An jeder Ecke eine Überraschung

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An jeder Ecke eine Überraschung
TOURISMUS
Jürgen Klemm, Jahrgang 1960,
Absolvent der Hotelfachschule
in Lausanne (Schweiz), ist seit
Ende vergangenen Jahres General
Manager im Fünfsternehotel
Westin Taipei. In einem Gespräch
mit der Redaktion von Taiwan
heute hob er die Vorzüge Taiwans
als Reiseland hervor. Es folgen
Auszüge aus dem Interview.
An jeder Ecke eine
Überraschung
Interview von Tilman ARETZ und HSU Bo-sung
Fotos mit freundlicher Genehmigung vom
Westin Taipei
Taiwan heute: Herr Klemm, seit wann leben und arbeiten Sie in Taiwan?
Jürgen Klemm: Seit März 1988. Meine
erste Arbeitsstelle war im Grand Hotel Kaohsiung, als F&B Consultant. [„F&B“ steht für
Food and Beverages, zu Deutsch: Speisen und
Getränke. Red.] Damals kannte man in Taiwan
an westlichem Essen im Prinzip nur Sandwich
und Steak, ich musste den Leuten praktisch beibringen, wo man die Gabel hinlegt. Nach neun
Monaten im Grand Hotel erhielt ich von André
Joulian, damals Direktor des Ritz-Landis Hotel
in Taipeh, das Angebot, in Kenting an Taiwans
Südspitze im Cesar Park Hotel — das Joulian
kurz darauf übernahm — als Assistant F&B
Manager zu arbeiten. Da war ich dann über
zwei Jahre. In den Jahren, bevor ich zum
Westin kam, habe ich unter anderem noch im
Ritz-Landis, in Hsinchu, und mehrere Jahre
im Viersternehotel Four Points by Sheraton
in Chungho (Landkreis Taipeh) gearbeitet.
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Jürgen Klemm (unten),
General Manager des
Hotels Westin Taipei.
Nebenbei habe ich auch eine
eigene Firma für Beratung im Gastronomie- und Hotelfachgewerbe. Die
meisten meiner Kunden sind Baufirmen,
deren Chefs eigentlich alle bei Null angefangen haben. Das Problem dabei ist, dass
manche, die eine Firma aufgebaut haben und
damit reich geworden sind, nicht einsehen
können, dass die Welt sich geändert hat. Die
Alten vergessen, dass die Gegebenheiten
nicht mehr die gleichen sind, und glauben, sie können das alles besser. Da sind
oft auch berühmte Leute darunter. Die
überwiegende Mehrheit von denen ist
nicht gewillt, zuzuhören, und sie verstehen nicht, dass das Hotelfach nicht das
Gleiche ist wie Containerbusiness. Alte
Firmengründer wie Chang Yung-fa
(張榮發) vom Evergreen-Konzern
oder Wang Yung-ching (王永慶)
von Formosa Plastics haben bis
ins hohe Alter gearbeitet, oft
weil sie ihren Kindern nicht
trauen. Das ist Konfuzius, Respekt vor dem Alter, das hat
sich in Taiwan bis heute nicht
geändert, kann aber schlecht
für die Effizienz sein. Die
zweite Generation hat in Harvard studiert, nützt jedoch alles nichts, denn
in den Augen der Alten können die
nichts. So etwas kann die Arbeit oft
sehr schwer machen.
In welcher Hinsicht könnte sich
Taiwans Hotelgewerbe von Deutschland eine Scheibe abschneiden?
Das Ausbildungssystem in Taiwan
ist heute zwar besser als früher, aber
immer noch verbesserungsbedürftig.
In Europa kann man in der Gastronomie effizient arbeiten, weil man das
dort von Grund auf gelernt hat. In
Taiwan läuft noch der Versuch, das
deutsche Ausbildungssystem einzuführen mit 3 Jahren Lehre, allerding
ist das schwierig, weil die Taiwaner
meist nicht soviel Geduld haben und
keine begleitenden Berufsschulen
da sind. In Deutschland arbeitet ein
Lehrling vier Tage, hat dann ein Tag
Berufsschule und anschließend zwei
Tage frei, und eine Lehre dauert drei
Jahre. In Taiwan wollen die jungen
Leute schon nach vier Wochen eine
Beförderung haben, weil sie glauben, sie hätten schon alles gelernt.
Sie haben keine Geduld, weil eine
Berufsausbildung für Nicht-Studierte
hier einfach nicht existiert oder sie
zumindest nicht zu einem anerkannten
Abschluss mit Diplom führt.
In Taiwan wollen alle studieren,
und wenn sie studiert haben, finden
sie heute auch keinen Job mehr.
Früher kamen 20 Prozent der Oberschulabsolventen an die Uni, heute
98 Prozent. Da ist wieder Konfuzius
das Problem, die studieren, können aber in der Praxis nur wenig.
Das ist völlig nutzlos. Traditionelle
Betriebe und Berufe wie Autowerkstätten, Restaurants, Köche und das
Dienstleistungsgewerbe sind in Taiwan wenig respektiert. Handwerker
erhalten keine ganze Ausbildung in
Taiwan. Warum sind gerade deutsche
Autofirmen so gut? Weil die Jungs
dort erst gelernt haben, Techniker zu
sein, bevor sie was machen dürfen,
und nicht nur studiert haben. Taiwans
Bildungsministerium verlangt, dass
alle hauptamtlichen Hochschullehrer
einen Doktorgrad haben. Soviel Doktoren gibt es aber nicht im Hotelfach.
In unserem Fach braucht man keinen
Titel, sondern einen gute praktische
kaufmännische Ausbildung und Erfahrung.
Wohnen Sie selbst permanent im
Westin?
Nein. In Taiwan ist das nicht
mehr nötig, die Angestellten haben
alle eine gute Grundausbildung absolviert, sind in gute Schulen gegangen
und können alle Englisch. Das Mittelmanagement ist schon recht stark.
Zu jeder Uhrzeit sind Mitarbeiter da,
tagsüber natürlich mehr, Techniker,
Security usw., nur die Restaurants
sind nachts zu. Heute muss man die
Taiwaner nicht mehr so rigoros bei
der Arbeit überwachen, viele haben
im Ausland studiert, sind gereist und
haben viel gesehen. Hier muss man
den Leuten Verantwortung geben, sie
können nicht besser werden, wenn
man ihnen nicht etwas Freiraum gibt.
Inwieweit unterscheidet sich das
Westin von einem vergleichbaren
Fünfsternehotel in Deutschland?
Hier im Westin haben wir zwölf
Restaurants. In Deutschland hat ein
Hotel höchstens ein Restaurant, nur
für Hotelgäste. In Deutschland geht
sonst keiner zum Essen ins Hotel. In
Taiwan dagegen haben die Restaurantgäste und die Hotelgäste nichts
miteinander zu tun. Unsere Hotelgäste
gehen vormittags raus und kommen
erst abends wieder, ihre taiwanischen
Bekannten laden sie zum Essen in
ein anderes Hotel ein. Unsere Restaurantgäste kommen von draußen zum
Essen her. Die Ursache dafür ist die
traditionelle Gastfreundschaft hier in
Taiwan. In Deutschland ist es üblich,
Leute nach Hause einzuladen und zu
kochen. In Taiwan ist so etwas sehr
ungewohnt. Zu Hause kochen und
essen? No face! Davon leben wir
hier im Westin und in anderen Hotels
und Restaurants. Grob gesagt machen
im Westin Restaurants, Banketts und
Zimmer jeweils ein Drittel der Einnahmen aus.
Wie hat sich die Wirtschafts- und
Finanzkrise auf das Hotelgewerbe
in Taiwan ausgewirkt?
Bei den Hotels ist das Geschäft
natürlich stark runtergegangen. Etwa
die Hälfte der Firmenkunden blieben
weg, das Geschäft für Jahresend- und
Hochzeitspartys brach ein, aber die
Personalkosten blieben freilich. Nun
hat Taiwan großes Glück gehabt,
dass sich praktisch aus dem Nichts
ein neuer Markt auftat, als infolge
der politischen Veränderungen 2008
festlandchinesische Besucher ins Land
durften. Insgesamt gibt es in Taipeh
vielleicht 20 000 Hotelzimmer, und
wenn dann 3000 Chinesen kommen,
ist das gut, weil die durchschnittliche
Belegung steigt.
Das Problem ist, dass die taiwanischen Reisebüros sich gegenseitig
das Geschäft kaputt machen. Einer
bietet ein Hotelzimmer für 3000 NT$
(66 Euro), der nächste dann für 2800
NT$ (62 Euro), wieder der nächste
für 2600 NT$ (57 Euro) und so weiter, das ist total kurzsichtig. Die Chinesen haben bestimmt nicht gesagt,
dass es unbedingt billig sein muss,
die hätten wohl auch 3500 oder 4000
NT$ (77/88 Euro) gezahlt. Die Reiseagenturen hier haben sich aber gegenseitig ausgespielt.
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Wir hier im Westin machen das das Billiggeschäft nicht mit und gehen nicht für die
Chinesen 30 bis 40 Pozent mit dem Preis
runter. Deswegen sind bei unserer aktuellen
Belegung höchstens 10 bis 15 Prozent der
Gäste Festlandchinesen. Wir wollen hier im
Haus nicht so viele Reisegruppen, das Westin ist mit 288 Zimmern eines der kleineren
Fünfsternehotels in Taipeh, wir verfügen gar
nicht über genügend Doppelzimmer für große Reisegruppen (wir haben nur 50 Doppelzimmer).
Übrigens wurden von Taiwans Tourismusamt Listen ausgegeben mit sprachlichen
Tipps, da man auf dem Festland in der chinesischen Sprache teilweise andere Redewendungen und Begrüßungsformeln benutzt als
hier in Taiwan, so sagt man beispielsweise
drüben am Morgen zaoshang hao (早上好),
hüben dagegen zao an (早安). Ich persönlich
halte nichts davon, die Festlandchinesen in
Taiwan so zu behandeln wie in China. Warum kommt denn ein festlandchinesischer
Besucher nach Taiwan? Weil er Taiwan sehen will. Wenn man ihn behandelt wie einen
Taiwaner, hat man die besten Chancen, ihn
zu beeindrucken. Die Festlandchinesen verstehen es ja, wenn man sie morgens mit zao
an begrüßt. Man reist doch in ein anderes
Land, weil man was erleben will! Sonst kann
man gleich zu Hause bleiben und fernsehen.
Wenn Europäer oder Amerikaner einen
Urlaub in Asien planen, denken die meisten von ihnen eigentlich eher nicht an Taiwan...
Zu Unrecht. Die meisten Gäste, die in
Taiwan und in China waren, sagen, Taiwan
ist doch so viel besser. Taiwan hat so viele
Vorteile und Pluspunkte, versteht das aber
nicht zu verkaufen. Was wählt da beispielsweise das taiwanische Tourismusamt als
Logo? Taipei 101. In Shanghai stehen quasi
50 ähnliche Türme an der Wasserfront. Es
ist mir unverständlich, wie kann ein neues
Gebäude der größte Verkaufspunkt der Insel
sein? Dafür gibt es auf Taiwan 250 Berge
über 3000 Meter, auf den höchsten Bergen
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Im Westin Taipei gibt
es nicht weniger
als 12 Restaurants
unterschiedlicher Art, die
überwiegend von Gästen
besucht werden, die nicht
im Hotel wohnen, sondern
einfach gut speisen
möchten.
liegt Schnee, die Leute
sind freundlich, aber das
weiß kein Mensch! Jeder,
der herkommt, ist positiv
überrascht. Warum weiß
das keiner? Weil man das
falsch verkauft. Taiwan ist
eine wunderschöne Insel,
und ich habe Leute um die
Insel geschickt, die hatten
großartigen Urlaub. Leider
hat sich hier keiner über
die Vermarktung des Produkts Tourismus Gedanken
gemacht. Man muss herausfinden, was will eigentlich
der Deutsche, Amerikaner
oder Japaner haben, der hier
rüberkommt?
Einmal kam ein Cousin
von mir mit einer Gruppe
aus dem bayerischen Mittenwald nach Taiwan. Am Tag
nach der Ankunft in Taipeh
reisten sie programmgemäß
mit dem Flugzeug nach
Hualien und ab in die Tarokoschlucht. Dort fragten die
Bayern sich, was wollen wir
in den Bergen? Haben die
Reisfelder hier? Aber Reisfelder wurden denen nicht
gezeigt, denn in den Augen
der Taiwaner gibt’s da ja
nichts zu sehen. Da wurde
eben nie daran gedacht, was
der Kunde will. Dass die
Taiwaner sich keine Reisfelder anschauen, ist
klar, aber wer aus Bayern kommt, ist total
begeistert von Reisfeldern.
Ich kannte einmal ein Ehepaar aus
Deutschland, die beiden waren vorher schon
überall in der Welt gewesen. Denen hatte
noch bei der Anreise im Flieger von Cathay
Pacific die Stewardess gesagt, in Taiwan
gäbe es nichts zu sehen, und in Frankfurt
im Taipeh-Tourismusbüro hatte man denen
geraten, in Taipeh im Hotel zu wohnen und
Tagesreisen zu machen, also stiegen
sie in Taipeh im Hotel ab. Da habe
ich ihnen gesagt, zwei Wochen im
Hotel, bloß nicht, und habe ihnen
einen Reiseplan gestaltet — Lugang,
Tainan, zwei Tage Kenting, Taitung,
Chihben. Die kamen wieder und sagten, das sei einer der besten Urlaube
gewesen, den sie je gehabt hatten,
dabei reisen sie jedes Jahr zwei Mal.
Bei der Busfahrt nach Taitung im Osten Taiwans mit der schönen Aussicht
haben sie häufig ihre Beta-Kamera
gezückt, da hat der Linienbus immer
gleich angehalten, und die anderen
Fahrgäste klatschten noch freundlich!
Das ist Taiwan! Das ist das Schöne
an Taiwan, dass sich das nie geändert
hat, nach all der Entwicklung sind die
Taiwaner heute genauso freundlich
wie vor 20 Jahren. Das soll kein Verkaufspunkt sein?
Ich freue mich über jeden, der
sagt, Taiwan ist schön. Wer das nicht
findet, hat Taiwan nicht verstanden,
der hat was falsch gemacht. Taiwan
ist ein wunderschönes Land mit
freundlichen Leute, man wird nicht
schräg angeschaut, gekidnappt oder
ausgeraubt. Taiwan war immer ein
sehr sicheres Land. Die meisten Länder der Umgebung sind nicht so. Irgendwo habe ich dann mal einen passenden Slogan gesehen: „Taiwan—a
surprise around every corner“. Genau
das ist es, das ist perfekt! Die Leute
kommen her, erleben die Insel und
finden die Überraschungen meist richtig gut.
Das erfahren auch die Geschäftsreisenden. Man muss die Taiwaner
persönlich kennen lernen, dann ist das
Geschäftemachen hinterher kein Problem mehr. Ich kannte mal zwei Geschäftsleute, die nach Taiwan kamen
und bei der laufenden Fahrradmesse
faltbare Fahrräder kaufen wollten.
Bei acht, neun Firmen haben sie Vor-
anzahlungen geleistet, um Muster
zu bekommen, und haben hinterher
prompt von allen die Muster nach
Deutschland geschickt bekommen. In
China haben sie zehn Firmen Geld
für Muster bezahlt, erhielten danach
aber von nur drei Firmen Muster,
die anderen sieben steckten das Geld
ein, und von denen hörte man nichts
mehr. Die beiden kommen jedes Jahr
wieder nach Taiwan, schauen sich
um und kaufen, die finden das ganz
toll hier. Abends gehen sie mit ihrem
Taschenrechner auf den Nachtmarkt
und haben Spaß, obwohl sie kein
Wort Chinesisch können. Auf dem
Taschenrechner tippen die Verkäufer
die Preise ein, die kann jeder lesen.
Man hört immer wieder den Einwand, außerhalb von Taipeh gäbe
es zu wenig Beschilderung in englischer Sprache, weswegen sich Touristen nur schwer zurechtfänden.
Wenn man sich traut, ist das
überhaupt kein Problem. Wenn man
als Ausländer mit einem Stadtplan
in der Hand verloren auf der Straße
steht, kommen sehr oft gleich junge
Leute an und helfen, auch wenn sie
nur drei Worte Englisch können. Immer wieder kommt es vor, dass man
von wildfremden Leuten sogar im
Taxi bis ins Hotel begleitet wird, und
die lassen sich das noch nicht mal
bezahlen. Das ist Taiwan!
Irgendwann wird man Taiwan
als Reiseland entdecken. Das muss
man aber nicht den Massen-Touristen
verkaufen, sondern den ErlebnisTouristen, die daran dann auch Freude haben. Taiwan würde ich als „organisiertes Chaos“ beschreiben, was
für junge Leute sicher kein Problem
ist, wenn man es so vermarktet. Wir
haben freundliche Leute, ein sicheres
Land, wunderbare Natur bis auf 4000
Meter über und unter dem Meer, was
will man mehr? Die Leute fahren ja
auch in Urlaub nach Indien, was noch
chaotischer sein muss als hier. Beeindruckend ist es auf jeden Fall.
n
Mit 288 Zimmern ist das
Westin eines der kleineren
Fünfsternehotels in Taipeh.
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