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Projektpatenschaften von UNICEF Schweiz «Kinder vergessen nicht. Nie. Manche sind für immer von seelischen und körperlichen Nöten gezeichnet. Lassen Sie uns gemeinsam eine nachhaltig bessere Welt für betroffene Buben und Mädchen schaffen.» Elsbeth Müller, Geschäftsleiterin Projektpatenschaften Mädchenbeschneidung, Ruanda, Indien, Bhutan, Brasilien Liebe UNICEF Freunde Menschen, die nachhaltig helfen, sind für jede Organisation ein grosses Glück. Denn die Spende ermöglicht einen kontinuierlichen Fortgang der Projekte auf der Basis planbarer finanzieller Grössen. Darüber hinaus schafft sie konkrete Resultate. Diese brauchen manchmal etwas Zeit. Sie sind jedoch umso stärker verankert. Denn unsere Programme zugunsten von Kindern werden vor Ort gemeinsam mit den Dorfgemeinschaften entwickelt und sind von den Staaten mitgetragen. Dieser Prozess muss immer wieder ausgehandelt werden. Und hier weite Autorität, das Wissen und die Kraft, alle Akteure einzubinden und von allen den bestmöglichen Beitrag einzufordern. Darauf dürfen Sie als Projektpate/-in vertrauen. Was wir erreicht haben und was wir erreichen möchten, darüber berichten wir auf den kommenden Seiten. Es ist ein Bekenntnis zu den Kindern. Sie finden eine Auslegeordnung der Probleme mit nachhaltigen Lösungsstra- FOTOS: TITEL UNICEF/INDA2010-00635/PIROZZI; NYHQ1992-0536/MAGNONI kommt unsere Stärke zum Tragen: UNICEF hat die welt- tegien. Beteiligen Sie sich an unserer Arbeit und an unserem Engagement mit Ihrer dauerhaften Spende – der Projektpatenschaft. Sie bauen damit an einer besseren Welt für die betroffenen Buben und Mädchen. In ihrem Ägypten Bhutan Mauretanien Namen danke ich Ihnen herzlich für Ihre Hilfe. Gambia Guinea-Bissau Ihre Eritrea Jemen Indien Burkina Faso Somalia Brasilien Ruanda Bolivien Elsbeth Müller, Geschäftsleiterin 2 Grundsätzliches Umdenken als Ziel: Seit über zehn Jahren engagiert sich UNICEF Schweiz konsequent und intensiv für ein Verbot der Genitalverstümmelung. Mädchenbeschneidung Nomadenkinder Verletzte Körper und Seelen: Rund um die Welt wird Mobile Schulen: In Bhutan reisen Lehrer neuerdings alle zehn Sekunden ein Mädchen beschnitten. zu den Kindern von Nomadenfamilien. Aids-Waisen Strassenkinder Viel zu klein bereits erwachsen: In Ruanda leben Kinderarbeit und Ausbeutung verhindern: Tausende von Waisenkindern allein in Kinderhaus- In Brasilien sorgen wichtige Massnahmen für halten. zunehmend besseren Kinderschutz. Mädchenbildung Für eine eigenständige Zukunft: In Indien bewahrt der Schulunterricht Mädchen vor früher Verheiratung. 3 Das Unwissen ihrer Mutter kostete die fünfjährige Khaddy das Leben Genitalverstümmelungen sind meistens mit lebenslangen Schmerzen verbunden, und an den Folgen sterben noch immer viele Frauen und Mädchen; so etwa die fünfjährige Khaddy aus Gambia. UNICEF Schweiz setzt sich konsequent für ein Umdenken der Bevölkerung ein – mit Es ist eine traurige Geschichte; es ist eine Geschichte, die sich tausendfach wiederholt; und es ist eine Geschichte, die vermeidbar gewesen wäre. «Khaddy könnte heute noch am Leben sein», sagt Matou Jawara. Was für die 37-jährige Frau aus dem kleinen Dorf Bakadaji in der Upper River Region Gambias inzwischen klar ist, lag vor kurzem noch im Ungewissen. Traurigerweise kostete dieses Nichtwissen das Leben ihrer Tochter Khaddy. Qualvolle Tage zwischen Leben und Tod In Matous eigener Kindheit war es fraglos, dass sie beschnitten werden sollte. Ebenso bestanden für die mehrfache Mutter zwanzig Jahre später keine Zweifel, ihre eigenen Mädchen auch beschneiden zu lassen. So wurde vor wenigen Monaten auch ihr Jüngstes, die fünfjährige Khaddy, den Messern der dörflichen Beschneiderin ausgesetzt. Mit gravierenden Folgen: Die Blutungen des kleinen Mädchens liessen sich nicht stillen, und bald traten die ersten bösen Infektionen auf. In ihrer Verzweiflung rief Matou nach einem Medizin- 4 FOTOS: UNICEF/NYHQ2009-1475/HOLT Erfolg: Das neue Gedankengut wird wie Samen weitergetragen und die Anzahl der Beschneidungen nimmt markant ab. Weltweit sind die Genitalien von rund 130 Millionen Mädchen und Frauen verstümmelt. mann. Er braute einen Heilungstrank, den Khaddy zweimal täglich trinken musste. Es vergingen weitere vier Tage zwischen Leben und Tod; im Dorf kursierte nun das Gerücht, eine Hexe habe Khaddy im Visier und sauge das Leben aus dem kleinen Körper. Unverzüglich rief Matous Grossfamilie nach weiteren Medizinmännern und Geistheilern. Es sollte vergebens sein: Knapp eine Woche nach der Beschneidung starb Khaddy in den Armen ihrer Mutter. UNICEF/NYHQ2009-0839/PARKER Beschnitten wird mit allem, was scharf ist Weltweit sind die Genitalien von rund 130 Millionen Mädchen und Frauen verstümmelt; jedes Jahr trifft es weitere drei Millionen: Alle zehn Sekunden wird ein Mädchen beschnitten. Das bedeutet, dass die Vorhaut ihrer Klitoris eingestochen, geritzt oder weggeschnitten wird oder ihre grossen und kleinen Schamlippen ganz oder teilweise entfernt werden – mit 5 Messern, Rasierklingen, Scherben und anderen scharfen, häufig unreinen Gegenständen und ohne Anästhesie. Die Schmerzen an einem der sensibelsten Stellen des Körpers mit der höchsten Konzentration an Nerven sind unermesslich. Ausgeführt werden die fürs Leben prägenden Schnitte häufig bei Mädchen unter fünf Jahren. Wie Khaddys Beispiel zeigt, überleben viele nicht – immer wieder sterben kleine Mädchen in den Folgetagen. Sie verbluten oder bekommen Infektionen, denen die kleinen Körper nicht standhalten können. Die meisten Beschnittenen haben ein Leben lang mit gravierenden Folgen zu kämpfen: mit Entzündungen, Wucherungen, Zysten, Blutungen, Blasen- und Niereninfekten, Inkontinenz, starken Schmerzen beim Geschlechtsverkehr – sofern dieser überhaupt möglich ist. Schwangerschaft und Geburt sind für beschnittene Frauen mit grossen Gefahren und einem erhöhten Sterberisiko verbunden: für die Mutter wie für das Kind. sind. Mit einer Beschneidung scheint der soziale Status der Familie garantiert. Unbeschnittene Mädchen werden an den Rand der Gemeinschaft gedrängt, können nicht verheiratet werden, bringen ihre Familien in Verruf. Mädchenbeschneidung: So engagiert sich UNICEF Schweiz Seit über zehn Jahren setzt sich UNICEF Schweiz intensiv für ein Verbot der Mädchenbeschneidung ein. Eingebunden ist die gesamte Gesellschaft: Ziel ist ein grundsätzliches Umdenken. Neben Gambia finanziert UNICEF Projekte in folgenden Ländern: Ägypten: hier wurde 2010 beispielsweise ein Kinderschutzprogramm ge startet, das bis Ende 2011 10 000 Familien erreichte. Burkina Faso: Die UNICEF Projekte zeigten eindrückliche Erfolge: Während zwischen 1997 und 2007 73 Prozent der 15bis 49-jährigen Frauen beschnitten waren, ist in der Generation ihrer Töchter noch Religiöse Motive als Rechtfertigung Mädchenbeschneidung ist in vielen Regionen der Welt eine soziale Norm; oft gelten überdies religiöse Motive als Rechtfertigung. Dabei ist weder in der Thora noch im Koran oder der Bibel eine Passage zu finden, die die Beschneidung von Frauen und Mädchen verlangt. Die ersten Hinweise liegen weiter zurück und datieren aus der Zeit vor der Entstehung dieser grossen Religionen. Auffallend aber ist: je geringer der Bildungsgrad, umso höher das Vorkommen weiblicher Genitalverstümmelung. Und gerade in den ärmsten Ländern der Welt mit den geringsten Erwerbsmöglichkeiten gehen Eltern davon aus, ihre Töchter nur verheiraten zu können, wenn sie beschnitten jedes vierte Mädchen betroffen. Guinea-Bissau: In 39 Dörfern finden Aufklärungs- und Sensibilisierungsprogramme statt; bisher konnten 14 000 Menschen erreicht werden. Jemen: In 11 Distrikten laufen Sensibilisierungsprogramme wie etwa Radiosendungen. Mauretanien: 78 Dörfer haben der Praktik abgeschworen: 130 000 Menschen haben sich öffentlich gegen Mädchenbeschneidung und/oder frühe Ehen ausgesprochen. Somalia: Heute existieren knapp 250 Kinderschutzkomitees; 42 Dorfgemeinschaften haben öffentlich erklärt, auf Mädchenbeschneidung zu verzichten. Mädchenbeschneidung Öffentliche Deklarationen: ein äusserst wirksames Mittel zur Sensibilisierung. Weisungen und verurteilen nicht, im Gegenteil: Sie stärken die Dorfbevölkerung. Ausgangspunkt ist der jeweilige Wissensund Erfahrungsstand, von dem aus auf umfassende Weise informiert und sorgsam sensibilisiert wird. Immer wieder werden auch Informationswege genutzt, die in Afrika besonders gut greifen: etwa Theaterstücke oder Radioprogramme. Immer mehr Frauen lehnen die Beschneidung ihrer Töchter inzwischen ab Gegenwärtig finanziert UNICEF Schweiz Projekte in 80 Dörfern in der Upper River Region. 80 000 Menschen konnten bisher erreicht werden; das entspricht 43 Prozent der Bevölkerung der Upper River Region. Welchen Erfolg diese Sensibilisierungsprogramme hatten, zeigt die vorhin erwähnte UNICEF Erhebung aus dem letzten Jahr eindrücklich: Von der Gruppe der 15- bis 49-jährigen Frauen, die zu 99 Prozent beschnitten sind, würden heute nur noch 71 Prozent ihre eigenen Töchter beschneiden lassen. Unter ihnen ist auch Matou. Sie schüttelt den Kopf, um den kunstvoll ein buntes Tuch gebunden ist, und sagt: «Seit ich in Kontakt mit dem UNICEF Projekt bin, ist mir einiges klar geworden.» Viele Kinder ihres Heimatdorfes seien nach der Beschneidung gestorben; und viele Frauen hätten während der Geburt an so grossem Blutverlust gelitten, dass sie nicht über- 6 FOTOS: UNICEF/NYHQ2009-0838/PARKER; SOMALIA/D. SHEPHERD-JOHNSON In der Upper River Region Gambias sind 99 Prozent der 15- bis 49-jährigen Frauen beschnitten Das höchste Vorkommen an Beschneidungen ist im westlichen bis nordöstlichen Afrika auszumachen – in etlichen Gebieten sind 90 Prozent der Frauen betroffen. In der Upper River Region in Gambia sind es gar 99 Prozent der 15- bis 49-Jährigen – das zeigt eine aktuelle, von UNICEF durchgeführte Erhebung aus dem Jahr 2010. In diesem stark betroffenen Gebiet engagiert sich UNICEF Schweiz seit vier Jahren besonders intensiv; in Zusammenarbeit mit der Non-ProfitOrganisation Tostan verfolgt das Kinderhilfswerk einen ganzheitlichen Ansatz: Das Thema Beschneidung soll von allen Seiten aus betrachtet werden – von der Seite der Menschenrechte, der menschlichen Würde, der Hygiene, der Gesundheit, der Diskriminierung. Die «Community Empowerment»-Projekte enthalten keine Wichtige Multiplikatoren: Niemand eignet sich für Aufklärungskampagnen besser als Frauen, welche die Qualen UNICEF/NYHQ2010-1833/NOORANI einer Beschneidung selbst erlebt haben. lebten. «Heute weiss ich, dass die Beschneidungen zu manchem dieser Tode führten.» Nun schliesst sie kurz ihre dunklen Augen: «Könnte ich das Rad der Zeit zurückzudrehen, wäre keines meiner Mädchen beschnitten worden – zuallerletzt Khaddy.» Wirksame öffentliche Erklärungen UNICEF Schweiz setzt sich dafür ein, solche Schicksale abzuwenden, und macht sich für ein Umdenken in der Bevölke- 7 rung stark. Denn in Ländern wie Gambia ist die Beschneidung von Mädchen eine stark verankerte soziale Norm. Der Grossteil der Bevölkerung geht davon aus, dass nur eine beschnittene Frau verheiratet werden kann; unbeschnittene werden von der Gemeinschaft ausgeschlossen, bleiben ehelos, schutzlos, verarmen; Familien unbeschnittener Mädchen und Frauen riskieren den Verlust ihrer Ehre. Ganzheitliche Projekte, wie jene von UNICEF und ihren Partnerorganisationen, helfen, solche Regeln und sozialen Normen zu durchbrechen. Auf diesem Weg sind öffentliche Erklärungen ein gut funktionierendes Mittel. Im Rahmen der sogenannten «Community Empowerment»-Projekte wird das Gespräch mit den Entscheidungsträgern/-innen und Dorfältesten von Gemeinden mit hohem Aufkommen von Mädchenbeschneidung gesucht. Fällt die Entscheidung, sich gemeinsam an der Dorfentwicklung zu beteiligen, ist der zweite Schritt schnell getan. Informationen Mädchenbeschneidung Jahr für Jahr werden rund um die Welt beschnitten. über Hygiene, Beobachtung der Entwicklung und des Vorkommens von Mütterund Kindersterblichkeit, Konsequenzen der Zwangsehe für das minderjährige Mädchen und Mädchenbeschneidung rücken ins Zentrum der Gespräche. Alphabetisierungsprogramme und Diskurszirkel schaffen das nötige Selbstvertrauen, sich öffentlich zu verschiedenen Fragen zu äussern und Lösungen zu suchen. Am Schluss der Kette organisieren schliesslich die Dörfer gemeinsame Veranstaltungen, an denen die gesamte Gemeinde bereit ist, sich in einer öffentlichen Erklärung gegen Beschneidung und frühe Ehen auszusprechen. Der Samen wird weitergetragen Mitte Januar 2011 organisierten in der Upper River Region beispielsweise 27 Gemeinden einen gemeinsamen Aktionstag mit öffentlichen Deklarationen. Es war ein positiver und auch fröhlicher Anlass, an dem nicht nur über Problematisches diskutiert wurde, sondern auch die Gesundheit der Menschen und ihre Rechte gefeiert wurden. Eine der hauptverantwortlichen Organisatorinnen sagte im Anschluss, sich bis vor wenigen Monaten nie und nimmer getraut zu haben, vor so vielen Menschen so klar ihre Haltung auszudrücken. Heute ist sie glücklich, mithelfen zu können, dass der Funke weiterspringt. Denn solche Anlässe lösen Nachahmungsprojekte aus. Welche Kreise solche Aktionstage nach sich ziehen können, zeigt das Projekt der UNICEF Partnerorganisation Tostan in Gambias Bedeutender Schritt in Mauretanien: Genitalverstümmelung und setzten ihre eine Fatwa gegen Namen unter das Schriftstück. Dies ist des- Mädchenbeschneidung halb von grosser Bedeutung, weil Genital- Über 72 Prozent der Frauen in Mauretanien verstümmelung keine religiöse Praxis ist, sind beschnitten. Untersuchungen von oft aber mit religiösen Argumenten ge- UNICEF aus dem Jahr 2010 zeigen, dass rechtfertigt wird. Die Signalwirkung der die Praxis stark im Sinken begriffen ist: Fatwa, die sich auf Meinungen führender 73 Prozent der befragten Frauen in vier Soziologen und Ärzte beruft, ist gross; Regionen mit ehemals hohem Vorkommen ihre volle Wirkung kann sie aber erst dann haben ihre unter fünfjährigen Mädchen entfalten, wenn sie von Kampagnen be- nicht beschneiden lassen, und knapp 84 gleitet wird, die ihre Inhalte und Hinter- Prozent gaben an, dies auch später nicht gründe beleuchten. Im Dezember 2011 zu tun. setzte UNICEF in Mauretanien deshalb eine Ein wesentlicher Schritt ist Anfang 2011 Arbeitsgruppe ein mit dem Ziel, den Inhalt geschehen: Mitte Januar zogen sich 34 der Fatwa im ganzen Land zu verbreiten. angesehene Imame während einiger Tage UNICEF Schweiz unterstützt die Projekte zurück, erarbeiteten eine Fatwa gegen in Mauretanien seit vier Jahren. Nachbarstaat Senegal: Hier haben sich inzwischen über 3000 Gemeinden öffentlich gegen Beschneidung ausgesprochen. Ist der Same einmal gesät, können soziale Normen innerhalb einer Generation überwunden werden. Doch es braucht Menschen, die sich unermüdlich dafür einsetzen. Wirksamste Multiplikatoren sind jene, die selbst betroffen sind und den Umdenkungsprozess bereits durchschritten haben; denn niemand weiss besser als sie, wovon die Rede ist. «Ich möchte mithelfen, diese Praxis zu stoppen» Matou ist ein solches Beispiel. Mit stolz erhobenem Kopf sagt sie: «Heute, da ich verstehe, wie sich eine Beschneidung auf den Körper von uns Frauen auswirkt, bin ich bereit, mich dafür einzusetzen, diese Praxis zu stoppen.» Sie und ihr Mann sprechen bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Nachbarn, Freunden und Kollegen über die schädliche Praxis. «Ich hoffe zutiefst, dass es in unserem Land bald keine Beschneidungen mehr gibt», sagt sie und fügt mit stockender Stimme an, wie traurig sie ist, vor wenigen Monaten noch nicht mehr darüber gewusst zu haben. «Sonst wäre Khaddy heute noch am Leben.» 8 FOTOS: UNICEF/NYHQ2011-0259/ASSELIN drei Millionen Mädchen Wenn Kinder zugleich Mama und Papa sind UNICEF Schweiz kümmert sich um zahlreiche Waisenkinder in Ruanda. Über 100 000 von ihnen leben in Kinderhaushalten und sind auf sich allein gestellt. 220 000 sind in Folge von Aids verwaist, 19 000 von ihnen sind selbst HIV-positiv. Doch nur knapp die Hälfte der Mädchen UNICEF/RWAA2011-00528/NOORANI weiss, was HIV/Aids ist und wie man sich vor einer Ansteckung schützt. Aufklärung und Sensibilisierung ist dringend notwendig. Kindsein – das sollte heissen, eine Mama und einen Papa zu haben; Liebe und Geborgenheit zu erfahren; in die Schule gehen zu können; zu spielen; Freunde zu treffen. An manchen Orten der Welt heisst Kindsein aber, die Rolle von Mama und Papa einzunehmen, weil die Eltern nicht mehr leben; Verantwortung zu übernehmen für die jüngeren Geschwister; nicht in die Schule gehen zu können, 9 sondern arbeiten zu müssen, um den Hunger zu stillen. Das ist die Situation von über 100 000 Waisen in Ruanda. Mit ihren Sorgen und Nöten allein zurückgelassen, leben sie in Kinderhaushalten; das älteste der Geschwister sorgt für die jüngeren. Es sind erst kurze Biografien, geprägt von nicht gelebter Kindheit; denn diese Kinder werden viel zu früh zu einem Erwachsenenleben gezwungen. Ein 8-jähriges Mädchen übernimmt die Verantwortung für seine Brüder Was das bedeutet, weiss die 11-jährige Laurence Nyiramahirwe aus Rutsiro. Als sie acht Jahre alt war, starben ihre Eltern in kurzer Folge an Aids. Damit zählt sie zu den 220 000 Kindern Ruandas, deren Eltern der Immunerkrankung erlagen. Laurence und ihre beiden jüngeren Brü- Aids-Waisen in Ruanda FOTOS: UNICEF/RWAA2011-00341/NOORANI; RWAA2011-00569/NOORANI der wurden voneinander getrennt und bei Verwandten untergebracht. Ab und zu besuchte die Schwester die kleinen Brüder, und schnell wurde ihr klar, dass beide vernachlässigt und misshandelt wurden. Kurzerhand beschloss das Mädchen, sich fortan selbst um die beiden zu kümmern. Die drei Kinder zogen zurück in das leer stehende Elternhaus, und Laurence nahm künftig nicht nur die Rolle der «grossen» Schwester an, sondern übernahm auch noch jene ihrer Mutter und ihres Vaters. Ihr Gesicht trägt die Züge einer Erwachsenen und aus einiger Entfernung könnte man denken, sie sei effektiv die Mutter der beiden Buben. Schützend legt sie den Arm um den Kleinsten und macht ihre Schulter ein wenig breiter, damit sich der 7-jährige Etienne, der etwas scheu ist, hinter ihr verstecken kann. Mit Sorge beobachtete sie in den vergangenen Jahren, dass sich Etienne nicht richtig entwickelte und zunehmend Probleme mit Sprechen bekam. Jetzt huscht ein kurzes Lächeln über ihr ernstes Gesicht. Dann blickt sie über ihre Schulter und sagt: «Ich sprach Auf sich gestellt: Aids-Waisen benötigen psychosoziale Begleitung, medizinische Versorgung, Unterstützung bei der Einschulung, Hilfe in Alltagsfragen. 10 Jedes fünfte Kind in Ruanda ist verwaist, 800 000 Kinder leben ohne Eltern. schon mehrfach mit Etiennes Lehrer; es ist wichtig, dass er weiss, dass mein Bruder behindert ist. Ich bat ihn, geduldig und nett zu ihm zu sein.» Keine Waisenhäuser, keine Waisenrenten In Ruanda ist eines von fünf Kindern verwaist – rund 800 000 Kinder leben ohne Eltern. Einrichtungen wie Waisenhäuser fehlen, Waisenrenten auch; Ruanda kennt kein Sozialversicherungssystem. Das Land kämpft bis heute an allen Fronten mit den Folgen des Genozids von 1994. Innert Kürze wurden damals sämtliche staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen zerstört und das Land einer ganzen Generation von Ärzten, Lehrpersonen, Beamten und Geschäftsleuten beraubt. Über die Hälfte der gut 10 Millionen zählenden Einwohner sind weniger als 18 Jahre alt; die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 51 Jahren. 77 Prozent der Bevölkerung des bevölkerungsdichtesten Landes Afrikas leben unter der Armutsgrenze; 11 Prozent der Kleinkinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag und knapp die Hälfte aller unter 5-Jährigen ist mangelernährt. Am Ende der sozialen Leiter stehen die Aids-Waisen In Ländern mit so ausgeprägter Armut leiden die Kinder am meisten; sie sind das verletzlichste Glied der Gesellschaft und drohen am stärksten durch alle Maschen zu fallen. In Ruanda sind es die AidsWaisen, die am untersten Ende der gesellschaftlichen Hierarchie stehen. 19 000 von ihnen sind selbst mit dem HI-Virus infiziert; nur ein Viertel von ihnen ist in Behandlung, die Übrigen sind sich selbst überlassen – mit ihren Nöten, ihren seelischen Wunden und ihrer körperlichen Erkrankung. Die meisten von ihnen gehen nicht zur Schule, weil es ihre Gesundheit nicht zulässt oder weil sie sich mit Hand- langerarbeiten durchbringen müssen. Viele der Mädchen prostituieren sich; häufig sind ungewollte Schwangerschaften oder HIV/Aids die Folge. Mit 2,9 Prozent ist die Ansteckungsrate mit dem HI-Virus im Vergleich zu anderen afrikanischen Ländern zwar tief. Alarmierend aber ist, dass von den über 15-Jähri- Aids-Waisen: So engagiert sich UNICEF Schweiz Seit 1998 unterstützt UNICEF Schweiz Programme für Waisen und Kinderhaushalte in Ruanda. 800 000 Kinder sind verwaist, und 100 000 Kinder leben allein in sogenannten Kinderhaushalten. Seit zehn Jahren liegt der Fokus auf der Bekämpfung von HIV/Aids. Beispielsweise setzt sich UNICEF dafür ein, die Übertragung des HI-Virus von Müttern auf ihre Kinder bei Geburt zu stoppen. Mit grossem Erfolg: Studien zeigen, dass die Übertragung innert fünf Jahren um die Hälfte gesunken ist. In den vergangenen vier Jahren lag UNICEFs Hauptaugenmerk auf der sozialen und medizinischen Umsorgung der Waisenkinder in 13 Distrikten: etwa im Einrichten kinderfreundlicher Schulen. Das Kinderhilfswerk arbeitet eng mit der Regierung zusammen, die 2009 die kostenlose Schulpflicht einführte, von der alle Kinder profitieren. Es zeigt sich, dass der Schulalltag gerade Waisen eine wichtige Struktur gibt und ihnen hilft, ihre Sorgen für einige Stunden zu vergessen. In den von UNICEF Schweiz unterstützten Schu- UNICEF/RWAA2011-00623/NOORANI len wird besonders grosses Gewicht auf Strategien gelegt, Mädchen bis zum Ende in der Schule halten zu können. Ab dem kommenden Jahr wird sich UNICEF noch stärker auf die Aids-Prävention konzentrieren. 11 Lebensrettende Aufklärung: Gerade für Waisenkinder ist es wichtig zu erfahren, was Aids ist und wie man sich davor schüt- gen, die in den Städten und Agglomerationen leben, über 7 Prozent infiziert sind. Studien weisen überdies darauf hin, dass sich in den letzten Jahren vor allem Kinder im Alter von 12 bis 14 Jahren infiziert haben. Häufig leben sie auf der Strasse, sind sich selbst überlassen, prostituieren sich. Ihre Zahl wird inzwischen auf fast 400 000 geschätzt. Und nur knapp die Hälfte der Mädchen unter ihnen wissen, wie HIV/Aids übertragen wird. Hilfreicher Erfahrungsaustausch in Jugendgruppen UNICEF Schweiz engagiert sich deshalb intensiv in der Prävention, Aufklärung und Behandlung von HIV/Aids. Gerade für Waisenkinder, die ohne elterlichen Schutz leben, ist es elementar zu erfahren, was HIV/Aids ist und wie man sich davor schützen soll. Gemeinsam mit der lokalen Non-Profit-Organisation Apasek hat UNICEF zahlreiche Jugendgruppen auf- gebaut. Ein Team freiwilliger Helfer klärt die Kinder und Jugendlichen über die menschliche Würde und ihre Rechte auf; die Mitarbeitenden zeigen auf, wie wichtig es ist, für die eigene Gesundheit zu sorgen, und worin die grössten Gefahren liegen: in ungeschütztem Geschlechtsverkehr beispielsweise oder in verschiedenen Formen von Ausbeutung. Der Gesprächsaustausch unter den Jugendlichen ist besonders hilfreich. Die meisten haben 12 FOTOS: UNICEF/RWAA2011-00629/NOORANI zen soll. Aids-Waisen in Ruanda Müttermentorinnen: ihre Sorgen an, stehen ihnen mit Rat bei, Ein gut funktionierendes System von helfen ihnen im Haushalt, bei Gartenar- Ersatzmüttern und Beraterinnen beiten, in der Schule. Mit diesem Familien- In Ruanda sind 800 000 Kinder elternlos, hilfemodell begleiten UNICEF und Apasek 220 000 von ihnen sind aufgrund von Aids jährlich über 1200 Waisen. Inzwischen hat verwaist, 100 000 schlagen sich alleine in die Regierung erkannt, wie erfolgreich Kinderhaushalten durch, 19 000 sind mit das System ist, und dieses als Teil seines dem HI-Virus infiziert, nur ein Viertel von nationalen Aktionsplans definiert. Auch ihnen ist in Behandlung. Seit 2002 arbeitet die elfjährige Laurence Nyiramahirwe und UNICEF Schweiz mit der lokalen Non-Profit- ihre beiden jüngeren Brüder (vgl. Haupt- Organisation Apasek zusammen, die das text) werden von einer Mentorenmutter Modell der «Müttermentorinnen» entwi- begleitet. «Ich bin so froh, dass jemand ckelt hat: Frauen aus der Nachbarschaft Erwachsenes nach uns schaut», sagt kümmern sich um Waisenkinder aus Kinder- Laurence; «was mit uns passiert wäre, haushalten. Sie nehmen sie in die Arme, wenn es Apasek nicht gäbe, kann ich mir sitzen an ihren Bettchen, halten zum Ein- nicht vorstellen.» schlafen die Hand eines Kindes, hören sich UNICEF/KATRIN PIAZZA einen ähnlichen familiären Hintergrund und mussten die gleichen schmerzhaften Erfahrungen machen. In diesem Rahmen fällt es leichter, Fragen zu stellen, über Erlebnisse zu sprechen, sich anderen anzuvertrauen. 19 000 Aids-Waisen sind in Ruanda selbst mit dem HI-Virus infiziert. 13 Wenn ehemalige Opfer zu Helfern werden Ein weiterer wichtiger Kooperationspartner von UNICEF Schweiz ist die vor Ort gut verwurzelte gemeinnützige Organisation Uyisenga N’Imanzi. Mit gemeinsamen Programmen wurden im letzten Jahr 2000 Waisenkinder erreicht, von denen 30 Prozent HIV-positiv sind. Die Kinder wurden psychosozial begleitet, medizinisch versorgt, es wurde ihnen bei der (Wieder-)Einschulung geholfen und sie wurden in Alltagsfragen beraten. Auch hier erwiesen sich die gemeinsam organisierten zehntätigen Feriencamps als besondere Stütze für die Jugendlichen: 300 15- bis 21-jährige Vollwaisen nahmen im letzten Jahr daran teil; 75 von ihnen waren Mädchen, die einen Kinderhaushalt führen. Sie lernten den Umgang mit Mikrokrediten, wurden über die Gefahren und Folgen von HIV/Aids aufgeklärt, in ihren Rechten bestärkt, in ihren Traumata behandelt. Unter den Teilnehmerinnen finden sich immer wieder junge Mädchen, die später selbst einmal Kindern helfen wollen, die in einer ähnlichen Situation sind wie sie selbst. «Das sind die wirksamsten Stützen für uns», erklärt eine Mitarbeiterin. «Denn niemand weiss besser, was es bedeutet, ganz auf sich allein gestellt zu sein und ohne Eltern aufzuwachsen.» Diese jungen Mädchen aber wissen, wie sehr man sich nach einer Umarmung, einem tröstenden Wort, einem Gutenachtkuss sehnen kann. 40 000 Mädchen in Uttar Pradesh haben das Heft in die Hand genommen und haben vorwiegend nur ein Ziel: ihre Töchter möglichst früh zu verheiraten. Die von UNICEF Schweiz initiierten Girls Camps (Internate) erweisen sich als äusserst nachhaltig. Ihr Besuch verhilft Tausenden von Mädchen zu einer eigenständigen Zukunft. Die Augen strahlen, der Mittelscheitel ist scharf gezogen, das Haar zu zwei langen Zöpfen geflochten und von grossen Schleifen zusammengehalten, die weisse Bluse bis oben zugeknöpft, darüber eine blauweiss gestreifte Krawatte gebunden, unter dem hellblauen Jupes zwei schmale Beine, die nackten Füsse auf dem Lehmboden. Aufrecht ist die Haltung, der Rü- cken gestreckt. Mit sichtbarem Stolz hält dieses Mädchen ein Schulbuch in Händen – als wäre es ein kostbarer Schatz. An seinem Gesicht mit dem grossen Lächeln ist unmissverständlich abzulesen: Ich bin glücklich, und ich bin auf dem Weg, mein Leben fest in die Hand zu nehmen. Wenn Eltern die Schule als nutzlose Zeitverschwendung ansehen Einige Monate zuvor zählte dieses 12-jährige Mädchen zu den 500 000 Kindern Uttar Pradeshs, die noch nie eine Schule von innen gesehen haben. Denn im mit 200 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten und ärmsten Teilstaat Indiens wird die Schulbildung von Mädchen noch 14 FOTOS: UNICEF/INDA2011-00160/HALLE'N; NYHQ2009-2173/PIETRASIK In Indien ist die Bildung von Mädchen vielerorts noch kleingeschrieben. Gerade Eltern aus tieferen Kasten erachten die Schule als unnötig Mädchenbildung in Indien 82 Prozent der erwachsenen Männer Indiens können lesen; bei den Frauen sind es erst 65 Prozent. stark vernachlässigt. Gerade Eltern in ländlichen Gebieten halten wenig davon, ihre Töchter in die Schule zu schicken. Zeitverschwendung, Fehlinvestition – so lauten ihre Hauptargumente. Mädchen gehören in ihren Augen ins Haus, in den Garten und vor allem in den Hafen der Ehe: Knapp 10 Prozent der 10-bis 14-jährigen Mädchen sind in Indien verheiratet. Und in Uttar Pradesh liegt das durchschnittliche Heiratsalter bei lediglich 17,5 Jahren. Damit erfahren die Biografien vieler Mädchen früh eine Zäsur; denn die Heirat setzt nicht nur ihrer Kindheit ein abruptes Ende, sondern in den meisten Fällen auch ihrer Schulzeit. Heute können rund 82 Prozent der erwachsenen Männer Indiens lesen; bei den Frauen sind es nur gut 65 Prozent. Neues Gesetz zum «Recht auf Bildung» Auch wenn 18 Prozent der 5- bis 14-jährigen Kinder in Indien heute noch keine Schule besuchen und ein Drittel der Kinder und Jugendlichen die Schule frühzeitig wieder verlassen, markiert die Regierung immer wieder, dass es ihr Ernst ist mit der Bildung der rund 450 Millionen Kinder ihres Landes. So erliess das Parlament im Frühling letzten Jahres das Gesetz zum «Recht auf Bildung», womit Beamte und Behördenvertreterinnen nun stärker in die Pflicht genommen sind, mit dafür zu sorgen, dass Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren eine freie Schulbildung erhalten. Auf dem Weg zu Bildungschancen für alle – vor allem für Mädchen – wurde das Bildungsministerium von UNICEF unterstützt. Auch im letzten Jahr konnten dank der Hilfe von UNICEF Schweiz beispielsweise an 1074 öffentlichen Schulen Mädchenbildung: So engagiert sich UNICEF Schweiz Seit 1997 macht sich UNICEF Schweiz für die Mädchenbildung in Indiens bevölkerungsreichstem und ärmstem Teilstaat, Uttar Pradesh, stark, wo vor allem in die Ausbildung von Lehrpersonen und in Schulmaterial investiert wird. 2001 begann das Hilfswerk überdies mit der Einrichtung von Lernzentren für Mädchen aus den untersten Kasten oder Kastenlose; diese Kinder waren entweder noch nie in einer Schule oder haben diese frühzeitig wieder verlassen. Innert eines Jahres holen die Mädchen in den internatsähnlichen Schulen den Stoff der Grundschule auf. Ausserdem erhalten sie Kurse in Gesundheit, Hygiene und Ernährung. Die Internate, auch Girls Camps genannt, stellen kostenlos Verpflegung und Unterkunft zur Verfügung – ein wesentlicher Punkt für die Eltern, ihre Mädchen überhaupt in die Schule gehen zu lassen. Von UNICEFs grossem Engagement konnten bisher 40 000 Kinder profitieren. Gegenwärtig fliessen die Spendengelder in ein wichtiges Pilotprojekt: Die Schulzeit in den Girls Camps soll von einem auf drei Jahre verlängert werden. Erste Evaluationen der dreijährigen Testphase laufen auf Hochtouren; im Verlauf des nächsten Jahres Bildungschancen für alle: Alle 450 Millionen wird entschieden, ob die Verlängerung Kinder Indiens haben seit kurzem offiziell zum Standard werden soll. ein «Recht auf Bildung». 15 Mädchenbildung in Indien Eine solide Lebensgrundlage: Schulen und Internate bewahren Mädchen davor, früh verheiratet zu werden. In zwölf Monaten fünf verpasste Schuljahre nachholen Mit grossem Interesse hat die Regierung in den letzten zehn Jahren UNICEFs Engagement bei der Einführung eines neuen Schulsystems mitverfolgt: 2001 hatte das Hilfswerk die Idee, spezielle Mädcheninternate einzurichten. In Anlehnung an die Tradition des Landes, mit Kindern während mehrerer Wochen in Camps gemeinsam zu lernen, wurden die Internate «Girls Camps» genannt oder auch KGBV. Die vier Buchstaben stehen für Kasturba Gandhi Balika Vidyalaya und sind eine Hommage an den grossen Einsatz, den Gandhis Ehefrau für das indische Bildungswesen geleistet hat. Aufgenommen werden in den Girls Camps 12- bis 14-jährige Mädchen, die aus Dörfern mit ausgeprägter Armut stammen. Die meisten haben noch nie eine Schule von innen gesehen, andere sind wenige Wochen oder Monate nach ihrer Einschulung zu Hause geblieben – weil sie verheiratet wurden oder weil ihre Eltern nicht auf zwei weitere helfende Hände verzichten wollten. Während eines Jahres wird mit diesen oft sehr wissbegierigen Mädchen in konzentrierter Form der verpasste Grundschulstoff nachgeholt. Zudem werden sie in Hygiene, Krankenpflege, Familienplanung und einfacher Knapp zehn Prozent der 10- bis 14-jährigen Mädchen sind in Buchhaltung unterrichtet, um den Boden für ein eigenständiges Leben zu legen. Spannendes Pilotprojekt Die Zahl der KGBVs ist in den letzten zehn Jahren kontinuierlich gewachsen, und 2010 und 2011 konnten dank UNICEF Schweiz erneut 292 Einrichtungen ins Leben gerufen werden. 40 000 Mädchen haben eines der insgesamt 454 Girls Camps in Uttar Pradesh besucht. Längst hat die Indien verheiratet. 16 FOTOS: UNICEF/NYHQ2009-2239/KHEMKA in sieben besonders bildungsfernen Distrikten in Uttar Pradesh deutliche Verbesserungen erzielt werden. Grosser Erfolg: Bisher besuchten über 40 000 Mädchen eines der UNICEF/INDA2010-00095/CROUCH 454 Girls Camps in Uttar Pradesh. Regierung erkannt, welch wichtige Lücke die Internatsschulen schliessen, und sich eingeklinkt: 376 Schulen werden vom Erziehungsdepartement Uttar Pradeshs betrieben. Das Bildungsministerium und UNICEF werden weiterhin Hand in Hand arbeiten: Ein Grossteil der Spendengelder von UNICEF Schweiz fliesst gegenwärtig in ein gemeinsames Pilotprojekt, in dem eine Verlängerung der Girls Camps von einem auf drei Jahre evaluiert wird. Das 17 würde den Mädchen eine solidere Lebensgrundlage bieten und einige vor früher Verheiratung schützen. Auf spielerische Weise das Interesse für Bildung wecken In den zurückliegenden Monaten lag ein weiterer Fokus von UNICEF Schweiz auf Sommercamps für Mädchen aus neun bildungsmässig stark rückständigen Distrikten in Uttar Pradesh, in denen Kinder- arbeit ein grosses Problem und die Analphabetenrate unter den Erwachsenen auffallend hoch ist. Während der gemeinsamen Wochen wurde bei den Kindern auf spielerische Weise das Interesse für Bildung geweckt. Von den 870 Mädchen, die das Camp besuchten und zuvor mehrheitlich auf der Strasse lebten, konnten danach 95 Prozent in den Schulprozess integriert werden: 425 in KGBVs, 395 in regulären Schulen. Mädchenbildung in Indien In Indiens bevölkerungsreichstem Teilstaat, Uttar Pradesh, geht über eine halbe Million Kinder nicht Zwei Kinder überzeugen ihre Eltern Im Sommercamp in Rampur fiel der Wille zweier Mädchen, die zum Nomadenstamm der Banjara gehören, besonders auf. Obwohl ihre Familien vier Jahre am selben Ort lebten, besuchten die 12-Jährigen nie eine Schule. Nun konnten Sozialarbeiter ihre Eltern überreden, die Freundinnen ins Camp zu schicken. Die Kinder hatten sich gefreut, doch die ersten Tage fielen ihnen schwer: Alles war fremd, Heimweh plagte sie. Dann aber siegte ihre Neugierde. Schritt für Schritt begannen sie, sich an den Aktivitäten zu beteiligen. Die Eltern kamen die Mädchen nie besu- chen und die Organisatoren/-innen suchten vergeblich den Kontakt zu ihnen. Gegen Ende des Lagers nahmen die Mädchen das Heft selbst in die Hand: Sie begannen den Beamten für Mädchenbildung und Wirksame Sensibilisierung: künftig auch zur Schule gehen zu dürfen. Eine Comicfigur erobert die Herzen Es ist eine Geschichte, die aus dem Leben von Gross und Klein Tausender von Menschen gegriffen ist; 1990 erfand UNICEF die Comicfigur Meena, Meena ist aus Südasien denn auch längst um zentrale Themen wie die Gleichberech- nicht mehr wegzudenken und tritt heute tigung von Buben und Mädchen, Kinder- auch in Fernseh- und Radioserien oder als ehen oder den Schutz vor Aids populär zu Puppen-Show auf. In Uttar Pradesh grün- machen: Während ihr kleiner Bruder zur dete UNICEF zudem Mädchenclubs für Schule gehen darf, muss die 9-jährige Teenager, sogenannte «Meena Manches». Meena zu Hause die Hühner füttern. Eines Unter der Leitung einer ausgebildeten Tages hat sie eine zündende Idee: Sie Animatorin wird über Lebensthemen schickt ihren Papagei in die Schule und diskutiert oder werden Theaterstücke zu lässt sich von ihm abends fortan den relevanten Themen aufgeführt. Überdies Schulstoff repetieren. So lernt sie, was steht die Gruppe den Mädchen in schwie- Zahlen sind, und merkt eines Tages, dass rigen Situationen zu Hause oder in der zwei Hühner fehlen. Das ist der Tag, an Schule bei. In Uttar Pradesh gibt es heute dem sie ihre Eltern überzeugen kann, 40 000 Meena Manches. den Vertreterinnen von UNICEF Löcher in den Bauch zu fragen und sammelten eifrig die Telefonnummern der Lagerleiterinnen. Nachdem sie realisiert hatten, dass sie in den Girls Camps neben kostenloser Schulbildung kostenlos verpflegt würden und gratis Bücher, eine Tasche und eine Schuluniform bekommen würden, wurden die beiden ganz aufgeregt. 15 Tage nach Ende des Sommercamps riefen sie den Beamten für Mädchenbildung an. Sie hatten ihre Eltern überzeugen können, künftig in die Schule gehen zu dürfen. Und vermutlich wird in Kürze ein breites Lächeln auf ihren Gesichtern stehen, wenn sie stolz ihr erstes Schulbuch in Händen halten, die Bluse bis zum Hals zugeknöpft, darüber die Krawatte gebunden, die Haare vielleicht zu Zöpfen geflochten. 18 FOTOS: UNICEF/INDA2003-00507/VITALE zur Schule. Wenn die Schule zu den Kindern kommt Das abgelegene Königreich Bhutan hat Erstaunliches geleistet: 94 Prozent der Kinder gehen heute zur Schule. Schwer zu erreichen sind aber noch immer Nomadenfamilien, die mit ihren Yaks während Monaten in unwegsamen Gebieten leben. Nun hat sich die Regierung zu einem von UNICEF Schweiz unterstützten Pilotprojekt entschieden: Neu sollen Lehrer auf den Weg zu Familien geschickt werden, die UNICEF/BHUTAN nirgendwo fest zu Hause sind. Dies ist die Geschichte eines Mädchens, das eine der abgelegensten Schulen der Welt besucht. Es ist eine aussergewöhnliche Geschichte, denn sie handelt von einem Kind aus einer Nomadenfamilie. Und Nomadenmädchen gehen meistens nicht zur Schule – aus mehreren Gründen: weil sie mit ihren Familien und den Tieren in einsamen Gebieten leben und deshalb 19 mitunter tagelange Fussmärsche auf sich nehmen müssen; weil das Hüten der Yaks schon früh zu ihren Aufgaben zählt; und schliesslich auch, weil sie häufig früh verheiratet und oftmals auch früh schwanger werden. In Nomadenfamilien erben traditionellerweise die Mädchen Land, Haus und Tiere. Die Schule gilt deshalb als Zeitverschwendung. Harte und lange Schultage Die 8-jährige Yanka aber besucht seit einigen Monaten die kleine Primarschule in Lhedi. Das Dörfchen liegt auf knapp 3700 Metern über Meer in Bhutans äusserstem Nordosten. Da ihre Eltern einen Tagesmarsch entfernt wohnen, geht Yanka in Lhedi nicht nur zur Schule, sondern gehört zu jenen Kindern, die in der Schule Bildung für Kinder und Kindermönche in Bhutan 1959 gingen in Bhutan Schule; inzwischen sind es über 170 000. leben. Das einstöckige, schmale Gebäude verfügt aber über keinen Schlafraum; Abend für Abend werden die Schultische zur Seite geschoben und dünne Matten auf dem Boden ausgebreitet. Es sind harte und lange Schultage in Lhedi, und wenn um 20.30 Uhr die gelbrot karierten Wolldecken über den Kindern ausgebreitet werden, sind die Kleinen schnell in den Mantel des Schlafs gehüllt. Hand zu nehmen, das Klassenzimmer zu putzen und andere Alltagsarbeiten im und ums Schulgebäude zu verrichten. Währenddem wird in der kleinen Küche ein grosser Topf Reisbrei und Buttertee gekocht. Nach dem Frühstück preisen die Kinder draussen im Freien nochmals Jambayang und singen die bhutanische Nationalhymne. Und wenn die Flagge gehisst ist und im häufig steifen Wind flattert, kann der Unterricht beginnen. Täglich wird der Gott der Weisheit gepriesen Meistens ist es noch dunkel und häufig auch eisig kalt, wenn um Punkt 6.30 Uhr die kleine Glocke bimmelt. Schnell wickelt sich Yanka ihre traditionelle knöchellange, blaue Kira um, huscht nach draussen und wäscht sich mit kaltem Wasser das Ge- Statt Yaks zu hüten, lesen und schreiben lernen Yanka ist eine Ausnahme. Die meisten Kinder aus Bhutans Nomadenfamilien besuchen keine Schule. Yankas Eltern aber haben beschlossen, ihrer Tochter das harsche Leben auf mehreren tausend Metern Höhe, in ewiger Kälte draussen mit den Tieren, zu ersparen. «Ich gehe sehr, sehr gerne in die Schule», sagt das Mädchen mit dem pechschwarzen Haar und den leuchtend roten Backen. «Zu Hause müsste ich immer auf die Yaks auf- sicht. Nach dem Zusammenrollen der Schlafmatten setzen sich die Kinder im Schneidersitz auf den Lehmboden zum Morgengebet. Sie preisen Jambayang, den Gott der Weisheit, gefolgt von einer kurzen Meditation. Dann heisst es, den Besen zur passen.» Nun lächelt sie verlegen und erklärt, wie anstrengend es sei, die lang behaarten Tiere zu hüten: «Sie klettern oft weit in die Höhe, manchmal komme ich fast nicht hinterher.» Die meisten Kinder, die Yanka aus ihren ersten acht Lebens- In der Schule statt mit den Herdentieren unterwegs: «Ich lerne sehr, sehr gerne», sagt das 8-jährige Nomadenmädchen Yanka. jahren kennt, haben ein anderes Schicksal. Dessen ist sich das Mädchen bewusst. «Wenn ich gross bin, möchte ich Lehrerin werden; ich möchte möglichst viele Kinder, die sonst Yaks hüten müssten, unterrichten.» 20 FOTOS: UNICEF/BHUTAN erst 440 Kinder zur Nomadenkinder und Kindermönche: So engagiert sich UNICEF Schweiz Vor 50 Jahren besuchten in Bhutan erst 500 Kinder eine Schule, die meisten von ihnen waren Buben. Bis zu Beginn des neuen Jahrtausends erhöhte sich die Alphabetisierungsrate von 10 auf 50 Prozent. 1999 begann UNICEF Schweiz, sich für Bildungsmassnahmen im abgeschiedenen Himalaya-Staat zu engagieren; in enger Zusammenarbeit mit der Regierung wurden Programme initiiert. Die nationale Bildungsstrategie basiert denn auch längst auf den mit UNICEF gewonnenen Projekterfahrungen und kann auf grosse Erfolge zurückblicken: Die Einschulungsrate liegt heute bei 94 Prozent; über 170 000 Mädchen und Buben besuchen mehr als 650 Schulen. Allein in den letzten beiden Jahren finanzierte UNICEF Schweiz den Bau von 54 Grundschulen in abgelegenen Gebieten und versorgte 10 Primarschulen mit fliessend Wasser und sanitären Anlagen. Parallel dazu wurde in die Ausbildung von Lehrpersonen investiert, unter anderem Vielfältige Probleme in Bhutans einsam gelegenen Schulen Wenn es nach den Plänen des Erziehungsministeriums geht, müssten in Bhutan längst alle Kinder zur Schule gehen, wenn Yanka das Erwachsenenalter erreicht hat. 21 Das abgeschiedene Königreich hat in den vergangenen 50 Jahren im Bildungsbereich enorme Anstrengungen unternommen: Während 1959 erst 440 Kinder zur Schule gingen, sind es inzwischen über 170 000 Kinder. Die Einschulungsrate in dem Land mit knapp 700 000 Einwohnern konnte von 53 Prozent im Jahr 1998 auf fast 94 Prozent im Jahr 2010 erhöht werden. Bis Ende 2013 sollen alle Kinder erreicht sein. Die Knacknuss liegt bei den letzten wenigen Prozenten, die zu einem Grossteil aus Kindern aus den abgeschiedensten Gebieten des Landes und aus Nomadenfamilien bestehen. Zwar hat das Erziehungsministerium allein in den letzten Jahren über 30 Schulen in schwer zugäng- in die Weiterbildung von 70 Naturwissenschaftslehrern. Weiter engagierte sich das Hilfswerk auch intensiv in der Schulung in Hygienefragen: Inzwischen wissen 20 000 Kinder, dass sie sich regelmässig die Hände waschen sollten. Damit konnten auch Haut-, Atemwegs- und Durchfallerkrankungen eingedämmt werden. lichen Gebieten ins Leben gerufen; diese sehen sich aber mit vielfältigen Problemen konfrontiert: Gerade in abgelegenen Regionen sind die Lehrer häufig schlecht ausgebildet, mangelt es an Weiterbildungsangeboten und Austauschmöglichkeiten, die Klassen sind zu gross, die Klassenräume übervoll, es fehlt an Lehr- und Lernmate- Bildung für Kinder und Kindermönche in Bhutan Heute wissen in Bhutan Mobile Lehrer für mobile Kinder Die Regierung hat sich deshalb etwas Neues einfallen lassen. Sie hat beschlossen, dass der Schulweg für alle Kinder Bhutans nicht mehr als eine Stunde betragen darf, und das bisherige System für Kinder aus Nomadenfamilien umgedreht: Nicht mehr die Kleinen sollen lange Fussmärsche auf Damit Kindermönche gesund aufwachsen über 20 000 Schulkinder, dass sie sich regelmässig die Hände waschen sollten. sich nehmen müssen, sondern die Lehrer. Mobile Schulen werden in die abgelegensten Gebiete vordringen – und mit den Nomaden weiterziehen. «Das ist ein neues, äusserst interessantes Modell», sagt Elsbeth Müller, Geschäftsleiterin UNICEF Schweiz. «Es bedeutet, dass die Lehrer den Migrationswegen der Nomaden folgen und damit sicherstellen, dass die Kinder keine Schulzeit versäumen und rund ums Jahr den Lehrplan verfolgen können.» UNICEF Schweiz wird dieses Pilotprojekt in den kommenden zwei Jahren finanziell massgeblich unterstützen. «Es ist dringend notwendig, die Schulsituation attraktiver zu machen», sagt merklich verbessert: Die Kleinen, die oft und eine Perspektive haben bereits im Alter von fünf Jahren in die Lange hatte der 14-jährige Mangay Dorji Klöster geschickt werden, leiden häufig Angst, wenn er nachts auf die Toilette unter Haut-, Atemwegserkrankungen und musste. In seinem «Zuhause», dem Kloster Durchfall. Barfuss und in dünne Stoffge- Neyzergang im Westen Bhutans, sucht man wänder gehüllt sitzen sie oft stundenlang vergebens nach einer Heizung, und wie auf den kühlen Lehmböden und lernen mit die meisten Klöster verfügt auch dieses wippendem Oberkörper Gebete auswen- weder über fliessend Wasser noch über dig. In den letzten Jahren baute UNICEF sanitäre Einrichtungen. Deshalb mied eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Mangay Dorji den Weg zum Plumpsklo den Klosterschulen auf. Neben Schritten ausserhalb der Klostermauern wenn immer für ein gesundes Aufwachsen engagiert möglich: «Es war stockdunkel, kalt und sich das Kinderhilfswerk erfolgreich dafür, roch entsetzlich.» Mit Hilfe von UNICEF dass die Kindermönche auch eine säkulare Schweiz wurden Wasserleitungen gelegt Bildung erhalten, um später frei wählen zu und Toiletten gebaut. Damit hat sich der können, wohin es sie beruflich zieht. Elsbeth Müller. «Bhutans Kinder sollten unbedingt Dinge lernen, die in ihrem Leben wirkliche Relevanz haben und ihr Interesse wecken.» Yanka ist der lebendige Beweis, wie interessiert Kinder aus Nomadenfamilien sind. «Ich bin stolz, dass ich in die Schule gehen darf», sagt das kleine Mädchen mit durchgestrecktem Rücken. «Wenn ich meine Eltern das nächste Mal sehe, weiss ich gar nicht, wie ich ihnen erzählen kann, was ich alles schon gelernt habe. Es ist so viel!» FOTOS: UNICEF/BHUTAN rial, an fliessend Wasser, sanitären Einrichtungen, die Infrastruktur insgesamt ist häufig ungenügend. Das Beheben dieser Zustände ist aufwendig, sind die Bau- und Renovationskosten in abgelegenen Gegenden doch um ein Vielfaches teurer als in urbanen Gegenden. Zum Vergleich: Während ein 50 Kilogramm schwerer Sack Zement in den Städten Bhutans etwa 5 Franken kostet, kostet die gleiche Menge im Gebiet Lunana, wo auch Yankas Schule liegt, 40 Franken. Und Arbeitskräfte verlangen das Fünffache an Lohn, um sich überhaupt in abgeschiedene Regionen bitten zu lassen. Gesundheitszustand der Kindermönche 22 «Für uns Strassenkinder wird dann der Krieg ausbrechen» In Brasilien stehen zwei Grossanlässe an: 2014 die Fussballweltmeisterschaft und 2016 die Olympischen Spiele. Wie die Erfahrung zeigt, werden Kinder im Zuge von Megaevents vermehrt missbraucht und ausgebeutet. UNICEF Schweiz unterstützt Programme, die bereits im INTERNATIONAL LABOUR ORGANIZATION/CHUNXIU L. Vorfeld ein dichtes Netz an Kinderschutzmassnahmen weben, und initiiert Kampagnen, die auch über die Anlässe hinaus nachhaltig wirken. Er heisst Rogério. Er ist inzwischen ein Teenager. Und er hat die grausamsten Seiten einer Kindheit in Brasilien erlebt. An seinen Vater kann sich Rogério nicht erinnern, und auch wann und wie seine Mutter gestorben ist, weiss der heute 15Jährige nicht genau. «Irgendwann war sie einfach nicht mehr da.» Fortan lebte er auf den Strassen Rio de Janeiros und ver- 23 brachte seine Tage damit, an Geld und damit an Kokain zu kommen. «Das Sniffen half mir, das Schwierige zu vergessen.» Sein 13. Geburtstag ist ihm aber unauslöschlich in Erinnerung geblieben. Just an diesem Tag fasste ihn die Polizei und steckte ihn in eine berüchtigte Erziehungsanstalt für junge Straftäter. Einige Wochen später gelang ihm die Flucht. Rogério kehrte dorthin zurück, woher er kam: auf die Strasse. Seither hält er sich mit Betteln über Wasser und ist auf der steten Flucht vor der Polizei. Es ist ein rastloses, gehetztes Leben. «Die Polizei kann jederzeit auftauchen und mich töten», sagt der Bursche mit den noch kindlichen Gesichtszügen. «Wir Strassenkinder können unsere Augen nie richtig Strassenkinder in Brasilien Zwei Millionen der 10bis 15-jährigen Kinder Brasiliens gehen einem Broterwerb nach. schliessen.» Über seine Zukunft macht sich Rogério wenig Gedanken, im Zentrum steht das blanke Überleben: in den Abfallcontainern von Restaurants nach Essensresten suchen und einen sicheren Schlafplatz finden. Er hat nie eine Schule besucht, kann weder lesen noch schreiben. Ab und an träumt Rogério davon, Fussballer zu werden. Und als er von der Weltmeisterschaft in zwei Jahren erzählt, hellen sich seine ernsten Züge erstmals kurz auf. Ein Teil in ihm freut sich auf den bevorstehenden Ausnahmezustand. Ein anderer Teil hegt Befürchtungen: «Für mein Land ist das ein tolles Fest», sagt er, «für uns Strassenkinder wird der Krieg ausbrechen. Es wird dann viel Kokain umgesetzt und Geld gemacht. Für Kinder, die es nicht bringen, gibt es wenig Verständnis.» Körper und Seelen vergewaltigen Kinder, «die es bringen» – auf sie werfen Menschen, die es nicht gut mit ihnen meinen, gerade im Zuge von Grossanlässen ein Auge; etwa Drogenhändler oder Zuhälter. Sie scheuen nicht davor zurück, Kinder als Prostituierte auszubeuten; sie nutzen ihre flinken Beine und kleinen Hände zum Transport von Drogen; sie vergewaltigen Kinderseelen und junge Körper in jeder Hinsicht. Gerade Strassenkinder sind dafür besonders anfällig, weil ihnen der Schutz der Eltern, der Familie, der Gemeinschaft fehlt. Und fatalerweise sprechen gerade sie besonders gut auf Anfragen und Bitten Erwachsener an – oft im vermeintlichen Glauben, damit Anerkennung und Sicherheit zu gewinnen. Erschwerte Kindheiten Die 60 Millionen Kinder und Jugendlichen Brasiliens sind mit vielfältigen Problemen konfrontiert: Obwohl das Land beispielsweise seit langem die allgemeine Schulpflicht kennt, schliessen nur 88 Prozent die Primarschule ab. Ein Grossteil jener, die nicht mehr zur Schule gehen, arbeitet: 2 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 15 Jahren gehen einem Broterwerb nach – das entspricht in dieser Altersgruppe 10 Prozent. Obwohl die Regierung Kinderarbeit seit 1988 strikte verbietet, zeigt eine Studie, dass die Arbeitszeit der 10- bis 13-Jährigen durchschnittlich 22 Stunden pro Woche beträgt. Ein Land der Extreme Probleme wie diese sind in Brasilien verbreitet. Das Land schwankt zwischen Extremen: Im Jahr 2010 lag das Bruttoinlandprodukt bei 1970 Milliarden USDollar, wodurch das bevölkerungsreichste Land Südamerikas zur achtgrössten Wirtschaftsmacht der Welt wurde. Doch Reichtum und Armut liegen in Brasilien dicht nebeneinander, und nirgends zeigen sich diese Gegensätze schonungsloser als in den Armenvierteln und Wellblechsiedlungen seiner Metropolen, deren Bild Gefahr des sozialen Vakuums Diese Tatsachen haben UNICEF veranlasst, sich bereits im Vorfeld der anstehenden Sport-Grossanlässe intensiv für eine Verstärkung der Kinderschutzmassnahmen zu engagieren. Das brasilianische Tourismusministerium rechnet mit rund 600 000 Touristen, die das Land während der 30 Tage des Weltcups 2014 besuchen werden. In den Fanzonen und auf den Festgeländen der 12 Gaststädte wird dann gefiebert und ausgelassen getanzt, der Alkohol wird fliessen, das Sex- und Drogengeschäft laufen. Mit finanzieller Unter- 24 FOTOS: UNICEF/NYHQ1992-0529/MAGNONI; © VIVIANE MOOS/CORBIS; UNICEF/NYHQ2001-0435/VERSIANI häufig von Strassenkindern geprägt ist. Ihre Anzahl kann nur geschätzt werden. Die meisten Erhebungen gehen von 15 000 bis 100 000 aus; einzelne Quellen nennen auch Zahlen in Höhe von bis zu sieben Millionen Kindern und Jugendlichen. Ihr Leben ist schutzlos, rau, hart, unsicher, geprägt von Gewalt und Grausamkeiten: Durchschnittlich verlieren in Brasilien jeden Tag 44 Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 19 Jahren ihr Leben. Strassenkinder: So engagiert sich UNICEF Schweiz Seit 20 Jahren setzt sich UNICEF in Brasilien mit vielfältigen Programmen für die Reduktion von Kinderarbeit sowie die Verbesserung der Situation der Strassenkinder ein. Schätzungen gehen davon aus, dass zwei Millionen der 10- bis 15-jährigen Kinder und Jugendlichen in Brasilien arbeiten. Und täglich verlieren durchschnittlich 44 10- bis 19-jährige Kinder und Jugendliche ihr Leben durch Gewalt. Das Hilfswerk finanziert Programme langjähriger lokaler Partnerorganisationen und unterstützt Regierungsorgane – etwa das Jugendministerium oder den Nationalen Beirat der Jugend – mit Fachwissen. UNICEF Schweiz konzentriert sich zurzeit auf zwei spezielle Programme: Beim einen steht die Verbesserung der sozialen Bedingungen und der Gesundheitssituation der Strassenkinder in den Metropolen von Rio de Janeiro, Saõ Paulo, Recife und Salvador im Zentrum; sie werden vor allem mit Sport- und kulturellen Angeboten unterstützt. Das andere Programm widmet sich im Vorfeld der in Brasilien stattfinDamit kleine Körper und Seelen nicht denden Fussballweltmeisterschaften und missbraucht werden: Gerade im Zuge der Olympischen Spiele verstärkt dem von Grossanlässen wie der Fussballwelt- Schutz der Kinder und Jugendlichen vor meisterschaft benötigen Kinder im Rahmen solcher Grossanlässe ver- besonderen Schutz, um nicht ausge- stärkt auftretender Ausbeutung. beutet zu werden. 25 Strassenkinder in Brasilien stützung von UNICEF Schweiz setzt sich das Kinderhilfswerk dafür ein, dass die Strassenkinder in der Zeit des nationalen Ausnahmezustandes nicht in ein soziales Vakuum geraten. Das Hauptaugenmerk liegt auf breiter Netzwerkarbeit: Entscheidungsträger/-innen aus Justiz-, Bildungsund Gesundheitswesen wurden bereits in den vergangenen Monaten mit Vertretern/ -innen aus dem Gesundheitswesen, dem Polizeiapparat und der Tourismusbranche zusammengebracht, um gemeinsam verbesserte Kinderschutz-Massnahmen zu definieren. Über 500 Tourismus- und Verkehrsverantwortliche sind bereits speziell ausgebildet und damit beauftragt worden, Präventionsmassnahmen gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern auszuarbeiten. Junge Stimmen werden laut Regelmässig nutzt UNICEF öffentliche Diskussionsforen auf lokaler wie nationaler Ebene, ruft zum Dialog und zur Zu- Ein Fest für alle: Damit die anstehenden Mega-Events auch für die Strassenkinder zu einem Vergnügen werden, sind intensive Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen notwendig. 26 Tag für Tag verlieren sammenarbeit auf und präsentiert Ideen zur Stärkung der Kinderrechte. Im April des letzten Jahres organisierte UNICEF Brasilien beispielsweise zusammen mit dem nationalen Menschenrechtssekretariat, dem Sportministerium und mit Nichtregierungsorganisationen in Rio de Janeiro einen grossen Anlass unter dem Titel in Brasilien 44 Kinder und Jugendliche ihr Leben. «The Right to Safe and Inclusive Sports». An der Tagung äusserten sich unter anderen 200 Jugendliche aus unterschiedlichen Quartieren Rios über die grössten Chancen und Gefahren der anstehenden Sportevents. Kurze Videobotschaften halten ihre zentralen Aussagen fest und sind bereits breit verteilt worden; überdies wurde ein Blog eingerichtet, auf dem die Schlüsselinformationen abzurufen sind und der zur Diskussion einlädt. Damit alle mitfeiern können Mit weiteren niederschwelligen Aktionen, mit Informationsmaterial, Aufklärungsund Sensibilisierungskampagnen sowie mit zusätzlichen Drop-in Centern, wie sie auch Rogério immer wieder aufsucht, engagiert sich UNICEF für den Schutz der Jüngsten des Landes. Hunderte von Jugendund Sozialarbeitern werden in den kommenden Jahren zusätzlich ausgebildet, um mit dafür zu sorgen, dass für die Strassenkinder nicht der Krieg ausbrechen wird, wenn der Rest des Landes feiert. Die Grossanlässe 2014 und 2016 sollen zu einem Fest für alle werden und nicht für manche zu Zeiten verstärkter Albträume. Aktion «Rote Karte»: Brasilien kann von um die Uhr im Einsatz. Im Oktober 2010 den Erfahrungen Südafrikas lernen organisierte das Tourismusministerium Wie wichtig der Kinderschutz im Rahmen Brasiliens ein Seminar zum Thema «Ein von Grossanlässen ist, zeigt die Fussball- Goal für die Kinderrechte», zu dem vor al- weltmeisterschaft 2010 in Südafrika. Drei lem Regierungsvertreter und die Medien Millionen Zuschauer und eine halbe Million eingeladen waren. Während zweier Tage Besucher aus dem Ausland verfolgten die wurden die in Südafrika gemachten Er- Spiele vor Ort. Die Gefahren fasste Süd- fahrungen diskutiert. afrikas Präsident Jacob Zuma mit den Worten zusammen: «Ein Anlass dieser Grösse bietet Kriminellen leider Möglichkeit, mit Kindern zu handeln.» Drei Jahre vor Austragung der Spiele begann UNICEF, sich in Zusammenarbeit mit der südafrikanischen Regierung für entsprechende nahmen zu engagieren. Unter dem Titel «Zeig sexueller Ausbeutung die rote Karte» wurde die Öffentlichkeit mittels Postern, Flyern und über soziale Netzwerke auf die Rechtslage im Kinderschutz aufmerksam gemacht. Und über 1000 von UNICEF ausgebildete Kinderschutzfachleute waren in den Fanzonen von Sandton, Soweto, Port Elisabeth und Nelspruit teilweise rund 27 FOTOS: PÉ NO CHÃO, RECIFE-BRASIL; UNICEF/SÜDAFRIKA Sensibilisierungs- und Aufklärungsmass- Die Projektpatenschaften in Kürze Mit einem monatlichen Beitrag von 30 Franken und mehr unterstützen Sie ein ganz bestimmtes Projekt, das die Lebensaussichten von Kindern dauerhaft verbessert, ohne dass einzelne Kinder privilegiert werden. Sie schaffen Strukturen, die eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen. Und Sie beteiligen sich an einem Projektkonzept, das die Probleme in ihrer ganzen Komplexität angeht. UNICEF Schweiz finanziert derzeit Projekte in neun Ländern. Wählen Sie Ihr Projekt und unterstützen Sie Dienstleistungen zum Wohle Autorität, Wissen, Erfahrung für Kinder. Weltweit. des Kindes dieser und der nachfolgenden Generation. Über den Fortgang Ihres Projekts werden Sie regelmässig informiert. Komplexe Probleme erfordern vielschichtige Lösungen. Als Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen besitzt UNICEF die Autorität, gemeinsam mit Regie- wirken. Lösungen auch, die darin münden, dass der Staat übernimmt, was Sie Ohne Daten kein Fortschritt. Daten zu erheben, ist wenig attraktiv. Dennoch muss diese Arbeit gemacht werden. UNICEF verfügt als einziges Kinderhilfswerk über detailliertes Spezialwissen, das täglich gebraucht wird, um Kindern in aller Welt effizient, kostengünstig und nachhaltig zu helfen. Ein Wissen übrigens, an dem UNICEF unzählige Hilfsorganisationen weltweit teilhaben lässt. Spendengeld ist kostbar, denn mit jeder Spende verbindet sich eine Hoffnung. UNICEF ist sich dessen bewusst und geht entsprechend sorgfältig mit Spendengeld um. Dabei ist es hilfreich, dass UNICEF 60 Jahre Erfahrung hat. Mit einer Spende an UNICEF finanzieren Sie zugunsten von Kindern in Not Unter stützungsleistungen, die erprobt sind und funktionieren. fied Syste 9 00 34 IS O 85 rt i m Ce Unterstützen Sie UNICEF, indem Sie: spenden Fördermitglied werden eine Projektpatenschaft übernehmen etwas Bleibendes schaffen und UNICEF ein Legat überlassen oder als Vermächtnisnehmerin einsetzen 1 - IS O 1 eine Firmenpartnerschaft eingehen an der Sternenwoche teilnehmen Karten oder Geschenke kaufen oder sich mit einer Idee an uns wenden, um Kindern wirksam zu helfen. Rufen Sie uns an. Telefon 044 317 22 66 Schweizerisches Komitee für UNICEF Baumackerstrasse 24, CH-8050 Zürich Telefon +41 (0)44 317 22 66 www.unicef.ch Postkonto Spenden: 80-7211-9 Gedruckt auf umweltschonendem Papier / FOTO: UNICEF/RWAA2011-00154/NOORANI / K l e i b e r W i r z als Spender/-in begonnen haben. C D / 100112 rungen Lösungen zu initiieren, die der Not von Kindern nachhaltig entgegen-