Buchstäblich gegliedert – Menschenalphabete und

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Buchstäblich gegliedert – Menschenalphabete und
Buchstäblich gegliedert
– Menschenalphabete und Mnemotechnik im typografischen Stellungsspiel
Fritz Franz Vogel, CH-Wädenswil
Vortrag Kongress dgv, Halle, 1.10.1999
AaBbCcDdEeFfGgHhIiJjKkLlMmNnOoPpQqRrSsTtUuVvWwXxYyZz
(GOtt)
Das ABC, die DNS des Geistes
Das ABC ist die DNA des Geistes, ist Rückgrat, Nabelschnur, Faden der Erkenntnis, ist an sich die reine Mathesis, der (von GOtt gespendete) Logos in nuce.
Mühsam lernen wir die Buchstaben. Mit dem Spracherwerb wächst parallel
unser Weltbild. A und O als Lettern, staunende Aaahs und Ohhhs als Interjektionen, vom Laut zum Urlaut zur Lautmagie:
aa, abracadabra, auweia, auweh, autsch.
bä, bimbam, buh, bumbum.
chrasch.
dada, dideldum dudeldumdei.
ei ei, eiapopeia.
fifi, fick fack, flick flack.
gaga, gick gack, girrri gix.
hehe, heidi heida, heissa, hep hep, hokuspokus, hüahot, huschhusch.
ia, i-a.
ja ja, jemine, jesses, juchheia, juhui.
kack, kikerikii, kling klang, klipp klapp, knix, kusch.
lalalalala.
mä, mama, meck meck, miau, mucksmäuschen, muhh.
na na, nein.
o, oha, oho, ou, o weh.
papa, paperlappapapapapa, pflumps, pfui, plitschplatsch, potz, pum pumpedibumpedibum.
quaaack, quatsch.
ritsch ratsch, rucks.
schnipps-schnapps, schtschutschutschu, schwups.
tick tack, trap trab trap.
uah, uhu.
wawa wei watsch, wauwau, wehe, wirrwarr, wumm.
x.
yeah.
zick zack zuck.
Lernen ist etwas Magisches. Akustische Ereignisse, wie dieses aus dem Grimmschen Wörterbuch gesammelte, onomatopoetische Abecedarium, sind nicht neu.
Und auch im Bildsektor ist die Buchstabenperformance, also die Hervorhebungen einzelner Zeichen durch Dekor, Grösse oder Form, bereits gut 1300 Jahre alt.
Doch für diesen typografischen Appell braucht es zwei wesentliche Voraussetzungen.
Voraussetzungen für die Initialen
Erstens eine veränderte Einstellung zum Text: In der Antike ist weniger das Auge
gefordert, sondern das Gehör; Text wird primär vorgelesen. Im Mittelalter beginnt
man, die Sprache optisch zu vermitteln. Diese popularisierte Offenbarung des
geschriebenen, christlichen Wortes, vor allem der Bibel, stellt das Erscheinungsbild als Gegenstand der Gestaltung ins Zentrum.
Eine zweite Voraussetzung betrifft den Personenkreis. In der Antike wird die
Lesearbeit durch geschulte Sklaven übernommen. Im Mittelalter fällt der Besitz
von Schriften mit der Rezeption zusammen. Die Identifikation zwischen Produzent und Rezipient zeitigt in der Folge ein hohes Auftragsvolumen an diversifizierten Fachleuten zur Bereitstellung individueller Bücher. Das Interesse an personalisierten und institutionsgebundenen Werken wächst.
Formal muss zudem die Beziehung zwischen verzierten und nicht verzierten
Buchstaben geklärt werden. Denn jede Diversifikation, jede hierarchische Gliederung nach Inhalt, Form, Farbe, Veredlung oder Position an sich gleicher Buchstaben beeinträchtigt die Lisibilität, resp. verändert die Signalfunktion hinsichtlich
Artikel oder Kapitel. Während die Antike und deren Renaissance eine tendenziell
unabhängige und unveränderliche Buchstabenform bevorzugt, votiert das
antiklassisch eingestellte Mittelalter für Veränderbarkeit und Fragmentierung der
Buchstaben. In dieser Zeit muss auch die Triage von Klein- und Grossbuchstaben angesiedelt werden. Weshalb sich vor allem im deutschsprachigen Raum
diese formale Unterscheidung (bezüglich der Wortarten) durchsetzen kann, bleibt
weitgehend rätselhaft. Eine Vermutung könnte sein, dass gemäss Volksglauben
alle Dinge durch das Gottesauge erkennbar sind und deshalb dieser visuelle
Weltteil GOtt seit der Genesis näher liegt als Tätigkeiten oder Eigenschaften, die
lediglich als Attribute angesehen werden.
Geschichte der Bildbuchstaben anhand von Beispielen
• 8. Jh.: Nebst Zierformen wie Füll- und Besatzornament kommen erste Figuren
auf als Ersatzornament, schliesslich Figuren als eigenständige Buchstaben
(Merowinger in Frankreich). Initialen aus Fischen und Vögeln bedrängen die
statisch-starre Gestaltung. Im Gellone-Sakramentar des späten 8. Jahrhunderts
aus dem nordfranzösischen Meaux/Marne bildet die Jungfrau Maria mit
Weihrauchfass und Kreuz die Letter I. Der Buchstabe ist frontal gezeigt, das
Gewand besteht aus einem flächigen Muster. Weitere Buchstaben mit handelnden
Personen und Tieren umspielen den Textinhalt. Buchstaben werden per se narrativ, weil sie Textfragmente als bildliche Illustration wiedergegeben. Die besondere
Schmückung von Initialen und Anfangstext unterliegt nicht nur der Aufmerksamkeit, sondern auch dem Kunstanspruch, Text als Naturabbild (Farbe, Form,
vegetative Ressourcen) zu betrachten.
Die eigentliche Entstehung der Figureninitiale ist ungesichert. Sie findet eher im
Norden Verbreitung: Deutschland, Dänemark; im Süden ist die lateinische
Schrift, die später als Antiqua bezeichnet wird, massgebend.
• 14./15. Jh.: Weltliche und religiöse Szenen mit Personen, Tieren und Gegenständen werden in einem Buchstabenrahmen abgebildet. Aus den gotischen
Vorlagen spricht eine Art paradiesischer Ruhe- und Friedenszustand. Einzelne
Lettern werden von Buchmalern in höfischen und klösterlichen Skriptorien als
Muster z.B. für das Stundenbuch von Angoulême 1480 («AVE MARIA GRACIA
PLE…») oder für Schriftzüge (Missale etc.) verwendet. Architekten und Bildhauer
verwenden in der Folge meist vereinfachte Entwürfe von Zierbuchstaben
(Grobskizzen, z.T. in verschiedenen Schriftarten und Bearbeitungsgraden, Grossund Kleinbuchstaben, Antiqua oder Unziale). Erste Anzeichen der Manufaktur im
Schriften- und Reproduktionswesen sind festzustellen. Eine solche Unterweisung
ins Handwerk der Sprach- und Ideologieaneignung findet sich 1490 in einem
Buch des Gelehrten Geiler von Kaysersberg unter dem Titel «Ein heylsame lere
und predig» ein von einem Mönch und zwei Schülern gesäumter Baum der
Erkenntnis, an dessen spriessenden Ästen ein Minuskelalphabet hängt.
Vertreter: Giovanni de Grassi 1390 (Vorlagen dazu unbekannt), Berliner Alphabet um 1400,
Meister E.S. 146?, Basler Alphabet 1464, Noël Garnier 1540.
• 16. Jh.: Der Franzose Geofroy Tory schafft 1529 in seinem «Champ fleury» die
theoretische Grundlage, die Zergliederung des Menschen – der Körper des Menschen ist mit seiner im Vergleich zu Tieren raffinierten Beweglichkeit vielfältiger
als jedes andere Natursubjekt – als Simulakrum für die beweglichen Lettern zu
betrachten. Der sog. Homo-mensura-Satz des Protagoras – «Der Mensch ist das
Mass aller Dinge, der seienden, dass sie sind oder nicht sind und wie sie sind» –
beeinflusst die Typografie der Renaissance nachdrücklich.
Die Weisheit des griechischen Sophisten begründet gleichsam angewandte
Körperkultur und eine verdichtete KörperBildSprache, und zwar unter Berücksichtigung des Menschen- und des Buchstabenkörpers. Das Massnehmen am
Menschenkörper ist die Definition einer Raumordnung für den Menschen und
zugleich das Einpassen des Körpers in eine Sprache: eine Konstruktion, Verdichtung und Domestizierung des Körpers in sein sprachliches Konzept, Korsett,
Konstrukt. Hier manifestiert sich eine offensichtliche Korrelation zwischen Text
und Bild, zwischen einer bild- und einer textorientierten Schrift. Lesen soll Sehen
sein und umgekehrt: …ut pictura poesis, auf dass das Bild Dichtung sei, und
Dichtung ein Bild.
Dürer, Holbein ua. fassen die Initialbuchstaben mit kleinen Bildvignetten ein
(Szenen, Putti etc.). Um 1535 zeichnet Peter Flötner ein rein anthropomorphes Alphabet, wobei die Buchstabenformen aufgrund des Blickwinkels oder aus der
Körperhaltung nackter Männer- (16), Frauen- (11) und Kinderfiguren (5) entstehen. Die Bändigung durch einen Rahmen ist aufgehoben. Die Entfesselung aus
einem typografischen Korsett verleitet zur Annahme einer Somatisierung des
Sehens. Die Visualisierung der Anatomie der Letter und des Menschen verweist
auf die Abbildungs- und Lernintention, zur Verbreitung anfänglich als
Holzschnitt, später in Kupferstich ausgeführt. Das Alphabet mit seinen legendären Füsschen (Serifen) wird vielfach in gleicher grafischer Anordnung und
geschlechtlicher Verteilung imitiert und erscheint in einem pädagogischen
Umfeld. 1579 entwickelt Cosmas Rosselius auf der Basis der möglichen FingerHand-Konstellation für Gehörlose das erste wahrhaft digitale Alphabet.
Vertreter/Imitatoren: Martin Weigel 1560, Jost Amman 1567, Johann Theodor und Johann Israel
de Bry 1596, Giacomo Franco 1596, Giovanni Battista Bracelli 1623 («Alfabeto figurato»), Richard
Daniel 1663 («Copy-Book: or a Compendium of the most usual hands»), Joseph Balthazar Silvestre 1834 («Alphabet-Album»).
• 17. Jh.: In der barocken Kalligrafie gibt es eine neue Dynamik aufgrund des
popularisierten Druckbedarfs und erweiterter technischer Verfahren (Feder,
Kupferstich, Ätzung). Inhaltlich gelingt mittels Metaphorik, Allegorie, Magie,
Worträtsel etc. eine Verrätselung der Lettern. Der Kontext der Buchstaben mit
Rankenwerk, Arabesken und Ornament gerinnt zu einer eigentlichen neuen
literarischen Sparte, den Carmina abecedaria.
Vertreter: Paulini 1570, Johann Theodor de Bry 1595 («Neiw kunstliches Alphabet»), Lucas Kilian
1632 («Newes ABC Buechlein»), Herculanus 16??, Richard Blome 1673 («Britannia»), Guiseppe
Maria Mitelli 1683 («Alfabeto in sogno»), John Seddon 1695 («The Penmans Paradise both Pleasant
& Profitable»), Mauro Poggi 1730 («Alphabeto di Lettere Iniziali»), Giovanni Battista Betti 1779 («A’
Dilettanti delle Bell’Arti»).
• 18. Jh.: Im bürgerlichen Zeitalter der Klassik findet eher eine Vergeistigung des
Textes statt. Nicht die Gestaltung des Alphabets steht im Vordergrund, sondern
das Schreiben an sich und die Virtuosität in der Stiftführung (Schreiberhände,
Schreibutensilien). Die Literatur verzichtet weitgehend auf eine illustrative,
bildhafte Textur. Menschenalphabete, im Gegensatz zu klassischen Schreibschriften, finden sich kaum.
• 19. Jh.: Durch Museumsgründungen, wieder entdeckte Relikte und durch
Sammlungen wird das Verständnis zu Beginn des Jahrhunderts für ein weit
gefächertes und popularisiertes enzyklopädisches Wissen gefördert. Alte Schriftfonts werden neu belebt und finden Eingang in populäre Bücher. Die Industrialisierung des Druckgewerbes fördert einerseits die Inflation neuer Schriften (Triage
von Schrifttypen: Brotschriften, womit sich die Setzer ihr Brot verdienten, vor
allem für das neu entstehende Zeitungswesen, Titelschriften für Werbung,
Bildtexte als Illustration im noch weitgehend fotolosen Printwesen), anderseits
popularisiert sie den Schriftenkonsum, was zu einer Trivialisierung der anthropomorphen Alphabete führt.
Im Zuge der flachen Bildverfahren (Lithografie mit Halbtonwiedergabe) finden
Fibeln für Erstlesealter, Lehrbücher, Karikaturenmagazine, Schriftzüge etc.
grosse Verbreitung (Beginn der Visualisierung von Text und Kontext). Auffälliges
Merkmal ist im Hinblick auf eine neues Publikum die typografische, z.T. anbiedernde Komik, die einen erleichterten Einstieg ins lithografierte Lesevergnügen
schafft.
Vertreter: Victor Adam 1820 («Alphabet en énigme»), Gottfried Schadow 1826, Joseph Balthazar
Silvestre 1834 («Alphabet-Album»), Jean Midolle 1834/35, Honoré Daumier 1836 («Alphabet
comique»), Zeitschrift «Punch» 1841–1992, Antonin Caulo 1856 («Alphabet de personnages»),
Joseph Apoux 188?, Almanach des enfants 1886, François Maréchal 1896.
• 20. Jh.: Zu Beginn leistet die Fotografie eine visuelle Erweiterung des Kanons
typografischer Techniken. Die Ausweitung der Gestaltungs- und Druckmöglichkeiten verändern Konzeption und Konstruktion der Buchstaben im Einklang des
medialen Fortschritts. Titel-, Brot-, Schreibschriften, Letterformatierungen,
Trägermaterialien, Papiersorten, Werkzeuge, Produktionsmittel und Distributionskanäle verhelfen dem anthropomorphen Alphabet als multioptionales Mittel in
den Bereichen Kunst, Pädagogik, Kommunikation etc. zum internationalen
Durchbruch in Büchern, auf Postkarten, Plakaten oder gar als Rechnungsbeispiele (russischer Suprematismus). Nicht nur die Sprachaneignung, sondern die
Sprache an sich wird als Spiel verstanden. Im Weiteren forciert der homo ludens
die Parallelisierung von Bild- und Textalphabet, sodass am Ende des Jahrhunderts eine reiche Palette an Menschenalphabeten und deren Verwendungsmöglichkeiten vorhanden ist. Das ABC von A bis Z umfasst in seiner vielfältigen
Nomenklatur nicht nur mehrere Dutzend (literarische) Konstruktionen von
Abecedarium, Akrostichon, Alliteration, Anagramm, ASCII-Code bis zu Zauberformel, Ziffer, Zungenbrecher und Zwiebelfisch, sondern auch eine Buchstabenwelt,
die sich selbst auf dem typografischen Schlachtfeld feiert: werbewirksame
Buchstaben und Wortbilder in Form von Menschen, Häusern, Blumen, Tieren,
Gegenständen uam.
Der Einbezug neuer Medien, die Fragmentierung der Schrift, der individuelle
Spass an der Letter, die Popularisierung der Gestaltungsvarianten und Produktionsmittel hat zu einer Entfesselung der Typografie geführt, wobei tanzende und
animierte Buchstaben (animierte GIFs) mittlerweile durchs Internetz sausen. Ihr
Anspruch auf Aufmerksamkeit ist nach wie vor derselbe, sei die Schrift im
Gewand des Holzschnitts oder der elektronischen Generierung mit variablen
Parametern von «liquiden Fonts» gekleidet. Die Verfügbarkeit und der Fundus von
Schriften hat zwar nicht unbedingt das typohistorische Bewusstsein geschärft,
sondern eher eine ästhetische oder unbedarfte Ausbeutung erzeugt. So sehen wir
uns im Moment einer unkontrollierten Vertextung von Bildern und einer Verbildung von Text(ur)en gegenüber (Logos, Schriftzüge, Symbolmarken, InBilder,
Bildwörter). Vorläufer für die Wechselwirkung dieser amöbenhaften, bisweilen
lust- und fantasievoll theatralisierten BildTextBuchstaben finden sich seit Beginn
des 20. Jahrhunderts.
Vertreter: Christine Angus 1900, NPG 1905 (Postkartenserie der Neuen Photographischen Gesellschaft), Anonym 1910 («Alphabet érotique»), Karel Teige 1926, Erté 1927ff, Salvador Dali 1931
(«Paul et Gala»), Alfred Kubin 1933 («Ein Bilder-ABC»), Alberto Martini 1947, D. L. May 1955 («The
A–Z line»), Ursula Huber-Bavier 1960 («Bavier Show»), Roman Cieslewicz 1964 («Alphabet
mystérieux»), Armin Haab 1967 («Photo Letter Leonor»), Friederike Mayröcker 1968 («ABC-thriller»), Zeitschrift «Plexus» 1969, Fritz Janschka 1969ff, Janosch 197? («Der kleine Bär lernt hier
nämlich lesen und schreiben»), Anthon Beeke 1970, Thomas Bayerle 1970f, José Pla-Narbonas
1973f, Roland Topor 1975 («Le courrier des lettres»), Kaspar Fischer 1975 («Aff Bräzeli Chämifäger»), John Caldwell 1977 («Ugly Grotesk Outline Bold»), Susan Palamara 1979 («Literatura Caps»),
Denise Brunkus 1980 («Mother Goose Alphabet»), Werner Lobegott Pirchner 1981, Suzanne
Rozdilski 1981 («Lorelei bold»), Doug Keith 1981 («Elfabets»), Ella van de Klundert 1981, D. Hooker
1982, Wolfgang Sperzel 1982 («Alphaband»), Hrana Janto 1984 («Mythic, Medieval & Marvelous»),
Leah Olivier 1985 («Kiddy Caps»), Tullio Pericoli 1986 («Woody, Freud und andere»), June Sidwell
1986 («Haute Couture Caps»), Raquel Jaramillo 1987 («Body Language»), Kurth Wirth 1988
(«Letterheads»), Tanya Thomas 1989 («Alphabet People»), Tomasz Jura 1991, Nicoletta FilanninoErdal 1991, IBM 1993, Schalmey 1994 («Schalmeys ABC»), Helmut Toischer 1994, Katrin Kremmler 1996…
Fazit: Durch die Ausgestaltung der Menschenlettern mit zeitgenössischen Moden,
Requisiten und theatralischen Attitüden sind die Lettern Boten einer dem VisuellDekorativen verpflichteten ikonografischen Matrix. Damit sind Buchstaben nicht
mehr bloss Kulturträger abstrakter, semantisch-begrifflicher Wortbedeutung,
sondern auch sinnlich-bildhafter oder kalligrafischer Ausdruck einer Epoche. Sie
verdichten sich zu spezifischen Zeit-Zeichen. Das vermeintlich formale Korsett
entpuppt sich als bisher kaum beachteter Mikrokosmos des Seins und Daseins,
eine zwischen Bild und Text oszillierende Aneignung von Lebenswelt. Die Alltagsfiguren sind nach 1300 Jahren alphabetischer Bildwelt, wenn auch über zeitgeistige Umwege, noch immer vorhanden und erzählen (selbstreflexive)
Geschichte(n).
Menschenalphabete (Körperalphabete)
Wie wir sehen hat die Gestaltung des Alphabets mit dem menschlichen Körper
eine erstaunliche Tradition und Konsistenz. Woran liegt es, den Körper als Mittel
und Mass zu nehmen für die Findung der Sprache? Die Zergliederung des
Menschen entspringt wohl einerseits dem Umstand, sich anzusehen, sich von
verschiedenen Seiten sehen zu wollen, sich sichtbar zu machen, und sich im
andern zu vergegenwärtigen. Die Optik auf den eigenen und den andern Körper
(anatomischer Blick, fern von jedem sittlichen Kontext), generiert ein Bild, das in
der Abstraktion (Gegenlicht, Grundform) zum Erkennungszeichen wird. Der
Buchstabe als Erinnerungshilfe, das Schreiben als Gewahrwerdung von sich
selbst, sind die Ingredienzien der Mnemotechnik, der Speicherung auf der
Gehirnplatine. Anderseits ist der Mensch per se ganz allgemein ein eyecatcher,
ein Augenhascher.
Durch das Lernen der KörperBildSprache wird die Welt angeeignet und interpretiert. Dieser pädagogische Zug, um eine vom Tier distinguierte Körperhaltung und
bürgerliche Disziplin zu statuieren, ist auch in den Abecedarien und Merkversen
abzulesen («Ein Affe gar possierlich ist, zumal wenn er vom Apfel frisst»), die
durch das Einprägen des Schriftbildes bereits Bildungsfunktion ausüben. Die
Buchstaben und deren Kontext sind eine Art Somatografie, eine Einverleibung,
die den Körper zum Sprachrohr macht und gleichzeitig die Sprache verlebendigt,
versinnlicht. Der Körper wird erfahrbar gemacht. Der Text wird Textur, die Textur
ist Bild, die Vernetzung von Text und Bild ist Bildung.
Die Herausforderung für die Gestalter besteht darin, jeden Buchstaben mittels
des Körpers auszudrücken, nicht nur einen einzelnen. Das kann ab und zu ganz
schön knifflig werden. Das puppenhafte Gliederwerk des a(na)tomisierten Körpers
ist zwar prädestiniert, die (notwendige) Mechanik der Letternkonstruktion zu
repräsentieren. Doch bei näherer Betrachtung realisieren wir, dass gar nicht
unbedingt die Beweglichkeit und Variabilität des Körpers im Vordergrund stehen,
sondern die menschliche Typologie, seine Charakterzüge, seine Sinnbildhaftigkeit, sein enzyklopädisch-modischer Lebensraum. Die Aufbereitung des Körpers
als enzyklopädische Didaktik braucht den visuellen Kontext. Nicht nur die vom
Körper abstrahierte Figur (letterheads, typefaces) ist prägend, und vielfach erst
im Kontext eines gesamten Bildalphabets als einzelner Buchstaben identifizierbar, sondern auch dessen Verkleidung.
Für die Darstellung ergeben sich verschiedene Stufen der Dynamik, die abhängig
ist vom künstlerischen Zeitgeist (Spiegel der Gestaltungstechnik, der Trends, der
medialen Vermittlung, der Akzeptanz in der Gesellschaft, der künstlerischen
Optionen und Kunsttraditionen, der Kommunikations- und Feedback-Systeme,
der Kompetenzen hinsichtlich Darstellungsproblemen von Raum und Fläche, der
Verwendung der Produkte, der Intentionen der Auftraggeber etc.). Soweit die
Geschichte der Menschenalphabete zu überblicken ist, sind zu allen Zeiten
mehrere folgender visueller Optionen in Gebrauch:
• anatomische Positionierung: Menschen bilden Buchstaben, stehend, frontal, im
Profil. Der Mensch als Naturwesen wird anatomisch realistisch abgebildet.
• geschlechtliche Typisierung: Einzelpersonen werden in Haltungen und
Ausdruck als geschlechtesspezifisch charakterisiert. Der Dynamik von gedrehten,
gekrümmten und beweglichen Körperteilen kommt besondere Beachtung zu.
• zeitimmanente Symbolisierung: Je nach Mode und Zeitgeist werden die Körper
bekleidet. Die Zeichenhaftigkeit von Accessoires und Schmuck verstärkt einerseits den dreidimensionaler Eindruck, anderseits stärkt den Kontext. Buchstaben
repräsentieren die Welt als Enzyklopädie.
• narrative Theatralisierung: Die Gestaltung eines Kontextes verleiht den Lettern
eine szenische Darstellung. Die Gesamtaussage erzählt mehr als der Einzelbuchstabe.
• kommunikative Formatierung: Die Einbettung von Lettern als Bild oder Text,
die Verwendung eines typografischen Dekors (Rahmen-, Flechtwerk, Ornament,
Grösse, Aufbereitung, teilweise verbunden mit dem akrophonetischem Prinzip,
(ver)dichten die Aussage zu typografisch-visuellen Event.
Fragen aus volkskundlicher Sicht
Jenseits von Formatbeschreibung, Technikgeschichte und Autorenbiografien
ergeben sich heute in diesem durchaus interdisziplinären Forschungsfeld (Kunstwissenschaft, Pädagogik) für den Volkskundler verschiedene Fragestellungen.
• Können ganz allgemein kulturelle Spezifika, Konnotationen und Prägungen an
der Bildwelt von historischen und zeitgenössischen Alphabeten abgelesen
werden?
• Existiert überhaupt so etwas wie eine Pflege der Bild- und Textschrift und
Schriftlichkeit, ein Bewusstsein für Tradition und Veränderungen? Wird im
Bildungsprozess dieser visuellen Mnemotechnik Platz eingeräumt?
• Hat die Allverfügbarkeit von elektronisch-digitalen Produktionsmitteln neue
spezifische Gebrauchs- und Handlungsweisen hinsichtlich SchriftBilder hervorgebracht? Haben wir das DIY (do-it-yourself) zur Behübschung des Alltags auf die
Maschine ausgelagert (Sein im Design, Rezeption, Opulenz und Wirkmächtigkeit
der Illustration)?
• Welchen Stellenwert misst die Gesellschaft dem alphabetisch-enzyklopädischen
System mit seiner optisch-virtuellen Simulation gegenüber komplexen, digitalen
Datenbanken zu?
Semantik vs. Semiotik
Das A als erster Buchstabe hat für den ganzen Alphabesatz, sofern er nicht auf
einem Blatt gezeichnet ist (als Musterkollektion), eine wesentliche Signalfunktion.
Es ist die Initiale des Alphabets, der Anfang, der das Bildprogramm vorgibt und
es gleichzeitig verdichtend zusammenfasst. Nebst der semantischen Bedeutung
des Buchstabens wird dem Buchstabenkörper ein semiotischer Kontext als
Bildzeichen zugewiesen. Dieses Bildzeichen kann wichtiger werden und den
semantischen Anteil verdrängen. Dieser wird nur noch im ganzen Alphabetsatz
erkennbar. Zeichenfunktion und -gebrauch werden doppeldeutig: imago und
littera, Bild und Text, imagerie und poésie, Kunst und Literatur. Die Lesbarkeit
tendiert mal auf die eine, mal auf die andere Seite. An dieser Stelle liessen sich
auch die emoticons anführen, die, aus semantischen Satzeichen und Buchstaben
zusammengesetzt sind und aufgrund der Zusammensetzung, Reihung und
Drehung um 90° ein Gesicht mit einem bestimmten emotionalen Ausdruck
ergeben und damit zu einer verklausulierten Mitteilung gefrieren.
«Was ist der Buchstabe A?» So fragt Douglas R. Hofstadter, Professor an der
Universität Michigan und Autor des Weltbestsellers «Gödel, Escher, Bach». Und
seine Antwort lautet: «Wenn ein Programm in der Lage wäre, As zu erkennen wie
Menschen es tun (gedruckt, verschnörkelt, hingekritzelt), dann (...) wäre es
vermutlich wirklich intelligent, denn dann könnte es nicht nur As von Bs unterscheiden, sondern auch ein Helvetica-A von einem Garamond-A.»
Damit ist das Problem umrissen, das sich bei der Bild-, resp. der Texterkennung
stellt. Der Buchstabe als Schrift, als Lesetext, wird über den ASCII-Code als
Gesamtzeichen erfasst (ASCII-Code; 8 Bit =1 Byte, z.B. A=11000001,
a=11100001). Die Buchstaben sind bestimmt über einen klaren Code. Die
Semantik eines Textes folgt logischen, lernbaren Operatoren. Der Text hat
deshalb einen eindeutigen Sinn.
Im Gegensatz steht der Buchstabe als Bild, als Sehtext. Er wird über die Pixeldatei gespeichert (TIFF-Datei, je nach Grösse, Farbe und Auflösung des Originals,
mehrere Kilo- oder Megabyte). Die Kapazitäten, die es braucht, um ein Bild, also
eine komplizierte Form, als Auflösung von weissen und schwarzen, resp. farbigen
Bildpunkten zu erfassen, lässt erahnen, dass die Redundanz beim Bild (für die
Unterscheidung eines As vom B) massiv höher ist als beim Text. Das allerdings
muss das Programm nicht durch rechnerischen Overkill erreichen, sondern wie
wir Menschen durch subtile Gruppierung (fuzzy logic), Analogie und Musterbildung.
Ein Kind, das ein A zu erkennen und zu schreiben lernt, lernt also viel mehr als
bloss das eine Schriftmuster A; es lernt, das Bildmuster A und damit alle
denkbaren Schrift- und Bildvarianten – von der einfachen geometrischen Strichform, über die kalligraphische Handschrift und die mnemotechnischen Erkennungshilfen (z.B. ein A in Form eines A-ffen) bis zur fein ziselierten barocken
Initiale, den narrativen Dekors von Bildbuchstaben und hermeneutischen
Wortmarken der Werbung – als A zu entziffern, kurz: den Metafont. Im Gedächtnis haftet also etwas wie eine etwas formelhafte Kurzbeschreibung: «Zwei Striche,
rauf und runter, oben geschlossen, unten offen, ein Querbalken» – zumindest für
den Grossbuchstaben. Diese Meisterleistung der Er-kenntnis, die Kombinatorik
der reinen, willkürlich gereihten Mathesis, die lesende Verfolgung stets beweglicher Ziele und Inhalte, ist für jeden ABC-Schützen im wahrsten Sinne des Wortes
das Finden des Ichs, also die eigene Mündig-, ja Menschwerdung.
Der Affe sagt zu allem Ja
Sein ganzes Wissen ist das A.
Weiterführende Literatur
ABC- und Buchstabierbücher des 18.Jahrhunderts. Herausgegeben von Josef Offermann.
Köln/Wien 1990
Damase, Jacques: Alphabets antropomorphes et alphabets à personnages. Paris 1983
Firmage, Richard A.: The Alphabet Abecedarium. Some Notes on Letters. Boston 1993
Funk, Doris: Visuelle Poesie für Kinder? In: Lypp, Maria (Hg.): Literatur für Kinder. Göttingen
1977, 46–93
Glück, Helmut: Schrift und Schriftlichkeit. Eine sprach- und kulturwissenschaftliche Studie.
Stutgart1987
Harding, Alison: Ornamental Alphabets and Initials. New York 1984
Hofstadter, Douglas R.: Metamagicum. Fragen nach der Essenz von Geist und Struktur. Stuttgart
1988
Kiermeier-Debre, Joseph / Vogel, Fritz Franz: Poetisches Abracadabra. Neuestes ABC- und
Lesebüchlein. München 1992
Kiermeier-Debre, Joseph / Vogel, Fritz Franz: Das Alphabet. Die Bildwelt der Buchstaben von A
bis Z. Ravensburg 1995
Kiermeier-Debre, Joseph / Vogel, Fritz Franz: Johann Theodor de Bry: New kunstliches Alphabet
(Frankfurt 1595). Ravensburg 1997
Kiermeier-Debre, Joseph / Vogel, Fritz Franz: Letteratur. Von den Buchstaben. Wer A sagt, muss
auch B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, X, Y, Z sagen. Chur/Flims
2000
Massin, Robert: La lettre et l’image. Paris 1993
Schabert, Ina: Körperalphabete, Modealphabete und die somatographische Kunst von Erté. In:
Lehnert, Gertrud (Hg.): Mode, Weiblichkeit und Modernität. Dortmund 1998, 62–85
Peignot, Jérôme: Calligraphie. Du trait de plume aux contre-écritures. Paris 1983
Sauer, Wolfgang Werner: Bild-Wörter. In: Bauermann, Jürgen / Günther, Hartmut / Knoop,
Ulrich (Hg.): homo scribens. Perspektiven der Schriftlichkeitsforschung. Tübingen 1993, 11–28
Weidemann, Kurt: Wo der Buchstabe das Wort führt. Ansichten über Schrift und Typographie.
Ostfildern 1994