Nr. 2/2013 - Wasser
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Nr. 2/2013 - Wasser
Magazin Wasser Prawda Nr. 2/2013 Willie Dixon: What a time - what a man - what a gift to us all! (Zach Prather) •Precious Bryant - Ann Rabson - Pass Over Blues - Scott Sharrard & the Brickyard Band •Wir wollen ein Lied von Dir - Der erste Download-Sampler •Album des Monats: Bob Brozman - Fire in the Mind •Interviews: Carolyn Wonderland - Clare Free - Blues Bea - Jürgen Buchmann •Texte von Angelika Janz, Karl Kraus, Jean Paul, •Bücher von O. Emersleben, Neal Stephenson w w w. f r e i r a u m - ve r l a g. d e i n f o @ f r e i r a u m - ve r l a g e. d e G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Die Redaktion empfiehlt: Jake Lear - Diamonds and Stones Die Gitarre heult auf, die Rhythmen stampfen - man glaubt sich in den gleichen Schuppen versetzt, in dem Buddy Guy vor Jahren sein großartiges Album „Sweet Tea“ eingespielt hat: Rauher Juke Joint Blues erwartet einen, wenn „Diamonds And Stones“ losgeht. Impressum Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraumverlag Greifswald veröffentlicht und erscheint monatlich. Es wird kostenlos an die registrierten Leser des Online-Magazins www.wasser-prawda.de verschickt. Wasser-Prawda Nr. 2/2013 Redaktionsschluss: 31. Januar 2013 Redaktion: Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.) Redaktion: Lüder Kriete, Erik Münnich Mitarbeiter dieser Ausgabe: Leo Hull - Bootleggin‘ The Blues Leo Hull, im Untertitel seines vierten Albums als „The Texas Blues Machine“ angekündigt, erzählt Geschichten und serviert sie mit Blues, mit Country, mit Boogie - und vor allem mit viel Liebe. Er macht sich nicht lustig über die gescheiterten Existenzen. Er fühlt sich ihnen nahe und setzt ihnen in den Liedern Denkmale. The Tribe with Zach Prather Ju Ju Man Diese Gitarre fällt auf: Wie sie den stoischen Groove der Rhythmusgruppe in „Smokestack Lightning“ mit schneidend-heftigen Linien ergänzt, erinnert das manchmal von ferne an Buddy Guy. Und Zach Prathers Stimme braucht eigentlich nicht die Jodelanleihen, um Howlin Wolf Referenz zu erweisen. Das ist eine Stimme von jemandem, der seit Jahren seine Blueslektionen von großen Bühnen bis hin in die ganz kleinen Kellerclubs gelernt hat. • Gary Burnett (Belfast, Down at the Crossroads) • Matthias Frieling (Weimar) • Beate Grams (www.bluesbea.de) • Thilo Hornschild (Köln, Cologne Blues Club) • Dave Watkins (Blues Train Radio) • Zach Prather (Luzern, The Tribe with Zach Prather) Die nächste Ausgabe erscheint am 21. März 2013. Adresse: Redaktion Wasser-Prawda c/o wirkstatt Gützkower Str. 83 17489 Greifswald Tel.: 03834/535664 www.wasser-prawda.de mail: [email protected] Anzeigenabteilung: [email protected] Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle zeigenpreisliste und die Mediadaten für Online-Magazin und die pdf-Ausgabe Wasser-Prawda zu. Anzeigenschluss für pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag Erscheinungs-Monats. Andas der das des Jobs @ Wasser-Prawda Ben Harper & Charlie Musselwhite - Get Up! Ben Harper und Charlie Musselwhite: Eine Kombination, die schon vom Papier her sofort einleuchtet. Die Lieder von „Get Up!“ über das Scheitern im Alltag verlangen geradezu nach den schneidenden Harpsounds von Musselwhite. Man spürt sofort, dass die Musiker sich hervorragend ergänzen und hier keine Kollaboration in der PR-Abteilung beschlossen wurde. Wir suchen zum nächstmöglichen Termin eine engagierte Mitarbeiterin/ einen engagierten Mitarbeiter für unsere Anzeigenabteilung. Du hast Lust, einen Arbeitsbereich komplett eigenverantwortlich aufzubauen? Du hast idealerweise Kontakte zu Plattenfirmen, Klubs, Verlagen und Musikern? Und Du kannst auch auf Englisch klar machen, warum ein Magazin wie die Wasser-Prawda ein wichtiges Werbeumfeld ist? Bewerbungen an redaktion@ wasser-prawda.de. Die Bezahlung erfolgt auf Provisionsbasis. Editorial spontan ein Lied ein? Ab damit in den Mailanhang und an [email protected]. Den Abschluss unserer Feierlichkeiten wird Ende Juli/Anfang August eine Spezialausgabe der Radiosendung „Crossroad Cafe“ auf radio 98eins bilden. Und die ist gleichzeitig unser Beitrag zum International Blues Music Day, der weltweit erstmals am 3. August stattfinden wird. Man nennt ihn den „Poeten des Blues“: Als Songschreiber und Bassist zahlloser Nummern von Chess Records wird Willie Dixon zu Recht gefeiert. Seine eigenen Aufnahmen und sein Wirken nach der Zeit bei Chess geht dabei leider oft unter. Für uns der Grund, genau diese Musik einer Würdigung zu unterziehen und daraus eine Art musikalischer Biografie zusammenzustellen. Ergänzt wird diese durch Erinnerungen von Dixons letztem Gitarristen Zach Prather, der seit Jahren in der Schweiz wohnt und mit „Yu Yu Man“ gerade ein äußerst hörenswertes neues Album veröffentlicht hat. Die Anzahl unserer Autoren ist in den letzten Monaten erfreulich angewachsen. Neben Prather können wir in dieser Ausgabe den Gitarristen Thilo Hornschild vom Cologne Blues Club, den Musikwissenschaftler Matthias Frieling und Beate Grams begrüßen, die uns nicht nur für ein Interview zur Verfügung stand, sondern uns auch für einen Artikel einige ihrer großartigen Aufnahmen zur Verfügung gestellt hat. Dave Watkins startet in dieser Ausgabe eine Interviewreihe, bei der er zukünftig vor allem britische Bluesmusikerinnen und Bluesmusiker porträtieren wird. Die ersten „Zehn Fragen an“ stellte er britischen Gitarisstin, Songschreiberin und (seit neuestem) PR-Agentin Clare Free. Weitere Gespräche führten Gary Burnett mit Carolyn Wonderland und ich selbst mit Pass Over Blues. Editorial Bis zum Sommer wollen wir hier das fünfjährige Bestehen unseres Kulturmagazins begehen. Feiern wollen wir das vor allem mit ein paar exklusiven Download-Samplern, für die uns Musiker aus aller Welt Songs zur Verfügung gestellt haben. 13 Lieder zwischen Blues, Bluesrock und Americana stehen am Start der Aktion „Wir wollen ein Lied von Dir!/Give us your song!“ Und unser Aufruf gilt noch immer: Schenkt uns einen Song! Ihr habt bei dem letzten Studiotermin einen Song aufgenommen, der dann irgendwie nicht auf‘s Album gepasst hat? Es gibt da noch diese eine umwerfende Nummer, die Ihr immer schon mal aufnehmen wolltet? Oder war da nicht noch der Livemitschnitt mit dem irren Solo? Oder Euch fällt beim Blick auf die Medienlandschaft in Bezug auf den Blues Inhalt Camper Van Beethoven - La costa Perdida 31 David Migden & The Dirty Words - Killing It 31 David Philips - December Wine 32 Dream Catcher - Irish Nights 32 Jake Bugg - Jake Bugg 32 Jake Lear - Diamonds And Stones 33 Jason Vivone and the Billy Bats - Lather Rinse Repeat 33 Jesse Dee - On My Mind, In My Heart 33 Kinky Friedman - Bi-Polar-Tour live from Woodstock 33 Kris Kristofferson - Feeling Mortal 33 Leo Hull - Bootleggin‘ The Blues 34 Lucky Peterson Band - Live At The 55 Arts Club Berlin 34 Matty Powell - Kiss The City 34 Max Raabe - Für Frauen ist das kein Problem 34 Mockingbird Hill - One Horse Town 34 Murali Coryell - Live35 Ólöf Arnalds - Sudden Elevation 35 Petra Haden - Petra Goes To The Movies 35 Red Fox Bluesband - Come On everybody 37 Rusty Wright Band - This, That & The Other Thing37 „Sir“ Oliver Mally - Strong Believer 37 Stevie DuPree & The Delta Flyers - Dr. DuPree‘s Love Shop37 The John Pippus Band - Howl At The Moon38 The Trieb with Zach Prather - Ju Ju Man 38 Yes Sir Boss - Desperation State 38 Die Redaktion empfiehlt:2 Impressum2 Jobs @ Wasser-Prawda2 Editorial3 Wir wollen ein Lied von Dir Volume 1 5 Precious Bryant (1942-2013)6 Ann Rabson (1945 - 2013) 7 Bob Margolin über den Tod seiner langjährigen Freundin und musikalischen Partnerin7 Willie Dixon: Jenseits von Chess 8 Zach Prather: Was für eine Zeit, was für ein Mann, was für ein Geschenk für uns alle 12 Der Streit um die Rechte und die Blue Heaven Foundation 13 Bei Chess: 2 Box-Sets, 1 CD 14 Scott Sharrard & the Brickyard Band 15 Pass Over Blues: Auf leisen Wegen 17 Carolyn Wonderland: The soul of the blues 19 Bluesbea - Unterwegs im Namen des Blues?! 22 Zehn Fragen an: Clare Free 25 Mia Moth: Poppunkfunkrock mit Spassfaktor! 27 Matthias Bätzel Back To The Roots Jazz im Keller oder wie es abwärts geht 28 28 Album des Monats: Bob Brozman - Fire In The Mind 29 Rezensionen Ausgegraben & Wiedergehört 36 Jimmy „Preacher“ Ellis - The Story of 1963-1972 Johnny Ace - Ace‘s Wild! Slam Allen - This World! Platten A-Z Aaron Neville - My True Story 30 Allen Vega - Rough Cut 30 Annabels Ashes - Revenant30 Bart Walker - Waiting On Daylight 30 Ben Harper & Charlie Musselwhite - Get Up! 30 Big Llou Johnson - They Call Me Big Llou 31 w w w. f r e i r a u m - ve r l a g. d e i n f o @ f r e i r a u m - ve r l a g e. d e G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 3 © wasser-prawda 36 36 36 Musik Sunday Wilde beim 5. Volksdorfer Bluesfestival „What Man!?? - Oh THAT man!!“ gehörte 2011 nicht nur bei uns zu den Alben des Jahres. Und auch mit „He Gave Me A Blue Nightgown“ hat die kanadische Songwriterin Sunday Wilde Ende 2012 wieder ein großartiges Album vorgelegt. Da ist es eine wunderbare Nachricht, dass sie die Organisatoren des Volksdorfer Bluesfestivals sie am 2. November 2013 nach Deutschland holen werden. Ein offizielles Programm für die 5. Auflage des kleinen Festivals in Hamburg-Volksdorf steht zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht fest. Mit der Verpflichtung Wildes haben die Organisatoren auf jeden Fall gezeigt, dass sie mehr Mut haben, als andere Konzertveranstalter hierzulande. Denn bislang hatte sich die Sängerin wohl vergeblich hier um Auftrittsmöglichkeiten bemüht. Bleibt zu hoffen, dass der Auftritt nur der Auftakt zu etlichen Konzerten in Deutschland ist. Denn eine so großartige Songschreiberin und Sängerin wie sie hat auf jeden Fall ein großes Publikum verdient. Dynamite Daze auf Deutschland-Tour Der „Rolling Stone“ nannte Dynamite Daze mal die deutsche Antwort auf Tom Waits und Captain Beefheart. Die Band selbst bezeichnet ihre Musik schlicht als Krautblues. Auf jeden Fall spielen die vier Musiker einen Bluesrock, der eigenständig und immer wieder überraschend ist. Mit dem 2011 erschienenen Album „Scarecrows on Rampage“ sind sie jetzt wieder auf Tour durch Deutschland. 22.02. Karlsruhe Jubez 09.03. Huttenheim Holzwurm 15.03. Weinstadt Armer Konrad 16.03. Burghausen Jazztage 23.03. Meidelstetten Adler 12.04. Braunschweig Barnabys Blues Bar 13.04. Hannover Anderter Bahnhof 14.04. Rhede Blues 18.04. Roth Rother Bluestage 19.04. Weiden Salute Music Club Julian Dawson Ein Jahr lang war der britische Songwriter nicht mehr auf Tour. Jetzt hat er einen umfangreichen Tourplan veröffentlicht, der Konzerte vor allem in Deutschland aber auch Ausflüge nach Kanada und den USA beinhaltet. Februar 20-24 Toronto Folk Alliance 27 Frome The Olive Tree B.B. & The Blues Shacks „Come Along“ ist nicht umsonst von den „Blues News“-Kollegen zum Album des Jahres hierzulande gewählt worden. Und wie kann man diesen großartigen Soulblues besser genießen als im Konzert? Bis in den Mai sind B.B. & The Blues Shacks mit dem Album auf großer Frühjahrs-Tour durch die Welt. Hier die nächsten Termine in Deutschland: 26.04.2013 | D-PERLESREUT 27.04.2013 | D-LÖHNE 09.05.2013 | D-RÖDERMARK 25.05.2013 | D-LÜNEBURG März 06 Eckernfoerde Theater (tbc) 07 Kiel Kieler Fenster 08 Brunsbuettel Lyra 09 Rendsburg Speicher 10 Hameln Sumpfblume (18.00) 16 Koeln Besenkammer 17 Koeln Besenkammer (tbc) 28 Featherstone St. Wilfrid’s Catholic High School April 05 Heiligenhaus Der Club 06 Neustadt (Hannover) 09 Nijmegen Café Trianon (NL) 10 Amsterdam Kapitaen Zeppos (NL) 11 Frankfurt Musikmesse 13-28 USA 22.02.2013 | D-RATINGEN 23.02.2013 | D-OSNABRÜCK 01.03.2013 | D-WARDENBURG 02.03.2013 | D-SALZGITTER 15.03.2013 | D-BENSHEIM 16.03.2013 | D-SCHWERIN 11.04.2013 | D-HOLSTE 12.04.2013 | D-UNNA 13.04.2013 | D-VERDEN Mai 05 House concert (NL) 11 Wolfenbuettel Blue Note e. V. Pass Over Blues Die Potsdamer Band Pass Over Blues gibt es bereits seit 1991 in verschiedensten Besetzungen. Mit ihrer aktuellen Besetzung (Roland Beeg - g, Harro Hübner - voc,mharm, Lutz Mohri - b, Michiel Demeyere) sind in den nächsten Wochen folgende Konzerte geplant: 02.03. Rathaus Babelsberg (Potsdam) 20.00 23.03. Werder-17. Blues Night mit Gästen > Pöstel & Pötsch. 21.00 Uhr 30.03. Pumpe Rostock 21.00 Uhr 4 © wasser-prawda Musik Wir wollen ein Lied von Dir Volume 1 Schon kurz nachdem wir den Aufruf veröffentlicht hatten, bekamen wir für den angekündigten Sampler schon die ersten Lieder zugeschickt. Innerhalb weniger Tage wurden es so viele, dass wir bislang genügend Lieder für zwei bis drei Ausgaben unseres Samplers haben, die im Laufe der nächsten Monate an unsere Abonnenten verschickt werden. Folge 1 macht von Anfang an klar: Es geht um die Musik - jenseits von Genregrenzen: Jazz, Blues, Rock, Soul - wichtig ist, dass hier Künstler mit Leib und Seele am Werke sind. 1. Shirley Jackson & Her Good Rockin‘ Daddys - Stop Look and Listen (vom Album „When The Money‘s All Gone“) 2. Allen Vega - Jobless (vom Album „Rough Cut“) 3. Dog Hill Sessions - Drunken Dialer Die 2006 gegründete Band aus Bad Oldeslohe hat sich nach einem Album von Vdelli aus Australien benannt. „Drunken Dialer“ ist auf der bislang einzigen CD der Band „Wanna Touch Your Skin“ zu finden ist, die man bei ihren Konzerten erwerben kann. 4. King King - Six In The Morning 2012 gewannen King King bei den British Blues Awards in den Kategorien „Best Band“ und „Best Album“ („Take My Hand“). Das zweite Album der Band mit dem Titel „Standing In The Shadows“ erscheint am 23. März 2013. 5. Johnny Childs - Black Bag Groove (vom Album „Groove“) 6. Clare Free - Creepy (vom Album „Dust and Bones“) 7. Stefan Saffer & The Jukes - When justice walks on death row (bislang unveröffentlicht) Der Singer/Songwriter Stefan Saffer hat dieses Lied einem Freund gewidmet, der seit Jahren unschuldig in der Todeszelle in Texas sitzt. 8. Mariella Tirotto & The Blues Federation Lover‘s Dance (vom Album „Dare To Stand Out“) 9. Marius Tilly Band - Blue Devil On The Run Dichter dran am Blues als auf dem Debütalbum - der Jam der Marius Tilly Band wurde vor Jah- 5 ren auf einer nicht mehr erhältlichen EP der Marius Tilly Band veröffentlicht. 10. 3 Dayz Whizkey - Devil and the Deep Blue Sea (vom gleichnamigen Debüt der bayrischen Band) 11. Steve Lury & Andres Roots Roundabout Someplace Nice (Vorabveröffentlichung, die wir frisch aus dem Studio des estnischen Gitarristen erhielten). 12. Tommy Schneller - (Walkin) Barefootin In The Sand (vom Album „Smiling For A Reason“) 13. Karl Valta - Dunkeltuten (bislang unveröffentlicht) Der Grafiker Karl Valta gehört mit seiner Harp zu den wichtigen Musikern in der Bluesszene rund um Greifswald. Als Geburtstatgsgeschenk nahm er uns sein Instrumental „Dunkeltuten“ auf. Alle Rechte liegen bei den Künstlern. Dieser Sampler ist exklusiv für Leser der Wasser-Prawda und ist nicht für eine Weiterverbreitung vorgesehen. Wenn Euch die Musik gefällt, kauft die Alben der beteiligten Musiker! Zusammenstellung: Raimund Nitzsche 2013 Volume 2 erscheint voraussichtlich im März 2013. © wasser-prawda Musik Precious Bryant (1942-2013) Als Bluesgitarristin war Precious Bryant schon Jahre in Georgia unterwegs gewesen, als 2002 ihr Debütalbum „Fool Me Good“ erschien und gleich für zwei Blues Music Awards nominiert wurde. Am 12. Januar 2013 starb Bryant im Alter von 71 Jahren an den Folgen ihrer Diabeteserkrankung. Sie sang von Schmerzen und Armut. Denn sie hatte das alles erlebt. „Broke and Ain‘t Got a Dime“, mit dem „Fool Me Good“ beginnt, ist dennoch alles andere als deprimierend, denn Bryants Fingerpicking im Stiel des PiedmontBlues sorgt hier für einen willkommenen Kontrast. Und ob sie nun eigene Songs spielt oder Klassiker des Rhythm & Blues (großartig ihre Ragtime-Fassung von „Fever“) oder Soul interpretiert: All das ergibt Musik, wie sie in Georgia und anderen Ostküstenstaaten schon seit den ersten Plattenaufnahmen zu hören war. Geboren wurde die Musikerin am 4. Januar 1942 unter dem Namen Precious Bussey als drittes von neun Kindern einer armen aber musikalischen Familie. Sowohl ihr Vater als auch der Onkel spielten Gitarre, die Mutter war Pianistin. Vom Onkel George Henry Bussey erhielt sie Gitarrenunterricht. Und letzter schenkte ihr auch das erste eigene Instrument und unterrichtete sie auch. Gemeinsam mit ihren Schwestern sang sie auch im Chor ihrer Gemeinde, während ihre Cousins in der Georgia Fife and Drum Band spielten. Klar, dass sie als Jugendliche mit Platten von Muddy Waters und anderen angesagten Künstlern aufwuchs. Diese flossen ebenso in ihr Repertoire ein wie regionale Folksongs und erste eigene Stücke. In der elften Klasse brach sie die Highschool ab und heiratete 1965. Damals spielte sie in den Kneipen der Region für Trinkgelder. Dabei wurde sie 1969 von Musikhistoriker George Mitchell bei einer Field-Recording-Tour entdeckt und erstmals aufgenommen. Der konnte sie (die eigentlich ungern reiste) zu einem Auftritt beim Chattahoochee Folk Festival überreden, wo sie auf begeisterte Zustimmung stieß. Und plötzlich war sie für einige Zeit in den ganzen USA und selbst in Europa bei Folk- und Blues-Festivals gefragt. Folkloristen hatten hier mal wieder eine Künstlerin „entdeckt“, die selbstbewusst und musikalisch herausragend eine Tradition verkörperte, die man schon für fast ausgestorben hielt. Auch wenn immer mal wieder Aufnahmen von Precious Bryant auf Samplern erschienen, dauerte es doch bis 2001, dass sie ein komplettes Album aufnehmen konnte. Die Sessions dafür fanden im mit Teppichen vollgelegten Wohnzimmer von langjährigen Freunden statt. Und das gibt „Fool Me Good“ eine schon intime Atmosphäre, in der sie allein mit der Gitarre ihre Stücke vorträgt. 2005 war dann für „The Truth“ zeitweise eine ganze Band im Studio. Ihr Sohn Tony spielte in ihr den Bass. Und neben den traditionellen Songs finden sich auch neuere Stü- 6 cke, Cover etwa von Hits von Irma Thomas oder Denise LaSalle. Nachdem ihr Debüt als bestes Debüt und bestes traditionelles Bluesalbum für Blues Music Awards nominiert war, erhielt sie jetzt die nächste Nominierung. Allerdings hießen ihre Konkurrentinnen in dem Jahr Koko Taylor und Etta James - die den Preis letztlich erhielt. Die Music Maker Relief Foundation finanzierte 2005 schließlich eine Plattenaufnahme, die zur letzten der Musikerin werden sollte. Für „My Name is Precious“ stand sie wieder gemeinsam mit ihrem Sohn am Bass im Studio. Ab und zu sang und spielte auch der in der Gegend wohnende Gitarrist Cootie Stark bei den Aufnahmen mit. Die Stiftung unterstützte die in bitterer Armut lebende Musikerin die letzten Jahre ihres Lebens mit Instrumenten und bei der Suche nach bezahlten Auftritten. Als die fortschreitende Zuckerkrankheit sie an weiteren Touren hinderte, da stellten sie ihr auch einen neuen Wohnwagen zur Verfügung. Mit Precious Bryant ist eine der letzten authentischen Vertreterinnen der langsam verschwindenden Musiktradition des Piedmont-Blues gestorben. Raimund Nitzsche © wasser-prawda Musik Ann R abson (1945 2013) Als Solistin wie auch als Mitglied von Saffire - The Uppity Blues Woman half die Pianistin und Gi- tarristin Ann Rabson entscheidend mit, das Interesse am akustischen Blues wieder zu wecken in einer Zeit, als viele die Musik von Stevie Ray Vaughan noch für die höchstmögliche Entwicklungsstufe des Blues hielten. Ihr kürzlich veröffentlichtes Album „Not Alone“ brachte ihr die neunte Nominierung für einen Blues Music Award ein. Am 30. Januar starb Ann Rabson an Krebs. Pianistinnen wie sie gab es zu letzt nur noch ganz wenige. Musiker, die die Traditionen des Barrelhouse lebendig hielten, bei denen Boogie Woogie nicht eine hohe Kunstform sondern eine lebendige Musik, die vor allem zum Tanzen da ist. Geboren wurde Ann Rabson am 12. April 1945 in New York. Aufgewachsen ist sie in Ohio. Und schon als sie als Kind erstmals Big Bill Broonzy im Radio hörte, war für sie die Etnscheidung gefallen. Auch wenn sie erst mit 17 Jahren ihre erste Gitarre erhielt: „Blues speaks to me directly. It wasn‘t a choice, I was drawn to it naturally, sort of like a sheepdog with sheep“, zitiert sie ihre langjährige Plattenfirma Alligator. Bald schon war sie - noch während der Highschool-Zeit - eine gute Gitarristin und Sängerin, die neben Broonzy vor allem Memphis Minnie zu ihren Vorbildern zählte. Nach dem Schulabschluss widmete sie sich komplett der Musik. Zu den Auftritten kamen Unterrichtsstunden hinzu, mit denen sie die Gagen aufbessern konnte. Dabei traf sie auf Gaye Adegbalola, die bei ihr Unterricht nahm. Und die Begegnung - und der Wille, gemeinsam aufzutreten - führte zur Gründung von Saffire - The Uppity Blues Women. 1990 brachte Alligator das Debüt des Frauen-Trios heraus, das noch immer zu den best verkauften Alben des Labels zählt. Frauenpower - Musik von Frauen und auch über Probleme von Frauen stand da immer im Zentrum. Aber das Ergebnis ist von der Sauertöpfigkeit einer Alice Schwarzer so weit entfernt wie ein live gespielter Boogie von einem 8-bit-Klingelton der gleichen Melodie. Bis 2009 tourten die drei Frauen durch die Welt und brachten von Fans und Kritikern hoch gelobte Alben heraus. Dann lösten sie sich auf und die Musikerinnen widmeten sich ganz ihren Soloambitionen. Mit „Music Makin Mama“ hatte Rabson schon 1997 ihr erstes Soloalbum vorgelegt, das gleich in zwei Kategorien für Blues Music Awards nominiert wurde. Neun Nominierungen erhielt sie seither. Insgesamt drei Soloalben kamen auf den Markt und zusätzlich spielte sie auf Platten vieler ihrer Freunde mit: mit Pinetop Perkins stand sie ebenso im Studio wie mit Cephas & Wiggins aber auch mit EG Kight und Ani DiFranco stand sie im Studio. Und auch wenn sie wusste, dass der Krebs sie besiegen würde, machte sie eine Musik so froh und kraftvoll, wie es nur der Blues vermag. Raimund Nitzsche 7 Bob Margolin über den Tod seiner langjährigen Freundin und musikalischen Partnerin „The blues world is sad to lose one of our bright lights. Ann Rabson passed at home in her sleep after years of quiet strength against deadly affliction. She knew it was coming and lived her life to its fullest. She loved to play blues for people more than anyone I ever knew, anyone! In 2012 our intense collaboration on recordings and shows together and hard road trips was deliberate and spirited. She gave Death the finger as long as she could, and gave Life ten fingers on her piano. Personally, Ann Rabson was a big sister to me. Now I‘m going to do what she would want, play some blues for her and celebrate her life and hold her in my heart forever. If you see me on a bandstand, and half-close your eyes, you‘ll see her next to me.“ © wasser-prawda Musik Willie Dixon: Jenseits von Chess Jeder kennt die Songs von Willie Dixon. Jeder kennt die berühmten Geschichten seiner Arbeit bei Chess Records und Cobra. In den Geschichtsbüchern des Blues ist sein Name untrennbar mit Muddy Waters, Howlin Wolf, Little Walter und anderen verknüpft. Daneben verblassen für viele Kritiker seine eigenen Aufnahmen. Doch es lohnt sich durchaus, sich dem „Poeten des Blues“ einmal aus dieser Richtung nähern. Eine nicht ganz chronologische Biografie in Rezensionen. 1970: I Am The Blues Jeden anderen hätte man für so einen Titel gesteinigt. Doch als Willie Dixon 1970 dieses Album veröffentlichte, war sein Status unbestritten: Er verkörperte den Blues von Chicago seit den 40er Jahren. Er hatte die größten Hits geschrieben, mit seinem Bass die klassischen Aufnahmen von Muddy Waters, Howlin Wolf oder Chuck Berry geprägt. Er hatte als Talentscout und Produzent zahllose Musiker gefördert. Und mit dem American Folk Blues Festival hat er das Verständnis des Blues in Europa entscheidend geprägt. Was aber nichts daran änderte, dass die Kritiker seine Leistungen als Sänger seiner eigenen Songs niemals genug würdigten. Zu groß die Vorbilder, die Muddy Waters mit dem Hoochie Coochie Man oder Howlin Wolf mit Spoonful gesetzt hatten. Doch wer so an das Album herangeht, der vergisst etwas Entscheidendes: Jeder muss die Blues so singen, wie er sie lebt. Und Dixon war niemals ein Typ wie Chester Burnett. Er kam aus einem ganz anderen Umfeld, war musikalisch aufgewachsen mit dem Harmoniegesang in der Nachfolge der Ink Spots. Und in Chicago hatte er noch Sessions für Lester Melrose gespielt, der den Chicago-Blues der Vorkriegszeit mit seinem Bluebird-Label geprägt hatte: elegant, urban und von jeglichem Dreck der Baumwollfelder gesäubert. Dixon‘s Spoonful ist daher eine elegant groovende Bluesnummer, vom Sound her eher der vorelektrischen Zeit verpflichtet. Wer beim „Back Door Man“ zuerst an die ziemlich pubertäre Version der Door denkt, kann hier hören, wie das Stück eigentlich gemeint ist: Ohne Aggression, dafür mit einer gehörigen Portion Humor und jeder Menge Selbstbewusstsein. Ebenso auch der „Hoochie Coochie Man“, welcher von sämtlichen Musikern gecovert wurde an die man denken kann: Dixon braucht nicht durch Härte oder Tempo etwas zu behaupten - wie er den Song singt, macht er klar: er ist es - er und eigentlich kein anderer. Bei seiner Band stehen mehr das Piano und die Harp im Vordergrund und weniger die Gitarren. Damit erinnert das Album vom Sound her noch mehr an die Zeit bevor Muddy Waters, Howlin Wolf und Buddy Guy die Gitarren bis zur Schmerzgrenze aufdrehten, um in den Clubs gehört zu werden. Dixon scheint sich eher in ruhigen Jazzclubs wohlzufühlen mit seinem Blues, weniger in den lauten Juke Joints. Und das war eigentlich schon immer so gewesen. 1946-1952: The Big Three Trio und vorher 8 © wasser-prawda Der 1915 geborene Willie Dixon hatte schon als Teenager begonnen, Songs zu schreiben und die Noten an Musiker in seiner Gegend zu verkaufen. Vorbild dafür war seine Mutter, die religiöse Gedichte schrieb.Außerdem war er Sänger in der Vocalgruppe Union Jubilee Singers, die regelmäßig im Radio auftrat. Doch irgendwann zog es Dixon wie so viele nach Chicago, wo er zunächst als Schwergewichtsboxer seinen Lebensunterhalt verdiente. 1937 gewann er in der Novizenkategorie die Illinois State Golden Gloves Heavyweight Championship und war zeitweise sogar Sparringsparter von Joe Louis. Doch irgendwie geriet er über Geldfragen mit seinem Manager aneinander und wechselte zur Musik. 1939 begann er Bass zu spielen und gründete mit dem Pianisten Leonard „Baby Doo“ Caston die „Five Breezes“. Musik Nach einer Plattenaufnahme und regelmäßigen Konzerten in den Clubs der Stadt war aber 1941 plötzlich Schluss: Willie Dixon wurde während eines Konzerts von der Bühne weg verhaftet, weil er als Kriegsdienstverweigerer sich gegen seine Einberufung zur Wehr setzte. “I told them I was a conscientious objector and wasn’t gonna fight for anybody,” sagte er zu den Polizisten. Nach einem Jahr im Gefängnis war Dixon zurück und gründete seine nächste Band, die Four Jumps of Jive. Und 1945 traf er wieder mit Caston zusamme, der im Kriegsdienst als Musiker für die Truppenunterhaltung eingesetzt worden war. Dritter Mann beim „Big Three Trio“ war zunächst Gitarrist Bernado Dennis, den Dixon von den Four Jumps mitnahm. Ein Jahr später allerdings wurde der durch Ollie Crawford ersetzt. Die drei Musiker spielten ihre Instrumente und spezialisierten sich ansonsten auf einen dreistimmigen Harmoniegesang. Vorbild waren solche Vokalgruppen wie die Ink Spots oder die Mills Brothers, die Swing, Jazz und Blueswurzeln in leichtgängige und verführerische Popsongs verwandelten. Alle drei schrieben Songs. Und schon 1947 schafften sie es, einen Plattenvertrag bei Columbia zu bekommen. Ihr polierter Pop brachte 1948 mit „You Sure Look Good To Me“ einen landesweiten Hit hervor. Andere Nummern („If The See Was Whiskey“) waren einfach nur lustig bis albern. Ebenfalls 1948 kam „Ebony Rhapsody“ der Sängerin Rosetta Howard bis auf Platz 8 der R&BHitparade. Hier fungierte das Big Three Trio als Begleitband. Und Dixon war noch dazu der Songwriter. Bis 1952 kamen noch einige kleinere Hits des Trios hinzu. Aber zu dem Zeitpunkt hatte sich der Musikgeschmack der Hörer weiterentwickelt, und Columbia schob sie auf das Sublabel OKeh ab. Aber Ende des Jahres löste sich das Trio sowieso auf. Tabellarisches Zwischenspiel • 1948: Dixon beginnt seine Zusammenarbeit mit Chess Records, die (mit Ausnahme der Jahre zwischen 1956 und 1959) bis zum Tode von Leonard Chess andauert. • 1954: „Hoochie Coochie Man“ kommt bis auf Platz 3 der Charts. Keiner von Muddy Waters‘ 14 Top-Ten-Hits war erfolgreicher. • 1955: „My Babe“ von Little Walter bleibt für fünf Wochen an der Spitze der Hitparaden. Im gleichen Jahr taucht Willie Dixon das einzige Mal als Musiker in den Single-Charts auf. „Walkin The Blues“ hatte Checker veröffentlicht. • 1956: Dixon verlässt Chess im Streit und arbeitet als Produzent, Talentscout und Songwriter für den Konkurrenten Cobra Records bis zu dessen Pleite. Hier ist er für die ersten Aufnahmen von solch prägenden Musikern wie Buddy Guy, Magic Sam und Otis Rush zuständig. Der neue Sound, der Musiker wie Muddy Waters oder Howlin Wolf plötzlich alt aussehen ließ, ging als West Side Sound in die Geschichte des Chicago Blues ein. Paar Jahre später gab Dixon zwei seiner Songs aus dieser Zeit („Violent Love“ und „My Love Will Never Die“) an Otis Rush, den er bei Cobra als Produzent betreute. „My Love Will Never Die“ gilt heute als Meilenstein des Nachkriegsblues. „Violent Love“ halten manche für eine der miesesten Nummern, die Rush je aufgenommen hat. Dixon jedenfalls war durch die Zeit beim Big Three Trio zu einem Songwriter gereift, der von hitparadentauglichem Pop bis hin zu Bluesgeschichten voller Anspielungen auf die Traditionen der Amerikaner afrikanischer Herkunft im Mississippi alles schreiben konnte. großartiges Beispiel für die Kunst zweier Musiker, die auf ihre ganz verschiedene Weise den Blues über Jahrzehnte hin geprägt haben. Empfohlen sei es all denen, die den Blues als eine Form des Geschichtenerzählens lieben. 1960 nahmen die beiden eine Duosession für das Smithonian Center for Folklife and Cultural Heritage auf, die als „Songs of Memphis Slim & Willie Dixon“ von Folkways veröffentlicht wurde. 1962: Memphis Slim & Willie Dixon: In Paris. Baby Please Come Home! 1959: Willie Dixon & Memphis Slim Willie‘s Blues Memphis Slim gehörte neben Leonard „Baby Doo“ Caston und Tampa Red zu den ersten Freunden, die Dixon in Chicago fand. Gemeinsame Auftritte gab es immer wieder. Und so ist es auch folgerichtig, dass in den Jahren immer wieder gemeinsame Alben entstanden. Die Aufnahmen von „Willie‘s Blues“ entstanden recht spontan in der Pause zwischen zwei Flügen in einem New Yorker Plattenstudio. Begleitet werden Dixon und Memphis Slim von Saxophonist Al Ashby, Gitarrist Waly Richardson und Schlagzeuger Gus Johnson. Und das Ergebnis hat noch heute das Feeling einer entspannten Jam-Session. Die Lieder (abgesehen von den zwei Solonummern von Memphis Slim) folgen dem Schema des Chicago-Blues der Vorkriegszeit und dem frühen Rhythm & Blues. Da fehlt die rockende Intensität der elektrischen Band von Muddy Waters, ist auch nichts von den Ausflügen in den Rock ‚n‘ Roll eines Chuck Berry zu hören. Stattdessen erzählt Dixon ruhig seine Bluesgeschichten und wird dabei von seinen Mitmusikern ruhig und unangestrengt begleitet. Doch das Ergebnis ist alles andere als langweilig, hat sogar äußerst humorvolle Momente. Da stottert sich der 300 Pfund schwere Dixon durch „Nervous“, kann er kaum flüssig zum Ausdruck bringen, wie nervös ihn diese eine bestimmte Frau macht. In „Good Understanding“ schildert er das seltsame Verständnis von Hunden, die gemeinsam an einem Knochen nagen, ohne ihn sich gegenseitig streitig zu machen. Und in dem durch Howlin Wolf bekannt gewordenen „Built for Comfort“ preist er sein Gefühl für Bequemlichkeit bei der Damenwelt an. Memphis Slim, der vor allem in Europa für Jahrzehnte als Inbegriff des Bluespianos galt, hat mit „Slim‘s Thing“ und „Go Easy“ zwei Titel zum Album beigesteuert und kann dort seine Meisterschaft ausspielen. Insgesamt ist das Album ein 9 1962 entstand eine gemeinsame Live-Aufnahme der beiden. Begleitet lediglich von Schlagzeuger Philipe Combelle wird das Sessionkonzept von Willie‘s Blues noch intensiver fühlbar: Dixon und Slim spielen sich die musikalischen Ideen zu und wechseln sich beim Gesang ab. Memphis Slim, der in Europa zu der Zeit meist als Solist auf der Bühne und im Studio stand, fühlt sich hörbar wohl und treibt schon mit dem Opener „Rock and Rolling the House“ das Publikum an und flirtet mit dem Zuhörerinnen im Raum. Und mit Liedern wie „Pigalle Love“ feiert er seine neue Wahlheimat. Und Dixon lässt sich von der Atmosphäre ebenso mitreißen und singt einige eher unbekanntere Lieder aus seinem umfangreichen Repertoire. „African Hunch With A Boogie Beat“ etwa ist eine Nummer, die man sonst wohl schwer auf anderen Aufnahmen finden wird. „Shame Pretty Girls“ macht nochmals klar, wie sehr Dixon als Sänger und Songschreiber eigentlich in der Zeit vor Muddy Waters verwurzelt ist. Der rollende Boogie hätte gut auch schon in den vierziger Jahren veröffentlicht werden können. Hier kommt er daher als swingende Hommage an den Rock & Roll, dargeboten von zwei älteren Herren in einem Jazzclub. Ein beschwingtes Live-Album. 1964: Hubert Sumlin, Willie Dixon, Sunnyland Slim - Blues Anytime! 1964 gastierte das American Folk Blues Festival erstmals in der DDR. Und anstatt wie in späteren Jahren einen Live-Mitschnitt des Konzertes zu veröffentlichen, nahm das Label AMIGA in Ostberlin mit Hubert Sumlin, Willie Dixon und Pianist Sunnyland Slim ein Studioalbum auf. Unter dem Titel „American Folk Blues“ gehörte es zu den besten Bluesscheiben, die im Osten Deutschlands je produziert wurden. 1994 wurde es unter dem Titel „Blues Anytime“ auf CD wiederveröffentlicht. Für Blueshistoriker ist diese Session in Ostberlin vor allem deshalb bedeutsam, weil sie die ersten Soloaufnahmen von © wasser-prawda Musik Hubert Sumlin (noch dazu auf der akustischen die Zeit, als Solist mit seinen Chicago Allstars Gitarre) hervorbrachte. aufzutreten und Platten einzuspielen. „I Am The Blues“ war nur das erste einer langen Reihe von Alben. In gewisser Weise war das auch ein Abschluss für diese Periode, weil hier Dixon selbst nochmals seine Hits für sich selbst reklamierte. Ein Jahr später kam „Peace?“ auf seinem eigenen Label Yambo heraus, auf dem er sich auch als politischer Kommentator betätigte. Außerdem verabschiedete er sich hier vom Sound des Chicagoblues und präsentiert Songs, die manchmal mit Bläsern, Hintergrundchören und treibenden Rhythmen den Anschluss an den Soul suchten. Gleich drei Gitarristen hat er hier engagiert für seine All-Star-Besetzung (neben Pianist Lafayette Leake, Big Walter Horton an der Harp und Schlagzeuger Clifton James), die ganz unterschiedliche Wege in der Bluesgeschichte gehen: Da ist einerseits Mighty Joe Young, der später Doch auch sonst sind die Aufnahmen mehr als selbst zu einigem Ruhm als Soul-Blues-Gitarrist bemerkenswert: Gemeinsam mit Schlagzeuger kam. Seine ersten Alben, die damals gerade erClifton James fand sich hier eine Band zusam- schienen waren, blieben noch für einige Jahre men, die in lockerer Atmosphäre den damals unbeachtet. Sein Brot verdiente er sich mehr als noch aktuellen Chicagoblues zelebrierte. Sunny- Rhythmusgitarrist von Otis Rush. Und dann waland Slim und Willie Dixon wechselten sich als ren da noch Buster Benton und Dennis Miller. Sänger ab, Slim spielt seine Hits wie „Everytime Phil Upchurch, der wenige Jahre später zu einem I Get To Drinkin“ oder „We Gonna Jump“ wäh- der bekanntesten Jazz-Gitarristen der USA aufrend Dixon Songs wie „Blues Anytime“ oder stieg, gehörte lange zum Stammpersonal in den das für Little Walter geschriebene „My Babe“ in Chess-Studios. Auf „Peace?“ spielt er den Bass im seinem entspannten Stil darbot. Und bei „Big Wechsel mit Louis Satterfield. Legged Woman“ hört man (was sonst selten vor- „I‘m Wanted All Over The World“ beginnt Dixon kommt) Dixon sich selbst auf der akustischen recht großspurig: Überall wollen ihn die FrauGitarre begleiten. en, die anderen Musiker - aber eigentlich spielt er wohl auch darauf an, dass ohne seine Songs mittlerweile die Musikwelt eine ganz andere wäre. Das Lied ist so ziemlich der traditionellste Bluessong des Album (wenn man von „You Got To Move“ absieht): Piano, Harp, Gitarren - alles im Muster des Chicagoblues. Die Überraschung - oder war es für die Kritiker damals ein Schock? - beginnt mit dem zweiten Stück „Peace?“: Ein Chor, sauber polierte Bläser, sauber klimperndes Piano, Willie Dixon im Predigerton des Southernsoul. Ähnlich dann bei Liedern wie „It‘s In The News“. Bei allem politischen Engagement, bei aller persönlichen Betroffenheit von den politischen Ereignissen: musikalisch sind diese Lieder leider nicht wirklich überzeugend. Für wirklichen Soul ist die Produktion zu sehr easy listening, für Bluesfans wirken 1971: Peace? sie beim oberflächlichen Hören ziemlich banal. Dixon sucht neue Themen abseits der mittlerweiSchon seit Mitte der 60er Jahre war Dixon bei le veraltet wirkenden Bluesanspielungen. Aber Chess immer weniger als Session-Bassist gefragt die Sicherheit und Brillianz, die seine Bluesgewesen. Denn inzwischen hatte sich der E-Bass nummern für andere ausmachte, fehlt. „It‘s in als Instrument durchgesetzt. Und auch als Songthe News“ ist weit davon entfernt dem politisch writer war er nicht mehr so gefragt, seitdem Muaufgeladenen Soul und Funk etwa von Sly Stone siker wie Little Walter und Sonny Boy Williamoder anderen vergleichbar zu sein. son gestorben waren. Chess suchte den Anschluss Wesentlich schlüssiger und überzeugender sind an die aktuelleren Rocksounds. Und dafür war da schon Songs wie „Blues You Can‘t Loose“, Dixon für sie nicht mehr so der passende Mann. in dem Dixon dozierend und singend über die Aber Dixon selbst sah sich mittlerweile auf ganz Ursachen des Blues sinniert. Das ist etwas, was anderem Gebiet gefordert. Horst Lippmann ihn selbst stärker betrifft als etwa die Nachrichten hatte ihn engagiert, um die Musiker für sein über den Präsidenten. Und bei der EindringlichAmerican Folk Blues Festival zu suchen. Damit keit seines Vortrags vergisst man drüber nachzuverdiente er plötzlich nicht nur mehr Geld. In denken, wie seltsam das Arrangement mit seinem Europa konnte er auch selbst wieder als Musiker klimpernden Piano, den einzelnen Gitarrennoim Studio und bei Konzerten auftreten und seine ten die klagende und heulende Bluesharp ist. eigene Karriere wieder in Schwung bringen. Als Manche Kritiker meinen, das Album wäre unins1969 Chess nach dem Tod von Leonard Chess piriert. Dass ist es sicherlich nicht. Aber es ist leiverkauft worden war, bedeutete das das Ende der unausgewogen und daher nicht überzeugend. einer langen Beziehung. Und für Dixon begann 10 Dixon hatte sich hier auf Gebiete vorgewagt, die ihm nicht wirklich lagen. 1976: What Happened To My Blues? Die All-Stars in der Besetzung mit den Gitarristen Buster Benton und Dennis Miller, Lafayette Leake (p). Clifton James (dr) und Freddie Dixon (bg). Ab und zu spielt Willie auch selbst seinen Kontrabass. Die Bluesharp dürfte wiederum von Big Walter Horton stammen. Und überhaupt ist „What Happened To My Blues?“ wieder ein eindeutiges Bluesalbum ganz in der Tradition Chicagos. Die politischen Botschaften sind aus den Liedern verschwunden. Dafür singt und swingt sich Dixon durch mitreißende Liebeslieder wie „Got To Love You Baby“ oder „Pretty Baby“, versucht den Laden zum Tanzen zu bringen mit wundervollen Stücken wie „Shakin‘ the Shack“. Ein wirklich gutes Bluesalbum, dass zum völlig falschen Zeitpunkt erschien. Denn 1976 wollte niemand wirklich solche Musik hören. Selbst wenn die Musikkritiker eine Grammy-Nominierung für gerechtfertigt hielten, versank das Album wie so viele Blues-Veröffentlichungen der damaligen Jahre in der Vergessenheit. Kein Wunder, dass selbst eine so gut informierte Seite wie allmusic als Erscheinungsjahr 1998 angibt, wo das Album auf CD wiederveröffentlicht wurde. 1988: Hidden Charms Auch mit den Nachfolgealben zu „What Happened“ konnte Dixon niemals wieder Aufmerksamkeit außerhalb der engsten Bluesgemeinde erlangen. Das änderte sich erst 1988, als T-Bone Burnett mit ihm „Hidden Charms“ produzierte. Wo Burnett heute dafür bekannt und bei Musikern beliebt ist, dass er Musiker dazu bringt, sich ganz auf ihren Sound und die Lieder zurück zu besinnen, in dem sie am Besten waren, ging er da- © wasser-prawda Musik mals nicht so einheitlich vor. „Hidden Charms“ beginnt ausgerechnet mit „Blues You Can‘t Loose“. Doch hier funktioniert das Arrangement besser als 1971 auf „Peace“. Das Stück klingt hier erstmals wirklich zwingend und überzeugend: Es ist noch immer der gleiche alte Blues, den man nicht los wird. Mit „I Don‘t Trust Myself“ kommt dann der klassische Blues, den man erwartet hätte, bevor „Jungle Swing“ sofort wieder als Bruch auftaucht: Dixon erinnert mit seiner alt gewordenen Stimme, die zu afrikanischen Grooves grummelt eher an Screamin Jay Hawkins“. Und so abwechslungsreich und überraschend bleibt es auch weiterhin: Selbst die politische Predigt ist in „Study War No More“ funktoniert. Diese Nummer hatte Dixon im Übrigen gemeinsam mit seinem Enkel Alex Dixon geschrieben, den er seit Jahren ins „Familiengeschäft“ eingefüht hatte. Das war ein überzeugendes Bluesalbum, was den Grammy als „Best Traditional Blues Album“ mehr als verdient hatte. Nur heute ist es allmusic noch nicht mal eine Bewertung mehr wert. Aber auch der Gewinner des „Best Contemporary Blues Album“ 1988, Robert Cray‘s „Don‘t Be Afraid of the Dark“ wird dort wegen des fehlenden guten Materials und einer müde klingenden Band ziemlich lauwarm beurteilt. Im Rückblick gehört „Hidden Charms“ auf jeden Fall zu den wichtigeren Bluesalben der 80er Jahre. 1989: Ginger Ale Afternoon Eine weitere Grammy-Nominierung erhielt Dixon ein Jahr später für „Ginger Ale Afternoon“, den Soundtrack zu einem Indie-Film. Schon vorher hatte Dixon, der in den 80er Jahren nach Kalifornien gezogen war, um den kalten Wintern von Chicago zu entgehen, an Filmmusiken mitgewirkt. So produzierte er mit Bo Diddley eine Neufassung von dessen Hit „Who Do You Love“ für „La Bamba“, den Film über das Leben des früh verstorbenen Richie Valens. Und 1986 nahm er für Martin Scorseses „The Colour of Money“ eine Neufassung von „Don‘t You Tell Me Nothin“ auf. Die Story über eine Dreiecksbeziehung in einem Trailer-Park fiel bei der Kritik durch - oder wurde gar nicht wahrgenommen. Dixon allerdings nutzte die Gelegenheit, hier ein paar seiner älteren Nummern mit einer gut aufgelegten Band neu zu interpretieren. Sogar „Good Understanding“ von „Willie‘s Blues“ (1959) passte gut zum Happy-End des Filmes. Und wenn man ehrlich ist: Dieses Album überzeugt als Bluesalbum sogar noch mehr als „Hidden Charms“, eben weil hier einfach ein ganz klassisches Bluesalbum entstand, dass mit keinem Auge in Richtung Modernität schielte sondern einfach nur gute Unterhaltung bietet und hervorragend die schwüle Sommerstimmung des Films untermalt. Bemerkenswerte Musiker auf dem Album sind Stanley Behrens an Harp und Saxophon sowie der Pianist Arthur Butch Dixon. 1991: Willie Dixon & The Chicago Allstars - Good Advice „Ginger Ale Afternoon“ ist das letzte offizielle Album von Willie Dixon. Schon 1977 hatte ihm ja wegen seiner Diabetes ein Fuß amputiert werden müssen. Jetzt ließen Gesundheitsprobleme immer weniger Auftritte zu. Aber zumindest in seiner kalifornischen Wahlheimat war er noch immer ab und zu live zu erleben. 1991 entstand in Long Beach eine Aufnahme, die 1998 auf CD veröffentlicht wurde. Die Chicago Allstars, die seit den 80er Jahren ständigen Personalwechseln unterlagen bestanden damals aus Harpspieler Carey Bell, Gitarrist John Watkins, Willies Sohn Freddie am Bass, Butch Dixon am Piano und Schlagzeuger Calvin Jackson. Noch immer hat Dixon Spaß daran, mit seinem Blues die Zuhörer zu unterhalten, ihnen eine Party zu bieten. Und dabei wird er von seiner fast zur Familienbande mutierten Begleitung äußerst schwungvoll unterstützt. Nur manchmal merkt man: Hier singt ein wirklich alter Mann, dessen Leben sich dem Ende entgegen neigt. Am 29. Januar 1992 starb Dixon im Alter von 76 Jahren in Burbank (Kalifornien). Anmerkungen Eigentlich ist Willie Dixons Leben und Wirken gut dokumentiert. Doch bei den Recherchen für meine hier vorgelegten Rezensionen musste ich mich allein auf das Internet stützen. Und da zeigte selbst das sonst immer gut gepflegte Angebot von allmusic bedauerliche Lücken und Fehler. Alben werden falsch datiert, Aufnahmetermine teilweise falsch angegeben und einzelne Alben verschwinden einfach. Hier musste ich versuchen, aus drei Quellen ein halbwegs stimmiges Bild zu machen: Der Discographie von willie-dixon.com, die von seinem Enkel Alex gepflegt wird, allmusic und der Discography in der englischen Wikipediabiographie. Querrecherchen waren dann auch noch nötig in der Datenbank für die Grammy-Nominierungen, um Unklarheiten auszuräumen. Ich kann hier keine komplette Discographie bieten, da mir einige Alben nicht zugänglich waren. Hier bleibt in den nächsten Jahren noch einiges nachzuholen. R.N. 11 © wasser-prawda Musik Was für eine Zeit, was für ein Mann, was für ein Geschenk für uns alle Erinnerungen an Willie Dixonvon Zach Prather gegeben hab (so etwa vor 30 Minuten) für diesen Teil“, genau wusstest, worum es sich dabei handelte. Darin war ich gut und so kamen wir Es war ein Tag wie alle anderen, als ich auf gut miteinander klar. Er meinte zu Cash: „Der den Parkplatz des Aufnahmestudios einbog an Junge ist in Ordnung“ und bat ihn, mich zu diesem frühen Sommermorgen 1988. Typisch seinem Heimstudio zu bringen, um an ein paar L.A.: Songs zu arbeiten und auch Schlagzeug bei eiwarm und diesig, während die Sonne langsam nem Projekt zu spielen, dass er mit seiner Shirly die Wolken über dem Ozean vertrieb. Ich ging hatte. Ok, die nächsten dreieinhalb Jahre oder so rein auf der Suche nach meinen langjährigen war so wie zurück in die Schule zu gehen. Willie Freund und Mentor Cash McCall, der mir heu- brachte lange Zeit einfach damit zu, über den te wie an so vielen anderen Tagen einen Gig ver- Blues zu reden, was Blues ist, wo er herkommt, sorgt hatte. Diesmal sollte ich Backup bei einer von seiner Zeit im Blues, seine frühen Jahre mit Session früh am Morgen singen. In den rund 14 Chess, die Verantwortung des Künstlers. Über Jahren seit ich Cash getroffen hatte, waren wir diese Dinge redete er mindestens ebenso lansehr gute Freunde geworden und er hatte mich ge wie wir Musik zusammen spielten. Und das Musikern vorgestellt oder mir Arbeit mit ihnen stellte sich für mich als eine äußerst wertvolle versorgt: mit Etta James, Margie Evans (mit der Weiterbildung in Sachen Blues heraus. Ich meiwir ein Album aufnahmen, dass von dem gro- ne: das Zeug kam ja direkt von der Quelle! ßen Produzenten Horst Lippmann produziert Wir arbeiteten an vielen Songs zusammen. Er wurde, dem das Verdienst zukommt, den Blues war noch immer der Songschreiber und Produnach Europa gebracht zu haben), Charles Stepa- zent Willie Dixon, und die Dinge kamen regelny (Produzent von Earth Wind & Fire), Donna recht aus ihm herausgequollen. Irgendwann bat Summers, Phil Upchurch, und natürlich - auch er mich, ihm etwas von meiner Musik vorzuwenn die Liste noch viel länger ist - mit dem spielen. Ich sagte: ok. Aber das was ich machMann, der mich nach Europa gebracht hat, mit te war kein Blues mehr, eher etwas wie SoulScreamin Jay Hawkins. Rock. Er lächelte nur und sagte: „Mein Sohn, Als ich in Studio A kam, sah ich Cash und es kommt alles vom Blues, du bist der Blues. einen ziemlich großen, runden Mann mit ei- Und der Blues ist nicht so etwas wie ein toter nem lustigen Hut, der eine Pfeife rauchte. Cash König den wir in eine Mumie verwandeln und sah mich und sagte dem Mann: „Willie, das ist von Zeit zu Zeit anschauen, niemals wird sich Zach.“ Er schaute mich an, streckte seine Hand ändern, dass er lebendig ist und Menschen wie aus und Cash sagte: „Zach, das ist Willie Di- dich braucht, um ihn weiter zu entwickeln. xon.“ Und so begann die Geschichte. Wir brauchen niemanden, der wie Howlin Wolf Diese Session mit Willie war sehr erfolgreich. klingt, wir haben Wolf. Wir brauchen frisches Sehr schnell merkte ich, dass diese Mann etwas Blut.“ Diese Unterrichtsstunden flossen einfach Besonderes war. Er hatte viele Ideen und auch aus ihm heraus und ich saugte sie begierig auf. wenn er sich an jede einzelne erinnern konnte, Ich kann mich beim besten Willen nicht darvergaß er manchmal, welche von ihnen er wo an erinnern, wie oft er mir sagte: „Blues had a gerade haben wollte. So war der Trick, dass du baby and they called it Rock and Roll“. Er hatte dich an seine Ideen und die Stellen, für die er sie versprochen, mit mir ein Album zu produzieren. vorgesehen hatte, zu erinnern, so dass du, wenn Und das war seine Art, mich daran zu erinnern, er meinte: „Ich brauche diese Idee, die ich dir dass er das Versprechen nicht vergessen hatte. 12 In dieser Zeit arbeitete er mit den Chicago All Stars, so hatte ich nie die Chance, mit ihm auf der Bühne zu arbeiten. Aber das ist ok, weil ich durch das, was ich von ihm lernte, zu dem wurde, der ich heute bin. Diese Zeit gab mir eine echte Basis im Blues und ließ mich verstehen: Ja, ich bin der Blues, und alles was ich mache, ist Blues. Und er gab mir die Fähigkeit, mich weiterzuentwickeln, egal was die Leute über meine Musik sagen oder denken. Du lernst einfach an dich selbst zu glauben, wenn Willie Dixon dir sagt: Jetzt hast Du es begriffen, jetzt geh, und füge dem Blues etwas hinzu. Warum hörst Du auf jeden, der dir ein negatives Feedback gibt? Ich traf in der Zeit auch jede Menge Ikonen des Rock & Roll, sie tauchten einfach bei seinem Haus auf. Du sitzt da und hörst zu, wie Willie Geschichten erzählt, und durch die Vordertür kommt Ronnie Wood herein oder David Bowie oder ... Das war großartig für einen SoulRock-Typen wie mich. Die Zeit verging, während hunderte Songs aufgenommen wurden, und eines Tages meinte Willie, es sei Zeit, jetzt mein Album mit ihm zu beginnen. Ich war aufgeregt als wir begannen. Das war eine andere Art von Erziehung. Von Willie produziert zu werden war ein ganz spezieller Prozess. Er hatte seine eigene Art, die Dinge zu erledigen und auch das saugte ich begierig auf. Als die Aufnahmen drei Wochen dauerten, wurde Willie krank und musste ins Krankenhaus. Er kam niemals nach Hause zurück. Ich war bei ihm am Tag bevor er starb. Das war eine sehr traurige Zeit, doch ich war und bin noch immer dankbar für die Zeit, die ich mit ihm teilen durfte. Ich war seiner Familie eng verbunden und stehe noch immer in Kontakt mit seiner Frau Marie - eine wunderbare Frau, die ich wie meine eigene Mutter liebe. Meine letzte Erinnerung an Willie ist die, als ich auf seiner Beerdigung in Glendale (Kalifornien) spielte und neben Marie und B.B. King saß. © wasser-prawda Musik Der Streit um die Rechte und die Blue Heaven Foundation In den 60er und 70er Jahren spielte praktisch jede Rockband irgendwelche Lieder von Willie Dison. Cream hatte „Spoonful“ gecovert, The Doors den „Backdoor Man“, die Stones „Little Red Rooster“, ... Wenn es gerecht zuginge in der Welt, hätte Willie Dixon sich beruhigt zurücklehnen und sich auf die Auszahlung der Tantiemen freuen können. Doch irgendwie kam bei ihm längst nicht so viel Geld an, wie er eigentlich erwartet hatte. Irgendwann fühlte er sich von Arc Music, dem 1948 von den Chess Brüdern gegründeten Musikverlag betrogen. Nur beweisen konnte er es zunächst nicht. Dnn aber verklagte Arc Music Led Zeppelin wegen des Titels „Bring It On Home auf ihrem zweiten Album wegen Copyright-Verletzung. Sie behaupteten und konnten es vor Gericht bewei- sen, dass dieses Lied von Willie Dixon gestohlen war. Aber Dixon selbst sah kein Geld aus dem gewonnenen Prozess. Da war für ihn der Bogen überspannt. Sein Anwalt zwang den Verlag schließlich, die Bücher offen zu legen, was den Betrug offensichtlich machte. Später verklagten Dixon und Muddy Waters den Verlag auch noch erfolgreich auf Rückübertragung der Rechte an ihren Songs und auf erhöhte Tantiemenzahlungen. Später einigte er sich mit Led Zeppelin noch in einem weiteren Verfahren außergerichtlich: „Whole Lotta Love“ war zu deutlich von Dixons „You Need Love“ geklaut. 1987 erhielt er endlich das ihm zustehende Copyright. Mit den Einnahmen, die er jetzt aus seinen Songs und den Gerichtsprozessen erhielt, gründete Willie Dixon die Blues Heaven Foundation. Eines der Ziele der Stifung ist es, Musikern bei der Sicherung 13 oder dem Rückerwerb der Rechte an von ihnen geschriebenen Songs zu helfen. Und er setzte sich von Anfang an dafür ein, Instrumente und Stipendien an arme Schüler und Schulen zu vergeben. Außerdem begann Dixon (gemeinsam mit seinem damals noch zur Schule gehenden Enkel Alex), an den Schulen seiner damaligen Wahlheimat Los Angeles über die Geschichte des Blues zu erzählen. Alex konnte all die verschiedenen Stile damals nach langem Training auf dem Piano demonstrieren. Nach Willie Dixons Tod 1992 bemühte sich seine Wittwe erfolgreich um die Erhaltung der berühmten Chess Studios 2120 S. Michigan Avenue in Chicago. Nach dem Verkauf des Labels war das Gebäude verkauft worden. In den letzten Jahren wurde es aufwändig restauriert und ist nun der Stammsitz der Blues Heaven Foundation. © wasser-prawda Musik Bei Chess: 2 Box-Sets, 1 CD Dixon Orchestra bezeichnet wird, singt Dixon ganz im Stil des klassischen Rhythm & Blues, erinnert er mehr an seinen Freund Memphis Slim als an die Chess-Kollegen. Noch älter wirkt die bei der gleichen Session mitgeschnittene und ebenso damals unveröffentlichte Nummer „So Long“: Das ist (mit dem Harmoniegesang von The Del Rays) eine Neuaufnahme der Ideen des Big Three Trios. Aber auch wenn er sich mit Songs wie „Tail Dragger“ (aufgenommen 1962 und begleitet unter anderem von Hubert Sumlin und Pianist Johnny Jones) in die Klanggefilde von Howlin Wolf vorwagt, blieb das damals von Chess unbeachtet. Veröffentlicht wurde die Nummer nicht von Chess oder Checker sondern von Tuba. 1988: The Chess Box Als MCA in den 80er Jahren (man hatte ja mal wieder etwas wie ein Bluesrevival) begann, das Werk von Chess Records in Form von klanglich hervorragenden und wundervoll ausgestatteten Boxsets wieder zu veröffentlichen, da dürfte die Willie Dixon gewidmete Ausgabe wohl die schwierigste gewesen sein. Auf jeden Fall ist die Doppel-CD mit insgesamt 36 Titeln eine der ungewöhnlichsten überhaupt, finden sich doch hier zum größten Teil Songs, die zwar von Dixon geschrieben wurden, hier aber von anderen gesungen werden. Lediglich bei sechs Liedern wird er als Interpret geführt. Und eine Nummer stammt (und hier wird das Chess-Konzept zu Recht mal vernachlässigt) vom Big Three Trio. Wobei sich manche natürlich fragen, warum man ausgerechnet „Violent Love“ hier zu hören bekommt. Dafür sind aber Songs wie „Crazy For My Baby“ und „Pain In My Heart“ großartig. Ansonsten finden sich hier einige der stärksten Aufnahmen, die Muddy Waters, Howlin Wolf, Koko Taylor, Lowell Fulson, Sonny Boy Williamson Otis Rush und Jimmy Witherspoon je gemacht haben. Lediglich Chuck Berry fehlt, da der Dixon ja immer nur als Bassisten und niemals als Songschreiber hatte. Aber auch so hat man hier eine fast irrwitzig zu nennende Stilvielfalt zwischen klassischem Rhythm & Blues, elektrischem Chicagoblues, Rock & Roll und Jump Blues. Großartig, um entscheidende Jahre der Bluesgeschichte Revue passieren zu lassen. Und ebenso unverzichtbar, um das Werk eines der wichtigsten Songschreiber der damaligen Zeit zu entdecken. Drei Aufnahmen aus der Zeit nach Chess finden sich zum Schluss des Albums. „It Don‘t Make Sense (You Can‘t Make Peace“ hatte Dixon 1981 aufgenommen und später als Single im Rahmen seiner Blue Heaven Stiftung veröffentlicht. Erstmals hatte er den Song 1971 auf „Peace“ veröffentlicht. „I Just Want To Make Love To You“ nahm Dixon 1989 für den Soundtrack zu „Ginger Ale Afternoon“ neu auf. Und mit „Dustin Off The Bass“, aufgenommen 1990 für das Album „Trios“ von Rob Wassermann, hören wir Dixon sogar auf dem E-Bass, während er zu Jazzgrooves rappt. Er liefert sich mit dem Jazzbassisten Rob Wassermann rasante Duelle und wirkt hier plötzlich jünger, als bei LiveAufnahmen aus der gleichen Zeit: Auch wenn Dixon alt geworden war, hier merkt man, dass er im Herzen noch immer jung war. „The Performer“ stellt den Sänger Willie Dixon von seinen Anfängen mit den Five Breazes oder den Four Jumps of Jive bis hin zu den gemeinsam mit Memphis Slim aufgenommenen Alben vor. „The Session Man“ bringt nicht nur die oben angemerkte Ergänzung um Songs aus dem Frühwerk von Chuck Berry, die ohne Dixons stoischen Kontrabass niemals möglich gewesen wären. Nein: Die CD ermöglicht es, Dixons Arbeit als Session-Musiker seit 1948 („Ebony Rhapsody“ mit Rosetta Howard) über den frühen Rhythm & Blues von Washboard Sam bis hin zum Spätwerk von Sonny Boy Williamson und dem Frühwerk von Buddy Guy verfolgen. Stilistisch ist die Vielfalt noch größer als bei der Chess Box: Selbst der Doo Wop der Moonglows ist zu hören und Gospel von Reverend Robert Ballinger. Und „The Record Company Man“ würdigt auch seine eminent wichtige Arbeit für Cobra Records, deren Musiker die von ChessStars angestoßene Entwicklung zum elektrisch verstärkten Blues auf die nächste Ebene hoben. Bei „The Songwriter“ beschränkte man sich vermutlich aus lizenzrechtlichen Gründen auf Aufnahmen des klassischen Chicagoblues. Hier hätte ich mir ein wenig mehr Mut gewünscht: Statt der bekannten Nummern von Waters oder Wolf eher mal die Interpretationen von Cream, den Stones, Greatful Dead oder anderen zu hören, wäre zur Würdigung Dixons eine weitere Facette gewesen. Sehr hilfreich ist auch das Booklet, was neben ausführlichen Erläuterungen zu den vier CDs auch discographische Angaben zu den verwendeten Aufnahmen auflistet. Was „The Willie Dixon Story“ allerdings wirklich fehlt, sind Aufnahmen aus der Zeit nach dem Ende von Chess Records. Hier sind die Plattenfirmen bis heute alle auf die meiner Meinung nach haltlose These der Kritiker reingefallen, die mit 1969 Willie Dixons Bedeutng auf die eines „elder statesman“ des Blues reduzieren und sein danach entstandenes Werk beiläufig übergehen. Nathan Nörgel 2012: The Willie Dixon Story 1995: The Original Wang Dang Doodle Die Beschränkung auf Chess Records hat natürEin paar mehr von Dixon selbst gesungene Versionen seiner Lieder hat MCA dann 1995 auf „The Original Wang Dang Doodle“ gepackt und dabei auch Lieder jenseits von Chess mit berücksichtigt. Als Rarität findet sich die 1954 entstandene Aufnahme von „Wang Dang Doodle“ neben anderen bislang unveröffentlichten Nummern. Auch hier wird sofort deutlich: Es liegt eine ganze Generation zwischen Dixon und Wolf, der 1960 den Song zum Hit machte und zwei zu einer Sängerin wie Koko Taylor. Begleitet von einer Gruppe, die lediglich als das Willie lich einen Fehler: Sie umfasst - und das noch nicht mal vollständig - lediglich den Zeitraum zwischen 1948 und 1969. Wenn man sich mit Willie Dixons Werk auf breiterer Basis auseinander setzen will, reicht diese Box also bei weitem nicht aus. Auch die 2012 von Proper Records veröffentlichte „Willie Dixon Story“ ist weit von der Vollständigkeit entfernt. Aber die vier CDs der Box („The Performer“, „The Session Man“, „The Songwriter“ und „The Record Company Man“) ergänzen die Chess Box an mehreren Stellen entscheidend: 14 © wasser-prawda Musik Scott Sharr ard & the Brickyard Band 2011 war es, dass ich mit mit einigen Freunden und knapp 1000 Gleichgesinnten zu einem Konzert nach Bonn pilgerte. Gregg Allman lud zum erweiterten Familienfest auf der Museumsmeile ein, eine quasi-religiöse Erfahrung, nicht zuletzt dem Opener, der über jeden Zweifel erhabenen TedeschiTrucks Band, zum Dank. Dies wird hier allerdings keine Konzertreview, auch Herr Allmans superbes Spätwerk ‚Low Country Blues‘ wird hier unerwähnt bleiben. Hier geht es um den Mann an der Gibson ES 336 der an jenem Tag in Bonn in Gregg Allmans Band einen bleibenden Eindruck hinterließ. vielleicht sogar dem heute längst ikonisierten Betts/Allman-Duo hievte. Mitte 2012 veröffentlichte Scott Sharrard mit seiner eigenen Band ein Album auf Soundcloud, kostenlos und legal. In der Zwischenzeit hatte ich mich ein wenig über ihn schlau gemacht und mich in sein Album ‚Analog/Monolog‘ von 2008 verliebt. Dort wird ein gewaltiger Soulstew zubereitet der dem Hörer zu allererst einen guten Rat gibt, den ich nur teilen kann: put your Soulrecords on. Er kann also spielen wie Grant Green, beherrscht ansonsten alle Kings (und mehr) ohne es einem jemals ins Gesicht zu reiben. Tone halt. Dazu ein schier grenzenloses Repertoire und eine Stimme die mich seltsamerweise am ehesten an Richie Kotzen erinnert, minus das antiquierte L.A.-Getue, das einem heute keiner mehr abkauft, der seine Sinne beisammen hat. Und hier zeigt sich eins der der stärksten Asse Sharrards: er ist an die American Lineage angeschlossen. Nun also zu der Platte um die es hier geht: Scott Sharrard & the Brickyard Band. Da finden sich Moses Patrou und Diego Voglino manchmal auch in bester Allman Brothers/Grateful Dead – Manier gemeinsam an den Drums, Ben Stivers an Nun lockt ein guter Gitarrist niemanden mehr sämtlichen Tasten, Marcus Parsley an der Tromhinterm Ofen vor, und das ist gut so. Zu oft wur- pete, Jay Collins und Ian Hendrickson-Smith de Fertigkeit am Instrument der Musik vorange- an Bariton-, Alto-, und Tenorsaxofon, Chrsitian stellt und die Gitarre und ihre Vertreter erhielten Courtin an der Violine, Colette Alexander am zurecht einen zweifelhaften Ruf. Es gibt aller- Cello, und schließlich Connor Kennedy an der dings Gründe warum Gregg Allman sich Scott zweiten Gitarre. Sharrard, jenen Mittdreißiger aus Harlem/NYC, Es wurde live aufgenommen in den Applehead ins Boot geholt hat und ihn damit in eine Liga Studios in Woodstock/New York, womit ein bemit Jack Pearson, Jimmy Herring, Derek Trucks, grüßenswerter und nur folgerichtiger Trend be- 15 Thilo Hornschild studierte Musikwissenschaft, Anglistik und Amerikanistik in Bonn. Er ist Gitarrist der Kölner Bluesbands ‚Cologne Blues Club‘ und ‚Köllefornia Stompers‘ sowie der Rockabillyband ‚The Silverettes‘. http://www.cologne-blues-club.de/ Foto: Beate Grams © wasser-prawda Musik Day vielleicht schon einmal gehört zu haben, so funktioniert sie immer wieder. Völlig unbeirrt von etwaigen Trends, die dankenswerterweise inzwischen großflächig ignoriert werden, denkt Scott Sharrard gar nicht erst daran, corporate zu werden und sich einem völlig maroden und völlig irrelevanten System einer Musikindustrie zu beugen, das sich mehr und mehr zusammenschrumpft und recht bald vielleicht sogar verschwunden sein wird. Noch schöner ist, dass diese Attitüde niemals auf Kosten der Dignität vorgeführt wird. Hier ist ein ernsthafter Künstler, der das tut was er tut, und lediglich en passant part of the solution ist. Es bedarf keines Hypes oder Lobhudelei, es spricht wirklich alles für sich. Die Alben sind allesamt kostenlos, legal und in voller Länge im Netz zu hören, es ist jedem selbst überlassen sie zu kaufen. Thilo Hornschild. Gregg Allman - Low Country Blues dient wird in Zeiten, in denen man mit einer derartig beispiellosen Flut an Müll überflutet wird, dass viele vergessen zu haben scheinen, was ein Musiker eigentlich ist bzw. welche Musiker (ein ‚Berufsbild‘ das je nach Perspektive beinahe zum Schimpfwort verkommt) Respekt verdienen. sprechender Nachwuchstalente widmete, zuletzt beim viel zu früh verstorbenen und überirdisch guten Sean Costello, der ja wiederrum seine Karriere bei Susan Tedeschi begann. Ihr merkt, hier schließen sich Kreise... Der Opener Debt gibt direkt die Marschrichtung vor, es kommt kein Geld rein, aber einer muss die Linie halt fortführen, sonst geht ein Vermächtnis verloren, welches sehr erhaltenswert ist. Dafür macht er sich auch mal nach Memphis auf, um die Vergangenheit zu ‚jagen‘ (Endless Road), oder erlebt düstere Phasen in denen er alles hinwerfen will (Love Like Kerosene). Aber, und das ist zumindest mir persönlich sehr wichtig, klingt die Musik allen Verweisen und Referenzen zum Trotz niemals museal. Sicher, er scheint archivarischer Kenner sämtlicher Rootsmusic-Stile zu sein - nein: ist es ganz sicher, aber der lehrerhafte Ansonsten teilen sich Sharrard und Moses Patrou Muff der so oft ein Begleiter immensen Wissens die Songwritingpflichten, erstaunlich wenn man ist fehlt hier zum Glück. Scott Sharrard hat seine bemerkt, wie sehr aus einem Guss diese Plat- eigene Identität, und selbst wenn man glauben te klingt. Womöglich liegt es auch am Mentor könnte eine lässige Groovenummer wie Rainy Levon Helm, der sich immer der Pflege vielverSehr schön ist die Coverauswahl: Stone Rollin‘ von NeoSoul-Chef Raphael Saadiq, was von dessen Gitarristen Josh Smith persönlich und mehr als wohlwollend abgenickt wurde. Dazu One Little Thing von Gilian Welch, eine fantastische Version von Lil‘ Son Jacksons Freedom Train die in Sachen heaviness manch eine Stonerrock-Kapelle zurück zur Schule schickt, und schließlich Solitude von Duke Ellington, das schlicht und einfach klingt, wie man sich wünscht, dass New York City klingen sollte. 16 Es gibt mittlerweile Rezensenten, die ihre Wertung von vornherein um einen Grad absenken, wenn T-Bone Burnett als Produzent auf dem Album steht. Klar, dass von einer Konstellation „Altmeister“ + Burnett keine musikalische Revolution zu erwarten ist. Denn wenn mir bei Alben wie etwa dem von B.B. King eines aufgefallen ist, ist es die Tatsache, dass von der Songauswahl als auch vom Sound her ein Umfeld geschaffen wird, wo sich der Künstler zu Hause fühlen kann und somit an seine besten musikalischen Leistungen anknüpfen kann. Ähnlich ist es auch mit „Low Country Blues“. Hier singt Allman Klassiker aus der großen Zeit des Blues vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Und er wird begleitet von einer großartig aufgelegten Band (unter anderem Dr. John am Piano und Doyle Bramhall II an der Gitarre). Heraus kommt ein südstaatenmäßig relaxtes Bluesalbum, kein aufgeheizter Bluesrock etwa der Allman Brothers. Und genau das passt zu Allman im Jahre 2011, der sich gerade von einem langjährigen Kampf gegen den Alkohol und von einer Lebertransplantation erholt hat. Nicht nur für die Fans von Allman sondern auch für die, die ein klassisches Bluesalbum hören wollen ist das eine eindeutige und nachdrückliche Empfehlung. Nathan Nörgel © wasser-prawda Musik Pass Over Blues: Auf leisen Wegen Seit 1991 gibt es Pass Over Blues. Ihre Vorgeschichte reicht zurück bin in DDR-Zeiten, wo Gitarrist Roland Beeg und Sänger Harro Hübner in diversen Bands durch die Clubs des Landes tourten. Heute zählt die Band zu den Gruppen in Deutschland, die eine ganz eigene Sprache im Blues gefunden haben. Von Raimund Nitzsche. Fotos: Beate Grams. „Better Ways“ heißt die CD, die sich jetzt schon seit Tagen regelmäßig im Player dreht. Erschienen ist sie schon 2011. Aber wie so viele Veröffentlichungen ging sie unbeachtet an mir vorüber. Ebenso wie auch die Band Pass Over Blues. Der Name ist mir bekannt, weil deren erste LP aus dem Jahre 1991 seit Jahren in der Blueskiste meines Lieblingsplattenhändlers steht. Irgendwie war das Album für mich in den Jahren nach der Wende niemals so wichtig, dass ich die Scheibe aus ihrem Ladengefängnis hätte befreien wollen. Zu viele Bands und Musiker riefen in der Zeit danach, Platz in der Sammlung zu finden. Statt der langjährigen Begleiter aus den Clubs hier in Greifswald waren das die großen Helden, die von denen immer verehrt wurden. Und irgendwann schienen diese alten Freunde einfach verschwunden zu sein. Blueskonzerte in Greifswald? Eine absolute Mangelware inzwischen. Nur noch Engerling ist jedes Jahr zuverlässig da mit all ihren alten Liedern. Selbst Keimzeit haben sich inzwischen rar gemacht. Aber deren Anfänge im Blues gingen ja auch irgendwann im elektromagnetischen Feld verloren. Jetzt aber diese wundervoll melancholische Fassung von „Verloren gegangen“ von Norbert Leisegang, das Lied über die Liebe zu der Gitarre, die einen bei allen Misshandlungen auf den Bühnen immer begleitet hat. Ein Lied, was einen unvermittelt in die Jahre zurückversetzt, wo der Blues für viele einfach noch ein Lebensgefühl war, sich für viele die Terminplanung für das Leben nach den Konzerten am Wochenende richtete. Doch es ist nicht nur diese Nummer, auch nicht die Fassung von „While My Guitar Gently Weeps“, die „Better Ways“ so anziehend macht. Es sind Stücke wie „99 Days“ über die Erlebnisse im ostdeutschen Knast nach einem Fluchtversuch. Oder solche scheinbar alltäglichen Geschichten von „What a Guy“, „Tell me how“ und ähnliche: Das ist Blues so unzweifelhaft aus meinem Alltag und meinem Erleben, wie es lange nicht mehr vorkam. Und vor allem: Es ist Blues, der ohne das Wiederkäufen von Klischee-Riffs oder ähnlichem auskommt. Roland Beeg legt lyrische und melancholische Gitarrenlinen, Harro Hübner hört man die Jahrzehnte auf den Straßen und in den kleinen Bluesclubs an. Seine Harp setzt 17 die nötigen Akzente. Lutz Mohri und Michiel Demeyere liefern Grooves, die einfach passen zu diesem Sound. Eine Schande eigentlich, dass zu einem Album wie „Better Ways“ zumindest im Internet noch keine einzige Rezension zu finden ist. Pass Over Blues wurden in den 90ern selbst in den „Bluesnews“ als eine der besten Bands in Deutschland gewürdigt und traten mehrfach bei Bluesfestivals etwa in Dresden auf. Wenn man sich aber die Geschichte der Band anschaut, dann ist da nichts so beständig wie der ständige Wechsel der Mitglieder. Der einzige, der seit 1991 immer dabei war, ist Gitarrist Roland Beeg. Harro Hübner ist schon zum zweiten Mal dabei. Und auch Mohri gehörte früher schon kurz zur Band, bevor die sich aus Kostengründen zum Trio verkleinerte. Dass jetzt seit einigen Jahren dieser Kern zusammen spielt, macht ein Album wie „Better Ways“ wohl erst möglich, nicht nur die wirklich großen Fähigkeiten der Songwriter in der Band. Um Songs wie die ihren umzusetzen, reicht das einfache Handwerkszeug des Wochenendbluesers nicht aus. Hier ist man drauf angewiesen, selbst die kleinsten Hinweise der Kollegen aufzunehmen und weiter zu spielen. Dass 2012 Pass Over Blues von Journalisten für die German Blues Challenge vorgeschlagen wurden, war eine erfreuliche Nachricht. Und dass sie dann sogar im Finale in Eutin dabei waren, machte klar, dass Blues aus den östlichen Bundesländern entgegen der öffentlichen Wahrneh- © wasser-prawda Musik mung eben doch noch genügend Anhänger hat. Dass die Konkurrenz von Tommy Schneller oder Jessy Martens in Eutin aber zu stark war, brauchr einen nicht wirklich zu verwundern, wenn man ihr Album hört: Hier drängt sich niemand mit Showgehabe nach vorn. Solistische Feuerwerke sucht man vergeblich. Alles ist ganz auf die Songs ausgerichtet und nicht auf den Effekt. Pass Over Blues spielen für mich daher nicht in der Liga von Martens und ihren jungen Bluesrockern sondern eher in der Nachbarschaft von solchen Songwritern wie Timo Gross, Big Daddy Wilson oder auch Michael van Merwyk. Musikern also, die für mich eher in der Tradition der „Geschichtenerzähler des Blues“ stehen. ten Minute an. Das war sehr dufte. Wir haben als erste der fünf Bands gespielt und versucht die vorgegebenen 30 Minuten Maximalspielzeit entspannt und gemäß den strengen Wettbewerbsvorgaben (möglichst eigene authentische Bluesstücke, keine Gassenhauer!) auszufüllen. Das Einzige was uns von vornherein echt gestört hat, ist die Bewertung wie „verkaufbar“ im Sinne von Show die Musiker sind! Dem Anspruch werden wir wohl nicht gerecht geworden sein – vermute ich. Unsere Show ist und bleibt die Musik und die war auch unter den beengten Verhältnissen ehrlich und gut und nicht aufgesetzt. Eine Auswertung der Juryergebnisse erfolgte nicht, keiner weiß daher wo er steht und woran man zukünftig nach Meinung der Jury noch Wie kam es eigentlich dazu, dass Ihr nach Eutin arbeiten könnte bzw. was man noch bedenken zur German Blues Challenge fahren konntet? Für sollte. Das Publikum zumindest hat alle Bands mich ist das Vorauswahlverfahren für diesen Wett- gleichermaßen mit Beifall bedacht und wir nehbewerb immer etwas undurchsichtig geblieben. men das Ergebnis des Abends ohne Groll und Eines Tages bekam ich einen Anruf von Helge sportlich fair an. Es hat Spass gemacht. Nickel, den ich bis dahin nicht kannte, und er erklärte mir, dass wir in einem Vorauswahlverfah- Und habt Ihr dadurch ein wenig mehr Aufmerkren - was ja auf der Webseite von Baltic Blues e.V. samkeit auch in der westdeutschen Bluesszene finbeschrieben ist – zu den 10 auserwählten Bands den können? Denn das ist ja eine Beobachtung, des Jahres 2012 gehören würden und ob wir die nicht nur ich gemacht habe: Im Blues scheint Lust und Zeit hätten am 29.September in Eu- wenn man mal von Engerling absieht - die deutsche tin teilzunehmen. Voraussetzung wäre noch die Teilung noch fort zu bestehen... online-Abstimmung, um unter die besten Fünf Bisher nicht. Eutin hat nix zur weiteren Verbreizu gelangen. Nach kurzer Rücksprache mit den tung der pass over blues band gebracht. Kollegen sagten wir Helge zu. Das war ja das Merkwürdige an der VeranstalWir übersprangen auch die Online-Abstim- tung. Bei solchen im Vorfeld groß herausgestellmungsrunde, ohne jedoch eine Auskunft über ten Veranstaltungen sind in der Regel immer das Abstimmungsergebnis zu bekommen, was ja mehrere Journalisten dabei, die über die Veranunter uns gesagt auch nicht so vordergründig ist. staltung berichten. Fehlanzeige!!! Das hat uns Also auf nach Eutin. sehr verwundert und gibt Anlass zu Spekulationen (vielleicht wäre das Urteil der Journalisten Wie habt Ihr den Auftritt dort erlebt? Ist das ein ein anderes gewesen als das der Jury) .... „echter“ Wettbewerb wo man vielleicht noch auf die Wir haben ja viel im „Westen“ gespielt, und fanAuftritte der anderen Bands reagieren könnte? den immer begeisterte Menschen, allerdings ist Das Brauhaus in Eutin war propend voll, die es auch hier wieder rückläufig und wenn man Bühne viel zu klein, das Publikum dafür absolut nicht „jemanden kennt der jemanden kennt der interessiert und begeisterungsfähig von der ers- wiederum mit dem Bekannten von dem allseits 18 Bekannten bekannt ist usw...“ dann bleibt man auch hier außen vor, die „guten“ Jobs in den einschlägigen „Westclubs“ bekommt man nicht aus qualitativen Gründen! Wie seht Ihr überhaupt die Situation für Bluesbands hierzulande? Meiner Beobachtung nach gibt es immer weniger Läden, deren Besitzer den Blues lieben und auch das Risiko von Konzerten auf sich zu nehmen bereit sind. PoB spielen überall wo man uns hören möchte, allerdings ist es richtig, das eine Rückläufigkeit der Bluesclubs zu bemerken ist, dies allerdings schon seit vielen vielen Jahren. Die Pioniere von einst (Blues- und Jazzclubbetreiber) gehen in den Ruhestand oder müssen sich Restriktionen aus dem Umfeld (Lärmbelästigung usw.) beugen ... Allerdings merken wir, dass sich Netzwerke herausbilden – Leute, die die Nase voll haben von dem Einheitsgedudel, schließen sich zusammen und organisieren Veranstaltungen bei denen auch unsere Musik wieder eine Heimat findet. Das gibt Anlass zu Hoffnung .... Die Antworten gab Roland „Rolli“ Beeg. © wasser-prawda Interview Carolyn Wonderland: The soul of the blues “Carolyn Wonderland is the real deal! She’s an amazing guitar player. And damn, can she sing,” schrieb die Los Angeles Times. Gary Burnett unterhielt sich mit der Sängerin und Gitarristin für seinen Blog Down At The Crossroads. Fotos: Todd V. Wolfson. Die texanische Singer/Songwriterin und Gitarristin Carolyn Wonderland hatte 2012 ein arbeitsreiches Jahr. Ein Rezensent beschrieb ihr neues Album „Peace Meal“ als “gritty, beautiful, smart and seriously cool”. Damit war sie ununterbrochen auf Tour in Europa und den gesamten Vereinigten Staaten. Sie ist eine ausgewiesene Multiinstrumentalistin, spielt gleichermaßen gut Gitarre, Mandoline, Trompete und Piano. Aber es war ihr Gitarrenspiel, worauf man aufmerksam wurde - sie ist einfach eine herausragende Bluesgitarristin. Addiere dazu ihre fabelhaft bluesige Stimme, die im einen Moment rauh wie Sandpapier und dann wieder sanft wie Seide klingt (wenn auch immer mit einer rauhen Obertönen), dann hat man eine umwerfende Kombination. Und dann könnte man auch noch anfangen, über ihr Engagement für den Frieden zu reden, ihre Spendensammlungen für Wohltätigkeitsorganisationen in Austin, für Tafeln, Suppenküchen und Obdachlosenunterkünfte. Unser Gespräch fand in einer der wenigen Pausen statt, die Carolyn sich gönnt, bevor sie Ende des Monats wieder zu touren beginnt. Gary: Carolyn, vielen Dank für das Interview. Und zunächst, Glückwunsch zum neuen Album „Peace Meal“ - es ist wunderbar fantastisch und bekommt großartige Kritiken. Fantastisches Gitarrenspiel von ihnen - und der Gesang ist herausragend. Sind Sie zufrieden, wie das Album aufgenommen wurde? wir dann noch etwas länger und spielten eine Session mit Levon und seiner wunderbaren Band!). Ich war der Meinung, wir müssten eine Hommage an die „Schultern“ machen, auf denen wir stehen, indem wir einige Songs covern, die entweder von Freunden wie Vince Welnick (Vince Carolyn: Vielen Dank! Es tut einem im Herzen und ich waren vor zehn Jahren gemeinsam in Jergut, wenn Leute auf ein Album aufmerksam wer- ry Lightfoot‘s Band of Wonder bevor er und Jerry nach oben gerufen wurden, um Musik mit den “Hey, have you heard Caro- Engeln zu machen) und Lieder, bei denen Freunde mir geholfen hatten, als ich anfing, solche Stülyn Wonderland? She’s socke wie Little Screaming Kenny‘s Arrangement mething else.” von Two Trains & I Can Tell. (LSK ist einer der Bob Dylan mir wichtigsten Menschen in der Welt. ) Wir haben irgendwann angefangen, für Leute zu den und es hoffentlich auch mögen, wenn man spielen und ich bin glücklich sagen zu können, an dieser Sammlung von Liedern gearbeitet und dass wir noch immer unterwegs sind und nebenalles von Dir dahinein fließen lässt. Wir hatten bei neue Lieder schreiben für das nächste Album. eine wundervolle Zeit, das Album Stück für Stück zu machen, als wir mit Ray Benson und Sie covern Lieder von einigen der Größten auf dem Mike Nesmith im Bismeaux Studio in Austin Album. Robert Johnson‘s „Dust My Broom“, „What und mit Lary Campbell im Studio von Levon Good Can Drinking Do“ von Janis Joplin und Bob Helm in Woodstock arbeiteten. (Dort blieben Dylan‘s „Meet Me In The Morning“. Und all die 19 © wasser-prawda Interview sind wirklich exzellent. Sind das einige Ihrer BluesHelden? Wer (sonst) war ein wichtiger Einfluss in Ihrer Entwicklung? Wenn man in Texas aufwächst, dann lernt man schnell als junges Mädchen, Janis‘ Songs nur privat zu singen. In der Öffentlichkeit wäre das einfach dumm, weil es einfach niemand besser kann als sie selbst und nur wenige ihr gerecht werden. Als ich 2009 gefragt wurde, beim „American Music Masters Tribute to Janis“ in der Rock & Roll Hall of Fame zu spielen, war ich platt, geehrt und begeistert. So viele großartige Künstler machen mit ihren Liedern coole und originelle Dinge. In dieser Nacht beschloss ich, auch wenn ich es vermutlich nicht besser machen kann, wenigstens einem der Lieder, die sie geschrieben hat, gerecht zu werden. In der nächsten Nacht - in aller Öffentlichkeit und ohne Proben - holte ich es bei der ersten Session mit Guy Forsyth in Levon Helms Studio heraus. Die Nacht zuvor hatte ich vermutlich eine Menge Finger-Picking auf der Gitarre gehört, denn das Arrangement hat dieses „WalkingThumb-Bass-Line“-Feeling. Und das kam bei der Aufnahme letztlich richtig gut rüber. „Dust My Broom“ hab ich ursprünglich für das Buch „The American Gene“ von Mike Nesmith aufgenommen. Und dabei hatten wir ne Menge Spaß. Gut, dass er uns erlaubt hat, die Nummer auf auf „Peace Meal“ zu verwenden. Wir hätten so ziemlich jedes von Dylan‘s Liedern nehmen können, das wir über die Jahre gecovert haben. Ich fühlte nur, dass diese Fassung von „Meet Me In The Morning“ einen Platz ausfüllte, der stilistisch auf der CD noch nicht vertreten war. Ray ließ uns nach der täglichen Aufnahmesession im Studio einfach drauflos spielen - für mich der Beweis dafür, dass man immer den Record-Knopf gedrückt halten sollte, sobald man im Studio ist! Alle, die ich hier bislang erwähnt habe, haben einen riesigen Einfluss auf mein Leben und meine Musik gehabt. Zu der Liste will ich noch meine Band hinzufügen: Cole El-Saleh (keyb, keyb-b) und Robert Hooper (dr) - und außerdem noch alle, die durch diese Tür reingekommen sind. Meine Helden sind oftmals Musiker und die Menschen, die neuer Musik eine Chance geben. (Und natürlich: ohne die Liebe und Unterstützung durch das Publikum würden wir noch immer Musik spielen - unsere Katzen aber wären nicht davon beeindruckt, außer wenn das Gitarrensolo eine Dose mit Futter öffnen würde!) Ich bin ja selbst ein großer Dylan-Fan und ich liebe die bluesige Behandlung, die Du „Meet Me In The Morning“ hast angedeihen lassen. Ich glaub ich werd rot! Ich hoffe nur, der Songwriter mag es ebenfalls oder ist zumindest davon nicht beleidigt. Was hat Dich zuerst zum Blues gezogen? Und was ist es, was Dich und Dein Publikum sosehr am Blues begeistert? Als ich aus der Schule geschmissen wurde, waren es die Bluesclubs, die mich am ehesten mit offenen Armen willkommen hießen - und sich am wenigsten um Ausweiskontrollen scherten! Ich liebte es, dass jeder auf die Bühne steigen und mit jedem anderen jammen konnte, wenn er nur die grundlegenden Bluesformen begriffen hatte. Ich mag es, dass es mehr um Seele und Persönlichkeit als um Intellekt geht, die in die Musik einfließen. Ich liebe die Leute, die mich etliche Male richtig abstinken ließen und bin glücklich, anderen die gleiche Unterstützung zu geben, während sie durch diese Anfangsphase gehen. Ich denke, das ist ehrliche Musik, die die verschiedensten Behandlungen überleben kann und sich für Hörer und Musiker noch immer vertraut anhört. Als ich den Blues entdeckte (und er mich entdeckte), hatte ich das Glück, in Houston zu sein. Ich konnte zu Füßen von Leuten wie Jerry Lightfoot, Joe „Guitar“ Hughes, Little Screaming Kenny, Grady Gaines, Trudy Lynn, Lavelle White, Allison Fisher, Tere Greene, Big Al Betit, Johnny „Clyde“ Copeland, Little Joe Washington oder den Streetrockers sitzen und gelegentlich mit ihnen zu jammen - eine große Menge von großartigen Bands kamen außerdem auf ihren Tourneen vorbei. Und es ist die Seele der Lieder und der Leute, die mich damals zum Blues hinzogen und dich mich noch immer mit dem Blues flirten lassen. 20 Du lässt uns auf dem Album ein paar ziemlich coole Sachen auf der Gitarre hören - wer hat Dich am meisten als Gitarristin beeinflusst? Das sind all die Typen, die ich vorhin aufgezählt habe und natürlich Leute, die mich bei Konzerten einfach umgehauen haben, Musiker wie Danny Gatton, Clarence „Gatemouth“ Brown, Johnny Winter, Albert Collins, Debbie Davies, Les Paul, The Paladins, Los Lobos, Larry Campbell, Charlie Sexton, Derek Trucks, Redd Volkaert, John X. Reed, Tracey Conover, Charlie Prichard, Sue Foley, Cindy Cashdollar, Alan Haynes, Susan Tedeschi, Bill Kirchen, Rosie Flores, Ruthie Foster, Jimmy Vaughan, Gary Clark Jr. (der scheinbar mit der Zeit immer noch besser wird). Und natürlich Chris Whitley, Buddy Guy, Hubert Sumlin, Townes Van Zant und der einzigartige Billy F. Gibbons. Ja, ich weiß, dass ist eine verrückt lange Liste - aber eigentlich gibt es noch viel mehr, die ich nicht genannt habe! Und natürlich sind dann auch noch die Musiker, die ich leider niemals live erleben konnte, deren Platten ich aber regelrecht glatt gespielt habe: © wasser-prawda Interview Es ging mir seit mehr als einem Jahr im Kopf herum. Ich wusste, was ich sagen wollte, aber es gelang nicht so hoffnungsvoll, wie ich es wollte und das Lied fiel in die Kiste ungedachter Handbewegungen auf der Gitarre. Als ich den Text endlich in der richtigen Form hatte, war es Ray Benson, der vorschlug, dass ich die Eröffnung auf einem anderen Instrument spielen sollte. Er hatte Recht - und jetzt hab ich ein neues Lied für die Lapsteel! Ich nehme eigentlich fast alles mit dieser Gitarre auf. Manchmal allerdings nehme ich auch Patty, meine Blue Hawk oder Les Pauline, die Goddess Guitar (das steht so in flammend roten Buchstaben auf dem Kopf des Instruments). Für die Lapsteel-Nummern hab ich ein paar wirklich gute alte Stücke, die ich mich aber nicht mehr auf Tour mitzunehmen traue. Da nehme ich eine Morrell - mit der kannst Du notfalls nach Hause paddeln, wenn Du unterwegs Schiffbruch erleidest - und außerdem passt sie mit Erzähl uns ein wenig über die Gitarren, die Du auf meiner Tele in einen Flugkoffer. Für das Album borgte ich mir Levon Helm‘s Mandoline und dem Album und auf Tour spielst. Meine Hauptfreundin ist meine Tele. Sie ist eine Ray‘s akustische Gitarre. Zu Weihnachten hab anlässlich des 50. Geburtstags von Fender neu- ich grad eine Art & Lutherie geschenkt bekomaufgelegte Fassung der 69er Telecaster. Ich baue men. Damit werde ich mich in diesem Jahr noch einen Joe Bardens Tonabnehmer an den Platz ausfühlich beschäftigen. der Standard Lipsticks und Bam! - schon hast Du eine Gitarre, die mit einer Les Paul mithalten Ein Kritiker nannte „Peace Meal“ ein „sakramenkann und immer noch sauber genug für Finger- tales Fest für die Seele“. Zumindest für „Only God picking ist. (Anmerkung: Ein Lipstick Pickup ist Knows When“ ist das sicherlich zutreffend - es gibt eine Variante eines Singlecoil Tonabnehmers, bei kein offensichtlicheres Zeichen der Gnade als Friedem die Elektronik komplett in einer verchromten den. Was hat Dich bewogen, ein solches Lied zu schreiben? Metallröhne eingebaut ist.) Freddie King, Frank Zappa, Rory Gallagher, Mance Lipscomb oder Lightnin‘ Hopkins. Ach ja: natürlich muss ich meine Mutter hier nennen, die mir nicht nur meine ersten drei Akkorde beigebracht hat, sondern mir auch unter Strafandrohung die Benutzung von Picks untersagte, nachdem ich ihre Martin einer Pete-Townshend-Behandlung unterzogehn hatte. Ich glaub, ich hätte heut nicht meinen Stil wenn ich nicht mit bloßen Händen spielen würde. 21 Du hast eine Anzahl von Liedern mit spirituellen Obertönen oder Gospelinhalten geschrieben wie Judgement Day Blues, Bloodless Revolution, Jesus It‘s Gonna Be You, Gospelsong beispielsweise. Und ich weiß, dass Du mit den Golden Crown Harmonizers eine Menge Gospelsongs gesungen. Lass mich daher zwei Sachen fragen: zunächst: Wie wichtig ist die spirituelle Seite des Lebens für dich und zweitens Wie wichtig ist es für Dich als Künstler, Kritik an den Zuständen der Welt zu äußern wie in „Only God Knows When“ und „Bloodless Revolution“? Ich wuchs auf in einer Kirche, die ich mit neun Jahren verließ, als mein Sonntagsschullehrer mir sagte, meine jüdischen Freunde würden nicht mit mir zusammen in den Himmel kommen. Ich rief: Bullshit! und ging. Ich hab viele Jahre gebraucht, zu dem Schluss zu kommen, dass der Fehler bei den Menschen liegt, bei ihren Vorstellungen von Gottes Regeln, während Gott sie trotzallem liebt (und warum sollte er nicht alle anderen ebenso lieben?) Ich denke, wir alle versuchen, einen Sinn in der Welt zu suchen, in der wir gemeinsam existieren. Spiritualität ist wie ein roter Faden der Hoffnung. Es macht mich traurig, dass es andauernd Krieg zwischen Brüdern gibt, dessen Ursache nur in dem begrenzten Verstandnis dessen liegt, was wichtig ist, uns in durch Zeiten von Kummer und Zweifel zu bringen. Mein Lieblingsgleichnis ist das von den drei Blinden, die jeweils nur einen Teil eines Elefantes anfassen konnten. Es ist ein Segel! Es ist ein Baum! Es ist ein Seil! Jeder von uns allein mag nicht in der Lage sein, den Elefanten zu erkennen, aber gemeinsam kann man die begrenzten Erkenntnisse zu einem zutreffenderen Ergebnis vereinen. Ich hoffe auf einen Tag, wo wir einander endlich in die Augen sehen und alle Ideen des Gegenübers ehren im Blick auf unseren winzigen Blick, den wir auf Gott und das Universum haben. Ein Leben zu gestalten, „wie es im Himmel ist“, diese Haltung habe ich seit meiner Jugend beibehalten. Ich bete noch immer. Ich bin Agnostiker, suche nach einenden Theorien einer ewigen Liebe (was ein Grund dafür ist, dass ich die Bücher von Joseph Campbell so mag). Jeder hat die Aufgabe, auf Fehler hinzuweisen und gleichzeitig die Schönheit des Lebens mit seiner Kunst zu feiern. Wenn Du es fühlst, dann lass es blühen! Du scheinst immer ziemlich hart zu arbeiten. Gib es eine Chance, Dich in nächster Zeit diesseits des Atlantiks zu erleben? Oh ja! Wir werden auf jeden Fall nach Norwegen, die Niederlande, Belgien und einige andere Orte kommen, die ich jetzt noch nicht genau nennen kann. Ich will eigentlich mindesten zwei oder drei Mal im Jahr rüber kommen. Die aktuellen Termine findet man auf www.carolynwonderland.com Und wenn wir bei Euch in der Nähe sind, kommt vorbei und sagt Hallo! © wasser-prawda Interview Bluesbea - Unterwegs im Namen des Blues?! Raimund Nitzsche im Gespräch mit der Bluesfotografin Beate Grams Wenn man im Internet nach Blues-Fotografien sucht, dann kommt man an Deinen Fotos nicht vorbei. Wie bis Du dazu gekommen, bei zahllosen Konzerten zu fotografieren? Mein Hobby, gute Live-Musik in kleinen Kneipen und Clubs oder Openairfestivalzu hören, fing vor einigen Jahren an. Ich liebe es, den Musikern direkt in die Augen zu sehen, ihre Mimik zu beobachten, den Bass im Körper zu spüren und mit Gleichgesinnten die Seele baumeln zu lassen... Dazu ergab es sich natürlich, das „Erlebte“ in Fotos festzuhalten. Irgentwann dachte ich aber, ich müßte mich entscheiden – endweder das Konzert in vollen Zügen genießen und ein bißchen „knipsen“ oder fotografieren. Heute weiß ich, beim Fotografieren spüre ich den Blues intensiver und hautnaher denn je, so dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, einfach „nur“ so da zu stehen oder zu sitzen. Wie viele Konzerte brauchtest Du, bevor Du mit Deinen Fotos wirklich zufrieden warst? Im meinen Anfangszeiten hatte ich mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, denn ein Konzertbesuch ist nie gleich, auch wenn es z.B. die gleiche Location ist. „Jedesmal“ ist anders und mit sehr vielen Eindrücken verbunden...die At- mosphäre, Drängeleien vor der Bühne, aber vor allem das Wichtigste in der Fotografie – das Licht – und das ist immer verschieden. Nicht umsonst sagt man, die Konzertfotografie zählt zu den anspruchsvollsten Genres der Fotokunst. ist meine Arbeit aber immer noch nicht wirklich beendet, denn ich bearbeite ggf. die Fotos nach, was für ein Foto manchmal ein bis zwei Stunden in Anspruch nehmen kann...wie z.B. bei meinen „My Art – my less is more“ Fotos. Was macht für Dich eigentlich ein gutes Blues- Mit welcher Kamera arbeitest Du eigentlich? Die Zahl der Geräte, die mit den beschränkten Foto aus? Lichtverhältnissen in den meisten Locations Die Frage ist nun, wie kommt der Blues ins Foto? fertig wird, dürfte ja so groß nicht sein, oder? Die Antwort: Man muß einfach zur rechten Zeit am richtigen Platz stehen, was manchmal, wenn‘s Das ist richtig, zumal ich ausnahmlos ohne Blitz voll ist, mit Glück verbunden ist, aber was man fotografiere. Deshalb habe mich für die Nikon auch im Laufe der Jahre lernt...Mein Motto: be- D700 mit Vollformatsensor entschieden. obachten, beobachten, beobachten, auf den richtigen Moment warten und dann abdrücken. Das Du hast in den letzten Jahren eine riesige Anist alles! zahl von Konzerten auf Deiner Homepage doNach einem Konzertfotosessionabend bin ich oft kumentiert. Wie sind die Reaktionen der Musiso erschöpft, als hätte ich selbst auf der Bühne ker auf Deine Arbeit? gestanden, denn das ist nicht nur körperliche Arbeit, auch der Geist wird beansprucht.. z.B. mit Es kommen wunderbare Feedbacks, z.B. mit der Frage, wie setze ich die Künstler am besten in Einträgen in meinem Gästebuch oder aber das Szene? Und Zuhause dann der spannende Mo- I-Tüpfelchen meiner Arbeit ist dann, wenn ich ment...hab ich meinen Auftrag im Namen des mein Foto auf einem CD-Cover oder einem Poster eines Künstlers wiederfinde. Blues erfüllt? Wenn der Blues im Foto zu hören ist, wenn ein Foto laut oder leise klingt, und die Künstler im Hast Du eine Chance, Deine Bilder auch an die Bild lebendig wirken, dann bin ich zufrieden! Presse zu verkaufen? Aber das gelingt natürlich nicht immer! Dann Nein 22 © wasser-prawda Interview 23 © wasser-prawda Interview Über einige der dokumentierten Konzerte erscheinen ja auch Zeitungsartikel. Oder nehmen dann die Tageszeitungen eher die Bilder, die von ihren schreibenden Journalisten gemacht wurden? JA Wir haben in unserer aktuellen Ausgabe Fotos von Pass Over Blues bei der German Blues Challenge im letzten Jahr. Wie erlebst Du als Fan und Fotografin diese Veranstaltung, die ja immer mal wieder in der Fachpresse kritisiert wird? Ist das wirklich so etwas wie eine „Deutsche Meisterschaft“ im Blues oder eine eigentlich überflüssige Veranstaltung? Überflüssige Veranstaltung? Ich denke nein, aber das ist eine sehr schwierige Frage, über die oft und viel diskutiert wird. Für mich sind alle teilnehmenden Musiker Gewinner, es gibt meiner Ansicht nach keine Verlierer. Aus der Sicht als Fotografin sehe ich während solchen Veranstaltungen oft einen gewissen Stressfaktor im Ausdruck der Musiker, die ja in einer sehr kurzen Dieses wunderbare Hobby gibt mir den gewissen Kick in meinem Leben und den Ausgleich zu meinem Fulltimejob „im wirklichen Leben“, Wen würdest Du gerne mal im Konzert einer anstrengenden Arbeit im Gesundheitswesen. Alles in allem, ohne die Unterstützung meifotografieren? Am Liebsten würde ich alle wieder auferstehen nes Lebenspartners wäre mein Hobby zeitlich in dieser Form so nicht möglich. lassen...vielleicht John Lee Hooker. Zeit alles geben müssen und somit einem großen Druck ausgesetzt sind. Und bei wem hat Dir das bislang am meisten Spaß gemacht? Ohne jetzt Namen nennen zu wollen, das sind die Musiker mit den „vielen Gesichtern“, die mit ihrer Mimik und ihren Emotionen im Ausdruck einem den Finger am Auslöser kleben lassen. Gerade in den letzten Wochen tauchten auf Deiner Seite verstärkt andere Motive auf: Architektur, Landschaftsaufnahmen und ähnliches. Wie kommt es dazu? Sollte mal auf der Bluesroad nichts los sein, dann juckst‘s mich in den Fingern und es müssen andere Motive dran glauben, wie z.B. Landschaftsaufnahmen oder ganz „banale“ Motive, wie z.B. eine Apfelsine, egal, alles was mir vor die Linse gerät. 24 Zu den Fotos: Selbstporträt Bass - aus der Serie „Less Is More“ Roland Beeg (Pass Over Blues) bei der German Blues Challenge 2012 in Eutin U 995 am Marine-Ehrenmal in Laboe. Die Fotos von Beate Grams findet man am besten auf ihrer Homepage www.bluesbea.de, die sie unter das passende Motto „Blues Your Soul“ gestellt hat. Aber auch auf CDs von Tim Lothar oder dem German Blues Project kann man Fotos von ihr entdecken. © wasser-prawda Interview Zehn Fr agen an: Clare Free Dave Watkins im Gespräch mit der britischen Gitarristin und PR-Agentin. 1: Was war Dein frühester Musikgeschmack und wie hast Du die Welt des Blues entdeckt? Als ich ein kleines Mädchen war, liebte ich Gruppen wie Abba, die waren zwar vor meiner Zeit, aber meine Eltern hatten Platten, die ich immer wieder auflegte. Ich hab mich in dem Moment begonnen in den Blues zu verlieben, als ich anfing, ihn zu spielen. Mein Gitarrenlehrer schickte mich zu einer Blues-Session und ich spielte so schlecht, dass ich mich schämte. Ich beschloss, mich davon nicht fertig machen zu lassen und übte den ganzen Monat Blues bis zur nächsten Blues-Session. Da spielte ich dann ein wenig besser, ging nach Hause und arbeitete weiter an meinem Blues-Spiel. Je mehr ich spielte, und je mer interessante Künstler ich da hörte, desto mehr wurde ich vom Blues regelrecht aufgesogen. 2: Wer waren die Künstler, die dich dazu brachten, dass Du diese Musik spielen wolltest. Und wann stelltest Du fest, dass Du dazu das Talent hast? Die ersten Bluesmusiker, die ich nach meiner Erinnerung hörte, waren B.B. King und Stevie Ray Vaughan. Ich kann mich auch noch ganz deutlich an das erste Mal erinnern, als ich bewusst Hendrix hörte. Ich hörte „Star Sprangled Banner“ und dachte: das klingt furchtbar! Ich hasste es regelrecht!. Ich bin nicht überzeugt, dass ich irgendwann feststellte: Ich hab das Talent zum Bluesspielen. Auch jetzt bin nicht sicher, ob das, was ich mache, das Resultat von echtem Talent ist. Ich tendiere eher zu dem Gedanken, dass es mehr damit zu tun hat, dass ich unwahrscheinlich viel geübt habe. Wofür ich ein wirkliches Talent habe, ist Gedichte und Songs zu schreiben. Das hab ich schon immer geliebt. 3: Deine ersten Aufnahmen - hörst Du sie immer noch an? Wie beurteilst Du sie heute? Und gibt es welche, die Du nicht mehr anhören würdest? Nein, momentan höre ich sie nicht mehr. Aber ein Stück hab ich letztens gehört und war ehrlich überrascht, wie wenig sich mein Gitarrenspiel seither verändert hat. Ich klang damals schon nach „mir“. Ich denke, einige meiner frühen Aufnahmen waren recht gut, nicht wundervoll, aber wirklich nicht schlecht. 4: Welche anderen Jobs hast Du gemacht, um Deine Musikkarriere zu unterstützen? Für eine Weile hab ich Gitarrenunterricht gegeben (ich hab immer noch zwei Schüler), aber ich kam an einen Punkt, wo ich unzuverlässig wurde als Lehrer: In der einen Woche war ich in der Lage, Unterricht zu geben, die nächste dann wieder nicht und so hab ich das aufgegeben und zwei Jahre lang meinen ganzen Lebensunterhalt durch Livekonzerte eingenommen. Das ist eine harte Arbeit und wirklich ermüdend, und so gründete ich eine kleine PR-Agentur, die für andere Musiker arbeitet. Ich spiele jetzt nur noch die Konzerte, auf die ich auch wirklich Lust habe. Insgesamt ist das also bislang eine sehr erfolgreiche Kombination. 25 © wasser-prawda Interview 5: Wie schwer ist es, von seiner Musik zu leben? Und gibt es irgend etwas, dass diese Ziel für alle Musiker einfacher erreichbar machen würde? Von Konzerten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten ist sehr hart. Allein die Gigs gebucht zu bekommen, erfordert einen riesigen Kraftaufwand. Einfacher wird es, wenn Du willens und in der Lage bist, auch in anderen Bereichen der Musik (etwa dem Unterricht) zu arbeiten. Ob es etwas gibt, dass die Lage für alle Künstler vereinfacht? Mir würde es gefallen, wenn bei den großen Plattenfirmen, Fernseh- und Radioanstalten nicht so sehr die Kontrollfreaks das Sagen hätten. Es gibt einfach dort zuviel vom gleichen Mainstream, nur wenig Vielfalt. Und vor allem wünschte ich, dass die unabhängigen, wenig vernetzten Künstler mehr öffentlich gefeiert würden. das Lied zu Scheitern verurteilt! Ich mag Lieder, die eine echte Bedeutung haben. Jemand sagte mir mal: Schreib niemals einen Text, bloß weil Du grad einen brauchst. Schreib ihn, weil er Deine Meinung sagt und Du den Text genau dort im Lied haben willst. Das war ein guter Ratschlag und an den versuche ich mich zu halten. 8: Welches Instrument in Deiner Sammlung hast Du am liebsten? Gibt es irgend ein Instrument, dass Du gerne haben würdest oder gerne spielen können möchstest? Zur Zeit hab ich meine Strat Plus am liebsten (auch wenn ich meine Fret King Gitarre ebenfalls liebe). Ich kaufte sie vor etwa 15 Jahren gebraucht in einem Laden in Birmingham und hab sie schon durch die ganze Welt mitgenommen. Ich behandle sie nicht besonders zärtlich und so hat sie schon einige Schrammen und Kratzer. 6: Auf welchen Deiner Songs bist Du beson- Aber das unterstreicht meiner Meinung nach ihders stolz? Erzählst Du uns die Geschichte ren Charakter ganz ordentlich. hinter dem Lied? Zur Zeit stehe ich in gewaltiger Versuchung, mir Das ändert sich immer mal, zur Zeit aber ist das ein Banjo zu kaufen und darauf spielen zu lerein Lied vom demnächst erscheinenden Album nen... vielleicht wird da noch was draus... mit dem Titel „60 Years Young“. Ich sah das Foto eine alten Pärchens, sich an den Händen hielten 9: Wo soll es mit Deiner Karriere noch hinund einander anlächelten: jeder sah, dass die bei- gehen? Was sind da deine hauptsächlichen den einander liebten. Ich schrieb das Lied über Bestrebungen? sie, die sich schon seit 60 Jahren lieben und ein- Ich hätte gern eine ruhige Karriere, wo ich in der ander auch noch im Alter anbeten werden. Lage bin, die Festivals und Läden in Europa zu spielen. Wichtig ist mir immer, dass ich Spass 7: Wenn Du Lieder schreibst, was kommt da dran habe, großartige Musik zu machen. Letztes zuerst: Der Text, die Melodie oder eine Vor- Jahr spielte ich zu viele Gigs und bekam etwas stellung vom ganzen Song? die Nase voll davon: es fühlte sich plötzlich an Für mich kommt zuerst fast immer der Groove, wie Arbeit. Also spiele ich in diesem Jahr weniger dann die Melodie. Und der Text entsteht dann live und konzentriere mich mehr auf die Arbeit im Laufe von mehreren Tagen. Manchmal hab an meinem neuen Album mit meiner belgischen ich Lieder, die liegen eine ganze Weile völlig ohne Band. Das ist zur Zeit ein akustisches Projekt und Text rum, weil ich mir noch nicht klar darüber ich mach mir keinen Kopf drum, wann es rausbin, wovon das Lied eigentlich handeln soll. Ich kommt. Das wird dann sein, wenn das Album brauch ein Thema, dass man nicht in einem ein- fertig ist! Und ich hab auch keine Lust drauf, in zelnen Satz zusammenfassen kann. Ansonsten ist ein Plattenstudio zu gehen. Es geht um die Mu- 26 sik, und dass man Spaß dran hat: Darum wollen wir das Album im Haus eines Freundes mit ein paar Bier und vielen Freunden aufnehmen, dadurch wird die Stimmung wesentlich relaxter sein und das Album wird davon hoffentlich profitieren. Ich hab das große Glück zum Schutzpatron eines Clubs namens The 61 in Vise ernannt worden zu sein, der eine nette Bar hat. Philippe, der den Laden betreibt, lässt uns dort üben, was großartig ist, weil Freunde vorbeikommen können, um ein Bier zu trinken, zuzuhören oder mit uns rumzuhängen, während wir an unserer Musik arbeiten. Und so sollte meiner Meinung nach Musik viel eher entstehen als in stinkenden Proberäumen. 10: Was machst Du außer Musik am liebsten? Wenn ich nicht spiele oder mich um PR kümmere, dann freue ich mich, mit meiner Familie zusammen zu sein. Wir ziehen gerne los, um interesannte Dinge zu entdecken (und da gibt es eine Menge für uns, da wir gerade erst in die Niederlande gezogen sind, ein Land voller großartiger Dinge, die man sehen oder machen kann) oder sind ganz einfach zusammen. Zusatzfragen: A: Du bist in die Niederlande gezogen - wie kam es dazu? Da gibts viele Gründe. Uns gefällt es hier - und mein Bruder und meine Mutter hatten beschlossen, in die schottischen Highlands zu ziehen. Ohne meine Familie in der Nähe und dem Streben nach Veränderung entschlossen wir uns einfach dazu. Das war keine schnelle, eher eine allmähliche Entscheidung, es fühlte sich nur einfach richtig an. B: Wo kann man mehr über Dich erfahren? www.clarefree.co.uk und für meine PR-Agentur unter outlawpr.co.uk. © wasser-prawda Musik Mia Moth: Poppunkfunkrock mit Spassfaktor! Musik aus Kanada, die das Licht nicht zu scheuen braucht. Und weil das so ist gehen Mia Moth in Kürze auf ausgedehnte Deutschland-Tour und da wollen wir ihnen gerne ein wenig unter die Flügel greifen, denn wir haben hier das einmalige Phänomen, dass wir gleich zwei Alben dieses Projekts aus Vancouver , Kanada, vorstellen möchten. Dass erste aufgenommen am 11.11.2011 ist wohl nur sehr schwierig im Handel zu erwerben, das zweite, ihr ahnt es, aufgenommen am 12.12.2012 ist noch frei im Download auf der Webseite zu haben. Von Lüder Kriete. genommen! Fest steht Kara singt - schön, voll Seele und mitunter ein wenig provokant, aber stets absolut überzeugend in ihrer Darbietung. Eine junge Frau, die mal eben das gibt, wovon sie überzeugt ist. (Beim Betrachten der Videos kommt dann auch ein klein wenig der Voyeur in uns hoch, geben wir zu und schämen uns auch nicht dafür.) Allan Rodger ist der dem das Crosstown Studio in Vancouver gehört, dort wo die beiden Alben aufgenommen wurden. Der eigentliche Start war ein spontaner Gig bei einem ‚open-mic‘ in eben dieser Stadt, kurz vor dem 11.11.11. Und so hat sich der Gute dann auch etwas mehr eingebracht, als nur mit seinem Bass. Den spielt er aber knochentrocken und laut eigenem Bekenntnis hört er am meisten Musik von Alex Harvey. Sicherlich ein weiterer Grund, warum diese Musik so erstklassig abgeht. – Manch einer hierzulande mag sich an diesen Mann erinnern, ist er doch schon mit Melanie Dekker hier unterwegs gewesen. Am Drums sitz ein weiteres Musterbeispiel für Top Qualität, nicht nur im Studio, sondern auch live: BJ Genten. Mag den meisten so auf Anhieb nicht viel sagen, aber dieMia Moth, das sind im Wesentlichen die unge- ser Mann hat grundsolide Erfahrung gesammelt mein faszinierende Kara Fraser mit Gesang und im Zusammenspiel mit Musikern wie Rodger der „Musikmacher“ Allan Rodger mit dem Bass. Hodgson (Supertramp) oder in der MusikantenÜber beide, und auch alle weiteren Mit-Musiker, Abteilung des Cirque du Soliel. So schafft der und sonstiges Material ist aber auf beiden Covers Kerl einen Rhythmus-Teppich, mit dem man nichts zu finden und auch auf der Webseite nur einfach nur fliegen muss. Die beiden Alben 11indirekt. Das hat sicherlich die Produktionskos- 11-11- und 12-12-12, elf Titel auf dem ersten, ten erheblich gesenkt, von der Klasse dieser Un- zwölf auf dem zweiten, sind in jedem Falle erstternehmung hat es aber absolut rein gar nichts 27 klassige moderne Unterhaltungsmusik. Die kanadische Presse und die Fans der Band vergleichen sie gerne mit Größen wie No Doubt, Lena Lovich oder, man höre, Nina Hagen. Wie dem auch sei, Spaß machen sie ohne Ende und wir werden uns dieses Projekt auf ihrem Weg durch Deutschland garantiert am 03.03.13 in Augsburg ansehen. Dort, wie auch bei einigen weiteren Konzerten, wird dann der famose Martin Rose aus Berlin den Bass zupfen, da Mister Rodger verhindert ist. Aber das wird ein ganz besonderes Schmankerl, kennen wir doch die Qualitäten des Herrn Rose. Bis zum Tourstart am 07. Februar in Rainer’s Rockhaus in Algermissen empfehlen wir also den Besuch der Webseite und den freien Download von 12-12-12. © wasser-prawda Jazz Matthias Bätzel Back To The Roots Was wäre der Jazz ohne den unnachahmlichen Klang der Hammondorgel? Nicht vorstellbar, wenn man einmal Matthias Bätzel an der Hammond B-3 erlebte. Virtuos und dennoch jede musikalische Phrase sensibel ausdeutend verwandelt er Standards zu immer wieder neuen Werken. Ein Meister seines Fachs. Und das hat sich herumgesprochen. Und doch will er jetzt wieder zurück zu den Wurzeln, zum Klavier. Er möchte das Jazzklavier neu erfahren und auf einer Reise zu sich wieder mit neuem Leben erfüllen. Als einer der gefragtesten Jazzpianisten und Organisten Europas arbeitet er mit Koryphäen wie Red Holloway und Houston Person zusammen – immerhin Musiker, die mit Jimmy Smith spielten und daher Gutes gewöhnt sind. Matthias Bätzel stammt aus einem Musikerhaushalt und studierte Klavier und Violine in Weimar. Doch schon früh lässt ihn der Jazz nicht mehr los und begleitet von nun an sein Leben. Es wäre abendfüllend aufzuzählen, mit wem er bereits alles spielte. Um nur einige zu nennen: Carla Bley, Clark Terry, Sonny Fortune, Nils Landgren, Manfred Krug, Till Brönner, Inga Rumpf, Wolfgang Schlüter, Charlie Antolini, Roman Schwaller, Dusko Gojkovich, Uschi Brüning, Ernst-Ludwig Petrowsky, Herb Robertson, Benny Bailey, Ed Kröger, Ingolf Burkhardt, Toots Thielemans, Jocelyn. B. Smith u.v.a. 1998 gründete er das Matthias Bätzel Trio, welches sich schnell in der Jazzszene etablierte und bereits 3 CDs veröffentliche: “Monk’s Mood” (JHM Records) 2002 “Green Dumplings” (JHM Records) 2000 “A Night of Blues & Ballads” mit Red Holloway (JHM Records) 1999 Als Sideman ist er zu hören in: “Straight & Curved” Michael Arnold Quartet (Type:g Records) 2008 “Live at the A-Trane” Sonny Fortune/Karl Schloz/Matthias Bätzel/Ernst Bier (Konnex) 2006 “Dünnes Eis” Veronika Fischer (SPV) 2004 “ALive at the A-Trane” Ernst Bier/Mack Goldsbury Quartet (Konnex) 2003 “Der Weihnachtskrug” Manfred Krug (Warner) 2002 “Movin’ On” Ed Kröger Quartett + Romy Camerun/Ignaz Dinne (Laika) 2001 “What’s New” Ed Kröger Quartett + Romy Camerun (Laika) 1999 “Movin’ Up” Stanley Blume Quartett (Organic Music) 1999 “Basic Instinct” Grooveyard meets Red Holloway/Houston Person/Roman Schwaller (Organic Music) 1997 “Grooveyard featuring Red Holloway” Grooveyard (JHM Records) 1996 Seine vielseitige Arbeit ist auf über 30 CD-Veröffentlichungen zu erleben. Seit 2007 ist er Professor für Jazzklavier und Hammondorgel an der Musikhochschule Dresden und gibt regelmäßig Konzerte, die immer wieder aufs Neue die Frage nach dem eigentlich Wichtigen beantworten. Für Matthias Bätzel ist es wieder das Klavierspielen. Manchmal kann man eine Sache neu entdecken, indem man sie in das Zentrum seines Schaffens rückt. Und uns geht kein Organist verloren, wir werden ihn nur öfter als Pianisten erleben. Mathias Frieling Foto: Guido Werner (Weimar) Jazz im Keller oder wie es abwärts geht Ein Aufruf Ein Phänomen bleibt. Denkt man an Jazz, denkt man an Keller, Clubs und Bars. Meist verraucht, oft überfüllt, mit schlechter Luft und viel Bier. Doch dann erklingen die ersten Töne, und schnell wird klar, diese Musik muss heraus. Sie ist eine ernstzunehmende Konzertliteratur und kann seine ganze Vielfalt und Komplexität erst im klassischen Ambiente zeigen. So paradox es klingt. Ein gewisses Maß an Konservatismus ist vonnöten, aus einer coolen Mugge eine ernstzunehmende Musikrichtung zu machen. Zwei Gründe sprechen für diese Veränderung: Viele Jazzmusiker spielen für so wenig Gage, dass sie sich nicht davon ernähren können. Sie müssen anderen Beschäftigungen nachgehen. Der Jazz verliert wichtige Künstler an Mainstreampop oder Musikschulen. Im Gegensatz zur Klassik gibt es bei Jazzmusikern wenig bis keine 28 festen Stellen. Auch die Gagen sind im Keller. Bei Konzerten in Sälen sind wesentlich höhere Eintrittsgelder möglich und akzeptiert. Und dann haben wir noch den zweiten Grund. Die typischen Konzertbesucher werden nur sehr selten in irgendwelche Keller oder Bars gehen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass das sogenannte gutbürgerliche Kulturpublikum in „ihren“ Konzertsälen Jazz als andere Art des klassischen Konzertes akzeptiert und ihm dadurch verhilft, eine noch größere gesellschaftliche Akzeptanz zu erzielen. Ja, die Akzeptanz ist da, aber nur für die Musik, nicht aber für den Musiker. Immer wieder werden sie gefragt, was sie ansonsten machen. Jazz gilt immer noch als Liebhaberei und interessantes Hobby. Doch der Anspruch an die Musik ist viel zu hoch, als dass sie nur dilettantisch betrieben werden kann. Der Jazz ist im Keller, wenn wir ihn nicht bald zur Klassik erheben. Matthias Frieling © wasser-prawda Platte Des Monats Bob Brozman - Fire In The Mind Virtuosität auf sämtlichen denkbaren Gitarreninstrumenten verbindet Bob Brozman auf seinem Album „Fire In The Mind“ zu einer weltmusikalischen Entdeckungsreise. Und der Musikethnologe tritt dabei ganz nebenbei den Beweis an, dass der Blues nicht nur im Mississippidelta sondern überall zwischen Indien, der Karibik, Pariser Cafés und den Stränden Hawais gefunden werden kann. Bluepuristen sollten von diesem Album vielleicht die Finger lassen. Ihr Glauben könnte ansonsten auf eine harte Probe gestellt werden. Der Glaube an die Heiligkeit der Allgültigen Zwölf Takte sowieso. Aber auch daran, dass man sich beim Label Ruf Records wirklich nur und ausschließlich mit Blues und Bluesrock befasst. „Fire In The Mind“ als Bluesalbum zu bezeichnen ist nämlich eine ziemlich gewagte Angelegenheit, wenn man nach streng formalen Gesichtspunkten urteilt. Klar finden sich unter den elf Stücken Lieder, die von der Struktur her als Blues beginnen. Doch sobald man es sich bequem gemacht hat in den virtuosen Saitenklängen, verwandeln sie sich unversehens, kommen Anklänge aus Mussette, Gypsy-Swing oder indischer Tempelmusik in den Vordergrund, erklingen karibische Rhythmen oder psychedelisch anmutende Klangkaskaden. Brozman erzählt gemeinsam mit seinem Percussionisten Jim Norris Geschichten, die sich über Stimmungen und Rhythmen vermitteln. Und hier erschließt sich dem Hörer der Bezug zum Blues, über Stimmungen und Gefühle. „Breathing The Blues“ entführt einen oberflächlich gehört vielleicht irgendwohin in die Sümpfe Louisianas. Aber gleichzeitig fühlt man die Atemlosigkeit, die Beklemmung und sehnt sich danach, dieser drückenden Atmosphäre zun entkommen. „Cannibal Stomp“ jagt einen dann mit seinen rasanten Gitarrenduellen (die Brozman mit sich selbst ausficht), mit indischen Klängen und treibenden Rhythmen raus in die frische Luft. Erst dann kommt mit „American House Fire Blues“ das erste Stück mit Text: Eine melancholische Abrechnung und Anklage auf die hoffnungslose Lage vieler Menschen in seiner Heimat: »It‘s a lonely, lonely country When you‘re out on your own They‘ve stolen everything And drove you from your home Who you gonna call When your house is burning down...« Dieser (in diesem Falle auch von der Struktur her) „echte“ Blues wird abgelöst von „„Rhythm Is The King“ mit afrikanischen Trommeln, von „Strange Mind King“ mit spanischen Anklängen und einer vokalen Glanzleistung zwischen Trauer und Wahnsinn, zwischen Angst vor dem Tod 29 und der Unfähigkeit, die Liebe zurück zu lassen in Einsamkeit. „Bamn Kalou Bamn“ erinnert mich von der Stimmung her an Songs von C.W. Stoneking, auch wenn der niemals so wild Pariser Musette, Memphis Blues und die Rhythmen von New Orleans vermixt hätte. Und dann - schließlich hat Brozman auch Lehr-DVDs für das immer beliebter werdende Instrument veröffentlicht - brennt er bei „Ow! My Uke‘s On Fire“ ein wahres Ukelelenfeuerwerk ab zu treibenden Ragtime-Rhythmen. Und auch das ist - so wie die griechischen Bouzouki-Klänge, die spanischen Flamenco-Einflüsse oder auch die afrikanischen Rhythmen - dem Blues verwandt. Dem Blues als Ritual, als eine Gemeinschaft einende Musik, nicht als Floskel oder musikalisches Schema. Dass Brozman sich © wasser-prawda Platten hier gleichzeitig als einer der virtuosesten Gitarristen der Welt präsentiert, ist dabei nicht hauptsächlich. Wenn es auch das Hörvergnügen gerade bei musikalisch Versierten gewaltig steigern dürfte. Wen es interessiert: Brozman spielt auf dem Album unter anderem folgende Instrumente: National Reso-Phonic Tricone guitars, Bear Creek Kona Rocket Hawaiian guitar, Ultrafox Django-style guitar, 1915 Vega Cello-Banjo, Baglama, Chaturangui« und eine »1920s Stella guitar«. Uneingeschränkt empfehlenswertes Album für Liebhaber akustischer Musik. Raimund Nitzsche Aaron Neville - My True Story Klassiker des Pop im klassischen Doo-Wop-Sound produziert von Don Was und Keith Richards: Für „My True Story“ kehrt Aaron Neville zu seinen Wurzeln im Rock & Roll zurück. Für Nostalgiker liefert er ein wahres Fest für die Ohren. Blue Note scheint sich zu einem Zufluchtsort für aus der Zeit gefallene Musiker zu entwickeln. Van Morrison, Götz Alsmann und nun Aaron Neville können hier ihrer Musik frönen, die so fern jeglicher medienwirksamer Aktualität ist. Doch es ist Musik, die in jedem Fall bewiesen hat, dass ihre Qualität eine zeitlose ist. Wenn Neville jetzt mit „Money Honey“ sein neues Album eröffnet, dann wird das sofort klar: Mit über 70 Jahren ist der Sänger aus New Orleans noch immer im Besitz dieser unwahrscheinlich eindringlichen Stimme, die schon in den 60er Jahren Hits wie „Tell It Like It Is“ auszeichnete. Und genau die kann er in den neun Liedern in einem klanglichen Umfeld präsentieren, die sie als Kostbarkeit strahlen lässt: Das ist Erbepflege nicht nur in Bezug auf Neville sondern auch in Bezug auf den Doo-WopSound. Ein im wahrsten Sinne edles Album für Genießer - bis hin zum stilvollen Blue-Note-Cover. Nathan Nörgel Allen Vega - Rough Cut West Coast Blues mit einer markanten Gitarre, Bluesklassiker aus Texas neben eigenen Songs: Der Gitarrist ses Album macht wirklich neugierig Allen Vega hat mit „Rough Cut“ auf weitere von Allen Vega. ein bemerkenswertes Solodebüt Nathan Nörgel veröffentlicht. Der Dank an die Mutter für den Kauf der ersten Gitarre (damals war Allen Vega 15 Jahre) und für das erste Konzert mit Stevie Ray Vaughan ist mehr als angebracht: Allen Vega ist - obwohl er in Kalifornien lebt und dort auch in den letzten Jahren hauptsächlich unterwegs war - stark von den verschiedenen Spielarten des Texas-Blues beeinflusst. Und was liegt da näher, als Songs von T-Bone Walker (T-Bone Shuffle), Freddie King (Sugar Sweet)oder auch das von Johnny Winter so großartig interpretierte „Tin Pan Alley“ auf das Debüt zu nehmen? Wer jetzt aber erwartet, hier einen harten Texas-Boogie zu bekommen, hat sich gewaltig getäuscht. Oder besser gesagt, er hat das Prinzip des West Coast Blues nicht verstanden, der ja schon zu Zeiten von T-Bone Walker sich dadurch auszeichnete, dass die verschiedensten Regionalstile hier zu einem meist relaxten, auf jeden Fall aber auch jazzigen Sound verschmolzen wurden. Und genau das passiert auch auf „Rough Cut“: Klar, Vegas Gitarre kann beißen, packt zu und wird auch rauh und heftig. Doch das wird in der Band immer aufgefangen durch Armin Boyds Saxophon und die Pianound Keyboard-Klänge von Sugar G. Robinson. Niemals wird die Grenze zum „Abrocken“ überschritten, die kalifornische Leichtigkeit und Eleganz ist immer hörbar. Und das macht das Album schon mal sehr hörenswert - auch wenn man sich manchmal gewünscht hätte, mehr eigene Songs des Künstlers zu hören. Denn dass Vega auch ein guter Songwriter ist, machen die zwei eigenen Stücke deutlich: das politisch aktuelle „Jobless“ etwa aber auch die wundervoll groovende Schlussnummer „Bye Bye Bye“. „Rough Cut“ ist hierzulande leider nur als Download von iTunes erhältlich. Aber vielleicht kommt Vega ja in den nächsten Monaten mal nach Europa zu einigen Festivals und bringt ein paar „echte“ Tonträger mit. Und ansonsten: Die- Annabels Ashes - Revenant Ja mei, was soll’n wir denn dazu sagen? Nicht so düster wie das Cover aber deutlich härter als Mainstream. Hard Rock der Kategrie „Horror Rock“, schenkt man den PresseMitteilungen Glauben, bringen die drei Männer aus Tuscon, Arizona. Annabels Ashes nennen sie sich, ihr Album oder richtiger EP „Revenant“. Acht Songs dröhnen für ca. 20 Minuten auf uns ein und dann ist wieder Stille – gut so. Also, wer Hard Rock Fan ist, sollte da mal rein hören, alle anderen können diese zwanzig Minuten auch gut für etwas anderes nutzen: Müll rausbringen zPunkt B-Punkt. Das Erik Destler an Gitarre und Gesang; Renfield am Bass und The Hessian an den Drums wissen wie’s geht, glauben wir wohl. Und das sie sich auch redlich bemühen, dies dem geneigten Hörer rüber zu bringen auch; aber unser Ding ist dies ganz einfach nicht. Es verwundert uns eher, dass der Presse-Text noch einen Dr. Vanacutt an der Gitarre und Gesang ausgibt, von dem aber auf dem Cover jede Spur fehlt. Dafür ist dort ein gewisser Zane Zway als zusätzlicher Backing-Sänger angegeben, der in der Mitteilung fehlt; na hört selbst, wen ihr da findet. Die Band ist in 2011 an einem Freitag den 13. zum ersten Mal öffentlich aufgetreten, also noch nicht so ganz alt. Sie selbst verspricht, dass sie noch einiges in petto hat – so wird’s wohl sein. Ihre Musik ist schnell, laut und lässt nicht viel Zeit zum Atem holen. Die Titel sind eher düster, aber das ist eben Teil des biz. Wer also sein Adrenalin mal über den gewöhnlichen Level pushen will, der sollte sich mit Annabels Ashes stimulieren. (Clusterpunk Record!/ Cactus Rock) Lüder Kriete zweiten Album ein hörenswertes Statement veröffentlicht, dass nicht nur Bluesfans begeistern kann. Diese Gitarre ist fett. Überall bratzt der brachiale Ton durch, ob es sich um funkigem Blues a la Tab Benoit oder Rock & Roll, um Slidesounds oder Rockriffs handelt: Bart Walker ist kein zurückhaltender Typ, wenn es um sein Instrument geht. Und das ist auch gut so. Denn auch seine Musik ist nichts für zurückhaltende Feingeister. Hier ist einer am Abrocken, der niemals einen Hehl draus macht, dass nicht nur das geheiligte Evangelium der Zwölf Takte sondern auch die Botschaften solcher Nachkommen wie Led Zeppelin oder anderer Hardrocker bei ihm auf fruchtbaren Boden sind. Bart Walker rockt, das von Jim Gaines produzierte Album rockt. Und das ohne Kompromiss. Aber zum Glück auch ohne Muckertum: Walker ist für mich zum Glück keiner der Typen, die stets und ständig ihre technische Meisterschaft auf den Saiten präsentieren müssen. Er schreibt knackige Songs und sorgt für das passende klangliche Umfeld für seine Geschichten. Und wenn er ein Solo raushauen muss, dann ist auch da keine Note zuviel. „Waiting On Daylight“ ist ein empfehlenswerter Start in das Bluesrockjahr 2013. Und live kann man Walker zur Zeit im Rahmen der Blues Caravan von Ruf Records zusammen mit Joanne Shaw Taylor und Jimmy Bowskill erleben irgendwo in dieser Welt. Nathan Nörgel Bart Walker - Waiting On Daylight Ben Harper & Charlie MusChuck selwhite - Get Up! Zwischen Texas-Blues, Berry-Licks und Hardrock a la Guns Auf dem gemeinsam mit den Blind n Roses: Bart Walker hat mit seinem Boys of Alabama aufgenommebei Ruf Records veröffentlichten nen „There Will Be A Light“ hatte sich Ben Harper dem Gospel an- 30 © wasser-prawda Platten als Schauspieler im Kino war Llou Johnson schon erfolgreich. 2012 hat er mit „They Call Me Big Llou“ sein Debüt als Sänger vorgelegt. Und um soviel schon vorweg zu sagen: Die Nominierung für einen Blues Music Award für das beste Debütalbum ist mehr als verdient. „They Call Me Big Llou“ - eine Bluesnummer, wie man sie thematisch ähnlich schon von Fats Domino („The Fat Man“) oder Willie Dixon („Built For Comfort“) kennt: Es kommt nicht auf das Gewicht, auf die Statur an - gerade die Typen mit - so Big Llou zur Erläuterung seines Namens - 300 Pfund haben etwas zu bieten, was den äußerlich „schönen“ Männern abgeht. Der Song: Vom Gitarrenriff bis zur Harp klassischer Chicago-Blues. Der Sänger: Eine Bass-Baritonstimme voller Einfühlungsvermögen und Relaxtheit. Wer sich jetzt auf ein eher traditionelles Bluesalbum einstellt, der wird bei den weiteren sieben Songs von „They Call Me Big Llou“ eine Überraschung erleben. Denn was Johnson mit Produzent und HarpSpieler Russ Green hier angerichtet hat, ist eine Reise durch Blues, Soul, Funk und jazzige Gefilde, in deren Zentrum diese einzigartige Stimme steht. Und thematisch geht es vor allem um eines, um Big Llou und die Frauen. In „DOGG“ lässt er mal still und heimlich sämtliche PrinceNummern aus den letzten 15 Jahren etwa als verstaubt und asexuell klingen. Funk voller Sex und Energie, den man gerne mal wieder in „normalen“ Hitparaden hören würde. „Git Me Some“ ist dann ein Anmachersong jenseits von Händchenhalten und ewiger Liebe. Llou‘s eindringliche tiefe Stimme wird mit Backgroundchören noch verführerischer ins Zentrum gestellt, während ein Groove aus New Orleans mit Harp-Loops und Mike Wheelers großartiger Gitarre den Song vorantreibt. Und „Rock Me Baby“ ist dann vollends etwas, was man mal unter die Schlagzeile: Barry White goes Blues stellen könnte. Wobei White selbst noch mit seinem Song „Your Sweetness Is My Weekness“ gewürdigt wird. Schmusesoul vom Allerfeinsten. „Flesh and Blood“ geht mit der gedämpften Trompete und dem Vibraphon dann gar in Gefilde des aktuellen Lounge-Jazz. Aber Vorsicht; Auch diese Nummer hat mehr Sexappeal als die normale Norah-Jones-Hörerin vertragen wird. „300 Pounds of Joy“ und Big Llou Johnson - They Call „Help Me“ - diese Klassiker gehen Me Big Llou dann eher wieder in die traditioAls Radiomoderator verkündet er nellern Bluessounds, wirken aber regelmäßig die „Ten Command- hier lebendig wie damals in den ments of the Blues“ auf B.B. Kings 50ern. Denn Johnson lebt die Songs Satelittenradio Bluesville. Auch spürbar. genähert. „Get Up!“ zeigt ihn gemeinsam mit Charlie Musselwhite als eindrücklicher Bluesman und Songwriter. Ich geb‘s zu, ich musste zwei Mal hinschauen: Ben Harper auf Stax Records? Anfangs schien mir das nicht die logische Lösung zu sein. Doch dann dachte ich weiter: Schon zu früheren Zeiten hatte das Label ja immer auch aktuelle Bluesproduktionen neben dem Soul aus Memphis im Programm. Ben Harper und Charlie Musselwhite hingegen ist eine Kombination, die schon vom Papier her sofort einleuchtet. Die Lieder von „Get Up!“ über das Scheitern im Alltag verlangen geradezu nach den schneidenden Harpsounds von Musselwhite. Man spürt sofort, dass die Musiker sich hervorragend ergänzen und hier keine Kollaboration in der PR-Abteilung beschlossen wurde. Erstmals hatten sie sich bei gemeinsamen Sessions mit John Lee Hooker getroffen und seither immer wieder überlegt, wie man gemeinsam Musik machen könnte. Und diese Musik geht von heftig rockenden „I Don‘t Believe A Word You Say“ über Gospel im 3/4-Takt bei „We Can‘t End This Way“ bis hin zu intimen Duetten etwa bei „You Found Another Lover (I Lost Another Friend)“. Das Album kommt rauh und ungeschliffen daher, klingt fast nach einer live im Studio zufällig mitgeschnittenen Session. Und genau das macht den größten Reiz aus: Wenn Harper im Titelsong darüber klagt, dass das Recht ihn gebrochen habe und er darum das Recht nicht mehr wirklich ernst nehmen kann, dann ist das ein Lied, dem eine gelackte Produktion die Schärfe und Aktualität nehmen würde. „Get Up!“ - eine Sammlung großartiger Songs, ein wundervolles Bluesalbum und ein Zusammentreffen zweier Musiker, ohne die der Blues heute wesentlich ärmer wäre. Raimund Nitzsche Ein von vorn bis hinten überzeugendes und großartiges Debüt, was klar macht: Blues ist so lange lebendig, so lange sich Künstler finden, die diese Musik mit Leib und Seele leben. Bei den für die BMA nominierten Debütalben kann man Big Llou Johnson und Paula Harris in diesem Ansatz gut nebeneinander stellen. Das sind wichtige Beiträge für einen Blues im 21. Jahrhunderts: Traditionsbewusst aber pulsierend vor Leben. Nathan Nörgel in Pop und sogar in die Gefilde der Beach Boys wagten sie sich mit der Hymne an die „Northern California Girls“ (inklusive des als Peach Boys bezeichneten Chores!). Die Wut auf die Verhältnisse kommt immer mal wieder durch, aber oft ist hier die Melancholie zu spüren - oder sollte es gar die Altersweisheit sein? Wie auch immer: der permanente und plötzliche Stilwechsel innerhalb von Liedern, der seit jeher zu ihnen gehört wie die Angst des Teufels vor dem Weihwasser, lässt ein Abgleiten in Resignation niemals zu. „La costa Perdida“ ist unterhaltsam im besten Sinne, es ist hörbarer für mich als viele ihrer sonstigen Alben. Und aus diesem Grund kommt es auch bei etlichen Kritikern nicht so gut weg. Kann ich nicht verstehen. (429/ Membran/Sony) Nathan Nörgel Camper Van Beethoven - La costa Perdida Die Verschmelzung der unvereinbarsten Stile gehört irgendschwie schon immer zu Camper Van Beethoven. Und so ist ihr achtes Album „La Costa Perdida“ eine nicht so überraschende Weiterentwicklung, wie das manche Fans und Kritiker so behaupten. Nur dass eben niemand von den Ex-Punks erwartet hat, dass sie ein durch und durch von der Sonne Kaliforniens durchdrungenes Werk vorlegen würden. Wie kann man als Alternativ-RockBand in Würde und Integrität altern? Der definitiv falsche Weg sind auf jeden Fall ständige Wiederholungen der alten Klischees - oder gar Tourneen, die allein auf die Vorlieben der mit einem alt gewordenen Fans abgestimmt sind. Sich musikalisch immer neu herauszufordern ist konsequent aber gefährlich, weil man ja jemanden vor den Kopf stoßen könnte. Bowie hatte - bis zu seiner letzlich vollzogenen ziemlich gloriosen Wiederauferstehung aus jahrelangem Schweigen - lange Jahre immer wieder jegliche Erwartung durchkreuzt. Selbst die von Menschen, die einfach nur gute Musik von ihm erwarteten. Camper Van Beethoven haben seit ihrer Wiedervereinigung nur selten den Weg in Plattenstudios gewählt. Und wenn sie das taten, kam jedes Mal eine Überraschung heraus. Zuletzt eine Rockoper voller Zorn auf die Zustände in Bush-Amerika. Und auch diesmal sind manche wieder schockiert. Denn plötzlich sind die Herren musikalisch ganz in ihrer kalifornischen Heimat gelandet mit Ausflügen in Country-Rock, 31 David Migden & The Dirty Words - Killing It Für die meisten Leute, die in Little Rock, Arkansas, leben, dürfte der Traum ihres Lebens vermutlich nicht sein, los zu ziehen und sich in Whitstable, Kent, im Vereinigten Königreich nieder zu lassen. Wobei hier nichts gegen Whitstaple gesagt werden soll. Aber das ist die Route, die von einem Teenager namens David Migden zurück gelegt wurde, und wir sollten froh sein, dass dies geschah. Denn nun haben wir das außerordentliche Vergnügen in Gestalt von David Migden & The Dirty Words, einer der heißesten Tipps der britschen Musikszene wenn es um schützenswerte Musikstile geht. Dies ist das zweite Album der Band, Nachfolger für „Second Hand Tatoo“, obwohl ich das, wie ich zugeben muss, verpasst habe. Nachdem ich vor einiger Zeit auf den Song „Killing It“ hingewiesen wurde, begann ich weiter zu forschen und bin froh, dass ich das tat. So, wie beschreibt man am besten den Sound für die, die die Band noch nicht gehört haben? Da sind ganz verschiedene Zutaten im Mix. Blues, Funk, Soul, Rock. Die Band selbst sagt, es handele sich um „twisted American roots“, und die wissen es vielleicht am besten. Aber egal, © wasser-prawda Platten man kann das Ganze getrost unter „Großartige Musik“ einsortieren. Los geht das Album mit dem Titelsong, einer ziemlich dreckigen Funknummer, die dich sofort ins Bild setzt. Man bekommt sofort mit, was für eine markante und großartige Stimme David hat und außerdem, dass die Dirty Words eine klasse Band ist. Mit der zweiten Nummer „The Blues“ wird das Level gehalten. für mich ein echtes Highlight mit einem ausgedehnten Gitarrensolo zum Schluss. „Old Joe“ kommt als nächstes, ein ziemlich enstpanntes und sanftes Lied mit einigen netten Bläserstellen. Und es leitet über in „Shel Silverstein“, den ersten von zwei längeren Tracks, der die Stimme Migdens in den Vordergrund stellt. Das Stück hat eine schöne Melodie und erzählt eine gute Story, wo sich das Zuhören wirklich lohnt. Und dann ist da „D.A.W.T.P.W.M?“. Um zu kapieren, worum es in dem Lied geht, muss man wirklich das Textheft zu Rate ziehen! Klar und deutlich ist hier der Einfluss von Prince zu hören mit funkigen Rhythmen, einer tollen Horn-Section und einigen extrem in die Höhe geschraubten Gesangslinien im Chorus. Als nächstes kommen wie zu „Rev. Jack Crow“, einem langsamen Lied mit einem überraschend plötzlichen Ende. Lied Nummer 7 ist vielleicht das Zentrum des ganzen Albums: mehr als sechs Minuten dauert „Heaven“. Und ich versuche gar nicht erst, dieses Lied zu beschreiben. Es ist besser, wenn jeder das für sich selbst entdeckt. Und dafür empfehle ich, das Lied mit geschlossenen Augen und Kopfhörern anzuhören. Eigentlich muss man hier die Band als Ganzes erwähnen. Joe Gibson macht mit seiner Gitarre zu jedem Zeitpunkt das Richtige, jede Note der Keyboards von Graham Mann stimmt. Die Rhythmusgruppe mit Bassist Phil Scragg und James Sedge (dr) liefern zu den verschiedenen Stimmungen des Albums immer das passende Gerüst. Und David und Graham liefern uns außerdem noch die Bläserklänge. Mit „Admiral“ macht das Album dann sogar noch einen Ausflug in Country-Gefilde - und auch der gelingt ausgesprochen nett, bevor mit „Desert Inside“ der vielleicht „bluesigste“ Song überhaupt kommt mit einem regelrechten Gospelfeeling im Refrain. Und dann leiten Bass und Schlagzeug mit einem coolen Groove den ultimativen Abrocker „I Can‘t See Her Face“ ein, einer meiner Favoriten auf diesem Album. Und dann kommt mit „The Line“ ein zärtliches Ende: Eine Hymne zum Armeschwenken mit Folk-Pop für verträumte Stunden allein in einer fast leeren Bar. Feuerzeug. Und um das Ganze zusammenzufassen: Gibt es etwas, was man hier nicht mögen könnte? Eigentlich ist was für jederemann dabei - und für jede Stimmung auch. Eine große Stimme, großartige Band und angenehme Typen. Vielleicht sollte ich doch nach Whitstable ziehen!. Dave Watkins Jake Bugg - Jake Bugg David Philips - December Wine Auf seinen Vorgänger-Album „Rooftop-Recordings“ hatte der britische Songwriter seiner Wahlheimatstadt Barcelona mit ihren Geräuschen die Background-Vocals überlassen. Auf „December Wine“ spielt er ganz alleine seine melancholischen Folksongs. Entstanden sind die Songs mit einem alten 4-Spur-Recorder von Tascam. Schon immer haben auf mich die Songs von David Philips den Eindruck gemacht, auf das Wesentliche reduziert zu sein: stille, verführerische Lieder über den Alltag in einer großen Stadt. Und eigentlich braucht es dafür nicht viel mehr als seine Stimme und die jeweilige Gitarre seiner Wahl. Wenn es danach geht, dann ist „December Wine“ regelrecht schwelgerisch produziert: Was die vier Spuren des nostalgischen TASCAM hergaben, hat Philips ausgenutzt für Rhythmus, notfalls paar Effekte und was ihm noch so alles einfiel. So entwickeln Hymnen wie „Life on the Wing“ oder der das Album eröffnende „Sailor‘s Song“ einen melancholischen Sog, dem man sich nach kurzer Zeit nicht mehr entziehen mag. „December Wine“ ist eines der Alben, die man guten Freunden weiterempfiehlt in der Hoffnung, dass so etwas Schönes irgendwann mal raus aus der Ecke der Geheimtipps kommt. Nathan Nörgel Dream Catcher - Irish Nights Der Name ist Programm. Allerdings erwartet den Hörer von „Irish Nights“ keine Nachr seliger Guinness-Drunkenheit mit Folk-Rock im Gefolge der Dubliners oder gar der Pogues sondern feinsiniger Nein, ich kann diese Band einfach nicht als „Pirates of Celtic Pop“ betrachten, wie mir das PR-Material vorschlägt. Piraten sind rauh, ruppig - vielleicht im Gefolge von Johnny Deep auch mal hemmungslos verschroben. Dream Catcher sind versponnene Träumer, keine Räuber, die ihren Raub irgendwo verstecken und nur sich selbst in ruhigen Momenten dran erfreuen. Die Band um den Luxemburger Frontman Sir John Rech (das Großherzogtum hat ihn 2011 tatsächlich zum Ritter geschlagen) singt Lieder, die eher an Songwriter wie Ezio (mit dem man auch schon zusammenarbeitete) oder den keltischen Klassizismus der Chieftains oder besser noch: eine Mixtur von beiden erinnern. Das ist (auch wenn ein Song tatsächlich „Fuck Off“ heißt) immer sehr verbindlich und freundlich, ob es sich nun um Selbstreflexionen, die verschwindenden Erinnerungen an eine Liebe oder die stille Zufriedenheit in der Stille des eigenen Baumhauses handelt. - Wenn ich etwas weniger milde gestimmt wäre als ich nach einer Stunde dieser Musik gerade bin, könnte ich mir jetzt wahrscheinlich einen Begriff wie Folk für Latte-Macchiato-Trinker und ihre Zahnarztfrauen nicht verkneifen. Aber ehrlich: selbst die haben etwas wirklich gute Musik verdient... Doch spätestens bei dem tatsächlich losrockenden „When We Were Young“ wären diese dann doch überfordert. Für Irish Nights verstärkte sich das Trio (neben Rech noch Christoph Brill - g und Wolfgang Wehner - v) noch mit den Mitgliedern der irischen Band Beoga. Und das ist eine wunderbare akustische Mixtur, wo die keltischen Wurzeln nicht freibeutermäßig geplündert sondern liebevoll in eigene Träume übersetzt werden. Oder auch in die von Ezio (30 & Confused kam mir doch gleich bekannt vor...), was aber auch passend ist. Veröffentlicht wird „Irish Nights“ am 1. März auf T3 (Vertrieb: Galileo Music Communication/Finetunes). Raimund Nitzsche 32 Grad 18 geworden und schon Kritikerliebling nicht nur im Vereinigten Königreich. Aber wer glaubt, hier wieder mal der Hype-Maschinerie der britischen Presse aufgesessen zu sein: Jake Bugg hat ein Debütalbum vorgelegt, mit dem er ziemlich jedes Lob rechtfertigt. Auf dem Singlecover zur letzten Auskopplung „Lightning Bolt“ macht er es ohne jeglichen Ironieanflug deutlich: Vorbild von Jake Bugg ist Bob Dylan. Der junge Dylan der Folkszene von New York. Und bei einem Briten muss man auch sagen: Lonnie Donnegal - denn nicht nur manchmal hört man in seinen Liedern den Widerhall der klassischen Skiffle-Zeit der 50er Jahre. Obwohl Bugg als Songwriter nur manchmal diesen reinen Folk oder Skiffle serviert. Hier kommt es auf die Haltung an. Der junge Dylan, der von seiner Mission überzeugt ist und geniale Songs quasi über nacht aus dem Handgelenk schüttelt und sich über den Zuspruch vielleicht insgeheim gewundert hat. Bugg ist für seine Jugend ein verdammt großartiger Songwriter. Nicht nur der wunderbare, das Album eröffnende „Lightning Bolt“, auch Rocker wie „Taste It“, schamlose Popsongs wie „Two Fingers“ oder Akustiknummern wie „Country Song“ kommen mit einer Selbstverständlichkeit und einer Reife daher - und gleichzeitig mit einem Selbstbewusstsein, das einen immer aufs Neue verblüfft. Das ist Musik, die hemmungslos retro ist, das sind Songs, die ganz und gar in der britischen Songwritertradition etwa von den Kinks oder Paul Weller stehen. Und man kann irgendwann nur noch die Frage stellen: Was kann man in den nächsten Jahren noch von Jake Bugg erwarten? Absolut überzeugend und niemals langweilig. Raimund Nitzsche Jake Lear - Diamonds And Stones Die Gitarre heult auf, die Rhythmen stampfen - man glaubt sich in den gleichen Schuppen versetzt, in dem Buddy Guy vor Jahren sein großartiges Album „Sweet Tea“ eingespielt © wasser-prawda Platten hat: Rauer Juke Joint Blues erwartet einen, wenn „Diamonds And Stones“ losgeht. „Strange Things“ ist eine umwerfend gute und packende Bluesnummer. Jake Lear ist ein Sänger und Gitarrist, der weder technische Mätzchen braucht noch seine Gitarre durch diverse Effekte aufpolieren muss. Direkt und ungefiltert kommt seine Strat daher. Und Roy Cunningham am Schlagzeug und Basser Carlos Arias unterstützen ihn auf „Diamonds and Stones“ bei einer Rundreise durch die Spielweisen einer Musik, die ein Kollege mangels Ideen als elektrifizierten Folkblues bezeichnet hat. Was er damit eigentlich meinte (denn die Spielweisen des akustischen Folkblues werden hier eher seltener dekliniert) ist folgendes: Lear spielt den Blues mit einer Rauhheit und Intensität, die keine Rücksicht auf Begriffe wie „Radiofreundlichkeit“ nimmt. Er spielt und singt den Blues in der Nachfolge eher von Howlin Wolf oder Hound Dog Taylor als von B.B. King. Und damit ist er - um etwas aktuellers Namedropping zu praktizieren - näher an den White Stripes oder Bob Dylans letzten Alben dran als an Joe Bonamassa oder Tommy Castro. Im Laufe des Albums dekliniert er sich durch die verschiedensten Spielweisen des elektrischen Blues, ohne jemals nur in die Nähe aufgesetzter Rockermanie zu geraten: John Lee Hooker wird mit einer stoisch dahinrollenden Version von „Jack O‘Diamonds“ gewürdigt. Düsterer Swampblues verbirgt sich hinter dem Titelsong. Und aus Junior Wells‘ „Work Work Work“ wird gar ein knochentrockener Boogie mit texanisch angehauchten Surfgitarrenklängen. Und das abschließende „Boogie Time“ ist genau das: ein zum Tanzen zwingender Gitarrenboogie mit glasklaren Linien von Lears Strat: kalt, glänzend und gut. Nathan Nörgel Jason Vivone and the Billy Bats - Lather Rinse Repeat Es geht los mit einem HookerBoogie auf der Cigar-Box-Guitar: stoisch und trocken der Groove, waidwund die Stimme von Jason Vivone. Doch wer sich jetzt auf eine ernsthafte Bluesscheibe eingerichtet hat, wird schnell eine Überraschung erleben. Denn Vivone hat einen ziemlich durchgeknallten Humor, was man an Texten wie dem zu „Baby Fat“ erkennt. Und auch sonst geht ihm und seinen Billy Bats eine gute Show immer auch über Vielfalt und Humor. Manchmal fragt man sich bei „Lather Rinse Repeat“, ob uns die Musiker bewusst durch scheinbare Kitschattacken oder auch durch eine rumpelnde Performance foppen wollen. Und schon sind wir ihnen auf den Leim gegangen. Jason Vivone mag als Vorbilder so viele bekannte Namen wie Buddy Guy, Hubert Sumlin oder Son Seals aufzählen: In seiner Performance und seinen Songs ist er nicht nur ein wenig auch von Musikern wie Captain Beefheart und Frank Zappa beeinflusst. Sein Blues ist hier mehr Show-Musik für seine Comedy-Show als von Herzen gefühlter Weltschmerz. Und wenn er dann über die Schiffe bei der ersten Reise von Columbus oder flüssige (alkoholreiche) Diätpläne singt, dann ist das lustig bis zum Abwinken. Und unterhaltsamer als die meisten der Songs, die mit „Woke Up This Morning“ losgehen. Aber jeden Tag kann ich soviel Spaß nicht ertragen. Aber ich lese auch nicht täglich Mark Twain. Nathan Nörgel Der Romantiker in mir ist spontan begeistert: Dieses Schmelz, diese eingängigen Melodien, diese Stimme eines für den Posten Schwiegermutters Liebling des Jahres prädestinierten Sängers: Hach, tut das gut, sich einfach fallen zu lassen in wohlig perfekte Popsongs mit gehörigem Soulgroove! Willkommen im Kreise von Musikern wie Eli „Paperboy“ Reed, Mayer Hawthorne und anderen. Der Krtiker fragt natürlich: Passiert hier - selbst im Kontext einer eng begrenzten Retro-Szene - etwas, was unerhört wäre, etwas aufregend Neues? Nein - überhaupt nicht. Jesse Dee schreibt nette kleine Songs über Alltagsgeschichten, verpackt sie in herzerwärmende Melodien, packt Gitarren und Bläserriffs dazu, Chöre und was ihm noch so alles einfällt: Das Ergebnis ist in jedem Fall erfreulich und gut - aber wirklich nicht neu. Aber was soll‘s? Ein Kollege meinte letztens bei einem anderen Album: Manchmal sollte man einfach mehr dem Herzen folgen und weniger dem analytischen Verstand. Und das Herz meint: Prima, ich liebe dieses Album! Ich will endlich mal wieder Popsongs hören, denen man nicht die Fließbandfertigung im Computer anhört, die noch in Handarbeit von echten Musikern gespielt werden und die ein Niveau haben, dass in den Hitparaden seit Jahren viel zu selten vorkommt. (Alligator/in-akustik) Nathan Nörgel Bücher. Aber eigentlich ist Kinky Friedman noch immer so ziemlich der coolste Country-Songwriter nicht nur im großartigen Staate Texas. Bevor er bald für ein paar Konzerte mal wieder in Europa gastiert, hat er ein Live-Album auf den Markt geworfen. Ein Mann mit seiner Gitarre und einem Haufen Lieder, die man schon aller irgendwann mal gehört zu haben glaubt. Zwischendurch trockene Bemerkungen über die Hintergründe der Geschichten, über Politik und Willie Nelson und Alkohol. Die Zuhörer glauben in einer Comedy-Show zu sein. Doch eigentlich passiert hier etwas anderes: Hier ist ein alt aber nicht verbittert gewordener Barde zu erleben, der sich endlich wieder darauf besonnen hat, was er am besten kann: Geschichten erzählen, hinter deren zynischem Humor schmerzende Wahrheiten verborgen sind. Kinky Friedman ist zurück - und er hat ähnlich wie Bob Dylan einige der gut abgehangenen Gassenhauer wie „Waitret, Please, Waitret“ oder „Get Your Biscuits In The Oven“ mitgebracht und aktualisiert. Denn so viel hat sich die Welt nicht geändert seit er mit Dylan durch die Lande zog und mit seinen Texas Jewboys Rednecks und Feministinnen gleichermaßen erboste. Zwischendurch gibt es dann lyrische Kostbarkeiten wie das Levon Helm gewidmete „Autograph“ oder eine Lesung aus Friedmans Buch über seine texanischen Helden. Ausgewählt hat er dafür eine Geschichte über seinen Vater unter dem Titel „Tom Friedman The Navigator“. Und als Fazit bleibt dann nur ein Lied wie „Sold American“ - das ist das Fazit über die USA, wie es nur dieser Jude aus Texas ziehen kann. Oh was gäbe ich darum, wenn es mehr solcher Songwriter gäbe, die so gültig und gleichzeitig unendlich witzig und unterhaltsam die Gegenwart auf den Punkt bringen könnten! Raimund Nitzsche Jesse Dee - On My Mind, In My Heart Von Alligator Records hätte man dieses Album eigentlich nicht erwartet: „On My Mind, In My Heart“ des Bostoner Songwriters Jesse Dee ist feinster Retro-Soul-Pop. Und auch wenn das eigentlich nicht zum Motto des Labels passt: Dieses Album ist eine große Empfehlung für die immer weiter wachsende Gemeinde neuer Soulsongs im Sound der 60er und 70er. Kinky Friedman - Bi-PolarTour live from Woodstock Demnächst will er zum zweiten Mal für den Gouverneursposten in Texas kandidieren. Daneben vertreibt er Zigarren, Tequilla und GourmetKaffee übers Internet oder schreibt 33 Kris Kristofferson - Feeling Mortal Er ist 76 Jahre alt und denkt ohne Reue und Selbstmitleid über das Alter, das Leben und über den Tod nach. „Feeling Mortal“ ist seit 2006 das dritte von Don Was produzierte © wasser-prawda Platten Album von Kris Kristofferson. Und in seiner Intensität kommt es schon fast an die letzten Alben von Johnny Cash heran. In seiner Jugend habe er so ziemlich alles getan, um zeitig zu sterben, erinnert sich Kristofferson. Aber weder Suff noch Motorradunfälle oder was ihm noch immer einfiel, brachte ihn um. Jetzt ist er tatsächlich ein alter Mann, kein best-ager, kein Silver-Surfer oder welche Begriffe die Industrie auch immer in die Debatte werfen mag: Er weiß - und wir hören es: Er ist ein alter Mann. Die Kraft mag schwinden, doch die Erinnerungen sind da, die Erinnerung an ein voller Kraft und Exzess gelebtes Leben. Und jetzt diese Einsicht: Es ist Zeit, Rückschau zu halten, ein Resüme zu ziehen, Und dazu gehört nicht nur, dass man sich neu mit diesem Gesicht anfreundet, was einem aus dem Spiegel entgegenblickt und einem das Selbstbewusstsein erschüttert. Auch ist das der Punkt, wo man andern deutlich macht: Das ist mein Leben, das waren meine Entscheidungen - und Du hast einfach kein Recht drauf, mir vorzuschreiben, was ich tun und lassen soll. Auch wenn der Stairway nicht mehr wie damals hoch in den Himmel zu gehen scheint sondern eher ganz nach unten in den Keller: Auch das sind Fakten, mit denen man sich arrangieren muss. Nein, das ist kein bequemes Album. Weder für den Sänger (so vermute ich mal als Hörer) - noch für die Hörer: Einer Lebensbilanz zuzuhören, die so ehrlich und direkt daherkommt, das kann weh tun. Aber das ist es, was „Feeling Mortal“ aus der Vielzahl von Country-Alben heraushebt, die ich nach kurzem Hören wieder beiseite lege. Das hier ist eines dieser Alben, die einen lange begleiten können, die einem beim Nachdenken über Gott und die Welt eher helfen können als noch so perfekt jubilierende Popmelodien aus dem Reich der scheinbar ewigen Jugend. Raimund Nitzsche voller Kneipenpoesie: „Leo Hull ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Lasst uns einfach ne Party feiern, das Leben mag zeitweise hart erträglich sein. Aber jetzt hier und heute sitzen wir hier am Tresen, das Bier ist kalt und die Musik lädt zum Tanzen ein. Und wenn man sich dann doch nicht traut, lauscht man eben den Geschichten, die der Sänger erzählt vom Leben auf den Nebenstraßen des Lebens. Von den geplatzten Träumen der Möchtegernschauspielerin, die jetzt ihr Geld auf dem Rücksitz von Autos verdient, von der „Red Hot Mama“, die man erstmal herunterkühlen muss, bevor man sich ihr nähern kann. Oder von den Liebesschwüren der Frau, die ihn einlädt nach Hause und Frühstück mit Mama verspricht. Was bei ihm den Reflex auslöst, doch lieber das Weite zu suchen. Und überhaupt die Frauen: mit Gitarren und mit Whiskey ist es einfacher. Man hört sofort die falschen Töne. Und man weiß, warum es einem schlecht geht. Leo Hull, im Untertitel seines jetzigen vierten Albums als „The Texas Blues Machine“ angekündigt, erzählt viele solcher Geschichten und serviert sie mit Blues, mit Country, mit Boogie - und vor allem mit viel Liebe. Nein, er macht sich nicht lustig über die gescheiterten Existenzen. Er fühlt sich ihnen nahe und setzt ihnen in den Liedern Denkmale. „Bootleggin‘ The Blues“ ist für Bluesfans, die auch Gedichte von Bukowski lieben. Raimund Nitzsche Lucky Peterson Band - Live At The 55 Arts Club Berlin Eine Bluesshow zwischen Chicago und Soul, zwischen Funk und purer Spielfreude: Im Berliner 55 Arts Club hat Lucky Peterson sein erstes offizielles Live-Album eingespielt. Unterstützt wurde er dabei unter anderem von seiner Frau Tamara als Sängerin. Ein Live-Album wie geschaffen für das Lehrbuch: Eine mitreißende Show von Anfang bis Ende, mit klaren Spannungsbögen und wenig Zeit, in der der Hörer zum NachLeo Hull - Bootleggin‘ The Blues denken und Reflektieren kommen Musik zwischen bluesigem Country könnte. Und eine Stilvielfalt, die und rauhem Texas-Blues mit Texten niemals Ermüdung aufkommen lässt: Lucky Peterson ist ein Bluesmaster im wahrsten Sinne des Wortes: Einer, der das Publikum von der ersten Note an einbezieht, der seinen Blues auf sie überträgt und sie zum Teil einer Gemeinschaft macht.Dass er sowohl als Gitarrist wie auch als Hammond-Organist herausragend ist, das ist seit Jahrzehnten kein Geheimnis mehr. Und auf dem sowohl als Doppel-CD wie auch als LuxusEdition mit drei DVDs zusätzlich veröffentlichten Album zelebriert er beides in ausladender Weise: Ob er in Medleys die gesamte Bluesgeschichte Revue passieren lässt, ob er Klassiker des Chicagoblues wie „Little Red oder eigene Songs aus der Zeit seines Albums „I‘m Ready“ aus den 90er Jahren spielt: Das ist ein Konzert wie aus einem Guss. Seine Band liefert gewaltigen Druck und legt mitreißende Grooves zwischen Funk und Juke Joint Blues. Wenn dann noch Tamara Peterson als Sängerin die Bühne betritt, dann wird die Spannung noch spürbarer. In Stücken wie „How Do I, Why Do I“ fühlt man die Liebe zu ihrem Mann. In „Been So Long“ gibt es ein mitreißendes Duett zwischen beiden. Und in ihrer gemeinsamen Fassung von Prince‘s „Kiss“ wird dessen Funk auf die Ebene des rauhen, elektrifizierten Country-Blues geholt. Und Petersons Gitarre liefert dazu Linien von rauher Schönheit. „Live At The 55 Arts Club Berlin“ ist ein großartiges Live-Album. Wer sollte das 2013 noch toppen können? Ich lasse mich gerne überraschen. Nathan Nörgel Matty Powell - Kiss The City Der kanadische Songwriter Matty Powell hat mit „Kiss The City“ ein Album veröffentlicht, dass so richtig danach verlangt, an leisen Abenden einem ein verträumtes Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Die ruhigen und melancholischen Songs singen von idealen Zeiten - ob mit der Geliebten unten am Bach im Wald oder mit der Zigarette allein beim Zaubern von Rauchringen. Manchmal taucht aus den Gitarrenlinien etwas spanisches Temperament auf. Oder man wähnt sich mit Matty gemeinsam irgendwo in einem 34 Western von John Wayne gelandet zu sein. Nein: Matty Powell macht keine Revolution mit seiner Musik, er bringt einen auch nicht zu wilden Tänzen um den Couchtisch. Aber es ist schön, den Abend allein mit einem Lächeln zu beenden und nicht mit Traurigkeit. Nathan Nörgel Max Raabe - Für Frauen ist das kein Problem Nachdem „Küssen kann man nicht alleine“ so ein großer Erfolg war, lag eine erneute Zusammenarbeit zwischen Max Raabe und Annette Humpe auf der Hand. „Für Frauen ist das kein Problem“ ist in seinen melancholischeren Momenten ein würdiger Nachfolger. „Ich bin nur gut wenn keiner guckt“ oder „Als ich dich wollte“ sind wunderbar, traurig und voller Humor und Augenzwinkern. Doch leider finden sich bei den dreizehn Liedern zu viele, denen der typisch vreschmizte Charme Raabes fehlt und die zu sehr in Richtung ZDFFernsehgarten oder Schlagerradio schielen. Den Stücken fehlt das gewisse Etwas, dass Raabes Lieder mit dem Schlager der 20er bis 40er Jahre verbindet. Und das ist ebenso schade wie die breiten Streicherteppiche nerven. Noch dazu klingen sie oft nach synthetischen Konserven. Gebt mir das Palastorchester zu Liedern wie „Ist doch nur ein Gefühl“ oder „Kleine Lügen“ und ich urteile wahrscheinlich ganz anders... Aber so: Es bleibt eine gewaltige Enttäuschung zurück, die auch die guten Lieder nicht aufwiegen können. Nathan Nörgel Mockingbird Hill - One Horse Town Das Cover von „One Horse Town“ mag anmutend wie aus einem Gothic-Western in einer Geisterstadt. Doch das Debüt des Studioprojekts Mockingbird Hill spielt sich höchst lebendig ab zwischen CountryBlues, Jazz und heftig rockenden Nummern. Songwriter Andy Littlewood hat hierfür eine große Zahl befreundeter Musiker aus England und Schottland versammelt. © wasser-prawda Platten bis zum letzten der Blues aus vollem Herzen zelebriert. „One Horse Town“ ist eine angenehme Neuentdeckung aus Großbritannien - empfehlenswert! Nathan Nörgel Manche Alben sind wie eine Einladung zu einer Entdeckungsreise. Da kann es planmäßig in Richtung eines Ziels gehen etwa auf der Suche nach dem perfekten Popsong oder dem ultimativen Bluessound. Andere dieser Expeditionen - und hier gehört „One Horse Town“ hin - ähneln einem neugierigen Kreuzzug quer durch bekannte und unbekannte Gegenden. Und was man unterwegs findet, wird in entsprechenden Songs festgehalten und als Reiseandenken aufbewahrt. Andy Littlewood ist ein Songwriter, der sich hörbar in den verschiedensten Stilen wohlfühlt und sich entsprechend nicht wirklich festlegen lassen will. Ob er mit Train a Comin einen weiteren Beitrag für die unendliche Sammlung von TrainSongs im Blues (mit Harp in diesem Fall) liefert, Reminiszenzen an Old School Rocker wie Thin Lizzy in „Son Of A Gun“ loslässt oder gar poppigen Jazz für den Fahrstuhl ihrer Wahl („Lady Sings The Blues“ - für mich trotz der wundervollen Stimme von Sängerin Malaya einer der schwächsten Songs) serviert: all dass ist - auch wenn man es manchmal kaum glauben möchte - von einem Menschen geschrieben. Hier merkt man, dass er als Sonschreiber für so unterschiedliche „Kunden“ wie Maxi Priest, Starship, Keathy Sledge oder für diverse Filme gearbeitet hat. Man mag jetzt einwenden, dass so eine an Beliebigkeit grenzende Vielfalt einem Album selten gut tut, aber zumeist sind Littlewoods Songs gut bis großartig. Nehmen wir etwa die mehr als sechs Minuten lange Klage über die Schwierigkeiten, vom Alkohol los zu kommen („My Friend Is The Bottle“): das ist auf den Punkt eindrücklich und gemeinsam mit dem schottischen Gitarristen und Sänger Michael John McElligott quälend intensiv serviert. Bluesrock a la carte! Oder die Streifzüge zwischen die Ursprungsregionen des Blues zwischen Louisiana (In The Name of the Blues), dem Mississippi-Delta oder einem zeitgenössischen Bluesclub (Perfect Stranger): hier wird nicht gepost oder vordergründig auf Applaus geschielt sondern intensiv Murali Coryell - Live Sein Vater Larry genießt als Jazz-Gitarrist Weltruhm. Doch Murali Coryell hat sich schon früh für Blues und Bluesrock entschieden. Seine Gitarre klingt wahlweise funky wie zu besten Stax-Zeiten, rockt wie es für einen Texaner angemessen ist oder singt wie eine Hommage an Jimi Hendrix. Zwei Konzerte aus den Jahren 2012 und 2010 hat er auf der CD/DVD-Kombination „Live“ zusammengefasst und beim eigenen Label Shake-It-Sugar-Records veröffentlicht. Der Opener ist das Motto, was über dem Auftritt im Club Helsinki in Hudson (New York) Ende Juli 2012 stand: „In The Room With Jimi“. Auch wenn Murali Coryell bei weitem keiner dieser zahllosen Hendrix-Kopisten ist - als großes Vorbild steht er doch immer irgendwie mit im Raum, wenn heute jemand Blues auf der E-Gitarre spielt. Keiner hat deutlicher vorgelebt, wie man dieses Instrument mit allen seinen technischen und technologischen Möglichkeiten und Begrenzungen für seine Kunst nutzen kann. Mit Jimi im Raum sind bei Murali aber immer auch andere musikalische Heroen: Marvin Gaye oder Sam Cooke als Soul-Prediger, aber auch Zeitgenossen wie der mit ihm befreundete Joe Louis Walker. So sind die elf Songs, die Murali mit seiner Band (Dorian Randolph - dr,voc; Vince Leggiere - b; Bill Foster -g; Stacey Waterous - sax,voc; Cameron Melville - org) dem Publikum serviert eine Fusion aus all diesen großen Vorbildern unter dem großen Label „Blues“. Blues mit jeder Menge Soul, mit rockigen Ausbrüchen und lyrischen Meditationen. Seine Gitarre geht flexibel auf die Stilwechsel ein, ohne ihren prägnanten Ton jemals zu verleugnen. Das, liebe Gemeinde, nennt man; ein meisterhaftes Blueskonzert von einem Gitarristen, der mit Walker, Tommy Castro oder anderen hochgepriesenen Helden der Bluesgegenwart locker auf einer Stufe spielen kann. Nur dass ihn außerhalb New Yorks noch viel zu wenige Menschen kennen. Und wenn dann höchstens von dem gemeinsam mit Vater und Bruder für Chesky Records eingespielten Akustikalbum. Aber das ist eher ein - sehr schönes, zugegebenermaßen - Nebenprojekt. Murali Coryell‘s eigentliches Metier ist der elektrische Blues, das Spiel mit Jimi und all den anderen Helden als Zeugen im Raum. Wenn heutzutage oftmals LiveAlben gleichzeitig auch als DVD beigelegt werden, dann ist das eine nette Entwicklung, die mir eigentlich nicht so wichtig ist. Ich nehme auch ein Konzert mehr mit den Ohren als mit den Augen wahr. Hier aber entgeht einem etwas, wenn man die DVD nicht einlegt. Denn darauf ist ein ganz anderes Konzert mit einer fast komplett anderen Liste von Songs. Gefilmt wurde Coryell‘s Auftritt beim The Roots & Blues Festival 2010 in Salmon Arm (BC). Auch hier gilt obiges Fazit wer nicht zuhört und das Staunen lernt, der braucht wahrscheinlich einen guten Hörgeräteakustiker. Das kann dann entweder am Alter liegen oder daran, dass man zu häufig lärmenden Zeitgenossen wie Joe Bonamassa zugehört hat. Wer allerdings in den Genuss dieser Zugabe kommen will, kommt um einen sündhaften Preis von um die vierzig Euro nicht herum - beim Download der Albums als mp3 bekommt man nur das erste der Konzerte geliefert. Nathan Nörgel Und wenn man zynisch sein will, dann nickt man mit dem Kopf: Vergiss diese Romantik, lass Dir bloß nicht vorspielen, hier könnte man einem Menschen begegnen in Liedern - nein, man begegnet einem Sänger, einem Künstler, jemandem, der mit seiner Musik vor allem gehört werden will und der Geld braucht, um Rechnungen zu bezahlen. Ob das mit persönlichen oder geheuchelten Statements passiert: Völlig egal! - Kunze hätte das über diese Sammlung von so wunderbar einprägsamen und freundlich dahin perlenden Liedern geschrieben haben können. Diese Sängerin ist gefährlich, wenn Du anfällig bist für Romantik. Sie nimmt Dich gefangen in einer Welt, wo scheinbar das Gute gewinnen kann. Sie bezirzt Dich mit Meldodien, die einen mal an die junge Joan Baez, mal an Rebecca Pidgeon oder eine zur FolkGöre bekehrte Björk erinnern. Sie ist gefährlich. Hör ihr nicht zu. Und jetzt das Ganze nochmal aus der Sicht des hoffnungslosen Romantikers: „Sudden Elevation“ ist ein Album voller wundervoller Songs, in denen man sich verlieren kann. Ólöf Arnalds hat einen Zyklus irgendwo in einem Haus in der isländischen Wildnis aufgenommen, das einem im naßgraukalten Februar den aufgesetzten Humor zu vieler Faschingssendungen auf den Ohren bläst mit einer Sanftheit, die unerträglich wohltuend ist. (One Little Indian/Rough Trade) Nathan Nörgel Petra Haden - Petra Goes To The Movies Ólöf Arnalds - Sudden Eleva- Man sollte mal wieder ins Kino gehen... Wenn Sängerin Petra Haden tion Heiter bis melancholisch, immer zwischen mädchenhaft-verspielt und von einer freundlichen Weisheit getragen sind diese Folksongs: „Sudden Elevation“ von der isländischen Songwriterin Ólöf Arnalds ist ein Fest für Freunde traumhafter Songlandschaften. „Glaubt keinem Sänger“, verkündete Heinz Rudolf Kunze in den 80ern. Glaubt ihnen nicht - diese Lieder, die einen in seiner eigenen Sehnsucht und Melancholie abholen, die sind zutiefst geheuchelt. 35 mit ihrem neuen Album nur diesen Wunsch im Hörer entstehen lassen würde, hätte sie wohl ihr Ziel schon erreicht. „Petra Goes To The Movies“ schließt an Hadens 2005 erschienene Version des Albums „The Who Sell Out“ und liefert 16 Filmmelodien in (fast) reinen a-capellaInterpretationen zwischen Kunst und derbem Spaß. In der wundervoll kitschigen Romantic Comedy „The Holiday“ („Liebe braucht keine Ferien“) gibt es eine großartige Szene, die die © wasser-prawda Platten Ausgegr aben & Wiedergehört Jimmy „Preacher“ Ellis - The Story of Jimmy „Preacher“ Ellis 1963-1972 Für die Reihe „The Story of“ auf seinem Label Tramp Records hat Tobias Kirmayer diesmal den Sänger und Gitarristen Jimmy „Preacher“ Ellis ausgegraben. Grundlage des Albums sind die Singles, die dieser zwischen 1963 und 1972 veröffentlicht hat und die hier erstmals auf LP und CD erhältlich sind. Auch 2013 kann man sich darauf verlassen, dass Tramp Records einen wieder mit erstaunlichen Platten aus den unglaublichsten Ecken von Soul und Funk überrascht. Den Anfang macht die Retrospektive über den 1935 in Foreman, Arkansas, geborenen Jimmy „Preacher“ Ellis, der seit Anfang der 60er Jahre als Solist aktiv war. An den 18 Stücken, die Tobias Kirmayer auf verstreut veröffentlichten Singles gefunden hat, kann man fast exemplarisch die Entwicklung der Soulmusik bis in die Disco-Zeit nachverfolgen. Wobei Ellis schon bei den frühen Aufnahmen wie dem Opener „Since I Fell For You“ oder dem 1965 veröffentlichten „Go Head On“ eine Liebe zum knochentrockenen Funk offenbart. Letzteres zitiert nicht nur versteckt das im gleichen Jahr veröffentlichte „I Feel Good“ von James Brown. Doch Ellis nimmt nicht nur vom Godfather Anregungen auf, auch die Szene von Memphis um King Curtis ist Vorbild etwa in „Put A Hoe To My Row“. Und ab hier ist - auch wenn in den 70ern die Instrumentalbegleitungen weicher und jazziger werden - der Rhythmus ganz klar und heftig der des Funk. Und auch thematisch bewegte sich Ellis zwischen Liebeswerben und politischem Aufschrei ganz im Zentrum der farbigen Musik seiner Zeit. Wobei er seinen Spitznamen sich nicht zu Unrecht verdient hat: Als Sänger ist er zuweilen wirklich auf der Kanzel, wirbt um Glauben und ein Hallelujah von der Gemeinde. Wenn es auch nur die Gemeinde der erschöpft im Club tanzenden Brüder und Schwestern war. Auch diese Ausgabe von „The Story Of“ ist wieder ein Pflichtkauf für jeden, der sich ernsthaft für Soul und Funk interessiert. Hier sind Songs, die kein bisschen verstaubt klingen, die deutlich machen, wo all die großen Ideen herkommen, die heutzutage Label wie Daptone neu auf den Markt werfen. Interessieren würde mich allerdings, wie Jimmy „Preacher“ Ellis heute klingt. Denn wenn man nach dem Internet geht, dann ist er noch immer musikalisch aktiv in Texas. Vielleicht bringt Tramp ja demnächst mal ein Album mit neuen Stücken von ihm auf den Markt? Raimund Nitzsche Johnny Ace - Ace‘s Wild! „The Complete Solo Sides and Sessions“ verspricht die Doppel-CD, die 2012 60 Jahre nach der ersten Single des Sängers und Pianisten veröffentlicht wurde. Wenn man heute vom Memphisblues der Nachkriegszeit spricht, dann denkt man meist fast nur noch an B.B. King, Rufus Thomas und Bobby Blue Bland. Doch zu den „Beale Streeters“ gehörte in den frühen 50er Jahren unbedingt noch Johnny Ace hinzu, der vor allem mit seinen sehnsuchtsvollen Balladen zum absoluten Mädchenschwarm wurde und seine Stücke in die Pophitparaden hieven konnte. Als er mit 25 Jahren in einer Konzertpause durch einen selbst beigebrachten Kopfschuss starb (ob nun durch einen blöden Unfall oder durch Russisch Roulette ist letztlich egal aber noch immer umstritten), war eine kurze Karrier vorbei und die Musikwelt um eine Legende reicher. Diese Story kennt man noch heute - doch dass Ace nicht nur als Balladensänger und Songwriter sondern vor allem auch als Pianist des Rhythm & Blues entscheidende Bedeutung hatte, ist halbwegs vergessen. Hier ist „Ace‘s Wild“ eine hochwillkommene Geschichtsstunde. Allerdings sollte man - wenn man chronlogisch vorgehen will - mit CD 2 anfangen, auf der Ace als Pianist bei Aufnahmen von B.B. King Anfang 1952 ebenso zu hören ist wie bei Stücken von Bobby Bland und Earl Forest: Hier hat man die ganze als Beale Streater oder Beal Street Boys in den Büchern stehende Band, die elegant swingenden Großstadtblues spielte in einer Zeit, als in Chicago im Gefolge von Muddy Waters mal wieder die Wurzeln des Deltas in den Vordergrund rückten. Doch nicht nur B.B. King und Bobby Bland waren damit vor allem bei den weiblichen Plattenkäufern und Jukebox-Tänzern erfolgreich. Schon die erste Single von Johnny Ace „My Song“ war für Wochen auf Platz 1 der Charts und das Lied wurde von zahlreichen Kolleginnen und Kollegen nachgesungen. Ace war ein Star - und mit weiteren Hitparadenerfolgen und ständigen Tourneen führte das letztlich auch zu seinem unsinnigen Tod. Am glücklichsten war er normalerweise im Hintergrund der Bühne am Klavier - das Rampenlicht überließ er gerne den anderen. 49 Songs hat man zusammengetragen. Für eine Karriere, die nur von 1953 bis 1955 dauerte eine große Zahl. Und auch wenn die eigenen Singles von Ace dem Balladenfach zugehören: Bei King, Bland und Forest lässt er am Piano auch ordentlich Dampf ab. Außerdem wurden als Bonus noch Stücke anderer Musiker aufgenommen, mit denen sie auf seinen sinnlosen Tod reagierten. Das geht von „Johnny Ace‘s Last Letter“ (hier in zwei Versionen von Frankie Ervin und Johnny Fuller) bis hin zu „Johnny‘s Stil Singing“ von The Five Wings. Ergänzt wird das Paket noch durch ein sehr informatives Booklet, das unter anderem auch die nötigen disographischen Angaben und die Besetzungen der einzelnen Sessions beinhaltet. Damit ist „Ace‘s Wild“ eine willkommene Ergänzung der Sammlung zum Blues und Rhythm & Blues der 50er Jahre. Raimund Nitzsche Slam Allen - This World! Immer mal wieder stößt man auf Alben, die schon vor einigen Jahren veröffentlicht wurden, aber völlig zu Unrecht nicht wahrgenommen werden. Wie etwa der famose SoulBlues, den Slam Allen schon 2010 auf seinem Album „This World“ gepackt hatte. 36 Als Bandleader, Sänger, Gitarrist und Songwriter für James Cotton hat Slam Allen in den letzten Jahren weltweit gespielt, wurde gar für seine Mitwirkung am Album „Giant“ für einen Grammy nominiert. Und die Kritiker, die Konzerte des Harpmeisters besprachen, waren fasziniert von der Fähigkeit Allens, jedes Publikum in kürzester Zeit zu gewinnen mit seiner mal an B.B. King, dann wieder an T-Bone-Walker erinnernde lyrische E-Gitarre, Was meist verschwiegen wurde, ist die Tatsache, dass vor den zehn Jahren bei Cotton Allen schon jahrelang unter eigenem Namen aktiv war und fünf Alben veröffentlicht hatte. Dass er sich dafür entschied, nach „Giant“ wieder alleine zu arbeiten, beweist dennoch Mut. Nichts erinnert bei „This World“ an den neoklassischen ChicagoBlues. Von der ersten Note an fühlt man sich zurückversetzt in die Zeit des Memphis-Soul a la Stax und Konsorten. Dazu passt Allens Gitarre ebenso wie seine Stimme, die manchmal nicht nur ein wenig an Otis Redding erinnert. Und auch Allens Songs (acht der zehn Stücke stammen aus seiner Feder) sind teils verführerischer, teils rhythmisch antreibender Soul, mit dem man die Zuhörer unwillkürlich aus den Sitzen und auf die Tanzfläche treibt. Das geht schon bei dem Funk des Openers „Last One To Know“ los: federne Rhythmen, eine singende Gitarre und ein predigender Sänger, der sich beklagt, dass man über die guten Dinge im Leben der Partnerin immer als letzter unterrichtet wird. In „I Know You Got a Man“ gibt er den Ehebrecher in spe ohne Angst davor, leicht schmierig zu wirken. Von den zwei Coverversionen ist eine schon fast Pflicht: „Let The Good Times Roll“. Überraschend und vor allem ungeheuer anrührend, wie Allen sich Tracy Chapmans „Baby Can I Hold You Tonight“ zu eigen macht. Zwischen routiniertem Showman und intimen Bluescrooner - Slam Allen zeigt auf „This World“ seine ganze Bandbreite - großartig! © wasser-prawda Platten Verbindung zwischen Filmbildern und der Musik in der Erinnerung auf den Punkt bringt: Jack Black als leicht verliebter Filmkomponist streift durch eine Videothek und singt zu den scheinbar wahllos aus dem Regal gegriffenen Filmen die Musikthemen: Schon sieht man vor dem inneren Auge den Weißen Hai bedrohlich durch die Wellen gleiten oder erinnert sich an Filmbilder mit Dustin Hoffman in der „Reifeprüfung“. Ein Mann - eine Stimme und schon sind die Bilder da. Petra Haden (Tochter des genialen JazzBassisten Charlie) hat das Konzept im Studio aufgebohrt: Allein mit ihrer Stimme (in kunstvollen Arrangements) erweckt sie Filme zwischen „Psycho“, „Superman“, „Taxi Driver“ und „The Social Network“ neu vor dem inneren Auge. Es ist eigentlich unbeschreiblich, wie sie die komplexen Orchesterarrangements zerlegt und allein mit ihrer Stimme neu zusammensetzt und damit dem Original noch ihr eigenes Erleben der Filme beimischt. Und das ist oftmals so intensiv wie die Originalkomposition. Wenn sie etwa den drohend pulsierenden Sound von „Psycho“ singt, dann wird die Duschszene gleich nochmals so bedrohlich: Hier sind keine akademisch-gebildeten Streicher zu hören, sondern lebendige atmende Stimmen. Nein - zum Glück bin ich nicht im Bad, sondern im geschützten Raum vor dem Schreibtisch. Und John Williams „Superman“Thema bleibt der Glorienschein erhalten - aber gleichzeitig merkt man eben hier die menschliche Liebe zum fliegenden Mann aus Stahl. Und dafür braucht es keine Fanfaren. Manchmal allerdings reizen die Neuinterpretationen zum Lachen: Da singt sie - ganz die bewundernde Schülerin der großen Shirley - „Goldfinger“ voller Sex und Grandezza. Doch ihre Version der Orchesterbegleitung von John Barry macht klar, wie überdreht diese Heldenschmonzette eigentlich ist. Nur bei einigen Stücken wird das a capella-Konzept aufgebrochen. Etwa wenn Haden „Calling You“ aus „Out Of Rosenheim“ singt, dann passt zu ihrer sehnsuchtsvollen Stimme wundervoll Brad Mehltaus sanftes Piano. Und Bill Frisell steuert seine Gitarre zu „It Might Be You“, der Liebesschnulze aus „Tootsie“ und „This Is Not America“ („The Falcon and the Snowman“) bei. Und hier spielt dann selbst Papa Charlie mit und lässt seinen Bass singen während Tochter Petra David Bowie stolz machen dürfte. Faszinierend ist das mindeste, was man zu diesem Album sagen muss. Unterhaltsam ist es ebenfalls, auch irritierend und über weite Strecken traumhaft schön und voller Romantik, wie man sie leider oft nur im Kino noch erleben kann. (Anti-) Raimund Nitzsche ohne Unterstützung nicht aufbleiben wollen. Und auch das plötzlich lospolternde Riff-Gewitter von „Mississippi Queen“ ist eindeutig nicht von schlechten Eltern - wenn auch schon ein Fall für die Bluespolizei, die hier ja sicherlich mitliest. Selbst Ausflüge in jazzig-swingende Nummern hat die Band um die beiden Gitarristen Rusty und Laurie Wright neben dem erwähnten AC/DC-Cover noch mehr zu bieten: „Handyman“ ist einfach klasse. Und jetzt ist Schluss mit Schreiben - Hören ist besser als Lesen! Nathan Nörgel Red Fox Bluesband - Come On everybody Swingender Jumpblues, ein wenig Blues aus Texas oder Louisiana, ab und an etwas Jazz in der Mixtur die Red Fox Bluesband präsentiert auf ihrem aktuellen Album die ganze Bandbreite ihres Repertoires. Und das macht gute Laune und reizt zum Tanzen. Was ja auch das erklärte Ziel der Bremer Band um Sänger/Bluesharp-Spieler Torsten „Red Fox“ Rolfs ist. Unter den 14 Stücken des Albums finden sich leider nur 1,5 eigene Lieder. Doch die passen hervorragend zum Rest, der zwischen TBone Walker und Sonny Landreth, Memphis Slim und Tom Waits ein weites musikalisches Feld abdecken. Erhältlich ist „Come On Everybody“ über die Band direkt bzw. bei Amazon. Nathan Nörgel „Sir“ Oliver Mally - Strong Believer Reduziert auf das Eigentliche kommt „Strong Believer“ daher. Der Österreicher „Sir“ Oliver Mally präsentiert den Blues so direkt wie nur möglich: Ein Mann mit seiner Stimme, eine Gitarre (nur bei vier Titeln kommt eine zweite hinzu) und dazu die passenden Geschichten. Aufgenommen live und mono, ohne irgendwelche sonstigen Spielereien. Ok, ich geb mich geschlagen und behaupte jetzt ganz ungeschützt: Irgendjemand hat entweder Österreich heimlich an den Staat Mississippi angegliedert oder zumindest eine gehörige Portion Mississippiwasser samt zugehörigem Schlamm ins Trinkwasser der Österreicher gemixt. Ansonsten kann ich mir nicht erklären, wie ein Alpenländer wie Oliver Mally solch gültige und gänsehautproduzierende Lieder wie „Devils Child“ hinbekommt. Ich bin ja immer mehr als skeptisch, Rusty Wright Band - This, was die Lobesarien besonders der That & The Other Thing Nein, ein Album, das mit einer deutschsprachigen Presse angeht. swingenden Jump-Blues-Fassung In Bezug auf „Strong Beliver“ feivon „Whole Lotta Rosie“ beginnt erte man etwa Mally nicht nur als kann nicht ganz schlecht sein. „This den besten Bluessänger des LanThat & The Other Thing“ von der des. Nein - man warf fast inflatioRusty Wright Band ist sogar richtig när mit Begriffen wie „authentisch“ gut mit seiner Mixtur aus moder- um sich. Einer ging sogar so weit, nem Blues und gut abgehangenen den in Österreich lebenden Hans Einflüssen aus Southern und Jam- Theesink ihm gegenüber als Poser rock. Besonders hörenswert die Ab- zu bezeichnen. Skeptik war meine rechnung mit einer der nervigsten Schutzreaktion. Und die hielt vielErfindungen seit der Einführung leicht drei Lieder lang. Dann folgte des Rades: „Alarm Clock Blues“ Sprachlosigkeit. Und dann war ich - ich hasse sein Dröhnen am Mor- überzeugt, dass die Kollegen recht gen kurz vor zwölf, wenn die Augen haben. 37 Wer mag, kann jetzt stundenlang versuchen, die Herkunftsregionen von Mallys Liedern nachzureisen im Kopf: Meist ist das das Delta des Mississippi, ab und zu hört man die archaischen Grooves der North Mississippi Hills. Und zuweilen wacht man auch in irgendwelchen Folkkneipen der frühen 60er Jahre auf. Was Oliver Mally (bei vier Liedern gemeinsam mit Produzent Frank Schwinn an der zweiten Gitarre) hier aufgenommen hat, ist ein von vorne bis hinten überzeugendes und brilliantes Bluesalbum: Klar scheinen die Texte zuweilen die Klischees zu zitieren. Aber das haben Blues-Lyrics schon seit der ersten Baumwollernte gemacht. Wichtig ist nicht die intellektuelle Leistung und die instrumentale Meisterschaft des Sängers sondern seine emotionale Fassbarkeit: Und Mally macht einem sofort klar, dass er den Blues nicht nur singt, dass er ihn hat, tief in sich, schon immer, selbst als Österreicher. Die Lieder (bis auf Dylans „Girl from the North Country“ sämtlich von ihm geschrieben) kommen erdig, ungeschliffen und verdammt lebendig aus den Boxen. Man träumt mit dem Sänger mit in ruhigen Momenten von „Strong Beliver“, man fühlt die Wut und Verachtung auf das treulose Frauenzimmer nach in „Devils Child“ und sehnt sich nach der Vollkommenenheit einer Liebe, die doch immer nur Traum zu bleiben scheint. „Strong Believer“ als Pflichtkauf zu bezeichnen, ist keine Übertreibung. Dass Hans Theesink neben diesem Album ein posender Euro-BluesMan ist, zu dieser Beleidigung lasse ich mich allerdings nicht hinreißen. Aber auf jeden Fall muss ich jetzt wahrscheinlich meine Plattensammlung noch um weitere Werke Mallys ergänzen... Raimund Nitzsche Stevie DuPree & The Delta Flyers - Dr. DuPree‘s Love Shop „Wann kommt endlich das nächste Blues-Revival?“, fragt unser Webmaster immer wieder. „Ich arbeite dran“, ist dann meine spontane, ehrliche und momentan einzig mög- © wasser-prawda Platten liche Antwort. Und zum Glück bin ich dabei nicht alleine. Auch Bands wie Stevie Dupree & The Delta Flyers aus Houston, Texas, scheinen sich das zum Ziel gesetzt zu haben. Ihre Arbeitsweise auf dem Album „Dr. Dupree‘s Love Shop“: Man serviere dem tanzwütigen Publikum eine Mixtur aus Bluesrock, New Orleans Grooves und Soulgrooves, die sowohl die Retrogemeinde als auch versehentlich vorbeikommende Hipster überzeugen wird. Als Songwriter ist Stevie DuPree eine echte Entdeckung. Und die Band insgesamt (aus einem akustischen Duo für dieses Album angewachsen zu einer kompletten Band plus einer Horn Section, ergänzt durch Gäste wie Marica Ball am Piano, Derek O‘Brien (g) und Gastsängerinnen Alice Stewart und Lisa Tingle) ist derartig heiß, dass man kaum still sitzen kann. Unbedingt antesten! Nathan Nörgel muss man eben mit gewaltigen Riffs die Sau rauslassen. Die Puristen werden dann mit Songs wie „Bozos on the Bus“ oder „Mean Hearted Woman“ wieder versöhnt. Und beim letzten Song, der unwahrscheinlich druckvollen Ballade „Weapons of Emotion (Open)“ können sich sogar die Soulfans freuen. Und sieht man mal von dem für mich einfach nur schmalzigen „This Is Our Time“ ab, das als Song und vom Stil her einfach nicht zum Rest passt, dann hat man mit „Howl At The Moon“ ein durchgängig gutes und hörenswertes Album. Nur eben darf man nicht der Bluespolizei angehören. Nathan Nörgel The Trieb with Zach Prather - Ju Ju Man The John Pippus Band Howl At The Moon Nach dem Bluesalbum „Wrapped Up In The Blues“ (2011) ist das neue Werk des Kanadiers John Pippus eine Mixtur aus Blues und Rock. Fast unter Live-Bedingungen im Studio von Bryan Adams entstanden ist es wesentlich kantiger als alles, was der in den letzten Jahrzehnten aufgenommen hat. Blues oder Rock - am überzeugendsten gelingen Alben immer, wenn sie möglichst live aufgenommen werden. Zum Glück setzt sich diese Erkenntnis immer mehr durch. Auch John Pippus wollte diesmal die Energie des Zusammenspiels mit seiner live-Band auf Platte festhalten. Und das ist auf „Howl at the Moon“ auch gut geglückt. Auf dem Vorgänger hatte Pippus noch mit Drumloops und Autotuning-Effekten gearbeitet und seinem Akustikblues eine quasi fortschrittliche Note verpasst. Jetzt wollte er aber das, was er auf der Bühne tut, aufnehmen. Und das heißt: Abrocken mit seiner Band, zu der unter anderem auch sein Sohn am Schlagzeug gehört. Lieder wie der Titelsong machen klar: Pippus ist zwar im Blues verwurzelt, aber er ist kein Dogmatiker. Manchmal Druckvoll rockend mit einer prägnanten Gitarre: The Tribe mit dem in der Schweiz lebenden Gitarristen Zach Prather haben mit Ju Ju Man ein mehr als gelungenes Album vorgelegt. Ein guter Start ins Bluesjahr 2013 für Fans des elektrischen Blues. Diese Gitarre fällt auf: Wie sie den stoischen Groove der Rhythmusgruppe in „Smokestack Lightning“ mit schneidend-heftigen Linien ergänzt, erinnert das manchmal von ferne an Buddy Guy. Und Zach Prathers Stimme braucht eigentlich nicht die Jodelanleihen, um Howlin Wolf Referenz zu erweisen. Das ist die Stimme von jemandem, der seit Jahren seine Blueslektionen von großen Bühnen bis hin in die ganz kleinen Kellerclubs gelernt hat. Und der dennoch nicht zu einem Abziehbild seiner selbst geworden ist: Das ist Blues von ganz tief drin aus dem Bauch und aus dem Herzen. Irgendwann nannte man ihn in der amerikanischen Presse den „New Bad Box of the Blues“. Einige Jahre gehörte der 1952 geborene Gitarrist Zach Prather zur Band von Willie Dixon, bevor er danach mit Screamin Jay Hawkins durch die Welt tourte. Auch mit Mick Jagger, Luther Allison, Etta James und Margie Evans stand er schon auf der Bühne oder im Studio. Und als Schauspieler verkörperte er auch mal Jimi Hendrix. Jetzt lebt er schon lange in der Schweiz und hat dort seit 1996 in verschiedenen Besetzungen vier Alben veröffentlicht. Jetzt kommt mit „Ju Ju Man“ eine Scheibe, die beweist, dass man den Blues durchaus auch in Richtung des Grunge oder Indie-Rock öffnen kann, ohne dass er seine Ehrlichkeit verliert. Denn abgesehen vom erwähnten „Smokestack Lightning“ und dem Schlusslied „Cold Cold Feeling“ sind die von Prather selbst geschriebenen Songs oft mehr in Rockgefilden als im Chicagoblues a la Dixon zu Hause. Und mit The Tribe hat er sich ein klassisches Trio (Urs Baumeler - bg, Eric Kunz - dr) gesucht, was diesen Songs den nötigen Druck verleiht. Nimm etwa eine Nummer wie „Ju Ju Man“: fast unterbittlich ist hier der treibende Rhythmus, erinnert ebenso an Bo Diddleys Varianten afrikanischer Grooves wie an zeitgemäßen Afrobeat gespielt von einem Rockdrummer, stoisch die Gitarre - und getrieben Prathers Stimme: Wenn nicht immer wieder von ferne die Erinnerung an den Blues in den Melodielinien autauchen würde, könnte man das getrost in der Plattensammlung neben die besten Songs von Nirvana einsortieren. Immer wieder gibt es auf dem Album solche faszinierenden Songs. Und man fragt sich langsam wirklich: Wieso ist Zach Prather eigentlich noch immer eher ein Geheimtipp, der vor allem in der Schweiz bei jeder sich bietenden Session seine Musik spielt? So jemand hat mit seinen Songs das Zeug, den Blues auch wieder dem durchschnittlichen Besucher eines großen Rockfestivals schmackhaft zu machen. (Madstone Music) Raimund Nitzsche dazu verurteilt haben, Trompete und Sax zu spielen, sich gleich als Ska-Band bezeichnen darf. Aber meist kommen die Bands damit durch - denn schließlich haben sie alle das richtige politische Bewusstsein. Und mit Ska - klar ist tanzbarer und cooler als ständig die gleichen drei Akkorde zu malträtieren. Richtigen Ska erkennen die Punks wahrscheinlich schon. Doch um ihn zu spielen, fehlt den meisten mehr als eine mehrjährige Haft im Übungskeller. Das musste ich mal loswerden. Auch wenn es auf „Desperation State“ nicht zutrifft. Wo die College-Kumpel aus Bristol mit ihrer EP im Sommer 2012 angefangen haben, dort knüpfen sie jetzt nahtlos an: Sie spielen eine wirklich extreme Mixtur aus den verschiedensten Stilen, die sie zu einem überzeugenden eigenen Stil verschmolzen haben: Ska trifft Funkrock, Spaghetti-Western wird mit Balkan-Flair gekreuzt und dass Jazz und Reggae sich vertragen nehmen die Musiker als selbstverständlich an. Und so entsteht etwas, das man getrost auf jeder Party laufen lassen kann, um die Stimmung zum Überkochen zu bringen. Schon der Titelsong, der auch (wie die übrigen drei Stücke der EP) hier erneut zu hören ist, setzt dafür gleich die richtigen Akzente. Wer zwischen durch beim Tanzen auch noch nachdenken mag: Stücke wie die Single „Not Guilty“ bringen dafür das nötige Futter, ohne die Tanzstimmung wirklich zu unterbrechen. Und überhaupt: Selbst Jazzkritiker könnten sich an manchen melodischen und rhythmischen Rafinessen endlos intellektuell ergötzen. Aber vielleicht sollte man sie dazu mit den oben erwähnten Punks im Übungskeller einschließen, ehe sie einem die Party versauen. Nathan Nörgel Yes Sir Boss - Desperation State Als im Sommer 2012 die erste EP der in Bristol ansässigen Band Yes Sir Boss auf Stone‘d Records rauskam, wünschte ich mir schnell ein ganzes Album. Das ebenso wie die EP „Desperation State“ betitelte Debüt kommt mit seiner wilden Mixtur aus Ska, Funk, Jazz und jeder Menge Rock genau richtig um das Absacken in den Winterschlaf zu verhindern. Ich hasse es, wenn jede Punkband, die grad mal paar ihrer Kumpels 38 © wasser-prawda Feuilleton Editorial Schon 2009 wurde ein Jubiläum begangen, dessen Anlass noch heute Anlass zu Zweifeln und Debatten liefert: War Richard Peary wirklich der erste Mann am Nordpol? Oder hat er ebenso wie sein Konkurrent Frederick Cock mit ungenauen Notizen seine Fans und Geldgeber getäuscht? Der Nordpol, so Karl Kraus, musste einfach entdeckt werden. Aber die Welt hat sich dadurch nicht verändert. Sie hätte sich ebenso wenig geändert, wenn wirklich Karl May der Entdecker des Pols wäre, wie es Otto Emersleben in „Der Streit um den Nordpol“ suggeriert. Denn schließlich ist der nur ein Fleck unter dem Eis, was seit Jahrhunderten immer drüber hinweg wandert. 2013 gibt es verschiedene runde Geburtstage im Reiche der Literatur. Den von Jean Paul etwa, des von Arno Schmidt so hoch verehrten und Autors aus Oberfranken. Auch wenn außer den Schmidt-Jüngern und den Paul-Enthusiasten kaum noch jemand wirklich die überbordenden und oft ins Absurde abgleitenden Texte wirklich liest. Wir lassen uns davon nicht schrecken und veröffentlichen hier eine Kriegssatire, die in unseren so unfriedlichen Weltzeiten fast idyllisch wirken könnte. Aus einer ganz anderen Zeit stammt „Schwarz und weiß“. Angelika Janz schrieb diese Erzählung 1986 angesichts der innerdeutschen Grenze. Der hier erstmals veröffentlichte Text streift Literatur im Gespräch Sprache, dem Spiel der Kunst und der Apokalypse aus noch viel mehr Themen zwischen Wahrneh- Von dem Spreewald.40 mung der Wirklichkeit und der Sehnsucht nach Bücher Romantik. Otto Emersleben: Der Streit um den Nordpol Die Sprache Jürgen Buchmanns ist eng der Mu- Karl Mays letzte Reiseabenteuer45 sik verwandt. Oft scheint der Klang der Worte Neal Stephenson - Error. 46 wichtiger zu sein als ihre Bedeutung. In Medi- Sprachraum Janz: Schwarz und weiß 47 tationen wie den Texten der soeben erschiene- Angelika Jean Paul: Mein Aufenthalt in der Nepomukskirche während nen „Lüneburger Trilogie“ kann man das in al- der Belagerung der Reichsfestung Ziebingen 49 Karl Kraus Die Entdeckung des Nordpols 57 ler Langsamkeit nacherleben. Und im Gespräch mit Erik Münnich erzählt der Autor außerdem Edgar Wallace: A.S. der Unsichtbare (8) 62 noch über den drohenden Krieg der Gurken. 39 © wasser-prawda Interview Von Spr ache, dem Spiel der Kunst und der Apok alypse aus dem Spreewald. Ein Gespräch mit Jürgen Buchmann. Illustrationen von Isabel Wienold. Fotos: Raimund Nitzsche Erik Münnich: Ein Blick auf Deine zahlreichen Veröffentlichungen verrät eine gewisse Leidenschaft für Sprache. Welche Rolle nimmt diese in Deinem Leben und Schaffen tatsächlich ein? Jürgen Buchmann: Für einen Schriftsteller ist das eine zentrale Frage. Ich glaube, dass man auf das Thema der Sprache gebracht wird, wenn man Schwierigkeiten mit der Sprache hat, wenn sie einem zu schaffen macht. Und die Sprache, die ein Autor entwirft, hat vielleicht immer den Charakter einer Gegensprache – einer Sprache, die das formuliert, was er sonst nicht formuliert hört; die Bewegungen beschreibt, die er sonst nirgends beschrieben sieht. Auf irgendeine Weise ist die Sprache eines Schriftstellers ein einsames Unternehmen, das Projekt eines Einzelnen, hinter dem er mit seinem ganzen Leben steht. Das sind elementare Fragen, die da verhandelt werden. Es müssen keine Fragen des Sinns sein – ich glaube, die Literatur hat sehr lange unter dem Anspruch gestanden, Sinn zu vermitteln. Das war eine Veränderung der Interpretation von Literatur, die auf die Französische Revolution zurückgeht. Vor der Revolution war die Kunst ein Ornament einer feudalen Gesellschaft. Diese Gesellschaft wurde zerstört und damit blieb auch die Funktion der Kunst offen. Und hier hat man um 1800 herum eine neue und sonderbare Bedeutung gefunden: die Kunst soll einen Sinn liefern, der in der Gesellschaft, in der Überlieferung verloren gegangen ist. Das 1. Systemfragment des Deutschen Idealismus von Hegel, Hölderlin und Schelling sagt, die Kunst müsse eine neue Religion stiften. Dies ließe sich so lesen, dass die Kunst Sinn vermittelt oder einklagt, der in der Gesellschaft fehlt. Dieses Verständnis von Kunst hat sich mindestens bis Adorno fortgesetzt, wo die Kunst eine kritische Instanz wird, die diese Gesellschaft durchschauen, denunzieren und verklagen soll. Ich glaube, dass die Kunst damit hoffnungslos überfordert ist. Es gibt überall auf der Welt Menschen, die gegen Unrecht kämpfen und immer ist dieser Kampf ohnmächtig, das sehen wir. Die Kunst wäre sicher falsch gefordert, wenn man von ihr erwarten würde, dort einzuspringen. Das Thema der Kunst ist in meinen Augen nicht der Sinn – sie kann mit Sinn spielen, aber sie ist nicht auf Sinn fixiert. Für mich ist Literatur ein Spiel – ein Spielen der Sprache. Und umso komplexer das Spiel ist, desto besser ist das literarische Werk. In diesem Spiel der Sprache bewegt sich natürlich das mit, was man erfahren hat. Das Wichtige aber ist die Umsetzung dieser Erfahrung in das Spiel der Sprache. Dieses Spiel ist für mich auch immer eine Art Musik – die Sprache ist kein Instrument, das wir nutzen, um Gedanken oder Überzeugungen auszudrücken. In diesem Versprechen, Geheimnis, Spiel und dem Reichtum des Spiels sehe ich meinen Lebensinhalt. Erik Münnich: Wie hast Du zur Sprache gefunden? Jürgen Buchmann: Ich erinnere mich daran, dass ich sehr früh angefangen habe, heimlich in Büchern meiner Eltern zu blättern, über die nicht geredet wurde. Und ich weiß noch, dass ich – zum Beispiel bei Goethe – von Klängen entzückt war. Wovon gesprochen wurde, war mir egal. Das ging wohl auch über den Horizont eines Kindes hinaus. Aber wie gesprochen wurde, die Musik dieser Verse, hat mich schon damals fasziniert. Das ist geblieben. Nach dem Abitur, mit ungefähr 19 Jahren, kam ein Interesse an unbekannten, fremdartigen Sprachen hinzu. Ich weiß noch, wie ich drei Wochen lang um eine aztekische Grammatik herum geschlichen bin, bis ich sie mir endlich gekauft habe. Ich konnte nicht widerstehen und habe dann sehr schnell Aztekisch gelernt. Im Laufe der Jahrzehnte noch viele weitere Sprachen. Weniger mit dem Inte- resse, sie zu sprechen, als der Sprache als etwas Neuem, Geheimnisvollen zu begegnen. Das hat meine Fantasie immer wieder gespeist und mein Ohr für Klänge sowie Wirkungen von Wörtern und Sätzen verbessert. Erik Münnich: Welche Texte haben Dich von damals bis heute begleitet? Jürgen Buchmann: Als Student habe ich Huysmans Gegen den Strich entdeckt. Ich war sehr entzückt davon. Und noch heute bin ich ein großer Bewunderer von Huysmans wundervollem Stil, von seinem Blick, der alles sieht, und seiner Sprache, die alles ausdrücken kann. Proust habe ich auch verhältnismäßig früh kennengelernt – mit ungefähr 20. Wenn man Proust begegnet, dann ist das ein wichtiger Einschnitt im Leben. Ich wusste, dass ich auf dieses Wunder irgendwie reagieren musste, dass ein Mensch sein ganzes Leben in Worte umgesetzt hatte. Und dabei Dinge entdeckte, von denen die Literatur noch nie gesprochen hatte. Ich meine z. B. den Reichtum des Augenblicks, der sich bei Proust über Seiten dehnen kann oder das Aufklingen eines Namens. Er hat dazu beigetragen, dass der Traum – den ich schon als Kind hatte –, Schriftsteller zu werden, eine Aufgabe wurde. Erik Münnich: Du warst drei Jahrzehnte an der Universität Bielefeld tätig. Was bleibt davon übrig? Jürgen Buchmann: Zunächst wirkt das wie eine lange Fronarbeit – dreißig Jahre im wissenschaftlichen Dienst. Aber ich habe in dieser Zeit viele Sprachen und Literaturen studiert, ich habe mich intensiv mit Architektur- und Musikgeschichte sowie Religion beschäftigt. Das ist in meine Bücher sicherlich als eine Art Hintergrund oder Assoziationsmaterial eingeflossen. Und die Notwendigkeit, vor einem erfahrungslosen Publikum sehr komplizierte Inhalte vorzubringen, Jürgen Buchmann promovierte in Konstanz in Klassischer Philologie und Philosophie, unterrichtete anschließend drei Jahrzehnte an der Universität Bielefeld. Seit 2006 lebt er als freier Schriftsteller in Werther/ Westfalen. Er befasst sich neben dem Schreiben u. a. mit der Grammatik von 30 Sprachen der Alten und Neuen Welt. Erik Münnich sprach mit ihm über seine Leidenschaft für Sprache, sein literarisches Schaffen und seine Arbeit als Übersetzer. 40 © wasser-prawda Interview 41 © wasser-prawda Interview hat dazu geführt, dass ich eine gewisse Routine erworben habe, schnell zur Sache zu kommen, immer klar zu formulieren. Das hilft mir beim Schreiben sehr. Früher habe ich endlos gebraucht, weil ich nicht genau wusste, wie man es auf den Punkt bringt. Jetzt arbeite ich sehr viel schneller und effektiver als früher. Das ist den Erfahrungen an diesem Institut zu verdanken. die ich geschrieben habe, war er noch etwas gefangen, hatte sich noch nicht ganz befreit. Ich mag diese Bücher sehr gerne, aber sie haben noch nicht dieses übermütige und übersprudelnde Spiel der späteren Texte. Diese Dimension habe ich erst im fortgeschrittenen Alter erwerben können. Sie sind also strenger und schlanker als die späteren. Meine späteren sind neobarock. Erik Münnich: Stand oder steht der Wissenschaftler dem Schriftsteller ab und zu im Weg? Jürgen Buchmann: Während der Dienstzeit war das sicher so – ich hatte einfach keine Zeit zum Schreiben. Allerdings sehe ich die Wissenschaft als einen Moment dieses Spiels der Kunst an. Die Kunst hat keinen vorgegebenen Sinn und keine vorgegebene Aufgabe, sie ist außerordentlich beweglich. Für mich ist das Spiel mit der Wissenschaft ein wesentliches Element der Literatur. Meine Kunst verschränkt sich mit Philologie, die Grenzen sind fließend. Ich habe beispielsweise Aufsätze über die keltische Sprachen und literarische Texte, die mit den keltischen Sprachen zu tun haben, geschrieben. Und in der Grammatik der Sprachen von Babel hat man eine als Philologie verkleidete Fiktion. Die Wissenschaft ist ein reichhaltiges Reservoir an Spielmöglichkeiten. Deswegen sind Wissenschaft und Dichtung für mich heute keine Widersprüche mehr. Erik Münnich: In diesen begegnet dem Leserinnen ein vielseitiger, stilsicherer und sehr gewitzter Autor. Wie viel Arbeit ist nötig, um diesen Eindruck zu erzielen? Jürgen Buchmann: Meine Arbeiten kommen eigentlich leichtfüßig daher – und das finde ich sehr wichtig: ein Text darf nicht zäh sein, er darf nicht backen und er muss immer leicht laufen. Das ist schwer zu erreichen und sehr viel Arbeit. Mir fällt da eigentlich nichts zu und meine Texte sind immer mit einem enormen Aufwand an Arbeit hergestellt. Erik Münnich: Bist Du Perfektionist? Jürgen Buchmann: In Bezug auf die Literatur schon, sonst nicht. das Internet zurückgreifen kann, weil die Texte, mit denen ich mich auseinandersetze, zum Teil so speziell sind, dass konventionelle Lexika nicht weiterhelfen. Bei Reinecke & Voss erscheint demnächst eine barocke Dichterfehde, welche in einem barocken Italienisch um 1609 verfasst ist. Die beiden Autoren sind Römer und sprechen und schreiben daher nicht Toskanisch – das wissen sie aber nicht. Und wenn sie manchmal Ausdrücke benutzen, sind das römische Ausdrücke, die sie äußerlich toskanisieren. Diese sind nicht im Lexikon zu finden. Man muss schauen, wie solche toskanisierten Ausdrücke auf römisch aussehen könnten, um sie zu übertragen. Dieses und viele weiteren philologischen Abenteuer wären ohne Internet nur schwer denkbar. Das Internet hat also sehr zu dem Spektrum der Dinge beigetragen, die ich in Angriff nehme und zur Gründlichkeit, mit der ich ihnen nachgehen kann. Ich bin ein anderer Autor als früher, weil ich viel größere Ressourcen habe. Erik Münnich: Ende Januar ist die Lüneburger Trilogie erschienen, die für Dich eine Herzensangelegenheit ist. Was hat es mit dieser auf sich? Jürgen Buchmann: Dieses Buch hat in meinem Leben eine ungeheuerliche Rolle gespielt. Am Mittelteil – der Phantastischen Topographie der Hansestadt Lüneburg – habe ich fast 30 Jahre gearbeitet, weil die Probleme, die sich mir da stellten, so kompliziert waren, dass ich lange nicht damit fertig wurde. Es ist so, wie man in Anführungszeichen sagen könnte, eine Art Lebenswerk und ich bin froh, dass ich die Arbeit daran abschließen konnte. Es ist ein sehr komplexes, geheimnisvolles Werk. Bei normaler Lesegeschwindigkeit, wie beispielsweise bei einem Zeitungsartikel oder Kriminalroman, kriegt man überhaupt nichts mit. Es sollte sehr langsam gelesen werden, mit einer Pause nach jedem Absatz. Und dann liest man es nochmal. Dann wird man versteckte Neuigkeiten entdecken. Das Logbuch vom Meer der Finsternis ist auch dabei. Das ist mein vielleicht offenstes und direktestes Buch. Ein Buch, das eine zerstörte Welt zeigt – geheimnisvoll, magisch und sehr eigenwillig. Dort werden Träume beschrieben, Halbschlaffantasien, die, als ich sie hatte, so intensiv waren, dass ich mich Jahrzehnte an sie erinnern konnte. Viel später habe ich sie dann aufgeschrieben. Das dritte Stück ist die Einschiffung nach Cythera – Cythera als die Insel des Glücks und der Liebe in der Antike. Diese Erzählung handelt von einem älteren Schriftsteller, der eigentlich seinen Frieden mit der Welt gemacht hatte, das merkt man. Er bewegt sich in einer einsamen, aber sehr intensiven Welt – einer Welt, die aus leuchtenden Details besteht. Leider begegnet er einer jungen Frau, die ihn ziemlich durcheinander bringt. Er verliebt sich hoffnungslos. Das wird nicht direkt ausgedrückt, sondern nur nachvollziehbar anhand der Veränderung der Dinge, der Stimmungen, der Atmosphäre. Es beruhigt sich wieder und endet geheimnisvoll, abstrakt und leuchtend. Diese geheimnisvolle Brille habe ich sehr gerne. Sie ist auch voller Musik, voller Klänge – z. B. die ausgestorbene wendische Sprache des Lüneburger Wendlands kommt immer wieder vor und liefert wundervolle Klangeffekte. Erik Münnich: Wie äußert sich das im Arbeitsprozess? Jürgen Buchmann: Ich lasse nicht los bis ich vollkommen zufrieden bin. Wenn ich bemerke, dass irgendein Wort sperrig wirkt oder ich es wie eine Erik Münnich: In den 80er Jahren wurden von Eintrübung, eine falsche Gewichtung empfinde Dir Satiren veröffentlicht. Unter welchen Eindrü- in diesem federnden Muster des Satzes und socken sind diese für Dich eher untypischen Texte lange dieses Unbehagen bleibt, ist der Text für entstanden? mich nicht fertig. Er ist in dem Moment fertig, Jürgen Buchmann: Diese sind zu der Situation wenn er ein schwereloses Gebilde wird, wo nichts entstanden, als in Deutschland Pershing-Raketen mehr festhängt, nichts mehr überlastet ist, nichts aufgestellt wurden und auf unverantwortliche mehr nur angedeutet statt ausgeführt. Weise mit der Möglichkeit eines Dritten Weltkriegs gespielt wurde. Damals habe ich sowohl Erik Münnich: Du hast ein Bild vor Augen, wie es diese Unverantwortlichkeit als auch das Gesül- sein sollte. Und bis diese Vorstellung nicht erreicht ze der Medien mitbekommen – dieser kultur- wird, ist der Text nicht fertig. schwangere Ton, in dem die Leute sich da aus- Jürgen Buchmann: Dieses Bild ist natürlich kein ließen; diese Bildung und guten Manieren, die fotografisches Abbild, bei dem schon alles angevorgezeigt wurden. Die gesamte Diskussion hatte legt ist. Es ist vielmehr eine Art Klang, eine Voretwas Verblasenes. Das hat mich provoziert und stellung von einem Klang und irgendwann ist dann habe ich diese Satirenbände geschrieben. diese Arbeit so weit, dass dieses Werk so klingt Und zwar absichtlich schlecht – eine ganz holp- wie der Klang, den man im Ohr hatte. Das ist rige Sprache und doofe Pointen, damit die Leute mir eigentlich immer so gegangen – manchmal sich ärgern. Ich wollte diesem kulturellen Ge- Jahrzehnte bevor ein Buch fertig wurde, hatte ich schwätz, das munter weiter plapperte während schon den Klang im Ohr und dem konnte ich eine atomare Katastrophe vorbereitet wurde, ein mich dann nähern, wie eine Art Vision, die man Ende setzen, es stören. Und ich glaube, das ist realisiert. auch gelungen: linke Leser, kritische Leser haben darüber gelacht und viele haben sich richtig geär- Erik Münnich: Was hat sich außerdem verändert? gert, weil das so schlecht geschrieben und schwer Jürgen Buchmann: Grundlegend verändert wurvorstellbar war, dass dies Literatur sein sollte. An de mein Schreiben durch den Computer, der mir der Uni Bielefeld hat ein Professor während eines ermöglichte, mit den Satzteilen zu spielen. Ich Literaturseminars z. B. hässlich hergezogen über habe eine Weile nicht mehr geschrieben, weil es dieses Buch. Als ich das hörte, musste ich lachen mit der Schreibmaschine nicht zu schaffen war und dachte mir, dass ich geschafft hatte, was ich – ich musste nach drei Zeilen das Blatt rausneherreichen wollte. Dieses Mittel, Texte absichtlich men und nochmal anfangen. Das wiederholte zu Fall kommen zu lassen, absichtlich schwerfäl- sich dann, bis ich einen Stoß von Blättern hatte, lig zu sein, ist ein wenig heikel und lässt sich nur die nur mit wenigen Zeilen beschrieben waren, punktuell einsetzen. Das sind für mich kabaret- weil ich immer wieder verbessert habe. Mittlertistische Texte, die für den Augenblick bestimmt weile geht es wunderbar. Und das ermöglicht sind und ich würde sie heute nicht als Teil meines mir, Sätze zu schreiben, die man gar nicht improWerkes betrachten. visieren kann, die ich nicht improvisieren kann. Ich könnte diese nicht einmal zitieren, weil sie Erik Münnich: Gibt es weitere Veränderungen be- so kompliziert sind. Auf dem Computer aber züglich Deines Schreibens? kann ich diese Sätze bilden und ihre Architektur, Jürgen Buchmann: Mein Stil ist sehr viel kom- Gewichtung verfolgen. Das ist ein riesiger Fort- Erik Münnich: Die Wenden begegnen uns bei Dir plexer geworden. In den ersten ernsten Büchern, schritt. Der zweite ist der Umstand, dass ich auf öfter. 42 © wasser-prawda Interview 43 © wasser-prawda Interview Jürgen Buchmann: Ja. Ich habe dort gewohnt, und als Kind habe ich immer diese Ortsnamen gesehen – das fand ich immer geheimnisvoll, weil mir niemand erklären konnte, wo das herkam, was das sollte. Es ist ein Thema für mich geblieben. Erik Münnich: Du bist auch als Übersetzer tätig. Welche Texte und Autoren interessieren Dich? Jürgen Buchmann: Mich interessieren entlegenere und unbekanntere Autoren. Diese lassen mir sozusagen mehr Spielraum. Baudelaire wurde beispielsweise hundert Mal interpretiert. Aloysius Bertrand dagegen, der Autor des Gaspard de la Nuit (1842), war immer noch relativ unbekannt, als ich ihn kennenlernte. Der Aufsatz, den ich dazu geschrieben und für den ich auch annähernd 40 Jahre gebraucht habe, zeigt den Schriftsteller in einem vollkommen neuen Licht. Es ist eigentlich der erste Aufsatz, der den Gaspard de la Nuit als zusammenhängendes Werk mit einer klaren Pointe beschreibt. Dies war 150 Jahre lang nicht der Fall gewesen. Es fasziniert mich, wenn ich einen unbekannten Autor entdecken kann. Ich habe auch Autoren gern, die besonders kunstvoll, besonders raffiniert sind. Aus der Antike beispielsweise Horaz oder Vergil – die haben wunderbare, unvergessliche und für mich zutiefst bewegende Tricks drauf. Mir gefallen natürlich auch Autoren, die manche meiner Leidenschaften teilen. Die Leidenschaft für Architektur spielt zum Beispiel bei Huysmans eine gewisse Rolle. Auch bei Prudenci Bertrana, den ich jetzt übersetzt habe. Architektur ist eine lebhafte und blühende Sprache. Erik Münnich: Worauf kommt es Dir bei Texten an, die Du überträgst? Jürgen Buchmann: Der Text muss etwas Provokantes haben. Die Sprache muss provozieren, etwas Einzigartiges haben, etwas Neuartiges. Man darf dem noch nicht begegnet sein. Das ist der Hauptpunkt: eine Übersetzung muss voller Leben, Kraft und Fantasie sein. Sie muss klingen, sie muss tönen. Ich selbst bin dankbar für gute Übersetzungen, denn diese können eine Sprache bereichern. Die ziehen Register und öffnen Horizonte, die eine Sprache noch gar nicht hatte – man denke hier an die erste große Proust-Übersetzung. Erik Münnich: Dich interessieren vor allem entlegenere Werke. Welche Möglichkeiten als Übersetzer hast Du, das Vergessen solcher zu verhindern? Kurz und gut: die Übersetzung war überhaupt nicht zu gebrauchen. Ich habe das Buch vollständig übersetzt und ich hoffe, dass diese Übersetzung Bertranas Vorstellung einigermaßen gerecht wird. Jürgen Buchmann: Die erste Möglichkeit ist natürlich eine anspruchsvolle Übersetzung. Die zweite ist eine Kommentierung. Das halte ich für sehr wichtig, denn ich möchte dem Leser/ der Leserin gern mitteilen, was ich an diesem Text aufregend finde. Erik Münnich: In diesem Zusammenhang zu nennen wäre Deine Herausgeberschaft der Reihe Regionale Literaturen Europas. Was sind die Gründe für das Zustandekommen und welche Ziele verknüpfst Du mit dieser Reihe? Jürgen Buchmann: Ich habe mich mit den Wenden bzw. Sorben befasst und festgestellt, dass dieses winzige Volk eine außerordentlich lebendige Literatur hervorgebracht hat. Und es ist sehr schade, dass diese in Deutschland gar nicht bekannt ist. Das ist ein achtloser Umgang mit Kostbarkeiten! Anfänglich hatte ich an eine sorbische Reihe gedacht, aber dann wurde mir klar, dass in dieser Situation noch andere kleinere Völker und deren Literatur sind und auch davon nicht viele Übersetzungen vorhanden sind. Und da sind wir drauf gekommen, eine Reihe zu gründen, die solche Kostbarkeiten der Literaturgeschichte rettet – Werke, die nicht deswegen vergessen sind, weil sie weniger wiegen als die der größeren Völker, sondern weil das Verbreitungsgebiet ihrer Sprache erheblich kleiner ist. Erik Münnich: Mit dem Josafat von Prudenci Bertrana liegt der erste Band dieser Reihe vor. Wie bist Du auf diesen Text gestoßen und was bedeutet er Dir? Jürgen Buchmann: Ich bin auf ihn durch einen kleinen Beitrag in Kindlers Literaturlexikon drauf gestoßen – ein Artikel, den ich heute nicht mehr besonders gut finde. Aber er hat mir verraten, dass in diesem Werk eine Kathedrale eine besondere Rolle spielt. Von daher ist es mir immer im Gedächtnis geblieben. Irgendwann habe ich eine Ausgabe gefunden, habe darin geblättert, war aber irgendwie nicht so fasziniert. Ich habe es liegen gelassen. Viele Jahre später habe ich mich wieder daran erinnert, habe es mir genauer angesehen und festgestellt, warum ich nicht viel darin gelesen habe: es war eine außerordentlich dilettantische Übersetzung. Verblüffender Weise, weil sie vom Begründer der deutschen Katalanistik stammt. Er hat versucht, um sein Publikum für den unbekannten Autor und die unbekannte Sprache zu gewinnen, den Text zu verbessern. Einerseits dadurch, dass er den Text an expressionistische Modeautoren seiner Zeit angenähert hat, deren Stile aber außerordentlich unvollkommen nachgeahmt hat. Andererseits durch die Beigabe von Gartenlaubenelemente, pure Erfindungen von ihm. Das alles sollte den deutschen Leser dieses katalanische Werk näher bringen. 44 Erik Münnich: Du arbeitest zur Zeit mit der Grafikerin Isabel Wienold – die für einige Deiner Veröffentlichungen den Umschlag gestaltet hat – an einem Projekt, in dem es – verkürzt – um Sorben, Gurken und gegenwärtige politische Zustände geht. Jürgen Buchmann: Ich hatte zunächst Encheiridion Vandalicum oder Das Buch von den Wenden geschrieben. Und dieses Thema hat mich erst einmal nicht losgelassen. Mir kam dann die Idee einer Satire in den Kopf, die zeigt, wie diese armen Sorben von den Deutschen malträtiert werden. Diese nennt sich Krieg der Gurken. Eine Apokalypse aus dem Spreewald – hier wird so getan, als würden die Sorben zum Gegenangriff übergehen. Es liest sich wie eine verrückte Science-Fiction-Inszenierung von Orson Welles, in der von einem Angriff von Marsianern berichtet wird. Dieses Hörspiel habe ich als Modell genommen und die Sorben greifen jetzt mit ihren Ufos die Bundeshauptstadt an. Das ist ein knalliger und verrückter Text. Isabel Wienold hat dazu entzückende Kino-Plakate gemacht, die mit Motiven aus Science-Fiction- und Horrorfilmen aus der Zeit des Kalten Krieges arbeiten. Das soll nun zusammen in einem Buch erscheinen. Möglicherweise wird es einen Auftritt bei Youtube mit Trickfilm-Technik geben, sodass sich die Figuren bewegen und die Stimmen von verschie- denen Akteuren gesprochen werden. Erik Münnich: Welche weiteren Projekte hast Du? Jürgen Buchmann: Ich bin mir nicht sicher, was ich als nächstes schaffen werde. Aber ich denke darüber nach, die Memoiren eines Münsterländer Mastschweins zu ergänzen. Von der Sprache her ein wenig kühler und spröder, bisher noch nicht so federnd und übermütig wie der erste Teil. Dafür sind aber die Abenteuer, die das Schwein erlebt, viel verrückter. Und möglicherweise macht es das wieder wett. Erik Münnich: Das Schwein ist ja älter geworden … Jürgen Buchmann: … und darüber schreibt es auch. Und zwar in seinem typisch altklugen Ton: es sind zwar gerade einmal drei Wochen vergangen, aber es erzählt, wie es gereift ist in dieser Zeit, dass es die Dinge doch anders sieht als früher und es philosophiert über das Leben. © wasser-prawda Bücher Letzte Reisen in Eis und Krieg Otto Emersleben - Der Streit um den Nordpol. Eine Rezension von Raimund Nitzsche Als 1909 gleich zwei Forscher behaupteten, unabhängig voneinander den Nordpol erreicht zu haben, begann damit ein Streit, der bis heute noch nicht wirklich entschieden ist. Weder der von deutschen Auswanderern abstammende Frederick Cook noch Robert Edwin Peary konnten wirklich überzeugend nachweissen, am Pol gewesen zu sein. Dieser Streit bildet den Ausgangspunkt von gleich zwei Romanen des seit den 90er Jahren in den USA lebenden Otto Emersleben. Der Autor, der auch schon die erste deutschsprachive Biografie über Peary veröffentlichte, hatte 2003 in „In den Schründen der Arktis“ erstmals diese damalige Debatte in Bezug zu den Reiseerzählungen von Karl May gesetzt. Der Reiz von „In den Schründen der Arktis“ und der zum Karl-May-Jahr 2012 lediglich als ebook erschienenen Fortsetzung „Der Streit um den Nordpol“ liegt allerdings weniger in den historisch korrekten Recherche der Nordpolarforschung. Nein: Emersleben hat hier - sprachlich reizvoll und von einer überbordenden Fabulierlust getrieben - den Stoff als letzte Reisen von Karl May geschildert. Karl May als erster am Nordpol? Der Trivialliterat, einst entweder geschmäht als Verderber der Jugend oder gefeiert vor allem für sein symbolistisch aufgeladenes Spätwerk verheddert sich als Erzähler zwischen großen Intrigen, seinen eigenen Ansprüchen der Entwicklung der „Edelmenschen“ nach dem Vorbild des großen Winnetou, getrieben von Journalisten und seinen gierigen Erben. Wenig ist geblieben vom großen Old Shatterhand, auf wenn May noch immer im Ernstfall seine Hand die Gegener niederschmettern kann. Doch es ist zu Ende mit den freien und wilden Zeiten im Westen oder im Orient: Überall macht sich der geldgierige Imperialismus der Industrienationen breit. Die als Helden öffentlich gefeierten Polarforscher sind geldgierige Betrüger. Der Pol als Ticket zum Reichtum - all das ekelt den alt gewordenen May. Er selbst, verkleidet als Eskimo macht sich auf den Weg, als Peary schon zum Rückzug geblasen hat, nachdem er irgendwo einfach Fotos machte und den Punkt als Nordpol definierte. Aber eigentlich soll niemand von Mays Ausflug erfahren. Der Pol ist nicht wichtig. Und May will bescheiden im Hintergrund bleiben. Doch er kann sich dem Getriebe nicht entziehen. Forschungsgeschichte und Skandale sind ein treffliches Mittel für Unterhaltungsliteratur in einer Zeit, wo Betrügereien um Promotionen ebenso die Schlagzeilen bestimmen wie die immer weiter zurück gehenden Eispanzer in der Arktis durch die Klimakatastrophe. Aber Karl May als Hauptfigur? Schon zu Lebzeiten gab es Versuche, Old Shatterhand und anderer seiner Figuren in eigene Geschichten einzubauen. Autoren versuchten sich an Fortsetzungen von Romanen oder schufen sie ganz neu. Heute gibt es ganze Verlage, die ihr Geld mit neuen Erzählungen um Winnetou und Old Shatterhand verdienen und das Erbe Mays ausschlachten. Hier geht Emersleben einen wichtigen Schritt weiter. Nicht die klassischen Romane stehen im Mittelpunkt, sondern das Leben des alt gewordenen May, der in der deutschen Öffentlichkeit immer heftigeren Schmähattacken ausgesetzt war und der sich von der reinen Abenteuerliteratur fortentwickelt hatte und statt dessen symbolisch überladene Geschichten verfasste, die vor allem bei den „ernsthaften“ May-Fans der Gegenwart immer neuen Deutungen unterzogen werden, denen aber der einfache und humorvolle Stil vom „Schatz im Silbersee“ oder „Durch die Wüste“ abgeht. „Der Streit um den Nordpol“ hat eigentlich alles, was man für einen unterhaltsamen und gleichzeitig intelligenten Schmöker braucht: Einen historischen Skandal, korrekte biografische Details, Karl May im Kampf gegen die feindliche Presse - und hier aberwitzige Wendungen in der Romanhandlung: Intrigen, Abenteuer, Kulturkritik und die Sehnsucht nach einer besseren Welt angesichts einer Welt, der sich der Held nicht mehr zu Recht finden kann und der er schließlich nur im Tode entkommen kann. Denn es zieht nicht nur der erste Weltkrieg immer drohender am Horizont auf. Auch die Schrecken der Zeit danach, deuten sich in Begegnungen mit Zeitgenossen immer deutlicher an. Mays Traum von einer Welt von Edelmenschen - er interessiert kaum noch jemanden. Karl May‘s letzte Tage im realen Leben wie im Roman sind Tage der Desillusionierung und des Rückzugs, Tage des Zerbrechens von Träumen. Wer zuerst am Nordpol war, ist nicht wirklich zu klären. Und warum sollte es nicht der sächsische Meistererzähler gewesen sein? Wobei ich ich hier als erklärter May-Fan bei allem diebischen Vergnügen auch etwas Kritik äußern muss: Was dem „Streit um den Nordpol“ fehlt, ist ein gründlicheres Lektorat. Zu viele Schreibfehler und holprige Formulierungen reißen einen immer wieder aus der Geschichte heraus. Und an manchen Stellen gingen Emersleben wohl die Rappen seiner Phantasie einfach durch: Flüge im UFO sind für die Story nicht wirklich nötig. Obwohl Emersleben natürlich Recht hat, dass schon in „Winnetouss Erben“ ein Fluggerät wichtig war. Und auch die Seelenflüge mit der Inuit-Schamanin wirken in dem Zusammenhang zu konstruiert. Bei May konnte man sich als Leser eigentlich immer drauf verlassen, dass im Rahmen der abgesteckten Erzählwelt für alles logische Erklärungen gefunden wurden. Wenn religiöse Fragen aufgeworfen wurden, dann suchte May die Antworten darauf niemals im außerchristlich-esoterischen Umfeld sondern im Rahmen seines christlichen Glaubens. Raimund Nitzsche Otto Emersleben: Der Streit um den Nordpol - Karl Mays letzte Reiseabenteuer Format: Kindle Edition Dateigröße: 609 KB Seitenzahl der Print-Ausgabe: 359 Seiten Verlag: zamisdat (26. September 2012) 45 © wasser-prawda Bücher Nur ein kleiner Dreher Neal Stephenson - Error. Eine Rezension von Raimund Nitzsche Ein kleiner chinesischer Hacker will Spieler eines Online-Rollenspieles abzocken. Dafür programmiert er einen unscheinbaren Virus. Doch „Error“ entwickelt sich ausgehend von diesem kleinen Ereignis zu einem immer rasanter werdenden Thriller über Terror, Geheimdienste und natürlich das Überleben des Einzelnen in einer Welt, die sich nicht an die großartig ausgedachten Pläne hält. Es beginnt mit einer Szene, die angesichts der letzten Amokläufe gespenstisch wirkt, für amerikanische Verhältnisse aber eigentlich vollkommen alltäglich ist. Die Familie trifft sich zu Thanksgiving. Und bevor das große Essen beginnt, schießen alle mit ihren jeweiligen Pistolen,und Gewehren im Gelände herum. Der bei Familienfeiern übliche Streit wird so verhindert und der Lärm überdeckt die Spannungen. Eine normale amerikanische Familie? Sicherlich nicht. Denn Richard Forthrast, der reiche Onkel, hat mit einem Online-Spiel ein Millionen-Unternehmen geschaffen. Sein Geld allerdings hatte er früher als Drogenschmuggler verdient. Und auch der Rest der Sippe ist mehr oder weniger ungewöhnlich. Gern bezeichnet man den amerikanischen Erzähler Neal Stephenson als Universalgelehrten. Manche bevorzugen auch das ungleich gehemnisvollere Substantiv Visionär, um ihn zu charakterisieren. Wenn Romane von Stephenson etwas ausgezeichnet hat von seinen Anfängen im Cyberpunk bis heute, dann ist es die unwahrscheinliche Fülle an Fakten, die selbst komplexe Fragen wie etwa die Herkunft von Phänomenen wie der Zungenrede in den Weltreligionen („Snow Crash“), die Herkunft und Grundlegung des neuzeitlichen Geldsystems (Barock-Trilogie) oder das Problem sicherer Codesysteme („Cryptonomicon“) werden bei ihm in spannende und unterhaltsame Geschichten verpackt, die in den letzten Jahren selten unter tausend Seiten auskamen, aber doch niemals langweilig wurden. Ob man ihm ob seiner düsteren Zukunftsschilderungen in „Snow Crash“ oder „Diamond Age“ als Visionär bezeichnen sollte, bleibt jedem selbst überlassen. Auf jeden Fall hat Stephenson schon zu Beginn des Internetzeitalters einige der Ideen formuliert (die später als letzter Schrei galten und heute verkümmern) und mit Begriffen versehen, die bis heute anerkannt sind. Und dass die heutigen Gesellschaften in Ost und West, in Asien ebenso wie im Vorderen Orient zu zerbrechen drohen, dass wird jeden Tag neu ansehbar an den abendlichen Nachrichten. Die bisherigen Modelle des gesellschaftlichen Ausgleichs funktionieren nicht mehr im Zeitalter der Globalisierung. Und so ist der Weg der Selbsthilfe in den Grauzonen für viele die einzige Möglichkeit zu überleben. Mit „Goldmining“ etwa, dem Trainieren von Computerfiguren in Online-Spielen und dem Herstellen von dort gebrauchten Waffen, verdienen Jugendliche vor allen in Asien schon heute Geld. Wie groß dieser Bereich der Wirtschaft ist, dazu gibt es kaum seriöse Studien. Schätzungen gehen von dreistelligen Millionenbeträgen jedes Jahr aus. Irgendwann sollen sogar chinesische Strafgefangene von ihren Wärtern gezwungen worden sein, für „Wold of Warcraft“ als „Goldminer“ zu arbeiten. Hier löst der harmlose Virus eine Kettenreaktion aus. REAMDE verschlüsselt die Festplatten der befallenen Rechner. Und nur gegen Cash in virtueller Spielwährung will der Hacker die Dateien freigeben. Doch was gut geplant war, führt in der Spielwelt zu einem unkontrollierten Krieg um das haufenweise auftauchende Gold. Stephenson ist nicht der erste, der daraus den Stoff eines Romanes macht. Dieser Ruhm gebührt Cory Doctorow und seinem Buch „For The Win“. Aber wo Doctorow voller Pathos agiert, merkt man bei Stephenson die Meisterschaft des Erzählers: Jede der zahlreichen Figuren des Romans wird genau charakterisiert, so dass ihre Motive niemals platt daherkommen. Nicht nur der Hacker oder der Software-Fabrikant, auch dämliche russische Finanzverwalter, die die Altersvorsorge russischer Mafiosi verzocken scheinen plausibel wie diverse Geheimdienst-Chargen oder die dummerweise im falschen Haus wohnenenden Dschihadisten, die ihren Anschlag in China nicht machen können und dafür am liebsten Las Vegas sprengen würden. Am Ende gibt es auch in der realen Welt einen Krieg. Nicht zwischen Nationalstaaten sondern den verschiedensten Gruppen von Menschen, die durch den Virus in die Geschichte hineingezogen wurden. Man könnte „Error“ getrost als Action-Thriller bezeichnen. Doch den eigentlichen Reiz machen 46 die die Handlung eigentlich bremsenden Nebengedanken aus, den Hintergrundgeschichten der Protagonisten und der bis ins Detail festgelegten Story hinter dem Spiel T‘Rain, das anders als seine Konkurrenten damit prahlt, eine „echte“ Welt nachzubilden und nicht nur eine platte Spieloberfläche zu bieten. Stephenson erklärt nicht in seinem Buch, er erzählt: Vom Aufbau von Computerspielen ebenso wie vom Funktionieren internationaler Flugrouten im Zeitalter des Terrorismus, von Geldbewegungen im digitalen Netz und der Finanzwirtschaft innerhalb der organisierten Kriminalität. Und das ist in Kombination mit den wundervoll ambivalenten Charakteren seines Romans der Hauptgrund, sich durch die mehr als 1000 Seiten zu wälzen. „Error“ mag nicht das Zeug zum Klassiker haben, wie das „Snow Crash“ oder „Cryptonomicon“ in bestimmten Kreisen schon sind. Aber es ist als Thriller um vieles intelligenter und unterhaltsamer als ein Großteil der Romane, die zur Zeit auf dem Markt sind. Denn eines ist Stephenson auf jeden Fall: einer der besten Erzähler nicht nur der amerikanischen Literatur. © wasser-prawda Sprachraum Angelik a Janz: Schwarz und weiß Erzählung (Erstveröffentlichung) Der See hätte auseinanderbrechen müssen wie damals dem Moses und seinem Volk das Rote Meer, um eines Menschen Gedanken da hindurchführen zu können. Da, in der Mitte, der Länge nach, war nicht einmal Überschwang, nur RISS, das Allerentfernteste, das ein Ich v o r sich entblößen kann. Das befand sich dort: im, über dem, unter dem Wasser. Natürlich war überhaupt nichts zu sehen. Das war 1986. Wir verplauderten uns an Novalis: “Das Sichtbare haftet am Unsichtbaren...- und – vielleicht, das Denkbare am Undenkbaren.“ Wir sehen, aber was wir sehen ist falsch. Das Wasser hörte hier auf, einfach nur das Wasser eines Sees zu sein. Innerhalb des friedlich vom Westwind gekräuselten Sees, über den Mandarinenten hinwegglitten wie luftige Lampignons, gab es etwas, das dem Nachdenken gewöhnlicher Erfahrung widersagte,- ja, widersagte wie einem bösen Dämon. Dieser See dort, über den wir e s besser wussten, war eine Analogie - und dieses „e s“ war jene Tatsache, die weder Tat noch „Sache“ zusammenzuführen imstande war. Beides schien unumkehrbar voneinander getrennt zu sein. Zum ersten mal waren wir mit etwas Sichtbarem, Erfahrbarem, mit Natur schlechthin konfrontiert, inniger als jemals bisher, jawohl, mit einer Idylle konfrontiert, die nichts mehr galt als ein flüchtig hin gekritzeltes Wort, Singsang A-na-lo-gie – wussten wir etwas über die Bedeutung des Wortes? Nichts Trügerisches verbarg sich hinter der so gewollten Zusammenschau von Buchstaben. Bewegst du dich auffällig, so bedroht dich das Wort. Wie kann man sich in dieser Idylle auffällig bewegen? Nun, warum sollten wir uns auch bewegen? Die Sonne erwärmte unsere geschlossenen Lider, wir lagen auf dem hölzernen Bootssteg, redeten leise. Wir hätten mit dem Wald, der das gegenüberliegende Ufer säumte und hinter dem einige grob verputzte Fassaden ahnbar waren, Ähnliches in Gedanken anstellen mögen, auch ihn schloss die Analogie mit ein. Nein, lieber malten wir uns ein Deutschland aus, das ohne den Heimatbegriff nichts weiter, als eine Fläche Erde gewesen wäre, auf dem Häuser in der Landschaft standen und darin Menschen waren, die schliefen und aufwachten, wie es ihre Natur vorschreibt. Wir ritzten Umrisse in die poröse Ebene des Vorstellungsgeländes, und was außerhalb dieser Umrisse lag, das war gemeint. Die Flächen, die draußen lagen und die sich nicht zu einer geschlossenen Form entschließen konnten, entschließen durften, weil ihnen jede entschiedene Linie, die zu sich selbst zurückführen konnte (die bewusste Wendung), die landläufig begriffene Vollendung von Gestalt abnehmen würde. Wir schwimmen. Das uns umgebende Wasser macht unsere Bewegungen und unser Dasein darin möglich. Wir setzen uns über diese Bagatelle hinweg, über die wir uns zunächst so begeistert einig gewesen sind, als hätten wir die Welt neu in den Griff gezwungen. Was ist wichtig? Immer sind die Ebenen und Räume wichtig, an denen, in denen sich etwas fest machen lässt. Das Sichtbare haftet am Unsichtbaren. Wir möchten damit nichts anfangen. Wir füttern die Enten mit Mohnkuchen. Für sie ist das Sichtbare, das am Sichtbaren haftet, allein gültig. Sie schwimmen oben aufgrund 47 © wasser-prawda Sprachraum ihrer Befähigung, den selbstproduzierten Körpertalg mit dem Schnabel über ihr Gefieder zu verteilen, und wir können sie s e h e n, von dem Talg wissen wir nur. Wir können auf den See schauen, aber von seiner Eigenschaft, kein See mehr zu sein wie man Seen aus den Ferien, der Literatur und von den innerländlichen Landkarten kennt, können wir nicht wissen. Da wir aber behaupten, es doch zu wissen, uns aber den Beweis schenken, indem wir uns nicht auffällig bewegen, geraten wir gewissermaßen vor uns selbst in den Verdacht der Unglaubwürdigkeit. Wir setzen der Natur einen gefährlichen Stoff zu, der uns die Erinnerung vergiften wird. Wir sehen fern. Wir selbst sahen uns in diesem Apparat liegen in der Sonne, wir sahen, wie wir gesehen wurden, wir sahen uns nicht allein dort liegen. Novalis bäumte die Bäume und verwässerte das Wasser, als er schrieb:“...und vielleicht haftet das Denkbare am Undenkbaren.“ Hatte er sich vermessen dabei? Wir konnten das Denken mit einer Grenze nicht ausweisen. Vielleicht ist es das Un-Mögliche, an das sich unser Denken heftet. Das Unmögliche glaubten wir sichtbar machen zu können, indem wir eine geschlossene Form in eine vage Gegend ohne Himmel und Erde, ohne Maß und Tiefe hineingestikulierten. Die Einfalt ist nun tatsächlich nicht mehr auszugrenzen. Jenseits von ihr verschwendet sich nicht etwa das Unmögliche, - ein angeblich beseeltes Wesen aus Fleisch und Blut. Es ergeht sich in der Analogie statt im Grunewald. Es schwimmt durch die Analogie statt durch den Glienicker See. Auf der Mitte des See will es e s wissen: Schwimme ich in der Mitte eines Sees oder sehe ich mich nur fern in einem Apparat, der seltsam gleichschaltet das Sehen und Wiedersehen? Novalis hätte uns für jenen Moment unserer Erinnerung an Gelesenes schweigen sollen. Das Schweigen zwischen seinen Gedanken und die Idylle hier waren vollkommen. Zu jeder Idylle schließlich gehört eine Portion vorgedachter Angst. Hätte Novalis geschwiegen, wäre der See vielleicht selbst sein Schweigen gewesen, und der Glienicker See, der brackig war für keine 10 Zentimeter Durchsicht und mit seinen braven Enten aus Asien auf den Kräuselwellen das Unsichtbare, woran ein Sichtbares, sein Schweigen, haftete. Nach der Angst hätten wir uns gesehnt, vielleicht, weil wir immer etwas gegen uns haben müssen, das unseren sicheren Tod bedroht. Das Ende, wo sich Stoff nicht mehr gegen Stoff auflehnt und zerstäuben muss in dauerhaft begrenzter Reibung. Im Ende muss das Ungestaltete das Ungeschlachte einfach verschlingen. Für das Böse haben wir immer mehr Worte gewusst als für das Gute. Bevor in die deutsche Sprache der Begriff des Schuldgefühls seine zerstörerische Einkehr hielt, der bis heute sein karnevalistisches mea culpa nicht bei sich behalten kann, haben wir „nur“ die Scham gekannt. Wer setzte die gefühlsmäßige Sicherung dagegen, das Denken schon für Existenz zu halten, um sich mit seinen nach außen gewendeten Vereinbarkeiten beschwichtigt ins eigene Fleisch zurückziehen zu können? Wir waren bedient von der Analogie und machten uns auf den Weg nach Steinstücken, passierten die schmalste Einfassung der Landesgrenze, die Bernhard-Beyer-Straße in sengender Hitze. Es war Mittag, wir waren die Einzigen in dieser Strasse. Über das öde Niemandsland hinweg drang aus den hoch aufgeschossenen Kontrolltürmen anzügliches Lachen gutgelaunter VoPos zu uns herüber. Ihre Scherzlaute galten uns, sie hatten uns im Visier welcher Apparate? Sicherlich hätten sie über Hautunreinheiten in unseren Gesichtern mehr aussagen können, als wir über die Unreinheiten von Spekulation jenseits der Scham, auf der Seite des Überdrusses, wissen konnten. Angelika Janz, 1986/2013 48 Illustrationen: John Constable, Wolkenstudien John Constable, Moorwiesen bei Salsbury © wasser-prawda Sprachraum Jean Paul: Mein Aufenthalt in der Nepomukskirche während der Belagerung der Reichsfestung Ziebingen Je kleiner eine Reichsstadt, desto größer ist ihre Geheimnissucht, und ein ganz kleines Reichsdorf gesteht gar nicht einmal seine Existenz. Vielleicht glaubte auch Ziebingen – ein anderes Ziebingen als das im krossischen Kreise – wer sich zu spät beweglich (mobil) wider den Feind mache, werde leicht zu früh beweglich vor demselben und renne. Kurz, wäre Senat und Militär nicht so verschlossen gegen In- und Ausland gewesen wie die Jubelpforte in Rom, welche man nur an Jubeljahren aufmacht und sogleich zumauert: so hätt‘ ich von der bevorstehenden Belagerung etwas erfahren, eh‘ die Tore zugesperrt worden, und wäre fortgeritten; so aber wurde jeder Reisende mit einkaserniert, ohne etwas davon zu haben als diesen Aufsatz. Die schon aus öffentlichen Blättern bekannte Veranlassung war diese. Das Reichsstädtchen Diebsfehra – nicht das meißnische Dorf – besaß mit Ziebingen auf den Grenzen eine Gemeinhut, worauf beide ihre Gänse weiden durften. Unglücklicherweise fiel den 4. Mai ein so starker Hagel auf die Markung und Koppelhut-Aue, daß vierzig teils Gänse, teils Ganser erschlagen wurden, den Diebsfehraner Gänsehirten nicht einmal gerechnet, welchen der Blitz niederstreckte. Der Ziebingsche Gänsehirt ließ als Patriot alles Tote liegen und trieb so viel Lebendiges, wie sonst, nach der Festung. Diebsfehra, eine Stadt von mehr als anderthalb hundert Einwohnern, konnte eine solche Verletzung der Weide-Parität nicht schweigend erdulden, wenn sie bleiben wollte, was sie war – Minister mit dem Portefeuille der auswärtigen Angelegenheiten wurden mit den stärksten Vollmachten und Ausdrücken in die Festung geschickt – auf Halbpart oder Parität der Gänse wurde bestanden – Schmerzensgelder wurden gefordert – Sturmläufer gedroht. Aber die Ziebinger, schuß- und stichfest durch ihre Festung, schickten ihnen nichts als ein Protokoll der Aussage des Gemeindehirten, daß die Hagelwetter bloß über die Diebsfehraner Gänse gezogen; was, wie er beifügte, auch der erschlagene Gänsehirt beschwören würde, wenn er als Gespenst vor Gericht erschiene. Angebogen war noch ein physikalischer Beweis vom Stadt- und Landphysikus, daß nie eine Hagelwolke die ganze Erde treffe, sondern stets nur einen Streif, neben welchem folglich nicht einen Gänsefuß breit davon der ungetroffene liegen müsse; woraus erhelle, warum die in Frage gestellte Wolke sich bloß an den feindlichen Gänsen verschossen. Der Krieg zwischen beiden Mächten war entschieden, und tote Gänse schürten, wie einst lebendige kapitolinische, das Gefechtfeuer an. Denn so sehr auch Diebsfehra an Heereszahl den Ziebingern überlegen war, so besaßen diese doch eine Festung und noch oben darein den wackern, tüchtigen Kommandanten: Ich sterbe täglich und mein Leben; ein frommer und ziemlich abgekürzter, obwohl dennoch langer Name, welchen er nach der Sitte der Donatisten und Presbyterianer bei aller Länge sehr gut führen konnte, da man nur Kürze der Kommandowörter, nicht aber der Kommandantennamen verlangte. Auch brauchten die Belagerten nur die Tore zuzumachen, so konnte niemand wenigstens – heraus. Eingeriegelt wurden gegen alle Festungsmaximen – bloß um recht geheim zu bleiben – noch ein Elefant und ein Buchhändler. Letzterer hieß Peter Stöcklein und gab sich für einen Nachkömmling von dem bekannten Peter Stöcklein aus, welcher 1513 der erste Buchhändler in Leipzig war und der erst in seinem 102. Jahr mit Tod abging. Vielleicht würde die deutsche Gesellschaft in Leipzig sich um Deutschland oder die dasige Buchhändlerschaft sich um ihren primum adquirentem und buchhändlerischen Adam einiges Verdienst erwerben, wollte sie an Ort und Stelle dessen Begebenheiten und Nachkommen genauer nachgraben, um so durch anhaltende Forschungen seinen beinahe unter der Erde versteinerten Stammbaum ans Licht ziehen. Ich würde dann sehen, ob der neue Peter Stöcklein wirklich, wie er vorgibt, oben dran sitzt als Wipfel. Der neue Stöcklein nun wollte nach der Messe eine kleine Lustund Geschäftsreise durch die besten Schreib- und Kaufstädte machen, um Gelder, Schriftsteller und Käufer einzunehmen – als der Teufel, ein ewiger Naturforscher, ihn wie einen Hornschröter in die Festung festpflöckte. Stöcklein ist ein wahrhaft gebildeter Mann und voll gedruckter Kenntnisse, um mit mehr Auswahl geschriebene zu verlegen, und durch Autoren-Wissenschaften, um ganze Messen früher als sich selber zu bereichern, gewissermaßen ein Vielwisser, indem er Sortiments- und Verlagsbuchhändler zugleich ist. Da er, was mich anging, fast alles gelesen, was von mir gesagt worden, in den Rezensierblättern: so schloß er sich gern an mich und wünschte sich Glück zur gemeinschaftlichen Einsperrung. Darauf setzt‘ er hinzu: von der einen Seite könn er wohl eine flüchtige Belagerung gebrauchen für sein Belagermagazin – (er verlegte nämlich eines, so wie jetzo Kleider-, Sarg- oder andere Magazine und bei Buchhändlern fast alle übrigen Magazine zu haben sind) – aber von der andern Seite wünsch‘ er als Anfänger, den man mitten in seiner Reise aufhalte und der samt seinem Pferde kaum von der besten beschriebenen Belagerung in seinem Magazin satt werden könnte vor lauter Rabatt – da wünsch‘ er einen Verlagsartikel von mir. Da ich aber keinen in der Tasche, noch im Kopfe hatte: so schüttelt‘ ich diesen; darauf sagt‘ ich, um zu mildern, scherzhaft: ließ ich im Diskurse etwas von Gewicht fallen, so mög‘ er‘s aufnehmen und den Käufern auftischen. Später sah ich, daß er wirklich mit der Rechten in der Tasche arbeitete, um Einfälle aufzuschreiben, womit er seine Belagerung würzen wollte. Nun hebt dieser selber an. Der geheime Ziebinger Ausschuß wußte bestimmt, daß man die Festung den 8. Mai mittags berennen würde. Dieses Bekanntwerdenlassen zeigt, daß die Diebsfehraner echter deutsch waren als jene; denn wie die Samojeterinnen ein Glöckchen tragen, damit die Eltern jeden Schritt und Aufenthalt derselben wissen, so klingeln die Deutschen ebenso ihre Märsche den Feinden aus, wodurch diese am ersten baldigen Frieden geben können. Ja, wie hohe Priester mit Schellen am Rocksaume ins Allerheiligste gingen, um ihren Gang anzuzeigen: so gehen sie ebenso laut in und aus Sitzungen, wiewohl weniger, um damit ihren Gang, als den Gang der Sachen bekannt zu machen. – 49 © wasser-prawda Sprachraum Jetzt wurden ernsthafte Vorkehrungen getroffen, wozu lächerliche recht gut taugen. Patriotismus war allgemeine Empfindung. – Der Nachtwächter dankte ab, weil Bomben, wie er sagte, ihn gänzlich störten und springende die Diebe noch eher verjagen würden, als ein lahmer Mann, – die Fahnen wurden neu geweiht, – die allergefährlichsten, doch kriegserlaubten Stichwaffen wurden zusammengesucht, nämlich stumpfe und rostige, vor deren Wunden Gott bewahre. – Alle von uralten Belagerungen in Gebäuden wie Augäpfel eingesetzte Kanonenkugeln wurden ausgehoben, um von neuem loszugehen. Alles Scheibenpulver der Festung wurde dem Kartaunenpulver beigeschüttet, weil von letztem mehr hätte da sein sollen. – Wär‘s in einem der grimmigsten Winter gewesen, so hätte man sich leicht Kanonen aus Eis die Gewährleistung des Siegs. Vaterlands- und Reichsfestungsliebe, schrieb er, schlägt sogar im Herzen des Foetus vermittelst der Mutter, und alles will sich sogar bis auf den letzten Mann wehren (was glaublich ist, wenn vom letzten Mann nicht weit zum ersten ist). – Nur bedauerte der Zeitungsschreiber, daß seine Zeitung, welche dem Feinde allen Mut rauben könnte, gerade von demselben mit belagert werde. – Kurz, nun fehlte zur besten Verteidigung nichts als ein Feind dagegen; der aber erschien redlich am 8. Mai nachmittags. Fast hätte der Anfang uns sämtlich erschreckt. Nämlich durch einen bloßen Zufall – und noch bevor das belagernde Heerkorps sich völlig festgesetzt, fügt‘ es sich, da eben der Wind durch die Stadt ging, daß ein Luftballon – (kein größter) seinen sinkenden gebohrt, wegen Mangels metallener; denn einige vorrätige hatte kurz vorher der Kommandant, verschlagen genug, den Diebsfehranern aufgehangen und verkauft, für eine tüchtige Menge Fässer mit Mehl, da eine Festung wohl das Schießen, aber nicht das Schlucken entbehren kann. – Über das schwächste Tor – (ihr anderes war gut gedeckt) wurde eilig ein kleiner Hundestall mit einer Türe gegen den Feind und einer gegen die Stadt erbaut und darein ein halbwütiger Hund samt einer Kuppel gesunder getan, die sich untereinander während der Belagerung wütig beißen sollten, so daß man die tolle Nebengarnison aus der Feldtüre auf den anstürmenden Feind konnte hinabspringen lassen: ob er kriegsgerecht, da man den Spaniern in Amerika schon die gesunden verdenkt, entscheide ich nicht. – Das Pflaster brauchte man zum Glücke nicht aufzureißen, weil gar keines da war, so auch keinen Dünger aufzutragen, indem ihn jeder Bürger vor seinem Hause unterhielt, um sich durch diese verdauten Heuhaufen an den Frühling zu erinnern. – Der Kommandant forderte, um im höchsten Grade aufzumuntern, die Besatzung vor sich und gab ihr eine Ehrenbelohnung für ihre künftige Tapferkeit voraus, indem er sich von jedem seine Flinte reichen ließ, sie an seine eigene Schulter legte und dann mit den Worten wiedergab: »Hier empfange von mir eine Ehrenflinte; bist du in der Nähe ebenso tapfer, so schlag‘ ich auch deinen Säbel zu einem Ehrensäbel, und dann hast du Ehre am Leibe.« – Er setzte kleine Preise auf tapfere Träume voll Siege (wie sonst Tyrannen Strafen auf mörderische), um durch das Träumen das Wachen zu stählen. – Er selber kaufte sich den neuesten Kriegsschauplatz, nämlich die Ziebinger Stadtkarte und machte sich darin wie einheimisch, so daß er bei den verwickelten Vorfällen, der Feind mochte angreifen, wo er wollte, immer zu Hause war und das Örtliche kannte, wohin die Leute zu beordern waren. – Endlich sogar der Zeitungsschreiber gehörte unter die Bollwerke und Basteien der Stadt, und über alle Beschreibung entzündete er jeden Ziebinger durch die der feindlichen Schwäche und durch Bogenflug geradeüber der Festung beschloß; wir alle hielten den Ballon für eine der verdammtesten Bomben, die man je zum Teufel oder zum Feinde gewünscht: die tapfersten Ziebinger Gesichter wurden so weiß wie die Hahnkämme im Winter. Aber diese Kampfhähne sagten: »So beschießt uns aber mit ordentlichen Bomben, so sollt ihr sehen.« Gewissermaßen glichen also viele dem trefflichen Cicero, der, obwohl ein großer Redner, doch bei jedem Anfang zitterte, darauf fester fortsprach und endlich andere, z. B. einen Cäsar, ins Zittern brachte: Desto seliger sind Belagerte, die ein Kommandant, wie Ich sterbe täglich und mein Leben beschützt und verschanzt. Es war zwar kein borstiger Mann, dessen Nase ein gespannter Büchsenhahn und die Nasenlöcher Schießscharten sind und welcher sagt, ich wollte beim Teufel, alles, Gemeiner und Unteroffizier, Bürger und Bauer und Weib und Kind, alles wäre von Adel, damit ich mich mit ihm hiebe und schösse als mit meinesgleichen. – Vielmehr war umgekehrt der Mann sehr milder, milchiger Natur, nicht ein Brei, ein dicker, worin ein Knochen oder Degen feststeht, sondern eine weite, knochenlose Marksuppe, und so viele Narben er auch aufwies, so hatte sie doch sämtlich der Aderlaßschnapper geschlagen; aber sein Mut wurde bloß gedämpft und mehr gehörig eingeschränkt, da nahe an ihm ein Pulverhorn, wie eine Mine, gesprungen und ihn, wie der Blitzschlag Luther, theologisch gemacht hatte. Wie im bloßen Löwen von Butter, welchen Canova als Küchenjunge geformt, sich die ganze Größe des Künstlers verriet, so zeigte der Kommandant als weicher, butterner Löwe ganz, in jeder Linie, den Umriß eines wahren Kriegsleuen, und zwar sehr und genug: er ließ die Kriegs-Festungsgesetze, gleich dem Zendavesta, der auf 1200 Häute geschrieben worden, bloß weitläufiger und gröber, doch unleserlicher, weil das kurze Schreibrohr ein langes spanisches Rohr war, auf die Kompanien von Häuten schreiben und bringen, für die er zu stehen hatte; – es gab gar keinen so geringen Fehler, den er nicht mit kleiner Festungsstrafe ahndete in der großen Festung; – sogar Hunde wurden arretiert und auf 50 © wasser-prawda Sprachraum die Wache gebracht, welche an Schilderhäuschen den Sturm der Schildwache und ihr eigenes Wasser abgeschlagen. Man kann nun erraten, ob er sich in den Kleinigkeiten wohl weniger streng und kunstvoll benommen. Endlich aber zum Größeren zurück! Wer je die Allmacht über Subordinationsherzen berechnet hat, welche große Generale durch herablassende Teilnahme an gemeinen Pflichten ausüben: der errät leicht die Gründe, warum der Kommandant selber sich zum Losschlagen der ersten Kanone auf den Wall begab und die Kanonen-Magister-Künste [Fußnote] so beorderte: »Wischt aus – Kartusche in den Lauf – setzt an – Schlagröhre hinein und richtet – Feuer!« Aber der Feind, welcher wohl glaubte, bei einem höflichen Salutieren müßte man ohne Kugeln schießen fand sich beleidigt davon und machte nun keine Umstände, sondern den Anfang der Belagerung. Es ging los. Schon die erste feindliche Haubitze fuhr ins Schal�loch des Kreuzturms und warf mit schrecklichem Klange die Kindtaufsglocke auf die Gassen hinaus. Die erste Bombe fiel und zerplatzte und riß den Pranger und einem Invaliden das einzige Bein, das er von Holz hatte, hinweg und einem jungen Patrizier (was aber sehr nach Scherz klingt) die Nase von Wachs. Überhaupt hätte das Bombenfeuer der Diebsfehraner mörderisch werden können, hätten sie mehr als einen Mörser gehabt; denn mit Bomben waren sie fürchterlich versorgt. So konnte die Festung sich wenigstens während des Ladesabbaths etwas erholen und zurüsten. Die erste Bombe sonderte sogleich die Stadt in drei Teile: der erste, welcher Lagerbier hatte, begab sich zu diesem hinunter, der andere samt den fluchenden Reisenden in die bombenfeste Kirche, und der dritte aus Handwerkern, mit zu vielen Werkzeugen und Kindern belastet, blieb, wo er war, nur daß er seinen alten Düngerhaufen vor dem Fenster viel näher an dasselbe schob, ja auf dasselbe als Fensterladen und Schießhausmauer; eine närrische, umgekehrte Art von Mistbeetfenster, wo das Fenster unten liegt. Die ersten, welche in die Kirche gingen, waren ich, der Buchhändler und der Elefant. Der Elefantenherr war zu bedauern: mit Mühe brachte er den Christophel – so hieß er seinen Tierriesen, durch das enge Tor hinein – und nun nicht einmal hinaus. Da er ihn schon für gehöriges Schaugeld vorgewiesen: so war mit einem Vieh, das sicher der Stadt so alltäglich wie eine Katze, kein Pfennig weiter zu verdienen, indes der Christophel so ungeheuer fortfraß, als wär‘ er noch ein Wunder der Welt. Weil nun den Landwalfisch kein Keller faßte und ihn doch im Stalle jede Bombe finden konnte, so tat der Elefantenherr (ein struppiger, mongolisch-blickender, plattnasiger Kerl) vor dem Senat mehr als zwanzig ausländische Schwüre, daß er, wenn sein Christophel nicht in der Kirche stallen dürfe, ihm ohne weiteres drei Nösel Branntwein zu saufen gebe, worauf sein Tier (dafür steh‘ er) das erste beste Stadttor einrenne. Der Christophel wurde als innerer Türsteher hinter die Kirchentüre gestellt. Ich und der Buchhändler betteten uns in die Sakristei, wo es ganz artig war. Er schlief ganz nahe an mir, weil vielleicht im Traum, dacht‘ er, eine brauchbare Rede abfallen könnte. »Hier ist endlich,«sagt‘ ich, »Herr Buchhändler, Zeit und Ort zum Spaße und zu einem guten Tage. Die Alten (ließ ich fallen) verordneten bei Niederlagen, Pest und dergleichen statt der Bußtage Freudenfeste; warum wollen wir Neueren denn nicht die Trauer, statt mit Trauer, lieber mit Freude bekämpfen und dem äußeren Trauerspiel mit einem inneren Lustspiel entgegenspielen? Aus welchen Gründen bestehen Sie denn so sehr auf der entgegengesetzten Meinung, Herr Stöcklein?« – »Gott bewahre mich! Ist einer lustig in Staatsnöten, so bin ich‘s,« sagt er sehr ernst. »Recht,« sagt‘ ich; »sollen denn die Menschen den Fischen gleich werden, welche kein Zwergfell haben und es also nicht erschüttern durch Lachen? – Der Papiermüller kann nur bei heiterem Wetter fabrizieren; Heiteres von innen aber ist sowohl mir, der ich das Papier zum zweiten Male bearbeite, als Ihnen, der Sie es zum dritten Male abziehen, wahrlich noch nötiger als dem Papiermüller.« Ich trat ein wenig aus der Sakristei – eine anmutige Übersicht! Jeder weibliche Kirchenstuhl war von Männern bewohnt, alle Logen von Patriziern besetzt, von jeder Empore schauten Weiberköpfchen herab. Der weibliche Teil hatte sich absichtlich der höheren Emporen bemächtigt, um das männliche Beobachtungskorps unter sich zu haben. So war die Kirche viel – zugleich Spinnstube – Barbierstube – Ankleidezimmer – Boudoir – Herren- und Bedientenzimmer – Eßsaal – Schlafsaal und alles. Noch vor Nacht wurde der Feind fuchswild; unaufhörlich kanonierte und haubitzierte er, wiewohl nicht jedesmal zu unserem Schaden, da wir manche seiner Kugeln ihm wieder zuschicken konnten. Lächerlich genug schoß er einen Gewitterableiter entzwei, als wenn man im Erdengewitter des Krieges viel danach fragte, daß man von oben herab erschlagen werde, sobald man nur nicht von unten herauf erschossen wird. Zum Besten der Kirchenversammlung waren einige Leitern in die Kirche niedergelegt, welche von Personen, die um die Ihrigen bekümmert waren, aufgerichtet werden konnten, damit sie sähen, wie es draußen herginge. Die langen Kirchenfenster standen nämlich glücklicherweise nackt und von keinen Emporen überbaut da, so daß eine Leiter bequem anzubringen war. Ich legte meine an und stieg hinauf – Stöcklein mir nach, um das aufzufangen, was mir etwa von der Leiter entfiel – und sah in die Straßen hinein: ich sah nichts als Tapferkeit auf der Gasse. Da eben eine Bombe niedergefallen war, so beorderte ein außer ihrer Springweite stehender Patriot, mit einem Mute, der nichts fürchtet, seine Leute, mit ähnlichem hinzulaufen und Wasser darauf zu schütten. Die Leute aber, vielleicht weniger mutig als er oder glaubend, sie langten zu spät an, zögerten ein wenig, als zum Glück ein entwischter Tollhäusler, der alles, in einer versteckten Ecke eingekrümmt, vernommen hatte, hervorsprang und so lange auf die Bombe pißte, bis er sie tot gemacht. Darauf grub er sie heraus und rief springend. »Platzkügelchen ist mein, ist mein!« Dieser Vorfechter der Garnison und des Vaterlandes wird aber ewig in der Geschichte glänzen mit seiner Bombe, gleichsam seinen Parisapfel der Ehre in der Hand, den er sich selber gegeben; und seine Tollheit wird gerade ein Lob seiner Klugheit mehr sein. »Auch der Patrizier,« sagt‘ ich, die Leiter zurücksteigend, »tat das Seinige.« – »O Verehrtester,« sagte Stöcklein zurückweichend, »fangen Sie unten wieder an, ich höre nichts.« »Aber ich erriet,« sagt‘ ich unten am Leiterfuße, »den Braven schon längst, und zwar aus seinem Geruche. Junge Garnisonsoffiziere, wenn sie parfümiert (wohlberäuchert) genug sind, haben das Zeichen, woran man echten damaszierten Stahl erkennt, daß er nämlich einen unvertilgbaren Parfüm aushaucht; etwas Einziges an einem Metalle! Die gewöhnliche Ähnlichkeit mit dem Damaszener-Säbel – in das Eisen Scharten zu hauen, ohne eigene zu bekommen – bringt der wohlriechende Offizier nicht sowohl in den Krieg als aus dem Kriege, der ihn, wie den Stahl, wechselnd abkühlt und erhitzt, so daß er bei dem Friedensschlusse als ein Mann dasteht, der jede Stunde ins Feld taugt. Wenn ich sonst wollte, könnte ich das Gleichnis noch zu einem triftigen Spruche steigern: der rechte Mann sei scharf gegen Angriff, und doch zugleich anmutig genug; wie der Damaszener, zerhau‘ er Eisen und hauche Blumenduft.« Der Buchhändler konnte die rechte Hand nicht aus der Tasche bringen. Die Nacht verdroß manchen von uns, weil das einfältige Hinund Herschießen uns bald im ersten Schlafe störte, bald im zweiten, bald im dritten. Wird denn der Gottesfrieden des Schlafs gar so wenig bei Belagerungen respektiert? fragt‘ ich. Schlaftrunken und ungemein verdrießlich guckt‘ ich aus der Sakristei in das Kirchenschiff und dessen wache Schiffsmannschaft hinaus; ergötzte mich doch aber einigermaßen an der Beleuchtung durch die Wachslichter auf dem Altar und durch einen schlechten Kronleuchter, der statt des Tauf-Engels in der Mitte hing. Mehrere eingelaufene Juden waren so froh wie die Fische im Wasser, das kocht, wiewohl sie für ihren Interimsübertritt in unsere Kirche 51 © wasser-prawda Sprachraum etwas Besseres verdienten. Plötzlich schlug gar eine Bombe auf unser Sturmdach auf, – alle Schlaftrunkenheit war fort – alle sahen an die Kirchendecke und glaubten, jeder daran gemalte Prophet fahre hinunter und die Bombe ihm nach. Die einkasernierte Judenschaft verwandelte die Nepomukskirche in eine Casualsynagoge und schrie Zions oder dergleichen, denn für Beten nahm ich ihr Heulen. Am Tage indes machten sie zum Glück einige Geschäfte im Tempel. Auch hatten verschiedene Betteljuden in Kompanie einen reichen Juden, der bei einer Klosterversteigerung und Zerstörung mehrere gut erhaltene Beichtstühle und Altäre erstanden, solche für die Kirche abgemietet, teils um die Altäre wieder an die Geistlichkeiten zu vermieten – da bei den allgemeinen Todesgefahren und Sterbebetten so viele gar nicht eingepfarrte Seelen zum letzten Male, und zwar täglich, das Abendmahl zu nehmen wünschten, – teils um die Beichtstühle selber zu bewohnen und sich darin, wie in kleinen Judengassen, jüdisch reiner zu erhalten. Sogar die Bettler, welche in der Kirche sich nähren und schützen wollten, machten mehrere gar nicht verächtliche Geschäfte, da sie als ihre eigenen Klingelbeutelträger herum sammelnd immer wahre Christen fanden, die sich gern als solche vor einer ganzen zustehenden Gemeinde bezeigten und täglich einen Pfennig heropferten, zumal in solcher Angst. Nur hatte die kirchliche Bettlerschaft vielen Verdruß und Kampf mit einem alten bettelnden Ehepaar, das, seit Jahren vor der großen Kirchtür seßhaft, jetzt auch hereingetreten war und deshalb eine Art Recht auf die Almosenladung des Kirchenschiffs zu behaupten wagte. Nach meiner Ansicht aber hat hier das Bettlerpaar weit mehr Eigennutz als Recht. Am Morgen verließ ich den Kirchenarrest ein wenig und strich – mit Stöcklein neben mir – in den Gassen umher. Wir gingen in den italienischen Keller, wo wir den fröhlichsten Mann der Festung fanden, den Italiener, weil sein Keller zugleich ein Sturmdach und ein Himmel voll Manna für seine Gäste gewesen. Zu letztem schlug ich mich – nur Stöcklein ließ sich weder vom Wirte noch von mir etwas geben; – und nach wenigen Gläsern erhob ich die Ziebinger auf Kosten der Fürsten. Denn ich sagte: »Die meisten Fürsten machen es mit den Kriegern wie (nach Lichtenbergs Vorwürfen) die Astronomen mit den Sternen, welche sich mehr um die Bewegungen derselben als um deren Natur bekümmerten. – Sie glauben mit Goldkörnern den Staat fruchtbar zu besäen; Goldstaub halten sie für lebendigen Blumenstaub, der befruchtet und fortpflanzt. Indes verstehen sie doch wohl mehr, als wir vermuten; man denke an den blinden Huber (den Naturforscher), welcher über die Bienen die größten Entdeckungen bloß dadurch ohne alle Augen machte, daß er von seinem Staatsbedienten, nämlich seinem Bedienten, sich alles sagen ließ, was dieser sah.« – Stöcklein wurde glücklich in der Tasche, seinem Glückshafen. Wir gingen von da aus zu einem Töpfer, um ein Kabinettsgefäß zu kaufen, welches allerdings nur dann in eine Kirche gehört, wenn ein Bett dazu dasteht, worunter man‘s stellt, sonst nie. »Wel- che reine Farbengebung und Zeichnung,« sagt‘ ich, als ich in das Gefäß hineinschaute und die Blumenstücke recht ins Auge faßte. »Meister, führ‘ Er so fort und lief‘ Er sich täglich selber den Rang ab! Meister, ob er dann zuletzt uns nicht mit einer Barbarini- oder Portlandvase überraschte? Da möcht‘ ich den Mann sehen, der sich herstellte und schwüre, diese könn‘ er so wenig machen, wie ein ägyptischer Zauberer eine Laus.« – Nur sollte das Töpferhandwerk seine Kunstwerke nicht, wie Christen ihren Schmuck, bloß innen anbringen. Wie so mancher Kunstliebhaber muß jetzt seine Schüssel saurer Milch erst aufessen, bis er allmählich sich durch den Löffel ein gemaltes Blatt nach dem andern von dem Schüssel- oder Blumenstück aufdeckt, so daß er das Ganze nicht eher genießt, als bis er satt ist? Als ich mich aber nach einigen der neuesten Werke des Künstlers umsah: fand ich die Blumenstücke sämtlich wie von einem Höllenbreughel so verzerrt und die Gefäße so verdreht, daß ich ihn darüber befragte. »Ach,« sagte der Töpfer, »vor dem teuflischen Geschieße zittert dem Menschen Arm und Bein und da verfumfeiet er freilich jeden Bettel.« So ist also die Bemerkung nicht allgemein wahr, daß immer in Kriegsläuften, wie z. B. in Athen, die Künste besonders blühen. Unter der Haustür wetteiferten ich und der Buchhändler freundschaftlich, wer den Topf öffentlich durch die Straßen tragen sollte; er focht ihn mir aber endlich ab. Als wir vor einem Fenster ohne Mist vorbeikamen, sahen wir darin einen Schauspieler sitzen, der sich in der Rolle Fallstaffs wollte malen lassen und deshalb anstrengte, eines der komischen Gesichter aus dem Stegreif zu schneiden, damit es für einen Theateralmanach zu stechen wäre. Aber – aus Bombenschauder – sah er wie ein Gekreuzigter aus oder wie ein Scheintoter oder wie ein Bleikoliker oder wie ein Gichtmaterialist; indes sogar auf diesem Wege erreichte er seinen Zweck, lächerlich auszusehen. Als wir in den Notstall der Nepomukskirche zurückgekommen, so hoffte der listige Stöcklein – teils weil ich in der lachenden Stimmung war, teils weil er den Topf getragen – sich vielleicht jetzt einen Verlagsartikel auszuwirken, und wiederholte sein Anbetteln. Ich versprach in der Not ihm, wenn er eine Rezensieranstalt anlegte, solche mit mehreren Selbstrezensionen meiner Werke möglichst zu unterstützen. Um 12 Uhr fuhr eine Hiobspost in die Kirche: der Kommandant hatte bei der Parole bekannt gemacht, er habe sichere Nachricht, daß der Feind gestern einen zweiten Bombenmörser aufgetrieben und aufgepflanzt. »Jetzt kann es hitzig hergehen,« sagt‘ er. Nach der Tafel brachte bei ihm leise der Feldprediger seinen alten Gedanken vor: »Fiele er nur einmal bei Nacht aus, so wäre das meiste vorbei.« In der Welt kann der Umstand nicht allgemein bekannt sein, daß der Prediger als Gewissensrat und Beichtprediger viele Freiheit hatte und gleich einem Kanarienvogel, der sogar gefüttert nach seiner Speisemeisterin mit dem Schnabel hackt, ebenso mit dem seinigen nach ihm picken durfte. Der klügere Kommandant 52 © wasser-prawda Sprachraum versetzte ihm: »Er harre bloß aufs Wetterglas und sehe stündlich danach; noch fehle das nötige Regenwetter, doch falle das Glas.« Der zweite Bombenmörser beschoß schon im voraus die Geister in und außer der Kirche. Die Turmmusik wurde bloß unten im Turme, nicht weit vom Elefanten geblasen – kein Schornsteinfeger thronte mehr mit dem Besenszepter außerhalb des Schornsteins, um über die Stadt hinwegzusingen, und wer einen Augiasstall besaß, verpachtete dessen Ertrag karrenweise als Jalousieläden gegen das Feuer. Singende Prozessionen wurden durch die ganze Kirche gehalten (außen wäre Todesgefahr gewesen) und männliche zogen (aus Mangel an Platz) die Treppen hinauf, weibliche herab. Stöcklein, der ein Hasenherz für eine Hasenscharte hielt, deren man sich nicht zu schämen braucht, sagte geradezu heraus: »Ich wollte, ich schnürte daheim Ballen. Gern gäb‘ ich das neueste Heft des Belagerungsmuseums auf, könnt‘ ich aus dem Satansloche hinaus!« »Und gerade jetzt läßt sich‘s zum Interesse an,« sagt‘ ich; »Brandaffären, Stürme nicht einmal angeschlagen, so sehr sie auch ein Museumsheft verzieren mögen. Denn von nun an werden beide Städte vom Schicksal zu so ungeheuren Fechtbewegungen gegen einander getrieben, daß im großen solche erscheinen, als man im kleinen bei einem gewissen Spaße bei Maikäfern bemerkt und belacht. Es werden nämlich zwei Käfer in Brot bis zur Hälfte eingeklebt; – dann werden die beiden Vorderfüße eines jeden in zwei lange Strohhalme eingetrieben, und darauf erwartet man die Folgen. Aber sogleich fangen die inhaftierten, vom Brot gedrückten Käfer, die mit ihren freien Vorderfüßen zappeln wollen, mit ihren Riesenrappieren gegen einander so gewaltig zu fechten an, mit solchen Windmühlenbewegungen schlagen ihre langen Speere durch die Luft, daß die Leute mitten im Lachen noch fragen: sind‘s Käfer?« – Stöcklein ging beiseite; er hatte mir in der Tasche nicht ganz nachkommen können. Gegen Abend erschien der alles bedenkende Kommandant mit der Nachricht, daß er jede Nacht ein paar Stunden Betstunde wolle halten lassen, gleichsam Wettergebete gegen das Kriegsgewitter; »in Kirchen kommen ja von jeher Verwundete und Kriegsgefangene; und was sind wir armen gewiß, er wolle mit seinem eignen Beispiele vorgehen, Sünder denn geistlicherweise anders?« Er versicherte noch, – welcher Mann! Er hielt sein schönes Wort und erschien, ungeachtet alles Schießens, nachts in unserem Notstall und Hafen. Wie Agesilaus immer in Tempeln Herberge nahm, damit sein Leben jedem Auge aufgedeckt vorläge: so wollte auch er durch den Kirchenbesuch allen Ziebingern seine Gesinnung offen hinstellen. Er hielt den Gottesdienst aus, so sehr man auch bombardierte, – nur daß er von Zeit zu Zeit durch den Adjutanten Befehle abschicken mußte; – ja nicht einmal eine auf dem Nepomuksdache aufschlagende Bombe vertrieb ihn von seinem Betposten. Am Morgen brachte der Beichtvater wieder den Ausfall in Vorschlag; aber noch immer stand das Wetterglas nicht bei Sturm, sondern fiel erst auf ihn zu. Am Tage wurde zu wenig geschossen. Aus Langweile sucht‘ ich, in Erwartung des lebhaften Nachtschießens, meine Gedanken über den größten und insofern wichtigsten Teil der Schriftsteller, nämlich den elenden, mir selber laut zu entwickeln; da aber lautes Sprechen lebendiger wird, wenn jemand da ist, der zuhört: so war mir Stöcklein wie gerufen dazu. Ich entwickelte mir ungefähr folgendes vor ihm: alle öffentlichen Bibliotheken bewahrten bisher nur gute Werke der Nachwelt auf. Es fragt sich aber, wenn die Nachwelt den Geist der vorigen Zeit aus dem Innersten kennen lernen will, ob sie diese Kenntnis richtiger aus genialen Werken, welche jedesmal über den Geist ihrer Zeit hinausspringen, zu schöpfen vermöge, oder vielmehr aus ganz elenden, welche als Nachdruck und Brut ihrer Zeit und durch ihre Menge am stärksten deren Bild, besonders die Schattenseite, abzeichnen. Mit welcher Begierde würden wir z. B. die Schartekenbibliothek der beiden während der Reformation schreienden Parteien durchlaufen! Ebenso wünscht‘ ich eine Nachahmer-Bibliothek, z. B. von Goethe, von Klopstock. Schlechte Bücher zerrinnen, wie Wolken, auf immer; aber etwas in mir will haben, daß von jedem abgedruckten Schmierbuch wenigstens ein Exemplar übrig bleibe. Hierzu wäre noch etwas zu wünschen, das wohl paradox genug scheint. Nämlich eine Gesellschaft Buchhändler müßte sich zusammenschließen, bloß zum Verlage elender Werke, anstatt daß jetzt nur einer und der andere ganz damit umhangen ist, oder daß sie bei den meisten gar sich mit guten vermischen; um wie viel reicher würde unsere Literatur an sonst auf immer verlorenen Werken anfangender Schriftsteller von 18 oder 81 Jahren sein! »Unehre, lieber Stöcklein, macht ohnehin ein Buch nicht dem, der es kauft und nicht lieset, sondern höchstens dem, der es kauft und lieset, und ein Rittergutsbesitzer handelt ohne Befleckung seines Wappens mit Schweinen und Fusel. Auch befürchtet kein Vernünftiger, wie Sie, es werde etwa ein Autor sich schämen, an einen Dutzendbuchhändler (nach Ähnlichkeit der Dutzendmaler und Dutzenduhren) etwas zu schicken, was einige Buchhändler abwiesen. In London war die Gasse Grubstreet zum Pferch erbärmlicher Autoren in allen Büchern verschrien; und dennoch zog einer nach dem andern ohne Scheu hinein. Aber jeder mit Recht. Er konnte innerlich lächeln, und, indem er seine fünf Treppen hinaufkletterte, vergnügt sagen: »der Rock macht nicht den Mann, und die Gasse nicht den Autor; desto schlimmer, daß meine Schreibnachbarn wahre, ausgemachte Narren sind.« Ebenso wird der Autor, wenn er seine Handschrift an den Dutzendbuchhändler schickt, schalkhaft denken: »wenn der Narr im Ernste auf ein miserables Buch es absieht, so hab‘ ich ihn gewaltig geprellt: das Werk ist göttlich.« 53 © wasser-prawda Sprachraum Stöcklein, Sie müssen hier Vorurteile fahren lassen, die ich selber sonst gehegt. Schlechte Autoren haben wahren Wert für schlechte Leser, oft für ganze Provinzen, allein gegen zweitausend Leser gibt es kaum zwei schlechte Schreiber. Ist aber das Publikum dem Chore des Aristophanes, der bald aus Wespen, bald aus Wolken, bald aus Fröschen bestand, so ähnlich, so sollte man doch auf das ernsthaft denken, was es nötig hat. Auch scheint der Himmel, um einigermaßen dem verhältnismäßigen Mangel an gemeinen Autoren abzuhelfen, ihnen desto größere Fruchtbarkeit verliehen zu haben, so daß sie in jeder Messe mit Drillingen, Fünflingen, Sechslingen niederkommen; so bemerkte Dr. Jahn »über die Kinderkrankheiten,« daß gerade bei Armen und Schwächlingen Zwillinge am häufigsten erscheinen. Auch treffen Sie ja in der Unterklasse der Schreiber alle Exemplare der Oberklasse, nur aber verkleinert, an, kleine, niedliche, deutsche Klopstocke, Goethe, Herder usw.; sowie sogenannte fliegende Hirsche oder Stiere, fliegende Böcke, fliegende Ferkel unter den Käfern. Dies mag vielleicht die Ursache sein, daß aus solchen schlechten Werken so viele feinere Leser übergroßes Vergnügen schöpfen, wie wenigstens der Ekel nach deren Lesung bezeugt, welcher gewöhnlich das Übermaß der Lust begleitet; denn schon Cicero sagt. »Überall werden gerade die höchsten Wollüste durch Ekel und Überdruß begrenzt und beschlossen.« Ich weiß, Stöcklein, daß Sie an das schnelle Dahinfahren und Versterben der Sudelbücher sich am wenigsten stoßen; aber haben Sie nicht recht? Die Hebräer haben kein Präsens, die Buchhändler kein Futurum; denn was hilft das Aufleben eines Verlagsartikels nach dem Ableben des Verlegers, wenn er selber ein Ladenhüter des Sargs geworden; viele Werke sollen ihrer Natur nach wie Kalender nicht ins Blaue hinaus leben; Tagschriften z. B. gleichen den Tertienuhren, welche desto kürzer gehen, je feiner teilend sie in die Zeit eingreifen; sie müssen – in einem deutlicheren Bilde – warm wie Eselsmilch, so wie sie von dem Tiere kommt, genossen werden. Endlich sollte ich mich wundern, wenn Sie nicht mehr als einmal sich hingesetzt und folgendes erwogen hätten, daß Krüppelbücher einen besonderen Freibrief genießen. Allerdings gibt‘s in jeder bedeutenden Stadt einen Mann, der ihn am ausgezeichnetsten genießt; jeden Tag gibt er das Seinige in Druck und ergreift damit tausend Leser, ohne je von einem Kunstrichter (dies ist aber eben der Freibrief) getadelt worden zu sein, so sehr er sich auch wörtlich wiederholt, wiewohl gerade dies seine Leser verlangen und eben darauf bestehen, daß er nichts in Druck gebe als täglich bloß den Namen seiner Station, wovon er – Postmeister ist. Offenbar spreche ich von den gedruckten Städtenamen auf Briefen. Indes hat der Trödelautor doch den Anteil am Freibriefe, daß er kurz, selten und oft zu spät beurteilt wird. Wenn nämlich die Kunstrichter mit Staubbesen, Prangern, Rädern und Stricken auf der reitenden Post ankommen, in Zeitungspaketen, um ihm kein lebendiges Haar, ja kein graues zu lassen, so hat er ohnehin keins mehr, und alles liegt schon sanft und tief begraben. Betrübt hingegen geht es unsterblichen Werken. Wie sonst die zartduftende Blume aus der scharfen Zwiebel wächst, so entspringt umgekehrt aus der poetischen Blume die beißende Kritik. Verdienste reizen zu nichts als zur Haussuchung nach Sünden, und man erfüllt gerade das Gegenteil des preußischen Gesetzes, das bloß Unteroffiziere, welche Verdienstmedaillen haben, von der Fuchtel freispricht. Ich erstaune oft, daß noch so viele göttlich schreiben. Wenn Plinius die Götter für weniger glücklich hält als die Menschen, weil nur diese sich das Leben nehmen, jene aber unsterblich bleiben müssen, so ist dieser Satz, obwohl für sterbliche Menschen grundfalsch, doch für deren unsterbliche Werke grundwahr. Versuchen Sie es, Freund Stöcklein, und setzen Sie bloß aus Spaß eine unsterbliche Ilias auf oder, wenn‘s Ihrem Humor mehr zuschlägt, ein aristophanisches Lustspiel: glauben Sie mir, daß Sie dann mit Ihrem unsterblichen Meisterstücke unter dem Arm – das wir alle nicht genug bewundern können, und deshalb ich ordentlich vor Ihnen niederknien möchte, – durch ein Jahrhundert und Volk nach dem andern kritische Spießruten oder Gassen laufen müssen – jeder frischgeborne Rezensent setzt von neuem etwas an einem so seltenen Werke aus (ich wollt‘, ich hätt‘ den Spitzbuben bei der Hand oder bei den Haaren, bloß um einen Unsterblichen, wie Sie, zu rächen). Nicht etwa einmal, wie Ihr Verlagsschreiber, werden Sie rezensiert, sondern ein paar tausendmal, und fortgestochen, solang es Federn dazu gibt. Daher rat ich als guter Freund Ihnen nicht dazu, zur Unsterblichkeit.« – Er tat, als nähm‘ er wirklich den ganzen Vorschlag – scherzhafte Züge ausgenommen – sehr wichtig für sein Fachwerk, damit er sich niedersetzen konnte und vor meinen Augen das Hauptsächlichste niederschreiben und mich um Unterstützung seines Gedächtnisses bitten durfte; aber ich wußte wohl, daß der Kauz die Rede nur für einen Spaß ansah, der gedruckt trefflich zu gebrauchen wäre. Nachts übertraf das Bombenfeuer – weil es zwei Mörser machten – jedes, dessen sich die ältesten Ziebinger erinnerten. Sogar der Kommandant wurde in seiner Andacht gestört und mußte aus der Kirche heraus, besonders da ihr gegenüber das Haus des Helfers (des Diakonus) zu brennen anfing. Ich bestieg die Leiter, um die guten Löschanstalten zu besehen. Aber etwas Wichtigeres zog mich an. Es kam die Helferin in ihrem höchsten Putze aus ihrem Hause heraus; sie hatte, um ihre Hände frei zu behalten und doch ihren Kleiderschmuck zu retten, solchen auf einmal angezogen. Sie trug zugleich ihr Brautkleid – ihren Traueranzug – ihr Abendmahlskleid – ihr weißes Spitzenkleid – dann das feuerfarbene seidene und auf dem Kopfe einen majestätischen Hut mit Federn und in den Händen alle ihre feinen Hemden. Aber sie wollte mehr retten. So schwer sie sich als Selberballenbinderin in dieser Kleidergeschwulst bewegen konnte, so schritt sie doch zu dem der Gefahr nahen Schweinstall hin, um hier ein Kleinod aus der Gefahr zu ziehen. Nachdem sie die Hemden aufs Schweinsdach gelegt, suchte sie im Stalle mit den Händen nach der Schweinsmutter, um solche aus dem Koben herauszuholen. Sie fing endlich die Mutter am Schwanze und wollte (welch‘ unbedachtsames Unternehmen und so wenig schicklich für den majestätischen Hut mit Federn!) und wollte, sag‘ ich, solche an diesem Hinterhefte herauszerren. Aber nachdem sie das Vieh nach unsäglicher Anstrengung mit den Hinterfüßen bis an die Schwelle gezogen: so schoß es wieder in den Koben herein wie ein Theaterdolch in seinen Griff. Sie erwischte wieder den Schwanzhenkel und zog unmenschlich aus Angst und brachte das Tier schon mit den Vorderbeinen bis an die Schwelle: auf einmal war es wieder hineingefahren! Endlich erbarmte sich ein Fleischerknecht des zu großen Jammers und faßte die Bestie an den Ohren und schleppte sie dahin, wo die Dame vorausging. Am Morgen hätte der wackere »Ich sterbe täglich und mein Leben« nicht bei sich sein müssen, sondern des Teufels, wenn er, nachdem zwei Mörser und ein Brand da waren und Regen, und das Wetterglas unter Sturm, nicht endlich dem Andringen nachgegeben hätte, in der nächsten Nacht auszufallen. Die ganze Festung spannte sich darauf. Es wurde wirklich ausgefallen. Man schlich durch das untere Tor hinaus (das obere war das andere), aber kein Feind war zu finden. Der ausfallenden Besatzung wuchs der Mut von Schritt zu Schritt, und sie fluchte leise terribel darüber, daß sie ihn nicht zeigen konnten. Endlich hörte sie am oberen Tor Gelärme. Der Ausfall war trefflich gewählt, denn die Diebsfehraner wollten eben einen Einfall tun durchs obere Tor und so sich die Stadtschlüssel oder Stadtdietriche selber schmieden. Die Ziebinger zogen um die halbe Festung herum, und nun zeigte ein zufälliger Mondblick Feind dem Feind. Schrecklicher Anblick! – Die Geschichte meldet, daß der große griechische Feldherr Aratus stets vor einer Schlacht einen heftigen Durchfall bekam, der so lange anhielt, bis die Schlacht in Gang gekommen. Diese unschuldige Anekdote mißbrauchte ein Ziebinger Kauz, um mit ihr, und gedeckt durch die finstere Regennacht, seinen Spaß glaublicher einzuleiten. Es hätten nämlich, verfocht der Kauz, beide Heere, sobald sie einander erblickt hätten, sich in ebenso viele Feldherren Aratus verwandelt; sogleich hätten beide durch Winke oder Parlamentäre oder sonstige Zeichen (hier will es mit der Wahrscheinlichkeit schlecht fort) einen halbviertelstündigen Waffenstillstand geschlossen – während desselben hätten beide Mächte einander gebückt gegenüber gehalten und erst nach Ablauf der Sache hätten sie sich einmütig aufgerichtet zum Angriff. – Doch zu ernsteren Gegenständen! Beide Heere gingen aufeinander los, nur aber mit einer so mißtönigen, sich widerschreienden Feldmusik voll Graus-Lauten, als je eine Kirchenmusik in einer Dorfkirche glühend in die Ohren gegossen; ein Zeichen der Furcht, woraus man indes bei Feldmusikanten nichts macht. Die Krieger hingegen gingen mit einem Feuer auf einander zu, daß sie die kleine, schon durch das Wetterglas verkündigte Erderschütterung – so wie einmal die Römer und Karthager ein großes Erdbeben unter dem Gefechte –garnicht verspürten, sondern nur glaubten, nur sie selber bebten, nicht die Erde. Wenn man im Gefechte laufende Soldaten mit stehenden vergleicht, so verlieren diese insofern an Ansehen, inwiefern Raphael, welcher seinen Figuren meistens Bewegung, selten feste Stellung gab, ein Mann ist, der Schönheit kennt. Aber Schönheit beiseite! Ein anfangendes Laufen beider Heere hatte seine Gründe; und wenn unter Waffen die Gesetze schweigen (inter arma silent leges), so gehören die Kriegsgesetze, z. B. Desertionsverbote, auch dazu. Die Ziebinger merkten nämlich, schlau genug, daß einige Diebsfehraner weiterliefen, und verschmitzt witterten sie aus, daß diese wenigen nur ein Vortrab der übrigen wären, die in das jetzt offengelassene untere Tor hineinstürzen wollten. Hier galt es Entschlossenheit. Der ganze Ziebinger Ausfall verkehrte sich auf der Stelle in einen Gesamt-Achilles, den Homer bekanntlich wegen seines Laufens so pries: Alle liefen, rannten, flogen – die Diebsfehraner ihnen nach, aber in der Tat zu langsam und matt – und so erreichten die Ziebinger glücklich als Sieger ihr unteres Tor, ohne einen eigenen Mann verloren oder einen fremden eingelassen zu haben. Man trank die ganze Nacht auf den sieg- 54 © wasser-prawda Sprachraum reichen Ausgang. Indes wird dieser niemals fehlen, wenn ein »Ich sterbe und mein Leben« anführt. Am Morgen, als die Menschen wieder zu sich kamen, was auch Stöcklein tat, herrschte dennoch starker Verdruß. So hat noch immer, sagte jeder, das verfluchte Wehren und Siegen kein Ende, und niemand zieht einen Kreuzer davon. Besonders sah der Buchhändler aus wie ein Pfefferstrauch oder wie betrunken in Wermutwein; denn er mochte das, was ich fallen ließ, noch so genau zusammensummieren, so fand er doch am Ende, daß damit, wenn es gedruckt würde, nicht einmal die Haferrechnung bezahlt war. »O ihr Götter, helft einem Unschuldigen doch aus diesem unglücklichen Kerker heraus!« sagte er und sah himmelwärts. »Sie haben Sehnsucht,« sagte ich und faßte die Rechte, die sonst in der Tasche arbeitete. »Oh, wer nicht,« versetzte er. – »Daran erkenn‘ ich Sie,« sagte ich, »oder vielmehr die schönere höhere Natur des Menschen; bei allem Reichtum des irdischen Lebens sehnt er sich nach einem höheren und durstet und verdurstet, so wie auf dem wasserreichen Meere mehr Menschen verdursten als auf dem trocknen. Sogar im irdischen treibt der Mensch sein Sehnen noch fort und schmachtet, auf Silberstangen springend, nach einer Goldstange.« Ich drückte die Stöckleinsche Hand recht herzlich, welche sich nach nichts so sehnte als nach der Tasche; er wußte aber nicht, wie ein solcher Liebesbund schicklich genug zu zerreißen sei zum Nachschreiben. »Nun, was uns mit jedem Heere mehr geschlagene Buchhändler betrifft« – versetzte er mit einem weinerlichen Lächeln und mit einem Ton ohnegleichen – »so wissen wir nicht einmal von Silberstangen etwas (ach, damit wäre jedes Handlungshaus zufrieden): an Leinestangen hängen wir gerupft oder an Räucherstangen schwarz vor Ärger.« Niemand wundere sich über des Mannes Witz: erstlich ist, wie man aus allen Streitschriften ersieht, nichts leichter, als eine gegebene Allegorie fortzusetzen, zweitens spricht jeder über sein eigenes Fach am leichtesten mit Anspielungen. »So ist der Mensch und Sie dazu« – sagte ich – »die Weltgeschichte und die Weltkarte entwirft er bloß nach den Zwecken und Gängen seines kleinen Lebens, wie der Schiffer aus seinen Karten alle Weltteile als leere Räume bezeichnet und nur Klippen, Meere usw. als volle hinstellt. Daher will der Mensch stets das Alte, was sich immer leichter in seine Spekulationen einfügt als das Neue; jeder Gebrauch soll seine Silberhochzeit feiern,« sagte er, »wenn auch Bleihochzeiten und Arsenikhochzeiten daraus werden. Aus diesem Grunde halte ich den deutschen Patriotismus, den so viele gemeine, ums Vaterland ganz unbekümmerte Seelen jetzt zeigen wollen, mehr für einen warmen Privatpatriotismus, den gedachte Seelen für ihre eigene Person haben, weil sie (und mich dünkt, nicht unphilosophisch) alles (omnia secum portantes) und folglich auch das Vaterland bei sich tragen. Schön ist es wohl; es gibt dem Leichenzuge des betrauerten Vaterlandes mehr Ansehen, wenn auch niedrige Seelen schwarz mitgehen; so sind bei vornehmen Leichenbegängnissen nicht nur die Menschen überflort, sondern auch die kalten, festen Pferde ziehen in Trauerfloren mit . . . Apropos, Stöcklein, in dieser Nacht mache ich, daß die Belagerung übermorgen ein Ende hat« . . . Stöcklein wollte fragen und herausholen – ja jubeln – ich aber sagte, jeder Mensch erwarte die Nacht! Ich überspringe, wie immer, kleine Kriegsvorfälle, welche dem guten Buchhändler, der im »Museum« vollständig und neu sein will, vor dem Munde wegzuraffen ein Haus- und Kirchendiebstahl wäre. Nachts nach den Nachtandachten stieg ich, während der Prediger von der Kanzel herabging, dieselbe hinauf, wir grüßten uns im Begegnen, und ich fing oben an – aber fast gestört durch den einfältigen Buchhändler, der unten im Beichtstuhle saß mit Feder und Tinte: »Euer Exzellenz sehen gütigst nach, daß ein Fremdling, jedoch ein Legationsrat hier auf der Kanzel eine mündliche Friedenspredigt hält, wie er eine gedruckte an Deutschland selbst gehalten, wiewohl in diesem die Festung Ziebingen eigentlich mit steckt. Mußte nicht in Venedig oder sonst sogar der Generalissimus selber ein Ausländer sein, wie in St. Marino der Richter? Und wie wenig ist dagegen der Prediger! »Ich schlage hier Friedensinstrumente vor und vorher Friedenspräliminarien. Unentbehrlich sind sie nicht, sondern entbehrlich. Ich habe gesehen, was Tapferkeit ausführt, was Standhalten, was Gegenbeispiele mit Geschütz, was Ausfälle teils sind, teils tun. Wie hätte auch sonst die Festung nach Verhältnis ihrer Größe sich so unglaublich länger gehalten als die größten deutschen bisher? Aber es ist ordentlich, als ob die Tapferkeit in den kleinsten Ländern am dichtesten schlage – man denke, wenn nach Verhältnis der Volksmenge Persien oder China so tapfer wären wie die Schweiz – so wie nach Linné ein Baum, der im weiten Gefäße nur Blätter bringt, in ein engeres versetzt, sogleich Blüten treibt, welches er griechisch genug Prolepsis nennt. Daher ist das Beschneiden der Länder ein häufiges Mittel, sie tapfrer zu machen, sobald so viel von ihnen noch übrig gelassen wird, daß noch etwas da ist, was tapfer sein kann; alten, abgelebten Ländern, wie deutschen, ist das Beschneiden vollends am nötigsten, wie die Gärtner im Herbste nicht junge, sondern alte Bäume am unbarmherzigsten bescheren. »Zu fürchten hat Ziebingen an sich vom Feinde nichts; und es kann täglich zehnmal ausfallen, ohne einen Mann zu verlieren; denn wenn der Ingenieur Borreux recht hat, daß unter den Schüssen des Fußvolkes, da sie immer zu hoch gehen, nur der Tausendste treffe, so sind wir schußfrei, da der Feind nicht so viel auf einmal zu laden hat. »Selbst große Festungen, wie z. B. Stettin und Magdeburg, die sich nicht so lange hielten als wir, und die weniger den Degen zogen als die Degenscheide (aus dem Gehänge), ergaben sich auch bei ihrer größeren Besatzung doch nicht mit Unehre, und unser Beispiel darf sie nicht demütigen. Bedenken wir: Stettiner Kommandanten lassen sich ungern auf ihr Haus (die Festung ist ihres) den roten Hahn setzen, den sie für Anspielung auf rote Mützen und auf den gallischen Gallus halten. – Sie schließen, wenn schon auf Theatern, vollends in Heerschauen scheinbare Kriege zufällig wahre Verletzungen gemacht, daß wahrhafte mit noch größeren bedrohen, daß sie alle Wagen voll Verwundete, alle Gruben voll Tote, alle Gassen ohne Häuser, durch zwei Tropfen Tinte, woraus ihre Namensunterschrift besteht, wegschwemmen können. Sie finden es oft lächerlich, eine Festung fest zuzusperren und also mit dem Feind zugleich die Kost auszuschließen, als die Sitte jener Peruaner ist, welche, um der Seele eines Sterbenden das Fliehen zu wehren, ihm Mund und Nase usw. mit Sorgfalt verstopfen. – Wahre Stettiner und Magdeburger Kommandanten sind viel zu stolz, da sie sich nicht einmal mit Fähndrichen hauen, sich vollends mit dem gemeinsten Volke und Packknechtspack zu schlagen. –Auch finden sie jenes feine talmudische Gebot, daß Weise stets in der Mitte des Disputierens, ohne etwas ausgemacht zu haben, auseinander scheiden sollen, um länger an den Gegenstand zu denken, noch besser auf die wichtigern Kriegsdisputationen anwendbar, so daß sie es oft nicht einmal bis zur Mitte kommen lassen. – »Gute Stettiner Kommandanten bleiben zart und behalten eine Träne im Auge und leiden es nicht, daß, wie Lampenfeuer aus Branntwein allen Umstehenden Totenfarbe anstreicht, dergleichen das Kanonenfeuer noch reeller tue, und sie sagen deshalb gern: wenn in der Türkei tote Feindesköpfe auf Wälle und Mauern gesteckt werden, so sei es doch noch grausamer, allda Freundes-, nämlich Soldatenköpfe aufzupflanzen. Da übrigens ein Kommandant den Fürsten noch vielseitiger als ein Gesandter darstellt, durch Allmacht desselben, durch Herrschaft über Leben und Tod: so hat er auch das Recht zu begnadigen, folglich auch den Feind, indem er ihn zu seinem Freunde macht. »Doch ich will fremde Festungen nicht länger verteidigen, als sie sich selber verteidigt haben: laßt uns in die zurückkommen, in der wir sind! »Exzellenz! Die Ziebingsche Ehre ist gerettet, aber nicht die Ziebinger. Ich meine hier gar nicht, daß der unmächtige Feind, der auf die Festung, wie sonst der Raubvogel auf den Käfig stößt des Vogels wegen, endlich auch dem Vogel drohe. sondern nach dem siegenden Wehrstand will auch der Nährstand ein wenig siegen. Wahrlich, Gründe zum Friedenmachen sitzen in jedem Kirchstuhl, in jeder Gasse, in jedem Keller. Wollen nicht die Böttcher in einigen Tagen ihren Reiftanz halten und zwei Tage darauf die Bäcker ihre Fahnen schwenken, und sehen sie ab, wie mitten unter springenden Bomben aufgeräumt zu springen ist? Fällt nicht nach acht Tagen der Diebsfehraner Viehmarkt, so ungemein erheblich für hiesige Viehzucht? – Schlagen sich nicht die Altziebinger täglich halbtot mit Stuhlbeinen und schleppen einander an den Zöpfen herum und warten bis diese Stunde vergeblich auf unsere Obrigkeit, die hinausreitet und sie recht derb gerbt und abstraft? – Hab‘ ich alles gesagt? – Kaum etwas: unter der Tür steht der Apotheker und will seine Kräuter sammeln, nicht hinaus könnend. – Die Weiber beten zu Gott um Wetter und wollen Flachs säen – Maikäfer außer der Festung sollen abgeschüttelt werden und die Hecken. – Am Kirchturm frißt der Christophel, der Elefant, greulich fort und reibt seinen eigenen Elefantenherrn auf. – Ein gewandter Buchhändler sitzt in der Sakristei und schreibt nach und macht kein Geschäft. – Gegenwärtiger Mann selber steht hier und macht eine Predigt und rät an, eine oder ein paar Friedenspfeifen zu stopfen. Jedoch segnet er freudig die Gelegenheit, dadurch einem so wachsamen Kommandanten, wie Euere Exzellenz, wenn auch in der Nacht, bekannt zu werden. Amen!« Die Kirchenversammlung rief: Vivat, ich sterbe täglich und mein Leben! – Er aber schweigt sehr bedeutend und begibt sich aus der Kirche! Noch um Mitternacht ist großer Konseil. Ein undurchdringlicher Schleier verbirgt der Welt die Staatsgeheimnisse (ich bediene mich gern der dreifachen Prediger-Tautologia oder Einerleisagerei als der gewöhnlichsten). Gegen fünf Uhr morgens wird nicht mehr geschossen. Sogar am Morgen hörte man noch nichts Gewisses; aber von feindlicher Seite sah man etwas desto Wichtigeres im Tor, einen 55 © wasser-prawda Sprachraum Diebsfehraner-Parlamentär, begleitet (die Stadt wollte vor Erstaunen sterben) von einem Ziebinger-Parlamentär. »Nun, man ist vielleicht auf keinem falschen Wege, wenn man vermutet, daß der Ziebinger schon in der Nacht abgegangen«, sagten Leute vom Handwerk. Drei Stunden darauf – ich weiche hier von denen ab, die von vier Stunden sprechen – fing ein Gerücht an und dauerte fort, daß mittags Diebsfehraner in die Festung, zugleich – spätere Jahrhunderte glauben es nicht mehr – Ziebinger in das Reichsstädchen einziehen sollten, damit beide Städte so lange gegenseitige Geiseln und Bürgen ihres Waffenstillstandes besäßen, bis wieder Reichsgerichte die Sache entschieden. Doch geschah es wirklich; um elf Uhr stürmten alle Glocken – alle Hunde bellten wieder auf den Gassen – alle Dächer waren mit Menschen statt mit Schindeln gedeckt und die Fenster statt des Düngers mit Gesichtern belegt. – Die Ziebinger Mannschaft stand gegen das obere Tor zum Ausmarsch, den Hintern den Diebsfehranern zukehrend, welche durch das untere hereinkommen sollten, auf welchem die Hundereserve entsetzlich anschlug, weil die Zeit viel zu kurz gewesen, als daß sie hätte toll und stumm werden können. – Der Elefantenherr saß auf dem Christophel vor dem Tore der Nepomukskirche und sah herab und überall hin. – Die Gassen waren mit Zuschauergestrüpp überwachsen. – Nur ich und Stöcklein konnten nicht durchsehen und durchkommen. Der Buchhändler wurde darüber ganz toll, er mußte durchaus den Zug haben für sein »Museum«. Endlich ersah er einen abgeladenen Frachtwagen; er würde sich auf dessen Leiter stehend zu erhalten gesucht haben durch balancieren, hätte nicht zum noch größeren Glücke ein zwei Mann hohes, ausgepacktes Zuckerfaß daneben gestanden. Darauf schwang sich jeder von uns. Als wir viel gemächlicher, als die ganze Herde, oben auf dem Fasse uns umschauten und eben die Feldmusik einrücken sahen, brach jählings der Fußdeckel unter unseren vier Füßen zusammen und ich und der Buchhändler standen unten in der Karthause und sahen uns an. Ein verfluchtes Fallgatter, wie ein Fallstrick! – Der Buchhändler klopfte wie ein lebendig Begrabener – schrie wie ein Untergesunkener – pfiff wie eine Maus mit Katzenzähnen; aber nicht ein neugieriger, spitzbübischer, mit Auge und Ohr in den Zug eingestrickter Dieb nahm sich Zeit wahrzunehmen, daß ich und der Buchhändler in der Welt und im Fasse waren. Stöcklein wußte des Museums wegen nicht, wo aus noch ein. Er sagte: »Ich werde, wenn alles und der Krieg es länger treibt, am Ende ein ausgemachter Spitzbube und drucke mich und alles nach.« Er verfluchte sich und sein Tabaksfeuerbesteck (weil er es vergessen hatte), da er vielleicht, hoffte er, mit dem Schwamme das Faß in Brand hätte stecken können. Er verwünschte seine und meine Schwere, da ohne diese der aufrechte Zwillingssarg mit vier Händen wäre umzustoßen gewesen. Als er gar die Reiterei vernahm, tanzte er im Fasse den künftigen Reiftanz der Böttcher wild voraus und machte, wie eine vergitterte Hyäne, die Runde innen um den Käfig. Endlich warf er aus unserem parterre noble seinen Hut empor in den Himmel (ich hielt es für Jubelausbruch, es war aber Notschuß), um dem schaubesoffenen Volke draußen anzumelden, daß ein Christ elend sich abarbeite im tiefsten Schacht; aber kein Mensch sah den Hut. Er warf ihn zum zweiten Male wilder und höher und – über das Faß hinaus: nun hatte er auch den letzten Aufsatz oder die Ajustage seines Halses eingebüßt. Er sank in sich hinein – den schlimmsten Ort und Sumpf, wohin er geraten konnte – ließ seinen Kopf hängen oder sinken – denn der Geist war der Scharfrichter seines Leibes und köpfte solchen – und er war nichts mehr. Ich blieb alles, was ich war, und dachte, es sei für den Namen eines Zuckerfasses angemessener, es zu einer Diogenes-Tonne zu machen, nicht aber, wie er, zu einem Regulus-Fasse. »Ich weiß nicht, warum,« sagte ich zu ihm – – »aber mir wird ordentlich so gemütlich in unserem Fasse – wir beide stellen freilich die einzigen Zuckerhüte darin vor. – Ich wollte nur, sie würden nicht vor Ärger schwarz oder ein Negerschwarzer auf unserer Zuckerinsel. Denn wenn ich mich so rund umsehe und erwäge, welches schöne Los der Abgeschiedenheit mitten im Volkstreiben uns bloß einige Faßdauben zusichern: so möchte ich beinahe fragen, ob wir nicht zwei glücklichen Männern gleichen, die unten auf dem Meerboden in ihrer Taucherglocke sitzen und von dem oberen Wellengelärm keine Woge hören? – Wenn schon einem Philosophen im Fasse, das, wie ein griechischer Tempel, nur oben dem Himmel offen ist, die Erde und ihr Ziebinger Getobe lächerlich vorkommt, wieviel mehr zweien auf einmal, die miteinander eine geschlossene, ja eingeschlossene Gesellschaft bilden! – Wie gern, Freund Stöcklein, sehe ich mich als einen Robinson auf diese Zuckerinsel verschlagen, da ich Sie als meinen Freitag oder Charfreitag hier unten antreffe! – Und antworten Sie mir, wer ist außer St. Marino noch so frei als unser Faß, ich bitte?« »Ich höre gar nichts mehr,« sagte kalt Stöcklein, mit dem Ohr am Fasse; er meinte aber nicht meine Worte, sondern die Pferde. Es war auffallend, wie frostig, ja unhöflich der Mann sich auf einmal gegen mich in der Zwischenzeit offenbarte, worin ihm sein Schwanzartikel des Belagerheftes abgeschnitten wurde. Man hält den Eigennützigen stets für zu höflich, wie für zu grob; desto gleichgültiger sei man gegen dessen Erkalten und Erwärmen. – Ich machte nichts daraus. Er schrie endlich Feuer, damit das Faß umgestürzt wurde, und ich schrie willig mit. Endlich warfen einige Lehrjungen, die aus Neugier auf den Leiterwagen gestiegen waren, um ins laute Faß zu sehen, dieses boshaft um, und wir krochen ins Freie, wie Höhlenforscher aus dem Bauche in die schimmernden Höhlentempel. – Aber Empfindung! Gibt es etwas Eigensinnigeres – Starrköpfigeres – mehr Wetterwendisches und Umwälzendes – als du bist? Denn wer war es anders, soviel ich weiß, als du, die mich plötzlich in einen ganz anderen Mann (als wäre ich ein Federbuschpolyp) auf der Gasse umstülpte, da ich in dieselbe im tiefsten Bückling und engstem Schritte aus dem Fasse herausging? – »Satt, matt, schal, kahl,« so wiederholtest du immer. »Ganz wahr!« (sagte ich endlich). Krieg um Gänse, von Gänsen geführt! O wie gleichgültig ist es mir, daß ich keinen einzigen Punkt der Kapitulation erfahren kann! Napoleon verlangte mit Recht die beiden Reichsnester gar nicht. Auch ich mag sie nicht, so wenig als Kalender vom vorigen Jahre, wollte sie mir auch ein Buchhändler um herabgesetzte Bücherpreise lassen! Stöcklein laß‘ ich Stöcklein sein; und der flachshaarige »Ich sterbe täglich und mein Leben« kann meinetwegen heute sterben. – Hätte ich nur nicht soviel Worte darüber gemacht! Aber auf der Stelle soll der Aufsatz auf die Post, damit ich nur keins mehr sage.« Dieses alles aber sagte ich, wie gedacht; so sehr kann die Empfindung den nüchternsten Mann hinreißen. 56 © wasser-prawda Sprachraum K arl Kr aus - Die Entdeckung des Nordpols Die Fackel, Nr. 287, XI. Jahr, Wien, 16. September 1909. Die Entdeckung, oder wie sie auch genannt wurde, Eroberung des Nordpols fiel in das Jahr 1909. Sie war das Werk eines kühnen Amerikaners und wurde mit um so größerer Genugtuung begrüßt, als in demselben Jahre durch die Abtretung vieler Amerikanerinnen an chinesische Kellner das nationale Ansehen eine empfindliche Einbuße erlitten hatte. Aber nicht nur in Amerika, nein, in der ganzen Welt fühlte sich das kulturelle Selbstbewußtsein gehoben, man begann wieder Mut zu fassen und einer Vorsehung zu vertrauen, die durch die Entdeckung des Nordpols die zivilisierte Menschheit offenbar für die unerfreulichen Entdeckungen derselben Saison entschädigen wollte. Ein einziger Missionär der Wissenschaft, der heil von den Eskimos wiederkehrt, ist reichlicher Ersatz für ein Dutzend Forscherinnen des Glaubens, die im Chinesenviertel zurückbleiben; und man nahm es dabei nicht als Zufall, sondern als eine besondere Aufmerksamkeit des Schicksals, daß gerade das deutsche Nationalbewußtsein wieder an der Eroberung des Nordpols durch einen Mann, der früher Koch geheißen haben soll, beteiligt war, wie im andern Sinne an der Ermordung der Elsie Siegl. Man schwankte keinen Augenblick, welches von den beiden das größere Ereignis sei; hatte doch das neue vor dem andern allein schon die Annehmlichkeit voraus, daß man endlich wieder das Maul aufreißen konnte. In diesem Punkte mußte man es geradezu als Erholung empfinden. Denn als die Kunde in die Welt ging, daß die gelbe Gefahr der Geschmack der weißen Frau sei, da wurde — unseliges Farbenspiel! — der weiße Mann noch weißer, da hatte er eben noch die Geistesgegenwart, die Moral hervorzuziehen, nicht ahnend, daß gerade sie es war, die ihn so weit gebracht hatte, und nun stritten Scham und Furcht um den Vorrang, der Welt den Mund zu schließen. Es entstand jenes eisige Schweigen, in das endlich der erlösende Ruf drang: Der Nordpol ist entdeckt! Da war es, als ob das Weiß dieser Region der gefundene Hintergrund wäre, auf dem das Antlitz der weißen Kreatur wieder Farbe bekam, und die erstarrte Welt belebte sich, erwärmte, taute auf an der Erkenntnis, daß die Eskimos doch bessere Menschen sind. Man muß nur, so hieß es, ihre Sprache verstehen, ihnen etwas mitbringen oder in die Hand drücken, dann zeigen sie dem Fremden bereitwillig den Weg zum Nordpol. Von ihnen war noch etwas zu hoffen, von den Chinesen alles zu fürchten. Die geben keine Auskunft, wenn 57 © wasser-prawda Sprachraum man sie nach der Entwicklung fragt, und grinsen nur, wenn ein höflicher Ausländer sich erkundigt, wer von ihnen seine Frau ermordet habe. Im Jahre 1909 war es, daß die christliche Kultur vor dem Osten zu retirieren und sich nach dem Norden zu konzentrieren begann. Ja, man baute auf die Eskimos. Denn nicht nur als einen Ausweg aus der Verlegenheit, sondern auch als die Erfüllung eines alten Herzenswunsches empfand man die Entdeckung des Nordpols. Seit Jahrhunderten hatte der Menschheit, die immer vorwärts schritt, ein letztes Etwas zu ihrem Glücke gefehlt. Was war es nur? Wovon fieberten Tage und Träume? Was hielt eine Welt in Atem, deren Puls nach Rekorden gezählt wird? Was war das Paradigma aller Begehrlichkeit? Der Trumpf der Streberei? Die Ultima Thule der Neugier? Der Ersatz für das verlorene Paradies? Die große Wurst, nach der auf dem irdischen Jahrmarkt die Wissenschaft alle Schlittenhunde hetzte? Ach, es litt die Menschheit nicht beim Tagwerk: der Gedanke, daß da oben ein paar Quadratmeilen waren, die ein menschlicher Fuß noch nicht betreten hatte, schien unerträglich. Freudloser als der »freudlose Fleck«, den es endlich zu finden gelang, war das Leben, solange er nicht gefunden war. Es war eine Blamage, daß wir, denen die Welt gehört, uns ihr letztes Endchen vorenthalten lassen sollten. Wir schämten uns seit der Entdeckung Amerikas und hofften all die Zeit, daß Amerika sich erkenntlich zeigen werde. Es war keine Lust, in einer Welt zu leben, über die man nicht vollständig orientiert war, und mancher Selbstmord aus unbekanntem Motiv geschah vielleicht, weil es auch auf Erden noch ein unentdecktes Land gab, von des Bezirk kein Wanderer wiederkehrte. Und in der Kinderstube der Menschheit scholl der Frage: Was möchtest du werden? immer wieder die Antwort entgegen: Entdecker des Nordpols! Aber das Kind lernt die Ideale ablegen, während der Mensch die kurzen Hosen nicht austrägt. Er muß den Nordpol wirklich haben! Wenn es schon seine Lieblingsvorstellung ist, daß der Nordpol entdeckt wird, so genügt sie ihm nicht: er dringt auf Erfüllung. Doch undankbar wie der befriedigte Idealist nur sein kann, zögert er nicht, der jungfräulichen Natur die Achtung zu versagen, sobald sie seiner Werbung sich ergeben hat. Ich war enttäuscht! ruft Herr Cook, und nennt das Idol der Menschheit einen freudlosen Fleck. Denn an dem Nordpol war nichts weiter wertvoll, als daß er nicht erreicht wurde. Einmal erreicht, ist er eine Stange, an der eine Fahne flattert, also etwas, das ärmer ist als das Nichts, eine Krücke der Erfüllung und eine Schranke der Vorstellung. Die Bescheidenheit des menschlichen Geistes ist unersättlich. Die Entdeckung des Nordpols gehört zu den Tatsachen, die sich nicht vermeiden ließen. Sie ist der Lohn, den sich die menschliche Ausdauer selbst erteilt, wenns ihr schon zu lange dauert. Die Welt brauchte einen Nordpolentdecker, und wie auf allen Gebieten sozialer Betätigung entschied auch hier weniger das Verdienst als die Konjunktur. Nie war der Moment günstiger gewählt als in den Tagen, da der Geist zur Erde strebte und die Maschine sich zu den Sternen erhob, da der entseelte Fortschritt, gefolgt von einer lustigen Witwe, zu Grabe ging. Als auf Erden nur noch jene Witze verstanden wurden, die aus dem gemeinsten Stoff geschnitzt waren, da geschah die Entdeckung des Nordpols. Sie ist ein wirksames Extempore einer abgespielten Entwicklung. Sie geschah und schlug ein. Man brauchte einen Nordpolentdecker, und er war da. Um keinen Preis der Welt hätte sich die Welt ihn ausre- 58 © wasser-prawda Sprachraum den lassen, sie, die die vollzogenen Tatsachen liebt und über den Zweifeln der Wissenschaft mit der Beruhigung schlafen geht: Seien wir froh, daß wir einen Nordpolentdecker haben! Eine rationalistische Kindsfrau ist es, die dem Kind den Zinnsoldaten, den es umklammert hält, mit der Motivierung zu entreißen sucht, er könne nicht marschieren. Muß man den Nordpol entdecken können, um den Nordpol zu entdecken? Aber die Zweifel der Wissenschaft gehören zu dem Kinderspiel, das sie zu stören sucht. Als Herr Cook erzählte, woher er komme, vollzog sich die Teilung der Welt in Idealisten und Skeptiker. Nie zuvor hatte es so viele Vertreter beider geistigen Richtungen gegeben. Und sie waren einander wert. Die Idealisten, das waren vor allem die Männer, die die Leitartikel zu schreiben und dafür zu sorgen haben, daß der letzte langohrige Abonnent und treue Esel unseres Blattes die Würde des Zeitgenossen zu tragen bekommt. Die Skeptiker, das waren die Männer der Wissenschaft, also die Herren von der Nordpolkonkurrenz. Denn wie auf allen Gebieten sozialer Betätigung entscheidet auch hier — mit einem Wort, die Idealisten waren die sympathischere Partei. Es war erhebend, als ihr Führer, der Redakteur vom Börsenteil, begeistert ausrief, die Entdeckung des Nordpols sei eine Angelegenheit, die jeden einzelnen angehe; als er sie einen moralischen Gewinn der Menschheit nannte und den Idealismus pries, der in dieser von materiellen Interessen beherrschten Welt doch noch stecke. Leider besann er sich aber und begann, sich um das allerletzte noch ungelöste Problem eines arrivierten Zeitalters zu bemühen, das da lautet: Wem gehört der Nordpol? Der Generalstaatsanwalt von Washington nämlich hatte in dieser Situation sofort getan, was Staatsanwälte immer und schon mit einer Reflexbewegung zu tun pflegen: er hatte den Nordpol beschlagnahmt. Der Idealist vom Börsenteil aber meinte, das gelte nicht, sondern die Okkupation müsse »effektiv« sein, und fing an, von der Zeit zu träumen, wo erst der Zinsfuß die Region des ewigen Eises betreten wird. Die Skeptiker waren aber auch nicht faul und verlegten sich darauf, das Vorleben des Herrn Cook zu erforschen, da sie einsahen, daß zu den größten menschlichen Schwierigkeiten nebst der Erreichung des Nordpols der Beweis des Gegenteils gehört. Denn jenes Geschäft, das den höchsten Kredit beansprucht und ihn am leichtesten erhält, ist das des Nordpolfahrers, und auf keinem Gebiet hat die Wissenschaft so sehr mit populären Strömungen und günstigen Winden zu rechnen wie auf diesem. Es gibt Zeiten, wo die Angabe, den Nordpol erreicht zu haben, eine Genietat ist, neben der die Erreichung des Nordpols nur noch als Fleißaufgabe in Betracht kommt, und wo die Behauptung, man sei aus Christiania eingetroffen, Skeptiker findet, und die Versicherung, man komme vom Nordpol, Idealisten. Da ist es denn auch vergebene Mühe, im arktischen Vorleben eines Menschen eine dubiose Besteigung des Mount Mac Kinley zu entdecken, und kein noch so gegründeter Zweifel wäre so bald imstande, der Welt den Nordpolfinder zu entreißen, den sie einmal hat. Erst wenn ihrer zwei sind, wird die Dummheit mißtrauisch. Das ist der Anfang der Politik. Die Grenze, die die Idealisten von den Skeptikern trennt, verwischt sich, und es bilden sich dafür zwei zielbewußte Parteien, von denen die eine auf Cook, die andere auf Peary schwört, nein, wettet, und vom erledigten Problem des Nordpols beginnt sich der menschliche Geist in die Höhe des welthistorischen Turfskandals zu erheben. Die Duplizität der Ereignisse ist eine wohltätige Einrichtung, die dem Fassungsvermögen der Gehirne entgegenkommt, indem sie ihnen Zeit läßt, selbst noch das Ah des Erstaunens zu buchstabieren. Doppelt hält besser, meinte das gutgelaunte Schicksal, als es mit dem Helden bei der Festtafel anstieß und ihm zu verstehen gab, daß er da oben ein Rendezvous versäumt habe. Entgeistert stand Herr Cook. Entgeistert stand die Zeitgenossenschaft vor einer Kühnheit, die dem Gedanken des unlautern Wettbewerbs bis in die Region des ewigen Eises Bahn gebrochen hat, dort wo der Mensch auf die Vorräte eines andern angewiesen ist und die Benützung fremder Eskimos und Hunde anfängt. Aber allmählich gewann Überlegung die Oberhand und das Volk entschloß sich, die Lorbeern so zu verteilen, daß es einem der beiden Männer unbedingt die Priorität des Nordpolerfinders zuerkannte. Hätte Pearys Leistung noch auf den Jubel rechnen können, den Cooks Behauptung eingeheimst hatte? Konnte sich ein schlichter Nordpolentdecker neben einem Manne sehen lassen, der das Bedürfnis der Welt nach einem Nordpolentdecker entdeckt hat? Die Ehren, die man für jenen noch übrig hatte, waren Lampions neben den Flammen der Begeisterung, die ein aktuelles Wort entzündet hatte. So setzt die Welt das Verdienst, den Nordpol erreicht zu haben, auf das verdiente Maß herab. Man hatte sich ja für die Sache begeistert, nicht für die Person. Ob sich da einer zu Unrecht einer Gunst rühmte, die der andere genoß, ob Herr Cook den Sieg davontrug, den Herr Peary errungen hatte, — der gute Ruf des Nordpols war dahin. Das Ideal war erledigt, und alles Interesse gehörte jetzt dem wissenschaftlichen Raufhandel. Cook war unehrlich genug, dem andern Prosit! und Peary ehrlich genug, dem andern Pfui Teufel! zuzurufen. Cook war so loyal, jede Nordpolentdeckung nach der eigenen zu glauben. Er hatte längst das seine getan, den wissenschaftlichen Beweis zu erbringen. Denn er hatte sich nicht damit begnügt, zu versichern, daß er kein Schwindler sei, und die Bitte hinzuzufügen, daß man ihm dies glauben möge, weil man ihm dann auch die Entdeckung des Nordpols glauben würde. Er hatte sich nicht damit begnügt, Proben einer feuilletonistischen Begabung zu erbringen, die auch den nüchternsten Zeitungsleser davon überzeugen mußte, daß er wirklich den »Gipfelpunkt der Erde« erklommen habe. Nein, er hatte ein übriges getan und die Skeptiker geradezu aufgefordert, selbst nach dem Nordpol zu gehen! Auf eine solche Antwort waren sie nicht gefaßt und horchten auf. Am Nordpol, sagt er, könne man eine amerikanische Flagge finden, und unter ihr vergraben, sagt er, eine Metallröhre, in der er eine Urkunde über seine Expedition deponiert habe, sagt er. Da wagte sich nur noch die schüchterne Frage hervor, ob denn das Eis auf dem Nordpol nicht treibe. Dies sei natürlich der Fall, aber er habe ja alles bereits zur Genüge gesagt, sagt er. Was das Eis auf dem Nordpol treibe, das, wollte er 59 © wasser-prawda Sprachraum offenbar sagen, gehe ihn nichts an, und da hätte er wahrlich recht gehabt. Auf diese Erklärung hin schrie das Volk Hurra!, selbst Frau Cook zweifelte nicht mehr, sondern rief: »Ich wußte, daß es ihm gelingen würde; er war so fest davon überzeugt, als er abfuhr, ich wußte, es konnte ihm nicht mißlingen!«, und ein Varietédirektor bot dem Forscher für zehn Wochen 16.000 Mark. Da aber ein amerikanischer Verleger für eine Depesche das Doppelte bot, so meinte Herr Georg Brandes, Cook wäre ein Narr, wenn er zum Varieté ginge. Von dieser Seite hatten die Idealisten den Nordpol noch nicht betrachtet, und schon begann das liberale Weltblatt, das der Fachmann von der Börse leitet, sich für die Familienverhältnisse des Entdeckers zu interessieren. Frau Cook, hieß es, habe mit ihm seinen Ehrgeiz und ihren Reichtum geteilt. Eine andere Meldung entrollte ein düsteres Familienbild. Die Frau hatte »während der Abwesenheit des Mannes mit materiellen Schwierigkeiten zu kämpfen und mußte Wertgegenstände und Kunstobjekte verkaufen, um sich und ihre Kinder zu ernähren«, während der Hallodri den Nordpol entdecken ging. Nun erreichte ihn sein Schicksal. Frau Peary, so hieß es, habe ihm die Fähigkeit wissenschaftlicher Messungen abgesprochen, und wenn nicht im letzten Moment Frau Rasmussen für ihn Partei ergriffen hätte, die Nachbarinnen der arktischen Zone hätten ihm die Nordpolentdeckung nicht geglaubt. Überhaupt kamen da nette Dinge zur Sprache. Von Peary hieß es, er habe »die Geschmacklosigkeit begangen, zu viele Begleiter zuzulassen«, und er sei nur deshalb nicht als erster hinaufgelangt, »weil er seine Frau und eine Hebamme zum Nordpol mitnahm«. Als dann das Kind kam, fehlte es freilich an der Amme. Cook war auch hierin gewitzter. Er brauchte keine Amme, er wußte, daß man ihm die Erzählungen vom Nordpol auch so glauben werde, und fand richtig einen Verleger, der ihm anderthalb Millionen Mark dafür bot. In der Fülle gewinnender Züge, die uns an dem Familienleben zweier Polarforscher teilnehmen ließen, darf aber die Ansprache nicht vergessen werden, die die Frau Peary vom Balkon ihrer Villa an die Kurgäste eines Seebades hielt und in der sie die Absicht kundgab, ihren Mann »fortan für sich allein zu behalten«. Damit schien wenigstens die Frage, wem der Nordpolentdecker gehört, für alle Zeiten entschieden. Doch wie hart klingt auf so rührendes Bekenntnis aus einem Frauenmund die Rede, die ein Kontre-Admiral plötzlich vernehmen ließ: Peary sei »der größte Schwindler, den Amerika je hervorgebracht habe«. Also auch hier wieder zwei, die um die Palme ringen? Wer hat zuerst den Nordpol nicht entdeckt? Man fängt ernstlich an, sich nicht mehr auszukennen, und hofft täglich von der Wissenschaft das entscheidende Wort zu hören. Denn die Wissenschaft liest genau, was in den Zeitungen steht und achtet auf alle Widersprüche, um sie sich anzueignen. Sie gibt Gutachten ab, sobald ihr ein erfundenes oder entstelltes Telegramm unter die Nase gehalten wird, sie fühlt sich vor dem Reporter verantwortlich, und sie weiß, daß sie wirklich nicht den Nordpol erreicht haben muß, um zu Ehren zu kommen, sondern bloß die unwirtliche Gegend einer Nachtredaktion. Und nur einem glücklichen Zufall hat es die Welt zu verdanken, daß von der Wissenschaft die Meldung nicht approbiert wurde, Herrn Cook sei es gelungen, »eine von Wilden reich bevölkerte Gegend zu entdecken«. Diese Meldung stand nämlich in einem von der Wissenschaft weniger gelesenen Blatte, während in dem führenden Organ der Wissenschaft die richtige Fassung zu lesen war, daß die Expedition »ein wildreiches Gebiet entdeckt« habe. Und das muß wahr sein, denn das hat schon Jules Verne behauptet. Trotzdem kann sich auch die Wissenschaft bei einer so schwierigen Materie, wie es der Nordpol ist, und angesichts des Umstandes, daß er vor den Herren Peary und Cook bestimmt noch nicht entdeckt war, nur darauf einlassen, Kredit abwechselnd zu geben oder zu nehmen. Unbeirrt steht sie auf dem Standpunkt, sie sei nicht geneigt, sich mit zwei Eskimos und einer Fahne aufs Treibeis führen zu lassen. Denn noch unverläßlicher als die Fahne seien die Eskimos. Cook hatte sich auf die Herren Itukisut und Avila als Tatzeugen für die Entdeckung des Nordpols berufen, und sie sollten wie die leibhaftigen Schacher sein Martyrium umrahmen, als die Frage laut wurde: Was ist Wahrheit? Dem Einwand Pearys, daß die Eskimos bekanntlich lügen, hatte er heftig gewehrt. Als nun Peary depeschierte, die beiden Begleiter Cooks hätten ihm gesagt, daß er keine nennenswerte Entfernung in nördlicher Richtung zurückgelegt habe, da blieb Herrn Cook nichts übrig, als sich auf das Axiom zu berufen, daß die Eskimos lügen, nachdem es Herr Peary bereits für ein Vorurteil erklärt hatte, und wieder standen wir vor der Frage: Was ist Wahrheit? Denn das ist das spezifische Geheimnis dieses Geheimnisses, daß die Mitternachtssonne nicht jene ist, die es an den Tag bringt. Sie scheint überhaupt nicht so sehr der Wahrheit förderlich wie der Grobheit. Während nämlich Cook noch vorgab, er sei stolz auf Peary, riet diesem schon ein anderer Arktiker, er solle das Maul halten. Ob aber Herr Cook ein Proviantdieb oder Herr Peary ein Koffereinbrecher sei, darüber ließ man die gelernten Geographen sich die Köpfe zerbrechen, und das Bezirksgericht sollte entscheiden, wer den Nordpol entdeckt habe. Mochten diese Instanzen zusehn, wie sie zwischen Ehrendoktorat und Ehrenbeleidigung die Wahrheit fänden. Die Idealisten verhielten sich zu dieser Seite des Nordpols ablehnend. Die ganze Affäre, deren tägliche Neuheiten die satirischen Erwartungen des Vortags pünktlich erfüllten, versprach keine Überraschungen mehr. Man hatte den Nordpol satt bekommen. Und nie zuvor war ein Sturz aus allen Himmeln so jäh und schmerzhaft erfolgt. Man war zu einem Fest der Menschheit geladen, und es verlief zum Familienkrakeel, bei dem die Heroen einander die Ideale an den Kopf warfen. Eine Kirchweih hatte mit einer Prügelei der Heiligen geendet. Das Volk stob auseinander, der Nordpol war eine so kompromittierte Sache, daß niemand mehr mit ihm zu tun haben wollte, nicht einmal der Präsident der Vereinigten Staaten, und vielfach begann sich bereits die Aufmerksamkeit dem Südpol zuzuwenden ... Die Wissenschaft wird einen letzten Versuch machen und ihre Schiedsrichter entsenden. Sie werden hoffentlich feststellen, daß es einen Nordpol wirklich gibt, weil sie ihn vom Hörensagen kennen, und er wird froh sein, wenn er mit heiler Haut aus dieser Affäre herauskommt, dieser selbstzufriedene Punkt, »von dem aus überall Süden ist« und überall Gemeinheit, ein freudloser Fleck, seitdem er mit menschlichen Dingen in Berührung kam. Denn es steht geschrieben, daß die Welt größer wird mit jedem Tag. Ist sie im Innern so befriedigt, daß sie auf Eroberungen ausgehen kann? Oder führt sie nicht eben der innere Feind, die Dummheit, auf diesen Pfad? Die Presse, der Kropf der Welt, schwillt von Eroberungslust, platzt vor Errungenschaften, die jeder Tag bringt. Eine Woche hat Raum für die kühnste Klimax menschlichen Expansionsdranges: von der Eroberung Niederösterreichs durch die Tschechen über die Eroberung der Luft zu der Eroberung des Nordpols. Kombinationen sind nicht ausgeschlossen, und wenn nicht Herr Cook das Wort gehabt hätte, so wäre der Nordpol sicher vom Zeppelin durch die kaum eroberte Luft erobert worden. Die allgemeine Bereitschaft zum Maulaufreißen findet ein noch nicht dagewesenes Entgegenkommen bei den Ereignissen, und mit der Dimension der Bewunderung wächst die Dimension der Tatsachen, bis im Wettlauf den Gaffern wie dem Schicksal der Atem ausgeht. Und ein Hinauflizitieren aller Werte und Bedeutungen hebt an, von dem sich jene keine Vorstellung machen könnten, die einst wert und bedeutend waren. Der größte Mann des Jahrhunderts ist der Titel einer Stunde, die nächste schon verleiht ihn einem andern. Es ist erreicht!, kaum noch die Devise einer ad astra weisenden Schnurrbartfasson, ist gleich wieder der Gruß, der kühneren, wenn auch nicht weniger bestrittenen Erfindungen entboten wird. Der Fortschritt, der den Kopf unten und die Beine oben hat, strampelt im Äther und versichert allen kriechenden Geistern, daß er die Natur beherrsche. Er belästigt sie und sagt, er habe sie erobert. Er hat Moral und Maschine erfunden, um der Natur und dem Menschen die Natur auszutreiben, und fühlt sich geborgen in einem Bau der Welt, den Hysterie und Komfort zusammenhalten. Der Fortschritt feiert Pyrrhussiege über die Natur. Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut. Als der Mensch mit der Postkutsche reiste, kam die Welt besser fort, 60 © wasser-prawda Sprachraum als da der Kommis durch die Luft fliegt. Was nützt das Tempo, wenn unterwegs das Gehirn ausgeronnen ist? Wie wird man den Erben dieser Zeit die primitivsten Handgriffe beibringen, die notwendig sind, um die kompliziertesten Maschinen in Gang zu setzen? Die Natur kann sich auf den Fortschritt verlassen: er rächt sie schon für die Schmach, die er ihr angetan hat. Sie aber will nicht warten und zeigt, daß sie Vulkane hat, um sich von lästigen Eroberern zu befreien. Ihre Weiber verkuppelt sie mit den Todfeinden der Zivilisation, zündet mit der Moral die Wollust an und schürt sie mit der Rassenfurcht zum Weltbrand. Man tröstet sich und erobert den Nordpol. Aber die Natur klopft ihnen an die Tore der Erde und rüttelt an ihrer angemaßten Hausherrlichkeit. Man tröstet sich und erobert die Luft. Gegen Glatteis hat man noch keine andere Hilfe als das »Aufstreuen«, und wenns regnet, bleibt vorläufig nichts übrig, als den Regenschirm aufzuspannen. Aber sonst hat man es gelernt, der Natur auf die kunstvollste Art zu imponieren. Die Natur liest keinen Leitartikel und weiß darum noch nicht, daß man gerade jetzt damit beschäftigt ist, »die Welt der elementaren Gewalten in ein Vernunftreich zu verwandeln«. Könnte sie hören, daß die Meldung vom erreichten Nordpol bei allen Laufburschen der Erde »das Gefühl der Überlegenheit über die Natur gesteigert« hat, sie hielte sich den Bauch vor Lachen, und Städte und Staaten und Warenhäuser würden dann ein wenig in Unordnung geraten. Sie zuckt ohnedies schon öfter, als es der Überlegenheit ihrer Bewohner zuträglich ist. Binnen ein paar Wochen haben die elementaren Gewalten in einer so deutlichen Weise ihre Bereitwilligkeit bekundet, in ein Vernunftreich einzulenken, daß es auch das große Publikum verstehen muß. Indem sie durch Erdbeben, Springfluten, Taifune, sintflutartige Regen Hunderttausende von Menschen und Millionenhunderte von Vermögen in Amerika, Asien und Australien vernichteten, und nur in Europa den Redakteuren die Hoffnung ließen, daß »der Wille des Menschen« schon demnächst »alle Hebel der Natur bewegen« werde. Jedem Parasiten der Zeit ist der Stolz geblieben, ein Zeitgenosse zu sein. Man führt die Rubrik »Eroberung der Luft« und muß die Nachbarschaft »Erdbeben« nicht beachten, und in dem Jahre von Messina und des täglichen Nachgrollens der Erde bewies der Mensch seine Überlegenheit über die Natur und flog nach Berlin. 1909 opferten die Idealisten den ungnädigen Elementen Makkaroni und schafften für die verlorenen Ideale Ersatz am Nordpol. Denn es ist die Sache des Idealismus, sich für den Verlust des Alten damit zu trösten, daß man etwas Neues angaffen kann, und wenn die Welt untergeht, so triumphiert das Überlegenheitsgefühl des Menschen in der Erwartung eines Schauspiels, zu dem nur die Zeitgenossen Zutritt haben. Die Entdeckung des Nordpols war unabwendbar. Sie ist ein Schein, den alle Augen sehen, und vor allen anderen jene, die blind sind. Sie ist ein Ton, den alle Ohren hören, und vor allen anderen jene, die taub sind. Sie ist eine Idee, die alle Gehirne fassen, und vor allen anderen jene, die nichts mehr fassen können. Der Nordpol mußte einmal entdeckt werden. Denn jahrhundertelang war durch Nacht und Nebel der menschliche Geist gedrungen, in hoffnungslosem Ringen mit den mörderischen Naturgewalten der Dummheit. Den Weg bezeichnen die Blutspuren jener Ungezählten, die für die geistige Tat den Kampf gegen eine erstarrte Menschheit immer wieder gewagt hatten. Wie viele Pioniere des Gedankens waren verhungert und wurden ein Fraß jener wahren Bestien des Eismeers, deren bloßes Dasein die Sperre der geistigen Zone bedeutet! Nicht einen Fußbreit hat Phantasie dem Reich jenes weißen Todes abgewonnen, dort, wo selbst die Hoffnung versank, die Welt der menschlichen Gewalten in ein Vernunftreich zu verwandeln. Man hat so lange den Walrossen Gedichte vorgelesen, bis sie schließlich die Entdeckung des Nordpols mit verständnisvollem Kopfnicken begleiteten. Denn die Dummheit war es, die den Nordpol erreicht hatte, und sieghaft flatterte ihr Banner als Zeichen, daß ihr die Welt gehört. Die Eisfelder des Geistes aber begannen zu wachsen und rückten immer weiter und dehnten sich, bis sie die ganze Erde bedeckten. Wir starben, die wir dachten. 61 © wasser-prawda Feuilleton Edgar Wallace: A.S. der Unsichtbare Kriminalroman Aus dem Englischen übertragen von Ravi Ravendro 8. Fortsetzung. Kapitel 13 13 Scottie ging selten bei Tag aus. Er tat es aber nicht aus Geheimniskrämerei, sondern er nahm Rücksicht auf Andys Wünsche. Er ließ sich im allgemeinen nur zwischen ein und zwei Uhr mittags sehen, und um diese Zeit speiste man in Beverley Green gewöhnlich zu Mittag. Er verließ Nelsons Haus durch den Seitenausgang, um zum Gästehaus zu gehen und Andy zu sprechen. Ein Artikel in einer Morgenzeitung, die er unter dem Arm trug, war der Zweck seines Besuches. Er selbst wurde nämlich darin erwähnt, und ihm war unbehaglich. Irgendein Berichterstatter, der anscheinend nichts von der Beendigung des Verfahrens gegen Scottie gehört hatte, schrieb etwas von einer aufsehenerregenden Verhaftung in diesem kleinen Ort, die kurz vor dem Mord stattfand, und zog hieraus für Scottie wenig schmeichelhafte Schlüsse. Er hatte kaum einen Schritt auf die Straße getan, als er schon wieder stehenblieb. Ein großes Auto versperrte den Weg, es stand halb auf der Straße und war halb in die Sträucher hineingefahren, die sie begrenzten. Scottie wußte, daß die Anlagen der Stolz der Bewohner von Beverley Green waren. Der Chauffeur hatte ein rotes Gesicht und machte verzweifelte Anstrengungen, den Wagen zu wenden, worunter natürlich die Sträucher litten. Aber Scotties Aufmerksamkeit richtete sich nicht auf den Chauffeur, auch nicht auf das prachtvolle Auto – er sah nur die Dame, die darin saß. Ihr Alter war schwer zu schätzen, aber sie war eine majestätische und bis zu einem gewissen Grad sogar schöne Erscheinung. Unter dem Hut zeigte sich üppiges, rotes Haar, zu dem ihre schwarzen Augenbrauen einen eigentümlichen Gegensatz bildeten. Eine dicke Puderschicht bedeckte ihr von Natur rotes Gesicht. Die großen blauen Augen traten ein wenig hervor. All dies stellte Scottie fest, während er ihren Schmuck einer eingehenden Prüfung unterwarf. In den Ohren trug sie Brillanten von der Größe zweier Erdnüsse. Eine dreifach geschlungene Kette großer Perlen lag um ihren Hals. Eine Brillantbrosche blitzte an ihrem Kleid, eine Smaragdspange an ihrem Gürtel. Scottie betrachtete ihre Hände und stellte fest, daß sie nur an den Daumen keine Ringe trug. »Es tut mir entsetzlich leid, daß der Wagen hier soviel Schaden anrichtet, aber warum machen Sie Ihre Straßen nicht breiter?« Sie mußte wohl einige Jahre in Amerika gelebt haben, denn sie hatte diesen eigentümlichen Akzent angenommen, den Engländer nach einem längeren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten bekommen. Scottie war unbehaglich zumute. Recht gewöhnlich, dachte er und fragte sich, wie sie zu dem Schmuck gekommen sein mochte. »Ich bin seit vielen Jahren nicht in dieser Gegend gewesen«, sprach sie gleich weiter. Sie hielt ihn natürlich für einen Bewohner von Beverley Green. »Man hat mir soviel von diesem Ort erzählt. Hier ist doch jemand umgebracht worden?« »Gewiß«, entgegnete Scottie höflich und reichte ihr die Zeitung. »Sie finden hier einen eingehenden Bericht darüber.« »Ich habe leider meine Brille nicht bei mir«, sagte sie, nahm aber die Zeitung trotzdem an, »Es ist doch schrecklich, daß schon wieder ein Mensch getötet wurde. Man hat mir seinen Namen nicht genannt, und er ist ja auch ohne Bedeutung für mich. Es ist wirklich fürchterlich, daß in letzter Zeit wieder so viele Morde vorkommen. Vor einigen Jahren wurde auch ein solches Verbrechen ganz in unserer Nähe in Santa Barbara verübt, aber mein verstorbener Mann, der Senator, wollte mir nichts darüber erzählen, um mich nicht zu beunruhigen. Er war der Senator Crafton-Bonsor. Vielleicht haben Sie schon einmal von ihm gehört? Sein Name war häufig in den Zeitungen. Er hat sich allerdings nicht viel darum gekümmert, was sie schrieben.« Scottie schloß daraus, daß die Zeitungen den Mann wahrscheinlich recht unfreundlich behandelt hatten, aber ein Senator der Vereinigten Staaten! Darüber kam er nicht so leicht hinweg. Er wußte zwar nicht viel von den Amerikanern, deren Namen in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, seine Kenntnisse beschränk- ten sich auf einige Staatsanwälte. Aber er hatte die Vorstellung, daß amerikanische Senatoren hochgestellte Leute seien. »Nun, ich muß jetzt weiterfahren. Es wäre mir entsetzlich, an einem Ort leben zu müssen; an dem ein Mord verübt wurde. Ich könnte nachts nicht mehr schlafen, Mr. –« »Bellingham ist mein Name – Professor Bellingham.« Seine Worte schienen großen Eindruck auf sie zu machen. »Ach, wie interessant! Wissen Sie, ein Professor kam auch einmal zu uns in Santa Barbara. Die Rasenflächen in meinem Park sind so groß wie der ganze Ort hier. Ach ja, der Professor, der mich besuchte, war einfach wunderbar. Er holte lebendige Kaninchen aus seinem Zylinder, und vorher hatte er mir doch gezeigt, daß er nichts darin hatte. Nun muß ich aber wirklich weiterfahren, Herr Professor. Ich wohne im Great Metropolitan-Hotel. Mein Gott, die können einem aber Rechnungen schreiben! Und als ich nach einer Beutelmelone fragte, wußte kein Mensch, was ich meinte. Also, dann auf Wiedersehen.« Der Wagen fuhr an und war bald außer Sicht. Scottie wurde nachdenklich. »Haben Sie den Wagen gesehen?« war die erste Frage, die er an Andy richtete. »Nein, gesehen nicht, aber gehört – ich dachte, es wäre ein Lastauto gewesen.« »Ja, so könnte man es nennen«, gab Scottie zu. »Sie hätten nur die Fracht sehen sollen! Ungefähr – aber ich will Sie nicht langweilen. Es war einfach großartig – und was für eine Dame!« Andy hatte etwas anderes zu tun, als sich um gelegentliche Besucher von Beverley Green zu kümmern. »Wie geht es Miss Nelson?« »Ausgezeichnet, sie macht heute nachmittag einen langen Spaziergang.« Andy wurde rot. »Wer hat Ihnen denn das verraten?« »Sie selbst«, antwortete Scottie kühl. »Sie hat mir sogar aufgetragen, es Ihnen zu sagen. Dieses Mädchen ist recht intelligent.« »Ich habe nicht die Absicht, mich mit Ihnen über die Intelligenz Miss Nelsons zu unterhalten«, entgegnete Andy ein wenig von oben herab. »Und ich weiß auch nicht, warum Sie irgendwelche Schlußfolgerungen aus ihren Worten ziehen. Wahrscheinlich hat sie gemeint, Sie möchten mir bestellen, daß sie sich wohl genug fühlt, allein einen längeren Spaziergang zu machen.« 62 © wasser-prawda Feuilleton »Vielleicht. Sie sagte nur, daß sie um drei Uhr am zweiten Golfloch sei und dort auf Sie warten werde.« Andy wußte darauf nichts zu erwidern. »Und da wir gerade von Liebe sprechen«, fuhr Scottie fort, »so möchte ich Sie doch bitten, einmal nachzusehen, was der Berichterstatter des ›Post Herald‹ über die Verhaftung eines gefährlichen Verbrechers schreibt – damit meint er nämlich mich. Er zieht allerhand Schlüsse aus der Tatsache, daß sich die Verhaftung kurz vor dem Mord ereignete.« * Andy hatte schon zehn Minuten am Golfloch gewartet, ehe Stella kam. »Ich fürchtete schon, Sie könnten nicht abkommen«, sagte sie. »Hat Ihnen der Professor meinen Auftrag ausgerichtet?« »O ja, er hat es mir bestellt«, entgegnete Andy trocken. »Hat er Ihnen auch von der merkwürdigen Dame erzählt?« fragte sie ihn interessiert. »Scottie hatte eine lange Unterredung mit ihr. Ihr Auto hat zwei Fliederbüsche vollständig umgefahren. Der große Wagen wollte in der engen Straße wenden!« »Was war denn das für eine merkwürdige Dame? Hat sie Beverley Green besucht?« Stella nickte. »Ich sah sie durchs Fenster, Es gibt nur eine Beschreibung für sie – sie glitzerte! Ich hatte leider noch keine Gelegenheit, Scottie über sie auszufragen.« Sie gingen langsam weiter – Andy wußte nicht, welchen Weg sie eingeschlagen hatten. Ihm wurde nur so viel klar, daß sie zu den Grenzhecken von Beverley Hall kamen. Er war in einer ganz anderen Welt unendlich glücklich. Anziehend – hübsch – schön? Er hatte sich diese Frage schon einmal beantwortet. Er betrachtete Stella von der Seite. Ihr Profil war vollkommen, ihre Haut schimmerte in dem wenig schmeichelhaften, hellen Sonnenlicht ebenso zart wie in der Abendbeleuchtung. »Artur Wilmot hat mich heute geschnitten«, sagte sie. »Aber warum denn? Ich dachte doch – ich hatte gehört –« Er vollendete den Satz nicht. »Daß ich mit ihm verlobt sei?« sagte sie leise lachend. »Die Leute von Beverley verloben einen sehr leicht. Ich war nie mit ihm verlobt. Ich trug wohl früher einen Ring, weil – nun, weil er mir gefiel. Mein Vater hat ihn mir früher einmal geschenkt.« Er seufzte erleichtert auf, sie hörte es und sah ihn schnell von der Seite an. Aber dann schaute sie rasch wieder fort. »Was ist eigentlich der Beruf Artur Wilmots?« »Ich weiß es nicht. Er hat immer in London zu tun. Über seine Geschäfte spricht er nie, und niemand weiß etwas davon. Das ist merkwürdig, denn die meisten jungen Leute erzählen sehr gern von ihrem Beruf – wenigstens die ich kenne. Sie sind stolz auf die eigene Tüchtigkeit und wissen eigentlich sonst nicht viel zu reden. Aber Sie habe ich noch nie über ihre Tüchtigkeit sprechen hören, Doktor Andrew.« »Ich glaubte, daß ich schön außerordentlich gesprächig gewesen wäre – Miss Nelson.« »Nun seien Sie doch nicht komisch – Sie haben mich schon Stella genannt und ein dummes Kind, als Sie neulich morgens kamen. Ist es nicht wunderschön?« »Ich bin damals wohl sehr kühn gewesen«, gab er kleinlaut zu. »Ich meinte, daß wir uns kennengelernt haben und daß ich Sie gerne mag. Im allgemeinen kann ich mich nämlich nur schwer an einen Menschen gewöhnen. Vielleicht war es auch eine Reaktion. Ich habe Sie so sehr gehaßt, weil ich mich immer schuldig fühlte, wenn Sie mich ansahen. Ich dachte immer, Sie müßten schrecklich sein, ein Bluthund, der arme, unglückliche Menschen hetzt.« »Wahrscheinlich haben alle Leute diese Vorstellung von Polizeibeamten. Und wir schmeicheln uns mit dem Gedanken, daß der Anblick einer Polizeiuniform jeden guten Bürger erfreut.« »Ich bin kein guter Bürger. Im Gegenteil, ein sehr schlechter – Sie wissen gar nicht, wie schlecht ich bin.« »Ich kann es vermuten.« Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. »Stella«, sagte er dann plötzlich, »hat Merrivan bei Ihrem letzten Zusammensein mit ihm irgendwelche Andeutungen über die Zukunft gemacht – wo er leben würde?« »In Italien«, sagte sie. »Er erzählte mir, daß er viel Geld bekommen würde, und daß er einen herrlichen Palast am Corner See gekauft habe.« »Hat er Ihnen nicht mitgeteilt, ob er das Geld bereits erhalten habe?« »Nein, ich kann mich erinnern, daß er sagte, er werde es bekommen. Ich hatte den Eindruck, daß er es von irgendeiner Seite erhalten würde. Aber wir wollen bitte nicht mehr über diese Sache sprechen.« Von wem erwartete Merrivan das Geld? Doch nicht von Albert Selim? Oder hatte er vielleicht die Summe schon erhalten und versteckt? Möglicherweise hatte der Wucherer entdeckt, daß Merrivan ins Ausland gehen wollte, und versucht, das Geld wieder zurückzubekommen. Selim klagte sein Geld nie vor Gericht ein – das war auch ein sonderbarer Umstand. Er verlieh offenbar nur Geld, wenn er sein Opfer irgendwie in der Hand hatte. Als sie an eine steile Stelle kamen, nahm er Stellas Hand, um sie zu stützen, aber er ließ sie nicht los, als der Weg wieder eben wurde. Sie zog die Hand auch nicht fort. Sie war glücklich in seiner Gegenwart. Die Berührung dieser starken Hand, die die ihre so behutsam hielt, war wohltuend. Etwas von seiner Kraft und Ruhe war auf sie übergegangen, als er sie damals an den Schultern gepackt hatte. »Sie sind sehr ernst geworden«, sagte sie auf dem Rückweg. »Ich wußte, daß unser Spaziergang so sein würde – so wunderschön. Ich wünsche mir jetzt nichts mehr – mein Glück ist vollkommen. Ein zweites Mal würde es nicht mehr so werden wie heute.« Sie waren bei dem zweiten Golfloch angekommen. Es war niemand zu sehen. Andy beugte sich zu ihr, und seine Lippen berührten die ihren. 63 © wasser-prawda Prudenci Bertrana: Josafat oder Josafat oder Unsere Liebe Frau von der Sünde 86 Seiten 14,8 x 21,0 cm; ISBN: 978-3-943672-20-6 11,00 EUR (D) auch als E-Book erhältlich. Jürgen Buchmann: Lüneburger Trilogie. 96 Seiten; 14,8 x 21 cm; ISBN: 978-3-943672-09-1 10.00 EUR (D) Auch als E-Book erhältlich. Uwe Saeger: Ein Mensch von heute 92 Seiten; 14,8 x 21 cm ISBN: 978-3-943672-17-6 10,00 EUR (D) (Auch als E-Book erhältlich.) Angelika Janz: tEXt bILd. Ausgewählte Werke 1: Visuelle Arbeiten und Essays 120 Seiten; 14,8 x 21 cm; 11,95 EUR (D) ISBN: 978-3-943672-09-1 11,95 EUR (D)