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Projektpatenschaften von UNICEF Schweiz
«Kinder vergessen nicht. Nie. Manche sind für immer
von seelischen und körperlichen Nöten gezeichnet.
Lassen Sie uns gemeinsam eine nachhaltig bessere Welt
für betroffene Buben und Mädchen schaffen.»
Elsbeth Müller, Geschäftsleiterin
Projektpatenschaften
Mädchenbeschneidung,
Ruanda, Indien,
Bhutan, Brasilien
Liebe UNICEF Freunde
Menschen, die nachhaltig helfen, sind für jede Organisation ein grosses Glück. Denn die Spende ermöglicht
einen kontinuierlichen Fortgang der Projekte auf der
Basis planbarer finanzieller Grössen. Darüber hinaus
schafft sie konkrete Resultate. Diese brauchen manchmal
etwas Zeit. Sie sind jedoch umso stärker verankert. Denn
unsere Programme zugunsten von Kindern werden vor
Ort gemeinsam mit den Dorfgemeinschaften entwickelt
und sind von den Staaten mitgetragen. Dieser Prozess
muss immer wieder ausgehandelt werden. Und hier
weite Autorität, das Wissen und die Kraft, alle Akteure
einzubinden und von allen den bestmöglichen Beitrag
einzufordern. Darauf dürfen Sie als Projektpate/-in vertrauen.
Was wir erreicht haben und was wir erreichen möchten,
darüber berichten wir auf den kommenden Seiten. Es ist
ein Bekenntnis zu den Kindern. Sie finden eine Auslegeordnung der Probleme mit nachhaltigen Lösungsstra-
FOTOS: TITEL UNICEF/INDA2010-00635/PIROZZI; NYHQ1992-0536/MAGNONI
kommt unsere Stärke zum Tragen: UNICEF hat die welt-
tegien. Beteiligen Sie sich an unserer Arbeit und an unserem Engagement mit Ihrer dauerhaften Spende – der
Projektpatenschaft. Sie bauen damit an einer besseren
Welt für die betroffenen Buben und Mädchen. In ihrem
Ägypten
Bhutan
Mauretanien
Namen danke ich Ihnen herzlich für Ihre Hilfe.
Gambia
Guinea-Bissau
Ihre
Eritrea
Jemen
Indien
Burkina Faso
Somalia
Brasilien
Ruanda
Bolivien
Elsbeth Müller, Geschäftsleiterin
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Grundsätzliches Umdenken als Ziel:
Seit über zehn Jahren engagiert sich
UNICEF Schweiz konsequent und
intensiv für ein Verbot der Genitalverstümmelung.
Mädchenbeschneidung
Nomadenkinder
Verletzte Körper und Seelen: Rund um die Welt wird
Mobile Schulen: In Bhutan reisen Lehrer neuerdings
alle zehn Sekunden ein Mädchen beschnitten.
zu den Kindern von Nomadenfamilien.
Aids-Waisen
Strassenkinder
Viel zu klein bereits erwachsen: In Ruanda leben
Kinderarbeit und Ausbeutung verhindern:
Tausende von Waisenkindern allein in Kinderhaus-
In Brasilien sorgen wichtige Massnahmen für
halten.
zunehmend besseren Kinderschutz.
Mädchenbildung
Für eine eigenständige Zukunft: In Indien bewahrt
der Schulunterricht Mädchen vor früher Verheiratung.
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Das Unwissen ihrer Mutter kostete die
fünfjährige Khaddy das Leben
Genitalverstümmelungen sind meistens mit lebenslangen Schmerzen verbunden, und an den Folgen sterben noch immer viele Frauen und
Mädchen; so etwa die fünfjährige Khaddy aus Gambia. UNICEF Schweiz setzt sich konsequent für ein Umdenken der Bevölkerung ein – mit
Es ist eine traurige Geschichte; es ist eine
Geschichte, die sich tausendfach wiederholt; und es ist eine Geschichte, die vermeidbar gewesen wäre. «Khaddy könnte
heute noch am Leben sein», sagt Matou
Jawara. Was für die 37-jährige Frau aus
dem kleinen Dorf Bakadaji in der Upper
River Region Gambias inzwischen klar
ist, lag vor kurzem noch im Ungewissen.
Traurigerweise kostete dieses Nichtwissen
das Leben ihrer Tochter Khaddy.
Qualvolle Tage zwischen
Leben und Tod
In Matous eigener Kindheit war es fraglos, dass sie beschnitten werden sollte.
Ebenso bestanden für die mehrfache Mutter
zwanzig Jahre später keine Zweifel, ihre
eigenen Mädchen auch beschneiden zu
lassen. So wurde vor wenigen Monaten
auch ihr Jüngstes, die fünfjährige Khaddy,
den Messern der dörflichen Beschneiderin
ausgesetzt. Mit gravierenden Folgen: Die
Blutungen des kleinen Mädchens liessen
sich nicht stillen, und bald traten die ersten
bösen Infektionen auf. In ihrer Verzweiflung rief Matou nach einem Medizin-
4
FOTOS: UNICEF/NYHQ2009-1475/HOLT
Erfolg: Das neue Gedankengut wird wie Samen weitergetragen und die Anzahl der Beschneidungen nimmt markant ab.
Weltweit sind die
Genitalien von rund
130 Millionen
Mädchen und Frauen
verstümmelt.
mann. Er braute einen Heilungstrank, den
Khaddy zweimal täglich trinken musste.
Es vergingen weitere vier Tage zwischen
Leben und Tod; im Dorf kursierte nun das
Gerücht, eine Hexe habe Khaddy im Visier
und sauge das Leben aus dem kleinen
Körper. Unverzüglich rief Matous Grossfamilie nach weiteren Medizinmännern
und Geistheilern. Es sollte vergebens
sein: Knapp eine Woche nach der Beschneidung starb Khaddy in den Armen
ihrer Mutter.
UNICEF/NYHQ2009-0839/PARKER
Beschnitten wird mit allem,
was scharf ist
Weltweit sind die Genitalien von rund 130
Millionen Mädchen und Frauen verstümmelt; jedes Jahr trifft es weitere drei
Millionen: Alle zehn Sekunden wird ein
Mädchen beschnitten. Das bedeutet, dass
die Vorhaut ihrer Klitoris eingestochen,
geritzt oder weggeschnitten wird oder
ihre grossen und kleinen Schamlippen
ganz oder teilweise entfernt werden – mit
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Messern, Rasierklingen, Scherben und
anderen scharfen, häufig unreinen Gegenständen und ohne Anästhesie. Die
Schmerzen an einem der sensibelsten
Stellen des Körpers mit der höchsten
Konzentration an Nerven sind unermesslich. Ausgeführt werden die fürs Leben
prägenden Schnitte häufig bei Mädchen
unter fünf Jahren. Wie Khaddys Beispiel
zeigt, überleben viele nicht – immer
wieder sterben kleine Mädchen in den
Folgetagen. Sie verbluten oder bekommen
Infektionen, denen die kleinen Körper
nicht standhalten können. Die meisten
Beschnittenen haben ein Leben lang mit
gravierenden Folgen zu kämpfen: mit
Entzündungen, Wucherungen, Zysten,
Blutungen, Blasen- und Niereninfekten,
Inkontinenz, starken Schmerzen beim
Geschlechtsverkehr – sofern dieser überhaupt möglich ist. Schwangerschaft und
Geburt sind für beschnittene Frauen mit
grossen Gefahren und einem erhöhten
Sterberisiko verbunden: für die Mutter
wie für das Kind.
sind. Mit einer Beschneidung scheint der
soziale Status der Familie garantiert. Unbeschnittene Mädchen werden an den
Rand der Gemeinschaft gedrängt, können
nicht verheiratet werden, bringen ihre
Familien in Verruf.
Mädchenbeschneidung: So engagiert
sich UNICEF Schweiz
Seit über zehn Jahren setzt sich UNICEF
Schweiz intensiv für ein Verbot der Mädchenbeschneidung ein. Eingebunden ist
die gesamte Gesellschaft: Ziel ist ein
grundsätzliches Umdenken. Neben Gambia
finanziert UNICEF Projekte in folgenden
Ländern:
Ägypten: hier wurde 2010 beispielsweise ein Kinderschutzprogramm ge startet, das bis Ende 2011 10 000 Familien
erreichte.
Burkina Faso: Die UNICEF Projekte
zeigten eindrückliche Erfolge: Während
zwischen 1997 und 2007 73 Prozent der 15bis 49-jährigen Frauen beschnitten waren,
ist in der Generation ihrer Töchter noch
Religiöse Motive als Rechtfertigung
Mädchenbeschneidung ist in vielen Regionen der Welt eine soziale Norm; oft
gelten überdies religiöse Motive als
Rechtfertigung. Dabei ist weder in der
Thora noch im Koran oder der Bibel eine
Passage zu finden, die die Beschneidung
von Frauen und Mädchen verlangt. Die
ersten Hinweise liegen weiter zurück und
datieren aus der Zeit vor der Entstehung
dieser grossen Religionen. Auffallend
aber ist: je geringer der Bildungsgrad,
umso höher das Vorkommen weiblicher
Genitalverstümmelung. Und gerade in
den ärmsten Ländern der Welt mit den
geringsten Erwerbsmöglichkeiten gehen
Eltern davon aus, ihre Töchter nur verheiraten zu können, wenn sie beschnitten
jedes vierte Mädchen betroffen.
Guinea-Bissau: In 39 Dörfern finden Aufklärungs- und Sensibilisierungsprogramme statt; bisher konnten 14 000 Menschen
erreicht werden.
Jemen: In 11 Distrikten laufen Sensibilisierungsprogramme wie etwa Radiosendungen.
Mauretanien: 78 Dörfer haben der
Praktik abgeschworen: 130 000 Menschen
haben sich öffentlich gegen Mädchenbeschneidung und/oder frühe Ehen ausgesprochen.
Somalia: Heute existieren knapp 250
Kinderschutzkomitees; 42 Dorfgemeinschaften haben öffentlich erklärt, auf Mädchenbeschneidung zu verzichten.
Mädchenbeschneidung
Öffentliche Deklarationen: ein äusserst
wirksames Mittel zur Sensibilisierung.
Weisungen und verurteilen nicht, im Gegenteil: Sie stärken die Dorfbevölkerung.
Ausgangspunkt ist der jeweilige Wissensund Erfahrungsstand, von dem aus auf
umfassende Weise informiert und sorgsam
sensibilisiert wird. Immer wieder werden
auch Informationswege genutzt, die in
Afrika besonders gut greifen: etwa Theaterstücke oder Radioprogramme.
Immer mehr Frauen lehnen
die Beschneidung ihrer Töchter
inzwischen ab
Gegenwärtig finanziert UNICEF Schweiz
Projekte in 80 Dörfern in der Upper River
Region. 80 000 Menschen konnten bisher
erreicht werden; das entspricht 43 Prozent
der Bevölkerung der Upper River Region.
Welchen Erfolg diese Sensibilisierungsprogramme hatten, zeigt die vorhin erwähnte UNICEF Erhebung aus dem
letzten Jahr eindrücklich: Von der Gruppe
der 15- bis 49-jährigen Frauen, die zu 99
Prozent beschnitten sind, würden heute
nur noch 71 Prozent ihre eigenen Töchter
beschneiden lassen.
Unter ihnen ist auch Matou. Sie schüttelt
den Kopf, um den kunstvoll ein buntes
Tuch gebunden ist, und sagt: «Seit ich in
Kontakt mit dem UNICEF Projekt bin, ist
mir einiges klar geworden.» Viele Kinder
ihres Heimatdorfes seien nach der Beschneidung gestorben; und viele Frauen
hätten während der Geburt an so grossem
Blutverlust gelitten, dass sie nicht über-
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FOTOS: UNICEF/NYHQ2009-0838/PARKER; SOMALIA/D. SHEPHERD-JOHNSON
In der Upper River Region Gambias
sind 99 Prozent der 15- bis
49-jährigen Frauen beschnitten
Das höchste Vorkommen an Beschneidungen ist im westlichen bis nordöstlichen Afrika auszumachen – in etlichen
Gebieten sind 90 Prozent der Frauen betroffen. In der Upper River Region in
Gambia sind es gar 99 Prozent der 15- bis
49-Jährigen – das zeigt eine aktuelle, von
UNICEF durchgeführte Erhebung aus dem
Jahr 2010. In diesem stark betroffenen
Gebiet engagiert sich UNICEF Schweiz
seit vier Jahren besonders intensiv; in
Zusammenarbeit mit der Non-ProfitOrganisation Tostan verfolgt das Kinderhilfswerk einen ganzheitlichen Ansatz:
Das Thema Beschneidung soll von allen
Seiten aus betrachtet werden – von der
Seite der Menschenrechte, der menschlichen Würde, der Hygiene, der Gesundheit,
der Diskriminierung. Die «Community
Empowerment»-Projekte enthalten keine
Wichtige Multiplikatoren: Niemand
eignet sich für Aufklärungskampagnen
besser als Frauen, welche die Qualen
UNICEF/NYHQ2010-1833/NOORANI
einer Beschneidung selbst erlebt haben.
lebten. «Heute weiss ich, dass die Beschneidungen zu manchem dieser Tode
führten.» Nun schliesst sie kurz ihre
dunklen Augen: «Könnte ich das Rad der
Zeit zurückzudrehen, wäre keines meiner
Mädchen beschnitten worden – zuallerletzt Khaddy.»
Wirksame öffentliche Erklärungen
UNICEF Schweiz setzt sich dafür ein,
solche Schicksale abzuwenden, und macht
sich für ein Umdenken in der Bevölke-
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rung stark. Denn in Ländern wie Gambia
ist die Beschneidung von Mädchen eine
stark verankerte soziale Norm. Der Grossteil der Bevölkerung geht davon aus, dass
nur eine beschnittene Frau verheiratet
werden kann; unbeschnittene werden von
der Gemeinschaft ausgeschlossen, bleiben ehelos, schutzlos, verarmen; Familien
unbeschnittener Mädchen und Frauen
riskieren den Verlust ihrer Ehre. Ganzheitliche Projekte, wie jene von UNICEF
und ihren Partnerorganisationen, helfen,
solche Regeln und sozialen Normen zu
durchbrechen. Auf diesem Weg sind öffentliche Erklärungen ein gut funktionierendes Mittel. Im Rahmen der sogenannten «Community Empowerment»-Projekte
wird das Gespräch mit den Entscheidungsträgern/-innen und Dorfältesten von
Gemeinden mit hohem Aufkommen von
Mädchenbeschneidung gesucht. Fällt die
Entscheidung, sich gemeinsam an der
Dorfentwicklung zu beteiligen, ist der
zweite Schritt schnell getan. Informationen
Mädchenbeschneidung
Jahr für Jahr werden
rund um die Welt
beschnitten.
über Hygiene, Beobachtung der Entwicklung und des Vorkommens von Mütterund Kindersterblichkeit, Konsequenzen
der Zwangsehe für das minderjährige
Mädchen und Mädchenbeschneidung
rücken ins Zentrum der Gespräche. Alphabetisierungsprogramme und Diskurszirkel
schaffen das nötige Selbstvertrauen, sich
öffentlich zu verschiedenen Fragen zu
äussern und Lösungen zu suchen. Am
Schluss der Kette organisieren schliesslich
die Dörfer gemeinsame Veranstaltungen,
an denen die gesamte Gemeinde bereit ist,
sich in einer öffentlichen Erklärung gegen
Beschneidung und frühe Ehen auszusprechen.
Der Samen wird weitergetragen
Mitte Januar 2011 organisierten in der
Upper River Region beispielsweise 27
Gemeinden einen gemeinsamen Aktionstag mit öffentlichen Deklarationen. Es war
ein positiver und auch fröhlicher Anlass,
an dem nicht nur über Problematisches
diskutiert wurde, sondern auch die Gesundheit der Menschen und ihre Rechte
gefeiert wurden. Eine der hauptverantwortlichen Organisatorinnen sagte im
Anschluss, sich bis vor wenigen Monaten
nie und nimmer getraut zu haben, vor so
vielen Menschen so klar ihre Haltung
auszudrücken. Heute ist sie glücklich,
mithelfen zu können, dass der Funke
weiterspringt. Denn solche Anlässe lösen
Nachahmungsprojekte aus. Welche Kreise
solche Aktionstage nach sich ziehen
können, zeigt das Projekt der UNICEF
Partnerorganisation Tostan in Gambias
Bedeutender Schritt in Mauretanien:
Genitalverstümmelung und setzten ihre
eine Fatwa gegen
Namen unter das Schriftstück. Dies ist des-
Mädchenbeschneidung
halb von grosser Bedeutung, weil Genital-
Über 72 Prozent der Frauen in Mauretanien
verstümmelung keine religiöse Praxis ist,
sind beschnitten. Untersuchungen von
oft aber mit religiösen Argumenten ge-
UNICEF aus dem Jahr 2010 zeigen, dass
rechtfertigt wird. Die Signalwirkung der
die Praxis stark im Sinken begriffen ist:
Fatwa, die sich auf Meinungen führender
73 Prozent der befragten Frauen in vier
Soziologen und Ärzte beruft, ist gross;
Regionen mit ehemals hohem Vorkommen
ihre volle Wirkung kann sie aber erst dann
haben ihre unter fünfjährigen Mädchen
entfalten, wenn sie von Kampagnen be-
nicht beschneiden lassen, und knapp 84
gleitet wird, die ihre Inhalte und Hinter-
Prozent gaben an, dies auch später nicht
gründe beleuchten. Im Dezember 2011
zu tun.
setzte UNICEF in Mauretanien deshalb eine
Ein wesentlicher Schritt ist Anfang 2011
Arbeitsgruppe ein mit dem Ziel, den Inhalt
geschehen: Mitte Januar zogen sich 34
der Fatwa im ganzen Land zu verbreiten.
angesehene Imame während einiger Tage
UNICEF Schweiz unterstützt die Projekte
zurück, erarbeiteten eine Fatwa gegen
in Mauretanien seit vier Jahren.
Nachbarstaat Senegal: Hier haben sich inzwischen über 3000 Gemeinden öffentlich gegen Beschneidung ausgesprochen.
Ist der Same einmal gesät, können soziale
Normen innerhalb einer Generation überwunden werden. Doch es braucht Menschen, die sich unermüdlich dafür einsetzen. Wirksamste Multiplikatoren sind
jene, die selbst betroffen sind und den
Umdenkungsprozess bereits durchschritten haben; denn niemand weiss besser als
sie, wovon die Rede ist.
«Ich möchte mithelfen, diese
Praxis zu stoppen»
Matou ist ein solches Beispiel. Mit stolz
erhobenem Kopf sagt sie: «Heute, da ich
verstehe, wie sich eine Beschneidung auf
den Körper von uns Frauen auswirkt, bin
ich bereit, mich dafür einzusetzen, diese
Praxis zu stoppen.» Sie und ihr Mann
sprechen bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Nachbarn, Freunden und Kollegen über die schädliche Praxis. «Ich
hoffe zutiefst, dass es in unserem Land
bald keine Beschneidungen mehr gibt»,
sagt sie und fügt mit stockender Stimme
an, wie traurig sie ist, vor wenigen Monaten noch nicht mehr darüber gewusst zu
haben. «Sonst wäre Khaddy heute noch
am Leben.»
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FOTOS: UNICEF/NYHQ2011-0259/ASSELIN
drei Millionen Mädchen
Wenn Kinder zugleich Mama und Papa sind
UNICEF Schweiz kümmert sich um zahlreiche Waisenkinder in Ruanda. Über 100 000 von ihnen leben in Kinderhaushalten und sind auf sich
allein gestellt. 220 000 sind in Folge von Aids verwaist, 19 000 von ihnen sind selbst HIV-positiv. Doch nur knapp die Hälfte der Mädchen
UNICEF/RWAA2011-00528/NOORANI
weiss, was HIV/Aids ist und wie man sich vor einer Ansteckung schützt. Aufklärung und Sensibilisierung ist dringend notwendig.
Kindsein – das sollte heissen, eine Mama
und einen Papa zu haben; Liebe und Geborgenheit zu erfahren; in die Schule
gehen zu können; zu spielen; Freunde zu
treffen. An manchen Orten der Welt heisst
Kindsein aber, die Rolle von Mama und
Papa einzunehmen, weil die Eltern nicht
mehr leben; Verantwortung zu übernehmen für die jüngeren Geschwister;
nicht in die Schule gehen zu können,
9
sondern arbeiten zu müssen, um den
Hunger zu stillen. Das ist die Situation
von über 100 000 Waisen in Ruanda. Mit
ihren Sorgen und Nöten allein zurückgelassen, leben sie in Kinderhaushalten;
das älteste der Geschwister sorgt für die
jüngeren. Es sind erst kurze Biografien,
geprägt von nicht gelebter Kindheit; denn
diese Kinder werden viel zu früh zu einem
Erwachsenenleben gezwungen.
Ein 8-jähriges Mädchen
übernimmt die Verantwortung
für seine Brüder
Was das bedeutet, weiss die 11-jährige
Laurence Nyiramahirwe aus Rutsiro. Als
sie acht Jahre alt war, starben ihre Eltern
in kurzer Folge an Aids. Damit zählt sie
zu den 220 000 Kindern Ruandas, deren
Eltern der Immunerkrankung erlagen.
Laurence und ihre beiden jüngeren Brü-
Aids-Waisen in Ruanda
FOTOS: UNICEF/RWAA2011-00341/NOORANI; RWAA2011-00569/NOORANI
der wurden voneinander getrennt und bei
Verwandten untergebracht. Ab und zu besuchte die Schwester die kleinen Brüder,
und schnell wurde ihr klar, dass beide
vernachlässigt und misshandelt wurden.
Kurzerhand beschloss das Mädchen, sich
fortan selbst um die beiden zu kümmern.
Die drei Kinder zogen zurück in das leer
stehende Elternhaus, und Laurence nahm
künftig nicht nur die Rolle der «grossen»
Schwester an, sondern übernahm auch
noch jene ihrer Mutter und ihres Vaters.
Ihr Gesicht trägt die Züge einer Erwachsenen und aus einiger Entfernung könnte
man denken, sie sei effektiv die Mutter
der beiden Buben. Schützend legt sie den
Arm um den Kleinsten und macht ihre
Schulter ein wenig breiter, damit sich der
7-jährige Etienne, der etwas scheu ist,
hinter ihr verstecken kann. Mit Sorge beobachtete sie in den vergangenen Jahren,
dass sich Etienne nicht richtig entwickelte
und zunehmend Probleme mit Sprechen
bekam. Jetzt huscht ein kurzes Lächeln
über ihr ernstes Gesicht. Dann blickt sie
über ihre Schulter und sagt: «Ich sprach
Auf sich gestellt: Aids-Waisen benötigen
psychosoziale Begleitung, medizinische
Versorgung, Unterstützung bei der
Einschulung, Hilfe in Alltagsfragen.
10
Jedes fünfte Kind
in Ruanda ist verwaist,
800 000 Kinder leben
ohne Eltern.
schon mehrfach mit Etiennes Lehrer; es ist
wichtig, dass er weiss, dass mein Bruder
behindert ist. Ich bat ihn, geduldig und nett
zu ihm zu sein.»
Keine Waisenhäuser, keine
Waisenrenten
In Ruanda ist eines von fünf Kindern verwaist – rund 800 000 Kinder leben ohne
Eltern. Einrichtungen wie Waisenhäuser
fehlen, Waisenrenten auch; Ruanda kennt
kein Sozialversicherungssystem. Das Land
kämpft bis heute an allen Fronten mit den
Folgen des Genozids von 1994. Innert
Kürze wurden damals sämtliche staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen
zerstört und das Land einer ganzen Generation von Ärzten, Lehrpersonen, Beamten
und Geschäftsleuten beraubt. Über die
Hälfte der gut 10 Millionen zählenden
Einwohner sind weniger als 18 Jahre alt;
die durchschnittliche Lebenserwartung
liegt bei 51 Jahren. 77 Prozent der Bevölkerung des bevölkerungsdichtesten Landes
Afrikas leben unter der Armutsgrenze; 11
Prozent der Kleinkinder sterben vor ihrem
fünften Geburtstag und knapp die Hälfte
aller unter 5-Jährigen ist mangelernährt.
Am Ende der sozialen Leiter
stehen die Aids-Waisen
In Ländern mit so ausgeprägter Armut
leiden die Kinder am meisten; sie sind das
verletzlichste Glied der Gesellschaft und
drohen am stärksten durch alle Maschen
zu fallen. In Ruanda sind es die AidsWaisen, die am untersten Ende der gesellschaftlichen Hierarchie stehen. 19 000
von ihnen sind selbst mit dem HI-Virus
infiziert; nur ein Viertel von ihnen ist in
Behandlung, die Übrigen sind sich selbst
überlassen – mit ihren Nöten, ihren seelischen Wunden und ihrer körperlichen
Erkrankung. Die meisten von ihnen gehen
nicht zur Schule, weil es ihre Gesundheit
nicht zulässt oder weil sie sich mit Hand-
langerarbeiten durchbringen müssen. Viele
der Mädchen prostituieren sich; häufig
sind ungewollte Schwangerschaften oder
HIV/Aids die Folge.
Mit 2,9 Prozent ist die Ansteckungsrate
mit dem HI-Virus im Vergleich zu anderen
afrikanischen Ländern zwar tief. Alarmierend aber ist, dass von den über 15-Jähri-
Aids-Waisen: So engagiert sich
UNICEF Schweiz
Seit 1998 unterstützt UNICEF Schweiz Programme für Waisen und Kinderhaushalte
in Ruanda. 800 000 Kinder sind verwaist,
und 100 000 Kinder leben allein in sogenannten Kinderhaushalten. Seit zehn Jahren liegt der Fokus auf der Bekämpfung
von HIV/Aids. Beispielsweise setzt sich
UNICEF dafür ein, die Übertragung des
HI-Virus von Müttern auf ihre Kinder bei
Geburt zu stoppen. Mit grossem Erfolg:
Studien zeigen, dass die Übertragung innert fünf Jahren um die Hälfte gesunken
ist. In den vergangenen vier Jahren lag
UNICEFs Hauptaugenmerk auf der sozialen und medizinischen Umsorgung der
Waisenkinder in 13 Distrikten: etwa im
Einrichten kinderfreundlicher Schulen.
Das Kinderhilfswerk arbeitet eng mit der
Regierung zusammen, die 2009 die kostenlose Schulpflicht einführte, von der alle
Kinder profitieren. Es zeigt sich, dass der
Schulalltag gerade Waisen eine wichtige
Struktur gibt und ihnen hilft, ihre Sorgen
für einige Stunden zu vergessen. In den
von UNICEF Schweiz unterstützten Schu-
UNICEF/RWAA2011-00623/NOORANI
len wird besonders grosses Gewicht auf
Strategien gelegt, Mädchen bis zum Ende
in der Schule halten zu können. Ab dem
kommenden Jahr wird sich UNICEF noch
stärker auf die Aids-Prävention konzentrieren.
11
Lebensrettende Aufklärung: Gerade für
Waisenkinder ist es wichtig zu erfahren,
was Aids ist und wie man sich davor schüt-
gen, die in den Städten und Agglomerationen leben, über 7 Prozent infiziert sind.
Studien weisen überdies darauf hin, dass
sich in den letzten Jahren vor allem Kinder
im Alter von 12 bis 14 Jahren infiziert
haben. Häufig leben sie auf der Strasse,
sind sich selbst überlassen, prostituieren
sich. Ihre Zahl wird inzwischen auf fast
400 000 geschätzt. Und nur knapp die
Hälfte der Mädchen unter ihnen wissen,
wie HIV/Aids übertragen wird.
Hilfreicher Erfahrungsaustausch
in Jugendgruppen
UNICEF Schweiz engagiert sich deshalb
intensiv in der Prävention, Aufklärung
und Behandlung von HIV/Aids. Gerade
für Waisenkinder, die ohne elterlichen
Schutz leben, ist es elementar zu erfahren,
was HIV/Aids ist und wie man sich davor
schützen soll. Gemeinsam mit der lokalen Non-Profit-Organisation Apasek hat
UNICEF zahlreiche Jugendgruppen auf-
gebaut. Ein Team freiwilliger Helfer klärt
die Kinder und Jugendlichen über die
menschliche Würde und ihre Rechte auf;
die Mitarbeitenden zeigen auf, wie wichtig
es ist, für die eigene Gesundheit zu sorgen,
und worin die grössten Gefahren liegen:
in ungeschütztem Geschlechtsverkehr
beispielsweise oder in verschiedenen
Formen von Ausbeutung. Der Gesprächsaustausch unter den Jugendlichen ist
besonders hilfreich. Die meisten haben
12
FOTOS: UNICEF/RWAA2011-00629/NOORANI
zen soll.
Aids-Waisen in Ruanda
Müttermentorinnen:
ihre Sorgen an, stehen ihnen mit Rat bei,
Ein gut funktionierendes System von
helfen ihnen im Haushalt, bei Gartenar-
Ersatzmüttern und Beraterinnen
beiten, in der Schule. Mit diesem Familien-
In Ruanda sind 800 000 Kinder elternlos,
hilfemodell begleiten UNICEF und Apasek
220 000 von ihnen sind aufgrund von Aids
jährlich über 1200 Waisen. Inzwischen hat
verwaist, 100 000 schlagen sich alleine in
die Regierung erkannt, wie erfolgreich
Kinderhaushalten durch, 19 000 sind mit
das System ist, und dieses als Teil seines
dem HI-Virus infiziert, nur ein Viertel von
nationalen Aktionsplans definiert. Auch
ihnen ist in Behandlung. Seit 2002 arbeitet
die elfjährige Laurence Nyiramahirwe und
UNICEF Schweiz mit der lokalen Non-Profit-
ihre beiden jüngeren Brüder (vgl. Haupt-
Organisation Apasek zusammen, die das
text) werden von einer Mentorenmutter
Modell der «Müttermentorinnen» entwi-
begleitet. «Ich bin so froh, dass jemand
ckelt hat: Frauen aus der Nachbarschaft
Erwachsenes nach uns schaut», sagt
kümmern sich um Waisenkinder aus Kinder-
Laurence; «was mit uns passiert wäre,
haushalten. Sie nehmen sie in die Arme,
wenn es Apasek nicht gäbe, kann ich mir
sitzen an ihren Bettchen, halten zum Ein-
nicht vorstellen.»
schlafen die Hand eines Kindes, hören sich
UNICEF/KATRIN PIAZZA
einen ähnlichen familiären Hintergrund
und mussten die gleichen schmerzhaften
Erfahrungen machen. In diesem Rahmen
fällt es leichter, Fragen zu stellen, über
Erlebnisse zu sprechen, sich anderen anzuvertrauen.
19 000 Aids-Waisen
sind in Ruanda selbst
mit dem HI-Virus
infiziert.
13
Wenn ehemalige Opfer zu Helfern
werden
Ein weiterer wichtiger Kooperationspartner von UNICEF Schweiz ist die vor Ort
gut verwurzelte gemeinnützige Organisation Uyisenga N’Imanzi. Mit gemeinsamen Programmen wurden im letzten
Jahr 2000 Waisenkinder erreicht, von
denen 30 Prozent HIV-positiv sind. Die
Kinder wurden psychosozial begleitet,
medizinisch versorgt, es wurde ihnen bei
der (Wieder-)Einschulung geholfen und
sie wurden in Alltagsfragen beraten. Auch
hier erwiesen sich die gemeinsam organisierten zehntätigen Feriencamps als
besondere Stütze für die Jugendlichen:
300 15- bis 21-jährige Vollwaisen nahmen
im letzten Jahr daran teil; 75 von ihnen
waren Mädchen, die einen Kinderhaushalt führen. Sie lernten den Umgang mit
Mikrokrediten, wurden über die Gefahren
und Folgen von HIV/Aids aufgeklärt, in
ihren Rechten bestärkt, in ihren Traumata
behandelt.
Unter den Teilnehmerinnen finden sich
immer wieder junge Mädchen, die später
selbst einmal Kindern helfen wollen, die
in einer ähnlichen Situation sind wie sie
selbst. «Das sind die wirksamsten Stützen
für uns», erklärt eine Mitarbeiterin. «Denn
niemand weiss besser, was es bedeutet,
ganz auf sich allein gestellt zu sein und
ohne Eltern aufzuwachsen.» Diese jungen
Mädchen aber wissen, wie sehr man sich
nach einer Umarmung, einem tröstenden
Wort, einem Gutenachtkuss sehnen kann.
40 000 Mädchen in Uttar Pradesh haben
das Heft in die Hand genommen
und haben vorwiegend nur ein Ziel: ihre Töchter möglichst früh zu verheiraten. Die von UNICEF Schweiz initiierten Girls Camps (Internate)
erweisen sich als äusserst nachhaltig. Ihr Besuch verhilft Tausenden von Mädchen zu einer eigenständigen Zukunft.
Die Augen strahlen, der Mittelscheitel ist
scharf gezogen, das Haar zu zwei langen
Zöpfen geflochten und von grossen
Schleifen zusammengehalten, die weisse
Bluse bis oben zugeknöpft, darüber eine
blauweiss gestreifte Krawatte gebunden,
unter dem hellblauen Jupes zwei schmale
Beine, die nackten Füsse auf dem Lehmboden. Aufrecht ist die Haltung, der Rü-
cken gestreckt. Mit sichtbarem Stolz hält
dieses Mädchen ein Schulbuch in Händen
– als wäre es ein kostbarer Schatz. An
seinem Gesicht mit dem grossen Lächeln
ist unmissverständlich abzulesen: Ich bin
glücklich, und ich bin auf dem Weg, mein
Leben fest in die Hand zu nehmen.
Wenn Eltern die Schule als nutzlose Zeitverschwendung ansehen
Einige Monate zuvor zählte dieses 12-jährige Mädchen zu den 500 000 Kindern
Uttar Pradeshs, die noch nie eine Schule
von innen gesehen haben. Denn im mit
200 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten und ärmsten Teilstaat Indiens
wird die Schulbildung von Mädchen noch
14
FOTOS: UNICEF/INDA2011-00160/HALLE'N; NYHQ2009-2173/PIETRASIK
In Indien ist die Bildung von Mädchen vielerorts noch kleingeschrieben. Gerade Eltern aus tieferen Kasten erachten die Schule als unnötig
Mädchenbildung in Indien
82 Prozent der
erwachsenen Männer
Indiens können lesen;
bei den Frauen sind es
erst 65 Prozent.
stark vernachlässigt. Gerade Eltern in
ländlichen Gebieten halten wenig davon,
ihre Töchter in die Schule zu schicken.
Zeitverschwendung, Fehlinvestition – so
lauten ihre Hauptargumente. Mädchen
gehören in ihren Augen ins Haus, in den
Garten und vor allem in den Hafen der
Ehe: Knapp 10 Prozent der 10-bis 14-jährigen Mädchen sind in Indien verheiratet.
Und in Uttar Pradesh liegt das durchschnittliche Heiratsalter bei lediglich 17,5
Jahren. Damit erfahren die Biografien
vieler Mädchen früh eine Zäsur; denn die
Heirat setzt nicht nur ihrer Kindheit ein
abruptes Ende, sondern in den meisten
Fällen auch ihrer Schulzeit. Heute können
rund 82 Prozent der erwachsenen Männer
Indiens lesen; bei den Frauen sind es nur
gut 65 Prozent.
Neues Gesetz zum «Recht auf
Bildung»
Auch wenn 18 Prozent der 5- bis 14-jährigen Kinder in Indien heute noch keine
Schule besuchen und ein Drittel der Kinder und Jugendlichen die Schule frühzeitig wieder verlassen, markiert die Regierung immer wieder, dass es ihr Ernst ist
mit der Bildung der rund 450 Millionen
Kinder ihres Landes. So erliess das Parlament im Frühling letzten Jahres das Gesetz zum «Recht auf Bildung», womit Beamte und Behördenvertreterinnen nun
stärker in die Pflicht genommen sind, mit
dafür zu sorgen, dass Kinder im Alter von
6 bis 14 Jahren eine freie Schulbildung erhalten. Auf dem Weg zu Bildungschancen
für alle – vor allem für Mädchen – wurde
das Bildungsministerium von UNICEF
unterstützt. Auch im letzten Jahr konnten
dank der Hilfe von UNICEF Schweiz beispielsweise an 1074 öffentlichen Schulen
Mädchenbildung: So engagiert sich
UNICEF Schweiz
Seit 1997 macht sich UNICEF Schweiz für
die Mädchenbildung in Indiens bevölkerungsreichstem und ärmstem Teilstaat,
Uttar Pradesh, stark, wo vor allem in die
Ausbildung von Lehrpersonen und in
Schulmaterial investiert wird. 2001 begann
das Hilfswerk überdies mit der Einrichtung von Lernzentren für Mädchen aus
den untersten Kasten oder Kastenlose;
diese Kinder waren entweder noch nie in
einer Schule oder haben diese frühzeitig
wieder verlassen. Innert eines Jahres holen
die Mädchen in den internatsähnlichen
Schulen den Stoff der Grundschule auf.
Ausserdem erhalten sie Kurse in Gesundheit, Hygiene und Ernährung. Die Internate, auch Girls Camps genannt, stellen
kostenlos Verpflegung und Unterkunft zur
Verfügung – ein wesentlicher Punkt für die
Eltern, ihre Mädchen überhaupt in die
Schule gehen zu lassen. Von UNICEFs
grossem Engagement konnten bisher
40 000 Kinder profitieren. Gegenwärtig
fliessen die Spendengelder in ein wichtiges
Pilotprojekt: Die Schulzeit in den Girls
Camps soll von einem auf drei Jahre verlängert werden. Erste Evaluationen der
dreijährigen Testphase laufen auf Hochtouren; im Verlauf des nächsten Jahres
Bildungschancen für alle: Alle 450 Millionen
wird entschieden, ob die Verlängerung
Kinder Indiens haben seit kurzem offiziell
zum Standard werden soll.
ein «Recht auf Bildung».
15
Mädchenbildung in Indien
Eine solide Lebensgrundlage: Schulen
und Internate bewahren Mädchen davor,
früh verheiratet zu werden.
In zwölf Monaten fünf verpasste
Schuljahre nachholen
Mit grossem Interesse hat die Regierung
in den letzten zehn Jahren UNICEFs Engagement bei der Einführung eines neuen
Schulsystems mitverfolgt: 2001 hatte das
Hilfswerk die Idee, spezielle Mädcheninternate einzurichten. In Anlehnung an die
Tradition des Landes, mit Kindern während mehrerer Wochen in Camps gemeinsam zu lernen, wurden die Internate
«Girls Camps» genannt oder auch KGBV.
Die vier Buchstaben stehen für Kasturba
Gandhi Balika Vidyalaya und sind eine
Hommage an den grossen Einsatz, den
Gandhis Ehefrau für das indische Bildungswesen geleistet hat.
Aufgenommen werden in den Girls Camps
12- bis 14-jährige Mädchen, die aus Dörfern mit ausgeprägter Armut stammen.
Die meisten haben noch nie eine Schule
von innen gesehen, andere sind wenige
Wochen oder Monate nach ihrer Einschulung zu Hause geblieben – weil sie verheiratet wurden oder weil ihre Eltern
nicht auf zwei weitere helfende Hände
verzichten wollten. Während eines Jahres
wird mit diesen oft sehr wissbegierigen
Mädchen in konzentrierter Form der verpasste Grundschulstoff nachgeholt. Zudem werden sie in Hygiene, Krankenpflege, Familienplanung und einfacher
Knapp zehn Prozent
der 10- bis 14-jährigen
Mädchen sind in
Buchhaltung unterrichtet, um den Boden
für ein eigenständiges Leben zu legen.
Spannendes Pilotprojekt
Die Zahl der KGBVs ist in den letzten
zehn Jahren kontinuierlich gewachsen, und
2010 und 2011 konnten dank UNICEF
Schweiz erneut 292 Einrichtungen ins
Leben gerufen werden. 40 000 Mädchen
haben eines der insgesamt 454 Girls Camps
in Uttar Pradesh besucht. Längst hat die
Indien verheiratet.
16
FOTOS: UNICEF/NYHQ2009-2239/KHEMKA
in sieben besonders bildungsfernen Distrikten in Uttar Pradesh deutliche Verbesserungen erzielt werden.
Grosser Erfolg: Bisher besuchten über
40 000 Mädchen eines der
UNICEF/INDA2010-00095/CROUCH
454 Girls Camps in Uttar Pradesh.
Regierung erkannt, welch wichtige Lücke
die Internatsschulen schliessen, und sich
eingeklinkt: 376 Schulen werden vom
Erziehungsdepartement Uttar Pradeshs
betrieben. Das Bildungsministerium und
UNICEF werden weiterhin Hand in Hand
arbeiten: Ein Grossteil der Spendengelder
von UNICEF Schweiz fliesst gegenwärtig
in ein gemeinsames Pilotprojekt, in dem
eine Verlängerung der Girls Camps von
einem auf drei Jahre evaluiert wird. Das
17
würde den Mädchen eine solidere Lebensgrundlage bieten und einige vor früher
Verheiratung schützen.
Auf spielerische Weise das Interesse
für Bildung wecken
In den zurückliegenden Monaten lag ein
weiterer Fokus von UNICEF Schweiz auf
Sommercamps für Mädchen aus neun
bildungsmässig stark rückständigen Distrikten in Uttar Pradesh, in denen Kinder-
arbeit ein grosses Problem und die Analphabetenrate unter den Erwachsenen auffallend hoch ist. Während der gemeinsamen Wochen wurde bei den Kindern auf
spielerische Weise das Interesse für Bildung
geweckt. Von den 870 Mädchen, die das
Camp besuchten und zuvor mehrheitlich
auf der Strasse lebten, konnten danach 95
Prozent in den Schulprozess integriert
werden: 425 in KGBVs, 395 in regulären
Schulen.
Mädchenbildung in Indien
In Indiens bevölkerungsreichstem
Teilstaat, Uttar Pradesh,
geht über eine halbe
Million Kinder nicht
Zwei Kinder überzeugen ihre Eltern
Im Sommercamp in Rampur fiel der Wille
zweier Mädchen, die zum Nomadenstamm der Banjara gehören, besonders
auf. Obwohl ihre Familien vier Jahre am
selben Ort lebten, besuchten die 12-Jährigen nie eine Schule. Nun konnten Sozialarbeiter ihre Eltern überreden, die Freundinnen ins Camp zu schicken. Die Kinder
hatten sich gefreut, doch die ersten Tage
fielen ihnen schwer: Alles war fremd,
Heimweh plagte sie. Dann aber siegte ihre
Neugierde. Schritt für Schritt begannen
sie, sich an den Aktivitäten zu beteiligen.
Die Eltern kamen die Mädchen nie besu-
chen und die Organisatoren/-innen suchten
vergeblich den Kontakt zu ihnen. Gegen
Ende des Lagers nahmen die Mädchen
das Heft selbst in die Hand: Sie begannen
den Beamten für Mädchenbildung und
Wirksame Sensibilisierung:
künftig auch zur Schule gehen zu dürfen.
Eine Comicfigur erobert die Herzen
Es ist eine Geschichte, die aus dem Leben
von Gross und Klein
Tausender von Menschen gegriffen ist;
1990 erfand UNICEF die Comicfigur Meena,
Meena ist aus Südasien denn auch längst
um zentrale Themen wie die Gleichberech-
nicht mehr wegzudenken und tritt heute
tigung von Buben und Mädchen, Kinder-
auch in Fernseh- und Radioserien oder als
ehen oder den Schutz vor Aids populär zu
Puppen-Show auf. In Uttar Pradesh grün-
machen: Während ihr kleiner Bruder zur
dete UNICEF zudem Mädchenclubs für
Schule gehen darf, muss die 9-jährige
Teenager, sogenannte «Meena Manches».
Meena zu Hause die Hühner füttern. Eines
Unter der Leitung einer ausgebildeten
Tages hat sie eine zündende Idee: Sie
Animatorin wird über Lebensthemen
schickt ihren Papagei in die Schule und
diskutiert oder werden Theaterstücke zu
lässt sich von ihm abends fortan den
relevanten Themen aufgeführt. Überdies
Schulstoff repetieren. So lernt sie, was
steht die Gruppe den Mädchen in schwie-
Zahlen sind, und merkt eines Tages, dass
rigen Situationen zu Hause oder in der
zwei Hühner fehlen. Das ist der Tag, an
Schule bei. In Uttar Pradesh gibt es heute
dem sie ihre Eltern überzeugen kann,
40 000 Meena Manches.
den Vertreterinnen von UNICEF Löcher
in den Bauch zu fragen und sammelten
eifrig die Telefonnummern der Lagerleiterinnen. Nachdem sie realisiert hatten,
dass sie in den Girls Camps neben kostenloser Schulbildung kostenlos verpflegt
würden und gratis Bücher, eine Tasche
und eine Schuluniform bekommen würden,
wurden die beiden ganz aufgeregt.
15 Tage nach Ende des Sommercamps
riefen sie den Beamten für Mädchenbildung an. Sie hatten ihre Eltern überzeugen können, künftig in die Schule gehen
zu dürfen. Und vermutlich wird in Kürze
ein breites Lächeln auf ihren Gesichtern
stehen, wenn sie stolz ihr erstes Schulbuch in Händen halten, die Bluse bis zum
Hals zugeknöpft, darüber die Krawatte
gebunden, die Haare vielleicht zu Zöpfen
geflochten.
18
FOTOS: UNICEF/INDA2003-00507/VITALE
zur Schule.
Wenn die Schule zu den Kindern kommt
Das abgelegene Königreich Bhutan hat Erstaunliches geleistet: 94 Prozent der Kinder gehen heute zur Schule. Schwer zu erreichen sind
aber noch immer Nomadenfamilien, die mit ihren Yaks während Monaten in unwegsamen Gebieten leben. Nun hat sich die Regierung zu
einem von UNICEF Schweiz unterstützten Pilotprojekt entschieden: Neu sollen Lehrer auf den Weg zu Familien geschickt werden, die
UNICEF/BHUTAN
nirgendwo fest zu Hause sind.
Dies ist die Geschichte eines Mädchens,
das eine der abgelegensten Schulen der
Welt besucht. Es ist eine aussergewöhnliche Geschichte, denn sie handelt von
einem Kind aus einer Nomadenfamilie.
Und Nomadenmädchen gehen meistens
nicht zur Schule – aus mehreren Gründen:
weil sie mit ihren Familien und den Tieren
in einsamen Gebieten leben und deshalb
19
mitunter tagelange Fussmärsche auf sich
nehmen müssen; weil das Hüten der Yaks
schon früh zu ihren Aufgaben zählt; und
schliesslich auch, weil sie häufig früh verheiratet und oftmals auch früh schwanger
werden. In Nomadenfamilien erben traditionellerweise die Mädchen Land, Haus
und Tiere. Die Schule gilt deshalb als
Zeitverschwendung.
Harte und lange Schultage
Die 8-jährige Yanka aber besucht seit
einigen Monaten die kleine Primarschule
in Lhedi. Das Dörfchen liegt auf knapp
3700 Metern über Meer in Bhutans äusserstem Nordosten. Da ihre Eltern einen
Tagesmarsch entfernt wohnen, geht Yanka
in Lhedi nicht nur zur Schule, sondern
gehört zu jenen Kindern, die in der Schule
Bildung für Kinder und Kindermönche in Bhutan
1959 gingen in Bhutan
Schule; inzwischen sind
es über 170 000.
leben. Das einstöckige, schmale Gebäude
verfügt aber über keinen Schlafraum;
Abend für Abend werden die Schultische
zur Seite geschoben und dünne Matten
auf dem Boden ausgebreitet. Es sind harte
und lange Schultage in Lhedi, und wenn
um 20.30 Uhr die gelbrot karierten Wolldecken über den Kindern ausgebreitet
werden, sind die Kleinen schnell in den
Mantel des Schlafs gehüllt.
Hand zu nehmen, das Klassenzimmer zu
putzen und andere Alltagsarbeiten im und
ums Schulgebäude zu verrichten. Währenddem wird in der kleinen Küche ein grosser
Topf Reisbrei und Buttertee gekocht.
Nach dem Frühstück preisen die Kinder
draussen im Freien nochmals Jambayang
und singen die bhutanische Nationalhymne. Und wenn die Flagge gehisst ist
und im häufig steifen Wind flattert, kann
der Unterricht beginnen.
Täglich wird der Gott der Weisheit
gepriesen
Meistens ist es noch dunkel und häufig
auch eisig kalt, wenn um Punkt 6.30 Uhr
die kleine Glocke bimmelt. Schnell wickelt
sich Yanka ihre traditionelle knöchellange,
blaue Kira um, huscht nach draussen und
wäscht sich mit kaltem Wasser das Ge-
Statt Yaks zu hüten, lesen und
schreiben lernen
Yanka ist eine Ausnahme. Die meisten
Kinder aus Bhutans Nomadenfamilien
besuchen keine Schule. Yankas Eltern
aber haben beschlossen, ihrer Tochter das
harsche Leben auf mehreren tausend
Metern Höhe, in ewiger Kälte draussen
mit den Tieren, zu ersparen. «Ich gehe
sehr, sehr gerne in die Schule», sagt das
Mädchen mit dem pechschwarzen Haar
und den leuchtend roten Backen. «Zu
Hause müsste ich immer auf die Yaks auf-
sicht. Nach dem Zusammenrollen der
Schlafmatten setzen sich die Kinder im
Schneidersitz auf den Lehmboden zum
Morgengebet. Sie preisen Jambayang, den
Gott der Weisheit, gefolgt von einer kurzen
Meditation. Dann heisst es, den Besen zur
passen.» Nun lächelt sie verlegen und
erklärt, wie anstrengend es sei, die lang
behaarten Tiere zu hüten: «Sie klettern oft
weit in die Höhe, manchmal komme ich
fast nicht hinterher.» Die meisten Kinder,
die Yanka aus ihren ersten acht Lebens-
In der Schule statt mit den Herdentieren
unterwegs: «Ich lerne sehr, sehr gerne»,
sagt das 8-jährige Nomadenmädchen
Yanka.
jahren kennt, haben ein anderes Schicksal.
Dessen ist sich das Mädchen bewusst.
«Wenn ich gross bin, möchte ich Lehrerin
werden; ich möchte möglichst viele
Kinder, die sonst Yaks hüten müssten,
unterrichten.»
20
FOTOS: UNICEF/BHUTAN
erst 440 Kinder zur
Nomadenkinder und Kindermönche:
So engagiert sich UNICEF Schweiz
Vor 50 Jahren besuchten in Bhutan erst
500 Kinder eine Schule, die meisten von
ihnen waren Buben. Bis zu Beginn des
neuen Jahrtausends erhöhte sich die
Alphabetisierungsrate von 10 auf 50 Prozent. 1999 begann UNICEF Schweiz, sich
für Bildungsmassnahmen im abgeschiedenen Himalaya-Staat zu engagieren; in
enger Zusammenarbeit mit der Regierung
wurden Programme initiiert. Die nationale
Bildungsstrategie basiert denn auch längst
auf den mit UNICEF gewonnenen Projekterfahrungen und kann auf grosse Erfolge
zurückblicken: Die Einschulungsrate liegt
heute bei 94 Prozent; über 170 000 Mädchen und Buben besuchen mehr als 650
Schulen. Allein in den letzten beiden Jahren
finanzierte UNICEF Schweiz den Bau von
54 Grundschulen in abgelegenen Gebieten
und versorgte 10 Primarschulen mit fliessend Wasser und sanitären Anlagen. Parallel dazu wurde in die Ausbildung von
Lehrpersonen investiert, unter anderem
Vielfältige Probleme in Bhutans
einsam gelegenen Schulen
Wenn es nach den Plänen des Erziehungsministeriums geht, müssten in Bhutan
längst alle Kinder zur Schule gehen, wenn
Yanka das Erwachsenenalter erreicht hat.
21
Das abgeschiedene Königreich hat in den
vergangenen 50 Jahren im Bildungsbereich enorme Anstrengungen unternommen: Während 1959 erst 440 Kinder
zur Schule gingen, sind es inzwischen
über 170 000 Kinder. Die Einschulungsrate in dem Land mit knapp 700 000 Einwohnern konnte von 53 Prozent im Jahr
1998 auf fast 94 Prozent im Jahr 2010
erhöht werden. Bis Ende 2013 sollen alle
Kinder erreicht sein.
Die Knacknuss liegt bei den letzten wenigen Prozenten, die zu einem Grossteil
aus Kindern aus den abgeschiedensten
Gebieten des Landes und aus Nomadenfamilien bestehen. Zwar hat das Erziehungsministerium allein in den letzten
Jahren über 30 Schulen in schwer zugäng-
in die Weiterbildung von 70 Naturwissenschaftslehrern. Weiter engagierte sich das
Hilfswerk auch intensiv in der Schulung in
Hygienefragen: Inzwischen wissen 20 000
Kinder, dass sie sich regelmässig die
Hände waschen sollten. Damit konnten
auch Haut-, Atemwegs- und Durchfallerkrankungen eingedämmt werden.
lichen Gebieten ins Leben gerufen; diese
sehen sich aber mit vielfältigen Problemen
konfrontiert: Gerade in abgelegenen Regionen sind die Lehrer häufig schlecht ausgebildet, mangelt es an Weiterbildungsangeboten und Austauschmöglichkeiten, die
Klassen sind zu gross, die Klassenräume
übervoll, es fehlt an Lehr- und Lernmate-
Bildung für Kinder und Kindermönche in Bhutan
Heute wissen in Bhutan
Mobile Lehrer für mobile Kinder
Die Regierung hat sich deshalb etwas
Neues einfallen lassen. Sie hat beschlossen,
dass der Schulweg für alle Kinder Bhutans
nicht mehr als eine Stunde betragen darf,
und das bisherige System für Kinder aus
Nomadenfamilien umgedreht: Nicht mehr
die Kleinen sollen lange Fussmärsche auf
Damit Kindermönche gesund aufwachsen
über 20 000 Schulkinder, dass sie sich
regelmässig die Hände
waschen sollten.
sich nehmen müssen, sondern die Lehrer.
Mobile Schulen werden in die abgelegensten Gebiete vordringen – und mit den
Nomaden weiterziehen. «Das ist ein
neues, äusserst interessantes Modell»,
sagt Elsbeth Müller, Geschäftsleiterin
UNICEF Schweiz. «Es bedeutet, dass die
Lehrer den Migrationswegen der Nomaden
folgen und damit sicherstellen, dass die
Kinder keine Schulzeit versäumen und
rund ums Jahr den Lehrplan verfolgen
können.» UNICEF Schweiz wird dieses
Pilotprojekt in den kommenden zwei
Jahren finanziell massgeblich unterstützen.
«Es ist dringend notwendig, die Schulsituation attraktiver zu machen», sagt
merklich verbessert: Die Kleinen, die oft
und eine Perspektive haben
bereits im Alter von fünf Jahren in die
Lange hatte der 14-jährige Mangay Dorji
Klöster geschickt werden, leiden häufig
Angst, wenn er nachts auf die Toilette
unter Haut-, Atemwegserkrankungen und
musste. In seinem «Zuhause», dem Kloster
Durchfall. Barfuss und in dünne Stoffge-
Neyzergang im Westen Bhutans, sucht man
wänder gehüllt sitzen sie oft stundenlang
vergebens nach einer Heizung, und wie
auf den kühlen Lehmböden und lernen mit
die meisten Klöster verfügt auch dieses
wippendem Oberkörper Gebete auswen-
weder über fliessend Wasser noch über
dig. In den letzten Jahren baute UNICEF
sanitäre Einrichtungen. Deshalb mied
eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit
Mangay Dorji den Weg zum Plumpsklo
den Klosterschulen auf. Neben Schritten
ausserhalb der Klostermauern wenn immer
für ein gesundes Aufwachsen engagiert
möglich: «Es war stockdunkel, kalt und
sich das Kinderhilfswerk erfolgreich dafür,
roch entsetzlich.» Mit Hilfe von UNICEF
dass die Kindermönche auch eine säkulare
Schweiz wurden Wasserleitungen gelegt
Bildung erhalten, um später frei wählen zu
und Toiletten gebaut. Damit hat sich der
können, wohin es sie beruflich zieht.
Elsbeth Müller. «Bhutans Kinder sollten
unbedingt Dinge lernen, die in ihrem
Leben wirkliche Relevanz haben und ihr
Interesse wecken.»
Yanka ist der lebendige Beweis, wie interessiert Kinder aus Nomadenfamilien sind.
«Ich bin stolz, dass ich in die Schule gehen
darf», sagt das kleine Mädchen mit durchgestrecktem Rücken. «Wenn ich meine
Eltern das nächste Mal sehe, weiss ich gar
nicht, wie ich ihnen erzählen kann, was
ich alles schon gelernt habe. Es ist so
viel!»
FOTOS: UNICEF/BHUTAN
rial, an fliessend Wasser, sanitären Einrichtungen, die Infrastruktur insgesamt ist
häufig ungenügend. Das Beheben dieser
Zustände ist aufwendig, sind die Bau- und
Renovationskosten in abgelegenen Gegenden doch um ein Vielfaches teurer als
in urbanen Gegenden. Zum Vergleich:
Während ein 50 Kilogramm schwerer
Sack Zement in den Städten Bhutans
etwa 5 Franken kostet, kostet die gleiche
Menge im Gebiet Lunana, wo auch Yankas
Schule liegt, 40 Franken. Und Arbeitskräfte verlangen das Fünffache an Lohn,
um sich überhaupt in abgeschiedene
Regionen bitten zu lassen.
Gesundheitszustand der Kindermönche
22
«Für uns Strassenkinder wird dann
der Krieg ausbrechen»
In Brasilien stehen zwei Grossanlässe an: 2014 die Fussballweltmeisterschaft und 2016 die Olympischen Spiele. Wie die Erfahrung zeigt,
werden Kinder im Zuge von Megaevents vermehrt missbraucht und ausgebeutet. UNICEF Schweiz unterstützt Programme, die bereits im
INTERNATIONAL LABOUR ORGANIZATION/CHUNXIU L.
Vorfeld ein dichtes Netz an Kinderschutzmassnahmen weben, und initiiert Kampagnen, die auch über die Anlässe hinaus nachhaltig wirken.
Er heisst Rogério. Er ist inzwischen ein
Teenager. Und er hat die grausamsten
Seiten einer Kindheit in Brasilien erlebt.
An seinen Vater kann sich Rogério nicht
erinnern, und auch wann und wie seine
Mutter gestorben ist, weiss der heute 15Jährige nicht genau. «Irgendwann war sie
einfach nicht mehr da.» Fortan lebte er
auf den Strassen Rio de Janeiros und ver-
23
brachte seine Tage damit, an Geld und damit an Kokain zu kommen. «Das Sniffen
half mir, das Schwierige zu vergessen.»
Sein 13. Geburtstag ist ihm aber unauslöschlich in Erinnerung geblieben. Just an
diesem Tag fasste ihn die Polizei und
steckte ihn in eine berüchtigte Erziehungsanstalt für junge Straftäter. Einige Wochen
später gelang ihm die Flucht. Rogério
kehrte dorthin zurück, woher er kam: auf
die Strasse. Seither hält er sich mit Betteln
über Wasser und ist auf der steten Flucht
vor der Polizei.
Es ist ein rastloses, gehetztes Leben. «Die
Polizei kann jederzeit auftauchen und mich
töten», sagt der Bursche mit den noch
kindlichen Gesichtszügen. «Wir Strassenkinder können unsere Augen nie richtig
Strassenkinder in Brasilien
Zwei Millionen der 10bis 15-jährigen Kinder
Brasiliens gehen einem
Broterwerb nach.
schliessen.» Über seine Zukunft macht
sich Rogério wenig Gedanken, im Zentrum steht das blanke Überleben: in den
Abfallcontainern von Restaurants nach
Essensresten suchen und einen sicheren
Schlafplatz finden. Er hat nie eine Schule
besucht, kann weder lesen noch schreiben. Ab und an träumt Rogério davon,
Fussballer zu werden. Und als er von der
Weltmeisterschaft in zwei Jahren erzählt,
hellen sich seine ernsten Züge erstmals
kurz auf. Ein Teil in ihm freut sich auf den
bevorstehenden Ausnahmezustand. Ein anderer Teil hegt Befürchtungen: «Für mein
Land ist das ein tolles Fest», sagt er, «für
uns Strassenkinder wird der Krieg ausbrechen. Es wird dann viel Kokain umgesetzt
und Geld gemacht. Für Kinder, die es nicht
bringen, gibt es wenig Verständnis.»
Körper und Seelen vergewaltigen
Kinder, «die es bringen» – auf sie werfen
Menschen, die es nicht gut mit ihnen meinen, gerade im Zuge von Grossanlässen
ein Auge; etwa Drogenhändler oder Zuhälter. Sie scheuen nicht davor zurück,
Kinder als Prostituierte auszubeuten; sie
nutzen ihre flinken Beine und kleinen
Hände zum Transport von Drogen; sie
vergewaltigen Kinderseelen und junge
Körper in jeder Hinsicht. Gerade Strassenkinder sind dafür besonders anfällig, weil
ihnen der Schutz der Eltern, der Familie,
der Gemeinschaft fehlt. Und fatalerweise
sprechen gerade sie besonders gut auf
Anfragen und Bitten Erwachsener an – oft
im vermeintlichen Glauben, damit Anerkennung und Sicherheit zu gewinnen.
Erschwerte Kindheiten
Die 60 Millionen Kinder und Jugendlichen Brasiliens sind mit vielfältigen Problemen konfrontiert: Obwohl das Land
beispielsweise seit langem die allgemeine
Schulpflicht kennt, schliessen nur 88 Prozent die Primarschule ab. Ein Grossteil
jener, die nicht mehr zur Schule gehen,
arbeitet: 2 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 15 Jahren gehen
einem Broterwerb nach – das entspricht in
dieser Altersgruppe 10 Prozent. Obwohl
die Regierung Kinderarbeit seit 1988
strikte verbietet, zeigt eine Studie, dass
die Arbeitszeit der 10- bis 13-Jährigen
durchschnittlich 22 Stunden pro Woche
beträgt.
Ein Land der Extreme
Probleme wie diese sind in Brasilien verbreitet. Das Land schwankt zwischen
Extremen: Im Jahr 2010 lag das Bruttoinlandprodukt bei 1970 Milliarden USDollar, wodurch das bevölkerungsreichste
Land Südamerikas zur achtgrössten
Wirtschaftsmacht der Welt wurde. Doch
Reichtum und Armut liegen in Brasilien
dicht nebeneinander, und nirgends zeigen
sich diese Gegensätze schonungsloser als
in den Armenvierteln und Wellblechsiedlungen seiner Metropolen, deren Bild
Gefahr des sozialen Vakuums
Diese Tatsachen haben UNICEF veranlasst, sich bereits im Vorfeld der anstehenden Sport-Grossanlässe intensiv für
eine Verstärkung der Kinderschutzmassnahmen zu engagieren. Das brasilianische
Tourismusministerium rechnet mit rund
600 000 Touristen, die das Land während
der 30 Tage des Weltcups 2014 besuchen
werden. In den Fanzonen und auf den
Festgeländen der 12 Gaststädte wird dann
gefiebert und ausgelassen getanzt, der
Alkohol wird fliessen, das Sex- und Drogengeschäft laufen. Mit finanzieller Unter-
24
FOTOS: UNICEF/NYHQ1992-0529/MAGNONI; © VIVIANE MOOS/CORBIS; UNICEF/NYHQ2001-0435/VERSIANI
häufig von Strassenkindern geprägt ist.
Ihre Anzahl kann nur geschätzt werden.
Die meisten Erhebungen gehen von 15 000
bis 100 000 aus; einzelne Quellen nennen
auch Zahlen in Höhe von bis zu sieben
Millionen Kindern und Jugendlichen. Ihr
Leben ist schutzlos, rau, hart, unsicher,
geprägt von Gewalt und Grausamkeiten:
Durchschnittlich verlieren in Brasilien
jeden Tag 44 Kinder und Jugendliche im
Alter von 10 bis 19 Jahren ihr Leben.
Strassenkinder: So engagiert sich
UNICEF Schweiz
Seit 20 Jahren setzt sich UNICEF in Brasilien
mit vielfältigen Programmen für die Reduktion von Kinderarbeit sowie die Verbesserung der Situation der Strassenkinder ein. Schätzungen gehen davon aus,
dass zwei Millionen der 10- bis 15-jährigen
Kinder und Jugendlichen in Brasilien arbeiten. Und täglich verlieren durchschnittlich
44 10- bis 19-jährige Kinder und Jugendliche ihr Leben durch Gewalt. Das Hilfswerk finanziert Programme langjähriger
lokaler Partnerorganisationen und unterstützt Regierungsorgane – etwa das Jugendministerium oder den Nationalen
Beirat der Jugend – mit Fachwissen.
UNICEF Schweiz konzentriert sich zurzeit
auf zwei spezielle Programme: Beim einen
steht die Verbesserung der sozialen Bedingungen und der Gesundheitssituation
der Strassenkinder in den Metropolen
von Rio de Janeiro, Saõ Paulo, Recife und
Salvador im Zentrum; sie werden vor allem
mit Sport- und kulturellen Angeboten unterstützt. Das andere Programm widmet
sich im Vorfeld der in Brasilien stattfinDamit kleine Körper und Seelen nicht
denden Fussballweltmeisterschaften und
missbraucht werden: Gerade im Zuge
der Olympischen Spiele verstärkt dem
von Grossanlässen wie der Fussballwelt-
Schutz der Kinder und Jugendlichen vor
meisterschaft benötigen Kinder
im Rahmen solcher Grossanlässe ver-
besonderen Schutz, um nicht ausge-
stärkt auftretender Ausbeutung.
beutet zu werden.
25
Strassenkinder in Brasilien
stützung von UNICEF Schweiz setzt sich
das Kinderhilfswerk dafür ein, dass die
Strassenkinder in der Zeit des nationalen
Ausnahmezustandes nicht in ein soziales
Vakuum geraten. Das Hauptaugenmerk
liegt auf breiter Netzwerkarbeit: Entscheidungsträger/-innen aus Justiz-, Bildungsund Gesundheitswesen wurden bereits in
den vergangenen Monaten mit Vertretern/
-innen aus dem Gesundheitswesen, dem
Polizeiapparat und der Tourismusbranche
zusammengebracht, um gemeinsam verbesserte Kinderschutz-Massnahmen zu
definieren. Über 500 Tourismus- und Verkehrsverantwortliche sind bereits speziell
ausgebildet und damit beauftragt worden,
Präventionsmassnahmen gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern auszuarbeiten.
Junge Stimmen werden laut
Regelmässig nutzt UNICEF öffentliche
Diskussionsforen auf lokaler wie nationaler Ebene, ruft zum Dialog und zur Zu-
Ein Fest für alle: Damit die anstehenden
Mega-Events auch für die Strassenkinder zu einem Vergnügen werden, sind
intensive Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen notwendig.
26
Tag für Tag verlieren
sammenarbeit auf und präsentiert Ideen
zur Stärkung der Kinderrechte. Im April
des letzten Jahres organisierte UNICEF
Brasilien beispielsweise zusammen mit
dem nationalen Menschenrechtssekretariat, dem Sportministerium und mit Nichtregierungsorganisationen in Rio de Janeiro
einen grossen Anlass unter dem Titel
in Brasilien 44 Kinder
und Jugendliche ihr
Leben.
«The Right to Safe and Inclusive Sports».
An der Tagung äusserten sich unter anderen
200 Jugendliche aus unterschiedlichen
Quartieren Rios über die grössten Chancen
und Gefahren der anstehenden Sportevents.
Kurze Videobotschaften halten ihre zentralen Aussagen fest und sind bereits breit
verteilt worden; überdies wurde ein Blog
eingerichtet, auf dem die Schlüsselinformationen abzurufen sind und der zur Diskussion einlädt.
Damit alle mitfeiern können
Mit weiteren niederschwelligen Aktionen,
mit Informationsmaterial, Aufklärungsund Sensibilisierungskampagnen sowie
mit zusätzlichen Drop-in Centern, wie sie
auch Rogério immer wieder aufsucht, engagiert sich UNICEF für den Schutz der
Jüngsten des Landes. Hunderte von Jugendund Sozialarbeitern werden in den kommenden Jahren zusätzlich ausgebildet, um
mit dafür zu sorgen, dass für die Strassenkinder nicht der Krieg ausbrechen wird,
wenn der Rest des Landes feiert. Die
Grossanlässe 2014 und 2016 sollen zu
einem Fest für alle werden und nicht für
manche zu Zeiten verstärkter Albträume.
Aktion «Rote Karte»: Brasilien kann von
um die Uhr im Einsatz. Im Oktober 2010
den Erfahrungen Südafrikas lernen
organisierte das Tourismusministerium
Wie wichtig der Kinderschutz im Rahmen
Brasiliens ein Seminar zum Thema «Ein
von Grossanlässen ist, zeigt die Fussball-
Goal für die Kinderrechte», zu dem vor al-
weltmeisterschaft 2010 in Südafrika. Drei
lem Regierungsvertreter und die Medien
Millionen Zuschauer und eine halbe Million
eingeladen waren. Während zweier Tage
Besucher aus dem Ausland verfolgten die
wurden die in Südafrika gemachten Er-
Spiele vor Ort. Die Gefahren fasste Süd-
fahrungen diskutiert.
afrikas Präsident Jacob Zuma mit den
Worten zusammen: «Ein Anlass dieser
Grösse bietet Kriminellen leider Möglichkeit, mit Kindern zu handeln.» Drei Jahre vor
Austragung der Spiele begann UNICEF,
sich in Zusammenarbeit mit der südafrikanischen Regierung für entsprechende
nahmen zu engagieren. Unter dem Titel
«Zeig sexueller Ausbeutung die rote Karte»
wurde die Öffentlichkeit mittels Postern,
Flyern und über soziale Netzwerke auf die
Rechtslage im Kinderschutz aufmerksam
gemacht. Und über 1000 von UNICEF ausgebildete Kinderschutzfachleute waren in
den Fanzonen von Sandton, Soweto, Port
Elisabeth und Nelspruit teilweise rund
27
FOTOS: PÉ NO CHÃO, RECIFE-BRASIL; UNICEF/SÜDAFRIKA
Sensibilisierungs- und Aufklärungsmass-
Die Projektpatenschaften in Kürze
Mit einem monatlichen Beitrag von 30 Franken
und mehr unterstützen Sie ein ganz bestimmtes Projekt, das die Lebensaussichten
von Kindern dauerhaft verbessert, ohne
dass einzelne Kinder privilegiert werden. Sie
schaffen Strukturen, die eine nachhaltige
Entwicklung ermöglichen. Und Sie beteiligen
sich an einem Projektkonzept, das die Probleme in ihrer ganzen Komplexität angeht.
UNICEF Schweiz finanziert derzeit Projekte in
neun Ländern. Wählen Sie Ihr Projekt und
unterstützen Sie Dienstleistungen zum Wohle
Autorität, Wissen, Erfahrung
für Kinder. Weltweit.
des Kindes dieser und der nachfolgenden
Generation. Über den Fortgang Ihres Projekts
werden Sie regelmässig informiert.
Komplexe Probleme erfordern vielschichtige Lösungen. Als Kinderhilfswerk
der Vereinten Nationen besitzt UNICEF die Autorität, gemeinsam mit Regie-
wirken. Lösungen auch, die darin münden, dass der Staat übernimmt, was Sie
Ohne Daten kein Fortschritt. Daten zu erheben, ist wenig attraktiv. Dennoch
muss diese Arbeit gemacht werden. UNICEF verfügt als einziges Kinderhilfswerk
über detailliertes Spezialwissen, das täglich gebraucht wird, um Kindern in aller
Welt effizient, kostengünstig und nachhaltig zu helfen. Ein Wissen übrigens, an
dem UNICEF unzählige Hilfsorganisationen weltweit teilhaben lässt.
Spendengeld ist kostbar, denn mit jeder Spende verbindet sich eine Hoffnung.
UNICEF ist sich dessen bewusst und geht entsprechend sorgfältig mit Spendengeld um. Dabei ist es hilfreich, dass UNICEF 60 Jahre Erfahrung hat. Mit einer
Spende an UNICEF finanzieren Sie zugunsten von Kindern in Not Unter stützungsleistungen, die erprobt sind und funktionieren.
fied Syste
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34
IS O
85
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Ce
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etwas Bleibendes schaffen und UNICEF
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Karten oder Geschenke kaufen
oder sich mit einer Idee an uns wenden,
um Kindern wirksam zu helfen.
Rufen Sie uns an. Telefon 044 317 22 66
Schweizerisches Komitee für UNICEF
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Gedruckt auf umweltschonendem Papier / FOTO: UNICEF/RWAA2011-00154/NOORANI / K l e i b e r
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als Spender/-in begonnen haben.
C D / 100112
rungen Lösungen zu initiieren, die der Not von Kindern nachhaltig entgegen-