Patellaluxation (Kniescheibenverrenkung)
Transcription
Patellaluxation (Kniescheibenverrenkung)
ORIGINALBEITRÄGE E. Ludolph, F. Schröter, A. Krumbiegel, H. Hempfling Zusammenfassung Patellaluxation (Kniescheibenverrenkung) Anatomie und Funktion Das Patellofemoralgelenk (Kniescheiben-Oberschenkelgelenk) ist als sog. Nebengelenk integrierter Teil des Kniegelenks – gemeinsame Gelenkhöhle und Gelenkkapsel – „Schauplatz“ zahlreicher und häufiger Beschwerde- und Schadensbilder. So ist es z. B. das Gelenk mit den häufigsten und frühesten Knorpeltexturstörungen [17] und als Modell für das Studium der Arthrose gut geeignet – nach Ficat [15] ein „Observatoire ideal de l´arthrose“. Die Patella (Kniescheibe) ist mit einer Länge von ca. 4 cm als größtes Sesambein (Schaltknochen) des Menschen in die kräftige Quadrizepssehne (Sehne des vierköpfigen Schenkelstreckers) eingebunden. Ihre querverlaufende, etwas abgerundete Basis ist kopfwärts (kranial) gerichtet und Ansatz- Abb. 1: Ansicht der Kniescheibe von vorn (nach Gaber 2005) 1 Kniescheibenbasis 2 Kniescheibenspitze Anschriften der Verfasser Dr. med. E. Ludolph Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie Institut für ärztliche Begutachtung Sonnenacker 62 40489 Düsseldorf Dr. med. F. Schröter Arzt für Orthopädie Interdiziplinäre medizinische Begutachtung Landgraf-Karl-Str. 21 34131 Kassel Dr. med. A. Krumbiegel Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie Interdisziplinäre medizinische Begutachtung Tibarg 1b 22459 Hamburg Prof. Dr. med. H. Hempfling Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie Gabriele-Münter-Platz 2 82418 Murnau Abb. 2: Ansicht der Kniescheibe von hinten (nach Gaber 2005) 1 Äußere Gelenkfläche 2 Innere Gelenkfläche 3 Kniescheibenfirst 4 Ausgezogene, nicht überknorpelte Kniescheibenspitze punkt der Quadrizepssehne. Ein Teil der Quadrizepsfasern, ca. 50 %, zieht über die raue Kniescheibenvorderseite (Zugseite) hinweg, umfasst die fußwärts (kaudal) gerichtete Kniescheibenspitze (Apex patellae) und zieht als Kniescheibensehne (Ligamentum patellae) zur Schienbeinrauigkeit, der Tuberositas tibiae (Abb. 1 und 2). Funktionell hat die Kniescheibe neben einer Schutzfunktion für die Streckseite des Kniegelenks eine Führungsfunktion für die Quadrizeps- und Patellasehne. Sie bildet einen Steg 212 Subluxation und Luxation der Kniescheibe gehören zu den häufigsten patho-mechanischen Störungen am Kniegelenk. Die Diagnose wird aber nicht selten erschwert durch eine spontane Reposition. Besonders bei Jugendlichen sollte nach jeder „Distorsion“ an diese Möglichkeit gedacht werden. Erst wenn „unklare“ prolongierte Beschwerden zur kernspintomografischen Diagnostik mit den dann typischen Verletzungszeichen am medialen Retinaculum und dem verletzten medialen patello-femoralen Ligament gesehen werden, kann die Diagnose gestellt werden. Auch dann wird dieser Befund nicht selten vernebelt durch Begleitläsionen z.B. am Meniskus oder am vorderen Kreuzband. Eine nur unfallbedingte Kniescheibenluxation ist eher selten zu erwarten. Fast immer findet man anatomische Varianten, die den Luxationsvorgang zumindest begünstigen, wenn nicht überwiegend oder sogar allein verursacht haben. Diese dispositionellen Faktoren gilt es spätestens im Rahmen der Begutachtung zu objektivieren und in ihrer Ausprägung genau zu definieren, um dann zu prüfen, welchen Einfluss sie auf die Entstehung der Kniescheibenluxation gehabt haben. Diese Fragestellung ist gutachtlich insofern brisant, da nach der Rechtsprechung des BSG sogar noch bei einem mehr als hälftigen unfallfremden Ursachenanteil durch eine solche Disposition die Einwirkung immer noch rechtlich-wesentlich sein könnte, was zur Anerkennung als „Unfallfolge“ führen müsste. Gerade solche Grenzsituationen stellen eine Herausforderung an den medizinischen Sachverständigen dar, der verpflichtet ist, eine sehr präzise Analyse der Gelenk- und Beinanatomie vorzunehmen, um das Ausmaß der dispositionellen Beeinflussung der Kniescheibenluxation bestimmen zu können, dies zum Zwecke einer abwägenden Gewichtung einerseits der Disposition und andererseits der Relevanz der Einwirkung. Die vorliegende Arbeit soll hierzu eine Hilfestellung geben. Schlüsselwörter Patellaluxation – femoropatellare Dysplasie – Unfallkausalität – Begleitläsion MED SACH 110 5/2014 ORIGINALBEITRÄGE Abb. 3: Zweigeteilte und mehrgeteilte Kniescheibe Abb. 5: Die „Odd-Facet“ als Randsegment der inneren Kniescheibengelenkfläche Abb. 4: Röntgenbild einer zweigeteilten Kniescheibe vom sog. diagonalen Typ am oberen äußeren Kniescheibenpol, der mit 80 % häufigste Typ (nach M. Strobel und Stedtfeld 1988) (Abstandshalter), der die Sehnen von der Unterlage abhebt, den Hebelarm der Strecker verlängert und damit bei Beugung im Kniegelenk die Kraft der Quadrizepsmuskulatur durch eine wesentliche Erhöhung des Drehmoments auf den Unterschenkel überträgt. Dabei nimmt die Kniescheibe Druckbelastungen auf, die beim Anheben des gestreckten Beines etwa die Hälfte des Körpergewichts betragen und beim Hochkommen aus der Hocke bis auf das 140-fache des Körpergewichts ansteigen [1]. Weiterhin funktioniert die Kniescheibe als Umlenkrolle der Kniescheibensehne um die Trochlea femoris (Oberschenkelgelenk- fläche der Kniescheibe, Kniescheibengleitlager). Die Kniescheibe entwickelt sich aus mehreren knorpelig angelegten Knochenkernen. Bleibt die Verknöcherung, die im 4. bis 5. Lebensjahr beginnt, aus, resultiert eine zwei- oder mehrgeteilte Kniescheibe (Patella bipartita/multipartita), was von symptomatischer und funktioneller Relevanz sein kann (Abb. 3 und 4). Die Druckseite der Kniescheibe, die ca. 12 cm² große knorpelbedeckte Fläche, unterteilt sich in zwei ungleiche konkave Felder – in die äußere (laterale), meist größere (Haupt-) Gelenkfläche (Facette) und in die innere (mediale) Gelenkfläche (Abb. 2), an der an der inneren Patellakante noch die „besondere“ OddFacet, die „Odd-Facette“, als Randsegment unterschieden wird (Abb. 5). Die Aufteilung der von hyalinem (glasartigem) Gelenkknorpel überzogenen Kniescheibengelenkfläche (Facies articularis patellae) in sieben „Einzel“-Facetten – jeweils zwei paarige obere, mittlere und untere sowie eine mediale Odd-Facet – ist für die Auflagefläche der Kniescheibe am Oberschenkel (Femur) in den verschiedenen Bewegungsstellungen im Kniegelenk (Streckung/Beugung) sinnvoll. Die Auflage-/Anpressflächen der Kniescheibe am Oberschenkel ändern sich in Abhängigkeit von der Bewegungsstellung im Kniegelenk. Die Kontaktflächen wandern mit zunehmender Beugung im Kniegelenk sowohl an der Kniescheibe wie an der Trochlea femoris von distal (Streckung) nach proximal (Beugung), wobei die Kniescheibe bei starker Beugung den Einschnitt zwischen den Oberschenkelgelenkkörpern, die Fossa intercondylaris, überbrückt, lediglich noch mit den äußeren Facettenanteilen den Oberschenkelgelenkflächen (Kondylenflächen) aufliegt und nur in dieser Stellung die eigentliche mediale Kniescheibenkante („Odd-Facet“) mit dem Oberschenkel in Kontakt kommt (Abb. 6). Abb. 6: Auflageflächen der Kniescheibe in den verschiedenen Bewegungsstellungen im Kniegelenk von voller Streckung (1) bis zur vollen Beugung (4), bei der die mediale Kniescheibenkante, die „Odd-Facet“, mit dem Oberschenkel in Kontakt kommt (4a/b) (nach Müller 1982) MED SACH 110 5/2014 213 ORIGINALBEITRÄGE Während der gesamten Beugung im Kniegelenk liegt die Kniescheibe physiologischerweise mehr dem äußeren Oberschenkelgelenkkörper auf und „biegt“ sich lateral auf dem Oberschenkelgelenkkörper wie auf einem Leisten [41]. Dem auf der Außenseite stärkeren Druck (Flächenpressung) entspricht der Aufbau der Knochenbälkchen. Bei ihrer vertikalen Bewegung, die eine Wegstrecke von ca. 8 cm umfasst, wird die Patella durch den Quadrizeps muskel in ihr Gleitlager gepresst. Der Anpressdruck der Kniescheibe nimmt nach dem Parallelogramm der Kräfte mit der Beugung im Kniegelenk zu (Abb. 7). Die von Bandi [2] und Aglietti et al. [1] vorgenommenen Berechnungen berücksichtigen allerdings nicht den ab 70° Beugung auftretenden Umwicklungs- effekt der Quadrizepssehne, wodurch die auftretenden Kräfte auf eine größere Fläche verteilt werden und dadurch der Anpressdruck nicht relevant zunimmt. Der Anpressdruck ist zwar abhängig von der Zugkraft der Quadrizeps- und Patellasehne, jedoch von der Beugestellung im Kniegelenk weitgehend unabhängig, wie Druckmessuntersuchungen ergeben haben [19, 20]. Der bei Beugung hohe Anpressdruck ist in Streckstellung nur gering (im Patellaspitzenbereich). Bei Überstreckung (Hyperextension) im Kniegelenk entfernt sich die Kniescheibe vom Oberschenkel und droht nach außen zu verrenken, da Quadrizeps- und Patellasehne physiologischerweise einen nach außen offenen stumpfen Winkel bilden (Abb. 8), wobei die Verrenkung normalerweise durch die etwas prominentere Abb. 7: Mit zunehmender Beugung im Kniegelenk nimmt der Anpressdruck der Kniescheibe nach dem Kräfteparallelogramm zu (nach Wagner und Schabus 1982) Abb. 9: Die im Vergleich zur medialen prominentere laterale Wange des Kniescheibengleitlagers (Differenz „e“) verhindert normalerweise eine Kniescheibenverrenkung (nach Kapandji 1985) a b c d Abb. 8: Hoher Anpressdruck der Kniescheibe bei Beugung im Kniegelenk (a), geringer Anpressdruck in Streckstellung (b). Bei Überstreckung (Hyperextension) entfernt sich die Kniescheibe vom Oberschenkel (c) und droht nach lateral zu verrenken (d) (nach Kapandji 1985) 214 Wange des lateralen Kniescheibengleitlagers verhindert wird (Abb. 9). Ist die laterale Wange anlagebedingt hypoplastisch (unterentwickelt), wird die Kniescheibe weniger sicher geführt und kann in Streckstellung teilverrenken bzw. verrenken [31]. Wie im Kniehauptgelenk gibt es auch im Kniescheiben-Oberschenkelgelenk einen Roll-Gleit-Mechanismus, wobei allerdings das Gleiten an der Kniescheibe der Abrollrichtung entgegenläuft, während Rollen und Gleiten im Kniehauptgelenk in die gleiche Richtung gehen [41]. Während der Knorpelüberzug mit der Kniescheibenbasis eine enge Beziehung aufweist, also Gelenkfläche und knöcherne Patellabasis zusammenfallen und so einen guten röntgenologischen Bezugspunkt bilden, ist dies im Bereich der Patellaspitze, die stark ausgezogen sein kann, nicht der Fall (Abb. 2). Die Begrenzung der Gelenkfläche ist distal röntgenologisch schwieriger festzulegen.Mediale und laterale Facette sind durch eine Führungsleiste, den sog. First, getrennt (Abb. 2), der von der mechanischen Beanspruchung her eher dem „Kiel eines Bootes entspricht, das an Land gezogen wird“ [41]. Eine häufig im mittleren Drittel der Patellagelenkfläche anzutreffende querverlaufende Eindellung (Exkavation, Haglund-Delle) soll Ausdruck einer starken Walkwirkung bei kantenartiger Begrenzung der lateralen Oberschenkelgelenkfläche der Patella (Knorpelwulst nach Outerbridge) sein [41]. Diese Überlegung überzeugt kaum. Zwar liegt bei Streckung im Kniegelenk die Delle direkt über dieser Stelle. Bei Streckung im Kniegelenk wirken jedoch im mittleren Drittel der Patella keine Druckkräfte, so dass die Delle wohl einer mechanischen Grundlage entbehrt und als Normvariante ohne Krankheitswert angesehen werden kann (Abb. 10). Als Reaktion auf die starken Druckkräfte beträgt die Knorpeldicke der Patella bis zu 7 mm und ist damit stärker als in allen anderen Gelenken. Diese Schichtdicke des Knorpels bringt aber auch Ernährungsprobleme mit sich, da die Diffusion (Durchsaftung) mit zunehmender Knorpeldicke erschwert wird. Für das Schadensbild einer Patellaluxation spielen MED SACH 110 5/2014 ORIGINALBEITRÄGE Abb. 10: Normvarianten der Kniescheibenform und -dicke (Seitansicht). H = Haglund-Delle ◾◾ Dysplasien (Fehlbildungen) der Kniescheibe und der Trochlea sowie ◾◾ Dystopien (Verlagerungen) der Kniescheibe eine wichtige Rolle. Die Einteilung der Kniescheibenform an Hand der tangentialen (axialen) Röntgenaufnahme nach Wiberg [53] und Baumgartl [4] ist allgemein akzeptiert und hat sich in der Praxis bewährt (Abb. 11). Wiberg nahm seine Einteilung an Hand einer axialen Röntgenaufnahme mit 45° Beugung im Kniegelenk vor. Neben dem sog. Facettenwinkel (Patellaöffnungswinkel, Patellagelenkflächenwinkel nach Christiani, [11]), dem Winkel Alpha, den der knöcherne Patellafirst mit der inneren und äußeren Gelenkfacette bildet und der im Regelfall 120 bis 140° beträgt, sind die Länge und die Form der medialen Gelenkfläche ausschlaggebend für die Einteilung in die Typen I, II, II/ III, III und IV (Abb. 12). Sonderformen sind die Jägerhut-Kniescheibe (völliges Abb. 11: Kniescheibenform I bis IV nach Wiberg (1941) und Baumgartl (1964) Fehlen der medialen Facette, sog. halbe Kniescheibe), die Halbmond-Kniescheibe und die Kieselstein-Kniescheibe (Abb. 13). Abb. 13: Die Sonderformen der Kniescheibe (Halbmond, Kieselstein und Jägerhut) Abb. 12: Einteilung und Häufigkeit der Kniescheibentypen I bis IV entsprechend dem Facettenwinkel (Winkel Alpha) und entsprechend der Länge und Form der medialen Gelenkfläche MED SACH 110 5/2014 215 ORIGINALBEITRÄGE Beim Kniescheibentyp I beträgt der Facettenwinkel 120 bis 140°. Die mediale konkav geformte Facette entspricht der lateralen Facette. Beim Kniescheibentyp II beträgt der Facettenwinkel 110 bis 120°. Die mediale Facette ist verkürzt und konkav geformt. Beim Kniescheibentyp II/III beträgt der Facettenwinkel 110 bis 120°. Die mediale Facette ist verkürzt und plan gestaltet. Beim Kniescheibentyp III beträgt der Facettenwinkel 90 bis 110°. Die mediale Facette ist verkürzt und konvex geformt. Beim Kniescheibentyp IV beträgt der Facettenwinkel 90°. Die mediale Facette ist verkürzt, konvex geformt und weist eine Höckerbildung auf [4]. Die Typen I bis III sind der Normalform zuzurechnen, während nach Hepp [21], Kasch [32] und Strobl/Grill [48] der Typ IV und die Sonderformen als Dysplasien zu bezeichnen sind. Darauf hinzuweisen ist, dass sich der mediale Eckpunkt der Kniescheibe röntgenologisch meist nur ungenügend genau festlegen lässt, so dass die genaue Winkelbestimmung vom Untersucher abhängig ist. Die Häufigkeitsverteilung der Kniescheibentypen ist wie folgt zu diskutieren [2]: Typ I 10 % Typ II und II/III 65 % Typ III 10 % Typ IV 15 % Von der normalen Kniescheibengröße sind die Patella magna/elongata (große Kniescheibe) und die Patella parva (kleine Kniescheibe) nur schwierig zu unterscheiden. Dicke und Breite der Kniescheibe lassen sich in axialen Strahlengängen projektionsbedingt und bei leichten Drehungen und Kippungen sowie infolge des unterschiedlichen Vergrößerungseffektes nur unzuverlässig bestimmen. Aufnahmen im seitlichen Strahlengang lassen nach Hepp [21] eine bessere Standardisierung zu. Bei einem Diagonaldurchmesser (Abb. 14) von über 55 mm bei Männern und von über 50 mm bei Frauen wird von einer Patella magna Abb. 14: Diagonaldurchmesser (AB) der Kniescheibe Abb. 15: Die laterale (äußere) Gelenkfläche des Kniescheibengleitlagers reicht weiter kopfwärts (Pfeil) als die mediale (innere) (elongata) und bei einem Diagonaldurchmesser von unter 40 mm bzw. 35 mm von einer Patella parva gesprochen. Die Kniescheibe artikuliert mit der Vorderseite des kniegelenknahen Oberschenkels, der Facies patellaris femoris, der Trochlea femoris. Der Knorpelüberzug der beiden Oberschenkelgelenkkörper (Kondylen) geht streckseitig in die Facies patellaris über. In Aufsicht ist die Gelenkfläche sichelförmig. In seitlicher Ausrichtung ist die Gelenkfläche konkav, a b c Abb. 16: Kniescheiben-Defilee-Aufnahmen a Aufnahmetechnik b 45° Beugung im Kniegelenk c 30°, 60°, 90° Beugung im Kniegelenk 216 MED SACH 110 5/2014 ORIGINALBEITRÄGE Abb. 17: Die unterschiedlichen Röntgen-Aufnahme-techniken für die tangentiale Darstellung des Femoropatellar-gelenkes nach einer Zusammenstellung von Hepp (1982) in kranio-kaudaler (kopf-fußwärtiger) Ausrichtung konvex. Die äußere Gelenkfläche reicht weiter nach kopfwärts als die innere (Abb. 15). Der Knorpel der Trochlea ist in der zentralen Rinne am stärksten ausgeprägt. Die Trochleaform ist variantenreich, wobei zur Auswertung vorrangig tangentiale Röntgenaufnahmen des Patellofemoralgelenkes erforderlich sind. Zu beachten ist, dass sich die Form der Trochlea je nach Beugegrad im Kniegelenk röntgenologisch deutlich ändert. Bei 30° Beugung im Kniegelenk ist die Dysplasie nach Hepp [21] am leichtesten erkennbar. Da jedoch meist keine Defilee-Aufnahmen (Abb. 16) zur Verfügung stehen, wird vorgeschlagen, die Trochleaform an Hand der Aufnahme in 60° Beugung im Kniegelenk zu bestimmen, wobei die Knutsson-Technik (Rückenlage des zu Untersuchenden) bevorzugt wird (Abb. 17. 3). Analog dem Kniescheibentyp lassen sich nach Ficat [14], modifiziert nach Hepp [21], fünf Trochleatypen (Trochleaformen) als brauchbare Einteilung unterscheiden (Abb. 18): Abb. 18: Die Trochleatypen nach Hepp (1982) Typ I:Annähernd gleich hohe, breite und gerundete Kondylenwangen mit einem wannenförmig in der Mitte gelegenen Sulcus (Rinne). Typ II: Die äußere Kondylenwange ist etwas breiter und höher ausgebildet als die mediale. Der Sulcus ist etwas nach medial verlagert. Typ III:Die mediale Kondylenwange ist unter-, die laterale Kondylenwange überentwickelt. Der Sulcus ist abgeflacht und nach medial verlagert. Die mediale Kondylenwange wird zunehmend kürzer und flacher. Typ IV:Beide Kondylenwangen sind deutlich abgeflacht, wobei die laterale meistens länger und höher ist. Der Sulcus ist flach, oft nur als „Delle“ vorhanden. Typ V:Ein Sulcus ist nicht mehr vorhanden. Die Trochlea ist plan gestaltet. Hepp [24] fand die Typen I und II in 89 % der Untersuchten ohne Patel laluxation, die Typen III, IV und V in 96,5 % der Untersuchten mit Patellaluxation. Der Typ I war in der Gruppe mit Patellaluxation überhaupt nicht vertreten, der Typ II nur in 3,5 % der Fälle. Die Typen I und II werden als „normal“, die Typen III bis V als dysplastisch bezeichnet. Von den in der Literatur zahlreich angegebenen Meßmethoden zur Ermittlung der Patella- und Trochleaformen werden nachfolgend nur die gebräuchlichsten aufgeführt. Der Patella-Tiefen-Index (PTI) nach Ficat und Bizou [16] setzt die größte Breite (transversale Poldistanz) der Kniescheibe (AB in mm) in Relation (Quotient) zur halben Patelladicke (CD in mm). Der Normbereich liegt zwischen 3,2 und 4,59. Der Übergangsbereich umfasst die Werte 3,0 bis 3,19 sowie 4,6 bis 4,79, während Werte unter 3,0 und über 4,8 als dysplastisch eingestuft werden (Abb. 19). Da der mediale Kniescheibenpol (B) und der tiefste Punkt des Paellafirstes (C) oft nur ungenau festzulegen sind, ist diese Messmethode sehr unzuverlässig [21]. MED SACH 110 5/2014 217 ORIGINALBEITRÄGE Abb. 19: Der Patella-Tiefen-Index (PTI) nach Ficat und Bizou (1967) Abb. 21: Der Kondylen-GelenkflächenIndex (KGI) nach Ficat (1970): Quotient AC zu BC Abb. 20: Der Trochleaöffnungswinkel (Sulkuswinkel, Kondylen-Gelenkflächen-Winkel, KGW) nach Brattström (1960) Abb. 22: Der Kondylen-Tiefen-Index (KTI) nach Ficat und Bizou (1967): Quotient AB zu CD Der Trochleaöffnungswinkel (Sulkuswinkel, Kondylen-Gelenkflächen-Winkel, KGW) nach Brattström [8] wird durch die beiden Kondylenwangen mit dem tiefsten Punkt der Trochlea gebildet (Abb. 20). Brattström gibt in seiner Veröffentlichung 1960 Mittelwerte zwischen 142° und 143° je nach Geschlecht und Seite an. Buard et al. [9] beschrieben 1981 nach Kadaverstudien einen mittleren Sulkuswinkel von 144°. Nach Hepp [21, 24] liegt der Normbereich zwischen 130° und 144° (Durchschnitt: 137°). Der Übergangsbereich umfasst die Werte 125° bis 129° und 145° bis 149°, während Werte unter 125° und über 150° als Dysplasien gelten. Der Kondylen-Gelenkflächen-Index (KGI) nach Ficat [14] setzt die Breite (Länge) der lateralen Kondylenwange ins Verhältnis (Quotient) zur Breite (Länge) der medialen Kondylenwange (Abb. 21). Der Normbereich liegt zwischen 1.0 und 1,39. Der Übergangsbereich umfasst die Werte 0,9 bis 0,99 sowie 1,4 bis 1,49. Der Dysplasiebereich beginnt unter 0,9 und ab 1,5 [21]. Der Kondylen- (Trochlea-) TiefenIndex (KTI) nach Ficat und Bizou [16] ist der Quotient aus Trochleabreite und Trochleatiefe (Abb. 22). Der Normbereich reicht von 4,2 bis 6,59. Der Über- a b c Abb. 23: Der Vorsprung (bump) des Trochleagleitlagers zur streckseitigen Oberschenkeltangente x nach Dejour et al. (1994) a Vorsprung 0 (normale Trochlea) b Vorsprung positiv (flache Trochlea) c Vorsprung negativ (tiefe Trochlea) a b c Abb. 24: Das sog. Crossing sign bezeichnet die Überschneidung des Trochleasulkus mit der lateralen Femurkondyle (b) a Normalbefund c Flache Trochlea 218 MED SACH 110 5/2014 ORIGINALBEITRÄGE gangsbereich umfasst die Werte 3,8 bis 4,19 sowie 6,6 bis 6,99. Der Dysplasiebereich beginnt unter 3,8 und ab 7,0 [21]. Nach verschiedenen von Dejour et al. [12] angegebenen Methoden kann eine Trochleadysplasie auch auf einer Röntgenaufnahme im streng seitlichen Strahlengang erkannt werden. Die Tiefe der Trochlea wird beurteilt zur Verlängerung der vorderen (streckseitigen) Oberschenkeltangente. Der sog. Trochlea bump (Vorsprung) bezeichnet die Erhebung (Abstand) des Trochleagrundes über die vordere (streckseitige) Oberschenkeltangente. Werte von mehr als 3 mm signalisieren eine flache Trochlea (Abb. 23). Das sog. Crossing sign stellt den Punkt dar, an welchem die Sulkuslinie den Rand der lateralen Femurkondyle kreuzt als Hinweis für eine Trochleadysplasie (Abb. 24). Eine weitere Möglichkeit zur Bestimmung der Gleitrinnentiefe ist der Abstand a AB – gemessen in Millimeter entlang einer Winkellinie von 15° zur Senkrechten auf die Verlängerung der hinteren (beugeseitigen) Oberschenkelangente. Werte unter 4 mm signalisieren eine Dysplasie. Die Trochleadysplasie wird immer auf beide Oberschenkelrollen bezogen (Abb. 25 a und b). Nach Hepp [21] sind KGW und KTI wegen ihrer verhältnismäßig geringen Messungenauigkeiten gut geeignet, Dysplasien und ihren Ausprägungsgrad zu bestimmen. Beachtet werden muss jedoch, dass beide Messmethoden von der Beugung im Kniegelenk abhängig sind. Die von Hepp angegebenen Werte beziehen sich jeweils auf eine Beugung im Kniegelenk von 60°. Die Stellung (Topie) der Kniescheibe in der Trochlea kann durch den sog. Kongruenz-Winkel [39] bestimmt werden. Vom Sulkuswinkel wird die Winkelhalbierende als Reverenzlinie genommen. Eine zweite Linie wird gebildet aus dem tiefsten Punkt der Trochlea und dem Patellafirst. Der Normwert liegt zwischen 6° und 8°. Werte darunter signalisieren eine Außenverlagerung (Lateralisation, Lateralverschiebung, Patellashift) der Kniescheibe (Abb. 26). Eine nach Hepp [23] bessere Methode zur Beurteilung der Patellastellung in der Trochlea im axialen Strahlengang ist die Konstruktion des femoropatellaren Bogens nach Ficat [14]. Wenn dieser Bogen durch einen äußeren (lateralen) „pilzkrempenförmigen Überhang“ dysharmonisch gestaltet ist, lässt sich eine Patelladystopie einfach feststellen (Abb. 27). Eine zunehmende Außenverlagerung der Kniescheibe kann an Hand der Vergrößerung der Dezentrierungsstrecke „d“ nach Hepp [23] festgestellt werden. Gleichzeitig vergrößert sich nach Schuchardt und Klose [46] der mediopatellare Winkel (Abb. 28). Abb. 26: Der Kongruenz-Winkel nach Merchant et al. (1974) Vom Sulkuswinkel BAC, der im Durchschnitt 137° beträgt, ergibt die Winkelhalbierende AO mit der Linie AD, die vom tiefsten Punkt der Trochlea mit dem Patellafirst gebildet wird, den Kongruenz-Winkel (Patella axial, Beugung im Kniegelenk 30°) Abb. 27: Der femoropatellare Bogen nach Ficat (1970) b Abb. 25: Bestimmung der Trochleatiefe. Gemessen wird der Abstand AB in Millimeter entlang einer Winkellinie von 15° zur Senkrechten in Verlängerung der hinteren Oberschenkeltangente (Abb. 25 a), wobei der Wert immer auf beide Oberschenkelrollen bezogen wird (Abb. 25 b) Abb. 28: Mit zunehmender Außenverlagerung der Patella vergrößern sich die Dezentrierungsstrecke „d“ nach Hepp und der mediopatellare Winkel BCG nach Schuchardt und Klose (1979) MED SACH 110 5/2014 219 ORIGINALBEITRÄGE Abb. 29: Bestimmung der Außenverlagerung der Patella nach Laurin (1978). Auf der Kondylenverbindungslinie wird an der medialen Kante (Pfeil) eine Senkrechte errichtet und der Abstand zur medialen Patellabegrenzung in mm gemessen Abb. 31: Im ap-Röntgenbild liegt die Patellaspitze etwa 1 cm kopfwärts des Kniehauptgelenkspaltes Die Außenverlagerung der Kniescheibe wird nach Laurin et al. [35] an Hand der axialen Patellaaufnahme in 30° Beugung im Kniegelenk (aktiv gehalten, parallelstehende Füße) ermittelt. Auf die Kondylenverbindungslinie (höchste Punkte des Gleitlagers) wird an der medialen Kante des Gleitlagers eine Senkrechte errichtet und der Abstand zwischen dieser Linie und der medialen Patellabegrenzung gemessen Der Normalwert beträgt 0 mm (Abb. 29). Für die Bestimmung des Kniescheibengleitlagerwinkels nach Laurin et al. [35] werden auf der axialen Patellaaufnahme in 30° Beugung im Kniegelenk die höchsten Punkte des Gleitlagers (Kondylenverbindungslinie) mit- einander verbunden. Diese Linie bildet mit der lateralen Patellafacette im Normalfall einen nach außen offenen Winkel (lateraler patellofemoraler Winkel). Parallele Linien (Winkel 0°) oder ein nach medial offener Winkel signalisieren eine Außenkippung (Tilt) der Kniescheibe (Abb. 30). Zur Höhenstellung der Kniescheibe ist der seitliche Strahlengang erforderlich. Die Aufsichtsaufnahme des Kniegelenkes in Streckstellung lässt nur eine ungefähre Aussage zu. Die Patellaspitze liegt im Schnitt etwa 1 cm kranial (kopfwärts) des Kniehauptgelenkspaltes (Abb. 31). Um im seitlichen Strahlengang einen Kniescheibenhochstand (Patella alta) bzw. einen Kniescheibentiefstand (Patella infera/baja) zu diagnostizieren, sind seit 1930 ca. 20 Methoden angegeben [22, 44], von denen nachfolgend die gebräuchlichsten besprochen werden. Je nach den Bezugspunkten ◾◾ Kniescheibe – Oberschenkel ◾◾ Kniescheibe – Schienbein ◾◾ Kniescheibe – Oberschenkel/Schienbein lassen sich nach Hepp drei Gruppen unterscheiden. Zur ersten Gruppe zählen die Verfahren nach Blumensaat, Laurin, Janssen und Hepp, zur zweiten Gruppe die Methoden nach Insall/Salvati, Trillat, Blackburne/ Peez und Caton/Dechamps und zur dritten Gruppe die Messtechniken nach Boon-Itt und Normann/Egund. Nach Blumensaat [6] wird die Kniescheibenhöhe im seitlichen Strahlengang bestimmt durch den Abstand der Kniescheibenspitze (Apex patellae) zur nach streckseitig verlängerten interkondylären Skleroselinie, der Verdichtungslinie zwischen den Oberschenkelgelenkkörpern (Abb. 32). Bei einer Beugung im Kniegelenk von 30° steht die Patellaspitze höchstens 10 mm kopfwärts der sog. Blumensaat´schen Linie. Bei einer Beugung im Kniegelenk von 50° steht die Patellaspitze auf der Linie [3]. Nach Laurin [34] überragt die Kniescheibenbasis (oberer Kniescheibenpol) bei einer Beugung im Kniegelenk von 90° nicht die an der Streckseite des Oberschenkels angelegte und verlängerte Tangente (Abb. 33). Abb. 30: Der Kniescheibengleitlagerwinkel nach Laurin (1978). Auf der axialen Patellaaufnahme in 30° Beugung im Kniegelenk wird die Kondylenverbindungslinie mit der Linie der lateralen Patellafacette in Beziehung gesetzt 220 MED SACH 110 5/2014 ORIGINALBEITRÄGE Abb. 33: Bestimmung der Kniescheibenhöhe nach Laurin (1977) Abb. 32: Bestimmung der Kniescheibenhöhe nach Blumensaat (1938) Nach Janssen [28] wird der Patellahöhenwinkel gemessen zwischen dem hinteren Schnittpunkt der Blumensaat´schen Linie mit dem Oberschenkelgelenkkörper (Femurkondyle) und der Kniescheibenspitze. Die Modifikation nach Hepp [22] nimmt als Messpunkt nicht die Kniescheibenspitze, sondern den distalen Begrenzungspunkt der Patellagelenkfläche. Dadurch soll die Relation der Gelenkflächen zwischen Oberschenkel und Kniescheibe besser erfasst werden. Da die variantenreiche Patellaspitze kein zuverlässiger Messpunkt ist und die distale Begrenzung der Patellagelenkfläche mitunter schwierig festzulegen ist, modifizierte Hepp [22] die Patellahöhenbestimmung und den Patellahöhenwinkel wie folgt: Von der Patellabasis – ermittelt durch den größten Diagonaldurchmesser der Patella – wird das Lot gefällt auf die verlängerte Blumensaat´sche Linie (Abb. 34). Als zweite Messmethode nahm Hepp [22] in Anlehnung an die Methode von Janssen [28] den Winkel zwischen der Blumensaat´schen Linie als dem einen Schenkel mit dem zweiten Schenkel vom hinteren (dorsalen) Schnittpunkt dieser Linie mit dem Oberschenkelgelenkkörper zur Patellabasis (Abb. 35). Nach Hepp [22] sind der kraniale Bezugspunkt der Patella durch den messtechnisch leicht zu ermittelnden größten Patella-Diagonaldurchmesser zuverlässiger zu bestimmen als die Patellaspitze und die distale Begrenzung der Patellagelenkfläche. Die nach den Methoden von Blumensaat, Janssen und Hepp ermittelten Werte sind abhängig vom Beugegrad im Kniegelenk, der wegen des unterschiedlich ausgeprägten Weichteilmantels allenfalls auf 5° genau bestimmt werden kann. Aus diesem Grund werden bei diesen Methoden Umrechnungstabellen benötigt, die z.B. von Hepp [22] an einem Kollektiv von 360 Kniegelenken für den Bereich von 25 bis 60° Beugung im Kniegelenk erstellt wurden. Neben einem Normalbereich und den eindeutigen Dystopien (Patella alta/ infera) bildete Hepp eine Zwischenzone, wobei insoweit auf die Originalarbeit verwiesen werden darf. Mit den von ihm angegebenen Methoden (Distanzmessung und Patella höhenwinkel) konnte Hepp in einem „Normalkollektiv“ von 360 Kniegelenken in 2,5 bzw. 2,8 % der Fälle einen Kniescheibenhochstand feststellen, während er bei einem Kollektiv von 200 Personen mit rezidivierenden Patellaluxationen Werte von 11,5 bis 26,5 % ermittelte. Nach Insall und Salvati [27] entspricht der Diagonaldurchmesser (Länge) der Kniescheibe der Länge der Kniescheibensehne (Ligamentum patellae). Der Quotient (Index) – Länge der Kniescheibe : Länge der Kniescheibensehne liegt – in geringer Abhängigkeit von der Beugung im Kniegelenk – normalerweise zwischen 0,8 und 1,04, wobei ab unter 0,75 von einer Patella alta und ab 1,15 von einer Patella infera gesprochen Abb. 34: Bestimmung der Kniescheiben höhe nach Hepp (1984) Abb. 35: Bestimmung des Kniescheiben höhenwinkels nach Janssen (1978), modifiziert nach Hepp 1984) MED SACH 110 5/2014 221 ORIGINALBEITRÄGE Abb. 36: Bestimmung der Kniescheibenhöhe nach Insall und Salvati (1971). AB = Diagonaldurchmesser (Länge) der Patella, BC = Länge der Patellasehne (Beugung von 30° im Kniegelenk) Abb. 37: Bestimmung der Kniescheiben höhe nach Trillat (1972). AB = Diagonaldurchmesser (Länge) der Kniescheibe, BC = kürzeste Verbindung zwischen Patellaspitze und Schienbeinkopf wird (Hepp 1984). Eine ausgeprägt lange Kniescheibenspitze kann einen Koeffizienten von 1,3, also eine Patella infera, ergeben, obwohl die Gelenkfläche auf richtiger Höhe steht. Wenn die Sehnenlänge die Patellalänge um 1 cm übertrifft, liegt ein Kniescheibenhochstand vor (Abb. 36). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Insall und Salvati in ihrer Publikation 1971 das umgekehrte Verhältnis, nämlich Länge der Knie scheibensehne : Länge der Patella zugrunde legten, was andere Werte zur Folge hatte. Warum die Autoren das Verhältnis im Jahre 1972 umkehrten, ist offen. Der Index, nach dem ermittelt wird, muss deshalb jeweils konkret benannt werden, um die Ergebnisse zu vergleichen. Trillat [50] bildet einen Index (Quotient) aus Diagonaldurchmesser der Kniescheibe und kürzester Verbindung zwischen Kniescheibenspitze und Schienbeinkopf (Abb. 37). Die Technik ist einfacher als bei Insall/Salvati. Allerdings ist auch die Form des vorderen Schienbeinkopfes variantenreich. Der Mittelwert liegt bei 0,5 – nach Vignes [51] bei 0,63. Blackburne und Peel [5] errechnen einen Index (Quotient a/b) aus der Distanz a, welche gebildet wird von der distalen Begrenzung der Patellagelenkfläche zur streckseitig verlängerten Schienbeinkopftangente und der Länge der Patellagelenkfläche b (Abb. 38). Caton, Dechamps et al. [10] nehmen den Index (Quotient) aus der kürzesten Verbindung vom distalen Begrenzungspunkt der Patellagelenkfläche zum Scheinbeinkopf (AT) und aus der Länge der Patellagelenkfläche (AP). Der Normbereich liegt zwischen 0,8 und 1,2. Ein Index größer als 1,2 signalisiert eine Patella alta, ein Index kleiner als 0,8 eine Patella baja (Abb. 39). Boon-Itt [7] errechnet die Patellahöhe aus mehreren Messstrecken zum Oberschenkelgelenkkörper und zum Schienbeinkopf, während Normann und Egund [42] aus einer Kombination von Insall/Salvati und Blackburne/Peel einen Höhenindex in Abhängigkeit von der Körperlänge bilden. Achsabweichungen der unteren Gliedmaßen im X- bzw. O-Sinn (Val- 222 Abb. 38: Bestimmung der Kniescheiben höhe nach Blackburne und Peel (1977). a = Distanz der distalen Begrenzung der Patellagelenkfläche zur streckseitig ver längerten Schienbeinkopftangente, b = Länge der Patellagelenkfläche Abb. 39: Bestimmung der Kniescheiben höhe nach Caton et al. (1982) AP = Länge der Patellagelenkfläche, AT = kürzeste Verbindung vom distalen Begrenzungspunkt der Patellagelenkfläche zum Schienbeinkopf MED SACH 110 5/2014 ORIGINALBEITRÄGE gus/Varus) lassen sich am sichersten auf der Beinganzaufnahme im Stehen (volle Streckung im Kniegelenk) ausmessen. Rotationsabweichungen („Drehfehler“) im Kniegelenksbereich können vermutet werden, wenn auf der Röntgen aufsichtsaufnahme die Schienbeinkopfbreite mit der Kondylenbreite nicht übereinstimmt und im seitlichen Strahlengang bei exakt seitlich eingestelltem Schienbeinkopf die Oberschenkelkondylen sich nicht weitestgehend übereinander projizieren. Gelegentlich gelingt es auf der axialen Aufnahme (30° Beugung im Kniegelenk, parallel stehende Füße) die in das Gleitlager projizierte Schienbeinrauigkeit zu erkennen. Dann kann der Abstand zwischen Schienbeinrauigkeit und tiefsten Punkt der Trochlea ausgemessen werden (Abb. 40). Am sichersten lassen sich die Achsenverhältnisse und Bezugspunkte (Schenkelhalsachse, Femoropatellargelenk, Schienbeinrauigkeit) computertomografisch bestimmen und unterein ander vergleichen [25]. Computertomo grafisch lassen sich exakt bestimmen ◾◾ die Fermurantetorsion, die Stellung der Oberschenkelhalsachse gegenüber der Oberschenkelgelenkkörperachse Abb. 40: Distanz zwischen Tuberositas tibiae (Tt) und dem tiefsten Punkt der Trochlea als Indiz für eine Rotationsabweichung im Kniegelenk (Femurkondylenachse) in der Transervalebene, ◾◾ die Femurtorsion, die Oberschenkelschaftverwindung, ◾◾ die distale Femurtorsion, wobei – begrifflich allerdings nicht sauber – gemeint ist die Rotation des Schienbeinkopfes gegenüber den Oberschenkelgelenkkörpern, ◾◾ die Tibiatorsion, die Schienbeinschaftverwindung und ◾◾ die Lage sowie die Stellung der Tuberositas tibiae (Schienbeinrauigkeit) Nach Lerat et al. [36], Jend et al. [30] und Gaudernak [25] finden sich keine Relationen zwischen der Femurantetorsion, der Femur- und Tibiatorsion sowie der Lage und Stellung der Tuberositas tibiae und der Manifestation von Patellaluxationen, während die Außenrotation des Unterschenkels im Kollektiv mit Patellaluxationen im Schnitt um 5,5° erhöht war (Lerat et al. und Jend et al.). Eine vermehrte Unterschenkel- (Schienbeinkopf-) außenrotation (Lateralpostion der Tuberositas tibiae) verstärkt die lateral wirkenden Zugkräfte (Patellalateralisationskraft) der äußeren Anteile der Quadrizepsmuskulatur (M. vastus lateralis) und des Ligamentum patellae. Kritisch ist anzumerken, dass alle Form-, Größen-, Winkel- und Höhenbestimmungen mit – teilweise sogar erheblichen – Unsicherheiten behaftet sind. Keine Methode überzeugt restlos. Man darf sich nicht auf eine einzelne Messmethode verlassen, sondern muss in den nicht eindeutigen Fällen eine Verifizierung durch mehrere Messverfahren anstreben. Hinzu kommt, dass die Begriffe Dysplasie und Dystopie zwar klar definiert sind, in der Literatur aber hinsichtlich ihrer klinischen Relevanz ganz unterschiedlich interpretiert und angewendet werden. Die Auslegung des Begriffes „Dysplasie“ geht insbesondere zum Kniescheibentyp auseinander, wobei etwa 15 bis 20 % der Fälle nicht in die oben angegebene Einteilung passen, sondern Zwischenformen sind. Ähnliches gilt für den Trochleatyp. Dennoch sind die Einteilungen für die Analyse eine unverzichtbare Orientierung. Zusammengefasst sind die Euplasien, der Kniescheiben- und Trochleatyp I, sehr selten (2 bis maximal 10 %). Der Kniescheibentyp III und der Trochleatyp II sind noch der Normalform zuzurechnen, wobei nach Hepp bei den Kniescheibentypen II bis III von einer medialen Hypoplasie gesprochen werden kann, während der Kniescheibentyp IV, die Sonderformen (Jägerhut, Kieselstein, Halbmond) und die Trochleatypen III bis V als Dysplasien zu bezeichnen sind – ebenso wie die Patella alta, infera, magna und parva sowie die Patella partita, wobei diese Wertung allein auf den knöchernen Formen beruht und die Knorpelstrukturen, die im Einzelfall Inkongruenzen ausgleichen, nicht erfasst. Dies gelänge aber mit Hilfe der Kernspintomografie (Knorpelsequenzen). Zur Begutachtung Für die gutachtliche Praxis wird – in aller Regel – erforderlich aber auch ausreichend sein, wenn Röntgennativaufnahmen – angefertigt im Liegen – im Seitenvergleich, soweit möglich in einem Strahlengang, in zwei Ebenen, in Aufsicht in Streckstellung mit nach vorne weisenden Füßen und seitlich in 30°, 50° oder 90° Beugung im Kniegelenk, wobei sich innerer und äußerer Oberschenkelgelenkkörper möglichst exakt übereinander projizieren sollen, und eine axiale (tangentiale) Aufnahme der Kniescheibe in 45° oder 60° Beugung vorliegen bzw. angefertigt werden, wobei für die axiale Aufnahme die Technik nach Merchant et al. (Rückenlage, 45° Beugung, Abb. 17.5) zu empfehlen ist. Eine standardisierte Technik ist zu Vergleichszwecken erforderlich. Auf jeden Fall muss die angewandte Technik angegeben werden, da die Messergebnisse unterschiedlich sind, ob in Bauchlage (Settegast) oder z. B. im Sitzen (Ficat und Bizou) geröntgt wurde (Abb. 17.1 und 1.7). Sog. DefileeAufnahmen in 30, 60 und 90° Beugung (Abb. 16) liefern zusätzliche Informationen zum Verlauf der Patella in ihrem Gleitlager. Korrekte axiale Aufnahmen erkennt man an der scharfen Kontur der medialen Gleitlagerbegrenzung. Die Abbildung 41 zeigt die Konturen des Nativröntgenbildes des Kniegelenkes im ap-Strahlengang (Aufsicht) bei Streckung im Kniegelenk und im seitlichen MED SACH 110 5/2014 223 ORIGINALBEITRÄGE Abb. 41: Röntgenanatomie des Kniegelenkes in Aufsicht (Streckung im Kniegelenk) P = Kniescheibe FIB = Wadenbeinkopf A = Grenzrinne (Einsattelung) am MF = innerer inneren Oberschenkelgelenkkörper Oberschenkelgelenkkörper B = Grenzrinne (Einsattelung) am LF = äußerer äußeren Oberschenkelgelenkkörper Oberschenkelgelenkkörper C = innerer (höherer) und äußerer MT = innerer Schienbeinkopf Kreuzbandhöcker LT = äußerer Schienbeinkopf D = inneres Schienbeinkopfplateau TIM = innerer Kreuzbandhöcker (konkav) TIL = äußerer Kreuzbandhöcker E = Übergang des äußeren Kreuzbeinund im seitlichen Strahhöckers in die Schienbeinrückseite lengang (90°Beugung im F = hintere Begrenzung des inneren Kniegelenk) Schienbeinkopfplateaus Fi = First der Fossa intercondylaris (Blumensaat´sche Linie) a = Zusätzlicher Kreuzbandhöcker (variabel) (nach H.-W. Stedtfeld, Nürnberg, und M. Strobel, Münster) Strahlengang bei 90° Beugung im Kniegelenk. Zu bestimmen sind ◾◾ Der Kniescheibentyp ◾◾ Der Trochleatyp ◾◾ Der Kniescheibenstand ◾◾ Die Kniescheibengröße (Diagonaldurchmesser) ◾◾ Die Kniescheibenteilung (Patella partita ) ◾◾ Die Beinachsen (Beurteilung klinisch im Stehen, Neutral-O-Stellung) Zum Kniescheibentyp hat sich die Einteilung nach Wiberg/Baumgartl bewährt – zuzüglich der „Sonderformen“. Zum Trochleatyp empfehlen sich die Einteilung nach Ficat/Hepp und als messtechnische Methoden der PatellaTiefen-Index, der Trochleaöffnungswinkel, der Kondylen-Gelenkflächen-Index und der Trochlea-Index. Zum Kniescheibenstand empfehlen sich die Messverfahren nach Blumensaat, nach Insall/Salvati, nach Trillat, nach Hepp sowie nach Ficat (Femoropatellarer Bogen). Der Index nach Insall/ Salvati lässt sich auch auf kernspintomografischen Aufnahmen gut bestimmen. Für die Kniescheibengröße empfiehlt sich die Messmethode nach Hepp. Für die Beinachsen ist in aller Regel die klinische Untersuchung ausreichend. Neben den statischen Faktoren (Knochen- und Gelenkgeometrie) sind für Stabilität und Mechanik (Roll-GleitBewegung) des Femoropatellargelenkes dynamische Faktoren mit ihren Winkelverhältnissen ausschlaggebend. Die Zugrichtung (Verlaufsrichtung) des Quadrizepsmuskels (vierköpfiger Schenkelstrecker) verläuft vom Hüftgelenk zur Schienbeinrauigkeit nicht gerade, sondern weist einen nach außen offenen 224 Abb. 42: Äußerer (Q) und innerer (Q1) Q-Winkel mit der Querkraft „K“ Winkel von 165 bis 170° bei Frauen und von 170° bis 172° bei Männern auf, den sog. (äußeren) Q-Winkel, dem ein innerer Q-Winkel von 10 bis 15° bzw. von 8° bis 10° entspricht (Abb. 42), wobei dieser Winkel nicht verwechselt werden darf mit dem Winkel zwischen Oberund Unterschenkel, der im Schnitt 173° beträgt (physiologischer Valgus von 5° bis 9°) – auch wenn einige Autoren diesen Valguswinkel auch als Q-Winkel bezeichnen. Wegen dieser abgewinkelten Zugrichtung bewirken der M. rectus femoris (gerader Schenkelmuskel) und der M. vastus intermedius (mittlerer Schenkelmuskel), die als Teile des Quadrizepsmuskels in Verlaufsrichtung des Oberschenkelschaftes zum Kniegelenk ziehen, eine Innendrehung (Innenrotation) des Schienbeins gegenüber dem Oberschenkel. Der Q-Winkel hat zur Folge, dass an der Kniescheibe eine nach außen gerichtete Kraft „K“ (Abb. 42) entsteht, deren Antagonist der M. vastus medialis (innerer Schenkelmuskel) ist, der insbesondere mit seinem querverlaufenden Anteil (M. vastus medialis obliquus) in einem Winkel von 50 bis 65° in den Streckapparat einstrahlt, während der M. vastus lateralis (äußerer Schenkelmuskel), der in einem Winkel von 30 bis 40° in den Streckapparat mündet, die Kniescheibe nach außen zieht. Die unterschiedliche Zugrichtung der einzelnen Quadrizepsanteile sorgt für eine Muskelkraftresultierende in Richtung des Ligamentum patellae. Da die Aktivierung des M. vastus medialis obliquus vor der Aktivierung des M. vastus lateralis erfolgt, MED SACH 110 5/2014 ORIGINALBEITRÄGE Abb. 43: Eine Achsabweichung im X-Sinn (Valgus) verkleinert den Q- Winkel. Die Querkraft „K“ nach außen wird größer Abb. 44: Die Außenrotation des Unterschenkels verkleinert den Q-Winkel. Die Querkraft nach außen wird größer ist dieser Muskel ein wesentlicher Faktor für die Patellaposition als Voraussetzung einer optimalen Kraftübertragung auf die Schienbeinrauigkeit. Eine Achsabweichung im O-Sinn (Varus) vergrößert den Q-Winkel, eine Achsabweichung im X-Sinn (Valgus) verkleinert den Q-Winkel, so dass die Querkraft K nach außen größer wird. Analog vergrößert eine Innendrehung des Unterschenkels, die physiologischer Weise bei 90° Beugung im Kniegelenk ca. 10° beträgt, den Q-Winkel und verkleinert die Querkraft K, während eine Außendrehung des Unterschenkels, die physiologischer Weise bei 90° Beugung im Kniegelenk ca. 40° beträgt, den Q-Winkel verkleinert und die Querkraft K vergrößert (Abb. 43 und 44). Der gleiche Effekt, eine Patellalateralisationskraft, tritt bei einem schwachen M. vastus medialis ein durch Überwiegen des M. vastus lateralis. Die Patella wandert in diesem Fall so weit nach lateral, bis die Resultierende der Muskelkraft wieder in Verlängerung des Ligamentum patellae verläuft. Die Außenrotation des Unterschenkels (Tuberositas tibiae) wirkt sich destabiliserend, die Innenrotation stabilisierend auf die Kniescheibe aus [25]. Nach Müller [40] verläuft die Kniescheibensehne bei Beugung im Kniegelenk und bei Neutralstellung des Unterschenkels gerade, so dass kein Q-Winkel mehr vorhanden ist. Die medialen und lateralen Muskelstränge (M. vastus medialis und lateralis) wirken zu gleichen Tei- len agonistisch und antagonistisch. In der Endphase der Streckung (20°) kommt es dann zu der durch die Kreuzbänder und die Form der Oberschenkelgelenkkörper bedingten automatischen Außenrotation des Unterschenkels (Schlussrotation) mit dem Q-Winkel. Der Oberschenkel dreht sich in der Endphase der Streckung nach innen, der Unterschenkel nach außen. Der Q-Winkel ist also abhängig von der individuellen Schlussrotation. Durch die Innendrehung des Oberschenkels in der Schlussphase der Streckung bietet die laterale Trochleakante ein zunehmend größeres Widerlager für die Kniescheibe. Müller vergleicht dieses Widerlager mit einer steilen Schlittenbahnwand, die erforderlich ist, wenn der Schlitten in der Kurve stark nach außen getrieben wird, trotzdem aber seine Bahn nicht verlassen soll. Der sog. Outerbridge-Wall erhält so seine funktionelle Bedeutung. Medial und lateral der Kniescheibensehne verlaufen längs der innere und äußere Reservestreckapparat, das Retinaculum patellae longitudinale mediale und das – meist etwas schwächere – Retinaculum patellae longitudinale laterale, welche medial und lateral der Schienbeinrauigkeit ansetzen. Das mediale Retinaculum (Halteband) wird vor allem von Fasern des M. vastus medialis gebildet, während das laterale Retinaculum aus Fasern des M. vastus lateralis, des M. rectus femoris und des Tractus iliotibialis gebildet und gesteuert wird. Quer in die Kniescheibe strahlen von medial (Odd-Facet) und lateral Haltebänder (Retinakula) ein, das mediale und laterale Ligamentum patellofemorale (MPFL) und patellotibiale. Diese transversal verlaufenden Bänder „führen“ sozusagen die Kniescheibe in ihrer Gleitbahn, sind aber allein keine genügenden Stabilisatoren, um eine pathologische Patellalateralisationskraft zu kompensieren. Eine Retinakulumschwäche oder eine Durchtrennung der Retinakula bedingen eine „Instabilität“ der Kniescheibe und eine vermehrte Rotationsfähigkeit des Unterschenkels [25]. Muskelschwächen, insbesondere des M. vastus medialis, Bindegewebskrankheiten (Kollagenosen) und eine anlage bedingte Laxität des Kapsel-Bandapparates mit z.B. einem Genu varum recur- MED SACH 110 5/2014 225 ORIGINALBEITRÄGE Abb. 45: Klinisches und nativröntgenologisches Bild eines Genu varum recurvatum infolge Laxität des Kapsel-Bandapparates vatum (Abb. 45), also mit einer Überstreckbarkeit im Kniegelenk und mit einer Achsabweichung im O-Sinn, wirken sich nicht nur auf das Kniehauptgelenk, sondern auch auf das Patello femoralgelenk aus. Diagnostisch sind insbesondere der Seitenvergleich und die Befunde an anderen Gelenken wegweisend. Für das Gleichgewicht im Kniescheiben-Oberschenkelgelenk sind zahlreiche Faktoren verantwortlich, die festgestellt und gutachtlich gewertet werden müssen, um in den einzelnen Rechtsgebieten zu einer sachgerechten Entscheidung zu kommen. Nomenklatur Die Patellaluxationen werden weder in der Literatur noch in der täglichen therapeutischen und gutachtlichen Praxis einheitlich bezeichnet. Bereits Brattström [8] wies auf die bestehende Sprach- und Begriffsverwirrung mit ihren Auswirkungen auf die Indikation und auf die Auswertung der Therapie hin [45]. Nicht weniger wichtig sind diese Auswirkungen bei gutachtlichen Fragestellungen. Voraussetzung für die Lösung eines Problems ist zunächst dessen klare und unverwechselbare begriffliche Kennzeichnung. Die Kommunikation zwi- schen ärztlichen Gutachtern und erst recht zwischen Gutachtern und nichtärztlichen Auftraggebern erfordert, dass Sinngehalt und Wortverständnis eines Begriffs klar definiert sind, so dass jeder darunter das Gleiche versteht. Bei der Patellaluxation geht es um die Unterscheidung von ◾◾ angeboren ◾◾ erworben ◾◾ permanent ◾◾ habituell ◾◾ rezidivierend wobei im Vorfeld darauf hinzuweisen ist, dass Distorsion (Verdrehung, Zerrung, Verstauchung) und Dislokation (Verschiebung) nicht synonym mit Luxation (Verrenkung) sind. Es ist das Verdienst von Rütt [45], eine begriffliche Standortbestimmung versucht zu haben. Unter einer permanenten Patellaluxation wird eine dauernd bestehende Verrenkung der Kniescheibe verstanden – unabhängig von der Funktionsstellung des Kniegelenkes. Die Kniescheibe liegt auf der Außenseite des Kniegelenkes und erreicht nie ihre normale Position. Die permanente Luxation ist entweder angeboren, also eine echte Missbildung, oder erworben, also Folge einer Grundkrankheit – z.B. einer Poliomyelitis (Kinderlähmung) oder einer schwersten Arthrose – bzw. ein Thera- 226 pieschaden oder ein Behandlungsfehler (z. B. nach Totalprothese). Unter einer habituellen Patellaluxation versteht man eine gewohnheitsmäßige, zum Habitus (Gestalt), also zum Bild des Betroffenen gehörende, Verrenkung, die bei jeder physiologischen (bestimmungsgemäßen) Bewegung im Kniegelenk auftritt. Die Kniescheibe verlässt ihre normale Position bei jeder Beugung im Kniegelenk – meist zwischen 20 und 30°, wobei sie bei zunehmender Beugung und Streckung jeweils wieder spontan reponiert. Die habituelle Luxation ist immer angeboren. Eine rezidivierende Patellaluxation ist eine wiederkehrend auftretende Verrenkung. Im Gegensatz zur habituellen Verrenkung wiederholt sich der Vorgang nicht ständig, sondern in unterschiedlicher Häufigkeit in Abhängigkeit von bestimmten Beanspruchungen/Belastungen. Es handelt sich um einen Folgezustand nach einer Erstverrenkung. Diese kann allein anlagebedingt (Disposition) oder Folge einer äußeren Krafteinwirkung (Unfall) sein. Die äußere Krafteinwirkung kann allein ursächlich sein oder im Zusammenwirken mit Schadensanlagen und/oder Vorschäden zur Luxation führen. Die Begriffe „habituell“ und „rezidivierend“ werden häufig nicht differenziert angewandt. Inhaltlich sind sie jedoch keinesfalls deckungsgleich, was gutachtlich beachtet werden muss. Die Kausalitätsprobleme reduzieren sich auf die erworbenen und rezidivierenden Schadensbilder. Permanente und habituelle Luxationen spielen hierbei keine Rolle. Schadensbild (Diagnose) Die richtige Diagnose ist Ausgangspunkt aller gutachtlichen Überlegungen. Sie ist von entscheidender Bedeutung, da im Bereich des Kniegelenkes zahlreiche Beschwerden und Funktionseinbußen mit dem Schadensbild einer (stattgehabten) Patellaluxation konkurrieren. Die Diagnose einer Kniescheibenverrenkung oder Kniescheibenteilverrenkung ist in einer Vielzahl von Fällen eine Verlegenheitsdiagnose. Werden von grundsätzlich für eine Kniescheibenverrenkung disponierten Jugendlichen Kniegelenkbeschwerden geklagt, die auf den ersten Blick MED SACH 110 5/2014 ORIGINALBEITRÄGE Abb. 46: Klinisches und nativröntgenologisches Bild einer gedeckten Kniescheibenverrenkung zur Außenseite. Nativröntgenbild nach der Reposition mit kleinem Abschlagfragment (Kreis) nicht zu erklären sind, wird oft unüberlegt die Diagnose einer Kniescheibenteilverrenkung gestellt. Die Möglichkeit eines Schadens reicht für die Begutachtung jedoch nicht aus. Die Diagnose muss in allen in Frage kommenden Rechtsgebieten (Sozialrecht, Verwaltungsrecht, Zivilrecht) im Vollbeweis gesichert sein. An der Patellaluxation als Erst-Gesundheitsschaden (GUV), als Erst-Körperschaden (Dienstunfallrecht), als gesundheitliche (Erst-) Schädigung (SER), als Erst-Gesundheitsschädigung (PUV) und als erster Verletzungserfolg (Haftpflichtrecht) darf kein vernünftiger Zweifel verbleiben. Ebenso wenig wie im Sport der Verdacht eines Regelverstoßes zur Disqualifikation ausreicht, ist dies in der Begutachtung die Verdachtsdiagnose des Therapeuten. Die Diagnose wird gesichert aufgrund ◾◾ der klinischen Befunde ◾◾ der bildtechnischen Befunde (Sonographie, Nativröntgen, CT, MRT) ◾◾ der intraoperativen Befunde Nur in den seltensten Fällen gelingt die Diagnose klinisch bzw. nativröntgenologisch (Abb. 46), da es meist zur Spon tanreposition bzw. aufgrund der reflektorischen Streckung im Kniegelenk zur Reposition der Kniescheibe kommt. Die Luxation erfolgt praktisch immer gedeckt und zur Außenseite. Ursächlich sind indirekte Krafteinwirkungen. Direkte Krafteinwirkungen als extrem seltene Ausnahme müssen punktuell am inneren oder äußeren Kniescheibenrand ansetzen und führen dann dort zu typischen Verletzungszeichen (Prellmarke, Bluterguss, Platzwunde). Neben der schmerzbedingten Funktionseinbuße (Functio laesa) sind die Konturen an der Streckseite des Kniegelenkes verstrichen und die Weichteile geschwollen sowie ggf. blutunterlaufen, vor allem medial der Kniescheibe. Meist bestehen ein blutiger Gelenkerguss bzw. blutige Benetzungen (Imbibierungen) an der Streck-Innenseite. Bildtechnisch steht die Kniescheibe leicht lateralisiert und abgehoben (Gelenkerguss). Häufig sind Kontusionsmarken – im MRT Knochenödeme (bone bruise) – bzw. knorpelige/knorpelknöcherne Abschlagfragmente (Flakes) an der Vorder-Außenseite des lateralen Oberschenkelgelenkkörpers und/oder an der medialen Kniescheibenfacette. Das medi- ale Retinakulum ist in seinem Zusammenhang getrennt bzw. vom medialen Kniescheibenrand abgeschert. Begleitverletzungen – Folge des luxationsbedingen Versagens des Kniegelenkes mit dadurch bedingtem Sturz (the knee gives way) – sind mit 5 bis 15 % [29] sehr selten und betreffen den Innenmeniskus, das vordere Kreuzband und das innere Knieseitenband, wobei das luxationsbedingte „Nachgeben“ des Reservestreckapparates die Weiterleitung der Kraft auf das innere Knieseitenband minimiert. Eine erstmalige Patellaluxation lässt sich direkt oder indirekt anhand des Schadensbildes bei zielgerichteter Diagnostik in der Frühphase praktisch immer sichern. Schwierig ist die Diagnose der Subluxation, bei der der gleiche Mechanismus erforderlich ist wie zu einer kompletten Luxation, wobei Kraftgröße und deren Einwirkdauer aber nicht ausreichen für eine komplette Verrenkung. Luxationsmechanismus Über den Ablauf der indirekten Krafteinwirkung (Mechanismus), der zur Kniescheibenverrenkung führt, bestehen zur Valgus- und Extensionskomponente einheitliche Vorstellungen, während die Rotationskomponente etwas unterschiedlich gesehen wird. Nach Gaudernak [25] entspricht aufgrund von 83 untersuchten Fällen und aufgrund vektorieller Analysen die Verrenkung einem ◾◾ Valgus-Extensions-Außenrotationsmechanismus (Abb. 47). Abb. 47: Der „typische“ Valgus-Extensions-Außenrotations- Mechanismus bei der Kniescheibenverrenkung MED SACH 110 5/2014 227 ORIGINALBEITRÄGE Bei leichter Beugestellung (ca. 30°) im Kniegelenk und leichter Außendrehung des Unterschenkels bzw. Innendrehung des Oberschenkels wird bei voll belasteten Bein durch maximale Anspannung der Streckmuskulatur (Quadrizepsmuskel) die Kniescheibe aus ihrem Lager nach außen verrenkt, wobei der Oberkörper über dem betroffenen Bein nach außen gedreht ist. Nach den Untersuchungen von Gaudernak [25] kommt es während des Luxationsvorganges zu den Knorpel-/Knochen-Abschlagfragmenten an der medialen Patellafacette (am sog. sekundären First und/oder an der Odd-Facet) bzw. an der Kante des äußeren Oberschenkelgelenkkörpers und nicht durch die Reposition, wie dies von Müller [40] beschrieben ist. Den gleichen Mechanismus unterstellen Hughston [26] und Janssen [28], wenn sie von einem ◾◾ Valgus-Flexions-Innenrotations trauma sprechen, wobei sie die Flexion auf die Ausgangsstellung und die Innenrotation auf den Oberschenkel beziehen. Der von Müller [40] diskutierte Valgus-Extensions-Innenrotationsmechanismus findet kein Korrelat in der weiterführenden Literatur. In der gutachtlichen Praxis sind diese diffizilen Überlegungen nur selten umsetzbar. Die Kausalitätskriterien müssen vielmehr praktikabel sein. Voraussetzung für eine luxierende Gefährdung der Kniescheibe sind eine überraschende kräftige rotatorische Gegenbewegung zwischen Ober- und Unterschenkel im Kniegelenk mit erheblichen Zugkräften (Quadrizeps), eine Verkleinerung des äußeren Q-Winkels und eine entsprechende lateralisierende Querkraft K. Zur Kausalität Feinheiten, wie sie für operative Rekonstruktionen relevant sind, interessieren den Gutachter in aller Regel weniger als die Funktion, wenn diese nicht aus der Anatomie zwingend abzuleiten ist. Die Anatomie im Licht bzw. im Dickicht der Begutachtung hat besondere Schwerpunkte. Die Kenntnis der strukturellen Voraussetzungen für die Funktion ist aber unabdingbares Handwerkszeug des Gutachters. Das Kniescheiben-Oberschenkelgelenk ist ein „Gleitgelenk“. Dennoch ist die Kniescheibe keine „Magnetschwebebahn“, die reibungslos und gut „fixiert“ auf ihrer Schiene dahin gleitet. Dieser Vergleich ist zu kurz gegriffen. Die Kniescheibe hat die Aufgabe, als eine Art Abstandhalter die Funktion der Streckmuskulatur mit Umlenkung der Zugkraft vom Oberschenkel auf den Unterschenkel zu gewährleisten. Kein anderer Knochen des menschlichen Organismus ist so wenig im Skelettsystem fixiert wie die Kniescheibe. Formvarianten sind zahlreich. Die Feststellung von Formvarianten berechtigt jedoch nicht von vornherein dazu, von einer geringeren Belastbarkeit des Gelenkes auszugehen. Dies steht in Übereinstimmung mit gesicherter ärztlicher Erfahrung. Trotz der nur geringen skelettalen Fixierung ist das Kniescheiben-Oberschenkelgelenk bei regelrechter Anatomie ein stabiles Gelenk, das bei den meisten Menschen auch in Extremsituationen nicht luxiert. Untermauert wird diese gesicherte ärztliche Erfahrung durch die Tatsache, dass eine Patellaluxation weder eine typische Begleitverletzung bei komplexen Kapsel-Bandverletzungen des Kniegelenkes ist noch bei Verrenkungen des Kniehauptgelenkes, noch bei Kniescheibenbrüchen, valgisierenden Schienbeinkopfbrüchen und/ oder bei kniegelenknahen Oberschenkelbrüchen auftritt. Auch eine deutliche Atrophie des M. vastus medialis – z. B. nach Verletzung des vorderen Kreuzbandes – bedingt keine nachfolgende Kniescheibenverrenkung. Das Kniegelenk als funktionelle Einheit muss also Gegenstand der Betrachtung sein. Erst wenn Anatomie und Funktion gestört sind, kann von Schadensanlagen gesprochen werden. Ohne eine konstitutionelle Disposition ist eine traumatische Kniescheibenverrenkung, auch wenn sie noch so schwierig nachweisbar ist, unwahrscheinlich. Die wichtigsten dispositionellen Faktoren, die eine Luxationsbereitschft der Kniescheibe erhöhen sind: ◾◾ Patelladysplasien ◾◾ Patelladystopien ◾◾ Trochleadysplasien ◾◾ Genu valgum ◾◾ Genu recurvatum 228 ◾◾ Q-Winkel > 15° ◾◾ Verstärkte Unterschenkel- (Schienbeinkopf-) außenrotation ◾◾ Muskelschwächen – insbesondere M. vastus medialis ◾◾ Bandlaxitäten ◾◾ Kollagenosen Es handelt sich insgesamt um Veränderungen, die dazu führen, dass die Führung und Fixierung der Kniescheibe in ihrem Gleitlager an Stabilität verliert. Die Grenze, wann dispositionelle Faktoren so gravierend sind, dass sie die Luxation allein, überwiegend (wesentlich) oder nur partiell mit verursachen, ist fließend. Die Feststellung von dispositionellen Faktoren ist kein Freibrief zur Ablehnung der Kausalität. Die Disposition schließt eine Unfalleinwirkung (rechtlich wesentlich/partiell) weder in der gesetzlichen/privaten Unfallversicherung, im sozialen Entschädigungsrecht noch gar im Haftpflichtrecht aus. Das Vorliegen einer Disposition verpflichtet den ärztlichen Gutachter aber zu einer besonders kritischen Prüfung, ob die zur Diskussion stehende Einwirkung ursächlich für die Kniescheibenverrenkung war. Bis zur Öffnung der gesetzlichen Unfallversicherung für Kinder, Schüler und Studenten am 01.04.1971 spielten Kausalitätsprobleme zur Patellaluxation kaum eine Rolle. Zwischenzeitlich besteht eine riesige Erfahrung mit gedeckten Kniescheibenverrenkungen, die nach Paar et al. [43] in 9,2 % aller Knieverletzungen bei Jugendlichen diagnostiziert werden, da sie sich typischerweise im Zusammenhang mit dem zweiten Wachstumsschub im Rahmen des Schulsports oder des Freizeitsports manifestieren, also im Alter zwischen 12 und 18 Jahren. Nach dem 18. Lebensjahr ist das Schadensbild äußerst selten. Häufig sind die Ursachen/Mitursachen Formvarianten des Gelenkes. Die erstmalige Schadensmanifestation im Jugendalter wird durch ein Missverhältnis zwischen einem vermehrten Längenwachstum mit den langen Hebelarmen des Ober- und Unterschenkels und einer unzureichend ausgeprägten Muskulatur bestimmt, wie dies bei hoch aufgeschossenen Jugendlichen vermehrt zu beobachten ist [25, 37]. Dies erklärt auch die bis dahin leere Vorgeschichte, also die volle Funktion des Gelenkes vor der erstmaligen Luxation. MED SACH 110 5/2014 ORIGINALBEITRÄGE Ist die Diagnose gesichert, stellt sich die Zusammenhangsfrage, wobei maßgebliche Kriterien bereits angesprochen wurden. Die Kausalitätsbegutachtung setzt sich aus einem medizinisch-naturwissenschaftlichen Teil – der conditio sine qua non – und einem juristisch-wertenden Teil zusammen. Die conditio sine qua non ist die Domäne des ärztlichen Gutachters. Prüfungskriterien der conditio sine qua non sind: 1. Ein Verletzungsmechanismus mit Beteiligung der Kniescheibe 2. Die enge zeitliche Verbindung, also der sofortige Funktionsverlust 3. Das verletzungsspezifische Schadensbild Nicht aufgeführt sind die Dispositionen, die Schadensanlagen, als Kausalitätskriterium. Die Benennung von Alternativursachen (konkurrierende Ursachen), also das Schadensbild erklärende Schadensanlagen, ist grundsätzlich nicht Teil dieses ersten Prüfungsschritts [13]. Wenn ein Ursachenbeitrag des zur Diskussion stehenden Geschehensablaufes nicht gesichert werden kann, erübrigt sich die Frage, ob andere Ursachen das Schadensbild erklären. Es ist also systematisch falsch, mit der Feststellung evtl. vorliegender Schadensanlagen zu beginnen. Die drei genannten Kriterien ◾◾ Gefährdung ◾◾ Enge zeitliche Verbindung ◾◾ Verletzungsspezifisches Schadensbild sind von unterschiedlicher Wichtigkeit. Das schwächste Glied ist die Gefährdung – einmal, weil nicht jede Gefährdung zu einem Schaden (Verletzung) führt, und zum anderen, weil der Mechanismus in Sekunden bzw. in Sekundenbruchteilen abläuft und – realistischerweise – nur selten exakt nachgestellt bzw. ermittelt werden kann. Für die Beantwortung der Zusammenhangsfrage steht somit meist nur die Ausleuchtung der zeitlichen Verbindung und des objektiv gesicher ten Schadensbildes zur Verfügung. Letzteres scheitert nicht selten an einer ungenügenden Befunderhebung in der Frühphase nach dem Ereignis, bei spontaner Rezentrierung der Kniescheibe auch einfach daran, dass an die Möglichkeit einer stattgehabten Kniescheibenluxation nicht gedacht wird und damit zielgerich- tete Untersuchungen unterbleiben. Nach einer Subluxation wie auch einer spontanen Rezentrierung nach einer Luxation besteht meist auch kein relevanter Funktionsverlust, was die gutachtliche Prüfung ungemein erschwert. Bestand jedoch ein eindrucksvoller Funktionsverlust in unmittelbarer zeitlicher Verbindung mit dem als ursächlich zu diskutierenden Geschehensablauf und wurde das verletzungsspezifische Schadensbild objektiv belegt, sind dies in aller Regel die wegweisenden Kriterien für die Beantwortung der Zusammenhangsfrage. Sie reichen aber allein nicht aus, um eine verletzungsbedingte Verursachung einer Kniescheibenverrenkung zu unterstellen. Auch allein anlagebedingte Veränderungen manifestieren sich zu irgendeinem Zeitpunkt erstmals – im Kniescheiben-Oberschenkelgelenk bevorzugt während des zweiten Wachstumsschubs. Das Schadensbild nach einer Kniescheibenverrenkung ist also nicht ausreichend, da bei erstmals auftretenden Kniescheibenverrenkungen – seien sie unfallbedingt oder aus innerer Ursache eingetreten – ein weitgehend identisches Befundbild zu erwarten ist. Die Begleitverletzungen sind zwangsläufige Folge der Luxation bzw. der Reposition (Einrenkung). Rückschlüsse auf die eingewirkten Kräfte und damit auf einen äußeren Ursachenbeitrag sind allein daraus mit größter Vorsicht zu ziehen. Eine Abscherfraktur am äußeren Femurcondylus oder am Kniescheibenfirst, auch eine begleitend entstandene vordere Kreuzbandruptur deuten lediglich darauf hin, dass die Gelenkanatomie Widerstand gegen den Luxationseintritt geleistet hat. Fehlschlüsse aufgrund des Schadensbildes sind insofern eine häufige Fehlerquelle in ärztlichen Gutachten zur Zusammenhangsfrage bei der Kniescheibenverrenkung [38]. Die entscheidende Bedeutung kommt eigentlich der Analyse der mechanischen Einwirkung zu, was jedoch fast regelhaft scheitert an ungenauen, nicht selten widersprüchlichen Hergangsschilderungen, die bei einem langwierigen Prüfungsverfahren mit gerichtlicher Auseinandersetzung weitere Veränderungen erfahren, dann auch geprägt sind von wohlmeinenden, z. B. anwaltlichen Ratschlägen, was dem Gutachter mitzuteilen ist. Dennoch ist in der Regel eine Einwirkung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne zu bejahen, sei es auch nur im Sinne eines Anlassgeschehens, das vergleichbar ist mit dem letzten Tropfen, der z. B. im Sozialversicherungsrecht nicht rechtlich wesentlich ist, aber gewissermaßen das Fass zum Überlaufen brachte, also „Anlass“ gab, dass die Kniescheibe aus ihrem Gleitlager herausschlüpfen konnte. Gesetzliche Unfallversicherung (GUV) – Theorie der wesentlichen Bedingung (Sozialrecht) Im Gegensatz zum Haftpflichtrecht und zur privaten Unfallversicherung (s. u) erhöht die gesetzliche Unfallversicherung die Kausalitätshürde. Ursächlich ist über die Kausalität im medizinischnaturwissenschaftlichen Sinn hinaus – juristisch-wertend – nur die für den Gesundheitsschaden wesentliche (Teil-) Ursache. Wesentlich ist eine Ursache aus dem versicherten (geschützten) Bereich, wenn sie auf die stabile Führung der Kniescheibe in ihrem Gleitlager bestimmungswidrig, also unphysiologisch, einwirkt. Abgesehen von der extrem seltenen direkten Krafteinwirkung entsteht eine unfallbedingte Kniescheibenverrenkung durch eine indirekte Einwirkung im Sinne eines komplexen Zusammenspieles von Hebel- und Torsionsmechanismen in Verbindung mit einem dann fehl gelenkten Muskelzug des Streckapparates. Ob derartiges im Spiele war, lässt sich mangels verlässlicher Hergangsschilderung häufig nur vermuten, aber nicht sicher belegen. In der gutachtlichen Praxis sind solche Überlegungen damit selten zum Ziel führend. Die Kausalitätskriterien müssen aber in der alltäglichen Begutachtung praktikabel sein. Unabdingbare Voraussetzung für einen entsprechenden Ablauf ist eine überraschende, kräftige Gegenbewegung zwischen Ober- und Unterschenkel mit dem Kniegelenk als Schnittpunkt der gegenläufigen Kräfte. Die einwirkenden Zugkräfte (Quadrizepsmuskel) müssen erheblich sein. Diese Bedingung erfüllt ein Hochkommen aus der Hocke oder ein Ansto- MED SACH 110 5/2014 229 ORIGINALBEITRÄGE ßen des Kniegelenks im Schulbus oder beim Rempeln nicht. Solche Vorgänge werden aber nicht selten als Ursachen angegeben. Zweifellos besteht aber eine zeitliche Verbindung, in dessen Folge sich die zuvor stumme anlagebedingte Verrenkungsneigung erstmalig manifestieren konnte. Eine Prellung des Kniegelenkes beim Sturz ist ebenfalls kein Mechanismus, der mit dem Risiko einer Kniescheibenverrenkung verbunden ist. Diese Feststellung ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil – infolge des natürlichen Kausalitätsbedürfnisses des Menschen – der durch die Kniescheibenverrenkung erst herbeigeführte Sturz fälschlich als deren Ursache benannt wird. Der Betroffene selbst erlebt insofern die erstmals eingetretene Kniescheibenverrenkung als Unfall, als ein von außen auf den Körper treffendes Ereignis. Tatsächlich ist der Ablauf jedoch umgekehrt: Durch den mit der Kniescheibenverrenkung verbundenen Verlust der aktiven Stabilisierung des Kniegelenkes über den Streckapparat verliert der Betroffene die Tragfähigkeit des Beines und stürzt haltlos hin. In Erinnerung bleibt nur der Sturz. In vielen Fällen konkurrieren mit der tatsächlichen oder vermeintlichen Einwirkung (Ursachenbeitrag der versicherten Tätigkeit) die bis zum Erstereignis regelhaft unbekannt gebliebenen Schadensanlagen. Die Abgrenzung der Ursachen aus dem versicherten und nicht versicherten Bereich ist deshalb erschwert, weil der Zeitpunkt der Manifestation und das Schadensbild eine Unterscheidung nicht zulassen und der Schadensmechanismus nur graduelle Unterschiede aufweist. Auch allein anlagebedingte Veränderungen führen in aller Regel dann erstmals zu Funktionsausfällen, wenn die minderbelastbaren Strukturen – bestimmungsgemäß, im physiologischen Bereich – kraftvoll belastet werden. Nicht selten kommt es beim Schulsport zur erstmaligen Verrenkung der Kniescheibe. Kraftvolle Tätigkeiten sind aber nicht gleichzusetzen mit unphysiologischen und dann „unfallbedingten“ Belastungen. Die Dysfunktion körpereigener Strukturen, die fehlende Abstimmung zwischen koordinierter und kontrollierter muskulärer Belastung des Kniegelenkes und Belastung des Knie- scheiben-Oberschenkelgelenkes, ist kein Unfall. Die Problematik darf an zwei Fallbeispielen erläutert werden: Fall 1 Die 188 cm große Versicherte knickte während des Sportunterrichts beim Spagatsprung „mit dem linken Knie“ um. Entsprechend der Angabe der Versicherten wurde der Sachverhalt vom Versicherungsträger vorgegeben. Es kam zur erstmaligen gedeckten Kniescheibenverrenkung zur Außenseite. Röntgenologisch fanden sich eine Kniescheibenform Wiberg III und ein Kniescheibenhochstand entsprechend einem Quotienten nach Insall und Salvati [27] von 0,40. Weitere Auffälligkeiten fanden sich weder im Kniescheiben-Oberschenkelgelenk noch im Kniehauptgelenk. Achsabweichungen der unteren Gliedmaßen lagen nicht vor. Fall 2 Der 184 cm große Versicherte erlitt während versicherter Tätigkeit eine gedeckte Kniescheibenverrenkung rechts nach lateral mit einer Knorpel-Knochenabsprengung an der medialen Kniescheibengelenkfläche. Röntgenologisch fanden sich eine Kniescheibenform Wiberg II/III und ein Kniescheibenhochstand entsprechend einem Quotienten nach Insall und Salvati [27] von 0,44. Weitere Auffälligkeiten bestanden im Bereich der unteren Gliedmaßen nicht. Die Hergang wurde vom Versicherten wie folgt geschildert: „Ich stand vor meinem Spind, um diesen zu öffnen. Dabei machte ich eine seitliche Drehung mit dem rechten Knie. Plötzlich verspürte ich einen Schmerz in diesem Kniegelenk und stellte fest, dass die Kniescheibe zur Seite herausgesprungen war.“ Entsprechend dieser Schilderung wurde der Sachverhalt vom gesetzlichen Unfallversicherungsträger für die Zusammenhangsbegutachtung vorgegeben. In beiden Fällen kommt es allein darauf an, welches Gewicht dem Geschehensablauf im Verhältnis zur Schadensanlage zuzumessen ist. Die tatsächlichen Voraussetzungen der Begutachtung sind in beiden Fällen günstig, da der Hergang feststeht und die Dystopie der Kniescheibe auf Grund des jugendlichen Alters der Versicherten noch keine Beschwerden verursacht hatte und keine Folgeschäden (z. B. Arthrose) bestanden. Im Fall 1 steht ein Bewegungsablauf zur Diskussion, der einer Gegenbewe- 230 gung zwischen Ober- und Unterschenkel mit dem Schnittpunkt Kniegelenk erkennen lässt. Darüber hinaus wirken beim Spagat deutliche Zugkräfte (Quadrizeps) auf die unteren Gliedmaßen, die durch die Körpergröße der Versicherten verstärkt werden. Beim Aufkommen mit dem Fuß kommt erfahrungsgemäß noch eine valgische Kniebelastung hinzu. Es liegt also ein Bewegungsablauf vor, der auch ohne Schadensanlagen eine Kniescheibenverrenkung verursachen kann. Der Spagatsprung wäre also als wesentliche Teilursache zu werten, während beim Fall 2 ein annähernd gefährdender Ablauf fehlt, so dass eine sog. Gelegenheitsursache vorliegt. Meist ist es nicht möglich, mit Sicherheit eine Aussage darüber zu treffen, ob der Hergang im Rahmen der versicherten Tätigkeit tatsächlich die Kniescheibenverrenkung wesentlich mit verursacht hat, oder ob die Verrenkung nur gelegentlich, z. B. bei der Turnübung (Spagat), entstanden ist. Dann muss man allerdings plausibel begründen können, dass die Luxation mit genügender Wahrscheinlichkeit nur unwesentlich später bei einer anderen alltäglichen („austauschbaren“) Verrichtung auch entstanden wäre. Es gelten die Beweisregeln des Sozialrechts, die eine Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhanges verlangen. Derjenige, der Ansprüche aus einer versicherten Tätigkeit herleitet, hat nur dann Erfolg, wenn der Zusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und Schaden wahrscheinlich ist. Es reicht nicht aus, dass dieser Zusammenhang möglich ist. Dienstunfallrecht (Verwaltungsrecht) Der Dienstunfall des Beamten ist in § 31 Beamtenversorgungsgesetz kodifiziert. Der dem Bediensteten gewährte Schutz geht jedoch insofern über die gesetzliche Unfallversicherung hinaus, als nicht nur der „Körperschaden“ versichert ist, der „infolge“ des Dienstes eingetreten ist, sondern auch der Körperschaden, der „in Ausübung“ des Dienstes eingetreten ist. Diese Unterscheidung ist aber für den ärztlichen Sachverständigen unerheblich. Für ihn darf voll inhaltlich auf die Kausalitätslehre der gesetzlichen Unfallversicherung verwiesen werden, wobei MED SACH 110 5/2014 ORIGINALBEITRÄGE zwar die Wesentlichkeit der dienstlichen Tätigkeit für den Körperschaden im Vollbeweis (Strengbeweis) zu beweisen ist (z. B. VG Braunschweig vom 01.02.2007 – 7 A 33/06), während in der gesetzlichen Unfallversicherung die Wahrscheinlichkeit ausreichend ist. Alle offenen Fragen gehen also zu Lasten des Bediensteten. Dies gilt insbesondere für die Abwägung der Kausalität von Schadensanlagen und versicherter Tätigkeit für die Kniescheibenverrenkung. In der Praxis spielt dieser Unterschied jedoch kaum eine Rolle, da das Dienstunfallrecht ausschließlich Erwachsene betrifft, Kniescheibenverrenkungen im Erwachsenenalter aber sehr selten sind und – wenn sie dann erstmalig auftreten – viel für einen wesentlichen Ursachenbeitrag aus dem dienstlichen Bereich spricht. Private Unfallversicherung (PUV) – Partialkausalität (Zivilrecht) Im Gegensatz zur gesetzlichen Unfallversicherung (GUV), in der der Unfallbegriff über die im Sozialgesetzbuch (SGB) VII in § 8 vorhandene Legaldefinition hinaus geht und von der Rechtsprechung – wie bereits vor Kodifikation des SGB VII – entwickelt und weiterentwickelt wird, ist der Unfallbegriff in der privaten Unfallversicherung (PUV) in den Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) bindend vereinbart. Ziffer 1.3 der AUB 99/2008 lautet: „Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet“. Die klare Vorgabe des Unfallbegriffs führt in der PUV bei Kniescheibenverrenkungen zu keinen Kausalitätsproblemen. Dies gilt auch für die Deckungserweiterung „Erhöhte Kraftanstrengung“, die in Ziffer 1.4 der AUB 99/2008 geregelt ist: „Als Unfall gilt auch, wenn durch eine erhöhte Kraftanstrengung an Gliedmaßen oder Wirbelsäule ein Gelenk verrenkt wird oder Muskeln, Sehnen, Bänder oder Kapsel gezerrt oder zerrissen werden“. Was unter „Erhöhter Kraftanstrengung“ zu verstehen ist, ist zwar nicht weiter definiert. Es handelt sich insoweit um eine rein versicherungsrechtliche Frage, wobei jedoch die Versicherer dies z. B. für alle Sportarten, die im Deutschen Sportbund vertreten sind, unbesehen unterstellen. Die PUV als ursprünglich lupenreine Unfallversicherung versichert nur Unfallfolgen. Haben Krankheiten oder Gebrechen bei der durch ein Unfallereignis verursachten Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt, mindert sich die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens, sofern dieser Anteil mindestens 25 % beträgt (Ziffer 3 AUB 99/2008/2014, Musterbedingungen). Diese sog. Partialkausalität ist bei der Kniescheibenverrenkung in der PUV zu berücksichtigen. Dysplasien, Dystopien und Achsabweichungen, wie sie oben darstellt wurden, stellen Krankheiten bzw. Gebrechen im Sinne der PUV dar. Je nach deren Ausprägung ist die Mitwirkung in Bezug auf die Erst-Gesundheitsschädigung zu bemessen, wobei nur wenige grobe Vorgaben sinnvoll sind. In der Praxis haben sich geringe Mitwirkungsgrade von 25 bis 30 %, mittelgradige von 50 % und hochgradige von 75 bis 90 % bewährt. Haftpflichtrecht (Zivilrecht) Das Haftpflichtrecht folgt – wie die private Unfallversicherung – der Kausalitätstheorie der Adäquanz. Hiernach ist nur die conditio sine qua non Ursache im Rechtssinn, die dem Schaden adäquat ist, wenn sie also erfahrungsgemäß allgemein und nicht nur unter besonders eigenartigen Umständen geeignet ist, einen Schaden, wie den eingetretenen, herbeizuführen. Die Rechtsprechung hat jedoch ergänzend in der Praxis die „Zurechnungslehre“ im Sinne einer Schutzfunktion für die Fälle eingeführt, die mit der Adäquanztheorie allein nicht befriedigend zu lösen sind. Ein Schüler rempelt einen anderen 14-jährigen, 180 cm großen Schüler. Dieser fällt hin. Seine rechte Kniescheibe ist verrenkt. Vorbestehend waren eine Bandlaxität und eine Kniescheibendysplasie sowie wiederholte Verrenkungen der rechten Kniescheibe. Ein „Übeltäter muss sein Opfer so nehmen, wie es ist“. Der Schüler, der meint, einen anderen rempeln zu müssen, kann also nicht erwarten, dass dieser völlig „gesund“ ist und diese Rempelei ohne ernsthaften Verletzungserfolg toleriert. Ein Rempeln ist für den Rempelnden kein Unglücksfall, sondern Absicht. Er muss für den gesamten Schaden einstehen, wobei dieser adäquat sein muss. Dagegen bestehen im Beispielsfall ärztlich-gutachtlich allerdings insoweit Bedenken, weil es auch schon zuvor zu wiederholten Verrenkungen der Kniescheibe aus nichtigem Anlass gekommen war. Entscheidend sind die Umstände des Sturzes, das Ausmaß der Bandlaxität und der Kniescheibendysplasie. Nur dann, wenn die Einwirkung ganz unwahrscheinlich an der Rezidivluxation mitwirkend war, käme eine Haftungsfreistellung in Betracht. Die Beweislast hierfür liegt beim Schädiger. Soziales Entschädigungsrecht (SER) und Schwerbehindertenrecht (Sozialrecht) Im SER, dessen Leitgesetz das Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 20. Dezember 1950 ist und das Anwendung auf alle weiteren Nebengesetze des SER (z.B: Häftlingshilfegesetz, Zivildienstgesetz, Opferentschädigungsgesetz) findet, gilt die gleiche Kausalitätstheorie wie in der GUV, die Theorie der wesentlichen Bedingung, so dass insoweit vollinhaltlich auf die Ausführungen zur gesetzlichen Unfallversicherung verwiesen werden kann. Im Schwerbehindertenrecht spielen Kausalitätsfragen keine Rolle. Hier reicht die Sicherung des Schadensbildes aus. Maßgeblich für die Einschätzung des GdS (Grad der Schädigungsfolgen) im SER und für den GdB (Grad der Behinderung) im Schwerbehindertenrecht sind seit dem 01.01.2009 die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“, die in verrechtlichter Form die bis dahin gültigen „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (GdB-/MdE-Tabelle) abgelöst haben. Unter der Ziffer B 18.14 (Schäden der unteren Gliedmaßen) findet sich in den „Versorgungsmedizinischen Grund- MED SACH 110 5/2014 231 ORIGINALBEITRÄGE sätzen“ lediglich die Habituelle Kniescheibenverrenkung, die bei „seltener Ausrenkung“ – in Abständen von einem Jahr und mehr – einen GdS von „0–10 und bei „häufigen Ausrenkungen“ einen GdS von 20 bedingen. Gemeint ist jedoch nicht die „habituelle“, sondern die „rezidivierende“ Verrenkung. Insoweit wäre eine Überarbeitung (Richtigstellung) angezeigt, wobei selbstverständlich die „Habituelle Kniescheibenverrenkung“ als eigenständiges Prüfschema: Kausalität Patellaluxation Schadensbild mit aufgenommen werden müsste. Als Hilfestellung für den ärztlichen Gutachter darf auf das hier am Schluss beigefügte „Prüfschema“ verwiesen werden. Nicht sicher aufklärbar Unfallkausalität zweifelhaft, sobald hier ☑ einzutragen ist EINGANGSEBENE = Frage nach „conditio sine qua non“ ■ Wurde das Kniegelenk „irgendwie“ von der Einwirkung/Belastung erreicht ? ja ☐ ☐ ☐ nein ■ Äußere Krafteinwirkung/erhebliche Belastung erkennbar ? ja ☐ ☐ ☐ nein ■ Wurde durch den Vorgang gelenkmechanisch der zentrierte Patellalauf gefährdet ? ja ☐ ☐ ☐ nein Alternativ: ■ Bestehen dispositionell begünstigende anatomische Faktoren? nein ☐ ☐ ☐ ja ■ Besteht eine belastete Altanamnese zumindest mit rezidivierenden „chondropathischen“ Beschwerden ? nein ☐ ☐ ☐ ja ■ Stehen „Rezidivereignisse“ zur Diskussion? ja ☐ ☐ ☐ nein REALISIERUNGSEBENE: ■ Hat sofort eine Funktionsbeeinträchtigung des Kniegelenkes vorgelegen? ja ☐ ☐ ☐ nein ■ Konnte primär ein für die Patellaluxation typisches Schadensbild objektiv belegt werden? ja ☐ ☐ ☐ nein ■ Ergeben sich aus der Analyse späterer Befunde Hinweise auf eine primär übersehene Patellaluxation? ja ☐ ☐ ☐ nein ENTSCHEIDUNGSEBENE: GUV: Kausalität der rechtlich wesentlichen Bedingung und ■ Unphysiologische und gefährdende Belastung SER:für das Kniescheibengelenk, also mehr als alltagsüblicher Belastungsvorgang? ja ☐ ☐ ☐ nein ■ Sind die Schadensanlagen so ausgeprägt, dass mit der Patellaluxation jederzeit zu rechnen war/ist? nein ☐ nein ☐ nein ☐ PUV:Unfallfremde Mitwirkung? = Partialkausalität HPV:Schadensanlagen so ausgeprägt, das auch ohne Einwirkung zum gleichen Zeitpunkt oder in naher Zukunft mit der Patellaluxation zu rechnen war? (Konkurrierende bzw. überholende Kausalität?) 232 ☐ ja ☐ ☐ ja . . . . . . . . . % ☐ ja MED SACH 110 5/2014 ORIGINALBEITRÄGE Literatur 1 Aglietti P, Menchetti PM: Biomechanics of the patellofemoral joint. In: Scuderi GR (Hrsg.). The patella. Berlin Heidelberg New York: Springer, 1995 2 Bandi W: Die retropatellaren Kniegelenkschäden. Aktuelle Probleme in Chirurgie und Orthopädie Bd. 4. Bern Stuttgart Wien : Huber, 1977 3 Bandi W: Die retropatellaren Kniegelenkschäden. 2. Aufl. Bern Stuttgart: Wien: Huber, 1981 4 Baumgartl F: Das Kniegelenk. Berlin Heidelberg New York: Springer, 1964 5 Blachburne JS, Peel TE: A new method of measuring patellar height. J. Bone Joint Surg. (1977), 59-B 6 Blumensaat C: Die Lageabweichungen und Verrenkungen der Kniescheibe. Ergeb. Chir. Orthop. (1938), 31 7 Boon-Itt SB: The normal position of the patella. Amer. J. Roentgenol. (1930), 24 8 Brattström H.: Patellar shape and degenerative changes in the femoro-patellar joint. Acta orthop. scand. (1960), 29 9 Buard J, Benoit A, Lortat-Jacob J, Ramadier O: Les trochlees femorales creuses. Rev. Chir. Orthop. Reparatrice Appar Mot. (1981) 10 Caton J,Deschamps P, Chambat J, Lerat H, Dejour H: Les rotules basses. A propos 128 observations. Rev. Chir. Orthop. (1982), 68 11 Christiani K: Röntgenanatomische Untersuchungen des Femoro-Patellargelenkes. Inaug. Diss. Kiel,1962 12 Dejour H,Walch L, Nove-Josserand C, Guier C: Factors of patellar instability: An anatomic radiographic study. Knee surg. Sports Traumatol. Arthrosc. (1994), 2 13 Erlenkämper A, Fichte W: Sozialrecht, 3. Auflage, Köln Berlin Bonn München: Carl Heymanns, 1996 14 Ficat P: Pathologie fémoro-patellaire. Paris : Masson, 1970 15 Ficat P: Les deséquilibres rotuliens de l´hyperpression à l´arthrose. Paris : Masson, 1973 16 Ficat P, Bizou H: Luxations récidivantes de la rotule. Gemeinschaftskongress der DGOT und der SOFCOT, Baden-Baden 1967, Rev. Chir. Orthop. (1967), 53 17 Ficat P, Hungerford DS: Disorders of the paellofemoral joint. Paris: Masson, 1977 18 Gaber O: Kniegelenk – Spezielle Anatomie. Akt. Traumatol. (2005), 35 19 Hehne HJ: Das Patellofemoralgelenk. Stuttgart: Enke, 1983 20 Hehne HJ: Die Biomechanik des Femoropatellargelenkes. In: Hofer H: (Hrsg.). Fortschritte in der Arthroskopie. Stuttgart: Enke, 1985 21 Hepp WR: Zur Bestimmung der Dysplasie des Femoro-Patellargelenkes. Z. Orthop. (1982), 120 22 Hepp WR: 2 new methods for determination of the height of patella. Z. Orthop. und ihre Grenzgeb. (1984), 122 23 Hepp WR: Die Dystopie der Kniescheibe. Orthop. Praxis (1986), 3 24 Hepp WR: Klinische und bildtechnische Verfahren zur Beurteilung des patellofemoralen Gleitlagers. In: Wirth CJ, Rudert M: Das patellofermorale Schmerzsyndrom. Darmstadt: Steinkopf, 2000 25 Gaudernak T: Die instabile Kniescheibe. Wien München Bern: Maudrich, 1992 26 Hughston JC: Subluxation of the patella. J. Bone Joint Surg. (1968), 50 A 27 Insall J, Salvati E: Patella position in the normal knee joint. Radiology (1971), 101 28 Janssen G: Zur Ätiologie der Patellaluxation. Z. Orthop. (1978), 116 29 Janssen G: Patellaluxation und Bandinstabilität des Kniegelenkes. Orthop. Praxis (1986), 4 30 Jend HH, Schöttle H, Bahnsen W, CroneMünzebrock W: Achsenanalyse bei Patienten mit Patellaluxation. Unfallchirurgie (1986), 12 31 Kapandi IA: Funktionelle Anatomie der Gelenke. Bd. 2. Untere Extremität. Stuttgart: Enke, 1985 32 Kasch J: Zur Dysplasie des Femoropatellargelenkes bei der Patellaluxation. Beitr. Orthop. u. Traumatol. (1984), 31 33 Knutsson F: Über die Röntgenologie des Femoropatellargelenkes sowie eine gute Projektion für das Kniegelenk. Acta radiol. (1941), 22 34 Laurin CA: The investigation of the patella femoral joint. J. Bone Joint Surg. (1977), 59-B 35 Laurin CA, Lévesque R, Dussault R, Labelle H: The abnormal lateral patellofemoral angle. A diagnostic roentgenographic sign of recurrent patellar subluxation. J. Bone Joint Surg. (1978), 60-A 36 Lerat JL, Moyen B, Bochu M : Examen clinique des axes chez l´adulte. Rev. Chir. Orthop. (1982), 68 37 Ludolph E, Roesgen M: Patellaluxation und femoro-patellare Dysplasie. Kausalität in der gesetzlichen Unfallversicherung. Unfallheilkunde (1984), 87 38 Ludolph E, van Loh W, Niezold D: Patellaluxation - Kausalität in der gesetzlichen Unfallversicherung. Akt. Traumatol. (1987), 17 39 Merchant AC, Mercer RL, Jacobson RH, Cool CR: Roentgenographic analysis of patellofemoral congruence. J. Bone Joint Surg. (1974), 65-A 40 Müller W: Das Knie. Berlin Heidelberg New York: Springer, 1982 41 Müller W: Das femoropatellare Gelenk. Orthopäde (1985), 14 42 Normann O, Egund N, Ekelund A, Rünow A: The vertical position of the patella. Acta orthop. scand. (1983), 54 43 Paar O, Riel KA: Die Patellaluxation unter besonderer Berücksichtigung des Knorpelschadens. Chirurg (1982), 53 44 Philipps CL, Silver DAT, Schranz PJ, Mandalia V: The measurement of patellar height. J. Bone Joint Surg. (2010), 92-B 45 Rütt A: Die Patellaluxation in ihren verschiedenen Formen und deren Pathomechanik. Z. Orthop. (1972), 110 46 Schuchard E, Klose HH: Quantitative Aspekte der Röntgendiagnostik der Chondropathia patellae. Vortrag 27. Jahrestagung der Vereinigung Süddeutscher Orthopäden Baden-Baden (1979) 47 Settegast A: Typische Röntgenbilder von normalen Menschen. In Lehmans Med Atlanten. Edited, (1921), 211 48 Strobl W, Grill F: Die Patellaluxation. Orthopäde (1998), 27 49 Strobel M, Stedtfeld HW: Diagnostik des verletzten Kniegelenkes. München: Marseille, 1988 50 Trillat A: Anomalie de hauteur de rotule. Palla alta, patella baja. Journées lyonaises de chirurgie du genou (1972) 51 Vignes L: Étude critique de patella alta. Thèse méd. Nr. 515 Bordeaux (1979) 52 Wagner M, Schabus R: Funktionelle Anatomie des Kniegelenkes. Berlin Heidelberg New York: Springer, 1982 53 Wiberg G: Roentgenographic and anatomical studies on the femoro-patellar joint. With special reference to chondromalacia patellae. Acta orthop. scand. (1941), 12 MED SACH 110 5/2014 233