitte der Zwanzigerjahre, Mäusen die Zeugungsfähigkeit zu nehmen, indem er ihnen den Extrakt tierischer Eierstöcke
verabreichte. Seine Ergebnisse ließen sich allerdings nicht auf den Menschen
übertragen: Der Hormongehalt der tierischen Eierstöcke war zu gering für eine
Wirkung beim Menschen.
Anfang der Fünfzigerjahre wurde das Problem von Carl Djerassi gelöst. Dem
US-Chemiker mit österreichischen Wurzeln gelang erstmals eine synthetische
Replikation des weiblichen Sexualhormons Progesteron. Er extrahierte es aus
der Yamswurzel. Dank einer großzügigen Spende der „Amerikanischen Liga für
Geburtenkontrolle“, der die Krankenschwester und Frauenrechtlerin Margaret
Sanger vorstand, konnte die zwei Millionen Dollar teure großtechnische Entwicklung einer Antibabypille realisiert werden: Nach sechs Jahren Forschung mit mehr
als 200 Substanzen wurde 1957 das erste Verhütungsmittel, „Enovid“, als „Medikament gegen Menstruationsstörungen“ zugelassen. Erst drei Jahre später bekam
Enovid die offizielle Zulassung als erstes hormonelles Verhütungspräparat. Die
erste Pille in Deutschland hieß 1961 „Anovlar“, was „kein Eisprung“ bedeutet.
Ein Kind fällt aufs Knie, es blutet. Im Normalfall kein Problem: Schnell sorgen die
Gerinnungsfaktoren im Blut dafür, dass die Blutplättchen miteinander verkleben
und die Wunde abdichten. Leider klappt der Selbstschutz nicht immer. Wer unter
Hämophilie leidet, dem fehlen die Gerinnungsfaktoren oder sie funktionieren nicht
richtig. „Bluter“ sind selbst bei kleinen Verletzungen in Gefahr: Die Blutung stoppt
nicht, auch innere Blutungen, vor allem in den Gelenken, sind möglich.
Die Krankheit wird durch ein Gen vererbt, das auf dem X-Chromosom sitzt.
Mütter übertragen es – ohne selbst zu erkranken – an ihre Söhne, weshalb die
Hämophilie fast ausschließlich Männer betrifft. Eine prominente Überträgerin war
Queen Victoria. Sie hat die lebensbedrohliche Bluterkrankheit über ihre Töchter
nicht nur innerhalb der englischen Königsfamilie weitergegeben, sondern auch an
die russische Zarenfamilie.
Heilbar ist Hämophilie nicht, behandelt wird sie, indem der Gerinnungsfaktor vorbeugend oder bei Bedarf gegeben wird. Weltweit leiden heute etwa 400 000
Menschen an der Bluterkrankheit, die meisten davon an Hämophilie A, der „klassischen“ Hämophilie, bei der der Blutgerinnungsfaktor VIII nicht funktioniert.
1963 konnte der Faktor VIII erstmals aus menschlichem Blutplasma gewonnen
werden – 1966 gab es das erste Medikament für Hämophilie-A-Patienten.
Ein riesiger Fortschritt, doch der Glanz blieb getrübt. Wegen fehlender
Untersuchungsmethoden barg diese Art der Faktor-VIII-Produktion immer das
Risiko einer Verunreinigung – und führte in den Achtzigerjahren schließlich zur
Katastrophe: Damals wurden Tausende von Patienten durch verunreinigtes Blutplasma mit HIV oder Hepatitis infiziert. Seit diesem „Blutskandal“ suchten Forscher in aller Welt nach einem Weg, sich von biologischem Material unabhängig
zu machen. 1992 war es so weit: Amerikanischen Biochemikern glückte die gentechnische Herstellung von Faktor VIII.
ETANERCEPT – WIRKSTOFF GEGEN RHEUMA
2000
IMPFUNG GEGEN GEBÄRMUTTERHALSKREBS
2006
MEDIKAMENT ZUR LEBENSVERLÄNGERUNG BEI LEBERKREBS
2007
57
Immun gegen Vernunft
Impfen rettet Leben.
Warum wird dann noch so
viel darüber diskutiert?
Eine Fallstudie.
I. Gut gemeint
Als im September 2006 der erste Impfstoff gegen humane Papillomaviren – der HPV-Impfstoff – in Europa
zugelassen wurde, war die Begeisterung groß. Medien
feierten die „Impfung gegen Krebs“, weil die Warzenviren verantwortlich sind für die meisten Tumoren am
Gebärmutterhals. Die Industrie war stolz. Die Krankenkassen beeilten sich, die teure Impfung in ihre Kataloge
aufzunehmen. Die Impfzahlen stiegen.
Im Grunde hätte es ein Lehrbuchbeispiel dafür werden können, wie Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung in ein Arzneimittel übersetzt werden – ein Erfolg
deutscher Forschung noch dazu. Doch es kam anders.
Diese Geschichte hat alles, was ein Epos braucht.
Eine profitorientierte Industrie, befangene Experten, verwirrte Gremien, verunsicherte Mädchen, eine panische
Öffentlichkeit, Medien auf der Suche nach einfachen
Wahrheiten und einen Nobelpreisträger. Sie zeigt, dass
aggressives Marketing genauso schädlich sein kann wie
die Beißreflexe mancher Kritiker. Und sie ist zu einem
Lehrstück darüber geraten, was alles falsch laufen kann,
wenn man Menschen vor Leid bewahren möchte.
II. Denkmal für eine Kuh
Text: Hanno Charisius
58
Um zu verstehen, was sich seit 2006 in Deutschland abgespielt hat, muss man etwas weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Konkret: ins 18. Jahrhundert in eine
Grafschaft im Südwesten Englands. Dort will der britische Landarzt Edward Jenner am achtjährigen Sohn seines Gärtners eine seiner Hypothesen testen. Es ist der
14. Mai 1796, als der Mediziner dem Jungen mit einer
sauberen Klinge die Haut an den Unterarmen aufritzt.
In die etwa zwei Zentimeter langen Schnitte reibt er
Eiter, den er aus einer Kuhpockenpustel von der Hand
einer kranken Melkerin gequetscht hatte. Der Bub wird
krank, doch die Infektion nimmt einen milden Verlauf,
kein Vergleich zu den echten Pocken. Nach gut einer
Woche ist der Kleine wieder auf den Beinen – und reif
für das zweite Experiment. Das folgt am 1. Juli, gleiche
Prozedur, diesmal allerdings mit dem Sekret aus menschlichen Pockenbeulen. Der Gärtnerssohn übersteht sie,
ohne zu erkranken.
Die Pocken sind zu jener Zeit Todesursache Nummer eins in Europa. 400 000 Menschen sterben jedes
Jahr daran, vor allem Kinder sind betroffen. James
Phipps, so heißt der Sohn des Gärtners, ist Jenners
17. Testkandidat. Nach fünf weiteren Probanden ist er
sich seiner Sache sicher und beschreibt die schützende
Wirkung der Kuhpocken in einem Fachartikel. Den Vorgang der Immunisierung nennt er „Vakzinierung“, nach
dem lateinischen Wort „vacca“, die Kuh.
Was als äußerst fragwürdiger Menschenversuch
begann, zählt längst zu den bedeutsamsten Errungenschaften der Medizin. Impfungen regen den Körper
dazu an, Abwehrstoffe gegen Krankheitserreger zu
produzieren. Das für den Menschen relativ harmlose
Kuhpockenvirus machte James Phipps für ein paar Tage
fiebrig, dann hatte seine Immunabwehr den Erreger im
Griff. Als seine Abwehrzellen kurz darauf mit dem
menschlichen Pockenerreger konfrontiert waren, erinnerten die spezialisierten Gedächtniszellen den artverwandten Eindringling und attackierten ihn. Nach diesem Prinzip funktionieren Impfstoffe bis heute – und
retten Leben.
In den Spritzen gegen Grippeviren oder Masern
beispielsweise stecken – dem von Jenner entwickelten
Vakzin nicht unähnlich – Krankheitserreger, die zuvor
chemisch abgeschwächt worden sind. Sie alarmieren
die Körperabwehr, in manchen Fällen lösen sie auch
leichte Symptome der Krankheit aus. Die zweite Sorte
heutiger Impfstoffe nutzt abgetötete Keime oder nur
Teile von ihnen. Im HPV-Impfstoff stecken zum Beispiel
nur die leeren Hüllen der Viren. Sie kommen ohne Erbgut und können deshalb keine Infektion, wohl aber eine
Immunreaktion auslösen.
Dank weltweiter Impfprogramme gelten die Pocken seit 1980 als ausgerottet. Die Weltgesundheitsorganisation WHO setzte sich auch das Ziel, den Erreger der Kinderlähmung, das Poliovirus, oder Masern
zu eliminieren. Ein zäher Kampf auch deshalb, weil die
Menschen in den Industrienationen impfmüde geworden sind. Deutschland ist dabei ein besonders schlechtes Vorbild. So schlecht, dass die Gesundheitsbehörden
in den USA ihre Bürger im Jahr 2006 davor warnten,
ohne Impfschutz nach Deutschland zu reisen. Während
sich jenseits des Atlantiks kaum 1000 Menschen pro
Jahr mit Masern anstecken, waren es hierzulande im
Jahr 2001, dem vorläufigen Höhepunkt, fast 7500 –
und damit mehr als 80 Prozent aller Fälle in Europa.
Selbst im Jahr 2011 wurden 1600 Fälle registriert.
III. Abwehrkräfte
Impfungen regen nicht nur die Widerstandskräfte des
Körpers an: Bis zu fünf von 100 Deutschen lehnen die
künstliche Immunisierung kategorisch ab, schätzt das
Robert-Koch-Institut in Berlin. Sie würden nicht weiter
ins Gewicht fallen, behielten sie ihre lebensgefährliche
59
Haltung für sich. Doch sie posaunen sie in die Welt
hinaus, schreiben Bücher über die Gefahr aus der Spritze, schicken Briefe und E-Mails, wenn ein Journalist
sich ihrer Meinung nach nicht kritisch genug dem Thema nähert. Sie verteilen Info-Blätter unter jungen Eltern.
Sie säen Zweifel.
Unwissenheit ist ein fruchtbarer Boden. „Es gibt so
viele widersprüchliche Informationen zum Thema. Wie
soll der medizinisch nicht Vorgebildete entscheiden, was
richtig ist?“, fragt Christian Dannecker, Leitender Oberarzt in der Universitätsfrauenklinik München. Er kann
nachvollziehen, dass manche den Piekser fürchten: „Bei
einer Impfung injiziert man gesunden Menschen eine
Substanz, die ihr Immunsystem abwehrbereit machen
soll. Kein Wunder, dass so etwas Skepsis hervorruft.“
Als der britische Landarzt vor mehr als 200 Jahren seine Idee präsentierte, wurde er ausgelacht. Die
Zeitgenossen verhöhnten ihn, später warnten Kritiker
vor der „Vertierung des Charakters“. In Deutschland
erkannte zuerst die Regierung Bayerns den Nutzen und
führte 1807 eine Zwangsimpfung für alle Säuglinge ein.
Aber erst nach Einführung des Reichsimpfgesetzes
1874, in Verbindung mit einem besseren Impfstoff, ging
die Zahl der Infektionen spürbar zurück.
Umstritten blieb die Impfung gleichwohl, nicht nur
bei der armen Bevölkerung. Auch Intellektuelle wie
Immanuel Kant lehnten die Maßnahmen ab, mit Argumenten, die bis heute wiederholt werden – zuletzt
gegen die HPV-Impfung: angeblich fehlender Nachweis
der Wirksamkeit, Nebenwirkungen, Beschneidung der
Persönlichkeitsrechte sowie eine korrupte Obrigkeit, die
aus der Zwangsimpfung Kapital schlage. Bis zum Ende
des 19. Jahrhunderts sammelten Gegner rund 100 000
Unterschriften gegen die staatlich verordnete Immunisierung und veröffentlichten pseudowissenschaftliche
Bücher, in denen sie postulierten, „der Aberglaube an
Krankheitskeime und der Hexenglaube“ seien Produkte
derselben Geisteshaltung. Oder dass „die Ursache der
Erkrankung in der Anlage jedes Einzelnen“ zu suchen
sei. Behauptungen, die, etwas anders formuliert, noch
immer von Impfgegnern strapaziert werden.
Dabei sind deren Argumente von Land zu Land
recht unterschiedlich, wie das Bundesgesundheitsblatt
darlegt. In Frankreich reiten die Gegner auf einem
angeblichen Zusammenhang zwischen Hepatitis-BImpfung und multipler Sklerose herum, in den USA
wird vor allem dem Impfzusatzstoff Thiomersal angelastet, die gesundheitliche Entwicklung von Kindern
zu stören. In Italien proklamieren die Kritiker einen
Zusammenhang zwischen künstlicher Immunisierung
60
Fast jeder sexuell aktive Mensch
infiziert sich im Laufe seines Lebens
mindestens einmal mit HPV-Viren.
und plötzlichem Kindstod. Und in England hält sich
das Gerücht, dass der Kombi-Impfstoff gegen Mumps,
Masern und Röteln Autismus auslöst, obwohl längst
belegt ist, dass die Studie, die diesen Zusammenhang
belegen sollte, von Impfgegnern gekauft worden war.
Die vergleichsweise wenigen Totalverweigerer in
Deutschland haben nicht so klare Feindbilder. Die Fachliteratur unterscheidet heute zwischen der ideologisch
motivierten kleinen Gruppe der absoluten Verweigerer,
die irrational und wissenschaftsfeindlich argumentieren,
und Skeptikern, die Impfungen nicht prinzipiell ablehnen, aber „spezielle Ansichten über Zeitpunkt, Wirksamkeit, Sicherheit und Nebenwirkungen vertreten“,
wie es in einer Analyse im Bundesgesundheitsblatt heißt.
Oft spielen bei der Ablehnung religiöse Gründe eine
Rolle. Genau wie die Ausbildung. Denn zu den Gegnern zählen nicht nur medizinische Laien.
Eine englische Studie belegte vor Jahren, dass nur
30 Prozent der Ärzte mit homöopathischer Zusatzausbildung Impfungen ablehnen – unter den VollblutHomöopathen lag die Quote bei 100 Prozent, obwohl
sich weder der Homöopathie-Begründer Samuel Hahnemann noch die Fachgesellschaften gegen Impfungen
aussprechen. Besonders bei jungen Eltern ist die Akzeptanz von Impfungen von der Einstellung der Ärzte abhängig, die sie mit ihren Kindern aufsuchen. Auch Hebammen haben großen Einfluss auf die Entscheidung.
Umfragen zeigen, dass Eltern Impfempfehlungen von
Ärzten haben wollen, nicht von der Regierung, nicht
vom Apotheker und erst recht nicht von den Medien.
IV. Krebsviren
Als der junge Harald zur Hausen 1967 im Kinderhospital von Philadelphia ein paar Minuten im Büro seines
Chefs warten muss, fällt sein Blick auf einen Fachartikel, der sein Leben verändern sollte. Manche Warzen
können zu Krebsgeschwüren mutieren, heißt es da. Eine
Information, die ihn nicht mehr loslässt und aus der
Jahre später die Erkenntnis wächst, dass Papillomaviren
Gebärmutterhalskrebs auslösen. Im Jahr 2008 empfängt
er für diese Entdeckung den Nobelpreis für Medizin.
Auch Harald zur Hausen muss gegen viele Widerstände ankämpfen. Die Lehrmeinung macht lange Zeit
Herpesviren für diese Tumorart verantwortlich. Als er
1973 auf einem Kongress erstmals seine Hypothese
vorstellt, stößt er auf Skepsis. Kollegen zweifeln seine
Experimente offen an. „Erst 13 Jahre nachdem wir zum
ersten Mal Papillomaviren in einem Gebärmutterhalstumor gefunden hatten, wurde ich zu einem deutschen
Gynäkologenkongress eingeladen, um über sie als
Ursache für Gebärmutterhalskrebs zu sprechen“, erinnert sich der Nobelpreisträger.
Heute steht in jedem Lehrbuch, dass sich ohne
eine dauerhafte Infektion mit mindestens einem krebsauslösenden HPV-Typus keine auffälligen Krebsvorstufen im Gewebe der Gebärmutter bilden können, die
schließlich zum Tumor führen. Mehr als 100 HPV-Varianten sind inzwischen bekannt, 40 befallen den Genitaltrakt, viele sind harmlos. 15 jedoch gelten derzeit als
krebsauslösend, die besonders aggressiven Typen 16
und 18 sind weltweit für 70 Prozent der Tumoren am
Gebärmutterhals verantwortlich.
Nach den jüngsten Schätzungen der WHO erkranken jährlich eine halbe Million Frauen daran, mehr als
die Hälfte von ihnen stirbt qualvoll an dem Tumor.
Weltweit ist das Zervixkarzinom die zweithäufigste
Krebserkrankung und die dritthäufigste mit Todesfolge
in Entwicklungsländern, dabei sind die Heilungschancen sehr gut, wenn der Krebs früh genug entdeckt wird.
Deshalb sieht die Situation in Deutschland auch anders
aus. Hier erkranken jedes Jahr etwa 6500 Frauen, 1700
sterben an den Folgen.
Noch in den Siebzigerjahren, bevor die Untersuchung zur Früherkennung landesweit eingeführt wurde, war die Rate wesentlich höher. Die jährliche Kontrolle beim Gynäkologen, die etwa jede zweite Frau
wahrnimmt, hat die Erkrankungszahlen spürbar gesenkt. Wenn nämlich der Arzt eine verdächtige Veränderung an der Schleimhaut entdeckt, kann er sie
herausschneiden. 140 000 solcher Konisationen führen
deutsche Frauenärzte pro Jahr durch, schätzt Ingrid
Mühlhauser vom Lehrstuhl für Gesundheit an der Universität Hamburg.
Fast jeder sexuell aktive Mensch infiziert sich im
Laufe seines Lebens mindestens einmal mit HPVViren. Warum nur so wenige erkranken, ist eines der
großen Rätsel der HPV-Forschung. Harald zur Hausen
vermutet, dass andere Faktoren wie etwa Rauchen oder
hormonelle Verhütungsmittel die Krebsentstehung fördern. Sicher ist: Von der Infektion bis zum Tumor vergehen meist Jahrzehnte – und trotzdem sind auffällig
viele junge Frauen von dieser Krebsart betroffen, weil
die Infektion früh in ihrem Leben stattfindet.
Eine britische Studie zeigte, dass sich mehr als
50 Prozent der jungen Frauen bereits vier Jahre nach
dem ersten Sex mit dem Virus angesteckt hatten, das
einigen von ihnen Jahre später den Tod brachte. Betrachtet man hierzulande nur Frauen unter 60 Jahren,
so ist Gebärmutterhalskrebs in dieser Gruppe die dritthäufigste Krebsart.
V. Impfung gegen Krebs
Nachdem der Erreger identifiziert war, lag die Idee nahe,
einen Impfstoff gegen ihn zu entwickeln. Doch als
Harald zur Hausen 1984 mit seinem Vorschlag an deutsche Pharmaunternehmen herantrat, winkten die ab.
Der erste Impfstoff gegen Hepatitis-Viren, die Leberkrebs verursachen können, war schon auf dem Markt,
das Konzept der Impfung gegen Krebs also nicht neu.
Und trotzdem: „Entweder erschienen ihnen unsere
Daten unzureichend, oder mir wurde erzählt, es gebe
wichtigere Probleme als einen Impfstoff gegen Gebärmutterhalskrebs“, schreibt zur Hausen in seinem Buch
„Gegen Krebs“.
Unternehmen im Ausland erkannten das Poten zial schneller und kooperierten mit Forschergruppen,
denen zur Hausen Virusmaterial zu Testzwecken überlassen hatte. An einen Patentschutz für seine Entdeckung hatte er nicht gedacht – „sehr naiv“, wie er
einräumt. So musste er zusehen, wie andere Verträge
mit der Industrie abschlossen und sein Arbeitgeber, das
Deutsche Krebsforschungszentrum DKFZ in Heidelberg, erst vor Gericht zumindest Anteile an den Lizenzgebühren erstritt.
Die Entwicklung eines Impfstoffes ist so langwierig wie bei jeder anderen Arznei. 1991 erscheint der
erste Fachartikel, der beschreibt, wie man die Moleküle, aus denen sich die Hüllen der gefährlichsten HPVTypen zusammensetzen, künstlich im Labor herstellen
kann. Die Bauteile der Viren sollen ausreichen, um das
Immunsystem der Impflinge gegen echte Papilloma viren zu mobilisieren. Es dauert noch weitere 15 Jahre,
bis der erste HPV-Impfstoff für Menschen zugelassen
wird. Die deutsche Entdeckung wird von einem amerikanischen und einem britischen Konzern weiterentwickelt.
61
VI. Kampf um den Markt
Der HPV-Impfstoff gelangt am 20. September 2006
auf den europäischen Markt. Gardasil schützt vor vier
Virustypen, darunter die gefährlichen Typen 16 und 18
sowie zwei weitere, die keinen Krebs verursachen, sondern lediglich lästige Genitalwarzen. In den USA hat
Merck bereits im Juli mit der Vermarktung des Präparats begonnen. Für Europa übernimmt Sanofi Pasteur
MSD die Vertriebsrechte.
Jetzt nimmt eine Kampagne ihren Lauf, wie es
sie hierzulande selten gab. Das Unternehmen tritt eine
Marketinglawine los – und alle machen mit.
Die Techniker Krankenkasse bucht Anfang Dezember 2006 Werbeblöcke vor den Fernsehnachrichten
und verkündet, die Kosten für die Impfung von 11- bis
17-jährigen Mädchen zu übernehmen. Andere Kassen
ziehen nach, sie wollen keine Kunden verlieren. Die
oberste Impfbehörde bringt die Lawine dann richtig ins
Rollen: Schon im Februar 2007 gibt die Ständige Impfkommission des Robert-Koch-Instituts (Stiko) in Berlin
ihre Empfehlung ab, Mädchen im Alter zwischen 12 und
17 Jahren zu impfen – ein Vorgang, der üblicherweise
Jahre dauert, nicht Monate. Damit sind alle Krankenkassen in der Pflicht: Sie müssen die rund 500 Euro für
drei Spritzen übernehmen. Und nun bricht in den deutschen Arztpraxen eine von keiner Behörde gesteuerte
oder kontrollierte Impfwelle los, die vom Hersteller nur
zu gern befeuert wird.
Eine weitere Kampagne von Sanofi Pasteur MSD
(SPMSD) geht im März an den Start – über Fernsehen,
Zeitungen und im Internet. Sie findet namhafte Unterstützung. Der Spiegel feiert die „Krebsspritze für Kinder“. Die taz klärt auf, dass „drei Spritzen vor Schmerzen und Tod bewahren“. Die Berliner Zeitung verspricht
„guten Schutz für den Gebärmutterhals“. Wer jetzt noch
immer nicht von der Notwendigkeit dieser Impfung
überzeugt ist, lernt es spätestens im Herbst, denn am
20. September 2007, exakt ein Jahr nach Gardasil,
gelangt der zweite Impfstoff auf den Markt. Cervarix
von GlaxoSmithKline GSK.
Jetzt muss es schnell gehen. Der Wettbewerb erhöht den Druck. Daneben drängt das „Catch-up-Phänomen“. So nennen Arzneimittelvermarkter die Situation,
in der es möglich ist, mehrere Geburten-Jahrgänge zu
impfen. Sobald alle in einer bestimmten Zeitspanne
geborenen Menschen durchgeimpft sind, hat man es in
der Folgezeit nur noch jeweils mit einem Jahrgang nach
dem anderen zu tun. Man muss sich also beeilen, um
viele junge Frauen zu erreichen, bevor sie aus der zur
62
Das Unternehmen tritt
eine Marketingkampagne los –
und alle machen mit.
Impfung empfohlenen Altersgruppe herauswachsen –
insbesondere, wenn man sich den Markt mit einem
Konkurrenten teilt. Folglich gilt es, möglichst schnell
möglichst viele Impfdosen abzusetzen.
In Europa und in den USA begleiten aufwendige
Informationskampagnen die Vermarktung. Die Lobbyarbeit schloss „jeden Meinungsbildner ein, jede Frauengruppe, jede medizinische Fachgesellschaft, Politiker,
und sie richtete sich direkt an die Menschen – es entstand ein Gefühl der Panik, dass du diesen Impfstoff
jetzt haben musst“, schreibt die New York Times später in einer Analyse. Die amerikanischen Gesundheitswissenschaftler Sheila und David Rothman vom Columbia College im US-Bundesstaat New York erkennen
eine völlig neue Strategie: Zum ersten Mal werde eine
Impfung nach der Krankheit benannt, vor der sie schützen soll, und nicht nach dem Erreger. So werde davon
abgelenkt, dass es sich um eine durch Sex übertragene
Erkrankung handelt, und verallgemeinernd so getan, als
wäre die Gefahr für jeden Menschen gleich groß.
Außerdem wird übertrieben. So verspricht SPMSD
beispielsweise im Jahr 2007 in einer Pressemitteilung
„einen bis zu hundertprozentigen Schutz vor Gebärmutterhalskrebs und weiteren HPV-bedingten Erkrankungen“, obwohl zu diesem Zeitpunkt der Schutz vor
Zervix-Krebs zwar logisch, aber noch nicht bewiesen
ist – und hundert Prozent Sicherheit nicht einmal theoretisch erreichbar sind. „Es war eine massiv irrefüh rende Kampagne“, bilanziert die Gesundheitsexpertin
Ingrid Mühlhauser.
Um ihr Ziel zu erreichen, arbeiten die Unternehmen mit offenen und verdeckten Werbestrategien. Sie
versorgen Fachverbände und medizinisches Personal mit
Schulungsunterlagen und Ratgebern für die Gesprächsführung mit Patientinnen. Sie verteilen Infobroschüren
an Schulen. Sie lancieren Webseiten wie tellsomeone.de,
die den Nutzen der Impfung und die Gefahr durch
Gebärmutterhalskrebs übertrieben darstellen. In den
USA wenden sie sich an Schülerinnen und Studenten
mit E-Mails, in denen sie den Schutz vor Krebs anpreisen, damit sie sich „wenigstens um eine Sache weniger
sorgen“ müssten. Ähnliche Post bekommen die Eltern.
All das bleibt nicht ohne Wirkung. Anfang 2007
schießen die Impfzahlen in die Höhe und erreichen in
einigen Bundesländern Hochrechnungen zufolge knapp
60 Prozent der Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren.
Bundesweit bleibt die Durchimpfung unter der 40-Prozent-Marke. Bis Ende 2008 machen die beiden Hersteller weltweit mehr als eine Milliarde Dollar Umsatz
mit ihren Anti-HPV-Präparaten.
VII. Druck erzeugt Gegendruck
Der Wirbel ruft allerdings auch die Skeptiker auf den
Plan. Anfang 2008, als bekannt wird, dass in Deutschland und Österreich zwei Mädchen kurz nach einer
HPV-Spritze verstorben sind, knicken die Impfzahlen
leicht ein. Mehr als einen zeitlichen Zusammenhang
zwischen Tod und Impfung können zwar weder die
Europäische Arzneimittelagentur EMA noch das PaulEhrlich-Institut feststellen, das in Deutschland für die
Zulassung und Sicherheit von Impfstoffen zuständig ist.
Doch die Dynamik ist damit gebremst – und die Zweifler erkennen ihre Chance.
Ende 2008 kippt die Stimmung komplett. Schwer
zu sagen, ob ein öffentliches Positionspapier den Ausschlag gab. In ihm forderten 13 keineswegs generell
impfkritische deutsche Wissenschaftler die „Neubewertung der HPV-Impfung und ein Ende der irreführenden
Informationen“. Weil die beiden Impfstoffhersteller auch
nach Monaten der Kritik ihre Maßnahmen nicht stoppen und sogar Vertreter in Vorlesungen von Professoren schicken, die für ihre kritische Position gegenüber
der Impfung bekannt sind, ist das Maß für die Gruppe
der 13 jedenfalls voll.
Erstes Ärgernis aus ihrer Sicht ist die Blitz-Entscheidung der Stiko, die Impfung zu empfehlen. Insbesondere das undurchsichtige Entscheidungsverfahren
und die schriftliche Begründung stehen in der Kritik.
Das Gutachten des Impfgremiums enthält tatsächlich Passagen, die an seiner Kompetenz zweifeln lassen.
So verspricht es etwa eine „lebenslange Impfaktivität
von 92,5 Prozent“, obwohl sich zu diesem Zeitpunkt
noch nichts über die Wirkungsdauer der Impfung, die
Notwendigkeit von Nachimpfungen oder zur Effektivität sagen lässt. Deshalb fordert auch der Gemeinsame
Bundesausschuss, die Selbstverwaltungsinstanz der Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen, eine Neubewertung der Impfung.
Der zweite Vorwurf betrifft die Wirksamkeit der
Impfung. Die Kritiker halten es zu diesem Zeitpunkt für
unbewiesen, dass die Impfstoffe – selbst bei flächendeckender Durchimpfung – die Zahl der Gebärmutterhals-Tumoren um die versprochenen 70 Prozent senken
können, die durch die beiden gefährlichsten Virustypen
16 und 18 hervorgerufen werden und gegen die sich
beide Impfstoffe richten. Diese Vorhersage gilt nur,
wenn sich die Mädchen vor der Impfung noch nicht mit
dem Virus infiziert haben. In die Zulassungsstudien
wurden jedoch auch Frauen mit Vorinfektionen aufgenommen. Bezieht man sie in die Auswertung des Impferfolgs ein, steht es plötzlich schlecht um den behaupteten Erfolg, denn die Impfstoffe helfen nicht gegen
bereits vorhandene Infektionen. Die 13 Autoren argumentieren mit dem verhältnismäßig geringen Nutzen,
den der Impfstoff hätte, wenn ihn alle Frauen bekämen.
Zudem bemängeln sie, dass noch nicht klar sei, wie
viele Tumoren die Impfstoffe wirklich verhindern können, weil zur Wirksamkeitsabschätzung nur Krebsvorstufen analysiert worden waren.
Als die 13 ihre Stellungnahme publizieren – viele
Medien nennen sie „Manifest“ –, sind entscheidende
Studienergebnisse noch nicht veröffentlicht. Inzwischen
hat sich gezeigt, dass die Impfungen sogar mehr Krebsvorstufen verhindern, als anfangs erwartet, weil die
Impfstoffe nicht nur gegen die Virustypen 16 und 18
wirken, sondern auch gegen mindestens fünf weitere.
Ingrid Mühlhauser hält an ihrer Kritik trotzdem
fest – sie fürchtet, dass sich Frauen durch die HPVSpritzen in falscher Sicherheit wiegen könnten, weil bei
der Einführung des Impfstoffes suggeriert worden sei,
dass er vollständig vor Gebärmutterhalskrebs schütze.
Wer die Zahl der Gebärmutterhalskrebs-Erkrankungen
zuverlässig senken wolle, sollte in mehr Akzeptanz und
höhere Qualität der Früherkennung investieren.
Auch die Europäische Arzneimittelagentur betont
die Bedeutung des Screenings schon bei der Einführung
des Impfstoffes. Doch ein koordiniertes Programm, wie
die Impfung in die bestehende Krebsvorsorge eingebaut werden soll, entsteht auch in den Folgejahren
nicht.
63
VIII. Nebenwirkungen
Die Kritik der Experten mit den postwendend aufgestellten Gegenmeinungen erregt natürlich auch das Interesse der Medien, die den Streit so bereitwillig in die
Öffentlichkeit tragen wie zuvor den Hype. Da ist vom
„Schnellschuss mit fehlender Präzision“ (SZ) die Rede,
von einem „Experiment an Gesunden“ (FR), die taz
konstatiert, dass der „Streit um Krebsimpfung wuchert“
und sieht „Mädchen in Gefahr“. Auch der Tod einer
jungen Frau in Großbritannien ist vielerorts Thema –
von der Nachricht, dass die Spritze gar nicht ursächlich
gewesen war, nehmen weit weniger Notiz. Auch die
Resonanz auf die klinischen Daten, die die Wirksamkeit
der Impfung mit neuen Zahlen untermauern, ist gering.
Stattdessen bleibt die Sicherheit ein Reizthema.
Richtig ist: Ganz ohne Nebenwirkung ist eine Impfung
nicht zu haben. „Sie regt das Immunsystem an, und
dabei ist nie auszuschließen, dass es überreagiert“, sagt
Harald zur Hausen. „Die Folge einer jeden Impfung
können Hautreaktionen, Kreislaufprobleme und im
allerschlimmsten und extrem seltenen Fall bei unerkannten Vorerkrankungen auch der Tod sein. Dagegen
steht, dass wir jedes Jahr weltweit vielleicht mehr als
200 000 Frauen vor dem Tod durch Gebärmutterhalskrebs retten können. Und dass Mädchen und Frauen
auch chirurgische Eingriffe zur Entfernung von Vorstufen zu 70 bis 80 Prozent erspart bleiben.“
In den Datenbanken der internationalen Meldebehörden sind inzwischen mehrere Zehntausend Fälle von
Nebenwirkungen beschrieben. Die meisten betreffen
Rötungen an der Einstichstelle der Nadel; Schwindelgefühl und Ohnmachtsanfälle sind häufig, es gibt aber
auch Tote. Allerdings konnte bislang noch kein Todesfall zweifelsfrei mit der Impfung kausal in Zusammenhang gebracht werden.
Für Harald zur Hausen ist der Impfstoff damit als
„sehr sicher“ einzustufen. Er verweist auf Australien,
wo durch staatliche Impfprogramme bereits mehr als
1,7 Millionen Dosen injiziert wurden und nur in 25
Fällen gravierende Nebenwirkungen auftraten, wovon
jedoch nur „drei als echte Reaktion gewertet werden
können“. Nach derzeitiger Datenlage böten die beiden
Impfstoffe gegen HPV eine vergleichbare Sicherheit wie
andere, seit Langem verwendete Impfstoffe, etwa solche gegen Tetanus, Diphtherie oder Hepatitis B.
Aus Sicht der Befürworter ist die wahrscheinlich
schädlichste Nebenwirkung der Impfstoffe die Debatte,
die um sie entbrannt ist. Ob nun in Folge des Manifests
oder als Reaktion auf die negativen Berichte: Die Impf-
64
zahlen brachen ein und haben sich nicht wieder erholt.
Bei den zwölfjährigen Mädchen liegt die Durchimpfung
nur noch zwischen zehn und zwölf Prozent, schätzt
Klaus Schlüter, Geschäftsführer bei Sanofi Pasteur MSD
und dort verantwortlich für die Bereiche Medizin,
Marktzugang und Erstattung. Der Berliner Tumorbiologe Andreas Kaufmann sieht die Quote in allen sechs
zur Impfung empfohlenen Jahrgängen „gefühlt bei
40 Prozent“. Viele jüngere Mädchen würden die HPVImpfung gar nicht kennen, sagt er. Für ihn steht fest,
wer die Schuld an dem Informationsdefizit trägt: Das
Manifest der Kritiker, sagt er, habe hohen Schaden
angerichtet. Danach sei das Thema politisch derart aufgeladen gewesen, dass sich niemand mehr damit habe
beschäftigen wollen. „Viele Mädchen haben die laufenden Impfzyklen abgebrochen. Mütter und Ärzte waren
verunsichert, und es gab keine Informationen mehr, die
ihnen bei einer Entscheidung geholfen hätten. Die 13
haben eine riesige Verantwortung auf sich geladen.“
IX. Kosten und Nutzen
Die spürt auch Klaus Schlüter, obwohl er die Geschehnisse nur aus der Distanz kennt. Der Arzt und Gesundheitsökonom, der Mitte 2010 von Pfizer zu SPMSD
wechselte, blickt auf die Zeit der Impfstoffeinführung
als eine längst vergangene Epoche. Damals sei vom
Unternehmen ein „enormer Druck“ aufgebaut worden,
schließlich ging es um die Erschließung eines neuen
Marktes. Das Kapitel sei abgeschlossen, eine Wiederholung werde es nicht geben. „Ich möchte nicht, dass eine
aus meiner Sicht wichtige Impfung durch unter Umständen fragwürdige Marketingmaßnahmen gefährdet
wird.“ Heute argumentiere Sanofi Pasteur MSD wissenschaftlich und konzentriere sich darauf, den Nutzen von
Prävention allgemein zu verdeutlichen.
Wie es um den Nutzen der HPV-Impfung bestellt
ist, ist eine Frage, deren Antwort – je nach Standpunkt
– sehr unterschiedlich ausfällt. Aus Sicht einer jungen
Frau, die noch keine Papillomaviren in sich trägt, bieten die heute verfügbaren Impfstoffe Schutz vor den
aggressivsten Erregern und reduzieren ihr Krebsrisiko.
Zahlen, die das zweifelsfrei belegen können, wird es
allerdings erst in Jahrzehnten geben.
Daten aus Taiwan belegen, dass man geduldig sein
muss, wenn man den Krebsschutz durch Impfungen
statistisch relevant aus Sterbezahlen herauslesen will.
Erst seit 2009 – und damit 25 Jahre nach ihrem Start –
steht unzweifelhaft fest, dass die flächendeckende Einführung der Hepatitis-B-Impfung in Taiwan die Leber-
krebsrate um 70 Prozent gesenkt hat. Selbst wenn die
Zahl der Cervix-Tumoren in den nächsten zehn Jahren
sinken würde, wäre das noch kein Hinweis auf den
Impfeffekt, sagt Andreas Kaufmann, sondern wahrscheinlich eher auf Verbesserungen in der Früherkennung. Durch Impfschutz gesenkte Sterbezahlen erwartet der Mediziner frühestens in zwanzig Jahren.
In Entwicklungsländern ohne Früherkennungsprogramme könnten Impferfolge schon früher messbar
sein. Dort sieht Harald zur Hausen deshalb auch den
größten Nutzen der Impfung. Doch gibt es einen Vorteil, der auf unsere Verhältnisse übertragbar ist und
greifbar nahe liegt. Eine australische Studie zeigte, dass
bereits ein halbes Jahrzehnt nach Einführung der Impfung die Zahl der operativen Eingriffe zurückgegangen
war. „Diese Konisationen sind nicht nur eine große
Belastung für die Frauen. Sie erhöhen auch das Risiko
für Frühgeburten deutlich“, sagt Christian Dannecker
von der Universitätsklinik München. So reduziert die
Impfung in Industrieländern mit bestehendem Früherkennungsprogramm zwar noch nicht nachweislich
die Zahl der Krebstoten – aber schon bald die Zahl
der voller Angst durchwachten Nächte von Frauen mit
verdächtigem Befund.
Ob diese Rechnung auch gesundheitsökonomisch
aufgeht, wird in der Fachliteratur mittlerweile auf mehreren Hundert Seiten diskutiert. Der wichtigste Aspekt
ist dabei die Frage, wie lange und vor wie vielen Virustypen die Impfung Schutz bietet. Bislang steht fest: Der
Schutz hält mindestens achteinhalb Jahre – so weit
liegen die ersten Impfungen zu Studienzwecken schon
zurück. Dannecker prognostiziert einen „wahrscheinlich
jahrzehntelangen Schutz“, Harald zur Hausen schätzt
ihn auf „wenigstens 15 Jahre“. Andreas Kaufmann von
der Berliner Charité greift noch weiter und bleibt dennoch pragmatisch: „Ich gehe von 20 Jahren aus, aber
ich bin kein Ökonom. Falls nötig, können wir den Impfschutz auch nach zehn Jahren schon auffrischen, wenn
wir Frauen dadurch Leid ersparen.“
Nach den Modellrechnungen des Gesundheitsökonomen Oliver Damm von der Universität Bielefeld
steht heute nicht mehr infrage, ob der Impfstoff in
Deutschland auch ökonomisch sinnvoll ist – trotz des
hohen Preises von fast 500 Euro pro Person. Entscheidend sei vielmehr: welcher der beiden Impfstoffe, ab
welchem Alter? Das klang in einer ersten ökonomischen Abschätzung aus dem Jahr 2009, an der er mitgearbeitet hatte, noch deutlich skeptischer. Damals
stuften die Autoren den ökonomischen Nutzen noch als
fragwürdig ein.
Hätten die deutschen Gesundheitsbehörden bei Einführung des Impfstoffes mit den Unternehmen verhandelt, wäre die Bilanz vielleicht schon früher positiv ausgefallen. Die Regierungen anderer Länder schlossen
jedenfalls Lieferverträge mit den Herstellern und gaben
dabei erheblich weniger pro Dosis aus.
X. Therapeutische Maßnahmen
Verglichen mit der HPV-Impfung, ging die Einführung
der Hepatitis-Immunisierung in Deutschland geräuschlos ab. Heute liegt diese Durchimpfung bei 90 Prozent
im Kindesalter. Für HPV scheinen Harald zur Hausen
derartige Werte illusorisch. Er erklärt sich das mit einer
merkwürdigen generellen deutschen Skepsis gegenüber
Impfungen.
Man kann es ruhig so sagen: Bei der Einführung
der HPV-Impfung hat sich Deutschland blamiert. Dabei
hätte man sich die Nachbarländer zum Vorbild nehmen
können. Dänemark etwa legte ein nationales HPV-Programm auf und holte für eine konsensfähige Strategie
alle Interessengruppen an einen Tisch. So erreichte das
Land eine Impfquote von 80 Prozent in der Zielgruppe.
Großbritannien schloss Verträge mit den Herstellern
und verteilte Impfdosen an Schulen.
Letzteres erscheint in Deutschland heute undenkbar. Dabei wäre gerade die Schulimpfung ein sinnvolles
Mittel, um auch die Kinder jener Gesellschaftsgruppen
zu erreichen, die an Vorsorgeprogrammen üblicherweise nicht teilnehmen. Studien haben mehrfach gezeigt, dass in Industrieländern meist diejenigen zur
Impfung kommen, die später wahrscheinlich auch zur
Früherkennung gehen.
Nobelpreisträger zur Hausen hält es deshalb für
eine gute Idee, Jugendliche früh, etwa zwischen neun
und vierzehn Jahren zu impfen. Dabei schließt er Jungen ausdrücklich ein, weil sie die Überträger der Krebsviren sind, aber seltener Tumoren an den Genitalien
entwickeln. „Das hätte den Vorteil, dass nicht nur
Gynäkologen, sondern die Kinderärzte diese Impfung
übernähmen, die in Deutschland ohnehin die Impfärzte
sind.“ Zudem sinke die Arztaffinität im Jugendalter
dramatisch. Als Standardmaßnahme in eine der Vorsorgeuntersuchungen für Kinder eingebaut, könnte die
Impfung viel mehr Menschen erreichen.
Die Industrie arbeitet längst an neuen HPV-Impfstoffen, die vor noch mehr Virustypen schützen sollen.
Wenn sie in einigen Jahren auf den Markt kommen,
kann Deutschland zeigen, ob es aus dem HPV-Desaster
etwas gelernt hat. 7
65
Gute Frage
Kümmern sich die
Pharmakonzerne wirklich
nicht um Krankheiten
in der Dritten Welt?
Text: Julia Groß
3 Es ist ein Vorwurf, den die Pharmabranche seit Jahrzehnten nicht los wird:
Die überaus gut verdienenden Konzerne wären zu profitgierig, um kranken
Menschen in Entwicklungsländern zu
helfen, die sich Medikamente nicht leisten können.
Ganz abgesehen davon, ob die Anschuldigung stimmt: Sie zeugt vor allem davon, dass Pharmaunternehmen von der
Öffentlichkeit mit anderen Augen gesehen werden als andere Industriezweige.
Keiner verlangt, dass Autohersteller ihre
Fahrzeuge in der Dritten Welt verschenken oder dass Energieversorger umsonst Strom nach Zentralafrika liefern.
Doch mit der Gesundheit anderer Geld
zu verdienen scheint ein Geschäftsmodell zu sein, das mit besonderen moralischen Verpflichtungen verbunden ist.
Ob zu Recht oder nicht, ist ein anderes,
ein philosophisches Problem.
Richtig ist: Die Eingangsfrage lässt
mit einem „doch, sie kümmern sich
durchaus“ beantworten – zumindest
oberflächlich betrachtet. „Kein Pharmakonzern getraut sich mehr so zu erscheinen, als würde er das Thema ignorieren, spätestens seit Corporate Social
Responsibility auch für Investoren eine
wichtige Rolle spielt“, sagt Oliver Moldenhauer, Koordinator der Medikamentenkampagne für Ärzte ohne Grenzen
in Deutschland.
66
Deshalb finden sich auch bei nahezu
jedem Unternehmen entsprechende Projekte: Novartis beispielsweise liefert
vielen Ländern die Malaria-Arznei Coartem zum Selbstkostenpreis, Pfizer
engagiert sich bei der Bekämpfung des
Trachoms, einer häufigen Augeninfektion, Bayer arbeitet an einem Tuberkulose-Mittel, das den Armen der Welt
zugute kommen soll, und stellt der
WHO ein Mittel gegen die Schlafkrankheit zur Verfügung. Die Liste lässt sich
beliebig fortsetzen.
Viel schwieriger zu beantworten
ist die Frage, ob die Pharmakonzerne
genug gegen Krankheiten in der Dritten
Welt tun. Denn was genau ist schon
genug? Und wie will man das messen?
In ihren Jahresberichten gehen nur
wenige Konzerne über Beschreibungen
und eindrucksvolle Fotos von Hilfsprojekten hinaus und nennen auch die investierten Beträge. Und bei denen, die
es tun, sind die Berechnungen kaum
miteinander vergleichbar und teilweise
auch schwer nachvollziehbar.
So beziffert Novartis den Wert seiner Programme, die Zugang zu Medikamenten schaffen sollen, für 2010 auf
eindrucksvolle 1,54 Milliarden Dollar.
Dafür setzen die Schweizer die abgegebenen Produkte aber überwiegend zum
Großhandelspreis an. Die Summe entspräche etwa einem Fünftel des For-
schungsbudgets und weniger als einem
Achtel vom Betriebsergebnis. GlaxoSmithKline nennt 222 Millionen Pfund
als „Global Community Investment“ für
2010. Das ist ein Zwanzigstel der Forschungsaufwendungen und ein Siebzehntel vom Betriebsgewinn. Allerdings
kalkulieren die Briten für Medikamentenspenden (147 Millionen Pfund) nur
mit den reinen Produktionskosten.
Viel Geld – aber tun die Firmen
damit auch das Richtige? Oliver Moldenhauer ist skeptisch: „Oft handelt es
sich bei diesen Programmen um wenig
nachhaltige Einzelrabatte, die vor allem
der Image-Pflege dienen sollen und
weniger auf das eigentliche Interesse der
Patienten zielen“, sagt er.
Grundsätzlich zu unterscheiden
seien zwei Arten des Engagements. Die
eine: neue Medikamente gegen die sogenannten vernachlässigten Krankheiten zu entwickeln. Diese Leiden, wie
etwa Leishmaniose und Chagas oder
die Schlafkrankheit, kommen praktisch
ausschließlich in Entwicklungsländern
vor und betreffen somit vor allem Patienten, die sich keine Medikamente
leisten können. Weil es aus wirtschaftlicher Sicht wenig Sinn macht, ist die
Pharmabranche hier kaum aktiv.
„Mittlerweile beteiligen sich allerdings einige Firmen an sogenannten
Product Development Partnerships wie
der Drugs for Neglected Diseases initiative (DNDi), die als Non-Profit-Organisation die Erforschung und Entwicklung solcher Arzneimittel übernimmt“,
sagt Moldenhauer. „Wobei diese Arbeit
dann häufig von der öffentlichen Hand
finanziert wird.“
Die andere Möglichkeit sich für
Patienten in der Dritten Welt einzusetzen, besteht darin, ihnen den Zugang
zu patentgeschützten Medikamenten zu
ermöglichen. Unternehmen können ihre
Arzneimittel, etwa gegen HIV/Aids,
Malaria oder Tuberkulose, verschenken
oder Generika-Herstellern erlauben, sie
für bestimmte bedürftige Länder billig
herzustellen. In diesem Bereich ist die
Bilanz in der Branche gemischt.
Aus gutem Grund: Arzneimittel zu spenden ist aufwendig. Damit die Medikamente wirken und richtig eingenommen und angewendet werden können,
braucht es geschulte Ärzte, Pfleger und
Apotheker. Zudem ist die Logistik in
schlecht erschlossenen, oft mit Korruption kämpfenden Regionen eine Herausforderung, die nicht jeder stemmen
kann. „Der Vertrieb vieler Generikaunternehmen ist zum Beispiel in Afrika
oft besser organisiert als der von den
Originalherstellern“, weiß Moldenhauer.
Mit der Patentfreigabe für Dritte-WeltLänder zögern dennoch viele Pharmaunternehmen.
Der 2009 in Genf gegründete Medicines Patent Pool der internationalen
Hilfsorganisation UNITAID will Ab hilfe schaffen: Er verhandelt die Abgabe
von Lizenzen mit Pharmafirmen und
gibt sie gebündelt an geeignete Generikahersteller weiter.
„Insgesamt war das Engagement
der Pharmabranche schon viel schlechter“, sagt Jürgen May, Professor für
Infektionsepidemiologie am Hamburger
Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin. Neben dem erwachten CSRBewusstsein dürfte das auch an der
wachsenden Zahl von Public-Private
Partnerships liegen, bei denen Industrie,
internationale Organisationen wie die
Vereinten Nationen, Universitäten,
NGO und Stiftungen wie die Bill &
Melinda Gates Foundation zusammenarbeiten. Der Vorteil: Jeder Partner tut
nur das, was er am besten kann.
Dass all die Bemühungen noch
nicht ausreichen, ist unbestritten. Ebenso klar ist, dass Pharmakonzerne ein
unverzichtbarer Teil der Lösung sind.
Denn akademische Institutionen oder
Produktentwicklungsinitiativen können
zwar viel leisten, bei der Durchführung
klinischer Studien mit Tausenden von
Patienten wird der organisatorische Aufwand für sie aber zu groß. „Eine Medikamentenentwicklung“, sagt Epidemiologe Jürgen May, „ist ab einem gewissen Punkt nicht mehr ohne die Firmen
zu stemmen.“ 7
„Insgesamt war das
Engagement der
Pharmabranche schon
viel schlechter.“
Jürgen May, Epidemiologe
67
Die Zauberformel
Ein neuartiger Pharmawirkstoff ist das eine. Wie aber sorgt man
dafür, dass er am richtigen Organ die richtige Wirkung erzielt?
Wie, dass er vom Markt akzeptiert, von Ärzten verschrieben und
von Patienten zuverlässig eingenommen wird?
Über Fragen wie diese grübeln Galeniker. Michael Ausborn,
oberster Rezepteur beim Pharmariesen Hoffmann-La Roche, ist
einer von ihnen.
Text: Harald Willenbrock Fotos: Anne Morgenstern
68
3
Wer den Biochemiker Michael Ausborn sprechen will, wer also im vierten
Stock des nagelneuen, schneeweißen „Bau 97“, das die Stararchitekten Herzog &
de Meuron mitten in den Baseler Roche-Komplex gesetzt haben, aus dem Fahrstuhl tritt, stößt im Vorzimmer auf ein Kuriosum. Unter der Plexiglashaube einer
Ausstellungsvitrine ruht dort ein tiefroter, massiver Backstein mit leicht abgebröselten Ecken. Ein Schild klärt den Besucher überflüssigerweise darüber auf, dass
es sich hier um eine Materie von hohem Schmelzpunkt und geringer Löslichkeit
handelt. Das Schild darüber fordert den Betrachter auf: „Formulate this!“ („Verwandeln Sie dies in eine Rezeptur!“), was ebenfalls ironisch zu verstehen sein dürfte. Denn dass man diesen Brocken nicht knacken kann, sieht jeder.
Und doch ist genau das der Job von Michael Ausborn. Der schlaksige Deutsche, der in Schwerin aufwuchs und in Halle Pharmazie studierte, wechselte nach
ein paar Jahren bei Sandoz und Novartis 2005 zum Pharmakonzern Roche, dem
Weltmarktführer bei krebstherapeutischen Medikamenten. Visitenkarten habe er
leider keine zur Hand, entschuldigt sich der 49-Jährige, als er dem Besucher aus
seinem hellen Büro entgegenkommt, den letzten Schwung Karten habe er gerade
bei einer Tagung im indischen Ahmedabad verteilt.
Als oberster Galeniker im Haus muss Ausborn häufig irgendwo in der Welt
präsentieren, diskutieren und referieren. Geschäftssprache ist Englisch, auch deshalb wimmelt es in seinem Redefluss von Anglizismen wie von Leukozyten in
einer Blutbahn: „exposure“, „pill burden“, „druggability“, „area under the curve“.
Letzteres übersetzt Ausborn geduldig als die Konzentration eines Pharmakons im
Blut, also die Schlagkraft, die ein Wirkstoff letztlich im Körper eines Kranken entfalte. Die wiederum hänge nicht zuletzt von der Form ab, in der man ihn schluckt,
spritzt oder per Infusion verabreicht. „Selbst zwei Tabletten mit derselben Wirkstoffmenge, aber unterschiedlichen Hilfsstoffen, können unterschiedliche Wirkstoffkonzentrationen im Blutplasma erzeugen.“
Damit ein Wirkstoff nicht wirkungslos verpufft oder in Folge von Konzentrationsspitzen zu Nebenwirkungen führt, braucht es die richtige „Darreichungsform“. Diese Zauberformel suchen Galeniker, der Berufsstand, der die Lehre von
der Zubereitung der Arzneimittel beherrscht und seinen Namen dem nach Hippokrates berühmtesten Arzt der Antike verdankt: Galenus. Im Grunde tun Galeniker nichts anderes, als Backsteine in Medikamente zu verwandeln.
Die Backsteine, mit denen es Michael Ausborn zu tun hat, sind Proteine, Antikörper und chemisch synthetisierte Moleküle, die seine Kollegen aus den Forschungsabteilungen als medizinische Wirkstoffe identifiziert haben. Das bedeutet:
In jeder dieser Substanzen kann theoretisch ein schlagkräftiges Krebsmittel oder
Rheumamittel, ein Segen für Kranke und ein Blockbuster für Ausborns Arbeitgeber stecken — vorausgesetzt, man bringt den Wirkstoff in der richtigen Dosis und
zum richtigen Zeitpunkt an die richtige Stelle im Patientenkörper.
„Auf den ersten Blick“, sagt Ausborn und schiebt einen Stapel Studien auf
seinem Schreibtisch beiseite, deren Titel so kompliziert klingen, als erfordere ihr
Verständnis mindestens ein Pharmazie-Studium, „wirkt das wie eine triviale Aufgabe. Der Patient schluckt eine Pille oder bekommt eine Spritze, and that’s it. In
Wirklichkeit aber müssen wir, damit ein Wirkstoff den gewünschten Effekt erzielt,
viele Hürden überwinden. Nehmen Sie nur einmal die naheliegendste: die Zeit.“
Zeit ist für einen Menschen, der etwa an Migräne leidet, ein enorm kritischer
Faktor. Ein Schmerzmittel muss sich daher schnell im Magen auflösen und sofort
wirken. „Ideal ist ein Anfluten des Wirkstoffs binnen weniger Minuten“, erklärt
Ausborn und greift zu zwei Röntgenbildern eines menschlichen Körpers, die
einen weiteren Aspekt des Problems Zeit illustrieren. Auf einem Bild sind eine
Vielzahl von Krebsmetastasen in Form dunkler Flecken zu erkennen, die den
Michael Ausborn hat einen Beruf, den kaum
einer kennt, aber jeder braucht, der krank
wird: Der Galeniker entwickelt die perfekte
Darreichungsform für Medikamente.
69
„Wir versuchen, die
Darreichungsform so
simpel und zuverlässig
wie irgend möglich
anzulegen.“
Michael Ausborn
Patientenkörper durchsetzen wie Stockflecken ein Stück Stoff, das lange Feuchtigkeit ausgesetzt war. „Hier sehen Sie, dass unser Krebsmittel vom Patienten nicht
ausreichend aufgenommen wurde. Aufgrund seiner schlechten Löslichkeit hat es
sich während der Magen-Darm-Passage nicht schnell genug zersetzt.“
Ausborn und seine Kollegen verlegten sich daher auf einen Trick und versetzten den Wirkstoff in eine amorphe, höchst instabile Form, die bei Berührung
mit Flüssigkeit zerfällt wie Zucker in heißem Wasser. Sein zweites Bild zeigt eine
Aufnahme desselben Patienten, 15 Tage nachdem er erstmals die neue Wirkstoffformel geschluckt hatte: Die dunklen Flecken sind fast vollständig verschwunden.
Galenik, so lernt man, ist auch ein Wettlauf gegen die Zeit, und dabei gibt
es zahllose Varianten. Bei Schlaftabletten beispielsweise ist es genau umgekehrt
wie bei Kopfschmerzmitteln: Hier kommt es weniger auf ein schnelles Einsetzen
als vielmehr auf das zuverlässige Abklingen der Wirkung an, damit Patienten nach
dem Aufstehen nicht noch stundenlang müde sind. Bei Cholesterinsenkern oder
Antikörpern in der Krebstherapie hingegen ist weder eine besonders schnelle noch
exakt limitierte, sondern eine möglichst lang anhaltende Wirkung erwünscht.
Natürlich könnte man dafür einfach die Wirkstoffkonzentration pro Tablette
erhöhen, was jedoch zu hohen Konzentrationen im Blut und damit zu unerwünschten Nebenwirkungen führen würde. Der Trick besteht im „Modified Release“,
also in Verzögerungsformeln, dank derer sich die Wirkung erst mit Zeitverzögerung entfaltet. Manchen dieser Retard-Tabletten werden dafür per Laser Löcher
eingeschossen. Sobald die Tablette im Magen angekommen und der äußere
Tablettenfilm vom Magensaft zersetzt worden ist, dringt durch die Löcher Flüssigkeit in die Tablette ein und bringt dort eine gelartige Matrix zum Quellen. Hat
die Matrix ein bestimmtes Volumen erreicht, drückt sie nach und nach den Wirkstoff in exakt berechneten Intervallen aus der Tablette – eine Art Dosierung mit
Nachbrenner-Effekt.
Manchmal machen sich Galeniker auch das Prinzip Zeitbombe zunutze. Dabei werden Gelatinekapseln mit Pellets oder Tabletten unterschiedlicher Zusammensetzung bestückt, die ihre Wirkstoffe zeitversetzt freigeben. Auf diese Weise
hat ein Patient, der morgens eine einzige Pille schluckt, über 24 Stunden hinweg
einen konstanten Wirkspiegel im Blut – die ideale „area under the curve“.
Eine Tablette pro Tag – für Ausborn ist das die ideale, weil einfachste Darreichungsform. „Grundsätzlich gilt: Wir müssen immer versuchen, die Darreichungsform so simpel und zuverlässig wie irgend möglich anzulegen.“ Älteren oder
dementen Patienten fällt es zum Beispiel oft besonders schwer, sich komplexe Einnahmeschemata zu merken. Überhaupt, die alternde Bevölkerung: Für Roche sei
sie ein Riesenthema.
Das ist sie übrigens auch für Ausborn selbst. „Meine Eltern sind in einem
Alter, in dem sie nicht nur eine, sondern gleich mehrere Tabletten pro Tag schlucken müssen. Das ist gar nicht so einfach, schließlich darf man die Medikamentengaben weder vergessen noch verwechseln. Viele ältere Menschen haben außerdem Schluckbeschwerden, was die Einnahme verkompliziert. Und fast alle trinken
zu wenig, wenn man bedenkt, dass pro Pille 200 bis 250 Milliliter Flüssigkeit zur
Einnahme empfohlen werden.“
Die wichtigste Regel jedoch gilt für ältere wie für junge Patienten gleichermaßen: Arzneimittel nimmt niemand gern. „Eigentlich will ja niemand darüber
nachdenken, dass er krank ist. Das tut er aber zwangsläufig jedes Mal, wenn er
zur Medikamentenpackung greifen oder sogar ins Krankenhaus fahren muss, um
70
brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl
Prinzip Zeitbombe
71
Pille entscheidet
über den Erfolg eines
Präparats mit:
Schlafmittel sind blau,
Magenmittel grün.
72
sich ein Mittel per Infusion verabreichen zu lassen. Obwohl sie Leben retten oder
zumindest verlängern können, werden Medikamente nicht gerne genommen.“
Mangelnde „Compliance“, also die Nichtbefolgung der ärztlichen Einnahmevorgaben, ist daher ein weitverbreitetes Problem. Nicht selten justieren Patienten
eigenmächtig ihre Dosis oder setzen das Medikament ganz ab, sobald es ihnen
ein bisschen besser geht – ein klassischer Fehler bei Antibiotika und eine Ursache
für viele Resistenzen, die Bakterienstämme mittlerweile entwickelt haben. Aufgabe
der Pharmazeuten sei es, sagt Ausborn, dafür zu sorgen, dass Präparate trotzdem
genommen werden und – noch wichtiger – überhaupt genommen werden können. Für Parkinsonkranke beispielsweise kann eine verschweißte Pillenpackung ein
unüberwindliches Hindernis darstellen. Rheumapatienten mit arthritischen Fingern
wiederum wäre mit Infusionslösungen, die sie selbst aufziehen und spritzen müssen, wenig geholfen. Für andere Patienten hingegen bedeutet gerade das eigenhändige Spritzen eine enorme Erleichterung, wie das Beispiel Herceptin zeigt.
Herceptin ist der Markenname eines Roche-Krebsmedikaments, das bei Brustkrebs die Ausbreitung von Tumorzellen hemmt. Bislang mussten Patientinnen sich
zur Herceptin-Therapie alle drei Wochen ins Krankenhaus begeben, wo ihnen das
Präparat mit einer 30- bis 60-minütigen Infusion ins Blut gepumpt wurde. „Niemand aber geht gerne ins Krankenhaus, vor allem nicht, wenn man sich eigentlich längst wieder gesund fühlt“, sagt Ausborn. „Wir haben uns deshalb gefragt:
Gibt es nicht eine Möglichkeit, den Wirkstoff subkutan zu injizieren?“
Heute gibt es diese Möglichkeit, sie heißt „Single Injection Device (SID)“ und
ist ein iPod-großer Kasten aus grauem Plastik, der gerade in den Roche-Labors
erprobt wird. Herzstück des SID ist eine miniaturisierte Spritze, die an eine
Dosierungseinheit für Herceptin gekoppelt ist. Zusammen mit einem speziellen
Enzym, das die Injektion vereinfacht, soll sich der Wirkstoff künftig mit diesem
unscheinbaren Kasten binnen fünf Minuten von jedem Hausarzt spritzen lassen.
„Auf diese Weise ersparen wir den Patientinnen viel Zeit – und dem Gesundheitssystem hohe Krankenhauskosten.“
Kosteneffizienz ist in Zeiten ausgelaugter Gesundheitssysteme ein kritischer
Faktor für jedes neue Medikament. Für Ausborn und seine Kollegen kommt es
daher auch darauf an, ihre Rezepturen von Anfang an so zu formulieren, dass sie
zu vertretbaren Kosten hergestellt und angeboten werden können. Denn „druggable“, also markttauglich, ist ein Wirkstoff erst, wenn er nicht nur von Patienten,
sondern auch von Krankenkassen, Zulassungskommissionen und der Ärzteschaft
geschluckt wird. „Erst die Rezeptur entscheidet darüber, ob aus einem großartigen Molekül ein großartiges Medikament werden kann“, sagt Michael Ausborn.
Dazu muss es allerdings auch erst einmal gekauft werden.
Rezeptfreie Arzneimittel, die Patienten selber bezahlen müssen, sollten daher
neben ihrer medizinischen noch eine ganz andere Wirkung entfalten: Anziehungskraft. Nicht wenige werden deshalb extra so designt, dass sie die Aura einer echten Marke verströmen. Viagra-Pillen etwa sind unverkennbar blau gehalten, SpaltKopfschmerztabletten ähneln nicht zufällig einem Knauf, mit dem sich der Schmerz
vermeintlich abschalten lässt. Eine Pille gegen die Knochenkrankheit Osteoporose
hat der US-Pharmakonzern Merck & Co. in Knochenform gepresst. Und wer den
Klassiker Aspirin schluckt, schluckt immer auch ein Bayer-Kreuz: Erfolgreicher als
der deutsche Pharmariese hat vermutlich kaum jemand je ein Medikament in eine
Marke verwandelt.
Dabei kann selbst die Farbe einer Pille mit über den Erfolg eines Präparats
entscheiden. So werden Schlafmittel typischerweise in Blau, Magenpillen in Grün,
starke Schmerzmittel in Rot und Antibabypillen in Lavendel oder Rosa eingefärbt
– die Patienten trauen ihnen einfach mehr zu als anderen Pillen. „Die Farben allein
haben für sich genommen schon einen gewissen Effekt auf die Wirkung, den
sogenannten Placebo-Effekt“, erklärt ein Sprecher des Pharmakonzerns Schering
(heute Bayer HealthCare Pharmaceuticals). Wissenschaftlich belegt ist dieser Effekt beispielsweise für Schlaftabletten in blauer Tönung: So schliefen Probanden
nach der Einnahme einer blauen Tablette deutlich länger als Versuchspersonen,
die denselben Wirkstoff in andersfarbigen Rezepturen geschluckt hatten.
Mikrochips unter der Haut
brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl
Selbst die Farbe der
Ob ein Medikament von den Patienten akzeptiert wird, ist nicht zuletzt auch eine
Frage der Kultur. In Europa beispielsweise hilft man kranken Kleinkindern mit fiebersenkenden Zäpfchen. In den USA hingegen würde keine Mutter je auf die Idee
kommen, ihrem Kind ein Medikament rektal zu verabreichen. „Das ist kulturell
einfach nicht zu vermitteln“, weiß Michael Ausborn. Für den amerikanischen
Markt haben Pharmazeuten deshalb Pellets entwickelt, die sich wie Schokostreusel über Joghurt streuen oder in Limonade auflösen lassen. Grundsätzlich bevorzugen US-Amerikaner eher bunte Pillen, die schon rein äußerlich einen Wirkmix
suggerieren, während Japaner tendenziell pur-weißen Präparaten vertrauen. Für
Länder mit muslimischer Bevölkerung wiederum gilt es zu bedenken, dass die Kapseln keine Schweinegelatine enthalten. Damit Konzerne wie Roche den Weltmarkt
beliefern können, müssen ihre Produkte außerdem auch ein paar Tage bei 40 Grad
Celsius und hoher Luftfeuchtigkeit überstehen, die sie mitunter auf irgendeinem
tropischen Rollfeld auf ihren Weitertransport warten. Danach müssen sie ihre
Wirksamkeit auch noch rund drei Jahre im Regal eines Apothekers erhalten – auf
diesen Zeitraum ist das „shelf life“ der meisten Medikamente ausgelegt.
„Die Vielfalt der Formulierungen“, sagt Ausborn, „ist fast so groß wie die
Zahl der neuartigen Ansätze, die wir verfolgen.“ So gibt es heute für Tumorpatienten Schmerzmittel in Lutscherform, die bei akuten Schmerzattacken über
die Mundschleimhaut schneller aufgenommen werden als Tabletten. Ein anderes
Konzept besteht darin, Medikamente über Nasensprays zu verabreichen und auf
diese Weise den Umweg über Magen und Darm zu sparen. Wirkstoffe wiederum,
die über längere Zeit und in geringen Dosen aufgenommen werden sollen, können häufig einfach per Pflaster aufgetragen werden.
Ein paar Millimeter tiefer, nämlich unter die Haut, wollen die Forscher eines
amerikanischen Start-ups gehen, mit denen Michael Ausborn vor einiger Zeit
kooperierte. Ihre Idee: Wirkstoffe auf Mikrochips zu speichern und unter die Haut
zu transplantieren. Auf diesen Mikrochips lassen sich nämlich gleichzeitig auch
individuelle Programme einspeichern, die den Wirkstoff je nach Patientenprofil
Tag für Tag in individuellen Dosen herausschießen. Damit wären Probleme wegen
Überdosierung oder vergessener Tabletten ausgeschlossen, und bei Laborratten hat
die Medizin, die unter die Haut geht, schon funktioniert. Von der Anwendung beim
Menschen sind die Forscher allerdings noch weit entfernt. Selbst eine Mini-Dosis
von nur zehn Milligramm pro Tag würde sich bei längerem Einsatz auf ein Wirkstoffdepot von durchaus spürbaren 300 Milligramm Gewicht pro Monat summieren. Außerdem müsste ein solcher Chip ja nicht nur eingesetzt, sondern auch chirurgisch wieder entfernt werden. „Damit diese Technik Zukunft hat, brauchen wir
hoch potenzierte Wirkstoffe und biologisch abbaubare Mikrochips, die sich nach
Gebrauch im Körper von selbst zersetzen“, sagt Ausborn, und es ist ihm anzusehen, dass ihn die Möglichkeiten der Zukunft faszinieren.
Vorher gilt es für ihn allerdings noch eine andere Aufgabe zu lösen: „bioverfügbare Proteine“, sie sind seine größte Herausforderung. Dahinter verbirgt sich
das Ziel, Proteine in Pillen zu packen, was überraschend profan klingt, schließlich
Schuhe in der Schleuse: vor dem Reinraum
beim Pharmakonzern Hoffmann-La Roche
73
Das Gesundheitswesen in Zahlen
Arzneimittel
apothekenpflichtig
frei
verkäuflich
Jahr vor Christus, in dem die bisher älteste gefundene Arznei-Rezeptesammlung vermutlich erstellt wurde:
Jahrhundert nach Christus, in dem Stätten der professionellen Arzneimittelzubereitung aufkamen:
Jahr, in dem der Beruf des Arztes und der des Arzneimittelherstellers erstmals juristisch unterschieden wurden:
Pro-Kopf-Ausgaben inklusive Mehrwertsteuer für Arzneimittel in Deutschland im Jahr 1999, in Euro:
Pro-Kopf-Ausgaben inklusive Mehrwertsteuer für Arzneimittel in Deutschland im Jahr 2010, in Euro:
3000
9
1241
339
525
Hier erforschen und entwickeln die Biochemiker ihre Rezepturen. In diesem Raum werden
speziell Pulver analysiert.
Die derzeit größte
Herausforderung:
eine Proteinpille. An
dieser Aufgabe sind
bisher noch alle
Galeniker gescheitert.
74
schluckt jeder von uns jeden Tag Proteine in Form von Nüssen, Fleisch, Milchprodukten oder Fisch. Für einen Galeniker jedoch, sinniert Ausborn, seien Proteine
in Tablettenform „so etwas wie der Heilige Gral“.
Aufgrund ihrer Größe und Oberfläche kann der menschliche Verdauungstrakt
Proteine nämlich nicht absorbieren. Magen und Darm sitzen deshalb voller hochwirksamer Enzyme, die Proteine in ihre kleinsten Bestandteile zerlegen. Dasselbe
würden sie auch mit Insulin anstellen, das als Peptid zur Familie der Proteine
gehört und dabei seine Wirksamkeit verlöre. Für eine Proteinpille müsste also eine
widerstandsfähige Darreichungsform gefunden werden, die zunächst den Enzymangriff schadlos übersteht, um danach irgendwie durch die Darmwand in den
Blutkreislauf zu gelangen und dort noch ihre Wirkung zu entfalten.
Die Aufgabe ist so vertrackt, dass bisher alle Galeniker an ihr gescheitert sind.
Michael Ausborn aber hält es durchaus für denkbar, dass der Geniestreich noch
während seiner aktiven Berufszeit glücken könnte, was eine enorme Erleichterung
für Millionen Patienten in aller Welt wäre. Zuckerkranke könnten ihr Insulin künftig einfach schlucken, statt es sich täglich selbst spritzen zu müssen. Kinder, denen
der Arzt Wachstumshormone spritzt, könnten sie in Pillenform nehmen, auch
Osteoporosepatienten bliebe der regelmäßige Gang zum Arzt erspart. Überflüssig zu erwähnen, dass in diesem Durchbruch nicht nur eine medizinische Sensation, sondern auch ein potenzielles Milliardengeschäft steckt.
Man könnte auch sagen: Proteine in Pillenform sind der größte derzeit bekannte Backstein. 7
Zahl der veröffentlichten Patentanmeldungen und -erteilungen zu Arzneimitteln in Deutschland
durch deutsche Anmelder im Jahr 2007:
Zahl der veröffentlichten Patentanmeldungen und -erteilungen zu Arzneimitteln in Deutschland
durch deutsche Anmelder im Jahr 2010:
Durchschnittliche Dauer von der Entwicklung bis zur Zulassung eines Medikaments, in Jahren:
Maximale Patentlaufzeit, die einem pharmazeutischen Hersteller für ein neu entwickeltes Medikament
in Deutschland gewährt wird, in Jahren:
Maximale Zahl der Jahre, die sich an den Grundpatentschutz eines Arzneimittels durch die Erteilung
eines ergänzenden Schutzzertifikats anschließen können:
Preis des Rheumamittels Humira in Deutschland im Juni 2010, in Euro pro Verpackungseinheit:
Preis des Rheumamittels Humira in Schweden im Juni 2010, in Euro pro Verpackungseinheit:
Betrag, den der Humira-Hersteller nach Abzug von Handelsanteil, Steuer und Rabatten im Juni 2010
in Schweden erhält, in Euro:
Betrag, den der Humira-Hersteller nach Abzug von Handelsanteil, Steuer und Rabatten im Juni 2010
in Deutschland erhält, in Euro:
Aufschlag, den deutsche Kassen für dieses Arzneimittel im Vergleich zu Schweden zahlen, in Prozent:
Durchschnittlicher Aufschlag, den deutsche Kassen im Jahr 2010 im Vergleich zu Schweden zahlen
(errechnet für die 50 umsatzstärksten Arzneimittel), in Prozent:
Mehrwertsteuersatz
Mehrwertsteuersatz
Mehrwertsteuersatz
Mehrwertsteuersatz
in Deutschland, in Prozent:
in Schweden, in Prozent:
auf verschreibungspflichtige Arzneimittel in Deutschland, in Prozent:
auf verschreibungspflichtige Arzneimittel in Schweden, in Prozent:
1956
1214
12
20
5
1919
1149
1109,6
1293,4
16,5
4,5
19
25
19
0
75
Der Glücksfall
Es ist der Stoff, ohne den sich Forscherideen nicht in Arzneien verwandeln:
„Venture Capital“ wird es im Pokerspieler-Land USA genannt.
„Risikokapital“ schimpft es sich im zaudernden Sparkassen-Deutschland.
Entsprechend rar ist solches Geld in Deutschland. Und vielen BiotechFirmen hierzulande wäre längst die Luft ausgegangen, wenn es nicht wagemutige Unternehmer wie den SAP-Gründer Dietmar Hopp gäbe. In den
vergangenen sieben Jahren hat der Multimilliardär rund 800 Millionen
Euro in 17 Biotech-Unternehmen investiert. Ein Glücksfall für die Branche,
der allerdings auch verschleiert, dass viele teuer erforschte Ideen in
Deutschland nicht zu Medikamenten werden können, weil Kapital und
Strukturen flächendeckend fehlen.
Woran das liegt und was es langfristig für die Branche und den Standort
bedeutet, diskutieren prominente Vertreter der deutschen BiotechIndustrie: Diplom-Ingenieur Dietmar Hopp, Biotech-Experte Friedrich von
Bohlen und Halbach und Rechtsanwalt Christof Hettich.
Interview: Sascha Karberg Fotos: Hartmut Naegele
Christof Hettich, Dietmar Hopp und
Friedrich von Bohlen und Halbach (v.l.n.r.)
76
77
3 Herr Hopp, von anfangs hundert Medikamentenkandidaten in der klinischen Phase I wird in der Regel nur eines
zugelassen. Pro neuartigem Wirkstoff fallen – je nach Schätzung – Kosten von wenigen Hundert Millionen bis mehr als
eine Milliarde Dollar an. Gleichzeitig drückt die Politik auf
die Arzneimittelpreise, und Blockbuster-Medikamente, die
jährlich Milliarden einspielen, werden immer seltener. Warum
investieren Sie ausgerechnet in eine so riskante Branche?
Hopp: Wenn mir vor sieben Jahren jemand gesagt hätte, dass
nur jeder hundertste Wirkstoffkandidat eine Chance hat, ins
Ziel zu kommen, wäre ich vermutlich abgeschreckt worden.
Aber ich bin nicht so pessimistisch gewesen, weil ich Experten an meiner Seite habe, die aus den vielen Möglichkeiten
hoffentlich die richtigen ausgewählt haben. Wir investieren
zurzeit in 15 Firmen, und wenn wir zwei bis vier davon zum
Erfolg führen können, dann bekomme ich wahrscheinlich
mein Geld wieder, vielleicht sogar ein bisschen mehr. Aber
darüber hinaus habe ich wertvolle Arbeitsplätze in Deutschland und in der Schweiz geschaffen – und vielleicht auch
bessere Medikamente zur Verfügung gestellt.
„In Deutschland hat sich
die Eichhörnchenmethode
entwickelt.“ Dietmar Hopp
Sie sind 2004 in die Branche eingestiegen, also lange nachdem viele Investoren mit dem Platzen der Biotech-Blase 2001
hatten lernen müssen, dass mit Medikamentenentwicklung
kein schnelles Geld zu verdienen ist. Hat Sie das nicht auch
abgeschreckt?
Hopp: Die Zeit, in der die pure Idee eines Forschers an der
Börse einen Wert hatte, war in der Tat schon vorbei. Es war
Ernüchterung eingetreten. Und die Biotech-Unternehmer, die
damals Geld brauchten, waren realistisch.
Ich bin aber auch neugierig. Herrn Bohlen habe ich vor zehn
Jahren auf einer Geburtstagsfeier kennengelernt, wo wir beide Vorträge gehalten haben. Bei mir ging es um die Zukunft
der Software, das Fernsteuern des Kühlschranks vom Handy
aus, er hat über die Zukunft der Medizin, über personali sierte Medizin gesprochen. Das hat mich begeistert, und so
sind wir ins Gespräch gekommen.
Aus Ihrer Begegnung entstand die dievini Beteiligungsgesellschaft. Alle Unternehmen, in die dievini investiert, sind in
einer 30 Jahre alten Branche, der es bislang nur ein einziges
Mal gelungen ist, aus einer Idee eines deutschen Forschers
ein Medikament auf den Markt zu bringen. Das ist mutig.
78
Bohlen: Dass deutsche Biotech-Unternehmen bislang kaum
Erfolge vorweisen konnten, hat zwei Ursachen. Zum Teil
fehlt es an Kapital. Vor allem aber mangelt es am Verständnis. Die Entwicklung von Medikamenten wurde hierzulande
bisher viel zu sehr auf schnelle Erfolge hin geplant. Wer eine
Medikamentenentwicklung beginnt, muss gewisse Laufzeiten, Studiengrößen, Regulierungen und insbesondere einen
entsprechenden Kostenrahmen akzeptieren. Wenn ich die
Geduld und das Geld nicht habe, ist es weiser, gar nicht erst
anzufangen, als mit wenigen Mitteln zu starten und dann zu
hoffen, dass es schon irgendwie gut gehen wird.
In der Arzneimittelentwicklung geht es eben nicht irgendwie
gut. Wir müssen es gut werden lassen. Das dauert, das kostet, und beides mussten wir in Deutschland erst mühsam
lernen. Die Erwartung schneller Resultate, die Fehleinschätzungen der Möglichkeiten und das vielfache Scheitern, das
in der Natur der Sache liegt, haben den Optimismus von
Investoren zusätzlich gedämpft – und dann die ganze Biotech-Branche in eine Negativ-Spirale geführt.
Trotzdem birgt das Geschäft enorme Chancen: Der Antikörper Avastin, den die US-Biotech-Firma Genentech (heute ein
Teil des Roche-Konzerns) entwickelt hat, spielte 2010 mehr
als sechseinhalb Milliarden Dollar Umsatz ein. Und Geld für
Investitionen hätten wir hierzulande doch genug. Weshalb
also scheuen wir das Risiko?
Hopp: Zweimal wurde Deutschland arg gebeutelt: durch
Inflation und totale Geldentwertung. Da hat sich, anders als
in den USA, wo es Vergleichbares so noch nicht gab, eine
andere Mentalität entwickelt – die Eichhörnchenmethode.
Der Deutsche vergräbt sein Geld lieber an sicherer Stelle für
Notzeiten, als es riskant, aber gewinnträchtig zu investieren?
Hopp: Genau. Wobei man fairerweise sagen muss, dass es in
Relation zu den USA hierzulande auch nicht so viele reiche
Menschen gibt, die genug Geld übrig haben, um in derart
risikoreiche Unternehmungen zu investieren. Daneben ist es
in den Vereinigten Staaten ganz normal, in die Selbstständigkeit zu gehen. Bei uns muss man sich diesen Schritt reiflich
überlegen, weil Scheitern ein gesellschaftlicher Makel ist.
Für die Branche ist das schwierig. Kultur und Mentalität sorgen dafür, dass immer weniger in die Medikamentenentwicklung investiert wird, was deren Erfolgsaussichten weiter
schmälert. Ein Teufelskreis, den sich fremde Kapitalgeber zunutze machen: Zwei Drittel des Risikokapitals deutscher Biotech-Firmen stammen mittlerweile schon aus dem Ausland.
Hettich: Auf Dauer ist das fatal, aber es stimmt schon: In
Deutschland betreibt man eher Risikovermeidung – und für
Bohlen: Unsere Investitionen haben klare Meilensteine. Mitte dieses Jahres erwarten wir zum Beispiel die Ergebnisse
einer Phase-III-Studie der Agennix AG, und Ende des Jahres
wird die Wilex AG Phase-III-Daten präsentieren. Wenn diese
Ergebnisse positiv sind, dann besteht allein darin ein Wert,
der sich über Partnerschaften mit großen Pharmafirmen auszahlen kann.
Dann ginge ein Pharmakonzern beispielsweise mit der
Hopp’schen Biotechfirma Agennix für eine Summe X eine
Partnerschaft ein, um das Lungenkrebsmedikament Talactoferrin vermarkten zu können?
Dietmar Hopp (71) stammt aus Hoffenheim, hat Nachrichtentechnik
studiert und war Mitgründer der SAP AG. Neben seinen derzeitigen
Investment-Tätigkeiten hat er eine Stiftung ins Leben gerufen und
engagiert sich auch sportlich stark: Er ist Mäzen der TSG Hoffenheim.
Risikobereitschaft wird man bestraft. Das betrifft den Finanzmarkt genauso wie die staatlichen Fördermaßnahmen und die
öffentliche Meinung. Deshalb funktioniert die Medizintechnik in unserem Land auch recht gut: Sie ist zwar nicht so
innovativ und lukrativ, dafür aber weniger riskant.
Aber Medikamentenentwicklung ist nun einmal ausgesprochen schwer planbar. In Ländern wie den USA ist die Bereitschaft, ein höheres Risiko für einen höheren Ertrag einzugehen, einfach größer. Es ist ja bezeichnend, dass mehr als die
Hälfte aller Biotech-Investitionen im Jahr 2010 in Deutschland von Unternehmerpersönlichkeiten wie Herrn Hopp oder
den Hexal-Gründern Andreas und Thomas Strüngmann
stammen.
Totale Abhängigkeit von zwei, drei risikobereiten Gönnern
– das kann doch wohl kein Konzept für eine nachhaltige
Medikamentenentwicklung in Deutschland sein?
Hopp: Die Hoffnung ist, dass der Investitionstopf sich wieder füllt für Re-Investitionen, sodass ein Mittelkreislauf entsteht, der letztlich der gesamten deutschen Biotech zugute
kommt. Aber wenn aus 15 Investments null herauskommen
sollte, dann ist tatsächlich Ende der Fahnenstange.
Haben Sie den Zeitpunkt für dieses Ende schon definiert?
Hopp: Nein, aber auch meine Mittel haben natürlich Grenzen, und die gehen nicht wesentlich über die bis jetzt aufgewendeten 800 Millionen hinaus.
Bohlen: Das wäre eine Möglichkeit. Wir müssen einen Medikamentenkandidaten ja nicht allein auf den Markt bringen,
sondern nur so weit entwickeln, bis Pharmafirmen wie Bayer, Novartis oder Pfizer Interesse zeigen, uns ein Projekt zu
einem vernünftigen Preis abzukaufen. Unser Ziel ist es nicht,
eigenständige Pharmafirmen aufzubauen. Wir wollen vielversprechende Ideen bis zur Produktreife entwickeln. Und das
benötigt einen bestimmten Zeithorizont.
Wenn eine Medikamentenentwicklung 10 bis 15 Jahre dauert, dann haben wir jetzt mit sieben Jahren Halbzeit. Und wir
gehen davon aus, in den nächsten ein, zwei Jahren jene Erfolge zu erzielen, mit denen sich das Portfolio wieder auffüllen lässt. Dann hätten wir ein perpetuierendes Modell, das
zwar nicht die ganze deutsche Biotech wird tragen können.
Aber es macht vielleicht anderen Investoren neuen Mut, wieder in die Medikamentenentwicklung einzusteigen.
Um mit anderen Nationen mithalten zu können, brauchen
wir allerdings eine ganz gehörige Portion Mut. In den USA
haben Venture-Capital-Gesellschaften im vergangenen Jahr
4,7 Milliarden Dollar in Biotech-Unternehmen investiert. In
Deutschland flossen im Jahr 2011 nur knapp 150 Millionen
Euro. Sieht ganz so aus, als passten deutsches Risikokapital,
kurzfristige Renditeerwartungen und langwierige Medikamentenentwicklung einfach nicht zusammen.
Hopp: Wäre ich vor sieben Jahren Manager eines VC-Fonds
gewesen und hätte mich rechtfertigen müssen, dann hätte ich
wohl auch nicht in Biotech investiert. Risikokapitalgeber
machen den Fehler, dass sie die Horizonte zu eng wählen.
Nur fünf Jahre bis zur Rentabilität zu veranschlagen ist für
Biotech-Investitionen einfach zu kurz. Wer das Thema wirklich ernst nimmt, muss andere Laufzeiten ansetzen.
Bohlen: Ein Medikament gegen eine bestimmte Krankheit zu
entwickeln dauert eine bestimmte Zeit und hat einen ganz
bestimmten, unverhandelbaren Preis. Dasselbe Ziel mit nur
der Hälfte des Geldes erreichen zu wollen – das ist, als schickte man ein halb voll getanktes Flugzeug über den Atlantik.
79
Herr Hopp versteht das, obwohl er nicht aus der Branche
kommt. Aber der Investmentmanager eines Risikokapitalfonds hat nun mal seine Investoren im Hintergrund, die
jeden Tag anrufen und fragen, wo ihr Geld bleibt. In so einer
Situation ist es natürlich schwierig, noch einmal eine Million
zuzuschießen, um eine Studie abschließen zu können. Unsere
Aufstellung ist schon ein großes Privileg. Das muss aber trotzdem nicht heißen, dass Risikokapital und Medikamentenentwicklung nicht zusammenpassen. Die VC-Fonds müssen
sich verändern.
Bohlen: Es kommt noch ein Problem hinzu. Früher gab es
ein ungeschriebenes Gesetz: Die guten Ergebnisse einer Phase-II-Studie bedeuteten, dass das Projekt im Grunde sicher
an ein Pharmaunternehmen verkauft war. Heute bekundet ein
Unternehmen zwar noch Interesse, wartet aber lieber die
Phase III ab, bevor es investiert. Und darauf sind VC-Gesellschaften nun überhaupt nicht vorbereitet. Denn die Phase III
kostet ja rund das Doppelte von all dem, was die Medikamentenentwicklung bis dahin schon gekostet hat. Das hebelt
das klassische VC-Modell endgültig aus.
Hettich: Ein Beispiel aus unserem Portfolio: Die Phase-IIIStudie des Lungenkrebsmedikaments der Agennix AG dauert drei Jahre, von der Vorbereitung der Studie, über die Laufzeit bis zur Nachbearbeitung. Eher sogar etwas mehr, bis die
Früchte der Arbeit geerntet werden können. Und das ist nur
die Phase III.
Auch die gesamte Entwicklung von der Präklinik über Phase I und II hat mehr als fünf Jahre gedauert. Wie soll das funktionieren mit einer VC-Fonds-Laufzeit von insgesamt nur
fünf Jahren? Soll man dann mitten in einer solchen Studie
aussteigen? Zu einem Zeitpunkt, an dem man nur halbe oder
noch gar keine Ergebnisse hat?
Aber wie kann es sein, dass Pharmafirmen nicht mehr kaufen wollen, was sich in Phase II, also der ersten Wirksamkeitsprüfung, bewährt hat? Die Firmen suchen doch eigentlich
händeringend nach neuen Wirkstoffen.
Die Fragen stellen sich anderswo doch auch. Sind die Wagniskapitalgeber in den USA denn geduldiger?
Bohlen: Die Bostoner Biotechfirma Vertex Pharmaceuticals
hat 20 Jahre gebraucht, um am Markt erfolgreich zu sein. Da
sind insgesamt rund zwei Milliarden VC-Gelder geflossen.
Die Antwort auf die Frage lautet also: ja. Allerdings ist das
Risikokapitalvolumen in den USA ungleich größer als in
Deutschland. In der Nähe des Silicon Valley gibt es eine
Straße, die Sand Hill Road in Menlo Park, in der Dutzende
VC-Gesellschaften nebeneinander residieren.
Bohlen: Es ist aber so: Die Pharmaindustrie gibt heute lieber
viel Geld aus für ein kaum noch riskantes Projekt, das alle
Studien bestanden hat und kurz vor der Zulassung steht, als
dass sie ein Zehntel des Geldes in ein Projekt mit 20 Prozent
Restrisiko investiert.
Deshalb suchen die Unternehmen hierzulande inzwischen ihr
Heil woanders. Die Münchner MorphoSys oder die Hamburger Evotec haben sich auf Auftragsforschung verlegt – also
klar umrissene Serviceleistungen wie zum Beispiel das Entwickeln und Produzieren von Antikörpern gegen ein bestimmtes Zielmolekül. Damit generieren sie immerhin Umsatz und
hoffen so, langfristig ihre Medikamentenentwicklung finanzieren zu können. Ist das eine gangbare Strategie?
Friedrich von Bohlen und Halbach (49) hat Biochemie, Neurobiologie
Verhältnisse wie diese werden wir hierzulande vermutlich nie
haben. Dann ist es ja vielleicht nur konsequent, wenn sich
die wenigen deutschen Geldgeber sukzessive aus der BiotechBranche zurückziehen.
Hopp: Nicht unbedingt. Man könnte mehr selektieren. Vor
allem aber müsste man seinen Finanzpartnern viel deutlicher
sagen, dass es Investitionen gibt, bei denen man einen längeren Atem braucht, an deren Ende dann aber durchaus
Früchte zu ernten sind. Mir war von Anfang an klar, dass ich
in meinem Lebenshorizont nicht mehr alle Früchte würde
ernten können – wenn es denn welche zu ernten gibt, was
ich natürlich hoffe. Deshalb freue ich mich über positive
Nachrichten, bin aber nicht zu enttäuscht über negative,
weil ich weiß, dass längst nicht jedes Projekt durchkommen
kann.
80
Bohlen: Alle Beispiele, auch die genannten, zeigen, dass man
mit einem Servicegeschäft keine Medikamentenentwicklung
finanzieren kann. Die Margen sind einfach zu gering. Um
eine Phase-III-Studie finanzieren zu können, brauche ich pro
Monat gut und gerne mindestens zwei Millionen Euro. Die
lassen sich mit 70 Millionen Euro Umsatz im Jahr nun einmal nicht generieren.
Service und Medikamentenentwicklung zu kombinieren funktioniert aber auch deshalb nicht, weil man jeweils ganz
andere Experten braucht. Ein Serviceunternehmen ist ein
kostenoptimiertes, durchgetaktetes, prozessorientiertes Unternehmen. Bei einem forschenden Arzneimittelunternehmen
steht eher der Umgang mit den klinischen Zentren, mit den
Zulassungsbehörden im Vordergrund. Beides zu kombinieren würde bedeuten, man hätte zwei völlig unterschiedliche
Unternehmen unter einem Dach, und das trauen sich nicht
einmal große Pharmafirmen wie Novartis oder Pfizer. Aber
verständlich ist die Entwicklung schon: Die Kapitalsituation
in Deutschland zwingt Unternehmen mitunter dazu, sich auf
den Service zu konzentrieren und die Medikamentenentwicklung hintanzustellen.
„Von mir aus können alle
öffentlichen Fördermittel gestrichen werden.“ Friedrich von Bohlen und Halbach
tionen einsetzen ließe. Das wäre dann auch ein finanzieller
Durchbruch, und zwar für das gesamte dievini-Portfolio.
Die Logik der Industrie erschließt sich dennoch nicht. Einerseits haben sich die Pharmakonzerne aus der frühen Medikamentenentwicklung weitgehend zurückgezogen und verlassen
sich auf junge Biotech-Firmen. Auf der anderen Seite stammt
die Hälfte der Risikokapitalinvestitionen in deutsche Biotech-Firmen von Fonds der Großen wie Sanofi, Novartis
oder Pfizer. Wie ist das zu erklären?
Bohlen: Sie haben recht. Eigentlich ist es absurd, dass Pharmafirmen Fonds gründen, die in Biotech-Firmen investieren.
Denn damit geben sie ja in gewissem Sinne zu, dass sie die
Innovationskraft außerhalb ihrer Firmen für größer halten als
innerhalb.
Es ist natürlich trotzdem gut, dass es diese Pharma-Fonds
gibt. Einfach deshalb, weil es nun mal kaum andere Finanzierungsquellen gibt. Daneben betreiben die Konzerne mit
diesen Investitionen auch Scouting, sodass einige Biotech-Firmen schon früh auf dem Radar der Konzerne erscheinen und
so Kontakte für spätere Partnerschaften entstehen können.
Können auch öffentliche Gelder helfen, junge, attraktive Kandidaten so fit zu machen, dass Pharma anschließend zugreift?
Nun hat ja nicht jede Medikamentenentwicklung ein gleich
hohes Risiko. Projekte, in denen bewährte Wirkstofftypen
wie zum Beispiel Antikörper entwickelt werden, müssten
doch eher Investoren finden als Projekte mit neuartigen, bislang kaum getesteten Substanzen wie etwa die Erbgutmoleküle RNA oder DNA?
Bohlen: Von mir aus können alle öffentlichen Fördermittel
gestrichen werden. Die Politik könnte viel Intelligenteres tun,
indem sie die steuerliche Abschreibung auf Investitionen in
die Medikamentenentwicklung wiederherstellt. Das ist uns
gestrichen worden und einer der Gründe, weshalb es so
wenig Risikokapitalinvestitionen in Deutschland gibt. Wenn
in Hochrisikobranchen wie der Biotechindustrie die Verluste
steuerlich nicht mehr geltend gemacht werden können, dann
ist die Motivation zu investieren begrenzt. Das zu ändern
wäre viel wichtiger als Fördergelder.
Bohlen: Wir haben sowohl das eine als auch das andere in
unserem Portfolio – ganz bewusst. Aber wir haben überwiegend in innovative Projekte investiert, wie sie die CureVac
GmbH und immatics GmbH, die AC Immune SA, die Agennix AG und die Apogenix GmbH verfolgen. Diese Firmen
entwickeln völlig neue Typen von Medikamenten, sogenannte First-in-Class-Wirkstoffe. Und weil diese Ideen noch niemand vorher getestet hat, gehen sie natürlich mit viel höheren Risikoprofilen einher. Wir haben mit Dietmar Hopp aber
jemanden, der dieses Risiko mitgeht. Denn wenn so ein Ansatz durchkommt, dann ist man ganz vorn mit dabei. Sollten
sich zum Beispiel die RNA-Impfstoffe der CureVac bewähren, dann kann das ein deutsches Genentech werden, ein
Multi-Milliarden-Unternehmen, denn damit wäre erstmalig
eine Produktklasse eingeführt, die sich in zahllosen Indika-
Hettich: Es ist das Natürlichste der Welt, dass Gewinne
gegen Verluste verrechenbar sind. Das ist die Grundidee des
Steuersystems. Aber die wird in Deutschland kaputt gemacht
– wenn auch mit einer guten Intention: Der Gesetzgeber will
verhindern, dass sich Investoren bei einem Gesellschafterwechsel in ein Unternehmen nur einkaufen, um sich dessen
Verlustvorträge für andere, gewinnbringende Aktivitäten zu
beschaffen. Eigentlich eine prima Idee, aber die Biotech-Industrie funktioniert nun mal nur über Finanzierungsrunden.
Und bei jeder Runde kommt mindestens ein neuer Gesellschafter hinzu, sodass über einen Zeitraum von zehn Jahren
ständig neue, sich ergänzende Gesellschafterkreise entstehen.
Weil das deutsche Steuerrecht die Verlustvorträge aus den
ersten Finanzierungsrunden aber nicht mehr akzeptiert, wird
die deutsche Biotech-Branche international benachteiligt.
und Betriebswirtschaft studiert. Er ist ein Neffe von Alfried Krupp
von Bohlen und Halbach, dem letzten Chef der Krupp-Werke.
Zusammen mit Christof Hettich führt er bei dievini die Geschäfte.
81
Christof Hettich (52) ist promovierter Jurist und gründete zusammen
mit Dietmar Hopp und Friedrich von Bohlen die Beteiligungsgesellschaft dievini, die in Life und Health Sciences investiert. Im Portfolio
sind Biotech-, Medizintechnik- und Bioinformatikunternehmen.
Große Pharmafirmen haben dieses Problem nicht: Sie können die Verluste aus der Entwicklung immer mit Gewinnen
aus laufenden Geschäften gegenrechnen. Statt neue Förderprogramme aufzulegen, muss die Politik endlich begreifen,
dass das System nicht mehr stimmt. Eigentlich passen Biotech und Pharma als wissensgetriebene Industrien ideal zu
Deutschland. Tatsächlich geht die Wertschöpfung spätestens
in Phase III einer Medikamentenentwicklung ins Ausland.
Diesen Verlust holt man nicht mit Fördergeldern auf, sondern
nur mit grundsätzlich anderen Strukturen.
Welche Auswirkungen haben AMNOG- und ZwangsrabattPolitik auf Investitionen?
Bohlen: Produkte, die einen eindeutigen Vorteil für den
Patienten haben, betreffen die Änderungen ja im Grunde
nicht. Diese Gesetze sind die Reaktion auf eine Situation, in
der neue Medikamente nur marginale Vorteile bringen, wie
der x-te Antikörper, der lediglich noch einmal einen halben
Monat Überlebensvorteil bringt.
Hettich: Ich halte das Desinteresse für viel bedenklicher als
die jüngsten Gesetzesvorstöße. Bislang hat sich noch kein
Politiker die Zeit genommen, mit uns die Bedingungen der
deutschen Biotech-Industrie und die Bedingungen für die
Entwicklung neuer Medikamente zu diskutieren. Stattdessen
werden mit Studien von Beratungsunternehmen wie McKinsey, die kein Geld investiert haben, Urteile über die Industrie
gefällt. Mit den Akteuren selbst hingegen wird nicht geredet.
82
Wir wollen weder Geld noch Zuschüsse. Aber wenn ich
Gesundheits- oder Wirtschaftsminister wäre, würde mich
schon interessieren, wie die deutsche Biotech-Industrie funktioniert. Ich würde wissen wollen, wie Investitionsanreize
wirken, welche Potenziale diese Industrie hat und welche
Auswirkungen sie auf andere Branchen haben kann.
Wir haben viel Geld investiert und wichtige Erfahrungen
gesammelt, zum Teil auch bittere, die für politische Strukturentscheidungen interessant wären. Aber nicht wir werden
gefragt, sondern Verbände oder der Vorsitzende der Geschäftsleitung von Boehringer Ingelheim, der aber ganz andere Herausforderungen hat als ein Biotech-Start-up.
Die Politik tut viel, um Forschungseinrichtungen mit Geld
auszustatten und die Wissenschaft zu stärken. Das ist gut so,
aber nur der erste Schritt. Wir brauchen auch Schritt zwei und
drei. Wir brauchen eine industrielle Basis, um Wissen in wirtschaftlichen Erfolg umzusetzen, sonst gibt es diese Industrie
in Deutschland bald nicht mehr.
„Mit den Akteuren
der Biotech-Branche wird
nicht geredet.“ Christof Hettich
Bohlen: Ich habe manchmal das Gefühl, wir kämpfen hier wie
Asterix und Obelix. Wir sind umgeben von Legionen, die
weder verstehen, welche Auswirkungen die Steuerpolitik auf
die Medikamentenentwicklung hat, noch wissen, wo Fördergelder sinnvoll eingesetzt werden können oder dass sich das
Gesundheitssystem im Umbruch hin zu einer personalisierteren Medizin befindet. Das ist mitunter schon befremdlich.
Trotzdem bin ich optimistisch: Die Asterix-Geschichten gehen
ja eigentlich immer gut aus.
Das Gesundheitswesen in Zahlen
Gesundheitsausgaben & Finanzierung
Gesundheitsreform
Gesundheitsreform
Gesundheitsreform
Gesundheitsreform
Zahl der Gesundheitsreformen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949:
Davon in den vergangenen zehn Jahren:
Jahr, in dem das Wort „Gesundheitsreform“ zum Wort des Jahres in Deutschland gewählt wurde:
Jahr, in dem das Wort „Gesundheitsreform“ zum Unwort des Jahres in Deutschland nominiert wurde:
Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland im Jahr 2009, in Milliarden Euro:
Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP im Jahr 2009, in Prozent:
Gesamtausgaben für Gesundheit in Deutschland im Jahr 1999, in Milliarden Euro:
Gesamtausgaben für Gesundheit in Deutschland im Jahr 2009, in Milliarden Euro:
Anstieg der Ausgaben für Gesundheit in Deutschland zwischen 1999 und 2009, in Prozent:
Anstieg des BIP in Deutschland zwischen 1999 und 2009, in Prozent:
16
7
1988
1996
2397,1
11,6
207,4
278,4
34,2
25,2
Mit Dietmar Hopp haben Sie – in finanzieller Hinsicht –
aber auch so etwas wie einen Zaubertrank. Was macht die
deutsche Biotech, wenn dieser Kelch mal leer ist?
Anteil der gesetzlichen Krankenversicherungen an den Gesamtausgaben für Gesundheit im Jahr 2009, in Prozent:
Anteil der privaten Krankenversicherungen an den Gesamtausgaben für Gesundheit im Jahr 2009, in Prozent:
Anteil der privaten Haushalte an den Gesamtausgaben für Gesundheit im Jahr 2009, in Prozent:
57,8
9,3
13,5
Bohlen: Ich bin mir dessen sehr bewusst: Die Aufstellung, die
wir mit der dievini genießen, ist in vielerlei Hinsicht ein
Glücksfall. Für die 15 Unternehmen und natürlich auch für
mich ganz persönlich. Es kann auch einer für die vielen
Patienten werden, für die diese Firmen die Medikamentenkandidaten entwickeln. Es ist hoffentlich bald ein finanzieller Glücksfall für Dietmar Hopp. Und wenn es am Ende auch
noch ein Glücksfall für die deutsche Biotech-Branche wäre –
herzlich gerne. 7
Ausgaben für ärztliche Leistungen in Deutschland im Jahr 1999, in Milliarden Euro:
Ausgaben für ärztliche Leistungen in Deutschland im Jahr 2009, in Milliarden Euro:
Anstieg der Ausgaben für ärztliche Leistungen in Deutschland zwischen 1999 und 2009, in Prozent:
55,7
75,9
36,2
Ausgaben für Arzneimittelversorgung in Deutschland im Jahr 1999, in Milliarden Euro:
Ausgaben für Arzneimittelversorgung in Deutschland im Jahr 2009, in Milliarden Euro:
Anstieg der Ausgaben für Arzneimittelversorgung in Deutschland zwischen 1999 und 2009, in Prozent:
30,5
45,2
48,2
Anteil der Bundesbürger, die annehmen, dass durch die Gesundheitsreform im Jahr 2010 die
Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems langfristig gesichert ist, in Prozent:
Anteil der in Deutschland tätigen Ärzte, die annehmen, dass durch die Gesundheitsreform
im Jahr 2010 die Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems langfristig gesichert ist, in Prozent:
10
2
83
2.054.658
785
5.520.258.
4.250.45
65.469
8.007.05
45.786.748.
4.250.45
45.786.748.
5.786.748.
84
Kann das auch
explodieren?
Die Kosten im Gesundheitssystem steigen kontinuierlich.
Immer weniger Beitragszahler, immer höhere Beiträge.
Kann das auf Dauer gut gehen? Und wo führt das hin?
Schauen wir mal.
Text: Ralf Grötker
1. BEGRIFFSSTUTZIG
Es war schon damals eine ziemlich beeindruckende Zahl:
Durchschnittlich 143 000 Euro Gesundheitskosten würde
jeder neugeborene männliche Säugling im Laufe seines Lebens verursachen. Die Summe stammt aus dem Jahr 1992,
wir rechneten noch in der alten Währung, und knapp 280 000
D-Mark waren seinerzeit gewaltig.
Inzwischen hat sich ja nicht nur der Deutsche an größere Summen gewöhnt. Aber die aktuelle Zahl hat es in sich:
Jeder Junge, der heute auf die Welt kommt, wird das System
über die Jahre im Schnitt etwa 264 500 Euro kosten.
Wenn Politiker und Ökonomen heute mit Ziffern wie
diesen hantieren, verknüpfen sie ihre Analysen und Prognosen gern mit dem schönen Wort Kostenexplosion, ohne das
man hierzulande über Gesundheit oder Krankheit eigentlich
gar nicht mehr redet. Klingt ja auch logisch. Wenn die Kosten alle zwanzig Jahre um 80 Prozent steigen, kann sich
schließlich jeder leicht ausrechnen, wohin das führt.
Aber ist die Rechnung wirklich so einfach? Und falls ja:
Was bedeutet das für die Zukunft? Werden wir künftig nicht
mehr rundum mit Versorgung rechnen können? Wird das
medizinisch Notwendige an Arzneimitteln und Behandlungen
für einen Großteil der Bürger womöglich gar nicht mehr zur
Verfügung stehen? Werden wir sogar „explizite Prioritäten
setzen“ müssen, wie es die Zentrale Ethikkommission bei
der Bundesärztekammer 2007 in einem Gutachten forderte?
Glaubt man der Politik, ist die Antwort klar: Nein, das werden wir nicht. „Eine Prioritätenliste für medizinische Leistungen wird es nicht geben“, verkündete 2009 SPD-Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Ihr Nachfolger Philipp
Rösler erklärte, dass er eine „Rangfolge“ von medizinischen
Leistungen mit seinen ethischen Vorstellungen als Arzt nicht
in Einklang bringen könne: „Keine Abstufung, Rangfolge
oder Rationierung.“ Nicht anders Daniel Bahr. Der Bundesminister für Gesundheit hat die Sache klargestellt: „Die
Finanzierung des Gesundheitswesens muss so stabil gestaltet werden, dass Debatten über eine Rationierung oder Priorisierung unnötig werden.“
Was das konkret bedeutet, soll ein Anruf im Bundesgesundheitsministerium klären. Doch die Auskunft des zuständigen Pressereferenten erweist sich als wenig hilfreich. Im
Grunde, gibt der Mann allen Ernstes zu Protokoll, kümmere
man sich in Berlin nur um die Gesundheitspolitik für das
jeweils kommende Jahr. Das erklärt natürlich vieles, hilft aber
wenig bei der Suche nach Antworten, deshalb ist es vielleicht
nützlich, sich zunächst einmal die Zahlen anzuschauen.
Wir messen die Ausgaben für Gesundheit in Prozent
vom Bruttoinlandsprodukt (BIP), also dem Gesamtwert aller
Waren und Dienstleistungen, die im Land in einem bestimmten Zeitraum produziert werden. Anfang des 20. Jahrhunderts
gaben die westlichen Industrienationen kaum mehr als ein
Prozent des BIP für ihre Gesundheit aus. 1960 waren es
schon 4,5 Prozent. Danach wurde es bedrohlich: In Deutsch85
land und in weiten Teilen Europas konnte man von Mitte der
Sechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre zum Teil zweistellige
Zuwachsraten im Gesundheitsbereich beobachten. In den
Niederlanden waren die Ausgaben innerhalb des Jahrzehnts
sogar um 30 Prozent gewachsen. Deutschland steigerte seinen Anteil der Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung am BIP von 3,18 Prozent im Jahr 1963 auf immerhin
5,67 Prozent im Jahr 1975.
Es war die Zeit, in der auch der Begriff der „Kostenexplosion“ geboren wurde. 1974 tauchte er erstmals auf, in
einem Gutachten mit dem Titel „Krankenversicherungsbudget“, das Heiner Geißler, damals Sozialminister in RheinlandPfalz, vorlegte. Ein Jahr später titelte der Spiegel: „Krankheitskosten: Die Bombe tickt.“ Experten schätzten damals, dass
bei Andauer des Trends das gesamte bundesdeutsche Bruttosozialprodukt bis zum Jahr 2019 allein durch die Gesundheitsausgaben ausgeschöpft sein würde.
Nun waren in den Siebzigerjahren nicht nur die Ausgaben für die Gesundheit dramatisch gestiegen. Auch der Ölpreis, die Ausgaben des Staates für den Eisenbahnverkehr
und die Kosten des deutschen Bildungswesens kletterten
deutlich nach oben. Deshalb dauerte es auch nicht lange, und
die Aufregung hatte sich gelegt. Gegen Ende des Jahrzehnts
entspannte sich die Situation wieder. Die düsteren Prognosen
bewahrheiteten sich nicht.
Die Beschwörungsformel von der Kostenexplosion ist
geblieben. Richtig ist: Inzwischen investieren wir 11,6 Prozent des BIP (2009) in unsere Gesundheit, das sind gut 278
Milliarden Euro jährlich – 3400 Euro pro Kopf. Rund 76 Milliarden davon lassen wir uns ärztliche Leistungen kosten, 65
Milliarden fließen in den Posten „Pflegerische und therapeutische Leistungen“, also in Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, 45 Milliarden Euro geben wir in Deutschland für
Arzneimittel aus.
Seit einiger Zeit aber schlagen die Experten wieder
Alarm, diesmal lauter als je zuvor. In wenigen Jahren, so heißt
es, werden wir uns unsere Gesundheit nicht mehr leisten
können. Entweder steigen die Kosten und jeder von uns muss
direkt (durch höhere Krankenkassenbeiträge) oder indirekt
(über höhere Steuern) einen beträchtlichen Anteil seines Einkommens – Experten sprechen von 30 Prozent (die Kosten
für Pflege noch nicht eingerechnet) – in seine Gesundheit
investieren. Oder wir begrenzen die Leistungen, das heißt:
Nicht alles, was medizinisch machbar oder vielleicht angezeigt ist, wird künftig auch verfügbar sein. Das nennt man
Rationierung, ganz egal, ob das der dann amtierende oberste Gesundheitshüter mit seinen ethischen Vorstellungen vereinbaren kann oder nicht.
Ist das jetzt wieder nur Panikmache? Oder basieren die
heutigen Prognosen auf härteren Fakten als lediglich den Zeitkurven der vergangenen Jahre?
86
2. SPURENSUCHE
Je nachdem, welches Institut gefragt wird, sieht die Zukunft
hierzulande hellgrau, dunkelgrau oder auch schwarz aus.
Einigkeit immerhin herrscht in der Frage der Kostentreiber.
Danach haben die steigenden Gesundheitskosten zwei wesentliche Ursachen:
1. Der medizinische Fortschritt und damit verbunden die Ausweitung des medizinischen Leistungskatalogs.
2. Der mit dem demografischen Wandel verbundene Rückgang
der Einnahmen der Kassen und gleichzeitige Anstieg älterer
und behandlungsbedürftiger Menschen.
3. MEHR GELD – MEHR GESUNDHEIT?
In den Berechnungen der Experten ist der medizinisch-technische Fortschritt der wichtigste Kostentreiber. Strittig ist, ob
mit den steigenden Kosten auch ein höherer Nutzen einhergeht. Die Frage ist zentral, denn wenn uns das Geld, das wir
in Medikamente und bessere ärztliche Versorgung investieren, nicht gesünder macht, dann könnten wir uns den Aufwand auch sparen – und das Thema Kostenexplosion wäre
endgültig vom Tisch.
Einen Hinweis darauf, dass mehr Ausgaben nicht
zwangsläufig eine bessere Gesundheit garantieren, liefern die
Vereinigten Staaten. Das US-amerikanische Gesundheitssystem ist das mit Abstand teuerste der Welt – und doch bewegt sich die Lebenserwartung der Bürger in den USA deutlich unter dem Niveau von anderen Industrienationen. Viel
Geld macht also nicht automatisch gesünder.
Das gilt nur leider nicht generell. Denn dieselben statistischen Datensätze, die die Schlusslicht-Position der USA
belegen, zeigen auch: In allen OECD-Ländern geht das
Wuchern bei technischen und medizinischen Leistungen sehr
wohl mit einer steigenden Lebenserwartung einher. Zwischen
1970 und 2003 ist in OECD-Ländern der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP um rund 75 Prozent gestiegen – parallel dazu hat sich die Lebenserwartung um sieben Jahre erhöht.
Und der Zuwachs lässt sich ganz konkret an der immer besseren medizinischen Versorgung festmachen.
Um nur ein paar Beispiele zu nennen: 1969 wurde hierzulande die erste koronare Bypass-Operation durchgeführt
– 2009 zählten wir 162 417 derartige Herzoperationen in
Deutschland. Das erste künstliche Hüftgelenk haben deutsche
Ärzte 1956 implantiert – im Jahr 2009 wurde rund 160 000
Patienten ein neues Hüftgelenk eingesetzt. 1971 erfolgten die
ersten Untersuchungen mit Computer-Tomografen, im Jahr
2009 ist die Zahl auf vier Millionen gestiegen. Auch bei den
endoskopischen Untersuchungen ist der Fortschritt belegt:
1983 war hierzulande Premiere, vor drei Jahren wurden allein
im stationären Bereich mehr als eine Million Gastroskopien,
also Magenspiegelungen, durchgeführt.
Können wir uns all diese Hüftgelenke, Bypässe und
Endoskopien wirklich sparen, ohne dass sich dadurch die
gesundheitliche Versorgung verschlechtert?
4. GESTORBEN WIRD NUR EINMAL
Die Zahl der Jungen, die das Gesundheitssystem mit ihren
Beiträgen finanzieren, sinkt, die Zahl der Älteren steigt. Und
mehr Ältere brauchen mehr Versorgung. Nach jüngsten
Berechnungen wird die Gruppe der über 67-Jährigen stark
zunehmen. 2008 lebten in Deutschland 14,9 Millionen Menschen dieser Altersklasse, 2020 werden es 16,5 Millionen
sein, 2030 soll ihre Zahl auf knapp 20 Millionen steigen.
So weit, so unstrittig. Uneinig waren die Beobachter
bislang in der Frage, ob die Gesundheitskosten des Menschen
über die gesamte Lebenszeit hinweg steigen, wir also für das
System teurer werden, je länger wir leben, oder ob nur die
Behandlung am Lebensende immer kostspieliger wird. Die
rechnerisch willkommenere Variante ist natürlich die Teuerung vor allem zum Lebensende. Denn auch, wenn wir alle
länger leben: Gestorben wird nur einmal – sodass sich auch
bei einer insgesamt älter werdenden Bevölkerung der Anstieg
der Behandlungskosten im Rahmen hielte.
Leider hat eine aktuelle Untersuchung auf Basis von 1,2
Millionen privat Versicherten belegt, dass die Rechnung nicht
aufgeht. Das Wissenschaftliche Institut der Privaten Krankenversicherungen WIP hat nachgewiesen, dass der Ausgabenanstieg in allen Altersstufen erfolgt. Also keine Entwarnung.
Entsprechend düster sind die abgeleiteten Prognosen.
Der Baseler Gesundheitsökonom Stefan Felder, auf den sich
die AOK in ihrem Versorgungs-Report 2012 stützt, sagt für
das Jahr 2050 einen Anstieg der Beitragssätze um 19 Prozent
voraus, resultierend allein aus demografischen Faktoren. Folgt
man seiner Argumentation, würde das bedeuten, dass wir
diese 19 Prozent künftig zusätzlich zum Anstieg durch den
medizinisch-technischen Fortschritt schultern müssen.
5. MEHR EFFIZIENZ?
Die Behauptung wird immer wieder gern aufgestellt: Eine
effizientere Struktur des Gesundheitswesens wird die steigenden Kosten kompensieren können! Rationalisierung statt
Rationierung also. Der amtierende Gesundheitsminister Daniel Bahr gehört zu den Verfechtern der These. Wir erinnern
uns: „Die Finanzierung des Gesundheitswesens muss so
stabil gestaltet werden, dass Debatten über eine Rationierung
oder Priorisierung unnötig werden.“
Klingt prima, Effizienz ist ja auch ein schönes Wort, das
in Industrie-Sektoren durchaus schon bewiesen hat, was es
bewirken kann. Im Zusammenhang mit der Gesundheit
erweist sich die Politikerfloskel allerdings als fadenscheinig.
Bislang haben jedenfalls alle politischen Maßnahmen lediglich Einmaleffekte erzielt – kleine Knicke in der ansonsten
stetig nach oben strebenden Verlaufskurve. Und das gilt nicht
nur für Deutschland, sondern auch für unsere europäischen
Nachbarländer.
6. UMVERTEILUNG?
Umverteilung ist ebenfalls ein schönes Wort, das nicht nur
den Vertretern der Partei Die Linke gut gefällt. Auch der
Mediziner und Gesundheitsökonom Michael Schlander mag
es. Dass der Gründer und Leiter des Instituts für Innovation
und Evaluation im Gesundheitswesen, der an der Universität Heidelberg lehrt, damit hierzulande allerdings nur selten
zitiert wird, hängt vermutlich mit der Radikalität seiner Ansichten zusammen.
Absolut betrachtet, wird Gesundheit immer teurer.
Relativ betrachtet hingegen, meint Schlander, bleibt alles
mehr oder weniger beim Alten. Denn die KostenexplosionsVerfechter haben die Rechnung ohne das Wirtschaftswachstum gemacht. Durch unser Wachstum steht für Gesundheit
immer mehr Geld zur Verfügung, deshalb ist der Anteil der
Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt in jüngster Vergangenheit auch kaum gestiegen – nämlich nur um zwei Prozentpunkte von 9,6 Prozent in 1992 auf 11,6 Prozent in 2009.
Dass die Krankenkassen dennoch stöhnen, liegt nach
Ansicht des Experten nicht an den steigenden Kosten, sondern an einer „Erosion der Bemessungsgrundlage“: Das Wirtschaftswachstum ist in den Portemonnaies jener 90 Prozent
der Bürger, die über die Krankenkasse versichert sind, nicht
angekommen. Lohnzuwächse sind ausgeblieben. Deshalb
haben die Krankenkassen weniger Einnahmen erzielt und
waren gezwungen, die Beiträge zu erhöhen.
Schlanders Berechnungen zeigen, wie sich die Beitragssätze entwickelt hätten, hätten die Gehälter mit dem Wirtschaftswachstum Schritt gehalten. Das Resultat: Wir wären
mit den Beiträgen heute auf dem Stand der Achtzigerjahre.
Statt mit einer Kostenexplosion haben wir es seiner Ansicht
nach deshalb lediglich mit „distributiven Fragen“ zu tun. Die
Politik muss nur für eine entsprechende Umverteilung sorgen, dann macht sich das Wirtschaftswachstum auch im Budget der Krankenkassen bemerkbar. So könnten wir auf unserem heutigen Konsumniveau bleiben und alle zusätzlichen
Kapazitäten, die uns das Wirtschaftswachstum bringt, in die
87
Gesundheit investieren. Im Grunde machen wir das sowieso
schon. Denn während in anderen Bereichen des Konsums mit
zunehmendem Wohlstand einer Gesellschaft eine Sättigung
eintritt, ist dies bei Gesundheitsleistungen nicht der Fall. Ökonomen nennen das „Einkommenselastizität“.
Professor Schlander hat ausgerechnet, dass wir uns auf
diese Weise bis etwa 2050 weiterhangeln könnten. Vielleicht
sogar noch länger. Denn wenn die steigenden Investitionen
in die medizinische Betreuung außerdem noch dazu führen,
dass sich auch die allgemeine Gesundheit verbessert, dann
erhält das Wachstum so noch einen Extra-Schub. Das wiederum haben Ökonomen mithilfe des sogenannten GrangerTests herausgefunden. Der Test kann zwischen zwei Größen,
die statistisch betrachtet miteinander korrelieren, jene Größe
ermitteln, die als Ursache die andere bedingt. Das Ergebnis
schien eindeutig: Mehr Gesundheit bewirkt ein größeres BIPWachstum, nicht umgekehrt.
Der Haken bei der Sache: Die „distributiven Fragen“ sind
so leicht natürlich nicht zu klären. Sie erfordern übergreifende Maßnahmen zur Eindämmung der Lohn-Ungleichheit,
eine stärkere Besteuerung von Kapitaleinkünften, vielleicht
auch so etwas wie eine radikale Anhebung der Mehrwertsteuer oder eine Bürgerversicherung, in der die privaten und
die gesetzlichen Krankenversicherungen zusammengeführt
werden. All dies ist im Prinzip möglich – politisch allerdings
schwer durchsetzbar und angesichts weit in die Zukunft reichender Versorgungsansprüche vor allem der Beamtenschaft
ganz sicher nicht kurzfristig realisierbar.
7. SPAREN?
Halten wir noch einmal kurz fest: Die Kosten im Gesundheitswesen werden steigen. Wir können das System durch höhere
Beiträge finanzieren – teuer. Wir können effizienter werden –
schwierig. Wir können umverteilen – langwierig. Zudem
politisch nicht gewollt, denn so ein Vorhaben kostet Wählerstimmen. Bleibt als eine weitere Option: sparen. Nur wo?
An welcher Stelle künftig der Hebel angesetzt werden
muss, hängt nicht zuletzt davon ab, wie genau sich der
medizinische Fortschritt auf die Kostenentwicklung auswirken wird. Heute ist es Konsens, dass bei lebensbedrohlichen
Erkrankungen ohne Rücksicht auf Kosten behandelt wird.
„Lebensschutz“ hat höchste Priorität. So steht es in der Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Thema „Priorisierung medizinischer Leistungen“ von 2007.
Und so bestimmt es auch das Bundesverfassungsgericht
in seinem „Nikolausbeschluss“ vom 6. Dezember 2005: In
Fällen lebensbedrohlicher Erkrankungen besteht eine Leistungspflicht der Krankenkassen selbst dann, wenn der medi88
zinische Nutzen der gewünschten Behandlung nicht nach
dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse nachgewiesen ist.
Ob wir uns solche Prinzipien in Zukunft leisten können,
hängt auch von der Entwicklung des Marktes für Arzneimittel und Gesundheitstechnik ab. Nur wenn exorbitant teure
Behandlungen von Einzelfällen nicht überproportional zunehmen, wird es auch künftig möglich sein, bei lebensbedrohlichen Erkrankungen nicht auf die Kosten zu schauen.
Untersuchungen für die USA zeigen, dass ein Großteil
der Zusatzkosten nicht durch einige wenige „Superstars“ an
Medikamenten und Behandlungsmethoden verursacht wird,
sondern durch die Ausweitung vorhandener Therapien auf
eine größere Zahl von Patienten. Das Urteil der Experten in
der Sache ist dennoch gespalten.
Eine Untersuchung des (industrienahen) IGES-Instituts
geht der Kostenentwicklung bei innovativen Spezialpräparaten am Beispiel der Krebsmedikamente nach. Sie kommt zu
dem Ergebnis, dass die Umsatzentwicklung in diesem gemeinhin als besonders kostenintensiv erachteten Segment in Wirklichkeit nur unwesentlich höher liegt als in anderen Bereichen.
Das IGES prognostizierte eine Steigerungsrate von jährlich
4,8 Prozent für den Zeitraum zwischen 2009 bis 2013.
Nun ist eben diese Studie von anderen Experten wie
dem (kassennahen) Leiter des Zentrums für Sozialpolitik der
Universität Bremen, Gerd Glaeske, stark angegriffen worden.
Er kritisierte den zu eng abgesteckten Untersuchungszeitraum (geht man weiter zurück als 2009, lassen sich doch
starke Steigerungen erkennen) sowie, dass der Einsatz von
Medikamenten im Krankenhaus nicht berücksichtigt wurde.
Im Gegensatz zum IGES sieht Glaeske insbesondere im
Markt für innovative Krebsmedikamente ein wachsendes und
ernstes Problem für die Krankenkassen. Wenn Glaeske recht
hat, dann werden uns die steigenden Gesundheitskosten in
Zukunft nötigen, mit dem zentralen Grundsatz zu brechen,
bei lebensbedrohlichen Erkrankungen ohne Rücksicht auf
Kosten und nachgewiesenen Nutzen zu behandeln.
Es gibt aber noch weitere Baustellen. Nach dem am
1. Januar 2011 in Kraft getretenen „Gesetz zur Neuordnung
des Arzneimittelmarktes“ (AMNOG) durchlaufen neue Medikamente, die aufgrund der Seltenheit der mit ihnen behandelten Krankheiten „Orphan drugs“ (Waisenkinder) genannt werden, nur oberhalb einer Umsatzgrenze von 50 Millionen Euro
eine externe Zusatznutzenprüfung durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).
Unterhalb dieser Umsatzgrenze gilt für neue Medikamente die
Nutzenprüfung der Europäischen Kommission, die ohnehin
bereits davor stattfand – und der Hersteller verhandelt seinen
Preis (unabhängig vom IQWiG) ausschließlich mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung.
Unter den 30 teuersten Arzneimitteln in Deutschland
befinden sich derzeit 18 Produkte mit Orphan-drug-Status.
Umstritten ist dabei vielfach, ob die Medikamente dem Patienten im Vergleich zu den bisherigen Behandlungsoptionen
einen zusätzlichen Nutzen bringen.
Das Nierenkrebsmedikament Afinitor (Kosten pro Packung mit 30 Tabletten: mehr als 4700 Euro) geriet vor einiger Zeit in die Schlagzeilen, weil sich zeigte, dass das Fortschreiten der Erkrankung mithilfe von Afinitor lediglich um
drei Monate hinausgeschoben werden konnte – obwohl das
Medikament als neuer Anti-Krebs-Bestseller gepriesen wurde.
Hinausgeschobenes Krebswachstum ist dabei nicht notwendig gleichbedeutend mit einer Verlängerung des Lebens. In
manchen Fällen kämpfen die Medikamente zwar Krebszellen
für einige Zeit nieder – dafür wachsen andere anschließend
umso schneller nach. Der vorübergehenden Verbesserung
folgt eine umso rasantere Verschlechterung; womöglich stirbt
der Patient sogar früher.
Vieles deutet darauf hin, dass die Krankenkassen die
Kosten für Orphan drugs in Zukunft nicht mehr ohne Preisverhandlungen übernehmen werden. Für diesen Fall gibt es
folgende Szenarien:
1. Die Verhandlungen mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung könnten die Hersteller nötigen, die
Preise für die teuren Spezialpräparate zu senken.
2. Die Pharmaindustrie könnte in Zukunft vermehrt darauf
verzichten, entwicklungsintensive und in der Anwendung kostspielige Innovationen auf den Markt zu bringen.
3. Der Pharmaindustrie könnte es nicht gelingen, Innovationen
auf den Markt zu bringen, die einen zusätzlichen Nutzen im
Vergleich zur Standardtherapie haben.
Was aber, wenn die Industrie weiterhin innovative Medikamente zu hohen Preisen auf den Markt bringt, deren Nutzen
sie klar belegen kann? Die Kosten könnten für die Versichertengemeinschaft den Rahmen des Tragbaren sprengen. Mit
diesem Szenario geht es ans Eingemachte: Die geschmähte
Rationierung, also das Vorenthalten bestimmter Leistungen,
wäre die Folge. Wie aber könnte so etwas aussehen?
8. RATIONIERUNG?
Bislang sieht der Gesetzgeber vor, dass Medikamente, die
neu auf den Markt kommen, vom IQWiG auf ihren Zusatznutzen und gegebenenfalls auch auf ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis geprüft werden. Dabei werden jedoch ausschließlich
Therapien und Medikamente verglichen, die demselben
Zweck dienen. Mit dieser Beschränkung will man die moralische Zwickmühle vermeiden, zwischen der Relevanz zum
Beispiel einer Krebs- und einer Schlaganfall-Therapie unterscheiden zu müssen.
Gut möglich, dass man in Zukunft nicht um solche Vergleiche herumkommt.
Dies zeigt ein Fall, der Ende 2010 das Schweizer Bundesgericht beschäftigte. Dabei ging es um die Frage, ob eine
Krankenversicherung dazu verpflichtet ist, die Kosten einer
Behandlung mit Myozyme zu übernehmen – einem der weltweit teuersten Medikamente überhaupt. Die Therapiekosten
werden pro Patient auf mehr als 400 000 Euro im Jahr beziffert. In dem zur Diskussion stehenden Fall galt die Wirksamkeit zwar als erwiesen, aber als sehr gering. Myozyme sollte
eingesetzt werden zur Therapie im Spätstadium der seltenen
Stoffwechselkrankheit Morbus Pompe. Die Krankheit führt
zu einer Muskelschwäche besonders der Atem- und Skelettmuskulatur. Von der Behandlung mit dem Medikament versprachen sich die Ärzte eine Verbesserung der Lungenfunktion und eine Vergrößerung des Radius, innerhalb dessen sich
die Patientin, an der sich der Streitfall entzündete, fußläufig
bewegen kann. Konkret ging es um einen zu erwartenden
Vorteil von 28 zusätzlichen Metern.
Das Gericht entschied gegen eine Erstattungspflicht.
Dabei berief es sich auf den Grundsatz der Gleichheit. Weil
in der Schweiz viele Menschen mit ähnlich limitierter Gehstrecke wie die betroffene Patientin leben, so das Urteil, könnten unmöglich jedem von ihnen 400 000 Euro pro Jahr zur
Verfügung gestellt werden, auch wenn sie hinsichtlich ihrer
Lebensqualität vermutlich profitieren würden. So leiden zum
Beispiel 2,8 Prozent der Schweizer an einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung. Würde jeder von ihnen auf
vergleichbare Weise behandelt, entstünden dadurch Kosten
in Höhe von 74 Milliarden Euro. Für die Finanzierung müssten die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung pro
Mitglied um monatlich 900 Euro steigen.
Obwohl das Urteil von vielen Experten begrüßt wurde,
darunter der Baseler Gesundheitsökonom Stefan Felder, regten sich auch Zweifel. Müsste man nach derselben Logik
nicht auch Organtransplantationen verbieten? Schließlich
stehen dafür nicht genug Organe zur Verfügung und viele
Patienten sterben, weil es zu wenige Spender gibt. Das Gleichheitsprinzip kommt hier also auch nicht zur Anwendung.
Trotzdem wird dem Einzelnen die benötigte Organtransplantation nicht vorenthalten.
Andere Kritiker bemängelten nicht das Gleichheitsprinzip, sie wiesen stattdessen auf die Schwierigkeit hin, eine
angemessene Vergleichsbasis zu finden. Muss in Betracht
gezogen werden, dass die Behandlung der Patientin womöglich nicht nur mehr Bewegungsfreiheit ermöglicht, sondern
auch ihr Leben verlängert? Kommt es nicht auch darauf an,
wie gut oder schlecht es einem Patienten vor der Behandlung
geht? Sollte denen, denen es besonders schlecht geht, bevorzugt geholfen werden? Oder muss das Geld vielmehr dort
investiert werden, wo der größte Zuwachs an Lebensqualität zu erwarten ist?
89
9. WAS IST LEBENSQUALITÄT?
10. VORSORGE
Sind ein drei Monate längeres Leben ein Zuwachs von Lebensqualität? Sind es weniger Schmerzen? Geringere Nebenwirkungen? Ein Bewegungsradius von einigen Metern mehr?
Wer will das definieren – und wie?
Gesundheitsökonomen nehmen das Qaly-Verfahren zu
Hilfe, das schon Ende der Fünfzigerjahre entwickelt wurde.
Mit ihm bestimmen sie das Kosten-Nutzen-Verhältnis einer
Behandlung. Qaly steht für „quality-adjusted life year“ und
ist nicht unkompliziert. Um herauszufinden, ob eine neue
Therapie sinnvoll und nützlich für den Patienten ist, wird mithilfe von Studien zunächst ermittelt, um wie viele Jahre sich
seine Lebenserwartung im Vergleich zur bisherigen Therapie
verlängert. Gewonnene Lebensjahre reichen für eine Beurteilung aber nicht aus – wichtig ist, mit welcher Lebensqualität
sie verbunden sind. Über Fragebögen wird deshalb erfasst,
wie der Patient die Lebensqualität der gewonnenen Jahre
beurteilt, gemessen auf einer Skala zwischen null und eins.
Eins entspricht vollkommener Gesundheit – null dem Tod.
Im nächsten Schritt werden für beide Behandlungsalternativen die gewonnenen Lebensjahre mit der Lebensqualität
multipliziert. Dabei hat beispielsweise ein halbes gewonnenes Lebensjahr bei vollständiger Gesundheit denselben Wert
wie ein ganzes gewonnenes Jahr mit eingeschränkter Lebensqualität. In beiden Fällen führt die Rechnung zu 0,5 Qalys.
Der Zugewinn an Qalys macht die unterschiedlichen Behandlungsalternativen messbar.
So weit das Grundprinzip des Verfahrens. Die Probleme,
die sich aus einer solchen Bewertung von Lebensqualität ergeben, sind dieselben wie bei Myozyme: Sind Beurteilungen
von Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen überhaupt
miteinander vergleichbar? Und: Welche sind die relevanten Eigenschaften, aufgrund derer ein Fall dieser oder jener Gruppe zugeordnet werden soll? Wäre es nicht fair, die Patienten
zu bevorzugen, denen es von vornherein schlechter geht?
Trotz der grundsätzlichen Probleme wird das Qaly-Verfahren mittlerweile von Gesundheitsökonomen vor allem in
den angelsächsischen Ländern verwendet. In Deutschland
hat sich die Regierung dagegen entschieden, eine KostenNutzen-Bewertung auf „qualitätsbereinigte Lebensjahre“
durch das IQWiG vornehmen zu lassen.
Doch es gibt auch Alternativen zu Qaly. Eine neue vielversprechende Methode, die systematische Verzerrungen vermeiden will, kommt aus der empirischen Ethik. Anstelle von
Entscheidungsprinzipien wird hierbei – und zwar über alle
Einzelfälle hinweg – die Meinung aus der Bevölkerung eingeholt: Wer soll welche Hilfe erhalten? Solche Diskussionen
werden uns blühen, wenn das Gesundheitssystem teure
Medikamente und ihre Anwendung auf breiterer Basis nicht
mehr finanzieren kann. Und was kommt dann? Etwa die
Zwei-Klassen Medizin? Haben wir die nicht längst?
Kann schon sein, dass beim Einsatz innovativer Medika mente die Schere zwischen „Gesetzlicher“ und „Privater“
bereits heute auseinandergeht. Der Bochumer Sozialrechtler
Stefan Huster ist sich trotzdem sicher: „Eine Zwei-KlassenMedizin sollte es nicht geben.“ Huster ist Mitglied der Forschergruppe „FOR 655“, die sich mit der Priorisierung in
der Medizin befasst, und er spielt auf einen ganz anderen,
deutlich größeren Hebel zur Vermeidung einer Kostenexplosion an, wenn er sagt: „Gesundheit wird nicht nur beim Arzt
entschieden.“
Die Basis für Gesundheit und Krankheit wird in den
meisten Fällen viel früher gelegt. Soziodemografische Faktoren wie das Einkommen oder das Bildungsniveau der Eltern
wiegen schwerer als das Level medizinischer Versorgung, ja
selbst schwerer als Übergewicht, Rauchen oder chronischer
Schlafmangel.
Ob Jugendliche rauchen, wie oft und in welchen Mengen sie Alkohol trinken oder Haschisch konsumieren, hängt
vor allem vom Schultyp ab. Das Risiko eines schädlichen
Mundgesundheitsverhaltens korreliert mit dem Migrationshintergrund. Generell gilt zudem: Menschen, die an der
Armutsgrenze leben, leiden vermehrt an Angstzuständen und
Depressionen, an Harninkontinenz, Arthrose, Arthritis und
Gelenkrheumatismus sowie an Migräne und häufigen Kopfschmerzen. Bei Frauen steigt das Vorkommen von Diabetes
und Bluthochdruck mit sinkendem Einkommen. Männer in
der Armutsrisikogruppe haben ein 1,5-mal so hohes Adipositas-Risiko wie Männer der höchsten Einkommensgruppe,
bei Frauen ist das Risiko sogar doppelt so hoch.
Keine Frage: Wir leben in einer Mehrklassengesellschaft.
Nur ist gerade die Arztpraxis nicht der Ort, wo sie sich am
deutlichsten zeigt. Innovative Behandlungsmethoden und
wirksamere Medikamente werden – egal wie teuer – die aufgeführten Missstände kaum beheben können. Investitionen
in Prävention und Gesundheitserziehung hingegen könnten
dazu führen, dass die Kosten künftig nicht mehr in dem Tempo steigen werden wie bisher. Auch dies wäre ein mögliches
Szenario – und ein Effizienzgewinn bisher ungekannten Ausmaßes. Damit hätte sich die Kostenexplosion auf einfache
Weise erledigt.
Allerdings müsste dafür in Generationen und nicht in
Legislaturperioden gedacht werden. Mit einem Bundesgesundheitsministerium, das sich jeweils nur um das kommende
Jahr kümmert, ist das nicht zu machen. 7
90
45.786.748.
45.786.748.
1257 1257
468
5.520.258.
5.520.258.
45.786.748.
45.786.748.
4.250.45
4.250.45
45.786.7
45.786.748.
78
65.469
78
65.469
5.520.258.
1257
5.520.258.
1257
78.007.05
78.007.05
4.250.45
120.0
120.00
45.786.748.
45.786.748.
4.250.45
4.250.45
5.520.25
5.520.258.
45.786.748.
65.469
45.786.748.
65.46978.007.05
4.250.45
45.786.748.
4.250.45
45.786.748.
4.250.4
468
4.250.45
468
4.250.45
4.250.45
78.007.05
4.250.45
5.520.258.
45.786.748
5.520.258.
45.786.748.
65.469
4.250.45
65.469
65.469
78.007.0
65.469
78.007.05
78.007.05
45.786.748.
78.007.05
45.786.748.
4.250.45
91
Gute Frage
Warum sind die meisten Arzneien,
mit denen Kinder behandelt werden,
gar nicht für sie zugelassen?
Text: Hanno Charisius
3 Kranke Kleinkinder bringen Ärzte
häufig in eine Zwickmühle. Rund zwei
Drittel aller Medikamente haben nämlich nur eine Zulassung für erwachsene
Patienten. Doch ohne spezielle Arznei,
deren Dosierung klinisch geprüft und
die kindgerecht aufbereitet ist – etwa
als Saft oder in Tropfen –, bleibt Medizinern nur eine Chance: improvisieren.
Die Ärzte müssen Kinder wie kleine Erwachsene behandeln, sie rechnen
die Dosierung des Wirkstoffs auf Größe
und Gewicht ihrer Patienten herunter
und hoffen, dass es gut geht. Aber der
Einsatz von Arzneimitteln außerhalb der
genehmigten Zulassung (Off-Label-Use)
ist riskant. „Die Entwicklung der Kinder
verläuft nicht linear“, warnt Hannsjörg
Seyberth, der in der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin
die Kommission für Arzneimittelsicherheit leitet. „Man kann die Dosis nicht
einfach klein rechnen.“
Wie Erfahrungen zeigen, brauchen
Neugeborene mal größere Wirkstoffmengen als Säuglinge, mal geringere.
Manche Arzneimittel wirken bei Kleinkindern erst in der zweieinhalbfachen
Erwachsenen-Dosis, andere wiederum
sind von vornherein tabu.
Die Enzyme im Kinderkörper
haben eine andere Aktivität als in Erwachsenen, sodass Wirkstoffe mitunter
viel langsamer abgebaut werden – manche auch gar nicht. Ärzte müssen sich
darauf einstellen, dass junge Nerven92
bahnen besonders empfindlich und die
Organe von Kindern noch nicht ausgereift sind.
Das macht jede Behandlung zur
Gratwanderung. Der Marburger Pädiater Seyberth beziffert den Anstieg der
Komplikationsrate aus Erfahrung auf
etwa 50 Prozent. Deswegen werde im
ärztlichen Alltag auf solche Mittel möglichst verzichtet. Doch auf einer Intensivstation mit Kinderbetten und Brutkästen geht es oft gar nicht anders. Dort
ist Off-Label-Use nicht die Ausnahme,
sondern die Regel.
„Bei Frühgeborenen liegt die Quote für Komplikationen meist über 90
Prozent“, sagt der Kinderarzt Wolfgang
Rascher, pädiatrischer Intensivmediziner am Universitätsklinikum Erlangen
und am Bundesinstitut für Arzneimittel
und Medizinprodukte in einer Kom mission für Kinder und Jugendliche zuständig. In den meisten Kinderkliniken
werde etwa jedes zweite Medikament
außerhalb der amtlichen Zulassung eingesetzt, in Kinderarztpraxen liege der
Anteil bei zehn Prozent.
Mit einer EU-Verordnung aus dem
Jahr 2006 wurden die Weichen gestellt,
um dem Mangel an kindgerechten Medikamenten abzuhelfen. Arzneimittelhersteller müssen seitdem für neue Zulassungen generell auch Prüfkonzepte
für Kinder ausarbeiten. Ausgenommen
sind nur solche Krankheitsbilder, die bei
Kindern nicht vorkommen, wie etwa
Kinder sind keine
kleinen Erwachsenen:
Die Arznei, die einem
Zweijährigen hilft,
kann ein Frühchen
vielleicht umbringen.
Prostatakrebs oder Raucherlunge. Im
Gegenzug wird der Patentschutz dann
um sechs Monate verlängert.
Auch um für bereits auf dem
Markt eingeführte Medikamente oder
patentfreie Generika nachträglich die
pädiatrische Zulassung zu erlangen,
werden klinische Studien an Minderjährigen verlangt. Für diesen Aufwand wird
Pharmaunternehmen ein zehnjähriger
Unterlagenschutz gegenüber Wettbewerbern eingeräumt.
Doch die Resonanz zeigt: Neue
Richtlinien allein bringen noch keine
bessere Versorgung mit geeigneten Arzneien und wirken auch nicht im Handumdrehen. In den ersten drei Jahren
nach Inkrafttreten der Verordnung stieg
die Zahl der Anträge um 1,2 Prozent.
Insgesamt rund 800 Anträge zur
Genehmigung eines pädiatrischen Prüfplans (PIP) gingen seit 2007 bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA)
in London ein. Die meisten betreffen
laut Pharma-Fachpresse neue, noch nicht
zugelassene Wirkstoffe. Bis diese auch
als kindgerechte Medikamente auf dem
Markt sind und die Versorgungslage
verbessern, vergehen Jahre. Was sich
schon daraus ergibt, dass klinische Studien mit neu entwickelten Wirkstoffen
zuerst an Erwachsenen erforderlich sind,
bevor ihre Eignung – in angepasster
Dosierung – überhaupt an Kindern erprobt werden darf.
Der Kinderarzt Hannsjörg Seyberth spricht dennoch von einer „Hinhaltetaktik“ seitens der Industrie. Die
meisten Arzneimittel, mit denen Kinder
im Krankenhaus behandelt würden,
seien Generika. „Bei 80 Prozent der Präparate ist der Patentschutz bereits abgelaufen“, sagt er. Deshalb lassen sich nur
wenige Hersteller nachträglich auf Studien für Wirkstoffe ein, die bereits auf
dem Markt sind.
Durchaus nachvollziehbar aus Sicht
der Industrie. „Unsere Wirkstoffe werden vor allem Kindern verordnet – obwohl sie dafür keine Zulassung haben“,
sagt beispielsweise Martin Zentgraf,
Geschäftsführer der Desitin Arzneimit-
tel GmbH in Hamburg. „Von den Krankenkassen bekommen wir in jedem Fall
nur den Festbetrag, egal, ob wir ein
etabliertes Präparat für Kinder in einer
neuen Darreichungsform entwickeln
oder nicht. Es gibt also keinen Anreiz,
weil das Präparat ja bereits in seiner
alten Form die Patienten erreicht.“
Die geänderten Zulassungsregeln
können sogar Innovation verhindern,
wenn das pädiatrische Komitee der
EMA die Richtlinien eng auslegt und
Kinderstudien fordert. So plant Zentgrafs Unternehmen etwa, ein neues
Kombinationspräparat gegen Migräne
aus alten Wirkstoffen herzustellen. „Wir
wissen bereits, dass diese Wirkstoffe bei
Erwachsenen gut, bei Kindern dagegen
nicht oder kaum wirken.“ Die Entwicklung allein für Erwachsene würde sich
zwar lohnen. „Wir müssen jedoch damit
rechnen, dass die Kommission Kinderstudien verlangt, obwohl wir nicht mit
einem positiven Ausgang rechnen. Dies
wiederum beeinträchtigt die Gesamtrentabilität so sehr, dass wir das Produkt nicht entwickeln würden.“
Ein weiteres Problem für Arzneimittelhersteller: Bei der Planung klinischer Studien an Kindern oder Jugendlichen in Deutschland ist es schwierig,
junge Probanden zu finden. „Für Studien mit bereits zugelassenen Arzneimitteln ist das noch relativ einfach“, sagt
Zentgraf. „Da gehen fast alle Eltern
mit.“ Völlig anders bei frisch entwickelten Wirkstoffen. In solchen Fällen sei es
fast unmöglich, das Einverständnis der
Eltern zu erhalten.
Diese Tests wandern deshalb oft
ins Ausland. Zwar sind Eltern in den
USA oder in Osteuropa nicht weniger
um ihren Nachwuchs besorgt als die
Deutschen, doch für die Erprobung
neuer Therapien eher aufgeschlossen –
vielleicht als Folge überwiegend privat
finanzierter Gesundheitssysteme.
Im Alltag deutscher Kinderärzte
und pädiatrischer Stationen wird sich
therapeutisch wohl erst etwas ändern,
wenn sich für die pharmazeutischen
Unternehmen mehr Anreize ergeben.
Bis dahin wird es bei der Behandlung
von Kindern vielfach Experimente geben, bei denen die Ärzte auf sich allein
gestellt sind.
Für viele Erkrankungen haben
Fachgesellschaften zwar Richtlinien für
den Einsatz von Medikamenten außerhalb der regulären Zulassung erarbeitet,
die zumindest eine grobe Richtung vorgeben. Trotzdem kostet es noch immer
viel Zeit, einen Therapieplan für kleine
Patienten aufzustellen. Mit „zwei bis
drei Stunden im Schnitt“ rechnet Stefan
Bernitzki, Kinderarzt und Neonatologe
vom Herzzentrum des Universitätsklinikums Köln. Darin enthalten seien
Recherchen in der Fachliteratur, Besprechungen mit Kollegen und die Suche
nach verbindlichen Leitlinien. „In der
wissenschaftlichen und rechtlichen Grauzone, in der wir uns bewegen, müssen
wir unsere Entscheidungen immer sehr
gut begründen können“, sagt Bernitzki.
Denn im Zweifel haftet der Arzt bei
Komplikationen.
Martin Zentgraf würde den Medizinern gern helfen. Wie alle Pharmahersteller verfolgt auch sein Unternehmen
Veröffentlichungen über den Off-LabelUse der eigenen Wirkstoffe sehr genau.
„Doch wir dürfen das Wissen nicht teilen, weil uns das als Werbung für den
Off-Label-Gebrauch ausgelegt werden
könnte.“ Nur wenn ein Arzt mit exakt
formulierten Fragen käme, dürfe man
Studien herausgeben.
Um den Mangel zu überbrücken
und Wissen zu bündeln, helfen sich
die Ärzte deshalb inzwischen selbst.
Beispielsweise auf der Web-Plattform
Mydosis, die der Kinderarzt Bernitzki
eingerichtet hat. Dort werden Dosierempfehlungen zum Off-Label-Use in
der pädiatrischen Praxis ähnlich wie bei
Wikipedia zusammengeführt. Irgendwann könnten Kinderärzte dort ein
Netzwerk knüpfen und ihre Erfahrungen koordinieren, hofft der Initiator.
Das wäre ein guter Anfang. Doch
wirkliche Sicherheit – für die kleinen
Patienten und ihre Ärzte – können nur
systematische Studien schaffen. 7
93
Wie geht’s?
Egal, wo man lebt auf der Welt: Krank sein will keiner. In Deutschland
beklagen wir steigende Preise, Zuzahlungen und Versicherungsprämien.
Doch sind andere Nationen besser dran?
Wie geht es einem, der krank ist in China, Großbritannien, Indien,
den Vereinigten Staaten oder in Schweden? Eine Reise um die Welt.
Fotos: Xxxxxxx Xxxxxxx
China
Früher waren alle Chinesen arm, heute sind die Wohlstandsunterschiede gewaltig. Der Wandel hat auch das
Gesundheitssystem erfasst: Aus sozialistischer Totalversorgung wurde marktgetriebene Vielklassenmedizin.
Text: Bernhard Bartsch
96
H
erzrhythmusstörungen sind
eine beängstigende Erfahrung. Herr Wu machte sie
vor zwei Jahren. Der 38-jährige Pekinger hatte vorher nie gesundheitliche
Probleme gehabt, als er eines Tages das
Stottern in seiner Brust bemerkte. Im
Krankenhaus erklärte ihm der Arzt, dass
eine aufwendige Operation nötig sei.
Nicht der einzige Schock: Die Behandlung würde teuer werden und Herrn
Wu mehrere Monatsgehälter kosten.
Herr Wu gehört zur chinesischen
Mittelschicht, jenen rund 300 Millionen
Glücklichen, denen Chinas WirtschaftsBoom Erfolg und Wohlstand beschert
hat. Er hat einen festen Job bei einem
Staatsbetrieb, wohnt mit Frau und Tochter in einer Eigentumswohnung, die er
in Raten abbezahlt, und macht Urlaub
im Ausland. Doch ein unregelmäßiger
Herzschlag reichte aus, um die scheinbar gesicherte Existenz zu bedrohen.
Mindestens 50 000 Yuan (6000
Euro) würde die Operation kosten,
überschlug der Arzt – das entsprach
dem Einkommen von einem halben
Jahr. „Allerdings riet er mir, importierte
Medikamente und OP-Materialien zu
benutzen, weil man der chinesischen
Qualität nicht vertrauen könne“, erinnert sich Wu. „Die Kosten würden sich
dadurch aber verdoppeln.“
Wu erkundigte sich bei der staatlichen Krankenkasse, in die er monatlich
acht Prozent seines Bruttolohns einzahlt. Für eine Behandlung mit chinesischen Medikamenten könne er 80 Prozent der Kosten erstattet bekommen,
bei Importpharmaka nur die Hälfte.
Doch wer will schon bei einer lebensbedrohlichen Krankheit knausern? Herr
Wu entschied sich, an seine Ersparnisse
zu gehen. „Letztendlich hatte ich dann
Glück im Unglück“, erzählt er. Als er
ins Krankenhaus eincheckte, waren alle
OP-Säle und Betten belegt. Nach einer
Nacht auf einer Pritsche im Korridor
wurde Wu am nächsten Tag von einer
Ärztin untersucht, die ihm einen anderen Rat gab als ihr Kollege. Bevor er
sich einer Operation unterziehe, solle er
eine Therapie mit Stromschlägen versuchen. Diese war weniger riskant,
kostete nur 6800 Yuan (820 Euro) –
und funktionierte. „Womöglich wollte
mich der erste Arzt nur operieren, weil
er an den Kosten verdiente“, sagt Wu
im Nachhinein. „Ich war der Ärztin so
dankbar, dass ich ihr hinterher ein Geschenk geschickt habe.“
Wer in China zum Arzt geht, muss
auf Überraschungen gefasst sein, und
nur selten folgen den schlechten Nachrichten am Ende noch so gute wie im
Fall von Herrn Wu. Gesundheitliche
Sorgen werden oft zu finanziellen, und
Patienten kämpfen nicht nur mit Krankheiten, sondern auch mit einem undurchsichtigen Gesundheitssystem aus
Krankenhäuern, Versicherungen und Behörden. Die einzige Gewissheit: Kranksein ist in China teuer, und gesund wird
nur, wer es sich leisten kann.
Ein unregelmäßiger
Herzschlag reicht aus,
um die scheinbar
gesicherte Existenz
zu bedrohen.
Medizin gegen Bares
Das widerspricht grundsätzlich der Idee
eines sozialistischen Staates. Tatsächlich
verfolgten Chinas Kommunisten ursprünglich andere Ideale. Nach der
Gründung der Volksrepublik im Jahr
1949 organisierten sie ihren Staat nach
sowjetischem Vorbild: Die Menschen
wurden Arbeitseinheiten zugewiesen,
die alle Bereiche ihres Lebens regelten.
Die sogenannte „eiserne Reisschüssel“
versprach ihnen Verpflegung, Arbeit
und Ausbildung, eine Wohnung und
Sozialleistungen. Kranke sollten in staatlichen Krankenhäusern kostenlos behandelt werden. Doch die Rundum-Versorgung blieb Theorie, für die Realisierung
fehlten Ressourcen. Hospitäler mit qualifizierten Ärzten, modernen Geräten
und Medikamenten gab es in der MaoZeit nur für die Partei-Elite.
Das änderte sich mit Beginn der
Reformpolitik Anfang der Achtzigerjahre. Unter Deng Xiaoping tauschte die
Partei ihre sozialistischen Wunschvorstellungen gegen marktwirtschaftlichen
Pragmatismus ein. Das Totalversorgungsversprechen wurde aufgekündigt.
97
Was an Ansprüchen übrig bleibt, hängt
seitdem davon ab, zu welcher sozialen
Gruppe man gehört und wie viel Geld
man hat.
Staatsbedienstete und Stadtbewohner bekommen nach wie vor subventionierte Leistungen. Die armen Landbewohner und die vielen Wanderarbeiter
sind davon ausgeschlossen. Gleichzeitig entstanden neue Krankenhäuser, die
zwar nominell staatlich sind, aber wie
profitorientierte Unternehmen operieren. Arztpraxen gibt es in China kaum.
Wer sich mit modernen Geräten untersuchen oder von einem im Ausland
oder an Chinas Top-Universitäten ausgebildeten Arzt behandeln lassen will,
muss dafür einen Aufschlag bezahlen.
Missbrauch sind dabei Tür und Tor
geöffnet. Denn nicht nur die Krankenhausgesellschaften suchen ihren Profit,
sondern oft auch jeder einzelne Arzt.
Verschreibt er teure Behandlungen oder
Medikamente, wird er an den Einnahmen beteiligt, sowohl von seinem Arbeitgeber als auch von den Pharmafirmen.
Kontrollmechanismen, die derartigen
Machenschaften einen Riegel vorschieben, sind schwach. Unabhängige Verbraucherschützer, Patientenvereinigungen oder Gerichte lässt das Ein-ParteiSystem nicht zu. Aus dem sozialistischen
Gleichheitsgrundsatz wurde so in kürzester Zeit eine marktgetriebene Vielklassenmedizin.
In welche Klasse sie selbst gehören,
erfahren Patienten in der Regel erst im
Ernstfall. So wie Herr Zou, ein Rentner
aus dem nordchinesischen Shenyang,
bei dem kürzlich ein Tumor in der
Schilddrüse entdeckt wurde.
Im örtlichen Krankenhaus war man
nicht bereit, ihn zu operieren. Als ehemaliger Beamter hat er Anrecht auf
eine Behandlung zu Tarifen, die von
der staatlichen Versicherung festgelegt
werden. „Man sagte mir, dass ich
wahrscheinlich ein Verlustgeschäft sein
werde und deshalb bitte ein anderes
Krankenhaus aufsuchen möge“, erzählt
er. Falls er doch auf einer Behandlung
bestehe, solle er zustimmen, nach einer
Woche das Spital zu verlassen und erst
15 Tage später wiederzukommen, dann
könne man der Versicherung eine neue
Behandlung in Rechnung stellen. Doch
Zou wusste, dass es noch eine andere
Möglichkeit geben würde, aufgenommen zu werden: Er drückte den Ärzten
Geldumschläge in die Hand. „Erst
haben sie sich geziert, aber dann haben
sie es doch angenommen“, sagt er.
Für die Operation berechnete das
Krankenhaus den subventionierten Preis
von 9000 Yuan (1080 Euro), zwei Drittel davon bezahlte Zous Versicherung.
Nach der OP musste er eine Woche
bleiben. Die Familie zahlte den Aufpreis
für ein Einzelzimmer, in dem auch seine
Frau auf einem Klappbett übernachtete,
um ihn versorgen zu können.
Pflege und Essen sind in chinesischen Kliniken nicht inbegriffen. Wer
keine Familienmitglieder hat, die sich
kümmern, muss auf eigene Kosten
eine Pflegeschwester anheuern. Mit der
Behandlung ist Herr Zou trotz der
Anfangsschwierigkeiten hoch zufrieden.
„Die Ärzte waren von einer angesehenen Universität, und die Klinik war gut
ausgestattet“, sagt er. „Vor zehn oder
zwanzig Jahren hätte man von einer
solchen medizinischen Versorgung nur
träumen können.“
Verzweifelte Patienten
Für die Mehrheit der Chinesen ist es bisher allerdings beim Träumen geblieben.
Denn wer nicht wie Herr Zou oder
Herr Wu über das nötige Geld verfügt,
ist vom Fortschritt ausgeschlossen oder
muss sich für seine Gesundheit in Schulden stürzen.
In der Öffentlichkeit ist diese Ungleichheit ein viel diskutiertes Thema.
Immer wieder berichten Medien von
den Tragödien derer, die an die Grenzen des Systems stoßen. So machte der
Fall der Bäuerin Zhang Yan aus der Provinz Anhui Schlagzeilen, die sich in einer
Krankenhaustoilette mit dem Kabel
ihres Handyaufladegeräts erhängt hatte.
2007 waren bei Yan Nierenprobleme
aufgetreten, die regelmäßige Dialyse
erforderten. Das Geld dafür lieh sie sich
von Verwandten und Freunden. In vier
Jahren häufte sie Schulden von 300 000
Yuan (36 200 Euro) an. Auf dem Land
entspricht das dem mehr als 50-fachen
eines durchschnittlichen jährlichen Ein-
Gesundheit in Zahlen
Deutschland
.................................
Großbritannien
Indien
USA
11,6
............................................
Aufwendungen für das Gesundheitswesen, in Milliarden Dollar
.....................................
9,8
......................................
4,2
.......................................
....................................
Durchschnittliche Lebenserwartung
in Jahren
374,0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4129 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
..............................
...........................................
Aufwend.für das Gesundheitswesen
pro Kopf, in Internationalen Dollar*
5,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278,4. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
...........................................
Schweden
217,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3399 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
17,4
....................................
10,0
.......................................
52,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
2441,0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7410. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
47,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3690. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Quellen: Seite 98: WHO, OECD, 2009; Seite 99: Gesundheitsbarometer 2010, Ernst & Young; *Internationaler Dollar: eine von der Weltbank berechnete Vergleichswährung
98
derarbeitern, die zusammen etwa zwei
Drittel der chinesischen Bevölkerung
ausmachen, eine gewisse Absicherung
gibt. Seit 2010 werden Bauern angehalten, für eine kleine Summe eine staatliche Police zu kaufen. Viele Leistungen
werden dafür zwar nicht geboten, die
Aktion hat bisher eher pädagogischen
Charakter und soll den Bauern das Konzept der Versicherung nahebringen und
sie anregen, bei privaten Anbietern weitere Abdeckung zu kaufen. Laut offiziellen Angaben sind auf diese Weise mehr
als 90 Prozent der Bevölkerung Teil des
staatlichen Gesundheitssystems.
Nutzlose Versicherungen
Erfahrungen mit dieser Minimalversicherung machte Sun Defang. Die 40jährige stammt aus einem Dorf in der
Provinz Anhui. Als junge Frau ging sie
nach Schanghai, um in einer Textilfabrik Geld zu verdienen. Vor neun
Jahren zog sie nach Peking, wo sie als
Haushälterin arbeitet. Obwohl sie seit
fast zwanzig Jahren in der Stadt lebt und
nur zum Neujahrsfest für zwei Wochen
in ihre Heimat zurückfährt, gilt sie nach
dem chinesischen Meldesystem noch
immer als Landbewohnerin. Rund 3000
Yuan (360 Euro) verdient sie im Monat,
bar auf die Hand, ohne Steuern oder
Sozialabgaben. Allerdings schloss auch
sie die Bauernversicherung ab, für die
der Dorfbürgermeister einmal im Jahr
die Gebühren einsammelt.
Als sie kurz darauf schwanger wurde,
zog sie in die Heimat zurück. „Das Kind
in Peking zu bekommen wäre wahnsinnig teuer gewesen“, erzählt sie. Im
Landkrankenhaus sollte die Entbindung
dagegen nur 2000 Yuan (240 Euro)
kosten, 70 Prozent davon würde die
Versicherung übernehmen. Doch nach
Voruntersuchungen befand ihr Arzt,
dass es bei der Geburt Komplikationen
geben könnte und lehnte die Behandlung ab. Sun ging daraufhin in eine besser ausgestattete Stadtklinik. Dort kostete die Entbindung das Doppelte, 4000
Yuan (480 Euro), ihre Versicherung
übernahm aber nur 30 Prozent. 2800
Yuan (338 Euro), rund einen Monatslohn, musste Sun selbst aufbringen.
„Diese Versicherung ist keine große Hilfe“, sagt Sun. „Sie reduziert die Kosten
nur wenig, das meiste muss man selbst
tragen.“ Einfache Behandlungen übernimmt die Versicherung ohnehin nicht.
Allerdings hat die pädagogische Absicht des Staates bei Sun Wirkung gezeigt. Für ihre Tochter hat sie eine kommerzielle Versicherung gekauft. Fünf
Jahre lang muss sie jährlich 3800 Yuan
(458 Euro) bezahlen, dann soll ihr Kind
bis zum 18. Lebensjahr abgesichert sein,
lautet das Versprechen.
Welche Leistungen das umfasst,
weiß sie allerdings nicht. „Die Verträge
verstehe ich nicht, aber Freunde haben
mir gesagt, das sei eine gute Sache“,
sagt Sun. „Ich will mir doch um mein
Baby keine Sorgen machen müssen.“ 7
Wie beurteilen die Deutschen …?
Anteil am BIP für Aufwendungen für
das Gesundheitswesen, in Prozent
China
kommens. Eine Versicherung hatte Yan
nicht. „Sie hatte zwar längst verstanden,
dass ein schwerkranker Landbewohner
eigentlich nur auf seinen Tod warten
kann“, schrieb die Zeitung Nanfang
Zhoumo. „Aber sie wollte die Hoffnung
nicht aufgeben.“ Am Ende waren es die
Schulden, die sie in den Tod trieben,
nicht ihre Krankheit. Ihr Bruder hingegen, der an der gleichen Nierenstörung
litt, entschied sich von vornherein, seiner Familie nicht zur Last zu fallen und
auf eine Behandlung zu verzichten. Vier
Monate später war er tot.
Für Aufsehen sorgte auch der Fall
des Arztes Luo Jun aus dem südchinesischen Shenzhen, der im November
2011 von einem Vater zusammengeschlagen worden war. Die Frau des
Angreifers hatte kurz zuvor ein Baby
zur Welt gebracht, das unter schwerem
Sauerstoffmangel litt. Aus Angst vor
hohen Behandlungskosten und möglichen Folgebehinderungen hatte der
Vater von dem Arzt verlangt, das Baby
sterben zu lassen. Doch der Mediziner
rettete das Kind. „Was ist China für ein
Land, in dem Väter ihre Kinder töten
wollen, aus Angst, dass sie die Familie
ruinieren“, sinnierte ein Blogger im Internet. „Bis unser Volk in Wohlstand
lebt, ist es noch ein langer Weg.“
Weil die Ungleichheit sozialen Sprengstoff birgt, baut die Kommunistische
Partei neuerdings ein Versicherungssystem auf, das auch den Landbewohnern
und den mehr als 200 Millionen Wan-
…
…
…
…
…
…
…
…
…
…
die
die
die
die
die
die
die
die
die
die
Qualität der Gesundheitsversorgung insgesamt .................................................................................................. gut/sehr gut: 87
Qualität der medizinischen Versorgung durch praktische Ärzte ...................................................................... eher gut/gut: 92
Qualität der medizinischen Versorgung durch Fachärzte .................................................................................. eher gut/gut: 90
Qualität der medizinischen Versorgung durch Krankenhäuser ......................................................................... eher gut/gut: 87
Nähe zu praktischen Ärzten .................................................................................................................................. eher gut/gut: 94
Nähe zu Krankenhäusern ....................................................................................................................................... eher gut/gut: 90
Nähe zu Fachärzten ................................................................................................................................................ eher gut/gut: 84
Wartezeit bei praktischen Ärzten .......................................................................................................................... eher gut/gut: 67
Wartezeit in Krankenhäusern ................................................................................................................................ eher gut/gut: 62
Wartezeit bei Fachärzten ........................................................................................................................................ eher gut/gut: 55
Prozent
Prozent
Prozent
Prozent
Prozent
Prozent
Prozent
Prozent
Prozent
Prozent
99
England
Trotz aller Mängel lieben die Briten ihren NHS,
das staatliche Gesundheitssystem. Das spürt jetzt die
Politik: Sie wagt sich an Reformen und stößt auf
Widerstand von allen Seiten.
brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl
Text: Sebastian Borger
100
T
horsten Ruffle-Brandt, 44,
hat einen neuen Arbeitgeber.
Gut zehn Jahre lang war der
deutsche Arzt einer von 1,7 Millionen
Angestellten des National Health Service (NHS) in Großbritannien – eine
Institution, die auf der Insel so viel Ansehen genießt wie höchstens noch die
Queen. Seit Ende 2011 erhält der erfahrene Stationsarzt aus Plymouth sein
Gehalt von einem neu gegründeten örtlichen Gesundheitsverbund. „Sonst hat
sich bisher nichts geändert.“
Bisher. Wie der deutsche Einwanderer ist die große Mehrheit der (früheren)
NHS-Angestellten voller Misstrauen
gegenüber einer milliardenteuren Umstrukturierung, von der sich die konservativ-liberale Regierung in London
mehr Dezentralisierung und Effizienz
erhofft. Kritiker hingegen befürchten die
Kommerzialisierung des bisher überwiegend steuerfinanzierten Systems, vor
allem eine Aufweichung des ehernen
Prinzips der Kostenfreiheit. Genau dies
aber schätzen die Briten über alles, berichtet Ruffle-Brandt: „Wer immer man
ist, was auch immer man verdient: Die
Behandlung ist kostenlos.“
Zusatzleistungen. Die Normalbürger
sind hingegen auf ihren Hausarzt, den
sogenannten Generalpraktiker (GP), angewiesen. Ihn kann man innerhalb eines
größeren Wohnbezirks frei wählen und
bei Problemen auch wechseln. GPs fungieren als Zugangsschleuse zum NHS,
nur durch sie erhalten Patienten eine
Überweisung zum Facharzt, zur Krankengymnastik oder zu Routine-Eingriffen im Krankenhaus.
In den vergangenen Jahren hat es im
Gesundheitsbereich Rekord-Investitionen gegeben: Davon zeugen allerorten
neue Krankenhäuser. Dennoch weist der
Service für die Bürger erhebliche Mängel auf. Noch immer warten Kranke
wochen- und monatelang auf Termine
bei Spezialisten.
Profit, Auslastung, Effizienz
Im vergangenen Jahrzehnt, unter Labour, wurde an vielen Stellen Wettbewerb ermöglicht. Das habe in den Spitälern zu einer „spürbaren Entsolidarisierung“ geführt, lautet die Beobachtung
eines Internisten, der an mehreren Krankenhäusern tätig ist. „In den Besprechungen geht es meist nur noch um
Profit, Auslastung, Effizienz.“
Service mit Mängeln
Für notwendige Eingriffe können
In Großbritannien gibt es keine Kran- Patienten unter vier Krankenhäusern
kenversicherungspflicht, und das NHS wählen, von denen eines privat geführt
ist auch keine Krankenkasse, keine Ver- sein darf. Tatsächlich bleibt es aber
sicherung. Niemand zahlt Beiträge, und meist bei der Auswahl durch den Hausman ist auch nicht Mitglied. Jeder, der arzt. Einer Publikation der Gesundheitskrank oder verletzt ist, wird grundsätz- Consultancy Laing & Buisson zufolge
lich gemäß der medizinischen Notwen- entschieden sich im vergangenen Jahr
digkeit behandelt und nicht nach sei- nur 4,8 Prozent der Patienten für eine
nem Geldbeutel. Damit ist das NHS Privatklinik.
Landesweit beschäftige das NHS,
der Prototyp einer staatlichen Gesundheitsversorgung. Die Kosten werden zu so lautet ein gängiger Stoßseufzer, so
87 Prozent aus dem Steueraufkommen viele Menschen wie sonst nur noch
finanziert, der Rest stammt aus priva- die chinesische Volksarmee und sei desten Quellen. Das Gesundheitsministe - halb auch entsprechend bürokratisch.
rium erhält sein Budget direkt vom Die Klagen von Bediensteten – neben
Finanzministerium und verteilt es auf Ärzten, Pflegern und Schwestern auch
Zehntausende von Verwaltern – und
die regionalen Verwaltungen.
Rund 15 Prozent der Briten zahlen Patienten über Papierkrieg, Personalin private Versicherungen ein und si- mangel und marode Gebäude sind
chern sich damit freie Arztwahl und sprichwörtlich. Doch bei aller Kritik:
Die Reform von Gesundheitsminister
Andrew Lansley sehen die Briten mit
Argwohn. Zäh halten sie an dem System fest, das die Labour-Regierung
1948 einführte, um endlich die medizinische Versorgung für die ganze Bevölkerung sicherzustellen.
Zu den jungen Wissenschaftlern, die
damals mit großem Idealismus ans
Werk gingen, gehörte auch Lansleys
Vater. „Schon deshalb“, beteuert der 55jährige Konservative, „betrachte ich das
NHS als meine Mission und würde es
niemals schädigen.“
Daran zweifeln selbst seine Parteifreunde. Der mächtige, konservativ
dominierte Gesundheitsausschuss des
Unterhauses schlug Lansley die geplante Reform im Januar um die Ohren.
Ärztliche Dienste, häusliche Pflege,
Krankengymnastik und ähnliche Leistungen würden „in einer Art Salamitaktik“ immer stärker beschnitten, um
sowohl den Sparvorgaben als auch der
Reform des Ministers Rechnung zu
tragen. Anfang Februar gab Lansley an
einer wichtigen Stelle nach: Auch in
Zukunft bleibt der Gesundheitsminister
persönlich für die Gleichbehandlung
aller Patienten in England verantwortlich. So stand es bisher im Gesetz, und
so wird es bleiben.
Das Zugeständnis wird aber nichts
daran ändern, dass es wie schon bisher
regionale Unterschiede gibt. Die ärztliche Versorgung von Schotten, Walisern
und Nordiren steht in der Verantwortung der jeweiligen Regionalregierung,
auch in den englischen Regionen entscheiden die örtlichen Verwaltungen
unterschiedlich.
Beispielsweise genießt auf dem Papier jeder Bürger denselben Anspruch
auf Pflege im Alter wie auf Gesundheitsversorgung im NHS, eine eigene Pflegeversicherung gibt es nicht. Aber nur
die Regionalregierung von Schottland
ist der Empfehlung einer Königlichen
Untersuchungskommission gefolgt und
bezahlt komplett die Pflege alter Menschen sowohl in Heimen als auch in den
eigenen vier Wänden. In England und
101
Undurchsichtige Bewertungen
Die Nice-Entscheidungen haben jedoch
Wirkungskraft weit über die Insel hinaus. Als weltweit erste Behörde unternahm das Institut den Versuch, den
Wert einer medikamentösen Behandlung nicht nur an der rein biologischen
Überlebenszeit zu messen, sondern auch
an der Lebensqualität. Resultat ist der
sogenannte Qaly-Index. Mit ihm wird
eine komplizierte Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt. Je nach Ergebnis hebt
oder senkt sich der Daumen der mächtigen Arzneimittel-Bewerter.
Die unvermeidlichen Kontroversen
rund um Nice-Entscheidungen drehten
sich in den vergangenen Jahren besonders um Patienten, die an selteneren
102
Karzinomen leiden. Das Institut arbeite
zu langsam, sei teuer und bürokratisch,
urteilen führende Krebsmediziner. „Die
unwissenschaftlichen und subjektiven
Beurteilungen durch Nice treiben Patienten und Kliniker zur Verzweiflung“, sagt
Jonathan Waxman, Professor für Onkologie am weltberühmten Londoner Imperial College.
Betroffen vom Nice-Bannstrahl waren im Laufe der Jahre alle großen
Pharma-Konzerne, binnen eines Jahres
(2009) traf es Pfizer (Medikament: Sutent), Roche (Avastin) und GlaxoSmithKline (Tyverb). Alle wurden abgelehnt.
Um Tyverb dennoch am Markt durchzusetzen, bot der britische Konzern dem
NHS Sonderkonditionen an. Auch andere Firmen haben daraufhin ihre Preise
gesenkt, um den Einwänden von Nice
entgegenzukommen.
Alleingelassene Patienten
Damit hat die Behörde einen wichtigen
Zweck schon erfüllt, schließlich machen
sich Gesundheitspolitiker allerorten
Gedanken darüber, wie sich die Kosten
im Gesundheitswesen dämpfen lassen.
Nice gehe dabei „transparenter vor, als
das in Deutschland bisher der Fall war“,
urteilt der Tübinger Medizinethiker
Dietrich Rössler.
Trotz des vergleichsweise offenen
Umgangs mit den Themen Lebensverlängerung und Lebensqualität liegt bei
der Palliativmedizin einiges im Argen,
dabei stellt gerade sie für viele deutsche
Ärzte ein Vorbild dar. Immer noch sterben viel zu viele im Krankenhaus statt
zu Hause, wie von ihnen gewünscht.
Eine Experten-Studie im Regierungsauftrag fand „erstaunliche Ungerechtigkeiten“ in der landesweiten Palliativ-Versorgung der rund 500 000 Sterbenden
pro Jahr. In manchen Bezirken budgetiert die lokale Verwaltung pro Sterbenskrankem umgerechnet 222 Euro,
in anderen 7409 Euro. „Am Ende ihres
Lebens werden viele Patienten wie ein
Jo-Jo behandelt, also ständig ins Krankenhaus eingeliefert und bald wieder
entlassen“, analysiert Thomas HughesHallett von der Krebshilfe Marie Curie.
Diese unwürdigen Zustände kennt
Gesundheitsminister Lansley aus erster
Hand, zählte doch sein Vater 2010 zu
den Opfern unzulänglicher Palliativmedizin. Als Thomas Lansley, 89, in den
Monaten vor seinem Tod mehrfach ins
Spital eingeliefert wurde, geschah einmal so lange nichts, bis sich der erfahrene Wissenschaftler kurzerhand selbst
entließ. An einem Sonntag musste der
Minister anderthalb Stunden telefonieren, bis er herausgefunden hatte, wohin
der Krankenwagen seinen alten Vater
gebracht hatte. Der alte Herr musste
mehrere Tage zur Beobachtung in der
Notaufnahme verbringen, weil kein reguläres Krankenhausbett frei war. Die
letzten sechs Monate vor dem Tod des
Vaters „waren sehr schwierig“, berichtete Lansley im vergangenen Jahr auf
einer Tagung zur Palliativmedizin.
Dabei rühmt sich Großbritannien
gern eines vergleichsweise unverkrampften Umgangs mit dem Tod. Bei der
Pflege von schwerstkranken und sterbenden Menschen wird schon seit Längerem „auch auf die Kosten geachtet“,
hat ein deutscher Arzt in britischen Hospitälern beobachtet. Seit Jahren veröffentlicht das Ministerium regelmäßig die
Fortschreibung einer „Strategie für die
Betreuung am Lebensende“; außerdem
wird gern behauptet, die Insel sei als
Ausgangspunkt der modernen Hospizbewegung „weltweit führend“ in der
Palliativmedizin.
Wer Angehörige in den Acht-BettZimmern britischer Hospize hat sterben
sehen, wird sich dieser Bewertung nicht
unbedingt anschließen. 7
Indien
Im Land der Extreme gibt es alles und nichts:
modernste Medizintechnik für wenige, schlimmste
hygienische Zustände für die meisten. Und
80 Prozent aller Inder sind gar nicht krankenversichert.
Text: Gerhard Waldherr
brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl
Wales müssen die Betroffenen eine Einkommenserklärung abgeben. Wer mehr
als 28 000 Euro besitzt, zahlt selbst.
Weil viele alte Menschen nur ein geringes Einkommen und wenig Ersparnisse
haben, aber Wohnungen und Häuser
besitzen, die zuletzt stark im Wert gestiegen sind, mussten Zehntausende
ihre Immobilien verkaufen und in Pflegeheime umziehen.
Für Verbitterung unter den Betroffenen sorgt auch die Gesundheitsversorgung von Pflegebedürftigen. Das NHS
verweigerte der steigenden Zahl von
Demenzkranken lange Zeit aus Kostengründen bestimmte Medikamente, die
im Frühstadium noch hätten helfen
können. Pharmafirmen und die Alzheimer-Gesellschaft riefen deshalb sogar
das Höchste Gericht an.
Im Kreuzfeuer der Kritik steht immer wieder das „Nationale Institut für
Gesundheit und klinische Exzellenz“,
abgekürzt Nice. Es entstand bereits 1999
als Antwort auf anhaltende Klagen über
die „Postleitzahl-Lotterie“: Bis dahin
entschied die örtlich zuständige NHSBehörde darüber, welche Behandlung
bezahlt wurde. Stattdessen erlässt nun
Nice landesweit geltende Regeln, an
denen sich die regionalen Behörden im
Normalfall orientieren.
103
U
pper Middle Working Class“,
sagt er, so würde er sich einstufen. Oberer Durchschnitt.
Parvish Pandya ist 53, Doktor der Biologie, geschieden, zwei Kinder. Er unterrichtet Zoologie am Bhavans College in
Mumbai, Stadtteil Andheri, wo er auch
wohnt, in seinem einstöckigen Haus,
drei Zimmer, Küche, Bad. In seiner Freizeit widmet er sich der Ornithologie und
Naturexpeditionen, oft mit ehemaligen
Schülern; sie stellen das Gros seiner
2098 Freunde auf Facebook.
Wenn man ihn fragt, was er für
seine Gesundheit tut, sagt Pandya:
„Strikte Diät.“ Häufig Fisch, Reis, viel
Gemüse und Obst, selten Fleisch, wenn
möglich wenig Fett und Brot, kaum
Alkohol. „Auch deswegen hatte ich
zum Glück noch nie eine größere Operation oder war lange im Krankenhaus.“
Dennoch hat Pandya zwei Krankenversicherungen: Eine von New India Assurance unter dem Label „Mediclaim“; der
Beitrag von 7400 Rupien (112 Euro) im
Jahr deckt 30 Krankenhaustage à 600
Rupien (9 Euro), dazu die Behandlung
davor und danach. Die andere ist von
ICICI Lombard, kostet 5763 Rupien
(88 Euro) im Jahr und garantiert die
Übernahme von Behandlungskosten bis
800 000 Rupien (12 200 Euro). Zusätzlich genießt Pandya noch Versicherungsschutz durch seinen Arbeitgeber.
Die Ausgaben für die beiden Versicherungen, sagt Pandya, würden ihn
finanziell nicht sehr belasten, er leiste
sich dazu einen wöchentlichen Besuch
bei einer Homöopathin. Kosten: 150
Rupien (2,30 Euro). Überhaupt keine
Probleme? „Den richtigen Arzt zu finden ist wichtig“, so Pandya. „Aber da
meine Ex-Frau Ärztin ist, kenne ich
Leute.“ Und sonst? „Meine letzte Erfahrung mit Krankenhäusern war 1996,
als mir ein Backenzahn entfernt wurde
und ich eine Nacht stationär lag.“ Die
Kosten von 6000 Rupien (92 Euro)
wurden von der Versicherung anstandslos bezahlt.
Anderswo auf der Welt wäre Dr.
Parvish Pandya ein aussagekräftiges Bei104
spiel, stellvertretend für das Gesundheitssystem seines Landes. Einer von
Millionen, statistisch irgendwo in der
Mitte. Doch in Indien ist der Durchschnitt meist nicht mehr als ein statistisches Vehikel zwischen Gegensätzen
und Extremen – und damit im Zweifel
die Ausnahme.
Die Gegensätze: siebtgrößtes Land
der Erde, im Norden der Himalaya, im
Süden Tropen, dazwischen Regenwald,
Gebirge, gemäßigte Zonen, Steppen,
Wüsten. 1,2 Milliarden Einwohner, 23
offizielle Sprachen, vier Weltreligionen.
Ein soziales Panoptikum. Mehrere Dutzend politische Parteien. 300 Arten, eine
Kartoffel zuzubereiten. Kaum gemeinsame Nenner. Das Leben der Menschen
unterscheidet sich dramatisch nach Ethnie, Religions- und Kastenzugehörigkeit, im gesellschaftlichen Status und
in den wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Und nicht zuletzt darin, ob jemand in
der Stadt lebt oder auf dem Land, wie
etwa zwei Drittel aller Inder.
Weniger als 1,25 $ zum Leben
Die Extreme: Indiens Wirtschaft wächst
seit mehr als zwei Jahrzehnten kontinuierlich, gehört zu den zehn größten
Volkswirtschaften der Welt. Aber: Das
Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner
betrug im Jahr 2010 lediglich 1475 USDollar, damit belegt Indien nur einen
Platz im unteren Drittel der von der
Weltbank mit diesem Indikator bewerteten Länder, hinter Nachbar Bhutan,
und nicht weit vor Krisenländern wie
Jemen oder Sudan.
Von den rund 460 Millionen Erwerbsfähigen des Landes sind nur knapp
die Hälfte überhaupt erwerbstätig, von
denen wiederum nur ein kleiner Teil
im formellen Sektor. Das Gros verteilt
sich auf Selbstständige, Lohn- und Wanderarbeiter, Tagelöhner. Während es in
Mumbai, der wirtschaftlichen Metropole des Landes, rund 70 000 Dollarmillionäre geben soll, leben etwa ein
Viertel aller Inder von weniger als 1,25
Dollar am Tag.
Seit 1950 garantiert die Verfassung
allen Indern sozialen Schutz, darunter
die kostenlose Gesundheitsversorgung.
Die Umsetzung dessen obliegt Regierung, Bundesstaaten und Kommunen
gemeinsam. Zunächst verfolgte Indien
dabei ein staatliches System. Seit der
wirtschaftlichen Öffnung des Landes
1991 haben sich die öffentlichen Ausgaben aber zunehmend in den privaten
Bereich verlagert.
Diese Schieflage spiegelt sich in der
Krankenversicherung wider. Das staatliche Modell wird finanziert durch Beiträge von Arbeitnehmern (1,75 Prozent
vom Arbeitslohn), Arbeitgebern (4,75
Prozent vom Arbeitslohn) und durch
staatliche Zuschüsse (12,5 Prozent der
anfallenden medizinischen Kosten). Erhältlich ist es jedoch nur für Beamte
und die schon genannten acht Prozent
Arbeitnehmer im formellen Arbeitsmarkt. Und das auch nur, wenn sie
weniger als 15 000 Rupien (225 Euro)
monatlich verdienen.
Zusammen mit dem Teil der Bevölkerung, der privat versichert ist, bedeutet das: Nur 20 Prozent sind überhaupt
versichert, vier von fünf Indern sind
gar nicht gegen Krankheit oder Unfall
abgesichert. Hinzu kommt: Weder die
staatliche noch die private Versicherung
deckt in aller Regel die Kosten für die
ambulante Behandlung bei niedergelassenen Ärzten, auch der Service in Krankenhäusern muss vorab bezahlt werden.
Zwar wären sie per Gesetz verpflichtet,
Patienten aus unterprivilegierten Schichten kostenlos zu behandeln. Doch in
der Praxis werden vor allem Mitglieder
der 635 Unterkasten (Unberührbare)
und Stammesangehörige aus Prinzip
abgewiesen.
Es gibt in Indien geschätzt 22 000
staatliche Primary Healthcare Centers
(Primärstationen, die der Grundversorgung dienen) und 137 000 Unterzentren,
dazu 12 000 sekundäre (Fachkliniken)
und tertiäre (Spezialkliniken) Krankenhäuser, 3000 kommunale Gesundheitszentren und 3500 Familienbetreuungszentren. Einige der großen staatlichen
Lange Wartezeiten,
veraltete Technik,
mangelnde Hygiene.
Betten ohne Laken,
Gestank, Ungeziefer.
Es ist ein Albtraum.
Krankenhäuser – wie das AIIMS in
Delhi, das KEM in Mumbai oder das
PGIMER in Chandigarh – haben in
Indien einen passablen Ruf. Dem westlichen Betrachter mag das nicht einleuchten. Wer einmal im KEM in Mumbai war, sieht Menschen, die neben
Tieren auf dem Flur schlafen; Säle mit
bis zu 300 Betten, die Patienten liegen
mitunter zwischen den Betten auf dem
Boden. Vor Visiten schicken die Patienten ihre Angehörigen zur Apotheke, um
Spritzen und Gummihandschuhe für die
Blutabnahme zu kaufen. Liegen diese
nicht am Bett, wenn der Arzt kommt,
wird kein Blut abgenommen.
Geradezu desaströs ist die Lage auf
dem Land, wo Primärstationen häufig
weit entfernt von Dörfern liegen, schwer
zu erreichen sind und nicht einmal über
rudimentäre Technik verfügen. Erhältlich
sind oft nur gängige Schmerztabletten
wie Paracetamol. Auch in sekundären
oder tertiären Krankenhäusern ist die
Versorgung unzureichend. Was auch
daran liegt, dass 75 Prozent des Budgets für Personal ausgegeben wird.
Und das, obwohl die Ärzte und Pfleger
schlecht ausgebildet sind und sich noch
Geld im besser bezahlten privaten Sektor dazuverdienen, wo 80 Prozent aller
ärztlichen Dienstleistungen stattfinden.
Im Schnitt sind die Ärzte bei staatlichen
Einrichtungen in der Hälfte der Arbeitszeit gar nicht anwesend. Hinzu kommen
Probleme wie Korruption und Missbrauch bei Medikamenten- und Arztrechnungen. Stundenlange, manchmal
tagelange Wartezeiten. Veraltete Medizintechnik. Mangelnde Hygiene. Nicht
sterile Instrumente. Betten ohne Laken.
Gestank. Ungeziefer. Dr. Abhishek Bhargav, Allgemeinarzt in Mumbai, sagt: „Es
ist ein Albtraum.“
Völlig anders die Situation im privaten Sektor. In Indien sind in den
vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl
von Krankenhausketten entstanden, die
gefördert werden mit staatlichen Zuschüssen, Steuervorteilen, kostenlosem
Bauland. Wer sich die Behandlung in
Einrichtungen der Unternehmen Apollo,
Fortis, Wockhardt, Hiranandani oder
Lilavati leisten kann, trifft auf westlichen
Standard und modernste Technik. Man
muss sie sich vorstellen wie Polikliniken
mit Spezialisten aller medizinischen
Fachbereiche, mit eigenen Labors, Apotheken. Die Behandlung erfolgt prompt,
das Personal ist kompetent. Indiens führende Universitäten, die zu den besten
der Welt zählen, bilden hervorragende
Mediziner aus. Und die lassen den
Medizintourismus seit Jahren boomen:
Für eine Herzoperation, die in den USA
mehr als 300 000 Dollar kosten kann,
fallen in einem der besten indischen
Krankenhäuser etwa 8000 Dollar an.
Neben im Ausland lebenden Indern
kommen vor allem Amerikaner, Europäer und wohlhabende Afrikaner. Offeriert werden inzwischen Pauschalreisen
inklusive Erholungsurlaub. Und nicht
nur hier boomt es: Auf dem Schwarzmarkt gibt es einen schwunghaften
Handel mit Organen, hauptsächlich
Nieren. Gängiger Preis pro Niere: 1000
Dollar.
0,6 Ärzte und 0,9 Betten
pro 1000 Einwohner
Dr. Amit Mukherjee steht im Tinplate
Hospital, Jamshedpur, Bundesstaat
Jharkhand. „Der Staat“, sagt Mukherjee, „hat sein Versprechen auf eine Gesundheitsversorgung der Bevölkerung
nie eingelöst.“ Ein vornehmer älterer
Herr, dunkles Haar, Schnurrbart. Er
fragt, wie ein Volk adäquat versorgt
werden soll bei statistisch 0,6 Ärzten
und 0,9 Krankenbetten pro 1000 Einwohnern? Indiens Gesundheitswesen
sei zu einem Abbild des Wirtschaftswunderlandes geworden, sagt er.
Erste Welt, Hightech und internationaler Standard für wenige, der riesige
Rest dagegen Entwicklungsland, Not
und Elend. Zwar ist die Lebenserwartung zuletzt auf 65 Jahre gestiegen,
doch Indien hat weiter eine sehr hohe
Säuglingssterblichkeit. Unter der armen
Bevölkerung grassieren Tuberkulose,
Malaria, Typhus, Lepra und Aids. Fünf
105
„Als Inder lebt man
mit seinen Leiden, bis
man stirbt.“
Dr. Amit Mukherjee
Prozent der Kinder sterben, bevor sie
ein Jahr alt sind – häufig an Masern,
Durchfall, Wurmerkrankungen. Jeder
achte Inder hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Mukherjee: „Und
wir sind nicht in der Lage, den zunehmenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
Krebs, Asthma, Osteoporose zu begegnen. Diabetes könnte sich schon bald
zu einer Epidemie entwickeln.“
Viele Lücken im
staatlichen System
Er hat in Deutschland gearbeitet, Klinikum Steglitz. Das war Ende der Siebzigerjahre, als sein Vater in Berlin Generalkonsul war. Mukherjee wäre gern
geblieben, doch seine Mutter erinnerte
ihn daran, dass seine Landsleute ihn
dringend brauchten. Er ging nach Hazirabagh in Jharkhand, einen der ärmsten
Bundesstaaten Indiens, wo er als Allgemeinarzt 22 Dörfer betreute. Nun arbeitet er für Tata Steel, das in Jamshedpur
Stahl produziert und mit dem Tinplate
Hospital insgesamt drei Krankenhäuser
betreibt.
Tata ist einer der ältesten und größten indischen Mischkonzerne, dessen
Gründer für seine philanthropische Gesinnung legendär war. Gerade hat Mukherjee einen Patienten mit gebrochenem
Schienbein operiert, gleich wird er rausfahren zum Parkplatz der Lkw-Fahrer,
um sie über Aids aufzuklären, später in
einem von 22 Familienzentren, die Tata
unterhält, bei der Sterilisation von Männern assistieren.
Unternehmen wie Tata schließen
zusammen mit Nichtregierungsorganisationen, die ebenfalls Krankenstationen
betreiben und Versicherungen anbieten,
zumindest einen Teil der Versorgungslücken, die das staatliche indische System hinterlässt. Mukherjee sagt: „Unser
System funktioniert nicht, weil Geld in
Indien sakrosankt geworden ist und die
menschlichen Werte vergessen werden.
Wir verkaufen unsere Kultur.“
Was also bleibt Abermillionen mittellosen Indern, die krank oder invalide
106
werden, sich aber eine professionelle
Behandlung nicht leisten können?
Wenn sie sich nicht verschulden –
jeder fünfte Krankenhauspatient fällt
durch die Behandlungskosten in Armut
–, greifen sie zu traditionellen Hausmitteln. Kräuterpasten, Kräutertees, traditionellen Tinkturen. Sie setzen auf die
Heilkraft von Gewürzen und Wurzeln.
Oder suchen sogenannte „Quack Doctors“ auf, die in Slums am Straßenrand
praktizieren, mit archaischen Instrumenten Zähne ziehen, direkt neben Kloaken. Etwa 1,5 Millionen „Heiler“ praktizieren in Indien. Dazu zählen auch
mindestens 120 000 Ayurveda-Ärzte.
Doch auch bei Ayurveda (wörtlich: das
Wissen vom Leben), das landesweit in
mehr als 100 Schulen gelehrt wird, wie
auch bei den traditionellen Praktiken
Unani und Siddha oder der in Städten
zunehmend populären Homöopathie,
hängt die Qualität der Leistung entscheidend vom Preis ab.
USA
Das Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten ist ein
Dschungel. Wer sich darin zurechtfinden will, muss
sich auf Irrungen, Wirrungen, horrende Preisunterschiede
und ein starkes Leistungsgefälle gefasst machen.
Text: Steffan Heuer
Heilungschancen wie
beim Lotto
Der Markt der Heiler gleicht für westliche Betrachter – wie ganz Indien –
einem heillosen Durcheinander ohne
nachvollziehbare Strukturen und Regeln.
Lizenzen, Registrierung, Kontrollen – all
das gibt es nicht. Nicht einmal in großen Teilen des staatlichen und privaten
Gesundheits- und Apothekensystems.
Allerdings sind die meisten Medikamente, auch verschreibungspflichtige,
in Shops erhältlich, die sich „Medical
Store“, „Chemists & Druggists“ oder
„Pharmacy“ nennen.
Aber auf sachgemäße Behandlung
oder gar Heilung hat man ähnlich hohe
Chancen wie auf den Jackpot beim
Lotto. Dr. Amit Mukherjee sagt: „Die
meisten Inder kennen nur eine Perspektive: Man lebt mit seinen Leiden, bis
man stirbt.“ 7
107
M
rs. P. bringt in einem ganz
normalen Krankenhaus in
San Francisco einen ganz
normalen, gesunden Sohn zur Welt. Die
Rechnung für Arzt, Hebamme, Anästhesist, Schwestern und drei Tage Aufenthalt kommt postwendend: mehr als
75 000 Dollar. Nach dem ersten Schrecken setzt sich die Bürokratie in Gang.
Die Versicherung der Mutter teilt dem
Krankenhaus per Computerausdruck
mit, dass sie für Geburten wie diese nur
25 000 Dollar erstattet. Die Differenz
muss die Klinikverwaltung schlucken,
auch wenn sie noch drei Mahnungen
an die jungen Eltern schickt.
Die Klinik akzeptiert den ZwangsDiscount der Versicherung – nur so
kann es zumindest einen Teil seiner
Kosten decken, wohingegen sonst in der
Entbindungsstation tagein, tagaus Mütter versorgt werden, die illegal im Land
sind und deswegen keinen Cent zahlen.
Die Fehlbeträge gleicht eine Mischkalkulation aus, indem an zahlungskräftige
Patienten überhöhte Rechnungen gestellt werden. Wäre Mrs. P. privat oder
gar nicht versichert, hätte sie den vollen
Betrag per Kreditkarte zahlen oder in
Raten abstottern dürfen, abzüglich eines
vom Verhandlungsgeschick des Patienten abhängigen Rabatts.
Willkommen im Chaos. Das Diktat
des freien Marktes hat das Gesundheitswesen in den Vereinigten Staaten in ein
sündhaft teures Biotop verwandelt, in
dem sich hilfesuchende Patienten und
selbst Dienstleister wie Ärzte, Labors
und Krankenhäuser kaum noch zurechtfinden. Angefangen bei der Frage, wer
sich wie und wofür versichern kann, bis
zum Besuch bei einem Facharzt – bei
allen kleinen und großen Nöten an Leib
und Seele ist hartnäckiger Spürsinn gefragt und ein ausgiebiger Papierkrieg fast
unvermeidlich.
Wer sich etwa im Bundesstaat Kalifornien die Gallenblase laparoskopisch
entfernen lässt, zahlte im Jahr 2009 dafür am Medical Center der University
of Southern California in Los Angeles
6082 Dollar; gerade einmal 26 Kilome108
ter weiter südlich, im Kindred Hospital
South Bay, kostete dieselbe Operation
184 376 Dollar. Im Norden, in San Francisco, verlangte das California Pacific
Medical Center 38 656 Dollar.
Das sind allerdings nur die Listenpreise der Krankenhäuser, die in der
Regel als Verhandlungsbasis dienen –
ähnlich dem Schachern beim Neuwagenkauf. Sowohl die drei staatlichen
Versicherungsprogramme namens Medicaid (für Einkommensschwache),
Medicare (für Senioren und Behinderte)
und die Veteranen-Versicherung sowie
alle privaten Krankenversicherungen
handeln mit jedem Dienstleister eigene
Tarife aus. So kommt es, dass der Patient im Notfall zwar von keinem Krankenhaus zurückgewiesen wird, aber für
normale ambulante wie stationäre Behandlungen einen ausgiebigen Irrlauf
durch die Instanzen antreten muss, um
herauszufinden, welche Ärzte und Kliniken die jeweilige Police akzeptieren
und welche Behandlungen sie erlauben.
Enorme Ausgaben –
und seltsame Auswüchse
Der freie Markt für ein öffentliches Gut
hat seinen Preis. „Kein anderes fortschrittliches Land gibt einen höheren
Anteil seines Bruttoinlandsproduktes
für das Gesundheitswesen aus als die
USA, fast zweieinhalbmal so viel pro
Kopf wie die Europäer. Geld ist also
mehr als genug da, um alle gut zu versorgen“, kritisiert Arnold Relman, Professor Emeritus der Harvard Medical
School und ehemaliger Chefredakteur
des New England Journal of Medicine.
Trotz der hohen Kosten sind keineswegs alle der mehr als 300 Millionen
US-Bürger ausreichend versichert. Knapp
die Hälfte aller Einwohner hat eine
Krankenversicherung über den Arbeitgeber, 17 Prozent sind als Einkommensschwache über Medicaid versichert,
weitere zwölf Prozent als Senioren oder
Behinderte über Medicare sowie fünf
Prozent über persönliche Policen. 16
Prozent oder fast jeder sechste US-Bür-
ger besitzen keine Krankenversicherung
und müssen nicht nur bei Vorsorgeuntersuchungen, sondern auch bei der
Behandlung von chronischen Erkrankungen auf angemessene ärztliche Versorgung verzichten oder riskieren den
persönlichen Bankrott.
Die Tatsache, dass die Mehrheit der
Bevölkerung über ihren Arbeitgeber
versichert ist, führt zu seltsamen Auswüchsen, denn die Abdeckung der von
den Unternehmen angebotenen Krankenversicherungen schwankt je nach
Spendierlaune oder sozialem Gewissen
der Firma. Unternehmen handeln über
Makler ein Bündel an Versicherungs paketen aus, unter denen die Angestellten wählen. Normalerweise können sie
ihre Police nur einmal im Jahr während
eines mehrwöchigen Zeitraums ändern,
im Fachjargon die „Jagdsaison“ (Open
Season) genannt.
Je nach Unternehmen und Vorliebe
können Arbeitnehmer wählen zwischen
einer Basisversicherung, die nur teure
Katastrophen abdeckt, einer sogenannten HMO, die den Zugang zu Ärzten,
Spezialisten und Medikamenten streng
deckelt, sowie einer großzügigeren Variante namens PPO, die relativ freie
Arzt- und Krankenhauswahl erlaubt.
Zahn- und Augenarzt-Versicherung sind
in der Regel teure Extras, ebenso Versicherungen, die Rezepte bis auf eine
kleine Zuzahlung abdecken.
Die verwirrende Vielfalt hat einen
einfachen Grund: Es gibt keine Solidargemeinschaft im europäischen Sinne.
Jedes Unternehmen handelt je nach
Risiko-Pool seiner Belegschaft eigene
Prämien aus, von denen die Arbeitnehmer nur einen Bruchteil selbst bezahlen
– etwa 50 oder 75 Dollar bei einem
monatlichen Beitrag von 500 Dollar
oder mehr. Die relativ geringe Zuzahlung der Beschäftigten war ursprünglich
als Anreiz gedacht, damit Unternehmen
in den Boom-Zeiten der Nachkriegsjahre besser um knappe Arbeitskräfte
konkurrieren konnten.
Inzwischen sind diese Policen einer
der größten Lohnnebenkostenblocks
geworden. So schlug im Jahr 2010 die
durchschnittliche Arbeitnehmerpolice
(über die in der Regel auch die Familie
mitversichert ist) mit 13 770 Dollar zu
Buche, wovon der Arbeitgeber 9773
Dollar übernahm.
Die Splittung klingt gut, hat aber
Nachteile: Die Versicherung ist stets an
den Job gebunden. Wer also entlassen
wird oder den Arbeitgeber wechselt,
verliert fast immer die Versicherungsgesellschaft und das an sie angeschlossene Netzwerk an Ärzten, Kliniken und
selbst Apotheken, die die Police akzeptieren. Eine neue Stelle ist gleichbedeutend mit der Suche nach einem neuen
Hausarzt, Kinderarzt oder Frauenarzt,
mit dem die neue Versicherung günstige Konditionen ausgehandelt hat.
Das soziale Netz hängt durch
Wer länger arbeitslos ist, kann sich dank
einer Bundesregelung bei der Kasse des
alten Arbeitgebers bis zu drei Jahren
weiterversichern, muss allerdings plötzlich den vollen Betrag aus eigener Tasche zahlen – was oft einer zehnfachen
Beitragserhöhung gleichkommt. Und
je nachdem, mit welchem der „Pharmacy Benefit Manager“ die Versicherung
einen Vertrag für die Ausgabe rezeptpflichtiger Medikamente abgeschlossen
hat, ist auch die Apotheke um die Ecke
plötzlich tabu.
Privatpatienten, die sich auf eigene
Faust versichern, haben einen schweren
Stand, da die wenigsten Versicherungen
einem Individuum über den Weg trauen:
Wer keiner Gruppe angehört, für den
lassen sich auch keine Risiken hochrechnen. So werden chronisch Kranke
routinemäßig abgewiesen oder nur mit
einem Leistungsausschluss für bestimmte Krankheiten aufgenommen. Policen
können jederzeit erhöht werden, wenn
ein Kunde eine neue Diagnose erhält,
teure Medikamente einnimmt oder hohe
Behandlungskosten verursacht.
Viele Versicherungspolicen enthalten zudem Klauseln, die eine Deckungssumme festlegen, bis zu der ein Patien-
tenleben lang maximal gezahlt wird.
Jenseits dieses Maximums ist auch ein
vermeintlich gut versicherter Arbeitnehmer plötzlich auf sich und sein Erspartes gestellt, wenn für Chemo- oder
andere kostenintensive Therapien Hunderttausende Dollar fällig sind.
So kamen die renommierten Gesundheitsexperten David Himmelstein,
Deborah Thorne, Elizabeth Warren und
Steffie Woolhandler in einer viel beachteten Studie zu dem Ergebnis, dass fast
zwei Drittel aller persönlichen Bank rotte auf Schulden aus medizinischer
Behandlung zurückzuführen sind – und
das, obwohl drei Viertel der Betroffenen
versichert waren. „Das US-Gesundheitswesen behandelt physische Wunden,
aber schlägt finanzielle“, lautete das
ernüchternde Fazit der Akademiker.
Das soziale Netz jenseits der Notaufnahme hängt durch: Wer unter eine
bestimmte Armutsschwelle sinkt, kann
sich über das Medicaid-Programm versichern. Einer der Hauptnutznießer sind
Familien mit kleinen Kindern, die zu den
sogenannten „working poor“ gehören,
die also in Haushalten mit geringem
Einkommen leben. So besitzt jedes
sechste Kind in Texas keine Krankenversicherung – in der Grenzregion des
Rio Grande etwa strömen Bürger einmal im Jahr zu kostenlosen Feldlazaretten der Nationalgarde. Auch bei Medicaid sind die Details verwirrend und
führen je nach Wohnort zu einem drastischen Versorgungsgefälle, denn jeder
Bundesstaat legt aus politischen Motiven eine eigene Berechnungsgrenze fest.
So darf eine Schwangere in Iowa
bis zum Dreifachen der landesweiten
Armutsgrenze verdienen, ohne die Versicherung für sich und ihr Kind über
Medicaid zu riskieren. In Colorado und
North Dakota ist sie dagegen bereits
nicht mehr förderungsberechtigt, wenn
ihr Einkommen die Armutsgrenze um
ein Drittel überschreitet. Zudem akzeptieren immer mehr Ärzte und Krankenhäuser keine Medicaid-Patienten, da
ihnen die erstattungsfähigen Tarife zu
niedrig sind.
Wer wie Mrs. P. zu den Glücklichen gehört, die eine Versicherung besitzen,
muss bei fast jeder Frage erst einmal
am Hausarzt als Türsteher vorbei. Als
Primärversorger entscheidet er über jede
Überweisung zu einem Spezialisten, und
dementsprechend können es sich nur
wenige leisten, eine zweite Meinung
einzuholen oder ihren Arzt nach Belieben zu wechseln. Wer überwiesen wird,
muss Formulare ausfüllen, eine Zuzahlung leisten – und kann wie Mrs. P.
trotzdem sicher sein, über Monate hinweg Rechnungen von den Labors und
Fachärzten sowie Schreiben von Inkasso-Büros zu erhalten. Nicht zufällig verschlingen Buchhaltung und Verwaltung
sieben Prozent der amerikanischen Gesundheitsausgaben.
Die Gesundheitsreform der ObamaRegierung, die eine Versicherungspflicht
für alle Privatpersonen vorsieht, dürfte
nach Expertenmeinung nur wenige dieser strukturellen Probleme lösen. Ein
republikanischer Präsident wird die Neuregelungen aufzuheben versuchen, und
der Oberste Gerichtshof untersucht
bereits, ob eine solche Versicherungspflicht gegen die Verfassung verstößt.
Sollten die Reformen wie geplant ab
2014 schrittweise in Kraft treten, müssten alle Bundesstaaten einen Versicherungsmarktplatz – eine sogenannte
„Exchange“ – für ihre Bürger einrichten.
Zum ersten Mal könnten sie dann Preise vergleichen.
Aber selbst diese Vorschrift geht
vielen konservativen Bundesstaaten als
vermeintliche Bevormundung aus Washington bereits zu weit. Obama würde
also nur ein paar Schneisen in den
Dschungel schlagen. 7
109
Schweden
Hier treffen neuerdings zwei Welten aufeinander:
staatlich und privat. Doch entgegen aller Theorie ist
das Ende des jahrzehntelangen Staatsmonopols nicht
immer zum Vorteil der Patienten.
Text: Clemens Bomsdorf
T
rostlos und trüb wie in einem Mankell-Film präsentiert sich das schwedische
Gesundheitssystem: Die Ärztezentrale
von Malmö ist in einem schlichten, jahrzehntealten Bau aus gelbem Backstein
an einer Ausfallstraße zu Hause. Durch
die Fenster scheint Leuchtstoffröhrenlicht hinter weißen Jalousien. Eine Betonrampe und ein paar ebenso graue
Stufen führen zum Eingang, der dem
eines Mietshauses ähnelt. Wohl um die
Tristesse eines Sozialbaus zu vermeiden,
sind weinrote Markisen angebracht, auf
denen in hübscher Schreibschrift „Sorgenfri“ steht.
„Wir Ärzte bei Sorgenfri werden
vom Staat bezahlt, und die Patienten
zahlen nichts, von einer Praxisgebühr
abgesehen“, sagt die Chefin Annika
Brorsson und fügt hinzu: „Aber alle bekommen den gleichen Service.“ Damit
fasst sie den Kerngedanken des schwedischen Gesundheitssystems zusammen,
geprägt von jahrzehntelanger sozialdemokratischer Politik: Geben nach
Möglichkeit, nämlich über die Steuer –
Nehmen nach Bedürfnis. Egal, ob Steuerzahler oder nicht, jeder, der in Schweden lebt oder arbeitet, hat Anrecht auf
kostenlose ärztliche Behandlung. Die
Finanzierung erfolgt über die allgemeine
Einkommensteuer. Eine extra selbst
finanzierte Krankenversicherung ist nicht
notwendig.
Doch seit 2006, als Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt mit seiner konservativ-liberalen Koalition ins Amt kam,
hat sich vor allem im Gesundheits system einiges geändert. Der von den
Sozialdemokraten immer verteidigte
Anti-Privatisierungskurs bei Apotheken,
Krankenhäusern und Praxen wurde umgekehrt. Seitdem gingen zahlreiche Praxen sowie vereinzelt Krankenhäuser von
staatlicher in private Regie über, und
Apotheken wurden an Investoren verkauft. Ziel war es, das Angebot zu verbessern und privates Unternehmertum
dort zuzulassen, wo bisher der Staat
ein Monopol hatte, und so für mehr
Beschäftigung zu sorgen.
„Ich begrüße die Privaten. Vielfalt und
Wettbewerb sind gut“, sagt Annika
Brorsson von Sorgenfri. Sie konkurriert
seitdem mit privaten Praxen um Patienten. Alle Schweden können jetzt zwischen einer privaten oder öffentlichen
Hausarztpraxis wählen. Wer mehr will,
also Zusatzleistungen, die nicht bezahlt
werden, kann sie dazukaufen oder sie
mit einer privaten Versicherung finanzieren. Gesundheitskontrollen sind solche Zusatzleistungen, die die privaten
Praxen anbieten, wo man übrigens auch
schneller drankommt als in der staatlichen Warteschleife.
Die Privatisierung führt
zu Zweiklassenmedizin
Fredrik Westander, freier Berater im Gesundheitswesen, kritisiert, dass dadurch
eine Zweiklassenmedizin entstehe. „Der,
der den größten Bedarf hat, sollte als
Erster behandelt werden, nicht der mit
mehr Geld“, sagt Westander, der im
Oktober im Auftrag des Thinktanks
Arena einen Bericht über die Privatisierung des Gesundheitssystems veröffentlicht hat. Die Vorteile der Privatversicherungen wie zusätzliche Behandlungen und kürzere Wartezeiten wögen die
Nachteile nicht auf. Der Berater sieht
zudem die Gefahr, dass private Firmen,
die an ärztlichen Leistungen verdienen,
Patienten Behandlungen verkaufen, die
gar nicht unbedingt notwendig sind –
nicht nur volkswirtschaftlich ein fragwürdiger Effekt.
Die Zahl der Privatversicherten hat
in jüngster Zeit zugenommen und liegt
heute bei rund vier Prozent der Bevölkerung. Damit bleibt Schweden aber
noch weit hinter Dänemark und Großbritannien zurück, wo das Gesundheitssystem auch grundsätzlich steuerfinanziert ist. Genau genommen ist es eine
private Zusatzversicherung, denn die
Patienten nutzen wie alle anderen auch
weiter das staatliche System. Offizielle
Statistiken zu Einnahmen und Ausgaben der privaten Versicherungen gibt
es nicht, doch Westander rechnet mit
maximal 150 Millionen Euro jährlich,
die die Privatversicherungen für ihre
rund 400 000 Versicherten abdecken.
In Schweden wird das Gesundheitssystem also einerseits öffentlich via
Steuern finanziert und andererseits privat via Versicherung. Und die Hausarztpraxen, ob nun privat oder staatlich
betrieben, funktionieren alle nach demselben Prinzip: Die, die nicht primär
Privatpatienten nehmen, finanzieren sich
durch die Pauschalbeträge, die jährlich
pro Patient vom Staat überwiesen werden. Im Falle von Sorgenfri beträgt der
Grundbetrag rund 300 Euro, die die
Region Skåne, zu der Malmö gehört,
überweist. Für einige Leistungen wie
Augenuntersuchungen wird noch zusätzlich Geld gezahlt.
„Vor 2009 haben Verwaltung und
Politik unser Budget festgeschrieben,
ohne viel Logik; so wie jetzt ist es besser“, findet Brorsson. Rund 12 000 Patienten sind in ihrer Praxis gemeldet, sie
werden von zehn Ärzten betreut. Prinzipiell kann jeder seinen Hausarzt frei
wählen und auch wechseln. Es ist aber
notwendig, diese Wahl registrieren zu
lassen. Üblicherweise bleibt man mehrere Jahre bei seinem Hausarzt, der dann
entsprechend lange Geld überwiesen
bekommt. „Die Kommunen und Regionen können selber entscheiden, nach
welchem Schlüssel sie Geld an die Praxen verteilen“, sagt Stefan Ackerby vom
Kommunalverband SKL.
Gut gedacht – schecht gemacht
Auch wenn das System über Steuern
finanziert wird, müssen die Bürger sich
an Kosten für Arztbesuch und Medizin
bis zu einem gewissen Grad beteiligen.
Arzneimittel bis rund 100 Euro pro Jahr
zahlt jeder selbst. An allem, was darüber
liegt, beteiligt sich der Staat, wobei niemand auf jährlichen Kosten von mehr
als 200 Euro sitzen bleibt. Ähnlich sieht
es bei der Praxisgebühr aus: Im Jahr
werden nie mehr als 100 Euro fällig.
Zahnarztbehandlungen hingegen müssen überwiegend selbst bezahlt werden.
111
Der Apothekenmarkt in Schweden wurde im Jahr 2009 privatisiert, die Auswirkung ist offensichtlich. Sah man früher
im Stadtbild nur den grünen Schriftzug
der staatlichen Monopolapotheken,
leuchtet jetzt an jeder Ecke ein anderes
Apothekenschild. Am Platz Triangeln in
der Malmöer Innenstadt liegen keine
100 Meter voneinander entfernt gleich
drei Apotheken.
Die konservativ-liberale Regierung
hat vor allem aus ideologischen Gründen privatisiert. Mehr Wettbewerb sollte mehr Service für die Kunden bedeuten, und mit mehr Apotheken sollten
mehr Schweden versorgt werden. Statistisch gesehen hat das funktioniert:
Die Zahl der Apotheken ist um rund
ein Drittel gestiegen. Doch die Kunden
der drei Apotheken am Triangeln stellen keine bessere Servicequalität fest.
So beklagt sich Kristina Blomquist, die
gerade mit einer kleinen Tüte eine
„Medstop-Apotheke“ verlässt: „Früher
konnten die im Computer nachschauen,
wo ein Medikament vorrätig ist, wenn
sie es selbst nicht hatten. Jetzt muss ich
überall hinlaufen.“ Konkurrenz über die
Preise der Arzneimittel ist nicht möglich: Die sind staatlich reguliert und in
allen Apotheken gleich.
Trotz Privatisierungswelle ist das
Krankenhaussystem in Schweden überwiegend staatlich geblieben. Schmuckstück in Malmö ist das neue Universitätskrankenhaus, das von außen auch
als Designhotel durchgehen würde. Das
Gebäude ist rund, die Fassade teils aus
Glas, teils farbenfroh in Grün, Orange
oder Rot. Der Eingangsbereich der Notaufnahme ist licht und großzügig gestaltet – hier erinnert nichts an ein Krankenhaus, eher würde man meinen, sich
in der VIP-Lounge eines Flughafens zu
befinden. Wenn es nach Per Wihlborg
gehen würde, wäre es hier noch ruhiger.
„Dreißig bis vierzig Prozent der Patienten schicken wir wieder nach Hause,
weil ihr Leiden gar nicht akut ist“, sagt
der Oberarzt der Notaufnahme.
Wihlborgs Bemerkungen sind spitz.
Hauptsächlich beklagt er die Überlas112
tung des Krankenhauses. „Die Hausärzte sind überfordert, weil sie zu wenig
Kapazitäten haben, deshalb schicken sie
zu viele Patienten zu uns. Oder die kommen gleich von selbst, obwohl das gar
nicht nötig wäre“, sagt er. Da schrecke
auch die Patientenabgabe von 40 Euro
nicht ab. Der Andrang in der Notaufnahme belege Kapazitäten, die anderswo zur Behandlung benötigt würden
und treibe die Kosten in die Höhe.
Fehlende Hausärzte – volle
Krankenhäuser
Es müsse doppelt so viele Hausärzte geben, sagt auch Marie Widen, die Vorsitzende des Ärzteverbundes. Besonders
auf dem Land herrsche Mangel – die
Arbeit in der Großstadt oder im
nahen Norwegen, wo besser bezahlt
wird, sei attraktiver. Seit einigen Jahren
sollen Telemedizinprojekte die Unterversorgung mit Ärzten ausgleichen: Die
Kommunikation zwischen Patient und
Arzt erfolgt über eine Art Skype, und
auch Daten wie Blutdruckwerte werden
elektronisch übermittelt, sodass beide
Hunderte von Kilometern voneinander
entfernt sein können. Der Arzt kann
mehr Patienten behandeln, unnötige
Krankenhausbesuche werden vermieden.
Die Krankenhausleitung von Malmö
muss im Budget künftig rund 50 Millionen Euro einsparen und hat unter anderem den Vorschlag gemacht, nur noch
Patienten anzunehmen, die überwiesen
worden sind. Das gab viel Kritik, vom
Tisch ist die Idee aber noch nicht.
Bis jetzt darf man also noch einfach
so ins Krankenhaus gehen, und genau
das hat Johan Carlsson auch gemacht.
Der 31-jährige Tischler liegt in einem
Krankenhausbett im offenen Bereich
der Notaufnahme und wartet auf einen
Röntgentermin, der in drei Stunden sein
soll. „Ich hatte bei der Arbeit ziemliche
Bauchschmerzen, und da ich vor Kurzem eine Adipositas-Operation hatte,
wollte ich das lieber kontrollieren lassen“, sagt er. Obwohl es schon drei
Stunden her ist, dass er einen Arzt
gesehen hat, wartet Carlsson geduldig.
„Ich bin ja in guten Händen“, sagt er.
Muss er in der Klinik bleiben, zahlt er
eine Tagesgebühr von zehn Euro, Operationen sind komplett subventioniert.
Wartezeiten bei Operationen sind
neben der Unterversorgung im ländlichen Raum und teilweise bei den städtischen Hausärzten eines der großen
Probleme im schwedischen Gesundheitssystem.
Carlsson hat auf die Operation wegen seiner Fettleibigkeit Monate warten
müssen, doch auch Voruntersuchungen
und lebensnotwendige Behandlungen
erfolgen häufig erst sehr spät. So
schwankt die durchschnittliche Wartezeit für Behandlungen bei Prostatakrebs
– dem bei Männern am häufigsten vorkommenden Krebs – je nach Kommune zwischen 126 und 295 Tagen,
zeigt ein neuer Bericht des Sozialrats.
Selbst wenn der Krebs schon Metastasen gebildet hat, müssen Patienten mitunter noch Monate auf die Behandlung
warten. Ähnliche Probleme gibt es auch
bei anderen Krebsarten und regelmäßig
bei Augen- oder Hüftoperationen.
Manch einer lässt sich deshalb lieber im
Ausland operieren.
Immerhin: Die Wartezeiten sind inzwischen kürzer als noch vor 2010. Damals wurde eine ganz konkrete marktwirtschaftliche Komponente eingeführt:
eine Bonuszahlung für die Kommunen,
wenn sie 80 Prozent der nicht akuten
Fälle binnen 90 Tagen operieren. Ein
finanzieller Anreiz im Staatssektor, der
Gutes bewirkt hat. 7
Das Gesundheitswesen in Zahlen
Krankenhaus & Apotheke
Deutschland
Japan
Zahl
Zahl
Zahl
Zahl
der
der
der
der
Krankenhäuser
Krankenhäuser
Krankenhäuser
Krankenhäuser
Durchschnittliche
Durchschnittliche
Durchschnittliche
Durchschnittliche
Zahl
Zahl
Zahl
Zahl
in
in
in
in
der
der
der
der
Deutschland
Deutschland
Deutschland
Deutschland
mit
mit
mit
mit
weniger als 50 Betten im Jahr 1991:
weniger als 50 Betten im Jahr 2008:
800 und mehr Betten im Jahr 1991:
800 und mehr Betten im Jahr 2008:
Krankenhausbetten
Krankenhausbetten
Krankenhausbetten
Krankenhausbetten
in
in
in
in
Japan im Jahr 2009, pro 1000 Einwohner:
Deutschland im Jahr 2009, pro 1000 Einwohner:
Dänemark im Jahr 2009, pro 1000 Einwohner:
Mexiko im Jahr 2009, pro 1000 Einwohner:
Nettoumsatz der öffentlichen Apotheken in Deutschland im Jahr 2000, in Milliarden Euro:
Nettoumsatz der öffentlichen Apotheken in Deutschland im Jahr 2010, in Milliarden Euro:
Zahl der Einwohner je Apotheke in Deutschland im Jahr 2010:
Zahl der Einwohner je Apotheke in Griechenland im Jahr 2010:
Zahl der Einwohner je Apotheke in Dänemark im Jahr 2010:
Anteil des Arzneimittelpreises eines patentgeschützten Medikaments, der in Deutschland
im Jahr 2010 an Hersteller entfällt, in Prozent:
Anteil des Arzneimittelpreises eines patentgeschützten Medikaments, der in Deutschland
im Jahr 2010 an Apotheken entfällt, in Prozent:
Anteil des Arzneimittelpreises eines durchschnittlichen Generikums, der in Deutschland
im Jahr 2010 an Hersteller entfällt, in Prozent:
Anteil des Arzneimittelpreises eines durchschnittlichen Generikums, der in Deutschland
im Jahr 2010 an Apotheken entfällt, in Prozent:
331
417
125
86
13,7
8,2
3,5
1,7
26,9
39,9
3800
1200
17 200
75,5
4
44,6
36,0
113
Kleine Größen
Dick, dünn, groß, klein, schwarz, weiß –
Menschen sind verschieden. Doch für alle gab es
bisher nur die Standard-Pille. Die hilft bestimmt,
dachte man. Tut sie oft aber auch nicht.
Jetzt wird der Patient vermessen, bevor die
Therapie gewählt wird. Das klappt noch nicht
immer. Aber immer öfter.
Text: Sascha Karberg Foto: Michael Hudler
114
Nun geht der Laie ja davon aus, dass
genau das bei jedem Arztbesuch passiert, weshalb Professor Peter M. Schlag,
Direktor des Krebszentrums der Charité, die personalisierte Medizin konzeptionell auch „neuer Wein in alten
Schläuchen“ nennt. Ärzte hätten sich
schon immer bemüht, ihre Patienten so
individuell wie möglich zu behandeln,
sagt er. Was aber nicht bedeute, dass
sich in den vergangenen zehn, zwanzig
Jahren nicht viel getan hätte.
Neue Werkzeuge, mit denen die
Vorgänge in den Krebszellen einzelner
Patienten besser beobachtet werden
können, versetzen Mediziner heute in
die Lage, vielleicht nicht unbedingt
personalisiert, aber doch sehr viel zielgerichteter zu behandeln, sagt er. Denn
wer die individuelle Ausprägung bestimmter Gene, Proteine oder Zellen
eines Tumors und auch die sonstigen
biologischen Eigenheiten des Patienten
lesen kann, der könne auch die am
besten passende Therapie auswählen:
„Bislang konnten wir mithilfe von Studien nur abschätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Standard-Therapie
einem bestimmten Patienten helfen
könnte“, sagt der Chirurgische Onkologe. Wenn jetzt bei einem Patienten zum
Beispiel eine bestimmte Proteinstruktur
auf der Zelloberfläche seiner TumorzelVorige Seite: Verwaltungsgebäude von Sanofi-Aventis in Frankfurt am Main
len fehle, sei das ein klares Zeichen geOben: Gefrierschrank für Gewebeproben
gen den Einsatz eines Medikaments, das
dieses Protein braucht, um zu wirken.
Sandra Kern traf die Diagnose
3 Irgendwann danach steht sie in der ration folgte eine Strahlentherapie. Von
Dessous-Abteilung eines Kaufhauses. der üblichen Chemotherapie riet man „Brustkrebs“ nicht unvorbereitet. GroßWas der Arzt im Detail gesagt hat, erin- ihr ab. „Die haben da irgend so einen mutter und Tante waren an der Krankheit gestorben, als Risikopatientin ging
nert sie nicht. In ihrem Kopf war nur Test gemacht“, sagt Kern.
das eine Wort: Brustkrebs. Sie hatten
Tatsächlich hat die Ladenbesitze- sie in den vergangenen 15 Jahren jedes
einen Tumor gefunden. Rechts. Nun rin aus Berlin – ohne es so recht zu Jahr zur Mammografie. „Und Ende
steht sie da und greift wahllos nach bemerken – von einem Behandlungs- April 2010 war da was.“ Es dauerte
Büstenhaltern in kleinen Größen.
konzept profitiert, das die einen als nicht lange, dann hatte sie Gewissheit.
Sandra Kern* ist 56 Jahre alt. Seit plumpes Marketing abtun, während es Und in der Klinik als Gegenüber eine
der Diagnose ist ein Jahr vergangen, andere als Revolution feiern: personali- junge Ärztin, die ihr unmittelbar nach
doch kleinere BHs braucht sie bis heute sierte Medizin. Hinter diesem Schlag- der Diagnose von einer Studie erzählte,
nicht. Die Ärzte an der Berliner Univer- wort steckt die Idee, die Krankheit eines an der sie unbedingt teilnehmen solle.
Was Kern zunächst verunsichert,
sitätsklinik Charité konnten den Tumor Patienten möglichst so exakt zu diagnos brusterhaltend entfernen. Auf die Ope- tizieren, dass ihm genau die Therapie wird ihr später bei der Entscheidung für
verordnet werden kann, die am besten oder gegen eine Chemotherapie helfen
– jenen Cocktail aggressiver Gifte, der
zu ihm passt.
*Name von der Redaktion geändert
116
alle schnell wachsenden Zellen zerstört,
seien es gesunde Haarwurzelzellen oder
wuchernde Krebszellen. Die Chemo ist
ziemlich genau das Gegenteil einer zielgerichteten Therapie, und doch ist sie
bis heute Standard für die meisten
Brustkrebspatientinnen. Mit ihrer Hilfe
sollen nach der Operation eventuell verbliebene Krebszellen abgetötet werden,
um Rückfälle zu verhindern. Inzwischen
mehren sich jedoch die Hinweise, dass
manche Frauen gar nicht davon profitieren und unnötig Nebenwirkungen
ertragen müssen.
Ob eine Patientin zu der einen
oder anderen Gruppe gehört, lässt sich
neuerdings in vielen Fällen herausfinden.
Dazu wird eine Probe ihres Tumorgewebes einem Gentest unterzogen, den
die US-Biotechfirma Genomic Health
entwickelte: Oncotype DX. Der Test
untersucht die Aktivität von 21 Genen,
die in die Entstehung und Entwicklung
einer Brustkrebserkrankung involviert
sind. „Wir nehmen damit einen genetischen Fingerabdruck des Tumors“,
erklärt Gerald Wiegand, der Deutschland-Chef des Unternehmens. Durch
Vergleiche mit den Krebssignaturen von
Tausenden Gewebeproben amerikanischer Brustkrebspatientinnen und deren
Krankheitsverläufen kann das Unternehmen zwei statistische Aussagen treffen.
Für Sandra Kern bedeutet das: Welches
Rückfallrisiko hat sie? Und: Ist eine
Chemotherapie bei ihrer Tumorbiologie
sinnvoll oder nicht?
Erst Test, dann Therapie
Wo die Mediziner bislang auf Erfah rung, Wahrscheinlichkeit und Hoffnung
bauen mussten, lassen sich heute valide
Entscheidungen treffen. Das Ergebnis:
Bei knapp 40 Prozent aller Patientinnen
revidieren die Ärzte nach dem Test ihre
Empfehlung für eine Chemotherapie,
zitiert Wiegand aus Studien. Diesen
Frauen bleibt die Prozedur erspart. Andererseits wird etwa einem Viertel der
Patientinnen, denen man ursprünglich
abriet, nach dem Test eine Chemo-
therapie empfohlen. Das Produkt vermeide also sowohl Über- als auch
Untertherapie, sagt Wiegand, was insgesamt betrachtet zu einer knapp 20prozentigen Netto-Reduktion von Chemotherapien führe. Knapp 4000 Frauen
hierzulande haben Oncotype DX, das
seit mehr als zwei Jahren auch in
Deutschland erhältlich ist, bislang in
Anspruch genommen.
Kern erfährt ihr Testergebnis kurz
nach der Operation. Die junge Ärztin,
deren Eifer sie zunächst überfordert hatte, teilt ihr mit, dass eine Chemotherapie bei ihrem Brustkrebstyp unnötig sei,
und rät stattdessen zu Bestrahlungen.
Auch diese Behandlung ist eine Tortur.
Die von den Strahlen verursachten Verbrennungen sind schmerzhaft, zudem
fühlt sich Kern ständig müde und erschöpft, selbst Lesen oder Reden ist zu
anstrengend. „Ich war wie ein Häufchen
Nüscht“, sagt die Berlinerin. Doch die
Entscheidung gegen die Chemotherapie stellt sie bis heute nicht infrage.
Das ist ein Problem der jungen
personalisierten Medizin, sagt Professor
Jochen Maas, Forschungschef der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, den das
Thema seit Langem umtreibt: Die moderne Diagnostik könne Patienten zwar
von einer für sie nicht nützlichen Therapie ausklammern – ein personalisiertes Alternativangebot könne man diesen
Aussortierten, den sogenannten NonRespondern, heute aber noch nicht
machen. Natürlich ist es bereits ein großer Vorteil, Patienten unnötige Behandlungen und die damit verbundenen
Nebenwirkungen zu ersparen. „Das Ziel
ist aber nicht, zwischen Respondern
und Non-Respondern zu unterscheiden,
sondern eine passende Therapie für
jeden Patienten anzubieten.“ Doch so
weit sei man noch nicht.
Im Moment begnügt sich die personalisierte Medizin noch damit, die
Krankheit, die bislang pauschal Brustkrebs heißt, genauer zu definieren, um
sie dann spezifischer behandeln zu können. Mittlerweile lassen sich Dutzende
Arten von Brustkrebs unterscheiden
und Patientinnen in Subpopulationen
einteilen, in „kleine Größen“. Sandra
Kerns Krebs ist „hormonrezeptor-positiv, östrogenrezeptor-positiv und HER2-neu-negativ“ – die komplexe Signatur
aus molekularbiologischen Diagnosen
beschreiben dem Arzt die besondere
Beschaffenheit des Tumors und damit
auch die möglichen Angriffspunkte für
eine zielgerichtete Therapie.
Fingerabdruck vom Tumor
Für Onkologen wie Peter Schlag tritt die
Herkunft des Krebses damit teilweise
in den Hintergrund. Ob Dickdarm-,
Magen-, Lungen- oder Brustkrebs ist
oft nicht mehr die vorrangige Frage –
entscheidend für die Behandlung ist
auch der molekulare Fingerabdruck, die
Signatur des Tumors. Diese Signatur
kann sich bei Tumoren an unterschiedlichen Organen sogar ähneln.
So hatte die Medizin etwa einen
seltenen Darmtumor namens Gist (Gastro-Intestinaler Stroma-Tumor) jahrzehntelang für einen Weichgewebstumor
gehalten und entsprechend behandelt –
ohne Erfolg. Erst die molekularbiologischen Untersuchungen zeigten, dass
Gist-Zellen aus speziellen Zellen der
Darmwand hervorgehen und auf ihrer
Zelloberfläche massenhaft ein bestimmtes Molekül tragen – genau wie bei
einer Blutkrebsform, die bereits erfolgreich mit einem Medikament namens
Glivec bekämpft werden konnte. Seit
Kurzem wird es auch bei Gist angewandt. Das Ergebnis: „Wir haben sofort Tumorrückbildungs- und Überlebensraten erzielt, die vorher gar nicht
denkbar waren“, sagt Schlag.
Um die vielen verschiedenen Krebstypen der Patienten besser zu verstehen,
werden an der Charité zurzeit Proben
von Haut- und Dickdarmkarzinomen
genommen und ihre Erbinformationen
komplett entziffert. „Wir finden in den
Krebszellen im Schnitt 600 Mutationen“, berichtet Schlag. „Aber welche
davon sind diejenigen, die bei einem
bestimmten Patienten den Tumor an117
treiben? Darüber wissen wir noch zu
wenig.“ Der Mediziner hofft, dass sich
die entscheidenden Gendefekte bei den
verschiedenen Krebstypen wiederholen.
Doch er weiß: „Es wird auch sehr viele
Tumortypen geben, bei denen mehrere
Signalwege in den Zellen betroffen sind,
und gegen die man mehrere Wirkstoffe
kombinieren müsste.“ So wenig man
einen Menschen nur über seine Haarund Hautfarbe beschreiben kann, so
oberflächlich seien im Moment noch
die technischen Mittel, mit denen die
Tumore charakterisiert und bekämpft
werden können. Dabei liegt die personalisierte Medizin in der Krebsforschung vorn: Von den 23 Medikamenten, die diesem Konzept folgen und in
deutschen Kliniken angewandt werden,
sind immerhin 18 Krebsmedikamente.
Bei so komplexen Erkrankungen
wie Alzheimer oder Diabetes sei man
noch viel weiter von einem personalisierten Ansatz entfernt, sagt Sanofi-AventisForschungschef Maas. „Diabetes etwa
ist nicht nur auf ein paar Genmutationen zurückzuführen. Da spielen auch
Umweltfaktoren eine Rolle.“
Um einen Biomarker zu finden, der
eine verlässliche Aussage über den Verlauf der Zuckerkrankheit oder die Wirksamkeit eines Medikaments erlaubt,
müssten gleich mehrere betroffene Organe des Patienten untersucht werden:
Leber, Bauchspeicheldrüse, Darm, Muskeln. Das ist deutlich komplexer, als
eine Tumorprobe zu untersuchen.
brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl
Wer spricht worauf an?
118
Für eine breite Anwendung personalisierter Medizin mangelt es aber nicht
allein an Basiswissen, sondern ebenso
an der Integration bereits vorhandener
Methoden. So hat auch Sandra Kern
erlebt, dass ihre individuelle genetische
Konstitution nicht berücksichtigt wurde, bevor ihr nach der Strahlentherapie
ein Medikament gegen eventuell verbliebene Krebszellen verschrieben wurde, die sogenannte Hormontherapie.
Zwar blieb ihr durch den Oncotype-Test
Links: Stickstofftank für die Lagerung von Gewebeproben
Oben: Der Scan einer Probe auf dem Bildschirm
die Chemotherapie erspart. Mit einem
ausführlichen weiteren Test hätte sie
aber auch von den Nebenwirkungen der
Hormontherapie mit dem Medikament
Tamoxifen verschont werden können.
Tamoxifen ist eine jener 23 „personalisierten“ Arzneien, die derzeit am
Markt sind. Der Wirkstoff blockiert Andockstellen für das Hormon Östrogen
auf den Tumorzellen, sodass das Signal
zum Wachsen und Teilen der Krebszellen ausbleibt. Ein Test kann abklären,
ob der Tumor einer Patientin solche Andockstellen überhaupt hat. Dieser Test
wurde auch gemacht. Allerdings muss
der Wirkstoff im Körper der Patienten
erst aktiviert werden, aus Tamoxifen
muss Endoxifen werden. Bei etwa zehn
Prozent der Patienten vollzieht sich diese Umwandlung nur langsam – aufgrund „langsamer“ Genvarianten im
Erbgut. Als Folge reichert sich Tamoxifen an und löst Nebenwirkungen aus.
Wie Kern auf das Medikament ansprechen würde, hätte ein weiterer Gentest klären können. Doch der gehört bei
uns noch nicht zum Standard, auch bei
ihr bleibt er aus. Ein Jahr lang schlägt
sie sich mit miserablen Blutwerten und
belastenden Nebenwirkungen herum,
bevor ihre Therapie umgestellt wird.
Das ist keine Seltenheit, sondern
leider Normalfall. Allein in den USA
haben jährlich 2,2 Millionen Menschen
mit schweren Arzneimittel-Nebenwirkungen zu kämpfen, bei 20 bis 50
Prozent der Patienten sprechen die verordneten Medikamente gar nicht an.
106 000 Todesfälle und etwa 100 Milliarden Dollar Kosten zieht das nach sich.
In Deutschland sind rund sechs Prozent
aller Krankenhauseinweisungen auf Arzneimittel-Nebenwirkungen zurückzuführen, rund 16 000 Menschen sterben
hierzulande jährlich an den Folgen.
Gute Gründe also für mehr Diagnostik, mehr personalisierte Medizin.
Dafür sprechen aus Sicht der Pharmaindustrie auch ökonomische Argumente. „Ich bin überzeugt davon, dass die
Medikamentenentwicklung für eine personalisierte Medizin preiswerter wird,
weil die Patientengruppen in den klinischen Studien kleiner werden können“,
119
sagt etwa Forschungschef Maas. Denn
mithilfe von Gen- und Proteintests können die Firmen nur solche Patienten für
klinische Studien auswählen, bei denen
der Wirkstoff aller Wahrscheinlichkeit
nach wirken könnte. Die Tests messen
bei den Patienten sogenannte Biomarker: Genmutationen, erhöhte Konzentrationen von Proteinen oder abnorme
Enzyme dienen als Signale, bei welcher
Patientengruppe ein Wirkstoff wirken
kann und bei welcher nicht. Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA
(Food and Drug Administration) rechnet vor: Wenn sich mithilfe von Biomarkern die Erfolgswahrscheinlichkeit eines
Wirkstoffs in der klinischen Prüfung
auch nur um etwa zehn Prozent besser
abschätzen ließe, könnten pro Medikamentenentwicklung im Schnitt 100 Millionen Dollar eingespart werden.
Kein Wunder, dass der Schweizer
Pharmakonzern Roche jedem Arzneimittelentwicklungsteam einen Biomarker-Experten seiner Tochter Roche
Diagnostics zur Seite stellt. Der Trend
lässt sich verallgemeinern: Während vor
1990 nur in vier Prozent aller klinischen
Studien Biomarker gemessen wurden,
sind es seit 2005 schon 20 Prozent.
Wachstum der Krebszellen hemmen –
allerdings nur bei eben jenen 28 Pro zent der Patientinnen mit HER-2-Überschuss. Wenn ein Medikament bei zwei
Dritteln der Patienten versagt, sind die
Aussichten für eine Zulassung üblicherweise nicht gut. Doch 1998 gab die
FDA Herceptin frei – verbunden mit der
Auflage, dass ein Gentest bei den Brustkrebspatientinnen die HER-2-Kopien
nachweisen müsse. Ohne den Test wäre
eine Zulassung nicht denkbar gewesen:
Hätte man das Mittel, wie früher üblich, an allen Brustkrebspatientinnen
blind getestet, hätten zu wenige profitiert, um statistisch einen Vorteil dokumentieren zu können. Von den Nebenwirkungen für das Gros der Frauen ganz
zu schweigen. Die Entwicklung wäre
eingestellt worden.
So macht sich die personalisierte
Medizin auf den Weg. Ob sich mit ihrer Hilfe auch Kosten senken lassen,
muss sich allerdings erst zeigen. Axel
Heinemann, Biotech- und Pharmaexperte bei der Unternehmensberatung
Boston Consulting Group, glaubt zwar,
dass die Entwicklung von Medikamenten mittels Biomarkern günstiger wird.
Dafür aber werde sich der Pharmavertrieb auf viel kleinere Patientengruppen
und damit auf ein viel stärker differenEntwicklung wird günstiger
ziertes Produktspektrum einstellen müsDas Biotechunternehmen Genentech, sen. Statt Allgemeinärzte über wenige
das heute zum Roche-Konzern gehört, Blockbuster-Medikamente zu informiehat schon früh die Erfahrung gemacht, ren, müssten die Referenten künftig
dass sich Biomarker bezahlt machen hochspezialisierte Arzneien an unterkönnen. In den Achtzigerjahren er- schiedliche Fachärzte herantragen. Was
forschte der deutsche Molekularbiologe in der Entwicklung Geld spart, dürfte
Axel Ullrich in den Genentech-Labors also die Kosten bei Marketing und Verein Gen namens HER-2. In 28 Prozent trieb in die Höhe treiben.
Zudem müssen auch Entwicklung,
der Tumoren von Brustkrebspatientinnen fand Ulrich dieses Gen mitunter Prüfung und Validierung der Biomarker
häufiger als 50-fach kopiert vor: Je mehr bezahlt werden. In den USA hat die
Kopien, desto aggressiver wächst der FDA zu diesem Zweck ein Biomarker
Tumor und desto geringer sind die Consortium gegründet. Das Pendant in
der EU ist die Innovative Medicines
Überlebenschancen der Patientinnen.
Ullrich entwickelte einen Antikör- Initiative (IMI), in der die meisten groper, ein Fängermolekül, mit dem das ßen Pharmafirmen mit den Behörden
Proteinprodukt des HER-2-Gens blo - und Forschungsinstitutionen zusammenckiert wird. Und tatsächlich ließ sich mit arbeiten, um Biomarker zu prüfen. Das
Herceptin, so der Name der Arznei, das Budget dafür umfasst zwei Milliarden
120
Euro, zu gleichen Teilen von den Pharmafirmen und der öffentlichen Hand.
„Wichtigstes Ziel ist es, weltweit
verbindliche Standards für die Verwendung von Biomarkern in klinischen Studien zu etablieren“, sagt Karl Broich,
Vizepräsident des Bundesinstituts für
Arzneimittel und Medizinprodukte
(BfArM), und nennt das Beispiel Alzheimer: „Bislang können Medikamentenkandidaten gegen Alzheimer erst getestet werden, wenn die Krankheit schon
weit fortgeschritten ist, weil sie erst so
spät diagnostiziert werden kann.“ Dann
sind 90 Prozent der Hirnzellen aber
schon zugrunde gegangen – und das
Retten der letzten zehn Prozent lässt
kaum noch einen therapeutischen Effekt erwarten. „Mit Biomarkern können
wir die Krankheit früher diagnostizieren
und den Krankheitsverlauf messbar
machen“, sagt Broich. „Damit erhöhen
wir die Chancen, therapeutische Veränderungen nachzuweisen.“
Konsortien für Biomarker
Doch welcher Biomarker taugt als Vorhersage-Werkzeug? Wie verlässlich zeigt
das Messen irgendeiner Proteinkonzentration im Blut eine erst zehn Jahre später erkennbare Alzheimer-Erkrankung
an? Das ist nicht nur für die Patienten
eine essenzielle Frage. Broichs Behörde
muss am Ende entscheiden, ob es schon
für eine Zulassung ausreicht, wenn der
Wirkstoff nur einen Alzheimer-Biomarker positiv beeinflusst.
„Wir haben beispielsweise lernen
müssen, dass der Blutfarbstoff HbA-1c
als Maß für den durchschnittlichen Blutzuckerspiegel nicht immer der beste
Marker für Diabetes-Studien ist“, sagt
Broich. Für den Erfolg laufender und
zukünftiger Studien von Diabetes-Medikamenten ist es für die Pharmaunternehmen aber ganz entscheidend, dass
die Behörden die Biomarker anerkennen, auf denen die Studien basieren. Das
gilt umso mehr, sollen die Marker als
Ersatz für klinische Parameter dienen.
Das BfArM prüft deshalb akribisch.
Bei Sanofi-Aventis im Industriepark Hoechst
Aber Broich weiß auch, wie kostspielig
die Qualitätsprüfung der Biomarker ist.
„Wenn eine Pharmafirma den Aufwand
allein schultert und einen Biomarker erfolgreich validiert, dann würden alle anderen davon kostenlos profitieren. Deshalb kann das auch nur in Konsortien
funktionieren.“
Die Bereitschaft der Pharmafirmen
zur Zusammenarbeit sei da. Und für die
Patienten in Deutschland sind mittlerweile auch erste Auswirkungen der personalisierten Medizin spürbar – genau
wie deren Kosten. Sandra Kern musste
die 3200 Euro für den Oncotype DX-
Test, der ihr die Chemotherapie erspart
hat, nicht selbst zahlen – die Charité
finanzierte ihn aus dem Budget der
klinischen Studie, an der sie teilnahm.
Viele andere müssen ihn aus eigener
Tasche bezahlen oder darauf verzichten
– die Krankenkassen tragen die Kosten
bislang nur im Einzelfall.
Kern, die im Moment als geheilt
gilt, hätte das Geld im Zweifel auch
selbst aufgebracht, irgendwie. Sie habe
alles, was ihr sinnvoll erschien, machen
lassen. Und sie zahlt auch jetzt, nachdem sie ihr Geschäft verkauft hat und
arbeitslos ist, für ihre Genesung. Die
Bayerische Beamtenkasse erstattet der
Privatversicherten nur 80 Prozent ihrer
Auslagen. „184 Euro im Monat kostet
mich mein Medikament Aromasin, 147
Euro davon bekomme ich zurück. Das
läppert sich.“
Das Gesundheitssystem könne von
der personalisierten Medizin keine Netto-Reduktion der Ausgaben erwarten,
auch wenn bei der Entwicklung Geld
eingespart wird, glaubt Unternehmensberater Axel Heinemann. Es wird in
Zukunft mehr teure Tests wie Oncotype DX geben. Und die personalisierten
Arzneien werden wegen ihrer zielgerichteten, auf bestimmte Patientengruppen
zugeschnittenen Wirkungsprofile weiter
hohe Preise nach sich ziehen. Schon
heute gehören zu den 23 personalisierten Medikamenten am Markt mit
Herceptin (37 000 Dollar pro Jahr) und
Glivec (56 000 Dollar pro Jahr) zwei
ausgesprochen teure Arzneien. Ob sie
ihr Geld wert sind?
Im Moment nur schwerlich, da
muss Peter Schlag von der Charité nicht
lange überlegen. Natürlich solle der
Anreiz für die Industrie, neue Medikamente zu entwickeln, erhalten bleiben.
Die Diskussion über Nutzen und Preise
jedoch müsse von Herstellern, Kostenträgern, Politik, Patienten und Ärzten
gemeinsam geführt werden. Wenn personalisierte Medizin so teuer sei, dass
sie die Gesundheitssysteme sprenge, sei
niemandem geholfen.
Schon gar nicht beim Stand von
heute. Schlag mag eine Lebensverlängerung von ein paar Monaten jedenfalls
nicht bejubeln. Geschichten wie von
jener Mutter, die im Mai gestorben
wäre und dank personalisierter Medizin
die Einschulung ihres Kindes im August
noch erleben durfte, seien zwar rührselig, aber Augenwischerei. „Wir müssen erreichen, dass die Mutter ihr Kind
erlebt, wenn es Abitur macht. Dann
sind die Medikamente auch ihr Geld
wert.“ Letzteres sieht ein todgeweihter
Patient vermutlich anders. 7
121
„Keine Menschen
in unserem Sinne“
Der britische Zukunftsforscher Mark Stevenson
über Genomanalyse, Stammzellforschung und seine
Vorliebe für Fisch.
brand eins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl
Interview: Sebastian Borger Fotos: Peter Günzel
3 Herr Stevenson, Sie haben eine „optimistische Reise in die Zukunft“ absolviert, wie es im Untertitel Ihres
Buches heißt. Was macht Sie so optimistisch?
Ich werde ja häufig als sorgloser und uneingeschränkter
Optimist dargestellt. Der bin ich nicht. Ich sehe mich so:
bewusst optimistisch in Bezug darauf, was wir in Zukunft erreichen können; sehr pragmatisch in Bezug auf
die Wege dorthin. Meinem Eindruck nach haben viele
westliche Gesellschaften ihre Zukunfts-Ambitionen aufgegeben. Sie haben den Glauben verloren, dass wir eine
bessere Welt bauen können.
Und diesem eingebauten Pessimismus wollen Sie gern
gegensteuern?
Genau. Wenn ich in Schulen Vorträge halte, sage ich den
Kindern: Ihr habt eine große Zukunft vor euch. Es gibt
viele wirklich schwerwiegende Probleme zu lösen: Krankheiten wie Krebs, den Klimawandel, die Energiebedürfnisse der Menschheit und Ähnliches. Richtig tolle Aufgaben kommen auf eure Generation zu – viel Spaß dabei!
Wie ist die Reaktion?
Na, die sind natürlich zunächst überrascht. Denn die
überwiegende Haltung der Gesellschaft ist doch: Oje,
schon wieder ein Problem! Ich predige die Einstellung
von Ingenieuren: Ein Problem, fantastisch! Los, wie lösen
wir das?
Auf Ihrer Reise spielte die Medizin eine große Rolle.
Haben die Gespräche mit Ärzten, Biologen und anderen
Wissenschaftlern Sie in Ihrem Optimismus bestärkt?
Ich habe die ungeheuren Möglichkeiten, die aus der
medizinischen Forschung entstehen, kennengelernt. Das
kann Fortschritt sein, das können auch Probleme sein.
Die Sequenzierung des menschlichen Genoms bringt die
Möglichkeit einer ganz aufs Individuum zugeschnittenen
Behandlung von Gesundheitsproblemen mit sich. Das ist
eine ganz außergewöhnliche Entwicklung.
Darüber wird immer viel geredet, die Ergebnisse sind
bisher bescheiden.
Das liegt daran, dass der Preis noch immer sehr hoch ist.
Es kostete rund 300 Millionen Dollar, bis es dem Biochemiker Craig Venter gelang, die erste vollständige menschliche Genomsequenz zu erstellen. Vor zwei Jahren bekam
man das schon für knapp 100 000 Dollar. Heute spricht
eine Firma in Kalifornien davon, den Preis bald auf 1000
Dollar senken zu können.
Das kann jeder behaupten.
Aber das Tempo der Preisverringerung bleibt atemberaubend. In den vergangenen fünf Jahren ist die Sequenzie124
rung alle vier Monate um die Hälfte billiger geworden. Wenn
das so weitergeht, wird es nicht lange dauern, bis jeder
Mensch seine Genomsequenz für zehn oder sogar nur noch
einen Dollar bekommen kann.
Sollen wir uns wünschen, die Einzelheiten unserer genetischen Disposition zu kennen? Laufen wir nicht Gefahr, dass
uns Krankenversicherungen diese Daten abverlangen und uns
bei zu großem Krankheitsrisiko ablehnen?
Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Auswirkungen das haben
wird. Aber garantieren kann ich eines: Wir halten diese Technik nicht auf. Statt den Kopf in den Sand zu stecken, ist es
doch besser, über die Folgen zu diskutieren. Je mehr Leute
gut informiert sind, desto besser.
Was wird diese enorme Datenmenge auslösen?
Ich übertreibe nicht: Hier bahnt sich wirklich eine Revolution an. Das kann für den Kranken sehr positiv sein. Überlegen Sie mal, wie viele Medikamente es heute schon gibt, die
nicht verabreicht werden dürfen, weil sie bei einer kleinen
Gruppe potenzieller Patienten schlimme Nebenwirkungen
auslösen.
Das mag für die gesellschaftliche Diskussion gelten. Stimmt
es aber auch für den individuellen Patienten: Wer besser
informiert ist, hat ein besseres Leben?
Daran glaube ich. Die Kenntnis der eigenen Schwächen und
Nachteile ist natürlich nicht der einzige Faktor, der darüber
bestimmt, aber ein wichtiger.
Zum Beispiel?
Sehr bekannt ist doch der Fall des Medikaments Vioxx …
… eine verbreitete Handelsmarke des Wirkstoffes Rofecoxib,
das als Schmerzmittel eingesetzt wurde.
Es wurde chronischen Schmerz-Patienten wie Arthritiskranken verschrieben. Dann ergab eine Studie: Das Risiko einer
Herzerkrankung hatte sich bei längerer Einnahme von 0,75
auf 1,5 Prozent verdoppelt. Deshalb wurde das Medikament
vom Markt genommen.
Die Arzneimittelbehörden handhaben die Zulassung sehr
restriktiv, aus nachvollziehbaren Gründen.
Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Wenn man aber die
Risikogruppe mittels des individuellen Genoms stärker eingrenzt, kann ein Medikament der großen Mehrheit helfen.
Zudem würden die Kosten für die Entwicklung und Prüfung
von Arzneimitteln stark sinken.
Ich frage danach, weil uns seit 50 Jahren eingehämmert wird:
Rauchen ist schädlich für die Gesundheit. Aber hochintelligente Leute rauchen weiter.
Na ja, da kommt dann der übliche Spruch: Ich weiß, dass
Rauchen schädlich ist, aber Onkel Alan hat auch geraucht
und ist 90 geworden.
Mark Stevenson, 40, ist Naturwissenschaftler, Autor und Comedian.
Das ergänzt sich bei ihm sehr gut: Er erarbeitet Lernkonzepte für
Museen und schreibt als Wissenschaftsjournalist für „The Times“ oder
„The Economist“. Abends steht er auf der Bühne und erklärt seinem
Publikum, welche Möglichkeiten uns die Zukunft bringen wird.
Für sein Buch „An Optimist’s Tour of the Future“ traf er Erfinder
Derzeit spricht man von bis zu rund einer Milliarde Dollar,
die es kostet, ein neues Medikament zu entwickeln und einzuführen.
Da weiß man auch, warum die Arzneimittel so teuer sind.
Die persönliche Genomik würde dies ändern, weil mit ihrer
Hilfe die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass eine Studie scheitert.
Einer Vielzahl neuer oder bereits bekannter Wirkstoffe würde das den Weg ebnen.
Derzeit wird nur einer von einigen Tausend bei den Behörden zur Prüfung eingereichten Wirkstoffkandidaten für den
Menschen freigegeben. Und selbst von diesen scheitern noch
drei Viertel im klinischen Versuch.
und Wissenschaftler auf der ganzen Welt und ließ sich von deren
Individuell zugeschnittene Medikamente, ein längeres Leben
– das klingt ja fast zu schön, um wahr zu sein.
Sie bringen für die Gesellschaft aber auch ganz neue Fragestellungen. Wenn wir deutlich länger leben und dabei gesund
bleiben – was bedeutet das für den Arbeitsmarkt, für die
Altersversorgung, für die Pensionskassen? Darüber müssen
wir dringend debattieren.
Das deckt sich mehr oder weniger mit der Statistik.
Aber wenn ich mich besser ernähre, mehr Sport treibe, fleißig
weiterarbeite, weniger Alkohol trinke, steht meine Chance
nicht schlecht, älter als 90 zu werden. Wenn ich bei diesem
Alter angelangt bin, und die Lebenserwartung steigt auch in
Zukunft immer weiter, könnte ich weitere zwölf Lebens jahre hinzugewinnen. Das finde ich ermutigend.
Visionen anstecken.
Als Sie 1971 geboren wurden, lag die durchschnittliche
Lebenserwartung eines Engländers bei 69 Jahren. Jetzt, als
40-Jähriger, können Sie sich schon auf fast 79 Jahre freuen.
Reicht das nicht?
Sie sind nicht sehr großzügig. Ich habe mir von mehreren
Lebenserwartungsrechnern im Internet meine Aussichten
ermitteln lassen. Die prophezeiten mir bei gleich bleibender
Lebensweise den Tod zwischen 80 und 85.
Seit mindestens 30 Jahren predigen die Behörden, wir sollten bewusster essen. Trotzdem werden immer mehr Leute
immer fetter. Was der Alkohol anrichtet, weiß jedes Kind.
Dennoch steigt die Zahl der Leber-Erkrankungen in Großbritannien deutlich, besonders unter jungen Menschen. Die
müssten es doch besser wissen.
Sie haben recht. Es geht um die Unfähigkeit, die vorhandene
Information umzusetzen. Dennoch finde ich: Es ist gut, diese
Information zunächst einmal überhaupt zu haben. Immerhin
behauptet heute niemand mehr, Rauchen könne der Gesundheit nützen.
Trauen Sie der Menschheit nicht vielleicht zu viel Eigenverantwortung zu?
Natürlich sind wir Menschen keine rationalen Wesen. Bei
Gesundheitsthemen verfahren wir wie beim Klimawandel:
Wir halten an dem fest, was für uns emotional angenehm ist.
Andererseits sind immer jene Menschen erfolgreich, die eine
Fähigkeit zu komplexem Denken besitzen oder entwickeln.
Aber ich stimme Ihnen zu: Zunächst einmal ist jeder Mensch
irrational. Wenn man die Schädeldecke öffnet, kommt da eine
dicke Suppe aus Emotionen, Instinkten und irrationalem Verhalten zum Vorschein.
Mit einer dünnen Verstandesschicht obendrauf.
Deshalb ist die wissenschaftliche Debatte so wichtig. Sie stellt
einen Ausgleich her zu unserem dummen Benehmen.
125
Sie meinen: Je mehr Leute sich an einer wissenschaftlichen
Debatte beteiligen können, desto besser für die Menschheit?
Unsere Methode, Entscheidungen zu treffen, würde sich sicherlich verbessern.
Sie haben von der Biotech-Firma 23andMe Ihr eigenes Erbgut analysieren lassen.
Ja, denen habe ich ins Röhrchen gespuckt. Herausgekommen
ist aber keine vollständige Analyse meines Genoms, sondern
nur von Teilen.
Unter anderem wurde Ihnen mitgeteilt: Sie haben gegenüber
einem durchschnittlichen Mann eine leicht erhöhte Wahrscheinlichkeit, an einem kolorektalen oder einem ProstataKarzinom zu erkranken.
Deshalb esse ich jetzt deutlich mehr Fisch als früher. Und ich
habe mir vorgenommen, in regelmäßigen Abständen zur Vorsorgeuntersuchung zu gehen.
Beides schadet sicher nicht. Aber die Informationsbasis, auf
der diese Verhaltensänderung beruht, ist doch sehr dünn.
Das weiß ich.
Ist es nicht so, dass Sie ohnehin gern Fisch essen?
Na ja, ich habe kein Problem mit Fisch. Und je mehr ich
davon esse, desto besser schmeckt er mir.
Würden Sie immer noch so viel davon essen, wenn Sie Fisch
nicht ausstehen könnten?
Dann würde ich wahrscheinlich irgendwelche Tabletten mit
Wirkstoffen nehmen.
Mich interessiert Folgendes: Ebenso wie die Gene stellt Ihr
Verhalten, insbesondere Ihr Essverhalten, einen wichtigen
Faktor dar in der Frage, ob Sie Krebs bekommen oder nicht.
Das sage ich ja.
Ein weiterer wichtiger Faktor scheint zu sein, ob ein Mensch
mit sich im Einklang lebt. Wenn Sie nun etwas dauernd und
in großen Mengen essen, nur weil der Doktor es empfiehlt,
Sie dadurch aber permanent unglücklich sind, erhöht das
nicht auch Ihr Krebsrisiko?
Na ja, Krebs zu bekommen würde mich sehr unglücklich
machen. Es ist doch so: Eine Vielzahl von Studien legt den
Verdacht nahe, dass Fisch gesünder ist als Fleisch. Insofern
mache ich nichts falsch.
Nein, aber diese generelle Information hat nichts mit Ihrem
individuellen Genom zu tun.
Was bei der Analyse übrigens noch herauskam: Ich habe eine
deutlich höhere Chance, an einer Arhythmie des Herzens zu
erkranken. Das kann man durch regelmäßiges Training zu
126
verhindern versuchen. Also habe ich jetzt dreimal die Woche
einen Personal Trainer.
Das fällt ebenso in die Kategorie „Vernünftiges Verhalten für
Männer ab 40“. Unsere Gesundheit kann bestimmt von mehr
Wissen profitieren. Könnte aber mehr Wissen der Gesundheit auch schaden?
Auch das ist möglich. Es hat ja in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Dinge gegeben, von denen wir glaubten,
sie seien gut für die Gesundheit.
Heroin war um 1900 herum ein beliebtes Schmerzmittel.
Und von den negativen Wirkungen von Nikotin hatte man
auch lange Zeit keine Ahnung.
Inzwischen wissen wir: Das Gegenteil ist der Fall.
Haben alle Menschen so gute Fähigkeiten, mit Informationen,
auch negativen oder widersprüchlichen Aussagen, über die
eigene Gesundheit umzugehen wie Sie?
Ach, ich bin natürlich genauso irrational wie der Nächstbeste. Ich sage ja nicht, dass die Genomanalyse der Stein der
Weisen ist. Aber ich glaube, dass sie, richtig angewandt, einen
Fortschritt für die Menschheit darstellt.
Und was machen wir mit der Versicherungsgesellschaft, die
Sie wegen Anomalien Ihres Genoms ablehnt?
Ich muss davon ausgehen, dass Versicherungen sich in den
kommenden Jahren genauso verhalten werden. Andererseits
bin ich der Meinung: Eigentlich sind diese Unternehmen
genau wie das staatliche Gesundheitswesen daran interessiert, dass die Bürger gesund bleiben und lange leben. Dann
zahlen sie auch länger Steuern und Versicherungsbeiträge.
Das wäre nützlich.
Ich glaube also, dass die Antwort auf Ihre Frage genau in den
Zukunfts-Techniken liegt: Die Biotech-Revolution, die Gentherapie, die Stammzell-Therapie verleihen uns die Chance,
bisher unheilbare Krankheiten zu bekämpfen.
Davon reden Visionäre seit mehr als einem Jahrzehnt. Kennen Sie ein Beispiel?
Erst kürzlich ist es Forschern in Cambridge gelungen, ein
defektes Gen zu reparieren. Sie verwendeten dabei adulte
Stammzellen aus der Haut. Und im Versuch mit Mäusen
konnte dadurch eine bisher unheilbare Erkrankung der Leber
geheilt werden.
Als nächster Schritt muss jetzt die Übertragbarkeit dieser
Technik auf den Menschen geprüft werden.
Natürlich, wir sind noch keineswegs am Ziel. Aber ein wichtiger Schritt ist getan. Inzwischen werden doch schon ganze
Organe im Labor gezüchtet. Es wird der Moment kommen,
wo der Arzt dem Patienten sagen kann: Wir stellen eine neue
Leber für Sie her. Das mag Ihren Kontostand verringern, aber
es ist besser für Sie selbst, für die Versicherung und für die
Nation. Denn dann können Schwerkranke wieder ein lebenswertes Leben führen und zum Steueraufkommen beitragen.
Wie geht die Gesellschaft in Zukunft mit Behinderten um?
Es wird keine Behinderten mehr geben.
Wie bitte? Das können Sie nicht ernst meinen.
Schauen Sie sich mal Oscar Pistorius an.
Den an beiden Beinen amputierten südafrikanischen Läufer?
Der hat es auf seinen Karbon-Prothesen bei der letzten Leichtathletik-WM ins 400-Meter-Halbfinale geschafft. Ich würde
mal davon ausgehen: Spätestens bei den Olympischen Spielen 2020 wird Pistorius selbst oder ein ähnlicher Läufer
unschlagbar sein.
Und diese Vorstellung gefällt Ihnen?
Das ist eine andere Frage. Aber welch ein Fortschritt! Wir sind
dazu in der Lage, künstliche Körperglieder zu bauen, die besser funktionieren als das natürliche Vorbild. Schon in zehn
Jahren könnten Schwerhörige besser hören als ihre normal
hörenden Altersgenossen. Da wird sich Musikern die Frage
stellen, ob sie nicht auch ein Hörgerät haben wollen, um ihre
Musik besser hören zu können.
Das klingt ein bisschen nach dem perfekten Menschen utopischer Romane.
Die Leute glauben, unsere Evolution sei vorbei. Wahrscheinlich beschäftigen sie sich zu viel mit den PräsidentschaftsVorwahlen in Amerika.
Wir können ihn ignorieren, was unverantwortlich wäre. Oder
wir können versuchen, ihn zu beeinflussen. Das scheint mir
die einzige vernünftige Lösung zu sein.
Schon Albert Einstein hat gesagt: Unsere Technik ist über
unsere Menschlichkeit hinausgewachsen.
Ja, so reden bis heute viele. Ich glaube, das ist falsch. Ob wir
das wollen oder nicht: Die Menschheit entwickelt sich durch
kulturelle und technologische Einflüsse immer weiter fort.
Und deshalb läuft Oscar Pistorius bald schneller als ein normaler Athlet.
Pistorius ist ein tolles, aber doch sehr ungewöhnliches Beispiel. Er kann in einer Wettkampfsituation schnell laufen,
bleibt aber doch ein doppelt Bein-Amputierter.
Sicher, ich benutze ihn auch nur als Beispiel für einen Trend,
den ich für unaufhaltsam halte. Wenn wir uns in 15 Jahren
gegenübersitzen, haben Sie vielleicht eine Handprothese, die
so täuschend echt ist, dass ich sie gar nicht bemerke. Wahrscheinlich funktioniert Ihre künstliche Hand besser als meine
natürliche.
Eine gruselige Vorstellung.
Da kann einem angst und bange werden, natürlich. Aber
noch mal: Die einzige rationale Antwort lautet, dass wir den
Wandel erkennen und beeinflussen müssen.
Und am Ende steht der perfekte Mensch?
Das werden keine Menschen in unserem Sinne mehr sein. In
dieser Wahrnehmung stecken wir jetzt noch fest. Dabei stellen auch wir nur eine Phase dar in der Evolution. Es sei denn,
Sie sind tief religiös und glauben, dass die Menschen so auf
der Welt erschienen, wie sie heute aussehen. Dazu gehöre ich
sicher nicht. 7
Der Gedanke liegt ja auch nicht ganz fern. Aber in Wirklichkeit entwickeln wir uns doch weiter. Und heutzutage können
wir unsere Evolution durch die Technik und die Biologie
selbst bestimmen. Das jagt vielen Leuten einen großen
Schrecken ein. Ihnen auch?
Natürlich. Jedenfalls bin ich zwiegespalten. Einerseits denke
ich: Toll, wenn ich einen Unfall habe, bekomme ich einen
neuen Arm und lebe besser als zuvor. Wir werden länger
leben, studieren, arbeiten können …
… mehr Unsinn machen.
Das gehört dazu. Andererseits fürchte ich mich vor einer
Zukunft mit Robo-Menschen.
Mark Stevenson: Morgen ist heute gestern.
Und zu welchem Schluss kommen Sie?
Ich halte mich an den Grundsatz: Der Wandel kommt bestimmt – wir haben drei Möglichkeiten, damit umzugehen.
Wir können versuchen, ihn aufzuhalten. Das ist zwecklos.
Eine optimistische Reise in die Zukunft.
Aus dem Englischen von Hans Freundl und
Werner Roller, Piper-Verlag, München;
448 Seiten, gebunden; 22,99 Euro
127
Impressum
Herausgeber
Redaktion
Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie
(BPI) e.V.
Kontakt: Dr. Norbert Gerbsch, Joachim Odenbach,
[email protected]
Peter Bier, Textredaktion
Lydia Gless, Textredaktion
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Fotografie
Reproduktion
Peter Günzel, Oliver Helbig, Michael Hudler,
Anne Morgenstern, Hartmut Nägele
4mat media – Mohn Media
Kleine Reichenstr. 1
20457 Hamburg
Britta Max
Illustration
Text
Bernhard Bartsch, Clemens Bomsdorf, Sebastian Borger,
Hanno Charisius, Julia Groß, Ralf Grötker, Steffan Heuer,
Sascha Karberg, Wolf Lotter, Andreas Molitor, Christian
Sywottek, Gerhard Waldherr, Harald Willenbrock
128
Verlag
Druck
Compact Media
Ferdinandstraße 29–33
20095 Hamburg