Reisetagebuch Fire Department New York Oliver

Transcription

Reisetagebuch Fire Department New York Oliver
Reisetagebuch
Fire Department New York
6.-11. November 2001
Oliver Gengenbach
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Dear Fellow Fire Fighters,
dear brothers and sisters,
your generous gift will ease the earthly pain
of our widows and children,
but your solidarity and prayers will warm their
hearts for years.
Thanks and God bless You.
Rev. Everett Wabst
NYC Fire Chaplain
November 11, 2001
Liebe Kollegen,
liebe Schwestern und Brüder,
Eure großzügigen Spenden werden das irdische Leid
unserer Witwen und Kinder erleichtern,
aber Eure Solidarität und Eure Gebete
werden ihre Herzen für Jahre wärmen.
Danke und Gott segne Euch!
Pfarrer Everett Wabst
Feuerwehrseelsorger New York City
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11. November 2001
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Reisetagebuch Fire Department
New York 6.-11. November 2001
Pfarrer Oliver Gengenbach
Vorbemerkung:
Dieses Tagebuch ist noch auf der
Reise und direkt danach diktiert
worden. Ich hatte keine Zeit, es in
Ruhe zu redigieren. Es gibt meine
Beobachtungen, Gespräche und das
wieder, was ich in dieser Woche getan habe. Deutungen und Einschätzungen habe ich bewußt weggelassen,
für sie braucht es etwas Abstand
und einen zweiten Blick. Ich danke
meiner Mitarbeiterin Ursula Behne,
die die Mühe des Schreibens hatte.
Frau Strewe (Kopierladen) danke ich
für ihre Unterstützung bei den Kopierarbeiten. Und vor allem meiner
Frau Birgit für das, was sie mitträgt,ohne sie wäre vieles von dem,
was ich tue, gar nicht möglich.
Am Schluss sind einige Begriffe in
einem Glossar erklärt.
Dienstag, 6. November 2001
Im Flugzeug von Frankfurt nach New
York. Der Direktflug von Düsseldorf
ist ausgefallen, weil nach dem Terroranschlag auf das World Trade
Center am 11. September die Zahl
der Flugbuchungen stark abgenommen hat. Mit mir im Flugzeug die
Kerze, die das Fire Department New
York als Zeichen der Solidarität und
des Mitgefühls von den Feuerwehrleuten in Nordrhein-Westfalen bekommen soll. Mich begleiten auch die
Voten, Aufträge und Segenswünsche.
Am 3. November wurde mir die Kerze
in einem großen Gottesdienst im
Dom zu Aachen feierlich überreicht.
Ich habe die große Ehre, die Kerze
und die damit verbundenen Wünsche
an die New Yorker Kameraden zu übergeben. Seit Jahren bin ich mit
dem New York Fire Department
(NYFD) verbunden, habe noch im Januar auf der Wache 10 direkt gegenüber dem World Trade Center für
eine Woche gewohnt und bin seit
Jahren eng befreundet mit dem Feuerwehrseelsorger Everett Wabst.
Nun fliege ich im Auftrag des Landesfeuerwehrverbandes NordrheinWestfalen mit seinen 110 000 Feuerwehrleuten, der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren, der fünf katholischen Bistümer und drei evangelischen Landeskirchen und der ökumenischen
Konferenz der Beauftragten für
Notfallseelsorge
in
NordrheinWestfalen.
In Aachen wurden die 14 Kerzen zusammengetragen, die vorher fünf
Wochen lang durch alle Feuerwehren
Nordrhein-Westfalens gegangen waren. Seit dem 29. September, als in
einem Gottesdienst in der evangelischen Reinoldi-Kirche in Dortmund
die Kerzen ausgegeben worden waren, brannte eine Kerze für einen
Tag jeweils in jeder Berufsfeuerwehr und den meisten freiwilligen
Feuerwehren.
Wenn ich gleich in Newark lande,
wird Rev. Everett Wabst mich abholen. Ed ist 54 Jahre alt, seit 1972
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Feuerwehrmann im New York Fire
Department, seit 1999 pensioniert.
Seit 1982 ist er neben seinem „normalen“ Feuerwehrdienst ordinierter
Pfarrer der Baptist Church und als
Fire Chaplain des NYFD weiterhin
tätig. Die ganzen Wochen, seit dem
11. September, sind wir in enger
Verbindung, über Telefon oder Email.
Ich fliege mit gemischten Gefühlen:
Einerseits freue ich mich sehr, endlich die Freunde in New York zu sehen und auch wirklich da zu sein, wo
ich in den letzten Wochen ohnehin
war - durch Anrufe, Mails, Fernsehund Zeitungsberichte: bei den Feuerwehrleuten in New York, die mich
stets mit überwältigender Gastfreundschaft behandelt haben, wenn
ich da war. Andererseits weiß ich
nicht, was mich erwartet. Wie stark
werden Entsetzen und Trauer sein,
denen ich begegne? Wie wird es wirken auf mich, wenn ich acht Straßen
nördlich von Ground Zero im Bataillion 1 essen und wohnen und schlafen
werde. Welche Begegnungen, welche
Veranstaltungen, welche Eindrücke
werden auf mich zukommen? Ich
denke an Mychals Prayer, das Gebet des beim Einsturz des World
Trade Center getöteten Feuerwehrseelsorgers und Franziskaner-Paters
(als er einem getöteten Feuerwehrmann die Sterbesakramente gab),
das große Kraft hat.
„Lord,
take me where you want me to go,
let me meet who you want me to
meet,
tell me what you want me to say,
and keep me out of Your way.“
Und da ist dann noch etwas anderes,
dieser Widerspruch in mir: einerseits das Mitgefühl und die Vorfreude auf meine Freunde in New
York, und auch der Respekt und
manchmal die Faszination über die
Art, wie sie nach solchen Attacken
die Ärmel aufkrempeln und „zum
normalen Leben“ zurückkehren, andererseits aber meine eigene Distanz zu diesen amerikanischen Übertreibungen, zu ihrer Fähigkeit, Gefühle und Sentimentalität für politische und marktwirtschaftliche Zwecke zu missbrauchen und vor allem
das Befremden über die amerikanische Machtpolitik. Ich freue mich,
dass Ed in diesen Fragen ähnlich
denkt wie ich. Und dass uns ein Glaube verbindet, der bei dem millionenfach zu hörenden Satz „God bless
America“ auch daran denkt, dass
Gott genauso gut Afghanistan segnet.
Wir fliegen auf Newark zu. Es ist ein
wunderschöner Tag, 4:00 Uhr nachmittags, die Sonne scheint, der
Himmel ist blau. Unwillkürlich denke
ich: Wie am 11. September. Und: Wie
das wäre, wenn wir jetzt mit diesem
Flugzeug in einen der Wolkenkratzer,
die am Horizont sichtbar werden,
mitten hineinfliegen. Später wird Ed
mir sagen, dass es ihm beim Abholen
gar nicht gefallen habe, all die Flugzeuge starten und landen zu sehen.
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Und wenn ein Flugzeug hinter einem
Wolkenkratzer vorbeifliegt, ist immer das Bild da, wie dieses Flugzeug
eben nicht hinter dem Wolkenkratzer her fliegt, sondern mitten hinein.
Im Landeanflug sehe ich Manhattan:
Ohne die Twin Towers. Da fehlt etwas, etwas ganz Vertrautes und
Wichtiges. Ich denke: Kastriert.
Ed holt mich am Flughafen ab. Ein
schönes Wiedersehen, aber welch ein
Anlass! Auf dem Weg nach Manhattan erzählt Ed von den geborgenen Kollegen und den Vermissten.
Einige haben sie bergen können, Ed
hat manche ausgesegnet, als sie aus
den Trümmern gezogen wurden.
Durch die Bunker Clothes, die sehr
solide wattierte und komplett isolierende Schutzkleidung, wurden ihre
Körper nicht in so viele Stücke gerissen wie bei den „Zivilisten“. Aber
manchmal fanden sie auch nur ein
Stück Kleidung. Als das World Trade
Center in sich zusammen fiel, drückte Stockwerk auf Stockwerk. So
wurden viele einfach pulverisiert.
Findet man einzelne Leichenteile oder Stoff-Fetzen, wird eine DNAAnalyse genommen. In der Wache 10
stehen Feuerwehrleute bereit, die
bei
jedem
Fund
eine
GPSStrichmarkierung vornehmen. Seit
sieben Wochen tun sie das, immer
dieselben.
Ed sagt, unvorstellbar und sehr
fremd sei es gewesen, nach dem Einsturz, dass zwar in den allerersten
Minuten noch einige aus den Trümmern gekommen sind, einige auch
noch herausgetragen werden konnten, dass dann aber ab da so gut wie
keiner zu sehen oder zu hören war,
geschweige denn gefunden wurde.
Und dass bei über 4.000 Menschen
Trotzdem fragen sich viele, wie es
möglich war, dass noch so viele Menschen aus den Häusern herauskamen.
Rechnerisch sei das gar nicht möglich.
Als wir nach Manhattan kommen,
wirkt alles sehr normal. Wir fahren
zur Duane Street, acht Blöcke nördlich von Ground Zero. Hier ist der
Battalion 1 Chief untergebracht,
außerdem Engine 7 und die Ladder
1. Bei der Begrüßung sehe ich manche vertraute Gesicher, wie schön
sie lebend wiederzusehen. Sie haben
für mich ein Büro freigemacht, wo
ich diese Woche schlafen kann. Vorher war hier ein texanischer Feuerwehrpfarrer, Skip Straus, ausgebildet auch in Critical Incident Stress
Management, der für eine Woche
gekommen war und dann drei blieb
und die Leute am Einsatzort und auf
der Wache unterstützt hat.
George, der Battalion Chief, heißt
mich herzlich willkommen. Wenn ich
erkläre, warum ich hier bin und von
der Kerzenstafette erzähle, ist die
häufigste Reaktion: aufmerksames
Zuhören, ein gesenkter Blick, keine
große und laute Reaktion, keine Worte, kein Nachfragen -und dann ein
Blick in die Augen und ein ungewohnt
unspektakulär gemurmeltes „Danke“. Wenn ich dann allerdings erzähle,ich käme im Namen von 110 000
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Feuerwehrleuten, dann kommt üblicherweise ein erstauntes „Wow!“.
Ich habe den Eindruck, die meisten
wissen, dass ich komme. Ein Brief,
den ich geschickt hatte, ist an alle
Feuerwachen des Battalion 1 in Kopie
geschickt worden. Und für Samstag
ist schon ein Gottesdienst auf der
Wache vorbereitet, in dessen Mittelpunkt unsere Kerze aus Nordrhein-Westfalen stehen wird.
Sie zeigen mir Fotos, die sie an der
Einsatzstelle gemacht haben. Noch
immer ist nicht zu fassen, was da
passiert ist. Das Ausmaß der Verwüstung wird an kleinen Einzelheiten sichtbar, z. B. an dem Stück
Stahlgerippe vom World Trade Center, das noch jetzt im gegenüberliegenden Haus in Höhe des 25. Stockes in der Hauswand steckt. Die
Wache 10 wurde nicht zerstört,
vermutlich weil die Tore auf waren
und so die Druckwelle, nachdem sie
alle Fenster zerstört hatte, durch
das Gebäude ziehen konnte. Auf dem
Film, den George hier zeigt, ist neben all den 30 Bildern schlimmster
Verwüstung ein einziges Bild auf dem
Film, wo seine Kinder zu sehen sind.
Zufall. Die Traumabegleiterin Perren-Klingler nennt das Sicherheitssäulen: In der Begegnung mit dem
Schrecklichen, ein Ort, der mir emotional Kraft und Sicherheit gibt.
Dann die Fahrt zum Ground Zero.
Das Gebiet ist strengstens abgesperrt, über die Wochen hin immer
strenger geworden. Überall Barrikaden, Polizei und Nationalgarde. Der
Battalion Chief wird durchgewunken,
und wir fahren zur Wache 10. Überall riesige Sattelschlepper, die entweder Trümmer wegfahren oder auf
Beladung warten. Vom Dach der Wache 10 aus hat man den besten Überblick: Da, wo bei meinem letzten
Besuch im Januar eine RiesenHäuserfront stand, man den Himmel
nicht sah, da klafft jetzt ein riesiges
Loch. Scheinwerfer und riesige Kräne und Bagger beherrschen das Bild.
Die Trümmer sind über weite Strecken bis auf Straßenniveau abgetragen. Eine Fläche von vielleicht der
Größe von zwei Fußballfeldern qualmt
noch.
Wenn ich das jetzt schreibe, fällt
mir auf, wie distanziert ich war. Kein
rechtes Gefühl stellte sich ein. Einerseits war alles so groß und traurig
und erschreckend, tausende Menschen noch unter den Trümmern, andererseits eine geordnete Baustelle,
viele, die ihren Job machen, Reinigungsvorrichtungen für Schuhe und
Autos, und Trümmer, die herausgefahren werden aus dem Gebiet. Unwirklich. Und doch, wenn ich nachdenke, ist es ein Gefühl, das ich auch
sonst in New York oft habe: Irgendwie unwirklich, nicht mehr vorstellbar, in all der Größe, dem Reichtum.
Wir fahren zur Wache Engine 4/
Ladder 15. Dort finde ich meine
Freunde von der Wache 10, die von
hier aus fahren, weil ihre Wache
durch die Aufräumarbeiten nicht
mehr erreichbar ist, auch den grobschrötigen und dabei unglaublich na-
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türlichen und hilfsbereiten Captain
Gene Kelty, der mich im Januar zum
Flughafen gefahren hatte. Ich bringe ihnen die Fotos von meinem letzten Besuch und bei dem Bild, auf dem
Paul Pansini abgebildet ist, verändert
sich seine Stimme. „We have lost
him, wir haben ihn verloren.“ Paul
mochte ich gern, mit seinem Humor.
Er hinterlässt seine Frau und drei
Kinder. Wir bereiten den Gottesdienst am Samstag vor, an dem alle
Einsatzkräfte vom Battalion 1 und
auch „Zivilisten“ aus der Umgebung
teilnehmen sollen. Dann geht es um
die medizinischen Tests: Einer erzählt, dass er zweimal dicke schwarze Rauchwolken eingeatmet hat, aber
nicht getestet wurde. Dafür wurden
in großer Anzahl Kollegen aus Queens
getestet, die gar nicht nah dran waren und viel später gekommen seien.
Die Leute fühlen sich nicht gut genug
versorgt.
Zurück beim Battalion 1 gibt es ein
wunderbares Essen: Nudeln mit
Huhn und Shrimps. Am Tisch der
Chief, Feuerwehrleute, zwei Polizeibeamte, Ed und ich. Ich erzähle von
der Kerzenaktion. Ed zeigt eine Fotomontage, die einen erschöpften
oder traurigen Feuerwehrmann am
Ground Zero und zwei Engel zeigt,
und die ihm zugeschickt wurde. Er
hat dieses Bild auf Karten drucken
lassen und verteilt sie bei Trauergottesdiensten an die Angehörigen.
Dann geht es um den Wunsch der
politisch Verantwortlichen, die Einsatzstelle mit schwerem Gerät mög-
lichst schnell abzuräumen, um zur
Normalität zurückzukehren. Aufgrund der Anordnung von oben gab es
sogar 18 Festnahmen, als sich Feuerwehrleute weigerten, von der
Einsatzstelle wegzugehen. Beim gegenwärtigen Stand von lediglich 93
tot geborgenen Kollegen und noch
250 Vermissten verstehen die Feuerwehrleute die Eile nicht. Es gebe
gute Chancen, wenn man zu den
Treppenhäusern vorgestoßen sei,
noch Körper zu finden. Selbst das
Atom-U-Boot Kursk sei von den Russen mit Millionenaufwand gehoben
worden. Das alles sei eine Auseinandersetzung der „Weißkragen“, an der
Basis klappe die Zusammenarbeit
zwischen Feuerwehr und Polizei wunderbar, und es gebe eine große gegenseitige Unterstützung.
Mittwoch, 7. November 2001
Nach gutem Schlaf, ohne durch Alarme geweckt zu werden, treffe ich
neue Leute, Wachablösung, und auch
sie sind dankbar dafür, dass wir in
Nordrhein-Westfalen, aber auch viele, viele andere in der ganzen Welt
an sie denken. Ich sehe T-Shirts und
Sweat-Shirts, die bedruckt wurden
und jetzt verkauft werden als Spendenaktion für die Hinterbliebenen.
Auf ihnen ist zum Beispiel eine
Zeichnung zu sehen von Manhattan
mit einem überdimensionalen Polizisten und einem Feuerwehrmann und
darunter: „The other Twin Towers –
They called and we responded. (Die
anderen Zwillingstürme – Sie riefen
und wir sind gekommen.)“ Es gibt
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Sticker, Haftschilder, voll trotzigen
amerikanischen Stolzes, Worten von
Durchhaltewillen und Heldentum. Eine rote Stoffschleife mit einem kleinen goldenen Barockengel bekomme
ich geschenkt, ein bisschen fremd
wirkt das für mich und auch ein bisschen kitschig. Und wenn doch diese
Sentimentalitäten und Gefühle, die
solche Teile wecken, nicht von den
amerikanischen Mächtigen für ihre
Politik missbraucht würden! An der
Wand hängt das Bild von Bin Laden
mit einer Zielscheibe darauf, durchbohrt von einem Dart-Pfeil. Worte
des Hasses höre ich aber niemals in
dieser Zeit.
Draußen vor der Tür fährt ein Fahrzeug des Roten Kreuzes aus Georgia
vor. Ehrenamtliche aus den gesamten
Vereinigten Staaten beteiligen sich
an der Hilfe in New York: Red Cross
Disaster Relief (Katastrophenhilfe
des Roten Kreuzes). Sie bringen
Frühstück für die Feuerwache. Ich
helfe einer Frau beim Tragen der
Boxen, in denen Toast, Sirup, Rührei
und Bagels sind. Sie ist Psychologin
mit eigener Praxis in Kalifornien und
zwei Wochen hier freiwillig tätig.
Psychologische Unterstützung wird
von ihr nicht eingefordert. Sie helfe
in der Küche. Es klingt so, als sei sie
überrascht, so wenig mit ihrem Beruf
gebraucht zu werden. Wenn mir jemand auffiele, meint sie, soll ich ihn
an sie verweisen. Mein eigener Eindruck ist, dass die Zeit für psychologische Betreuung noch kommen
wird, wenn alles sich beruhigt hat,
wenn die Kameraden beerdigt sind,
vielleicht im Januar oder Februar.
Aber ich bin auch hier, um Informationen darüber zu sammeln, was Einsatzkräften nach einem solchen Disaster gut tut, welche Unterstützungsmöglichkeiten sinnvoll sind und
auch, was nicht adäquat ist. Die
Frühstück verteilende Psychologin
gibt mir noch den Tipp, ich solle in
das Restaurant Nino gehen, dort bekämen Feuerwehrleute umsonst etwas zu essen und seien vielleicht für
Gespräche dankbar.
Nach Duschen und Frühstück fahren
wir zu einem Melderalarm. In der
Nähe von Ground Zero der charakteristische Brandgeruch. Ein kurzer
Blick auf das Trümmerfeld zeigt eine
Riesenrauchwolke. Es brennt noch
immer, nach sieben Wochen, wenn
Brandnester durch die Beseitigung
von Trümmern Sauerstoff erhalten.
Außerhalb des Sperrgebietes normales Leben, aber in der Wall Street
und eigentlich überall ein großes
Aufkommen von Polizeibeamten.
Wieder zurück auf der Wache. Eine
große Menge von Menschen in der
Halle. Menschen von überall her
kommen, um sich in das Kondolenzbuch einzutragen, um neu gedruckte
T-Shirts und allerlei Anderes zu
kaufen, die Einnahmen gehen als
Spende an die Hinterbliebenen. Eine
große Gruppe von der Feuerwehr in
Baltimore County ist gekommen. Sie
hatten teilgenommen an einer Trauerfeier in der St. Patricks-Kirche
und besuchen nun die Feuerwache
hier. Etwas später kommt ein junger
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Mann, geht in den Aufenthaltsraum,
packt seine Gitarre aus und spielt ein
Lied, das er für die Feuerwehr New
York nach den Anschlägen geschrieben hat. Die Männer bedanken sich
und sagen zu ihm: Good Job! Ich frage einen, ob es ihm nicht zuviel wird,
wenn so viele Leute kommen. Er sagt,
nein, das hilft uns, das gibt uns
Kraft.
Wenn ich mit Männern, die ich noch
nicht kenne, ein Gespräch anfange,
beginne ich jetzt immer mit der Frage: Was hast Du gemacht am 11.
September, wo warst Du als es
begann? Einer erzählt, er habe um
8:30 Uhr Dienstschluss gehabt. Eine
knappe halbe Stunde vorher also. Als
es passierte, war er auf dem Weg
nach Hause, hörte im Radio die
Nachricht, drehte um und brauchte
wegen der Rush hour trotzdem 1 1/2
Stunden, bis er auf seiner Feuerwache wieder war. Andere hatten frei
an dem Tag, sind dann meistens sofort zu ihrer Wache gefahren.
Mit zwei Männern (Fire Marshals,
mit denen ich später noch ausführlich reden werde) spreche ich, die
erzählen, dass sie seit Wochen die
Aufgabe haben, dort zu sein, wo die
toten Kameraden hingebracht werden, um sie zu identifizieren.
Manchmal sind es nur Teile der Kleidung.
Bei einem Einsatz ( leckgeschlagener
Tank bei einem Auto in einer Tiefgarage) treffe ich auf Lieutenant
O´Malley, den ich vom Januar her
kenne. Er spricht mich mit Namen an
und ist informiert über die Kerzenaktion und über den Gottesdienst am
kommenden Samstag. Wir freuen
uns, einander lebend zu sehen.
Ich frage die Männer auch, wie sie
mit all dem fertig werden. Ob es irgendwelche Unterstützungsangebote
gäbe? „Du meinst psychologisch?“
fragen sie dann meist. „Wie auch immer, wie werdet Ihr damit fertig?“
frage ich. Die Reaktion ist meistens
gleich: Ein Schulterzucken. Dann ein:
„Wir arbeiten eben.“ Aber der Blick
ändert sich, und die Stimme auch.
Man kann richtig sehen, wie die Tränen nach oben kommen, aber etwa in
Höhe der Wangenknochen wieder
nach unten gedrückt werden. Ich
habe das sichere Gefühl: Hier fragst
du nicht weiter! Oft schließe ich das
Gespräch ab mit einem „Gott segne
Dich“, was in Deutschland nicht sehr
üblich ist. Aber hier ist das „God
bless you“ oder auch der Wunsch „Be
safe! (Sei sicher!)“ üblich – und dieser Teil der amerikanischen Art miteinander umzugehen kommt mir sehr
hilfreich vor. Ein fester Händedruck
zum Schluss. Traumabearbeitung,
Konfrontation mit dem Erlebten, Unterstützung der Trauer im Gespräch
scheinen mir hier ganz unangemessen
zu sein. Die Männer weisen auch darauf hin, dass der Einsatz immer noch
nicht abgeschlossen ist, zu viele ihrer Kameraden liegen noch in den
Trümmern begraben, die meisten
sind noch nicht beerdigt. Alle sind
noch damit beschäftigt, mit den verheerenden Auswirkungen dieses An-
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schlags, auch für die tägliche Feuerwehrarbeit, fertig zu werden.
Um 6 Uhr abends holt Ed mich von
der Wache ab. Die offizielle Mappe
mit der Erklärung der Kerzenstafette, den Texten der Gebete, die
in Deutschland gebetet wurden, und
den offziellen Grußworten des Landesfeuerwahrverbandes, der Bistümer und der evangelischen Landeskirchen habe ich gerade fertiggestellt. Zusammen mit der Kerze und
der Mappe, die die Presseartikel
aus den vielen Orten enthält, in denen die Kerze gebrannt hat, werden
Ed und ich sie heute abend bei den
„Honorary Fire Chiefs“ vorstellen,
noch vor der offiziellen Übergabe was Ed scherzhaft als „Preview“ bezeichnet. Die Honorary Fire Chief
Association ist eine Vereinigung von
Menschen mit viel Geld, die sich ehrenhalber Fire Chief nennen können,
enge Kontakte zum Bürgermeister
und zur Wirtschaft sowie Geldmittel
zur Verfügung haben, mit denen sie
die Feuerwehr New York unterstützen können. Normalerweise sind ihre
Treffen in einem 4 SterneRestaurant, heute aber in dem traditionellen
Feuerwehrmuseum
der
Stadt New York.
Zu Beginn des Treffens halten Ed
und ich gemeinsam eine kleine Andacht. Auf einem kleinen Tisch steht
die Kerze, dazu der weiße Lederhelm,
den Ed als Fire Chaplain trägt (in
New York sind die Feuerwehrseelsorger Teil der Hierarchie und haben
den Rang eines Deputy Chiefs), dazu
ein Bild, das einen Feuerwehrmann
und zwei Engel zeigt. Ed trägt die
Stola, die er auch trägt, wenn er die
aus den Trümmern geborgenen Männer aussegnet. Sie riecht sehr stark,
der Geruch der Einsatzstelle.
Ed und ich erklären die Einzelheiten
der Kerzenstafette, ich spreche das
Gebet, in englischer Übersetzung,
dass in den nordrhein-westfälischen
Feuerwehren anlässlich der Übergabe der Kerze gebetet wurde, und
nach einer Schweigeminute sprechen
wir Mychal´s Prayer in deutsch und
englisch. Nach der Erklärung bekommt jeder eine Kerze, und alle
zünden ihre Kerze an der großen an.
Viele bedanken sich für die Solidarität und sagen, dass dieses einfache
Symbol der Kerze eine große Wirkung hat. Ich nutze den Abend auch,
um Ed den Scheck zu geben, den die
Feuerwehr Witten mir mitgegeben
hat, 4000 US $ haben die Feuerwehrleute gesammelt, unter anderem
durch ein Benefizturnier und den
Verzicht auf ein halbes Jahr ihrer
Einsatzgelder.
Außerdem überreiche ich Ed einen
Brief, in dem die EKD-Konferenz
der
Notfallseelsorgerinnen
und
Notfallseelsorger , die gerade in
Kassel tagt, ihr Gedenken und ihre
Wünsche zum Ausdruck bringen und
ich überbringe ihm die Einladung, im
nächsten Jahr zum Bundeskongress
Notfallseelsorge nach Hamburg zu
kommen und über die Feuerwehrseel-
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sorge nach den Anschlägen zu berichten.
Und ich gebe ihm auch zwei Videobänder mit Berichten über Eds
Freund, den getöteten Father Mychal Judge, die mir eine deutsche
Katholikin, die in den Niederlanden
verheiratet ist, zugeschickt hat. Sie
hatte im deutschen Fernsehen gesehen, daß ich nach New York fliege,
und mich um das Mitnehmen der
Bänder gebeten. Ed ist gerührt, welche Kreise das zieht und wieviel Verbundenheit es gibt.
Ed bringt mich zur Wache zurück. Es
ist elf Uhr nachts, ich entscheide
mich, wenigstens ein bisschen durch
die Stadt zu laufen und Abstand zu
gewinnen von der Feier. Auf der Suche nach einem Glas Wein komme ich
durch Zufall in China Town an einem
Keller vorbei, in dem Rückenmassagen angeboten werden. Gönne mir 30
Minuten Massage und merke dabei,
wie wohltuend es ist, seinen Körper
zu entspannen und intensiv zu spüren.
Auch die nach den Anschlägen eingesetzten Einsatzkräfte hatten die
Möglichkeit, massiert zu werden und
haben das intensiv genutzt.
Zurück auf der Wache treffe ich
Captain Ron Schmutzler, der mir
davon berichtet, dass acht seiner
Leute nach dem 11. September
deutliche Stressreaktionen gezeigt
hätten. Sie hätten sich sehr zurückgezogen und seien sehr reizbar gewesen. Er habe sie zum Counseling
Center geschickt, habe aber keine
Nachricht darüber, ob das für sie
gut gewesen sei. Außerdem habe es
vor zwei Wochen eine Gruppenintervention gegeben, an der einige teilgenommen hätten und die etwas weniger als eine Stunde gedauert hätte.
Durchgeführt wurde sie seines Wissens nach von einem CISM–Team, von
einem Psychologen und einem Feuerwehrmann. Ron meint, es müsste
mehr solcher Gruppeninterventionen
geben.
Donnerstag, 8. November 2001
Heute steht ein Tag beim New Jersey CISM Team Network an, das im
Polizeihauptquartier in Jersey seine
Zentrale hat.
Zwei Polizisten aus einer ländlichen
Gegend in Connecticut holen mich von
der Wache ab. Da sie leider den Weg
nicht kennen, bescheren sie mir
statt des 15-minütigen Weges, der
durch den Hollandtunnel führt, ein
3/4stündiges Sight Seeing durch die
hässliche industrielle Gegend jenseits des Hudson River. Die Zentrale
des Port Authority Police Department ist streng abgesichert. Wir
passieren einen Posten der Nationalgarde und verschiedene Sicherheitskontrollen. Seit zwei Wochen werden
alle wichtigen und möglicherweise
gefährdeten Gebäude von mit Maschinengewehren bewaffneten Soldaten der Nationalgarde bewacht.
Wie im Krieg, denke ich, die Leute
hier sagen: „Wir sind im Krieg.“ Wir
fahren zum 2. Stock, wo das Command-Center (Koordinierungsstelle)
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des New Jersey CISM-Teams seinen
Sitz hat. Die Behörde hat ein ganzes
Stockwerk, aus dem die Büros gerade umgezogen waren, zur Verfügung
gestellt.
Kartengrüßen von Kindern, mancherlei Durchhalteparolen, z. T. humorvolle Cartoons und Texte, die den
Polizeibeamten und Feuerwehrleuten
Respekt geben.
Die Koordination der gesamten
CISM-Arbeit hat Robert Kandle, wir
begrüßen uns herzlich. Wir hätten
nicht gedacht, dass wir uns so bald
wiedersehen, nachdem wir im Januar
dieses Jahres gemeinsam an einem
CISM –Training in Baltimore teilgenommen haben. Damals hatte er mir
an der Hotelbar von seinen VietnamZeit und schlimmen persönlichen und
beruflichen Erfahrungen danach erzählt.
Wir unterhalten uns über die Arbeit,
und ich spreche mit Roland über seine Einschätzungen.
Außerdem begrüßen mich zwei Polizeipfarrer aus Oklahoma, die in den
letzten Tagen auf Ground Zero waren. Robert korrigiert mich mit etwas strafendem Blick: „Übrigens Oliver, wir nennen das jetzt Ground Hero. Wir haben es umbenannt.“ An der
Wand hängen neben dem üblichen
Heldenbild eine große Menge von
Ärmelabzeichen: Von überall her sind
CISM-Teams gekommen und Polizeibeamte, die in ihrer Freizeit hier
Fahrdienst machen.
Roland zeigt mir die Räume. Außer
dem Büro, das mit allen Kommunikationsmitteln ausgestattet ist, gibt es
einen Essraum, einen großen Raum
mit Bürokabinen, in dem ein gut bestückter Büchertisch mit Informationen steht, und zwei Ruheräume, in
denen Feldbetten stehen. An der
Wand hängen Zettel mit Bildern und
“This is not in the books!”
Gespräch
mit dem Koordinator des
New Jersey CISM Team Networks
Robert Kandle
8.11.2001
NJ CISM Team Command Center,
Jersey City
OG:
Roland, zunächst einmal bringe ich Dir die
Grüße der SbE-Bundesvereinigung in
Deutschland. Alle dort denken an Euch
und wünschen Euch Erfolg bei der Arbeit,
und daß Ihr für Euch selber diese große
Sache heil bewältigt.
Du bist der Koordinator für das New Jersey CISM Team Network. Wie ist es aufgebaut und was sind Eure Aufgaben?
RK:
Unser CISM Team Network hat insgesamt
135 Leute, wir haben Polizisten, Feuerwehrleute, Rettungsdienstler,
Lehrer,
Krankenschwestern, Leitstellenmitarbeiter.
Alle haben mindestens den CISM Basic
Course und den Peer Support Course, um
mitarbeiten zu können. Und wir haben 15
Mental Health Professionells, eine Mischung aus Psychologen, Seelsorgern und
anderen.
14
OG:
Was habt Ihr hier nach dem 11. September
getan? Wann habt Ihr Euren Einsatz begonnen?
RK:
Wir haben einen Telefonanruf bekommen
an dem Tag, mit der Bitte, als CISM-Team
tätig zu werden. Der Anruf kam vom Port
Authority Police Department (PAPD). Das
PAPD-CISM-Team ist ausgebildet für
Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst,
weil es für deren Zuständigkeitsbereiche
Flughafen, Tunnel usw. ein organisationsübergreifendes Training gibt.
OG:
Was habt Ihr in den ersten Stunden getan?
RK:
Mit etwa sechs Leuten haben wir begonnen
mit Einzelgesprächen am Einsatzort. Wir
haben ab dem 12. September Planungsgespräche geführt mit dem Büro für Einsatzorganisation, um uns einen Überblick zu
verschaffen, auf was es jetzt ankommt.
Dann haben wir hier im Police Headquarters unser CISM-Einsatzzentrum aufgebaut
und einen Plan gemacht, was wir jetzt als
nächstes tun würden. Wir haben von vornherein versucht uns vorzustellen, wie lange
das alles dauern würde.
OG:
Ihr habt sehr gute Bedingungen hier im
Port Authority Police Headquarters, viele
Räume, ...
RK:
...ja, Port Authority, die kümmern sich
sehr. Sie haben uns die ganze Etage hier
zur Verfügung gestellt. Die sollte renoviert
werden und war leer, das Personal, das
hier gearbeitet hatte, war vor einem Monat
ins World Trade Center umgezogen. Und
dann haben wir Fahrer, die uns Police
Departments aus verschiedenen Staaten
zur Verfügung stellen, New Jersey, Massachusetts, Connecticut, New Hampshire. Sie
kommen mit ihren Fahrzeugen, meistens in
ihrer Freizeit.
OG:
Habt Ihr schon Gruppeninterventionen
angeboten?
RK:
Nein, es gab noch keine Gruppeninterventionen. Wir führen streng nur Einzelgespräche, und das wird in der nächsten Zukunft auch so bleiben. Die Einsatzkräfte
sind immer noch beschäftigt mit Trauerfeiern und Beerdigungen. Für sie ist noch
nicht die Zeit für Debriefings. Das einzige,
was wir tun können, sind Demobilizations
– die Leute arbeiten 12 Stunden in einer
Schicht, und wollen dann meistens nicht
einmal nachhause gehen.
RK:
Roland, Du erzählst von vielen Einzelgesprächen. Von welchen Reaktionen berichten die Einsatzkräfte?
RK:
Ich habe weniger als andere mit den Einsatzkräften selbst gesprochen. Aber was
immer wieder Thema war, war diese Unmöglichkeit zu helfen – und Schuld.
OG:
Schuld?
RK:
Ja, viel Schuld. Fragen wie: Warum die
und ich nicht? Warum konnten wir sie
nicht retten? Das, was wir die “Schuld der
Überlebenden” nennen. Trauer ist noch
nicht so da.
OG:
Dazu ist es wohl zu früh? Die meisten sind
mehr ärgerlich.
RK:
Ja. Ich denke, ein bißchen mehr als Ärger!
(lacht) Die haben komplett die Schnauze
voll von der Welt, durch das, was da passiert ist. Keine Zeit für Trauer jetzt. Es sind
sechs oder sieben Trauerfeiern pro Tag für
die Feuerwehr, das ist ne Menge an einem
Tag!
15
OG:
Wie sind denn die CISM-Team-Mitarbeiter
damit umgegangen? Haben sie die Leute
konfrontiert mit ihren Gefühlen oder nicht?
RK:
Sie haben die Leute einfach sprechen lassen, aber so, daß sie gut weiterarbeiten
können. Kommunikation offen halten und
weiterarbeiten lassen! Die Jungs haben
keine Lust, jetzt in Gefühle hineingezogen
zu werden.
OG:
Wann, glaubst Du, wird die Trauer hochkommen, und Unterstützung dafür wird
nötig werden?
RK:
Um ehrlich zu sein, da bin ich nicht sicher.
Wirklich nicht.
OG:
Vielleicht Januar – wenn Weihnachten
vorbei ist?
RK:
Vielleicht. Bei manchen wird es vielleicht
rauskommen an den Feiertagen, aber ich
denke, das ist vielleicht noch gar nicht die
Art von Trauer, die wir meinen. Da ist
noch viel Selbstschutz, Verdrängung. Solange die Leute in ihrem Einsatz sind, und
der nicht abgeschlossen ist, solange bleibt
die Trauer vergraben.
Und da gibt es eine große Zahl von getöteten Feuerwehrleuten, Polizeibeamten –
und Bürgern, die in dem Gebäude waren -,
sodaß es einen Abschluß vielleicht nie geben wird. Ich weiß das nicht.
OG:
Und bereitet ihr Gruppeninterventionen
vor?
RK:
Ja, natürlich. Aber nochmals: dafür muß
es eine Grundlage geben, die wir draußen
sehen werden, ob die Leute bereit für De-
briefings sind. Jetzt im Moment sagen mir
die, die am Einsatzort und auf den Wachen
mit den Leuten sprechen, daß es noch ein
langer Weg sein wird bis zu irgendeiner
Art von Gruppeninterventionen. Vielleicht
im nächsten Jahr, vielleicht, wenn der Osterhase da ist.
Weißt Du, wir beide sind Trainer für den
Basic Course und den Advanced Course,
but this is not in the books, das hier steht
nicht in den Büchern! Nach einiger Zeit ist
dann vielleicht das Handbuch zu überarbeiten, wenn wir unsere Erfahrungen gemacht haben!
OG:
Danke, Roland, alles Gute für Euch!
Die Gesamtsituation ist sehr differenziert zu betrachten. Während die
Polizei, sowohl die der Hafenbehörde
als auch die der Stadt New York,
CISM-Angebote in Anspruch nimmt
und dem Team alle Möglichkeit zur
Verfügung stellt, ist die Feuerwehr
in New York hier sehr zurückhaltend.
Das ist auch Hauptthema der Gespräche mit Jeffrey Mitchell, Doug
Mitchell und Don Howell von der
ICISF, die später zu uns stossen,
weil sie heute in New York Gespräche geführt haben.
Mit Jeff und Don spreche ich auch
über unsere Bedenken hinsichtlich
der Art von „Heldenverehrung“. So
beeindruckend sie auf den ersten
Blick sein mag und so sehr die Feuerwehrleute dankbar sind für alle
Unterstützung und Wertschätzung in
der Bevölkerung, so sehr bedeutet
das aber auch, dass sie sich zusam-
16
menreissen müssen und wenig Platz
für ihre Trauer haben. Alle, mit denen ich spreche, denken, dass diese
Trauer erst später an die Oberfläche kommen wird, vielleicht im neuen
Jahr, im Januar, und dass dann Unterstützungsangebote von größter
Bedeutung sind. Aber ob die Feuerwehr New York diese Notwendigkeit
sieht, ist im Moment noch unklar. Die
Polizei dagegen sowohl von New York
City als auch der Hafenbehörde wird
Angebote in größerem Ausmaß in Anspruch nehmen.
Ich setze mich zu den beiden Polizeipfarrern aus Oklahoma und frage
sie nach ihren Aufgaben und Einschätzungen.
Interview mit
Polizeipfarrer Mike Hardgrove
(United Methodist Church)
Polizeipfarrer Keith Thompson
(Church of Christ)
CISM Team Tulsa, Oklahoma
NJ CISM Team Command Center,
Jersey City
8. November 2001
OG:
In der letzten Zeit ist innerhalb des Critical
Incident Stress Management die Seelsorge
in ihrer Bedeutung immer mehr gesehen
worden. Sie sind seit einigen Tagen hier,
auch an der Einsatzstelle WTC. Können
Sie beschreiben, was Ihrer Meinung nach
die besondere Rolle der Seelsorge in diesem Disaster ist?
MH:
Ich denke, da gibt es einige Herausforderungen. Eine davon ist es, Mitgefühl zu
weiterzugeben. Wir haben viele Leute, die
in CISM ausgebildet sind und die Techniken kennen, aber ich bin nicht sicher, ob
sie immer genug Mitgefühl haben. Eine
andere Herausforderung ist die Hoffnung,
die wir als Kirche bringen. Und das dritte
können wir von Oklahoma bringen, ein
persönliches Zeichen, die Tatsache, daß
auch sie, New York, das durchstehen können. Denn wir haben auch in Oklahoma
City geholfen, bei dem Bombenanschlag.
KT:
Ich denke, die größten Herausforderungen
für mich an der Einsatzstelle sind Situationen, wo Polizisten und Feuerwehrmänner
mit uns als Pfarrer reden möchten, auch
wenn andere Teammitglieder da sind. Als
Pfarrer öffnet sich da manchmal eine Tür,
die
für
manche
andere
CISMTeammitglieder geschlossen ist.
Ich denke, sie sehen uns als spirituelle Unterstützung, natürlich auch als Stressmanagement-Unterstützung, und es ist einfacher für sie, uns zu akzeptieren und mit uns
zu sprechen, weil sie wissen, daß wir sie
als ganze Person sehen und nicht nur unter
dem Gesichtspunkt, wie sie mit dieser Situation fertig werden.
OG:
Für mich sieht es so aus, als sei im Moment noch nicht die Zeit für Trauer für die
Einsatzkräfte. Gefühle sind noch sehr verschlossen. In der Kirche, als Pfarrer, sind
wir aber gewohnt, mit Trauer umzugehen
und darin unsere Aufgabe zu sehen. Und
nun finden wir jetzt noch keine Trauer.
Wie, denken Sie, können wir damit umgehen?
MH:
Jemand hat ein gutes Beispiel genannt:
Wenn Du einen 10 Liter-Eimer hast, und
darin sind schon 10 Liter, und du hast
noch einen Liter, was ist dann zu tun? Und
das ist unsere Aufgabe jetzt, nicht gleich
Debriefings zu machen oder Defusings
oder Demobilizations, sondern einfach da
zu sein, so daß sie reden können. So daß
sie eine Möglichkeit haben, einige ihrer
17
Gefühle zu teilen und loszuwerden und
wieder weiterarbeiten und funktionieren zu
können. Bis sie dann später an den Punkt
kommen, an dem sie trauern können.
OG:
Und nutzen die Einsatzkräfte am Ground
Zero diese Möglichkeit, die Sie Ihnen geben?
MH:
Viele tun das, viele tun es.
OG:
Bis jetzt wurden noch keine Gruppeninterventionen durchgeführt, weil noch nicht
der rechte Zeitpunkt dafür ist. Nun haben
Sie Erfahrungen mit dem OklahomaBombenanschlag. Was denken Sie, wann
wird die Trauer an die Oberfläche kommen? Und wann werden Gruppeninterventionen sinnvoll sein?
MH:
Wir müssen mindestens warten bis zu dem
Zeitpunkt der letzten Beerdigung. Und
selbst dann, denke ich, müssen wir noch
warten. Die Menschen brauchen Zeit für
die Trauer und müssen erst zur Ruhe kommen. Vielleicht ab Januar, vielleicht um
Ostern 2002 herum. Hilfe wird viele Jahre
lang nötig sein.
KT:
Kurz bevor wir von Oklahoma hierher kamen, war ein Artikel in der Zeitung, daß
die jetzigen Ereignisse in NYC diejenigen
neu traumatisiert haben, die mit dem Bombennschlag in Oklahoma 1995 zu tun hatten.
Deshalb denke ich, daß wir CISM-Leute
zukünftig im Bewußsein haben müssen, daß
auch kleinere traumatische Ereignisse eine
starke Auswirkung auf die Polizeibeamten
und Feuerwehrleute in NYC haben werden.
OG:
Sie sind selbst mit sehr schwierigen und
belastenden Gefühlen und Eindrücken kon-
frontiert worden. Was werden Sie für sich
tun, wenn Sie zuhause sind?
KT:
Eines der Dinge, die wir tun werden, wenn
wir zuhause sind, ist, daß wir ein Debriefing für uns haben werden zusammen mit
unseren Ehepartnern - damit sie ein besseres Verständnis dafür bekommen, was wir
gesehen haben, was wehgetan hat und
womit wir zu tun hatten, als Team hier in
New York City.
MH:
Außerdem ist es für uns wichtig, uns daran
zu erinnern, warum wir hierher gekommen
sind. Wir sind nicht die einzigen, die traumatisiert wurden. Zum Beispiel hat meine
jüngste Tochter, als sie hörte, ich würde
nach NYC fliegen, gesagt: Papa, hast Du
keine Angst? Ich sagte: “Ich habe nicht
darüber nachgedacht, aber ich denke
nicht.” Aber sie sagte mir, daß sie Angst
hat. Deswegen müssen wir auch unseren
Familien die Möglichkeit geben, ihre
Ängste und Sorgen auszudrücken, damit
sie das nicht unterdrücken müssen.
OG:
Vielen Dank und Gottes Segen für Ihre
Arbeit!
Nach einer kleinen Ruhepause und
nach einem guten warmen Essen
bringen mich zwei Polizisten, diesmal
aus Dover/New Jersey und diesmal
auf direktestem Weg zurück auf die
Feuerwache.
Zu Besuch gekommen ist hier eine
Frau, Musikerin, die in der Küche die
Feuerwehrleute
mit
DiscoAtmosphäre und Tanz erfreut. Sie
bereitet für die Leute die Weihnachtsfeier vor. Ausserdem sehe ich
in der Küche Norma, die früher ge-
18
genüber eine Bar hatte, und seit vielen Jahren so etwas wie die „Mutter
der Feuerwache“ ist. Heute kocht
sie. Für morgen Abend lädt sie alle
ein in ihre Bar, nicht weit weg, zu
einem Blues-Konzert.
Ein Feuerwehrmann erzählt mir
kopfschüttelnd, dass an einem der
letzten Tage zwei Frauen auf die
Wache zu Besuch gekommen seien.
Sie wären völlig überwältigt gewesen von ihren Gefühlen, hätten andauernd wiederholt, wie schrecklich
das alles sei und laut geheult. Er hätte sich völlig hilflos gefühlt und hätte gar nicht gewusst, was er hätte
machen und sagen sollen. Wir schauen uns beide an und müssen dann
herzhaft lachen. Ich sage ihm: „Du
hättest ihnen doch die Nummer des
Beratungszentrums geben können
und ihnen sagen, wenn sie Hilfe
bräuchten, sollten sie dort vorbeigehen!“
Im Aufenthaltsraum spreche ich mit
Chris. Und wir kommen auf das Thema Einsatznachsorge. Chris erzählt,
dass er auf der Wache ganz okay
ist, aber zu Hause schwere Probleme hat, z.B. mit Albträumen. Er
selber sei zum Counseling Center der
Feuerwehr gegangen und habe dort
ganz gute Hilfe bekommen. Er sei
aber sowieso offen für solche Sachen, was für die meisten seiner Kollegen nicht gelte. Die würden nie dahin gehen! Was ihnen helfen würde,
frage ich. Er zuckt mit den Achseln:
„Das weiß ich auch nicht.“ In jedem
Fall aber, meint er, sei es wichtig,
dass Unterstützung auf den Feuerwachen selbst angeboten wird.
Mit diesen Gedanken im Kopf und
müde von den vielen Gesprächen gehe
ich abends um 10 noch nach Greenwich Village. Eine andere Welt, ein
anderes New York. Sushi, Lifejazz in
einer Bar und zwei Geschäfte, die
sich auf ein Riesenangebot an
Schachspielen spezialisiert haben,
Menschen aller Nationalitäten, bunt,
Musik, kein Mainstream, so viel Verschiedenheit: dafür liebe ich diese
Stadt!
Freitag, 9. November 2001
6:30 Uhr. Der Gong geht, Alarm, und
alle fahren raus. Eine Klingel heißt:
Der Chief fährt, 2 heißt die Engine,
3 der Truck (die Drehleiter), 4 heißt:
alle raus. Ich bin wach, diktiere mein
Tagebuch: das ist gut. Einschlafen
kann ich nicht mehr: das ist schlecht.
Beim Frühstück lese ich die Zeitung:
Zum neuen Bürgermeister der Stadt
New York, Amtszeit ab Januar 2002,
wurde Mike Bloomberg gewählt, ein
Billionär, der 40 Millionen Dollar in
den Wahlkampf gesteckt hat. Er ist
Republikaner, scheint aber „linker“
zu sein als Rudy Giuliani. Polizisten
sagen mir, dass sie damit rechnen,
dass nach Amtsantritt des neuen
Bürgermeisters
die
Kriminalität
steigt, weil Bloomberg getestet werden wird. Die Kriminalitätsrate sei
übrigens in den ersten zwei Wochen
nach dem 11. September gesunken, z.
19
Zt. aber sei sie überdurchschnittlich
und steige an.
Für heute nehme ich mir einen Besuch bei der Counseling Service Unit
(Beratungszentrum) des FDNY und
die Trauerfeier für Captain Patrick
Brown vor. Abends will ich dann in
den Tribeca Blues Club gehen, in dem
die „Mutter der Companie“ Norma
ein Blues-Benefizkonzert für die
Feuerwehrleute organisiert hat.
Ich ziehe meine Uniform an, der
Chief bringt mich zu 250 Laffayette
Street, wo die Counseling Service
Unit (CSU), die von Malachy Corrigan (Psychiatric Nurse = PsychiatrieKrankenpfleger) geleitet wird, untergebracht ist. Der normale Arbeitsschwerpunkt der CSU ist die
Suchtberatung, also die Arbeit mit
Feuerwehrleuten,
die
AlkoholProbleme haben.
Als wir eintreffen und ich vorgestellt werde, empfängt mich die Büromanagerin. Sie führt mich zu Captain Frank Leto, der mir in seinem
Büro freundlich und ausführlich Auskünfte gibt.
Die CSU besteht aus 6 Mental
Health Professionals und 5 uniformierten Mitgliedern der Feuerwehr.
Jetzt, nach dem WTC-Anschlag haben sie sich Verstärkung durch viele
Freiwillige geholt, die für ihre Mithilfe nichts bekommen haben.
Frank erzählt, dass ab dem 13. September 3 Teams ( mit jeweils 2–4
Leuten) drei bis vier Feuerwachen
pro Tag besucht haben. So seien
hundert Wachen pro Woche besucht
worden. Dies sei der erste Schwerpunkt der Arbeit gewesen. Die
Teams sind ausgebildet in Critical
Incident Stess Management, vor
einigen Jahren wurden 150 Leute
ausgebildet.
Ausserdem hätten sie drei Orte, zu
denen Leute kommen können. Es seien bisher 950 Leute dagewesen. Daneben gebe es Gruppen für Ehefrauen in acht Regionen. Zu diesen
Gruppen würden Gastreferenten eingeladen, und es werde in Kleingruppen gearbeitet. Für die Kinder vermittelten sie, wenn nötig, Therapieplätze.
Sie arbeiteten auch zusammen mit
dem katholischen Feuerwehrseelsorger Father John Delendik und mit
Rev. Everett Wabst.
In den ersten beiden Wochen habe
die IAFF ( Internationale Feuerwehrgewerkschaft) ebenfalls die
Wachen besucht und Gespräche
durchgeführt, nach der gleichen Methode wie die CSU. Beide Gruppen
hätten etwa gleich viel gemacht, jeder etwa 100 pro Woche. Die IAFF
habe sich jetzt zurückgezogen, angeblich weil sie sich nur für den unmittelbaren Notfall zuständig fühle.
Neben den Wachbesuchen auf den
Wachen gebe es als zweiten Schwerpunkt jetzt das Angebot einer formalen Nachbesprechung. Dieses An-
20
gebot werde aber nur den Wachen
gemacht, in denen alle verstorbenen
Feuerwehrleute bereits beerdigt
wurden. Bisher hätten drei Feuerwachen solche Nachbesprechungen angenommen, eine vierte sei am Dienstag geplant. Für den Zeitraum dieser
Gespräche sind die Feuerwehrleute
aus der Rufbereitschaft herausgenommen.
Die Abende laufen folgendermaßen
ab: 1.) wird ein hochgestellter Offizier aus der Feuerwehrführung
(Chief of Operations) eingeladen, der
einige Worte der Anerkennung und
zum laufenden Einsatz sagen kann.
Danach spricht 2) ein Experte aus
dem Mental Health-Bereich über
Symptome von Traumastress und wie
man damit umgehen kann. Anschließend werden 3) jeweils in Kleingruppen Erfahrungen ausgetauscht. Diese
Kleingruppen werden jeweils von einem Mental Health Professional und
einem Peer geleitet. Sie stellen jeweils in die 3-4 Räume 8-10 Stühle
und überlassen es der Gruppe, sich
entsprechend aufzuteilen. Diese Gespräche in Kleingruppen dauern etwas 1 Std. 15 min. bis 1 Std. 30 min.
Was sie dabei festgestellt haben, ist
dass diejenigen, die in dem Einsatz
beteiligt waren und überlebt haben,
immer zusammen sitzen wollen. Die
CSU ist der Meinung, dass das Mitchell–Modell für die Feuerwehr New
York modifiziert werden muss. Dies
zum Beispiel an der Stelle, dass
Gruppen geteilt werden sollten.
Hauptthemen in diesen Gruppenge-
sprächen seien gewesen: Ärger,
Angst, Alpträume und wiederkehrende Erinnerungen.
Insgesamt sieht die CSU diese Gespräche als den Beginn eines Prozesses, der noch lange Zeit anhalten
wird. In diesem Zusammenhang frage
ich nach Unterstützungsmöglichkeiten von draußen. Ein Ereignis dieser
Größenordnung und der dazu gehörende Betreuungsbedarf schienen
mir mehr Ressourcen zu brauchen als
die doch begrenzte personelle Stärke der CSU. Frank antwortet darauf,
dass in Bälde weitere 20 Feuerwehrleute und 12 Mental Health Professionals in CISM ausgebildet werden
sollen. Ich stelle an dieser Stelle
bewusst nicht die Frage, warum die
CSU nicht auf bereits existierende
CISM-Teams, bereitstehende CISM
Mental Health Professionals oder
auch auf die 100 angebotenen und
bereitstehenden Fire Chaplains (auch
in CISM ausgebildet) zurückgreifen.
Als drittes Hilfsangebot für die
Feuerwehrleute auf den Wachen erwähnt Frank, dass parallel zu den
Angeboten der CSU Psychologen und
Mental Health Professionals vom
St. Vincents-Hospital über die Wachen gehen und Gespräche anbieten.
Mein Eindruck dieses Gesprächs ist,
dass theoretisch die Angebote, die
Frank mir erläutert und erzählt,
Hand und Fuß haben. Insbesondere
scheint mir, dass die Gruppenabende
mit den 3 Schritten, sowie auch die
Aufteilung in Kleingruppen vom Ti-
21
ming und vom Inhalt her sehr sinnvoll
sind.
würden die Zivilisten eigentlich wie
Müll entsorgt.
Nach dem obligatorischen Foto, als
ich gerade gehen möchte, kommt ein
Rabbi auf mich zu. (Der Anblick eines
Rabbi hat für mich immer noch eine
besondere Wirkung, auch wenn ich in
New York, in der sich die größte Anzahl von Juden in der Welt befindet,
schon viele Juden gesehen habe. )
Rabbi Mayer Birnhack führt mich in
sein Büro. Er sieht vieles an der CSU
kritisch und tritt entschieden für
die stärkere Aufmerksamkeit für die
Leute des Emergency Medical Service (EMS), dem Rettungsdienst, ein.
Als ich später mit Ed über Rabbi
Mayer Birnhack spreche, meint Ed,
Rabbi Mayer sei nicht Fire Chaplain,
wie er behauptet habe, sondern für
den EMS zuständig. Es stimme nicht,
dass die EMS-Mitarbeiter die Identifizierung der Leichen und Leichenteile machen müssten, das würden
Feuerwehrleute machen. Es helfe
dem EMS wenig, wenn Rabbi Mayer
ihre Bedeutung dadurch heben wolle,
dass er falsche Behauptungen aufstelle. (Übrigens ist Ed´s Sohn selber beim EMS tätig.)
Die Mitarbeiter des EMS würden so
gut wie nie erwähnt und gewertschätzt, hätten aber so wie andere
schwerwiegende Aufgaben zu erfüllen. Sie müssten Körperteile identifizieren am Ground Zero, wären beteiligt an der „Totenablage“ und
würden die getöteten und Leichenteile zum Krankenhaus fahren. In der
Totenablage (Temporary Morgue) sei
ein Team tätig, das aus Polizei, Fire
Marshals (für Untersuchungsaufgaben zuständige Feuerwehrleute) und
EMS bestehe.
Ich erlebe ein weiteres Beispiel der
überwältigenden Gastfreundschaft
und Freundlichkeit der New Yorker
Feuerwehr, als ich unten auf der
Straße, wo ich jemanden darum bitte
von Rabbi Mayer und mir ein Foto zu
machen. Der, der fotografiert, ist
ein Fire Marshal, denn im gleichen
Haus wie die CSU sind die Fire Marshals untergebracht. John (Name
geändert), der auch einen deutschen
Nachnamen trägt, bietet mir an,
mich zum Trauergottesdienst von
Captain Patrick Brown zur St. Patrick
Cathedral zu bringen. Ich nehme
gerne an und auf der Fahrt dorthin
berichtet mir John von seinen Reaktionen auf den WTC-Anschlag. Es
gebe eine gewisse Bitterkeit in ihm,
weil er der Feuerwehr schon vor
Jahren Verbesserungsvorschläge für
die Behandlung schwerwiegender Anschläge gemacht habe, die aber alle
nicht berücksichtigt worden seien.
Mayer beklagt einen großen Unterschied in der Behandlung der Zivilisten auf der einen Seite und der Angehörigen der staatlichen Dienste
(Feuerwehr, Polizei) auf der anderen
Seite. Während die Einsatzkräfte
mit einer Flagge geehrt, mit einer
Eskorte weggefahren und jeweils von
einem Chaplain begleitet würden,
22
John ist der erste und einzige, der
mir gegenüber bezweifelt, ob es
richtig war, dass so viele Feuerwehrleute sofort in das World
Trade Center hineingegangen seien,
um dann später Opfer des Einsturzes zu werden. Er ist der einzige,
den ich so etwas sagen höre, normalerweise lautet die Antwort auf die
Frage: „Warum sind so viele in das
WTC gegangen?“ ganz einfach: „Weil
das ihr Job ist und sie es immer tun.“
Um John mache ich mir etwas Sorgen, er wirkt so depressiv und bitter,
dazu angepasst, obwohl er selbst behauptet, mit allem schon klar zu
kommen, so wie auch in seinem Leben
bisher. John setzt mich an der St.
Patrick Cathedral ab.
Ich sehe vor der Kirche mitten in
Manhattan eine riesige Menge an
Feuerwehrleuten und „Zivilisten“. Ich
erinnere mich an die Beerdigung
des jungen Feuerwehrmannes Peter
McLaughlin im Jahre 1995, als ich
das erste Mal die New Yorker Feuerwehr besucht habe. Damals waren
15.000 Feuerwehrleute bei der Beerdigung von Peter, der bei einem
Brandeinsatz durch eine Decke gefallen war und dabei getötet wurde.
In dem Gottesdienst, an dem auch
der Bürgermeister Giuliani teilgenommen hatte, hatte Father Mychal
Judge ein Grußwort gesprochen. Ich
erinnere mich gut, dass er in seiner
sehr bewegenden Ansprache davon
sprach, dass Peter, indem er durch
die Decke fiel, nicht ins Nichts fiel,
sondern direkt in den Himmel und
Gottes Liebe. An all das erinnere ich
mich, als ich auf Ed warte, mit dem
ich mich hier verabredet habe.
Die Trauerfeier und Beerdigung
eines Feuerwehrmannes in New York zu beschreiben, ist fast nicht
möglich. Unbeschreiblich ist der Eindruck von Tausenden von Feuerwehrleuten, die eine überwältigende Kulisse bieten, verstärkt durch feststehende Rituale, wie der Präsentation der amerikanischen Flagge und
den beiden ausgefahrenen Drehleitern, an denen eine Flagge befestigt
ist. Nach Aufstellung der Feuerwehrleute und wichtiger Repräsentanten (Bürgermeister Giuliani, Commissioner Thomas von Essen, ExGouverneur Hugh Carey und diverse
andere, zu denen auch Ed und ich
gehören) fahren unter Dudelsackmusik begleitet die Angehörigen von
Captain Patrick Brown in von Pferden
und Autos eskortierten Wagen vor.
Danach gehen die Angehörigen gefolgt von den Honoratioren und der
übrigen Trauergemeinde in das Gotteshaus. Die St. Patrick Kirche ist
die Kirche des Bischofs von New York, Kardinal Edward Egan. In der
Kirche wird dann zunächst eine normale Heilige Messe gelesen. Nach
dieser Messe ist es, wie in allen angelsächsischen Trauerfeiern üblich,
Brauch, dass einige Sprecher etwas
über das Leben des Verstorbenen
sagen. Bürgermeister Giuliani, ExGouverneur Carey und Commissioner
Thomas von Essen sprechen. Dann
folgen Kameraden und Familienangehörige von ihm.
23
Diese Ansprachen haben eine eigentümliche Mischung aus Respekt,
Humor und Trauer. Michael, einer
seiner Kameraden beginnt mit einem
schwer zu übertreffenden Scherz:
Ihr wisst, sagt er, dass die Terroristen glauben, als Märtyrer kämen sie
in das Paradies. Und dort würden 72
Jungfrauen auf sie warten. Aber ich
sage Euch was: „Sie begegnen nicht
72 Jungfrauen da oben, sondern dem
Fire Department New York und Patrick Brown!“ Michael erzählt viel, was
es aus dem Leben von Patrick zu erzählen gibt. Von seinen regelmäßigen
Yoga-Übungen auf der Wache zum
Beispiel. Er sei ein sehr kompetenter
und tapferer Mann gewesen, auf den
sich die ihm untergebenen voll verlassen hätten, und gleichzeitig sei er
ein sehr verständnisvoller, sanfter
Zuhörer gewesen, der sich um die
Sorgen seiner Leute sehr gekümmert
habe. Diese Mischung gebe es selten,
hinzu käme noch die große Bescheidenheit von Patrick.
Am Ende, als Michael von Abschied
spricht, von dem was Patrick ihnen
allen hinterlassen hätte, bricht ihm
die Stimme, und er kann vor Weinen
kaum weitersprechen. Als er geendet
hat, geht der Kardinal auf ihn zu,
nimmt ihn in den Arm und spricht ein
paar Worte, die das aufnehmen, was
Michael gesagt hat.
Der nun folgende Abschluss der
Trauerfeier ist noch eindrücklicher
als der Beginn. Nachdem alle hinausgegangen sind und Aufstellung ge-
nommen haben, wird, wieder unter
Dudelsackmusik, den Angehörigen, in
diesem Fall dem Vater des unverheirateten Patrick, dessen Feuerwehrhelm überreicht. Zu Ehren des Verstorbenen überfliegt ein Hubschrauber die Szene. Einer nur aufgrund
der besonderen Umstände, die nicht
mehr erlauben, sonst wären es drei,
die Formation „Missing Man“, einer
also weniger als vier. Danach fahren
die Angehörigen, eskortiert, langsam
weg, wobei vorneweg die Dudelsackund Trommelkapelle geht, die immer
leiser wird.
Nach der Trauerfeier spricht Ed den
Commissioner Thomas von Essen noch
einmal auf die Übergabe unserer
Kerze an. Der bittet Ed, die Kerze
für ihn in Empfang zu nehmen und
kündigt einen eigenen Brief an.
Ed und ich gehen auf die Eltern von
Peter McLaughlin zu. So schließen
sich Kreise, selbst in einer so unendlich großen Stadt. Patrick Brown war
derjenige, der sich nach dem Tod von
Peter um seine Familie gekümmert
hat. Ich erzähle den Eltern, dass ich
seit 1995, als ich an der Beerdigung
ihres Sohnes teilgenommen habe,
sein Bild immer auf meinem Schreibtisch habe. Es ist ein bewegendes
und trotzdem leichtes, humorvolles
Gespräch.
Ed und ich packen unsere Sachen
zusammen, und er bringt mich in die
Nähe des Broadway. Ich werde alleine zur Wache zurückfahren.
24
Auf dem Weg zurück komme ich am
Union Square vorbei. Durch meine
Besuche auf der Webseite des freien
Informationsnetzwerkes
www.indymedia.org weiß ich, dass es
nach dem 11. September hier Friedensdemonstrationen, Friedensgebete und –meditationen gegeben hat.
Bilder waren zu sehen von Plakaten
und Appellen der Friedensbewegung
in New York. In offiziellen Medien
sind Hinweise darauf nicht zu finden,
geschweige denn Bilder zu sehen. Als
ich zum Union Square komme, sehe
ich nur eine sehr kleine Gruppe dort
stehen, neben einer eingezäunten
Statue, am Zaun hängen einige wenige Plakate, die sich aber nicht auf
den Krieg gegen den Terror beziehen. Ich komme mit einem Schwarzen und einem Jamaikaner ins Gespräch, die mir erklären, dass Plakate sofort entfernt würden. Der Bürgermeister wolle eine saubere Stadt
und das ganze Land stehe zur Zeit
unter Zensur.
Nach ein paar Einkäufen und zwei
Stationen Fahrt mit der U-Bahn
komme ich wieder zu „meiner“ Feuerwache, in der Duane Street. Es
gibt ein ausgezeichnetes Essen:
Shrimps mit Sauce.
Heute abend ist Bill Blaich als Batallion Chief im Dienst. Mit Bill hatte
ich im Januar schon Freundschaft
geschlossen und war mit ihm bei einem Einsatz, in dem ein Wolkenkratzer, der gerade eine Baustelle war,
gebrannt hatte. Wir begrüßen uns
herzlich. Ich spreche mit Bill über
die Möglichkeiten, die Feuerwehrleute psychosozial zu unterstützen.
Er ist der Meinung, dass nicht so
sehr einmalige Gruppeninterventionen, durchgeführt von Teams von
draußen, hilfreich seien, sondern so
etwas wie es das ja auf dieser Wache auch gegeben hat, nämlich die
Präsenz eines Feuerwehrpfarrers,
der einfach für einige Zeit mit den
Männern auf der Wache lebe und für
Gespräche ansprechbar sei. Bill beschreibt, wie angenehm für seine
Leute, der Besuch des texanischen
Fire Chaplains Skip Straus (auch
ausgebildet in CISM ) gewesen sei.
Etwas später treffe ich Jim (Name
geändert) im Aufenthaltsraum am
Tisch sitzend. Ihm geht es erkennbar nicht gut und ich spreche ihn an:
„Was ist los?“ Er erzählt, dass seine
Frau ihn gerade von zuhause rausgeschmissen habe. Sie sei darüber ärgerlich, dass er fast immer nur auf
der Feuerwache ist, kaum Zeit für
anderes hat, geschweige denn die
Bereitschaft sich damit zu beschäftigen, und dass sie schließlich im Ärger gesagt habe: „Du bist ja sowieso
nie zuhause, dann geh doch auf
Deine Feuerwache!“ Und das habe er
dann auch gemacht, und deswegen sei
er auch jetzt hier. Er sieht schlecht
aus. Ich weise ihn auf das Informationsblatt des Employee Assistance
Program (EAP), das oben am Schwarzen Brett hängt und verschiedene
Symptome der Akuten Belastungsreaktion auflistet. Dieses Blatt solle er
doch kopieren und seiner Frau mit-
25
bringen, damit sie ihn zumindest ein
wenig verstehen könne.
Auch von anderen höre ich das als
Thema, das die meisten am stärksten
belastet. Was mir in vielen Einzelgesprächen am häufigsten mitgeteilt
wurde, ist nicht die Trauer. Viele
vermuten, dass Gefühle der Traurigkeit erst dann an die Oberfläche
treten, wenn Ground Zero sauber ist,
alle Einsatzkräfte beerdigt sind und
in den Arbeitsalltag wieder Routine
eingekehrt ist. Das wird frühestens
Januar/Februar 2002 sein. Was im
Moment viele belastet, sind die
Ehefrauen zu Hause. Viele erzählen
mir, dass sie eigentlich gar nicht
nach Hause möchten, sondern am
liebsten auf der Feuerwache sein. Es
gebe viel Streit und Ärger mit den
ihrerseits überforderten Frauen, die
sich ja auch um die Kinder, die nicht
selten Angst um ihren Vater hätten,
kümmern müssten und auch sonst mit
allen Aufgaben zu Hause allein seien.
Auch wenn sie es möchten, können
sie nicht wirklich verstehen, was ihre
Männer im Moment durchmachen.
Hinzu kommt, dass die Feuerwehrleute die vielen schrecklichen Eindrücke, die sie zu verdauen haben,
nicht dort erzählen können. Zu sehr
würden die Frauen dadurch geängstigt und belastet. Manche Frauen
verstehen nicht, dass ihre Männer
zusätzlich zu den vielen Sonderschichten und der Teilnahme an den
Beerdigungen, für die es dienstfrei
gibt, noch an freiwilligen Aktionen
teilnehmen, wie z. B. die Totenwache
für verstorbene Kollegen. Aber die
Männer sind gerne auf der Wache,
dort haben sie ihre vertraute Kameradschaft, diesen sehr speziellen
Umgang mit all diesen Dingen, erleichtert durch den spezifischen
Humor, und das Zusammensein in der
Gruppe. Die Frauen der Feuerwehrmänner werden übrigens in keine
Weise unterstützt, bekommen auch
keine Informationen über Belastungsreaktionen ihrer Männer zur
Verfügung gestellt. Hier würden
schriftliche Informationen und/oder
Gesprächsgruppen sicherlich eine
große Hilfe sein.
Ich denke, dass das Fire Department
New York für die Zeit nach Silvester
darauf vorbereitet seien sollte, Einsatzkräfte und Ehepartner in vernünftiger und ausreichender Weise
zu begleiten.
Nach diesem Gespräch gehe ich zum
Tribeka Blues Club, in dem Norma
heute ihr Blues-Benefizkonzert organisiert hat. Die Bar ist schön, dunkel, verraucht, klein. Blues-Musik live
von der Bühne, laut. Lange unterhalte
ich mich mit einer jungen Frau, Ellen,
Schauspielerin und Sängerin, die sich
zur Aufgabe gemacht hat, die Feuerwehrleute zu unterstützen. Ihre
Mutter ist Psychotherapeutin, da hat
sie einiges mitbekommen. Ellen umarmt jeden Feuerwehrmann, der herein kommt. „Die Feuerwehrleute
brauchen das, umarmt zu werden“,
sagt sie. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie nicht etwas übertreibt
und empfehle ihr vorsichtig, ihre eigenen Grenzen zu beachten. Sie er-
26
zählt mir von ihrem Plan, Gesprächsgruppen mit Feuerwehrleuten und
mit deren Frauen aufzubauen.
Es ist schön, mit den Feuerwehrleuten im Gespräch zu sein, die ich in
den letzten Tagen kennen gelernt
habe. Viele sind gekommen. Polizeibeamte sehe ich nicht. Zwischen den
Gesprächen tanze ich, zu der guten
Musik, und ich spüre, wie gut mir das
tut. Durch die Musik und das Tanzen
vergewissern wir uns angesichts des
ganzen Schreckens unserer Lebendigkeit. Da ich um halb zwei morgens
langsam müde werde und Bill (Chief
Blaich) mir augenzwinkernd vorher
gesagt hatte, ich solle mich benehmen, gehe ich schmunzelnd daran
denkend auf die Wache zurück und
schlafe schnell ein.
zurück. Kaffee, Duschen, und neben
dem Frühstück ein paar Gespräche
auf der Wache. Heute, am Samstag,
ist die Halle schon morgens voll von
Leuten, die von überall her kommen.
Ich führe viele Gespräche. Wann
immer ich erkläre, warum ich hier
bin, leuchten die Augen meiner Gesprächspartner.
Mittags habe ich mich mit Ed verabredet. Die Zeit bis dahin nutze ich
mit der Vorbereitung des heutigen
Gottesdienstes am Abend und mit
dem Aufräumen meiner bisherigen
Aufzeichnungen.
Die ohnehin kurze Nacht wird mehrfach unterbrochen. Als um 5 Uhr
morgens die Engine ausrückt, fahre
ich mit. In einer U-Bahn-Station haben sich zwei junge Männer geprügelt, einer von ihnen blutet stark.
Die Feuerwehrleute als First Responder sind nicht so sicher, was sie
tun sollen. Als dann die Ambulanz
eintrifft, bin ich beeindruckt von der
Rettungsassistentin: Sehr souverän
tut sie das Nötige, der Mann wird
verbunden und in ein Krankenhaus
gefahren.
Bill Blaich bittet mich um Rat, wie er
meiner Meinung nach der mit den
Belastungen seiner Leute umgehen
soll. Ich empfehle ihm, die Männer
(und ihre Frauen) mit dem Merkblatt
zu informieren, dass das EAP den
Wachen zugeschickt hat und das die
Symptome der Akuten Belastungsreaktion beschreibt, genauso wie wir es
im Bereich CISM/SbE tun. Außerdem
könne er, so meine Empfehlung, seine
Leute auf das Counseling Center hinweisen, je mehr Angebote von den
Wachen eingefordert würden, desto
mehr müsste das Counseling Center
auch anbieten. Außerdem sage ich
ihm meine Einschätzung, das die
schwierigste Phase der Leute noch
bevorsteht, und voraussichtlich im
Januar/Februar sein werde. Darauf
sich vorzubereiten mache Sinn.
Wieder zurück zur Wache und um
acht Uhr der nächste Alarm, diesmal
nur ein Meldealarm, und wir fahren
Für die Witwen der getöteten Feuerwehrleute soll ein Kommunikationsnetzwerk über Internet aufgebaut
Samstag, 10. November 2002
27
werden zum gegenseitigen Austausch
und für Informationen. Zur Zeit
werden Fragebogen verschickt, ob in
den Familien schon Computer zur
Verfügung stünden und was die genauen Wünsche an ein solches Netzwerk seien. Bill zeigt mir das Schreiben der Feuerwehrführung und fragt
mich, was ich davon halte.
Ich sehe Bauarbeiter und Polizeibeamte, aber keine Feuerwehrleute.
Als nächstes steht ein Besuch auf
Ground Zero auf dem Programm. Bill
sagt, als ich mich verabschiede: „Aber mach´ keine Unordnung auf dem
Gelände! Daß es nachher genauso
aussieht wie, bevor du da warst!“ Es
ist auch diese Art von Scherzen, die
manches ertragen hilft... Da die Polizei das Gelände sehr streng absperrt, stellt mir der Chief einen
Ausweis aus, der mich zum Betreten
des Ground Zero berechtigt. Außerdem fahre ich ja mit Ed, und der hat
als Fire Chaplain jederzeit die Zugangsberechtigung.
Das Command Center ist in einem
Container untergebracht, von hier
aus werden die Abrissarbeiten und
Sucharbeiten koordiniert. Auch hier,
wenn ich von dem Grund meines Hierseins, der Kerzenstafette, erzähle,
kommt ein erstauntes „Wow!“ und ein
ruhigeres „Danke!“
In der Tat sind die Kontrollen
streng, als wir eintreffen. Über dem
Gelände liegt ein ganz charakteristischer Geruch, dessen Komponenten
ich nicht auseinanderhalten kann. Es
ist wohl geschmolzenes Metall, aber
auch verbranntes Gummi und Kunststoff. Diejenigen, die hier arbeiten,
sind verpflichtet worden, eine Maske
bzw. einen Filter zu tragen. Ein großer Bagger ist gerade dabei, mit einem riesigen Gewicht eine Hausruine
abzureißen. Bagger baggern Trümmer
auf große Sattelschlepper, die, nachdem sie unter einer Dusche hergefahren sind, Ground Zero verlassen.
Auf dem Weg zum Command Center
treffen wir auf zwei Pfarrer, die
hier in der Gegend Gemeindepfarrer
sind. Sie haben einen Helm auf, gehen hier regelmäßig über das Gelände
und bieten ihr Gespräch an.
Anschließend gehen wir in die Wache
10, mein altes Zuhause, und ich sehe,
dass das Bett indem ich geschlafen
habe genauso noch steht wie im Januar. Feuerwehrleute sind hier nicht
untergebracht, ebenso keine Fahrzeuge, weil aufgrund der Bauarbeiten
die Straßen nicht offen sind und
mithin ein Ausrücken von hier aus
nicht möglich ist. Dass die Wache
beim Einsturz und der dadurch erzeugten Druckwelle nicht beschädigt
wurde, rührt wohl daher, dass die
Tore geöffnet waren, sich der Luftstrom den Weg durchs Haus suchen
konnte und dann durch gebrochene
Fenster entweichen konnte. Es ist
noch unklar, ob die Wache wieder
hergerichtet und ihren Leuten zur
Verfügung stehen wird. Vor der Feuerwache treffen wir Kollegen aus
Kanada und Veteranen, z. T. sehr
junge, aus der US Army. Ed nutzt
28
jede Gelegenheit, um mich vorzustellen, um von Michael Judge zu erzählen und dessen Gebet zu verteilen.
Unser nächster Weg führt uns zur
Temporary Morgue (vorläufige Leichenhalle). Nebenan in einem Container, der als Aufenthaltsraum dient,
stehen vier Feldbetten, ein kleiner
Tisch und ein Regal, auf dem der obligatorische Fernseher läuft. In diesem engen Raum halten sich die Fire
Marshals auf. Sie sind zuständig für
die erste Sichtung der Toten und
Leichenteile („sterblichen Überreste“).
Die Fire Marshals, die Ed und ich
dort sehen, sehen müde, erschöpft
und abgespannt aus. Es gibt nicht
sehr viele Fire Marshals, sodass sie
nicht so häufig rotieren können. Seit
acht Wochen sind sie nun dabei, Tote
und Leichenteile zu sichten. Einer
der Männer erzählt mir, dass er am
Anfang Alpträume gehabt habe, das
habe sich aber jetzt mit der Zeit
gegeben. Ich glaube nicht, dass das
ein gutes Zeichen ist, denn wenn ich
ihm in die Augen sehe, sehe ich eine
vollständige Erschöpfung. Die Männer richten sich darauf ein, noch
weitere zwei Monate so zu arbeiten.
Was das für sie und ihre Familien
bedeutet, kann man sich kaum vorstellen. Die Männer sind sehr froh
über unser Gespräch, viel unterstützenden Besuch haben sie bisher
nicht bekommen.
Neben
diesem
Aufenthaltsraum
steht der Container, in den die Kör-
per- und Leichenteile gebracht werden: die eigentliche „Leichenhalle“
(Morgue). Hier ist außer einem Fire
Marshal ein Mann vom Emergency
Medical Service (EMS) tätig und ein
Pfarrer, der ständig anwesend ist.
Im Hauptraum stehen zwei Stahltische, auf den die Körper- oder Leichenteile
gelegt
werden.
Der
Chaplain. Rev. Thomas Shane, langjähriger Krankenhausseelsorger aus
Wichita, Kansas, sagt uns, dass die
Leute sehr respektvoll mit den
sterblichen Überresten umgehen. Es
werde sowohl nach dem Finden an
der Einsatzstelle dort ein Gebet gesprochen, als auch hier in der vorläufigen Leichenhalle, und dann noch
einmal im Krankenhaus, wohin die
sterblichen
Überreste
gebracht
werden. Er ist froh, dass er so lange
Erfahrung im Krankenhaus hat, sonst
wüsste er nicht, wie er damit fertig
werden würde.
Wenn an der Einsatzstelle ein Körper oder der Rest eines Körpers
gefunden wird, werden die Maschinen sofort angehalten. Es kommen
dann Feuerwehrleute, die eine GPSMarkierung durchführen. Ein Pfarrer
wird gerufen und eine Aussegnung an
der Einsatzstelle selbst gesprochen.
Danach wird die Leiche bzw. die Leichenteile in einem Behälter zur Morgue gebracht, wofür der EMS zuständig ist. In der Leichenhalle angekommen, wird von den Fire Marshals festgestellt, ob es sich um eine
Einsatzkraft (Feuerwehr, Polizei,
Port Authority) handelt, oder um einen sogenannten „Zivilisten“. Der
29
Chaplain spricht ein Gebet. Danach
wird in einer Ambulance (Rettungswagen)
unter
Begleitung
des
Chaplains ins Bellevue Krankenhaus
gefahren, wo die eigentliche Aufbahrung erfolgt. Bei Einsatzkräften
werden die sterblichen Überreste
mit einer amerikanischen Flagge bedeckt, und die Ambulance wird von
zwei bis vier Motorrädern eskortiert. Die Gruppe der Fire Marshals
ist aufgeteilt in solche, die hier an
der Trümmerstelle arbeiten und an
solche, die im Bellevue Krankenhaus
ihren Dienst tun.
Nach dem Besuch der Morgue gehen
Ed und ich mitten in die Einsatzstelle
hinein. Ed meint, jetzt sehe schon
alles ziemlich sauber aus. Die Trümmer sind bis zum früheren Straßenniveau weitgehend abgetragen. Aber
es sind noch sechs Kellergeschosse
auszuheben. Ed meint, dass dort, wo
die Treppenhäuser der Türme sind,
noch Leichen zu finden sein werden.
Um so vorsichtiger solle man mit
schwerem Gerät umgehen. Aber immer noch qualmt die Einsatzstelle,
immer noch brechen bei plötzlicher
Luftzufuhr Brandnester auf und
qualmen.
Was ich nicht jetzt, aber später
merke: Da ist kein Gefühl in mir,
kein Entsetzen, keine Trauer, nichts.
Ich mache mir beispielsweise nicht
klar, daß ich da doch auf tausenden
Toten stehe. Ich bin interessiert,
stehe da und schaue. Aber kein Gefühl.
Wir gehen langsam zum Auto und
fahren durch mehrere Sicherheitskontrollen zur Wache zurück. Wir
treffen letzte Vorbereitungen für
den Gottesdienst, in dem ich die
Kerze offiziell überreichen will. Ed
und ich gehen unsere Ansprachen
durch und die Gebete, wir schreiben
einen Gottesdienstverlauf auf.
Wir fahren zur South Street, zur
Feuerwache, in der Engine 4 und
Ladder 15 untergebracht sind. Hier
war ich ja schon am Dienstag, gleich
nach meiner Ankunft, gewesen, denn
von dieser Wache aus fahren jetzt
die Männer der Wache 10, meine
Freunde, weil von ihrer Wache aus
ein Ausrücken nicht möglich ist. Der
Commissioner Thomas von Essen, hat
uns gebeten, auf dieser Wache die
Übergabe zu machen, weil sie die ist,
die die meisten Männer verloren hat.
Wir halten diesen kleinen Gottesdienst abends um 18:30 Uhr direkt
vor einem Löschfahrzeug, die Tore
sind dazu geöffnet. Es wird schon
dunkel. Vor dem Löschfahrzeug
steht ein alter Hocker, den ein Feuerwehrmann von zuhause mitgebracht hat und der aus Deutschland
stammt. Mit einem großen Nagel versehen und mit einer Decke bedeckt
dient er als Kerzenständer.
Zu dieser Feier der Übergabe der
Kerze ist als ranghöchster Vertreter
des FDNY Deputy Chief Richard
Freuch (Chief of Division 1) anwesend. Bataillon Chief Bill Blaich und
die Leiter aller Companien sind da,
30
Feuerwehrleute aus jeder Companie
und einige „Zivilisten“, Nachbarn der
Feuerwachen. Ein Fernsehteam ist
hier und einige Zeitungen wie die
New York Times.
In der Feier stellt Ed mich kurz vor,
ich berichte von der Kerzenstafette
und übergebe dann die Kerze aus
Nordrhein-Westfalen an das Fire
Department New York. Dazu überreiche ich die Mappe mit den offiziellen Schreiben, die Mappe mit den
Zeitungsartikeln und Unterschriften
von den Orten, wo die Kerze gebrannt hat, dazu ein Album mit Unterschriften und einen Bildband über
Nordrhein-Westfalen.
An der großen Kerze, die ich entzünden darf, werden dann 19 kleinere
Kerzen nacheinander entzündet. Für
die toten oder vermissten Kollegen
entzündet jeweils ein Feuerwehrmann aus der betreffenden Companie die Kerze, während der Name
des Kollegen verlesen wird. Da es so
windig wird, dass die Kerzen auszugehen drohen, gehen die Männer mit
den Kerzen in die Fahrzeughalle. So
entsteht nun durch God´s Chance
(wie Ed sagt) ein Spalier, und alle
Anwesenden gehen nun durch dieses
Spalier in die Halle und entzünden
eine eigene Kerze an einer der 19.
Als Zeichen der Hoffnung werden sie
diese Kerze mit nach Hause nehmen,
für sich und auch für ihre Familien.
Mit dem Friedensgebet des Franziskus, dem Gebet, das wir in Nordrhein-Westfalen gebetet haben und
Mychal´s Prayer setzen wir den
kleinen Gottesdienst fort, und ich
habe die große Ehre, zum Schluss
den Segen zu sprechen.
Das Timing war perfekt. Kurz nachdem die eindrückliche Feier zu Ende
gegangen ist und als wir zusammen
stehen und uns unterhalten, kommt
ein Alarm und die Männer müssen
ausrücken. Ich unterhalte mich noch
mit einigen Familien, die direkt neben der Wache 10 ihre Wohnungen
haben, die komplett zerstört sind.
Da ihre Wohnungen im Moment unbewohnbar sind - sie zeigen mir Fotos -, wohnen sie bei Freunden oder
Verwandten.
Wir packen unsere Sachen zusammen
und verabschieden uns. Die freundliche Einladung zum Essen auf der
Wache schlagen Ed und ich aus, in
der ganzen Woche hatten wir noch
keine Zeit, miteinander ruhig zu sitzen und uns privat zu unterhalten.
Wir gehen über die Strasse zum
Pier. Als wir so auf das Wasser des
East River blicken, spüre ich, wie eine große Anspannung von mir weicht.
Jetzt, wo die offizielle Übergabe
der Kerze erfolgt ist, merke ich meine Erschöpfung. Ed und ich unterhalten uns über Privates, über
Sherry und Birgit, unsere Ehefrauen,
und die Kinder. Genau wie bei den
anderen Feuerwehrleuten auch sind
es auch bei uns unsere Frauen, die
viele der Belastungen mittragen und
manchmal an die Grenzen auch ihrer
Möglichkeiten kommen.
31
Wir fahren zu einem Steakhaus, und
vor dem Essen interviewe ich mit
meinem Diktaphon Ed, wir sprechen
auch über die Einladung im nächsten
Jahr zum Bundeskongress Notfallseelsorge nach Hamburg und die Reise, die sich daran anschließen könnte.
Ein Ehepaar am Nebentisch, das mitbekommt, dass ich von der Feuerwehr in Deutschland komme, bedankt
sich überschwänglich bei mir. Der
Mann sagt in gutem Deutsch, wie gut
er es findet, dass ich da bin und meine Solidarität zum Ausdruck bringe.
Ed erzählt mir, dass es in den vergangenen Wochen des öfteren vorgekommen sei, dass Feuerwehrleute
in ein Restaurant gegangen seien und
ihnen unbekannte „Zivilisten“ am Nebentisch ihre Rechnungen bezahlt
hätten
Als Ed mich zu meiner Wache zurückbringt, bin ich mehr als erschöpft, aber auch zufrieden. Ich
bin froh, dass die Kerzenaktion abgeschlossen ist, dass das Symbol der
Kerze so überaus positiv angenommen wurde und die Übergabe so würdevoll und beeindruckend erfolgt ist.
Ich bin auch froh darüber, dass ich
nicht nur als Besucher gekommen und
dagewesen bin, sondern in den Gesprächen mit Feuerwehrleuten wirklich Seelsorger sein durfte, so wie
ich es in Deutschland auch gemacht
hätte. Das bedeutet mir viel.
Sonntag, 11. November 2001
Nach einer wunderbar ruhigen
Nacht, ohne jeden Alarm, wache ich
ziemlich ausgeruht auf, dusche, und
setze mich dann hinunter in den Aufenthaltsraum, um einen Kaffee zu
trinken und zu frühstücken. Dabei
lese ich die Zeitung: acht Vertreter
des FDNY haben eine Audienz in Rom
beim Papst gehabt. Ein großes Bild in
der Zeitung zeigt, wie sie dem Papst
den weißen Helm von Father Mychal Judge überreichen. Es ist ein
großes Bild. Die allermeisten Feuerwehrleute im FDNY sind katholisch,
die meisten haben irische, deutsche
oder italienische Vorfahren. Als
zweite wichtige Meldung lese ich,
dass von den 18 festgenommenen
Feuerwehrleuten, die handgreiflich
protestiert hatten, als sie von der
Einsatzstelle abgezogen werden sollten, nun 17 wieder auf freien Fuß
gesetzt wurden. Lediglich gegen einen werde Anklage erhoben wegen
Körperverletzung eines Polizisten.
Bürgermeister Giuliani, dem Law and
Order-Mann liegt die Einstellung von
Verfahren überhaupt nicht, aber in
diesem speziellen Fall, sagt er immerhin, gebe es doch eine außergewöhnliche Situation.
Die Halle unten füllt sich mit Pressevertretern. Gleich werden einige
Fahrradfahrer aus den Reihen der
Feuerwehr New York eintreffen, die
hier die erste Station einer Radtour
haben, mit der sie sich beim amerikanischen Volk bedanken wollen für
alle Unterstützung, die sie in den
letzten Wochen bekommen haben.
Ich packe meine Sachen zusammen
und mache mich dann auf den Weg
zur St. Pauls-Kirche. Diese episko-
32
palische Kirche ist berühmt, seit
Bürgermeister Giuliani sie in dem
Prayer for Amerika als eines der
Wunder nach dem Anschlag gegen
das World Trade Center bezeichnet
und erwähnt hat. Direkt neben dem
WTC gelegen, hat diese älteste Kirche keinerlei Beschädigungen davongetragen. Jetzt ist diese Kirche reserviert für Rettungskräfte, Feuerwehrleute und Bauarbeiter, die am
Ground Zero arbeiten. Am Zaun vor
der Kirche drängeln sich an diesem
sonnigen und kalten Sonntagmorgen
hunderte von Menschen. Sie schauen
sich die riesige Menge an Briefen,
an Karten und Bildern von Kindern,
von Erwachsenen, von überall her an,
die hier zum Gedenken und zur Ermutigung aufgehängt wurden oder
schreiben etwas dazu, legen Blumen
nieder, machen Fotos.
Mit meinem Ausweis darf ich dieses
Refugium betreten. Ich trete ein und
mein erster Eindruck ist: das ist wie
beim Kirchentag. Beim Hereinkommen sehe ich zunächst links einen
Tisch mit vielen Schriften und Heftchen, so wie sonst auch in Kirchen
üblich, wo die Kirche erklärt ist, diakonische Angebote beschrieben werden und die Gottesdienstzeiten mitgeteilt werden. An einem nächsten
Tisch sehe ich viele Medikamente
gegen Kopfschmerzen, Magenprobleme und dergleichen. Dann steht da
ein Konzertflügel, ein Mann spielt ein
bisschen ruhigen Jazz und darauf
folgt ein Tisch mit Kaffee und Tee,
mit Kaltgetränken, daneben ein Tisch
mit Essen, Suppe, Kuchen. Auf der
anderen Seite des Außenganges gibt
es die Möglichkeit, sich von einer
Chiropraktikerin behandeln zu lassen,
daneben eine Nische, in der eine
Ärztin medizinische Fußpflege anbietet und schließlich einige Liegen, wo
sich Einsatzkräfte massieren lassen
können.
Auf den Kirchbänken liegen saubere
Decken und Kopfkissen mit einem
kleinen Herzchen darauf (selbstverständlich in den amerikanischen Farben blau, weiß, rot....), mit der Einladung, sich dort auszuruhen. Die ganze Kirche ist „tapeziert“ mit großen
Postern, die Schulklassen und Kinder
selbst gemalt haben, sowie mit kleinen Kärtchen und Briefen, auf denen
Kinder und andere ihre guten Wünsche, ein Dankeschön und Grüße für
die Einsatzkräfte in New York zum
Ausdruck bringen. „Dear Fire Fighters, wir denken viel an Euch, wir
danken Euch, dass Ihr uns so
schützt. Bestimmt seht Ihr schlimme
Dinge und wir wünschen Euch viel
Kraft und Mut und Hoffnung. Ihr
seid immer in unseren Gedanken und
Gebeten. Gott gebe Euch Frieden.
Kathy!“ Solche Briefe erweichen die
harte Schale, die es braucht, um diese Arbeit tun zu können.
Ich unterhalte mich mit Pfarrer
Lyndon F. Harris und seiner Kollegin, die auch Professorin für Homiletik an der naheliegenden Universität
ist. Pfarrer Harris sagt zu mir, die
Gemeinde sei in einem Prozess gewesen, nachzudenken, wo sie künftig
ihre Schwerpunkte setzen wolle. Nun
33
habe Gott ihnen gezeigt, was zu tun
sei!
Hier, bei „meinen“ Brüdern und
Schwestern, in meiner Heimat Kirche
spreche ich von mir aus die Frage an:
Wie sie dazu dächten, wie die amerikanische Politik und CNN auf die
Anschläge reagieren würden. Sie
wiegen bedächtig ihren Kopf hin und
her und sagen, das wären auch ihre
Gedanken und Fragen. Eine schon ältere und sehr freundliche Nonne, die
den Stand mit dem Kaffee betreut,
wird deutlicher: nachdem ich ihr erzählt habe, wo ich herkomme und
dass ich im Diakoniewerk Ruhr in
Witten bei vielen Diakonissen arbeite, zieht sie mich ein wenig zu sich
und sagt zu mir: „Gott segnet nicht
nur Amerika, auch Afghanistan und
sogar – sie schaut mich an - sogar Bin
Laden, davon bin ich überzeugt. Aber
es ist nicht populär, das jetzt hier zu
sagen.“
Zu uns treten eine Frau aus Florida,
die hierher gekommen ist, um ihre
Solidarität zu zeigen, und ihr Sohn.
Die Frau mischt sich in unser Gespräch ein und spricht davon, dass
sie als Christin Bedenken habe, was
den Krieg gegen Afghanistan angehe.
Schließlich fragt sie mich, was ich
ihnen raten würde. Ich weiß nicht
wie, aber mir fällt ein sehr simpler,
klarer Satz zu: „Das ist sehr einfach“, sage ich, „Replace the flag by
Jesus!“
Ich erzähle von dem Text, den ich
auf der Feuerwache an der Wand
habe hängen sehen, in dem die amerikanische Flagge in Ichform spricht:
Ich bin die Flagge, ich bin so oft
zertreten worden, beschmutzt worden, verbrannt worden, aber ich
werde nicht unter gehen, ich lebe
immer noch, mir können die Feinde
nichts anhaben usw. Hier werden der
amerikanischen Flagge Attribute in
den Mund gelegt, die wir Christen
unserem Herrn Jesus Christus (Tod
und Auferstehung) zuschreiben. Also, sage ich zu der Frau, vielleicht ist
die Antwort ganz einfach: Ersetzt
die amerikanische Flagge durch Jesus Christus. Ich wundere mich selber über meine Entschiedenheit und
diese schlichte Vereinfachung. Aber
die Frau stimmt mir zu - und schaut
dann zu ihrem Sohn, der das alles
etwas anders sieht.
Um 12:00 Uhr dann eine „normale“
Messe. Es sind nicht viele, die daran
aktiv teilnehmen, einige Polizisten,
Bauarbeiter und eine Gruppe von jungen Soldaten (die demnächst nach
Afghanistan fliegen werden) schauen
aus den hinteren Bänken zu. Manche
von ihnen wirken recht erschöpft und
auch ein wenig zurückhaltend. Ich
aber berge mich im mir Bekannten,
mir Vertrauten: bekannte Psalmen,
Worte der Lieder, Lesungen, der Liturgie. Und ich spüre, die Rolle, die
mich hält, der Schutzschild aus eigenem Tun, zu erfüllendem Auftrag,
Beobachten wollen und Erfahrungen
sammeln, kurz: meine Distanziertheit
bröckelt. Ich spüre, wie ich hier in
meiner Heimat Kirche aufweiche von
innen her, und beim Betrachten
34
der Kinderzeichnungen und Briefe
in meiner Bankreihe steigen Tränen
in meine Augen, ich spüre meine
ganze Traurigkeit und auch die Verbundenheit mit den Menschen hier
und mit alledem, was hier passiert.
Mich überwältigt nicht so sehr das
Schlimme, was hier geschehen ist,
sondern vielmehr die Art, wie die
Menschen hier miteinander und damit umgehen, wie sie sich gegenseitig
unterstützen und einander beistehen. Kinderzeichnungen als Schlüssel,
mit denen wir Zutritt zu unseren Gefühlen und all dem bekommen, was
unter der Fassade des Tun und Helfens, des Nachdenkens und auch
mancher Aggressivität verborgen ist.
Und es tut auch gut, diese Woche
hier in New York so zu beschließen,
weinend beim Abendmahl und das so
schöne Lied „Amazing Grace“ singend. Ich bleibe eine Zeitlang ruhig
in der Bank sitzen, würde mich freuen, wenn jemand sich dazusetzen
würde, aber es kommt niemand. Als
ich eine junge Frau sehe, die auch
alleine sitzt mit Tränen in den Augen,
gehe ich zu ihr und wir unterhalten
uns. Bei ihr seien alle Gefühle an die
Oberfläche gekommen beim Singen
von „Amazing Grace“, sagt sie.
Als ich mich von ihr und der Kirche
verabschiedet habe und nach draußen gehe, sehe ich auch dort eine
Frau, die mit Tränen in den Augen
einen der Texte liest, die dort am
Zaun aufgehängt sind. Ich spreche
sie kurz an und erzähle ihr von unse-
rer Kerzenaktion und der Solidarität
der vielen tausend Feuerwehrleute
aus Nordrhein-Westfalen. Ihr trauriges Gesicht verändert sich in freudiges Erstaunen.
Das ist vielleicht die Kunst in alledem, die wir in jedem Moment neu
lernen und ausprobieren müssen: Das
Maß und die Intensität der Trauer
aufmerksam und behutsam zu gewichten. Einerseits Fassade und das
Herunterdrücken der Gefühle achten
und als Schutz wertschätzen, offen
sein an Punkten, wo diese Gefühle an
die Oberfläche treten wollen und sie
dann tröstend und solidarisch begleiten, und dann andererseits auch
Traurigkeit durch etwas, was wir dagegen setzen, zu begrenzen, sei es
weil sie zu bodenlos und überwältigend wird, sei es, weil sie in reine
Sentimentalität abgleitet und das
Nötige zu tun behindert.
Vielleicht ist für uns, die wir Menschen in der Umgebung solch
schrecklicher Ereignisse begleiten
wollen, dieses „Spielen“ mit der Intensität gefühlsmäßiger Offenheit
die zu erlernende Kunst und der entscheidende Beitrag, den wir leisten
können.
Ich freue mich, dass diese Woche
mit dem Besuch der St. Pauls-Kirche
einen so guten Abschluss gefunden
hat. Als ich auf die Wache zurückkomme, packe ich meine letzten
Sachen. Als ich drei T-Shirts für
meine Töchter bezahlen möchte,
sagt Mike zu mir: „Nein, kein Geld
35
von Dir. Du hast genug für uns getan“. Dieser Satz ist sehr bewegend
für mich, und er bestätigt mir ein
weiteres Mal, dass unsere gemeinsame Aktion der Kerzenstafette in
Nordrhein Westfalen eine sehr angemessene Form der Solidarität ist
und wirklich, so wie es Pfarrer
Schanzmann in seiner Predigt im Aachener Dom gewünscht hat, die Herzen der Feuerwehrleute in New
York erreicht hat.
Nachmittag beginnt mein Pastoralkolleg „Seelsorge in Feuerwehr und
Rettungsdienst“.
Oliver Gengenbach, Pfarrer
Seelsorge
in Feuerwehr und Rettungsdienst
Westerweide 33
D-58456 Witten
[email protected]
Ich verabschiede mich von allen
herzlich, und nehme zum Schluss eine Liste von allen verstorbenen Männern, ihren Witwen und den vielen
Kindern, die sie zurücklassen, mit.
Der Melder des Division Chiefs fährt
mich zum Flughafen. Ein Gespräch
mit viel Humor und Lachen. Privilegien durch meinen Tritt auf die Sirene, durch die wir im Stau schneller
voran kommen. Das nenne ich die
Pfadfinderseite in meiner Arbeit in
Feuerwehr und Rettungsdienst, die
macht Spaß und ist ein guter Ausgleich für manches Schwere sonst.
Die Sicherheitskontrollen am Flughafen sind streng. Ein letztes Gespräch mit einem der Polizisten auf
dem Flughafen, der selbst in einem
CISM-Team mitarbeitet und sich
wundert, daß sie nicht angefordert
wurden.
Ich komme heil nach Deutschland
zurück. Meine Frau Birgit, die vieles mitträgt, holt mich morgens am
Flughafen
Düsseldorf
ab. Am
___________________________
36
Glossar:
Battalion
In einem Batallion sind mehrere
Companies zusammengefaßt, also die
jeweiligen Besatzungen eines Löschoder Leiterfahrzeugs.
CISM
Critical Incident Stress Management. In Deutschland bekannt als
„Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen“. Weltweit verbreitetste Einsatznachsorge-Methode,
entwickelt von dem amerikanischen
Psychologen und Feuerwehrmann
Prof. Dr. Jeffrey Mitchell.
Command Center
Einsatzleitung an der Trümmerstelle
Ground Zero, in einem Container untergebracht.
Counseling Service Unit (CSU)
Beratungszentrum. Das CSU des
FDNY wird geleitet von dem Psychiatriepfleger Malachy Corrigan und
ist besetzt mit ca. 15 Leuten, Psycholog/innen und speziell ausgebildete Feuerwehrleute. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist normalerweise die
Suchtberatung.
Division
In einer Division sind 5-7 Battalione
zusammengefaßt. Das FDNY insgesamt besteht aus 12 Divisionen und
verschiedenen Spezialeinheiten.
Employee Assistance Program (EAP)
Soziales
Unterstützungsprogramm
für Mitarbeiter/innen.
Engine
Löschfahrzeug
(In NYC ist jeder Feuerwehrmann
einer bestimmten Company zugeteilt,
die jeweils ein Fahrzeug besetzt. Die
Feuerwachen sind benannt nach den
numerierten Fahrzeugen, die auf der
Wache stehen. Meistens sind es
zwei: eine Engine und eine Ladder.)
Emergency Medical Service (EMS)
Rettungsdienst. Seit ca. drei Jahren
ist der EMS in die Feuerwehr integriert
werden.
EMS-Mitarbeiter,
meistens Paramedics (Rettungsassistenten) verdienen nur die Hälfte von
dem, was Feuerwehrleute bekommen.
FDNY
Fire Department New York, Feuerwehr New York
Fire Chaplain
Feuerwehrseelsorger. Im FDNY im
Rang eines Deputy Chiefs, des dritthöchsten Offiziersranges (während
die Feuerwehrseelsorger in Deutschland als „Fachberater Seelsorge“
nicht in die Hierarchie eingegliedert
sind).
Fire Commissioner
Der höchste politische Verantwortliche der Feuerwehr, etwa Dezernent,
direkt vom Bürgermeister berufen.
Fire Marshals
Angehörige der Feuerwehr, die nach
Bränden die Brandursachen ermitteln, quasi die Polizei in der Feuerwehr.
First Responder
37
Rettungsdienstlich
ausgebildete
Feuerwehrleute, die mit ihrem Einsatzfahrzeug schon vor dem Eintreffen des Rettungswagens medizinisch
tätig werden.
GPS-Markierung
Funkgesteuerte Bestimmung des genauen Fundortes.
ICISF
International
Critical
Incident
Stress Foundation, Sitz in Baltimore/USA. Der Verein, der CISM
verantwortet
und
ausbildet.
www.icisf.org Die deutsche Partnerorganisation
ist
die
SbEBundesvereinigung „Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen“
www.sbe-ev.de .
Mental Health Professionals
Angehörige von Berufsgruppen, die
im Bereich psychischer/seelischer
Gesundheit arbeiten und darin eine
(meist: Hochschul-) Ausbildung absolviert haben, z.B. Psychologen, Psychiater, Seelsorger, Sozialpädagogen.
Ladder
Drehleiter
Peer
Geschulte Einsatzkraft, die Kolleg/innen in psychosozialer Hinsicht
(z.B. nach belastenden Einsätzen)
unterstützt.
Port Authority Police Department
PAPD
Polizei der Hafenbehörde. Die Hafenbehörde ist gemeinsam für das
von den Staaten New York und New
Jersey gemeinsam getragene Hafengebiet (und auch das World Trade
Center) zuständig.