komplette Heft - Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
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Neuer Titel, n e u e Au f m achung AUGUSTA Wolfenbütteler Bibliotheks-Informationen Jahrgang 35, Januar – Dezember 2010 herausgegeben von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Editorial Helwig Schmidt-Glintzer In neuer Aufmachung geben diese neuen Wolfenbütteler Bibliotheks-Informationen einen Rückblick auf das Jahr 2010. Unsere Forschungsarbeit und das sich immer weiter und vor allem immer wieder neu herausbildende Netzwerk der Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf den Gebieten der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung werden nicht nur durch die zunehmende Digitalisierung und vertiefende Erschließung unserer Bestände, sondern auch durch Erwerbungen bisher unbekannter Werke beflügelt. Den weit über Deutschland hinaus reichenden Kreis der Leserinnen und Leser der mit diesem Heft unter dem prägnanten Titel AUGUSTA in neuer Farbigkeit erscheinenden Wolfenbütteler Bi bliotheks-Informationen möchten wir neugierig machen auf unsere Arbeit und zugleich zu einem Besuch einladen. Auch wenn wir einen wachsenden Teil unserer Bestände im Internet zur Verfügung stellen und dabei insbesondere auch unsere graphischen Sammlungen sich zunehmender Beliebtheit erfreuen, bleibt doch das Aufsuchen der Originale in den Lesesälen und in den Ausstellungen unverzichtbar. Wie flüchtig manches ist, zeigen Bilder wie jenes Gruppenfoto im Malerbuchkabinett (s. S. 9) mit dem Hinweis auf dessen Gestaltung durch Adolf Flach, das ihn ebenso wie Anita Kästner bei ihrem letzten Besuch in Wolfenbüttel zeigt. Aber gerade die Erinnerung an Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer, Direktor der Herzog August Bibliothek das Flüchtige, an den Gedanken und den Diskurs, an die wache Stunde und den Aufruf zu bewahren, darin sieht die Herzog August Bibliothek eine ihrer wichtigsten Aufgaben, und sie fördert die Begegnung gerade auch jüngerer Menschen mit ihren Sammlungen. Dazu sowie zur Beteiligung an Diskursen der Gegenwart unter Einschluss performativer Formen wie Podiumsdiskussionen oder Darbietungen wie jener der Jazzkantine beim Tag der Braunschweigischen Landschaft wollen die Wolfenbütteler Bibliotheks-Informationen ausdrücklich einladen. Inhalt Titelthema: Grundlagenforschung mit internationaler Ausstrahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Ausstellungen Gerhard Altenbourg, Erhart Kästner und die Schnepfenthaler Suite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Das Athen der Welfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Hinter den Kulissen der Friedenspreisverleihung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Arno Piechorowski: Handpressendrucke der Aldus-Presse Reicheneck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Arbeitsgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Neuerwerbungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Veranstaltungen Lessingpreis 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Europa-Kolleg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Sommerkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Stipendiaten und Gäste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Gerda Henkel Stipendien für Ideengeschichte vergeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Besondere Nachrichten: Die Online-Sprechstunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Neuerscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 „Wolfenbütteler Gespräche“ zum deutschen Gründungsmythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Die „Jazzkantine“ in der Augusteerhalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Grundlagenforschung mit internationaler Ausstrahlung zur Stärkung der regionalen Identität Helwig Schmidt-Glintzer Ein Laboratorium der Geisteswissenschaften In der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel finden sich in einzigartiger Weise Zeugnisse der Vergangenheit, in Drucken und Handschriften, in Grafiken und Bildern, in Karten und Noten. Von dort aus eröffnen sich Wege in andere Sammlungen in aller Welt ebenso wie in nächster Nähe, wie im Staatsarchiv Wolfenbüttel und in den Kunstsammlungen Braunschweigs. Im Umgang mit diesen Zeugnissen der Vergangenheit und im Austausch mit der internationalen Forschung entsteht eine Haltung methodisch reflektierter Wissenschaftlichkeit. Aus den einzelnen Elementen dieser Haltung sind die Qualitätsstandards gebildet, denen sich die Herzog August Bibliothek verpflichtet sieht und deren weltweite Anerkennung Teil des voranschreitenden Erkenntnisprozesses ist. Im Zuge dieses Erkenntnisfortschritts sind inzwischen vielfach gewohnte Sichtweisen und Beschreibungsformen verändert oder durch ganz neue ersetzt worden. Epochendefinitionen haben sich ebenso verschoben wie sich unser Wissen über Mediennutzungen und Diskursformen der Vergangenheit grundlegend verändert hat. Vor allem ist die Isolierung schriftlicher Dokumente überwunden worden, seit sie in ihren per- Abb. 2: Sammelhandschrift, HAB: Cod. Guelf. 4.11 Aug. 4°, fol. 71r: Rhetorikschrift eines Anonymus „Ad Herennium“, Kapitel „Über die Art des Redens“ – Löwen-Initiale in Form eines Q Abb. 1: Bernward-Psalter, HAB: Cod. Guelf. 113 Noviss. 4°, fol. 131r: Gesangs- und Gebetstexte für die Osternacht formativen und rituellen Zusammenhängen verstanden werden, und seit die Erforschungen zu Fest- und Alltagskulturen neben dem Lesen von Texten den gesamten Bereich audiovisueller Kontexte einbezieht. Gerade die Ausprägung des Verständnisses von Situationen und Lebensverhältnissen der Vergangenheit aus eigenem Recht mit je eigenen Zukunftserwartungen und Vergangenheitsdeutungen fördert eine Haltung, die zum unverzichtbaren Grundinventar der Gegenwart gezählt werden muss. Die Zukunftsfähigkeit einer humanen Weltzivilisation hängt vor allem von der Pflege dieser Haltung ab. In diesem Sinne leistet die Herzog August Bibliothek auf den Gebieten der Kulturgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Grundlagenforschung. Im Wissen um die sich immer wieder neu konstituierenden Sinn- und Ideenkonstellationen richtet sich 3 lisierung der Bestände erforderlich ist. Die seit einiger Zeit im Aufbau befindliche Wolfenbütteler Digitale Bibliothek bietet bereits weltweit ortsungebundene Recherchemöglichkeiten. Auch der in den Projekten der Herzog August Bibliothek erzielte Erkenntnisgewinn wird in einem eigenen digitalen Archiv dokumentiert. Wichtig bleibt die Ergänzung der Bestände, und dabei insbesondere auch des Altbestandes der Handschriften und Drucke, zumal durch die Schließung von Lücken neue Einsichten und modifizierte Thesen und Gewissheiten der Forschung zu erwarten sind. Hierbei ist die Herzog August Bibliothek für das 17. Jahrhundert, für das sie im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Sammlung Deutscher Drucke die Verantwortung für eine lückenlose Archivierung übernommen hat, in besonderer Weise gefordert. Über die Region hinaus Abb. 3: Evangeliar Heinrichs des Löwen, HAB: Cod. Guelf. 105 Noviss. 2°, fol. 110v: Verkündigung des Engels Gabriel an Maria – Besuch Marias bei Elisabeth das Forschungsinteresse unserer einzelnen Projekte auf Fragen der Wissens‑, Konfessions- und Frömmigkeitsgeschichte. Hierzu gehört auch die Erforschung der Geschichte der Sammlungen und Bestände und ihrer Kontexte sowie die überregionaler Netzwerke und Kommunikationsverläufe. Unser besonderes Augenmerk lenken wir dabei auf die Migration von Wissen sowie auf mediale und kulturelle Übersetzungsprozesse. Die Herzog August Bibliothek erweist sich so als ein Laboratorium der Geisteswissenschaften. Im Austausch aller an ihr tätigen Forscherinnen und Forscher werden die an ihren Beständen gewonnenen Erkenntnisse überprüft und neu formuliert. Zu diesem fortlaufenden Prozess der Erkenntnisgewinnung tragen Tagungen, Arbeitsgespräche und Ausstellungen ebenso bei wie die in vielfältige regionale wie internationale Kooperationen eingebetteten Projekte der Bibliothek. Die Forschungsanstrengungen münden in gedruckte ebenso wie in digital bereitgestellte Monographien, Editionen und Tagungsbände. Die zum Teil gemeinschaftlich mit auswärtigen Partnern erstellten Internet-Portale bieten neue Formen der Wissensgewinnung und ‑erweiterung. Zusätzliche Impulse kommen aus den die Arbeit der Herzog August Bibliothek begleitenden Arbeitskreisen und ihren Komitees, die ebenso wie das Kuratorium die Leitung im Hinblick auf langfristige Zielsetzungen beraten. Neben die bereits vorhandene engmaschige und facettenreiche Erschließung der Bestände treten die Ergebnisse neuer Methoden, die die Daten- und Rechentechnik eröffnet und für die eine weitgehende Digita- 4 Neben den zahlreichen mittel- und langfristig angelegten Erschließungsprojekten wie der Beschreibung der mittelalterlichen Handschriften aus Halberstadt und der Helmstedter Handschriften verfolgt die Wolfenbütteler Bibliothek regionalgeschichtliche Projekte wie die Rekonstruktion und Erforschung niedersächsischer Bibliotheken des späten Mittelalters oder wie jenes die Geschichte der Universität Helmstedt erforschende Projekt, zu dem die Ausstellung „Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576 –1810“ gezeigt wurde. – Hier verbinden sich bildungsgeschichtliche Fragestellungen mit dem Interesse an einer vertieften Kenntnis der alten welfischen Landesuniversität, ihres Aufstiegs, ihres Niedergangs und ihrer bleibenden Verdienste. Der Übergang zum Jahr 2011 steht ganz im Zeichen des Jubiläums der seit langem protestantischen Klosterkirche St. Michael im Bistum Hildesheim, welches geschichtlich in enger Beziehung zur Herrschaft des Welfenhauses steht, und der großen Ausstellung zu den mittelalterlichen Handschriften in Hildesheim und Wolfenbüttel. Mit solchen zumeist mit jeweils großen Ausstellungen verknüpften Projekten erschließt die Herzog August Bibliothek das geistige und politische Netzwerk in der Region in seiner historischen Tiefe und leistet damit einen Beitrag zur Fundierung eines neuen Regionskonzeptes, welches angesichts der Globalisierung entwickelt werden muss, damit unsere Region als eine der wichtigen Regionen Europas in den weltweit konkurrierenden Netzwerken – wie man heute sagen würde – „gut aufgestellt“ ist. Den letzten Anstoß zu dieser den Buchschätzen des Bistums Hildesheim gewidmeten Ausstellung „Schätze im Himmel – Bücher auf Erden“ gab ein Glücksfall: Im Jahre 2007 konnte der in Privatbesitz befindliche Bernward-Psalter (Abb. 1) durch die Herzog August Bibliothek für das Land Niedersachsen erworben werden. Diese kostbare Handschrift war von Bischof Bernward von Hildesheim (993 –1022) in Auftrag gegeben und Abb. 4: Goldenes Hildesheimer Kalendarium (eine Kopie des Stammheimer Missale), HAB: Cod. Guelf. 13. Aug. 2°, fol. 5v: Kalenderseite für November/ Dezember, in Rot: der Todestag Bischof Bernwards (20. November) vom Schreiber Guntbald zwischen 1014 und 1022 ausgeführt worden. Nachträglich wurde sie für den Gebrauch im Michaelisklosters modifiziert. Die Erwerbung war allerdings nur möglich durch die finanzielle Beteiligung durch das Land Niedersachsen, die Kulturstiftung der Länder, das Bistum Hildesheim, die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, die Weinhagen Stiftung Hildesheim und die Ernst von Siemens Kunststiftung. Dieses Ereignis führte zu einer verstärkten Kooperation zwischen der alten Wolfenbütteler Bibliothek des Welfenhauses und Hildesheim, dem Bistum und der Stadt, beflügelt durch die Tausendjahrfeier der Grundsteinlegung von St. Michael in Hildesheim im Jahre 2010. Dabei kam es zu dem Plan, mit einer Ausstellung auch in Wolfenbüttel dieses Jubiläums zu gedenken und zugleich neue Einsichten aus jenem Forschungsprojekt darzulegen, welches uns im Zusammenhang der Erwerbung von der Niedersächsischen Landesregierung aus Mitteln des Niedersächsischen Vorab ermöglicht wurde. So ist der die Ausstellung begleitende Katalog zugleich ein Ergebnis neuer Forschungen zur Bildungsgeschichte des Mittelalters, zum Verhältnis von Gelehrsamkeit und geistlichem Leben, und er ist daher auch als Forschungsbericht gedacht. Mit unserem Bernward-Projekt rufen wir ganz bewusst auch die alten regionalen und europäischen Zusammenhänge auf, etwa die Sorge Karls des Großen, wie man dieses rohe und halbungebildete Volk der Sachsen geistlich betreuen könne. Bald zeigte sich der, wie es in einem Beitrag heißt, „traditionelle Antagonismus zwischen dem Hildesheimer Bischof und den mächtigen welfischen Herzögen, deren Territorien das Hochstift geradezu umklammert hielten. Mit dem Quedlinburger Rezess von 1523, heißt es weiter, als vertraglichem Abschluss ging der größte Teil des Hochstifts (das sogenannte ‚Große Stift‘) an die Welfenherzöge verlo- 5 ren, übrig blieb nur noch das sogenannte ‚Kleine Stift‘ mit den Städten Hildesheim und Peine sowie 90 Dörfern in den Ämtern Marienburg, Steuerwald, Peine und der Domprobstei.“ Nun wollten wir 500 Jahre später nicht zu einer Revision auffordern, zumal der Konflikt ja noch viel älter ist. Als nämlich 1235 auf einem Mainzer Hoftag durch Privilegierung das Herzogtum Braunschweig- Lüneburg geschaffen wurde, ahnte der Hildesheimer Bischof zu recht, was ihm da drohte, als er sogleich öffentlich gegen jede jurisdiktionelle Einmischung des Herzogs in Belange der Diözese protestierte – und auch erfolgreich war, bis zu dem erwähnten Quedlinburger Rezess. Natürlich geht die Geschichte des Bistums Hildesheim weiter zurück, bis in die Zeit der Christianisierung der Sachsen in karolingischer Zeit, belegt etwa durch die nur indirekt überlieferte Gründungsurkunde durch Ludwig den Frommen aus dem Jahr 815. Doch die verlässliche Überlieferung von Urkunden setzt später ein, und so ist eines der zentralen Zeugnisse die Fundatio ecclesiae Hildensemensis aus dem späten 11. Jahrhundert, die allerdings auch erst mit einer in Wolfenbüttel erhaltenen Handschrift aus dem 16. Jahrhundert überliefert ist, und dann natürlich durch die von Bernward selbst angeregten Codices. Von diesen Anfängen, in denen Reims die geistliche Patenschaft für Hildesheim ausübte, woher wohl auch der erste Hildesheimer Bischof Gunthar kam, bis in die Zeit der Humanisten und der Klosterreformen des 15. Jahrhunderts, spannt die Ausstellung einen Bogen. Sie orientiert sich an den Stiftungen des heiligen Bernward, auch an dem Bernward-Kult, doch geht ihr Interesse weit darüber hinaus. Sie thematisiert die Ausdifferenzierung einer Ämterverfassung und den Umbruch der Wissenschaftskonzeptionen im 12. Jahrhundert, die Anregungen der Frühscholastik in 6 Nordfrankreich in jener Zeit und die Folgen der Krise der Macht im Westen Europas, mithin den Vorabend der europäischen Neuzeit. Wie Zeugnisse der Buchkunst aus Italien und von der Insel Reichenau in unsere Gegend kamen, wird ebenso nachgezeichnet wie die Besonderheiten des Dom- und Kirchenbaus zur Schaffung von Räumen für die Liturgie. Besondere Aufmerksamkeit richten wir natürlich auch hier auf die Bildungs- und Wissensgeschichte, eines unserer zentralen Forschungsgebiete. Dabei spielt die Bibliothek von St. Michael in Hildesheim als Bildungszentrum vom 11. bis zum 13. Jahrhundert (s. Abb. 2) ebenso eine zentrale Rolle wie die Ordnung der Bücher und die Geschichte der Sammlung und die Rolle der Bibliothek für das Schulwesen und insbesondere dann auch die Frage nach der Neuordnung des Wissens im 15. Jahrhundert. Nicht nur die Einflüsse und Anregungen aus dem Westen, insbesondere aus Frankreich, galt es zu thematisieren, sondern auch die Ausstrahlung etwa in das Bistum Halberstadt. Die Codices wirkten weiter, wurden auch weiter gereicht, kopiert und wechselten ihren Ort im Zusammenhang mit den Veränderungen der Wissensordnungen. Im Rahmen der Ausstellung kann neben dem Stammheimer Missale (vgl. Abb. 4) wieder einmal unsere berühmteste Handschrift, das Evangeliar Heinrichs des Löwen (Abb. 3), gezeigt werden. Dass dabei der Materialität der Farben und den Maltechniken Aufmerksamkeit gilt, eröffnet uns neue Einblicke in die Technik der Buchmalerei des Mittelalters. Denn so sehr mit den Büchern auf Erden auch Schätze im Himmel erstrebt wurden, so sollten diese Bücher doch auch Macht- und Geltungsansprüche untermauern, und sie waren auch als Geschenk fürs Auge gedacht. Nähe und ferner Traum Gerhard Altenbourg, Erhart Kästner und die Schnepfenthaler Suite* Malerbuchausstellung vom 24. September 2010 bis zum 31. Januar 2011 Eduard Beaucamp Wir feiern in diesen Tagen die Wiedervereinigung Deutschlands vor zwanzig Jahren. Vieles mag wiedervereinigt sein, die deutsch-deutsche Kunstgeschichte ist es nicht. In der jüngeren Künstlerszene spielen der Ost-West-Gegensatz und der divergierende Verlauf der beiden Wege durch die Nachkriegszeit keine Rolle mehr. Für die jungen Künstler ist er Geschichte. Diesem kontroversen Geschichtskapitel aber haben wir uns im Westen noch keineswegs gestellt. Beherrscht ist es vom Streit um Ideologien, Mentalitäten, Stile, Verfassungen der Kunst. Die Akten über den Bilderstreit, eine Art ästhetischer Bürgerkrieg, der jahrzehntelang tobte, können noch keineswegs geschlossen werden. Nach der Wende war die bundesrepublikanische Szene im Hochgefühl ästhetischer und moralischer Überlegenheit über die ostdeutschen Kollegen her* Die Schnepfenthaler Suite konnte mit Unterstützung der Hans und Helga Eckensberger Stiftung 2010 für die HAB erworben werden. gezogen. Sie walzte alles nieder, was sie nicht kannte, verstand und interessierte und was sie jahrzehntelang nicht hatte wahrnehmen wollen. Es ging bei diesem Streit auch um die Verteidigung handfester Interessen: Man wollte den Kunstmarkt-Kuchen nicht teilen. Vor einem Jahr, im Frühjahr 2009, entbrannte der Kalte Kunstkrieg noch einmal in überraschender Schärfe und Unversöhnlichkeit anlässlich einer Ausstellung zur 60-Jahr-Feier der Verfassung der Bundesrepublik im Berliner Gropiusbau, welche die Kunst aus dem Osten nach dem Motto: im unfreien Land gab es keine freie Kunst, pauschal und schroff ausgrenzte. Und das in diesem Sommer wiedereröffnete, restaurierte Albertinum in Dresden, das nach der Wende in die Hände von Westkuratoren geriet, marginalisiert die Malerei aus der DDR, lässt die Bestände des Hauses im Depot und feiert statt dessen mithilfe von Leihgaben in ganzen Saalfluchten die sattsam bekannten Stars aus dem Westen, die bereits die Museen der alten Bundesrepublik fast monopolistisch beherrschen und die westlichen Kunstmärkte Abb. 1: Feste Geschöpfe, in sich und leichtfüßig. Kaltnadelradierung von Gerhard Altenbourg, aus: Schnepfenthaler Suite 1985 –1988 7 abgegrast haben. Die wenigen Westmuseen, die qualitätvolle Ostkunst-Bestände haben, voran, dank des Mäzens, die Ludwig-Museen in Köln, Aachen oder Oberhausen, haben diese Bestände nach der Wende ins Depot gesteckt oder, der Fall Oberhausen, ziemlich brutal in den Osten zurückgeschickt und auf diese Weise entsorgt. Ausnahmen seien nicht unterschlagen: So widmete die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, die beste Adresse für Kunst der Moderne im Lande, 2003 und 2005 Gerhard Altenbourg und dem Maler Bernhard Heisig große Retrospektiven. Soweit das Wort zur heutigen Lage der nach wie vor geteilten Kunstnation. Altenbourg gehört eigentlich nicht in dieses Streitkapitel. Als Zeichner und Graphiker beansprucht er keinen Platz in den Schausammlungen der Museen und wird nicht als Konkurrent angesehen. Zum anderen zählte der Westen ihn, den halbabstrakten Dissidenten, fast zur Westästhetik. Er fand in der Bundesrepublik, später auch in der DDR, sehr früh passionierte Händler, Sammler und Apologeten: Sein beredtster, poetischster und inbrünstigster Anwalt wurde zweifellos Erhart Kästner, Direktor dieses Hauses in der Zeit von 1950 bis 1968. Dieser Schriftsteller und eher inspirierte als bürokratische Bibliothekar wollte das Bücher-Mausoleum öffnen und in eine „Bibliotheca illustris“ verwandeln. Als neue Spezialität in der großen bibliophilen Tradition des Hauses hat Kästner die Pflege des modernen Malerbuches, des illustrierten Buches im 20. Jahrhundert, eingeführt. Bereits auf der zweiten documenta in Kassel, 1959, überraschte seine wunderbare Sammlung die Kunstwelt. Kästner hat für das graphische Kabinett der Bibliothek erste Blätter von Altenbourg erworben und legte damit das Fundament für die Sammlung, die Sie heute hier im Malerbuchkabinett bewundern können. Diese Initiative hat sich höchst fruchtbar ausgewachsen. Kästners Nachfolger haben den Grundstock weiter ausgebaut. Noch im März dieses Jahres konnte die umfangreiche „Schnepfenthaler Suite“ erworben werden, die in Einzelblättern (Abb. 1, 2 und 4) im Zentrum der Ausstellung steht. Sie umfasst nicht weniger als 110 Blätter. In den inquisitorischen ersten Jahren nach der Wende wurde versucht, auch die Existenzen am Rande der DDR, die Vertreter einer eigenwilligen Nischenkultur zu entzaubern und in Zweifel zu ziehen. Dass es solche Nischen gab, ja dass sie die wahren Zentren und Energiequellen einer schöpferischen Kultur in der DDR waren, bezeugt kein zweiter Künstler so eindrucksvoll und vollkommen aufrichtig wie Altenbourg, der im Übrigen eigentlich Gerhard Ströch hieß. Er war in seinem verwunschenen Haus und Garten am Rande von Altenburg in Thüringen ein restlos introvertierter DDR-Bewohner, in rigiden Zeiten fast ihr Gefangener, der sich den Zumutungen der Außenwelt bis zuletzt zu verweigern vermochte. Sein Haus war ein inwendig fast utopischer Ort, an dem er mitten im grauen und gleichförmigen Land eine Art bizarrer, anachronistischer Dandy-Existenz führte. Abb. 2: Wenige Linien, die dem Blick unendlich viel Material sind. Kaltnadelradierung von Gerhard Altenbourg, aus: Schnepfenthaler Suite 1985 –1988 8 Altenbourg war der innere Emigrant schlechthin, ein verschwiegener, aber unbeirrbarer Dissident, ein ebenso unauffälliger wie heroischer Idylliker, der, so schien es, lange allein mit seiner hermetischen Existenz gegen dröhnende Doktrinen und Staatskünste antrat. Er protestierte lautlos und gab seine freiwillige Isolation auch dann nicht auf, als sich das ästhetische Klima liberalisierte, als der Eremit auch in der DDR zu seinem Sechzigsten in großen Museumsausstellungen in OstBerlin, Leipzig und Dresden gefeiert und als Exportfaktor in den Staatsbilanzen der DDR-Kunst geschätzt wurde. Altenbourg durfte anfangs nicht in den Westen, auch nicht zur Eröffnung eigener Ausstellungen in den Westen fahren. „Ich weine Tränen, dass ich diese Frucht von 20 Jahren nicht sehen darf“. Das schreibt er noch 1969 anlässlich einer Ausstellung im Westberliner Haus am Waldsee an Kästner. Später stellte der vorsichtige, nach bösen Erfahrungen misstrauische Künstler nicht einmal mehr Anträge für solche Reisen. Brücken, die ihm gebaut wurden, um auszureisen, schlug er aus. Er brauchte wohl auch die Einsamkeit, die feindliche Realität und den Widerstand – hier berührt man ein Rätsel der Kreativität, für den Kult der eigenen Sensibilität, für seine Selbststilisierungen, die Verinnerlichungen und Sublimierungskünste und für seine Zwiesprache mit der thüringischen Landschaft, mit der Geistes- und Kulturgeschichte. 1971 schreibt Kästner: „Er liebt ja auch seine Gefangenschaft“, während seine Schwester „lieber heute als morgen übersiedeln“ würde. Altenbourg wusste wohl auch, dass seine Nische, auf andere Weise, auch im Westen durch den Druck zur Veräußerlichung und den Kulturbetrieb bedroht gewesen wäre. Jedenfalls wurde Altenbourg mit der Zeit durch seinen geheimen Widerspruch und sein trotziges Ausharren zum ermutigenden Idol der Nonkonformisten in der DDR. Der Künstler ist im Westen früh entdeckt worden, freilich zunächst nur im kleinen Kreis. Der Westberliner Galerist Rudolf Springer stellte ihn, vorerst ohne große Resonanz, schon 1952, 1956, 1961, schließlich 1964 aus. Altenbourg hatte passionierte Freunde und Sammler im Osten wie im Westen, die ihm über die öffentlichen Aussperrungen, die Observierungen, Repressalien und Schikanen hinweghalfen. Im Osten sammelte und förderte ihn vor allem Werner Schmidt, der Direktor des Dresdner Kupferstichkabinetts. Im Westen verschaffte ihm der Kunsthändler Dieter Brusberg, der ursprünglich in Hannover, später in Berlin arbeitete, den Durchbruch zur größeren Öffentlichkeit. In seiner Galerie in Hannover stieß im Sommer 1968 Erhart Kästner auf den Künstler, den er bis dahin eher nur flüchtig kannte. Sein Blick fiel zuerst auf ein Blatt mit dem Titel „Im Tal“, das im Treppenhaus hing und das ihn so fesselte und verzauberte, dass er es spontan erwarb. Der Blick auf diese Zeichnung wurde zur Offenbarung. Das folgenreiche Erlebnis sollte den Schriftsteller die restlichen sechs Jahre seines Lebens tief bewegen. Kästner suchte bald den Kontakt zum Künstler. Er schrieb ihm Briefe, studierte Porträtfotos und reiste zu westdeutschen Sammlern und ihren Altenbourg- Originalen. „Großes Entzücken, großer Tag, unglaub- Abb. 3: Nikoline Kästner und ihre Mutter, Anita Kästner, stehen mit dem Restaurator Adolf Flach vor den von ihm zur Zeit von Erhart Kästner angefertigten Malerbuchschubern 9 licher Eindruck“, schwärmt der berauschte Kästner, als er die Blätter in der Frankfurter Sammlung Horst Magold sehen durfte. Für ihn tut sich hier ein „Rätseltraumbuch“ auf. „Lieber Herr Ströch“, schreibt er fast trunken im F ebruar 1969, „ es ist fabelhaft schön, dass es Sie gibt. Es ist ein großes Kapitel, das sich mir da aufschlägt, und ein sehr geheimnisvolles, verschlüsseltes, einsaugendes, schmerzensreiches, bestandenes. Wir dringen da tappend und forschend, bewundernd und ratend ein. Wenn es so einfach wäre. Aber da sind viele Schichten, Keller und Unterkeller und noch einmal etwas darunter. Was sichtbar wird auf dem Papier, das ist durchdunstet von dem, was aus den Gewölben aufsteigt: Verborgenes, Gehütetes, Verhehltes, Verschwiegenes, Gestandenes, Kostbares. Es geht Traumgewalt davon aus, ich erfahre, dass etwas davon in meine Träume eingeht. Das nehme ich als ein mir wohlbekanntes, untrügliches Zeichen von Kraft, die sich in den Blättern versammelt und davon ausgeht.“ Der beflügelte Kästner besuchte den Künstler schon ein halbes Jahr später in Altenburg, was damals noch ein Unternehmen war, abenteuerlicher als eine Reise in fernste Ecken der Welt. Er malt dabei ein recht dämonisches Bild der DDR als Reich des Bösen mit Altenbourg als Märtyrer und Lichtgestalt. Er wittert „Gestapoluft“ und sieht sich von „Folterknechten“ bedroht. Kästner widmet dem Bewunderten im Folgenden zwei magistrale Essays und eine Rede, die in Werkverzeichnissen, Katalogen sowie im großen Bildband des PropyläenVerlags mit dem Titel „Ich-Gestein“ von 1971 erscheinen. Es entwickelt sich eine Geschichte der gegenseitigen Faszination, die der Briefwechsel beider Partner dokumentiert. Altenbourgs Kunst, die sich über Jahrzehnte in der puren Phantastik eingerichtet hatte, überraschte, bannte, begeisterte Kästner und ließ seine Sprache aufblühen. Behutsam und beglückt erkundete er die zweite, ja eigentliche Existenz des Künstlers in seinem Werk, die Schichten und Verwerfungen des Altenbourgschen „Ich-Gesteins“, das Schatzhaus und Bergwerk einer Kunst, die sich der Magier und Narziss exquisit und kostbar, leuchtend und labyrinthisch ausgebaut hatte. Kästner glaubte stets an eine besondere Wirklichkeit der Bilder. Altenbourgs Werk belebte in seiner Phantasie die Namen Thüringen und Weimar, deren Vorstellung sich im geteilten Land, was man heute kaum noch nachvollziehen kann, zu verflüchtigen begannen. Kästner stieß bei der Versenkung in die Blätter auf innere Verwandtschaften und setzte seine Funde und Abenteuer in üppige Metaphern und Sprachformen um. Altenbourg spürte sofort das Verständnis und die Nähe. Der Vielbelesene kannte Kästners Bücher und seine Texte über Klee, Max Ernst, Bissier und nennt seinen Aufsatz über Werner Heldt, den hintergründigen Berliner Veduten-Maler, „das schönste und hellste Stück Prosa über einen Maler“. Altenbourg fühlte sich vollkom- Abb. 4: Ob es erlaubt ist, an die Venus von Willendorf zu denken? Kaltnadelradierung von Gerhard Altenbourg, aus: Schnepfenthaler Suite 1985 –1988 10 men und tief verstanden. Er gibt die Begeisterung zurück: „Es gibt Sätze und Formulierungen in ihrem Text“, schreibt der Künstler, „die mich geradezu aufjauchzen lassen“. Die gegenseitige Begeisterung schließt aber hin und wieder nicht gewisse gekränkte Eitelkeiten und auch kleine Mäkeleien aus. Will Grohmann, einer der ersten Bewunderer, hat einmal geschrieben, bei Altenbourg sei das Innen stets gleichzeitig das Außen und das Außen immer das Innen. Kästner, der Dichter, wollte in den zarten Geologien und Vegetationen auf Altenbourgs Blättern das Unterbewusste der Landschaft, ein „Begreifen von der Wurzel her“ entdecken, wie er schreibt. Es gibt eine bemerkenswerte historische Parallele zu dieser Diagnose: Der französische Bildhauer David d‘Angers hatte ein Jahrhundert zuvor im Atelier Caspar David Friedrichs von der Tragödie der Landschaft, die sich in den Bildern des deutschen Romantikers offenbare, gesprochen. Bei einem Künstler wie Altenbourg, das kann man auch mit kühlem Kopf feststellen, behauptete sich, ja triumphierte die viel verdächtigte deutsche Innerlichkeit. Diese Innerlichkeit überlebte in einer romantisch getönten, zeichnerischen Mentalität das Jahrhundert der Moderne und auch die Teilung der Nation. Sie verbindet so konträre Figuren wie Wols, Oelze, Schultze, Tübke, Janssen, Carlfriedrich Claus und gerade auch Beuys. An dieser deutschen Nachkriegskunst beeindruckt im Rückblick nicht einmal so sehr, dass im einen Teil der Anschluss an einen verordneten Realismus, im anderen Teil an eine bald normative westliche Moderne gesucht wurde. Was mehr zählt, ist das Auftauchen und Überleben solch sensibler Individuen, das Phänomen ästhetischer Passionen. Mit dem frühen Altenbourg der ersten Nachkriegszeit tat sich Kästner offenbar schwer. Der junge Künstler, 1926 als Sohn eines freikirchlichen Pfarrers zur Sanftmut und Menschenliebe erzogen, war übrigens noch keineswegs weltflüchtig und lebensfremd. Er wird, nicht anders als Beuys und Heisig, von Kriegserlebnissen stigmatisiert. Altenbourg wurde als Achtzehnjähriger zum Kämpfen und Töten gezwungen. Der grauenhafteste Zwischenfall, die Tötung eines Rotarmisten mit dem Bajonett beim Kampfeinsatz im Riesengebirge, hat sich in den gequälten, aufgebrochenen und zerrissenen Körpern auf seinen frühen, zum Teil monumentalen Zeichnungen niedergeschlagen. Die anfangs offene, später latente Pathologie im Werk Altenbourgs ist also Folge existentieller Erschütterungen und nicht das Produkt eines artifiziellen Manierismus. Die tiefe Verstörung wirkt lange nach in Grotesken, Maskeraden, in den Erscheinungen eines verletzten, manchmal bandagierten Egos, in den rätselhaften Fragebildern und leeren Köpfen der Spätzeit, wo ein schweifendes und kreisendes Suchen an die Stelle des Detaillierens und Verdichtens tritt. Man verfehlt, glaube ich, die Eigenart dieser Kunst, wenn man sie in den Systemen und Evolutionen der vor allem abstrakten Westästhetik unterbringen möchte. Altenbourg war, wie Kästner sofort erkennt, ein moder- ner „pictor doctus“. Die Idiome und Methoden der Moderne sind ihm geläufig. Der hoch gebildete Künstler schürft in den Goldadern der Décadence und des Symbolismus, macht sich Prinzhorns Schatz psychopathologischer Bildnerei zunutze und verkehrt in einer imaginären Gesellschaft der Dadaisten und Surrealisten. Kästner reiht seinen Protagonisten darüber hinaus ein in die exklusive Nachkriegsfamilie existenzialistischer und absurder Künstler, von Gestalten wie Beckett, Ionesco und Giacometti. Er stellt sich vor, dass Wols Altenbourgs Blätter in die Hand genommen und in ihm seinesgleichen erkannt hätte. Aus zahllosen Fundstücken, Anregungen und Erinnerungen baut sich Altenbourg sein inneres Kunstuniversum, ein Spiegelkabinett de Moderne, zusammen. Schattenspuren von Schiele, Chagall und Feininger, von Meyer-Amden und Schlemmer durchziehen das Werk. Auch die Maler des Informel und der psychischen Improvisation sind Hausgenossen in diesem Labyrinth des L‘art pour l‘art. In diesem Tempel zelebriert Altenbourg seine Neurosen, Träume und Süchte. Seine Abstraktion ist in einem elementaren, ja existentiellen Sinn Absage an die Wirklichkeit. Der Künstler versenkt sich mit allen Nerven und Sinnen ins Werk, betreibt hier seine Selbst- und Weltfindung, verwebt Inneres und Äußeres, Seelisches und Biologisches und schichtet die Außenwelt, vor allem die inbrünstig beobachtete Natur mit ihren Wachstumsgeheimnissen im Wechsel der Zeiten, nach Maßgabe seines Denkens, Empfindens und Gestaltens um. Aus dieser Situation leiten sich die Grundfiguren in seinen Kompositionen ab, die zu Abkapselungen und Verinselungen neigen. Die Körper und Köpfe, die landschaftlichen und architektonischen Formationen, die teppichhaften Felder und schimmernden Farbmosaike grenzen sich entschieden nach außen ab und erschließen dem Blick nach innen ein wimmelndes, funkelndes, mikrobiologisches Seelenleben – einen inneren Orient. Altenbourgs aufschließende Bildmethoden sind weniger die Spontaneität, die Improvisation oder der Automatismus der Surrealisten und ihrer abstrakten Epigonen in der Nachkriegskunst, vielmehr ein endloses, spiralhaftes, dennoch planvolles, im Spätwerk manchmal auch leer laufendes Suchen – ein Graben, wie Altenbourg selbst sagt, ein Schürfen, Schichten, Verweben und Verdichten. In einem seiner schönsten Blätter spricht Altenbourg im Titel von „Ich-Gestein“, das er mit unendlich feinen Instrumentarien erkundet oder vielmehr erst erfindet. So entwickelte sich ein einzigartiger Dialog zwischen Kästner und Altenbourg, zwischen einem Schriftsteller und einem Zeichner, zwischen zwei Poeten, die sich inein ander verspiegeln, die sich gegenseitig entdecken und feiern. Dieses Gespräch mitten im Kalten Krieg schildert Ferne und Nähe in einem verwirrten und zerrissenen Land und beschreibt die äußeren Bedrängnisse und Kläglichkeiten, aber auch die verteidigte Freiheit, den inneren Reichtum und Glanz einer Künstlerexistenz in einer Diktatur. 11 Das Athen der Welfen Die Reformuniversität Helmstedt 1576 –1810, Ausstellung vom 7. Februar bis 29. August 2010 Ulrike Gleixner / Jens Bruning Fürsten wie Universität waren darauf bedacht, sich über bildliche Repräsentation ins Gedächtnis der Nachwelt einzuschreiben – wissend, dass erst die Überlieferung nachhaltig Bedeutung verleiht. Die antike Symbolsprache liefert dabei die Vorlage für die eigene mediale Inszenierung. Die welfische Gründung als „Athen“ zu titulieren, schlägt den Bogen zur ruhmreichen ersten, von Platon begründeten Akademie in Athen. Zum Besuch von Herzog Ludwig Rudolph an der Universität entsteht ein Erinnerungsbild (Abb. 1), das antike mythologische und emblematische Bezüge aufnimmt. Links im Bild ist das Hauptgebäude, das Juleum Novum, zu sehen, in der Mitte der antike Berg Helikon, der Sitz der Musen, der nun in den Elmwald bei Helmstedt verlegt ist. In den Bienenkorb fliegen vogelähnliche Bienen. Die Vögel der Musen kündigen die Ankunft guter Freunde an. Der Adler rechts symbolisiert Zeus als den Vater der Musen. Gründung und Entwicklung Wie die protestantischen Universitätsneugründungen des 16. Jahrhunderts folgte auch die Etablierung einer Abb. 2: Stammbuch v. Eltzen, 1651 (1650 –1658). Als der Theologie student Conrad Friedrich von Eltzen aus Celle 1651 an die Universität Helmstedt abreist, verewigt sich sein Bruder Balthasar im Stammbuch. Neben dem Familienwappen reichen sich die beiden zum Abschied die Hand: Die brüderliche Verbundenheit, durch die Kette und das flammende Herz symbolisiert, kann nur durch den Tod gesprengt werden. Hochschule in Helmstedt den konfessionspolitischen Entscheidungen des Landesherrn. War das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel unter Herzog Heinrich dem Jüngeren lange Zeit ein katholischer Brückenkopf im Norden des Alten Reiches, führte dessen Sohn Julius unmittelbar nach dem Regierungsantritt im Jahr 1568 die Reformation in seinem Territorium ein. Ein zentrales Problem bei der Verankerung der neuen, lutherischen Lehre war die Ausbildung von bekenntnistreuen Geistlichen und Beamten und so begann der Landesherr frühzeitig auch mit dem Aus- und Umbau des Schul- und Bildungswesens. Bereits im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens konnte eine große Anzahl Studenten an die Neugründung gelockt werden: Mit durchschnittlich 250 Einschreibungen pro Jahr lag die Academia Julia schlagartig über dem Durchschnitt aller Universitäten im Alten Reich; bei aller Vorsicht vor solchen Schätzungen wird man davon ausgehen können, dass die kleine Stadt Helmstedt mit ihren ca. 2.500 bis 3.000 Einwohnern zu dieser Zeit bereits an die 500 Studenten beherbergte. Universität, Stadt und Professorenhaushalt Abb. 1: Diptychon: 1. Ankunft von Herzog Ludwig Rudolph mit Gefolge in Helmstedt, 1731 12 Aus der mittelalterlichen Tradition bilden Universitäten einen privilegierten, eigenen Rechtsraum gegenüber der Stadt. Das Spezialprivileg für die Universität Helmstedt von 1592 legt fest, wer rechtlich zum Universitätsbürgertum gehört – neben den Studenten die Professoren mit Ehefrauen und Kindern, der Universitätsdru- cker, Buchbinder, Wirt, Apotheker, Fechtmeister und die Pedelle der Universität. Die Häuser, Gärten und alle bewegliche Habe der Genannten sind steuer- und abgabenfrei und Universitätshaushalte beziehen Wein und Bier steuerfrei. Man kann sich denken, dass bei dieser Privilegierung und Ungleichheit das Verhältnis von Universitäts- und Stadtbürgern stets angespannt blieb. Die Akten dokumentieren unzählige Auseinandersetzungen zwischen beiden – auch Trinkgelage der Studenten auf dem Helmstedter Marktplatz boten Anlass zum Streit (Abb. 3). Durch Zimmervermietung an Studenten und vor allem durch deren Beköstigung trugen Professorenfrauen maßgeblich zum Familieneinkommen bei. Wir dürfen in diesem Zusammenhang noch einmal auf unser vom Land Niedersachsen gefördertes Forschungs- und Erschließungsprojekt zur Wissensproduktion an der Universität Helmstedt verweisen. Vorlesungsverzeichnisse, Dissertationen und vieles mehr sind über unser Internetportal zur Universität Helmstedt recherchierbar und am Ende der Projektlaufzeit werden drei neue Studien zur Universität Helmstedt vorliegen. Abb. 4: Georg Calixt, Kupferstich von Christian Romstet, HAB: Portr. II 808 schen Verwaltung stark überdimensioniert und finanziell nicht tragbar erschien. Erneut erwies sich die geographische Nähe zu Halle und Göttingen als problematisch, denn natürlich hatten diese beiden Hochschulen aufgrund ihrer glanzvollen Entwicklung im 18. Jahrhundert große Vorteile, einer Auflösung zu entgehen. Helmstedt war schließlich Teil des großen Universitätssterbens um 1800, in Zuge dessen nahezu die Hälfte aller Hochschulen des Alten Reiches aufgehoben oder mit anderen Einrichtungen zusammengelegt wurde. Am 1. Mai 1810 endete dann die nahezu 240jährige Geschichte der Helmstedter Academia Julia. Abb. 3: Trinkszene aus dem Stammbuch von Friedrich Christian Fricke, 1754 Die Reformuniversität Die bekanntesten und vielleicht herausragendsten Leistungen der welfischen Hochschulgründung liegen auf den Gebieten der Theologie mit der Etablierung einer irenisch-toleranten Haltung des Luthertums durch Georg Calixt (Abb. 4) und seine Nachfolger (der sogenannte „Helmstedter Geist“) sowie der Begründung der deutschen Rechtsgeschichte durch Hermann Conring (Abb. 5). Das Ende der Universität war vor allem von politischen Faktoren bestimmt: Nach dem Frieden von Tilsit 1807 wurde eine umfangreiche territoriale Neuordnung der Gebiete westlich der Elbe vorgenommen, und als neuer französischer Modell- und Satellitenstaat entstand das Königreich Westphalen mit der Hauptstadt Kassel, in das auch Braunschweig-Wolfenbüttel integriert wurde. Das neue Staatsgebilde verfügte mit Marburg, Helmstedt, Rinteln, Halle und Göttingen über gleich fünf Volluniversitäten, was der französi- Abb. 5: Hermann Conring, Gemälde, Öl auf Holz, 1665, HAB: B 34 13 Hinter den Kulissen der Friedenspreisverleihung Widerreden – 60 Jahre Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Ausstellung vom 26. Juli bis 7. August 2010 Martin Schult Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen die Geschichte und die Werte des Friedenspreises, aber vor allem die Persönlichkeiten der Friedenspreisträger und ihrer Laudatoren. Sechzig Fotografien haben wir aus dem umfangreichen Archiv herausgesucht, um dem Betrachter den Preis, seine Preisträger und den historischen und gesellschaftlichen Kontext zu veranschaulichen. Das Jahr 2003 war ein Jahr des tatsächlichen Krieges. US-amerikanische und britische Truppen marschierten im Irak ein und stürzten Sadam Hussein. Deutschland beteiligte sich nicht an der Besetzung, was zu großen Verstimmungen mit den USA führte. Der Stiftungsrat des Friedenspreises wählte in diesem Jahr Susan Sontag zur Preisträgerin, übrigens eine von insgesamt nur sieben Frauen! Das Foto von der ersten Reihe in der Paulskirche zeigt sie, wie sie mit intensivem Blick als einzige zum Fotografen schaut (Abb. 1). Es ist eine der letzten Aufnahmen von Susan Sontag, die vier Monate später ihrem Krebsleiden erlag. Bis auf Kulturstaatsministerin Christina Weiss waren keine weiteren hochrangigen Politiker oder Diplomaten bei der Preisverleihung anwesend, weder von deutscher noch von US-amerikanischer Seite. War ein Fernbleiben aus US-amerikanischer Sicht noch verständlich, schließlich war Susan Sontag eine der prominentesten Gegnerinnen des Irak-Krieges, wurde das Fehlen der deutschen Politik stark kritisiert. Mein Lieblingsbild in der Ausstellung ist das Foto von der Verleihung an Nelly Sachs aus dem Jahr 1965 (Abb. 2). Der Fotograf nahm durch die Wahl seines Standorts sowohl die Preisträgerin als auch das Publikum ins Visier in dem Moment, als Nelly Sachs vom damaligen Börsenvereins-Vorsteher Friedrich Wittig die Urkunde erhielt: eine kleine Frau mit schüchternem, fast ängstlichen Blick vor der Kulisse von großen, in schwarzen Anzügen steckenden Männern. Fast dreißig Jahre war die während der Nazizeit verfolgte und gerade noch rechtzeitig ins schwedische Exil geflohene Dichterin nicht mehr in Deutschland gewesen. Frau Assmus, die mehr als 30 Jahre für die Organisation des Friedenspreises zuständig gewesen ist, erzählte mir von dem Sessel in der ersten Reihe, der für die kleine Dame so hoch war, dass sie ganz nach vorne rutschen musste, um mit den Füßen den Boden zu erreichen. Sie berichtete von der Wärme, die die ernst dreinschauenden Männer der Preisträgerin entgegenbrachten und so die Nervosität, die aufgrund der unbequemen Sitzhaltung für sie fast nicht mehr auszuhalten war, etwas milderten. Die Entscheidung von Nelly Sachs, vor diesem Publikum keine Rede über Krieg und Frieden zu halten, sondern ein ex- Abb. 1: Susan Sontag bei der Verleihung des Friedenspreises 2003. Foto: Werner Gabriel / Friedenspreis-Archiv 14 tra für diesen Anlass geschriebenes Gedicht vorzutragen, war richtig und beeindruckend. Es gab der Dichterin die Sicherheit, in ihrem Element zu sein und ver- deutlichte den beiwohnenden Gästen, wie vielfältig die Erinnerung an die Verbrechen gegen die Menschheit sein kann. Einer wird den Ball EINER wird den Ball aus der Hand der furchtbar Spielenden nehmen. Sterne haben ihr eigenes Feuergesetz und ihre Fruchtbarkeit ist das Licht und Schnitter und Ernteleute sind nicht von hier. Weit draußen sind ihre Speicher gelagert auch Stroh hat einen Augenblick Leuchtkraft bemalt Einsamkeit. Einer wird kommen und ihnen das Grün der Frühlingsknospe an den Gebetmantel nähen und als Zeichen gesetzt an die Stirn des Jahrhunderts die Seidenlocke des Kindes. Hier ist Amen zu sagen diese Krönung der Worte die ins Verborgene zieht und Frieden du großes Augenlid das alle Unruhe verschließt mit dem himmlischen Wimpernkranz Du leiseste aller Geburten Abb. 2: Nelly Sachs bei der Verleihung des Friedenspreises in der Frankfurter Paulskirche 1965. Foto: Klaus Meier-Ude / Friedenspreis-Archiv 15 Arno Piechorowski: Handpressendrucke der Aldus-Presse Reicheneck Malerbuchausstellung vom 30. April bis 19. September 2010 Aufgabe des Handpressendruckers ist es, aus den Elementen Text, Bild, Schrift, Druckfarbe, Papier und Einband eine Einheit zu schaffen, die selbstverständlich überzeugt und zeitlosen Wert anstrebt. (G. Mardersteig) Die Aldus-Presse Reicheneck ist eine Handpresse. Der Pressendrucker, Arno Piechorowski, Jahrgang 1930, gestaltet Texte, die ihm wichtig sind, mit Bleilettern aus dem Gutenberg-Zeitalter und druckt sie in kleinen Auflagen von Hand. Aus der Zusammenarbeit mit Schriftstellern, Illustratoren und Buchbindern entstehen so Bibliophile Editionen als Prachtausgaben, Quart- und Oktavausgaben, Mappenwerke mit Lesebildern, Bibliophile Hefte und Einblattdrucke. Von 1980 bis 2010 erschienen 120 Ausgaben, für Freunde, Liebhaber und Sammler bestimmt und immer wieder auch in Buchkunst-Ausstellungen gezeigt. Einen Teil dieses Gesamtwerks zeigte die Herzog August Bibliothek im Malerbuchsaal. Abb. 1: Am Abend der Ausstellungseröffnung im Malerbuchsaal Abb. 2: In Rot: Die Heimkehr zu Penelope. Aus Homers Odyssee nach dem Text von Heinz Schwitzke mit Bildornamenten von Hans Ohlms. Gedruckt von Arno Piechorowski, Aldus-Presse, 1985 16 Arbeitsgespräche 2010 (Auswahl) Dis/simulatio und die Kunst der Maske, Maskerade, Verstellung und Täuschung im Barock Leitung: PD Dr. Christiane Kruse (Marburg), 3. bis 5. März 2010 Seit der Antike sind Illusion, Verstellung und Täuschung Begriffe, die Maskerade und Rollenspiel kennzeichnen. Die Maske ist das Instrument, das Verborgenes oder Abwesende sichtbar macht, das überdeckt oder unkenntlich macht und das vor allem der Produktion der Identität ihres Trägers dient. Die Referate fragten danach, welche Beziehungen zwischen der Maske und der damit verbundenen Rolle sowie der Identität des Trägers bestehen. Mit Maske und Maskerade vermag der Akteur bestimmte Aspekte zu betonen, sich neu zu erfinden, Intentionen und Gefühle hervorzuheben, sein „Image“ zu formen. Rollenübernahme ist aber nicht nur eine Sache des Theaters und des Porträts, sondern ein soziales Handlungsmuster, eine Verhaltensweise – eine Kulturtechnik schlechthin –, die der Mensch beherrschen Abb. 1: Diese groteske Maske ist Teil einer Folge (1601–1675), deren Zeichner Giulio Romano und deren Stecher möglicherweise Lucas Vorsterman d. J. ist. HAB: Graph. A1: 1476a muss, um etwa bei Hof oder sonst in der Gesellschaft zu reüssieren. In der frühneuzeitlichen Kunst und im Theater wurde einerseits die Simulatio als Möglichkeit des kreativen Spiels mit der Illusion diskutiert. Dem stand besonders in der Aufklärung eine Kritik der Maske gegenüber, die die „Natürlichkeit“ des Menschen betonte und Maske und Maskerade als Täuschung diskreditierte. Kristina Steyer, Mainz/ Wolfenbüttel „Der Lenker und höchste Leiter der Universitäten und Kirchen“. Melanchthons Werke und Briefe – Überlieferung und Wirkung in Wissenschaft und Kirche bis zum Ende des 16. Jahrhunderts Leitung: Prof. Dr. Dr. Johannes Schilling (Kiel); Prof. Dr. Timothy Wengert (Philadelphia), 25. bis 27. Mai 2010 Philipp Melanchthon gehört zu den prägenden Gestalten der Geschichte der Bildung in Deutschland und Eu- Abb. 2: Holzschnitt-Illustration aus: Philipp Melanchthon: In Evangelium Ioannis, annotationes, Tübingen 1523, HAB: Graph. Res. C: 186.74. Der Rahmen enthält Szenen zur Wandlung vom Saulus zum Paulus. 17 ropa. Im Rahmen der Lutherdekade in der Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 figuriert das Jahr 2010 unter dem Thema „Reformation und Bildung“. Angesichts der herausragenden Bedeutung, die die Herzog August Bibliothek für die Überlieferung und Erschließung von Melanchthons Werk hat, war es naheliegend, ein Arbeitsgespräch in der Bibliothek zu veranstalten, das Überlieferung und Interpretation dieses Werkes, Befund und Deutung miteinander verknüpft. Die gemeinsame Tagung von ausländischen und deutschen Wissenschaftlern, erfahrenen Melanchthonforschern und Nachwuchswissenschaftlern, hat sich als ausgesprochen fruchtbar erwiesen. Prof. Dr. Dr. Johannes Schilling Der Deismus in Europa Leitung: Prof. Dr. Winfried Schröder (Marburg) und Prof. Dr. Lothar Kreimendahl (Mannheim), 14. bis 16. Juni 2010 Der Deismus gehört zu den philosophie- und theologiegeschichtlichen Strömungen der Neuzeit, die in besonderem Maße zu der Überwindung der vormodernen Welt in der Zeitspanne zwischen dem späten 16. und dem 18. Jahrhundert beigetragen haben. Seine Leitideen – die Suffizienz einer um moralische Vorschriften zentrierten ‚natürlichen’ Religion, die aus bloßer Vernunft zugänglich ist, die Überflüssigkeit einer übernatürlichen Offenbarung und die daraus abgeleitete Forderung nach Toleranz und Denkfreiheit – weisen ihn geradezu als „die Religionsphilosophie der Aufklärung“ (Ernst Troeltsch) aus. Obwohl seine maßgebliche Rolle seit langem bekannt ist, fehlt es an einem umfassenden und differenzierten Gesamtbild des Deis- 18 mus. Es schien also an der Zeit, Spezialisten des In- und Auslandes in einem Arbeitsgespräch zusammenzuführen, für das die Bibliotheca Augusta – man denke nur an die Wolfenbütteler Fragmente des Hermann Samuel Reimarus, eines Deisten von europäischem Rang – den angemessenen Rahmen bot. Prof. Dr. Winfried Schröder Helden in der Renaissance – Jahrestagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung Leitung: Prof. Dr. Achim Aurnhammer (Freiburg) und Prof. Dr. Manfred Pfister (Berlin), 4. bis 6. Oktober 2010 In seiner Einführung stellte Manfred Pfister für die Frühe Neuzeit eine Pluralisierung des Heroischen heraus, die mit dessen Prägnanzverlust einhergeht. Bezeichnet der ‚Heros‘ in der griechischen Antike einen ‚Halbgott‘ , der zwischen Göttern und Menschen vermittelt und sich vor allem im epischen Kampf auszeichnet, so kann im 16. Jahrhundert schon jeder als Held gelten, der sich einer großen Aufgabe, auf welchem Gebiet auch immer, mutig stellt; seit dem späten 17. Jahrhundert, in England seit Dryden, heißt ‚Held‘ schließlich nicht mehr nur derjenige, dem eine übermenschliche Tat zugeschrieben wird, sondern der Protagonist jeglichen Romans oder Dramas. Der unterschiedliche Gebrauch des Begriffs ‚Held’ in der Renaissance spiegelt die Proliferation des Heroischen in den Bereichen Kriegswesen, Politik, Religion oder Kunst und Wissenschaft wider, dem die Tagung nachzuspüren suchte. Prof. Dr. Achim Aurnhammer und Prof. Dr. Manfred Pfister Neuerwerbungen 2010 (Auswahl) Sammlung Deutscher Drucke 1601–1700 und Handschriftenabteilung Abb. 1 und 2: Christoph Dambach: Büchsenmeisterey. Das ist … gründliche Erklärung deren Dingen, so einem Büchsenmeister … zu wissen von nöthen, Darmstadt, Frankfurt/ M. 1615, HAB: Xb 9473 Abb. 1 und 2: In dieser dritten, nur in wenigen Exemplaren überlieferten Ausgabe des Artilleriehandbuchs von Christoph Dambach beschreibt dieser nicht nur, woraus Gewehrkugeln zu bestehen haben, sondern teilweise richtig blumig, wie das Feuer aus Kugeln austritt. Die frühen Anleitungen zur Feuerwerkerei schmückt er mit vielen anschaulichen Bilder und Details. Das Kriegerische des Büchsenmachens tritt so immer mehr in den Hintergrund, viel wichtiger wird das Spiel mit dem Feuer. 19 Abb. 3: Der Spezialatlas über das Erzbistum Mainz konnte in einer kolorierten Ausgabe erworben werden und ist deshalb besonders beeindruckend. Alle Seiten zeigen Landkarten des Gebiets Hessen in den prächtigsten Farben. In deutschen Bibliotheken ist nur ein weiteres Exemplar bekannt. Hier hält ein himmlisches Wesen Zirkel und Maßstab und betrachtet von einer Wolke aus das Hessen-Land mit dem Stadtwald und seinen Flüssen. Abb. 4: Das Konvolut von Handschriften aus dem 17. Jahrhundert stammt aus der ehemaligen Adelsbibliothek der Familie von Nostitz. Die Curt Mast Jägermeister Stiftung hat es antiquarisch erworben und stellt diesen Schatz der Wolfenbütteler Bibliothek als Dauerleihgabe für Forschung und Ausstellungen zur Verfügung. Die Handschriften geben Zeugnis für die adlige und literarische Kultur zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Die weit verzweigte Familie von Nostitz war in den damals kaiserlich-habsburgischen Ländern Schlesien, Lausitz und Böhmen beheimatet, und ihre Bibliothek gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Sammlungen deutscher Barockliteratur. Seit ihrer Auflösung Ende des 19. Jahrhunderts sind die Handschriften und Drucke weit verstreut. „Der Erwerb dieser handschriftlich erhaltenen Quellen aus der Sammlung Nostitz kann als ein besonderer Glücksfall verstanden werden“ erläutert Stiftungsvorstand Florian Rehm. Die Stücke enthalten u. a. Gedichtmanuskripte von Autoren wie Abschatz und Mühlpfordt, lateinische und deutsche Satiren auf Herrscher und Schulmeister und Quellen zum Schulalltag. Ferner finden sich Abschriften eines Briefes des Generals Tilly sowie eines Briefes des Kurfürsten Maximilian I. von Bayern, die Einblicke in Verhandlungen während des Dreißigjährigen Krieges geben. Abb. 3: Nicolaus Person: Novae Archiepiscopatus Moguntini Tabulae, Mainz ca. 1690, HAB: Xb 2° 108 20 Abb. 4: „Schwaben Dienst“, satirisches Lied zu Neujahr 1689, HAB: Cod. Guelf. 164 Noviss. 2° Abb. 5 und 6 (S. 22) Diese äußerst seltene Ausgabe des mehrfach aufgelegten Hausvaterbuches aus der Osnabrücker Druckerei Schwänder enthält neben ausführlichen Kochrezepten auch sehr viele Bilder zur Gestaltung von Gärten. Die Ornamente nehmen kunstvolle Formen an, Kränze und Sterne, eingebettet in Raster und Labyrinthe. Die „Modelle der Blumenfelder“ rechts mit ihren symmetrischen Mustern erinnern an gefaltet ausgeschnittene und dann aufgeklappte Papiere. Abb. 7 und 8 (S. 22) Der in keinem weiteren Exemplar nachweisbare astronomische Kalenderband von Hermann von Werve für das Jahr 1647 enthält handschriftliche Eintragungen der hessischen Adelsfamilie von Baumbach aus Nassau fürth. So erfahren wir, dass am 6. August der Filius barbiert wurde. Ein Terminkalendereintrag wie aus unserer Zeit. 21 Abb. 5 und 6: Der Vermehrte und vielverbesserte Sorgältige Haußhalter, Osnabrück 1678, HAB: Xb 9368 Abb. 7 und 8: Hermann von Werve: Alter und neuer Schreib-Kalender auff das dritte nach dem Schalt Jahr ... M.DC.XL.VII, Nürnberg 1646, HAB: Xb 9317 22 Lessingpreis 2010 Verleihung an Kurt Flasch und Fiorella Retucci am 2. Mai 2010 Helwig Schmidt-Glintzer Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, Die Lessing Akademie Wolfenbüttel verleiht heute zum sechsten Mal den von der Stiftung NORD/LB ∙ ÖFFENTLICHE ausgelobten Lessing-Preis für Kritik in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, an dem Ort, an dem Gotthold Ephraim Lessing die letzten Jahre seines Lebens wirkte. Jeweils zu Anfang Mai ist hier alle zwei Jahre dieser Preis verliehen worden: – 2000 an Karl-Heinz Bohrer – 2002 an Alexander Kluge – 2004 an Elfriede Jelinek – 2006 an Moshe Zimmermann – 2008 an Peter Sloterdijk Heute nun geht der Preis an Kurt Flasch, der für den Förderpreis die Philosophiehistorikerin und Handschriftenexpertin Fiorella Retucci benannt hat. Ich begrüße Sie alle herzlich und danke Ihnen für Ihr Kommen. Zuvörderst danke ich den Preisträgern, dass sie die Bereitschaft erklärt haben, den Preis anzunehmen, Herrn Professor Dr. Kurt Flasch, den ich mit seiner Lebensgefährtin Ruth Gesser begrüße, und Frau Dr. Fiorella Retucci, Trägerin des Förderpreises. Der Lessing-Preis für Kritik hat viele Väter. Ihnen ist zu danken, vor allem aber der STIFTUNG NORD/LB ∙ ÖFFENT LICHE und ihren Vertretern, welche die Verleihung weiterhin ermöglichen. Die Stiftung NORD/LB ∙ ÖFFENTLICHE möchte nach eigenem Bekunden über diesen im Bereich ihres Stiftungszieles „Positionen“ angesiedelten Preis den geisteswissenschaftlichen Forschungsstandort Wolfenbüttel stärken und dazu beitragen, Lessings Gedanken in Gegenwart und Zukunft zu überführen. Ich danke dem Vorstand der Stiftung und den Mitgliedern des Kuratoriums, ist doch dieses Unternehmen ganz im Abb. 1: Kurt Flasch und seine Lebensgefährtin Ruth Gesser, im Hintergrund Helwig Schmidt-Glintzer Sinne der Herzog August Bibliothek als Forschungs- und Studienstätte für europäische Kulturgeschichte. Zwischen der Entscheidung der Jury, Ihnen, lieber Kurt Flasch, den Lessing-Preis für Kritik zuzuerkennen, lag nicht nur Ihr 80. Geburtstag am 12. März 2010 mit zahlreichen öffentlichen Würdigungen, sondern es erschien Ihr Buch über Meister Eckhart: Philosoph des Christentums bei C. H. Beck. Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, Ihnen, lieber Herr Flasch, zu danken, der Sie über lange Jahre die Herzog August Bibliothek beraten und sie damit in ihrer wissenschaftlichen Ausrichtung geprägt haben. Sie haben als Mitglied des seinerzeitigen Wissenschaftlichen Beirates bei den Stipendienauswahlsitzungen mitgewirkt – und es ist nicht zuletzt Ihnen zu verdanken, dass die Herzog August Bibliothek in den letzten Jahren ihr Forschungsinteresse über die Barockzeit hinaus ins Mittelalter ausgedehnt hat. Lessings BerengarStudien können so ihre Fortsetzung finden, und wenn wir bis zur Bibliothek des Heiligen Bernward von Hildesheim zurückgehen, wenn wir ferner die mittelalterlichen Klosterbibliotheken Niedersachsens in Kooperation mit der Universität Göttingen erforschen, dann ist das auch Ihnen zu verdanken – und auch unseren Beziehungen zur Wissenschaftstradition Italiens, von wo auch immer wieder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen. So war es für uns dann auch keine Überraschung, dass Sie Frau Retucci für den Förderpreis vorschlugen. Als mir 1989 mein damaliger Assistent Achim Mittag, der mich bei einer Konferenz über Lebenswelt und Weltanschauungen im China des 12. Jahrhunderts in der Werner Reimers Stiftung unterstützt hatte – es ging um die Frühe Neuzeit in China –, ein Büchlein mit dem Titel „Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris, übersetzt und erklärt von Kurt Flasch“, schenkte, wusste ich nicht, dass sich unsere Wege bald kreuzen würden. Aber damals wurde mir klar, dass es nicht nur viele chinesische Texte gibt, die man noch ins Deutsche übertragen sollte, sondern auch viele Texte aus dem Mittelalter, von dem wir doch wissen, dass es die Vorgeschichte unserer Zeit ist. Dass bereits die „Krise des 12. Jahrhunderts“ eine prägende Kraft für die folgenden europäischen Regierungstraditionen bildet, ist heute Allgemeingut der Wissenschaft1 – und doch noch weithin unbekannt, weil 1 Thomas N. Bisson, The Crisis of the Twelfth Century. Power, Lordship, and the Origins of European Government, Princeton U. P. 2009. 23 daher bin ich Ihnen dankbar, dass Sie die von mir mit herausgegebene Zeitschrift für Ideengeschichte als Beiratsmitglied begleiten. Es geht Ihnen, wie bei Eckhart, um Wissen und um Offenbarung, und darum ging es zu seiner Zeit auch Lessing, wenn er um 17764 schreibt: Denn was Philosophen sogar ein wenig nachsehend und parteiisch gegen Enthusiasten und Schwärmer macht, ist, dass sie, die Philosophen, am allermeisten dabei verlieren würden, wenn es gar keine Enthusiasten und Schwärmer mehr gäbe. [...] weil auch der Enthusiasmus der Spekulation für sie eine so reiche Fundgrube neuer Ideen, eine so lustige Spitze für weitere Aussichten ist.5 Wenn Sie, lieber Herr Flasch, einmal bei einer Debatte mit Kardinal Ratzinger 1999 an der Sorbonne zu dem namenlosen Leiden der Menschen im 20. Jahrhundert bemerkt haben, diese Menschen hätten weniger gelitten „an der Anarchie der Überzeugungen als unter den Versuchen, Wahrheit als Einheit zu organisieren und administrieren“,6 dann haben Sie wie Lessing für die Kühle des Blicks und zugleich für das Prinzip der Freundlichkeit plädiert. So heißt es in der Duplik von 1778: Abb. 2: Im Hintergrund der Mentor und Lessing-Preisträger Kurt Flasch, vorne die von ihm ernannte Förderpreisträgerin Fiorella Retucci sich zu viele noch dem Diktum Hegels unterwerfen, der sagte: „Es ist nun keinem Menschen zuzumuten, dass er diese Philosophie des Mittelalters aus Autopsie kenne, da sie ebenso umfassend als dürftig, schrecklich geschrieben und voluminös ist.“2 Das war nicht Ihre Devise, lieber Herr Flasch. In der Grundhaltung, die Sie einmal in den Satz fassten: „wer philosophiert, ist meist unzufrieden mit den Welterklärungen, die er vorfindet“, haben Sie sich von Hegels Diktum nicht schrecken lassen, sind nicht den Mühen der Philologie ausgewichen. Sie haben uns, wie anlässlich Ihres 80. Geburtstages zu lesen war, „ein neues Mittelalter geschenkt“ und haben dabei „einen neuen Stil der Philosophiegeschichte entwickelt“. Dabei stehen Sie mit Ihrem Witz und Ihrer Gelehrsamkeit mitten im Gespräch der Gegenwart.3 Sie wurden, wie Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb, zu einem „Landnehmer“ der Ideengeschichte vor 1600 – und Ein Mann, der Unwahrheit, unter entgegengesetzter Überzeugung, in guter Absicht, eben so scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen sucht, ist unendlich mehr wert, als ein Mann, der die beste edelste Wahrheit aus Vorurteil, mit Verschreiung seiner Gegner, auf alltägliche Weise verteidiget.7 Nun ist diese Haltung Lessings nicht einfach durchzuhalten – und doch ist sie die Grundhaltung jener Offenheit für Kritik, die uns so Not tut. – Schon seine Zeitgenossen haben dies erkannt, wie Herder im Nachruf von 1781 bezeugt, der von Lessings „philosophischem Scharfsinn“ spricht und von seiner „Leidenschaft“, die daraus entstehe, dass „man keiner Leidenschaft, keinem Trug unterworfen sein will“.8 In diesem Sinne heiße ich Sie alle in der Bibliothek Herzog Augusts sehr herzlich willkommen. Dass solche Kritik und ihre Begründung weiter möglich ist und dass die Herzog August Bibliothek als Quelle für das Mittelalter auskunftsfähig ist und bleiben wird – nicht zuletzt dank ihres demnächst beginnenden Ausund Umbaus – das sagte ich bereits 2008 –, darüber bin ich sehr froh. Ich gehe davon aus, dass diese Aussicht des nahenden Ausbaues auch so bleibt und wir nicht einbezogen werden in die neuerlichen Einsparungen im Hochbauprogramm der Landesregierung: Das wäre dann tatsächlich ein Verhängnis! 1 2 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Band II (Theorie Werkausgabe Bd. 19), Frankfurt/ Main 1971, S. 541. 3 Siehe Gustav Seibt, Die leibliche Begabung zur Geschichte. Zum 80. Geburtstag von Kurt Flasch, dem urbansten philosophischen Schriftsteller Deutschlands, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 59 (12. März 2010), S. 13. 4 Zu der Frage „Wird durch die Bemühung kaltblütiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das, was sie Enthusiasmus und Schwärmerei nennen, mehr Böses als Gutes gestiftet? Und in welchen Schranken müssen sich die Antiplatoniker halten, um nützlich zu sein?“ (Deutscher Merkur). 5 Gotthold Ephraim Lessing, Werke 1774 –1778, hg. von Arno Schilson. In: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Band 8, Frankfurt/ Main: Deutscher Klassiker Verlag 1989, S. 674. 6 Gustav Seibt, wie Anm 3. 7 Wie Anm. 5, S. 509. 8 Ingrid Strohschneider-Kohrs, Gesten der ars socratica in Lessings Schriften der Spätzeit, in: Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1993, S. 501– 508. 24 Das Europa-Kolleg 2010: „Welt ohne Grenzen?“ Zwanzig Schülerinnen und Schüler deutscher Auslandsschulen aus ganz Europa nahmen vom 16. bis 31. Juli 2010 am 8. Europa-Kolleg in Wolfenbüttel teil. Die Stiftung Niedersachsen und die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel veranstalten das Europa-Kolleg mit Vorträgen, vertiefenden Gruppenarbeiten und Exkursionen seit 2003 zu wechselnden Themen. Dieses Mal arbeitete die europäische Gruppe gemeinsam mit verschiedenen Gastwissenschaftlern an der Frage nach einer „Welt ohne Grenzen? Globalisierung in Geschichte und Gegenwart: weltweite Verdichtung und Vernetzung von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur“. Das Europa-Kolleg wurde mit einer öffentlichen Podiumsdiskussion eröffnet. Der Berliner Geschichtstheoretiker Prof. Dr. Alexander Demandt und der Chefvolkswirt der NORD/LB, Torsten Windels, diskutierten unter der Regie von Gabriela Jeskulla (Deutschlandradio Kultur) über die Frage „Globalisierung – mehr als ein Schlagwort?“. Das Programm wurde von den Historikern apl. Prof. Dr. Jochen Oltmer und Dr. Michael Schubert vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück erarbeitet. Betreut wurde die Gruppe von Jürgen Müller und Antanina Hryshchuk. Abb. 1: Wolfenbüttels Bürgermeister Thomas Pink (ganz rechts, neben Jill Bepler, Leiterin der Abteilung Stipendiatenprogramm) hat die Europa-Kollegiaten zu sich ins Rathaus eingeladen. Ganz links der Mentor des EuropaKollegs 2010, Michael Schubert Abb. 2: Die Podiumsdiskussion findet nicht nur auf dem Podium statt! 25 Der Sommerkurs 2010 Herrscherkritik und Politikberatung: Die Rolle von Hofpredigern an europäischen Höfen des 16. bis 18. Jahrhunderts Theologen der Frühen Neuzeit stehen in dem Verdacht, höchst nah an der weltlichen Obrigkeit angesiedelt gewesen zu sein. Die praktische Verzahnung von Religion und Politik wird in erster Linie der zwischen beiden vermittelnden Funktion des katholischen Klerus zugewiesen; aber auch der „Untertanengeist“ der protestantischen Prediger gilt als Instrument, mit dessen Hilfe die durch die Reformation zunächst vollzogene Trennung beider Bereiche wieder beendet worden sei. An dieser noch immer dominierenden Interpretation der Rolle der Geistlichkeit im Europa der Frühen Neuzeit sind in den letzten Jahren Korrekturen vorgenommen worden: Herrscherkritik und die Pflicht zur Ermahnung weltlicher Obrigkeit werden als wesentlicher Bestandteil des geistlichen Selbstverständnisses diskutiert. Für diese veränderte Sicht ist das Amt der Hofprediger an europäischen Höfen der Frühen Neuzeit ein besonders ergiebiger Testfall. Deren Nähe zur Politik war öffentlich akzeptierter Bestandteil ihrer Rolle an katholischen wie protestantischen Höfen. Der Sommerkurs an der Herzog August Bibliothek widmete sich dieser Personengruppe und ihrem spezifischen Amtsverständnis. Wenn es zutrifft, dass Kritik am Herrscher und Ermahnungspflicht zum Amt des Hofpredigers hinzugehören, welche theologischen Rechtfertigungsmus- ter standen dahinter? Gab es dabei Unterschiede zwischen den Konfessionen? Oder lassen sich Differenzen im Amtsverständnis und in der Amtspraxis vielmehr entlang regionaler Bezüge feststellen? Ziel des Sommerkurses war es, in die europaweit geführte Debatte zu diesem Thema einzuführen. Dabei handelte es sich sowohl um Grundfragen der historischen Forschung; denn die Hofprediger waren Teil einer gebildeten theologischen Elite, die für das Verhältnis zwischen höfischem Adel und städtischem Bürgertum prägend gewesen zu sein scheinen. Es ging aber auch um Kernfragen kirchen- und theologiegeschichtlicher Forschung, denn das geistliche Amtsverständnis bildete den in den Konfessionen gleich wichtigen Angelpunkt für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Weltlichem und Geistlichem, zwischen Religion und Politik. Die Teilnehmer eines Sommerkurses erhalten neben der Einführung in die Forschungsdebatten und deren Erörterung am exemplarischen Material der Bibliothek die Gelegenheit, ihre eigenen Forschungen zu präsentieren. Zudem besteht die ausgiebige Möglichkeit, mit Hilfe der Bestände der Herzog August Bibliothek die eigenen Arbeiten fortzuführen. Abb. 1: Der Sommerkurs, geleitet von Luise Schorn-Schütte (Mitte, vorne) 26 Stipendiaten und Gäste 2010 Stipendiaten im Stipendienprogramm des Landes Niedersachsen Anton, Manuela (Bukarest) Der siebenbürgische griechisch-katholische Theologe Petru Maior (1756 –1821) und die deutsche kanonisti– sche Literatur und Kirchengeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts Czapla, Beate (Bonn) Paul Flemings Kussgedichte im Horizont antiker und zeitgenössischer literarischer Diskurse D’Alessio, Silvana (Salerno) Medical thought and the body politic: Pietro Andrea Canoniero and his German sources DiTommaso, Lorenzo (Montreal) Old Testament Pseudepigrapha in the Herzog August Bibliothek Domanski, Kristina (Riehen) Illustrationsfolgen im frühen Buchdruck: Bildstrategien zwischen Belehrung, Innovation und Verkaufsförderung Dorna, Maciej (Poznań) Bella diplomatica – die Entstehung der Methoden moderner Quellenkritik Faini, Marco (Urbino) Christian epic in Sixteenth-Century Italian Literature Geretto, Mattia (Venedig) „Creation” and „Glory” in Leibniz’s Theodicy Lepri, Valentina (Florenz) The Prince and the Tyrant: the political precepts of Francesco Guicciardini in Germany in the sixteenth and seventeenth century Maddux, Harry Clark (Clarksville) Cotton Mather’s Biblia Americana Volume IV (EzraPsalms) Mei, Manuela (Avezzano) Die Theorie des Vermögens in den kognitiven wolffschen Psychologien Mencfel, Michał (Poznań) Natur als Künstlerin. Ein kunst- und ideengeschichtliches Studium Neklyudova, Maria (Moskau) Secret histories: politica arcana and the representations of court society Omodeo, Pietro Daniel (Monfalcone) Giordano Brunos Helmstedt Ptaszyński, Marciej (Warschau) Die Reformation in der polnischen Adelsrepublik (bis 1573) Printy, Michael (Middletown) The Protestant Idea of Freedom: Nation and Religion in Germany, 1700 –1815 Reinis, Austra (Springfield) Aegidius Hunnius’s (1550 –1603) Sermons on Martin Luther’s „Haustafel” Goethe, Norma Beatriz (Cordoba/ Argentinien) G. W. Leibniz as Reader in Paris (1672 –1676) Sauter, Michael (Mexiko) Geography, Space and the Rise of Race in EighteenthCentury Germany Gucer, Kathryn (Chicago) Revolution across the Channel: Cross-Cultural Information Exchange between Early Modern England and France Schier, Volker (Bubenreuth) The Role of the Multisensory in the Display of the Holy Lance Haemig, Mary Jane (St. Paul) Reforming Advent: Text, Message, and Seasonal Experience in Reformation Germany Jabłecki, Tomasz (Wrocław) Das Leben und Schaffen von Johann Christian Hallmann (1640 –1704) im Spiegel der multikulturellen und multimedialen Kommunikation des Barock Jung, Sandro (Salford) The German reception of James Thomson and his Works Schleif, Corine (Tempe) The Holy and the Unholy Lance: Metaphorical Appro priations of Sex and Violence from the Fourteenth Century to the Present Schui, Florian (London) Steuern und Öffentlichkeit: struktureller Wandel in Preußen, 1648 –1806 Severini, Maria Elena (Florenz) The„Ricordi” and the„Storia d’Italia” in Germany: the early fortunes of Francesco Guicciardini’s political maxims Katritzky, Peg (Milton Keynes) Image, text, performance: spectacular German and other representations of early modern conjoined twins Walther, Stefanie (Bremen) Zwischen Kooperation und Konflikt – Akteure, Medien und Foren städtischer Diplomatie im Europa der Frühen Neuzeit Kärna, Aino (Helsinki) Grammatiken der Frühen Neuzeit: Bibliotheksbestände Wögerbauer, Michael (Prag) Die Prager Jahre des Ästhetikprofessors A. G. Meißner 27 Zaytsev, Evgeny (Moskau) Geometrical Method of „Indivisibles” in the Works of Bonaventura Cavalieri (1598 –1647): Logical Foundations and History of Development Einladungen des Direktors Friedeburg, Robert von (Rotterdam) Despotiebegriff und Machiavelli-Rezeption im Reich, 1510 –1670 Kannik, Helje-Laine (Tallinn) Die estnische Retrospektivbibliographie Knauer, Georg Nicolaus (Haverford) Lateinische Homerübersetzungen Rautenberg, Ursula (Leipzig) Digitale Geschichte des Buchs von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Layout und Lesen am Beispiel der „Melusinen”-Ausgabe vom 15. bis ins 18. Jahrhundert Stevens, Wesley M. (Winnipeg) The Forms of Latin Mathematical and Scientific Expressions from the Earliest Times until A. D. 1200 Strasser, Gerhard F. (Landshut) Rezeption von Athanasius Kirchers Werken in den „Zeitungen” des ausgehenden 17. Jahrhunderts Kooperation Herzog August Bibliothek – Akademie der Wissenschaften Budapest Stipendiaten der Andrew W. Mellon-Stiftung Heider, Daniel (Prag) The Problem of Universals in the Early Modern Academic Philosophy of the 17th century: Thomas-Compton Carleton S. J. (1591 –1666) Malý, Tomáš (Brno) Religiöse Imagination der Frühen Neuzeit am Beispiel des „Jenseitsbildes” Doktorandenförderung (Drittmittelprogramme an der Herzog August Bibliothek) Stipendiaten der Dr. Günther Findel-Stiftung (Doktorandenprogramm) Araujo, André (Erlangen) Spuren der Menschheit in der deutschen Spätaufklärung Banneck, Catharina (Kiel) „Specimen philologiae germanicae” Georg Philipp Harsdörffers. Grammatikographie im europäischen Raum Barthel, Katja (Fernwald) Bürgerliche Weiblichkeitsentwürfe im deutschsprachigen Originalroman des späten 17. und 18. Jahrhunderts im Kontext literarischer und soziokultureller Transformationen Bene, Sándor (Budapest) Bibliotheca Hungariae Politica (Early Modern Political Thought in Hungary – Text Editions) Brüggemann, Karola (Marburg) Die argumentative Verwendung des ReligionskriegBegriffes in Publizistik und politischer Korrespondenz während des Dreißigjährigen Krieges Hartmann Kakucska, Maria (Budapest) Franciscus Tolnai de Göellye und seine Beziehungen zu Wolfenbüttel Clark, Sean Eric (Tucson) Still the Center of the World: Pilgrimage to Jerusalem in the Early Modern Period, 1500 –1648 Kecskeméti, Gábor (Budapest) History of Rhetoric and Homiletics in Early Modern Period. Methods of Humanist Philological Activity, 15th – 17th Centuries Cremer, Annette (Gießen) Mon Plaisir – monarchische Machtdarstellung in Miniatur. Die Puppenstadt der Herzogin Auguste Dorothea von Schwarzburg-Arnstadt (1666 –1751) im Spannungsfeld zwischen weiblicher Selbstdarstellung und Kunstkammerstück Szörenyi, Laszlo (Budapest) Neulateinische Literatur in Ungarn und Polen im 17. – 18. Jahrhundert Stipendiaten der Dr. Fritz Wiedemann-Stiftung Mikolajewska, Anna (Toruń) Konfession und religiöse Auseinandersetzungen in der „Preussischen Kirchenhistoria” von Christoph Hartknoch Ritter, Sabine (Hamburg) Johann Friedrich Blumenbach und die Geburt des Rassismus aus dem Geist der Aufklärung Milker, Pia (Dresden) Philipp Hainhofer als Korrespondent und Mediator inner- und intrahöfischer Kommunikation am Beispiel des Dresdner Hofes Vermeulen, Hendrik F. (Halle) Ethnologische Zeitschriften in der norddeutschen Spät aufklärung, 1781 –1790 Nahrendorf, Carsten (Magdeburg) Schule und Literatur in der Frühen Neuzeit. Das Gym nasium in Magdeburg 1525 –1631 28 Reetz, Katja (Greifswald) Andreas Gryphius: Mumiae Wratislavienses – Edition, Übersetzung, Kommentar Sänger, Astrid (Hamburg) Die Internationalisierung der Antike im 17. Jahrhundert: Seneca im deutschen, niederländischen und englischen Trauerspiel Smith, Kathleen Marie (Champaign/ Urbana) Constructing the Collection: Sammlerinnen in the Early Modern German Context (1600 –1800) Strandquist, Jason (Penn State) Orthodoxie und Bürgertum: Die evangelischen Geistlichen Lübecks im 17. Jahrhundert Witkowski, Michal (Katowice) Die Karriere Christoph Leopold Schaffgotschs im Dienste der Habsburger (1649 –1703) Zimmermann-Homeyer, Catarina (Berlin) Illustrierte Frühdrucke lateinischer Klassiker um 1500 Stipendiaten der Rolf und Ursula Schneider-Stiftung (Doktorandenprogramm) Caro Amorocho, Hernán Dario (Berlin) Philosophischer Optimismus und Antioptimismus 1710 –1755 Foster, Darren (Exeter) Die Darstellung der Hauptfiguren des Dreißigjährigen Krieges in protestantischer Propaganda des Konflikts Hass, Trine Johanne Arlund (Aarhus) European community and construction of national identity in sixteenth-century Denmark: Danish neo- Latin pastoral and the genre as a communicator of antiquity to the early vernacular literatures Lane, Jason (Hamburg) Die lutherische Auslegungsgeschichte des Jakobus briefes im 16. und 17. Jahrhundert Rehr, Benjamin (Hamburg) Christus in der Mitte – Christologie und Psalmenaus legung bei Nikolaus Selnecker (1530 –1592) Slotemaker, John Thomas (Brighton) Pierre d’Ailly’s Trinitarian Theology: The Influence of New English Theology on Parisian Theology after 1350 Starkey, Lindsay (Madison) Nature in John Calvin’s Works Strauß, Angela (Berlin) Religion und Militär im 18. Jahrhundert Stipendiaten anderer Institutionen Dobbs, Benjamin M. (Denton) (DAAD) Zwischen der Renaissance und dem Barock: die Musik von Heinrich Grimm Furrer, Norbert (Lausanne) (Schweizerischer Nationalfonds) Des Burgers Buch: Stadtberner Privatbibliotheken im 18. Jahrhundert Jabłecki, Tomasz (Wrocław) (DAAD) 01.10. – 30.11.2010 Das Leben und das Schaffen von Johann Christian Hallmann (1640 –1704) im Spiegel der multikulturellen und multimedialen Kommunikation des Barock Jopek, Aleksandra (Göttingen) (Cusanuswerk) Das Körperbild in der Anstands- und Intimliteratur des 17. Jahrhunderts Kazartsev, Evgeny (St. Petersburg) (Alexander von Humboldt-Stiftung) Spätformen der deutschen Jamben in der frühmodernen Zeit Kreem, Juhan (Tallinn) (Alexander von Humboldt-Stiftung/ Hertie-Stiftung) Das geistige Milieu und die Verbreitung der reformatorischen Ideen in Livland in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Lambert, Erin (Altoona) (Mellon Council on Library and Information Resources) Resurrection and Religious Identity in Sixteenth-Century Illustrated Music Leaman, Hans (Bird-in-Hand/ USA) (Baden-Württemberg-Stipendium) Theologische Bedeutung von Exil in der Reformation Leeper, G. Anna (St. Louis) (DAAD) Emotion und Erlösung in der Literatur der Frühen Neuzeit Mańko-Matysiak, Anna (Wrocław) (Alexander von Humboldt-Stiftung) Auf den Spuren der Pest in Ostmitteleuropa Miller, Jaroslav (Olomouc) (Alexander von Humboldt-Stiftung) Propaganda, Rituals and Legitimizing Strategies of European Protestantism, 1580 –1650 Nekrashevich-Karotkaja, Zhanna (Oldenburg) (Alexander von Humboldt-Stiftung) Die „Identität” des Großfürstentums Litauen im Verständnis deutscher und weißrussisch-litauischer Autoren in der lateinischsprachigen Dichtung der Spätrenaissance Sasaki, Hiromitsu (Osaka) (Japanisches Wissenschaftsministerium) Studien zur Herkunft des kapitalistischen Geistes – Calvinisten und Juden Schmidt, Ernst A. (Tübingen) (DFG) Bearbeitung (Edition, Kommentierung, Einleitung) der Übersetzungen und Erläuterungen Christoph Martin Wielands der Episteln und Satiren des Horaz (1782 und 1786) 29 Steyer, Kristina (Braunschweig) (Graduiertenkolleg der Universität Mainz) Automaten in Gärten der Frühen Neuzeit Teusz, Leszek (Poznań) (KAAD) Das Exemplum in der polnischen und europäischen Ars praedicandi des 17. Jahrhunderts Dingel, Irene (Mainz) Philipp Melanchthon – Freunde und Feinde Controversia et Confessio – Theologische Streitkultur im 16. Jahrhundert Dixon, C. Scott (Berlin) Johannes Letzner Ecsedy, Judit M. (Budapest) Kompilationsstrategie in Harsdörffers Schauplätzen Gäste der Herzog August Bibliothek Ellis-Marino, Elizabeth M. (Tucson) Noble Self-Image as form of Political Resistance Aikin, Judith (Bend/ Oregon) Geistliche Lieder Erickson, Peter (Chicago) Der Einfluss von Geheimbundromanen und Bekehrungsgeschichten auf den frühen Bildungsroman Banneck, Catharina (Kiel) „Specimen philologiae germanicae” Georg Philipp Harsdörffers. Grammatikographie im europäischen Raum Boettcher, Susan (Austin) Johannes Mathesius, Lutherpredigten Bogdan, Izabela (Poznań) Musik und Mathematik – Georg Quitschreiber (1569 – 1638) Faini, Marco (Urbino) Christian epic in Sixteenth-Century Italian Literature Fear, Christopher (Exeter) German Historicism and Idealism in Nineteenth Century British Historical Thought Boschung, Urs (Bern) Patientennetzwerke im 18. Jahrhundert und ärztliche Werdegänge in der Frühen Neuzeit Feuerle, Mark (Hannover) Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Reflexion der Vergangenheit als Erkenntnisgegenstand philosophisch-historiographisch gelehrter Kreise des 9. bis 17. Jahrhunderts Bree, Cor van (Leiden) Metrik des 16./17. und 18. Jahrhunderts in der niederländischen, deutschen und russischen Literatur Fukuoka, Atsuko (Tokyo) Staat, Kirche und Freiheit: Spinoza, Hobbes und Huber zur Frage über den Vermittler der göttlichen Offenbarung Brentjes, Sonja (Sevilla) Frühneuzeitliche europäische Darstellungen Westasiens in Karten, Texten und Bildern Gautier, Sandie (Lyon) Evangelische Pfarrehepaare in der Frühen Neuzeit: Selbstdarstellung, Familienstrategien und Identität Büchi, Tobias (Einsiedeln) Architekturtheorie im deutschsprachigen Kulturraum Gottschlich, Evelyn (Gießen) Das Königreich im Schneeland. Europäisches Wissen über Tibet, 1626 –1768 Büttner, Jan Ulrich (Bremen) Die cura infirmorum und die Auswirkungen der Klosterreformen im frühen Mittelalter Busch, Gudrun (Bonn) Sophie Niklas (1760 – ?) – eine Berliner Sängerin zwischen Singspielbühne und Hofoper Christoph, Siegfried (Kenosha) êre und scham als Wertbegriffe im Mittelhochdeutschen Corcoran, Andreas (Berlin) Academics and Witchcraft in the Early Modern Age D’Alessio, Silvana (Salerno) Medical thought and the body politic: Pietro Andrea Canoniero and his German sources Hascher-Burger, Ulrike (Utrecht) Der Einfluss der niederländischen Devotio moderna auf die Musikkultur der Klosterreform in niedersächsischen Frauenklöstern im späten Mittelalter Hattab, Helen (Houston) Hobbes and Spinoza: The Geometrization of Value Theory Haude, Sigrun (Cincinnati) Surviving War, 1618 –1648 Heininen, Simo (Helsinki) Michael Agricola und seine Quellen Heller, Shlomo (Jerusalem) Talmud and Medieval Rabbinic Literature Davies, Julie (Melbourne) Joseph Glanvill’s Saducismus Triumphatus and changing attitudes to witchcraft and the occult Hoffmann, Gizella (Szeged) Hungarica in den Handschriften der Herzog August Bibliothek Dekesel, Christian Edmond (Gent) Numismatische Literatur im 18. Jahrhundert Holma, Juhani (Wittenberg) Johannes Bugenhagens Kirchenordnungen 30 Johnson, Christine R. (St. Louis) The German Nation of the Holy Roman Empire, 1440 – 1556 Manegold, Cornelia (Stuttgart) Übersetzungsleistungen der Kunst: Bilder von Frieden und Friedensverträgen Johnston, Gregory S. (Toronto) Heinrich Schütz: Letters and Documents Mei, Manuela (Avezzano) Die Theorie des Vermögens in den kognitiven wolffschen Psychologien Jurkowlaniec, Grazyna (Warszawa) Miracles of Art and Miraculous Images. Renaissance Art between Ancient Topoi and Christian Legends Kamp, Jan van de (Amsterdam) Deutsche Übersetzungen englischer und niederländischer Erbauungsliteratur im 17. Jahrhundert Keim, Katharina (München) Performativer Kulturtransfer. Zur Rezeption des französischen Dramas in Mitteldeutschland zwischen Spätbarock und Frühaufklärung (1690 –1730) Kirn, Hans-Martin (Kampen/ NL) Orthodoxie und Pietismus: Europäische Konfessionskulturen im Vergleich (mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Judentum und Christentum) Klein, Boris (Lyon) Die Universität Helmstedt im 17. Jahrhundert Kolb, Robert A. (St. Louis) Die Postillen von Paul Eber/ Hilfsmittel zur Exegese in der Spätreformation Kowalewicz, Michel Henri (Metz) Circulation des idées et des textes au 18e siècle Kurig, Hans (Norderstedt) Reformationsgeschichte Kurihara, Ken (Bronx) Wunderzeichen Literatur des 16. Jahrhunderts Kuwahara, Hisako (Niigata) Geschichte des deutschen Dramas Kuwahara, Satoshi (Niigata) Kunstkammer und die hermetische Tradition Lamanna, Marco (Florenz) Benedictus Pererius (1535 –1610), zwischen Schulphilosophie und Renaissancephilosophie Laube, Stefan (Berlin) Theatrum-Literatur und Ordnungen des Wissens Lee, David (Knoxville) Der Gleim/ Ramler Briefwechsel: Herausgabe, Kommentierung Le Cam, Jean-Luc (Brest) Berichte des Generalschulinspektors Schrader und andere Quellen zur Schulgeschichte des 17. Jahrhunderts Lepri, Valentina (Florenz) The Prince and the Tyrant: the political precepts of Francesco Guicciardini in Germany in the sixteenth and seventeenth century Menke-Schnellbächer, Kirsten (Bielefeld) Westfälische Psalmen und Breviertexte aus Westfalen – Cod. Guelf. 58.4 Aug. 8° Merisalo, Outi (Jyväskylä) Italienischer Humanismus in England, Geschichte der Medizin Meyer, Paul (Urbana) Faust figures before 1600 Miltová, Radka (Brno) Ovidische Ikonographie in der frühneuzeitlichen Graphik Miyatani, Naomi (Tokyo) Übersetzungsbegriff bei Johann Georg Hamann Moore, Cornelia Niekus (Fairfax) Die Fürstin als Vorbild Morton, Peter (Calgary) Sorcery and theft: Women and the law in early modern Braunschweig-Wolfenbüttel Mourey, Marie-Thérèse (Paris) Forschungen zur Barockliteratur Myers, David (New York) Religionsgeschichte in der Frühneuzeit Nahrendorf, Carsten (Wolfenbüttel) Schule und Literatur in der Frühen Neuzeit. Das Altstädtische Gymnasium in Magdeburg 1525 –1631 Ohlemacher, Andreas (Göttingen) Johann Lorenz von Mosheim Olson, Oliver K. (Minneapolis) Matthias Flacius. Eine Biographie Pabel, Hilmar M. (Burnaby) The Protestant Critique of Peter Canisius’ Catechismus Phipps, Graham H. 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(Urbana) Höfisches Ballett: Kopenhagen und Altenburg Williams, Gerhild (St. Louis) Eberhard Werner Happel’s Historical Novels Wischmeyer, Johannes (Mainz) Organisation der Religion im Raum des frühneuzeitlichen Territorialstaats – das konsistoriale Kirchenleitungsmodell in der europäischen Diskussion (ca. 1560 –1620) Gerda Henkel Stipendien für Ideengeschichte vergeben Gerda Henkel Stiftung fördert Forschungsaufenthalte in Marbach, Weimar und Wolfenbüttel Das Deutsche Literaturarchiv Marbach, die Klassik Stiftung Weimar, die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und die Gerda Henkel Stiftung haben 2010 / 2011 die „Gerda Henkel Stipendien für Ideengeschichte“ vergeben. Erfolgreiche Kandidaten erhalten die Gelegen- 32 heit zu einem zeitlich befristeten Aufenthalt an einer der drei Bibliotheken, um auf der Grundlage der dortigen Bestände ein ideengeschichtliches Forschungsprojekt durchzuführen. Die „Gerda Henkel Stipendien für Ideengeschichte“ wurden zum dritten und vierten Mal vergeben. Das Programm steht in engem Zusammenhang mit der „Zeitschrift für Ideengeschichte“, die vom Deutschen Literaturarchiv Marbach, der Klassik Stiftung Weimar Laura Di Giammatteo (links), Susanne Junk (rechts) und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel gemeinsam herausgegeben wird und vierteljährlich erscheint. An der Herzog August Bibliothek wird die Philosophiehistorikerin Laura Di Giammatteo (Florenz) 2011 vier Monate lang die Melanchthonrezeption zwischen 1570 und 1640 an der Academia Julia von Helmstedt erforschen. Susanne Junk (Tübingen) wird 2011 / 12 für ihre Dissertation über Lutherische Laienprophetie an den Quellen die Verschränkung von göttlicher, vorherbestimmter Welt und menschlicher Teilhabe an der Welt untersuchen. Besondere Nachrichten: Die Online-Sprechstunde In einer Online-Sprechstunde bietet die Herzog August Bibliothek ihren Nutzern auch aus der Ferne einen Blick in die Bücher an. Ein Mitarbeiter der Bibliothek blättert während eines Telefonats vor einer Webcam die gewünschten Seiten auf und gibt weitere Auskünfte zum Buch (s. Abb. 1). Dank hervorragender Kameratechnik und Breitbandinternet sitzt man gleichsam in der Ferne unmittelbar vor dem Buch. Die Wolfenbütteler Online-Sprechstunde soll es Nutzern der Bibliothek ermöglichen, einzelne Seiten, zum Beispiel Titelseiten, Seiten mit Illustrationen oder Textvarianten, aus Handschriften und Drucken über eine Webcam einzusehen, um an Hand der Bildschirmdarstellung schnell, unkompliziert und gezielt Forschungsfragen beantworten zu können. Mit diesem Angebot nutzt die Herzog August Bibliothek als erste wissenschaftliche Bibliothek die Webcam-Technik. Abb. 1: Die Webcam, hier bedient von Thomas Stäcker, liefert dem Nutzer am anderen Ende der Leitung das gesuchte Bild aus dem Buch, das selbst nicht verreisen muss. 33 Neuerscheinungen Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek behandeln wichtige Aspekte der mittelalterlichen Bildund Buchkultur und zentrale geistesgeschichtliche Entwicklungen wie das Bildungssystem der Klöster im Gegensatz zu Studium und Wissenschaft des Klerus an den berühmten Schulen Frankreichs. Erstmals überhaupt wird hier ein Überblick über die Geschichte der Bibliothek von St. Michael gegeben. Ausstellungskataloge der HAB, Nr. 93 Schätze im Himmel – Bücher auf Erden Mittelalterliche Handschriften aus Hildesheim herausgegeben von Monika E. Müller Ausstellungskataloge der HAB, Nr. 92 Nr. 93. 2010. 472 S. mit 280 Farbabb. 978-3-447-06381-4, geb. € 49,80 Im Jahre 1010 legte Bischof Bernward von Hildesheim den Grundstein für die Errichtung der Michaeliskirche als einem der bedeutendsten Kirchenbauten des Frühmittelalters. Das zugehörige Kloster stattete er reich mit Gütern und überaus wertvollen Büchern für Liturgie und Gebet aus. Einen Schatz im Himmel und das Seelenheil wollte er sich damit erwerben, wie auch viele andere Hildesheimer Bischöfe und Kanoniker nach ihm. Bernwards persönlichen Psalter konnte die Herzog August Bibliothek im Jahre 2007 erwerben. Dies und das tausendjährige Jubiläum der Hildesheimer Michaeliskirche bilden den Anlass für die Ausstellung „Schätze im Himmel – Bücher auf Erden. Mittelalterliche Handschriften aus Hildesheim“. Kostbar illuminierte Handschriften sowie zahlreiche Bücher der Michaelismönche und der mittelalterlichen Dombibliothek waren vom 5. September 2010 bis zum 27. Februar 2011 in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel zu sehen (s. S. 3 – 6). Die Bandbreite der vorgestellten Handschriften reicht von der Gründungsphase bis zur Blütezeit der Buchproduktion und zum Beitritt des Michaelisklosters zur Reformbewegung der Bursfelder Kongregation im 15. Jahrhundert. Die Ausstellung präsentiert nicht nur alle erhaltenen bernwardinischen Prachthandschriften, sondern zeigt auch Glanzpunkte der romanischen Buchmalerei Hildesheims, das Ratmann-Sakramentar (1159) und seine berühmte Schwesterhandschrift, das Stammheimer Missale (um 1170). Im reich bebilderten Ausstellungskatalog werden die Exponate ausführlich beschrieben. Die zahlreichen Essays 34 Das Athen der Welfen Die Reformuniversität Helmstedt 1576 –1810 herausgegeben von Jens Bruning und Ulrike Gleixner unter Mitarbeit von Nico Dorn, Franziska Jüttner, Juliane Korbut, Kristina Steyer, Timo Steyer, Darius Windyka Nr. 92. 2010. 328 S. mit 180 Farbabb. 978-3-447-06210-7, geb. € 39,80 Die 1576 gegründete Universität Helmstedt, die Academia Julia, gehörte in den knapp 250 Jahren ihres Bestehens zu den am stärksten frequentierten und profiliertesten Hochschulen des Heiligen Römischen Reiches. In die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel gelangten im frühen 19. Jahrhundert und dann noch einmal im frühen 20. Jahrhundert die größten Teile der Universitätsbibliothek Helmstedt. „Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576 – 1810“ beschäftigt sich mit der Gründungsgeschichte, dem universitären Leben, den maßgeblichen wissenschaftlichen Entwicklungen sowie der Geschichte der Bibliothek an dieser bedeutenden Universität der Frühen Neuzeit. Der akademische Alltag in der Stadt Helmstedt, die Studenten und Professoren sowie erstmals auch die Professorenhaushalte mit Ehefrauen und Töchtern werden dabei in den Blick genommen. Die Ausstellung war vom 7. Februar bis zum 29. August 2010 in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel zu sehen (s. S. 12 – 13). Wolfenbütteler Hefte Wolfenbütteler Forschungen Wolfenbütteler Forschungen, Band 126 Wolfenbütteler Hefte, Heft 27 Von gesichertem Wissen und neuen Einsichten Sammeln, Lesen, Übersetzen als höfische Praxis der Frühen Neuzeit Dokumentation einer Expertentagung zum Thema „Geisteswissenschaftliche Zeitschriften – Referenzsysteme und Qualitätsstandards“ in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel in Zusammenarbeit mit der Klassik Stiftung Weimar und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach Die böhmische Bibliothek der Fürsten Eggenberg im Kontext der Fürsten- und Fürstinnenbibliotheken der Zeit von Helwig Schmidt-Glintzer Heft 27. 2010. 333 S. mit 6 Farbabb. 978-3-447-06260-2, geb. € 20,– Als von den großen wissenschaftlichen Bibliotheken in Marbach, Weimar und Wolfenbüttel gemeinsam die „Zeitschrift für Ideengeschichte“ ins Leben gerufen wurde, stellte sich für die Herausgeber die Frage, auf welche Weise und mit welchen Methoden die Qualität der Beiträge gesichert werden kann. Ausgehend davon drängte sich die Frage nach der Qualitätssicherung für geisteswissenschaftliche Forschung und Publikationen generell auf. Daher kamen im August 2008 in Wolfenbüttel Fachwissenschaftler zu einer Expertentagung zusammen, um Referenzsysteme und Qualitätsstandards bei geisteswissenschaftlichen Zeitschriften zu diskutieren und festzulegen. Die vorliegende Publikation fasst die Überlegungen der Tagung zusammen und ergänzt sie mit einer ausführlichen Einleitung. Für das in der Qualitätssicherung praktizierte Peer-Re view-Verfahren (Begutachtung durch andere Wissenschaftler) wurde als sinnvoll erachtet, nicht nach dem DoubleBlind-System (weder Begutachter noch begutachteter Autor kennt die Identität des anderen) zu verfahren. Eine Kombination von redaktioneller Arbeit, einer traditionellen Form der Qualitätssicherung, und Peer-Review-Verfahren wird empfohlen, wobei unterschiedliche Verfahren zur Qualitätssicherung zu wählen sind. Als wesentliche Form zukünftiger Qualitätssicherung wird ein über Netzwerke erfolgendes und die Forschung begleitendes Review-Verfahren betrachtet. Der Text wird mit einer ausführlichen Bibliographie zur Thematik ergänzt und mit einigen Abbildungen illustriert. herausgegeben von Jill Bepler und Helga Meise Bd. 126. 2010. 412 S. mit 66 s/w-Abb. und 6 Farbabb. 978-3-447-06399-9, € 89,– Der Band stellt eine der in jüngster Zeit erschlossenen Adelsbibliotheken der Habsburgermonarchie vor, die Bibliothek der Fürsten Eggenberg in Český Krumlov/ Böhmisch Krumau. Das Schloss der Fürsten Rosenberg, Eggenberg und Schwarzenberg ist heute vor allem wegen seiner architektonischen Pracht und seines vollständig erhaltenen barocken Theatersaals bekannt. Es beherbergt aber auch einen bedeutenden Teil der ehemaligen fürstlichen Büchersammlungen. Die hier publizierten Tagungsbeiträge markieren den Abschluss einer von der Dorothee Wilms-Stiftung geförderten Zusammenarbeit zwischen der Herzog August Bibliothek und Buchwissenschaftlern in České Budějovice/ Budweis und Prag. Sie erkunden die Bestände und die Sammlungsgeschichte der Eggenberger Fürstenbibliothek im Kontext der politischen und konfessionellen Geschichte der Adelslandschaft der böhmischen Länder vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert. Die Beiträge zeichnen die Profile von Sammlern und Lesern nach und ziehen Vergleiche zu anderen Adels- und Hofbibliotheken. Von besonderer Bedeutung für den Aufbau und den Erhalt der Bibliothek waren die Fürstinnen. Sie engagierten sich nicht nur in Böhmisch Krumau und in anderen Adelsgeschlechtern der Habsburgermonarchie für das Buch und den Umgang mit ihm, sondern auch in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches. An Einzelfällen untersucht der Band den Umgang der Fürstinnen mit dem Buch, auch deren Tätigkeit als Übersetzerinnen, und den Aufbau und das Schicksal ihrer Sammlungen. Die wichtigsten Quellen bilden weitgehend unbekannte Nachlassinventare und Verzeichnisse, die hier ausgewertet wurden. Die Vielfalt der kulturellen Tätigkeiten, die sichtbar wird, liefert so eine erste Kartie- 35 rung der adeligen Bibliothekslandschaft in den deutschsprachigen Ländern der Frühen Neuzeit, die der Perspektive und den kulturellen Praktiken der Fürstinnen Rechnung trägt. Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, Band 26 Wolfenbütteler Forschungen, Band 124 Vorwelten und Vorzeiten Archäologie als Spiegel historischen Bewußtseins in der Frühen Neuzeit Sebastian Brant und die Kommunikationskultur um 1500 herausgegeben von Klaus Bergdolt, Joachim Knape, Anton Schindling und Gerrit Walther herausgegeben von Dietrich Hakelberg und Ingo Wiwjorra Bd. 26. 2010. 428 S. mit 42 s/w-Abb. und 4 Farbabb. Bd. 124. 2010. 572 S. mit 70 s/w-Abb. und 4 Farbabb. Der Band vereinigt die Beiträge von dreizehn RenaissanceExperten, die sich zu Leben, Werk und Wirken Sebastian Brants (1457 – 1521) äußern und dabei seine wichtige und zugleich ambivalente Rolle in der Intellectual History seiner Epoche neu ausleuchten. Dieser um 1500 in Europa berühmteste deutsche Autor, zunächst Basler Juraprofessor, dann Kanzler der Freien Reichsstadt Straßburg, erhebt seine Stimme in allen wichtigen politischen und kulturellen Diskursen seiner Zeit. Er ist der Prototyp des im Leben stehenden Humanisten und wird am Vorabend der Reformation als Dichter (insbesondere durch sein Narrenschiff ), als Humanist, Jurist und Reichspropagandist Kaiser Maximi lians I. zu einem der führenden Intellektuellen seiner Zeit. 978-3-447-06295-4, € 89,– Das Ausgraben und Sammeln von Altertümern ist viel älter als die im 19. und 20. Jahrhundert etablierten archäologischen Wissenschaften. Schon in der Frühen Neuzeit haben naturforschende Ärzte und Apotheker, standesbewusste Adelige, aufgeklärte Lehrer und Theologen archäologische Funde entdeckt, gesammelt, beschrieben und publiziert – fernab der antiken Stätten Griechenlands und Italiens, und doch mit der Antike im Blick. Römische Münzen und Inschriftensteine, geheimnisvolle Hünengräber und mittelalterliche Grablegen, rätselhafte Donnerkeile und heidnische Urnen, aber auch versteinerte Pflanzen und Tiere machten Geschichte greifbar und ergänzten die Schriftüberlieferung. Motivierend für diese Forschungen waren elementare Fragen nach Schöpfung und Alter der Welt, nach der Herkunft von Region und Herrschaft oder von Städten und Völkern. Heidnische Götzen und schaurige Bestattungsrituale erinnerten an die eigene Sterblichkeit und faszinierten die frommen Gelehrten. Ihre Erklärungsversuche archäologischer Funde und Befunde erweisen sich als Wechselspiel zwischen populären und gelehrten Deutungen. Archäologische Entdeckungen erregten schon in der Frühen Neuzeit Aufsehen und fanden ihren Platz in der Erinnerungskultur. Der Band dokumentiert das vom 20. bis 23. November 2007 an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel durchgeführte Arbeitsgespräch Vorwelten und Vorzeiten – Archäologie als Spiegel historischen Bewußtseins in der Frühen Neuzeit. 24 Autorinnen und Autoren eröffnen interdisziplinäre Forschungsperspektiven zur Geschichte der Archäologie im kultur- und ideengeschichtlichen Kontext. 36 978-3-447-06300-5, € 98,– Zeitschriften Wolfenbütteler Barock-Nachrichten, Jahrgang 37 (2010), H. 1/2 Wolfenbütteler Barock-Nachrichten In Zusammenarbeit mit dem Wolfenbütteler Arbeitskreis für Barockforschung herausgegeben von der Herzog August Bibliothek Irmgard Palladino, Maria Bidovec: Johann Weichard von Valvasor (1641–1693). Ein Protagonist der Wissenschaftsrevolution der Frühen Neuzeit. Leben, Werk und Nachlass. Wien – Köln – Weimar 2008 (Majda Orazem-Stele) Bibliographie zur Barockliteratur Redaktion: Jill Bepler und Petra Feuerstein-Herz Bibliographie: Ingrid Nutz Um Lohensteins Sophonisbe 1669/1680 Herausgegeben von Marie-Thérèse Mourey Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte H. 1/2, Jg. 37 (2010). IV + 168 S. (ISSN 0340-6318), € 45,– Aus einem internationalen, interdisziplinären Symposion, das 1972 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel über die Frage der Quellen der Barockforschung stattfand, entstand der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Barock forschung. Als Kommunikationsorgan initiierte er ein Mitteilungsblatt, aus dem sich eine eigene Zeitschrift entwickelte. Beiträge aus den vielschichtigen Themenbereichen der Frühneuzeitforschung werden durch Projektberichte und durch Hinweise auf die Neuerwerbungen der Bibliothek ergänzt. Beigegeben ist eine fortlaufende Bi bliographie zur Erforschung der Frühen Neuzeit. Beiträge Marie-Thérèse Mourey : Einleitung. Um Lohensteins Sophonisbe (1669/1680) Pierre Béhar : Lohenstein oder der verhinderte Dichter. Zur Deutung des Trauerspiels Sophonisbe Marie-Thérèse Mourey : Die literarische Landschaft in Schlesien um 1660 –1680: Ein Frontenkrieg und seine Opfer Dirk Niefanger : Lohensteins Sophonisbe als Metadrama Thomas Borgstedt : Die Erfindung der Tragödie als panegyrisches Opferspiel in Lohensteins Sophonisbe Elisabeth Rothmund : Abschluss oder Abstieg? Lohensteins Sophonisbe und die Tradition des schlesischen Trauerspiels Anne Wagniart : Lohensteins Sophonisbe und die Polemik um die politische Ausrichtung des schlesischen Kunstdramas Rezensionen Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. München 2009 (Italo Michele Battafarano) Klaus-Dieter Herbst: Verzeichnis der Schreibkalender des 17. Jahrhunderts. Jena 2008 (Volker Bauer) Klaus Matthäus und Klaus-Dieter Herbst (hrsg. u. komm.): Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Simplicianische Jahreskalender. Europäischer Wundergeschichten Calender 1670 bis 1672 (Nürnberg) Schreib-Kalender 1675 (Molsheim). Faksimiledruck. Erlangen und Jena 2009 (Dirk Niefanger) Stefan Keppler (Hrsg.): Georg Philipp Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (1649 und 1652). 2 Bände in einem Band. Nürnberg 1649 und 1652. Reprint: Hildesheim 2007 (Cornelia Niekus Moore) Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte, Jahrgang 35 (2010), H. 1 In Zusammenarbeit mit dem Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks‑, Buch- und Mediengeschichte herausgegeben von der Herzog August Bibliothek Redaktion: Thomas Stäcker und Andrea Opitz H. 1, Jg. 35 (2010). IV + 130 S. (ISSN 0341-2253), € 45,– Die Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte, die seit 1976 von der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel herausgegeben werden, gingen aus einer Initiative des noch heute, mit geändertem Namen bestehenden Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks‑, Buch‑ und Mediengeschichte hervor. Sie erscheinen heute in der Regel zweimal im Jahr und nehmen Artikel aus dem Bereich der buch- und bibliotheksgeschichtlichen Forschung überwiegend – aber nicht ausschließlich – aus dem deutschsprachigen Raum auf. Das Spektrum der Einzelbeiträge reicht von der Einbandforschung, Druckgeschichte, Buchhandels- und Verlagsgeschichte, Bibliotheks- und Sammlungsgeschichte, von bibliographischen Studien, vom Bibliotheksbau bis zu theoretischen Arbeiten über die neuen Medien. Jedes Heft enthält durchschnittlich zwei Rezensionen besonders interessanter Neuerscheinungen aus diesen Gebieten. Beiträge Patrizia Carmassi : Neue Ergebnisse aus der Katalogisierung der Halberstädter Handschriften Michal Spandowski : Antoninus Florentinus: Confessionale, Defecerunt – Mainz edition (GW 2094) Holger Nickel : Gedruckte Lettern in und auf spätmittelalterlichen Büchern 37 Ralph Keen : Ecclesiastical Patronage and Catholic Printing in Germany 1530 – 50 The Patristic Revival and Theological Polemics in the 16th Century Jürgen Beyer : Dr. Speners Fingernagel. Zum Umgang mit Pflichtlektüre auf Reisen Christoph Boveland : Auf den Spuren der verborgenen Bibliothek von Mlle de Montbail Jürgen Babendreier : Diskurs als Lebensform. Georg Leyh und seine Schrift „Die Bildung des Bibliothekars“ Mary Beth Winn : Alain Bouchart’s Grandes Croniques de Bretaigne and Claude de France Rezensionen Eduard Isphording: Kräuter und Blumen. Kommentiertes Bestandsverzeichnis der botanischen Bücher bis 1850 in der Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg (Petra Feuerstein-Herz) Urs B. Leu: Conrad Gessner’s private library (Martin Germann) Eberhard Nehlsen (Bearb.): Berliner Liedflugschriften. Katalog der bis 1650 erschienenen Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Hans-Jörg Künast) Fréderic Barbier (Hrsg.): Paris, capitale des livres. Le monde des livres et de la presse à Paris du Moyen Âge au XXe siècle (István Monok) Frieder von Ammon u. Herfried Vögel (Hrsg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen (Christoph Reske) Veröffentlichungen zur „Fruchtbringenden Gesellschaft“ Reihe I, Abt. A: Köthen, Bd. 5 Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft. Kritische Ausgabe der Briefe, Beilagen und Akademiearbeiten (Reihe I), Dokumente und Darstellungen (Reihe II) Begründet von Martin Bircher (†) und Klaus Conermann. 38 Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, in Kooperation mit der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel herausgegeben von Klaus Conermann. Reihe I, Abt. A: Köthen, Abt. B: Weimar, Abt. C: Halle; Reihe II, Abt. A: Köthen, Abt. B: Weimar, Abt. C: Halle. In Kommission: De Gruyter. Reihe I, Abt. A: Köthen, Bd. 5: Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650. 5. Bd.: 1639 –1640. Unter Mitarbeit von Gabriele Ball und Andreas Herz herausgegeben von Klaus Conermann. Leipzig 2010. Leinen, 712 Seiten. Zahlreiche Abbildungen. ISBN 978-3-11-023280-6, 129,95 €. Der jüngste Editionsband legt mit über 180 reich kommentierten Briefen, Beilagen und Abbildungen ein Quellenreservoir vor, das die sprachlichen, literarischen und kultu rellen Initiativen und Projekte der Fruchtbringenden Gesellschaft (FG) in den Jahren 1639 und 1640 dokumentiert. Den bedrückenden Hintergrund dieser Aktivitäten bildet der Dreißigjährige Krieg, in dessen Eskalationsdynamik sich nur mühsam und noch in weiter Ferne Friedensregelungen mit den auswärtigen Mächten Schweden und Frankreich und mit den aus dem Prager Frieden (1635) ausgeschlossenen oder nicht wirklich befriedeten Reichsständen abzuzeichnen beginnen. Mitteldeutschland, das Kernterritorium der Fruchtbringenden Gesellschaft, ist besonders stark von Verwüstung und Entvölkerung betroffen, da „nichts alss verwüstete lande, welche freundt und feindt zu grunde ruiniret“, zu finden sind, so der schwedische Generalissimus Johan Banér in einem Brief vom 11. November 1640. Angesichts der Schrecken des Krieges nimmt seit dem gescheiterten Prager Frieden auch in der FG eine an Stärke gewinnende patriotische Friedenspropaganda zu, die sich in einen immer breiter werdenden Strom patriotisch-friedensgesinnter und politisch-kritischer Publizistik einbettet. Sie begegnet tendenziell schon in Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen – Oberhaupt und spiritus rector der FG von 1617–1650 – Tamerlan-Übersetzung (1639), der satirischen LEGATION Oder Abschickung der Esell in Parnassum (1638) Rudolfs von Dieskau, aber auch in einem so unscheinbaren Text wie dem Trauergedicht von Christian Gueintz auf den verstorbenen Fruchtbringer Franz von Trotha oder seiner ganz und gar nicht ‚bukolischen‘ ECLOGA oder Friedensgespräch (1639 und 1640), wie auch in Justus Georg Schottelius’ Lamentatio Germaniae exspirantis (1640). Mit der auf Erasmus’ von Rotterdam Querela Pacis zurückgehenden Friedensrede Diederichs von dem Werder – erstmals 1639 gedruckt und mehrfach öffentlich aufgeführt – gewinnt die Friedenssehnsucht der Fruchtbringer dann ihre eindrucksvollste Literarisierung. Sie wird im hier angezeigten Band vollständig kritisch ediert. Die Friedensrede ist die Kontrafaktur zum unvermindert anhaltenden Kriegsdruck, wie er sich auch in den politisch-militäri- schen Berichten der Fruchtbringer Freiherr Enno Wilhelm von Innhausen und Knyphausen und Christian Ernst Knoch an Fürst Ludwig zeigt, die in ausgewählten Stücken ebenfalls zur Veröffentlichung gebracht werden. Den Forderungen nach einem gerechten, die verschiedenen Ansprüche und Interessen äquilibrierenden Universalfrieden konnte sich schließlich auch die für die pazifikatorischen Weichenstellungen wichtige Reichspolitik auf dem Nürnberger Kurfürstentag (1639/40) und dem Regensburger Reichstag (1640/41) nicht entziehen. Frieden beginnt mit Vertrauen und Verständigung, mit Dialog und Sprache, den Kernpunkten des Programms der Fruchtbringerischen Gesellschaft. Darum setzt Ende 1638 nicht von ungefähr die organisierte, dabei vollständig entkonfessionalisierte Arbeit der Fruchtbringer an der Mutter‑, Volks- oder Landessprache ein, dabei zurückgreifend auf frühere Bemühungen, die bis ins Jahr 1618 und die ratichianische Bildungsreform in Köthen und Weimar zurückgehen. Die seit Ende 1638 geführte Debatte um eine grundlegende deutsche Grammatik bringt mit der Deutschen Sprachlehre (1641) des Hallenser Gymnasialdirektors Christian Gueintz ein erstes, kontrovers diskutiertes Referenzwerk der Fruchtbringenden Gesellschaft hervor. Schon zuvor war Fürst Christians II. von Anhalt-Bernburg Guevara-Übersetzung Vnterweisung Eines Christlichen Fürsten 1639 in Köthen erschienen. Das beigegebene sog. Druckfehler-Verzeichnis ist in Wahrheit ein umfangreiches Verbesserungswerk, das den Text nach den in der Diskussion sich abzeichnenden grammatischen (und tw. orthographischen) Regeln dieser Sprachlehre durchkorrigiert. In den Anfängen dieser rasch an Intensität und Wirkungskraft gewinnenden fruchtbringerischen Sprachdebatte – tatsächlich wird die Gesellschaft 1639 und in den 40er Jahren zum organisierenden Zentrum der „Spracharbeit“ in Deutschland – werden bereits die unterschiedlichen Argumentationen und Konzepte der Regulierung, Standardisierung und Kodifizierung des Hochdeutschen abgesteckt und erprobt. Dies wird besonders an der noch im selben Jahr 1641 erstmals erschienenen deutschen Grammatik von Justus Georg Schottelius, der Teutschen Sprachkunst, greifbar. Sie führt die Positionen des wichtigsten sprachtheoretischen Gegenspielers von Gueintz und Fürst Ludwig in der FG ins Feld. Flankiert wird diese 1639/40 schon an etlichen ausführlichen grammatischen Gutachten und Stellungnahmen zu verfolgende Spracharbeit von Bibeldichtungen, ‑harmonien und ‑übersetzungsbemühungen, von Diskussionen und Entwürfen zur Poetik, von Martin Opitz’ Initialwerk zur historischen deutschen Philologie (annotierte Ausgabe des frühmittelhochdeutschen Annolieds) sowie vielen anderen Zeugnissen literarischer und gelehrter Produktivität und Rezeption, die den immensen europäischen Kulturtransfer in Renaissance und beginnendem Barock bezeugen. So versuchte sich Hans Ludwig von Knoch 1639 an einer Übersetzung des Don Quijote, die zwar Stückwerk blieb, aber den bedeutenden Anteil der FG an der deutschen Rezeption moderner spanischer Literatur um eine weitere Facette bereichert. In diesen Jahren tritt auch der Wolfenbütteler Hof (damals noch in Braunschweig) als ein Zentrum der FG hervor, sowohl in der Sprachdebatte, als auch in der Person Herzog Augusts d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel selbst. 1640 erschien erstmals seine Passionsharmonie, deren eigenhändiger Entwurf von 1638/39 sich erhalten hat. Das Werk erschien 1641 und 1650 in zwei weiteren Auflagen im Druck. Diese Arbeit war unverfänglicher als Hz. Augusts theologisch und kirchenpolitisch heftig umstrittenes großes Projekt einer Revision der Lutherbibel, ist aber ebenfalls unter den Gesichtspunkten muttersprachlicher Reform- und dogmatisch-exegetischer Harmonisierungsbestrebungen bedeutsam. Für diese spricht schon die enge Zusammenarbeit mit Georg Calixt, dem Ireniker an der welfischen Universität in Helmstedt, und dem württembergischen Hofprediger und Konsistorialrat Johann Valentin Andreae. Bei ihm markiert das Jahr 1640 den Beginn einer lebenslangen intensiven Korrespondenz mit Herzog August, der Andreae 1646 auch den Weg in die FG ebnete. An den Bestrebungen zur Sprachregulierung, Literaturreform und historischer Philologie beteiligten sich nicht nur prominente Mitglieder wie Fürst Ludwig, Diederich von dem Werder oder Martin Opitz sowie Aufnahmekandidaten wie Christian Gueintz und Augustus Buchner, sondern auch weit weniger bekannte Fruchtbringer wie die anhaltischen Räte Martin Milagius und Joachim Mechovius, der Hallesche Verbindungs- und Obmann der erzstift-magdeburgischen Stände Hans von Dieskau, Friedrich Hortleder (Hofrat in Weimar), außerdem etwa Jacob Martini (Universitätslehrer in Wittenberg) und Balthasar Walther (Superintendent der Stadt Braunschweig), u. a. Die innergesellschaftlichen Gepflogenheiten und Usancen – die gegenseitige Werkkritik, Literatur- und Nachrichtenaustausch, Ersinnen und Führen von Mitglieder-Impresen, deren Übersetzung ins Französische, die Vorbereitungen zu einem überarbeiteten illustrierten Gesellschaftsbuch u. v. m. – finden nicht nur in den Korrespondenzen der Jahre 1639/40 ihren selbstverständlichen Niederschlag, sondern auch in einer im FG-Archiv erhaltenen, allerdings nicht datierbaren, mit burlesken Versen versehenen Federzeichnung des „Ölbergers“, des rituellen Trinkgefäßes der FG, die im angezeigten Band abgebildet wird. Die weibliche Parallelgründung zur Fruchtbringenden Gesellschaft, die bis heute in der Forschung unterschätzte Tugendliche Gesellschaft, hat in diesem Band wieder einen literarischen und anmutigen bildnerischen Auftritt aus Anlass des Todes eines Mitglieds, der Prinzessin Anna Sophia von Anhalt-Bernburg. Schlaglichter zur deutschen und europäischen Kriegs‑, Diplomatie‑, Alltags‑, Frömmigkeits- und Kulturgeschichte erhellen ihrerseits die wenig bekannte Epoche des 30jährigen Krieges der späten 30er und 40er Jahre. Vier Register beschließen den Band: ein Wörterverzeichnis, (erstmals) ein Glossar der in den Quellen erscheinenden sprachwissenschaftlichen Fachtermini („Kunstwörter“), ein Sach- und ein Personenregister. Letzteres kumuliert als einziges Register nicht die Einträge des Bandes mit jenen der Vorgängerbände. Dies hätte den vertretbaren Umfang der 39 Register im Band erheblich gesprengt. Alle Register aber können in kumulierter Form online eingesehen werden: http://www.hab.de/forschung/projekte/fruchtbringerei/ register.htm Andreas Herz Abb. 1: Gemälde der Palmenimprese, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar: Urkunde 1651 Januar 8. 40 Was wäre, wenn Varus gewonnen hätte? „Wolfenbütteler Gespräche“ zum deutschen Gründungsmythos Der Berliner Historiker Alexander Demandt stellte im Rahmen der „Wolfenbütteler Gespräche. Religionen in der Zivilgesellschaft“ kontrastierende Überlegungen zum deutschen Gründungsmythos vor. Anlässlich des 2000-jährigen Jubiläums der Varusschlacht im Teutoburger Wald sollte dieses epochale Ereignis einmal aus einer umgekehrten Perspektive betrachtet werden. Demandt legte dar, wie sich eine Provinz Germania im Römischen Reich und im späteren Verlauf der Weltgeschichte nach der Varusschlacht hätte entwickeln kön- nen und stellte Spekulationen an, was die Konsequenzen einer Niederlage der Germanen gewesen wären: Der Versuch der Römer, das Imperium auf das Gebiet zwischen Rhein und Elbe auszudehnen, hätte Erfolg gehabt und die Germanen wären wie die Kelten durch die römische Zivilisation geprägt worden. Die Wolfenbütteler Gespräche finden in Zusammenarbeit mit dem Bildungswerk der Friedrich-Ebert-Stiftung in Hannover in der Augusteerhalle statt. Abb. 1: Referent und Veranstalter im Büro des Direktors: Friedrich Weber, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche, Helwig Schmidt-Glintzer, Direktor der Herzog August Bibliothek, der Referent Alexander Demandt, von 1974 bis 2005 Professor für Alte Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Ulrich Menzel, Leiter des Instituts für Sozialwissenschaften der TU Braunschweig, Wilhelm Schmidt, Vorsitzender des Präsidiums des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt und Karl Ermert, Direktor der Bundesakademie für kulturelle Bildung 41 Da ist Musik drin: Die „Jazzkantine“ füllt die Augusteerhalle Mit einem besonderen musikalischen Highlight ließ die Bibliothek am 29. August 2010 den Tag der Braunschweigischen Landschaft ausklingen: Die Braunschweiger „Jazzkantine“ gab mit einem UnpluggedAuftritt ein Finissage-Konzert für die Ausstellung „Das Athen der Welfen – Die Reformuniversität Helmstedt 1576 –1810“ (Abb. 1 und 2). Die „Jazzkantine“ ist eine seit 1994 bestehende Band, die in den vergangenen Jahren durch ihre ungewöhnlichen Arrangements von Jazz aufgefallen ist. Besondere Bekanntheit erhielt sie in den vergangenen Jahren durch über 1000 Live-Konzerte, acht mehrfach ausgezeichnete Alben und ihre Braunschweig-Musicals „Braunschweich, Braunschweich“, „Ölper Zwölf Points“ und „Unser Eintracht“. Die „Jazzkantine“ erhielt für die beste Jazzproduktion den „Echo Award ’95“, den größten deutschen Musikpreis, für den sie auch 2009 nominiert war. Tagsüber fand in Wolfenbüttel der Tag der Braunschweigischen Landschaft statt, an dem sich in der Wolfenbütteler Innenstadt an zahlreichen Stellen Wolfenbütteler und Braunschweigische Institutionen und Vereine präsentierten. Die Herzog August Bibliothek als Landesbibliothek des Braunschweiger Landes öffnete ihre musealen Räume und präsentierte abends die „Jazzkantine“. Abb. 1 und 2: Die „Jazzkantine“ in Aktion vor den Büchern Herzog Augusts 42 Augusta. Wolfenbütteler Bibliotheks-Informationen, Jg. 35 (2010) Herausgegeben von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Postfach 1364, 38299 Wolfenbüttel, Tel.: (05331) 808-0 Redaktion: Anne Tilkorn und Gudrun Schmidt Gestaltung: Gudrun Schmidt und Eva-Maria Reckert Druck: braunschweig-druck GmbH, Braunschweig ISSN 0931-4032 Herzog August Bibliothek Postfach 13 64 38299 Wolfenbüttel Lessingplatz 1 38304 Wolfenbüttel Telefon: 05331 808-0 www.hab.de Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel