Nr. 2/2013 - Wasser

Transcription

Nr. 2/2013 - Wasser
Magazin
Wasser Prawda
Nr. 2/2013
Willie Dixon:
What a time - what a man - what a
gift to us all!
(Zach Prather)
•Precious Bryant - Ann Rabson - Pass Over Blues - Scott Sharrard &
the Brickyard Band
•Wir wollen ein Lied von Dir - Der erste Download-Sampler
•Album des Monats: Bob Brozman - Fire in the Mind
•Interviews: Carolyn Wonderland - Clare Free - Blues Bea - Jürgen
Buchmann
•Texte von Angelika Janz, Karl Kraus, Jean Paul,
•Bücher von O. Emersleben, Neal Stephenson
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Die Redaktion empfiehlt:
Jake Lear - Diamonds and
Stones
Die Gitarre heult auf, die Rhythmen stampfen
- man glaubt sich in den gleichen Schuppen
versetzt, in dem Buddy Guy vor Jahren sein
großartiges Album „Sweet Tea“ eingespielt hat:
Rauher Juke Joint Blues erwartet einen, wenn
„Diamonds And Stones“ losgeht.
Impressum
Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraumverlag Greifswald veröffentlicht und erscheint
monatlich. Es wird kostenlos an die registrierten
Leser des Online-Magazins www.wasser-prawda.de verschickt.
Wasser-Prawda Nr. 2/2013
Redaktionsschluss: 31. Januar 2013
Redaktion:
Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.)
Redaktion: Lüder Kriete, Erik Münnich
Mitarbeiter dieser Ausgabe:
Leo Hull - Bootleggin‘ The
Blues
Leo Hull, im Untertitel seines vierten Albums
als „The Texas Blues Machine“ angekündigt,
erzählt Geschichten und serviert sie mit Blues,
mit Country, mit Boogie - und vor allem mit
viel Liebe. Er macht sich nicht lustig über die
gescheiterten Existenzen. Er fühlt sich ihnen
nahe und setzt ihnen in den Liedern Denkmale.
The Tribe with Zach Prather Ju Ju Man
Diese Gitarre fällt auf: Wie sie den stoischen
Groove der Rhythmusgruppe in „Smokestack
Lightning“ mit schneidend-heftigen Linien ergänzt, erinnert das manchmal von ferne an Buddy Guy. Und Zach Prathers Stimme braucht eigentlich nicht die Jodelanleihen, um Howlin
Wolf Referenz zu erweisen. Das ist eine Stimme
von jemandem, der seit Jahren seine Blueslektionen von großen Bühnen bis hin in die ganz
kleinen Kellerclubs gelernt hat.
• Gary Burnett (Belfast, Down at the
Crossroads)
• Matthias Frieling (Weimar)
• Beate Grams (www.bluesbea.de)
• Thilo Hornschild (Köln, Cologne Blues
Club)
• Dave Watkins (Blues Train Radio)
• Zach Prather (Luzern, The Tribe with Zach
Prather)
Die nächste Ausgabe erscheint am 21.
März 2013.
Adresse:
Redaktion Wasser-Prawda
c/o wirkstatt
Gützkower Str. 83
17489 Greifswald
Tel.: 03834/535664
www.wasser-prawda.de
mail: [email protected]
Anzeigenabteilung:
[email protected]
Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle
zeigenpreisliste und die Mediadaten für
Online-Magazin und die pdf-Ausgabe
Wasser-Prawda zu. Anzeigenschluss für
pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag
Erscheinungs-Monats.
Andas
der
das
des
Jobs @ Wasser-Prawda
Ben Harper & Charlie Musselwhite - Get Up!
Ben Harper und Charlie Musselwhite: Eine
Kombination, die schon vom Papier her sofort
einleuchtet. Die Lieder von „Get Up!“ über das
Scheitern im Alltag verlangen geradezu nach
den schneidenden Harpsounds von Musselwhite. Man spürt sofort, dass die Musiker sich
hervorragend ergänzen und hier keine Kollaboration in der PR-Abteilung beschlossen wurde.
Wir suchen zum nächstmöglichen Termin eine engagierte Mitarbeiterin/ einen engagierten Mitarbeiter für unsere
Anzeigenabteilung.
Du hast Lust, einen Arbeitsbereich komplett eigenverantwortlich aufzubauen?
Du hast idealerweise Kontakte zu Plattenfirmen, Klubs, Verlagen und Musikern? Und Du kannst auch auf Englisch
klar machen, warum ein Magazin wie die
Wasser-Prawda ein wichtiges Werbeumfeld ist? Bewerbungen an redaktion@
wasser-prawda.de. Die Bezahlung erfolgt
auf Provisionsbasis.
Editorial
spontan ein Lied ein? Ab damit in den Mailanhang und an
[email protected]. Den Abschluss unserer Feierlichkeiten wird Ende Juli/Anfang August eine Spezialausgabe
der Radiosendung „Crossroad Cafe“ auf radio 98eins bilden.
Und die ist gleichzeitig unser Beitrag zum International Blues
Music Day, der weltweit erstmals am 3. August stattfinden
wird.
Man nennt ihn den „Poeten des Blues“: Als Songschreiber
und Bassist zahlloser Nummern von Chess Records wird Willie Dixon zu Recht gefeiert. Seine eigenen Aufnahmen und
sein Wirken nach der Zeit bei Chess geht dabei leider oft unter. Für uns der Grund, genau diese Musik einer Würdigung
zu unterziehen und daraus eine Art musikalischer Biografie
zusammenzustellen. Ergänzt wird diese durch Erinnerungen
von Dixons letztem Gitarristen Zach Prather, der seit Jahren
in der Schweiz wohnt und mit „Yu Yu Man“ gerade ein äußerst hörenswertes neues Album veröffentlicht hat.
Die Anzahl unserer Autoren ist in den letzten Monaten erfreulich angewachsen. Neben Prather können wir in dieser
Ausgabe den Gitarristen Thilo Hornschild vom Cologne Blues
Club, den Musikwissenschaftler Matthias Frieling und Beate
Grams begrüßen, die uns nicht nur für ein Interview zur Verfügung stand, sondern uns auch für einen Artikel einige ihrer
großartigen Aufnahmen zur Verfügung gestellt hat.
Dave Watkins startet in dieser Ausgabe eine Interviewreihe,
bei der er zukünftig vor allem britische Bluesmusikerinnen
und Bluesmusiker porträtieren wird. Die ersten „Zehn Fragen
an“ stellte er britischen Gitarisstin, Songschreiberin und (seit
neuestem) PR-Agentin Clare Free. Weitere Gespräche führten Gary Burnett mit Carolyn Wonderland und ich selbst mit
Pass Over Blues.
Editorial
Bis zum Sommer wollen wir hier das fünfjährige Bestehen unseres Kulturmagazins begehen. Feiern wollen wir das vor allem mit ein paar exklusiven Download-Samplern, für die uns
Musiker aus aller Welt Songs zur Verfügung gestellt haben. 13
Lieder zwischen Blues, Bluesrock und Americana stehen am
Start der Aktion „Wir wollen ein Lied von Dir!/Give us your
song!“ Und unser Aufruf gilt noch immer: Schenkt uns einen
Song! Ihr habt bei dem letzten Studiotermin einen Song aufgenommen, der dann irgendwie nicht auf‘s Album gepasst
hat? Es gibt da noch diese eine umwerfende Nummer, die
Ihr immer schon mal aufnehmen wolltet? Oder war da nicht
noch der Livemitschnitt mit dem irren Solo? Oder Euch fällt
beim Blick auf die Medienlandschaft in Bezug auf den Blues
Inhalt
Camper Van Beethoven - La costa Perdida
31
David Migden & The Dirty Words - Killing It
31
David Philips - December Wine
32
Dream Catcher - Irish Nights
32
Jake Bugg - Jake Bugg
32
Jake Lear - Diamonds And Stones
33
Jason Vivone and the Billy Bats - Lather Rinse Repeat
33
Jesse Dee - On My Mind, In My Heart
33
Kinky Friedman - Bi-Polar-Tour live from Woodstock
33
Kris Kristofferson - Feeling Mortal
33
Leo Hull - Bootleggin‘ The Blues
34
Lucky Peterson Band - Live At The 55 Arts Club Berlin
34
Matty Powell - Kiss The City
34
Max Raabe - Für Frauen ist das kein Problem
34
Mockingbird Hill - One Horse Town
34
Murali Coryell - Live35
Ólöf Arnalds - Sudden Elevation
35
Petra Haden - Petra Goes To The Movies
35
Red Fox Bluesband - Come On everybody 37
Rusty Wright Band - This, That & The Other Thing37
„Sir“ Oliver Mally - Strong Believer 37
Stevie DuPree & The Delta Flyers - Dr. DuPree‘s Love Shop37
The John Pippus Band - Howl At The Moon38
The Trieb with Zach Prather - Ju Ju Man 38
Yes Sir Boss - Desperation State
38
Die Redaktion empfiehlt:2
Impressum2
Jobs @ Wasser-Prawda2
Editorial3
Wir wollen ein Lied von Dir Volume 1
5
Precious Bryant (1942-2013)6
Ann Rabson (1945 - 2013)
7
Bob Margolin über den Tod seiner langjährigen Freundin
und musikalischen Partnerin7
Willie Dixon: Jenseits von Chess
8
Zach Prather: Was für eine Zeit, was für ein Mann, was
für ein Geschenk für uns alle
12
Der Streit um die Rechte und die Blue Heaven Foundation 13
Bei Chess: 2 Box-Sets, 1 CD
14
Scott Sharrard & the Brickyard Band
15
Pass Over Blues: Auf leisen Wegen
17
Carolyn Wonderland: The soul of the blues
19
Bluesbea - Unterwegs im Namen des Blues?!
22
Zehn Fragen an: Clare Free
25
Mia Moth: Poppunkfunkrock mit Spassfaktor!
27
Matthias Bätzel Back To The Roots
Jazz im Keller oder wie es abwärts geht
28
28
Album des Monats: Bob Brozman - Fire In The Mind
29
Rezensionen
Ausgegraben & Wiedergehört 36
Jimmy „Preacher“ Ellis - The Story of 1963-1972
Johnny Ace - Ace‘s Wild!
Slam Allen - This World!
Platten A-Z
Aaron Neville - My True Story
30
Allen Vega - Rough Cut
30
Annabels Ashes - Revenant30
Bart Walker - Waiting On Daylight
30
Ben Harper & Charlie Musselwhite - Get Up!
30
Big Llou Johnson - They Call Me Big Llou
31
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© wasser-prawda
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Musik
Sunday Wilde beim 5. Volksdorfer Bluesfestival
„What Man!?? - Oh THAT man!!“ gehörte 2011 nicht nur bei uns zu den Alben des Jahres. Und
auch mit „He Gave Me A Blue Nightgown“ hat die kanadische Songwriterin Sunday Wilde Ende
2012 wieder ein großartiges Album vorgelegt. Da ist es eine wunderbare Nachricht, dass sie die
Organisatoren des Volksdorfer Bluesfestivals sie am 2. November 2013 nach Deutschland holen
werden.
Ein offizielles Programm für die 5. Auflage des kleinen Festivals in Hamburg-Volksdorf steht zu
diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht fest. Mit der Verpflichtung Wildes haben die Organisatoren
auf jeden Fall gezeigt, dass sie mehr Mut haben, als andere Konzertveranstalter hierzulande. Denn
bislang hatte sich die Sängerin wohl vergeblich hier um Auftrittsmöglichkeiten bemüht. Bleibt zu
hoffen, dass der Auftritt nur der Auftakt zu etlichen Konzerten in Deutschland ist. Denn eine so
großartige Songschreiberin und Sängerin wie sie hat auf jeden Fall ein großes Publikum verdient.
Dynamite Daze auf Deutschland-Tour
Der „Rolling Stone“ nannte Dynamite Daze
mal die deutsche Antwort auf Tom Waits und
Captain Beefheart. Die Band selbst bezeichnet
ihre Musik schlicht als Krautblues. Auf jeden
Fall spielen die vier Musiker einen Bluesrock,
der eigenständig und immer wieder überraschend ist. Mit dem 2011 erschienenen Album
„Scarecrows on Rampage“ sind sie jetzt wieder
auf Tour durch Deutschland.
22.02. Karlsruhe Jubez
09.03. Huttenheim Holzwurm
15.03. Weinstadt Armer Konrad
16.03. Burghausen Jazztage
23.03. Meidelstetten Adler
12.04. Braunschweig Barnabys Blues Bar
13.04. Hannover Anderter Bahnhof
14.04. Rhede Blues
18.04. Roth Rother Bluestage
19.04. Weiden Salute Music Club
Julian Dawson
Ein Jahr lang war der britische Songwriter
nicht mehr auf Tour. Jetzt hat er einen umfangreichen Tourplan veröffentlicht, der Konzerte vor allem in Deutschland aber auch Ausflüge nach Kanada und den USA beinhaltet.
Februar
20-24 Toronto Folk Alliance
27 Frome The Olive Tree
B.B. & The Blues Shacks
„Come Along“ ist nicht umsonst von den
„Blues News“-Kollegen zum Album des Jahres
hierzulande gewählt worden. Und wie kann
man diesen großartigen Soulblues besser genießen als im Konzert? Bis in den Mai sind B.B.
& The Blues Shacks mit dem Album auf großer
Frühjahrs-Tour durch die Welt. Hier die nächsten Termine in Deutschland:
26.04.2013 | D-PERLESREUT
27.04.2013 | D-LÖHNE
09.05.2013 | D-RÖDERMARK
25.05.2013 | D-LÜNEBURG
März
06 Eckernfoerde Theater (tbc)
07 Kiel Kieler Fenster
08 Brunsbuettel Lyra
09 Rendsburg Speicher
10 Hameln Sumpfblume (18.00)
16 Koeln Besenkammer
17 Koeln Besenkammer (tbc)
28 Featherstone St. Wilfrid’s Catholic High
School
April
05 Heiligenhaus Der Club
06 Neustadt (Hannover)
09 Nijmegen Café Trianon (NL)
10 Amsterdam Kapitaen Zeppos (NL)
11 Frankfurt Musikmesse
13-28 USA
22.02.2013 | D-RATINGEN
23.02.2013 | D-OSNABRÜCK
01.03.2013 | D-WARDENBURG
02.03.2013 | D-SALZGITTER
15.03.2013 | D-BENSHEIM
16.03.2013 | D-SCHWERIN
11.04.2013 | D-HOLSTE
12.04.2013 | D-UNNA
13.04.2013 | D-VERDEN
Mai
05 House concert (NL)
11 Wolfenbuettel Blue Note e. V.
Pass Over Blues
Die Potsdamer Band Pass Over Blues gibt es
bereits seit 1991 in verschiedensten Besetzungen. Mit ihrer aktuellen Besetzung (Roland
Beeg - g, Harro Hübner - voc,mharm, Lutz
Mohri - b, Michiel Demeyere) sind in den
nächsten Wochen folgende Konzerte geplant:
02.03. Rathaus Babelsberg (Potsdam) 20.00
23.03. Werder-17. Blues Night mit Gästen >
Pöstel & Pötsch. 21.00 Uhr
30.03. Pumpe Rostock 21.00 Uhr
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© wasser-prawda
Musik
Wir wollen ein Lied von Dir
Volume 1
Schon kurz nachdem wir den
Aufruf veröffentlicht hatten,
bekamen wir für den angekündigten Sampler schon die
ersten Lieder zugeschickt. Innerhalb weniger Tage wurden
es so viele, dass wir bislang genügend Lieder für zwei bis drei
Ausgaben unseres Samplers
haben, die im Laufe der nächsten Monate an unsere Abonnenten verschickt werden. Folge 1 macht von Anfang an klar:
Es geht um die Musik - jenseits
von Genregrenzen: Jazz, Blues,
Rock, Soul - wichtig ist, dass
hier Künstler mit Leib und Seele am Werke sind.
1. Shirley Jackson & Her Good Rockin‘ Daddys
- Stop Look and Listen (vom Album „When The
Money‘s All Gone“)
2. Allen Vega - Jobless (vom Album „Rough
Cut“)
3. Dog Hill Sessions - Drunken Dialer
Die 2006 gegründete Band aus Bad Oldeslohe
hat sich nach einem Album von Vdelli aus Australien benannt. „Drunken Dialer“ ist auf der bislang einzigen CD der Band „Wanna Touch Your
Skin“ zu finden ist, die man bei ihren Konzerten
erwerben kann.
4. King King - Six In The Morning
2012 gewannen King King bei den British Blues
Awards in den Kategorien „Best Band“ und „Best
Album“ („Take My Hand“). Das zweite Album
der Band mit dem Titel „Standing In The Shadows“ erscheint am 23. März 2013.
5. Johnny Childs - Black Bag Groove (vom Album „Groove“)
6. Clare Free - Creepy (vom Album „Dust and
Bones“)
7. Stefan Saffer & The Jukes - When justice
walks on death row (bislang unveröffentlicht)
Der Singer/Songwriter Stefan Saffer hat dieses
Lied einem Freund gewidmet, der seit Jahren unschuldig in der Todeszelle in Texas sitzt.
8. Mariella Tirotto & The Blues Federation Lover‘s Dance (vom Album „Dare To Stand
Out“)
9. Marius Tilly Band - Blue Devil On The Run
Dichter dran am Blues als auf dem Debütalbum
- der Jam der Marius Tilly Band wurde vor Jah-
5
ren auf einer nicht mehr erhältlichen EP der Marius Tilly Band veröffentlicht.
10. 3 Dayz Whizkey - Devil and the Deep Blue
Sea (vom gleichnamigen Debüt der bayrischen
Band)
11. Steve Lury & Andres Roots Roundabout Someplace Nice (Vorabveröffentlichung, die wir
frisch aus dem Studio des estnischen Gitarristen
erhielten).
12. Tommy Schneller - (Walkin) Barefootin In
The Sand (vom Album „Smiling For A Reason“)
13. Karl Valta - Dunkeltuten (bislang
unveröffentlicht)
Der Grafiker Karl Valta gehört mit seiner Harp
zu den wichtigen Musikern in der Bluesszene
rund um Greifswald. Als Geburtstatgsgeschenk
nahm er uns sein Instrumental „Dunkeltuten“
auf.
Alle Rechte liegen bei den Künstlern. Dieser
Sampler ist exklusiv für Leser der Wasser-Prawda
und ist nicht für eine Weiterverbreitung vorgesehen. Wenn Euch die Musik gefällt, kauft die
Alben der beteiligten Musiker!
Zusammenstellung: Raimund Nitzsche 2013
Volume 2 erscheint voraussichtlich im März 2013.
© wasser-prawda
Musik
Precious
Bryant
(1942-2013)
Als Bluesgitarristin war Precious Bryant schon Jahre in Georgia unterwegs gewesen, als 2002 ihr
Debütalbum „Fool Me Good“ erschien und gleich für zwei Blues Music Awards nominiert wurde.
Am 12. Januar 2013 starb Bryant im Alter von 71 Jahren an den Folgen ihrer Diabeteserkrankung.
Sie sang von Schmerzen und Armut. Denn sie
hatte das alles erlebt. „Broke and Ain‘t Got a
Dime“, mit dem „Fool Me Good“ beginnt, ist
dennoch alles andere als deprimierend, denn
Bryants Fingerpicking im Stiel des PiedmontBlues sorgt hier für einen willkommenen Kontrast. Und ob sie nun eigene Songs spielt oder
Klassiker des Rhythm & Blues (großartig ihre
Ragtime-Fassung von „Fever“) oder Soul interpretiert: All das ergibt Musik, wie sie in Georgia
und anderen Ostküstenstaaten schon seit den
ersten Plattenaufnahmen zu hören war.
Geboren wurde die Musikerin am 4. Januar 1942
unter dem Namen Precious Bussey als drittes von
neun Kindern einer armen aber musikalischen
Familie. Sowohl ihr Vater als auch der Onkel
spielten Gitarre, die Mutter war Pianistin. Vom
Onkel George Henry Bussey erhielt sie Gitarrenunterricht. Und letzter schenkte ihr auch das erste eigene Instrument und unterrichtete sie auch.
Gemeinsam mit ihren Schwestern sang sie auch
im Chor ihrer Gemeinde, während ihre Cousins
in der Georgia Fife and Drum Band spielten.
Klar, dass sie als Jugendliche mit Platten von
Muddy Waters und anderen angesagten Künstlern aufwuchs. Diese flossen ebenso in ihr Repertoire ein wie regionale Folksongs und erste eigene
Stücke. In der elften Klasse brach sie die Highschool ab und heiratete 1965. Damals spielte sie
in den Kneipen der Region für Trinkgelder. Dabei wurde sie 1969 von Musikhistoriker George
Mitchell bei einer Field-Recording-Tour entdeckt
und erstmals aufgenommen. Der konnte sie (die
eigentlich ungern reiste) zu einem Auftritt beim
Chattahoochee Folk Festival überreden, wo sie
auf begeisterte Zustimmung stieß. Und plötzlich
war sie für einige Zeit in den ganzen USA und
selbst in Europa bei Folk- und Blues-Festivals
gefragt. Folkloristen hatten hier mal wieder eine
Künstlerin „entdeckt“, die selbstbewusst und
musikalisch herausragend eine Tradition verkörperte, die man schon für fast ausgestorben hielt.
Auch wenn immer mal wieder Aufnahmen von
Precious Bryant auf Samplern erschienen, dauerte es doch bis 2001, dass sie ein komplettes
Album aufnehmen konnte. Die Sessions dafür
fanden im mit Teppichen vollgelegten Wohnzimmer von langjährigen Freunden statt. Und
das gibt „Fool Me Good“ eine schon intime Atmosphäre, in der sie allein mit der Gitarre ihre
Stücke vorträgt. 2005 war dann für „The Truth“
zeitweise eine ganze Band im Studio. Ihr Sohn
Tony spielte in ihr den Bass. Und neben den traditionellen Songs finden sich auch neuere Stü-
6
cke, Cover etwa von Hits von Irma Thomas oder
Denise LaSalle. Nachdem ihr Debüt als bestes
Debüt und bestes traditionelles Bluesalbum für
Blues Music Awards nominiert war, erhielt sie
jetzt die nächste Nominierung. Allerdings hießen
ihre Konkurrentinnen in dem Jahr Koko Taylor
und Etta James - die den Preis letztlich erhielt.
Die Music Maker Relief Foundation finanzierte
2005 schließlich eine Plattenaufnahme, die zur
letzten der Musikerin werden sollte. Für „My
Name is Precious“ stand sie wieder gemeinsam
mit ihrem Sohn am Bass im Studio. Ab und zu
sang und spielte auch der in der Gegend wohnende Gitarrist Cootie Stark bei den Aufnahmen
mit. Die Stiftung unterstützte die in bitterer Armut lebende Musikerin die letzten Jahre ihres Lebens mit Instrumenten und bei der Suche nach
bezahlten Auftritten. Als die fortschreitende Zuckerkrankheit sie an weiteren Touren hinderte,
da stellten sie ihr auch einen neuen Wohnwagen
zur Verfügung.
Mit Precious Bryant ist eine der letzten authentischen Vertreterinnen der langsam verschwindenden Musiktradition des Piedmont-Blues
gestorben.
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
Musik
Ann
R
abson
(1945
2013)
Als Solistin wie auch als Mitglied von Saffire - The Uppity Blues Woman half die Pianistin und Gi-
tarristin Ann Rabson entscheidend mit, das Interesse am akustischen Blues wieder zu wecken in
einer Zeit, als viele die Musik von Stevie Ray Vaughan noch für die höchstmögliche Entwicklungsstufe des Blues hielten. Ihr kürzlich veröffentlichtes Album „Not Alone“ brachte ihr die neunte
Nominierung für einen Blues Music Award ein. Am 30. Januar starb Ann Rabson an Krebs.
Pianistinnen wie sie gab es zu letzt nur noch ganz
wenige. Musiker, die die Traditionen des Barrelhouse lebendig hielten, bei denen Boogie Woogie
nicht eine hohe Kunstform sondern eine lebendige Musik, die vor allem zum Tanzen da ist.
Geboren wurde Ann Rabson am 12. April 1945
in New York. Aufgewachsen ist sie in Ohio. Und
schon als sie als Kind erstmals Big Bill Broonzy
im Radio hörte, war für sie die Etnscheidung gefallen. Auch wenn sie erst mit 17 Jahren ihre erste
Gitarre erhielt: „Blues speaks to me directly. It
wasn‘t a choice, I was drawn to it naturally, sort of
like a sheepdog with sheep“, zitiert sie ihre langjährige Plattenfirma Alligator. Bald schon war sie
- noch während der Highschool-Zeit - eine gute
Gitarristin und Sängerin, die neben Broonzy vor
allem Memphis Minnie zu ihren Vorbildern zählte. Nach dem Schulabschluss widmete sie sich
komplett der Musik. Zu den Auftritten kamen
Unterrichtsstunden hinzu, mit denen sie die Gagen aufbessern konnte. Dabei traf sie auf Gaye
Adegbalola, die bei ihr Unterricht nahm. Und
die Begegnung - und der Wille, gemeinsam aufzutreten - führte zur Gründung von Saffire - The
Uppity Blues Women. 1990 brachte Alligator das
Debüt des Frauen-Trios heraus, das noch immer
zu den best verkauften Alben des Labels zählt.
Frauenpower - Musik von Frauen und auch über
Probleme von Frauen stand da immer im Zentrum. Aber das Ergebnis ist von der Sauertöpfigkeit einer Alice Schwarzer so weit entfernt wie
ein live gespielter Boogie von einem 8-bit-Klingelton der gleichen Melodie. Bis 2009 tourten
die drei Frauen durch die Welt und brachten von
Fans und Kritikern hoch gelobte Alben heraus.
Dann lösten sie sich auf und die Musikerinnen
widmeten sich ganz ihren Soloambitionen. Mit
„Music Makin Mama“ hatte Rabson schon 1997
ihr erstes Soloalbum vorgelegt, das gleich in zwei
Kategorien für Blues Music Awards nominiert
wurde. Neun Nominierungen erhielt sie seither.
Insgesamt drei Soloalben kamen auf den Markt
und zusätzlich spielte sie auf Platten vieler ihrer
Freunde mit: mit Pinetop Perkins stand sie ebenso im Studio wie mit Cephas & Wiggins aber
auch mit EG Kight und Ani DiFranco stand sie
im Studio. Und auch wenn sie wusste, dass der
Krebs sie besiegen würde, machte sie eine Musik so froh und kraftvoll, wie es nur der Blues
vermag.
Raimund Nitzsche
7
Bob Margolin über den Tod seiner
langjährigen Freundin und musikalischen Partnerin
„The blues world is sad to lose one of our bright
lights. Ann Rabson passed at home in her sleep
after years of quiet strength against deadly affliction. She knew it was coming and lived her
life to its fullest. She loved to play blues for
people more than anyone I ever knew, anyone!
In 2012 our intense collaboration on recordings and shows together and hard road trips
was deliberate and spirited. She gave Death the
finger as long as she could, and gave Life ten
fingers on her piano. Personally, Ann Rabson
was a big sister to me. Now I‘m going to do
what she would want, play some blues for her
and celebrate her life and hold her in my heart
forever. If you see me on a bandstand, and
half-close your eyes, you‘ll see her next to me.“
© wasser-prawda
Musik
Willie Dixon: Jenseits
von Chess
Jeder kennt die Songs von Willie Dixon. Jeder kennt die berühmten Geschichten seiner Arbeit
bei Chess Records und Cobra. In den Geschichtsbüchern des Blues ist sein Name untrennbar mit
Muddy Waters, Howlin Wolf, Little Walter und anderen verknüpft. Daneben verblassen für viele
Kritiker seine eigenen Aufnahmen. Doch es lohnt sich durchaus, sich dem „Poeten des Blues“
einmal aus dieser Richtung nähern. Eine nicht ganz chronologische Biografie in Rezensionen.
1970: I Am The Blues
Jeden anderen hätte man für so einen Titel gesteinigt. Doch als Willie Dixon 1970 dieses Album
veröffentlichte, war sein Status unbestritten: Er
verkörperte den Blues von Chicago seit den 40er
Jahren. Er hatte die größten Hits geschrieben,
mit seinem Bass die klassischen Aufnahmen von
Muddy Waters, Howlin Wolf oder Chuck Berry
geprägt. Er hatte als Talentscout und Produzent
zahllose Musiker gefördert. Und mit dem American Folk Blues Festival hat er das Verständnis des
Blues in Europa entscheidend geprägt.
Was aber nichts daran änderte, dass die Kritiker
seine Leistungen als Sänger seiner eigenen Songs
niemals genug würdigten. Zu groß die Vorbilder,
die Muddy Waters mit dem Hoochie Coochie
Man oder Howlin Wolf mit Spoonful gesetzt
hatten. Doch wer so an das Album herangeht,
der vergisst etwas Entscheidendes: Jeder muss die
Blues so singen, wie er sie lebt. Und Dixon war
niemals ein Typ wie Chester Burnett. Er kam aus
einem ganz anderen Umfeld, war musikalisch
aufgewachsen mit dem Harmoniegesang in der
Nachfolge der Ink Spots. Und in Chicago hatte
er noch Sessions für Lester Melrose gespielt, der
den Chicago-Blues der Vorkriegszeit mit seinem
Bluebird-Label geprägt hatte: elegant, urban und
von jeglichem Dreck der Baumwollfelder gesäubert. Dixon‘s Spoonful ist daher eine elegant
groovende Bluesnummer, vom Sound her eher
der vorelektrischen Zeit verpflichtet. Wer beim
„Back Door Man“ zuerst an die ziemlich pubertäre Version der Door denkt, kann hier hören,
wie das Stück eigentlich gemeint ist: Ohne Aggression, dafür mit einer gehörigen Portion Humor und jeder Menge Selbstbewusstsein. Ebenso
auch der „Hoochie Coochie Man“, welcher von
sämtlichen Musikern gecovert wurde an die man
denken kann: Dixon braucht nicht durch Härte oder Tempo etwas zu behaupten - wie er den
Song singt, macht er klar: er ist es - er und eigentlich kein anderer.
Bei seiner Band stehen mehr das Piano und die
Harp im Vordergrund und weniger die Gitarren. Damit erinnert das Album vom Sound her
noch mehr an die Zeit bevor Muddy Waters,
Howlin Wolf und Buddy Guy die Gitarren bis
zur Schmerzgrenze aufdrehten, um in den Clubs
gehört zu werden. Dixon scheint sich eher in ruhigen Jazzclubs wohlzufühlen mit seinem Blues,
weniger in den lauten Juke Joints. Und das war
eigentlich schon immer so gewesen.
1946-1952: The Big Three Trio und
vorher
8
© wasser-prawda
Der 1915 geborene Willie Dixon hatte schon als
Teenager begonnen, Songs zu schreiben und die
Noten an Musiker in seiner Gegend zu verkaufen. Vorbild dafür war seine Mutter, die religiöse
Gedichte schrieb.Außerdem war er Sänger in der
Vocalgruppe Union Jubilee Singers, die regelmäßig im Radio auftrat. Doch irgendwann zog es
Dixon wie so viele nach Chicago, wo er zunächst
als Schwergewichtsboxer seinen Lebensunterhalt
verdiente. 1937 gewann er in der Novizenkategorie die Illinois State Golden Gloves Heavyweight
Championship und war zeitweise sogar Sparringsparter von Joe Louis. Doch irgendwie geriet
er über Geldfragen mit seinem Manager aneinander und wechselte zur Musik. 1939 begann er
Bass zu spielen und gründete mit dem Pianisten
Leonard „Baby Doo“ Caston die „Five Breezes“.
Musik
Nach einer Plattenaufnahme und regelmäßigen
Konzerten in den Clubs der Stadt war aber 1941
plötzlich Schluss: Willie Dixon wurde während
eines Konzerts von der Bühne weg verhaftet, weil
er als Kriegsdienstverweigerer sich gegen seine
Einberufung zur Wehr setzte. “I told them I was
a conscientious objector and wasn’t gonna fight
for anybody,” sagte er zu den Polizisten. Nach einem Jahr im Gefängnis war Dixon zurück und
gründete seine nächste Band, die Four Jumps of
Jive. Und 1945 traf er wieder mit Caston zusamme, der im Kriegsdienst als Musiker für die Truppenunterhaltung eingesetzt worden war. Dritter
Mann beim „Big Three Trio“ war zunächst Gitarrist Bernado Dennis, den Dixon von den Four
Jumps mitnahm. Ein Jahr später allerdings wurde
der durch Ollie Crawford ersetzt.
Die drei Musiker spielten ihre Instrumente und
spezialisierten sich ansonsten auf einen dreistimmigen Harmoniegesang. Vorbild waren solche
Vokalgruppen wie die Ink Spots oder die Mills
Brothers, die Swing, Jazz und Blueswurzeln in
leichtgängige und verführerische Popsongs verwandelten. Alle drei schrieben Songs. Und schon
1947 schafften sie es, einen Plattenvertrag bei Columbia zu bekommen. Ihr polierter Pop brachte
1948 mit „You Sure Look Good To Me“ einen
landesweiten Hit hervor. Andere Nummern („If
The See Was Whiskey“) waren einfach nur lustig
bis albern.
Ebenfalls 1948 kam „Ebony Rhapsody“ der Sängerin Rosetta Howard bis auf Platz 8 der R&BHitparade. Hier fungierte das Big Three Trio
als Begleitband. Und Dixon war noch dazu der
Songwriter.
Bis 1952 kamen noch einige kleinere Hits des
Trios hinzu. Aber zu dem Zeitpunkt hatte sich
der Musikgeschmack der Hörer weiterentwickelt, und Columbia schob sie auf das Sublabel
OKeh ab. Aber Ende des Jahres löste sich das Trio
sowieso auf.
Tabellarisches Zwischenspiel
• 1948: Dixon beginnt seine Zusammenarbeit mit Chess Records, die (mit Ausnahme der Jahre zwischen 1956 und
1959) bis zum Tode von Leonard Chess
andauert.
• 1954: „Hoochie Coochie Man“ kommt
bis auf Platz 3 der Charts. Keiner von
Muddy Waters‘ 14 Top-Ten-Hits war
erfolgreicher.
• 1955: „My Babe“ von Little Walter bleibt
für fünf Wochen an der Spitze der Hitparaden. Im gleichen Jahr taucht Willie
Dixon das einzige Mal als Musiker in den
Single-Charts auf. „Walkin The Blues“
hatte Checker veröffentlicht.
• 1956: Dixon verlässt Chess im Streit und
arbeitet als Produzent, Talentscout und
Songwriter für den Konkurrenten Cobra
Records bis zu dessen Pleite. Hier ist er
für die ersten Aufnahmen von solch prägenden Musikern wie Buddy Guy, Magic
Sam und Otis Rush zuständig. Der neue
Sound, der Musiker wie Muddy Waters
oder Howlin Wolf plötzlich alt aussehen
ließ, ging als West Side Sound in die Geschichte des Chicago Blues ein.
Paar Jahre später gab Dixon zwei seiner Songs
aus dieser Zeit („Violent Love“ und „My Love
Will Never Die“) an Otis Rush, den er bei Cobra als Produzent betreute. „My Love Will Never
Die“ gilt heute als Meilenstein des Nachkriegsblues. „Violent Love“ halten manche für eine der
miesesten Nummern, die Rush je aufgenommen
hat. Dixon jedenfalls war durch die Zeit beim
Big Three Trio zu einem Songwriter gereift, der
von hitparadentauglichem Pop bis hin zu Bluesgeschichten voller Anspielungen auf die Traditionen der Amerikaner afrikanischer Herkunft im
Mississippi alles schreiben konnte.
großartiges Beispiel für die Kunst zweier Musiker,
die auf ihre ganz verschiedene Weise den Blues
über Jahrzehnte hin geprägt haben. Empfohlen
sei es all denen, die den Blues als eine Form des
Geschichtenerzählens lieben.
1960 nahmen die beiden eine Duosession für
das Smithonian Center for Folklife and Cultural Heritage auf, die als „Songs of Memphis Slim
& Willie Dixon“ von Folkways veröffentlicht
wurde.
1962: Memphis Slim & Willie Dixon: In
Paris. Baby Please Come Home!
1959: Willie Dixon & Memphis Slim Willie‘s Blues
Memphis Slim gehörte neben Leonard „Baby
Doo“ Caston und Tampa Red zu den ersten
Freunden, die Dixon in Chicago fand. Gemeinsame Auftritte gab es immer wieder. Und so ist
es auch folgerichtig, dass in den Jahren immer
wieder gemeinsame Alben entstanden. Die Aufnahmen von „Willie‘s Blues“ entstanden recht
spontan in der Pause zwischen zwei Flügen in einem New Yorker Plattenstudio. Begleitet werden
Dixon und Memphis Slim von Saxophonist Al
Ashby, Gitarrist Waly Richardson und Schlagzeuger Gus Johnson. Und das Ergebnis hat noch
heute das Feeling einer entspannten Jam-Session.
Die Lieder (abgesehen von den zwei Solonummern von Memphis Slim) folgen dem Schema
des Chicago-Blues der Vorkriegszeit und dem
frühen Rhythm & Blues. Da fehlt die rockende Intensität der elektrischen Band von Muddy
Waters, ist auch nichts von den Ausflügen in den
Rock ‚n‘ Roll eines Chuck Berry zu hören. Stattdessen erzählt Dixon ruhig seine Bluesgeschichten und wird dabei von seinen Mitmusikern
ruhig und unangestrengt begleitet. Doch das
Ergebnis ist alles andere als langweilig, hat sogar
äußerst humorvolle Momente. Da stottert sich
der 300 Pfund schwere Dixon durch „Nervous“,
kann er kaum flüssig zum Ausdruck bringen, wie
nervös ihn diese eine bestimmte Frau macht. In
„Good Understanding“ schildert er das seltsame
Verständnis von Hunden, die gemeinsam an einem Knochen nagen, ohne ihn sich gegenseitig
streitig zu machen. Und in dem durch Howlin
Wolf bekannt gewordenen „Built for Comfort“
preist er sein Gefühl für Bequemlichkeit bei der
Damenwelt an.
Memphis Slim, der vor allem in Europa für Jahrzehnte als Inbegriff des Bluespianos galt, hat mit
„Slim‘s Thing“ und „Go Easy“ zwei Titel zum
Album beigesteuert und kann dort seine Meisterschaft ausspielen. Insgesamt ist das Album ein
9
1962 entstand eine gemeinsame Live-Aufnahme
der beiden. Begleitet lediglich von Schlagzeuger
Philipe Combelle wird das Sessionkonzept von
Willie‘s Blues noch intensiver fühlbar: Dixon
und Slim spielen sich die musikalischen Ideen zu
und wechseln sich beim Gesang ab.
Memphis Slim, der in Europa zu der Zeit meist
als Solist auf der Bühne und im Studio stand,
fühlt sich hörbar wohl und treibt schon mit dem
Opener „Rock and Rolling the House“ das Publikum an und flirtet mit dem Zuhörerinnen im
Raum. Und mit Liedern wie „Pigalle Love“ feiert
er seine neue Wahlheimat. Und Dixon lässt sich
von der Atmosphäre ebenso mitreißen und singt
einige eher unbekanntere Lieder aus seinem umfangreichen Repertoire. „African Hunch With
A Boogie Beat“ etwa ist eine Nummer, die man
sonst wohl schwer auf anderen Aufnahmen finden wird. „Shame Pretty Girls“ macht nochmals
klar, wie sehr Dixon als Sänger und Songschreiber eigentlich in der Zeit vor Muddy Waters verwurzelt ist. Der rollende Boogie hätte gut auch
schon in den vierziger Jahren veröffentlicht werden können. Hier kommt er daher als swingende
Hommage an den Rock & Roll, dargeboten von
zwei älteren Herren in einem Jazzclub. Ein beschwingtes Live-Album.
1964: Hubert Sumlin, Willie Dixon,
Sunnyland Slim - Blues Anytime!
1964 gastierte das American Folk Blues Festival
erstmals in der DDR. Und anstatt wie in späteren Jahren einen Live-Mitschnitt des Konzertes zu veröffentlichen, nahm das Label AMIGA
in Ostberlin mit Hubert Sumlin, Willie Dixon
und Pianist Sunnyland Slim ein Studioalbum
auf. Unter dem Titel „American Folk Blues“
gehörte es zu den besten Bluesscheiben, die im
Osten Deutschlands je produziert wurden. 1994
wurde es unter dem Titel „Blues Anytime“ auf
CD wiederveröffentlicht. Für Blueshistoriker ist
diese Session in Ostberlin vor allem deshalb bedeutsam, weil sie die ersten Soloaufnahmen von
© wasser-prawda
Musik
Hubert Sumlin (noch dazu auf der akustischen die Zeit, als Solist mit seinen Chicago Allstars
Gitarre) hervorbrachte.
aufzutreten und Platten einzuspielen. „I Am The
Blues“ war nur das erste einer langen Reihe von
Alben. In gewisser Weise war das auch ein Abschluss für diese Periode, weil hier Dixon selbst
nochmals seine Hits für sich selbst reklamierte.
Ein Jahr später kam „Peace?“ auf seinem eigenen
Label Yambo heraus, auf dem er sich auch als
politischer Kommentator betätigte. Außerdem
verabschiedete er sich hier vom Sound des Chicagoblues und präsentiert Songs, die manchmal
mit Bläsern, Hintergrundchören und treibenden
Rhythmen den Anschluss an den Soul suchten.
Gleich drei Gitarristen hat er hier engagiert für
seine All-Star-Besetzung (neben Pianist Lafayette Leake, Big Walter Horton an der Harp und
Schlagzeuger Clifton James), die ganz unterschiedliche Wege in der Bluesgeschichte gehen:
Da ist einerseits Mighty Joe Young, der später
Doch auch sonst sind die Aufnahmen mehr als selbst zu einigem Ruhm als Soul-Blues-Gitarrist
bemerkenswert: Gemeinsam mit Schlagzeuger kam. Seine ersten Alben, die damals gerade erClifton James fand sich hier eine Band zusam- schienen waren, blieben noch für einige Jahre
men, die in lockerer Atmosphäre den damals unbeachtet. Sein Brot verdiente er sich mehr als
noch aktuellen Chicagoblues zelebrierte. Sunny- Rhythmusgitarrist von Otis Rush. Und dann waland Slim und Willie Dixon wechselten sich als ren da noch Buster Benton und Dennis Miller.
Sänger ab, Slim spielt seine Hits wie „Everytime Phil Upchurch, der wenige Jahre später zu einem
I Get To Drinkin“ oder „We Gonna Jump“ wäh- der bekanntesten Jazz-Gitarristen der USA aufrend Dixon Songs wie „Blues Anytime“ oder stieg, gehörte lange zum Stammpersonal in den
das für Little Walter geschriebene „My Babe“ in Chess-Studios. Auf „Peace?“ spielt er den Bass im
seinem entspannten Stil darbot. Und bei „Big Wechsel mit Louis Satterfield.
Legged Woman“ hört man (was sonst selten vor- „I‘m Wanted All Over The World“ beginnt Dixon
kommt) Dixon sich selbst auf der akustischen recht großspurig: Überall wollen ihn die FrauGitarre begleiten.
en, die anderen Musiker - aber eigentlich spielt
er wohl auch darauf an, dass ohne seine Songs
mittlerweile die Musikwelt eine ganz andere
wäre. Das Lied ist so ziemlich der traditionellste
Bluessong des Album (wenn man von „You Got
To Move“ absieht): Piano, Harp, Gitarren - alles
im Muster des Chicagoblues.
Die Überraschung - oder war es für die Kritiker
damals ein Schock? - beginnt mit dem zweiten
Stück „Peace?“: Ein Chor, sauber polierte Bläser, sauber klimperndes Piano, Willie Dixon im
Predigerton des Southernsoul. Ähnlich dann bei
Liedern wie „It‘s In The News“. Bei allem politischen Engagement, bei aller persönlichen Betroffenheit von den politischen Ereignissen: musikalisch sind diese Lieder leider nicht wirklich
überzeugend. Für wirklichen Soul ist die Produktion zu sehr easy listening, für Bluesfans wirken
1971: Peace?
sie beim oberflächlichen Hören ziemlich banal.
Dixon sucht neue Themen abseits der mittlerweiSchon seit Mitte der 60er Jahre war Dixon bei
le veraltet wirkenden Bluesanspielungen. Aber
Chess immer weniger als Session-Bassist gefragt
die Sicherheit und Brillianz, die seine Bluesgewesen. Denn inzwischen hatte sich der E-Bass
nummern für andere ausmachte, fehlt. „It‘s in
als Instrument durchgesetzt. Und auch als Songthe News“ ist weit davon entfernt dem politisch
writer war er nicht mehr so gefragt, seitdem Muaufgeladenen Soul und Funk etwa von Sly Stone
siker wie Little Walter und Sonny Boy Williamoder anderen vergleichbar zu sein.
son gestorben waren. Chess suchte den Anschluss
Wesentlich schlüssiger und überzeugender sind
an die aktuelleren Rocksounds. Und dafür war
da schon Songs wie „Blues You Can‘t Loose“,
Dixon für sie nicht mehr so der passende Mann.
in dem Dixon dozierend und singend über die
Aber Dixon selbst sah sich mittlerweile auf ganz
Ursachen des Blues sinniert. Das ist etwas, was
anderem Gebiet gefordert. Horst Lippmann
ihn selbst stärker betrifft als etwa die Nachrichten
hatte ihn engagiert, um die Musiker für sein
über den Präsidenten. Und bei der EindringlichAmerican Folk Blues Festival zu suchen. Damit
keit seines Vortrags vergisst man drüber nachzuverdiente er plötzlich nicht nur mehr Geld. In
denken, wie seltsam das Arrangement mit seinem
Europa konnte er auch selbst wieder als Musiker
klimpernden Piano, den einzelnen Gitarrennoim Studio und bei Konzerten auftreten und seine
ten die klagende und heulende Bluesharp ist.
eigene Karriere wieder in Schwung bringen. Als
Manche Kritiker meinen, das Album wäre unins1969 Chess nach dem Tod von Leonard Chess
piriert. Dass ist es sicherlich nicht. Aber es ist leiverkauft worden war, bedeutete das das Ende
der unausgewogen und daher nicht überzeugend.
einer langen Beziehung. Und für Dixon begann
10
Dixon hatte sich hier auf Gebiete vorgewagt, die
ihm nicht wirklich lagen.
1976: What Happened To My Blues?
Die All-Stars in der Besetzung mit den Gitarristen Buster Benton und Dennis Miller, Lafayette
Leake (p). Clifton James (dr) und Freddie Dixon
(bg). Ab und zu spielt Willie auch selbst seinen
Kontrabass. Die Bluesharp dürfte wiederum von
Big Walter Horton stammen. Und überhaupt
ist „What Happened To My Blues?“ wieder ein
eindeutiges Bluesalbum ganz in der Tradition
Chicagos.
Die politischen Botschaften sind aus den Liedern
verschwunden. Dafür singt und swingt sich Dixon durch mitreißende Liebeslieder wie „Got To
Love You Baby“ oder „Pretty Baby“, versucht den
Laden zum Tanzen zu bringen mit wundervollen Stücken wie „Shakin‘ the Shack“. Ein wirklich gutes Bluesalbum, dass zum völlig falschen
Zeitpunkt erschien. Denn 1976 wollte niemand
wirklich solche Musik hören. Selbst wenn die
Musikkritiker eine Grammy-Nominierung für
gerechtfertigt hielten, versank das Album wie so
viele Blues-Veröffentlichungen der damaligen
Jahre in der Vergessenheit. Kein Wunder, dass
selbst eine so gut informierte Seite wie allmusic
als Erscheinungsjahr 1998 angibt, wo das Album
auf CD wiederveröffentlicht wurde.
1988: Hidden Charms
Auch mit den Nachfolgealben zu „What Happened“ konnte Dixon niemals wieder Aufmerksamkeit außerhalb der engsten Bluesgemeinde
erlangen. Das änderte sich erst 1988, als T-Bone
Burnett mit ihm „Hidden Charms“ produzierte.
Wo Burnett heute dafür bekannt und bei Musikern beliebt ist, dass er Musiker dazu bringt, sich
ganz auf ihren Sound und die Lieder zurück zu
besinnen, in dem sie am Besten waren, ging er da-
© wasser-prawda
Musik
mals nicht so einheitlich vor. „Hidden Charms“
beginnt ausgerechnet mit „Blues You Can‘t Loose“. Doch hier funktioniert das Arrangement
besser als 1971 auf „Peace“. Das Stück klingt hier
erstmals wirklich zwingend und überzeugend: Es
ist noch immer der gleiche alte Blues, den man
nicht los wird. Mit „I Don‘t Trust Myself“ kommt
dann der klassische Blues, den man erwartet hätte, bevor „Jungle Swing“ sofort wieder als Bruch
auftaucht: Dixon erinnert mit seiner alt gewordenen Stimme, die zu afrikanischen Grooves
grummelt eher an Screamin Jay Hawkins“. Und
so abwechslungsreich und überraschend bleibt
es auch weiterhin: Selbst die politische Predigt
ist in „Study War No More“ funktoniert. Diese
Nummer hatte Dixon im Übrigen gemeinsam
mit seinem Enkel Alex Dixon geschrieben, den er
seit Jahren ins „Familiengeschäft“ eingefüht hatte. Das war ein überzeugendes Bluesalbum, was
den Grammy als „Best Traditional Blues Album“
mehr als verdient hatte. Nur heute ist es allmusic noch nicht mal eine Bewertung mehr wert.
Aber auch der Gewinner des „Best Contemporary Blues Album“ 1988, Robert Cray‘s „Don‘t Be
Afraid of the Dark“ wird dort wegen des fehlenden guten Materials und einer müde klingenden
Band ziemlich lauwarm beurteilt. Im Rückblick
gehört „Hidden Charms“ auf jeden Fall zu den
wichtigeren Bluesalben der 80er Jahre.
1989: Ginger Ale Afternoon
Eine weitere Grammy-Nominierung erhielt Dixon ein Jahr später für „Ginger Ale Afternoon“,
den Soundtrack zu einem Indie-Film. Schon
vorher hatte Dixon, der in den 80er Jahren nach
Kalifornien gezogen war, um den kalten Wintern von Chicago zu entgehen, an Filmmusiken
mitgewirkt. So produzierte er mit Bo Diddley
eine Neufassung von dessen Hit „Who Do You
Love“ für „La Bamba“, den Film über das Leben des früh verstorbenen Richie Valens. Und
1986 nahm er für Martin Scorseses „The Colour
of Money“ eine Neufassung von „Don‘t You Tell
Me Nothin“ auf.
Die Story über eine Dreiecksbeziehung in einem
Trailer-Park fiel bei der Kritik durch - oder wurde gar nicht wahrgenommen. Dixon allerdings
nutzte die Gelegenheit, hier ein paar seiner älteren Nummern mit einer gut aufgelegten Band
neu zu interpretieren. Sogar „Good Understanding“ von „Willie‘s Blues“ (1959) passte gut zum
Happy-End des Filmes. Und wenn man ehrlich
ist: Dieses Album überzeugt als Bluesalbum sogar
noch mehr als „Hidden Charms“, eben weil hier
einfach ein ganz klassisches Bluesalbum entstand,
dass mit keinem Auge in Richtung Modernität
schielte sondern einfach nur gute Unterhaltung
bietet und hervorragend die schwüle Sommerstimmung des Films untermalt. Bemerkenswerte
Musiker auf dem Album sind Stanley Behrens
an Harp und Saxophon sowie der Pianist Arthur
Butch Dixon.
1991: Willie Dixon & The Chicago Allstars - Good Advice
„Ginger Ale Afternoon“ ist das letzte offizielle Album von Willie Dixon. Schon 1977 hatte
ihm ja wegen seiner Diabetes ein Fuß amputiert
werden müssen. Jetzt ließen Gesundheitsprobleme immer weniger Auftritte zu. Aber zumindest
in seiner kalifornischen Wahlheimat war er noch
immer ab und zu live zu erleben. 1991 entstand
in Long Beach eine Aufnahme, die 1998 auf CD
veröffentlicht wurde. Die Chicago Allstars, die
seit den 80er Jahren ständigen Personalwechseln
unterlagen bestanden damals aus Harpspieler
Carey Bell, Gitarrist John Watkins, Willies Sohn
Freddie am Bass, Butch Dixon am Piano und
Schlagzeuger Calvin Jackson.
Noch immer hat Dixon Spaß daran, mit seinem
Blues die Zuhörer zu unterhalten, ihnen eine
Party zu bieten. Und dabei wird er von seiner fast
zur Familienbande mutierten Begleitung äußerst
schwungvoll unterstützt. Nur manchmal merkt
man: Hier singt ein wirklich alter Mann, dessen
Leben sich dem Ende entgegen neigt. Am 29. Januar 1992 starb Dixon im Alter von 76 Jahren in
Burbank (Kalifornien).
Anmerkungen
Eigentlich ist Willie Dixons Leben und Wirken gut dokumentiert. Doch bei den Recherchen für meine hier vorgelegten Rezensionen
musste ich mich allein auf das Internet stützen.
Und da zeigte selbst das sonst immer gut gepflegte Angebot von allmusic bedauerliche Lücken und Fehler. Alben werden falsch datiert,
Aufnahmetermine teilweise falsch angegeben
und einzelne Alben verschwinden einfach.
Hier musste ich versuchen, aus drei Quellen
ein halbwegs stimmiges Bild zu machen: Der
Discographie von willie-dixon.com, die von
seinem Enkel Alex gepflegt wird, allmusic und
der Discography in der englischen Wikipediabiographie. Querrecherchen waren dann
auch noch nötig in der Datenbank für die
Grammy-Nominierungen, um Unklarheiten
auszuräumen. Ich kann hier keine komplette
Discographie bieten, da mir einige Alben nicht
zugänglich waren. Hier bleibt in den nächsten
Jahren noch einiges nachzuholen. R.N.
11
© wasser-prawda
Musik
Was für eine Zeit, was für ein Mann,
was für ein Geschenk für uns alle
Erinnerungen an Willie Dixonvon Zach Prather
gegeben hab (so etwa vor 30 Minuten) für diesen Teil“, genau wusstest, worum es sich dabei
handelte. Darin war ich gut und so kamen wir
Es war ein Tag wie alle anderen, als ich auf gut miteinander klar. Er meinte zu Cash: „Der
den Parkplatz des Aufnahmestudios einbog an Junge ist in Ordnung“ und bat ihn, mich zu
diesem frühen Sommermorgen 1988. Typisch seinem Heimstudio zu bringen, um an ein paar
L.A.:
Songs zu arbeiten und auch Schlagzeug bei eiwarm und diesig, während die Sonne langsam nem Projekt zu spielen, dass er mit seiner Shirly
die Wolken über dem Ozean vertrieb. Ich ging hatte. Ok, die nächsten dreieinhalb Jahre oder so
rein auf der Suche nach meinen langjährigen war so wie zurück in die Schule zu gehen. Willie
Freund und Mentor Cash McCall, der mir heu- brachte lange Zeit einfach damit zu, über den
te wie an so vielen anderen Tagen einen Gig ver- Blues zu reden, was Blues ist, wo er herkommt,
sorgt hatte. Diesmal sollte ich Backup bei einer von seiner Zeit im Blues, seine frühen Jahre mit
Session früh am Morgen singen. In den rund 14 Chess, die Verantwortung des Künstlers. Über
Jahren seit ich Cash getroffen hatte, waren wir diese Dinge redete er mindestens ebenso lansehr gute Freunde geworden und er hatte mich ge wie wir Musik zusammen spielten. Und das
Musikern vorgestellt oder mir Arbeit mit ihnen stellte sich für mich als eine äußerst wertvolle
versorgt: mit Etta James, Margie Evans (mit der Weiterbildung in Sachen Blues heraus. Ich meiwir ein Album aufnahmen, dass von dem gro- ne: das Zeug kam ja direkt von der Quelle!
ßen Produzenten Horst Lippmann produziert
Wir arbeiteten an vielen Songs zusammen. Er
wurde, dem das Verdienst zukommt, den Blues war noch immer der Songschreiber und Produnach Europa gebracht zu haben), Charles Stepa- zent Willie Dixon, und die Dinge kamen regelny (Produzent von Earth Wind & Fire), Donna recht aus ihm herausgequollen. Irgendwann bat
Summers, Phil Upchurch, und natürlich - auch er mich, ihm etwas von meiner Musik vorzuwenn die Liste noch viel länger ist - mit dem spielen. Ich sagte: ok. Aber das was ich machMann, der mich nach Europa gebracht hat, mit te war kein Blues mehr, eher etwas wie SoulScreamin Jay Hawkins.
Rock. Er lächelte nur und sagte: „Mein Sohn,
Als ich in Studio A kam, sah ich Cash und es kommt alles vom Blues, du bist der Blues.
einen ziemlich großen, runden Mann mit ei- Und der Blues ist nicht so etwas wie ein toter
nem lustigen Hut, der eine Pfeife rauchte. Cash König den wir in eine Mumie verwandeln und
sah mich und sagte dem Mann: „Willie, das ist von Zeit zu Zeit anschauen, niemals wird sich
Zach.“ Er schaute mich an, streckte seine Hand ändern, dass er lebendig ist und Menschen wie
aus und Cash sagte: „Zach, das ist Willie Di- dich braucht, um ihn weiter zu entwickeln.
xon.“ Und so begann die Geschichte.
Wir brauchen niemanden, der wie Howlin Wolf
Diese Session mit Willie war sehr erfolgreich. klingt, wir haben Wolf. Wir brauchen frisches
Sehr schnell merkte ich, dass diese Mann etwas Blut.“ Diese Unterrichtsstunden flossen einfach
Besonderes war. Er hatte viele Ideen und auch aus ihm heraus und ich saugte sie begierig auf.
wenn er sich an jede einzelne erinnern konnte,
Ich kann mich beim besten Willen nicht darvergaß er manchmal, welche von ihnen er wo an erinnern, wie oft er mir sagte: „Blues had a
gerade haben wollte. So war der Trick, dass du baby and they called it Rock and Roll“. Er hatte
dich an seine Ideen und die Stellen, für die er sie versprochen, mit mir ein Album zu produzieren.
vorgesehen hatte, zu erinnern, so dass du, wenn Und das war seine Art, mich daran zu erinnern,
er meinte: „Ich brauche diese Idee, die ich dir dass er das Versprechen nicht vergessen hatte.
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In dieser Zeit arbeitete er mit den Chicago All
Stars, so hatte ich nie die Chance, mit ihm auf
der Bühne zu arbeiten. Aber das ist ok, weil ich
durch das, was ich von ihm lernte, zu dem wurde, der ich heute bin. Diese Zeit gab mir eine
echte Basis im Blues und ließ mich verstehen:
Ja, ich bin der Blues, und alles was ich mache, ist
Blues. Und er gab mir die Fähigkeit, mich weiterzuentwickeln, egal was die Leute über meine
Musik sagen oder denken. Du lernst einfach an
dich selbst zu glauben, wenn Willie Dixon dir
sagt: Jetzt hast Du es begriffen, jetzt geh, und
füge dem Blues etwas hinzu. Warum hörst Du
auf jeden, der dir ein negatives Feedback gibt?
Ich traf in der Zeit auch jede Menge Ikonen
des Rock & Roll, sie tauchten einfach bei seinem Haus auf. Du sitzt da und hörst zu, wie
Willie Geschichten erzählt, und durch die Vordertür kommt Ronnie Wood herein oder David
Bowie oder ... Das war großartig für einen SoulRock-Typen wie mich.
Die Zeit verging, während hunderte Songs
aufgenommen wurden, und eines Tages meinte
Willie, es sei Zeit, jetzt mein Album mit ihm zu
beginnen. Ich war aufgeregt als wir begannen.
Das war eine andere Art von Erziehung. Von
Willie produziert zu werden war ein ganz spezieller Prozess. Er hatte seine eigene Art, die Dinge zu erledigen und auch das saugte ich begierig
auf. Als die Aufnahmen drei Wochen dauerten,
wurde Willie krank und musste ins Krankenhaus. Er kam niemals nach Hause zurück. Ich
war bei ihm am Tag bevor er starb. Das war eine
sehr traurige Zeit, doch ich war und bin noch
immer dankbar für die Zeit, die ich mit ihm
teilen durfte. Ich war seiner Familie eng verbunden und stehe noch immer in Kontakt mit seiner Frau Marie - eine wunderbare Frau, die ich
wie meine eigene Mutter liebe.
Meine letzte Erinnerung an Willie ist die, als
ich auf seiner Beerdigung in Glendale (Kalifornien) spielte und neben Marie und B.B. King
saß.
© wasser-prawda
Musik
Der Streit um die Rechte und die Blue
Heaven Foundation
In den 60er und 70er Jahren spielte praktisch
jede Rockband irgendwelche Lieder von Willie
Dison. Cream hatte „Spoonful“ gecovert, The
Doors den „Backdoor Man“, die Stones „Little Red Rooster“, ... Wenn es gerecht zuginge
in der Welt, hätte Willie Dixon sich beruhigt
zurücklehnen und sich auf die Auszahlung der
Tantiemen freuen können. Doch irgendwie kam
bei ihm längst nicht so viel Geld an, wie er eigentlich erwartet hatte. Irgendwann fühlte er
sich von Arc Music, dem 1948 von den Chess
Brüdern gegründeten Musikverlag betrogen.
Nur beweisen konnte er es zunächst nicht. Dnn
aber verklagte Arc Music Led Zeppelin wegen
des Titels „Bring It On Home auf ihrem zweiten Album wegen Copyright-Verletzung. Sie
behaupteten und konnten es vor Gericht bewei-
sen, dass dieses Lied von Willie Dixon gestohlen
war. Aber Dixon selbst sah kein Geld aus dem
gewonnenen Prozess.
Da war für ihn der Bogen überspannt. Sein Anwalt zwang den Verlag schließlich, die Bücher
offen zu legen, was den Betrug offensichtlich
machte. Später verklagten Dixon und Muddy
Waters den Verlag auch noch erfolgreich auf
Rückübertragung der Rechte an ihren Songs
und auf erhöhte Tantiemenzahlungen. Später
einigte er sich mit Led Zeppelin noch in einem
weiteren Verfahren außergerichtlich: „Whole
Lotta Love“ war zu deutlich von Dixons „You
Need Love“ geklaut. 1987 erhielt er endlich das
ihm zustehende Copyright. Mit den Einnahmen, die er jetzt aus seinen Songs und den Gerichtsprozessen erhielt, gründete Willie Dixon
die Blues Heaven Foundation. Eines der Ziele
der Stifung ist es, Musikern bei der Sicherung
13
oder dem Rückerwerb der Rechte an von ihnen
geschriebenen Songs zu helfen. Und er setzte
sich von Anfang an dafür ein, Instrumente und
Stipendien an arme Schüler und Schulen zu vergeben. Außerdem begann Dixon (gemeinsam
mit seinem damals noch zur Schule gehenden
Enkel Alex), an den Schulen seiner damaligen
Wahlheimat Los Angeles über die Geschichte
des Blues zu erzählen. Alex konnte all die verschiedenen Stile damals nach langem Training
auf dem Piano demonstrieren.
Nach Willie Dixons Tod 1992 bemühte sich
seine Wittwe erfolgreich um die Erhaltung der
berühmten Chess Studios 2120 S. Michigan
Avenue in Chicago. Nach dem Verkauf des Labels war das Gebäude verkauft worden. In den
letzten Jahren wurde es aufwändig restauriert
und ist nun der Stammsitz der Blues Heaven
Foundation.
© wasser-prawda
Musik
Bei Chess: 2 Box-Sets, 1 CD
Dixon Orchestra bezeichnet wird, singt Dixon
ganz im Stil des klassischen Rhythm & Blues,
erinnert er mehr an seinen Freund Memphis
Slim als an die Chess-Kollegen. Noch älter wirkt
die bei der gleichen Session mitgeschnittene
und ebenso damals unveröffentlichte Nummer
„So Long“: Das ist (mit dem Harmoniegesang
von The Del Rays) eine Neuaufnahme der Ideen
des Big Three Trios. Aber auch wenn er sich mit
Songs wie „Tail Dragger“ (aufgenommen 1962
und begleitet unter anderem von Hubert Sumlin und Pianist Johnny Jones) in die Klanggefilde von Howlin Wolf vorwagt, blieb das damals
von Chess unbeachtet. Veröffentlicht wurde die
Nummer nicht von Chess oder Checker sondern von Tuba.
1988: The Chess Box
Als MCA in den 80er Jahren (man hatte ja mal
wieder etwas wie ein Bluesrevival) begann, das
Werk von Chess Records in Form von klanglich
hervorragenden und wundervoll ausgestatteten
Boxsets wieder zu veröffentlichen, da dürfte
die Willie Dixon gewidmete Ausgabe wohl die
schwierigste gewesen sein. Auf jeden Fall ist die
Doppel-CD mit insgesamt 36 Titeln eine der
ungewöhnlichsten überhaupt, finden sich doch
hier zum größten Teil Songs, die zwar von Dixon geschrieben wurden, hier aber von anderen
gesungen werden. Lediglich bei sechs Liedern
wird er als Interpret geführt. Und eine Nummer
stammt (und hier wird das Chess-Konzept zu
Recht mal vernachlässigt) vom Big Three Trio.
Wobei sich manche natürlich fragen, warum
man ausgerechnet „Violent Love“ hier zu hören
bekommt. Dafür sind aber Songs wie „Crazy For
My Baby“ und „Pain In My Heart“ großartig.
Ansonsten finden sich hier einige der stärksten
Aufnahmen, die Muddy Waters, Howlin Wolf,
Koko Taylor, Lowell Fulson, Sonny Boy Williamson Otis Rush und Jimmy Witherspoon je
gemacht haben. Lediglich Chuck Berry fehlt, da
der Dixon ja immer nur als Bassisten und niemals als Songschreiber hatte. Aber auch so hat
man hier eine fast irrwitzig zu nennende Stilvielfalt zwischen klassischem Rhythm & Blues,
elektrischem Chicagoblues, Rock & Roll und
Jump Blues. Großartig, um entscheidende Jahre
der Bluesgeschichte Revue passieren zu lassen.
Und ebenso unverzichtbar, um das Werk eines
der wichtigsten Songschreiber der damaligen
Zeit zu entdecken.
Drei Aufnahmen aus der Zeit nach Chess finden sich zum Schluss des Albums. „It Don‘t
Make Sense (You Can‘t Make Peace“ hatte Dixon 1981 aufgenommen und später als Single
im Rahmen seiner Blue Heaven Stiftung veröffentlicht. Erstmals hatte er den Song 1971 auf
„Peace“ veröffentlicht. „I Just Want To Make
Love To You“ nahm Dixon 1989 für den Soundtrack zu „Ginger Ale Afternoon“ neu auf. Und
mit „Dustin Off The Bass“, aufgenommen 1990
für das Album „Trios“ von Rob Wassermann,
hören wir Dixon sogar auf dem E-Bass, während er zu Jazzgrooves rappt. Er liefert sich mit
dem Jazzbassisten Rob Wassermann rasante Duelle und wirkt hier plötzlich jünger, als bei LiveAufnahmen aus der gleichen Zeit: Auch wenn
Dixon alt geworden war, hier merkt man, dass
er im Herzen noch immer jung war.
„The Performer“ stellt den Sänger Willie Dixon
von seinen Anfängen mit den Five Breazes oder
den Four Jumps of Jive bis hin zu den gemeinsam mit Memphis Slim aufgenommenen Alben
vor. „The Session Man“ bringt nicht nur die
oben angemerkte Ergänzung um Songs aus dem
Frühwerk von Chuck Berry, die ohne Dixons
stoischen Kontrabass niemals möglich gewesen
wären. Nein: Die CD ermöglicht es, Dixons
Arbeit als Session-Musiker seit 1948 („Ebony
Rhapsody“ mit Rosetta Howard) über den frühen Rhythm & Blues von Washboard Sam bis
hin zum Spätwerk von Sonny Boy Williamson
und dem Frühwerk von Buddy Guy verfolgen.
Stilistisch ist die Vielfalt noch größer als bei der
Chess Box: Selbst der Doo Wop der Moonglows
ist zu hören und Gospel von Reverend Robert
Ballinger. Und „The Record Company Man“
würdigt auch seine eminent wichtige Arbeit für
Cobra Records, deren Musiker die von ChessStars angestoßene Entwicklung zum elektrisch
verstärkten Blues auf die nächste Ebene hoben.
Bei „The Songwriter“ beschränkte man sich vermutlich aus lizenzrechtlichen Gründen auf Aufnahmen des klassischen Chicagoblues. Hier hätte ich mir ein wenig mehr Mut gewünscht: Statt
der bekannten Nummern von Waters oder Wolf
eher mal die Interpretationen von Cream, den
Stones, Greatful Dead oder anderen zu hören,
wäre zur Würdigung Dixons eine weitere Facette gewesen. Sehr hilfreich ist auch das Booklet,
was neben ausführlichen Erläuterungen zu den
vier CDs auch discographische Angaben zu den
verwendeten Aufnahmen auflistet.
Was „The Willie Dixon Story“ allerdings wirklich fehlt, sind Aufnahmen aus der Zeit nach
dem Ende von Chess Records. Hier sind die
Plattenfirmen bis heute alle auf die meiner Meinung nach haltlose These der Kritiker reingefallen, die mit 1969 Willie Dixons Bedeutng auf
die eines „elder statesman“ des Blues reduzieren
und sein danach entstandenes Werk beiläufig
übergehen.
Nathan Nörgel
2012: The Willie Dixon Story
1995: The Original Wang Dang Doodle Die Beschränkung auf Chess Records hat natürEin paar mehr von Dixon selbst gesungene Versionen seiner Lieder hat MCA dann 1995 auf
„The Original Wang Dang Doodle“ gepackt
und dabei auch Lieder jenseits von Chess mit
berücksichtigt. Als Rarität findet sich die 1954
entstandene Aufnahme von „Wang Dang Doodle“ neben anderen bislang unveröffentlichten
Nummern. Auch hier wird sofort deutlich: Es
liegt eine ganze Generation zwischen Dixon und
Wolf, der 1960 den Song zum Hit machte und
zwei zu einer Sängerin wie Koko Taylor. Begleitet von einer Gruppe, die lediglich als das Willie
lich einen Fehler: Sie umfasst - und das noch
nicht mal vollständig - lediglich den Zeitraum
zwischen 1948 und 1969. Wenn man sich mit
Willie Dixons Werk auf breiterer Basis auseinander setzen will, reicht diese Box also bei weitem nicht aus. Auch die 2012 von Proper Records veröffentlichte „Willie Dixon Story“ ist
weit von der Vollständigkeit entfernt. Aber die
vier CDs der Box („The Performer“, „The Session Man“, „The Songwriter“ und „The Record
Company Man“) ergänzen die Chess Box an
mehreren Stellen entscheidend:
14
© wasser-prawda
Musik
Scott Sharr ard & the Brickyard Band
2011 war es, dass ich mit mit
einigen Freunden und knapp
1000 Gleichgesinnten zu einem
Konzert nach Bonn pilgerte.
Gregg Allman lud zum erweiterten Familienfest auf der Museumsmeile ein, eine quasi-religiöse Erfahrung, nicht zuletzt
dem Opener, der über jeden
Zweifel erhabenen TedeschiTrucks Band, zum Dank. Dies
wird hier allerdings keine Konzertreview, auch Herr Allmans
superbes Spätwerk ‚Low Country Blues‘ wird hier unerwähnt
bleiben. Hier geht es um den
Mann an der Gibson ES 336 der
an jenem Tag in Bonn in Gregg
Allmans Band einen bleibenden Eindruck hinterließ.
vielleicht sogar dem heute längst ikonisierten
Betts/Allman-Duo hievte.
Mitte 2012 veröffentlichte Scott Sharrard mit
seiner eigenen Band ein Album auf Soundcloud,
kostenlos und legal. In der Zwischenzeit hatte
ich mich ein wenig über ihn schlau gemacht und
mich in sein Album ‚Analog/Monolog‘ von 2008
verliebt. Dort wird ein gewaltiger Soulstew zubereitet der dem Hörer zu allererst einen guten Rat
gibt, den ich nur teilen kann: put your Soulrecords
on.
Er kann also spielen wie Grant Green, beherrscht
ansonsten alle Kings (und mehr) ohne es einem
jemals ins Gesicht zu reiben. Tone halt. Dazu ein
schier grenzenloses Repertoire und eine Stimme
die mich seltsamerweise am ehesten an Richie
Kotzen erinnert, minus das antiquierte L.A.-Getue, das einem heute keiner mehr abkauft, der
seine Sinne beisammen hat. Und hier zeigt sich
eins der der stärksten Asse Sharrards: er ist an die
American Lineage angeschlossen.
Nun also zu der Platte um die es hier geht: Scott
Sharrard & the Brickyard Band. Da finden sich
Moses Patrou und Diego Voglino manchmal
auch in bester Allman Brothers/Grateful Dead –
Manier gemeinsam an den Drums, Ben Stivers an
Nun lockt ein guter Gitarrist niemanden mehr sämtlichen Tasten, Marcus Parsley an der Tromhinterm Ofen vor, und das ist gut so. Zu oft wur- pete, Jay Collins und Ian Hendrickson-Smith
de Fertigkeit am Instrument der Musik vorange- an Bariton-, Alto-, und Tenorsaxofon, Chrsitian
stellt und die Gitarre und ihre Vertreter erhielten Courtin an der Violine, Colette Alexander am
zurecht einen zweifelhaften Ruf. Es gibt aller- Cello, und schließlich Connor Kennedy an der
dings Gründe warum Gregg Allman sich Scott zweiten Gitarre.
Sharrard, jenen Mittdreißiger aus Harlem/NYC, Es wurde live aufgenommen in den Applehead
ins Boot geholt hat und ihn damit in eine Liga Studios in Woodstock/New York, womit ein bemit Jack Pearson, Jimmy Herring, Derek Trucks, grüßenswerter und nur folgerichtiger Trend be-
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Thilo Hornschild
studierte Musikwissenschaft, Anglistik und
Amerikanistik in Bonn. Er ist Gitarrist der
Kölner Bluesbands ‚Cologne Blues Club‘
und ‚Köllefornia Stompers‘ sowie der Rockabillyband ‚The Silverettes‘.
http://www.cologne-blues-club.de/
Foto: Beate Grams
© wasser-prawda
Musik
Day vielleicht schon einmal gehört zu haben, so
funktioniert sie immer wieder.
Völlig unbeirrt von etwaigen Trends, die dankenswerterweise inzwischen großflächig ignoriert
werden, denkt Scott Sharrard gar nicht erst daran, corporate zu werden und sich einem völlig
maroden und völlig irrelevanten System einer
Musikindustrie zu beugen, das sich mehr und
mehr zusammenschrumpft und recht bald vielleicht sogar verschwunden sein wird. Noch schöner ist, dass diese Attitüde niemals auf Kosten der
Dignität vorgeführt wird. Hier ist ein ernsthafter
Künstler, der das tut was er tut, und lediglich en
passant part of the solution ist. Es bedarf keines
Hypes oder Lobhudelei, es spricht wirklich alles
für sich. Die Alben sind allesamt kostenlos, legal
und in voller Länge im Netz zu hören, es ist jedem selbst überlassen sie zu kaufen.
Thilo Hornschild.
Gregg Allman - Low Country Blues
dient wird in Zeiten, in denen man mit einer derartig beispiellosen Flut an Müll überflutet wird,
dass viele vergessen zu haben scheinen, was ein
Musiker eigentlich ist bzw. welche Musiker (ein
‚Berufsbild‘ das je nach Perspektive beinahe zum
Schimpfwort verkommt) Respekt verdienen.
sprechender Nachwuchstalente widmete, zuletzt
beim viel zu früh verstorbenen und überirdisch
guten Sean Costello, der ja wiederrum seine Karriere bei Susan Tedeschi begann. Ihr merkt, hier
schließen sich Kreise...
Der Opener Debt gibt direkt die Marschrichtung
vor, es kommt kein Geld rein, aber einer muss die
Linie halt fortführen, sonst geht ein Vermächtnis
verloren, welches sehr erhaltenswert ist. Dafür
macht er sich auch mal nach Memphis auf, um
die Vergangenheit zu ‚jagen‘ (Endless Road), oder
erlebt düstere Phasen in denen er alles hinwerfen will (Love Like Kerosene). Aber, und das ist
zumindest mir persönlich sehr wichtig, klingt
die Musik allen Verweisen und Referenzen zum
Trotz niemals museal. Sicher, er scheint archivarischer Kenner sämtlicher Rootsmusic-Stile zu
sein - nein: ist es ganz sicher, aber der lehrerhafte
Ansonsten teilen sich Sharrard und Moses Patrou Muff der so oft ein Begleiter immensen Wissens
die Songwritingpflichten, erstaunlich wenn man ist fehlt hier zum Glück. Scott Sharrard hat seine
bemerkt, wie sehr aus einem Guss diese Plat- eigene Identität, und selbst wenn man glauben
te klingt. Womöglich liegt es auch am Mentor könnte eine lässige Groovenummer wie Rainy
Levon Helm, der sich immer der Pflege vielverSehr schön ist die Coverauswahl: Stone Rollin‘
von NeoSoul-Chef Raphael Saadiq, was von dessen Gitarristen Josh Smith persönlich und mehr
als wohlwollend abgenickt wurde. Dazu One
Little Thing von Gilian Welch, eine fantastische
Version von Lil‘ Son Jacksons Freedom Train die
in Sachen heaviness manch eine Stonerrock-Kapelle zurück zur Schule schickt, und schließlich
Solitude von Duke Ellington, das schlicht und
einfach klingt, wie man sich wünscht, dass New
York City klingen sollte.
16
Es gibt mittlerweile Rezensenten, die ihre Wertung von vornherein um einen Grad absenken,
wenn T-Bone Burnett als Produzent auf dem
Album steht. Klar, dass von einer Konstellation „Altmeister“ + Burnett keine musikalische
Revolution zu erwarten ist. Denn wenn mir
bei Alben wie etwa dem von B.B. King eines
aufgefallen ist, ist es die Tatsache, dass von der
Songauswahl als auch vom Sound her ein Umfeld geschaffen wird, wo sich der Künstler zu
Hause fühlen kann und somit an seine besten
musikalischen Leistungen anknüpfen kann.
Ähnlich ist es auch mit „Low Country Blues“.
Hier singt Allman Klassiker aus der großen
Zeit des Blues vor und nach dem Zweiten
Weltkrieg. Und er wird begleitet von einer
großartig aufgelegten Band (unter anderem
Dr. John am Piano und Doyle Bramhall II an
der Gitarre). Heraus kommt ein südstaatenmäßig relaxtes Bluesalbum, kein aufgeheizter
Bluesrock etwa der Allman Brothers. Und genau das passt zu Allman im Jahre 2011, der
sich gerade von einem langjährigen Kampf
gegen den Alkohol und von einer Lebertransplantation erholt hat. Nicht nur für die Fans
von Allman sondern auch für die, die ein klassisches Bluesalbum hören wollen ist das eine
eindeutige und nachdrückliche Empfehlung.
Nathan Nörgel
© wasser-prawda
Musik
Pass Over Blues: Auf leisen Wegen
Seit 1991 gibt es Pass Over
Blues. Ihre Vorgeschichte
reicht zurück bin in DDR-Zeiten, wo Gitarrist Roland Beeg
und Sänger Harro Hübner in
diversen Bands durch die Clubs
des Landes tourten. Heute
zählt die Band zu den Gruppen
in Deutschland, die eine ganz
eigene Sprache im Blues gefunden haben. Von Raimund
Nitzsche. Fotos: Beate Grams.
„Better Ways“ heißt die CD, die sich jetzt schon
seit Tagen regelmäßig im Player dreht. Erschienen ist sie schon 2011. Aber wie so viele Veröffentlichungen ging sie unbeachtet an mir vorüber. Ebenso wie auch die Band Pass Over Blues.
Der Name ist mir bekannt, weil deren erste LP
aus dem Jahre 1991 seit Jahren in der Blueskiste
meines Lieblingsplattenhändlers steht. Irgendwie
war das Album für mich in den Jahren nach der
Wende niemals so wichtig, dass ich die Scheibe
aus ihrem Ladengefängnis hätte befreien wollen.
Zu viele Bands und Musiker riefen in der Zeit
danach, Platz in der Sammlung zu finden. Statt
der langjährigen Begleiter aus den Clubs hier in
Greifswald waren das die großen Helden, die von
denen immer verehrt wurden. Und irgendwann
schienen diese alten Freunde einfach verschwunden zu sein. Blueskonzerte in Greifswald? Eine
absolute Mangelware inzwischen. Nur noch Engerling ist jedes Jahr zuverlässig da mit all ihren
alten Liedern. Selbst Keimzeit haben sich inzwischen rar gemacht. Aber deren Anfänge im Blues
gingen ja auch irgendwann im elektromagnetischen Feld verloren.
Jetzt aber diese wundervoll melancholische Fassung von „Verloren gegangen“ von Norbert Leisegang, das Lied über die Liebe zu der Gitarre, die
einen bei allen Misshandlungen auf den Bühnen
immer begleitet hat. Ein Lied, was einen unvermittelt in die Jahre zurückversetzt, wo der Blues
für viele einfach noch ein Lebensgefühl war, sich
für viele die Terminplanung für das Leben nach
den Konzerten am Wochenende richtete. Doch
es ist nicht nur diese Nummer, auch nicht die
Fassung von „While My Guitar Gently Weeps“,
die „Better Ways“ so anziehend macht. Es sind
Stücke wie „99 Days“ über die Erlebnisse im
ostdeutschen Knast nach einem Fluchtversuch.
Oder solche scheinbar alltäglichen Geschichten
von „What a Guy“, „Tell me how“ und ähnliche: Das ist Blues so unzweifelhaft aus meinem
Alltag und meinem Erleben, wie es lange nicht
mehr vorkam. Und vor allem: Es ist Blues, der
ohne das Wiederkäufen von Klischee-Riffs oder
ähnlichem auskommt. Roland Beeg legt lyrische
und melancholische Gitarrenlinen, Harro Hübner hört man die Jahrzehnte auf den Straßen und
in den kleinen Bluesclubs an. Seine Harp setzt
17
die nötigen Akzente. Lutz Mohri und Michiel
Demeyere liefern Grooves, die einfach passen zu
diesem Sound. Eine Schande eigentlich, dass zu
einem Album wie „Better Ways“ zumindest im
Internet noch keine einzige Rezension zu finden
ist.
Pass Over Blues wurden in den 90ern selbst in
den „Bluesnews“ als eine der besten Bands in
Deutschland gewürdigt und traten mehrfach bei
Bluesfestivals etwa in Dresden auf. Wenn man
sich aber die Geschichte der Band anschaut,
dann ist da nichts so beständig wie der ständige Wechsel der Mitglieder. Der einzige, der seit
1991 immer dabei war, ist Gitarrist Roland Beeg.
Harro Hübner ist schon zum zweiten Mal dabei.
Und auch Mohri gehörte früher schon kurz zur
Band, bevor die sich aus Kostengründen zum
Trio verkleinerte. Dass jetzt seit einigen Jahren
dieser Kern zusammen spielt, macht ein Album
wie „Better Ways“ wohl erst möglich, nicht nur
die wirklich großen Fähigkeiten der Songwriter
in der Band. Um Songs wie die ihren umzusetzen, reicht das einfache Handwerkszeug des Wochenendbluesers nicht aus. Hier ist man drauf
angewiesen, selbst die kleinsten Hinweise der
Kollegen aufzunehmen und weiter zu spielen.
Dass 2012 Pass Over Blues von Journalisten für
die German Blues Challenge vorgeschlagen wurden, war eine erfreuliche Nachricht. Und dass
sie dann sogar im Finale in Eutin dabei waren,
machte klar, dass Blues aus den östlichen Bundesländern entgegen der öffentlichen Wahrneh-
© wasser-prawda
Musik
mung eben doch noch genügend Anhänger hat.
Dass die Konkurrenz von Tommy Schneller oder
Jessy Martens in Eutin aber zu stark war, brauchr
einen nicht wirklich zu verwundern, wenn man
ihr Album hört: Hier drängt sich niemand mit
Showgehabe nach vorn. Solistische Feuerwerke sucht man vergeblich. Alles ist ganz auf die
Songs ausgerichtet und nicht auf den Effekt. Pass
Over Blues spielen für mich daher nicht in der
Liga von Martens und ihren jungen Bluesrockern
sondern eher in der Nachbarschaft von solchen
Songwritern wie Timo Gross, Big Daddy Wilson
oder auch Michael van Merwyk. Musikern also,
die für mich eher in der Tradition der „Geschichtenerzähler des Blues“ stehen.
ten Minute an. Das war sehr dufte. Wir haben
als erste der fünf Bands gespielt und versucht die
vorgegebenen 30 Minuten Maximalspielzeit entspannt und gemäß den strengen Wettbewerbsvorgaben (möglichst eigene authentische Bluesstücke, keine Gassenhauer!) auszufüllen.
Das Einzige was uns von vornherein echt gestört
hat, ist die Bewertung wie „verkaufbar“ im Sinne von Show die Musiker sind! Dem Anspruch
werden wir wohl nicht gerecht geworden sein
– vermute ich. Unsere Show ist und bleibt die
Musik und die war auch unter den beengten Verhältnissen ehrlich und gut und nicht aufgesetzt.
Eine Auswertung der Juryergebnisse erfolgte
nicht, keiner weiß daher wo er steht und woran man zukünftig nach Meinung der Jury noch
Wie kam es eigentlich dazu, dass Ihr nach Eutin arbeiten könnte bzw. was man noch bedenken
zur German Blues Challenge fahren konntet? Für sollte. Das Publikum zumindest hat alle Bands
mich ist das Vorauswahlverfahren für diesen Wett- gleichermaßen mit Beifall bedacht und wir nehbewerb immer etwas undurchsichtig geblieben.
men das Ergebnis des Abends ohne Groll und
Eines Tages bekam ich einen Anruf von Helge sportlich fair an. Es hat Spass gemacht.
Nickel, den ich bis dahin nicht kannte, und er erklärte mir, dass wir in einem Vorauswahlverfah- Und habt Ihr dadurch ein wenig mehr Aufmerkren - was ja auf der Webseite von Baltic Blues e.V. samkeit auch in der westdeutschen Bluesszene finbeschrieben ist – zu den 10 auserwählten Bands den können? Denn das ist ja eine Beobachtung,
des Jahres 2012 gehören würden und ob wir die nicht nur ich gemacht habe: Im Blues scheint Lust und Zeit hätten am 29.September in Eu- wenn man mal von Engerling absieht - die deutsche
tin teilzunehmen. Voraussetzung wäre noch die Teilung noch fort zu bestehen...
online-Abstimmung, um unter die besten Fünf Bisher nicht. Eutin hat nix zur weiteren Verbreizu gelangen. Nach kurzer Rücksprache mit den tung der pass over blues band gebracht.
Kollegen sagten wir Helge zu.
Das war ja das Merkwürdige an der VeranstalWir übersprangen auch die Online-Abstim- tung. Bei solchen im Vorfeld groß herausgestellmungsrunde, ohne jedoch eine Auskunft über ten Veranstaltungen sind in der Regel immer
das Abstimmungsergebnis zu bekommen, was ja mehrere Journalisten dabei, die über die Veranunter uns gesagt auch nicht so vordergründig ist. staltung berichten. Fehlanzeige!!! Das hat uns
Also auf nach Eutin.
sehr verwundert und gibt Anlass zu Spekulationen (vielleicht wäre das Urteil der Journalisten
Wie habt Ihr den Auftritt dort erlebt? Ist das ein ein anderes gewesen als das der Jury) ....
„echter“ Wettbewerb wo man vielleicht noch auf die Wir haben ja viel im „Westen“ gespielt, und fanAuftritte der anderen Bands reagieren könnte?
den immer begeisterte Menschen, allerdings ist
Das Brauhaus in Eutin war propend voll, die es auch hier wieder rückläufig und wenn man
Bühne viel zu klein, das Publikum dafür absolut nicht „jemanden kennt der jemanden kennt der
interessiert und begeisterungsfähig von der ers- wiederum mit dem Bekannten von dem allseits
18
Bekannten bekannt ist usw...“ dann bleibt man
auch hier außen vor, die „guten“ Jobs in den einschlägigen „Westclubs“ bekommt man nicht aus
qualitativen Gründen!
Wie seht Ihr überhaupt die Situation für Bluesbands hierzulande? Meiner Beobachtung nach gibt
es immer weniger Läden, deren Besitzer den Blues
lieben und auch das Risiko von Konzerten auf sich
zu nehmen bereit sind.
PoB spielen überall wo man uns hören möchte,
allerdings ist es richtig, das eine Rückläufigkeit
der Bluesclubs zu bemerken ist, dies allerdings
schon seit vielen vielen Jahren.
Die Pioniere von einst (Blues- und Jazzclubbetreiber) gehen in den Ruhestand oder müssen
sich Restriktionen aus dem Umfeld (Lärmbelästigung usw.) beugen ...
Allerdings merken wir, dass sich Netzwerke herausbilden – Leute, die die Nase voll haben von
dem Einheitsgedudel, schließen sich zusammen
und organisieren Veranstaltungen bei denen auch
unsere Musik wieder eine Heimat findet.
Das gibt Anlass zu Hoffnung ....
Die Antworten gab Roland „Rolli“ Beeg.
© wasser-prawda
Interview
Carolyn Wonderland:
The soul of the blues
“Carolyn Wonderland is the real deal! She’s an amazing guitar player. And damn, can she sing,”
schrieb die Los Angeles Times. Gary Burnett unterhielt sich mit der Sängerin und Gitarristin für
seinen Blog Down At The Crossroads. Fotos: Todd V. Wolfson.
Die texanische Singer/Songwriterin und Gitarristin Carolyn Wonderland hatte 2012 ein arbeitsreiches Jahr. Ein Rezensent beschrieb ihr
neues Album „Peace Meal“ als “gritty, beautiful,
smart and seriously cool”. Damit war sie ununterbrochen auf Tour in Europa und den gesamten Vereinigten Staaten. Sie ist eine ausgewiesene
Multiinstrumentalistin, spielt gleichermaßen gut
Gitarre, Mandoline, Trompete und Piano. Aber
es war ihr Gitarrenspiel, worauf man aufmerksam wurde - sie ist einfach eine herausragende
Bluesgitarristin. Addiere dazu ihre fabelhaft
bluesige Stimme, die im einen Moment rauh
wie Sandpapier und dann wieder sanft wie Seide klingt (wenn auch immer mit einer rauhen
Obertönen), dann hat man eine umwerfende
Kombination. Und dann könnte man auch noch
anfangen, über ihr Engagement für den Frieden
zu reden, ihre Spendensammlungen für Wohltätigkeitsorganisationen in Austin, für Tafeln, Suppenküchen und Obdachlosenunterkünfte. Unser
Gespräch fand in einer der wenigen Pausen statt,
die Carolyn sich gönnt, bevor sie Ende des Monats wieder zu touren beginnt.
Gary: Carolyn, vielen Dank für das Interview. Und
zunächst, Glückwunsch zum neuen Album „Peace
Meal“ - es ist wunderbar fantastisch und bekommt
großartige Kritiken. Fantastisches Gitarrenspiel von
ihnen - und der Gesang ist herausragend. Sind Sie
zufrieden, wie das Album aufgenommen wurde?
wir dann noch etwas länger und spielten eine
Session mit Levon und seiner wunderbaren
Band!).
Ich war der Meinung, wir müssten eine Hommage an die „Schultern“ machen, auf denen wir
stehen, indem wir einige Songs covern, die entweder von Freunden wie Vince Welnick (Vince
Carolyn: Vielen Dank! Es tut einem im Herzen und ich waren vor zehn Jahren gemeinsam in Jergut, wenn Leute auf ein Album aufmerksam wer- ry Lightfoot‘s Band of Wonder bevor er und Jerry
nach oben gerufen wurden, um Musik mit den
“Hey, have you heard Caro- Engeln zu machen) und Lieder, bei denen Freunde mir geholfen hatten, als ich anfing, solche Stülyn Wonderland? She’s socke wie Little Screaming Kenny‘s Arrangement
mething else.”
von Two Trains & I Can Tell. (LSK ist einer der
Bob Dylan
mir wichtigsten Menschen in der Welt. )
Wir haben irgendwann angefangen, für Leute zu
den und es hoffentlich auch mögen, wenn man spielen und ich bin glücklich sagen zu können,
an dieser Sammlung von Liedern gearbeitet und dass wir noch immer unterwegs sind und nebenalles von Dir dahinein fließen lässt. Wir hatten bei neue Lieder schreiben für das nächste Album.
eine wundervolle Zeit, das Album Stück für
Stück zu machen, als wir mit Ray Benson und Sie covern Lieder von einigen der Größten auf dem
Mike Nesmith im Bismeaux Studio in Austin Album. Robert Johnson‘s „Dust My Broom“, „What
und mit Lary Campbell im Studio von Levon Good Can Drinking Do“ von Janis Joplin und Bob
Helm in Woodstock arbeiteten. (Dort blieben Dylan‘s „Meet Me In The Morning“. Und all die
19
© wasser-prawda
Interview
sind wirklich exzellent. Sind das einige Ihrer BluesHelden? Wer (sonst) war ein wichtiger Einfluss in
Ihrer Entwicklung?
Wenn man in Texas aufwächst, dann lernt man
schnell als junges Mädchen, Janis‘ Songs nur privat zu singen. In der Öffentlichkeit wäre das einfach dumm, weil es einfach niemand besser kann
als sie selbst und nur wenige ihr gerecht werden.
Als ich 2009 gefragt wurde, beim „American Music Masters Tribute to Janis“ in der Rock & Roll
Hall of Fame zu spielen, war ich platt, geehrt und
begeistert. So viele großartige Künstler machen
mit ihren Liedern coole und originelle Dinge. In
dieser Nacht beschloss ich, auch wenn ich es vermutlich nicht besser machen kann, wenigstens
einem der Lieder, die sie geschrieben hat, gerecht
zu werden.
In der nächsten Nacht - in aller Öffentlichkeit
und ohne Proben - holte ich es bei der ersten
Session mit Guy Forsyth in Levon Helms Studio heraus. Die Nacht zuvor hatte ich vermutlich
eine Menge Finger-Picking auf der Gitarre gehört, denn das Arrangement hat dieses „WalkingThumb-Bass-Line“-Feeling. Und das kam bei der
Aufnahme letztlich richtig gut rüber.
„Dust My Broom“ hab ich ursprünglich für das
Buch „The American Gene“ von Mike Nesmith
aufgenommen. Und dabei hatten wir ne Menge
Spaß. Gut, dass er uns erlaubt hat, die Nummer
auf auf „Peace Meal“ zu verwenden.
Wir hätten so ziemlich jedes von Dylan‘s Liedern
nehmen können, das wir über die Jahre gecovert
haben. Ich fühlte nur, dass diese Fassung von
„Meet Me In The Morning“ einen Platz ausfüllte, der stilistisch auf der CD noch nicht vertreten
war. Ray ließ uns nach der täglichen Aufnahmesession im Studio einfach drauflos spielen - für
mich der Beweis dafür, dass man immer den Record-Knopf gedrückt halten sollte, sobald man
im Studio ist!
Alle, die ich hier bislang erwähnt habe, haben einen riesigen Einfluss auf mein Leben und meine
Musik gehabt. Zu der Liste will ich noch meine
Band hinzufügen: Cole El-Saleh (keyb, keyb-b)
und Robert Hooper (dr) - und außerdem noch
alle, die durch diese Tür reingekommen sind.
Meine Helden sind oftmals Musiker und die
Menschen, die neuer Musik eine Chance geben.
(Und natürlich: ohne die Liebe und Unterstützung durch das Publikum würden wir noch immer Musik spielen - unsere Katzen aber wären
nicht davon beeindruckt, außer wenn das Gitarrensolo eine Dose mit Futter öffnen würde!)
Ich bin ja selbst ein großer Dylan-Fan und ich liebe
die bluesige Behandlung, die Du „Meet Me In The
Morning“ hast angedeihen lassen.
Ich glaub ich werd rot! Ich hoffe nur, der Songwriter mag es ebenfalls oder ist zumindest davon
nicht beleidigt.
Was hat Dich zuerst zum Blues gezogen? Und was
ist es, was Dich und Dein Publikum sosehr am
Blues begeistert?
Als ich aus der Schule geschmissen wurde, waren
es die Bluesclubs, die mich am ehesten mit offenen Armen willkommen hießen - und sich am
wenigsten um Ausweiskontrollen scherten! Ich
liebte es, dass jeder auf die Bühne steigen und mit
jedem anderen jammen konnte, wenn er nur die
grundlegenden Bluesformen begriffen hatte. Ich
mag es, dass es mehr um Seele und Persönlichkeit
als um Intellekt geht, die in die Musik einfließen.
Ich liebe die Leute, die mich etliche Male richtig abstinken ließen und bin glücklich, anderen
die gleiche Unterstützung zu geben, während sie
durch diese Anfangsphase gehen.
Ich denke, das ist ehrliche Musik, die die verschiedensten Behandlungen überleben kann und
sich für Hörer und Musiker noch immer vertraut
anhört.
Als ich den Blues entdeckte (und er mich entdeckte), hatte ich das Glück, in Houston zu
sein. Ich konnte zu Füßen von Leuten wie Jerry Lightfoot, Joe „Guitar“ Hughes, Little Screaming Kenny, Grady Gaines, Trudy Lynn, Lavelle
White, Allison Fisher, Tere Greene, Big Al Betit,
Johnny „Clyde“ Copeland, Little Joe Washington oder den Streetrockers sitzen und gelegentlich mit ihnen zu jammen - eine große Menge
von großartigen Bands kamen außerdem auf ihren Tourneen vorbei. Und es ist die Seele der Lieder und der Leute, die mich damals zum Blues
hinzogen und dich mich noch immer mit dem
Blues flirten lassen.
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Du lässt uns auf dem Album ein paar ziemlich coole
Sachen auf der Gitarre hören - wer hat Dich am
meisten als Gitarristin beeinflusst?
Das sind all die Typen, die ich vorhin aufgezählt
habe und natürlich Leute, die mich bei Konzerten einfach umgehauen haben, Musiker wie
Danny Gatton, Clarence „Gatemouth“ Brown,
Johnny Winter, Albert Collins, Debbie Davies, Les Paul, The Paladins, Los Lobos, Larry
Campbell, Charlie Sexton, Derek Trucks, Redd
Volkaert, John X. Reed, Tracey Conover, Charlie Prichard, Sue Foley, Cindy Cashdollar, Alan
Haynes, Susan Tedeschi, Bill Kirchen, Rosie Flores, Ruthie Foster, Jimmy Vaughan, Gary Clark
Jr. (der scheinbar mit der Zeit immer noch besser
wird). Und natürlich Chris Whitley, Buddy Guy,
Hubert Sumlin, Townes Van Zant und der einzigartige Billy F. Gibbons. Ja, ich weiß, dass ist
eine verrückt lange Liste - aber eigentlich gibt es
noch viel mehr, die ich nicht genannt habe!
Und natürlich sind dann auch noch die Musiker,
die ich leider niemals live erleben konnte, deren
Platten ich aber regelrecht glatt gespielt habe:
© wasser-prawda
Interview
Es ging mir seit mehr als einem Jahr im Kopf
herum. Ich wusste, was ich sagen wollte, aber es
gelang nicht so hoffnungsvoll, wie ich es wollte
und das Lied fiel in die Kiste ungedachter Handbewegungen auf der Gitarre. Als ich den Text
endlich in der richtigen Form hatte, war es Ray
Benson, der vorschlug, dass ich die Eröffnung auf
einem anderen Instrument spielen sollte. Er hatte
Recht - und jetzt hab ich ein neues Lied für die
Lapsteel!
Ich nehme eigentlich fast alles mit dieser Gitarre
auf. Manchmal allerdings nehme ich auch Patty,
meine Blue Hawk oder Les Pauline, die Goddess
Guitar (das steht so in flammend roten Buchstaben auf dem Kopf des Instruments).
Für die Lapsteel-Nummern hab ich ein paar
wirklich gute alte Stücke, die ich mich aber nicht
mehr auf Tour mitzunehmen traue. Da nehme
ich eine Morrell - mit der kannst Du notfalls
nach Hause paddeln, wenn Du unterwegs Schiffbruch erleidest - und außerdem passt sie mit
Erzähl uns ein wenig über die Gitarren, die Du auf meiner Tele in einen Flugkoffer. Für das Album
borgte ich mir Levon Helm‘s Mandoline und
dem Album und auf Tour spielst.
Meine Hauptfreundin ist meine Tele. Sie ist eine Ray‘s akustische Gitarre. Zu Weihnachten hab
anlässlich des 50. Geburtstags von Fender neu- ich grad eine Art & Lutherie geschenkt bekomaufgelegte Fassung der 69er Telecaster. Ich baue men. Damit werde ich mich in diesem Jahr noch
einen Joe Bardens Tonabnehmer an den Platz ausfühlich beschäftigen.
der Standard Lipsticks und Bam! - schon hast
Du eine Gitarre, die mit einer Les Paul mithalten Ein Kritiker nannte „Peace Meal“ ein „sakramenkann und immer noch sauber genug für Finger- tales Fest für die Seele“. Zumindest für „Only God
picking ist. (Anmerkung: Ein Lipstick Pickup ist Knows When“ ist das sicherlich zutreffend - es gibt
eine Variante eines Singlecoil Tonabnehmers, bei kein offensichtlicheres Zeichen der Gnade als Friedem die Elektronik komplett in einer verchromten den. Was hat Dich bewogen, ein solches Lied zu
schreiben?
Metallröhne eingebaut ist.)
Freddie King, Frank Zappa, Rory Gallagher,
Mance Lipscomb oder Lightnin‘ Hopkins.
Ach ja: natürlich muss ich meine Mutter hier
nennen, die mir nicht nur meine ersten drei Akkorde beigebracht hat, sondern mir auch unter
Strafandrohung die Benutzung von Picks untersagte, nachdem ich ihre Martin einer Pete-Townshend-Behandlung unterzogehn hatte. Ich glaub,
ich hätte heut nicht meinen Stil wenn ich nicht
mit bloßen Händen spielen würde.
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Du hast eine Anzahl von Liedern mit spirituellen
Obertönen oder Gospelinhalten geschrieben wie
Judgement Day Blues, Bloodless Revolution, Jesus
It‘s Gonna Be You, Gospelsong beispielsweise. Und
ich weiß, dass Du mit den Golden Crown Harmonizers eine Menge Gospelsongs gesungen. Lass mich
daher zwei Sachen fragen: zunächst: Wie wichtig ist
die spirituelle Seite des Lebens für dich und zweitens
Wie wichtig ist es für Dich als Künstler, Kritik an
den Zuständen der Welt zu äußern wie in „Only
God Knows When“ und „Bloodless Revolution“?
Ich wuchs auf in einer Kirche, die ich mit neun
Jahren verließ, als mein Sonntagsschullehrer mir
sagte, meine jüdischen Freunde würden nicht
mit mir zusammen in den Himmel kommen.
Ich rief: Bullshit! und ging. Ich hab viele Jahre
gebraucht, zu dem Schluss zu kommen, dass der
Fehler bei den Menschen liegt, bei ihren Vorstellungen von Gottes Regeln, während Gott sie
trotzallem liebt (und warum sollte er nicht alle
anderen ebenso lieben?)
Ich denke, wir alle versuchen, einen Sinn in der
Welt zu suchen, in der wir gemeinsam existieren.
Spiritualität ist wie ein roter Faden der Hoffnung.
Es macht mich traurig, dass es andauernd Krieg
zwischen Brüdern gibt, dessen Ursache nur in
dem begrenzten Verstandnis dessen liegt, was
wichtig ist, uns in durch Zeiten von Kummer
und Zweifel zu bringen. Mein Lieblingsgleichnis
ist das von den drei Blinden, die jeweils nur einen
Teil eines Elefantes anfassen konnten. Es ist ein
Segel! Es ist ein Baum! Es ist ein Seil! Jeder von
uns allein mag nicht in der Lage sein, den Elefanten zu erkennen, aber gemeinsam kann man
die begrenzten Erkenntnisse zu einem zutreffenderen Ergebnis vereinen. Ich hoffe auf einen Tag,
wo wir einander endlich in die Augen sehen und
alle Ideen des Gegenübers ehren im Blick auf unseren winzigen Blick, den wir auf Gott und das
Universum haben. Ein Leben zu gestalten, „wie
es im Himmel ist“, diese Haltung habe ich seit
meiner Jugend beibehalten. Ich bete noch immer. Ich bin Agnostiker, suche nach einenden
Theorien einer ewigen Liebe (was ein Grund dafür ist, dass ich die Bücher von Joseph Campbell
so mag). Jeder hat die Aufgabe, auf Fehler hinzuweisen und gleichzeitig die Schönheit des Lebens
mit seiner Kunst zu feiern. Wenn Du es fühlst,
dann lass es blühen!
Du scheinst immer ziemlich hart zu arbeiten. Gib
es eine Chance, Dich in nächster Zeit diesseits des
Atlantiks zu erleben?
Oh ja! Wir werden auf jeden Fall nach Norwegen, die Niederlande, Belgien und einige andere Orte kommen, die ich jetzt noch nicht genau
nennen kann. Ich will eigentlich mindesten zwei
oder drei Mal im Jahr rüber kommen. Die aktuellen Termine findet man auf www.carolynwonderland.com Und wenn wir bei Euch in der
Nähe sind, kommt vorbei und sagt Hallo!
© wasser-prawda
Interview
Bluesbea - Unterwegs im
Namen des Blues?!
Raimund Nitzsche im Gespräch mit der Bluesfotografin Beate Grams
Wenn man im Internet nach Blues-Fotografien
sucht, dann kommt man an Deinen Fotos nicht
vorbei. Wie bis Du dazu gekommen, bei zahllosen Konzerten zu fotografieren?
Mein Hobby, gute Live-Musik in kleinen Kneipen und Clubs oder Openairfestivalzu hören,
fing vor einigen Jahren an. Ich liebe es, den Musikern direkt in die Augen zu sehen, ihre Mimik
zu beobachten, den Bass im Körper zu spüren
und mit Gleichgesinnten die Seele baumeln zu
lassen... Dazu ergab es sich natürlich, das „Erlebte“ in Fotos festzuhalten.
Irgentwann dachte ich aber, ich müßte mich entscheiden – endweder das Konzert in vollen Zügen genießen und ein bißchen „knipsen“ oder
fotografieren. Heute weiß ich, beim Fotografieren spüre ich den Blues intensiver und hautnaher denn je, so dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, einfach „nur“ so da zu stehen oder zu
sitzen.
Wie viele Konzerte brauchtest Du, bevor Du
mit Deinen Fotos wirklich zufrieden warst?
Im meinen Anfangszeiten hatte ich mit vielen
Schwierigkeiten zu kämpfen, denn ein Konzertbesuch ist nie gleich, auch wenn es z.B. die
gleiche Location ist. „Jedesmal“ ist anders und
mit sehr vielen Eindrücken verbunden...die At-
mosphäre, Drängeleien vor der Bühne, aber vor
allem das Wichtigste in der Fotografie – das Licht
– und das ist immer verschieden. Nicht umsonst
sagt man, die Konzertfotografie zählt zu den anspruchsvollsten Genres der Fotokunst.
ist meine Arbeit aber immer noch nicht wirklich
beendet, denn ich bearbeite ggf. die Fotos nach,
was für ein Foto manchmal ein bis zwei Stunden
in Anspruch nehmen kann...wie z.B. bei meinen
„My Art – my less is more“ Fotos.
Was macht für Dich eigentlich ein gutes Blues- Mit welcher Kamera arbeitest Du eigentlich?
Die Zahl der Geräte, die mit den beschränkten
Foto aus?
Lichtverhältnissen in den meisten Locations
Die Frage ist nun, wie kommt der Blues ins Foto? fertig wird, dürfte ja so groß nicht sein, oder?
Die Antwort: Man muß einfach zur rechten Zeit
am richtigen Platz stehen, was manchmal, wenn‘s Das ist richtig, zumal ich ausnahmlos ohne Blitz
voll ist, mit Glück verbunden ist, aber was man fotografiere. Deshalb habe mich für die Nikon
auch im Laufe der Jahre lernt...Mein Motto: be- D700 mit Vollformatsensor entschieden.
obachten, beobachten, beobachten, auf den richtigen Moment warten und dann abdrücken. Das Du hast in den letzten Jahren eine riesige Anist alles!
zahl von Konzerten auf Deiner Homepage doNach einem Konzertfotosessionabend bin ich oft kumentiert. Wie sind die Reaktionen der Musiso erschöpft, als hätte ich selbst auf der Bühne ker auf Deine Arbeit?
gestanden, denn das ist nicht nur körperliche Arbeit, auch der Geist wird beansprucht.. z.B. mit Es kommen wunderbare Feedbacks, z.B. mit
der Frage, wie setze ich die Künstler am besten in Einträgen in meinem Gästebuch oder aber das
Szene? Und Zuhause dann der spannende Mo- I-Tüpfelchen meiner Arbeit ist dann, wenn ich
ment...hab ich meinen Auftrag im Namen des mein Foto auf einem CD-Cover oder einem Poster eines Künstlers wiederfinde.
Blues erfüllt?
Wenn der Blues im Foto zu hören ist, wenn ein
Foto laut oder leise klingt, und die Künstler im Hast Du eine Chance, Deine Bilder auch an die
Bild lebendig wirken, dann bin ich zufrieden! Presse zu verkaufen?
Aber das gelingt natürlich nicht immer! Dann Nein
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© wasser-prawda
Interview
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© wasser-prawda
Interview
Über einige der dokumentierten Konzerte erscheinen ja auch Zeitungsartikel. Oder nehmen
dann die Tageszeitungen eher die Bilder, die
von ihren schreibenden Journalisten gemacht
wurden?
JA
Wir haben in unserer aktuellen Ausgabe Fotos von Pass Over Blues bei der German Blues
Challenge im letzten Jahr. Wie erlebst Du als
Fan und Fotografin diese Veranstaltung, die ja
immer mal wieder in der Fachpresse kritisiert
wird? Ist das wirklich so etwas wie eine „Deutsche Meisterschaft“ im Blues oder eine eigentlich überflüssige Veranstaltung?
Überflüssige Veranstaltung? Ich denke nein, aber
das ist eine sehr schwierige Frage, über die oft
und viel diskutiert wird. Für mich sind alle teilnehmenden Musiker Gewinner, es gibt meiner
Ansicht nach keine Verlierer. Aus der Sicht als
Fotografin sehe ich während solchen Veranstaltungen oft einen gewissen Stressfaktor im Ausdruck der Musiker, die ja in einer sehr kurzen
Dieses wunderbare Hobby gibt mir den gewissen Kick in meinem Leben und den Ausgleich
zu meinem Fulltimejob „im wirklichen Leben“,
Wen würdest Du gerne mal im Konzert einer anstrengenden Arbeit im Gesundheitswesen. Alles in allem, ohne die Unterstützung meifotografieren?
Am Liebsten würde ich alle wieder auferstehen nes Lebenspartners wäre mein Hobby zeitlich in
dieser Form so nicht möglich.
lassen...vielleicht John Lee Hooker.
Zeit alles geben müssen und somit einem großen
Druck ausgesetzt sind.
Und bei wem hat Dir das bislang am meisten
Spaß gemacht?
Ohne jetzt Namen nennen zu wollen, das sind
die Musiker mit den „vielen Gesichtern“, die mit
ihrer Mimik und ihren Emotionen im Ausdruck
einem den Finger am Auslöser kleben lassen.
Gerade in den letzten Wochen tauchten auf
Deiner Seite verstärkt andere Motive auf: Architektur, Landschaftsaufnahmen und ähnliches.
Wie kommt es dazu?
Sollte mal auf der Bluesroad nichts los sein, dann
juckst‘s mich in den Fingern und es müssen andere Motive dran glauben, wie z.B. Landschaftsaufnahmen oder ganz „banale“ Motive, wie z.B.
eine Apfelsine, egal, alles was mir vor die Linse
gerät.
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Zu den Fotos:
Selbstporträt
Bass - aus der Serie „Less Is More“
Roland Beeg (Pass Over Blues) bei der German Blues Challenge 2012 in Eutin
U 995 am Marine-Ehrenmal in Laboe.
Die Fotos von Beate Grams findet man am
besten auf ihrer Homepage www.bluesbea.de,
die sie unter das passende Motto „Blues Your
Soul“ gestellt hat. Aber auch auf CDs von Tim
Lothar oder dem German Blues Project kann
man Fotos von ihr entdecken.
© wasser-prawda
Interview
Zehn
Fr
agen
an:
Clare
Free
Dave Watkins im Gespräch mit der britischen Gitarristin und PR-Agentin.
1: Was war Dein frühester Musikgeschmack
und wie hast Du die Welt des Blues entdeckt?
Als ich ein kleines Mädchen war, liebte ich Gruppen wie Abba, die waren zwar vor meiner Zeit,
aber meine Eltern hatten Platten, die ich immer
wieder auflegte. Ich hab mich in dem Moment
begonnen in den Blues zu verlieben, als ich anfing, ihn zu spielen. Mein Gitarrenlehrer schickte mich zu einer Blues-Session und ich spielte so
schlecht, dass ich mich schämte. Ich beschloss,
mich davon nicht fertig machen zu lassen und
übte den ganzen Monat Blues bis zur nächsten
Blues-Session. Da spielte ich dann ein wenig besser, ging nach Hause und arbeitete weiter an meinem Blues-Spiel. Je mehr ich spielte, und je mer
interessante Künstler ich da hörte, desto mehr
wurde ich vom Blues regelrecht aufgesogen.
2: Wer waren die Künstler, die dich dazu
brachten, dass Du diese Musik spielen wolltest. Und wann stelltest Du fest, dass Du dazu
das Talent hast?
Die ersten Bluesmusiker, die ich nach meiner Erinnerung hörte, waren B.B. King und Stevie Ray
Vaughan. Ich kann mich auch noch ganz deutlich an das erste Mal erinnern, als ich bewusst
Hendrix hörte. Ich hörte „Star Sprangled Banner“ und dachte: das klingt furchtbar! Ich hasste
es regelrecht!. Ich bin nicht überzeugt, dass ich
irgendwann feststellte: Ich hab das Talent zum
Bluesspielen. Auch jetzt bin nicht sicher, ob das,
was ich mache, das Resultat von echtem Talent
ist. Ich tendiere eher zu dem Gedanken, dass es
mehr damit zu tun hat, dass ich unwahrscheinlich viel geübt habe. Wofür ich ein wirkliches Talent habe, ist Gedichte und Songs zu schreiben.
Das hab ich schon immer geliebt.
3: Deine ersten Aufnahmen - hörst Du sie
immer noch an? Wie beurteilst Du sie heute?
Und gibt es welche, die Du nicht mehr anhören würdest?
Nein, momentan höre ich sie nicht mehr. Aber
ein Stück hab ich letztens gehört und war ehrlich
überrascht, wie wenig sich mein Gitarrenspiel
seither verändert hat. Ich klang damals schon
nach „mir“. Ich denke, einige meiner frühen Aufnahmen waren recht gut, nicht wundervoll, aber
wirklich nicht schlecht.
4: Welche anderen Jobs hast Du gemacht, um
Deine Musikkarriere zu unterstützen?
Für eine Weile hab ich Gitarrenunterricht gegeben (ich hab immer noch zwei Schüler), aber ich
kam an einen Punkt, wo ich unzuverlässig wurde
als Lehrer: In der einen Woche war ich in der
Lage, Unterricht zu geben, die nächste dann wieder nicht und so hab ich das aufgegeben und zwei
Jahre lang meinen ganzen Lebensunterhalt durch
Livekonzerte eingenommen. Das ist eine harte
Arbeit und wirklich ermüdend, und so gründete
ich eine kleine PR-Agentur, die für andere Musiker arbeitet. Ich spiele jetzt nur noch die Konzerte, auf die ich auch wirklich Lust habe. Insgesamt ist das also bislang eine sehr erfolgreiche
Kombination.
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© wasser-prawda
Interview
5: Wie schwer ist es, von seiner Musik zu leben? Und gibt es irgend etwas, dass diese Ziel
für alle Musiker einfacher erreichbar machen
würde?
Von Konzerten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten ist sehr hart. Allein die Gigs gebucht zu bekommen, erfordert einen riesigen Kraftaufwand.
Einfacher wird es, wenn Du willens und in der
Lage bist, auch in anderen Bereichen der Musik
(etwa dem Unterricht) zu arbeiten. Ob es etwas
gibt, dass die Lage für alle Künstler vereinfacht?
Mir würde es gefallen, wenn bei den großen Plattenfirmen, Fernseh- und Radioanstalten nicht so
sehr die Kontrollfreaks das Sagen hätten. Es gibt
einfach dort zuviel vom gleichen Mainstream,
nur wenig Vielfalt. Und vor allem wünschte ich,
dass die unabhängigen, wenig vernetzten Künstler mehr öffentlich gefeiert würden.
das Lied zu Scheitern verurteilt! Ich mag Lieder,
die eine echte Bedeutung haben. Jemand sagte
mir mal: Schreib niemals einen Text, bloß weil
Du grad einen brauchst. Schreib ihn, weil er Deine Meinung sagt und Du den Text genau dort im
Lied haben willst. Das war ein guter Ratschlag
und an den versuche ich mich zu halten.
8: Welches Instrument in Deiner Sammlung
hast Du am liebsten? Gibt es irgend ein Instrument, dass Du gerne haben würdest oder gerne
spielen können möchstest?
Zur Zeit hab ich meine Strat Plus am liebsten
(auch wenn ich meine Fret King Gitarre ebenfalls liebe). Ich kaufte sie vor etwa 15 Jahren gebraucht in einem Laden in Birmingham und hab
sie schon durch die ganze Welt mitgenommen.
Ich behandle sie nicht besonders zärtlich und so
hat sie schon einige Schrammen und Kratzer.
6: Auf welchen Deiner Songs bist Du beson- Aber das unterstreicht meiner Meinung nach ihders stolz? Erzählst Du uns die Geschichte ren Charakter ganz ordentlich.
hinter dem Lied?
Zur Zeit stehe ich in gewaltiger Versuchung, mir
Das ändert sich immer mal, zur Zeit aber ist das ein Banjo zu kaufen und darauf spielen zu lerein Lied vom demnächst erscheinenden Album nen... vielleicht wird da noch was draus...
mit dem Titel „60 Years Young“. Ich sah das Foto
eine alten Pärchens, sich an den Händen hielten 9: Wo soll es mit Deiner Karriere noch hinund einander anlächelten: jeder sah, dass die bei- gehen? Was sind da deine hauptsächlichen
den einander liebten. Ich schrieb das Lied über Bestrebungen?
sie, die sich schon seit 60 Jahren lieben und ein- Ich hätte gern eine ruhige Karriere, wo ich in der
ander auch noch im Alter anbeten werden.
Lage bin, die Festivals und Läden in Europa zu
spielen. Wichtig ist mir immer, dass ich Spass
7: Wenn Du Lieder schreibst, was kommt da dran habe, großartige Musik zu machen. Letztes
zuerst: Der Text, die Melodie oder eine Vor- Jahr spielte ich zu viele Gigs und bekam etwas
stellung vom ganzen Song?
die Nase voll davon: es fühlte sich plötzlich an
Für mich kommt zuerst fast immer der Groove, wie Arbeit. Also spiele ich in diesem Jahr weniger
dann die Melodie. Und der Text entsteht dann live und konzentriere mich mehr auf die Arbeit
im Laufe von mehreren Tagen. Manchmal hab an meinem neuen Album mit meiner belgischen
ich Lieder, die liegen eine ganze Weile völlig ohne Band. Das ist zur Zeit ein akustisches Projekt und
Text rum, weil ich mir noch nicht klar darüber ich mach mir keinen Kopf drum, wann es rausbin, wovon das Lied eigentlich handeln soll. Ich kommt. Das wird dann sein, wenn das Album
brauch ein Thema, dass man nicht in einem ein- fertig ist! Und ich hab auch keine Lust drauf, in
zelnen Satz zusammenfassen kann. Ansonsten ist ein Plattenstudio zu gehen. Es geht um die Mu-
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sik, und dass man Spaß dran hat: Darum wollen wir das Album im Haus eines Freundes mit
ein paar Bier und vielen Freunden aufnehmen,
dadurch wird die Stimmung wesentlich relaxter sein und das Album wird davon hoffentlich
profitieren.
Ich hab das große Glück zum Schutzpatron eines
Clubs namens The 61 in Vise ernannt worden
zu sein, der eine nette Bar hat. Philippe, der den
Laden betreibt, lässt uns dort üben, was großartig
ist, weil Freunde vorbeikommen können, um ein
Bier zu trinken, zuzuhören oder mit uns rumzuhängen, während wir an unserer Musik arbeiten.
Und so sollte meiner Meinung nach Musik viel
eher entstehen als in stinkenden Proberäumen.
10: Was machst Du außer Musik am liebsten?
Wenn ich nicht spiele oder mich um PR kümmere, dann freue ich mich, mit meiner Familie
zusammen zu sein. Wir ziehen gerne los, um
interesannte Dinge zu entdecken (und da gibt
es eine Menge für uns, da wir gerade erst in die
Niederlande gezogen sind, ein Land voller großartiger Dinge, die man sehen oder machen kann)
oder sind ganz einfach zusammen.
Zusatzfragen:
A: Du bist in die Niederlande gezogen - wie kam
es dazu?
Da gibts viele Gründe. Uns gefällt es hier - und
mein Bruder und meine Mutter hatten beschlossen, in die schottischen Highlands zu ziehen. Ohne meine Familie in der Nähe und dem
Streben nach Veränderung entschlossen wir uns
einfach dazu. Das war keine schnelle, eher eine
allmähliche Entscheidung, es fühlte sich nur einfach richtig an.
B: Wo kann man mehr über Dich erfahren?
www.clarefree.co.uk und für meine PR-Agentur
unter outlawpr.co.uk.
© wasser-prawda
Musik
Mia Moth: Poppunkfunkrock mit Spassfaktor!
Musik aus Kanada, die das
Licht nicht zu scheuen braucht.
Und weil das so ist gehen Mia
Moth in Kürze auf ausgedehnte Deutschland-Tour und da
wollen wir ihnen gerne ein
wenig unter die Flügel greifen,
denn wir haben hier das einmalige Phänomen, dass wir
gleich zwei Alben dieses Projekts aus Vancouver , Kanada,
vorstellen möchten. Dass erste
aufgenommen am 11.11.2011
ist wohl nur sehr schwierig im
Handel zu erwerben, das zweite, ihr ahnt es, aufgenommen
am 12.12.2012 ist noch frei im
Download auf der Webseite zu
haben. Von Lüder Kriete.
genommen! Fest steht Kara singt - schön, voll
Seele und mitunter ein wenig provokant, aber
stets absolut überzeugend in ihrer Darbietung.
Eine junge Frau, die mal eben das gibt, wovon
sie überzeugt ist. (Beim Betrachten der Videos
kommt dann auch ein klein wenig der Voyeur
in uns hoch, geben wir zu und schämen uns
auch nicht dafür.) Allan Rodger ist der dem das
Crosstown Studio in Vancouver gehört, dort wo
die beiden Alben aufgenommen wurden. Der eigentliche Start war ein spontaner Gig bei einem
‚open-mic‘ in eben dieser Stadt, kurz vor dem
11.11.11. Und so hat sich der Gute dann auch
etwas mehr eingebracht, als nur mit seinem Bass.
Den spielt er aber knochentrocken und laut eigenem Bekenntnis hört er am meisten Musik von
Alex Harvey. Sicherlich ein weiterer Grund, warum diese Musik so erstklassig abgeht. – Manch
einer hierzulande mag sich an diesen Mann erinnern, ist er doch schon mit Melanie Dekker hier
unterwegs gewesen. Am Drums sitz ein weiteres
Musterbeispiel für Top Qualität, nicht nur im
Studio, sondern auch live: BJ Genten. Mag den
meisten so auf Anhieb nicht viel sagen, aber dieMia Moth, das sind im Wesentlichen die unge- ser Mann hat grundsolide Erfahrung gesammelt
mein faszinierende Kara Fraser mit Gesang und im Zusammenspiel mit Musikern wie Rodger
der „Musikmacher“ Allan Rodger mit dem Bass. Hodgson (Supertramp) oder in der MusikantenÜber beide, und auch alle weiteren Mit-Musiker, Abteilung des Cirque du Soliel. So schafft der
und sonstiges Material ist aber auf beiden Covers Kerl einen Rhythmus-Teppich, mit dem man
nichts zu finden und auch auf der Webseite nur einfach nur fliegen muss. Die beiden Alben 11indirekt. Das hat sicherlich die Produktionskos- 11-11- und 12-12-12, elf Titel auf dem ersten,
ten erheblich gesenkt, von der Klasse dieser Un- zwölf auf dem zweiten, sind in jedem Falle erstternehmung hat es aber absolut rein gar nichts
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klassige moderne Unterhaltungsmusik. Die kanadische Presse und die Fans der Band vergleichen sie gerne mit Größen wie No Doubt, Lena
Lovich oder, man höre, Nina Hagen. Wie dem
auch sei, Spaß machen sie ohne Ende und wir
werden uns dieses Projekt auf ihrem Weg durch
Deutschland garantiert am 03.03.13 in Augsburg
ansehen. Dort, wie auch bei einigen weiteren
Konzerten, wird dann der famose Martin Rose
aus Berlin den Bass zupfen, da Mister Rodger
verhindert ist. Aber das wird ein ganz besonderes
Schmankerl, kennen wir doch die Qualitäten des
Herrn Rose. Bis zum Tourstart am 07. Februar
in Rainer’s Rockhaus in Algermissen empfehlen
wir also den Besuch der Webseite und den freien
Download von 12-12-12.
© wasser-prawda
Jazz
Matthias Bätzel Back To The
Roots
Was wäre der Jazz ohne den unnachahmlichen
Klang der Hammondorgel? Nicht vorstellbar,
wenn man einmal Matthias Bätzel an der Hammond B-3 erlebte. Virtuos und dennoch jede
musikalische Phrase sensibel ausdeutend verwandelt er Standards zu immer wieder neuen Werken. Ein Meister seines Fachs. Und das hat sich
herumgesprochen. Und doch will er jetzt wieder
zurück zu den Wurzeln, zum Klavier. Er möchte
das Jazzklavier neu erfahren und auf einer Reise
zu sich wieder mit neuem Leben erfüllen.
Als einer der gefragtesten Jazzpianisten und Organisten Europas arbeitet er mit Koryphäen wie
Red Holloway und Houston Person zusammen –
immerhin Musiker, die mit Jimmy Smith spielten
und daher Gutes gewöhnt sind. Matthias Bätzel
stammt aus einem Musikerhaushalt und studierte Klavier und Violine in Weimar. Doch schon
früh lässt ihn der Jazz nicht mehr los und begleitet von nun an sein Leben. Es wäre abendfüllend
aufzuzählen, mit wem er bereits alles spielte. Um
nur einige zu nennen: Carla Bley, Clark Terry,
Sonny Fortune, Nils Landgren, Manfred Krug,
Till Brönner, Inga Rumpf, Wolfgang Schlüter,
Charlie Antolini, Roman Schwaller, Dusko Gojkovich, Uschi Brüning, Ernst-Ludwig Petrowsky,
Herb Robertson, Benny Bailey, Ed Kröger, Ingolf
Burkhardt, Toots Thielemans, Jocelyn. B. Smith
u.v.a. 1998 gründete er das Matthias Bätzel Trio,
welches sich schnell in der Jazzszene etablierte
und bereits 3 CDs veröffentliche: “Monk’s Mood”
(JHM Records) 2002 “Green Dumplings” (JHM
Records) 2000 “A Night of Blues & Ballads” mit
Red Holloway (JHM Records) 1999 Als Sideman ist er zu hören in: “Straight & Curved”
Michael Arnold Quartet (Type:g Records) 2008
“Live at the A-Trane” Sonny Fortune/Karl Schloz/Matthias Bätzel/Ernst Bier (Konnex) 2006
“Dünnes Eis” Veronika Fischer (SPV) 2004 “ALive at the A-Trane” Ernst Bier/Mack Goldsbury
Quartet (Konnex) 2003 “Der Weihnachtskrug”
Manfred Krug (Warner) 2002 “Movin’ On” Ed
Kröger Quartett + Romy Camerun/Ignaz Dinne
(Laika) 2001 “What’s New” Ed Kröger Quartett
+ Romy Camerun (Laika) 1999 “Movin’ Up”
Stanley Blume Quartett (Organic Music) 1999
“Basic Instinct” Grooveyard meets Red Holloway/Houston Person/Roman Schwaller (Organic Music) 1997 “Grooveyard featuring Red
Holloway” Grooveyard (JHM Records) 1996
Seine vielseitige Arbeit ist auf über 30 CD-Veröffentlichungen zu erleben. Seit 2007 ist er Professor für Jazzklavier und Hammondorgel an der
Musikhochschule Dresden und gibt regelmäßig
Konzerte, die immer wieder aufs Neue die Frage
nach dem eigentlich Wichtigen beantworten. Für
Matthias Bätzel ist es wieder das Klavierspielen.
Manchmal kann man eine Sache neu entdecken,
indem man sie in das Zentrum seines Schaffens
rückt. Und uns geht kein Organist verloren, wir
werden ihn nur öfter als Pianisten erleben.
Mathias Frieling
Foto: Guido Werner (Weimar)
Jazz im Keller oder wie es abwärts geht
Ein Aufruf
Ein Phänomen bleibt. Denkt man an Jazz,
denkt man an Keller, Clubs und Bars. Meist
verraucht, oft überfüllt, mit schlechter Luft und
viel Bier. Doch dann erklingen die ersten Töne,
und schnell wird klar, diese Musik muss heraus.
Sie ist eine ernstzunehmende Konzertliteratur
und kann seine ganze Vielfalt und Komplexität
erst im klassischen Ambiente zeigen. So paradox es klingt. Ein gewisses Maß an Konservatismus ist vonnöten, aus einer coolen Mugge eine
ernstzunehmende Musikrichtung zu machen.
Zwei Gründe sprechen für diese Veränderung:
Viele Jazzmusiker spielen für so wenig Gage,
dass sie sich nicht davon ernähren können. Sie
müssen anderen Beschäftigungen nachgehen.
Der Jazz verliert wichtige Künstler an Mainstreampop oder Musikschulen. Im Gegensatz zur
Klassik gibt es bei Jazzmusikern wenig bis keine
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festen Stellen. Auch die Gagen sind im Keller.
Bei Konzerten in Sälen sind wesentlich höhere
Eintrittsgelder möglich und akzeptiert.
Und dann haben wir noch den zweiten Grund.
Die typischen Konzertbesucher werden nur sehr
selten in irgendwelche Keller oder Bars gehen.
Viel wahrscheinlicher ist es, dass das sogenannte gutbürgerliche Kulturpublikum in „ihren“
Konzertsälen Jazz als andere Art des klassischen
Konzertes akzeptiert und ihm dadurch verhilft,
eine noch größere gesellschaftliche Akzeptanz
zu erzielen.
Ja, die Akzeptanz ist da, aber nur für die Musik,
nicht aber für den Musiker. Immer wieder werden sie gefragt, was sie ansonsten machen. Jazz
gilt immer noch als Liebhaberei und interessantes Hobby. Doch der Anspruch an die Musik ist
viel zu hoch, als dass sie nur dilettantisch betrieben werden kann. Der Jazz ist im Keller, wenn
wir ihn nicht bald zur Klassik erheben.
Matthias Frieling
© wasser-prawda
Platte Des Monats
Bob Brozman - Fire In
The Mind
Virtuosität auf sämtlichen
denkbaren Gitarreninstrumenten verbindet Bob Brozman
auf seinem Album „Fire In The
Mind“ zu einer weltmusikalischen Entdeckungsreise. Und
der Musikethnologe tritt dabei ganz nebenbei den Beweis
an, dass der Blues nicht nur im
Mississippidelta sondern überall zwischen Indien, der Karibik,
Pariser Cafés und den Stränden Hawais gefunden werden
kann.
Bluepuristen sollten von diesem Album vielleicht
die Finger lassen. Ihr Glauben könnte ansonsten
auf eine harte Probe gestellt werden. Der Glaube an die Heiligkeit der Allgültigen Zwölf Takte
sowieso. Aber auch daran, dass man sich beim
Label Ruf Records wirklich nur und ausschließlich mit Blues und Bluesrock befasst. „Fire In The
Mind“ als Bluesalbum zu bezeichnen ist nämlich
eine ziemlich gewagte Angelegenheit, wenn man
nach streng formalen Gesichtspunkten urteilt.
Klar finden sich unter den elf Stücken Lieder, die
von der Struktur her als Blues beginnen. Doch
sobald man es sich bequem gemacht hat in den
virtuosen Saitenklängen, verwandeln sie sich unversehens, kommen Anklänge aus Mussette, Gypsy-Swing oder indischer Tempelmusik in den
Vordergrund, erklingen karibische Rhythmen
oder psychedelisch anmutende Klangkaskaden.
Brozman erzählt gemeinsam mit seinem Percussionisten Jim Norris Geschichten, die sich über
Stimmungen und Rhythmen vermitteln. Und
hier erschließt sich dem Hörer der Bezug zum
Blues, über Stimmungen und Gefühle.
„Breathing The Blues“ entführt einen oberflächlich gehört vielleicht irgendwohin in die Sümpfe Louisianas. Aber gleichzeitig fühlt man die
Atemlosigkeit, die Beklemmung und sehnt sich
danach, dieser drückenden Atmosphäre zun entkommen. „Cannibal Stomp“ jagt einen dann mit
seinen rasanten Gitarrenduellen (die Brozman
mit sich selbst ausficht), mit indischen Klängen
und treibenden Rhythmen raus in die frische
Luft. Erst dann kommt mit „American House
Fire Blues“ das erste Stück mit Text: Eine melancholische Abrechnung und Anklage auf die
hoffnungslose Lage vieler Menschen in seiner
Heimat:
»It‘s a lonely, lonely country
When you‘re out on your own
They‘ve stolen everything
And drove you from your home
Who you gonna call
When your house is burning down...«
Dieser (in diesem Falle auch von der Struktur
her) „echte“ Blues wird abgelöst von „„Rhythm
Is The King“ mit afrikanischen Trommeln, von
„Strange Mind King“ mit spanischen Anklängen
und einer vokalen Glanzleistung zwischen Trauer und Wahnsinn, zwischen Angst vor dem Tod
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und der Unfähigkeit, die Liebe zurück zu lassen
in Einsamkeit.
„Bamn Kalou Bamn“ erinnert mich von der
Stimmung her an Songs von C.W. Stoneking,
auch wenn der niemals so wild Pariser Musette,
Memphis Blues und die Rhythmen von New
Orleans vermixt hätte. Und dann - schließlich hat Brozman auch Lehr-DVDs für das immer beliebter werdende Instrument veröffentlicht - brennt er bei „Ow! My Uke‘s On Fire“
ein wahres Ukelelenfeuerwerk ab zu treibenden
Ragtime-Rhythmen.
Und auch das ist - so wie die griechischen Bouzouki-Klänge, die spanischen Flamenco-Einflüsse oder auch die afrikanischen Rhythmen - dem
Blues verwandt. Dem Blues als Ritual, als eine
Gemeinschaft einende Musik, nicht als Floskel
oder musikalisches Schema. Dass Brozman sich
© wasser-prawda
Platten
hier gleichzeitig als einer der virtuosesten Gitarristen der Welt präsentiert, ist dabei nicht hauptsächlich.
Wenn es auch das Hörvergnügen
gerade bei musikalisch Versierten
gewaltig steigern dürfte.
Wen es interessiert: Brozman spielt
auf dem Album unter anderem
folgende Instrumente: National
Reso-Phonic Tricone guitars, Bear
Creek Kona Rocket Hawaiian guitar, Ultrafox Django-style guitar,
1915 Vega Cello-Banjo, Baglama,
Chaturangui« und eine »1920s Stella guitar«. Uneingeschränkt empfehlenswertes Album für Liebhaber
akustischer Musik.
Raimund Nitzsche
Aaron Neville - My True
Story
Klassiker des Pop im klassischen
Doo-Wop-Sound produziert von
Don Was und Keith Richards: Für
„My True Story“ kehrt Aaron Neville zu seinen Wurzeln im Rock &
Roll zurück. Für Nostalgiker liefert
er ein wahres Fest für die Ohren.
Blue Note scheint sich zu einem
Zufluchtsort für aus der Zeit gefallene Musiker zu entwickeln. Van
Morrison, Götz Alsmann und nun
Aaron Neville können hier ihrer
Musik frönen, die so fern jeglicher
medienwirksamer Aktualität ist.
Doch es ist Musik, die in jedem Fall
bewiesen hat, dass ihre Qualität eine
zeitlose ist. Wenn Neville jetzt mit
„Money Honey“ sein neues Album
eröffnet, dann wird das sofort klar:
Mit über 70 Jahren ist der Sänger
aus New Orleans noch immer im
Besitz dieser unwahrscheinlich eindringlichen Stimme, die schon in
den 60er Jahren Hits wie „Tell It
Like It Is“ auszeichnete. Und genau
die kann er in den neun Liedern in
einem klanglichen Umfeld präsentieren, die sie als Kostbarkeit strahlen lässt: Das ist Erbepflege nicht
nur in Bezug auf Neville sondern
auch in Bezug auf den Doo-WopSound. Ein im wahrsten Sinne edles
Album für Genießer - bis hin zum
stilvollen Blue-Note-Cover.
Nathan Nörgel
Allen Vega - Rough Cut
West Coast Blues mit einer markanten Gitarre, Bluesklassiker aus Texas
neben eigenen Songs: Der Gitarrist ses Album macht wirklich neugierig
Allen Vega hat mit „Rough Cut“ auf weitere von Allen Vega.
ein bemerkenswertes Solodebüt
Nathan Nörgel
veröffentlicht.
Der Dank an die Mutter für den
Kauf der ersten Gitarre (damals war
Allen Vega 15 Jahre) und für das
erste Konzert mit Stevie Ray Vaughan ist mehr als angebracht: Allen
Vega ist - obwohl er in Kalifornien
lebt und dort auch in den letzten
Jahren hauptsächlich unterwegs war
- stark von den verschiedenen Spielarten des Texas-Blues beeinflusst.
Und was liegt da näher, als Songs
von T-Bone Walker (T-Bone Shuffle), Freddie King (Sugar Sweet)oder
auch das von Johnny Winter so
großartig interpretierte „Tin Pan Alley“ auf das Debüt zu nehmen? Wer
jetzt aber erwartet, hier einen harten
Texas-Boogie zu bekommen, hat
sich gewaltig getäuscht. Oder besser
gesagt, er hat das Prinzip des West
Coast Blues nicht verstanden, der ja
schon zu Zeiten von T-Bone Walker
sich dadurch auszeichnete, dass die
verschiedensten Regionalstile hier
zu einem meist relaxten, auf jeden
Fall aber auch jazzigen Sound verschmolzen wurden. Und genau das
passiert auch auf „Rough Cut“:
Klar, Vegas Gitarre kann beißen,
packt zu und wird auch rauh und
heftig. Doch das wird in der Band
immer aufgefangen durch Armin
Boyds Saxophon und die Pianound Keyboard-Klänge von Sugar G.
Robinson. Niemals wird die Grenze zum „Abrocken“ überschritten,
die kalifornische Leichtigkeit und
Eleganz ist immer hörbar. Und das
macht das Album schon mal sehr
hörenswert - auch wenn man sich
manchmal gewünscht hätte, mehr
eigene Songs des Künstlers zu hören. Denn dass Vega auch ein guter
Songwriter ist, machen die zwei eigenen Stücke deutlich: das politisch
aktuelle „Jobless“ etwa aber auch die
wundervoll groovende Schlussnummer „Bye Bye Bye“.
„Rough Cut“ ist hierzulande leider nur als Download von iTunes
erhältlich. Aber vielleicht kommt
Vega ja in den nächsten Monaten
mal nach Europa zu einigen Festivals und bringt ein paar „echte“
Tonträger mit. Und ansonsten: Die-
Annabels Ashes - Revenant
Ja mei, was soll’n wir denn dazu sagen? Nicht so düster wie das Cover
aber deutlich härter als Mainstream.
Hard Rock der Kategrie „Horror
Rock“, schenkt man den PresseMitteilungen Glauben, bringen die
drei Männer aus Tuscon, Arizona.
Annabels Ashes nennen sie sich,
ihr Album oder richtiger EP „Revenant“. Acht Songs dröhnen für ca.
20 Minuten auf uns ein und dann
ist wieder Stille – gut so. Also, wer
Hard Rock Fan ist, sollte da mal rein
hören, alle anderen können diese
zwanzig Minuten auch gut für etwas
anderes nutzen: Müll rausbringen zPunkt B-Punkt.
Das Erik Destler an Gitarre und
Gesang; Renfield am Bass und The
Hessian an den Drums wissen wie’s
geht, glauben wir wohl. Und das
sie sich auch redlich bemühen, dies
dem geneigten Hörer rüber zu bringen auch; aber unser Ding ist dies
ganz einfach nicht. Es verwundert
uns eher, dass der Presse-Text noch
einen Dr. Vanacutt an der Gitarre
und Gesang ausgibt, von dem aber
auf dem Cover jede Spur fehlt. Dafür ist dort ein gewisser Zane Zway
als zusätzlicher Backing-Sänger
angegeben, der in der Mitteilung
fehlt; na hört selbst, wen ihr da findet. Die Band ist in 2011 an einem
Freitag den 13. zum ersten Mal öffentlich aufgetreten, also noch nicht
so ganz alt. Sie selbst verspricht,
dass sie noch einiges in petto hat
– so wird’s wohl sein. Ihre Musik
ist schnell, laut und lässt nicht viel
Zeit zum Atem holen. Die Titel
sind eher düster, aber das ist eben
Teil des biz. Wer also sein Adrenalin
mal über den gewöhnlichen Level
pushen will, der sollte sich mit Annabels Ashes stimulieren. (Clusterpunk Record!/ Cactus Rock)
Lüder Kriete
zweiten Album ein hörenswertes
Statement veröffentlicht, dass nicht
nur Bluesfans begeistern kann.
Diese Gitarre ist fett. Überall bratzt
der brachiale Ton durch, ob es sich
um funkigem Blues a la Tab Benoit
oder Rock & Roll, um Slidesounds
oder Rockriffs handelt: Bart Walker
ist kein zurückhaltender Typ, wenn
es um sein Instrument geht. Und
das ist auch gut so. Denn auch seine
Musik ist nichts für zurückhaltende
Feingeister. Hier ist einer am Abrocken, der niemals einen Hehl draus
macht, dass nicht nur das geheiligte
Evangelium der Zwölf Takte sondern auch die Botschaften solcher
Nachkommen wie Led Zeppelin
oder anderer Hardrocker bei ihm
auf fruchtbaren Boden sind. Bart
Walker rockt, das von Jim Gaines
produzierte Album rockt. Und das
ohne Kompromiss. Aber zum Glück
auch ohne Muckertum: Walker ist
für mich zum Glück keiner der Typen, die stets und ständig ihre technische Meisterschaft auf den Saiten
präsentieren müssen. Er schreibt
knackige Songs und sorgt für das
passende klangliche Umfeld für seine Geschichten. Und wenn er ein
Solo raushauen muss, dann ist auch
da keine Note zuviel. „Waiting On
Daylight“ ist ein empfehlenswerter
Start in das Bluesrockjahr 2013.
Und live kann man Walker zur Zeit
im Rahmen der Blues Caravan von
Ruf Records zusammen mit Joanne
Shaw Taylor und Jimmy Bowskill
erleben irgendwo in dieser Welt.
Nathan Nörgel
Bart Walker - Waiting On
Daylight
Ben Harper & Charlie MusChuck selwhite - Get Up!
Zwischen Texas-Blues,
Berry-Licks und Hardrock a la Guns Auf dem gemeinsam mit den Blind
n Roses: Bart Walker hat mit seinem Boys of Alabama aufgenommebei Ruf Records veröffentlichten nen „There Will Be A Light“ hatte
sich Ben Harper dem Gospel an-
30
© wasser-prawda
Platten
als Schauspieler im Kino war Llou
Johnson schon erfolgreich. 2012 hat
er mit „They Call Me Big Llou“ sein
Debüt als Sänger vorgelegt. Und
um soviel schon vorweg zu sagen:
Die Nominierung für einen Blues
Music Award für das beste Debütalbum ist mehr als verdient.
„They Call Me Big Llou“ - eine
Bluesnummer, wie man sie thematisch ähnlich schon von Fats Domino („The Fat Man“) oder Willie Dixon („Built For Comfort“) kennt:
Es kommt nicht auf das Gewicht,
auf die Statur an - gerade die Typen
mit - so Big Llou zur Erläuterung
seines Namens - 300 Pfund haben
etwas zu bieten, was den äußerlich
„schönen“ Männern abgeht. Der
Song: Vom Gitarrenriff bis zur Harp
klassischer Chicago-Blues. Der Sänger: Eine Bass-Baritonstimme voller
Einfühlungsvermögen und Relaxtheit. Wer sich jetzt auf ein eher traditionelles Bluesalbum einstellt, der
wird bei den weiteren sieben Songs
von „They Call Me Big Llou“ eine
Überraschung erleben. Denn was
Johnson mit Produzent und HarpSpieler Russ Green hier angerichtet
hat, ist eine Reise durch Blues, Soul,
Funk und jazzige Gefilde, in deren
Zentrum diese einzigartige Stimme
steht. Und thematisch geht es vor
allem um eines, um Big Llou und
die Frauen. In „DOGG“ lässt er mal
still und heimlich sämtliche PrinceNummern aus den letzten 15 Jahren
etwa als verstaubt und asexuell klingen. Funk voller Sex und Energie,
den man gerne mal wieder in „normalen“ Hitparaden hören würde.
„Git Me Some“ ist dann ein Anmachersong jenseits von Händchenhalten und ewiger Liebe. Llou‘s
eindringliche tiefe Stimme wird mit
Backgroundchören noch verführerischer ins Zentrum gestellt, während
ein Groove aus New Orleans mit
Harp-Loops und Mike Wheelers
großartiger Gitarre den Song vorantreibt. Und „Rock Me Baby“ ist
dann vollends etwas, was man mal
unter die Schlagzeile: Barry White
goes Blues stellen könnte. Wobei
White selbst noch mit seinem Song
„Your Sweetness Is My Weekness“
gewürdigt wird. Schmusesoul vom
Allerfeinsten. „Flesh and Blood“
geht mit der gedämpften Trompete und dem Vibraphon dann gar in
Gefilde des aktuellen Lounge-Jazz.
Aber Vorsicht; Auch diese Nummer
hat mehr Sexappeal als die normale Norah-Jones-Hörerin vertragen
wird. „300 Pounds of Joy“ und
Big Llou Johnson - They Call „Help Me“ - diese Klassiker gehen
Me Big Llou
dann eher wieder in die traditioAls Radiomoderator verkündet er nellern Bluessounds, wirken aber
regelmäßig die „Ten Command- hier lebendig wie damals in den
ments of the Blues“ auf B.B. Kings 50ern. Denn Johnson lebt die Songs
Satelittenradio Bluesville. Auch spürbar.
genähert. „Get Up!“ zeigt ihn gemeinsam mit Charlie Musselwhite
als eindrücklicher Bluesman und
Songwriter.
Ich geb‘s zu, ich musste zwei Mal
hinschauen: Ben Harper auf Stax
Records? Anfangs schien mir das
nicht die logische Lösung zu sein.
Doch dann dachte ich weiter:
Schon zu früheren Zeiten hatte das
Label ja immer auch aktuelle Bluesproduktionen neben dem Soul aus
Memphis im Programm.
Ben Harper und Charlie Musselwhite hingegen ist eine Kombination, die schon vom Papier her
sofort einleuchtet. Die Lieder von
„Get Up!“ über das Scheitern im
Alltag verlangen geradezu nach
den schneidenden Harpsounds von
Musselwhite. Man spürt sofort, dass
die Musiker sich hervorragend ergänzen und hier keine Kollaboration in der PR-Abteilung beschlossen
wurde. Erstmals hatten sie sich bei
gemeinsamen Sessions mit John Lee
Hooker getroffen und seither immer wieder überlegt, wie man gemeinsam Musik machen könnte.
Und diese Musik geht von heftig
rockenden „I Don‘t Believe A Word
You Say“ über Gospel im 3/4-Takt
bei „We Can‘t End This Way“ bis
hin zu intimen Duetten etwa bei
„You Found Another Lover (I Lost
Another Friend)“.
Das Album kommt rauh und ungeschliffen daher, klingt fast nach
einer live im Studio zufällig mitgeschnittenen Session. Und genau das
macht den größten Reiz aus: Wenn
Harper im Titelsong darüber klagt,
dass das Recht ihn gebrochen habe
und er darum das Recht nicht mehr
wirklich ernst nehmen kann, dann
ist das ein Lied, dem eine gelackte
Produktion die Schärfe und Aktualität nehmen würde.
„Get Up!“ - eine Sammlung großartiger Songs, ein wundervolles Bluesalbum und ein Zusammentreffen
zweier Musiker, ohne die der Blues
heute wesentlich ärmer wäre.
Raimund Nitzsche
Ein von vorn bis hinten überzeugendes und großartiges Debüt, was
klar macht: Blues ist so lange lebendig, so lange sich Künstler finden,
die diese Musik mit Leib und Seele
leben. Bei den für die BMA nominierten Debütalben kann man Big
Llou Johnson und Paula Harris in
diesem Ansatz gut nebeneinander
stellen. Das sind wichtige Beiträge
für einen Blues im 21. Jahrhunderts: Traditionsbewusst aber pulsierend vor Leben.
Nathan Nörgel
in Pop und sogar in die Gefilde der
Beach Boys wagten sie sich mit der
Hymne an die „Northern California
Girls“ (inklusive des als Peach Boys
bezeichneten Chores!). Die Wut auf
die Verhältnisse kommt immer mal
wieder durch, aber oft ist hier die
Melancholie zu spüren - oder sollte
es gar die Altersweisheit sein? Wie
auch immer: der permanente und
plötzliche Stilwechsel innerhalb von
Liedern, der seit jeher zu ihnen gehört wie die Angst des Teufels vor
dem Weihwasser, lässt ein Abgleiten
in Resignation niemals zu. „La costa
Perdida“ ist unterhaltsam im besten
Sinne, es ist hörbarer für mich als
viele ihrer sonstigen Alben. Und aus
diesem Grund kommt es auch bei
etlichen Kritikern nicht so gut weg.
Kann ich nicht verstehen. (429/
Membran/Sony)
Nathan Nörgel
Camper Van Beethoven - La
costa Perdida
Die Verschmelzung der unvereinbarsten Stile gehört irgendschwie
schon immer zu Camper Van Beethoven. Und so ist ihr achtes Album
„La Costa Perdida“ eine nicht so
überraschende Weiterentwicklung,
wie das manche Fans und Kritiker
so behaupten. Nur dass eben niemand von den Ex-Punks erwartet
hat, dass sie ein durch und durch
von der Sonne Kaliforniens durchdrungenes Werk vorlegen würden.
Wie kann man als Alternativ-RockBand in Würde und Integrität altern? Der definitiv falsche Weg sind
auf jeden Fall ständige Wiederholungen der alten Klischees - oder
gar Tourneen, die allein auf die
Vorlieben der mit einem alt gewordenen Fans abgestimmt sind. Sich
musikalisch immer neu herauszufordern ist konsequent aber gefährlich, weil man ja jemanden vor den
Kopf stoßen könnte. Bowie hatte
- bis zu seiner letzlich vollzogenen
ziemlich gloriosen Wiederauferstehung aus jahrelangem Schweigen
- lange Jahre immer wieder jegliche
Erwartung durchkreuzt. Selbst die
von Menschen, die einfach nur gute
Musik von ihm erwarteten. Camper Van Beethoven haben seit ihrer
Wiedervereinigung nur selten den
Weg in Plattenstudios gewählt. Und
wenn sie das taten, kam jedes Mal
eine Überraschung heraus. Zuletzt
eine Rockoper voller Zorn auf die
Zustände in Bush-Amerika. Und
auch diesmal sind manche wieder
schockiert. Denn plötzlich sind
die Herren musikalisch ganz in ihrer kalifornischen Heimat gelandet
mit Ausflügen in Country-Rock,
31
David Migden & The Dirty
Words - Killing It
Für die meisten Leute, die in Little Rock, Arkansas, leben, dürfte
der Traum ihres Lebens vermutlich
nicht sein, los zu ziehen und sich in
Whitstable, Kent, im Vereinigten
Königreich nieder zu lassen. Wobei
hier nichts gegen Whitstaple gesagt
werden soll. Aber das ist die Route, die von einem Teenager namens
David Migden zurück gelegt wurde,
und wir sollten froh sein, dass dies
geschah. Denn nun haben wir das
außerordentliche Vergnügen in Gestalt von David Migden & The Dirty Words, einer der heißesten Tipps
der britschen Musikszene wenn es
um schützenswerte Musikstile geht.
Dies ist das zweite Album der Band,
Nachfolger für „Second Hand Tatoo“, obwohl ich das, wie ich zugeben muss, verpasst habe. Nachdem
ich vor einiger Zeit auf den Song
„Killing It“ hingewiesen wurde, begann ich weiter zu forschen und bin
froh, dass ich das tat.
So, wie beschreibt man am besten
den Sound für die, die die Band
noch nicht gehört haben? Da sind
ganz verschiedene Zutaten im Mix.
Blues, Funk, Soul, Rock. Die Band
selbst sagt, es handele sich um „twisted American roots“, und die wissen
es vielleicht am besten. Aber egal,
© wasser-prawda
Platten
man kann das Ganze getrost unter
„Großartige Musik“ einsortieren.
Los geht das Album mit dem Titelsong, einer ziemlich dreckigen
Funknummer, die dich sofort ins
Bild setzt. Man bekommt sofort
mit, was für eine markante und
großartige Stimme David hat und
außerdem, dass die Dirty Words
eine klasse Band ist. Mit der zweiten Nummer „The Blues“ wird das
Level gehalten. für mich ein echtes
Highlight mit einem ausgedehnten
Gitarrensolo zum Schluss.
„Old Joe“ kommt als nächstes, ein
ziemlich enstpanntes und sanftes
Lied mit einigen netten Bläserstellen. Und es leitet über in „Shel Silverstein“, den ersten von zwei längeren Tracks, der die Stimme Migdens
in den Vordergrund stellt. Das
Stück hat eine schöne Melodie und
erzählt eine gute Story, wo sich das
Zuhören wirklich lohnt. Und dann
ist da „D.A.W.T.P.W.M?“. Um zu
kapieren, worum es in dem Lied
geht, muss man wirklich das Textheft zu Rate ziehen! Klar und deutlich ist hier der Einfluss von Prince
zu hören mit funkigen Rhythmen,
einer tollen Horn-Section und einigen extrem in die Höhe geschraubten Gesangslinien im Chorus.
Als nächstes kommen wie zu „Rev.
Jack Crow“, einem langsamen Lied
mit einem überraschend plötzlichen
Ende. Lied Nummer 7 ist vielleicht
das Zentrum des ganzen Albums:
mehr als sechs Minuten dauert
„Heaven“. Und ich versuche gar
nicht erst, dieses Lied zu beschreiben. Es ist besser, wenn jeder das
für sich selbst entdeckt. Und dafür empfehle ich, das Lied mit geschlossenen Augen und Kopfhörern
anzuhören.
Eigentlich muss man hier die Band
als Ganzes erwähnen. Joe Gibson
macht mit seiner Gitarre zu jedem
Zeitpunkt das Richtige, jede Note
der Keyboards von Graham Mann
stimmt. Die Rhythmusgruppe mit
Bassist Phil Scragg und James Sedge
(dr) liefern zu den verschiedenen
Stimmungen des Albums immer
das passende Gerüst. Und David
und Graham liefern uns außerdem
noch die Bläserklänge.
Mit „Admiral“ macht das Album
dann sogar noch einen Ausflug in
Country-Gefilde - und auch der gelingt ausgesprochen nett, bevor mit
„Desert Inside“ der vielleicht „bluesigste“ Song überhaupt kommt mit
einem regelrechten Gospelfeeling
im Refrain. Und dann leiten Bass
und Schlagzeug mit einem coolen
Groove den ultimativen Abrocker
„I Can‘t See Her Face“ ein, einer
meiner Favoriten auf diesem Album. Und dann kommt mit „The
Line“ ein zärtliches Ende: Eine
Hymne zum Armeschwenken mit Folk-Pop für verträumte Stunden
allein in einer fast leeren Bar.
Feuerzeug.
Und um das Ganze zusammenzufassen: Gibt es etwas, was man hier
nicht mögen könnte? Eigentlich ist
was für jederemann dabei - und für
jede Stimmung auch. Eine große
Stimme, großartige Band und angenehme Typen. Vielleicht sollte ich
doch nach Whitstable ziehen!.
Dave Watkins
Jake Bugg - Jake Bugg
David Philips - December
Wine
Auf
seinen
Vorgänger-Album
„Rooftop-Recordings“ hatte der
britische Songwriter seiner Wahlheimatstadt Barcelona mit ihren
Geräuschen die Background-Vocals
überlassen. Auf „December Wine“
spielt er ganz alleine seine melancholischen Folksongs. Entstanden
sind die Songs mit einem alten
4-Spur-Recorder von Tascam.
Schon immer haben auf mich die
Songs von David Philips den Eindruck gemacht, auf das Wesentliche
reduziert zu sein: stille, verführerische Lieder über den Alltag in einer großen Stadt. Und eigentlich
braucht es dafür nicht viel mehr als
seine Stimme und die jeweilige Gitarre seiner Wahl. Wenn es danach
geht, dann ist „December Wine“
regelrecht schwelgerisch produziert: Was die vier Spuren des nostalgischen TASCAM hergaben, hat
Philips ausgenutzt für Rhythmus,
notfalls paar Effekte und was ihm
noch so alles einfiel. So entwickeln
Hymnen wie „Life on the Wing“
oder der das Album eröffnende
„Sailor‘s Song“ einen melancholischen Sog, dem man sich nach kurzer Zeit nicht mehr entziehen mag.
„December Wine“ ist eines der Alben, die man guten Freunden weiterempfiehlt in der Hoffnung, dass
so etwas Schönes irgendwann mal
raus aus der Ecke der Geheimtipps
kommt.
Nathan Nörgel
Dream Catcher - Irish Nights
Der Name ist Programm. Allerdings erwartet den Hörer von „Irish
Nights“ keine Nachr seliger Guinness-Drunkenheit mit Folk-Rock
im Gefolge der Dubliners oder
gar der Pogues sondern feinsiniger
Nein, ich kann diese Band einfach
nicht als „Pirates of Celtic Pop“ betrachten, wie mir das PR-Material
vorschlägt. Piraten sind rauh, ruppig - vielleicht im Gefolge von Johnny Deep auch mal hemmungslos
verschroben. Dream Catcher sind
versponnene Träumer, keine Räuber, die ihren Raub irgendwo verstecken und nur sich selbst in ruhigen
Momenten dran erfreuen. Die Band
um den Luxemburger Frontman Sir
John Rech (das Großherzogtum hat
ihn 2011 tatsächlich zum Ritter
geschlagen) singt Lieder, die eher
an Songwriter wie Ezio (mit dem
man auch schon zusammenarbeitete) oder den keltischen Klassizismus
der Chieftains oder besser noch:
eine Mixtur von beiden erinnern.
Das ist (auch wenn ein Song tatsächlich „Fuck Off“ heißt) immer
sehr verbindlich und freundlich, ob
es sich nun um Selbstreflexionen,
die verschwindenden Erinnerungen
an eine Liebe oder die stille Zufriedenheit in der Stille des eigenen
Baumhauses handelt. - Wenn ich
etwas weniger milde gestimmt wäre
als ich nach einer Stunde dieser
Musik gerade bin, könnte ich mir
jetzt wahrscheinlich einen Begriff
wie Folk für Latte-Macchiato-Trinker und ihre Zahnarztfrauen nicht
verkneifen. Aber ehrlich: selbst die
haben etwas wirklich gute Musik
verdient... Doch spätestens bei dem
tatsächlich losrockenden „When
We Were Young“ wären diese dann
doch überfordert.
Für Irish Nights verstärkte sich
das Trio (neben Rech noch Christoph Brill - g und Wolfgang Wehner - v) noch mit den Mitgliedern
der irischen Band Beoga. Und das
ist eine wunderbare akustische
Mixtur, wo die keltischen Wurzeln
nicht freibeutermäßig geplündert
sondern liebevoll in eigene Träume übersetzt werden. Oder auch in
die von Ezio (30 & Confused kam
mir doch gleich bekannt vor...), was
aber auch passend ist. Veröffentlicht
wird „Irish Nights“ am 1. März
auf T3 (Vertrieb: Galileo Music
Communication/Finetunes).
Raimund Nitzsche
32
Grad 18 geworden und schon Kritikerliebling nicht nur im Vereinigten
Königreich. Aber wer glaubt, hier
wieder mal der Hype-Maschinerie
der britischen Presse aufgesessen zu
sein: Jake Bugg hat ein Debütalbum
vorgelegt, mit dem er ziemlich jedes
Lob rechtfertigt.
Auf dem Singlecover zur letzten
Auskopplung „Lightning Bolt“
macht er es ohne jeglichen Ironieanflug deutlich: Vorbild von Jake Bugg
ist Bob Dylan. Der junge Dylan der
Folkszene von New York. Und bei
einem Briten muss man auch sagen:
Lonnie Donnegal - denn nicht nur
manchmal hört man in seinen Liedern den Widerhall der klassischen
Skiffle-Zeit der 50er Jahre. Obwohl
Bugg als Songwriter nur manchmal
diesen reinen Folk oder Skiffle serviert. Hier kommt es auf die Haltung an. Der junge Dylan, der von
seiner Mission überzeugt ist und
geniale Songs quasi über nacht aus
dem Handgelenk schüttelt und sich
über den Zuspruch vielleicht insgeheim gewundert hat.
Bugg ist für seine Jugend ein verdammt großartiger Songwriter.
Nicht nur der wunderbare, das
Album eröffnende „Lightning
Bolt“, auch Rocker wie „Taste It“,
schamlose Popsongs wie „Two Fingers“ oder Akustiknummern wie
„Country Song“ kommen mit einer Selbstverständlichkeit und einer
Reife daher - und gleichzeitig mit
einem Selbstbewusstsein, das einen
immer aufs Neue verblüfft. Das ist
Musik, die hemmungslos retro ist,
das sind Songs, die ganz und gar in
der britischen Songwritertradition
etwa von den Kinks oder Paul Weller stehen. Und man kann irgendwann nur noch die Frage stellen:
Was kann man in den nächsten Jahren noch von Jake Bugg erwarten?
Absolut überzeugend und niemals
langweilig.
Raimund Nitzsche
Jake Lear - Diamonds And
Stones
Die Gitarre heult auf, die Rhythmen
stampfen - man glaubt sich in den
gleichen Schuppen versetzt, in dem
Buddy Guy vor Jahren sein großartiges Album „Sweet Tea“ eingespielt
© wasser-prawda
Platten
hat: Rauer Juke Joint Blues erwartet einen, wenn „Diamonds And
Stones“ losgeht. „Strange Things“
ist eine umwerfend gute und packende Bluesnummer. Jake Lear ist
ein Sänger und Gitarrist, der weder
technische Mätzchen braucht noch
seine Gitarre durch diverse Effekte
aufpolieren muss. Direkt und ungefiltert kommt seine Strat daher. Und
Roy Cunningham am Schlagzeug
und Basser Carlos Arias unterstützen ihn auf „Diamonds and Stones“
bei einer Rundreise durch die Spielweisen einer Musik, die ein Kollege mangels Ideen als elektrifizierten
Folkblues bezeichnet hat.
Was er damit eigentlich meinte
(denn die Spielweisen des akustischen Folkblues werden hier eher
seltener dekliniert) ist folgendes:
Lear spielt den Blues mit einer
Rauhheit und Intensität, die keine
Rücksicht auf Begriffe wie „Radiofreundlichkeit“ nimmt. Er spielt
und singt den Blues in der Nachfolge eher von Howlin Wolf oder
Hound Dog Taylor als von B.B.
King. Und damit ist er - um etwas
aktuellers Namedropping zu praktizieren - näher an den White Stripes
oder Bob Dylans letzten Alben dran
als an Joe Bonamassa oder Tommy
Castro.
Im Laufe des Albums dekliniert
er sich durch die verschiedensten
Spielweisen des elektrischen Blues,
ohne jemals nur in die Nähe aufgesetzter Rockermanie zu geraten:
John Lee Hooker wird mit einer
stoisch dahinrollenden Version von
„Jack O‘Diamonds“ gewürdigt.
Düsterer Swampblues verbirgt sich
hinter dem Titelsong. Und aus Junior Wells‘ „Work Work Work“ wird
gar ein knochentrockener Boogie
mit texanisch angehauchten Surfgitarrenklängen. Und das abschließende „Boogie Time“ ist genau das:
ein zum Tanzen zwingender Gitarrenboogie mit glasklaren Linien von
Lears Strat: kalt, glänzend und gut.
Nathan Nörgel
Jason Vivone and the Billy
Bats - Lather Rinse Repeat
Es geht los mit einem HookerBoogie auf der Cigar-Box-Guitar:
stoisch und trocken der Groove,
waidwund die Stimme von Jason
Vivone. Doch wer sich jetzt auf eine
ernsthafte Bluesscheibe eingerichtet
hat, wird schnell eine Überraschung
erleben. Denn Vivone hat einen
ziemlich durchgeknallten Humor,
was man an Texten wie dem zu
„Baby Fat“ erkennt. Und auch sonst
geht ihm und seinen Billy Bats eine
gute Show immer auch über Vielfalt
und Humor.
Manchmal fragt man sich bei „Lather Rinse Repeat“, ob uns die
Musiker bewusst durch scheinbare Kitschattacken oder auch durch
eine rumpelnde Performance foppen wollen. Und schon sind wir
ihnen auf den Leim gegangen. Jason Vivone mag als Vorbilder so
viele bekannte Namen wie Buddy
Guy, Hubert Sumlin oder Son Seals
aufzählen: In seiner Performance
und seinen Songs ist er nicht nur
ein wenig auch von Musikern wie
Captain Beefheart und Frank Zappa beeinflusst. Sein Blues ist hier
mehr Show-Musik für seine Comedy-Show als von Herzen gefühlter
Weltschmerz. Und wenn er dann
über die Schiffe bei der ersten Reise von Columbus oder flüssige (alkoholreiche) Diätpläne singt, dann
ist das lustig bis zum Abwinken.
Und unterhaltsamer als die meisten
der Songs, die mit „Woke Up This
Morning“ losgehen. Aber jeden Tag
kann ich soviel Spaß nicht ertragen. Aber ich lese auch nicht täglich
Mark Twain.
Nathan Nörgel
Der Romantiker in mir ist spontan
begeistert: Dieses Schmelz, diese
eingängigen Melodien, diese Stimme eines für den Posten Schwiegermutters Liebling des Jahres prädestinierten Sängers: Hach, tut das
gut, sich einfach fallen zu lassen in
wohlig perfekte Popsongs mit gehörigem Soulgroove! Willkommen im
Kreise von Musikern wie Eli „Paperboy“ Reed, Mayer Hawthorne und
anderen.
Der Krtiker fragt natürlich: Passiert hier - selbst im Kontext einer
eng begrenzten Retro-Szene - etwas,
was unerhört wäre, etwas aufregend
Neues? Nein - überhaupt nicht. Jesse Dee schreibt nette kleine Songs
über Alltagsgeschichten, verpackt
sie in herzerwärmende Melodien,
packt Gitarren und Bläserriffs dazu,
Chöre und was ihm noch so alles
einfällt: Das Ergebnis ist in jedem
Fall erfreulich und gut - aber wirklich nicht neu. Aber was soll‘s? Ein
Kollege meinte letztens bei einem
anderen Album: Manchmal sollte
man einfach mehr dem Herzen folgen und weniger dem analytischen
Verstand. Und das Herz meint: Prima, ich liebe dieses Album! Ich will
endlich mal wieder Popsongs hören,
denen man nicht die Fließbandfertigung im Computer anhört, die
noch in Handarbeit von echten
Musikern gespielt werden und die
ein Niveau haben, dass in den Hitparaden seit Jahren viel zu selten
vorkommt. (Alligator/in-akustik)
Nathan Nörgel
Bücher. Aber eigentlich ist Kinky
Friedman noch immer so ziemlich
der coolste Country-Songwriter
nicht nur im großartigen Staate
Texas. Bevor er bald für ein paar
Konzerte mal wieder in Europa gastiert, hat er ein Live-Album auf den
Markt geworfen.
Ein Mann mit seiner Gitarre und
einem Haufen Lieder, die man
schon aller irgendwann mal gehört
zu haben glaubt. Zwischendurch
trockene Bemerkungen über die
Hintergründe der Geschichten,
über Politik und Willie Nelson und
Alkohol. Die Zuhörer glauben in
einer Comedy-Show zu sein. Doch
eigentlich passiert hier etwas anderes: Hier ist ein alt aber nicht verbittert gewordener Barde zu erleben,
der sich endlich wieder darauf besonnen hat, was er am besten kann:
Geschichten erzählen, hinter deren
zynischem Humor schmerzende
Wahrheiten verborgen sind. Kinky
Friedman ist zurück - und er hat
ähnlich wie Bob Dylan einige der
gut abgehangenen Gassenhauer wie
„Waitret, Please, Waitret“ oder „Get
Your Biscuits In The Oven“ mitgebracht und aktualisiert. Denn so
viel hat sich die Welt nicht geändert
seit er mit Dylan durch die Lande
zog und mit seinen Texas Jewboys
Rednecks und Feministinnen gleichermaßen erboste. Zwischendurch
gibt es dann lyrische Kostbarkeiten
wie das Levon Helm gewidmete
„Autograph“ oder eine Lesung aus
Friedmans Buch über seine texanischen Helden. Ausgewählt hat er
dafür eine Geschichte über seinen
Vater unter dem Titel „Tom Friedman The Navigator“. Und als Fazit
bleibt dann nur ein Lied wie „Sold
American“ - das ist das Fazit über
die USA, wie es nur dieser Jude aus
Texas ziehen kann. Oh was gäbe
ich darum, wenn es mehr solcher
Songwriter gäbe, die so gültig und
gleichzeitig unendlich witzig und
unterhaltsam die Gegenwart auf
den Punkt bringen könnten!
Raimund Nitzsche
Jesse Dee - On My Mind, In
My Heart
Von Alligator Records hätte man
dieses Album eigentlich nicht erwartet: „On My Mind, In My Heart“
des Bostoner Songwriters Jesse Dee
ist feinster Retro-Soul-Pop. Und
auch wenn das eigentlich nicht zum
Motto des Labels passt: Dieses Album ist eine große Empfehlung für
die immer weiter wachsende Gemeinde neuer Soulsongs im Sound
der 60er und 70er.
Kinky Friedman - Bi-PolarTour live from Woodstock
Demnächst will er zum zweiten Mal
für den Gouverneursposten in Texas
kandidieren. Daneben vertreibt er
Zigarren, Tequilla und GourmetKaffee übers Internet oder schreibt
33
Kris Kristofferson - Feeling
Mortal
Er ist 76 Jahre alt und denkt ohne
Reue und Selbstmitleid über das
Alter, das Leben und über den Tod
nach. „Feeling Mortal“ ist seit 2006
das dritte von Don Was produzierte
© wasser-prawda
Platten
Album von Kris Kristofferson. Und
in seiner Intensität kommt es schon
fast an die letzten Alben von Johnny
Cash heran.
In seiner Jugend habe er so ziemlich
alles getan, um zeitig zu sterben, erinnert sich Kristofferson. Aber weder Suff noch Motorradunfälle oder
was ihm noch immer einfiel, brachte ihn um. Jetzt ist er tatsächlich
ein alter Mann, kein best-ager, kein
Silver-Surfer oder welche Begriffe
die Industrie auch immer in die Debatte werfen mag: Er weiß - und wir
hören es: Er ist ein alter Mann. Die
Kraft mag schwinden, doch die Erinnerungen sind da, die Erinnerung
an ein voller Kraft und Exzess gelebtes Leben. Und jetzt diese Einsicht:
Es ist Zeit, Rückschau zu halten, ein
Resüme zu ziehen, Und dazu gehört
nicht nur, dass man sich neu mit
diesem Gesicht anfreundet, was einem aus dem Spiegel entgegenblickt
und einem das Selbstbewusstsein
erschüttert. Auch ist das der Punkt,
wo man andern deutlich macht:
Das ist mein Leben, das waren meine Entscheidungen - und Du hast
einfach kein Recht drauf, mir vorzuschreiben, was ich tun und lassen soll. Auch wenn der Stairway
nicht mehr wie damals hoch in den
Himmel zu gehen scheint sondern
eher ganz nach unten in den Keller:
Auch das sind Fakten, mit denen
man sich arrangieren muss.
Nein, das ist kein bequemes Album.
Weder für den Sänger (so vermute
ich mal als Hörer) - noch für die
Hörer: Einer Lebensbilanz zuzuhören, die so ehrlich und direkt daherkommt, das kann weh tun. Aber
das ist es, was „Feeling Mortal“ aus
der Vielzahl von Country-Alben heraushebt, die ich nach kurzem Hören wieder beiseite lege. Das hier ist
eines dieser Alben, die einen lange
begleiten können, die einem beim
Nachdenken über Gott und die
Welt eher helfen können als noch so
perfekt jubilierende Popmelodien
aus dem Reich der scheinbar ewigen
Jugend.
Raimund Nitzsche
voller Kneipenpoesie: „Leo Hull ist
ein großartiger Geschichtenerzähler.
Lasst uns einfach ne Party feiern,
das Leben mag zeitweise hart erträglich sein. Aber jetzt hier und heute
sitzen wir hier am Tresen, das Bier
ist kalt und die Musik lädt zum Tanzen ein. Und wenn man sich dann
doch nicht traut, lauscht man eben
den Geschichten, die der Sänger
erzählt vom Leben auf den Nebenstraßen des Lebens. Von den geplatzten Träumen der Möchtegernschauspielerin, die jetzt ihr Geld auf
dem Rücksitz von Autos verdient,
von der „Red Hot Mama“, die man
erstmal herunterkühlen muss, bevor
man sich ihr nähern kann. Oder von
den Liebesschwüren der Frau, die
ihn einlädt nach Hause und Frühstück mit Mama verspricht. Was bei
ihm den Reflex auslöst, doch lieber
das Weite zu suchen. Und überhaupt die Frauen: mit Gitarren und
mit Whiskey ist es einfacher. Man
hört sofort die falschen Töne. Und
man weiß, warum es einem schlecht
geht.
Leo Hull, im Untertitel seines jetzigen vierten Albums als „The Texas
Blues Machine“ angekündigt, erzählt viele solcher Geschichten und
serviert sie mit Blues, mit Country,
mit Boogie - und vor allem mit viel
Liebe. Nein, er macht sich nicht lustig über die gescheiterten Existenzen. Er fühlt sich ihnen nahe und
setzt ihnen in den Liedern Denkmale. „Bootleggin‘ The Blues“ ist für
Bluesfans, die auch Gedichte von
Bukowski lieben.
Raimund Nitzsche
Lucky Peterson Band - Live
At The 55 Arts Club Berlin
Eine Bluesshow zwischen Chicago
und Soul, zwischen Funk und purer Spielfreude: Im Berliner 55 Arts
Club hat Lucky Peterson sein erstes
offizielles Live-Album eingespielt.
Unterstützt wurde er dabei unter
anderem von seiner Frau Tamara als
Sängerin.
Ein Live-Album wie geschaffen für
das Lehrbuch: Eine mitreißende
Show von Anfang bis Ende, mit
klaren Spannungsbögen und wenig
Zeit, in der der Hörer zum NachLeo Hull - Bootleggin‘ The
Blues
denken und Reflektieren kommen
Musik zwischen bluesigem Country könnte. Und eine Stilvielfalt, die
und rauhem Texas-Blues mit Texten niemals Ermüdung aufkommen
lässt: Lucky Peterson ist ein Bluesmaster im wahrsten Sinne des Wortes: Einer, der das Publikum von der
ersten Note an einbezieht, der seinen
Blues auf sie überträgt und sie zum
Teil einer Gemeinschaft macht.Dass
er sowohl als Gitarrist wie auch als
Hammond-Organist herausragend
ist, das ist seit Jahrzehnten kein Geheimnis mehr. Und auf dem sowohl
als Doppel-CD wie auch als LuxusEdition mit drei DVDs zusätzlich
veröffentlichten Album zelebriert
er beides in ausladender Weise: Ob
er in Medleys die gesamte Bluesgeschichte Revue passieren lässt, ob
er Klassiker des Chicagoblues wie
„Little Red oder eigene Songs aus
der Zeit seines Albums „I‘m Ready“
aus den 90er Jahren spielt: Das ist
ein Konzert wie aus einem Guss.
Seine Band liefert gewaltigen Druck
und legt mitreißende Grooves zwischen Funk und Juke Joint Blues.
Wenn dann noch Tamara Peterson
als Sängerin die Bühne betritt, dann
wird die Spannung noch spürbarer.
In Stücken wie „How Do I, Why
Do I“ fühlt man die Liebe zu ihrem
Mann. In „Been So Long“ gibt es
ein mitreißendes Duett zwischen
beiden. Und in ihrer gemeinsamen
Fassung von Prince‘s „Kiss“ wird
dessen Funk auf die Ebene des rauhen, elektrifizierten Country-Blues
geholt. Und Petersons Gitarre liefert
dazu Linien von rauher Schönheit.
„Live At The 55 Arts Club Berlin“
ist ein großartiges Live-Album.
Wer sollte das 2013 noch toppen können? Ich lasse mich gerne
überraschen.
Nathan Nörgel
Matty Powell - Kiss The City
Der kanadische Songwriter Matty
Powell hat mit „Kiss The City“ ein
Album veröffentlicht, dass so richtig
danach verlangt, an leisen Abenden
einem ein verträumtes Lächeln aufs
Gesicht zu zaubern. Die ruhigen
und melancholischen Songs singen
von idealen Zeiten - ob mit der
Geliebten unten am Bach im Wald
oder mit der Zigarette allein beim
Zaubern von Rauchringen. Manchmal taucht aus den Gitarrenlinien
etwas spanisches Temperament auf.
Oder man wähnt sich mit Matty gemeinsam irgendwo in einem
34
Western von John Wayne gelandet
zu sein. Nein: Matty Powell macht
keine Revolution mit seiner Musik,
er bringt einen auch nicht zu wilden
Tänzen um den Couchtisch. Aber es
ist schön, den Abend allein mit einem Lächeln zu beenden und nicht
mit Traurigkeit.
Nathan Nörgel
Max Raabe - Für Frauen ist
das kein Problem
Nachdem „Küssen kann man nicht
alleine“ so ein großer Erfolg war,
lag eine erneute Zusammenarbeit
zwischen Max Raabe und Annette
Humpe auf der Hand. „Für Frauen
ist das kein Problem“ ist in seinen
melancholischeren Momenten ein
würdiger Nachfolger.
„Ich bin nur gut wenn keiner
guckt“ oder „Als ich dich wollte“
sind wunderbar, traurig und voller
Humor und Augenzwinkern. Doch
leider finden sich bei den dreizehn
Liedern zu viele, denen der typisch
vreschmizte Charme Raabes fehlt
und die zu sehr in Richtung ZDFFernsehgarten oder Schlagerradio
schielen.
Den Stücken fehlt das gewisse Etwas, dass Raabes Lieder mit dem
Schlager der 20er bis 40er Jahre
verbindet. Und das ist ebenso schade wie die breiten Streicherteppiche nerven. Noch dazu klingen sie
oft nach synthetischen Konserven.
Gebt mir das Palastorchester zu Liedern wie „Ist doch nur ein Gefühl“
oder „Kleine Lügen“ und ich urteile
wahrscheinlich ganz anders... Aber
so: Es bleibt eine gewaltige Enttäuschung zurück, die auch die guten
Lieder nicht aufwiegen können.
Nathan Nörgel
Mockingbird Hill - One Horse Town
Das Cover von „One Horse Town“
mag anmutend wie aus einem Gothic-Western in einer Geisterstadt.
Doch das Debüt des Studioprojekts
Mockingbird Hill spielt sich höchst
lebendig ab zwischen CountryBlues, Jazz und heftig rockenden
Nummern. Songwriter Andy Littlewood hat hierfür eine große Zahl
befreundeter Musiker aus England
und Schottland versammelt.
© wasser-prawda
Platten
bis zum letzten der Blues aus vollem Herzen zelebriert. „One Horse
Town“ ist eine angenehme Neuentdeckung aus Großbritannien
- empfehlenswert!
Nathan Nörgel
Manche Alben sind wie eine Einladung zu einer Entdeckungsreise.
Da kann es planmäßig in Richtung
eines Ziels gehen etwa auf der Suche nach dem perfekten Popsong
oder dem ultimativen Bluessound.
Andere dieser Expeditionen - und
hier gehört „One Horse Town“ hin
- ähneln einem neugierigen Kreuzzug quer durch bekannte und unbekannte Gegenden. Und was man
unterwegs findet, wird in entsprechenden Songs festgehalten und als
Reiseandenken aufbewahrt.
Andy Littlewood ist ein Songwriter,
der sich hörbar in den verschiedensten Stilen wohlfühlt und sich entsprechend nicht wirklich festlegen
lassen will. Ob er mit Train a Comin einen weiteren Beitrag für die
unendliche Sammlung von TrainSongs im Blues (mit Harp in diesem Fall) liefert, Reminiszenzen an
Old School Rocker wie Thin Lizzy
in „Son Of A Gun“ loslässt oder gar
poppigen Jazz für den Fahrstuhl ihrer Wahl („Lady Sings The Blues“
- für mich trotz der wundervollen
Stimme von Sängerin Malaya einer
der schwächsten Songs) serviert: all
dass ist - auch wenn man es manchmal kaum glauben möchte - von
einem Menschen geschrieben. Hier
merkt man, dass er als Sonschreiber
für so unterschiedliche „Kunden“
wie Maxi Priest, Starship, Keathy
Sledge oder für diverse Filme gearbeitet hat.
Man mag jetzt einwenden, dass
so eine an Beliebigkeit grenzende
Vielfalt einem Album selten gut
tut, aber zumeist sind Littlewoods
Songs gut bis großartig. Nehmen
wir etwa die mehr als sechs Minuten lange Klage über die Schwierigkeiten, vom Alkohol los zu kommen („My Friend Is The Bottle“):
das ist auf den Punkt eindrücklich
und gemeinsam mit dem schottischen Gitarristen und Sänger Michael John McElligott quälend intensiv serviert. Bluesrock a la carte!
Oder die Streifzüge zwischen die
Ursprungsregionen des Blues zwischen Louisiana (In The Name of
the Blues), dem Mississippi-Delta
oder einem zeitgenössischen Bluesclub (Perfect Stranger): hier wird
nicht gepost oder vordergründig auf
Applaus geschielt sondern intensiv
Murali Coryell - Live
Sein Vater Larry genießt als Jazz-Gitarrist Weltruhm. Doch Murali Coryell hat sich schon früh für Blues
und Bluesrock entschieden. Seine
Gitarre klingt wahlweise funky wie
zu besten Stax-Zeiten, rockt wie es
für einen Texaner angemessen ist
oder singt wie eine Hommage an
Jimi Hendrix. Zwei Konzerte aus
den Jahren 2012 und 2010 hat er
auf der CD/DVD-Kombination
„Live“ zusammengefasst und beim
eigenen Label Shake-It-Sugar-Records veröffentlicht.
Der Opener ist das Motto, was
über dem Auftritt im Club Helsinki in Hudson (New York) Ende Juli
2012 stand: „In The Room With
Jimi“. Auch wenn Murali Coryell
bei weitem keiner dieser zahllosen
Hendrix-Kopisten ist - als großes
Vorbild steht er doch immer irgendwie mit im Raum, wenn heute jemand Blues auf der E-Gitarre
spielt. Keiner hat deutlicher vorgelebt, wie man dieses Instrument
mit allen seinen technischen und
technologischen Möglichkeiten und
Begrenzungen für seine Kunst nutzen kann. Mit Jimi im Raum sind
bei Murali aber immer auch andere
musikalische Heroen: Marvin Gaye
oder Sam Cooke als Soul-Prediger,
aber auch Zeitgenossen wie der mit
ihm befreundete Joe Louis Walker.
So sind die elf Songs, die Murali
mit seiner Band (Dorian Randolph - dr,voc; Vince Leggiere - b; Bill
Foster -g; Stacey Waterous - sax,voc;
Cameron Melville - org) dem Publikum serviert eine Fusion aus all
diesen großen Vorbildern unter
dem großen Label „Blues“. Blues
mit jeder Menge Soul, mit rockigen
Ausbrüchen und lyrischen Meditationen. Seine Gitarre geht flexibel
auf die Stilwechsel ein, ohne ihren
prägnanten Ton jemals zu verleugnen. Das, liebe Gemeinde, nennt
man; ein meisterhaftes Blueskonzert
von einem Gitarristen, der mit Walker, Tommy Castro oder anderen
hochgepriesenen Helden der Bluesgegenwart locker auf einer Stufe
spielen kann. Nur dass ihn außerhalb New Yorks noch viel zu wenige
Menschen kennen. Und wenn dann
höchstens von dem gemeinsam mit
Vater und Bruder für Chesky Records eingespielten Akustikalbum.
Aber das ist eher ein - sehr schönes,
zugegebenermaßen - Nebenprojekt.
Murali Coryell‘s eigentliches Metier
ist der elektrische Blues, das Spiel
mit Jimi und all den anderen Helden als Zeugen im Raum.
Wenn heutzutage oftmals LiveAlben gleichzeitig auch als DVD
beigelegt werden, dann ist das eine
nette Entwicklung, die mir eigentlich nicht so wichtig ist. Ich nehme
auch ein Konzert mehr mit den Ohren als mit den Augen wahr. Hier
aber entgeht einem etwas, wenn
man die DVD nicht einlegt. Denn
darauf ist ein ganz anderes Konzert
mit einer fast komplett anderen
Liste von Songs. Gefilmt wurde
Coryell‘s Auftritt beim The Roots &
Blues Festival 2010 in Salmon Arm
(BC). Auch hier gilt obiges Fazit wer nicht zuhört und das Staunen
lernt, der braucht wahrscheinlich
einen guten Hörgeräteakustiker.
Das kann dann entweder am Alter
liegen oder daran, dass man zu häufig lärmenden Zeitgenossen wie Joe
Bonamassa zugehört hat. Wer allerdings in den Genuss dieser Zugabe
kommen will, kommt um einen
sündhaften Preis von um die vierzig
Euro nicht herum - beim Download
der Albums als mp3 bekommt man
nur das erste der Konzerte geliefert.
Nathan Nörgel
Und wenn man zynisch sein will,
dann nickt man mit dem Kopf: Vergiss diese Romantik, lass Dir bloß
nicht vorspielen, hier könnte man
einem Menschen begegnen in Liedern - nein, man begegnet einem
Sänger, einem Künstler, jemandem,
der mit seiner Musik vor allem gehört werden will und der Geld
braucht, um Rechnungen zu bezahlen. Ob das mit persönlichen oder
geheuchelten Statements passiert:
Völlig egal! - Kunze hätte das über
diese Sammlung von so wunderbar
einprägsamen und freundlich dahin perlenden Liedern geschrieben
haben können. Diese Sängerin ist
gefährlich, wenn Du anfällig bist
für Romantik. Sie nimmt Dich gefangen in einer Welt, wo scheinbar
das Gute gewinnen kann. Sie bezirzt
Dich mit Meldodien, die einen mal
an die junge Joan Baez, mal an Rebecca Pidgeon oder eine zur FolkGöre bekehrte Björk erinnern. Sie
ist gefährlich. Hör ihr nicht zu.
Und jetzt das Ganze nochmal aus
der Sicht des hoffnungslosen Romantikers: „Sudden Elevation“
ist ein Album voller wundervoller
Songs, in denen man sich verlieren
kann. Ólöf Arnalds hat einen Zyklus irgendwo in einem Haus in der
isländischen Wildnis aufgenommen, das einem im naßgraukalten
Februar den aufgesetzten Humor zu
vieler Faschingssendungen auf den
Ohren bläst mit einer Sanftheit, die
unerträglich wohltuend ist. (One
Little Indian/Rough Trade)
Nathan Nörgel
Petra Haden - Petra Goes To
The Movies
Ólöf Arnalds - Sudden Eleva- Man sollte mal wieder ins Kino gehen... Wenn Sängerin Petra Haden
tion
Heiter bis melancholisch, immer
zwischen
mädchenhaft-verspielt
und von einer freundlichen Weisheit getragen sind diese Folksongs:
„Sudden Elevation“ von der isländischen Songwriterin Ólöf Arnalds
ist ein Fest für Freunde traumhafter
Songlandschaften.
„Glaubt keinem Sänger“, verkündete Heinz Rudolf Kunze in den
80ern. Glaubt ihnen nicht - diese
Lieder, die einen in seiner eigenen
Sehnsucht und Melancholie abholen, die sind zutiefst geheuchelt.
35
mit ihrem neuen Album nur diesen
Wunsch im Hörer entstehen lassen
würde, hätte sie wohl ihr Ziel schon
erreicht. „Petra Goes To The Movies“ schließt an Hadens 2005 erschienene Version des Albums „The
Who Sell Out“ und liefert 16 Filmmelodien in (fast) reinen a-capellaInterpretationen zwischen Kunst
und derbem Spaß.
In der wundervoll kitschigen Romantic Comedy „The Holiday“
(„Liebe braucht keine Ferien“) gibt
es eine großartige Szene, die die
© wasser-prawda
Platten
Ausgegr aben & Wiedergehört
Jimmy „Preacher“ Ellis - The
Story of Jimmy „Preacher“
Ellis 1963-1972
Für die Reihe „The Story of“ auf seinem Label Tramp Records hat Tobias Kirmayer diesmal den Sänger
und Gitarristen Jimmy „Preacher“
Ellis ausgegraben. Grundlage des
Albums sind die Singles, die dieser
zwischen 1963 und 1972 veröffentlicht hat und die hier erstmals auf
LP und CD erhältlich sind.
Auch 2013 kann man sich darauf verlassen, dass Tramp Records
einen wieder mit erstaunlichen
Platten aus den unglaublichsten
Ecken von Soul und Funk überrascht. Den Anfang macht die Retrospektive über den 1935 in Foreman, Arkansas, geborenen Jimmy
„Preacher“ Ellis, der seit Anfang
der 60er Jahre als Solist aktiv war.
An den 18 Stücken, die Tobias
Kirmayer auf verstreut veröffentlichten Singles gefunden hat, kann
man fast exemplarisch die Entwicklung der Soulmusik bis in die Disco-Zeit nachverfolgen. Wobei Ellis
schon bei den frühen Aufnahmen
wie dem Opener „Since I Fell For
You“ oder dem 1965 veröffentlichten „Go Head On“ eine Liebe zum
knochentrockenen Funk offenbart.
Letzteres zitiert nicht nur versteckt
das im gleichen Jahr veröffentlichte
„I Feel Good“ von James Brown.
Doch Ellis nimmt nicht nur vom
Godfather Anregungen auf, auch
die Szene von Memphis um King
Curtis ist Vorbild etwa in „Put A
Hoe To My Row“. Und ab hier ist
- auch wenn in den 70ern die Instrumentalbegleitungen weicher und
jazziger werden - der Rhythmus
ganz klar und heftig der des Funk.
Und auch thematisch bewegte sich
Ellis zwischen Liebeswerben und
politischem Aufschrei ganz im
Zentrum der farbigen Musik seiner
Zeit. Wobei er seinen Spitznamen
sich nicht zu Unrecht verdient hat:
Als Sänger ist er zuweilen wirklich
auf der Kanzel, wirbt um Glauben und ein Hallelujah von der
Gemeinde. Wenn es auch nur die
Gemeinde der erschöpft im Club
tanzenden Brüder und Schwestern
war.
Auch diese Ausgabe von „The Story
Of“ ist wieder ein Pflichtkauf für jeden, der sich ernsthaft für Soul und
Funk interessiert. Hier sind Songs,
die kein bisschen verstaubt klingen, die deutlich machen, wo all
die großen Ideen herkommen, die
heutzutage Label wie Daptone neu
auf den Markt werfen. Interessieren
würde mich allerdings, wie Jimmy
„Preacher“ Ellis heute klingt. Denn
wenn man nach dem Internet
geht, dann ist er noch immer musikalisch aktiv in Texas. Vielleicht
bringt Tramp ja demnächst mal ein
Album mit neuen Stücken von ihm
auf den Markt?
Raimund Nitzsche
Johnny Ace - Ace‘s Wild!
„The Complete Solo Sides and Sessions“ verspricht die Doppel-CD,
die 2012 60 Jahre nach der ersten
Single des Sängers und Pianisten
veröffentlicht wurde.
Wenn man heute vom Memphisblues der Nachkriegszeit spricht,
dann denkt man meist fast nur
noch an B.B. King, Rufus Thomas
und Bobby Blue Bland. Doch zu
den „Beale Streeters“ gehörte in
den frühen 50er Jahren unbedingt
noch Johnny Ace hinzu, der vor
allem mit seinen sehnsuchtsvollen
Balladen zum absoluten Mädchenschwarm wurde und seine Stücke in
die Pophitparaden hieven konnte.
Als er mit 25 Jahren in einer Konzertpause durch einen selbst beigebrachten Kopfschuss starb (ob nun
durch einen blöden Unfall oder
durch Russisch Roulette ist letztlich egal aber noch immer umstritten), war eine kurze Karrier vorbei
und die Musikwelt um eine Legende reicher. Diese Story kennt man
noch heute - doch dass Ace nicht
nur als Balladensänger und Songwriter sondern vor allem auch als
Pianist des Rhythm & Blues entscheidende Bedeutung hatte, ist
halbwegs vergessen. Hier ist „Ace‘s
Wild“ eine hochwillkommene Geschichtsstunde. Allerdings sollte
man - wenn man chronlogisch vorgehen will - mit CD 2 anfangen,
auf der Ace als Pianist bei Aufnahmen von B.B. King Anfang 1952
ebenso zu hören ist wie bei Stücken
von Bobby Bland und Earl Forest:
Hier hat man die ganze als Beale
Streater oder Beal Street Boys in
den Büchern stehende Band, die
elegant swingenden Großstadtblues
spielte in einer Zeit, als in Chicago
im Gefolge von Muddy Waters mal
wieder die Wurzeln des Deltas in
den Vordergrund rückten. Doch
nicht nur B.B. King und Bobby
Bland waren damit vor allem bei
den weiblichen Plattenkäufern
und Jukebox-Tänzern erfolgreich.
Schon die erste Single von Johnny
Ace „My Song“ war für Wochen
auf Platz 1 der Charts und das Lied
wurde von zahlreichen Kolleginnen und Kollegen nachgesungen.
Ace war ein Star - und mit weiteren
Hitparadenerfolgen und ständigen
Tourneen führte das letztlich auch
zu seinem unsinnigen Tod. Am
glücklichsten war er normalerweise im Hintergrund der Bühne am
Klavier - das Rampenlicht überließ
er gerne den anderen.
49 Songs hat man zusammengetragen. Für eine Karriere, die nur von
1953 bis 1955 dauerte eine große
Zahl. Und auch wenn die eigenen
Singles von Ace dem Balladenfach
zugehören: Bei King, Bland und
Forest lässt er am Piano auch ordentlich Dampf ab.
Außerdem wurden als Bonus noch
Stücke anderer Musiker aufgenommen, mit denen sie auf seinen sinnlosen Tod reagierten. Das geht von
„Johnny Ace‘s Last Letter“ (hier
in zwei Versionen von Frankie Ervin und Johnny Fuller) bis hin zu
„Johnny‘s Stil Singing“ von The
Five Wings. Ergänzt wird das Paket
noch durch ein sehr informatives
Booklet, das unter anderem auch
die nötigen disographischen Angaben und die Besetzungen der einzelnen Sessions beinhaltet. Damit
ist „Ace‘s Wild“ eine willkommene Ergänzung der Sammlung zum
Blues und Rhythm & Blues der
50er Jahre.
Raimund Nitzsche
Slam Allen - This World!
Immer mal wieder stößt man auf
Alben, die schon vor einigen Jahren
veröffentlicht wurden, aber völlig
zu Unrecht nicht wahrgenommen
werden. Wie etwa der famose SoulBlues, den Slam Allen schon 2010
auf seinem Album „This World“
gepackt hatte.
36
Als Bandleader, Sänger, Gitarrist
und Songwriter für James Cotton
hat Slam Allen in den letzten Jahren weltweit gespielt, wurde gar für
seine Mitwirkung am Album „Giant“ für einen Grammy nominiert.
Und die Kritiker, die Konzerte des
Harpmeisters besprachen, waren
fasziniert von der Fähigkeit Allens,
jedes Publikum in kürzester Zeit zu
gewinnen mit seiner mal an B.B.
King, dann wieder an T-Bone-Walker erinnernde lyrische E-Gitarre,
Was meist verschwiegen wurde,
ist die Tatsache, dass vor den zehn
Jahren bei Cotton Allen schon jahrelang unter eigenem Namen aktiv
war und fünf Alben veröffentlicht
hatte. Dass er sich dafür entschied,
nach „Giant“ wieder alleine zu arbeiten, beweist dennoch Mut.
Nichts erinnert bei „This World“
an den neoklassischen ChicagoBlues. Von der ersten Note an fühlt
man sich zurückversetzt in die Zeit
des Memphis-Soul a la Stax und
Konsorten. Dazu passt Allens Gitarre ebenso wie seine Stimme, die
manchmal nicht nur ein wenig an
Otis Redding erinnert. Und auch
Allens Songs (acht der zehn Stücke stammen aus seiner Feder) sind
teils verführerischer, teils rhythmisch antreibender Soul, mit dem
man die Zuhörer unwillkürlich
aus den Sitzen und auf die Tanzfläche treibt. Das geht schon bei
dem Funk des Openers „Last One
To Know“ los: federne Rhythmen,
eine singende Gitarre und ein predigender Sänger, der sich beklagt,
dass man über die guten Dinge im
Leben der Partnerin immer als letzter unterrichtet wird. In „I Know
You Got a Man“ gibt er den Ehebrecher in spe ohne Angst davor,
leicht schmierig zu wirken. Von den
zwei Coverversionen ist eine schon
fast Pflicht: „Let The Good Times
Roll“. Überraschend und vor allem
ungeheuer anrührend, wie Allen
sich Tracy Chapmans „Baby Can I
Hold You Tonight“ zu eigen macht.
Zwischen routiniertem Showman
und intimen Bluescrooner - Slam
Allen zeigt auf „This World“ seine
ganze Bandbreite - großartig!
© wasser-prawda
Platten
Verbindung zwischen Filmbildern
und der Musik in der Erinnerung
auf den Punkt bringt: Jack Black
als leicht verliebter Filmkomponist
streift durch eine Videothek und
singt zu den scheinbar wahllos aus
dem Regal gegriffenen Filmen die
Musikthemen: Schon sieht man vor
dem inneren Auge den Weißen Hai
bedrohlich durch die Wellen gleiten
oder erinnert sich an Filmbilder mit
Dustin Hoffman in der „Reifeprüfung“. Ein Mann - eine Stimme und schon sind die Bilder da. Petra
Haden (Tochter des genialen JazzBassisten Charlie) hat das Konzept
im Studio aufgebohrt: Allein mit
ihrer Stimme (in kunstvollen Arrangements) erweckt sie Filme zwischen „Psycho“, „Superman“, „Taxi
Driver“ und „The Social Network“
neu vor dem inneren Auge.
Es ist eigentlich unbeschreiblich,
wie sie die komplexen Orchesterarrangements zerlegt und allein mit
ihrer Stimme neu zusammensetzt
und damit dem Original noch ihr eigenes Erleben der Filme beimischt.
Und das ist oftmals so intensiv wie
die Originalkomposition. Wenn
sie etwa den drohend pulsierenden
Sound von „Psycho“ singt, dann
wird die Duschszene gleich nochmals so bedrohlich: Hier sind keine
akademisch-gebildeten Streicher zu
hören, sondern lebendige atmende
Stimmen. Nein - zum Glück bin ich
nicht im Bad, sondern im geschützten Raum vor dem Schreibtisch.
Und John Williams „Superman“Thema bleibt der Glorienschein
erhalten - aber gleichzeitig merkt
man eben hier die menschliche
Liebe zum fliegenden Mann aus
Stahl. Und dafür braucht es keine
Fanfaren.
Manchmal allerdings reizen die
Neuinterpretationen zum Lachen:
Da singt sie - ganz die bewundernde Schülerin der großen Shirley - „Goldfinger“ voller Sex und
Grandezza. Doch ihre Version der
Orchesterbegleitung von John Barry macht klar, wie überdreht diese
Heldenschmonzette eigentlich ist.
Nur bei einigen Stücken wird das
a capella-Konzept aufgebrochen.
Etwa wenn Haden „Calling You“
aus „Out Of Rosenheim“ singt,
dann passt zu ihrer sehnsuchtsvollen Stimme wundervoll Brad Mehltaus sanftes Piano. Und Bill Frisell
steuert seine Gitarre zu „It Might Be
You“, der Liebesschnulze aus „Tootsie“ und „This Is Not America“
(„The Falcon and the Snowman“)
bei. Und hier spielt dann selbst
Papa Charlie mit und lässt seinen
Bass singen während Tochter Petra
David Bowie stolz machen dürfte.
Faszinierend ist das mindeste, was
man zu diesem Album sagen muss.
Unterhaltsam ist es ebenfalls, auch
irritierend und über weite Strecken
traumhaft schön und voller Romantik, wie man sie leider oft nur im
Kino noch erleben kann. (Anti-)
Raimund Nitzsche
ohne Unterstützung nicht aufbleiben wollen. Und auch das plötzlich lospolternde Riff-Gewitter von
„Mississippi Queen“ ist eindeutig
nicht von schlechten Eltern - wenn
auch schon ein Fall für die Bluespolizei, die hier ja sicherlich mitliest.
Selbst Ausflüge in jazzig-swingende
Nummern hat die Band um die
beiden Gitarristen Rusty und Laurie Wright neben dem erwähnten
AC/DC-Cover noch mehr zu bieten: „Handyman“ ist einfach klasse.
Und jetzt ist Schluss mit Schreiben
- Hören ist besser als Lesen!
Nathan Nörgel
Red Fox Bluesband - Come
On everybody
Swingender Jumpblues, ein wenig
Blues aus Texas oder Louisiana, ab
und an etwas Jazz in der Mixtur die Red Fox Bluesband präsentiert
auf ihrem aktuellen Album die
ganze Bandbreite ihres Repertoires.
Und das macht gute Laune und
reizt zum Tanzen. Was ja auch das
erklärte Ziel der Bremer Band um
Sänger/Bluesharp-Spieler Torsten
„Red Fox“ Rolfs ist.
Unter den 14 Stücken des Albums
finden sich leider nur 1,5 eigene
Lieder. Doch die passen hervorragend zum Rest, der zwischen TBone Walker und Sonny Landreth,
Memphis Slim und Tom Waits ein
weites musikalisches Feld abdecken.
Erhältlich ist „Come On Everybody“ über die Band direkt bzw. bei
Amazon.
Nathan Nörgel
„Sir“ Oliver Mally - Strong
Believer
Reduziert auf das Eigentliche
kommt „Strong Believer“ daher.
Der Österreicher „Sir“ Oliver Mally
präsentiert den Blues so direkt wie
nur möglich: Ein Mann mit seiner Stimme, eine Gitarre (nur bei
vier Titeln kommt eine zweite hinzu) und dazu die passenden Geschichten. Aufgenommen live und
mono, ohne irgendwelche sonstigen
Spielereien.
Ok, ich geb mich geschlagen und
behaupte jetzt ganz ungeschützt:
Irgendjemand hat entweder Österreich heimlich an den Staat Mississippi angegliedert oder zumindest
eine gehörige Portion Mississippiwasser samt zugehörigem Schlamm
ins Trinkwasser der Österreicher
gemixt. Ansonsten kann ich mir
nicht erklären, wie ein Alpenländer
wie Oliver Mally solch gültige und
gänsehautproduzierende Lieder wie
„Devils Child“ hinbekommt. Ich
bin ja immer mehr als skeptisch,
Rusty Wright Band - This,
was die Lobesarien besonders der
That & The Other Thing
Nein, ein Album, das mit einer deutschsprachigen Presse angeht.
swingenden Jump-Blues-Fassung In Bezug auf „Strong Beliver“ feivon „Whole Lotta Rosie“ beginnt erte man etwa Mally nicht nur als
kann nicht ganz schlecht sein. „This den besten Bluessänger des LanThat & The Other Thing“ von der des. Nein - man warf fast inflatioRusty Wright Band ist sogar richtig när mit Begriffen wie „authentisch“
gut mit seiner Mixtur aus moder- um sich. Einer ging sogar so weit,
nem Blues und gut abgehangenen den in Österreich lebenden Hans
Einflüssen aus Southern und Jam- Theesink ihm gegenüber als Poser
rock. Besonders hörenswert die Ab- zu bezeichnen. Skeptik war meine
rechnung mit einer der nervigsten Schutzreaktion. Und die hielt vielErfindungen seit der Einführung leicht drei Lieder lang. Dann folgte
des Rades: „Alarm Clock Blues“ Sprachlosigkeit. Und dann war ich
- ich hasse sein Dröhnen am Mor- überzeugt, dass die Kollegen recht
gen kurz vor zwölf, wenn die Augen haben.
37
Wer mag, kann jetzt stundenlang
versuchen, die Herkunftsregionen
von Mallys Liedern nachzureisen
im Kopf: Meist ist das das Delta
des Mississippi, ab und zu hört man
die archaischen Grooves der North
Mississippi Hills. Und zuweilen
wacht man auch in irgendwelchen
Folkkneipen der frühen 60er Jahre
auf.
Was Oliver Mally (bei vier Liedern
gemeinsam mit Produzent Frank
Schwinn an der zweiten Gitarre)
hier aufgenommen hat, ist ein von
vorne bis hinten überzeugendes
und brilliantes Bluesalbum: Klar
scheinen die Texte zuweilen die Klischees zu zitieren. Aber das haben
Blues-Lyrics schon seit der ersten
Baumwollernte gemacht. Wichtig
ist nicht die intellektuelle Leistung
und die instrumentale Meisterschaft des Sängers sondern seine
emotionale Fassbarkeit: Und Mally
macht einem sofort klar, dass er den
Blues nicht nur singt, dass er ihn
hat, tief in sich, schon immer, selbst
als Österreicher. Die Lieder (bis auf
Dylans „Girl from the North Country“ sämtlich von ihm geschrieben)
kommen erdig, ungeschliffen und
verdammt lebendig aus den Boxen.
Man träumt mit dem Sänger mit
in ruhigen Momenten von „Strong
Beliver“, man fühlt die Wut und
Verachtung auf das treulose Frauenzimmer nach in „Devils Child“ und
sehnt sich nach der Vollkommenenheit einer Liebe, die doch immer
nur Traum zu bleiben scheint.
„Strong Believer“ als Pflichtkauf zu
bezeichnen, ist keine Übertreibung.
Dass Hans Theesink neben diesem
Album ein posender Euro-BluesMan ist, zu dieser Beleidigung lasse
ich mich allerdings nicht hinreißen. Aber auf jeden Fall muss ich
jetzt wahrscheinlich meine Plattensammlung noch um weitere Werke
Mallys ergänzen...
Raimund Nitzsche
Stevie DuPree & The Delta
Flyers - Dr. DuPree‘s Love
Shop
„Wann kommt endlich das nächste
Blues-Revival?“, fragt unser Webmaster immer wieder. „Ich arbeite
dran“, ist dann meine spontane,
ehrliche und momentan einzig mög-
© wasser-prawda
Platten
liche Antwort. Und zum Glück bin
ich dabei nicht alleine. Auch Bands
wie Stevie Dupree & The Delta Flyers aus Houston, Texas, scheinen
sich das zum Ziel gesetzt zu haben.
Ihre Arbeitsweise auf dem Album
„Dr. Dupree‘s Love Shop“: Man
serviere dem tanzwütigen Publikum
eine Mixtur aus Bluesrock, New
Orleans Grooves und Soulgrooves,
die sowohl die Retrogemeinde als
auch versehentlich vorbeikommende Hipster überzeugen wird.
Als Songwriter ist Stevie DuPree
eine echte Entdeckung. Und die
Band insgesamt (aus einem akustischen Duo für dieses Album angewachsen zu einer kompletten Band
plus einer Horn Section, ergänzt
durch Gäste wie Marica Ball am Piano, Derek O‘Brien (g) und Gastsängerinnen Alice Stewart und Lisa
Tingle) ist derartig heiß, dass man
kaum still sitzen kann. Unbedingt
antesten!
Nathan Nörgel
muss man eben mit gewaltigen Riffs
die Sau rauslassen. Die Puristen werden dann mit Songs wie „Bozos on
the Bus“ oder „Mean Hearted Woman“ wieder versöhnt. Und beim
letzten Song, der unwahrscheinlich
druckvollen Ballade „Weapons of
Emotion (Open)“ können sich sogar die Soulfans freuen. Und sieht
man mal von dem für mich einfach
nur schmalzigen „This Is Our Time“
ab, das als Song und vom Stil her
einfach nicht zum Rest passt, dann
hat man mit „Howl At The Moon“
ein durchgängig gutes und hörenswertes Album. Nur eben darf man
nicht der Bluespolizei angehören.
Nathan Nörgel
The Trieb with Zach Prather
- Ju Ju Man
The John Pippus Band Howl At The Moon
Nach dem Bluesalbum „Wrapped Up In The Blues“ (2011) ist
das neue Werk des Kanadiers John
Pippus eine Mixtur aus Blues und
Rock. Fast unter Live-Bedingungen
im Studio von Bryan Adams entstanden ist es wesentlich kantiger
als alles, was der in den letzten Jahrzehnten aufgenommen hat.
Blues oder Rock - am überzeugendsten gelingen Alben immer, wenn
sie möglichst live aufgenommen
werden. Zum Glück setzt sich diese Erkenntnis immer mehr durch.
Auch John Pippus wollte diesmal
die Energie des Zusammenspiels
mit seiner live-Band auf Platte festhalten. Und das ist auf „Howl at the
Moon“ auch gut geglückt.
Auf dem Vorgänger hatte Pippus
noch mit Drumloops und Autotuning-Effekten gearbeitet und
seinem Akustikblues eine quasi
fortschrittliche Note verpasst. Jetzt
wollte er aber das, was er auf der
Bühne tut, aufnehmen. Und das
heißt: Abrocken mit seiner Band, zu
der unter anderem auch sein Sohn
am Schlagzeug gehört. Lieder wie
der Titelsong machen klar: Pippus
ist zwar im Blues verwurzelt, aber
er ist kein Dogmatiker. Manchmal
Druckvoll rockend mit einer prägnanten Gitarre: The Tribe mit dem
in der Schweiz lebenden Gitarristen
Zach Prather haben mit Ju Ju Man
ein mehr als gelungenes Album
vorgelegt. Ein guter Start ins Bluesjahr 2013 für Fans des elektrischen
Blues.
Diese Gitarre fällt auf: Wie sie den
stoischen Groove der Rhythmusgruppe in „Smokestack Lightning“
mit schneidend-heftigen Linien ergänzt, erinnert das manchmal von
ferne an Buddy Guy. Und Zach
Prathers Stimme braucht eigentlich
nicht die Jodelanleihen, um Howlin Wolf Referenz zu erweisen. Das
ist die Stimme von jemandem, der
seit Jahren seine Blueslektionen von
großen Bühnen bis hin in die ganz
kleinen Kellerclubs gelernt hat. Und
der dennoch nicht zu einem Abziehbild seiner selbst geworden ist: Das
ist Blues von ganz tief drin aus dem
Bauch und aus dem Herzen.
Irgendwann nannte man ihn in der
amerikanischen Presse den „New
Bad Box of the Blues“. Einige Jahre
gehörte der 1952 geborene Gitarrist
Zach Prather zur Band von Willie
Dixon, bevor er danach mit Screamin Jay Hawkins durch die Welt
tourte. Auch mit Mick Jagger, Luther Allison, Etta James und Margie
Evans stand er schon auf der Bühne oder im Studio. Und als Schauspieler verkörperte er auch mal
Jimi Hendrix. Jetzt lebt er schon
lange in der Schweiz und hat dort
seit 1996 in verschiedenen Besetzungen vier Alben veröffentlicht.
Jetzt kommt mit „Ju Ju Man“ eine
Scheibe, die beweist, dass man den
Blues durchaus auch in Richtung
des Grunge oder Indie-Rock öffnen
kann, ohne dass er seine Ehrlichkeit verliert. Denn abgesehen vom
erwähnten „Smokestack Lightning“
und dem Schlusslied „Cold Cold
Feeling“ sind die von Prather selbst
geschriebenen Songs oft mehr in
Rockgefilden als im Chicagoblues
a la Dixon zu Hause. Und mit The
Tribe hat er sich ein klassisches Trio
(Urs Baumeler - bg, Eric Kunz - dr)
gesucht, was diesen Songs den nötigen Druck verleiht. Nimm etwa
eine Nummer wie „Ju Ju Man“: fast
unterbittlich ist hier der treibende
Rhythmus, erinnert ebenso an Bo
Diddleys Varianten afrikanischer
Grooves wie an zeitgemäßen Afrobeat gespielt von einem Rockdrummer, stoisch die Gitarre - und getrieben Prathers Stimme: Wenn nicht
immer wieder von ferne die Erinnerung an den Blues in den Melodielinien autauchen würde, könnte man
das getrost in der Plattensammlung
neben die besten Songs von Nirvana einsortieren. Immer wieder gibt
es auf dem Album solche faszinierenden Songs. Und man fragt sich
langsam wirklich: Wieso ist Zach
Prather eigentlich noch immer eher
ein Geheimtipp, der vor allem in
der Schweiz bei jeder sich bietenden Session seine Musik spielt? So
jemand hat mit seinen Songs das
Zeug, den Blues auch wieder dem
durchschnittlichen Besucher eines
großen Rockfestivals schmackhaft
zu machen. (Madstone Music)
Raimund Nitzsche
dazu verurteilt haben, Trompete
und Sax zu spielen, sich gleich als
Ska-Band bezeichnen darf. Aber
meist kommen die Bands damit
durch - denn schließlich haben sie
alle das richtige politische Bewusstsein. Und mit Ska - klar ist tanzbarer und cooler als ständig die gleichen drei Akkorde zu malträtieren.
Richtigen Ska erkennen die Punks
wahrscheinlich schon. Doch um
ihn zu spielen, fehlt den meisten
mehr als eine mehrjährige Haft im
Übungskeller. Das musste ich mal
loswerden. Auch wenn es auf „Desperation State“ nicht zutrifft.
Wo die College-Kumpel aus Bristol mit ihrer EP im Sommer 2012
angefangen haben, dort knüpfen sie jetzt nahtlos an: Sie spielen
eine wirklich extreme Mixtur aus
den verschiedensten Stilen, die sie
zu einem überzeugenden eigenen
Stil verschmolzen haben: Ska trifft
Funkrock, Spaghetti-Western wird
mit Balkan-Flair gekreuzt und dass
Jazz und Reggae sich vertragen nehmen die Musiker als selbstverständlich an. Und so entsteht etwas, das
man getrost auf jeder Party laufen
lassen kann, um die Stimmung zum
Überkochen zu bringen. Schon der
Titelsong, der auch (wie die übrigen
drei Stücke der EP) hier erneut zu
hören ist, setzt dafür gleich die richtigen Akzente. Wer zwischen durch
beim Tanzen auch noch nachdenken mag: Stücke wie die Single
„Not Guilty“ bringen dafür das
nötige Futter, ohne die Tanzstimmung wirklich zu unterbrechen.
Und überhaupt: Selbst Jazzkritiker
könnten sich an manchen melodischen und rhythmischen Rafinessen endlos intellektuell ergötzen.
Aber vielleicht sollte man sie dazu
mit den oben erwähnten Punks im
Übungskeller einschließen, ehe sie
einem die Party versauen.
Nathan Nörgel
Yes Sir Boss - Desperation
State
Als im Sommer 2012 die erste EP
der in Bristol ansässigen Band Yes
Sir Boss auf Stone‘d Records rauskam, wünschte ich mir schnell ein
ganzes Album. Das ebenso wie die
EP „Desperation State“ betitelte
Debüt kommt mit seiner wilden
Mixtur aus Ska, Funk, Jazz und jeder Menge Rock genau richtig um
das Absacken in den Winterschlaf
zu verhindern.
Ich hasse es, wenn jede Punkband,
die grad mal paar ihrer Kumpels
38
© wasser-prawda
Feuilleton
Editorial
Schon 2009 wurde ein Jubiläum begangen,
dessen Anlass noch heute Anlass zu Zweifeln
und Debatten liefert: War Richard Peary wirklich der erste Mann am Nordpol? Oder hat er
ebenso wie sein Konkurrent Frederick Cock mit
ungenauen Notizen seine Fans und Geldgeber
getäuscht? Der Nordpol, so Karl Kraus, musste
einfach entdeckt werden. Aber die Welt hat sich
dadurch nicht verändert. Sie hätte sich ebenso
wenig geändert, wenn wirklich Karl May der
Entdecker des Pols wäre, wie es Otto Emersleben in „Der Streit um den Nordpol“ suggeriert.
Denn schließlich ist der nur ein Fleck unter dem
Eis, was seit Jahrhunderten immer drüber hinweg wandert.
2013 gibt es verschiedene runde Geburtstage
im Reiche der Literatur. Den von Jean Paul etwa,
des von Arno Schmidt so hoch verehrten und
Autors aus Oberfranken. Auch wenn außer den
Schmidt-Jüngern und den Paul-Enthusiasten
kaum noch jemand wirklich die überbordenden
und oft ins Absurde abgleitenden Texte wirklich
liest. Wir lassen uns davon nicht schrecken und
veröffentlichen hier eine Kriegssatire, die in unseren so unfriedlichen Weltzeiten fast idyllisch
wirken könnte.
Aus einer ganz anderen Zeit stammt „Schwarz
und weiß“. Angelika Janz schrieb diese Erzählung 1986 angesichts der innerdeutschen Grenze. Der hier erstmals veröffentlichte Text streift Literatur im Gespräch
Sprache, dem Spiel der Kunst und der Apokalypse aus
noch viel mehr Themen zwischen Wahrneh- Von
dem Spreewald.40
mung der Wirklichkeit und der Sehnsucht nach
Bücher
Romantik.
Otto Emersleben: Der Streit um den Nordpol Die Sprache Jürgen Buchmanns ist eng der Mu- Karl Mays letzte Reiseabenteuer45
sik verwandt. Oft scheint der Klang der Worte Neal Stephenson - Error. 46
wichtiger zu sein als ihre Bedeutung. In Medi- Sprachraum
Janz: Schwarz und weiß
47
tationen wie den Texten der soeben erschiene- Angelika
Jean Paul: Mein Aufenthalt in der Nepomukskirche während
nen „Lüneburger Trilogie“ kann man das in al- der Belagerung der Reichsfestung Ziebingen
49
Karl
Kraus
Die
Entdeckung
des
Nordpols
57
ler Langsamkeit nacherleben. Und im Gespräch
mit Erik Münnich erzählt der Autor außerdem Edgar Wallace: A.S. der Unsichtbare (8)
62
noch über den drohenden Krieg der Gurken.
39
© wasser-prawda
Interview
Von Spr ache, dem Spiel der Kunst
und der Apok alypse aus dem
Spreewald.
Ein Gespräch mit Jürgen Buchmann. Illustrationen von Isabel Wienold. Fotos: Raimund Nitzsche
Erik Münnich: Ein Blick auf Deine zahlreichen
Veröffentlichungen verrät eine gewisse Leidenschaft
für Sprache. Welche Rolle nimmt diese in Deinem
Leben und Schaffen tatsächlich ein?
Jürgen Buchmann: Für einen Schriftsteller ist
das eine zentrale Frage. Ich glaube, dass man
auf das Thema der Sprache gebracht wird, wenn
man Schwierigkeiten mit der Sprache hat, wenn
sie einem zu schaffen macht. Und die Sprache,
die ein Autor entwirft, hat vielleicht immer den
Charakter einer Gegensprache – einer Sprache,
die das formuliert, was er sonst nicht formuliert
hört; die Bewegungen beschreibt, die er sonst
nirgends beschrieben sieht. Auf irgendeine Weise
ist die Sprache eines Schriftstellers ein einsames
Unternehmen, das Projekt eines Einzelnen, hinter dem er mit seinem ganzen Leben steht. Das
sind elementare Fragen, die da verhandelt werden. Es müssen keine Fragen des Sinns sein – ich
glaube, die Literatur hat sehr lange unter dem
Anspruch gestanden, Sinn zu vermitteln. Das
war eine Veränderung der Interpretation von
Literatur, die auf die Französische Revolution
zurückgeht. Vor der Revolution war die Kunst
ein Ornament einer feudalen Gesellschaft. Diese
Gesellschaft wurde zerstört und damit blieb auch
die Funktion der Kunst offen. Und hier hat man
um 1800 herum eine neue und sonderbare Bedeutung gefunden: die Kunst soll einen Sinn liefern, der in der Gesellschaft, in der Überlieferung
verloren gegangen ist. Das 1. Systemfragment
des Deutschen Idealismus von Hegel, Hölderlin
und Schelling sagt, die Kunst müsse eine neue
Religion stiften. Dies ließe sich so lesen, dass die
Kunst Sinn vermittelt oder einklagt, der in der
Gesellschaft fehlt. Dieses Verständnis von Kunst
hat sich mindestens bis Adorno fortgesetzt, wo
die Kunst eine kritische Instanz wird, die diese
Gesellschaft durchschauen, denunzieren und
verklagen soll. Ich glaube, dass die Kunst damit
hoffnungslos überfordert ist. Es gibt überall auf
der Welt Menschen, die gegen Unrecht kämpfen
und immer ist dieser Kampf ohnmächtig, das sehen wir. Die Kunst wäre sicher falsch gefordert,
wenn man von ihr erwarten würde, dort einzuspringen. Das Thema der Kunst ist in meinen
Augen nicht der Sinn – sie kann mit Sinn spielen, aber sie ist nicht auf Sinn fixiert. Für mich
ist Literatur ein Spiel – ein Spielen der Sprache.
Und umso komplexer das Spiel ist, desto besser ist das literarische Werk. In diesem Spiel der
Sprache bewegt sich natürlich das mit, was man
erfahren hat. Das Wichtige aber ist die Umsetzung dieser Erfahrung in das Spiel der Sprache.
Dieses Spiel ist für mich auch immer eine Art
Musik – die Sprache ist kein Instrument, das wir
nutzen, um Gedanken oder Überzeugungen auszudrücken. In diesem Versprechen, Geheimnis,
Spiel und dem Reichtum des Spiels sehe ich meinen Lebensinhalt.
Erik Münnich: Wie hast Du zur Sprache gefunden?
Jürgen Buchmann: Ich erinnere mich daran, dass
ich sehr früh angefangen habe, heimlich in Büchern meiner Eltern zu blättern, über die nicht
geredet wurde. Und ich weiß noch, dass ich –
zum Beispiel bei Goethe – von Klängen entzückt war. Wovon gesprochen wurde, war mir
egal. Das ging wohl auch über den Horizont eines Kindes hinaus. Aber wie gesprochen wurde,
die Musik dieser Verse, hat mich schon damals
fasziniert. Das ist geblieben. Nach dem Abitur,
mit ungefähr 19 Jahren, kam ein Interesse an
unbekannten, fremdartigen Sprachen hinzu. Ich
weiß noch, wie ich drei Wochen lang um eine
aztekische Grammatik herum geschlichen bin,
bis ich sie mir endlich gekauft habe. Ich konnte nicht widerstehen und habe dann sehr schnell
Aztekisch gelernt. Im Laufe der Jahrzehnte noch
viele weitere Sprachen. Weniger mit dem Inte-
resse, sie zu sprechen, als der Sprache als etwas
Neuem, Geheimnisvollen zu begegnen. Das hat
meine Fantasie immer wieder gespeist und mein
Ohr für Klänge sowie Wirkungen von Wörtern
und Sätzen verbessert.
Erik Münnich: Welche Texte haben Dich von damals bis heute begleitet?
Jürgen Buchmann: Als Student habe ich Huysmans Gegen den Strich entdeckt. Ich war sehr entzückt davon. Und noch heute bin ich ein großer
Bewunderer von Huysmans wundervollem Stil,
von seinem Blick, der alles sieht, und seiner Sprache, die alles ausdrücken kann. Proust habe ich
auch verhältnismäßig früh kennengelernt – mit
ungefähr 20. Wenn man Proust begegnet, dann
ist das ein wichtiger Einschnitt im Leben. Ich
wusste, dass ich auf dieses Wunder irgendwie reagieren musste, dass ein Mensch sein ganzes Leben in Worte umgesetzt hatte. Und dabei Dinge
entdeckte, von denen die Literatur noch nie gesprochen hatte. Ich meine z. B. den Reichtum
des Augenblicks, der sich bei Proust über Seiten
dehnen kann oder das Aufklingen eines Namens.
Er hat dazu beigetragen, dass der Traum – den
ich schon als Kind hatte –, Schriftsteller zu werden, eine Aufgabe wurde.
Erik Münnich: Du warst drei Jahrzehnte an der
Universität Bielefeld tätig. Was bleibt davon übrig?
Jürgen Buchmann: Zunächst wirkt das wie eine
lange Fronarbeit – dreißig Jahre im wissenschaftlichen Dienst. Aber ich habe in dieser Zeit viele Sprachen und Literaturen studiert, ich habe
mich intensiv mit Architektur- und Musikgeschichte sowie Religion beschäftigt. Das ist in
meine Bücher sicherlich als eine Art Hintergrund
oder Assoziationsmaterial eingeflossen. Und die
Notwendigkeit, vor einem erfahrungslosen Publikum sehr komplizierte Inhalte vorzubringen,
Jürgen Buchmann promovierte in Konstanz in Klassischer
Philologie und Philosophie, unterrichtete anschließend drei
Jahrzehnte an der Universität
Bielefeld. Seit 2006 lebt er als
freier Schriftsteller in Werther/
Westfalen. Er befasst sich neben dem Schreiben u. a. mit der
Grammatik von 30 Sprachen
der Alten und Neuen Welt. Erik
Münnich sprach mit ihm über
seine Leidenschaft für Sprache,
sein literarisches Schaffen und
seine Arbeit als Übersetzer.
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© wasser-prawda
Interview
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© wasser-prawda
Interview
hat dazu geführt, dass ich eine gewisse Routine
erworben habe, schnell zur Sache zu kommen,
immer klar zu formulieren. Das hilft mir beim
Schreiben sehr. Früher habe ich endlos gebraucht,
weil ich nicht genau wusste, wie man es auf den
Punkt bringt. Jetzt arbeite ich sehr viel schneller
und effektiver als früher. Das ist den Erfahrungen
an diesem Institut zu verdanken.
die ich geschrieben habe, war er noch etwas gefangen, hatte sich noch nicht ganz befreit. Ich
mag diese Bücher sehr gerne, aber sie haben noch
nicht dieses übermütige und übersprudelnde
Spiel der späteren Texte. Diese Dimension habe
ich erst im fortgeschrittenen Alter erwerben können. Sie sind also strenger und schlanker als die
späteren. Meine späteren sind neobarock.
Erik Münnich: Stand oder steht der Wissenschaftler
dem Schriftsteller ab und zu im Weg?
Jürgen Buchmann: Während der Dienstzeit war
das sicher so – ich hatte einfach keine Zeit zum
Schreiben. Allerdings sehe ich die Wissenschaft
als einen Moment dieses Spiels der Kunst an. Die
Kunst hat keinen vorgegebenen Sinn und keine vorgegebene Aufgabe, sie ist außerordentlich
beweglich. Für mich ist das Spiel mit der Wissenschaft ein wesentliches Element der Literatur.
Meine Kunst verschränkt sich mit Philologie, die
Grenzen sind fließend. Ich habe beispielsweise
Aufsätze über die keltische Sprachen und literarische Texte, die mit den keltischen Sprachen zu
tun haben, geschrieben. Und in der Grammatik
der Sprachen von Babel hat man eine als Philologie verkleidete Fiktion. Die Wissenschaft ist ein
reichhaltiges Reservoir an Spielmöglichkeiten.
Deswegen sind Wissenschaft und Dichtung für
mich heute keine Widersprüche mehr.
Erik Münnich: In diesen begegnet dem Leserinnen
ein vielseitiger, stilsicherer und sehr gewitzter Autor.
Wie viel Arbeit ist nötig, um diesen Eindruck zu
erzielen?
Jürgen Buchmann: Meine Arbeiten kommen
eigentlich leichtfüßig daher – und das finde ich
sehr wichtig: ein Text darf nicht zäh sein, er darf
nicht backen und er muss immer leicht laufen.
Das ist schwer zu erreichen und sehr viel Arbeit.
Mir fällt da eigentlich nichts zu und meine Texte
sind immer mit einem enormen Aufwand an Arbeit hergestellt.
Erik Münnich: Bist Du Perfektionist?
Jürgen Buchmann: In Bezug auf die Literatur
schon, sonst nicht.
das Internet zurückgreifen kann, weil die Texte,
mit denen ich mich auseinandersetze, zum Teil
so speziell sind, dass konventionelle Lexika nicht
weiterhelfen. Bei Reinecke & Voss erscheint
demnächst eine barocke Dichterfehde, welche in
einem barocken Italienisch um 1609 verfasst ist.
Die beiden Autoren sind Römer und sprechen
und schreiben daher nicht Toskanisch – das wissen sie aber nicht. Und wenn sie manchmal Ausdrücke benutzen, sind das römische Ausdrücke,
die sie äußerlich toskanisieren. Diese sind nicht
im Lexikon zu finden. Man muss schauen, wie
solche toskanisierten Ausdrücke auf römisch aussehen könnten, um sie zu übertragen. Dieses und
viele weiteren philologischen Abenteuer wären
ohne Internet nur schwer denkbar. Das Internet
hat also sehr zu dem Spektrum der Dinge beigetragen, die ich in Angriff nehme und zur Gründlichkeit, mit der ich ihnen nachgehen kann. Ich
bin ein anderer Autor als früher, weil ich viel größere Ressourcen habe.
Erik Münnich: Ende Januar ist die Lüneburger Trilogie erschienen, die für Dich eine Herzensangelegenheit ist. Was hat es mit dieser auf sich?
Jürgen Buchmann: Dieses Buch hat in meinem
Leben eine ungeheuerliche Rolle gespielt. Am
Mittelteil – der Phantastischen Topographie der
Hansestadt Lüneburg – habe ich fast 30 Jahre
gearbeitet, weil die Probleme, die sich mir da
stellten, so kompliziert waren, dass ich lange
nicht damit fertig wurde. Es ist so, wie man in
Anführungszeichen sagen könnte, eine Art Lebenswerk und ich bin froh, dass ich die Arbeit
daran abschließen konnte. Es ist ein sehr komplexes, geheimnisvolles Werk. Bei normaler Lesegeschwindigkeit, wie beispielsweise bei einem
Zeitungsartikel oder Kriminalroman, kriegt man
überhaupt nichts mit. Es sollte sehr langsam gelesen werden, mit einer Pause nach jedem Absatz.
Und dann liest man es nochmal. Dann wird man
versteckte Neuigkeiten entdecken. Das Logbuch
vom Meer der Finsternis ist auch dabei. Das ist
mein vielleicht offenstes und direktestes Buch.
Ein Buch, das eine zerstörte Welt zeigt – geheimnisvoll, magisch und sehr eigenwillig. Dort werden Träume beschrieben, Halbschlaffantasien,
die, als ich sie hatte, so intensiv waren, dass ich
mich Jahrzehnte an sie erinnern konnte. Viel später habe ich sie dann aufgeschrieben. Das dritte
Stück ist die Einschiffung nach Cythera – Cythera
als die Insel des Glücks und der Liebe in der Antike. Diese Erzählung handelt von einem älteren
Schriftsteller, der eigentlich seinen Frieden mit
der Welt gemacht hatte, das merkt man. Er bewegt sich in einer einsamen, aber sehr intensiven
Welt – einer Welt, die aus leuchtenden Details
besteht. Leider begegnet er einer jungen Frau, die
ihn ziemlich durcheinander bringt. Er verliebt
sich hoffnungslos. Das wird nicht direkt ausgedrückt, sondern nur nachvollziehbar anhand der
Veränderung der Dinge, der Stimmungen, der
Atmosphäre. Es beruhigt sich wieder und endet
geheimnisvoll, abstrakt und leuchtend. Diese
geheimnisvolle Brille habe ich sehr gerne. Sie ist
auch voller Musik, voller Klänge – z. B. die ausgestorbene wendische Sprache des Lüneburger
Wendlands kommt immer wieder vor und liefert
wundervolle Klangeffekte.
Erik Münnich: Wie äußert sich das im Arbeitsprozess?
Jürgen Buchmann: Ich lasse nicht los bis ich vollkommen zufrieden bin. Wenn ich bemerke, dass
irgendein Wort sperrig wirkt oder ich es wie eine
Erik Münnich: In den 80er Jahren wurden von Eintrübung, eine falsche Gewichtung empfinde
Dir Satiren veröffentlicht. Unter welchen Eindrü- in diesem federnden Muster des Satzes und socken sind diese für Dich eher untypischen Texte lange dieses Unbehagen bleibt, ist der Text für
entstanden?
mich nicht fertig. Er ist in dem Moment fertig,
Jürgen Buchmann: Diese sind zu der Situation wenn er ein schwereloses Gebilde wird, wo nichts
entstanden, als in Deutschland Pershing-Raketen mehr festhängt, nichts mehr überlastet ist, nichts
aufgestellt wurden und auf unverantwortliche mehr nur angedeutet statt ausgeführt.
Weise mit der Möglichkeit eines Dritten Weltkriegs gespielt wurde. Damals habe ich sowohl Erik Münnich: Du hast ein Bild vor Augen, wie es
diese Unverantwortlichkeit als auch das Gesül- sein sollte. Und bis diese Vorstellung nicht erreicht
ze der Medien mitbekommen – dieser kultur- wird, ist der Text nicht fertig.
schwangere Ton, in dem die Leute sich da aus- Jürgen Buchmann: Dieses Bild ist natürlich kein
ließen; diese Bildung und guten Manieren, die fotografisches Abbild, bei dem schon alles angevorgezeigt wurden. Die gesamte Diskussion hatte legt ist. Es ist vielmehr eine Art Klang, eine Voretwas Verblasenes. Das hat mich provoziert und stellung von einem Klang und irgendwann ist
dann habe ich diese Satirenbände geschrieben. diese Arbeit so weit, dass dieses Werk so klingt
Und zwar absichtlich schlecht – eine ganz holp- wie der Klang, den man im Ohr hatte. Das ist
rige Sprache und doofe Pointen, damit die Leute mir eigentlich immer so gegangen – manchmal
sich ärgern. Ich wollte diesem kulturellen Ge- Jahrzehnte bevor ein Buch fertig wurde, hatte ich
schwätz, das munter weiter plapperte während schon den Klang im Ohr und dem konnte ich
eine atomare Katastrophe vorbereitet wurde, ein mich dann nähern, wie eine Art Vision, die man
Ende setzen, es stören. Und ich glaube, das ist realisiert.
auch gelungen: linke Leser, kritische Leser haben
darüber gelacht und viele haben sich richtig geär- Erik Münnich: Was hat sich außerdem verändert?
gert, weil das so schlecht geschrieben und schwer Jürgen Buchmann: Grundlegend verändert wurvorstellbar war, dass dies Literatur sein sollte. An de mein Schreiben durch den Computer, der mir
der Uni Bielefeld hat ein Professor während eines ermöglichte, mit den Satzteilen zu spielen. Ich
Literaturseminars z. B. hässlich hergezogen über habe eine Weile nicht mehr geschrieben, weil es
dieses Buch. Als ich das hörte, musste ich lachen mit der Schreibmaschine nicht zu schaffen war
und dachte mir, dass ich geschafft hatte, was ich – ich musste nach drei Zeilen das Blatt rausneherreichen wollte. Dieses Mittel, Texte absichtlich men und nochmal anfangen. Das wiederholte
zu Fall kommen zu lassen, absichtlich schwerfäl- sich dann, bis ich einen Stoß von Blättern hatte,
lig zu sein, ist ein wenig heikel und lässt sich nur die nur mit wenigen Zeilen beschrieben waren,
punktuell einsetzen. Das sind für mich kabaret- weil ich immer wieder verbessert habe. Mittlertistische Texte, die für den Augenblick bestimmt weile geht es wunderbar. Und das ermöglicht
sind und ich würde sie heute nicht als Teil meines mir, Sätze zu schreiben, die man gar nicht improWerkes betrachten.
visieren kann, die ich nicht improvisieren kann.
Ich könnte diese nicht einmal zitieren, weil sie
Erik Münnich: Gibt es weitere Veränderungen be- so kompliziert sind. Auf dem Computer aber
züglich Deines Schreibens?
kann ich diese Sätze bilden und ihre Architektur,
Jürgen Buchmann: Mein Stil ist sehr viel kom- Gewichtung verfolgen. Das ist ein riesiger Fort- Erik Münnich: Die Wenden begegnen uns bei Dir
plexer geworden. In den ersten ernsten Büchern, schritt. Der zweite ist der Umstand, dass ich auf öfter.
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Interview
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Interview
Jürgen Buchmann: Ja. Ich habe dort gewohnt,
und als Kind habe ich immer diese Ortsnamen
gesehen – das fand ich immer geheimnisvoll,
weil mir niemand erklären konnte, wo das herkam, was das sollte. Es ist ein Thema für mich
geblieben.
Erik Münnich: Du bist auch als Übersetzer tätig.
Welche Texte und Autoren interessieren Dich?
Jürgen Buchmann: Mich interessieren entlegenere und unbekanntere Autoren. Diese lassen mir
sozusagen mehr Spielraum. Baudelaire wurde
beispielsweise hundert Mal interpretiert. Aloysius Bertrand dagegen, der Autor des Gaspard
de la Nuit (1842), war immer noch relativ unbekannt, als ich ihn kennenlernte. Der Aufsatz,
den ich dazu geschrieben und für den ich auch
annähernd 40 Jahre gebraucht habe, zeigt den
Schriftsteller in einem vollkommen neuen Licht.
Es ist eigentlich der erste Aufsatz, der den Gaspard de la Nuit als zusammenhängendes Werk
mit einer klaren Pointe beschreibt. Dies war 150
Jahre lang nicht der Fall gewesen. Es fasziniert
mich, wenn ich einen unbekannten Autor entdecken kann. Ich habe auch Autoren gern, die
besonders kunstvoll, besonders raffiniert sind.
Aus der Antike beispielsweise Horaz oder Vergil
– die haben wunderbare, unvergessliche und für
mich zutiefst bewegende Tricks drauf. Mir gefallen natürlich auch Autoren, die manche meiner
Leidenschaften teilen. Die Leidenschaft für Architektur spielt zum Beispiel bei Huysmans eine
gewisse Rolle. Auch bei Prudenci Bertrana, den
ich jetzt übersetzt habe. Architektur ist eine lebhafte und blühende Sprache.
Erik Münnich: Worauf kommt es Dir bei Texten
an, die Du überträgst?
Jürgen Buchmann: Der Text muss etwas Provokantes haben. Die Sprache muss provozieren,
etwas Einzigartiges haben, etwas Neuartiges.
Man darf dem noch nicht begegnet sein. Das ist
der Hauptpunkt: eine Übersetzung muss voller
Leben, Kraft und Fantasie sein. Sie muss klingen, sie muss tönen. Ich selbst bin dankbar für
gute Übersetzungen, denn diese können eine
Sprache bereichern. Die ziehen Register und
öffnen Horizonte, die eine Sprache noch gar
nicht hatte – man denke hier an die erste große
Proust-Übersetzung.
Erik Münnich: Dich interessieren vor allem entlegenere Werke. Welche Möglichkeiten als Übersetzer
hast Du, das Vergessen solcher zu verhindern?
Kurz und gut: die Übersetzung war überhaupt
nicht zu gebrauchen. Ich habe das Buch vollständig übersetzt und ich hoffe, dass diese Übersetzung Bertranas Vorstellung einigermaßen gerecht
wird.
Jürgen Buchmann: Die erste Möglichkeit ist
natürlich eine anspruchsvolle Übersetzung. Die
zweite ist eine Kommentierung. Das halte ich für
sehr wichtig, denn ich möchte dem Leser/ der
Leserin gern mitteilen, was ich an diesem Text
aufregend finde.
Erik Münnich: In diesem Zusammenhang zu nennen wäre Deine Herausgeberschaft der Reihe Regionale Literaturen Europas. Was sind die Gründe für
das Zustandekommen und welche Ziele verknüpfst
Du mit dieser Reihe?
Jürgen Buchmann: Ich habe mich mit den Wenden bzw. Sorben befasst und festgestellt, dass
dieses winzige Volk eine außerordentlich lebendige Literatur hervorgebracht hat. Und es ist sehr
schade, dass diese in Deutschland gar nicht bekannt ist. Das ist ein achtloser Umgang mit Kostbarkeiten! Anfänglich hatte ich an eine sorbische
Reihe gedacht, aber dann wurde mir klar, dass in
dieser Situation noch andere kleinere Völker und
deren Literatur sind und auch davon nicht viele
Übersetzungen vorhanden sind. Und da sind wir
drauf gekommen, eine Reihe zu gründen, die solche Kostbarkeiten der Literaturgeschichte rettet
– Werke, die nicht deswegen vergessen sind, weil
sie weniger wiegen als die der größeren Völker,
sondern weil das Verbreitungsgebiet ihrer Sprache erheblich kleiner ist.
Erik Münnich: Mit dem Josafat von Prudenci
Bertrana liegt der erste Band dieser Reihe vor. Wie
bist Du auf diesen Text gestoßen und was bedeutet
er Dir?
Jürgen Buchmann: Ich bin auf ihn durch einen
kleinen Beitrag in Kindlers Literaturlexikon
drauf gestoßen – ein Artikel, den ich heute nicht
mehr besonders gut finde. Aber er hat mir verraten, dass in diesem Werk eine Kathedrale eine
besondere Rolle spielt. Von daher ist es mir immer im Gedächtnis geblieben. Irgendwann habe
ich eine Ausgabe gefunden, habe darin geblättert,
war aber irgendwie nicht so fasziniert. Ich habe
es liegen gelassen. Viele Jahre später habe ich
mich wieder daran erinnert, habe es mir genauer
angesehen und festgestellt, warum ich nicht viel
darin gelesen habe: es war eine außerordentlich
dilettantische Übersetzung. Verblüffender Weise,
weil sie vom Begründer der deutschen Katalanistik stammt. Er hat versucht, um sein Publikum
für den unbekannten Autor und die unbekannte Sprache zu gewinnen, den Text zu verbessern.
Einerseits dadurch, dass er den Text an expressionistische Modeautoren seiner Zeit angenähert
hat, deren Stile aber außerordentlich unvollkommen nachgeahmt hat. Andererseits durch die
Beigabe von Gartenlaubenelemente, pure Erfindungen von ihm. Das alles sollte den deutschen
Leser dieses katalanische Werk näher bringen.
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Erik Münnich: Du arbeitest zur Zeit mit der Grafikerin Isabel Wienold – die für einige Deiner Veröffentlichungen den Umschlag gestaltet hat – an
einem Projekt, in dem es – verkürzt – um Sorben,
Gurken und gegenwärtige politische Zustände geht.
Jürgen Buchmann: Ich hatte zunächst Encheiridion Vandalicum oder Das Buch von den Wenden geschrieben. Und dieses Thema hat mich
erst einmal nicht losgelassen. Mir kam dann
die Idee einer Satire in den Kopf, die zeigt, wie
diese armen Sorben von den Deutschen malträtiert werden. Diese nennt sich Krieg der Gurken.
Eine Apokalypse aus dem Spreewald – hier wird
so getan, als würden die Sorben zum Gegenangriff übergehen. Es liest sich wie eine verrückte
Science-Fiction-Inszenierung von Orson Welles,
in der von einem Angriff von Marsianern berichtet wird. Dieses Hörspiel habe ich als Modell genommen und die Sorben greifen jetzt mit
ihren Ufos die Bundeshauptstadt an. Das ist ein
knalliger und verrückter Text. Isabel Wienold hat
dazu entzückende Kino-Plakate gemacht, die mit
Motiven aus Science-Fiction- und Horrorfilmen
aus der Zeit des Kalten Krieges arbeiten. Das
soll nun zusammen in einem Buch erscheinen.
Möglicherweise wird es einen Auftritt bei Youtube mit Trickfilm-Technik geben, sodass sich die
Figuren bewegen und die Stimmen von verschie-
denen Akteuren gesprochen werden.
Erik Münnich: Welche weiteren Projekte hast Du?
Jürgen Buchmann: Ich bin mir nicht sicher, was
ich als nächstes schaffen werde. Aber ich denke
darüber nach, die Memoiren eines Münsterländer
Mastschweins zu ergänzen. Von der Sprache her
ein wenig kühler und spröder, bisher noch nicht
so federnd und übermütig wie der erste Teil. Dafür sind aber die Abenteuer, die das Schwein erlebt, viel verrückter. Und möglicherweise macht
es das wieder wett.
Erik Münnich: Das Schwein ist ja älter geworden
…
Jürgen Buchmann: … und darüber schreibt es
auch. Und zwar in seinem typisch altklugen Ton:
es sind zwar gerade einmal drei Wochen vergangen, aber es erzählt, wie es gereift ist in dieser
Zeit, dass es die Dinge doch anders sieht als früher und es philosophiert über das Leben.
© wasser-prawda
Bücher
Letzte Reisen in Eis und
Krieg
Otto Emersleben - Der Streit um den Nordpol. Eine Rezension von Raimund Nitzsche
Als 1909 gleich zwei Forscher behaupteten, unabhängig voneinander den Nordpol erreicht zu
haben, begann damit ein Streit, der bis heute
noch nicht wirklich entschieden ist. Weder der
von deutschen Auswanderern abstammende Frederick Cook noch Robert Edwin Peary konnten
wirklich überzeugend nachweissen, am Pol gewesen zu sein. Dieser Streit bildet den Ausgangspunkt von gleich zwei Romanen des seit den 90er
Jahren in den USA lebenden Otto Emersleben.
Der Autor, der auch schon die erste deutschsprachive Biografie über Peary veröffentlichte, hatte
2003 in „In den Schründen der Arktis“ erstmals
diese damalige Debatte in Bezug zu den Reiseerzählungen von Karl May gesetzt. Der Reiz von
„In den Schründen der Arktis“ und der zum
Karl-May-Jahr 2012 lediglich als ebook erschienenen Fortsetzung „Der Streit um den Nordpol“
liegt allerdings weniger in den historisch korrekten Recherche der Nordpolarforschung. Nein:
Emersleben hat hier - sprachlich reizvoll und von
einer überbordenden Fabulierlust getrieben - den
Stoff als letzte Reisen von Karl May geschildert.
Karl May als erster am Nordpol? Der Trivialliterat, einst entweder geschmäht als Verderber der
Jugend oder gefeiert vor allem für sein symbolistisch aufgeladenes Spätwerk verheddert sich
als Erzähler zwischen großen Intrigen, seinen
eigenen Ansprüchen der Entwicklung der „Edelmenschen“ nach dem Vorbild des großen Winnetou, getrieben von Journalisten und seinen
gierigen Erben. Wenig ist geblieben vom großen
Old Shatterhand, auf wenn May noch immer im
Ernstfall seine Hand die Gegener niederschmettern kann. Doch es ist zu Ende mit den freien
und wilden Zeiten im Westen oder im Orient:
Überall macht sich der geldgierige Imperialismus
der Industrienationen breit. Die als Helden öffentlich gefeierten Polarforscher sind geldgierige
Betrüger. Der Pol als Ticket zum Reichtum - all
das ekelt den alt gewordenen May. Er selbst, verkleidet als Eskimo macht sich auf den Weg, als
Peary schon zum Rückzug geblasen hat, nachdem er irgendwo einfach Fotos machte und den
Punkt als Nordpol definierte. Aber eigentlich soll
niemand von Mays Ausflug erfahren. Der Pol ist
nicht wichtig. Und May will bescheiden im Hintergrund bleiben. Doch er kann sich dem Getriebe nicht entziehen.
Forschungsgeschichte und Skandale sind ein treffliches Mittel für Unterhaltungsliteratur in einer
Zeit, wo Betrügereien um Promotionen ebenso
die Schlagzeilen bestimmen wie die immer weiter
zurück gehenden Eispanzer in der Arktis durch
die Klimakatastrophe. Aber Karl May als Hauptfigur? Schon zu Lebzeiten gab es Versuche, Old
Shatterhand und anderer seiner Figuren in eigene Geschichten einzubauen. Autoren versuchten
sich an Fortsetzungen von Romanen oder schufen sie ganz neu. Heute gibt es ganze Verlage, die
ihr Geld mit neuen Erzählungen um Winnetou
und Old Shatterhand verdienen und das Erbe
Mays ausschlachten.
Hier geht Emersleben einen wichtigen Schritt
weiter. Nicht die klassischen Romane stehen im
Mittelpunkt, sondern das Leben des alt gewordenen May, der in der deutschen Öffentlichkeit
immer heftigeren Schmähattacken ausgesetzt war
und der sich von der reinen Abenteuerliteratur
fortentwickelt hatte und statt dessen symbolisch
überladene Geschichten verfasste, die vor allem
bei den „ernsthaften“ May-Fans der Gegenwart
immer neuen Deutungen unterzogen werden,
denen aber der einfache und humorvolle Stil
vom „Schatz im Silbersee“ oder „Durch die Wüste“ abgeht.
„Der Streit um den Nordpol“ hat eigentlich alles,
was man für einen unterhaltsamen und gleichzeitig intelligenten Schmöker braucht: Einen historischen Skandal, korrekte biografische Details,
Karl May im Kampf gegen die feindliche Presse
- und hier aberwitzige Wendungen in der Romanhandlung: Intrigen, Abenteuer, Kulturkritik
und die Sehnsucht nach einer besseren Welt angesichts einer Welt, der sich der Held nicht mehr
zu Recht finden kann und der er schließlich
nur im Tode entkommen kann. Denn es zieht
nicht nur der erste Weltkrieg immer drohender
am Horizont auf. Auch die Schrecken der Zeit
danach, deuten sich in Begegnungen mit Zeitgenossen immer deutlicher an. Mays Traum von
einer Welt von Edelmenschen - er interessiert
kaum noch jemanden. Karl May‘s letzte Tage im realen Leben wie im Roman sind Tage der
Desillusionierung und des Rückzugs, Tage des
Zerbrechens von Träumen.
Wer zuerst am Nordpol war, ist nicht wirklich zu
klären. Und warum sollte es nicht der sächsische
Meistererzähler gewesen sein?
Wobei ich ich hier als erklärter May-Fan bei allem
diebischen Vergnügen auch etwas Kritik äußern
muss: Was dem „Streit um den Nordpol“ fehlt,
ist ein gründlicheres Lektorat. Zu viele Schreibfehler und holprige Formulierungen reißen einen
immer wieder aus der Geschichte heraus.
Und an manchen Stellen gingen Emersleben
wohl die Rappen seiner Phantasie einfach durch:
Flüge im UFO sind für die Story nicht wirklich
nötig. Obwohl Emersleben natürlich Recht hat,
dass schon in „Winnetouss Erben“ ein Fluggerät
wichtig war. Und auch die Seelenflüge mit der
Inuit-Schamanin wirken in dem Zusammenhang zu konstruiert. Bei May konnte man sich
als Leser eigentlich immer drauf verlassen, dass
im Rahmen der abgesteckten Erzählwelt für alles
logische Erklärungen gefunden wurden. Wenn
religiöse Fragen aufgeworfen wurden, dann suchte May die Antworten darauf niemals im außerchristlich-esoterischen Umfeld sondern im Rahmen seines christlichen Glaubens.
Raimund Nitzsche
Otto Emersleben: Der Streit um den
Nordpol - Karl Mays letzte Reiseabenteuer
Format: Kindle Edition
Dateigröße: 609 KB
Seitenzahl der Print-Ausgabe: 359 Seiten
Verlag: zamisdat (26. September 2012)
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Bücher
Nur ein kleiner Dreher
Neal Stephenson - Error. Eine Rezension von Raimund Nitzsche
Ein kleiner chinesischer Hacker will Spieler eines Online-Rollenspieles abzocken. Dafür programmiert er einen unscheinbaren Virus. Doch
„Error“ entwickelt sich ausgehend von diesem
kleinen Ereignis zu einem immer rasanter werdenden Thriller über Terror, Geheimdienste und
natürlich das Überleben des Einzelnen in einer
Welt, die sich nicht an die großartig ausgedachten Pläne hält.
Es beginnt mit einer Szene, die angesichts der
letzten Amokläufe gespenstisch wirkt, für amerikanische Verhältnisse aber eigentlich vollkommen alltäglich ist. Die Familie trifft sich
zu Thanksgiving. Und bevor das große Essen
beginnt, schießen alle mit ihren jeweiligen
Pistolen,und Gewehren im Gelände herum. Der
bei Familienfeiern übliche Streit wird so verhindert und der Lärm überdeckt die Spannungen.
Eine normale amerikanische Familie? Sicherlich
nicht. Denn Richard Forthrast, der reiche Onkel,
hat mit einem Online-Spiel ein Millionen-Unternehmen geschaffen. Sein Geld allerdings hatte
er früher als Drogenschmuggler verdient. Und
auch der Rest der Sippe ist mehr oder weniger
ungewöhnlich.
Gern bezeichnet man den amerikanischen Erzähler Neal Stephenson als Universalgelehrten.
Manche bevorzugen auch das ungleich gehemnisvollere Substantiv Visionär, um ihn zu charakterisieren. Wenn Romane von Stephenson
etwas ausgezeichnet hat von seinen Anfängen im
Cyberpunk bis heute, dann ist es die unwahrscheinliche Fülle an Fakten, die selbst komplexe
Fragen wie etwa die Herkunft von Phänomenen wie der Zungenrede in den Weltreligionen
(„Snow Crash“), die Herkunft und Grundlegung
des neuzeitlichen Geldsystems (Barock-Trilogie)
oder das Problem sicherer Codesysteme („Cryptonomicon“) werden bei ihm in spannende und
unterhaltsame Geschichten verpackt, die in den
letzten Jahren selten unter tausend Seiten auskamen, aber doch niemals langweilig wurden.
Ob man ihm ob seiner düsteren Zukunftsschilderungen in „Snow Crash“ oder „Diamond Age“
als Visionär bezeichnen sollte, bleibt jedem selbst
überlassen. Auf jeden Fall hat Stephenson schon
zu Beginn des Internetzeitalters einige der Ideen
formuliert (die später als letzter Schrei galten und
heute verkümmern) und mit Begriffen versehen,
die bis heute anerkannt sind. Und dass die heutigen Gesellschaften in Ost und West, in Asien
ebenso wie im Vorderen Orient zu zerbrechen
drohen, dass wird jeden Tag neu ansehbar an den
abendlichen Nachrichten. Die bisherigen Modelle des gesellschaftlichen Ausgleichs funktionieren
nicht mehr im Zeitalter der Globalisierung. Und
so ist der Weg der Selbsthilfe in den Grauzonen
für viele die einzige Möglichkeit zu überleben.
Mit „Goldmining“ etwa, dem Trainieren von
Computerfiguren in Online-Spielen und dem
Herstellen von dort gebrauchten Waffen, verdienen Jugendliche vor allen in Asien schon heute
Geld. Wie groß dieser Bereich der Wirtschaft ist,
dazu gibt es kaum seriöse Studien. Schätzungen
gehen von dreistelligen Millionenbeträgen jedes
Jahr aus. Irgendwann sollen sogar chinesische
Strafgefangene von ihren Wärtern gezwungen
worden sein, für „Wold of Warcraft“ als „Goldminer“ zu arbeiten.
Hier löst der harmlose Virus eine Kettenreaktion
aus. REAMDE verschlüsselt die Festplatten der
befallenen Rechner. Und nur gegen Cash in virtueller Spielwährung will der Hacker die Dateien
freigeben. Doch was gut geplant war, führt in der
Spielwelt zu einem unkontrollierten Krieg um
das haufenweise auftauchende Gold.
Stephenson ist nicht der erste, der daraus den
Stoff eines Romanes macht. Dieser Ruhm gebührt Cory Doctorow und seinem Buch „For The
Win“. Aber wo Doctorow voller Pathos agiert,
merkt man bei Stephenson die Meisterschaft
des Erzählers: Jede der zahlreichen Figuren des
Romans wird genau charakterisiert, so dass ihre
Motive niemals platt daherkommen. Nicht nur
der Hacker oder der Software-Fabrikant, auch
dämliche russische Finanzverwalter, die die Altersvorsorge russischer Mafiosi verzocken scheinen plausibel wie diverse Geheimdienst-Chargen
oder die dummerweise im falschen Haus wohnenenden Dschihadisten, die ihren Anschlag in
China nicht machen können und dafür am liebsten Las Vegas sprengen würden. Am Ende gibt
es auch in der realen Welt einen Krieg. Nicht
zwischen Nationalstaaten sondern den verschiedensten Gruppen von Menschen, die durch den
Virus in die Geschichte hineingezogen wurden.
Man könnte „Error“ getrost als Action-Thriller
bezeichnen. Doch den eigentlichen Reiz machen
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die die Handlung eigentlich bremsenden Nebengedanken aus, den Hintergrundgeschichten der
Protagonisten und der bis ins Detail festgelegten
Story hinter dem Spiel T‘Rain, das anders als seine Konkurrenten damit prahlt, eine „echte“ Welt
nachzubilden und nicht nur eine platte Spieloberfläche zu bieten.
Stephenson erklärt nicht in seinem Buch, er erzählt: Vom Aufbau von Computerspielen ebenso
wie vom Funktionieren internationaler Flugrouten im Zeitalter des Terrorismus, von Geldbewegungen im digitalen Netz und der Finanzwirtschaft innerhalb der organisierten Kriminalität.
Und das ist in Kombination mit den wundervoll
ambivalenten Charakteren seines Romans der
Hauptgrund, sich durch die mehr als 1000 Seiten
zu wälzen. „Error“ mag nicht das Zeug zum Klassiker haben, wie das „Snow Crash“ oder „Cryptonomicon“ in bestimmten Kreisen schon sind.
Aber es ist als Thriller um vieles intelligenter und
unterhaltsamer als ein Großteil der Romane, die
zur Zeit auf dem Markt sind. Denn eines ist Stephenson auf jeden Fall: einer der besten Erzähler
nicht nur der amerikanischen Literatur.
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Sprachraum
Angelik a Janz: Schwarz
und weiß
Erzählung (Erstveröffentlichung)
Der See hätte auseinanderbrechen müssen wie damals dem Moses und seinem Volk das Rote Meer, um eines Menschen Gedanken da hindurchführen zu können. Da, in der Mitte, der Länge
nach, war nicht einmal Überschwang, nur RISS, das Allerentfernteste, das ein Ich v o r sich entblößen kann. Das befand sich dort:
im, über dem, unter dem Wasser. Natürlich war überhaupt nichts
zu sehen. Das war 1986.
Wir verplauderten uns an Novalis: “Das Sichtbare haftet am Unsichtbaren...- und – vielleicht, das Denkbare am Undenkbaren.“
Wir sehen, aber was wir sehen ist falsch.
Das Wasser hörte hier auf, einfach nur das Wasser eines Sees
zu sein. Innerhalb des friedlich vom Westwind gekräuselten Sees,
über den Mandarinenten hinwegglitten wie luftige Lampignons,
gab es etwas, das dem Nachdenken gewöhnlicher Erfahrung widersagte,- ja, widersagte wie einem bösen Dämon.
Dieser See dort, über den wir e s besser wussten, war eine Analogie - und dieses „e s“ war jene Tatsache, die weder Tat noch
„Sache“ zusammenzuführen imstande war. Beides schien unumkehrbar voneinander getrennt zu sein.
Zum ersten mal waren wir mit etwas Sichtbarem, Erfahrbarem,
mit Natur schlechthin konfrontiert, inniger als jemals bisher, jawohl, mit einer Idylle konfrontiert, die nichts mehr galt als ein
flüchtig hin gekritzeltes Wort, Singsang A-na-lo-gie – wussten
wir etwas über die Bedeutung des Wortes? Nichts Trügerisches
verbarg sich hinter der so gewollten Zusammenschau von Buchstaben.
Bewegst du dich auffällig, so bedroht dich das Wort.
Wie kann man sich in dieser Idylle auffällig bewegen? Nun, warum sollten wir uns auch bewegen? Die Sonne erwärmte unsere
geschlossenen Lider, wir lagen auf dem hölzernen Bootssteg, redeten leise. Wir hätten mit dem Wald, der das gegenüberliegende Ufer säumte und hinter dem einige grob verputzte Fassaden
ahnbar waren, Ähnliches in Gedanken anstellen mögen, auch
ihn schloss die Analogie mit ein. Nein, lieber malten wir uns ein
Deutschland aus, das ohne den Heimatbegriff nichts weiter, als eine Fläche Erde gewesen wäre, auf dem Häuser in der Landschaft
standen und darin Menschen waren, die schliefen und aufwachten, wie es ihre Natur vorschreibt.
Wir ritzten Umrisse in die poröse Ebene des Vorstellungsgeländes, und was außerhalb dieser Umrisse lag, das war gemeint. Die
Flächen, die draußen lagen und die sich nicht zu einer geschlossenen Form entschließen konnten, entschließen durften, weil ihnen
jede entschiedene Linie, die zu sich selbst zurückführen konnte
(die bewusste Wendung), die landläufig begriffene Vollendung
von Gestalt abnehmen würde.
Wir schwimmen. Das uns umgebende Wasser macht unsere Bewegungen und unser Dasein darin möglich. Wir setzen uns über
diese Bagatelle hinweg, über die wir uns zunächst so begeistert
einig gewesen sind, als hätten wir die Welt neu in den Griff gezwungen.
Was ist wichtig? Immer sind die Ebenen und Räume wichtig, an
denen, in denen sich etwas fest machen lässt. Das Sichtbare haftet
am Unsichtbaren. Wir möchten damit nichts anfangen. Wir füttern die Enten mit Mohnkuchen. Für sie ist das Sichtbare, das am
Sichtbaren haftet, allein gültig. Sie schwimmen oben aufgrund
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Sprachraum
ihrer Befähigung, den selbstproduzierten Körpertalg mit dem
Schnabel über ihr Gefieder zu verteilen, und wir können sie s e h
e n, von dem Talg wissen wir nur. Wir können auf den See schauen, aber von seiner Eigenschaft, kein See mehr zu sein wie man
Seen aus den Ferien, der Literatur und von den innerländlichen
Landkarten kennt, können wir nicht wissen. Da wir aber behaupten, es doch zu wissen, uns aber den Beweis schenken, indem
wir uns nicht auffällig bewegen, geraten wir gewissermaßen vor
uns selbst in den Verdacht der Unglaubwürdigkeit. Wir setzen
der Natur einen gefährlichen Stoff zu, der uns die Erinnerung
vergiften wird.
Wir sehen fern. Wir selbst sahen uns in diesem Apparat liegen
in der Sonne, wir sahen, wie wir gesehen wurden, wir sahen uns
nicht allein dort liegen.
Novalis bäumte die Bäume und verwässerte das Wasser, als er
schrieb:“...und vielleicht haftet das Denkbare am Undenkbaren.“
Hatte er sich vermessen dabei? Wir konnten das Denken mit einer
Grenze nicht ausweisen. Vielleicht ist es das Un-Mögliche, an das
sich unser Denken heftet. Das Unmögliche glaubten wir sichtbar
machen zu können, indem wir eine geschlossene Form in eine
vage Gegend ohne Himmel und Erde, ohne Maß und Tiefe hineingestikulierten.
Die Einfalt ist nun tatsächlich nicht mehr auszugrenzen. Jenseits von ihr verschwendet sich nicht etwa das Unmögliche, - ein
angeblich beseeltes Wesen aus Fleisch und Blut. Es ergeht sich in
der Analogie statt im Grunewald. Es schwimmt durch die Analogie statt durch den Glienicker See. Auf der Mitte des See will es
e s wissen: Schwimme ich in der Mitte eines Sees oder sehe ich
mich nur fern in einem Apparat, der seltsam gleichschaltet das
Sehen und Wiedersehen?
Novalis hätte uns für jenen Moment unserer Erinnerung an
Gelesenes schweigen sollen. Das Schweigen zwischen seinen Gedanken und die Idylle hier waren vollkommen. Zu jeder Idylle
schließlich gehört eine Portion vorgedachter Angst. Hätte Novalis geschwiegen, wäre der See vielleicht selbst sein Schweigen
gewesen, und der Glienicker See, der brackig war für keine 10
Zentimeter Durchsicht und mit seinen braven Enten aus Asien
auf den Kräuselwellen das Unsichtbare, woran ein Sichtbares,
sein Schweigen, haftete. Nach der Angst hätten wir uns gesehnt,
vielleicht, weil wir immer etwas gegen uns haben müssen, das
unseren sicheren Tod bedroht. Das Ende, wo sich Stoff nicht mehr
gegen Stoff auflehnt und zerstäuben muss in dauerhaft begrenzter Reibung.
Im Ende muss das Ungestaltete das Ungeschlachte einfach verschlingen. Für das Böse haben wir immer mehr Worte gewusst
als für das Gute. Bevor in die deutsche Sprache der Begriff des
Schuldgefühls seine zerstörerische Einkehr hielt, der bis heute
sein karnevalistisches mea culpa nicht bei sich behalten kann,
haben wir „nur“ die Scham gekannt. Wer setzte die gefühlsmäßige Sicherung dagegen, das Denken schon für Existenz zu halten,
um sich mit seinen nach außen gewendeten Vereinbarkeiten beschwichtigt ins eigene Fleisch zurückziehen zu können?
Wir waren bedient von der Analogie und machten uns auf den
Weg nach Steinstücken, passierten die schmalste Einfassung der
Landesgrenze, die Bernhard-Beyer-Straße in sengender Hitze. Es
war Mittag, wir waren die Einzigen in dieser Strasse. Über das
öde Niemandsland hinweg drang aus den hoch aufgeschossenen Kontrolltürmen anzügliches Lachen gutgelaunter VoPos zu
uns herüber. Ihre Scherzlaute galten uns, sie hatten uns im Visier
welcher Apparate? Sicherlich hätten sie über Hautunreinheiten in
unseren Gesichtern mehr aussagen können, als wir über die Unreinheiten von Spekulation jenseits der Scham, auf der Seite des
Überdrusses, wissen konnten.
Angelika Janz, 1986/2013
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Illustrationen: John Constable, Wolkenstudien
John Constable, Moorwiesen bei Salsbury
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Sprachraum
Jean Paul: Mein Aufenthalt in
der Nepomukskirche während
der Belagerung der Reichsfestung Ziebingen
Je kleiner eine Reichsstadt, desto größer ist ihre Geheimnissucht,
und ein ganz kleines Reichsdorf gesteht gar nicht einmal seine
Existenz. Vielleicht glaubte auch Ziebingen – ein anderes Ziebingen als das im krossischen Kreise – wer sich zu spät beweglich
(mobil) wider den Feind mache, werde leicht zu früh beweglich
vor demselben und renne. Kurz, wäre Senat und Militär nicht so
verschlossen gegen In- und Ausland gewesen wie die Jubelpforte
in Rom, welche man nur an Jubeljahren aufmacht und sogleich
zumauert: so hätt‘ ich von der bevorstehenden Belagerung etwas
erfahren, eh‘ die Tore zugesperrt worden, und wäre fortgeritten;
so aber wurde jeder Reisende mit einkaserniert, ohne etwas davon zu haben als diesen Aufsatz.
Die schon aus öffentlichen Blättern bekannte Veranlassung war
diese.
Das Reichsstädtchen Diebsfehra – nicht das meißnische Dorf –
besaß mit Ziebingen auf den Grenzen eine Gemeinhut, worauf
beide ihre Gänse weiden durften. Unglücklicherweise fiel den 4.
Mai ein so starker Hagel auf die Markung und Koppelhut-Aue,
daß vierzig teils Gänse, teils Ganser erschlagen wurden, den
Diebsfehraner Gänsehirten nicht einmal gerechnet, welchen der
Blitz niederstreckte.
Der Ziebingsche Gänsehirt ließ als Patriot alles Tote liegen und
trieb so viel Lebendiges, wie sonst, nach der Festung. Diebsfehra,
eine Stadt von mehr als anderthalb hundert Einwohnern, konnte eine solche Verletzung der Weide-Parität nicht schweigend
erdulden, wenn sie bleiben wollte, was sie war – Minister mit
dem Portefeuille der auswärtigen Angelegenheiten wurden mit
den stärksten Vollmachten und Ausdrücken in die Festung geschickt – auf Halbpart oder Parität der Gänse wurde bestanden –
Schmerzensgelder wurden gefordert – Sturmläufer gedroht. Aber
die Ziebinger, schuß- und stichfest durch ihre Festung, schickten
ihnen nichts als ein Protokoll der Aussage des Gemeindehirten,
daß die Hagelwetter bloß über die Diebsfehraner Gänse gezogen;
was, wie er beifügte, auch der erschlagene Gänsehirt beschwören
würde, wenn er als Gespenst vor Gericht erschiene. Angebogen
war noch ein physikalischer Beweis vom Stadt- und Landphysikus, daß nie eine Hagelwolke die ganze Erde treffe, sondern
stets nur einen Streif, neben welchem folglich nicht einen Gänsefuß breit davon der ungetroffene liegen müsse; woraus erhelle,
warum die in Frage gestellte Wolke sich bloß an den feindlichen
Gänsen verschossen.
Der Krieg zwischen beiden Mächten war entschieden, und tote
Gänse schürten, wie einst lebendige kapitolinische, das Gefechtfeuer an.
Denn so sehr auch Diebsfehra an Heereszahl den Ziebingern
überlegen war, so besaßen diese doch eine Festung und noch
oben darein den wackern, tüchtigen Kommandanten: Ich sterbe
täglich und mein Leben; ein frommer und ziemlich abgekürzter, obwohl dennoch langer Name, welchen er nach der Sitte der
Donatisten und Presbyterianer bei aller Länge sehr gut führen
konnte, da man nur Kürze der Kommandowörter, nicht aber der
Kommandantennamen verlangte. Auch brauchten die Belagerten
nur die Tore zuzumachen, so konnte niemand wenigstens – heraus. Eingeriegelt wurden gegen alle Festungsmaximen – bloß um
recht geheim zu bleiben – noch ein Elefant und ein Buchhändler.
Letzterer hieß Peter Stöcklein und gab sich für einen Nachkömmling von dem bekannten Peter Stöcklein aus, welcher 1513
der erste Buchhändler in Leipzig war und der erst in seinem 102.
Jahr mit Tod abging. Vielleicht würde die deutsche Gesellschaft
in Leipzig sich um Deutschland oder die dasige Buchhändlerschaft sich um ihren primum adquirentem und buchhändlerischen Adam einiges Verdienst erwerben, wollte sie an Ort und
Stelle dessen Begebenheiten und Nachkommen genauer nachgraben, um so durch anhaltende Forschungen seinen beinahe unter
der Erde versteinerten Stammbaum ans Licht ziehen. Ich würde
dann sehen, ob der neue Peter Stöcklein wirklich, wie er vorgibt,
oben dran sitzt als Wipfel.
Der neue Stöcklein nun wollte nach der Messe eine kleine Lustund Geschäftsreise durch die besten Schreib- und Kaufstädte
machen, um Gelder, Schriftsteller und Käufer einzunehmen – als
der Teufel, ein ewiger Naturforscher, ihn wie einen Hornschröter
in die Festung festpflöckte. Stöcklein ist ein wahrhaft gebildeter
Mann und voll gedruckter Kenntnisse, um mit mehr Auswahl geschriebene zu verlegen, und durch Autoren-Wissenschaften, um
ganze Messen früher als sich selber zu bereichern, gewissermaßen ein Vielwisser, indem er Sortiments- und Verlagsbuchhändler zugleich ist. Da er, was mich anging, fast alles gelesen, was
von mir gesagt worden, in den Rezensierblättern: so schloß er sich
gern an mich und wünschte sich Glück zur gemeinschaftlichen
Einsperrung. Darauf setzt‘ er hinzu: von der einen Seite könn er
wohl eine flüchtige Belagerung gebrauchen für sein Belagermagazin – (er verlegte nämlich eines, so wie jetzo Kleider-, Sarg- oder
andere Magazine und bei Buchhändlern fast alle übrigen Magazine zu haben sind) – aber von der andern Seite wünsch‘ er als
Anfänger, den man mitten in seiner Reise aufhalte und der samt
seinem Pferde kaum von der besten beschriebenen Belagerung
in seinem Magazin satt werden könnte vor lauter Rabatt – da
wünsch‘ er einen Verlagsartikel von mir. Da ich aber keinen in
der Tasche, noch im Kopfe hatte: so schüttelt‘ ich diesen; darauf
sagt‘ ich, um zu mildern, scherzhaft: ließ ich im Diskurse etwas
von Gewicht fallen, so mög‘ er‘s aufnehmen und den Käufern
auftischen. Später sah ich, daß er wirklich mit der Rechten in der
Tasche arbeitete, um Einfälle aufzuschreiben, womit er seine Belagerung würzen wollte.
Nun hebt dieser selber an. Der geheime Ziebinger Ausschuß
wußte bestimmt, daß man die Festung den 8. Mai mittags berennen würde. Dieses Bekanntwerdenlassen zeigt, daß die Diebsfehraner echter deutsch waren als jene; denn wie die Samojeterinnen ein Glöckchen tragen, damit die Eltern jeden Schritt und
Aufenthalt derselben wissen, so klingeln die Deutschen ebenso
ihre Märsche den Feinden aus, wodurch diese am ersten baldigen Frieden geben können. Ja, wie hohe Priester mit Schellen am
Rocksaume ins Allerheiligste gingen, um ihren Gang anzuzeigen:
so gehen sie ebenso laut in und aus Sitzungen, wiewohl weniger,
um damit ihren Gang, als den Gang der Sachen bekannt zu machen. –
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Sprachraum
Jetzt wurden ernsthafte Vorkehrungen getroffen, wozu lächerliche recht gut taugen. Patriotismus war allgemeine Empfindung.
– Der Nachtwächter dankte ab, weil Bomben, wie er sagte, ihn
gänzlich störten und springende die Diebe noch eher verjagen
würden, als ein lahmer Mann, – die Fahnen wurden neu geweiht,
– die allergefährlichsten, doch kriegserlaubten Stichwaffen wurden zusammengesucht, nämlich stumpfe und rostige, vor deren
Wunden Gott bewahre. – Alle von uralten Belagerungen in Gebäuden wie Augäpfel eingesetzte Kanonenkugeln wurden ausgehoben, um von neuem loszugehen. Alles Scheibenpulver der
Festung wurde dem Kartaunenpulver beigeschüttet, weil von
letztem mehr hätte da sein sollen. – Wär‘s in einem der grimmigsten Winter gewesen, so hätte man sich leicht Kanonen aus Eis
die Gewährleistung des Siegs. Vaterlands- und Reichsfestungsliebe, schrieb er, schlägt sogar im Herzen des Foetus vermittelst der
Mutter, und alles will sich sogar bis auf den letzten Mann wehren
(was glaublich ist, wenn vom letzten Mann nicht weit zum ersten
ist). – Nur bedauerte der Zeitungsschreiber, daß seine Zeitung,
welche dem Feinde allen Mut rauben könnte, gerade von demselben mit belagert werde. –
Kurz, nun fehlte zur besten Verteidigung nichts als ein Feind
dagegen; der aber erschien redlich am 8. Mai nachmittags.
Fast hätte der Anfang uns sämtlich erschreckt. Nämlich durch
einen bloßen Zufall – und noch bevor das belagernde Heerkorps
sich völlig festgesetzt, fügt‘ es sich, da eben der Wind durch die
Stadt ging, daß ein Luftballon – (kein größter) seinen sinkenden
gebohrt, wegen Mangels metallener; denn einige vorrätige hatte
kurz vorher der Kommandant, verschlagen genug, den Diebsfehranern aufgehangen und verkauft, für eine tüchtige Menge
Fässer mit Mehl, da eine Festung wohl das Schießen, aber nicht
das Schlucken entbehren kann. – Über das schwächste Tor – (ihr
anderes war gut gedeckt) wurde eilig ein kleiner Hundestall mit
einer Türe gegen den Feind und einer gegen die Stadt erbaut und
darein ein halbwütiger Hund samt einer Kuppel gesunder getan, die sich untereinander während der Belagerung wütig beißen sollten, so daß man die tolle Nebengarnison aus der Feldtüre
auf den anstürmenden Feind konnte hinabspringen lassen: ob er
kriegsgerecht, da man den Spaniern in Amerika schon die gesunden verdenkt, entscheide ich nicht. –
Das Pflaster brauchte man zum Glücke nicht aufzureißen, weil
gar keines da war, so auch keinen Dünger aufzutragen, indem
ihn jeder Bürger vor seinem Hause unterhielt, um sich durch
diese verdauten Heuhaufen an den Frühling zu erinnern. – Der
Kommandant forderte, um im höchsten Grade aufzumuntern,
die Besatzung vor sich und gab ihr eine Ehrenbelohnung für ihre
künftige Tapferkeit voraus, indem er sich von jedem seine Flinte reichen ließ, sie an seine eigene Schulter legte und dann mit
den Worten wiedergab: »Hier empfange von mir eine Ehrenflinte; bist du in der Nähe ebenso tapfer, so schlag‘ ich auch deinen
Säbel zu einem Ehrensäbel, und dann hast du Ehre am Leibe.«
– Er setzte kleine Preise auf tapfere Träume voll Siege (wie sonst
Tyrannen Strafen auf mörderische), um durch das Träumen das
Wachen zu stählen. – Er selber kaufte sich den neuesten Kriegsschauplatz, nämlich die Ziebinger Stadtkarte und machte sich
darin wie einheimisch, so daß er bei den verwickelten Vorfällen,
der Feind mochte angreifen, wo er wollte, immer zu Hause war
und das Örtliche kannte, wohin die Leute zu beordern waren. –
Endlich sogar der Zeitungsschreiber gehörte unter die Bollwerke
und Basteien der Stadt, und über alle Beschreibung entzündete er
jeden Ziebinger durch die der feindlichen Schwäche und durch
Bogenflug geradeüber der Festung beschloß; wir alle hielten den
Ballon für eine der verdammtesten Bomben, die man je zum Teufel oder zum Feinde gewünscht: die tapfersten Ziebinger Gesichter wurden so weiß wie die Hahnkämme im Winter. Aber diese Kampfhähne sagten: »So beschießt uns aber mit ordentlichen
Bomben, so sollt ihr sehen.« Gewissermaßen glichen also viele
dem trefflichen Cicero, der, obwohl ein großer Redner, doch bei
jedem Anfang zitterte, darauf fester fortsprach und endlich andere, z. B. einen Cäsar, ins Zittern brachte: Desto seliger sind Belagerte, die ein Kommandant, wie Ich sterbe täglich und mein Leben beschützt und verschanzt. Es war zwar kein borstiger Mann,
dessen Nase ein gespannter Büchsenhahn und die Nasenlöcher
Schießscharten sind und welcher sagt, ich wollte beim Teufel,
alles, Gemeiner und Unteroffizier, Bürger und Bauer und Weib
und Kind, alles wäre von Adel, damit ich mich mit ihm hiebe
und schösse als mit meinesgleichen. – Vielmehr war umgekehrt
der Mann sehr milder, milchiger Natur, nicht ein Brei, ein dicker, worin ein Knochen oder Degen feststeht, sondern eine weite,
knochenlose Marksuppe, und so viele Narben er auch aufwies, so
hatte sie doch sämtlich der Aderlaßschnapper geschlagen; aber
sein Mut wurde bloß gedämpft und mehr gehörig eingeschränkt,
da nahe an ihm ein Pulverhorn, wie eine Mine, gesprungen und
ihn, wie der Blitzschlag Luther, theologisch gemacht hatte. Wie
im bloßen Löwen von Butter, welchen Canova als Küchenjunge
geformt, sich die ganze Größe des Künstlers verriet, so zeigte der
Kommandant als weicher, butterner Löwe ganz, in jeder Linie,
den Umriß eines wahren Kriegsleuen, und zwar sehr und genug:
er ließ die Kriegs-Festungsgesetze, gleich dem Zendavesta, der
auf 1200 Häute geschrieben worden, bloß weitläufiger und gröber, doch unleserlicher, weil das kurze Schreibrohr ein langes
spanisches Rohr war, auf die Kompanien von Häuten schreiben
und bringen, für die er zu stehen hatte; – es gab gar keinen so
geringen Fehler, den er nicht mit kleiner Festungsstrafe ahndete
in der großen Festung; – sogar Hunde wurden arretiert und auf
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Sprachraum
die Wache gebracht, welche an Schilderhäuschen den Sturm der
Schildwache und ihr eigenes Wasser abgeschlagen. Man kann
nun erraten, ob er sich in den Kleinigkeiten wohl weniger streng
und kunstvoll benommen.
Endlich aber zum Größeren zurück! Wer je die Allmacht über
Subordinationsherzen berechnet hat, welche große Generale
durch herablassende Teilnahme an gemeinen Pflichten ausüben:
der errät leicht die Gründe, warum der Kommandant selber sich
zum Losschlagen der ersten Kanone auf den Wall begab und die
Kanonen-Magister-Künste [Fußnote] so beorderte: »Wischt aus –
Kartusche in den Lauf – setzt an – Schlagröhre hinein und richtet
– Feuer!«
Aber der Feind, welcher wohl glaubte, bei einem höflichen Salutieren müßte man ohne Kugeln schießen fand sich beleidigt davon und machte nun keine Umstände, sondern den Anfang der
Belagerung.
Es ging los. Schon die erste feindliche Haubitze fuhr ins Schal�loch des Kreuzturms und warf mit schrecklichem Klange die
Kindtaufsglocke auf die Gassen hinaus. Die erste Bombe fiel und
zerplatzte und riß den Pranger und einem Invaliden das einzige
Bein, das er von Holz hatte, hinweg und einem jungen Patrizier
(was aber sehr nach Scherz klingt) die Nase von Wachs. Überhaupt hätte das Bombenfeuer der Diebsfehraner mörderisch werden können, hätten sie mehr als einen Mörser gehabt; denn mit
Bomben waren sie fürchterlich versorgt. So konnte die Festung
sich wenigstens während des Ladesabbaths etwas erholen und
zurüsten. Die erste Bombe sonderte sogleich die Stadt in drei
Teile: der erste, welcher Lagerbier hatte, begab sich zu diesem
hinunter, der andere samt den fluchenden Reisenden in die bombenfeste Kirche, und der dritte aus Handwerkern, mit zu vielen
Werkzeugen und Kindern belastet, blieb, wo er war, nur daß er
seinen alten Düngerhaufen vor dem Fenster viel näher an dasselbe schob, ja auf dasselbe als Fensterladen und Schießhausmauer;
eine närrische, umgekehrte Art von Mistbeetfenster, wo das Fenster unten liegt.
Die ersten, welche in die Kirche gingen, waren ich, der Buchhändler und der Elefant.
Der Elefantenherr war zu bedauern: mit Mühe brachte er den
Christophel – so hieß er seinen Tierriesen, durch das enge Tor
hinein – und nun nicht einmal hinaus. Da er ihn schon für gehöriges Schaugeld vorgewiesen: so war mit einem Vieh, das sicher der
Stadt so alltäglich wie eine Katze, kein Pfennig weiter zu verdienen, indes der Christophel so ungeheuer fortfraß, als wär‘ er noch
ein Wunder der Welt. Weil nun den Landwalfisch kein Keller faßte und ihn doch im Stalle jede Bombe finden konnte, so tat der
Elefantenherr (ein struppiger, mongolisch-blickender, plattnasiger Kerl) vor dem Senat mehr als zwanzig ausländische Schwüre,
daß er, wenn sein Christophel nicht in der Kirche stallen dürfe,
ihm ohne weiteres drei Nösel Branntwein zu saufen gebe, worauf
sein Tier (dafür steh‘ er) das erste beste Stadttor einrenne.
Der Christophel wurde als innerer Türsteher hinter die Kirchentüre gestellt. Ich und der Buchhändler betteten uns in die Sakristei, wo es ganz artig war. Er schlief ganz nahe an mir, weil vielleicht im Traum, dacht‘ er, eine brauchbare Rede abfallen könnte.
»Hier ist endlich,«sagt‘ ich, »Herr Buchhändler, Zeit und Ort zum
Spaße und zu einem guten Tage. Die Alten (ließ ich fallen) verordneten bei Niederlagen, Pest und dergleichen statt der Bußtage
Freudenfeste; warum wollen wir Neueren denn nicht die Trauer,
statt mit Trauer, lieber mit Freude bekämpfen und dem äußeren
Trauerspiel mit einem inneren Lustspiel entgegenspielen? Aus
welchen Gründen bestehen Sie denn so sehr auf der entgegengesetzten Meinung, Herr Stöcklein?« – »Gott bewahre mich! Ist einer lustig in Staatsnöten, so bin ich‘s,« sagt er sehr ernst. »Recht,«
sagt‘ ich; »sollen denn die Menschen den Fischen gleich werden,
welche kein Zwergfell haben und es also nicht erschüttern durch
Lachen? – Der Papiermüller kann nur bei heiterem Wetter fabrizieren; Heiteres von innen aber ist sowohl mir, der ich das Papier
zum zweiten Male bearbeite, als Ihnen, der Sie es zum dritten
Male abziehen, wahrlich noch nötiger als dem Papiermüller.«
Ich trat ein wenig aus der Sakristei – eine anmutige Übersicht!
Jeder weibliche Kirchenstuhl war von Männern bewohnt, alle Logen von Patriziern besetzt, von jeder Empore schauten Weiberköpfchen herab. Der weibliche Teil hatte sich absichtlich der höheren Emporen bemächtigt, um das männliche Beobachtungskorps
unter sich zu haben. So war die Kirche viel – zugleich Spinnstube
– Barbierstube – Ankleidezimmer – Boudoir – Herren- und Bedientenzimmer – Eßsaal – Schlafsaal und alles.
Noch vor Nacht wurde der Feind fuchswild; unaufhörlich kanonierte und haubitzierte er, wiewohl nicht jedesmal zu unserem
Schaden, da wir manche seiner Kugeln ihm wieder zuschicken
konnten. Lächerlich genug schoß er einen Gewitterableiter entzwei, als wenn man im Erdengewitter des Krieges viel danach
fragte, daß man von oben herab erschlagen werde, sobald man
nur nicht von unten herauf erschossen wird.
Zum Besten der Kirchenversammlung waren einige Leitern in
die Kirche niedergelegt, welche von Personen, die um die Ihrigen
bekümmert waren, aufgerichtet werden konnten, damit sie sähen, wie es draußen herginge. Die langen Kirchenfenster standen
nämlich glücklicherweise nackt und von keinen Emporen überbaut da, so daß eine Leiter bequem anzubringen war.
Ich legte meine an und stieg hinauf – Stöcklein mir nach, um
das aufzufangen, was mir etwa von der Leiter entfiel – und sah in
die Straßen hinein: ich sah nichts als Tapferkeit auf der Gasse. Da
eben eine Bombe niedergefallen war, so beorderte ein außer ihrer
Springweite stehender Patriot, mit einem Mute, der nichts fürchtet, seine Leute, mit ähnlichem hinzulaufen und Wasser darauf
zu schütten. Die Leute aber, vielleicht weniger mutig als er oder
glaubend, sie langten zu spät an, zögerten ein wenig, als zum
Glück ein entwischter Tollhäusler, der alles, in einer versteckten
Ecke eingekrümmt, vernommen hatte, hervorsprang und so lange auf die Bombe pißte, bis er sie tot gemacht. Darauf grub er sie
heraus und rief springend. »Platzkügelchen ist mein, ist mein!«
Dieser Vorfechter der Garnison und des Vaterlandes wird aber
ewig in der Geschichte glänzen mit seiner Bombe, gleichsam seinen Parisapfel der Ehre in der Hand, den er sich selber gegeben;
und seine Tollheit wird gerade ein Lob seiner Klugheit mehr sein.
»Auch der Patrizier,« sagt‘ ich, die Leiter zurücksteigend, »tat das
Seinige.« – »O Verehrtester,« sagte Stöcklein zurückweichend,
»fangen Sie unten wieder an, ich höre nichts.«
»Aber ich erriet,« sagt‘ ich unten am Leiterfuße, »den Braven
schon längst, und zwar aus seinem Geruche. Junge Garnisonsoffiziere, wenn sie parfümiert (wohlberäuchert) genug sind, haben
das Zeichen, woran man echten damaszierten Stahl erkennt, daß
er nämlich einen unvertilgbaren Parfüm aushaucht; etwas Einziges an einem Metalle! Die gewöhnliche Ähnlichkeit mit dem
Damaszener-Säbel – in das Eisen Scharten zu hauen, ohne eigene
zu bekommen – bringt der wohlriechende Offizier nicht sowohl
in den Krieg als aus dem Kriege, der ihn, wie den Stahl, wechselnd abkühlt und erhitzt, so daß er bei dem Friedensschlusse als
ein Mann dasteht, der jede Stunde ins Feld taugt. Wenn ich sonst
wollte, könnte ich das Gleichnis noch zu einem triftigen Spruche
steigern: der rechte Mann sei scharf gegen Angriff, und doch zugleich anmutig genug; wie der Damaszener, zerhau‘ er Eisen und
hauche Blumenduft.«
Der Buchhändler konnte die rechte Hand nicht aus der Tasche
bringen.
Die Nacht verdroß manchen von uns, weil das einfältige Hinund Herschießen uns bald im ersten Schlafe störte, bald im zweiten, bald im dritten. Wird denn der Gottesfrieden des Schlafs gar
so wenig bei Belagerungen respektiert? fragt‘ ich. Schlaftrunken
und ungemein verdrießlich guckt‘ ich aus der Sakristei in das
Kirchenschiff und dessen wache Schiffsmannschaft hinaus; ergötzte mich doch aber einigermaßen an der Beleuchtung durch
die Wachslichter auf dem Altar und durch einen schlechten Kronleuchter, der statt des Tauf-Engels in der Mitte hing. Mehrere
eingelaufene Juden waren so froh wie die Fische im Wasser, das
kocht, wiewohl sie für ihren Interimsübertritt in unsere Kirche
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© wasser-prawda
Sprachraum
etwas Besseres verdienten. Plötzlich schlug gar eine Bombe auf
unser Sturmdach auf, – alle Schlaftrunkenheit war fort – alle sahen an die Kirchendecke und glaubten, jeder daran gemalte Prophet fahre hinunter und die Bombe ihm nach. Die einkasernierte
Judenschaft verwandelte die Nepomukskirche in eine Casualsynagoge und schrie Zions oder dergleichen, denn für Beten nahm
ich ihr Heulen. Am Tage indes machten sie zum Glück einige Geschäfte im Tempel.
Auch hatten verschiedene Betteljuden in Kompanie einen reichen Juden, der bei einer Klosterversteigerung und Zerstörung
mehrere gut erhaltene Beichtstühle und Altäre erstanden, solche
für die Kirche abgemietet, teils um die Altäre wieder an die Geistlichkeiten zu vermieten – da bei den allgemeinen Todesgefahren
und Sterbebetten so viele gar nicht eingepfarrte Seelen zum letzten Male, und zwar täglich, das Abendmahl zu nehmen wünschten, – teils um die Beichtstühle selber zu bewohnen und sich darin, wie in kleinen Judengassen, jüdisch reiner zu erhalten.
Sogar die Bettler, welche in der Kirche sich nähren und schützen
wollten, machten mehrere gar nicht verächtliche Geschäfte, da
sie als ihre eigenen Klingelbeutelträger herum sammelnd immer
wahre Christen fanden, die sich gern als solche vor einer ganzen
zustehenden Gemeinde bezeigten und täglich einen Pfennig heropferten, zumal in solcher Angst. Nur hatte die kirchliche Bettlerschaft vielen Verdruß und Kampf mit einem alten bettelnden
Ehepaar, das, seit Jahren vor der großen Kirchtür seßhaft, jetzt
auch hereingetreten war und deshalb eine Art Recht auf die Almosenladung des Kirchenschiffs zu behaupten wagte. Nach meiner Ansicht aber hat hier das Bettlerpaar weit mehr Eigennutz als
Recht.
Am Morgen verließ ich den Kirchenarrest ein wenig und strich
– mit Stöcklein neben mir – in den Gassen umher. Wir gingen in
den italienischen Keller, wo wir den fröhlichsten Mann der Festung fanden, den Italiener, weil sein Keller zugleich ein Sturmdach und ein Himmel voll Manna für seine Gäste gewesen. Zu
letztem schlug ich mich – nur Stöcklein ließ sich weder vom Wirte
noch von mir etwas geben; – und nach wenigen Gläsern erhob ich
die Ziebinger auf Kosten der Fürsten. Denn ich sagte: »Die meisten Fürsten machen es mit den Kriegern wie (nach Lichtenbergs
Vorwürfen) die Astronomen mit den Sternen, welche sich mehr
um die Bewegungen derselben als um deren Natur bekümmerten. – Sie glauben mit Goldkörnern den Staat fruchtbar zu besäen;
Goldstaub halten sie für lebendigen Blumenstaub, der befruchtet
und fortpflanzt. Indes verstehen sie doch wohl mehr, als wir vermuten; man denke an den blinden Huber (den Naturforscher),
welcher über die Bienen die größten Entdeckungen bloß dadurch
ohne alle Augen machte, daß er von seinem Staatsbedienten,
nämlich seinem Bedienten, sich alles sagen ließ, was dieser sah.«
– Stöcklein wurde glücklich in der Tasche, seinem Glückshafen.
Wir gingen von da aus zu einem Töpfer, um ein Kabinettsgefäß zu kaufen, welches allerdings nur dann in eine Kirche gehört,
wenn ein Bett dazu dasteht, worunter man‘s stellt, sonst nie. »Wel-
che reine Farbengebung und Zeichnung,« sagt‘ ich, als ich in das
Gefäß hineinschaute und die Blumenstücke recht ins Auge faßte.
»Meister, führ‘ Er so fort und lief‘ Er sich täglich selber den Rang
ab! Meister, ob er dann zuletzt uns nicht mit einer Barbarini- oder
Portlandvase überraschte? Da möcht‘ ich den Mann sehen, der
sich herstellte und schwüre, diese könn‘ er so wenig machen,
wie ein ägyptischer Zauberer eine Laus.« – Nur sollte das Töpferhandwerk seine Kunstwerke nicht, wie Christen ihren Schmuck,
bloß innen anbringen. Wie so mancher Kunstliebhaber muß jetzt
seine Schüssel saurer Milch erst aufessen, bis er allmählich sich
durch den Löffel ein gemaltes Blatt nach dem andern von dem
Schüssel- oder Blumenstück aufdeckt, so daß er das Ganze nicht
eher genießt, als bis er satt ist? Als ich mich aber nach einigen der
neuesten Werke des Künstlers umsah: fand ich die Blumenstücke
sämtlich wie von einem Höllenbreughel so verzerrt und die Gefäße so verdreht, daß ich ihn darüber befragte.
»Ach,« sagte der Töpfer, »vor dem teuflischen Geschieße zittert
dem Menschen Arm und Bein und da verfumfeiet er freilich jeden Bettel.« So ist also die Bemerkung nicht allgemein wahr, daß
immer in Kriegsläuften, wie z. B. in Athen, die Künste besonders
blühen.
Unter der Haustür wetteiferten ich und der Buchhändler freundschaftlich, wer den Topf öffentlich durch die Straßen tragen sollte;
er focht ihn mir aber endlich ab.
Als wir vor einem Fenster ohne Mist vorbeikamen, sahen wir
darin einen Schauspieler sitzen, der sich in der Rolle Fallstaffs
wollte malen lassen und deshalb anstrengte, eines der komischen
Gesichter aus dem Stegreif zu schneiden, damit es für einen Theateralmanach zu stechen wäre. Aber – aus Bombenschauder – sah
er wie ein Gekreuzigter aus oder wie ein Scheintoter oder wie ein
Bleikoliker oder wie ein Gichtmaterialist; indes sogar auf diesem
Wege erreichte er seinen Zweck, lächerlich auszusehen.
Als wir in den Notstall der Nepomukskirche zurückgekommen,
so hoffte der listige Stöcklein – teils weil ich in der lachenden
Stimmung war, teils weil er den Topf getragen – sich vielleicht
jetzt einen Verlagsartikel auszuwirken, und wiederholte sein Anbetteln. Ich versprach in der Not ihm, wenn er eine Rezensieranstalt anlegte, solche mit mehreren Selbstrezensionen meiner Werke möglichst zu unterstützen.
Um 12 Uhr fuhr eine Hiobspost in die Kirche: der Kommandant
hatte bei der Parole bekannt gemacht, er habe sichere Nachricht,
daß der Feind gestern einen zweiten Bombenmörser aufgetrieben
und aufgepflanzt. »Jetzt kann es hitzig hergehen,« sagt‘ er. Nach
der Tafel brachte bei ihm leise der Feldprediger seinen alten Gedanken vor: »Fiele er nur einmal bei Nacht aus, so wäre das meiste vorbei.«
In der Welt kann der Umstand nicht allgemein bekannt sein,
daß der Prediger als Gewissensrat und Beichtprediger viele Freiheit hatte und gleich einem Kanarienvogel, der sogar gefüttert
nach seiner Speisemeisterin mit dem Schnabel hackt, ebenso mit
dem seinigen nach ihm picken durfte. Der klügere Kommandant
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Sprachraum
versetzte ihm: »Er harre bloß aufs Wetterglas und sehe stündlich
danach; noch fehle das nötige Regenwetter, doch falle das Glas.«
Der zweite Bombenmörser beschoß schon im voraus die Geister
in und außer der Kirche. Die Turmmusik wurde bloß unten im
Turme, nicht weit vom Elefanten geblasen – kein Schornsteinfeger
thronte mehr mit dem Besenszepter außerhalb des Schornsteins,
um über die Stadt hinwegzusingen, und wer einen Augiasstall
besaß, verpachtete dessen Ertrag karrenweise als Jalousieläden
gegen das Feuer.
Singende Prozessionen wurden durch die ganze Kirche gehalten (außen wäre Todesgefahr gewesen) und männliche zogen (aus
Mangel an Platz) die Treppen hinauf, weibliche herab.
Stöcklein, der ein Hasenherz für eine Hasenscharte hielt, deren man sich nicht zu schämen braucht, sagte geradezu heraus:
»Ich wollte, ich schnürte daheim Ballen. Gern gäb‘ ich das neueste
Heft des Belagerungsmuseums auf, könnt‘ ich aus dem Satansloche hinaus!«
»Und gerade jetzt läßt sich‘s zum Interesse an,« sagt‘ ich;
»Brandaffären, Stürme nicht einmal angeschlagen, so sehr sie
auch ein Museumsheft verzieren mögen. Denn von nun an werden beide Städte vom Schicksal zu so ungeheuren Fechtbewegungen gegen einander getrieben, daß im großen solche erscheinen,
als man im kleinen bei einem gewissen Spaße bei Maikäfern bemerkt und belacht. Es werden nämlich zwei Käfer in Brot bis zur
Hälfte eingeklebt; – dann werden die beiden Vorderfüße eines
jeden in zwei lange Strohhalme eingetrieben, und darauf erwartet man die Folgen. Aber sogleich fangen die inhaftierten, vom
Brot gedrückten Käfer, die mit ihren freien Vorderfüßen zappeln
wollen, mit ihren Riesenrappieren gegen einander so gewaltig zu
fechten an, mit solchen Windmühlenbewegungen schlagen ihre
langen Speere durch die Luft, daß die Leute mitten im Lachen
noch fragen: sind‘s Käfer?« –
Stöcklein ging beiseite; er hatte mir in der Tasche nicht ganz
nachkommen können.
Gegen Abend erschien der alles bedenkende Kommandant mit
der Nachricht, daß er jede Nacht ein paar Stunden Betstunde wolle halten lassen, gleichsam Wettergebete gegen das Kriegsgewitter; »in Kirchen kommen ja von jeher Verwundete und Kriegsgefangene; und was sind wir armen gewiß, er wolle mit seinem eignen Beispiele vorgehen, Sünder denn geistlicherweise anders?« Er
versicherte noch, – welcher Mann!
Er hielt sein schönes Wort und erschien, ungeachtet alles Schießens, nachts in unserem Notstall und Hafen. Wie Agesilaus immer in Tempeln Herberge nahm, damit sein Leben jedem Auge
aufgedeckt vorläge: so wollte auch er durch den Kirchenbesuch
allen Ziebingern seine Gesinnung offen hinstellen. Er hielt den
Gottesdienst aus, so sehr man auch bombardierte, – nur daß er
von Zeit zu Zeit durch den Adjutanten Befehle abschicken mußte;
– ja nicht einmal eine auf dem Nepomuksdache aufschlagende
Bombe vertrieb ihn von seinem Betposten.
Am Morgen brachte der Beichtvater wieder den Ausfall in Vorschlag; aber noch immer stand das Wetterglas nicht bei Sturm,
sondern fiel erst auf ihn zu.
Am Tage wurde zu wenig geschossen. Aus Langweile sucht‘
ich, in Erwartung des lebhaften Nachtschießens, meine Gedanken über den größten und insofern wichtigsten Teil der Schriftsteller, nämlich den elenden, mir selber laut zu entwickeln; da
aber lautes Sprechen lebendiger wird, wenn jemand da ist, der
zuhört: so war mir Stöcklein wie gerufen dazu. Ich entwickelte
mir ungefähr folgendes vor ihm: alle öffentlichen Bibliotheken
bewahrten bisher nur gute Werke der Nachwelt auf. Es fragt sich
aber, wenn die Nachwelt den Geist der vorigen Zeit aus dem Innersten kennen lernen will, ob sie diese Kenntnis richtiger aus genialen Werken, welche jedesmal über den Geist ihrer Zeit hinausspringen, zu schöpfen vermöge, oder vielmehr aus ganz elenden,
welche als Nachdruck und Brut ihrer Zeit und durch ihre Menge
am stärksten deren Bild, besonders die Schattenseite, abzeichnen.
Mit welcher Begierde würden wir z. B. die Schartekenbibliothek der beiden während der Reformation schreienden Parteien
durchlaufen! Ebenso wünscht‘ ich eine Nachahmer-Bibliothek, z.
B. von Goethe, von Klopstock. Schlechte Bücher zerrinnen, wie
Wolken, auf immer; aber etwas in mir will haben, daß von jedem
abgedruckten Schmierbuch wenigstens ein Exemplar übrig bleibe.
Hierzu wäre noch etwas zu wünschen, das wohl paradox genug
scheint. Nämlich eine Gesellschaft Buchhändler müßte sich zusammenschließen, bloß zum Verlage elender Werke, anstatt daß
jetzt nur einer und der andere ganz damit umhangen ist, oder
daß sie bei den meisten gar sich mit guten vermischen; um wie
viel reicher würde unsere Literatur an sonst auf immer verlorenen Werken anfangender Schriftsteller von 18 oder 81 Jahren sein!
»Unehre, lieber Stöcklein, macht ohnehin ein Buch nicht dem, der
es kauft und nicht lieset, sondern höchstens dem, der es kauft
und lieset, und ein Rittergutsbesitzer handelt ohne Befleckung
seines Wappens mit Schweinen und Fusel. Auch befürchtet kein
Vernünftiger, wie Sie, es werde etwa ein Autor sich schämen, an
einen Dutzendbuchhändler (nach Ähnlichkeit der Dutzendmaler
und Dutzenduhren) etwas zu schicken, was einige Buchhändler
abwiesen.
In London war die Gasse Grubstreet zum Pferch erbärmlicher
Autoren in allen Büchern verschrien; und dennoch zog einer nach
dem andern ohne Scheu hinein. Aber jeder mit Recht. Er konnte
innerlich lächeln, und, indem er seine fünf Treppen hinaufkletterte, vergnügt sagen: »der Rock macht nicht den Mann, und die
Gasse nicht den Autor; desto schlimmer, daß meine Schreibnachbarn wahre, ausgemachte Narren sind.« Ebenso wird der Autor,
wenn er seine Handschrift an den Dutzendbuchhändler schickt,
schalkhaft denken: »wenn der Narr im Ernste auf ein miserables
Buch es absieht, so hab‘ ich ihn gewaltig geprellt: das Werk ist
göttlich.«
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Sprachraum
Stöcklein, Sie müssen hier Vorurteile fahren lassen, die ich
selber sonst gehegt. Schlechte Autoren haben wahren Wert für
schlechte Leser, oft für ganze Provinzen, allein gegen zweitausend Leser gibt es kaum zwei schlechte Schreiber. Ist aber das Publikum dem Chore des Aristophanes, der bald aus Wespen, bald
aus Wolken, bald aus Fröschen bestand, so ähnlich, so sollte man
doch auf das ernsthaft denken, was es nötig hat. Auch scheint der
Himmel, um einigermaßen dem verhältnismäßigen Mangel an
gemeinen Autoren abzuhelfen, ihnen desto größere Fruchtbarkeit
verliehen zu haben, so daß sie in jeder Messe mit Drillingen, Fünflingen, Sechslingen niederkommen; so bemerkte Dr. Jahn »über
die Kinderkrankheiten,« daß gerade bei Armen und Schwächlingen Zwillinge am häufigsten erscheinen. Auch treffen Sie ja in
der Unterklasse der Schreiber alle Exemplare der Oberklasse, nur
aber verkleinert, an, kleine, niedliche, deutsche Klopstocke, Goethe, Herder usw.; sowie sogenannte fliegende Hirsche oder Stiere, fliegende Böcke, fliegende Ferkel unter den Käfern. Dies mag
vielleicht die Ursache sein, daß aus solchen schlechten Werken so
viele feinere Leser übergroßes Vergnügen schöpfen, wie wenigstens der Ekel nach deren Lesung bezeugt, welcher gewöhnlich
das Übermaß der Lust begleitet; denn schon Cicero sagt. »Überall
werden gerade die höchsten Wollüste durch Ekel und Überdruß
begrenzt und beschlossen.«
Ich weiß, Stöcklein, daß Sie an das schnelle Dahinfahren und
Versterben der Sudelbücher sich am wenigsten stoßen; aber haben
Sie nicht recht? Die Hebräer haben kein Präsens, die Buchhändler
kein Futurum; denn was hilft das Aufleben eines Verlagsartikels
nach dem Ableben des Verlegers, wenn er selber ein Ladenhüter
des Sargs geworden; viele Werke sollen ihrer Natur nach wie Kalender nicht ins Blaue hinaus leben; Tagschriften z. B. gleichen
den Tertienuhren, welche desto kürzer gehen, je feiner teilend sie
in die Zeit eingreifen; sie müssen – in einem deutlicheren Bilde –
warm wie Eselsmilch, so wie sie von dem Tiere kommt, genossen
werden.
Endlich sollte ich mich wundern, wenn Sie nicht mehr als einmal sich hingesetzt und folgendes erwogen hätten, daß Krüppelbücher einen besonderen Freibrief genießen. Allerdings gibt‘s in
jeder bedeutenden Stadt einen Mann, der ihn am ausgezeichnetsten genießt; jeden Tag gibt er das Seinige in Druck und ergreift
damit tausend Leser, ohne je von einem Kunstrichter (dies ist aber
eben der Freibrief) getadelt worden zu sein, so sehr er sich auch
wörtlich wiederholt, wiewohl gerade dies seine Leser verlangen
und eben darauf bestehen, daß er nichts in Druck gebe als täglich bloß den Namen seiner Station, wovon er – Postmeister ist.
Offenbar spreche ich von den gedruckten Städtenamen auf Briefen. Indes hat der Trödelautor doch den Anteil am Freibriefe, daß
er kurz, selten und oft zu spät beurteilt wird. Wenn nämlich die
Kunstrichter mit Staubbesen, Prangern, Rädern und Stricken auf
der reitenden Post ankommen, in Zeitungspaketen, um ihm kein
lebendiges Haar, ja kein graues zu lassen, so hat er ohnehin keins
mehr, und alles liegt schon sanft und tief begraben. Betrübt hingegen geht es unsterblichen Werken. Wie sonst die zartduftende
Blume aus der scharfen Zwiebel wächst, so entspringt umgekehrt
aus der poetischen Blume die beißende Kritik.
Verdienste reizen zu nichts als zur Haussuchung nach Sünden,
und man erfüllt gerade das Gegenteil des preußischen Gesetzes,
das bloß Unteroffiziere, welche Verdienstmedaillen haben, von
der Fuchtel freispricht. Ich erstaune oft, daß noch so viele göttlich
schreiben. Wenn Plinius die Götter für weniger glücklich hält als
die Menschen, weil nur diese sich das Leben nehmen, jene aber
unsterblich bleiben müssen, so ist dieser Satz, obwohl für sterbliche Menschen grundfalsch, doch für deren unsterbliche Werke
grundwahr. Versuchen Sie es, Freund Stöcklein, und setzen Sie
bloß aus Spaß eine unsterbliche Ilias auf oder, wenn‘s Ihrem Humor mehr zuschlägt, ein aristophanisches Lustspiel: glauben Sie
mir, daß Sie dann mit Ihrem unsterblichen Meisterstücke unter
dem Arm – das wir alle nicht genug bewundern können, und
deshalb ich ordentlich vor Ihnen niederknien möchte, – durch ein
Jahrhundert und Volk nach dem andern kritische Spießruten oder
Gassen laufen müssen – jeder frischgeborne Rezensent setzt von
neuem etwas an einem so seltenen Werke aus (ich wollt‘, ich hätt‘
den Spitzbuben bei der Hand oder bei den Haaren, bloß um einen Unsterblichen, wie Sie, zu rächen). Nicht etwa einmal, wie
Ihr Verlagsschreiber, werden Sie rezensiert, sondern ein paar tausendmal, und fortgestochen, solang es Federn dazu gibt. Daher
rat ich als guter Freund Ihnen nicht dazu, zur Unsterblichkeit.« –
Er tat, als nähm‘ er wirklich den ganzen Vorschlag – scherzhafte Züge ausgenommen – sehr wichtig für sein Fachwerk, damit
er sich niedersetzen konnte und vor meinen Augen das Hauptsächlichste niederschreiben und mich um Unterstützung seines
Gedächtnisses bitten durfte; aber ich wußte wohl, daß der Kauz
die Rede nur für einen Spaß ansah, der gedruckt trefflich zu gebrauchen wäre.
Nachts übertraf das Bombenfeuer – weil es zwei Mörser machten – jedes, dessen sich die ältesten Ziebinger erinnerten. Sogar
der Kommandant wurde in seiner Andacht gestört und mußte
aus der Kirche heraus, besonders da ihr gegenüber das Haus des
Helfers (des Diakonus) zu brennen anfing. Ich bestieg die Leiter,
um die guten Löschanstalten zu besehen. Aber etwas Wichtigeres
zog mich an. Es kam die Helferin in ihrem höchsten Putze aus
ihrem Hause heraus; sie hatte, um ihre Hände frei zu behalten
und doch ihren Kleiderschmuck zu retten, solchen auf einmal
angezogen. Sie trug zugleich ihr Brautkleid – ihren Traueranzug
– ihr Abendmahlskleid – ihr weißes Spitzenkleid – dann das feuerfarbene seidene und auf dem Kopfe einen majestätischen Hut
mit Federn und in den Händen alle ihre feinen Hemden. Aber sie
wollte mehr retten. So schwer sie sich als Selberballenbinderin in
dieser Kleidergeschwulst bewegen konnte, so schritt sie doch zu
dem der Gefahr nahen Schweinstall hin, um hier ein Kleinod aus
der Gefahr zu ziehen.
Nachdem sie die Hemden aufs Schweinsdach gelegt, suchte sie
im Stalle mit den Händen nach der Schweinsmutter, um solche
aus dem Koben herauszuholen. Sie fing endlich die Mutter am
Schwanze und wollte (welch‘ unbedachtsames Unternehmen
und so wenig schicklich für den majestätischen Hut mit Federn!)
und wollte, sag‘ ich, solche an diesem Hinterhefte herauszerren.
Aber nachdem sie das Vieh nach unsäglicher Anstrengung mit
den Hinterfüßen bis an die Schwelle gezogen: so schoß es wieder
in den Koben herein wie ein Theaterdolch in seinen Griff. Sie erwischte wieder den Schwanzhenkel und zog unmenschlich aus
Angst und brachte das Tier schon mit den Vorderbeinen bis an die
Schwelle: auf einmal war es wieder hineingefahren! Endlich erbarmte sich ein Fleischerknecht des zu großen Jammers und faßte
die Bestie an den Ohren und schleppte sie dahin, wo die Dame
vorausging.
Am Morgen hätte der wackere »Ich sterbe täglich und mein Leben« nicht bei sich sein müssen, sondern des Teufels, wenn er,
nachdem zwei Mörser und ein Brand da waren und Regen, und
das Wetterglas unter Sturm, nicht endlich dem Andringen nachgegeben hätte, in der nächsten Nacht auszufallen. Die ganze Festung spannte sich darauf. Es wurde wirklich ausgefallen. Man
schlich durch das untere Tor hinaus (das obere war das andere), aber kein Feind war zu finden. Der ausfallenden Besatzung
wuchs der Mut von Schritt zu Schritt, und sie fluchte leise terribel
darüber, daß sie ihn nicht zeigen konnten. Endlich hörte sie am
oberen Tor Gelärme. Der Ausfall war trefflich gewählt, denn die
Diebsfehraner wollten eben einen Einfall tun durchs obere Tor
und so sich die Stadtschlüssel oder Stadtdietriche selber schmieden. Die Ziebinger zogen um die halbe Festung herum, und nun
zeigte ein zufälliger Mondblick Feind dem Feind. Schrecklicher
Anblick! – Die Geschichte meldet, daß der große griechische Feldherr Aratus stets vor einer Schlacht einen heftigen Durchfall bekam, der so lange anhielt, bis die Schlacht in Gang gekommen.
Diese unschuldige Anekdote mißbrauchte ein Ziebinger Kauz,
um mit ihr, und gedeckt durch die finstere Regennacht, seinen
Spaß glaublicher einzuleiten.
Es hätten nämlich, verfocht der Kauz, beide Heere, sobald sie
einander erblickt hätten, sich in ebenso viele Feldherren Aratus
verwandelt; sogleich hätten beide durch Winke oder Parlamentäre oder sonstige Zeichen (hier will es mit der Wahrscheinlichkeit schlecht fort) einen halbviertelstündigen Waffenstillstand
geschlossen – während desselben hätten beide Mächte einander
gebückt gegenüber gehalten und erst nach Ablauf der Sache hätten sie sich einmütig aufgerichtet zum Angriff. – Doch zu ernsteren Gegenständen! Beide Heere gingen aufeinander los, nur
aber mit einer so mißtönigen, sich widerschreienden Feldmusik
voll Graus-Lauten, als je eine Kirchenmusik in einer Dorfkirche
glühend in die Ohren gegossen; ein Zeichen der Furcht, woraus
man indes bei Feldmusikanten nichts macht. Die Krieger hingegen gingen mit einem Feuer auf einander zu, daß sie die kleine,
schon durch das Wetterglas verkündigte Erderschütterung – so
wie einmal die Römer und Karthager ein großes Erdbeben unter
dem Gefechte –garnicht verspürten, sondern nur glaubten, nur
sie selber bebten, nicht die Erde.
Wenn man im Gefechte laufende Soldaten mit stehenden vergleicht, so verlieren diese insofern an Ansehen, inwiefern Raphael, welcher seinen Figuren meistens Bewegung, selten feste
Stellung gab, ein Mann ist, der Schönheit kennt. Aber Schönheit
beiseite! Ein anfangendes Laufen beider Heere hatte seine Gründe; und wenn unter Waffen die Gesetze schweigen (inter arma
silent leges), so gehören die Kriegsgesetze, z. B. Desertionsverbote, auch dazu. Die Ziebinger merkten nämlich, schlau genug, daß
einige Diebsfehraner weiterliefen, und verschmitzt witterten sie
aus, daß diese wenigen nur ein Vortrab der übrigen wären, die in
das jetzt offengelassene untere Tor hineinstürzen wollten. Hier
galt es Entschlossenheit. Der ganze Ziebinger Ausfall verkehrte
sich auf der Stelle in einen Gesamt-Achilles, den Homer bekanntlich wegen seines Laufens so pries: Alle liefen, rannten, flogen
– die Diebsfehraner ihnen nach, aber in der Tat zu langsam und
matt – und so erreichten die Ziebinger glücklich als Sieger ihr unteres Tor, ohne einen eigenen Mann verloren oder einen fremden
eingelassen zu haben. Man trank die ganze Nacht auf den sieg-
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Sprachraum
reichen Ausgang. Indes wird dieser niemals fehlen, wenn ein »Ich
sterbe und mein Leben« anführt.
Am Morgen, als die Menschen wieder zu sich kamen, was auch
Stöcklein tat, herrschte dennoch starker Verdruß. So hat noch
immer, sagte jeder, das verfluchte Wehren und Siegen kein Ende, und niemand zieht einen Kreuzer davon. Besonders sah der
Buchhändler aus wie ein Pfefferstrauch oder wie betrunken in
Wermutwein; denn er mochte das, was ich fallen ließ, noch so
genau zusammensummieren, so fand er doch am Ende, daß damit, wenn es gedruckt würde, nicht einmal die Haferrechnung
bezahlt war. »O ihr Götter, helft einem Unschuldigen doch aus
diesem unglücklichen Kerker heraus!« sagte er und sah himmelwärts.
»Sie haben Sehnsucht,« sagte ich und faßte die Rechte, die sonst
in der Tasche arbeitete. »Oh, wer nicht,« versetzte er. – »Daran
erkenn‘ ich Sie,« sagte ich, »oder vielmehr die schönere höhere
Natur des Menschen; bei allem Reichtum des irdischen Lebens
sehnt er sich nach einem höheren und durstet und verdurstet, so
wie auf dem wasserreichen Meere mehr Menschen verdursten
als auf dem trocknen. Sogar im irdischen treibt der Mensch sein
Sehnen noch fort und schmachtet, auf Silberstangen springend,
nach einer Goldstange.« Ich drückte die Stöckleinsche Hand recht
herzlich, welche sich nach nichts so sehnte als nach der Tasche;
er wußte aber nicht, wie ein solcher Liebesbund schicklich genug
zu zerreißen sei zum Nachschreiben. »Nun, was uns mit jedem
Heere mehr geschlagene Buchhändler betrifft« – versetzte er mit
einem weinerlichen Lächeln und mit einem Ton ohnegleichen –
»so wissen wir nicht einmal von Silberstangen etwas (ach, damit
wäre jedes Handlungshaus zufrieden): an Leinestangen hängen
wir gerupft oder an Räucherstangen schwarz vor Ärger.« Niemand wundere sich über des Mannes Witz: erstlich ist, wie man
aus allen Streitschriften ersieht, nichts leichter, als eine gegebene
Allegorie fortzusetzen, zweitens spricht jeder über sein eigenes
Fach am leichtesten mit Anspielungen.
»So ist der Mensch und Sie dazu« – sagte ich – »die Weltgeschichte und die Weltkarte entwirft er bloß nach den Zwecken und Gängen seines kleinen Lebens, wie der Schiffer aus seinen Karten alle Weltteile als leere Räume bezeichnet und nur Klippen, Meere
usw. als volle hinstellt. Daher will der Mensch stets das Alte, was
sich immer leichter in seine Spekulationen einfügt als das Neue;
jeder Gebrauch soll seine Silberhochzeit feiern,« sagte er, »wenn
auch Bleihochzeiten und Arsenikhochzeiten daraus werden. Aus
diesem Grunde halte ich den deutschen Patriotismus, den so viele
gemeine, ums Vaterland ganz unbekümmerte Seelen jetzt zeigen
wollen, mehr für einen warmen Privatpatriotismus, den gedachte
Seelen für ihre eigene Person haben, weil sie (und mich dünkt,
nicht unphilosophisch) alles (omnia secum portantes) und folglich auch das Vaterland bei sich tragen. Schön ist es wohl; es gibt
dem Leichenzuge des betrauerten Vaterlandes mehr Ansehen,
wenn auch niedrige Seelen schwarz mitgehen; so sind bei vornehmen Leichenbegängnissen nicht nur die Menschen überflort,
sondern auch die kalten, festen Pferde ziehen in Trauerfloren mit .
. . Apropos, Stöcklein, in dieser Nacht mache ich, daß die Belagerung übermorgen ein Ende hat« . . .
Stöcklein wollte fragen und herausholen – ja jubeln – ich aber
sagte, jeder Mensch erwarte die Nacht!
Ich überspringe, wie immer, kleine Kriegsvorfälle, welche dem
guten Buchhändler, der im »Museum« vollständig und neu sein
will, vor dem Munde wegzuraffen ein Haus- und Kirchendiebstahl wäre.
Nachts nach den Nachtandachten stieg ich, während der Prediger von der Kanzel herabging, dieselbe hinauf, wir grüßten uns
im Begegnen, und ich fing oben an – aber fast gestört durch den
einfältigen Buchhändler, der unten im Beichtstuhle saß mit Feder
und Tinte:
»Euer Exzellenz sehen gütigst nach, daß ein Fremdling, jedoch
ein Legationsrat hier auf der Kanzel eine mündliche Friedenspredigt hält, wie er eine gedruckte an Deutschland selbst gehalten,
wiewohl in diesem die Festung Ziebingen eigentlich mit steckt.
Mußte nicht in Venedig oder sonst sogar der Generalissimus selber ein Ausländer sein, wie in St. Marino der Richter? Und wie
wenig ist dagegen der Prediger!
»Ich schlage hier Friedensinstrumente vor und vorher Friedenspräliminarien. Unentbehrlich sind sie nicht, sondern entbehrlich.
Ich habe gesehen, was Tapferkeit ausführt, was Standhalten, was
Gegenbeispiele mit Geschütz, was Ausfälle teils sind, teils tun.
Wie hätte auch sonst die Festung nach Verhältnis ihrer Größe
sich so unglaublich länger gehalten als die größten deutschen bisher? Aber es ist ordentlich, als ob die Tapferkeit in den kleinsten
Ländern am dichtesten schlage – man denke, wenn nach Verhältnis der Volksmenge Persien oder China so tapfer wären wie die
Schweiz – so wie nach Linné ein Baum, der im weiten Gefäße nur
Blätter bringt, in ein engeres versetzt, sogleich Blüten treibt, welches er griechisch genug Prolepsis nennt. Daher ist das Beschneiden der Länder ein häufiges Mittel, sie tapfrer zu machen, sobald
so viel von ihnen noch übrig gelassen wird, daß noch etwas da ist,
was tapfer sein kann; alten, abgelebten Ländern, wie deutschen,
ist das Beschneiden vollends am nötigsten, wie die Gärtner im
Herbste nicht junge, sondern alte Bäume am unbarmherzigsten
bescheren.
»Zu fürchten hat Ziebingen an sich vom Feinde nichts; und es
kann täglich zehnmal ausfallen, ohne einen Mann zu verlieren;
denn wenn der Ingenieur Borreux recht hat, daß unter den Schüssen des Fußvolkes, da sie immer zu hoch gehen, nur der Tausendste treffe, so sind wir schußfrei, da der Feind nicht so viel auf
einmal zu laden hat.
»Selbst große Festungen, wie z. B. Stettin und Magdeburg, die
sich nicht so lange hielten als wir, und die weniger den Degen zogen als die Degenscheide (aus dem Gehänge), ergaben sich auch
bei ihrer größeren Besatzung doch nicht mit Unehre, und unser
Beispiel darf sie nicht demütigen. Bedenken wir: Stettiner Kommandanten lassen sich ungern auf ihr Haus (die Festung ist ihres)
den roten Hahn setzen, den sie für Anspielung auf rote Mützen
und auf den gallischen Gallus halten. – Sie schließen, wenn schon
auf Theatern, vollends in Heerschauen scheinbare Kriege zufällig
wahre Verletzungen gemacht, daß wahrhafte mit noch größeren
bedrohen, daß sie alle Wagen voll Verwundete, alle Gruben voll
Tote, alle Gassen ohne Häuser, durch zwei Tropfen Tinte, woraus
ihre Namensunterschrift besteht, wegschwemmen können. Sie
finden es oft lächerlich, eine Festung fest zuzusperren und also
mit dem Feind zugleich die Kost auszuschließen, als die Sitte jener
Peruaner ist, welche, um der Seele eines Sterbenden das Fliehen
zu wehren, ihm Mund und Nase usw. mit Sorgfalt verstopfen. –
Wahre Stettiner und Magdeburger Kommandanten sind viel zu
stolz, da sie sich nicht einmal mit Fähndrichen hauen, sich vollends mit dem gemeinsten Volke und Packknechtspack zu schlagen. –Auch finden sie jenes feine talmudische Gebot, daß Weise
stets in der Mitte des Disputierens, ohne etwas ausgemacht zu haben, auseinander scheiden sollen, um länger an den Gegenstand
zu denken, noch besser auf die wichtigern Kriegsdisputationen
anwendbar, so daß sie es oft nicht einmal bis zur Mitte kommen
lassen. –
»Gute Stettiner Kommandanten bleiben zart und behalten eine Träne im Auge und leiden es nicht, daß, wie Lampenfeuer
aus Branntwein allen Umstehenden Totenfarbe anstreicht, dergleichen das Kanonenfeuer noch reeller tue, und sie sagen deshalb gern: wenn in der Türkei tote Feindesköpfe auf Wälle und
Mauern gesteckt werden, so sei es doch noch grausamer, allda
Freundes-, nämlich Soldatenköpfe aufzupflanzen. Da übrigens
ein Kommandant den Fürsten noch vielseitiger als ein Gesandter
darstellt, durch Allmacht desselben, durch Herrschaft über Leben und Tod: so hat er auch das Recht zu begnadigen, folglich
auch den Feind, indem er ihn zu seinem Freunde macht.
»Doch ich will fremde Festungen nicht länger verteidigen, als
sie sich selber verteidigt haben: laßt uns in die zurückkommen,
in der wir sind!
»Exzellenz! Die Ziebingsche Ehre ist gerettet, aber nicht die Ziebinger. Ich meine hier gar nicht, daß der unmächtige Feind, der
auf die Festung, wie sonst der Raubvogel auf den Käfig stößt des
Vogels wegen, endlich auch dem Vogel drohe. sondern nach dem
siegenden Wehrstand will auch der Nährstand ein wenig siegen.
Wahrlich, Gründe zum Friedenmachen sitzen in jedem Kirchstuhl,
in jeder Gasse, in jedem Keller. Wollen nicht die Böttcher in einigen Tagen ihren Reiftanz halten und zwei Tage darauf die Bäcker
ihre Fahnen schwenken, und sehen sie ab, wie mitten unter springenden Bomben aufgeräumt zu springen ist? Fällt nicht nach acht
Tagen der Diebsfehraner Viehmarkt, so ungemein erheblich für
hiesige Viehzucht? – Schlagen sich nicht die Altziebinger täglich
halbtot mit Stuhlbeinen und schleppen einander an den Zöpfen
herum und warten bis diese Stunde vergeblich auf unsere Obrigkeit, die hinausreitet und sie recht derb gerbt und abstraft? – Hab‘
ich alles gesagt? – Kaum etwas: unter der Tür steht der Apotheker und will seine Kräuter sammeln, nicht hinaus könnend. – Die
Weiber beten zu Gott um Wetter und wollen Flachs säen – Maikäfer außer der Festung sollen abgeschüttelt werden und die Hecken. – Am Kirchturm frißt der Christophel, der Elefant, greulich
fort und reibt seinen eigenen Elefantenherrn auf. – Ein gewandter
Buchhändler sitzt in der Sakristei und schreibt nach und macht
kein Geschäft. – Gegenwärtiger Mann selber steht hier und macht
eine Predigt und rät an, eine oder ein paar Friedenspfeifen zu
stopfen. Jedoch segnet er freudig die Gelegenheit, dadurch einem
so wachsamen Kommandanten, wie Euere Exzellenz, wenn auch
in der Nacht, bekannt zu werden. Amen!«
Die Kirchenversammlung rief: Vivat, ich sterbe täglich und
mein Leben! – Er aber schweigt sehr bedeutend und begibt sich
aus der Kirche! Noch um Mitternacht ist großer Konseil. Ein undurchdringlicher Schleier verbirgt der Welt die Staatsgeheimnisse (ich bediene mich gern der dreifachen Prediger-Tautologia oder
Einerleisagerei als der gewöhnlichsten). Gegen fünf Uhr morgens
wird nicht mehr geschossen.
Sogar am Morgen hörte man noch nichts Gewisses; aber von
feindlicher Seite sah man etwas desto Wichtigeres im Tor, einen
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Diebsfehraner-Parlamentär, begleitet (die Stadt wollte vor Erstaunen sterben) von einem Ziebinger-Parlamentär. »Nun, man ist
vielleicht auf keinem falschen Wege, wenn man vermutet, daß
der Ziebinger schon in der Nacht abgegangen«, sagten Leute vom
Handwerk.
Drei Stunden darauf – ich weiche hier von denen ab, die von
vier Stunden sprechen – fing ein Gerücht an und dauerte fort,
daß mittags Diebsfehraner in die Festung, zugleich – spätere Jahrhunderte glauben es nicht mehr – Ziebinger in das Reichsstädchen einziehen sollten, damit beide Städte so lange gegenseitige
Geiseln und Bürgen ihres Waffenstillstandes besäßen, bis wieder
Reichsgerichte die Sache entschieden.
Doch geschah es wirklich; um elf Uhr stürmten alle Glocken
– alle Hunde bellten wieder auf den Gassen – alle Dächer waren mit Menschen statt mit Schindeln gedeckt und die Fenster
statt des Düngers mit Gesichtern belegt. – Die Ziebinger Mannschaft stand gegen das obere Tor zum Ausmarsch, den Hintern
den Diebsfehranern zukehrend, welche durch das untere hereinkommen sollten, auf welchem die Hundereserve entsetzlich anschlug, weil die Zeit viel zu kurz gewesen, als daß sie hätte toll
und stumm werden können. –
Der Elefantenherr saß auf dem Christophel vor dem Tore der
Nepomukskirche und sah herab und überall hin. – Die Gassen waren mit Zuschauergestrüpp überwachsen. – Nur ich und
Stöcklein konnten nicht durchsehen und durchkommen.
Der Buchhändler wurde darüber ganz toll, er mußte durchaus
den Zug haben für sein »Museum«. Endlich ersah er einen abgeladenen Frachtwagen; er würde sich auf dessen Leiter stehend zu
erhalten gesucht haben durch balancieren, hätte nicht zum noch
größeren Glücke ein zwei Mann hohes, ausgepacktes Zuckerfaß
daneben gestanden. Darauf schwang sich jeder von uns.
Als wir viel gemächlicher, als die ganze Herde, oben auf dem
Fasse uns umschauten und eben die Feldmusik einrücken sahen,
brach jählings der Fußdeckel unter unseren vier Füßen zusammen und ich und der Buchhändler standen unten in der Karthause und sahen uns an. Ein verfluchtes Fallgatter, wie ein Fallstrick!
– Der Buchhändler klopfte wie ein lebendig Begrabener – schrie
wie ein Untergesunkener – pfiff wie eine Maus mit Katzenzähnen; aber nicht ein neugieriger, spitzbübischer, mit Auge und Ohr
in den Zug eingestrickter Dieb nahm sich Zeit wahrzunehmen,
daß ich und der Buchhändler in der Welt und im Fasse waren.
Stöcklein wußte des Museums wegen nicht, wo aus noch ein. Er
sagte: »Ich werde, wenn alles und der Krieg es länger treibt, am
Ende ein ausgemachter Spitzbube und drucke mich und alles
nach.« Er verfluchte sich und sein Tabaksfeuerbesteck (weil er es
vergessen hatte), da er vielleicht, hoffte er, mit dem Schwamme
das Faß in Brand hätte stecken können. Er verwünschte seine und
meine Schwere, da ohne diese der aufrechte Zwillingssarg mit
vier Händen wäre umzustoßen gewesen. Als er gar die Reiterei
vernahm, tanzte er im Fasse den künftigen Reiftanz der Böttcher
wild voraus und machte, wie eine vergitterte Hyäne, die Runde
innen um den Käfig.
Endlich warf er aus unserem parterre noble seinen Hut empor
in den Himmel (ich hielt es für Jubelausbruch, es war aber Notschuß), um dem schaubesoffenen Volke draußen anzumelden,
daß ein Christ elend sich abarbeite im tiefsten Schacht; aber kein
Mensch sah den Hut. Er warf ihn zum zweiten Male wilder und
höher und – über das Faß hinaus: nun hatte er auch den letzten
Aufsatz oder die Ajustage seines Halses eingebüßt.
Er sank in sich hinein – den schlimmsten Ort und Sumpf, wohin
er geraten konnte – ließ seinen Kopf hängen oder sinken – denn
der Geist war der Scharfrichter seines Leibes und köpfte solchen
– und er war nichts mehr.
Ich blieb alles, was ich war, und dachte, es sei für den Namen
eines Zuckerfasses angemessener, es zu einer Diogenes-Tonne zu
machen, nicht aber, wie er, zu einem Regulus-Fasse. »Ich weiß
nicht, warum,« sagte ich zu ihm – – »aber mir wird ordentlich so
gemütlich in unserem Fasse – wir beide stellen freilich die einzigen Zuckerhüte darin vor. –
Ich wollte nur, sie würden nicht vor Ärger schwarz oder ein
Negerschwarzer auf unserer Zuckerinsel. Denn wenn ich mich
so rund umsehe und erwäge, welches schöne Los der Abgeschiedenheit mitten im Volkstreiben uns bloß einige Faßdauben zusichern: so möchte ich beinahe fragen, ob wir nicht zwei glücklichen Männern gleichen, die unten auf dem Meerboden in ihrer
Taucherglocke sitzen und von dem oberen Wellengelärm keine
Woge hören? – Wenn schon einem Philosophen im Fasse, das, wie
ein griechischer Tempel, nur oben dem Himmel offen ist, die Erde und ihr Ziebinger Getobe lächerlich vorkommt, wieviel mehr
zweien auf einmal, die miteinander eine geschlossene, ja eingeschlossene Gesellschaft bilden! – Wie gern, Freund Stöcklein, sehe ich mich als einen Robinson auf diese Zuckerinsel verschlagen,
da ich Sie als meinen Freitag oder Charfreitag hier unten antreffe!
– Und antworten Sie mir, wer ist außer St. Marino noch so frei als
unser Faß, ich bitte?«
»Ich höre gar nichts mehr,« sagte kalt Stöcklein, mit dem Ohr
am Fasse; er meinte aber nicht meine Worte, sondern die Pferde.
Es war auffallend, wie frostig, ja unhöflich der Mann sich auf einmal gegen mich in der Zwischenzeit offenbarte, worin ihm sein
Schwanzartikel des Belagerheftes abgeschnitten wurde. Man hält
den Eigennützigen stets für zu höflich, wie für zu grob; desto
gleichgültiger sei man gegen dessen Erkalten und Erwärmen. –
Ich machte nichts daraus. Er schrie endlich Feuer, damit das
Faß umgestürzt wurde, und ich schrie willig mit. Endlich warfen
einige Lehrjungen, die aus Neugier auf den Leiterwagen gestiegen waren, um ins laute Faß zu sehen, dieses boshaft um, und
wir krochen ins Freie, wie Höhlenforscher aus dem Bauche in die
schimmernden Höhlentempel. –
Aber Empfindung! Gibt es etwas Eigensinnigeres – Starrköpfigeres – mehr Wetterwendisches und Umwälzendes – als du bist?
Denn wer war es anders, soviel ich weiß, als du, die mich plötzlich
in einen ganz anderen Mann (als wäre ich ein Federbuschpolyp)
auf der Gasse umstülpte, da ich in dieselbe im tiefsten Bückling
und engstem Schritte aus dem Fasse herausging? – »Satt, matt,
schal, kahl,« so wiederholtest du immer. »Ganz wahr!« (sagte ich
endlich). Krieg um Gänse, von Gänsen geführt! O wie gleichgültig ist es mir, daß ich keinen einzigen Punkt der Kapitulation
erfahren kann! Napoleon verlangte mit Recht die beiden Reichsnester gar nicht. Auch ich mag sie nicht, so wenig als Kalender
vom vorigen Jahre, wollte sie mir auch ein Buchhändler um herabgesetzte Bücherpreise lassen! Stöcklein laß‘ ich Stöcklein sein;
und der flachshaarige »Ich sterbe täglich und mein Leben« kann
meinetwegen heute sterben. – Hätte ich nur nicht soviel Worte
darüber gemacht! Aber auf der Stelle soll der Aufsatz auf die Post,
damit ich nur keins mehr sage.«
Dieses alles aber sagte ich, wie gedacht; so sehr kann die Empfindung den nüchternsten Mann hinreißen.
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K arl Kr aus - Die Entdeckung des Nordpols
Die Fackel, Nr. 287, XI. Jahr, Wien, 16. September 1909.
Die Entdeckung, oder wie sie auch genannt wurde, Eroberung
des Nordpols fiel in das Jahr 1909. Sie war das Werk eines kühnen Amerikaners und wurde mit um so größerer Genugtuung
begrüßt, als in demselben Jahre durch die Abtretung vieler Amerikanerinnen an chinesische Kellner das nationale Ansehen eine
empfindliche Einbuße erlitten hatte. Aber nicht nur in Amerika,
nein, in der ganzen Welt fühlte sich das kulturelle Selbstbewußtsein gehoben, man begann wieder Mut zu fassen und einer Vorsehung zu vertrauen, die durch die Entdeckung des Nordpols die
zivilisierte Menschheit offenbar für die unerfreulichen Entdeckungen derselben Saison entschädigen wollte. Ein einziger Missionär der Wissenschaft, der heil von den Eskimos wiederkehrt,
ist reichlicher Ersatz für ein Dutzend Forscherinnen des Glaubens, die im Chinesenviertel zurückbleiben; und man nahm es
dabei nicht als Zufall, sondern als eine besondere Aufmerksamkeit des Schicksals, daß gerade das deutsche Nationalbewußtsein
wieder an der Eroberung des Nordpols durch einen Mann, der
früher Koch geheißen haben soll, beteiligt war, wie im andern
Sinne an der Ermordung der Elsie Siegl. Man schwankte keinen
Augenblick, welches von den beiden das größere Ereignis sei; hatte doch das neue vor dem andern allein schon die Annehmlichkeit voraus, daß man endlich wieder das Maul aufreißen konnte.
In diesem Punkte mußte man es geradezu als Erholung empfinden. Denn als die Kunde in die Welt ging, daß die gelbe Gefahr
der Geschmack der weißen Frau sei, da wurde — unseliges Farbenspiel! — der weiße Mann noch weißer, da hatte er eben noch
die Geistesgegenwart, die Moral hervorzuziehen, nicht ahnend,
daß gerade sie es war, die ihn so weit gebracht hatte, und nun
stritten Scham und Furcht um den Vorrang, der Welt den Mund
zu schließen. Es entstand jenes eisige Schweigen, in das endlich
der erlösende Ruf drang: Der Nordpol ist entdeckt! Da war es, als
ob das Weiß dieser Region der gefundene Hintergrund wäre, auf
dem das Antlitz der weißen Kreatur wieder Farbe bekam, und die
erstarrte Welt belebte sich, erwärmte, taute auf an der Erkenntnis, daß die Eskimos doch bessere Menschen sind. Man muß nur,
so hieß es, ihre Sprache verstehen, ihnen etwas mitbringen oder
in die Hand drücken, dann zeigen sie dem Fremden bereitwillig
den Weg zum Nordpol. Von ihnen war noch etwas zu hoffen, von
den Chinesen alles zu fürchten. Die geben keine Auskunft, wenn
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man sie nach der Entwicklung fragt, und grinsen nur, wenn ein
höflicher Ausländer sich erkundigt, wer von ihnen seine Frau ermordet habe.
Im Jahre 1909 war es, daß die christliche Kultur vor dem Osten
zu retirieren und sich nach dem Norden zu konzentrieren begann. Ja, man baute auf die Eskimos. Denn nicht nur als einen
Ausweg aus der Verlegenheit, sondern auch als die Erfüllung eines alten Herzenswunsches empfand man die Entdeckung des
Nordpols. Seit Jahrhunderten hatte der Menschheit, die immer
vorwärts schritt, ein letztes Etwas zu ihrem Glücke gefehlt. Was
war es nur? Wovon fieberten Tage und Träume? Was hielt eine
Welt in Atem, deren Puls nach Rekorden gezählt wird? Was war
das Paradigma aller Begehrlichkeit? Der Trumpf der Streberei?
Die Ultima Thule der Neugier? Der Ersatz für das verlorene Paradies? Die große Wurst, nach der auf dem irdischen Jahrmarkt
die Wissenschaft alle Schlittenhunde hetzte? Ach, es litt die
Menschheit nicht beim Tagwerk: der Gedanke, daß da oben ein
paar Quadratmeilen waren, die ein menschlicher Fuß noch nicht
betreten hatte, schien unerträglich. Freudloser als der »freudlose
Fleck«, den es endlich zu finden gelang, war das Leben, solange
er nicht gefunden war. Es war eine Blamage, daß wir, denen die
Welt gehört, uns ihr letztes Endchen vorenthalten lassen sollten.
Wir schämten uns seit der Entdeckung Amerikas und hofften all
die Zeit, daß Amerika sich erkenntlich zeigen werde. Es war keine Lust, in einer Welt zu leben, über die man nicht vollständig
orientiert war, und mancher Selbstmord aus unbekanntem Motiv
geschah vielleicht, weil es auch auf Erden noch ein unentdecktes
Land gab, von des Bezirk kein Wanderer wiederkehrte. Und in
der Kinderstube der Menschheit scholl der Frage: Was möchtest
du werden? immer wieder die Antwort entgegen: Entdecker des
Nordpols! Aber das Kind lernt die Ideale ablegen, während der
Mensch die kurzen Hosen nicht austrägt. Er muß den Nordpol
wirklich haben! Wenn es schon seine Lieblingsvorstellung ist, daß
der Nordpol entdeckt wird, so genügt sie ihm nicht: er dringt auf
Erfüllung. Doch undankbar wie der befriedigte Idealist nur sein
kann, zögert er nicht, der jungfräulichen Natur die Achtung zu
versagen, sobald sie seiner Werbung sich ergeben hat. Ich war
enttäuscht! ruft Herr Cook, und nennt das Idol der Menschheit
einen freudlosen Fleck. Denn an dem Nordpol war nichts weiter
wertvoll, als daß er nicht erreicht wurde. Einmal erreicht, ist er
eine Stange, an der eine Fahne flattert, also etwas, das ärmer ist
als das Nichts, eine Krücke der Erfüllung und eine Schranke der
Vorstellung. Die Bescheidenheit des menschlichen Geistes ist unersättlich.
Die Entdeckung des Nordpols gehört zu den Tatsachen, die sich
nicht vermeiden ließen. Sie ist der Lohn, den sich die menschliche
Ausdauer selbst erteilt, wenns ihr schon zu lange dauert. Die Welt
brauchte einen Nordpolentdecker, und wie auf allen Gebieten sozialer Betätigung entschied auch hier weniger das Verdienst als
die Konjunktur. Nie war der Moment günstiger gewählt als in
den Tagen, da der Geist zur Erde strebte und die Maschine sich zu
den Sternen erhob, da der entseelte Fortschritt, gefolgt von einer
lustigen Witwe, zu Grabe ging. Als auf Erden nur noch jene Witze verstanden wurden, die aus dem gemeinsten Stoff geschnitzt
waren, da geschah die Entdeckung des Nordpols. Sie ist ein wirksames Extempore einer abgespielten Entwicklung. Sie geschah
und schlug ein. Man brauchte einen Nordpolentdecker, und er
war da. Um keinen Preis der Welt hätte sich die Welt ihn ausre-
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den lassen, sie, die die vollzogenen Tatsachen liebt und über den
Zweifeln der Wissenschaft mit der Beruhigung schlafen geht: Seien wir froh, daß wir einen Nordpolentdecker haben! Eine rationalistische Kindsfrau ist es, die dem Kind den Zinnsoldaten, den
es umklammert hält, mit der Motivierung zu entreißen sucht, er
könne nicht marschieren. Muß man den Nordpol entdecken können, um den Nordpol zu entdecken? Aber die Zweifel der Wissenschaft gehören zu dem Kinderspiel, das sie zu stören sucht.
Als Herr Cook erzählte, woher er komme, vollzog sich die Teilung
der Welt in Idealisten und Skeptiker. Nie zuvor hatte es so viele Vertreter beider geistigen Richtungen gegeben. Und sie waren
einander wert. Die Idealisten, das waren vor allem die Männer,
die die Leitartikel zu schreiben und dafür zu sorgen haben, daß
der letzte langohrige Abonnent und treue Esel unseres Blattes
die Würde des Zeitgenossen zu tragen bekommt. Die Skeptiker,
das waren die Männer der Wissenschaft, also die Herren von der
Nordpolkonkurrenz. Denn wie auf allen Gebieten sozialer Betätigung entscheidet auch hier — mit einem Wort, die Idealisten
waren die sympathischere Partei. Es war erhebend, als ihr Führer,
der Redakteur vom Börsenteil, begeistert ausrief, die Entdeckung
des Nordpols sei eine Angelegenheit, die jeden einzelnen angehe; als er sie einen moralischen Gewinn der Menschheit nannte
und den Idealismus pries, der in dieser von materiellen Interessen
beherrschten Welt doch noch stecke. Leider besann er sich aber
und begann, sich um das allerletzte noch ungelöste Problem eines arrivierten Zeitalters zu bemühen, das da lautet: Wem gehört
der Nordpol? Der Generalstaatsanwalt von Washington nämlich
hatte in dieser Situation sofort getan, was Staatsanwälte immer
und schon mit einer Reflexbewegung zu tun pflegen: er hatte den
Nordpol beschlagnahmt. Der Idealist vom Börsenteil aber meinte, das gelte nicht, sondern die Okkupation müsse »effektiv« sein,
und fing an, von der Zeit zu träumen, wo erst der Zinsfuß die
Region des ewigen Eises betreten wird. Die Skeptiker waren aber
auch nicht faul und verlegten sich darauf, das Vorleben des Herrn
Cook zu erforschen, da sie einsahen, daß zu den größten menschlichen Schwierigkeiten nebst der Erreichung des Nordpols der Beweis des Gegenteils gehört. Denn jenes Geschäft, das den höchsten Kredit beansprucht und ihn am leichtesten erhält, ist das des
Nordpolfahrers, und auf keinem Gebiet hat die Wissenschaft so
sehr mit populären Strömungen und günstigen Winden zu rechnen wie auf diesem. Es gibt Zeiten, wo die Angabe, den Nordpol
erreicht zu haben, eine Genietat ist, neben der die Erreichung des
Nordpols nur noch als Fleißaufgabe in Betracht kommt, und wo
die Behauptung, man sei aus Christiania eingetroffen, Skeptiker
findet, und die Versicherung, man komme vom Nordpol, Idealisten. Da ist es denn auch vergebene Mühe, im arktischen Vorleben
eines Menschen eine dubiose Besteigung des Mount Mac Kinley
zu entdecken, und kein noch so gegründeter Zweifel wäre so bald
imstande, der Welt den Nordpolfinder zu entreißen, den sie einmal hat.
Erst wenn ihrer zwei sind, wird die Dummheit mißtrauisch.
Das ist der Anfang der Politik. Die Grenze, die die Idealisten von
den Skeptikern trennt, verwischt sich, und es bilden sich dafür
zwei zielbewußte Parteien, von denen die eine auf Cook, die andere auf Peary schwört, nein, wettet, und vom erledigten Problem
des Nordpols beginnt sich der menschliche Geist in die Höhe des
welthistorischen Turfskandals zu erheben. Die Duplizität der Ereignisse ist eine wohltätige Einrichtung, die dem Fassungsvermögen der Gehirne entgegenkommt, indem sie ihnen Zeit läßt, selbst
noch das Ah des Erstaunens zu buchstabieren. Doppelt hält besser, meinte das gutgelaunte Schicksal, als es mit dem Helden bei
der Festtafel anstieß und ihm zu verstehen gab, daß er da oben
ein Rendezvous versäumt habe. Entgeistert stand Herr Cook.
Entgeistert stand die Zeitgenossenschaft vor einer Kühnheit, die
dem Gedanken des unlautern Wettbewerbs bis in die Region des
ewigen Eises Bahn gebrochen hat, dort wo der Mensch auf die
Vorräte eines andern angewiesen ist und die Benützung fremder
Eskimos und Hunde anfängt. Aber allmählich gewann Überlegung die Oberhand und das Volk entschloß sich, die Lorbeern
so zu verteilen, daß es einem der beiden Männer unbedingt die
Priorität des Nordpolerfinders zuerkannte.
Hätte Pearys Leistung noch auf den Jubel rechnen können, den
Cooks Behauptung eingeheimst hatte? Konnte sich ein schlichter
Nordpolentdecker neben einem Manne sehen lassen, der das Bedürfnis der Welt nach einem Nordpolentdecker entdeckt hat? Die
Ehren, die man für jenen noch übrig hatte, waren Lampions neben den Flammen der Begeisterung, die ein aktuelles Wort entzündet hatte. So setzt die Welt das Verdienst, den Nordpol erreicht
zu haben, auf das verdiente Maß herab. Man hatte sich ja für die
Sache begeistert, nicht für die Person. Ob sich da einer zu Unrecht
einer Gunst rühmte, die der andere genoß, ob Herr Cook den Sieg
davontrug, den Herr Peary errungen hatte, — der gute Ruf des
Nordpols war dahin. Das Ideal war erledigt, und alles Interesse
gehörte jetzt dem wissenschaftlichen Raufhandel. Cook war unehrlich genug, dem andern Prosit! und Peary ehrlich genug, dem
andern Pfui Teufel! zuzurufen. Cook war so loyal, jede Nordpolentdeckung nach der eigenen zu glauben. Er hatte längst das seine getan, den wissenschaftlichen Beweis zu erbringen. Denn er
hatte sich nicht damit begnügt, zu versichern, daß er kein
Schwindler sei, und die Bitte hinzuzufügen, daß man ihm dies
glauben möge, weil man ihm dann auch die Entdeckung des
Nordpols glauben würde. Er hatte sich nicht damit begnügt, Proben einer feuilletonistischen Begabung zu erbringen, die auch
den nüchternsten Zeitungsleser davon überzeugen mußte, daß er
wirklich den »Gipfelpunkt der Erde« erklommen habe. Nein, er
hatte ein übriges getan und die Skeptiker geradezu aufgefordert,
selbst nach dem Nordpol zu gehen! Auf eine solche Antwort waren sie nicht gefaßt und horchten auf. Am Nordpol, sagt er, könne
man eine amerikanische Flagge finden, und unter ihr vergraben,
sagt er, eine Metallröhre, in der er eine Urkunde über seine Expedition deponiert habe, sagt er. Da wagte sich nur noch die schüchterne Frage hervor, ob denn das Eis auf dem Nordpol nicht treibe.
Dies sei natürlich der Fall, aber er habe ja alles bereits zur Genüge
gesagt, sagt er. Was das Eis auf dem Nordpol treibe, das, wollte er
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offenbar sagen, gehe ihn nichts an, und da hätte er wahrlich recht
gehabt. Auf diese Erklärung hin schrie das Volk Hurra!, selbst
Frau Cook zweifelte nicht mehr, sondern rief: »Ich wußte, daß es
ihm gelingen würde; er war so fest davon überzeugt, als er abfuhr, ich wußte, es konnte ihm nicht mißlingen!«, und ein Varietédirektor bot dem Forscher für zehn Wochen 16.000 Mark. Da
aber ein amerikanischer Verleger für eine Depesche das Doppelte
bot, so meinte Herr Georg Brandes, Cook wäre ein Narr, wenn er
zum Varieté ginge. Von dieser Seite hatten die Idealisten den
Nordpol noch nicht betrachtet, und schon begann das liberale
Weltblatt, das der Fachmann von der Börse leitet, sich für die Familienverhältnisse des Entdeckers zu interessieren. Frau Cook,
hieß es, habe mit ihm seinen Ehrgeiz und ihren Reichtum geteilt.
Eine andere Meldung entrollte ein düsteres Familienbild. Die Frau
hatte »während der Abwesenheit des Mannes mit materiellen
Schwierigkeiten zu kämpfen und mußte Wertgegenstände und
Kunstobjekte verkaufen, um sich und ihre Kinder zu ernähren«,
während der Hallodri den Nordpol entdecken ging. Nun erreichte ihn sein Schicksal. Frau Peary, so hieß es, habe ihm die Fähigkeit wissenschaftlicher Messungen abgesprochen, und wenn
nicht im letzten Moment Frau Rasmussen für ihn Partei ergriffen
hätte, die Nachbarinnen der arktischen Zone hätten ihm die
Nordpolentdeckung nicht geglaubt. Überhaupt kamen da nette
Dinge zur Sprache. Von Peary hieß es, er habe »die Geschmacklosigkeit begangen, zu viele Begleiter zuzulassen«, und er sei nur
deshalb nicht als erster hinaufgelangt, »weil er seine Frau und
eine Hebamme zum Nordpol mitnahm«. Als dann das Kind kam,
fehlte es freilich an der Amme. Cook war auch hierin gewitzter.
Er brauchte keine Amme, er wußte, daß man ihm die Erzählungen vom Nordpol auch so glauben werde, und fand richtig einen
Verleger, der ihm anderthalb Millionen Mark dafür bot. In der
Fülle gewinnender Züge, die uns an dem Familienleben zweier
Polarforscher teilnehmen ließen, darf aber die Ansprache nicht
vergessen werden, die die Frau Peary vom Balkon ihrer Villa an
die Kurgäste eines Seebades hielt und in der sie die Absicht kundgab, ihren Mann »fortan für sich allein zu behalten«. Damit schien
wenigstens die Frage, wem der Nordpolentdecker gehört, für alle
Zeiten entschieden. Doch wie hart klingt auf so rührendes Bekenntnis aus einem Frauenmund die Rede, die ein Kontre-Admiral plötzlich vernehmen ließ: Peary sei »der größte Schwindler,
den Amerika je hervorgebracht habe«. Also auch hier wieder
zwei, die um die Palme ringen? Wer hat zuerst den Nordpol nicht
entdeckt? Man fängt ernstlich an, sich nicht mehr auszukennen,
und hofft täglich von der Wissenschaft das entscheidende Wort
zu hören. Denn die Wissenschaft liest genau, was in den Zeitungen steht und achtet auf alle Widersprüche, um sie sich anzueignen. Sie gibt Gutachten ab, sobald ihr ein erfundenes oder entstelltes Telegramm unter die Nase gehalten wird, sie fühlt sich
vor dem Reporter verantwortlich, und sie weiß, daß sie wirklich
nicht den Nordpol erreicht haben muß, um zu Ehren zu kommen,
sondern bloß die unwirtliche Gegend einer Nachtredaktion. Und
nur einem glücklichen Zufall hat es die Welt zu verdanken, daß
von der Wissenschaft die Meldung nicht approbiert wurde, Herrn
Cook sei es gelungen, »eine von Wilden reich bevölkerte Gegend
zu entdecken«. Diese Meldung stand nämlich in einem von der
Wissenschaft weniger gelesenen Blatte, während in dem führenden Organ der Wissenschaft die richtige Fassung zu lesen war,
daß die Expedition »ein wildreiches Gebiet entdeckt« habe. Und
das muß wahr sein, denn das hat schon Jules Verne behauptet.
Trotzdem kann sich auch die Wissenschaft bei einer so schwierigen Materie, wie es der Nordpol ist, und angesichts des Umstandes, daß er vor den Herren Peary und Cook bestimmt noch nicht
entdeckt war, nur darauf einlassen, Kredit abwechselnd zu geben
oder zu nehmen. Unbeirrt steht sie auf dem Standpunkt, sie sei
nicht geneigt, sich mit zwei Eskimos und einer Fahne aufs Treibeis führen zu lassen. Denn noch unverläßlicher als die Fahne seien die Eskimos. Cook hatte sich auf die Herren Itukisut und Avila
als Tatzeugen für die Entdeckung des Nordpols berufen, und sie
sollten wie die leibhaftigen Schacher sein Martyrium umrahmen,
als die Frage laut wurde: Was ist Wahrheit? Dem Einwand Pearys,
daß die Eskimos bekanntlich lügen, hatte er heftig gewehrt. Als
nun Peary depeschierte, die beiden Begleiter Cooks hätten ihm
gesagt, daß er keine nennenswerte Entfernung in nördlicher Richtung zurückgelegt habe, da blieb Herrn Cook nichts übrig, als
sich auf das Axiom zu berufen, daß die Eskimos lügen, nachdem
es Herr Peary bereits für ein Vorurteil erklärt hatte, und wieder
standen wir vor der Frage: Was ist Wahrheit? Denn das ist das
spezifische Geheimnis dieses Geheimnisses, daß die Mitternachtssonne nicht jene ist, die es an den Tag bringt. Sie scheint
überhaupt nicht so sehr der Wahrheit förderlich wie der Grobheit.
Während nämlich Cook noch vorgab, er sei stolz auf Peary, riet
diesem schon ein anderer Arktiker, er solle das Maul halten. Ob
aber Herr Cook ein Proviantdieb oder Herr Peary ein Koffereinbrecher sei, darüber ließ man die gelernten Geographen sich die
Köpfe zerbrechen, und das Bezirksgericht sollte entscheiden, wer
den Nordpol entdeckt habe. Mochten diese Instanzen zusehn,
wie sie zwischen Ehrendoktorat und Ehrenbeleidigung die Wahrheit fänden. Die Idealisten verhielten sich zu dieser Seite des
Nordpols ablehnend. Die ganze Affäre, deren tägliche Neuheiten
die satirischen Erwartungen des Vortags pünktlich erfüllten, versprach keine Überraschungen mehr. Man hatte den Nordpol satt
bekommen. Und nie zuvor war ein Sturz aus allen Himmeln so
jäh und schmerzhaft erfolgt. Man war zu einem Fest der Menschheit geladen, und es verlief zum Familienkrakeel, bei dem die Heroen einander die Ideale an den Kopf warfen. Eine Kirchweih hatte mit einer Prügelei der Heiligen geendet. Das Volk stob auseinander, der Nordpol war eine so kompromittierte Sache, daß niemand mehr mit ihm zu tun haben wollte, nicht einmal der Präsident der Vereinigten Staaten, und vielfach begann sich bereits die
Aufmerksamkeit dem Südpol zuzuwenden ... Die Wissenschaft
wird einen letzten Versuch machen und ihre Schiedsrichter entsenden. Sie werden hoffentlich feststellen, daß es einen Nordpol
wirklich gibt, weil sie ihn vom Hörensagen kennen, und er wird
froh sein, wenn er mit heiler Haut aus dieser Affäre herauskommt,
dieser selbstzufriedene Punkt, »von dem aus überall Süden ist«
und überall Gemeinheit, ein freudloser Fleck, seitdem er mit
menschlichen Dingen in Berührung kam.
Denn es steht geschrieben, daß die Welt größer wird mit jedem
Tag. Ist sie im Innern so befriedigt, daß sie auf Eroberungen ausgehen kann? Oder führt sie nicht eben der innere Feind, die Dummheit, auf diesen Pfad? Die Presse, der Kropf der Welt, schwillt von
Eroberungslust, platzt vor Errungenschaften, die jeder Tag bringt.
Eine Woche hat Raum für die kühnste Klimax menschlichen Expansionsdranges: von der Eroberung Niederösterreichs durch
die Tschechen über die Eroberung der Luft zu der Eroberung des
Nordpols. Kombinationen sind nicht ausgeschlossen, und wenn
nicht Herr Cook das Wort gehabt hätte, so wäre der Nordpol sicher
vom Zeppelin durch die kaum eroberte Luft erobert worden. Die
allgemeine Bereitschaft zum Maulaufreißen findet ein noch nicht
dagewesenes Entgegenkommen bei den Ereignissen, und mit der
Dimension der Bewunderung wächst die Dimension der Tatsachen, bis im Wettlauf den Gaffern wie dem Schicksal der Atem
ausgeht. Und ein Hinauflizitieren aller Werte und Bedeutungen
hebt an, von dem sich jene keine Vorstellung machen könnten,
die einst wert und bedeutend waren. Der größte Mann des Jahrhunderts ist der Titel einer Stunde, die nächste schon verleiht ihn
einem andern. Es ist erreicht!, kaum noch die Devise einer ad
astra weisenden Schnurrbartfasson, ist gleich wieder der Gruß,
der kühneren, wenn auch nicht weniger bestrittenen Erfindungen
entboten wird. Der Fortschritt, der den Kopf unten und die Beine
oben hat, strampelt im Äther und versichert allen kriechenden
Geistern, daß er die Natur beherrsche. Er belästigt sie und sagt,
er habe sie erobert. Er hat Moral und Maschine erfunden, um der
Natur und dem Menschen die Natur auszutreiben, und fühlt sich
geborgen in einem Bau der Welt, den Hysterie und Komfort zusammenhalten. Der Fortschritt feiert Pyrrhussiege über die Natur. Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut. Als
der Mensch mit der Postkutsche reiste, kam die Welt besser fort,
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© wasser-prawda
Sprachraum
als da der Kommis durch die Luft fliegt. Was nützt das Tempo,
wenn unterwegs das Gehirn ausgeronnen ist? Wie wird man den
Erben dieser Zeit die primitivsten Handgriffe beibringen, die notwendig sind, um die kompliziertesten Maschinen in Gang zu setzen? Die Natur kann sich auf den Fortschritt verlassen: er rächt
sie schon für die Schmach, die er ihr angetan hat. Sie aber will
nicht warten und zeigt, daß sie Vulkane hat, um sich von lästigen
Eroberern zu befreien. Ihre Weiber verkuppelt sie mit den Todfeinden der Zivilisation, zündet mit der Moral die Wollust an und
schürt sie mit der Rassenfurcht zum Weltbrand. Man tröstet sich
und erobert den Nordpol. Aber die Natur klopft ihnen an die Tore
der Erde und rüttelt an ihrer angemaßten Hausherrlichkeit. Man
tröstet sich und erobert die Luft. Gegen Glatteis hat man noch
keine andere Hilfe als das »Aufstreuen«, und wenns regnet, bleibt
vorläufig nichts übrig, als den Regenschirm aufzuspannen. Aber
sonst hat man es gelernt, der Natur auf die kunstvollste Art zu
imponieren. Die Natur liest keinen Leitartikel und weiß darum
noch nicht, daß man gerade jetzt damit beschäftigt ist, »die Welt
der elementaren Gewalten in ein Vernunftreich zu verwandeln«.
Könnte sie hören, daß die Meldung vom erreichten Nordpol bei
allen Laufburschen der Erde »das Gefühl der Überlegenheit über
die Natur gesteigert« hat, sie hielte sich den Bauch vor Lachen,
und Städte und Staaten und Warenhäuser würden dann ein wenig in Unordnung geraten. Sie zuckt ohnedies schon öfter, als es
der Überlegenheit ihrer Bewohner zuträglich ist. Binnen ein paar
Wochen haben die elementaren Gewalten in einer so deutlichen
Weise ihre Bereitwilligkeit bekundet, in ein Vernunftreich einzulenken, daß es auch das große Publikum verstehen muß. Indem
sie durch Erdbeben, Springfluten, Taifune, sintflutartige Regen
Hunderttausende von Menschen und Millionenhunderte von
Vermögen in Amerika, Asien und Australien vernichteten, und
nur in Europa den Redakteuren die Hoffnung ließen, daß »der
Wille des Menschen« schon demnächst »alle Hebel der Natur bewegen« werde. Jedem Parasiten der Zeit ist der Stolz geblieben,
ein Zeitgenosse zu sein. Man führt die Rubrik »Eroberung der
Luft« und muß die Nachbarschaft »Erdbeben« nicht beachten,
und in dem Jahre von Messina und des täglichen Nachgrollens
der Erde bewies der Mensch seine Überlegenheit über die Natur
und flog nach Berlin. 1909 opferten die Idealisten den ungnädigen Elementen Makkaroni und schafften für die verlorenen Ideale Ersatz am Nordpol. Denn es ist die Sache des Idealismus, sich
für den Verlust des Alten damit zu trösten, daß man etwas Neues angaffen kann, und wenn die Welt untergeht, so triumphiert
das Überlegenheitsgefühl des Menschen in der Erwartung eines
Schauspiels, zu dem nur die Zeitgenossen Zutritt haben.
Die Entdeckung des Nordpols war unabwendbar. Sie ist ein
Schein, den alle Augen sehen, und vor allen anderen jene, die
blind sind. Sie ist ein Ton, den alle Ohren hören, und vor allen anderen jene, die taub sind. Sie ist eine Idee, die alle Gehirne fassen,
und vor allen anderen jene, die nichts mehr fassen können. Der
Nordpol mußte einmal entdeckt werden. Denn jahrhundertelang
war durch Nacht und Nebel der menschliche Geist gedrungen,
in hoffnungslosem Ringen mit den mörderischen Naturgewalten
der Dummheit. Den Weg bezeichnen die Blutspuren jener Ungezählten, die für die geistige Tat den Kampf gegen eine erstarrte Menschheit immer wieder gewagt hatten. Wie viele Pioniere
des Gedankens waren verhungert und wurden ein Fraß jener
wahren Bestien des Eismeers, deren bloßes Dasein die Sperre
der geistigen Zone bedeutet! Nicht einen Fußbreit hat Phantasie
dem Reich jenes weißen Todes abgewonnen, dort, wo selbst die
Hoffnung versank, die Welt der menschlichen Gewalten in ein
Vernunftreich zu verwandeln. Man hat so lange den Walrossen
Gedichte vorgelesen, bis sie schließlich die Entdeckung des Nordpols mit verständnisvollem Kopfnicken begleiteten. Denn die
Dummheit war es, die den Nordpol erreicht hatte, und sieghaft
flatterte ihr Banner als Zeichen, daß ihr die Welt gehört. Die Eisfelder des Geistes aber begannen zu wachsen und rückten immer
weiter und dehnten sich, bis sie die ganze Erde bedeckten. Wir
starben, die wir dachten.
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© wasser-prawda
Feuilleton
Edgar Wallace: A.S. der
Unsichtbare
Kriminalroman
Aus dem Englischen übertragen von Ravi Ravendro
8. Fortsetzung. Kapitel 13
13
Scottie ging selten bei Tag aus. Er tat es aber nicht aus Geheimniskrämerei, sondern er nahm Rücksicht auf Andys Wünsche. Er
ließ sich im allgemeinen nur zwischen ein und zwei Uhr mittags
sehen, und um diese Zeit speiste man in Beverley Green gewöhnlich zu Mittag.
Er verließ Nelsons Haus durch den Seitenausgang, um zum
Gästehaus zu gehen und Andy zu sprechen. Ein Artikel in einer
Morgenzeitung, die er unter dem Arm trug, war der Zweck seines Besuches. Er selbst wurde nämlich darin erwähnt, und ihm
war unbehaglich. Irgendein Berichterstatter, der anscheinend
nichts von der Beendigung des Verfahrens gegen Scottie gehört
hatte, schrieb etwas von einer aufsehenerregenden Verhaftung in
diesem kleinen Ort, die kurz vor dem Mord stattfand, und zog
hieraus für Scottie wenig schmeichelhafte Schlüsse.
Er hatte kaum einen Schritt auf die Straße getan, als er schon
wieder stehenblieb.
Ein großes Auto versperrte den Weg, es stand halb auf der Straße und war halb in die Sträucher hineingefahren, die sie begrenzten. Scottie wußte, daß die Anlagen der Stolz der Bewohner von
Beverley Green waren.
Der Chauffeur hatte ein rotes Gesicht und machte verzweifelte
Anstrengungen, den Wagen zu wenden, worunter natürlich die
Sträucher litten. Aber Scotties Aufmerksamkeit richtete sich nicht
auf den Chauffeur, auch nicht auf das prachtvolle Auto – er sah
nur die Dame, die darin saß.
Ihr Alter war schwer zu schätzen, aber sie war eine majestätische und bis zu einem gewissen Grad sogar schöne Erscheinung. Unter dem Hut zeigte sich üppiges, rotes Haar, zu dem ihre
schwarzen Augenbrauen einen eigentümlichen Gegensatz bildeten. Eine dicke Puderschicht bedeckte ihr von Natur rotes Gesicht. Die großen blauen Augen traten ein wenig hervor. All dies
stellte Scottie fest, während er ihren Schmuck einer eingehenden
Prüfung unterwarf.
In den Ohren trug sie Brillanten von der Größe zweier Erdnüsse. Eine dreifach geschlungene Kette großer Perlen lag um ihren
Hals. Eine Brillantbrosche blitzte an ihrem Kleid, eine Smaragdspange an ihrem Gürtel. Scottie betrachtete ihre Hände und stellte fest, daß sie nur an den Daumen keine Ringe trug.
»Es tut mir entsetzlich leid, daß der Wagen hier soviel Schaden
anrichtet, aber warum machen Sie Ihre Straßen nicht breiter?«
Sie mußte wohl einige Jahre in Amerika gelebt haben, denn sie
hatte diesen eigentümlichen Akzent angenommen, den Engländer nach einem längeren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten
bekommen. Scottie war unbehaglich zumute.
Recht gewöhnlich, dachte er und fragte sich, wie sie zu dem
Schmuck gekommen sein mochte.
»Ich bin seit vielen Jahren nicht in dieser Gegend gewesen«,
sprach sie gleich weiter. Sie hielt ihn natürlich für einen Bewohner
von Beverley Green. »Man hat mir soviel von diesem Ort erzählt.
Hier ist doch jemand umgebracht worden?«
»Gewiß«, entgegnete Scottie höflich und reichte ihr die Zeitung.
»Sie finden hier einen eingehenden Bericht darüber.«
»Ich habe leider meine Brille nicht bei mir«, sagte sie, nahm aber
die Zeitung trotzdem an, »Es ist doch schrecklich, daß schon wieder ein Mensch getötet wurde. Man hat mir seinen Namen nicht
genannt, und er ist ja auch ohne Bedeutung für mich. Es ist wirklich fürchterlich, daß in letzter Zeit wieder so viele Morde vorkommen. Vor einigen Jahren wurde auch ein solches Verbrechen
ganz in unserer Nähe in Santa Barbara verübt, aber mein verstorbener Mann, der Senator, wollte mir nichts darüber erzählen, um
mich nicht zu beunruhigen. Er war der Senator Crafton-Bonsor.
Vielleicht haben Sie schon einmal von ihm gehört? Sein Name
war häufig in den Zeitungen. Er hat sich allerdings nicht viel darum gekümmert, was sie schrieben.«
Scottie schloß daraus, daß die Zeitungen den Mann wahrscheinlich recht unfreundlich behandelt hatten, aber ein Senator
der Vereinigten Staaten! Darüber kam er nicht so leicht hinweg.
Er wußte zwar nicht viel von den Amerikanern, deren Namen in
der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, seine Kenntnisse beschränk-
ten sich auf einige Staatsanwälte. Aber er hatte die Vorstellung,
daß amerikanische Senatoren hochgestellte Leute seien.
»Nun, ich muß jetzt weiterfahren. Es wäre mir entsetzlich, an
einem Ort leben zu müssen; an dem ein Mord verübt wurde. Ich
könnte nachts nicht mehr schlafen, Mr. –«
»Bellingham ist mein Name – Professor Bellingham.«
Seine Worte schienen großen Eindruck auf sie zu machen.
»Ach, wie interessant! Wissen Sie, ein Professor kam auch einmal zu uns in Santa Barbara. Die Rasenflächen in meinem Park
sind so groß wie der ganze Ort hier. Ach ja, der Professor, der mich
besuchte, war einfach wunderbar. Er holte lebendige Kaninchen
aus seinem Zylinder, und vorher hatte er mir doch gezeigt, daß er
nichts darin hatte. Nun muß ich aber wirklich weiterfahren, Herr
Professor. Ich wohne im Great Metropolitan-Hotel. Mein Gott,
die können einem aber Rechnungen schreiben! Und als ich nach
einer Beutelmelone fragte, wußte kein Mensch, was ich meinte.
Also, dann auf Wiedersehen.«
Der Wagen fuhr an und war bald außer Sicht. Scottie wurde
nachdenklich.
»Haben Sie den Wagen gesehen?« war die erste Frage, die er an
Andy richtete.
»Nein, gesehen nicht, aber gehört – ich dachte, es wäre ein Lastauto gewesen.«
»Ja, so könnte man es nennen«, gab Scottie zu. »Sie hätten nur
die Fracht sehen sollen! Ungefähr – aber ich will Sie nicht langweilen. Es war einfach großartig – und was für eine Dame!«
Andy hatte etwas anderes zu tun, als sich um gelegentliche Besucher von Beverley Green zu kümmern.
»Wie geht es Miss Nelson?«
»Ausgezeichnet, sie macht heute nachmittag einen langen Spaziergang.«
Andy wurde rot.
»Wer hat Ihnen denn das verraten?«
»Sie selbst«, antwortete Scottie kühl. »Sie hat mir sogar aufgetragen, es Ihnen zu sagen. Dieses Mädchen ist recht intelligent.«
»Ich habe nicht die Absicht, mich mit Ihnen über die Intelligenz
Miss Nelsons zu unterhalten«, entgegnete Andy ein wenig von
oben herab. »Und ich weiß auch nicht, warum Sie irgendwelche
Schlußfolgerungen aus ihren Worten ziehen. Wahrscheinlich hat
sie gemeint, Sie möchten mir bestellen, daß sie sich wohl genug
fühlt, allein einen längeren Spaziergang zu machen.«
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© wasser-prawda
Feuilleton
»Vielleicht. Sie sagte nur, daß sie um drei Uhr am zweiten Golfloch sei und dort auf Sie warten werde.«
Andy wußte darauf nichts zu erwidern.
»Und da wir gerade von Liebe sprechen«, fuhr Scottie fort, »so
möchte ich Sie doch bitten, einmal nachzusehen, was der Berichterstatter des ›Post Herald‹ über die Verhaftung eines gefährlichen
Verbrechers schreibt – damit meint er nämlich mich. Er zieht allerhand Schlüsse aus der Tatsache, daß sich die Verhaftung kurz
vor dem Mord ereignete.«
*
Andy hatte schon zehn Minuten am Golfloch gewartet, ehe Stella
kam.
»Ich fürchtete schon, Sie könnten nicht abkommen«, sagte sie.
»Hat Ihnen der Professor meinen Auftrag ausgerichtet?«
»O ja, er hat es mir bestellt«, entgegnete Andy trocken.
»Hat er Ihnen auch von der merkwürdigen Dame erzählt?« fragte sie ihn interessiert. »Scottie hatte eine lange Unterredung mit
ihr. Ihr Auto hat zwei Fliederbüsche vollständig umgefahren. Der
große Wagen wollte in der engen Straße wenden!«
»Was war denn das für eine merkwürdige Dame? Hat sie Beverley Green besucht?«
Stella nickte.
»Ich sah sie durchs Fenster, Es gibt nur eine Beschreibung für
sie – sie glitzerte! Ich hatte leider noch keine Gelegenheit, Scottie
über sie auszufragen.«
Sie gingen langsam weiter – Andy wußte nicht, welchen Weg
sie eingeschlagen hatten. Ihm wurde nur so viel klar, daß sie zu
den Grenzhecken von Beverley Hall kamen. Er war in einer ganz
anderen Welt unendlich glücklich. Anziehend – hübsch – schön?
Er hatte sich diese Frage schon einmal beantwortet. Er betrachtete
Stella von der Seite. Ihr Profil war vollkommen, ihre Haut schimmerte in dem wenig schmeichelhaften, hellen Sonnenlicht ebenso
zart wie in der Abendbeleuchtung.
»Artur Wilmot hat mich heute geschnitten«, sagte sie.
»Aber warum denn? Ich dachte doch – ich hatte gehört –«
Er vollendete den Satz nicht.
»Daß ich mit ihm verlobt sei?« sagte sie leise lachend. »Die Leute von Beverley verloben einen sehr leicht. Ich war nie mit ihm
verlobt. Ich trug wohl früher einen Ring, weil – nun, weil er mir
gefiel. Mein Vater hat ihn mir früher einmal geschenkt.«
Er seufzte erleichtert auf, sie hörte es und sah ihn schnell von
der Seite an. Aber dann schaute sie rasch wieder fort.
»Was ist eigentlich der Beruf Artur Wilmots?«
»Ich weiß es nicht. Er hat immer in London zu tun. Über seine
Geschäfte spricht er nie, und niemand weiß etwas davon. Das ist
merkwürdig, denn die meisten jungen Leute erzählen sehr gern
von ihrem Beruf – wenigstens die ich kenne. Sie sind stolz auf
die eigene Tüchtigkeit und wissen eigentlich sonst nicht viel zu
reden. Aber Sie habe ich noch nie über ihre Tüchtigkeit sprechen
hören, Doktor Andrew.«
»Ich glaubte, daß ich schön außerordentlich gesprächig gewesen
wäre – Miss Nelson.«
»Nun seien Sie doch nicht komisch – Sie haben mich schon Stella
genannt und ein dummes Kind, als Sie neulich morgens kamen.
Ist es nicht wunderschön?«
»Ich bin damals wohl sehr kühn gewesen«, gab er kleinlaut zu.
»Ich meinte, daß wir uns kennengelernt haben und daß ich Sie
gerne mag. Im allgemeinen kann ich mich nämlich nur schwer an
einen Menschen gewöhnen. Vielleicht war es auch eine Reaktion.
Ich habe Sie so sehr gehaßt, weil ich mich immer schuldig fühlte,
wenn Sie mich ansahen. Ich dachte immer, Sie müßten schrecklich sein, ein Bluthund, der arme, unglückliche Menschen hetzt.«
»Wahrscheinlich haben alle Leute diese Vorstellung von Polizeibeamten. Und wir schmeicheln uns mit dem Gedanken, daß der
Anblick einer Polizeiuniform jeden guten Bürger erfreut.«
»Ich bin kein guter Bürger. Im Gegenteil, ein sehr schlechter –
Sie wissen gar nicht, wie schlecht ich bin.«
»Ich kann es vermuten.«
Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her.
»Stella«, sagte er dann plötzlich, »hat Merrivan bei Ihrem letzten
Zusammensein mit ihm irgendwelche Andeutungen über die Zukunft gemacht – wo er leben würde?«
»In Italien«, sagte sie. »Er erzählte mir, daß er viel Geld bekommen würde, und daß er einen herrlichen Palast am Corner See
gekauft habe.«
»Hat er Ihnen nicht mitgeteilt, ob er das Geld bereits erhalten
habe?«
»Nein, ich kann mich erinnern, daß er sagte, er werde es bekommen. Ich hatte den Eindruck, daß er es von irgendeiner Seite erhalten würde. Aber wir wollen bitte nicht mehr über diese Sache
sprechen.«
Von wem erwartete Merrivan das Geld? Doch nicht von Albert
Selim? Oder hatte er vielleicht die Summe schon erhalten und
versteckt? Möglicherweise hatte der Wucherer entdeckt, daß Merrivan ins Ausland gehen wollte, und versucht, das Geld wieder
zurückzubekommen. Selim klagte sein Geld nie vor Gericht ein
– das war auch ein sonderbarer Umstand. Er verlieh offenbar nur
Geld, wenn er sein Opfer irgendwie in der Hand hatte.
Als sie an eine steile Stelle kamen, nahm er Stellas Hand, um sie
zu stützen, aber er ließ sie nicht los, als der Weg wieder eben wurde. Sie zog die Hand auch nicht fort. Sie war glücklich in seiner
Gegenwart. Die Berührung dieser starken Hand, die die ihre so
behutsam hielt, war wohltuend. Etwas von seiner Kraft und Ruhe war auf sie übergegangen, als er sie damals an den Schultern
gepackt hatte.
»Sie sind sehr ernst geworden«, sagte sie auf dem Rückweg. »Ich
wußte, daß unser Spaziergang so sein würde – so wunderschön.
Ich wünsche mir jetzt nichts mehr – mein Glück ist vollkommen.
Ein zweites Mal würde es nicht mehr so werden wie heute.«
Sie waren bei dem zweiten Golfloch angekommen. Es war niemand zu sehen.
Andy beugte sich zu ihr, und seine Lippen berührten die ihren.
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Prudenci Bertrana:
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