Patellaluxation (Kniescheibenverrenkung)

Transcription

Patellaluxation (Kniescheibenverrenkung)
ORIGINALBEITRÄGE
E. Ludolph, F. Schröter, A. Krumbiegel, H. Hempfling
Zusammenfassung
Patellaluxation
(Kniescheibenverrenkung)
Anatomie und Funktion
Das Patellofemoralgelenk (Kniescheiben-Oberschenkelgelenk) ist als sog.
Nebengelenk integrierter Teil des Kniegelenks – gemeinsame Gelenkhöhle und
Gelenkkapsel – „Schauplatz“ zahlreicher
und häufiger Beschwerde- und Schadensbilder. So ist es z. B. das Gelenk mit
den häufigsten und frühesten Knorpeltexturstörungen [17] und als Modell für
das Studium der Arthrose gut geeignet –
nach Ficat [15] ein „Observatoire ideal
de l´arthrose“.
Die Patella (Kniescheibe) ist mit
einer Länge von ca. 4 cm als größtes
Sesambein (Schaltknochen) des Menschen in die kräftige Quadrizepssehne
(Sehne des vierköpfigen Schenkelstreckers) eingebunden. Ihre querverlaufende, etwas abgerundete Basis ist kopfwärts (kranial) gerichtet und Ansatz-
Abb. 1: Ansicht der Kniescheibe von vorn
(nach Gaber 2005)
1 Kniescheibenbasis
2 Kniescheibenspitze
Anschriften der Verfasser
Dr. med. E. Ludolph
Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie
Institut für ärztliche Begutachtung
Sonnenacker 62
40489 Düsseldorf
Dr. med. F. Schröter
Arzt für Orthopädie
Interdiziplinäre medizinische
Begutachtung
Landgraf-Karl-Str. 21
34131 Kassel
Dr. med. A. Krumbiegel
Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie
Interdisziplinäre medizinische
Begutachtung
Tibarg 1b
22459 Hamburg
Prof. Dr. med. H. Hempfling
Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie
Gabriele-Münter-Platz 2
82418 Murnau
Abb. 2: Ansicht der Kniescheibe von hinten
(nach Gaber 2005)
1 Äußere Gelenkfläche
2 Innere Gelenkfläche
3 Kniescheibenfirst
4 Ausgezogene, nicht überknorpelte Kniescheibenspitze
punkt der Quadrizepssehne. Ein Teil der
Quadrizepsfasern, ca. 50 %, zieht über
die raue Kniescheibenvorderseite (Zugseite) hinweg, umfasst die fußwärts (kaudal) gerichtete Kniescheibenspitze (Apex
patellae) und zieht als Kniescheibensehne (Ligamentum patellae) zur Schienbeinrauigkeit, der Tuberositas tibiae
(Abb. 1 und 2).
Funktionell hat die ­
Kniescheibe
neben einer Schutzfunktion für die
Streckseite des Kniegelenks eine Führungsfunktion für die Quadrizeps- und
Patellasehne. Sie bildet einen Steg
212
Subluxation und Luxation der Kniescheibe gehören zu den häufigsten
patho-mechanischen Störungen am
Kniegelenk. Die Diagnose wird aber
nicht selten erschwert durch eine spontane Reposition. Besonders bei Jugendlichen sollte nach jeder „Distorsion“
an diese Möglichkeit gedacht werden.
Erst wenn „unklare“ prolongierte Beschwerden zur kernspintomografischen
Diagnostik mit den dann typischen
Verletzungszeichen am medialen Retinaculum und dem verletzten medialen
patello-femoralen Ligament gesehen
werden, kann die Diagnose gestellt
werden. Auch dann wird dieser Befund
nicht selten vernebelt durch Begleitläsionen z.B. am Meniskus oder am
vorderen Kreuzband.
Eine nur unfallbedingte Kniescheibenluxation ist eher selten zu erwarten.
Fast immer findet man anatomische
Varianten, die den Luxationsvorgang
zumindest begünstigen, wenn nicht
überwiegend oder sogar allein verursacht haben.
Diese dispositionellen Faktoren gilt
es spätestens im Rahmen der Begutachtung zu objektivieren und in ihrer
Ausprägung genau zu definieren, um
dann zu prüfen, welchen Einfluss sie
auf die Entstehung der Kniescheibenluxation gehabt haben. Diese Fragestellung ist gutachtlich insofern brisant, da
nach der Rechtsprechung des BSG sogar noch bei einem mehr als hälftigen
unfallfremden Ursachenanteil durch
eine solche Disposition die Einwirkung
immer noch rechtlich-wesentlich sein
könnte, was zur Anerkennung als „Unfallfolge“ führen müsste.
Gerade solche Grenzsituationen
stellen eine Herausforderung an den
medizinischen Sachverständigen dar,
der verpflichtet ist, eine sehr präzise
Analyse der Gelenk- und Beinanatomie vorzunehmen, um das Ausmaß
der dispositionellen Beeinflussung der
Kniescheibenluxation bestimmen zu
können, dies zum Zwecke einer abwägenden Gewichtung einerseits der Disposition und andererseits der Relevanz
der Einwirkung.
Die vorliegende Arbeit soll hierzu
eine Hilfestellung geben.
Schlüsselwörter Patellaluxation –
femoropatellare Dysplasie – Unfallkausalität – Begleitläsion
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ORIGINALBEITRÄGE
Abb. 3: Zweigeteilte
und mehrgeteilte
Kniescheibe
Abb. 5: Die „Odd-Facet“ als Randsegment
der inneren Kniescheibengelenkfläche
Abb. 4: Röntgenbild einer zweigeteilten
Kniescheibe vom sog. diagonalen Typ am
oberen äußeren Kniescheibenpol, der mit
80 % häufigste Typ (nach M. Strobel und
Stedtfeld 1988)
(Abstandshalter), der die Sehnen von
der Unterlage abhebt, den Hebelarm
der Strecker verlängert und damit bei
Beugung im Kniegelenk die Kraft
der Quadrizepsmuskulatur durch eine
wesentliche Erhöhung des Drehmoments
auf den Unterschenkel überträgt. Dabei
nimmt die Kniescheibe Druckbelastungen auf, die beim Anheben des gestreckten Beines etwa die Hälfte des Körpergewichts betragen und beim Hochkommen
aus der Hocke bis auf das 140-fache des
Körpergewichts ansteigen [1]. Weiterhin
funktioniert die Kniescheibe als Umlenk­rolle der Kniescheibensehne um die
Trochlea femoris (Oberschenkelgelenk-
fläche der Kniescheibe, Kniescheibengleitlager).
Die Kniescheibe entwickelt sich aus
mehreren knorpelig angelegten Knochenkernen. Bleibt die Verknöcherung,
die im 4. bis 5. Lebensjahr beginnt, aus,
resultiert eine zwei- oder mehrgeteilte Kniescheibe (Patella bipartita/multipartita), was von symptomatischer und
funktioneller Relevanz sein kann (Abb.
3 und 4).
Die Druckseite der Kniescheibe, die
ca. 12 cm² große knorpelbedeckte Fläche,
unterteilt sich in zwei ungleiche konkave Felder – in die äußere (laterale), meist
größere (Haupt-) Gelenkfläche (Facette) und in die innere (mediale) Gelenkfläche (Abb. 2), an der an der inneren
Patellakante noch die „besondere“ OddFacet, die „Odd-Facette“, als Randsegment unterschieden wird (Abb. 5). Die
Aufteilung der von hyalinem (glasartigem) Gelenkknorpel überzogenen Kniescheibengelenkfläche (Facies articularis
patellae) in sieben „Einzel“-Facetten –
jeweils zwei paarige obere, mittlere und
untere sowie eine mediale Odd-Facet – ist
für die Auflagefläche der Kniescheibe am
Oberschenkel (Femur) in den verschiedenen Bewegungsstellungen im Kniegelenk
(Streckung/Beugung) sinnvoll.
Die Auflage-/Anpressflächen der
Kniescheibe am Oberschenkel ändern
sich in Abhängigkeit von der Bewegungsstellung im Kniegelenk. Die Kontaktflächen wandern mit zunehmender Beugung
im Kniegelenk sowohl an der Kniescheibe wie an der Trochlea femoris von distal (Streckung) nach proximal (Beugung),
wobei die Kniescheibe bei starker Beugung den Einschnitt zwischen den Oberschenkelgelenkkörpern, die Fossa intercondylaris, überbrückt, lediglich noch
mit den äußeren Facettenanteilen den
Oberschenkelgelenkflächen (Kondylenflächen) aufliegt und nur in dieser Stellung die eigentliche mediale Kniescheibenkante („Odd-Facet“) mit dem Oberschenkel in Kontakt kommt (Abb. 6).
Abb. 6: Auflageflächen der Kniescheibe in den verschiedenen Bewegungsstellungen im
Kniegelenk von voller Streckung (1) bis zur vollen Beugung (4), bei der die mediale Kniescheibenkante, die „Odd-Facet“, mit dem Oberschenkel in Kontakt kommt (4a/b) (nach Müller 1982)
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ORIGINALBEITRÄGE
Während der gesamten Beugung im
Kniegelenk liegt die Kniescheibe physiologischerweise mehr dem äußeren Oberschenkelgelenkkörper auf und „biegt“
sich lateral auf dem Oberschenkelgelenkkörper wie auf einem Leisten [41].
Dem auf der Außenseite stärkeren Druck
(Flächenpressung) entspricht der Aufbau
der Knochenbälkchen.
Bei ihrer vertikalen Bewegung, die
eine Wegstrecke von ca. 8 cm umfasst,
wird die Patella durch den Quadrizeps­
muskel in ihr Gleitlager gepresst. Der
Anpressdruck der Kniescheibe nimmt
nach dem Parallelogramm der Kräfte mit
der Beugung im Kniegelenk zu (Abb. 7).
Die von Bandi [2] und Aglietti et al. [1]
vorgenommenen Berechnungen berücksichtigen allerdings nicht den ab 70°
Beugung auftretenden Umwicklungs-
effekt der Quadrizepssehne, wodurch
die auftretenden Kräfte auf eine größere
Fläche verteilt werden und dadurch der
Anpressdruck nicht relevant zunimmt.
Der Anpressdruck ist zwar abhängig
von der Zugkraft der Quadrizeps- und
Patellasehne, jedoch von der Beugestellung im Kniegelenk weitgehend unabhängig, wie Druckmessuntersuchungen
ergeben haben [19, 20]. Der bei Beugung
hohe Anpressdruck ist in Streckstellung
nur gering (im Patellaspitzenbereich).
Bei Überstreckung (Hyperextension) im
Kniegelenk entfernt sich die Kniescheibe
vom Oberschenkel und droht nach außen
zu verrenken, da Quadrizeps- und Patellasehne physiologischerweise einen nach
außen offenen stumpfen Winkel bilden
(Abb. 8), wobei die Verrenkung normalerweise durch die etwas prominentere
Abb. 7: Mit zunehmender Beugung im
Kniegelenk nimmt der Anpressdruck der
Kniescheibe nach dem Kräfteparallelogramm
zu (nach Wagner und Schabus 1982)
Abb. 9: Die im Vergleich zur medialen
prominentere laterale Wange des Kniescheibengleitlagers (Differenz „e“) verhindert
normalerweise eine Kniescheibenverrenkung
(nach Kapandji 1985)
a
b
c
d
Abb. 8: Hoher Anpressdruck der Kniescheibe bei Beugung im Kniegelenk (a), geringer
Anpressdruck in Streckstellung (b). Bei Überstreckung (Hyperextension) entfernt sich die Kniescheibe vom Oberschenkel (c) und droht nach lateral zu verrenken (d) (nach Kapandji 1985)
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Wange des lateralen Kniescheibengleitlagers verhindert wird (Abb. 9). Ist die
laterale Wange anlagebedingt hypoplastisch (unterentwickelt), wird die Kniescheibe weniger sicher geführt und kann
in Streckstellung teilverrenken bzw. verrenken [31].
Wie im Kniehauptgelenk gibt es auch
im Kniescheiben-Oberschenkelgelenk
einen Roll-Gleit-Mechanismus, wobei
allerdings das Gleiten an der Kniescheibe der Abrollrichtung entgegenläuft,
während Rollen und Gleiten im Kniehauptgelenk in die gleiche Richtung
gehen [41].
Während der Knorpelüberzug mit
der Kniescheibenbasis eine enge Beziehung aufweist, also Gelenkfläche und
knöcherne Patellabasis zusammenfallen und so einen guten röntgenologischen Bezugspunkt bilden, ist dies im
Bereich der Patellaspitze, die stark ausgezogen sein kann, nicht der Fall (Abb.
2). Die Begrenzung der Gelenkfläche
ist distal röntgenologisch schwieriger
festzulegen.Mediale und laterale Facette sind durch eine Führungsleiste, den
sog. First, getrennt (Abb. 2), der von der
mechanischen Beanspruchung her eher
dem „Kiel eines Bootes entspricht, das
an Land gezogen wird“ [41]. Eine häufig
im mittleren Drittel der Patellagelenkfläche anzutreffende querverlaufende Eindellung (Exkavation, Haglund-Delle)
soll Ausdruck einer starken Walkwirkung
bei kantenartiger Begrenzung der lateralen Oberschenkelgelenkfläche der Patella (Knorpelwulst nach Outerbridge) sein
[41]. Diese Überlegung überzeugt kaum.
Zwar liegt bei Streckung im Kniegelenk
die Delle direkt über dieser Stelle. Bei
Streckung im Kniegelenk wirken jedoch
im mittleren Drittel der Patella keine
Druckkräfte, so dass die Delle wohl einer
mechanischen Grundlage entbehrt und
als Normvariante ohne Krankheitswert
angesehen werden kann (Abb. 10).
Als Reaktion auf die starken Druckkräfte beträgt die Knorpeldicke der
Patella bis zu 7 mm und ist damit stärker als in allen anderen Gelenken. Diese Schichtdicke des Knorpels bringt aber
auch Ernährungsprobleme mit sich, da
die Diffusion (Durchsaftung) mit zunehmender Knorpeldicke erschwert wird.
Für das Schadensbild einer Patellaluxation spielen
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Abb. 10: Normvarianten der Kniescheibenform und -dicke (Seitansicht). H = Haglund-Delle
◾◾ Dysplasien (Fehlbildungen) der Kniescheibe und der Trochlea sowie
◾◾ Dystopien (Verlagerungen) der Kniescheibe eine wichtige Rolle.
Die Einteilung der Kniescheibenform an
Hand der tangentialen (axialen) Röntgenaufnahme nach Wiberg [53] und Baumgartl [4] ist allgemein akzeptiert und hat
sich in der Praxis bewährt (Abb. 11).
Wiberg nahm seine Einteilung an Hand
einer axialen Röntgenaufnahme mit
45° Beugung im Kniegelenk vor. Neben
dem sog. Facettenwinkel (Patellaöffnungswinkel, Patellagelenkflächenwinkel nach Christiani, [11]), dem Winkel
Alpha, den der knöcherne Patellafirst mit
der inneren und äußeren Gelenkfacette
bildet und der im Regelfall 120 bis 140°
beträgt, sind die Länge und die Form der
medialen Gelenkfläche ausschlaggebend
für die Einteilung in die Typen I, II, II/
III, III und IV (Abb. 12). Sonderformen
sind die Jägerhut-Kniescheibe (völliges
Abb. 11: Kniescheibenform I bis IV nach Wiberg (1941) und Baumgartl (1964)
Fehlen der medialen Facette, sog. halbe Kniescheibe), die Halbmond-Kniescheibe und die Kieselstein-Kniescheibe
(Abb. 13).
Abb. 13: Die Sonderformen der Kniescheibe
(Halbmond, Kieselstein und Jägerhut)
Abb. 12: Einteilung und Häufigkeit der Kniescheibentypen I bis IV entsprechend dem Facettenwinkel (Winkel Alpha)
und entsprechend der Länge und Form der medialen Gelenkfläche
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Beim Kniescheibentyp I
beträgt der Facettenwinkel 120 bis 140°.
Die mediale konkav geformte Facette
entspricht der lateralen Facette.
Beim Kniescheibentyp II
beträgt der Facettenwinkel 110 bis 120°.
Die mediale Facette ist verkürzt und konkav geformt.
Beim Kniescheibentyp II/III
beträgt der Facettenwinkel 110 bis 120°.
Die mediale Facette ist verkürzt und plan
gestaltet.
Beim Kniescheibentyp III
beträgt der Facettenwinkel 90 bis 110°.
Die mediale Facette ist verkürzt und konvex geformt.
Beim Kniescheibentyp IV
beträgt der Facettenwinkel 90°. Die
mediale Facette ist verkürzt, konvex
geformt und weist eine Höckerbildung
auf [4].
Die Typen I bis III sind der Normalform zuzurechnen, während nach Hepp
[21], Kasch [32] und Strobl/Grill [48] der
Typ IV und die Sonderformen als Dysplasien zu bezeichnen sind.
Darauf hinzuweisen ist, dass sich
der mediale Eckpunkt der Kniescheibe
röntgenologisch meist nur ungenügend
genau festlegen lässt, so dass die genaue
Winkelbestimmung vom Untersucher
abhängig ist.
Die Häufigkeitsverteilung der Kniescheibentypen ist wie folgt zu diskutieren [2]:
Typ I
10 %
Typ II und II/III
65 %
Typ III
10 %
Typ IV
15 %
Von der normalen Kniescheibengröße sind die Patella magna/elongata (große
Kniescheibe) und die Patella parva (kleine Kniescheibe) nur schwierig zu unterscheiden. Dicke und Breite der Kniescheibe lassen sich in axialen Strahlengängen projektionsbedingt und bei leichten Drehungen und Kippungen sowie
infolge des unterschiedlichen Vergrößerungseffektes nur unzuverlässig bestimmen. Aufnahmen im seitlichen Strahlengang lassen nach Hepp [21] eine bessere Standardisierung zu. Bei einem Diagonaldurchmesser (Abb. 14) von über
55 mm bei Männern und von über 50 mm
bei Frauen wird von einer Patella magna
Abb. 14: Diagonaldurchmesser (AB)
der Kniescheibe
Abb. 15: Die laterale (äußere) Gelenkfläche
des Kniescheibengleitlagers reicht weiter
kopfwärts (Pfeil) als die mediale (innere)
(elongata) und bei einem Diagonaldurchmesser von unter 40 mm bzw. 35 mm von
einer Patella parva gesprochen.
Die Kniescheibe artikuliert mit der
Vorderseite des kniegelenknahen Oberschenkels, der Facies patellaris femoris,
der Trochlea femoris. Der Knorpelüberzug der beiden Oberschenkelgelenkkörper (Kondylen) geht streckseitig in die
Facies patellaris über. In Aufsicht ist die
Gelenkfläche sichelförmig. In seitlicher
Ausrichtung ist die Gelenkfläche konkav,
a
b
c
Abb. 16: Kniescheiben-Defilee-Aufnahmen
a Aufnahmetechnik
b 45° Beugung im Kniegelenk
c 30°, 60°, 90° Beugung im Kniegelenk
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Abb. 17: Die unterschiedlichen Röntgen-Aufnahme-techniken für die tangentiale Darstellung des Femoropatellar-gelenkes nach einer Zusammenstellung von Hepp (1982)
in kranio-kaudaler (kopf-fußwärtiger)
Ausrichtung konvex. Die äußere Gelenkfläche reicht weiter nach kopfwärts als
die innere (Abb. 15). Der Knorpel der
Trochlea ist in der zentralen Rinne am
stärksten ausgeprägt.
Die Trochleaform ist variantenreich,
wobei zur Auswertung vorrangig tangentiale Röntgenaufnahmen des Patellofemoralgelenkes erforderlich sind.
Zu beachten ist, dass sich die Form
der Trochlea je nach Beugegrad im Kniegelenk röntgenologisch deutlich ändert.
Bei 30° Beugung im Kniegelenk ist die
Dysplasie nach Hepp [21] am leichtesten
erkennbar. Da jedoch meist keine Defilee-Aufnahmen (Abb. 16) zur Verfügung
stehen, wird vorgeschlagen, die Trochleaform an Hand der Aufnahme in 60°
Beugung im Kniegelenk zu bestimmen,
wobei die Knutsson-Technik (Rückenlage des zu Untersuchenden) bevorzugt
wird (Abb. 17. 3).
Analog dem Kniescheibentyp lassen
sich nach Ficat [14], modifiziert nach
Hepp [21], fünf Trochleatypen (Trochleaformen) als brauchbare Einteilung
unterscheiden (Abb. 18):
Abb. 18: Die Trochleatypen nach
Hepp (1982)
Typ I:Annähernd gleich hohe, breite und gerundete Kondylenwangen mit einem wannenförmig in der Mitte gelegenen
Sulcus (Rinne).
Typ II:
Die äußere Kondylenwange ist etwas breiter und höher
ausgebildet als die mediale. Der Sulcus ist etwas nach
medial verlagert.
Typ III:Die mediale Kondylenwange
ist unter-, die laterale Kondylenwange überentwickelt. Der
Sulcus ist abgeflacht und nach
medial verlagert. Die mediale
Kondylenwange wird zunehmend kürzer und flacher.
Typ IV:Beide Kondylenwangen sind
deutlich abgeflacht, wobei
die laterale meistens l­änger
und höher ist. Der Sulcus
ist flach, oft nur als „Delle“
vorhanden.
Typ V:Ein Sulcus ist nicht mehr vorhanden. Die Trochlea ist plan
gestaltet.
Hepp [24] fand die Typen I und II
in 89 % der Untersuchten ohne Patel­
laluxation, die Typen III, IV und V in
96,5 % der Untersuchten mit Patellaluxation. Der Typ I war in der Gruppe mit
Patellaluxation überhaupt nicht vertreten, der Typ II nur in 3,5 % der Fälle. Die
Typen I und II werden als „normal“, die
Typen III bis V als dysplastisch bezeichnet.
Von den in der Literatur zahlreich
angegebenen Meßmethoden zur Ermittlung der Patella- und Trochleaformen
werden nachfolgend nur die gebräuchlichsten aufgeführt.
Der Patella-Tiefen-Index (PTI) nach
Ficat und Bizou [16] setzt die größte Breite (transversale Poldistanz) der
Kniescheibe (AB in mm) in Relation
(Quotient) zur halben Patelladicke (CD
in mm). Der Normbereich liegt zwischen 3,2 und 4,59. Der Übergangsbereich umfasst die Werte 3,0 bis 3,19
sowie 4,6 bis 4,79, während Werte unter
3,0 und über 4,8 als dysplastisch eingestuft werden (Abb. 19). Da der mediale Kniescheibenpol (B) und der tiefste
Punkt des Paellafirstes (C) oft nur ungenau festzulegen sind, ist diese Messmethode sehr unzuverlässig [21].
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Abb. 19: Der Patella-Tiefen-Index (PTI) nach Ficat und Bizou (1967)
Abb. 21: Der Kondylen-GelenkflächenIndex (KGI) nach Ficat (1970): Quotient AC
zu BC
Abb. 20: Der Trochleaöffnungswinkel (Sulkuswinkel, Kondylen-Gelenkflächen-Winkel,
KGW) nach Brattström (1960)
Abb. 22: Der Kondylen-Tiefen-Index (KTI)
nach Ficat und Bizou (1967): Quotient AB zu CD
Der Trochleaöffnungswinkel (Sulkuswinkel, Kondylen-Gelenkflächen-Winkel,
KGW) nach Brattström [8] wird durch die
beiden Kondylenwangen mit dem t­iefsten
Punkt der Trochlea gebildet (Abb. 20).
Brattström gibt in seiner Veröffentlichung
1960 Mittelwerte zwischen 142° und 143°
je nach Geschlecht und Seite an. Buard et
al. [9] beschrieben 1981 nach Kadaverstudien einen mittleren Sulkuswinkel von
144°. Nach Hepp [21, 24] liegt der Normbereich zwischen 130° und 144° (Durchschnitt: 137°). Der Übergangsbereich
umfasst die Werte 125° bis 129° und 145°
bis 149°, während Werte unter 125° und
über 150° als Dysplasien gelten.
Der Kondylen-Gelenkflächen-Index
(KGI) nach Ficat [14] setzt die Breite
(Länge) der lateralen Kondylenwange
ins Verhältnis (Quotient) zur Breite (Länge) der medialen Kondylenwange (Abb.
21). Der Normbereich liegt zwischen 1.0
und 1,39. Der Übergangsbereich umfasst
die Werte 0,9 bis 0,99 sowie 1,4 bis 1,49.
Der Dysplasiebereich beginnt unter 0,9
und ab 1,5 [21].
Der Kondylen- (Trochlea-) TiefenIndex (KTI) nach Ficat und Bizou [16]
ist der Quotient aus Trochleabreite und
Trochleatiefe (Abb. 22). Der Normbereich reicht von 4,2 bis 6,59. Der Über-
a
b
c
Abb. 23: Der Vorsprung (bump) des Trochleagleitlagers zur streckseitigen Oberschenkeltangente x nach Dejour et al. (1994)
a Vorsprung 0 (normale Trochlea)
b Vorsprung positiv (flache Trochlea)
c Vorsprung negativ (tiefe Trochlea)
a
b
c
Abb. 24: Das sog. Crossing sign bezeichnet die Überschneidung des Trochleasulkus mit der
lateralen Femurkondyle (b)
a Normalbefund
c Flache Trochlea
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ORIGINALBEITRÄGE
gangsbereich umfasst die Werte 3,8 bis
4,19 sowie 6,6 bis 6,99. Der Dysplasiebereich beginnt unter 3,8 und ab 7,0 [21].
Nach verschiedenen von Dejour et al.
[12] angegebenen Methoden kann eine
Trochleadysplasie auch auf einer Röntgenaufnahme im streng seitlichen Strahlengang erkannt werden. Die Tiefe der
Trochlea wird beurteilt zur Verlängerung
der vorderen (streckseitigen) Oberschenkeltangente. Der sog. Trochlea bump
(Vorsprung) bezeichnet die Erhebung
(Abstand) des Trochleagrundes über die
vordere (streckseitige) Oberschenkeltangente. Werte von mehr als 3 mm signalisieren eine flache Trochlea (Abb. 23). Das
sog. Crossing sign stellt den Punkt dar,
an welchem die Sulkuslinie den Rand der
lateralen Femurkondyle kreuzt als Hinweis für eine Trochleadysplasie (Abb. 24).
Eine weitere Möglichkeit zur Bestimmung der Gleitrinnentiefe ist der Abstand
a
AB – gemessen in Millimeter entlang
einer Winkellinie von 15° zur Senkrechten
auf die Verlängerung der hinteren (beugeseitigen) Oberschenkelangente. Werte unter 4 mm signalisieren eine Dysplasie. Die Trochleadysplasie wird immer auf
beide Oberschenkelrollen bezogen (Abb.
25 a und b).
Nach Hepp [21] sind KGW und KTI
wegen ihrer verhältnismäßig geringen
Messungenauigkeiten gut geeignet, Dysplasien und ihren Ausprägungsgrad zu
bestimmen. Beachtet werden muss jedoch,
dass beide Messmethoden von der Beugung im Kniegelenk abhängig sind. Die
von Hepp angegebenen Werte beziehen
sich jeweils auf eine Beugung im Kniegelenk von 60°.
Die Stellung (Topie) der Kniescheibe
in der Trochlea kann durch den sog. Kongruenz-Winkel [39] bestimmt werden. Vom
Sulkuswinkel wird die Winkelhalbierende
als Reverenzlinie genommen. Eine zweite
Linie wird gebildet aus dem tiefsten Punkt
der Trochlea und dem Patellafirst. Der
Normwert liegt zwischen 6° und 8°. Werte
darunter signalisieren eine Außenverlagerung (Lateralisation, Lateralverschiebung,
Patellashift) der Kniescheibe (Abb. 26).
Eine nach Hepp [23] bessere Methode zur Beurteilung der Patellastellung
in der Trochlea im axialen Strahlengang
ist die Konstruktion des femoropatellaren Bogens nach Ficat [14]. Wenn dieser Bogen durch einen äußeren (lateralen)
„pilzkrempenförmigen Überhang“ dysharmonisch gestaltet ist, lässt sich eine Patelladystopie einfach feststellen (Abb. 27).
Eine zunehmende Außenverlagerung
der Kniescheibe kann an Hand der Vergrößerung der Dezentrierungsstrecke „d“ nach
Hepp [23] festgestellt werden. Gleichzeitig
vergrößert sich nach Schuchardt und Klose
[46] der mediopatellare Winkel (Abb. 28).
Abb. 26: Der Kongruenz-Winkel nach Merchant et al. (1974)
Vom Sulkuswinkel BAC, der im
Durchschnitt 137° beträgt, ergibt die Winkelhalbierende AO
mit der Linie AD, die vom tiefsten Punkt der Trochlea mit dem
Patellafirst gebildet wird, den
Kongruenz-Winkel (Patella axial,
Beugung im Kniegelenk 30°)
Abb. 27: Der femoropatellare
Bogen nach Ficat (1970)
b
Abb. 25: Bestimmung der Trochleatiefe. Gemessen wird der Abstand AB in
Millimeter entlang einer Winkellinie von
15° zur Senkrechten in Verlängerung
der hinteren Oberschenkeltangente
(Abb. 25 a), wobei der Wert immer auf
beide Oberschenkelrollen bezogen wird
(Abb. 25 b)
Abb. 28: Mit zunehmender Außenverlagerung der Patella vergrößern sich die Dezentrierungsstrecke „d“ nach Hepp und der mediopatellare Winkel BCG nach Schuchardt und Klose (1979)
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ORIGINALBEITRÄGE
Abb. 29: Bestimmung der Außenverlagerung der Patella nach Laurin (1978). Auf der
Kondylenverbindungslinie wird an der medialen Kante (Pfeil) eine Senkrechte errichtet
und der Abstand zur medialen Patellabegrenzung in mm gemessen
Abb. 31: Im ap-Röntgenbild liegt die
Patellaspitze etwa 1 cm kopfwärts des Kniehauptgelenkspaltes
Die Außenverlagerung der Kniescheibe wird nach Laurin et al. [35] an
Hand der axialen Patellaaufnahme in 30°
Beugung im Kniegelenk (aktiv gehalten, parallelstehende Füße) ermittelt. Auf
die Kondylenverbindungslinie (höchste Punkte des Gleitlagers) wird an der
medialen Kante des Gleitlagers eine
Senkrechte errichtet und der Abstand
zwischen dieser Linie und der medialen
Patellabegrenzung gemessen Der Normalwert beträgt 0 mm (Abb. 29).
Für die Bestimmung des Kniescheibengleitlagerwinkels nach Laurin et
al. [35] werden auf der axialen Patellaaufnahme in 30° Beugung im Kniegelenk die höchsten Punkte des Gleitlagers (Kondylenverbindungslinie) mit-
einander verbunden. Diese Linie bildet
mit der lateralen Patellafacette im Normalfall einen nach außen offenen Winkel
(lateraler patellofemoraler Winkel). Parallele Linien (Winkel 0°) oder ein nach
medial offener Winkel signalisieren eine
Außenkippung (Tilt) der Kniescheibe
(Abb. 30).
Zur Höhenstellung der Kniescheibe
ist der seitliche Strahlengang erforderlich. Die Aufsichtsaufnahme des Kniegelenkes in Streckstellung lässt nur eine
ungefähre Aussage zu. Die Patellaspitze liegt im Schnitt etwa 1 cm kranial
(kopfwärts) des Kniehauptgelenkspaltes
(Abb. 31).
Um im seitlichen Strahlengang
einen Kniescheibenhochstand (Patella
alta) bzw. einen Kniescheibentiefstand
(Patella infera/baja) zu diagnostizieren,
sind seit 1930 ca. 20 Methoden angegeben [22, 44], von denen nachfolgend die
gebräuchlichsten besprochen werden.
Je nach den Bezugspunkten
◾◾ Kniescheibe – Oberschenkel
◾◾ Kniescheibe – Schienbein
◾◾ Kniescheibe – Oberschenkel/Schienbein
lassen sich nach Hepp drei Gruppen
unterscheiden.
Zur ersten Gruppe zählen die Verfahren nach Blumensaat, Laurin, Janssen
und Hepp,
zur zweiten Gruppe die Methoden
nach Insall/Salvati, Trillat, Blackburne/
Peez und Caton/Dechamps und
zur dritten Gruppe die Messtechniken nach Boon-Itt und Normann/Egund.
Nach Blumensaat [6] wird die Kniescheibenhöhe im seitlichen Strahlengang
bestimmt durch den Abstand der Kniescheibenspitze (Apex patellae) zur nach
streckseitig verlängerten interkondylären Skleroselinie, der Verdichtungslinie
zwischen den Oberschenkelgelenkkörpern (Abb. 32). Bei einer Beugung im
Kniegelenk von 30° steht die Patellaspitze höchstens 10 mm kopfwärts der sog.
Blumensaat´schen Linie. Bei einer Beugung im Kniegelenk von 50° steht die
Patellaspitze auf der Linie [3].
Nach Laurin [34] überragt die Kniescheibenbasis (oberer Kniescheibenpol)
bei einer Beugung im Kniegelenk von
90° nicht die an der Streckseite des Oberschenkels angelegte und verlängerte Tangente (Abb. 33).
Abb. 30: Der Kniescheibengleitlagerwinkel nach Laurin (1978). Auf der axialen Patellaaufnahme in 30° Beugung im Kniegelenk wird
die Kondylenverbindungslinie mit der Linie der lateralen Patellafacette in Beziehung gesetzt
220
MED SACH 110 5/2014
ORIGINALBEITRÄGE
Abb. 33: Bestimmung
der Kniescheibenhöhe
nach Laurin (1977)
Abb. 32: Bestimmung
der Kniescheibenhöhe
nach Blumensaat (1938)
Nach Janssen [28] wird der Patellahöhenwinkel gemessen zwischen dem hinteren Schnittpunkt der Blumensaat´schen
Linie mit dem Oberschenkelgelenkkörper (Femurkondyle) und der Kniescheibenspitze. Die Modifikation nach Hepp
[22] nimmt als Messpunkt nicht die
Kniescheibenspitze, sondern den distalen Begrenzungspunkt der Patellagelenkfläche. Dadurch soll die Relation der
Gelenkflächen zwischen Oberschenkel
und Kniescheibe besser erfasst werden.
Da die variantenreiche Patellaspitze
kein zuverlässiger Messpunkt ist und die
distale Begrenzung der Patellagelenkfläche mitunter schwierig festzulegen ist,
modifizierte Hepp [22] die Patellahöhenbestimmung und den Patellahöhenwinkel
wie folgt: Von der Patellabasis – ermittelt
durch den größten Diagonaldurchmesser der Patella – wird das Lot gefällt auf
die verlängerte Blumensaat´sche Linie
(Abb. 34).
Als zweite Messmethode nahm Hepp
[22] in Anlehnung an die Methode von
Janssen [28] den Winkel zwischen der
Blumensaat´schen Linie als dem einen
Schenkel mit dem zweiten Schenkel vom
hinteren (dorsalen) Schnittpunkt dieser
Linie mit dem Oberschenkelgelenkkörper zur Patellabasis (Abb. 35).
Nach Hepp [22] sind der kraniale
Bezugspunkt der Patella durch den messtechnisch leicht zu ermittelnden größten
Patella-Diagonaldurchmesser zuverlässiger zu bestimmen als die Patellaspitze
und die distale Begrenzung der Patellagelenkfläche.
Die nach den Methoden von Blumensaat, Janssen und Hepp ermittelten
Werte sind abhängig vom Beugegrad
im Kniegelenk, der wegen des unterschiedlich ausgeprägten Weichteilmantels allenfalls auf 5° genau bestimmt
werden kann. Aus diesem Grund werden bei diesen Methoden Umrechnungstabellen benötigt, die z.B. von Hepp
[22] an einem Kollektiv von 360 Kniegelenken für den Bereich von 25 bis 60°
Beugung im Kniegelenk erstellt wurden. Neben einem Normalbereich und
den eindeutigen Dystopien (Patella alta/
infera) bildete Hepp eine Zwischenzone, wobei insoweit auf die Originalarbeit
verwiesen werden darf.
Mit den von ihm angegebenen
Methoden (Distanzmessung und Patella­
höhenwinkel) konnte Hepp in einem
„Normalkollektiv“ von 360 Kniegelenken in 2,5 bzw. 2,8 % der Fälle einen
Kniescheibenhochstand feststellen, während er bei einem Kollektiv von 200 Personen mit rezidivierenden Patellaluxationen Werte von 11,5 bis 26,5 % ermittelte.
Nach Insall und Salvati [27] entspricht der Diagonaldurchmesser (Länge) der Kniescheibe der Länge der Kniescheibensehne (Ligamentum patellae).
Der Quotient (Index) – Länge der Kniescheibe : Länge der Kniescheibensehne liegt – in geringer Abhängigkeit von
der Beugung im Kniegelenk – normalerweise zwischen 0,8 und 1,04, wobei ab
unter 0,75 von einer Patella alta und ab
1,15 von einer Patella infera gesprochen
Abb. 34: Bestimmung der Kniescheiben­
höhe nach Hepp (1984)
Abb. 35: Bestimmung des Kniescheiben­
höhenwinkels nach Janssen (1978), modifiziert nach Hepp 1984)
MED SACH 110 5/2014
221
ORIGINALBEITRÄGE
Abb. 36: Bestimmung der Kniescheibenhöhe nach Insall und Salvati (1971).
AB = Diagonaldurchmesser (Länge) der Patella,
BC = Länge der Patellasehne (Beugung von
30° im Kniegelenk)
Abb. 37: Bestimmung der Kniescheiben­
höhe nach Trillat (1972).
AB = Diagonaldurchmesser (Länge)
der Kniescheibe,
BC = kürzeste Verbindung zwischen
­Patellaspitze und Schienbeinkopf
wird (Hepp 1984). Eine ausgeprägt lange Kniescheibenspitze kann einen Koeffizienten von 1,3, also eine Patella infera, ergeben, obwohl die Gelenkfläche
auf richtiger Höhe steht. Wenn die Sehnenlänge die Patellalänge um 1 cm übertrifft, liegt ein Kniescheibenhochstand
vor (Abb. 36).
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Insall und Salvati in ihrer Publikation 1971 das umgekehrte Verhältnis, nämlich Länge der
Knie­
scheibensehne : Länge der Patella zugrunde legten, was andere Werte zur Folge hatte. Warum die Autoren
das Verhältnis im Jahre 1972 umkehrten, ist offen. Der Index, nach dem ermittelt wird, muss deshalb jeweils konkret
benannt werden, um die Ergebnisse zu
vergleichen.
Trillat [50] bildet einen Index (Quotient) aus Diagonaldurchmesser der Kniescheibe und kürzester Verbindung zwischen Kniescheibenspitze und Schienbeinkopf (Abb. 37). Die Technik ist einfacher als bei Insall/Salvati. Allerdings
ist auch die Form des vorderen Schienbeinkopfes variantenreich. Der Mittelwert liegt bei 0,5 – nach Vignes [51] bei
0,63.
Blackburne und Peel [5] errechnen
einen Index (Quotient a/b) aus der Distanz a, welche gebildet wird von der distalen Begrenzung der Patellagelenkfläche zur streckseitig verlängerten Schienbeinkopftangente und der Länge der
Patellagelenkfläche b (Abb. 38).
Caton, Dechamps et al. [10] nehmen den Index (Quotient) aus der kürzesten Verbindung vom distalen Begrenzungspunkt der Patellagelenkfläche zum
Scheinbeinkopf (AT) und aus der Länge
der Patellagelenkfläche (AP). Der Normbereich liegt zwischen 0,8 und 1,2. Ein
Index größer als 1,2 signalisiert eine
Patella alta, ein Index kleiner als 0,8 eine
Patella baja (Abb. 39).
Boon-Itt [7] errechnet die Patellahöhe aus mehreren Messstrecken zum
Oberschenkelgelenkkörper und zum
Schienbeinkopf, während Normann und
Egund [42] aus einer Kombination von
Insall/Salvati und Blackburne/Peel einen
Höhenindex in Abhängigkeit von der
Körperlänge bilden.
Achsabweichungen der unteren
Gliedmaßen im X- bzw. O-Sinn (Val-
222
Abb. 38: Bestimmung der Kniescheiben­
höhe nach Blackburne und Peel (1977).
a = Distanz der distalen Begrenzung der
­Patellagelenkfläche zur streckseitig ver­
längerten Schienbeinkopftangente,
b = Länge der Patellagelenkfläche
Abb. 39: Bestimmung der Kniescheiben­
höhe nach Caton et al. (1982)
AP = Länge der Patellagelenkfläche,
AT = kürzeste Verbindung vom distalen Begrenzungspunkt der Patellagelenkfläche zum
Schienbeinkopf
MED SACH 110 5/2014
ORIGINALBEITRÄGE
gus/Varus) lassen sich am sichersten auf
der Beinganzaufnahme im Stehen (volle
Streckung im Kniegelenk) ausmessen.
Rotationsabweichungen („Drehfehler“) im Kniegelenksbereich können vermutet werden, wenn auf der Röntgen­
aufsichtsaufnahme die Schienbeinkopfbreite mit der Kondylenbreite nicht
übereinstimmt und im seitlichen Strahlengang bei exakt seitlich eingestelltem
Schienbeinkopf die Oberschenkelkondylen sich nicht weitestgehend übereinander projizieren.
Gelegentlich gelingt es auf der axialen Aufnahme (30° Beugung im Kniegelenk, parallel stehende Füße) die in das
Gleitlager projizierte Schienbeinrauigkeit zu erkennen. Dann kann der Abstand
zwischen Schienbeinrauigkeit und tiefsten Punkt der Trochlea ausgemessen
werden (Abb. 40).
Am sichersten lassen sich die Achsenverhältnisse
und
Bezugspunkte
(Schenkelhalsachse, Femoropatellargelenk, Schienbeinrauigkeit) computertomografisch bestimmen und unterein­
ander vergleichen [25]. Computertomo­
grafisch lassen sich exakt bestimmen
◾◾ die Fermurantetorsion, die Stellung
der Oberschenkelhalsachse gegenüber
der Oberschenkelgelenkkörperachse
Abb. 40: Distanz zwischen Tuberositas
­tibiae (Tt) und dem tiefsten Punkt der Trochlea als Indiz für eine Rotationsabweichung
im Kniegelenk
(Femurkondylenachse) in der Transervalebene,
◾◾ die Femurtorsion, die Oberschenkelschaftverwindung,
◾◾ die distale Femurtorsion, wobei –
begrifflich allerdings nicht sauber –
gemeint ist die Rotation des Schienbeinkopfes gegenüber den Oberschenkelgelenkkörpern,
◾◾ die Tibiatorsion, die Schienbeinschaftverwindung und
◾◾ die Lage sowie die Stellung der Tuberositas tibiae (Schienbeinrauigkeit)
Nach Lerat et al. [36], Jend et al.
[30] und Gaudernak [25] finden sich
keine Relationen zwischen der Femurantetorsion, der Femur- und Tibiatorsion
sowie der Lage und Stellung der Tuberositas tibiae und der Manifestation von
Patellaluxationen, während die Außenrotation des Unterschenkels im Kollektiv
mit Patellaluxationen im Schnitt um 5,5°
erhöht war (Lerat et al. und Jend et al.).
Eine vermehrte Unterschenkel- (Schienbeinkopf-) außenrotation (Lateralpostion der Tuberositas tibiae) verstärkt die
lateral wirkenden Zugkräfte (Patellalateralisationskraft) der äußeren Anteile der
Quadrizepsmuskulatur (M. vastus lateralis) und des Ligamentum patellae.
Kritisch ist anzumerken, dass alle
Form-, Größen-, Winkel- und Höhenbestimmungen mit – teilweise sogar erheblichen – Unsicherheiten behaftet sind.
Keine Methode überzeugt restlos. Man
darf sich nicht auf eine einzelne Messmethode verlassen, sondern muss in
den nicht eindeutigen Fällen eine Verifizierung durch mehrere Messverfahren
anstreben.
Hinzu kommt, dass die Begriffe Dysplasie und Dystopie zwar klar definiert
sind, in der Literatur aber hinsichtlich
ihrer klinischen Relevanz ganz unterschiedlich interpretiert und angewendet werden. Die Auslegung des Begriffes „Dysplasie“ geht insbesondere zum
Kniescheibentyp auseinander, wobei
etwa 15 bis 20 % der Fälle nicht in die
oben angegebene Einteilung passen, sondern Zwischenformen sind. Ähnliches
gilt für den Trochleatyp. Dennoch sind
die Einteilungen für die Analyse eine
unverzichtbare Orientierung.
Zusammengefasst sind die Euplasien, der Kniescheiben- und Trochleatyp
I, sehr selten (2 bis maximal 10 %). Der
Kniescheibentyp III und der Trochleatyp II sind noch der Normalform zuzurechnen, wobei nach Hepp bei den Kniescheibentypen II bis III von einer medialen Hypoplasie gesprochen werden
kann, während der Kniescheibentyp IV,
die Sonderformen (Jägerhut, Kieselstein,
Halbmond) und die Trochleatypen III bis
V als Dysplasien zu bezeichnen sind –
ebenso wie die Patella alta, infera, magna
und parva sowie die Patella partita, wobei
diese Wertung allein auf den knöchernen
Formen beruht und die Knorpelstrukturen, die im Einzelfall Inkongruenzen
ausgleichen, nicht erfasst. Dies gelänge
aber mit Hilfe der Kernspintomografie
(Knorpelsequenzen).
Zur Begutachtung
Für die gutachtliche Praxis wird – in
aller Regel – erforderlich aber auch ausreichend sein, wenn Röntgennativaufnahmen – angefertigt im Liegen – im
Seitenvergleich, soweit möglich in einem
Strahlengang, in zwei Ebenen, in Aufsicht in Streckstellung mit nach vorne
weisenden Füßen und seitlich in 30°, 50°
oder 90° Beugung im Kniegelenk, wobei
sich innerer und äußerer Oberschenkelgelenkkörper möglichst exakt übereinander projizieren sollen, und eine axiale
(tangentiale) Aufnahme der Kniescheibe
in 45° oder 60° Beugung vorliegen bzw.
angefertigt werden, wobei für die axiale
Aufnahme die Technik nach Merchant
et al. (Rückenlage, 45° Beugung, Abb.
17.5) zu empfehlen ist. Eine standardisierte Technik ist zu Vergleichszwecken
erforderlich.
Auf jeden Fall muss die angewandte Technik angegeben werden, da die
Messergebnisse unterschiedlich sind, ob
in Bauchlage (Settegast) oder z. B. im
Sitzen (Ficat und Bizou) geröntgt wurde (Abb. 17.1 und 1.7). Sog. DefileeAufnahmen in 30, 60 und 90° Beugung
(Abb. 16) liefern zusätzliche Informationen zum Verlauf der Patella in ihrem
Gleitlager. Korrekte axiale Aufnahmen
erkennt man an der scharfen Kontur der
medialen Gleitlagerbegrenzung.
Die Abbildung 41 zeigt die Konturen
des Nativröntgenbildes des Kniegelenkes
im ap-Strahlengang (Aufsicht) bei Streckung im Kniegelenk und im seitlichen
MED SACH 110 5/2014
223
ORIGINALBEITRÄGE
Abb. 41: Röntgenanatomie des Kniegelenkes in Aufsicht (Streckung im Kniegelenk)
P = Kniescheibe
FIB = Wadenbeinkopf
A = Grenzrinne (Einsattelung) am
MF = innerer
inneren Oberschenkelgelenkkörper
Oberschenkelgelenkkörper
B = Grenzrinne (Einsattelung) am
LF = äußerer
äußeren Oberschenkelgelenkkörper
Oberschenkelgelenkkörper
C = innerer (höherer) und äußerer
MT = innerer Schienbeinkopf
Kreuzbandhöcker
LT = äußerer Schienbeinkopf
D = inneres Schienbeinkopfplateau
TIM = innerer Kreuzbandhöcker
(konkav)
TIL = äußerer Kreuzbandhöcker
E = Übergang des äußeren Kreuzbeinund im seitlichen Strahhöckers in die Schienbeinrückseite
lengang (90°Beugung im
F = hintere Begrenzung des inneren
Kniegelenk)
Schienbeinkopfplateaus
Fi = First der Fossa intercondylaris
(Blumensaat´sche Linie)
a = Zusätzlicher Kreuzbandhöcker (variabel)
(nach H.-W. Stedtfeld, Nürnberg,
und M. Strobel, Münster)
Strahlengang bei 90° Beugung im Kniegelenk.
Zu bestimmen sind
◾◾ Der Kniescheibentyp
◾◾ Der Trochleatyp
◾◾ Der Kniescheibenstand
◾◾ Die Kniescheibengröße (Diagonaldurchmesser)
◾◾ Die Kniescheibenteilung (Patella partita )
◾◾ Die Beinachsen (Beurteilung klinisch
im Stehen, Neutral-O-Stellung)
Zum Kniescheibentyp hat sich die
Einteilung nach Wiberg/Baumgartl
bewährt – zuzüglich der „Sonderformen“. Zum Trochleatyp empfehlen sich
die Einteilung nach Ficat/Hepp und als
messtechnische Methoden der PatellaTiefen-Index, der Trochleaöffnungswinkel, der Kondylen-Gelenkflächen-Index
und der Trochlea-Index.
Zum Kniescheibenstand empfehlen
sich die Messverfahren nach Blumensaat, nach Insall/Salvati, nach Trillat,
nach Hepp sowie nach Ficat (Femoropatellarer Bogen). Der Index nach Insall/
Salvati lässt sich auch auf kernspintomografischen Aufnahmen gut bestimmen.
Für die Kniescheibengröße empfiehlt
sich die Messmethode nach Hepp. Für
die Beinachsen ist in aller Regel die klinische Untersuchung ausreichend.
Neben den statischen Faktoren (Knochen- und Gelenkgeometrie) sind für
Stabilität und Mechanik (Roll-GleitBewegung) des Femoropatellargelenkes dynamische Faktoren mit ihren Winkelverhältnissen ausschlaggebend. Die
Zugrichtung (Verlaufsrichtung) des Quadrizepsmuskels (vierköpfiger Schenkelstrecker) verläuft vom Hüftgelenk zur
Schienbeinrauigkeit nicht gerade, sondern weist einen nach außen offenen
224
Abb. 42: Äußerer (Q) und innerer (Q1)
Q-Winkel mit der Querkraft „K“
Winkel von 165 bis 170° bei Frauen und
von 170° bis 172° bei Männern auf, den
sog. (äußeren) Q-Winkel, dem ein innerer Q-Winkel von 10 bis 15° bzw. von
8° bis 10° entspricht (Abb. 42), wobei
dieser Winkel nicht verwechselt werden
darf mit dem Winkel zwischen Oberund Unterschenkel, der im Schnitt 173°
beträgt (physiologischer Valgus von 5°
bis 9°) – auch wenn einige Autoren diesen Valguswinkel auch als Q-Winkel
bezeichnen. Wegen dieser abgewinkelten Zugrichtung bewirken der M. rectus femoris (gerader Schenkelmuskel)
und der M. vastus intermedius (mittlerer Schenkelmuskel), die als Teile des
Quadrizepsmuskels in Verlaufsrichtung
des Oberschenkelschaftes zum Kniegelenk ziehen, eine Innendrehung (Innenrotation) des Schienbeins gegenüber dem
Oberschenkel.
Der Q-Winkel hat zur Folge, dass an
der Kniescheibe eine nach außen gerichtete Kraft „K“ (Abb. 42) entsteht, deren
Antagonist der M. vastus medialis (innerer Schenkelmuskel) ist, der insbesondere mit seinem querverlaufenden Anteil
(M. vastus medialis obliquus) in einem
Winkel von 50 bis 65° in den Streckapparat einstrahlt, während der M. vastus
lateralis (äußerer Schenkelmuskel), der
in einem Winkel von 30 bis 40° in den
Streckapparat mündet, die Kniescheibe nach außen zieht. Die unterschiedliche Zugrichtung der einzelnen Quadrizepsanteile sorgt für eine Muskelkraftresultierende in Richtung des Ligamentum patellae. Da die Aktivierung des M.
vastus medialis obliquus vor der Aktivierung des M. vastus lateralis erfolgt,
MED SACH 110 5/2014
ORIGINALBEITRÄGE
Abb. 43: Eine Achsabweichung im X-Sinn (Valgus) verkleinert den Q- Winkel. Die Querkraft
„K“ nach außen wird größer
Abb. 44: Die Außenrotation des Unterschenkels verkleinert den Q-Winkel. Die Querkraft
nach außen wird größer
ist dieser Muskel ein wesentlicher Faktor für die Patellaposition als Voraussetzung einer optimalen Kraftübertragung
auf die Schienbeinrauigkeit. Eine Achsabweichung im O-Sinn (Varus) vergrößert den Q-Winkel, eine Achsabweichung im X-Sinn (Valgus) verkleinert
den Q-Winkel, so dass die Querkraft K
nach außen größer wird. Analog vergrößert eine Innendrehung des Unterschenkels, die physiologischer Weise bei 90°
Beugung im Kniegelenk ca. 10° beträgt,
den Q-Winkel und verkleinert die Querkraft K, während eine Außendrehung
des Unterschenkels, die physiologischer
Weise bei 90° Beugung im Kniegelenk
ca. 40° beträgt, den Q-Winkel verkleinert
und die Querkraft K vergrößert (Abb. 43
und 44).
Der gleiche Effekt, eine Patellalateralisationskraft, tritt bei einem schwachen
M. vastus medialis ein durch Überwiegen des M. vastus lateralis. Die Patella
wandert in diesem Fall so weit nach lateral, bis die Resultierende der Muskelkraft
wieder in Verlängerung des Ligamentum
patellae verläuft.
Die Außenrotation des Unterschenkels (Tuberositas tibiae) wirkt sich destabiliserend, die Innenrotation stabilisierend auf die Kniescheibe aus [25].
Nach Müller [40] verläuft die Kniescheibensehne bei Beugung im Kniegelenk und bei Neutralstellung des Unterschenkels gerade, so dass kein Q-Winkel
mehr vorhanden ist. Die medialen und
lateralen Muskelstränge (M. vastus medialis und lateralis) wirken zu gleichen Tei-
len agonistisch und antagonistisch. In der
Endphase der Streckung (20°) kommt es
dann zu der durch die Kreuzbänder und
die Form der Oberschenkelgelenkkörper
bedingten automatischen Außenrotation
des Unterschenkels (Schlussrotation) mit
dem Q-Winkel. Der Oberschenkel dreht
sich in der Endphase der Streckung nach
innen, der Unterschenkel nach außen.
Der Q-Winkel ist also abhängig von der
individuellen Schlussrotation.
Durch die Innendrehung des Oberschenkels in der Schlussphase der Streckung bietet die laterale Trochleakante
ein zunehmend größeres Widerlager für
die Kniescheibe. Müller vergleicht dieses
Widerlager mit einer steilen Schlittenbahnwand, die erforderlich ist, wenn der
Schlitten in der Kurve stark nach außen
getrieben wird, trotzdem aber seine Bahn
nicht verlassen soll. Der sog. Outerbridge-Wall erhält so seine funktionelle
Bedeutung.
Medial und lateral der Kniescheibensehne verlaufen längs der innere und
äußere Reservestreckapparat, das Retinaculum patellae longitudinale mediale
und das – meist etwas schwächere – Retinaculum patellae longitudinale laterale,
welche medial und lateral der Schienbeinrauigkeit ansetzen. Das mediale
Retinaculum (Halteband) wird vor allem
von Fasern des M. vastus medialis gebildet, während das laterale Retinaculum
aus Fasern des M. vastus lateralis, des
M. rectus femoris und des Tractus iliotibialis gebildet und gesteuert wird. Quer
in die Kniescheibe strahlen von medial (Odd-Facet) und lateral Haltebänder
(Retinakula) ein, das mediale und laterale Ligamentum patellofemorale (MPFL)
und patellotibiale. Diese transversal verlaufenden Bänder „führen“ sozusagen
die Kniescheibe in ihrer Gleitbahn, sind
aber allein keine genügenden Stabilisatoren, um eine pathologische Patellalateralisationskraft zu kompensieren. Eine
Retinakulumschwäche oder eine Durchtrennung der Retinakula bedingen eine
„Instabilität“ der Kniescheibe und eine
vermehrte Rotationsfähigkeit des Unterschenkels [25].
Muskelschwächen, insbesondere des
M. vastus medialis, Bindegewebskrankheiten (Kollagenosen) und eine anlage­
bedingte Laxität des Kapsel-Bandapparates mit z.B. einem Genu varum recur-
MED SACH 110 5/2014
225
ORIGINALBEITRÄGE
Abb. 45: Klinisches und nativröntgenologisches Bild eines Genu varum recurvatum
infolge Laxität des Kapsel-Bandapparates
vatum (Abb. 45), also mit einer Überstreckbarkeit im Kniegelenk und mit
einer Achsabweichung im O-Sinn, wirken sich nicht nur auf das Kniehauptgelenk, sondern auch auf das Patello­
femoralgelenk aus. Diagnostisch sind
insbesondere der Seitenvergleich und die
Befunde an anderen Gelenken wegweisend.
Für das Gleichgewicht im Kniescheiben-Oberschenkelgelenk sind zahlreiche
Faktoren verantwortlich, die festgestellt
und gutachtlich gewertet werden müssen, um in den einzelnen Rechtsgebieten
zu einer sachgerechten Entscheidung zu
kommen.
Nomenklatur
Die Patellaluxationen werden weder in
der Literatur noch in der täglichen therapeutischen und gutachtlichen Praxis einheitlich bezeichnet. Bereits Brattström
[8] wies auf die bestehende Sprach- und
Begriffsverwirrung mit ihren Auswirkungen auf die Indikation und auf die
Auswertung der Therapie hin [45]. Nicht
weniger wichtig sind diese Auswirkungen bei gutachtlichen Fragestellungen.
Voraussetzung für die Lösung eines
Problems ist zunächst dessen klare und
unverwechselbare begriffliche Kennzeichnung. Die Kommunikation zwi-
schen ärztlichen Gutachtern und erst
recht zwischen Gutachtern und nichtärztlichen Auftraggebern erfordert, dass
Sinngehalt und Wortverständnis eines
Begriffs klar definiert sind, so dass jeder
darunter das Gleiche versteht.
Bei der Patellaluxation geht es um
die Unterscheidung von
◾◾ angeboren
◾◾ erworben
◾◾ permanent
◾◾ habituell
◾◾ rezidivierend
wobei im Vorfeld darauf hinzuweisen
ist, dass Distorsion (Verdrehung, Zerrung, Verstauchung) und Dislokation
(Verschiebung) nicht synonym mit Luxation (Verrenkung) sind.
Es ist das Verdienst von Rütt [45],
eine begriffliche Standortbestimmung
versucht zu haben. Unter einer permanenten Patellaluxation wird eine dauernd bestehende Verrenkung der Kniescheibe verstanden – unabhängig von der
Funktionsstellung des Kniegelenkes. Die
Kniescheibe liegt auf der Außenseite des
Kniegelenkes und erreicht nie ihre normale Position. Die permanente Luxation
ist entweder angeboren, also eine echte
Missbildung, oder erworben, also Folge
einer Grundkrankheit – z.B. einer Poliomyelitis (Kinderlähmung) oder einer
schwersten Arthrose – bzw. ein Thera-
226
pieschaden oder ein Behandlungsfehler
(z. B. nach Totalprothese).
Unter einer habituellen Patellaluxation versteht man eine gewohnheitsmäßige, zum Habitus (Gestalt), also zum Bild
des Betroffenen gehörende, Verrenkung,
die bei jeder physiologischen (bestimmungsgemäßen) Bewegung im Kniegelenk auftritt. Die Kniescheibe verlässt
ihre normale Position bei jeder Beugung
im Kniegelenk – meist zwischen 20 und
30°, wobei sie bei zunehmender Beugung und Streckung jeweils wieder spontan reponiert. Die habituelle Luxation ist
immer angeboren.
Eine rezidivierende Patellaluxation
ist eine wiederkehrend auftretende Verrenkung. Im Gegensatz zur habituellen
Verrenkung wiederholt sich der Vorgang
nicht ständig, sondern in unterschiedlicher Häufigkeit in Abhängigkeit von
bestimmten Beanspruchungen/Belastungen. Es handelt sich um einen Folgezustand nach einer Erstverrenkung. Diese
kann allein anlagebedingt (Disposition)
oder Folge einer äußeren Krafteinwirkung
(Unfall) sein. Die äußere Krafteinwirkung kann allein ursächlich sein oder im
Zusammenwirken mit Schadensanlagen
und/oder Vorschäden zur Luxation führen.
Die Begriffe „habituell“ und „rezidivierend“ werden häufig nicht differenziert angewandt. Inhaltlich sind sie
jedoch keinesfalls deckungsgleich, was
gutachtlich beachtet werden muss. Die
Kausalitätsprobleme reduzieren sich
auf die erworbenen und rezidivierenden
Schadensbilder. Permanente und habituelle Luxationen spielen hierbei keine
Rolle.
Schadensbild (Diagnose)
Die richtige Diagnose ist Ausgangspunkt
aller gutachtlichen Überlegungen. Sie
ist von entscheidender Bedeutung, da
im Bereich des Kniegelenkes zahlreiche
Beschwerden und Funktionseinbußen mit
dem Schadensbild einer (stattgehabten)
Patellaluxation konkurrieren. Die Diagnose einer Kniescheibenverrenkung oder
Kniescheibenteilverrenkung ist in einer
Vielzahl von Fällen eine Verlegenheitsdiagnose. Werden von grundsätzlich für
eine Kniescheibenverrenkung disponierten Jugendlichen Kniegelenkbeschwerden geklagt, die auf den ersten Blick
MED SACH 110 5/2014
ORIGINALBEITRÄGE
Abb. 46: Klinisches und nativröntgenologisches Bild einer gedeckten Kniescheibenverrenkung zur Außenseite. Nativröntgenbild nach der Reposition mit kleinem Abschlagfragment
(Kreis)
nicht zu erklären sind, wird oft unüberlegt die Diagnose einer Kniescheibenteilverrenkung gestellt. Die Möglichkeit
eines Schadens reicht für die Begutachtung jedoch nicht aus.
Die Diagnose muss in allen in Frage kommenden Rechtsgebieten (Sozialrecht, Verwaltungsrecht, Zivilrecht) im
Vollbeweis gesichert sein. An der Patellaluxation als Erst-Gesundheitsschaden
(GUV), als Erst-Körperschaden (Dienstunfallrecht), als gesundheitliche (Erst-)
Schädigung (SER), als Erst-Gesundheitsschädigung (PUV) und als erster
Verletzungserfolg (Haftpflichtrecht) darf
kein vernünftiger Zweifel verbleiben.
Ebenso wenig wie im Sport der Verdacht
eines Regelverstoßes zur Disqualifikation ausreicht, ist dies in der Begutachtung
die Verdachtsdiagnose des Therapeuten.
Die Diagnose wird gesichert aufgrund
◾◾ der klinischen Befunde
◾◾ der bildtechnischen Befunde (Sonographie, Nativröntgen, CT, MRT)
◾◾ der intraoperativen Befunde
Nur in den seltensten Fällen gelingt die
Diagnose klinisch bzw. nativröntgenologisch (Abb. 46), da es meist zur Spon­
tanreposition bzw. aufgrund der reflektorischen Streckung im Kniegelenk zur
Reposition der Kniescheibe kommt.
Die Luxation erfolgt praktisch immer
gedeckt und zur Außenseite. Ursächlich
sind indirekte Krafteinwirkungen. Direkte Krafteinwirkungen als extrem seltene
Ausnahme müssen punktuell am inneren
oder äußeren Kniescheibenrand ansetzen
und führen dann dort zu typischen Verletzungszeichen (Prellmarke, Bluterguss,
Platzwunde).
Neben der schmerzbedingten Funktionseinbuße (Functio laesa) sind die Konturen an der Streckseite des Kniegelenkes
verstrichen und die Weichteile geschwollen sowie ggf. blutunterlaufen, vor allem
medial der Kniescheibe. Meist bestehen ein blutiger Gelenkerguss bzw. blutige Benetzungen (Imbibierungen) an der
Streck-Innenseite. Bildtechnisch steht die
Kniescheibe leicht lateralisiert und abgehoben (Gelenkerguss). Häufig sind Kontusionsmarken – im MRT Knochenödeme
(bone bruise) – bzw. knorpelige/knorpelknöcherne Abschlagfragmente (Flakes) an
der Vorder-Außenseite des lateralen Oberschenkelgelenkkörpers und/oder an der
medialen Kniescheibenfacette. Das medi-
ale Retinakulum ist in seinem Zusammenhang getrennt bzw. vom medialen Kniescheibenrand abgeschert.
Begleitverletzungen – Folge des
luxationsbedingen Versagens des Kniegelenkes mit dadurch bedingtem Sturz
(the knee gives way) – sind mit 5 bis
15 % [29] sehr selten und betreffen den
Innenmeniskus, das vordere Kreuzband
und das innere Knieseitenband, wobei
das luxationsbedingte „Nachgeben“ des
Reservestreckapparates die Weiterleitung
der Kraft auf das innere Knieseitenband
minimiert.
Eine erstmalige Patellaluxation lässt
sich direkt oder indirekt anhand des
Schadensbildes bei zielgerichteter Diagnostik in der Frühphase praktisch immer
sichern. Schwierig ist die Diagnose der
Subluxation, bei der der gleiche Mechanismus erforderlich ist wie zu einer kompletten Luxation, wobei Kraftgröße und
deren Einwirkdauer aber nicht ausreichen für eine komplette Verrenkung.
Luxationsmechanismus
Über den Ablauf der indirekten Krafteinwirkung (Mechanismus), der zur Kniescheibenverrenkung führt, bestehen zur
Valgus- und Extensionskomponente einheitliche Vorstellungen, während die
Rotationskomponente etwas unterschiedlich gesehen wird.
Nach Gaudernak [25] entspricht aufgrund von 83 untersuchten Fällen und
aufgrund vektorieller Analysen die Verrenkung einem
◾◾ Valgus-Extensions-Außenrotationsmechanismus (Abb. 47).
Abb. 47: Der „typische“
Valgus-Extensions-Außenrotations- Mechanismus
bei der Kniescheibenverrenkung
MED SACH 110 5/2014
227
ORIGINALBEITRÄGE
Bei leichter Beugestellung (ca. 30°)
im Kniegelenk und leichter Außendrehung des Unterschenkels bzw. Innendrehung des Oberschenkels wird bei voll
belasteten Bein durch maximale Anspannung der Streckmuskulatur (Quadrizepsmuskel) die Kniescheibe aus ihrem
Lager nach außen verrenkt, wobei der
Oberkörper über dem betroffenen Bein
nach außen gedreht ist. Nach den Untersuchungen von Gaudernak [25] kommt
es während des Luxationsvorganges zu
den Knorpel-/Knochen-Abschlagfragmenten an der medialen Patellafacette
(am sog. sekundären First und/oder an
der Odd-Facet) bzw. an der Kante des
äußeren Oberschenkelgelenkkörpers und
nicht durch die Reposition, wie dies von
Müller [40] beschrieben ist.
Den gleichen Mechanismus unterstellen Hughston [26] und Janssen [28],
wenn sie von einem
◾◾ Valgus-Flexions-Innenrotations­
trauma
sprechen, wobei sie die Flexion auf die
Ausgangsstellung und die Innenrotation
auf den Oberschenkel beziehen.
Der von Müller [40] diskutierte Valgus-Extensions-Innenrotationsmechanismus findet kein Korrelat in der weiterführenden Literatur.
In der gutachtlichen Praxis sind diese diffizilen Überlegungen nur selten
umsetzbar. Die Kausalitätskriterien müssen vielmehr praktikabel sein. Voraussetzung für eine luxierende Gefährdung
der Kniescheibe sind eine überraschende kräftige rotatorische Gegenbewegung zwischen Ober- und Unterschenkel im Kniegelenk mit erheblichen Zugkräften (Quadrizeps), eine Verkleinerung
des äußeren Q-Winkels und eine entsprechende lateralisierende Querkraft K.
Zur Kausalität
Feinheiten, wie sie für operative Rekonstruktionen relevant sind, interessieren
den Gutachter in aller Regel weniger als
die Funktion, wenn diese nicht aus der
Anatomie zwingend abzuleiten ist. Die
Anatomie im Licht bzw. im Dickicht der
Begutachtung hat besondere Schwerpunkte. Die Kenntnis der strukturellen
Voraussetzungen für die Funktion ist
aber unabdingbares Handwerkszeug des
Gutachters.
Das Kniescheiben-Oberschenkelgelenk ist ein „Gleitgelenk“. Dennoch ist
die Kniescheibe keine „Magnetschwebebahn“, die reibungslos und gut „fixiert“
auf ihrer Schiene dahin gleitet. Dieser
Vergleich ist zu kurz gegriffen. Die Kniescheibe hat die Aufgabe, als eine Art
Abstandhalter die Funktion der Streckmuskulatur mit Umlenkung der Zugkraft
vom Oberschenkel auf den Unterschenkel zu gewährleisten.
Kein anderer Knochen des menschlichen Organismus ist so wenig im Skelettsystem fixiert wie die Kniescheibe. Formvarianten sind zahlreich. Die
Feststellung von Formvarianten berechtigt jedoch nicht von vornherein dazu,
von einer geringeren Belastbarkeit des
Gelenkes auszugehen. Dies steht in
Übereinstimmung mit gesicherter ärztlicher Erfahrung. Trotz der nur geringen
skelettalen Fixierung ist das Kniescheiben-Oberschenkelgelenk bei regelrechter Anatomie ein stabiles Gelenk, das bei
den meisten Menschen auch in Extremsituationen nicht luxiert. Untermauert
wird diese gesicherte ärztliche Erfahrung
durch die Tatsache, dass eine Patellaluxation weder eine typische Begleitverletzung bei komplexen Kapsel-Bandverletzungen des Kniegelenkes ist noch bei
Verrenkungen des Kniehauptgelenkes,
noch bei Kniescheibenbrüchen, valgisierenden Schienbeinkopfbrüchen und/
oder bei kniegelenknahen Oberschenkelbrüchen auftritt. Auch eine deutliche
Atrophie des M. vastus medialis – z. B.
nach Verletzung des vorderen Kreuzbandes – bedingt keine nachfolgende
Kniescheibenverrenkung. Das Kniegelenk als funktionelle Einheit muss also
Gegenstand der Betrachtung sein. Erst
wenn Anatomie und Funktion gestört
sind, kann von Schadensanlagen gesprochen werden. Ohne eine konstitutionelle
Disposition ist eine traumatische Kniescheibenverrenkung, auch wenn sie noch
so schwierig nachweisbar ist, unwahrscheinlich.
Die wichtigsten dispositionellen Faktoren, die eine Luxationsbereitschft der
Kniescheibe erhöhen sind:
◾◾ Patelladysplasien
◾◾ Patelladystopien
◾◾ Trochleadysplasien
◾◾ Genu valgum
◾◾ Genu recurvatum
228
◾◾ Q-Winkel > 15°
◾◾ Verstärkte Unterschenkel- (Schienbeinkopf-) außenrotation
◾◾ Muskelschwächen – insbesondere
M. vastus medialis
◾◾ Bandlaxitäten
◾◾ Kollagenosen
Es handelt sich insgesamt um Veränderungen, die dazu führen, dass die Führung und Fixierung der Kniescheibe in
ihrem Gleitlager an Stabilität verliert.
Die Grenze, wann dispositionelle Faktoren so gravierend sind, dass sie die Luxation allein, überwiegend (wesentlich)
oder nur partiell mit verursachen, ist fließend. Die Feststellung von dispositionellen Faktoren ist kein Freibrief zur Ablehnung der Kausalität. Die Disposition
schließt eine Unfalleinwirkung (rechtlich
wesentlich/partiell) weder in der gesetzlichen/privaten Unfallversicherung, im
sozialen Entschädigungsrecht noch gar
im Haftpflichtrecht aus. Das Vorliegen
einer Disposition verpflichtet den ärztlichen Gutachter aber zu einer besonders
kritischen Prüfung, ob die zur Diskussion stehende Einwirkung ursächlich für
die Kniescheibenverrenkung war.
Bis zur Öffnung der gesetzlichen
Unfallversicherung für Kinder, Schüler und Studenten am 01.04.1971 spielten Kausalitätsprobleme zur Patellaluxation kaum eine Rolle. Zwischenzeitlich besteht eine riesige Erfahrung mit
gedeckten Kniescheibenverrenkungen,
die nach Paar et al. [43] in 9,2 % aller
Knieverletzungen bei Jugendlichen diagnostiziert werden, da sie sich typischerweise im Zusammenhang mit dem
zweiten Wachstumsschub im Rahmen
des Schulsports oder des Freizeitsports
manifestieren, also im Alter zwischen 12
und 18 Jahren. Nach dem 18. Lebensjahr
ist das Schadensbild äußerst selten. Häufig sind die Ursachen/Mitursachen Formvarianten des Gelenkes. Die erstmalige
Schadensmanifestation im Jugendalter
wird durch ein Missverhältnis zwischen
einem vermehrten Längenwachstum mit
den langen Hebelarmen des Ober- und
Unterschenkels und einer unzureichend
ausgeprägten Muskulatur bestimmt, wie
dies bei hoch aufgeschossenen Jugendlichen vermehrt zu beobachten ist [25, 37].
Dies erklärt auch die bis dahin leere Vorgeschichte, also die volle Funktion des
Gelenkes vor der erstmaligen Luxation.
MED SACH 110 5/2014
ORIGINALBEITRÄGE
Ist die Diagnose gesichert, stellt sich
die Zusammenhangsfrage, wobei maßgebliche Kriterien bereits angesprochen
wurden. Die Kausalitätsbegutachtung
setzt sich aus einem medizinisch-naturwissenschaftlichen Teil – der conditio
sine qua non – und einem juristisch-wertenden Teil zusammen. Die conditio sine
qua non ist die Domäne des ärztlichen
Gutachters.
Prüfungskriterien der conditio sine
qua non sind:
1. Ein Verletzungsmechanismus mit
Beteiligung der Kniescheibe
2. Die enge zeitliche Verbindung, also
der sofortige Funktionsverlust
3. Das verletzungsspezifische Schadensbild
Nicht aufgeführt sind die Dispositionen,
die Schadensanlagen, als Kausalitätskriterium. Die Benennung von Alternativursachen (konkurrierende Ursachen), also
das Schadensbild erklärende Schadensanlagen, ist grundsätzlich nicht Teil dieses ersten Prüfungsschritts [13]. Wenn
ein Ursachenbeitrag des zur Diskussion stehenden Geschehensablaufes nicht
gesichert werden kann, erübrigt sich die
Frage, ob andere Ursachen das Schadensbild erklären. Es ist also systematisch falsch, mit der Feststellung evtl.
vorliegender Schadensanlagen zu beginnen.
Die drei genannten Kriterien
◾◾ Gefährdung
◾◾ Enge zeitliche Verbindung
◾◾ Verletzungsspezifisches Schadensbild
sind von unterschiedlicher Wichtigkeit.
Das schwächste Glied ist die Gefährdung
– einmal, weil nicht jede Gefährdung zu
einem Schaden (Verletzung) führt, und
zum anderen, weil der Mechanismus in
Sekunden bzw. in Sekundenbruchteilen
abläuft und – realistischerweise – nur
selten exakt nachgestellt bzw. ermittelt
werden kann. Für die Beantwortung der
Zusammenhangsfrage steht somit meist
nur die Ausleuchtung der zeitlichen
Verbindung und des objektiv gesicher­
ten Schadensbildes zur Verfügung. Letzteres scheitert nicht selten an einer ungenügenden Befunderhebung in der Frühphase nach dem Ereignis, bei spontaner Rezentrierung der Kniescheibe auch
­einfach daran, dass an die Möglichkeit
einer stattgehabten Kniescheibenluxation
nicht gedacht wird und damit zielgerich-
tete Untersuchungen unterbleiben. Nach
einer Subluxation wie auch einer spontanen Rezentrierung nach einer Luxation
besteht meist auch kein relevanter Funktionsverlust, was die gutachtliche Prüfung ungemein erschwert.
Bestand jedoch ein eindrucksvoller
Funktionsverlust in unmittelbarer zeitlicher Verbindung mit dem als ursächlich zu diskutierenden Geschehensablauf
und wurde das verletzungsspezifische
Schadensbild objektiv belegt, sind dies
in aller Regel die wegweisenden Kriterien für die Beantwortung der Zusammenhangsfrage. Sie reichen aber allein nicht
aus, um eine verletzungsbedingte Verursachung einer Kniescheibenverrenkung
zu unterstellen.
Auch allein anlagebedingte Veränderungen manifestieren sich zu irgendeinem Zeitpunkt erstmals – im Kniescheiben-Oberschenkelgelenk bevorzugt während des zweiten Wachstumsschubs. Das
Schadensbild nach einer Kniescheibenverrenkung ist also nicht ausreichend, da
bei erstmals auftretenden Kniescheibenverrenkungen – seien sie unfallbedingt
oder aus innerer Ursache eingetreten –
ein weitgehend identisches Befundbild
zu erwarten ist. Die Begleitverletzungen
sind zwangsläufige Folge der Luxation
bzw. der Reposition (Einrenkung). Rückschlüsse auf die eingewirkten Kräfte und
damit auf einen äußeren Ursachenbeitrag
sind allein daraus mit größter Vorsicht zu
ziehen. Eine Abscherfraktur am äußeren
Femurcondylus oder am Kniescheibenfirst, auch eine begleitend entstandene
vordere Kreuzbandruptur deuten lediglich darauf hin, dass die Gelenkanatomie
Widerstand gegen den Luxationseintritt
geleistet hat. Fehlschlüsse aufgrund des
Schadensbildes sind insofern eine häufige Fehlerquelle in ärztlichen Gutachten
zur Zusammenhangsfrage bei der Kniescheibenverrenkung [38].
Die entscheidende Bedeutung kommt
eigentlich der Analyse der mechanischen
Einwirkung zu, was jedoch fast regelhaft scheitert an ungenauen, nicht selten widersprüchlichen Hergangsschilderungen, die bei einem langwierigen Prüfungsverfahren mit gerichtlicher Auseinandersetzung weitere Veränderungen
erfahren, dann auch geprägt sind von
wohlmeinenden, z. B. anwaltlichen Ratschlägen, was dem Gutachter mitzuteilen
ist. Dennoch ist in der Regel eine Einwirkung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne zu bejahen, sei es
auch nur im Sinne eines Anlassgeschehens, das vergleichbar ist mit dem letzten Tropfen, der z. B. im Sozialversicherungsrecht nicht rechtlich wesentlich ist,
aber gewissermaßen das Fass zum Überlaufen brachte, also „Anlass“ gab, dass
die Kniescheibe aus ihrem Gleitlager
herausschlüpfen konnte.
Gesetzliche Unfallversicherung (GUV)
– Theorie der wesentlichen Bedingung
(Sozialrecht)
Im Gegensatz zum Haftpflichtrecht und
zur privaten Unfallversicherung (s. u)
erhöht die gesetzliche Unfallversicherung die Kausalitätshürde. Ursächlich
ist über die Kausalität im medizinischnaturwissenschaftlichen Sinn hinaus
– juristisch-wertend – nur die für den
Gesundheitsschaden wesentliche (Teil-)
Ursache.
Wesentlich ist eine Ursache aus
dem versicherten (geschützten) Bereich,
wenn sie auf die stabile Führung der
Kniescheibe in ihrem Gleitlager bestimmungswidrig, also unphysiologisch, einwirkt.
Abgesehen von der extrem seltenen
direkten Krafteinwirkung entsteht eine
unfallbedingte Kniescheibenverrenkung
durch eine indirekte Einwirkung im Sinne eines komplexen Zusammenspieles
von Hebel- und Torsionsmechanismen in
Verbindung mit einem dann fehl gelenkten Muskelzug des Streckapparates. Ob
derartiges im Spiele war, lässt sich mangels verlässlicher Hergangsschilderung
häufig nur vermuten, aber nicht sicher
belegen. In der gutachtlichen Praxis sind
solche Überlegungen damit selten zum
Ziel führend. Die Kausalitätskriterien
müssen aber in der alltäglichen Begutachtung praktikabel sein.
Unabdingbare Voraussetzung für
einen entsprechenden Ablauf ist eine
überraschende, kräftige Gegenbewegung zwischen Ober- und Unterschenkel
mit dem Kniegelenk als Schnittpunkt der
gegenläufigen Kräfte. Die einwirkenden
Zugkräfte (Quadrizepsmuskel) müssen
erheblich sein.
Diese Bedingung erfüllt ein Hochkommen aus der Hocke oder ein Ansto-
MED SACH 110 5/2014
229
ORIGINALBEITRÄGE
ßen des Kniegelenks im Schulbus oder
beim Rempeln nicht. Solche Vorgänge
werden aber nicht selten als Ursachen
angegeben. Zweifellos besteht aber eine
zeitliche Verbindung, in dessen Folge
sich die zuvor stumme anlagebedingte
Verrenkungsneigung erstmalig manifestieren konnte.
Eine Prellung des Kniegelenkes beim
Sturz ist ebenfalls kein Mechanismus,
der mit dem Risiko einer Kniescheibenverrenkung verbunden ist. Diese Feststellung ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil – infolge des natürlichen Kausalitätsbedürfnisses des Menschen – der
durch die Kniescheibenverrenkung erst
herbeigeführte Sturz fälschlich als deren
Ursache benannt wird. Der Betroffene
selbst erlebt insofern die erstmals eingetretene Kniescheibenverrenkung als
Unfall, als ein von außen auf den Körper treffendes Ereignis. Tatsächlich ist
der Ablauf jedoch umgekehrt: Durch den
mit der Kniescheibenverrenkung verbundenen Verlust der aktiven Stabilisierung
des Kniegelenkes über den Streckapparat
verliert der Betroffene die Tragfähigkeit
des Beines und stürzt haltlos hin. In Erinnerung bleibt nur der Sturz.
In vielen Fällen konkurrieren mit der
tatsächlichen oder vermeintlichen Einwirkung (Ursachenbeitrag der versicherten Tätigkeit) die bis zum Erstereignis
regelhaft unbekannt gebliebenen Schadensanlagen. Die Abgrenzung der Ursachen aus dem versicherten und nicht versicherten Bereich ist deshalb erschwert,
weil der Zeitpunkt der Manifestation
und das Schadensbild eine Unterscheidung nicht zulassen und der Schadensmechanismus nur graduelle Unterschiede aufweist. Auch allein anlagebedingte Veränderungen führen in aller Regel
dann erstmals zu Funktionsausfällen,
wenn die minderbelastbaren Strukturen
– bestimmungsgemäß, im physiologischen Bereich – kraftvoll belastet werden. Nicht selten kommt es beim Schulsport zur erstmaligen Verrenkung der
Kniescheibe. Kraftvolle Tätigkeiten sind
aber nicht gleichzusetzen mit unphysiologischen und dann „unfallbedingten“
Belastungen. Die Dysfunktion körpereigener Strukturen, die fehlende Abstimmung zwischen koordinierter und kontrollierter muskulärer Belastung des
Kniegelenkes und Belastung des Knie-
scheiben-Oberschenkelgelenkes, ist kein
Unfall.
Die Problematik darf an zwei Fallbeispielen erläutert werden:
Fall 1
Die 188 cm große Versicherte knickte während des Sportunterrichts beim Spagatsprung „mit dem linken Knie“ um. Entsprechend der Angabe der Versicherten wurde
der Sachverhalt vom Versicherungsträger
vorgegeben. Es kam zur erstmaligen gedeckten Kniescheibenverrenkung zur Außenseite.
Röntgenologisch fanden sich eine Kniescheibenform Wiberg III und ein Kniescheibenhochstand entsprechend einem Quotienten
nach Insall und Salvati [27] von 0,40. Weitere Auffälligkeiten fanden sich weder im Kniescheiben-Oberschenkelgelenk noch im Kniehauptgelenk. Achsabweichungen der unteren Gliedmaßen lagen nicht vor.
Fall 2
Der 184 cm große Versicherte erlitt während
versicherter Tätigkeit eine gedeckte Kniescheibenverrenkung rechts nach lateral mit
einer Knorpel-Knochenabsprengung an der
medialen Kniescheibengelenkfläche. Röntgenologisch fanden sich eine Kniescheibenform Wiberg II/III und ein Kniescheibenhochstand entsprechend einem Quotienten nach
Insall und Salvati [27] von 0,44. Weitere Auffälligkeiten bestanden im Bereich der unteren Gliedmaßen nicht. Die Hergang wurde
vom Versicherten wie folgt geschildert: „Ich
stand vor meinem Spind, um diesen zu öffnen. Dabei machte ich eine seitliche Drehung
mit dem rechten Knie. Plötzlich verspürte ich
einen Schmerz in diesem Kniegelenk und
stellte fest, dass die Kniescheibe zur Seite herausgesprungen war.“ Entsprechend dieser
Schilderung wurde der Sachverhalt vom gesetzlichen Unfallversicherungsträger für die
Zusammenhangsbegutachtung vorgegeben.
In beiden Fällen kommt es allein darauf an, welches Gewicht dem Geschehensablauf im Verhältnis zur Schadensanlage zuzumessen ist. Die tatsächlichen
Voraussetzungen der Begutachtung sind
in beiden Fällen günstig, da der Hergang
feststeht und die Dystopie der Kniescheibe auf Grund des jugendlichen Alters der
Versicherten noch keine Beschwerden
verursacht hatte und keine Folgeschäden
(z. B. Arthrose) bestanden.
Im Fall 1 steht ein Bewegungsablauf
zur Diskussion, der einer Gegenbewe-
230
gung zwischen Ober- und Unterschenkel mit dem Schnittpunkt Kniegelenk
erkennen lässt. Darüber hinaus wirken
beim Spagat deutliche Zugkräfte (Quadrizeps) auf die unteren Gliedmaßen, die
durch die Körpergröße der Versicherten
verstärkt werden. Beim Aufkommen mit
dem Fuß kommt erfahrungsgemäß noch
eine valgische Kniebelastung hinzu. Es
liegt also ein Bewegungsablauf vor, der
auch ohne Schadensanlagen eine Kniescheibenverrenkung verursachen kann.
Der Spagatsprung wäre also als wesentliche Teilursache zu werten, während
beim Fall 2 ein annähernd gefährdender
Ablauf fehlt, so dass eine sog. Gelegenheitsursache vorliegt.
Meist ist es nicht möglich, mit
Sicherheit eine Aussage darüber zu treffen, ob der Hergang im Rahmen der versicherten Tätigkeit tatsächlich die Kniescheibenverrenkung wesentlich mit verursacht hat, oder ob die Verrenkung nur
gelegentlich, z. B. bei der Turnübung
(Spagat), entstanden ist. Dann muss
man allerdings plausibel begründen können, dass die Luxation mit genügender ­
Wahrscheinlichkeit nur unwesentlich später bei einer anderen alltäglichen
(„austauschbaren“) Verrichtung auch
entstanden wäre. Es gelten die Beweisregeln des Sozialrechts, die eine Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhanges verlangen. Derjenige, der Ansprüche
aus einer versicherten Tätigkeit herleitet,
hat nur dann Erfolg, wenn der Zusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und Schaden wahrscheinlich ist. Es
reicht nicht aus, dass dieser Zusammenhang möglich ist.
Dienstunfallrecht (Verwaltungsrecht)
Der Dienstunfall des Beamten ist in § 31
Beamtenversorgungsgesetz kodifiziert.
Der dem Bediensteten gewährte Schutz
geht jedoch insofern über die gesetzliche Unfallversicherung hinaus, als nicht
nur der „Körperschaden“ versichert ist,
der „infolge“ des Dienstes eingetreten
ist, sondern auch der Körperschaden, der
„in Ausübung“ des Dienstes eingetreten
ist. Diese Unterscheidung ist aber für den
ärztlichen Sachverständigen unerheblich. Für ihn darf voll inhaltlich auf die
Kausalitätslehre der gesetzlichen Unfallversicherung verwiesen werden, wobei
MED SACH 110 5/2014
ORIGINALBEITRÄGE
zwar die Wesentlichkeit der dienstlichen
Tätigkeit für den Körperschaden im Vollbeweis (Strengbeweis) zu beweisen ist
(z. B. VG Braunschweig vom 01.02.2007
– 7 A 33/06), während in der gesetzlichen
Unfallversicherung die Wahrscheinlichkeit ausreichend ist.
Alle offenen Fragen gehen also zu
Lasten des Bediensteten. Dies gilt insbesondere für die Abwägung der Kausalität von Schadensanlagen und versicherter Tätigkeit für die Kniescheibenverrenkung. In der Praxis spielt dieser Unterschied jedoch kaum eine Rolle, da das
Dienstunfallrecht ausschließlich Erwachsene betrifft, Kniescheibenverrenkungen im Erwachsenenalter aber sehr selten sind und – wenn sie dann erstmalig
auftreten – viel für einen wesentlichen
Ursachenbeitrag aus dem dienstlichen
Bereich spricht.
Private Unfallversicherung (PUV)
– Partialkausalität (Zivilrecht)
Im Gegensatz zur gesetzlichen Unfallversicherung (GUV), in der der Unfallbegriff über die im Sozialgesetzbuch
(SGB) VII in § 8 vorhandene Legaldefinition hinaus geht und von der Rechtsprechung – wie bereits vor Kodifikation des SGB VII – entwickelt und weiterentwickelt wird, ist der Unfallbegriff in
der privaten Unfallversicherung (PUV)
in den Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) bindend vereinbart.
Ziffer 1.3 der AUB 99/2008 lautet: „Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von
außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine
Gesundheitsschädigung erleidet“.
Die klare Vorgabe des Unfallbegriffs
führt in der PUV bei Kniescheibenverrenkungen zu keinen Kausalitätsproblemen.
Dies gilt auch für die Deckungserweiterung „Erhöhte Kraftanstrengung“,
die in Ziffer 1.4 der AUB 99/2008 geregelt ist: „Als Unfall gilt auch, wenn
durch eine erhöhte Kraftanstrengung
an Gliedmaßen oder Wirbelsäule ein
Gelenk verrenkt wird oder Muskeln, Sehnen, Bänder oder Kapsel gezerrt oder
zerrissen werden“.
Was unter „Erhöhter Kraftanstrengung“ zu verstehen ist, ist zwar nicht
weiter definiert. Es handelt sich insoweit
um eine rein versicherungsrechtliche
Frage, wobei jedoch die Versicherer dies
z. B. für alle Sportarten, die im Deutschen Sportbund vertreten sind, unbesehen unterstellen.
Die PUV als ursprünglich lupenreine Unfallversicherung versichert nur
Unfallfolgen. Haben Krankheiten oder
Gebrechen bei der durch ein Unfallereignis verursachten Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt,
mindert sich die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder
des Gebrechens, sofern dieser Anteil
mindestens 25 % beträgt (Ziffer 3 AUB
99/2008/2014, Musterbedingungen).
Diese sog. Partialkausalität ist bei der
Kniescheibenverrenkung in der PUV zu
berücksichtigen. Dysplasien, ­
Dystopien
und Achsabweichungen, wie sie oben
darstellt wurden, stellen Krankheiten
bzw. Gebrechen im Sinne der PUV dar.
Je nach deren Ausprägung ist die Mitwirkung in Bezug auf die Erst-Gesundheitsschädigung zu bemessen, wobei nur
wenige grobe Vorgaben sinnvoll sind. In
der Praxis haben sich geringe Mitwirkungsgrade von 25 bis 30 %, mittelgradige von 50 % und hochgradige von 75 bis
90 % bewährt.
Haftpflichtrecht (Zivilrecht)
Das Haftpflichtrecht folgt – wie die private Unfallversicherung – der Kausalitätstheorie der Adäquanz. Hiernach ist
nur die conditio sine qua non Ursache
im Rechtssinn, die dem Schaden adäquat
ist, wenn sie also erfahrungsgemäß allgemein und nicht nur unter besonders eigenartigen Umständen geeignet
ist, einen Schaden, wie den eingetretenen, herbeizuführen. Die Rechtsprechung hat jedoch ergänzend in der Praxis
die „Zurechnungslehre“ im Sinne einer
Schutzfunktion für die Fälle eingeführt,
die mit der Adäquanztheorie allein nicht
befriedigend zu lösen sind.
Ein Schüler rempelt einen anderen 14-jährigen, 180 cm großen Schüler. Dieser fällt hin.
Seine rechte Kniescheibe ist verrenkt. Vorbestehend waren eine Bandlaxität und eine
Kniescheibendysplasie sowie wiederholte
Verrenkungen der rechten Kniescheibe.
Ein „Übeltäter muss sein Opfer so
nehmen, wie es ist“. Der Schüler, der
meint, einen anderen rempeln zu müssen, kann also nicht erwarten, dass dieser völlig „gesund“ ist und diese Rempelei ohne ernsthaften Verletzungserfolg toleriert. Ein Rempeln ist für den
Rempelnden kein Unglücksfall, sondern Absicht. Er muss für den gesamten Schaden einstehen, wobei dieser
adäquat sein muss. Dagegen bestehen im
Beispielsfall ärztlich-gutachtlich allerdings insoweit Bedenken, weil es auch
schon zuvor zu wiederholten Verrenkungen der Kniescheibe aus nichtigem
Anlass gekommen war. Entscheidend
sind die Umstände des Sturzes, das Ausmaß der Bandlaxität und der Kniescheibendysplasie. Nur dann, wenn die Einwirkung ganz unwahrscheinlich an der
Rezidivluxation mitwirkend war, käme
eine Haftungsfreistellung in Betracht.
Die Beweislast hierfür liegt beim Schädiger.
Soziales Entschädigungsrecht (SER)
und Schwerbehindertenrecht
(Sozialrecht)
Im SER, dessen Leitgesetz das Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 20.
Dezember 1950 ist und das Anwendung
auf alle weiteren Nebengesetze des SER
(z.B: Häftlingshilfegesetz, Zivildienstgesetz, Opferentschädigungsgesetz) findet,
gilt die gleiche Kausalitätstheorie wie in
der GUV, die Theorie der wesentlichen
Bedingung, so dass insoweit vollinhaltlich auf die Ausführungen zur gesetzlichen Unfallversicherung verwiesen werden kann. Im Schwerbehindertenrecht
spielen Kausalitätsfragen keine Rolle.
Hier reicht die Sicherung des Schadensbildes aus.
Maßgeblich für die Einschätzung des
GdS (Grad der Schädigungsfolgen) im
SER und für den GdB (Grad der Behinderung) im Schwerbehindertenrecht sind
seit dem 01.01.2009 die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“, die in verrechtlichter Form die bis dahin gültigen
„Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (GdB-/MdE-Tabelle) abgelöst
haben.
Unter der Ziffer B 18.14 (Schäden
der unteren Gliedmaßen) findet sich in
den „Versorgungsmedizinischen Grund-
MED SACH 110 5/2014
231
ORIGINALBEITRÄGE
sätzen“ lediglich die Habituelle Kniescheibenverrenkung, die bei „seltener
Ausrenkung“ – in Abständen von einem
Jahr und mehr – einen GdS von „0–10
und bei „häufigen Ausrenkungen“ einen
GdS von 20 bedingen.
Gemeint ist jedoch nicht die „habituelle“, sondern die „rezidivierende“ Verrenkung. Insoweit wäre eine Überarbeitung (Richtigstellung) angezeigt, wobei
selbstverständlich die „Habituelle Kniescheibenverrenkung“ als eigenständiges
Prüfschema: Kausalität Patellaluxation
Schadensbild mit aufgenommen werden
müsste.
Als Hilfestellung für den ärztlichen
Gutachter darf auf das hier am Schluss
beigefügte „Prüfschema“ verwiesen werden.
Nicht sicher ­aufklärbar
Unfallkausalität zweifelhaft, sobald hier ☑
einzutragen ist
EINGANGSEBENE = Frage nach „conditio sine qua non“
■ Wurde das Kniegelenk „irgendwie“ von der
Einwirkung/Belastung erreicht ?
ja
☐
☐
☐ nein
■ Äußere Krafteinwirkung/erhebliche
Belastung erkennbar ?
ja
☐
☐
☐ nein
■ Wurde durch den Vorgang gelenkmechanisch
der zentrierte Patellalauf gefährdet ?
ja
☐
☐
☐ nein
Alternativ:
■ Bestehen dispositionell begünstigende
anatomische Faktoren?
nein
☐
☐
☐ ja
■ Besteht eine belastete Altanamnese zumindest
mit rezidivierenden „chondropathischen“
Beschwerden ?
nein
☐
☐
☐ ja
■ Stehen „Rezidivereignisse“ zur Diskussion?
ja
☐
☐
☐ nein
REALISIERUNGSEBENE:
■ Hat sofort eine Funktionsbeeinträchtigung
des Kniegelenkes vorgelegen?
ja
☐
☐
☐ nein
■ Konnte primär ein für die Patellaluxation typisches
Schadensbild objektiv belegt werden?
ja
☐
☐
☐ nein
■ Ergeben sich aus der Analyse späterer Befunde
Hinweise auf eine primär übersehene Patellaluxation?
ja
☐
☐
☐ nein
ENTSCHEIDUNGSEBENE:
GUV: Kausalität der rechtlich wesentlichen Bedingung
und ■ Unphysiologische und gefährdende Belastung
SER:für das Kniescheibengelenk, also mehr
als alltagsüblicher Belastungsvorgang?
ja
☐
☐
☐ nein
■ Sind die Schadensanlagen so ausgeprägt,
dass mit der Patellaluxation jederzeit
zu rechnen war/ist?
nein
☐
nein
☐
nein
☐
PUV:Unfallfremde Mitwirkung?
= Partialkausalität
HPV:Schadensanlagen so ausgeprägt, das auch
ohne Einwirkung zum gleichen Zeitpunkt
oder in naher Zukunft mit der Patellaluxation
zu rechnen war? (Konkurrierende bzw.
überholende Kausalität?)
232
☐ ja
☐
☐ ja . . . . . . . . . %
☐ ja
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ORIGINALBEITRÄGE
Literatur
1 Aglietti P, Menchetti PM: Biomechanics
of the patellofemoral joint. In: Scuderi
GR (Hrsg.). The patella. Berlin Heidelberg
New York: Springer, 1995
2 Bandi W: Die retropatellaren Kniegelenkschäden. Aktuelle Probleme in Chirurgie
und Orthopädie Bd. 4. Bern Stuttgart
Wien : Huber, 1977
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MED SACH 110 5/2014
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