Begleitmaterial Kiwi - Gestalte Deine eigene DSCHUNGEL

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Begleitmaterial Kiwi - Gestalte Deine eigene DSCHUNGEL
Begleitmaterial zur Vorstellung
KIWI
DSCHUNGEL WIEN
SCHAUSPIEL / DAUER 70 MINUTEN / EMPFOHLEN AB 14 JAHREN
Begleitinformationen erstellt von Marianne Artmann
ANSPRECHPERSON für Informationen, Anmeldung und Kartenreservierung
Pädagogische Einrichtung, Kulturvermittlung / Mag. Christina Bierbaumer
MO. - FR. 09:00 - 17:00 / FON +43.1.522 07 20 -18 / FAX +43.1.522 07 20 -30 /
[email protected] / www.dschungelwien.at
1. ZUR PRODUKTION
„Kiwi“
Dauer: 70 Minuten
Autor: Daniel Danis
Übersetzung: Gerda Gensberger
Aufführungsrechte: S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
Regie: Karsten Dahlem
Assistenz: Katharina Vana
Video: Guido Mentol
DarstellerInnen: Agnes Hausmann, Sven Kaschte
Zum Autor
Daniel Danis (geb. 1962 in Rouyn-Noranda, Québec, Kanada) arbeitete als
Schauspieler und Regisseur und lebt heute als Schriftsteller und bildender Künstler
in Saguenay, Québec. Die Arbeiten des Frankokanadiers wurden in Kanada und
Frankreich mehrfach ausgezeichnet. Er gilt heute als einer der wichtigsten
französischsprachigen Schriftsteller. Seine Werke werden in Quebec, Schottland,
Irland, Frankreich, Belgien, Italien und Deutschland gespielt.
„Kiwi“ entstand auf Grund eines Pressefotos, welches die Überbelegung der
rumänischen Gefängnisse mit Kindern dokumentierte.
Über seine eigene Arbeit sagt Daniel Danis:
"Wenn meine Charaktere tragische Leben führen, dann befähigt sie das, ihrem
immensen Wunsch nach Leben Ausdruck zu verleihen. Mein Theater richtet sich
mehr an das Unbewusste als an die Psychologie.“
„Kiwi“ wurde 2008 mit dem Deutschen Jugendtheaterpreis ausgezeichnet.
Begründung der Jury:
“Kiwi, Litchi und die anderen Kinder haben ihr altes Leben „unter einem
Scheißhaufen begraben“ und sich Obst- und Gemüsenamen gegeben. Aus dem
Gefängnis für Waisen geflohen, leben sie miteinander am Rande einer Metropole in
einer eigenen Gemeinschaft. In dieser gibt es die gleichen Probleme wie überall auf
der Welt, doch die ständige existenzielle Bedrohung ihres Lebens zwingt diese
Teenager, über sich hinaus zu wachsen.
Daniel Danis lässt seine Protagonisten ohne jede Sentimentalität von einem Leben
am anderen Ende der Welt berichten. In der Gegenwärtigkeit und Atemlosigkeit der
Erzählung liegt ein Sog, der der Geschichte dieser Namenlosen eine große Kraft
verleiht.“
Quelle: http://www.spielart-berlin.de/2008/07/21/deutschen-deutscher-kindertheaterpreis-undjugendtheaterpreis-08
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2. INHALTSANGABE
In einer unbekannten Stadt wird ein elfjähriges Mädchen von ihren Verwandten
ausgesetzt, als die Slums, in denen sie wohnen, zwangsgeräumt werden, weil sie
Unterkünften für die Olympischen Spiele weichen sollen. Dem Mädchen bleiben
allein die Wollmütze ihrer toten Mutter und der Schlüsselbund ihres toten Vaters.
Es trifft auf eine Gruppe obdachloser Jugendlicher, die es in die „Familie“
aufnehmen. Ihr Name wird ab jetzt Kiwi sein. Denn alle in der Gruppe tragen die
Namen von Obst- oder Gemüsesorten – Symbol für die Abgrenzung vom alten Leben.
Kiwis engster Vertrauter ist Litchi, den sie von der Anführerin Mango als Ehemann
zugeteilt bekommen hat. Alle aus der Gruppe verbindet eine tiefe Sehnsucht nach
Wärme und Geborgenheit, und sie alle träumen von einem neuen, besseren Leben.
Ein Leben, das sie gemeinsam in einem Haus mit Hof verbringen wollen. Aber für
den Kauf dieses Hauses benötigen sie Geld. Sie putzen Autos, stehlen und
prostituieren sich, jedoch immer die Regel befolgend, dass das Töten nicht erlaubt
ist. Als Kiwi aber zusammen mit Litchi von einem Freier verfolgt wird, müssen sie
diese Regel brechen und alles wird anders. Litchi muss gehen und die Gruppe wird
immer stärker durch die Geheimpolizei bedroht. Heimatlose Jugendbanden machen
sich schließlich nicht gut im perfekten Bild der anstehenden Olympischen Spiele.
Und schließlich eskaliert die Situation: die Mitglieder der „Familie“ werden
getötet, nur Kiwi, Litschi und Mangos Baby überleben. Die drei verlassen die Stadt
und finden ein kleines Haus, das sie mit dem Geld der „Familie“ kaufen können.
Zum ersten Mal haben sie eine reale Chance, dass ihr Traum war wird.
„Daniel Danis' Blick auf die Notsituation von Straßenkindern bewahrt sich bei aller
Düsternis den Trost menschlicher Beziehungen unter den Kindern, die einander die
Möglichkeit von Vertrauen und Fürsorge wieder lehren. Danis findet dafür nicht nur
eine anrührende Geschichte, sondern auch poetische Sprachbilder, die sich der
Trostlosigkeit zu widersetzen scheinen. Drei Jahre umfasst der Bericht des
Mädchens Kiwi, der den Leser und Zuhörer sehr schnell in seinen Bann zieht. Der
Autor, der das Stück zunächst selbst zur Uraufführung brachte, verschränkte den
narrativen Redefluss mit filmischem Material. Unabhängig aber von Danis' aktuellen
Recherchen rund um neue Technologien auf der Bühne, behauptet sich der Text
durch eine selbstbewusste, poetische Sprache, die nicht oberflächlich auf
Jugendlichkeit setzt.“
Barbara Engelhardt: Vorwort in: Theater der Zeit, Scène 10, Kinder- und
Jugendtheater, Herausgegeben von Barbara Engelhardt
Quelle: http://www.theaterderzeit.de/Book/Preface/24
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3. INTERVIEW MIT DEM REGISSEUR
Wie bist du auf das Stück „Kiwi“ gekommen?
Ich habe von dem Stück zum ersten Mal in einem Gespräch mit einem deutschen
Theater gehört. Dieses Theater wollte das Stück unbedingt produzieren, hat sich
dann aber doch für etwas anderes entschieden - und die Mitarbeiter ärgern sich bis
heute – wie sie mir gesagt haben ☺.
Was waren deine ersten Gedanken beim Lesen? Hattest du sofort Bilder in
deinem Kopf oder kamen diese erst später?
Erster Gedanke: Wow, was für eine Sprache. Ich habe selten im Kinder- und
Jugendtheater eine derartige Wucht der Worte gelesen, die ganz für sich selbst
sprechen und es mir als Regisseur eher schwer machen, dafür geeignete Bilder zu
finden, die nicht zu banal sind.
Wie hast du die Darsteller gefunden?
Agnes wird Kiwi spielen, mit ihr hab ich bereits zweimal gearbeitet, allerdings
bisher immer als Dozent - sie kommt frisch von der Ausbildung an der
Konservatorium Wien Privatuniversität, an der sie gerade ihren Abschluss gemacht
hat. Jetzt arbeitet sie zum ersten Mal mit mir als Regisseur, ich bin gespannt und
freu mich drauf.
Mit Sven hab ich ja bereits im letzten Jahr gearbeitet. Für ‚Moby Dick’ haben wir ja
gemeinsam den STELLA – Darstellender.Kunst.Preis für junges Publikum gewonnen,
was unweigerlich zusammenschweißt – ich bin sehr froh dass ich ihn gewinnen
konnte, da er diesmal neben seiner Schauspielerei auch für Video und Sound
zuständig ist!
Was ist dein Ansatz bei der Inszenierung, was ist dir wichtig, welche Mittel
möchtest du verwenden?
Ich möchte die Reise der beiden Hauptfiguren Kiwi und Litchi begleiten, die
unglaubliche Dinge ertragen, er- und durchleben müssen. Dinge, die wir zwar aus
den Medien kennen, die scheinbar unglaublich weit weg sind, aber letztendlich
durch die Wucht ihrer Geschichte, ihrer Liebesgeschichte, ihrer Suche nach Familie
plötzlich sehr nahe sind.
„Kiwi“ ist nicht gerade leichte Kost: Armut, Kälte, Hunger, Obdachlosigkeit,
Krankheit, Prostitution, Gewalt, … Der Autor lässt kaum etwas Schreckliches
dieser Welt aus. Wie wird deiner Meinung nach das Publikum damit zurecht
kommen?
Doch: er lässt den Rechtsruck in Österreich aus … Aber zurück zur Frage: ich weiß
nicht, wie die Zuschauer reagieren werden und bin sehr gespannt darauf. Auch in
Deutschland und Österreich gibt es Menschen und Kinder, die auf der Straße leben,
sich prostituieren müssen, das vergisst man leider sehr oft.
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Im Stücktext wird nicht genauer definiert, in welcher Stadt die Geschichte
spielt: das Wort „Slum“ lässt an Lateinamerika denken, ein Stadtteil soll im
zweien Weltkrieg bombardiert worden sein, das spricht für Europa oder Japan.
Auch die Arbeiten für die Olympischen Spiele geben keine genaue Auskunft. Wo
ist für Dich das Stück angesiedelt und was hat es mit uns zu tun?
Das Stück spielt für mich definitiv nicht irgendwo im Nirgendwo, denn mit jedem
Paar Socken und jedem Pullover, den wir z.B. bei H & M kaufen, beteiligen wir uns
an Ausbeutung und Kinderarbeit und Armut.
Es gibt in der Jugendliteratur mehrere Helden ohne festen Wohnsitz, meist
haben wir aber eine romantische Vorstellung von deren Leben (z.B.
Huckleberry Finn). Ist „Kiwi“ für dich ein Gegenentwurf zu solchen
Abenteuergeschichten?
Na ja: auch Kiwi, Litchi und die andern sind auf der Suche nach Familie in ihrem
Haus mit ganz viel Wärme ... Es ist daher nicht unbedingt ein Gegenentwurf,
sondern ebenfalls eine romantische Vorstellung auf der Suche nach einer anderen
Welt.
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4. HINTERGRUNDINFORMATIONEN ZUM THEMA
4.1 Straßenkinder
Bei dem Begriff „Straßenkinder“ denken wir möglicherweise zuerst an ferne Länder
in Lateinamerika oder Afrika. Straßenkinder gibt es aber auch in Europa, auch in
Österreich, auch in Wien. Zuerst jedoch zur Situation weltweit:
4.1.1 Straßenkinder weltweit
Straßenkinder sind in der Regel Stadtkinder. Sie sind in den sich industrialisierenden Schwellenländern und in den Ballungsräumen weitaus häufiger anzutreffen als in ländlichen Regionen. Doch
zunehmend findet sich das Problem - etwa in Simbabwe und Sambia - auch in ländlichen Regionen.
Normalerweise durchläuft ein Kind unterschiedliche Stationen der Sozialisation: Familie, Kindergarten, Schule, Freundeskreis, Berufsausbildung, Berufsleben. Bei Straßenkindern reduzieren sich
diese Stationen auf gescheiterte Erfahrungen in der Familie. Die Straße wird zum Ort der
Sozialisation. Auf der Straße zu leben bedeutet, ständig unter Spannung zu stehen. Die Kinder haben
keinen Rückzugsbereich oder geschützten Raum. Sie sind Gewalt, Drogen, Kriminalität und Willkür
von Erwachsenen ausgesetzt. Von der Gesellschaft werden sie diskriminiert und ausgegrenzt: Kaum
ein Straßenkind geht in die Schule oder wird regelmäßig medizinisch versorgt. Trauen sie sich in ein
Krankenhaus, werden sie nicht selten schlecht behandelt oder wieder weggeschickt. Auch wenn
manche Straßenkinder zeitweise über größere Mengen Geld verfügen können, fehlt es fast allen an
gesundem Essen und sauberem Wasser. »Es ist, als würdest du um dein Leben kämpfen,« erzählt ein
Straßenkind aus Bolivien. »Wenn du es nicht verteidigst, überlebst du nicht. Es ist der tägliche
Krieg.«
Straßenkinder leben von der Hand in den Mund, halten sich mit legalen und illegalen Tätigkeiten
über Wasser. Um sich behaupten zu können, übernehmen die Kinder oft auch die Verhaltensweisen
von Erwachsenen aus dem Straßenmilieu: Sie »organisieren« Geld durch gewaltsamen Diebstahl,
durch Prostitution und Drogenhandel. Straßenkinder sind dadurch extremen Risiken ausgesetzt,
viele von ihnen sind selbst drogenabhängig. Die Problemlage von Straßenkindern ist damit anders
gelagert als von Kindern, die in Absprache mit ihren Familien auf der Straße arbeiten.
Die wenigsten Straßenkinder sind tatsächlich »verlassene« Kinder, deren Eltern gestorben oder in
Kriegswirren bzw. bei Katastrophen verschollen sind oder nicht mehr in der Lage waren, für die
Kinder zu sorgen und sie deshalb ausgesetzt haben. Häufiger sind es die Kinder selbst, die sich
entschließen, den Kontakt zu den Familien abzubrechen, meist in Reaktion auf Gewalt und
Missbrauch, und häufig nach Zyklen der Flucht und erneuter Rückkehr bzw. nach Heimaufenthalt.
Der Weg auf die Straße hat also wenig mit jugendlicher Unternehmungslust zu tun, sondern ist die
Entscheidung eines Kindes, das keine Alternative mehr sieht.
Wo sich feste Gruppen und Bezugsysteme von Straßenkindern gebildet haben, fällt die Flucht auf
die Straße leichter. Gegenseitige Hilfe und oft bandenähnliche Zusammenarbeit tragen dazu bei,
den Gefahren auf der Straße zu trotzen. In diesen Gruppen wiederholen sich jedoch nicht selten die
zu Hause erlebten Muster der Gewalt, insbesondere zwischen Jungen und Mädchen, zwischen
Anführern und »Fußvolk«. Bei den älteren können - meist kurzfristige - Paarbeziehungen entstehen.
Trotz extrem hoher Raten von Abtreibungen und Kindersterblichkeit kommt es zum Phänomen der
»zweiten Generation« derjenigen Kinder, die auf der Straße geboren werden und dort aufwachsen.
Straßenkinder sind zumeist öffentliches Ärgernis, dem mit ordnungspolitischen Maßnahmen
(zwangsweise Heimunterbringung, Polizeirazzien, Vertreibung von öffentlichen Plätzen) begegnet
wird. Mancherorts werden sie gezielt durch Prügeleinsätze der Polizei oder Todesschwadronen
verfolgt. Vielerorts sind sie Opfer von Missbrauch, werden vergewaltigt oder zu Diebestouren
erpresst. Allerdings können Straßenkinder auch Objekte wohltätigen Mitleids sein oder Gegenstand
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von selbstkritischen Reflexionen einer Gesellschaft über die Ursachen, die die Kinder auf die Straße
getrieben haben, aber auch über ihre von den Kindern gebrochenen Normen und Regeln. Sie tun vor
aller Augen, sagt der Jesuitenpater Jorge Vila vom bolivianischen Kinderschutzbund DNI, was
manches anerkannte Mitglied der Gesellschaft im Verborgenen tut.
Straßenkinder sind bisweilen apathisch, bisweilen aggressiv. Sein eigenes Zuhause oder ein Heim zu
verlassen und auf die Straße zu gehen erfordert aber auch Initiative und Mut. Der Überlebenskampf
auf der Straße zerstört jedoch nicht nur Körper und Seele, er fördert auch bestimmte Tugenden wie
Schnelligkeit, Einfallsreichtum und Eigenverantwortlichkeit, bisweilen auch Sinn für Solidarität,
Humor und kritischen Geist, die bei Programmen zur Durchsetzung ihrer Menschenrechte genutzt
werden können. Je länger die Kinder auf der Straße leben, desto schwieriger die Rückkehr in die
Familie bzw. der Übergang in ein selbstständiges Leben jenseits der Straße.
Der Begriff Straßenkindern ist von Bildern von Gruppen zerlumpter, auf dem Bürgersteig lungernder
Kinder oder Jugendlicher geprägt. Heute finden wir jedoch auch Straßenkinder, die, um bei
Diebstahl nicht aufzufallen, Markenkleidung tragen oder Makeup, wenn sie von Prostitution leben.
Ein grundsätzlich anderes Phänomen sind - über die auf sich gestellten Straßenkinder hinaus - die
Hunderttausenden von Kindern, die gemeinsam mit ihren Eltern obdachlos auf den Straßen etwa der
indischen Metropole Mumbai leben. Heute wird auch über das Phänomen in Deutschland diskutiert.
Die Suche nach Orientierung und Bindung spielt hier jedoch gegenüber ökonomischen Faktoren eine
gewichtigere Rolle als in Ländern des Südens. Dort wie hier täuscht der Begriff »Straßenkind«
jedoch insofern, als es sich nur zu einem geringen Teil um jüngere Kinder handelt, sondern
mehrheitlich um Jugendliche.
Zahlen zum Phänomen Straßenkinder
Verlässliche Angaben über die Anzahl der Straßenkinder weltweit gibt es nicht. Eine Größenordnung
des Phänomens geben jedoch Schätzungen von UNICEF und WHO, die von »mehreren ZehnMillionen«, bzw. über 30 Millionen Straßenkinder weltweit ausgehen, eine Zahl, die bei einer engen
Definition von obdachlosen alleinstehenden unter 18-Jährigen vermutlich deutlich zu hoch
gegriffen ist. Wenn im Weltdurchschnitt je ein von tausend Kindern auf der Straße Leben würde,
läge die Gesamtzahl gerade einmal bei um gut drei Millionen. Die schwierige Datenlage erklärt sich
unter anderem dadurch, dass nur wenige Straßenkinder eine Geburtsurkunde haben und dass die
Zahlen jahreszeitlich fluktuieren. Vor allem aber ist die Zahl unklar, weil Straßenkinder von
staatlichen Institutionen wie Schule oder Fürsorge in der Regel nicht erfasst werden. Private
Institutionen und Projekten fehlt wiederum häufig der Gesamtüberblick. Die Daten variieren auch je
nachdem, wie der Begriff »Straßenkind« definiert wird: Viele Schätzungen fassen die Gruppen der
auf der Straße arbeitenden und in ihrer Familie wohnenden Kinder einerseits und die obdachlosen
Straßenkinder andererseits zusammen, da der Übergang zwischen dem Arbeitsplatz Straße und dem
Lebensmittelpunkt Straße oft fließend ist. Sie kommen damit zu der wesentlich höheren Anzahl von
100 Millionen Straßenkindern weltweit. […]
Deutschland
Die niedrigste Zahlenangabe stammt von der Nichtregierungsorganisation Off Road Kids. Demnach
gebe es höchstens 1.500 Straßenkinder, und von den bis zu 2.500 Kindern und Jugendlichen, die in
Deutschland jährlich auf die Straße gelangen, würden etwa 300 zu Straßenkindern. Die meisten sind
14 Jahre und älter. Bei jüngeren handelt es sich meist um Kurzzeitausreißer. Unter Berücksichtigung
der Tatsache, dass sich Straßenkinder von einem Ort zum anderen bewegen können, wird die Zahl
der unter 18-jährigen Obdachlosen im engen Sinne bundesweit auf mindestens 2.000, der Anteil der
Mädchen auf 30 bis 40 Prozent geschätzt. Der Berliner Verein »Straßenkinder e.V.« nennt allerdings
allein für Berlin schon die Zahl von je nach Jahreszeit 3.000 bis 5.000, schränkt aber selbst ein, dass
zwei Drittel von ihnen noch bei der eigenen Familie, Freunden oder in der eigenen Wohnung leben.
Unter Verwendung einer weitergehenden Definition derer, die ihren Sozialisationsmittelpunkt auf
der Straße, aber durchaus noch regelmäßigen Kontakt zu den Eltern haben oder in alternativen
Wohnstätten schlafen, kommt Uwe Britten in einer Recherche für terre des hommes zu einer
Schätzung von circa 9.000 Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland, die von
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entsprechenden Einrichtungen betreut werden. Er bezeichnet die in dieser Gruppe vorwiegend zu
findende Lebensform als »Pendler« zwischen Heimen, Familie und Straße. […]
Russland
In Russland hatten die Zahlen nach der wirtschaftlichen Liberalisierung rapide zugenommen. Laut
offiziellen Zahlen verbringen in einer weiten Definition zwischen 100.000 und 150.000 Kinder und
Jugendliche die meiste Zeit des Tages auf der Straße.
Südamerika
Auch in Südamerika hängen die Zahlen von der Definition ab. Brasilien und Peru fassen unter
Straßenkinder diejenigen zusammen, die auf den Straßen der großen Städte arbeiten, auch wenn sie
abends zu ihrer Familie zurückkehren. Dabei kommt man auf Zahlen von sieben Millionen in
Brasilien und 500.000 in Peru. In Bolivien dagegen wird die enge Definition verwendet, und UNICEF
geht dort von circa 3.700 Kindern und Heranwachsenden auf der Straße aus. Die gleiche
Organisation spricht im weiten Sinne in Kolumbien aber von 30.000 Straßenkindern, 37 Prozent
davon in Bogotá. In einer relativ umfassenden Erhebung in den 16 wichtigsten Städten Kolumbiens
kam das kolumbianische Familieninstitut dagegen auf die Zahl von 4.457 Straßenkindern im engeren
Sinne.
[…]
Südliches Afrika
In Mosambik war die Zahl der Straßenkinder im engeren Sinne während des Krieges allein in Maputo
auf mehrere tausend gestiegen. Heute soll es in der Hauptstadt zwischen 300 und 500 von ihnen
geben. Höher sind die Zahlen im wirtschaftlich besser gestellten aber auch bevölkerungsreicheren
Südafrika. Allein in der Metropole Johannesburg schätzt man die Zahl der Kinder, die auf der Straße
leben, auf 4.000. Für Sambia liegen die Schätzungen des UN Office on Humanitarian Affairs (IRIN)
bei insgesamt 75.000 Straßenkindern, fast zwei Prozent der Gesamtzahl der Kinder. Sieben Prozent
von ihnen hätten überhaupt kein Zuhause mehr, in das sie zurückkehren könnten.
[…]
Indien
Die offiziellen Zahlen von UNICEF und indischer Regierung sprechen in einer weiten Definition derer
die auf den Straßen leben und arbeiten, von 19 Millionen Straßenkindern im Alter unter 14 Jahren in
Indien, wovon ein erheblicher Anteil zusammen mit Familienangehörigen auf der Straße lebt, und
um die zehn Millionen noch Zuhause oder bei Verwandten schlafen. Gänzlich alleinstehende
obdachlose Kinder gibt es laut Schätzungen von terre des hommes Partnern je etwa 10.000 in den
großen Metropolen (Mumbai, Delhi, Kolkata, Bangalore und Chennai), und noch einmal weitere
50.000 in kleineren Städten.
Südostasien
In Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh schätzt das Consortium for Street Children 1.200
Straßenkinder, in ganz Kambodscha sollen zwischen 10.000 und 20.000 Kinder auf der Straße
arbeiten, ohne jedoch den Kontakt zur Familie verloren zu haben. Zwischen einigen wenigen
Hunderten und Tausenden je nach Jahreszeit leben mit ihren Eltern auf der Straße.
Zum Begriff Straßenkinder
[…] In internationalen Fachkreisen ist es üblich geworden, drei Gruppen zu unterscheiden:
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1. Obdachlose Kinder, die jeglichen Kontakt zur Herkunftsfamilie abgebrochen haben (Kinder
der Straße).
2. Kinder, für die die Straße der Lebensmittelpunkt ist, auf dem sie die meiste Zeit des Tages in der Regel zum Geldverdienen, aber auch in Banden oder Cliquen - verbringen.
3. Kinder, die gemeinsam mit ihrer ebenfalls obdachlosen Familie auf der Straße leben.
Allerdings ist der Übergang zwischen den Gruppen häufig fließend, etwa bei Kindern, die nur am
Wochenende nach Hause gehen.
Ursachen und Hintergründe
Die Gründe, warum ein Kind auf der Straße lebt, sind individuell und regional verschieden. Wäre es
nur die Armut, müsste die Zahl der Straßenkinder weit höher sein. Innerfamiliäre Gewalt und bei
Mädchen insbesondere sexueller Missbrauch sind zumeist der Auslöser dafür, dass Kinder die
Familien verlassen. Folgende Faktoren beschleunigen jedoch die Auflösung familiärer und
nachbarschaftlicher Netze, die Kinder in Krisensituationen auffangen könnten.
Verstädterung und Verfall familiärer und sozialer Netze: In der indischen Metropole Mumbai
(Bombay) kommen täglich Hunderte von Kindern aus ganz Indien an. Sie hoffen darauf, in den
Straßen der Megastadt überleben zu können. Allein im terre des hommes-Projekt »Shelter«, dessen
Mitarbeiter die neu ankommenden Kinder auf den Bahnhöfen ansprechen, übernachten täglich
zwischen 125 und 150 Kinder ab dem Alter von sechs Jahren. Ob in Asien oder Lateinamerika,
überall dort, wo Menschen aus wirtschaftlicher Not vom Land in die Stadt flüchten, zerbrechen
Familien. Im Großraum Mumbai leben schon heute über 20 Millionen Menschen.
Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich: Noch nie war der Gegensatz zwischen Arm und Reich
auf der Welt größer als heute. In Bolivien hat die Bevorzugung transnationaler Unternehmen in den
letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Spaltung des Landes in zwei Teile noch verschärft: Ein
kleiner Teil der Bevölkerung arbeitet im Exportsektor und hat an dessen Dynamik teil, die Mehrheit
der bolivianischen Bevölkerung findet jedoch keine Beschäftigung, denn die heimische Wirtschaft
stagniert. Etwa 64 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze (INE 2005). Arm sein
heißt, ausgeschlossen sein von den Ressourcen, die anderen verfügbar sind. Das verursacht
Frustration und Hoffnungslosigkeit. Es kommt zu Alkoholmissbrauch und innerfamiliärer Gewalt. In
einer Studie über Straßenkinder in den vier größten Städten Boliviens geben zwei Drittel der
befragten Kinder an, ihre Familie verlassen zu haben, weil sie misshandelt wurden (Hotel de Mil
Estrellas, DNI 1997). Die Anzahl der Straßenkinder in Bolivien war in den 90er Jahren in der Zeit der
wirtschaftlichen Liberalisierungsprogramme von wenigen hundert auf mehrere tausend gestiegen.
HIV/Aids: In Afrika waren Straßenkinder lange Zeit ein praktisch unbekanntes Phänomen. Extreme
Armut sowie die rasante Ausbreitung von HIV/Aids haben jedoch dazu geführt, dass auch hier immer
mehr Kinder auf der Straße leben. Laut einer Prognose von UNAIDS werden im Jahr 2010 weltweit
über 25 Millionen Kinder ein oder beide Elternteile durch Aids verloren haben. In Sambia, das zu den
Ländern mit der höchsten HIV-Infektionsrate gehört, waren bereits im Jahr 2001 über eine halbe
Million Kinder unter 15 Jahren verwaist. Laut einer Schätzung des Zambia Human Development
Reports (1998) sind 58 Prozent der circa 75.000 Straßenkinder in Sambia zugleich Aidswaisen.
Auch in den europäischen Ländern ist die Anzahl der Straßenkinder erheblich gestiegen. Die
Internationale Arbeitsorganisation führt dies vor allem auf den Abbau der staatlichen
Sozialleistungen infolge des Zusammenbruchs des Staatssozialismus zurück (Global Report on Child
Labour, 2002).
Krieg und Gewalt: Weltweit sind mehr als 20 Millionen Kinder und Jugendliche auf der Flucht
(UNHCR 2003). Nicht nur in Afghanistan oder im Kongo geraten Kinder zwischen die Fronten, auch in
Kolumbien und Burma werden sie Opfer von bewaffneten innerstaatlichen Auseinandersetzungen.
Selbst viele Jahre nachdem offiziell Frieden geschlossen wurde leiden Kinder in Kambodscha unter
den Folgen von Krieg und Gewalt: Auseinander gerissene und traumatisierte Familien, Armut,
verminte Felder, zerstörte Dörfer, zu wenig Schulen und mangelhafte Infrastruktur.
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Nahezu alle Untersuchungen zeigen, dass etwa ein Drittel der Straßenkinder Mädchen, zwei Drittel
Jungen sind. Mädchen finden schneller eine Unterkunft, in dem sie zum Beispiel als Hausmädchen
arbeiten. Sie sind zwar fern der Straße, oft aber ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen und sexuellen
Übergriffen ausgeliefert. Auch auf den Straßen erleben die Mädchen patriarchale Gewaltverhältnisse
und häufig sexuellen Missbrauch. Besonders problematisch wird ihre Situation, wenn sie schwanger
werden.
Auch in Deutschland sind Misshandlungen in der Familie einer der Hauptgründe, warum Kinder und
Jugendliche aus ihren Familien fliehen. Die meisten kommen hier aber nicht aus wirtschaftlich
benachteiligten Haushalten. In vielen Fällen ist es einfach Entfremdung von den Eltern, die ihre
eigenen Probleme nicht lösen können. Die meisten haben eine »Karriere« in verschiedenen
Jugendhilfeeinrichtungen hinter sich.
[…]
Quelle: http://www.tdh.de/content/themen/schwerpunkte/strassenkinder/daten.htm
4.1.2 Straßenkinder in Wien
Mindestens 300 Straßenkinder in Wien: Jugendämter und Familien sind überfordert
Durch die Metropole Wien streunen mindestens 300 meist österreichische Straßenkinder. Die
Jugendämter sind überfordert wie die zerrütteten Familien, die sie ausgestoßen haben.
Von Emil Bobi
Vormittagshitze, gedrückte Stille, der Duft von erwärmtem Teer auf alten Brettern, ein Feldhase im
gestreckten Galopp auf der Flucht: Über dem ÖBB-Friedhof in der Innstraße schwebt ein Hauch
wilder Kindheitsromantik. Neben dem „Hexenhaus“ rosten ausrangierte, teils ausgebrannte
Uraltwaggons auf Gleisanlagen, die inmitten einer wilden Blumenwiese kaum noch zu erkennen
sind. An den Außenwänden der Waggons und an den Mauern der verfallenen Hütten bunte,
gesprühte Farbexplosionen. Halb verfaulte, halb verkohlte Autositze und Camping-Unrat liegen
verstreut wie Zeugen einer untergegangenen Subkultur. Zig, wenn nicht Hunderte Kids haben hier
gehaust, Party gemacht, gelebt. Bis eine Banden-Geschichte, zweiter gegen 20. Bezirk, das Dorf der
aussätzigen Kids in Flammen und Rauch aufgehen hat lassen.
Cem rechnet. Fünf Nächte pro Monat darf er bei „a_way“, einer Notschlafstelle für obdachlose
Minderjährige am Westbahnhof, die von der Caritas betrieben wird, übernachten. Würde man die
fünf Nächte an das Monatsende legen und die fünf des Folgemonats gleich an dessen Anfang, könnte
man zehn Nächte hintereinander bleiben, ohne Ausschau nach einem Schlafplatz halten zu müssen.
Das wäre was. Doch was soll’s. „Dass wir nicht länger dort bleiben dürfen, machen sie absichtlich“,
sagt Cem nachdenklich, „dürfen die eigentlich so mit Kindern umgehen?“
Cem, so möchte er genannt werden, ist 16. Wirklich obdachlos ist er seit einem halben Jahr und
besitzt, was er am Leib hat. Bei der Mutter liegen noch seine sieben Zwetschgen, doch nach Hause
darf er nicht. Polizeiliches Betretungsverbot.
Symeya ist 17 und lächelt gern. Seit sie vor vier Jahren „freiwillig“ vor dem Terror der vielen
Stiefväter und der Überfordertheit der Mutter mit den vielen Kindern geflüchtet ist, „habe ich schon
überall geschlafen, bin überall rausgeflogen. Man hat mich in der Erwachsenen-Psychiatrie gefesselt
und mit Spritzen niedergemacht, weil ich vor Sehnsucht ausgeflippt bin. Alles, was ich am Leib hab,
habe ich gestohlen. Ich habe Angst, 18 zu werden. Ich möchte nicht in einem Frauenhaus landen.“
Ram stammt aus einer vor zehn Jahren aus Indien eingewanderten Familie, ist 15 und davongelaufen, als er zehn war. Wurde gesucht, aber nicht gefunden, fand bei einem Älteren
Unterschlupf, war nie in der Schule und nie wieder zu Hause. Vorige Woche ist seine Mutter
gestorben. Das tut ihm leid. Aber vermisst hat er nie jemanden. Er ist der Dressman unter den
Straßenkids. Seit einem Jahr trägt er täglich Anzug und Krawatte: „Ja, weil ich eine Freundin
suche.“
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Antonio, 16, den geänderten Namen hat er selbst gewählt, ist erst seit ein paar Jahren in
Österreich, zuvor wohnte er in Berlin. Vollkommen zerrüttete Familie, die jüngeren Geschwister
auch in einem Krisenzentrum, er selbst darf sie von Amts wegen nicht besuchen. Er übe schlechten
Einfluss aus. Er vermisst sie. In seiner Stimme schwingt Erfahrung und Bitterkeit. Er lässt seinen
Blick über den Waggonfriedhof schweifen: „Schön, nicht? Da haben wir urabgechillt. Nicht alle
haben hier gelebt, viele sind nur so gekommen.“ Da seien Waggons wie Schlafzimmer eingerichtet
gewesen. „Komm“, sagt er, „wir zeigen dir Wien.“ Das Wien der verstoßenen Kinder.
Wien. Durch diese Glitzer-Metropole streunen nach einer Schätzung der Caritas-Einrichtung a_way
mindestens 300 obdachlose Minderjährige. Seltsam frühreife Wesen mit übertriebener Selbstständigkeit, die ihre Tage mit der Beschaffung des nächsten Schlafplatzes, von Lebensmitteln und
Drogen verbringen. Sie haben gelernt zu nehmen, was kommt, auch wenn nichts kommt. Seit der
frühen Kindheit in desolaten Familien misshandelt, vernachlässigt, traumatisiert und schließlich
verjagt. Sie haben mehr vom Leben gesehen, als für reibungslose Erziehbarkeit gut ist. Sie haben
aufgehört, sich von Eltern sinnlos sanktionieren zu lassen, die nicht einmal für sich selbst sorgen
können. Und sie haben aufgehört, sich von Sozialpädagogen etwas vorschreiben zu lassen, die selbst
überfordert an ihren eigenen Arbeitsbedingungen scheitern. Sie gelten als „betreuungsresistent“.
Sie können „das Angebot“ der Jugendwohlfahrt „nicht annehmen“. Das bedeutet, dass sie selber
schuld sind, wenn sie auf der Straße leben. Das Jugendamt hat einen „pädagogischen Auftrag“.
Ausgebrannte Betreuer können oft nicht anders, als mit Ultimaten zu arbeiten: Wer nicht um 18.00
Uhr im Krisenzentrum ist, wer nicht bereit ist, fürs Schuleschwänzen ein Ausgehverbot
hinzunehmen, wer nicht Ruhe gibt, der fliegt. Und sie geben keine Ruhe. Diese schwierigen Kids
haben auf ihre Erfahrungen hin eine These entwickelt, die alles andere als weit hergeholt ist. Sie
lautet: Niemand will mich. Auf der permanenten Suche nach Bestätigung dieser These dehnen sie
permanent die Grenzen des Erlaubten, bis sie eine entsprechende Reaktion provoziert haben, die
ihre These stützt. Niemand im Staat ist entspannt genug, diese Kids zu nehmen, wie sie sind – und
ihnen dennoch zu geben, was sie zum Leben brauchen. So fallen sie durch die Maschen der
staatlichen Versorgung, weil eine sozialromantische Gesellschaftsordnung Kinder im Kreis ihrer
Familien organisiert und nicht auf der Straße. So stehen sie genau dort: ohne Anspruch auf
irgendwas, weil sie für alles zu jung sind. Kein AMS-Geld, keine Sozialhilfe, nichts. Sie haben nichts,
dürfen nichts, bekommen nichts. Ständig müssen sie von überall verschwinden. Die erwachsenen
Obdachlosen auf der Praterwiese bieten ihnen an, für 20 Euro pro Nacht in ihrer Nähe nächtigen zu
dürfen und dabei angeblichen Schutz zu genießen. 13, 14 Jahre alte Mädchen gehen für zehn oder
20 Euro auf den Strich, um sich mit Tabletten zudröhnen zu können. Selbstmordgefährdete oder
„fremdgefährdende“ Jugendliche werden aus psychiatrischen Anstalten mit der Straßenbahn wieder
weggeschickt, ausgestattet nur mit einem Plastiksack voller Psychopharmaka. Fast alles, was sie
machen, wird gegen sie verwendet. Eine Sozialpädagogin, die anonym bleiben will, gibt ein Beispiel:
Eine 16-jährige Drogensüchtige wurde von einem der Wiener Krisenzentren auf die Straße gesetzt,
weil das Mädchen als „nicht kooperationsbereit“ eingestuft wurde. Der Grund: Sie hatte sich
geweigert, einen Vertrag zu unterschreiben, in dem sie sich unter anderem zum Nichtrauchen
verpflichten sollte. Ihre Weigerung, etwas zu unterschreiben, was sie nicht einzuhalten gedachte,
wurde nicht etwa als Paktfähigkeit eingestuft, sondern als Entlassungsgrund. Die Betreuerin: „Der
Staat reagiert wie die zerrütteten Familien. Keine soziale Intelligenz, keine menschliche Größe. Nur
Aug um Aug und Zahn um Zahn.“
Das Wiener Amt für Jugend und Familie (MA 11) macht in seinen Einrichtungen vieles, das auch
funktioniert. Rund 2000 der „kaputtesten Kinder“ (eine Sozialpädagogin) werden in Krisenzentren
und betreuten Wohngemeinschaften versorgt. Es gibt Spezialbetreuungsplätze um angeblich bis zu
700 Euro täglich. Es gibt erlebnispädagogische Urlaubsreisen, bemühte Betreuer und mit einem
Budget von 120 Millionen Euro (2009) gar nicht so wenig Geld. Doch es gibt eine Gruppe der
Allerletzten, die von den Aktivitäten der Jugendwohlfahrt nicht erfasst wird und ganz durchfällt: die
Betreuungsresistenten, die kaputtesten der Kaputten. Dass es sie gibt und dass es Hunderte sind,
wird tabuisiert oder sozialromantisch verklärt. Betreuer der MA 11 bezeichnen sie als freiwillige
„Nomaden“, die die Angebotspalette der Jugendwohlfahrt nicht annehmen wollen. Der Wiener
Jugendstadtrat Christian Oxonitsch kennt die Zahl der Betroffenen nicht.
Antonio, Symeya, Cem und Ram haben vieles gemeinsam. Immer wieder versinken sie in
gedankenschweres Dösen. Reglose, nach innen gerichtete Blicke signalisieren dann: Sag nichts. Es
gibt nichts zu sagen.
Auf der Donauinsel streifen wir durch die Büsche und treffen immer wieder auf Lagerplätze und
vereinzelte Zelte mit schlafenden Kids. „Am Nachmittag“, sagt Cem, „ist alles voll hier, manche
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arbeiten als Boten für Dealer, die meisten trinken Alkohol, fast alle kiffen.“ Antonio kann nicht
mehr nach Hause, seit er seine Lehrstelle gekündigt hat. Seit Jahren habe es immer nur „Stress“ mit
dem Vater gegeben. „Er soll mich schlagen, okay, aber er soll nicht solche Dinge zu mir sagen.“
Cem springt ein und erläutert: „Er meint herzverletzende Sachen, verstehst du?“ Antonio: „Meine
Mutter lässt mich nicht mit meinem kleinen Bruder reden, ich bin ein schlechter Einfluss. Meine
Eltern haben mich bei meiner Firma schlechtgemacht. Früher war ich in der Schule positiv, hab bei
der Vienna gekickt. Doch jetzt werden die Zeiten immer schlechter. Wenn es so weitergeht, werde
ich Dealer.“
Alle vier haben die letzte Nacht bei a_way am Westbahnhof verbracht. Die fünf monatlichen Nächte
sind nun aufgebraucht. Heute müssen sie wieder schauen, wo sie bleiben. „Was sollen wir machen“,
fragt Cem, wir können unser Gesicht nicht ändern. Die kennen uns.“ Symeya hat eine Idee: „Wir
könnten es in St. Pölten versuchen. Die bei der Notschlafstelle dort sind auch nett.“
Gestern dachte Antonio kurz, es gehe bergauf. Es war ihm ein Platz in einem Krisenzentrum in
Aussicht gestellt worden. Doch heute früh war alles anders. Er sagt: „Die helfen mir nicht. Sie haben
angerufen und gesagt, wir haben nichts für dich. Heute bin ich wieder draußen.“ Auch Cem hat
einen Anruf vom Jugendamt erhalten. „Ich hab einen Platz im Krisenzentrum“, verkündet er knapp,
„ich muss um 13.00 Uhr zum Jugendamt nach Floridsdorf.“
Bei a_way hinter der Riesenbaustelle am Westbahnhof machen zehn Sozialpädagogen seit fünf
Jahren das Einzige, was man nach Meinung von Experten mit diesen Jugendlichen sinnvollerweise
machen kann: Man lässt sie sein, wie sie sind. Martin Haiderer leitet die Notschlafstelle: „Sie
können kommen, müssen nichts erklären, nicht einmal ihren Namen nennen. Sie bekommen etwas
zum Essen, ein Bett zum Schlafen, bei Bedarf saubere Spritzen und dürfen Kleider waschen. Meist
kommen sie aus eskalierten Stresssituationen und finden hier die Möglichkeit zu schweigen und sich
zu sammeln. Dann versuchen wir ein Gespräch.“ Haiderer erklärt, „dass diese psychosozial
auffälligen Kids erstaunliche Sozialkompetenzen zeigen, wenn man sie nur in Ruhe lässt.“ Im
Vorjahr sind 360 verschiedene Jugendliche hier gewesen. Manche kommen nur einmal, andere
sporadisch, wieder andere konsumieren regelmäßig ihre fünf monatlichen Nächte. Vereinzelt landen
hier auch harmlose Fälle wie Jugendliche vom Land, die ihr Zugticket verloren haben. Genaue
Zahlen gibt es nicht, weil das Problem bisher nicht untersucht worden ist. Haiderer: „Man muss
davon ausgehen, dass es auch solche gibt, die wir nicht kennen. Aber die Straßenkinder Wiens auf
300 zu schätzen ist noch konservativ. Es sind echte Straßenkinder, 13- bis 18-jährig, und ihre Zahl
steigt. Sie schlafen in Abbruchhäusern, in Waggons, in Parks. Treffen sich bei den Kinozentren, im
Prater, an der Donau, am Karlsplatz und anderswo.“ Die Wiener Jugendwohlfahrt betreibe teils gute
Einrichtungen, doch mit den wirklich schwierigen Kids komme man dort nicht mit: „Zwei Drittel der
Jugendlichen kommen von der MA 11, wurden rausgeschmissen. Sie müssen sich anpassen oder
gehen.“ Für das Jugendamt stehe das Gesetz im Vordergrund, für a_way der Mensch. Haiderer
findet es unerträglich, dass diese Jugendlichen keinerlei Anspruch auf ein Existenzminimum haben,
und fordert ein Antragsrecht durch Sozialbetreuer.
Abschiebungen. Es ist 13.00 Uhr. Cem hat seinen Termin am Floridsdorfer Jugendamt. Nach einer
Stunde stürmt er mit hochrotem Kopf aus dem Büro einer Betreuerin. „Sie haben mich belogen. Ich
hab gar keinen Platz. Sie haben gesagt, ich kann hier eine Nacht am Boden schlafen und muss
morgen nach Oberösterreich gehen und einige Monate warten. Sie wollen mich abschieben. Sie hat
gesagt, wenn ich nicht heute um 18.00 Uhr da bin, brauche ich mich gar nicht mehr zeigen und kann
auf der Straße bleiben.“
Cem wurde schon einmal nach Oberösterreich abgeschoben. In eine Wohnung mit einer Matratze,
einer Decke, einem Polster und einem Fernseher. Kein Geschirr, nichts. Und völlig alleine. „Einmal
hab ich mich drei Tage nicht gemeldet, weil mein Handy kaputt war. Da haben sie mit Polizei,
Feuerwehr und Rettung die Tür aufgebrochen. Ich bin aufgewacht, und sie haben mich beschimpft
und gesagt, dass sie mir die Kosten des Einsatzes abziehen werden, sobald ich 18 bin.“ Sein Vater
war nie da, die Mutter hat sich nicht um die Kinder gekümmert. „Mein Vater wollte von einem
Onkel, dass er mich erzieht. Seit meinem dritten Lebensjahr hat er mich behandelt wie einen
Soldaten, der was verbrochen hat. Gebrüllt, geschlagen, bespuckt. Meine zwei kleinen Geschwister
sind in einem anderen Krisenzentrum. Ich darf sie nicht sehen. Sie haben uns voneinander getrennt.
Ich hatte so große Sehnsucht.“ Cem ist ein typisches Beispiel für Familien, die nicht miteinander,
aber auch kaum ohneeinander können: Seine Mutter habe auch zuletzt noch immer versucht, ihn
wie ein kleines Kind zu schlagen. „Ich hab sie weggestoßen, und sie hat die Polizei gerufen und
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gelogen, ich hätte sie geschlagen. Die Polizei hat mich schon dreimal weggewiesen. Jetzt hab ich
Betretungsverbot.“ Nach Oberösterreich geht er jedenfalls nicht. „Mir doch egal“, sagt er. Im
Fachjargon der Wiener Sozialpädagogik nennt man das „Betreuungsresistenz“. Besonders
mitgenommen hat ihn ein Erlebnis während eines kurzen Aufenthalts im Wiener Krisenzentrum am
Augarten vor einem halben Jahr. Peter, ein 16-Jähriger, süchtig, hatte es im dritten Versuch
geschafft, mit einem wüsten Mix aus Tabletten Selbstmord zu begehen. Doch was Cem besonders
getroffen hat, war, „dass dem Toten jemand das neue Handy gestohlen hat. Eine Betreuerin wusste
auch, wer es war, hat aber nichts gemacht.“ Die Betreuerin befindet sich seit einem halben Jahr in
Krankenstand.
Ausgestattet mit Essbarem aus dem Supermarkt, liegen wir abends auf der Praterwiese unter dem
Riesenrad. Symeya war ebenfalls in Oberösterreich „untergebracht“, obwohl sie davor keinen Bezug
zu der Gegend hatte. „Weil ich ausgerastet bin, haben sie mich niedergespritzt, dass ich für nichts
mehr Kraft hatte und zehn Kilo zugenommen habe. Ich war einmal ein normales Mädchen. Jetzt bin
ich ein Straßenkind. Ich ziehe um die Häuser, aber nachdenken tu ich nur, wenn ich ganz alleine
bin. Und das bin ich selten. Andere würden sich umbringen, ich halte das aber aus.“
Ram, der Dressman, hat den ganzen Tag nicht viel geredet. Auch er ist immer nur geschlagen
worden von einem Vater, der, so Ram, „die Halbgeschwister liebte, aber mich nicht“. Ram ist guter
Dinge: „Mir ist eine Arbeit beim Mäkki (McDonald’s, Anm.) versprochen worden. Dann verdiene ich
mehr als 1000 Euro.“ Ihm hat es überall gefallen, wo er gewohnt hat. Was ihm fehlt, ist nicht viel
mehr als eine Freundin. Na ja, vielleicht auch eine Wohnung, ein Schulabschluss, wirkliche Arbeit
und nicht nur versprochene – und Kontakt zu den Eltern? „Nein, das will ich nicht. Das ist schon in
Ordnung.“
profil.at 17.7.2010
Quelle: http://www.profil.at/articles/1028/560/273420/mindestens-300-strassenkinder-wienjugendaemter-familien
4.2 Aufräumen für Olympia
POLIZEIEINSATZ IN DEN FAVELAS
Rio räumt auf für Olympia
Von Matthias Kremp
Rios Armenviertel, die Favelas, gehören zu den gefährlichsten Wohngegenden der Welt. Tausende
Polizisten sollen die von Drogen und Kriminalität zerrütteten Slums in Vorbereitung auf Olympia
2016 befrieden. Hilfe erhofft sich die Stadt von New Yorks Ex-Bürgermeister Giuliani.
Für Rio de Janeiro, die brasilianische Megacity, die 2016 die Olympischen Sommerspiele ausrichten
soll, hat die Zahl 68 eine ganz besondere Bedeutung. 68 nämlich ist genau die Zahl junger
Brasilianer, die in den Slums der Stadt getötet werden - täglich. So lautet zumindest das Ergebnis
einer Untersuchung des Statistikinstituts Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE), dass
die Zahl der zwischen 1998 und 2008 gewaltsam in den Favelas zu Tode gekommenen Menschen
ausgewertet hat.
Dort leben Schätzungen zufolge rund eine Million Menschen, oft unter ärmlichsten Bedingungen.
Meist handelt es sich um Landbevölkerung, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen
nach Rio kommt, sich aber keine Wohnung in den besseren Vierteln der Stadt leisten kann. Obwohl
die Bewohner der Favelas unter oft erbärmlichen hygienischen Bedingungen leiden und
Drogenhandel und organisierte Kriminalität vielfach zum Alltag gehören, haben sich in den
Unterschichtquartieren vielerorts Gemeinschaften gebildet, die den lokalen Bandenchefs erstaunlich
loyal gegenüber stehen. So gibt es etwa Berichte, dass die Bewohner einer Favela 1987 gegen die
Verhaftung eines örtlichen Drogenhändlers protestierten, weil dieser den Bau einer Kanalisation
finanziert und elternlosen Kindern geholfen haben soll.
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Doch solchen Robin-Hood-Geschichten zum Trotz hat sich Rios Stadtverwaltung vorgenommen,
gegen Kriminalität und Wildwuchs der Favelas vorzugehen. Einen ersten Schritt in diese Richtung
machten die Behörden am 30. November. Im Rahmen einer als "Operation Olympische Reinigung"
bezeichneten Aktion marschierten Angaben des " Brazzil Magazine" zufolge 300 Militärpolizisten in
die Favelas Pavão-Pavãozinho und Cantagalo ein. Anders als bei ähnlichen Aktionen zuvor sollen die
Polizisten diesmal aber nicht nur zu einem kurzfristigen Einsatz ausgerückt sein, sondern dauerhaft
als Schutztruppe in der Favela bleiben.
Die "Logik des kaputten Fensters"
Insgesamt will der für die öffentliche Sicherheit zuständige Minister José Mariano Beltrame 3300
Polizisten in verschiedene Favelas entsenden. Die so entstehenden, als "friedensstiftende
Polizeieinheiten" bezeichneten Sicherheitstruppen sollen dafür sorgen, dass bis Ende 2010 30
Prozent der Slum-Bevölkerung Rios in sicheren und entkriminalisierten Wohngebieten leben.
Insbesondere junge Polizeirekruten sollen dabei eingesetzt werden. Als besonderen Anreiz für den
Job stellt Beltrame einen Bonus von 500 Real (knapp 200 Euro) in Aussicht.
Als zusätzlichen Aktivposten hat sich Sérgio Cabral, Gouverneur des Bundesstaates Rio, der Dienste
von New Yorks Ex-Bürgermeister Rudolph Giuliani versichert. Giuliani war von 1994 bis Ende 2001
Bürgermeister von New York, senkte die Kriminalitäts- und Mordrate der US-Metropole mit einer
Null-Toleranz-Politik um mehr als die Hälfte. Mit einem ähnlichen Ansatz soll Giulianis Beraterfirma
jetzt auch die Sicherheit in Rio verbessern. Mit Blick auf die Kriminalität sprach Giuliani von einer
"Logik des kaputten Fensters". "Ich muss das erste reparieren, bevor sie das zweite einwerfen. So
verringert man den Anreiz für weitere Straftaten und zeigt, dass Unordnung kein nachahmenswertes
Beispiel ist."
Auch friedliche Favelas werden abgerissen
Doch gibt es auch Favelas, die sich gegen die Olympia-Pläne der Regierung wehren wollen. So wie
beispielsweise die Vila Autódromo, eine aus einem Fischerdorf gewachsene Favela nahe der
ehememaligen Rennstrecke Autódromo de Jacarepagua im Südwesten Rios. Angaben der
gemeinnützigen Organisation Catcomm (Catalytic Communities) zufolge zählt die 40 Jahre alte
Siedlung, in der rund 1200 Familien leben, zu den besonders ruhigen, friedlichen Favelas in Rio.
Weder Drogenhandel noch kriminelle Banden machen den Einwohnern zu schaffen. Trotzdem soll
ausgerechnet diese Favela komplett abgerissen werden, da sie offenbar den Bauplänen für das
Olympische Dorf im Wege steht.
Ebenso soll es demnach der Favela Asa Branca ergehen, die von Catcomm als Vorzeigeprojekt für
Gemeinschaftsaktivitäten beschrieben wird. So sollen die Einwohner dieses Slums ihre
Lebensbedingungen eigenhändig verbessert haben, indem sie eine Kanalisation gebaut und die
Wohnhäuser zum Flutschutz erhöht haben. Laut Catcomm soll diese Siedlung einer Autobahn
weichen. Der Alternativvorschlag der Organisation: Statt solche Siedlungen zu planieren, solle die
Stadtverwaltung die Mittel, die ihr für die Vorbereitung der Olympischen Spiele bereitstehen lieber
nutzen, um vorbildliche Favelas wie Asa Branca und Vila Autódromo zu urbanisieren.
Viel Zeit für solche Vorhaben bleibt der Millionenstadt nicht. Bereits 2014 soll in Brasilien die
Fußball-WM stattfinden, nur zwei Jahre später sind die Olympischen Spiele angesetzt.
Spiegel online, 6.12.2009
Quelle: http://www.spiegel.de/reise/aktuell/0,1518,665453,00.html
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4.3 Kinderprostitution
4.3.1 Kinderprostitution weltweit
Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie haben sich in den vergangenen Jahren zu
riesigen Märkten mit enormen Gewinnspannen entwickelt. UNICEF schätzt, dass allein in Asien
jährlich eine Million Mädchen und Buben für das Geschäft mit Sex ausgebeutet werden.
Der UN-Studie über Gewalt gegen Kinder (2006) zufolge werden weltweit 1,8 Millionen Kinder
pro Jahr zur Prostitution und Pornografie gezwungen und 1,2 Millionen Kinder wie Ware verkauft –
viele von ihnen für sexuelle Zwecke. Darüber hinaus werden etwa 150 Millionen Mädchen und 73
Millionen Buben unter 18 Jahren Opfer sexueller Gewalt – in der Familie, in der Schule, in ihren
Wohnquartieren, in Gefängnissen, an ihrem Arbeitsplatz.
Kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern ist eine der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen weltweit. Das ganze Ausmaß der kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern ist
unbekannt, weil die Täter im Verborgenen handeln und kriminelle Netzwerke nutzen. Doch die
vorliegenden Daten und Beispiele lassen erkennen, dass das Recht der Kinder auf Schutz vor diesen
schlimmsten Formen der Kinderarbeit millionenfach verletzt wird. […]
Zahlen und Fakten
Die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern ist ein kriminelles Geschäft, das nur zu einem
Bruchteil aufgedeckt wird. Die folgenden Zahlen und Beispiele beruhen auf Schätzungen und sollen
als Anhaltspunkte dienen.
- ECPAT, die Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung, schätzt den
Umsatz mit Kinderprostitution und Kinderpornografie auf zwölf Milliarden US-Dollar im Jahr. Neben
Waffen- und Drogenhandel ist der Menschenhandel das lukrativste kriminelle Geschäft.
- In der Grenzregion zwischen Tschechien, Österreich und Deutschland wurde nach einer
Untersuchung für UNICEF aus dem Jahr 2005 jedem siebten Kind schon einmal Geld für Sex
angeboten.
- In Nepal werden nach Schätzungen von UNICEF jährlich 12.000 Kinder, vor allem Mädchen,
innerhalb des Landes oder nach Indien und andere Nachbarländer in Bordelle verkauft.
- In Südafrika prostituieren sich laut UNICEF rund 30.000 Kinder unter 18 Jahre, die Hälfte von ihnen
ist unter 14 Jahre alt.
Ursachen und Hintergründe
Kinder, die zu Opfern von Menschenhändlern und kommerziell sexuell ausgebeutet werden, sind
häufig schon vorher gefährdet, weil sie in Heimen aufwachsen, aus zerrütteten Familien stammen
oder in extremer Armut leben. Meist wirken viele Faktoren zusammen:
Armut und extreme soziale Gegensätze machen die sexuelle Ausbeutung von Kindern oft erst
möglich. So sehen sich in ländlichen Gegenden Thailands und Kambodschas Eltern gezwungen, ihre
Kinder wegzugeben, um das Überleben der Familie zu sichern. Bei einer Befragung auf den
Philippinen sagten die meisten Eltern von Kinderprostituierten, sie würden ihre Kinder ja von der
Straße holen, „wenn sie die Wahl hätten“. Sie bräuchten aber deren Verdienst. Viele Familien
glauben auch den Versprechungen der Kinderhändler, ihre Tochter oder ihr Sohn werde in der Stadt
eine gut bezahlte Arbeit bekommen oder könne eine Ausbildung machen. Oder die verarmten Eltern
bekommen direkt bares Geld und die Kinder müssen diese Schuld abarbeiten.
Gewalt und sexueller Missbrauch in der Familie fördern das Abrutschen von Kindern ins SexGeschäft. Viele missbrauchte Kinder flüchten aus ihren Familien und müssen sich dann allein
durchschlagen. Durch den Missbrauch werden sie oft „sexualisiert“. Das heißt, ihre Persönlichkeit
wird so zerstört, dass sie leichter sexuelle Beziehungen zu Erwachsenen aufnehmen. Auch wenn
Familien auseinander brechen oder extrem belastet sind, etwa durch Alkoholsucht, Krankheit oder
den Tod eines Elternteils, werden Kinder leichter Opfer von Ausbeutern.
Wo Frauen und Mädchen diskriminiert werden und wenig gelten, ist der Schritt zu Gewalt und zu
ihrer sexuellen Ausbeutung nicht weit. In China und anderen Ländern Asiens sind Töchter den Eltern
häufig weniger wert als Söhne. Die Ansicht, dass ein Mädchen etwas zum Unterhalt der Familie
15
beitragen sollte – egal wie –, ist weit verbreitet. Wer Frauen als Menschen zweiter Klasse
betrachtet, hat weniger Skrupel, sie auszubeuten.
Kriege und bewaffnete Konflikte haben meist eine Zunahme der kommerziellen sexuellen
Ausbeutung von Frauen und Kindern zur Folge. Flüchtlinge werden leichter zu Opfern, wenn sie auf
den Schutz einer Kriegspartei angewiesen sind. Milizen entführen Mädchen und halten sie als
Sklavinnen. Viele Frauen und Kinder müssen sich prostituieren, um ihr Überleben zu sichern.
Schätzungen gehen davon aus, dass 250.000 Kinder als Kindersoldaten missbraucht werden.
Die Ausbreitung von AIDS trägt dazu bei, dass Männer häufig auf der Suche nach jüngeren
Geschlechtspartnern sind, weil sie fälschlicherweise glauben, dadurch vor Ansteckung mit dem HIVirus sicher zu sein. Dabei sind Kinder aufgrund ihres Entwicklungsstadiums viel leichter verletzlich.
Sie sind daher stärker in Gefahr, sich mit HIV zu infizieren und das Virus weiterzugeben als die
Erwachsenen. Waisen aus von AIDS betroffenen Haushalten sind besonders in Gefahr: Sie haben oft
keine andere Chance, als durch Prostitution ihr Überleben und das ihrer Geschwister zu sichern.
Die fehlende Registrierung von Geburten in vielen Ländern macht es schwer, Kinderschutzgesetze
anzuwenden, da das Alter der Betroffenen nicht bekannt ist. Diese Kinder bekommen keine
Geburtsurkunde, werden oft nicht eingeschult und haben später keine Ausweise. In Bangladesch
beispielsweise werden heute weniger als drei Prozent der Kinder bei ihrer Geburt offiziell
eingetragen.
[…]
Die Situation in Österreich
Verlässliche Daten zur kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern in Österreich sind nicht
vorhanden. Schätzungen gehen davon aus, dass es in Wien 200 minderjährige Prostituierte gibt. (1)
Die Meldestelle Stopline ist 2007 2.800 Hinweisen zu kinderpornographischen Inhalten im Internet
nachgegangen. Zahlen zum Ausmaß des Kinderhandels gibt es nur in Wien – in den letzten Jahren
hat es ca. 1.300 Aufgriffe von Kindern, die zu Opfern des Kinderhandels geworden sind, gegeben.
Eine von UNICEF in Auftrag gegebene und im Jahr 2005 veröffentlichte Untersuchung hat gezeigt,
dass in der Grenzregion zwischen Tschechien, Österreich und Deutschland jedem siebten Kind schon
einmal Geld für Sex angeboten wurde. Um die tatsächliche Zahl der Verbrechen einschätzen zu
können, ist eine Grundlagenstudie zum Ausmaß des Kinderhandels in Österreich notwendig.
Österreich hat im Jahr 2004 das Zusatzprotokoll zur Kinderrechtskonvention betreffend
Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie ratifiziert und sich somit verpflichtet, die
darin enthaltenen Standards auch umzusetzen. Außerdem war Österreich eines der ersten Länder,
die die Europarat-Konvention gegen Menschenhandel ratifiziert haben.
Die Bundesregierung hat im Jahr 1998 einen „Aktionsplan gegen Kindesmissbrauch und gegen
Kinderpornografie im Internet“ und im Jahr 2004 einen Nationalen Aktionsplan für die Rechte von
Kindern und Jugendlichen verabschiedet. Allerdings zeigen sich in beiden Aktionsplänen Defizite und
die Verantwortlichkeit für die Implementierung ist jeweils unklar. […]
(1) Siehe Tener, Carolin / Ring, Tina, Auf dem Strich-Mädchenprostitution in Wien, Milena, 2006
UNICEF Österreich 2008
Quelle: http://www.unicef.at/fileadmin/medien/pdf/zerstortekindheit.pdf
4.3.2 Kinderprostitution in Brasilien
[…] weiterhin zeigen Studien und zahlreiche Presseberichte, dass vielerorts im Lande schon zehnund elfjährige Mädchen ihren Körper für umgerechnet achtzig Cents feilbieten, und dass siebzehn
berüchtigte und bestens bekannte Zuhälterringe weiterhin straflos landesweit Minderjährige sexuell
ausbeuten. Und bei der Kinderpornographie im Internet, die die Pädophilie fördert, liegt Brasilien
gemäß einer neuen Untersuchung inzwischen weltweit auf Platz eins. Auch nach Angaben des UNOKinderhilfswerks UNICEF ist die Lage im reichsten, wirtschaftlich hochentwickeltsten Teilstaat Sao
Paulo besonders akut und nicht etwa in den Miseregebieten des Nordostens oder in den
Touristenzentren. In der Erzdiözese von Sao Paulo koordiniert Maria do Rosario die Kinderpastoral.
[…] „Wir von der Kirche meinen, alles hat letztlich mit fehlender Bildung zu tun - ohne bessere
Ausbildung, ohne bessere Schulen gibt es keine Lösung.” Jene Kinder, die sich prostituieren,
entstammen zumeist dem Heer der funktionellen Analphabeten, dem Heer völlig zerrütteter,
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verwahrloster Familien der Unterschicht. Ob auf dem Lande selbst in kleinen Dörfern, oder in den
Slums der großen Städte. Die Familie, die Schule und die Kirche, so betont Maria do Rosario, hätten
früher gemeinsam für die Bildung, die Erziehung dieser Kinder gesorgt. Doch dies sei leider nicht
mehr möglich, zumal sich die öffentlichen Schulen sehr verschlechtert hätten. ”Heute ist die Lage
gravierend. Denn wer kommandiert, wer steuert denn heute dieses Land? Das organisierte
Verbrechen - und wir sind dessen Willkür ausgeliefert. Ich weiß, dass das eine schwerwiegende
Feststellung ist. Destrukturierte Familien sind unfähig, den Mädchen eine Orientierung zu geben,
schlimmer noch, stimulieren sie nur zu oft zur Prostitution, um daraus Gewinn zu ziehen, schicken
sie gar an die Verkehrsampeln. Wollen diese Mädchen aus der Prostitution aussteigen, gibt es
niemanden, der ihnen hilft, gibt es keine Struktur, die sie auffängt. Wir als Kirche können nur einer
beschränkten Zahl von Familien und solchen betroffenen Mädchen helfen. Wir leisten ohnehin
Sozialarbeit, die eigentlich Sache des Staates ist. Auf welche Familien treffen wir denn häufig? Die
Mutter mit niedrigstem Selbstwertgefühl, der Vater Alkoholiker, die Großeltern von allen
aufgegeben, verlassen, die Kinder ohne Halt. Wir restrukturieren, begleiten in Sao Paulo rund 14000
solcher Familien, sorgen dafür, dass dort kein Kind in die Prostitution abrutscht. Aber es gibt
natürlich weit mehr bedürftige Familien in der Stadt.”
Sueli Camargo, Leiterin der Jugendlichen-Pastoral von Sao Paulo, hat diese Angaben bestätigt und
ebenfalls die Untätigkeit der Lula-Regierung und aller anderen Autoritäten angeprangert.
Auch in der nordöstlichen Küstenstadt Fortaleza, einem beliebten Ferienziel, floriert die
Kinderprostitution, stellen ausländische Touristen indessen nur einen Bruchteil der Freier, bieten
sich am Industrieviertel indessen sogar neunjährige Mädchen an.
[…] Dass Mädchen ihren Körper für 1.99 Real anbieten, liegt nach Ansicht der Kongresssenatorin der
Sozialistischen Partei, Patricia Saboya, daran, dass viele Kinder keinerlei Unterscheidungsvermögen
haben und solchen Billig-Sex als eine gängige Praxis empfinden. “Alles beginnt zuhause,
vergleichbar der Tatsache, dass Slumkinder davon träumen, einmal Bandit zu werden - dies scheint
ihnen die natürliche Ordnung der Dinge.”
Auch angesichts infantilen Fußball-Kommerz-WM-Nationalismus legt der PT-Politiker Carlos Minc aus
Rio de Janeiro den Finger auf die Wunde, kritisiert in einer Kolumne die “Indifferenz der
Gesellschaft” gegenüber der Kinderprostitution. Mädchen zwischen neun und zwölf Jahren alterten
als Huren frühzeitig, würden auf den Straßen für 1.99 Real konsumiert, abgenutzt - alles mit
Zustimmung, Duldung ihrer Familien, der Autoritäten, in einem Klima sozialer Scheinheiligkeit,
“Hier zeigt sich auf groteske Weise der krankhafte Machismus”, so Carlos Minc. Anders als in
Ländern wie Frankreich sei der Übergang zu einem System freier Arbeit nicht mit einer kulturellen
Revolution verbunden gewesen, Laster und Fehler, Regeln der Sklavenhalter seien mit neuen
ökonomisch-sozialen Werten verschmolzen, hätten sich so im brasilianischen Kapitalismus
assimiliert. Was ist das für ein Land, fragt der PT-Politiker, das zwar einen ständigen Sitz im UNOSicherheitsrat wolle, einen Astronauten ins All schicke, aber nicht in der Lage sei, den Aderlass der
Jugend Brasiliens zu stoppen.
Quelle: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/29/kinderprostitution-in-brasilien-madchenbieten-sich-fur-achtzig-cents-an/
4.3.3 Kinderprostitution im Grenzgebiet in Tschechien
Prag - Ein Jahr nach der EU-Osterweiterung werden in der Grenzregion Kinder weiter zur
Prostitution gezwungen. Für viele Kinder dort gehört Kinderprostitution zum normalen Alltag. Dies
zeigt eine Studie, die UNICEF gestern in Prag veröffentlicht hat.
Bei einer Befragung von mehr als 1.500 Kindern und Jugendlichen berichtet fast jedes siebte Kind in
der tschechischen Stadt Cheb nahe der deutschen Grenze davon, dass ihm einmal ein Erwachsener
Geld für Sex angeboten habe.
[…] Mit Unterstützung von UNICEF wurden von der Prager Karls-Universität 1.585 Schulkinder im
Alter von sieben bis 15 Jahren interviewt - 844 davon in der tschechischen Stadt Cheb nahe der
deutschen Grenze und 741 in Prag.
- 43 Prozent der befragten Mädchen in Cheb halten demnach Prostitution für eine gute Möglichkeit
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Geld zu verdienen, wenn man keine Ausbildung hat (in Prag äußerten nur fünf Prozent der Kinder
diese Ansicht).
- Fast zehn Prozent der in Cheb befragten Kinder können sich vorstellen, sich selbst zu
prostituieren, in Prag sind dies sechs Prozent.
- Die Mehrheit der Kinder weiß, dass es in ihrer Stadt Kinderprostitution gibt (75 Prozent in Cheb, 65
Prozent in Prag).
- Viele Kinder gaben an, selbst Kinderprostituierte gesehen zu haben (29 Prozent in Cheb, 12
Prozent in Prag).
- Fast 14 Prozent der Kinder in Cheb und zehn Prozent der Kinder in Prag berichteten, dass ihnen
schon einmal ein Erwachsener Geld für Sex angeboten habe. […]
UNICEF-Pressemitteilung, 2.6.2005.
Quelle: http://www.tschechien-online.org/news/854-unicef-kinderprostitution-gehort-grenzgebiettschechien-alltag/
4.3.4 Kinderprostitution in Österreich
In Österreich prostituieren sich Schätzungen zufolge etwa 1.000 Kinder und Jugendliche unter 18
Jahren. Allein in Wien gingen 200 Minderjährige auf den Strich, sagt Astrid Winkler von der
Kinderschutzorganisation ECPAT.
Kinderhandel und -prostitution haben in den vergangenen Jahren international zugenommen, hieß
es anlässlich der Veröffentlichung eines Monitoring-Berichts zur kommerziellen sexuellen
Ausbeutung Minderjähriger.
Laut Bundeskriminalamt (BK) wurden von Jänner bis November 2006 sechs Fälle von
Kinderprostitution bekannt. Im selben Zeitraum des Vorjahres waren es vier. […]
2.500 bis 4.500 Männer aus Österreich haben laut Schätzungen der Organisation im Ausland Sex mit
Minderjährigen. Drei Fälle werden derzeit polizeilich und gerichtlich verfolgt. Laut Polizeiexperten
liegt die Dunkelziffer weit höher: Auf ein bekannt gewordenes Delikt dürften 1.000 kommen, die
unentdeckt bleiben.
Österreichische Sextouristen seien zunehmend in grenznahen Ländern unterwegs. "Tschechien ist
ein Problemgebiet", so Winkler. Aber auch die Schwarzmeerküste werde zu diesem Zweck immer
häufiger von Österreichern frequentiert. Oft werde Kinderprostitution dort hinter BegleitserviceAngeboten versteckt.
International ist ein Anstieg bei der Prostitution von Buben zu bemerken, sagte Alessia Altamura von
ECPAT International. Vor allem in Bangladesch, Pakistan und Indien sind sie immer häufiger SexOpfer. Die traditionellen Destinationen Thailand und die Philippinen werden von europäischen
Kindersextouristen zunehmend gemieden - sie weichen dafür nach Indonesien und Kambodscha aus.
In westlichen Ländern wird laut ECPAT immer öfter das Phänomen der "freiwilligen Prostitution"
beobachtet: Jugendliche verkaufen ihren Körper wegen des gestiegenen Konsum- und Kaufdrucks.
Häufiger werde auch die "Peer-to-Peer"-Ausbeutung, bei der Jugendliche pornografische
Handyvideos und -bilder von Gleichaltrigen machen und diese verbreiten.
"Der Handel von Kindern zur kommerziellen sexuellen Ausbeutung ist ein wachsendes Phänomen in
Europa", sagt Altamura.
In Wien nahm die Magistratsstelle für unbegleitete Minderjährige von 2003 bis 2005 weit über 500
Kinder auf. Jüngere Mädchen waren zuvor meist zu sexuellen Dienstleistungen, Jugendliche zum
Betteln und Stehlen gezwungen worden, so ECPAT.
In puncto Kinderprostitution, -pornografie und -handel liegt Österreich "im europäischen Trend. In
der Gesetzgebung gibt es Verbesserungen aber die Umsetzung hinkt diesen Standards hinterher",
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kritisiert Sax. Eine bessere Durchsetzung scheitere unter anderem am Fehlen statistischer Daten und
an der länder- und ressortübergreifenden Koordination.
Von einer neuen Bundesregierung forderte die Kinderschutzorganisation, den Nationalen Aktionsplan
Kinderrechte 2004 "mit Leben zu erfüllen", so Winkler.
Außerdem müsse die Datenlage zu Missbrauchsfällen ausgebaut werden, ein Betreuungskonzept für
Opfer erarbeitet sowie mehr finanzielle Mittel für Kampagnen bereitgestellt werden.
Quelle: http://oesterreich.orf.at/stories/158972
19.12.2006
4.3.5 Kinderprostitution in Wien
Im Stuwerviertel und auf der Äußeren Mariahilfer Straße greift die Polizei regelmäßig minderjährige
Prostituierte auf. Für Minderjährige, die auf den Strich gehen, gibt es in Wien keine
niederschwelligen Beratungsstellen, was laut Hilfsorganisationen dazu führt, dass das Problem nicht
in vollem Umfang erfasst werden kann.
Im Stuwerviertel ist die Polizei derzeit drei Mal pro Woche unterwegs. „Und wir landen leider immer
wieder Treffer", sagt Michael Lepuschitz, stellvertretender Leiter der sicherheitspolizeilichen
Abteilung bei der Wiener Polizei. Die Beamten greifen auf dem Strich in Praternähe regelmäßig
Minderjährige auf, der Großteil stammt aus Osteuropa und kam mittels Schleppern illegal ins Land.
Seit die Exekutive dort verstärkt Präsenz zeigt, ist die Zahl der Teenager, die nachts am
Straßenrand stehen, zwar gesunken. Problemlösung sei das allerdings keine, sagt Lepuschitz: „Es
verlagert sich dadurch nur in die Häuser." Weshalb man sich nun auch diverse Rotlichtlokale im
Grätzel vornehmen will. „Im Stuwerviertel sind in den letzten Wochen bereits einige Betriebe
geschlossen worden, weil man nicht zwischen Erwachsenen und Jugendlichen unterschieden hat."
Das Hauptproblem sei allerdings, dass es dafür einen Markt gibt. „Und daran sind nicht nur die
bösen Ausländer schuld, die die Kinder ins Land bringen, sondern auch die Freier."
Neben Minderjährigen, die aus Osteuropa nach Wien verschleppt werden, sind viele drogensüchtige
Teenager aus Problemfamilien betroffen. „Sie haben oft keine Möglichkeit, legal an Geld zu
kommen", sagt Martin Haiderer, Leiter der Notschlafstelle away zur Austria Presse Agentur. Rund ein
Drittel der Jugendlichen, die in der Caritas-Einrichtung hinter dem Wiener Westbahnhof kurzzeitig
Unterschlupf findet, prostituiert sich. Im vergangenen Jahr waren das um die 120 Kids. Das
Phänomen der Kinderprostitution sei sicher in Wien fokussiert, sagt Haiderer. Es kämen auch viele
Kinder und Jugendliche aus den Bundesländern in die Hauptstadt, um auf den Strich zu gehen.
Sprechen wolle kaum jemand darüber. Vor allem Burschen würden ihre Situation verleugnen,
obwohl sie gleichermaßen betroffen seien wie Mädchen.
Konkrete, österreichweite Zahlen zu Kinderprostitution gibt es nicht. „Da es kaum niederschwellige
Anlaufstellen gibt, kommen auch wenig Betroffene - weshalb es auch keine Zahlen gibt", sagt Astrid
Winkler, Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft zum Schutz von Kindern gegen sexuelle
Ausbeutung. Sie fordert „umfassende wissenschaftliche Grundlagenstudien". Nur so könne man die
Opfer gezielt unterstützen.
In Wien ist eine Ausweitung des Beratungsangebots freilich nicht geplant. „Es gibt bereits einige
Anlaufstellen für diese Zielgruppe, egal welchen Alters", sagt Monika Sperber, Sprecherin von
Jugendstadtrat Christian Oxonitsch (SP). Innerhalb des Jugendamts unterscheide man außerdem
nicht zwischen einzelnen Gewaltformen. „Das ist die geeignete Einrichtung für jede Form des
Missbrauchs." (Martina Stemmer/DER STANDARD-Printausgabe, 7.4.2009)
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4.3.6 „Morgens Mathe, mittags Hure“
Von Dialika Krahe
Sie sind noch Kinder, 12, 13 Jahre alt. Sie verlieben sich zum ersten Mal - und geraten an einen
Zuhälter, auf dem Schulhof oder bei Facebook. Eltern und Polizei kämpfen gegen die Macht
sogenannter Loverboys. Oft ist es schon zu spät. […]
"Ich hab eben nie was anderes gelernt", sagt Angelique. Sie war 15 Jahre alt, als sie sich in ihren
ersten Zuhälter verliebte. Wenn sie aus der Schule kam, wartete er in seinem Auto. Er hatte kurze
Röcke gekauft, hohe Schuhe, große Ohrringe, sie sollte das alles tragen. Sie stieg ein, weil sie ihn
liebte. Dann fuhr er sie auf Parkplätze, brachte sie in Wohnungen und vermietete ihren Körper, ein
15-jähriges Mädchen. Angelique wurde zum Sex erzogen.
[…] Loverboys, so nennt man in den Niederlanden diese Typen, die Schulmädchen durch ihre Liebe
an sich binden und sie anschaffen schicken. Junge Männer, die 13-, 14-, 15-jährige Mädchen vor der
Schule abfangen oder sie über das Internet ansprechen, soziale Netzwerke wie Facebook; die sie
abhängig machen von ihrer Aufmerksamkeit, ihrer Zuneigung, von Drogen, bis es zu spät ist und die
Mädchen ihnen gehören.
So war es bei Angelique, sie ging damals in die achte Klasse; so war es bei Maria, 12, er achtete
darauf, dass sie weiterhin zur Schule ging; so war es auch bei Mowitha, einem 13-jährigen Mädchen,
das gern Fußball spielte und Gitarre, bevor es diesen Jungen traf.
Morgens Mathe, mittags Hure, manchmal Sex in den Freistunden dazwischen, diese Geschichten
erschüttern die holländische Gesellschaft. Weil es nicht Mädchen aus zerrütteten Familien, aus
sozial schwachen Milieus sind, die hier in die Unterwelt rutschen und verschwinden, sondern
Mädchen aus der Mitte der Gesellschaft, Töchter von Lehrerinnen, Cafébesitzerinnen, manchmal
läuft es über Jahre, ohne dass es jemand merkt.
Emotionale Abhängigkeit zwischen Prostituierten und Zuhältern hat es immer schon gegeben.
Frauen werden durch Drogen, Gewalt, auch durch Zuneigung hörig gemacht, damit sie
funktionieren. Dass aber junge Männer systematisch nach Schulmädchen suchen, um sie zu Huren
heranzuziehen, ist ein bisher unbekanntes Phänomen, das Eltern, Lehrer und Polizei überfordert.
Niederländische Schulen veranstalten deshalb Aufklärungsseminare, Sozialeinrichtungen richten
Häuser für die Opfer ein, Kriminologen beschäftigen sich mit dem Thema. Und auch in Deutschland
werden die ersten Eltern wach, wenden sich an Hilfsorganisationen, weil sie nicht wissen, wie sie
ihre Töchter vor deren Zuhältern retten sollen.
[…] "Ab einem gewissen Punkt sind die Mädchen nicht mehr in der Lage, die Realität zu sehen", sagt
Bärbel Kannemann, der Loverboy sei dann ihre einzige Wirklichkeit. Kannemann ist eine kleine,
runde Frau, pensionierte Kommissarin, 35 Jahre lang hat sie in Deutschland bei der Polizei
gearbeitet, nun lebt sie abwechselnd in Deutschland und den Niederlanden. Sie wurde durch eine
Vermisstensendung auf das Thema Loverboys aufmerksam. Seit zwei Jahren ist sie in der Stiftung
"stoploverboys" tätig.
Jedes Jahr werden in den Niederlanden rund 1500 junge Mädchen Opfer dieser Form von
Prostitution, das schätzen Hilfsorganisationen. Die Opfer trauen sich nur selten, zur Polizei zu
gehen, weil sie bedroht werden, weil sie sich schämen, sich selbst schuldig fühlen oder keine
Beweise haben. 180 Anzeigen gegen Loverboys gab es vor zwei Jahren, die Dunkelziffer, das
vermutet die Polizei, liegt höher. […]
Spiegel online, 05. Juli 2010
Quelle: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,704727,00.html
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5. AUSZUG AUS DEM STÜCK
KIWI:
Ich komme zurück. Von weitem sehe ich einen Jungen aus unserem Unterschlupf
kommen. Er macht einen wohlhabenden Eindruck. Ich bemerke auch bewaffnete
Männer auf dem Grundstück. Das sieht nicht gut aus. Ich nehme Haselnuss auf den
Arm. Ich verstecke mich. Von weitem höre ich Tangerines Stimme: Kiwi! Kiwi! Wir
sind es! Wir sind zurück.
Die Männer verstecken sich im Wald. Ich spüre, wie mir das Blut in den Armen und
Beinen gefriert. Der Junge ruft uns zu: Ich bin es, Traube, ich bin
zurückgekommen. Ich habe Freunde gefunden. Sie haben mir versprochen, dass wir
alle von reichen Familien adoptiert werden. Los kommt! Das Elend hat ein Ende!
Papaya und die anderen tauchen auf: Wer hat dir was versprochen? Wo ist Kiwi?
Traube antwortet: Kommt her, meine Freunde, die ich mehr liebe als alles andere
auf der Welt, wir wollen reden! Wir müssen gar nicht mehr das Haus aus Stein
kaufen, ab heute werden wir glücklich sein.
Und da möchte ich mit einem Mal schreien. Mein Mund steht offen, aber meine
blaue Zunge bleibt stumm. Die Männer kommen aus ihrem Versteck und beginnen
mit ihren Gewehren auf meine Freunde zu schießen.
Traube läuft auf die Männer zu und brüllt: Nein, nicht auf meine Freunde! Nein!
Ein Mann mäht ihn mit dem Maschinengewehr um.
Tangerine und Zitrone versuchen sich durch den Bach in Sicherheit zu bringen. Sie
werden von den Gewehrkugeln eingeholt. Die Männer verfolgen jene, die den
anderen Hang hinauflaufen. Ich sehe sie alle im Kugelhagel zusammenbrechen. Die
Männer rennen zu ihrem Lastwagen. Ich höre sie abfahren.
Ich richte mich wieder auf. Ich laufe zu meinen Freunden. Ich berühre sie. Blut!
Überall Blut! Kein Seufzer. Nichts. Wacht auf!
Ich irre kopflos hin und her. Wacht auf!
Mango, wach auf, Mango, du hast ein Baby. Lass mich nicht ganz allein! Mango!
Wacht auf, meine Freunde, meine Freunde, lasst mich nicht ganz allein.
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6. VOR- UND NACHBEREITUNG
Zur Einstimmung: Straßenkinder (zur Vorbereitung)
Wählen Sie eine der beiden Methoden aus, um Ihre SchülerInnen auf das Stück einzustimmen:
Kreidestaffel: Schreiben Sie das Wort „Straßenkinder“ in die Mitte der Tafel. Geben Sie einem
Schüler/einer Schülerin die Kreide, um Assoziationen oder Fragen aufzuschreiben. Er/sie gibt die
Kreide weiter an die nächste Person, die wieder eine Assoziation oder Frage aufschreibt. An der
Tafel entsteht ein Cluster aus Begriffen, Vermutungen, Fragen.
Brainstorming / Unterrichtsgespräch:
Schreiben Sie das Wort „Straßenkinder“ an die Tafel und sammeln Sie die Assoziationen oder Fragen
der SchülerInnen in einem Tafelbild.
Zur Einstimmung: eigene Schlüsse erfinden (zur Vorbereitung)
Lesen Sie den SchülerInnen die Inhaltsangabe nur bis zur Hälfte vor (z.B. bis „dass das Töten nicht
erlaubt ist“) und lassen Sie sie dann überlegen, wie das Stück ausgeht. Anschließend können die
SchülerInnen mögliche Schlüsse spielen - sie übernehmen dabei die Rollen der obdachlosen
Jugendlichen.
Durch diese Übung entwickeln die SchülerInnen eine eigene Vorstellung von dem Stück und setzten
sich spielerisch mit der Stücksituation und den Inhalten/Themen auseinander.
Das Stück weiter schreiben (zur Nachbereitung)
Lassen Sie die SchülerInnen einzeln oder in Kleingruppen die Geschichte von Kiwi und Litschi weiter
schreiben. Haben sie das Haus auf dem Lande bekommen oder haben sie sich das Ende so
ausgemalt? Was passiert in dem einen oder anderen Fall? Anschließend präsentieren die
SchülerInnen einander ihre Fortsetzung.
Standbild (zur Nachbereitung)
Räumen Sie Stühle und Tische beiseite und lassen Sie die SchülerInnen quer durch den Raum gehen.
Währenddessen beschreibt ein Freiwilliger eine Situation aus dem Stück. Auf ein Klatschen sollen
sich die SchülerInnen dann in 2er-6er Gruppen zusammenfinden und ein Standbild zu dieser
Situation bauen. Nach einem kurzen Freeze lösen sie das Bild wieder auf, gehen weiter durch den
Raum und ein anderer Freiwilliger beschreibt eine andere Situation. Die SchülerInnen können die
Geschichte auch weiter erzählen und eigene Situationen erfinden.
Indem die SchülerInnen Standbilder bauen, suchen sie sich die prägnantesten Situationen heraus
und lernen zu fokussieren. Da sie dafür nur den kurzen Moment nach dem Klatschen haben, müssen
sie kooperieren und sich schnell auf eine Situation einigen.
Hochstatus, Tiefstatus (zur Vor- oder Nachbereitung)
Hochstatus: Gerade Kopfhaltung, sicherer Gang, wenig blinzeln, wenig Sprache
Tiefstatus: Hecktische Bewegungen, Hände im Gesicht, viel blinzeln, viel und verunsichert sprechen
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1. Lassen Sie Ihre SchülerInnen nacheinander Hoch- und Tiefstatus einnehmen und entsprechend
durch den Raum gehen. Zunächst ist jeder bei sich, dann werden die anderen wahrgenommen und
schließlich kommt Blickkontakt hinzu (Hochstatus: starren, Tiefstatus: gleich wieder weggucken).
2. Teilen Sie dann die Gruppe und lassen Sie eine Hälfte im Hochstatus und eine Hälfte im Tiefstatus
durch den Raum gehen. Begegnungen finden statt (erst nur Blickkontakt, dann Sprache).
3. Am Ende können Sie Jugendliche-(Geheim-)Polizei-Szenen improvisieren lassen, in denen mal die
eine, mal die andere Seite Hoch- bzw. Tiefstatus hat.
Themenmaschine „Armut“ (Zur Nachbereitung)
1. Räumen Sie Tische und Stühle an die Seite und bilden Sie mit den SchülerInnen einen Kreis.
Zunächst soll reihum zum Thema „Armut“ assoziiert werden: Eine/r fängt an und sagt irgendein
Wort, das ihm dazu einfällt. Dann ist sein/e Nachbar/in dran usw. Es kann mehrere Runden
assoziiert werden. Wem nichts einfällt, kann Worte wiederholen (den Fluss nicht unterbrechen).
Assoziationsübungen machen den Kopf frei und holen alles hervor, was einem spontan zu einem
Thema einfällt.
2. Anschließend bekommen die SchülerInnen die Aufgabe, eine Themenmaschine zum Thema
„Armut“ zu bauen. Die Mitte des Raumes kann als Bühne dienen. Eine/r fängt an, geht in die Mitte,
nimmt eine Haltung ein und macht dazu eine kurze, sich wiederholende Bewegung und ein
passendes Wort oder ein Geräusch (Bsp.: ein Bettler, der die Hand hoch hält und „Bitte“ sagt; ein
Marktverkäufer, dem gerade ein Stück Obst gestohlen wurde und der „Halt“ ruft usw.). Der nächste
Schüler kommt dazu, nimmt eine Haltung ein, die sich zum ersten in Beziehung setzt und ergänzt
diese ebenfalls durch eine kurze Bewegung und ein Wort/Geräusch. Dann kommt der nächste usw.,
bis alle Schüler in einem Bild stehen. Die Bewegungen und Geräusche laufen die ganze Zeit weiter.
Sind alle Schüler involviert, können Sie die Maschine erst immer langsamer und dann immer
schneller werden lassen, bis sie schließlich explodiert.
Auch beim Bau der Maschine arbeiten die SchülerInnen assoziativ. Als Teile der Maschine bilden sie
am Ende ein gemeinsames großes Ganzes, was den Gemeinschaftssinn stärkt.
Vertrauensübung (Zur Vor- oder Nachbereitung)
Räumen Sie gemeinsam alle Stühle und Tische beiseite, sorgen Sie dafür, dass Sie während der
Übung ungestört sind und nehmen auch Sie bei einer ungeraden Schüleranzahl an der Übung teil.
Alle stellen sich in einen Kreis und fassen sich an den Händen. Reihum wird durchgezählt: 1,2,1,2...
Wenn jeder einen festen Stand hat, lehnen sich auf ein Signal hin alle 1er ganz langsam nach
hinten. Sie werden von den 2ern gehalten. Dann richten sie sich langsam wieder auf, die 2er lehnen
sich zurück und die 1er halten sie fest. In der nächsten Phase lehnen sich gleichzeitig die 1er nach
vorne und die 2er nach hinten. Sie stützen sich gegenseitig. Jeder wird von den anderen gehalten
und der Kreis ist stabil. Fragen Sie die SchülerInnen, wie sie sich während der Übung gefühlt haben.
Hatten sie Angst oder haben sie sich wohl gefühlt? Woran lag das?
Statistisches Theater: „Bewege dich, wenn …“ (Zur Vor- oder Nachbereitung)
Die SchülerInnen stehen im Kreis. Der Pädagoge / die Pädagogin stellt Fragen. Wenn man die Frage
mit „Ja!“ beantworten kann, dann verlässt man seinen Platz und sucht einen neuen. Bei „Nein!“
bleibt man stehen.
Bewege dich, wenn …
- du dich schon einmal gegen eine Autorität gewehrt hast
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- du dich schon einmal gern angepasst hast
- du dich schon einmal zähneknirschend, widerwillig angepasst hast
- du dich schon einmal angepasst hast, obwohl du dir gedacht hast, es ist nicht gut so, man
müsste etwas sagen, aber ich trau mich nicht
- du dich gewehrt und einen Nachteil daraus gezogen hast
- du dich gewehrt und dafür Applaus bekommen hast
- du dich gewehrt und Unterstützung gefunden hast
- du dich angepasst und gedacht hast, im Verborgenen mache ich es doch anders
Forumtheater-Übungen zu „Kiwi“ (je nach Übung zur Vor- oder Nachbereitung)
Das Forumtheater ist die zentrale Methode im „Theater der Unterdrückten“, entwickelt von Augusto
Boal, Rio de Janeiro. Es stellt dem Publikum eine Szene vor, die schlecht und unbefriedigend endet.
Das Publikum wird ermutigt, diese Szenen zu einem besseren Ende zu bringen.
Lassen sie SchülerInnen eine oder mehrere der angegeben Szenen nachspielen. Danach wird die
Szene ein zweites Mal gespielt, die anderen SchülerInnen können jedoch an einer bestimmten Stelle
eingreifen, den Platz mit einer der „SchauspielerInnen“ tauschen und so die Geschichte in eine
andere – bessere – Richtung lenken. Lassen Sie die SchülerInnen selbst entscheiden, ob es „innere“
oder „äußere“ Einflüsse sind, die das Geschehen in eine neue Richtung lenken (am Beispiel der 1.
Szene: ändern Onkel und Tante ihre Meinung? Lässt sich das Mädchen nicht so einfach aussetzen?
Oder kommt überraschend ein Wohltäter, der ihnen zu einem besseren – gemeinsamen – Leben
verhilft?), aber sprechen Sie im Anschluss mit ihnen darüber.
Die Übungen sind so formuliert, dass sie auch ohne den Theaterbesuch ausgeführt werden können.
Wenn Sie die Übung zur Nachbereitung verwenden möchten, können Sie natürlich Szenen aus dem
Stück dafür nehmen.
1. Szene:
Ein Mädchen lebt mit Onkel und Tante in einer Hütte in den Slums. Eines Nachts kommt ein Mann
und sagt, dass sie innerhalb von 3 Tagen verschwinden müssen. Es werden Unterkünfte für die
olympischen Spiele gebaut – der Abschaum muss weg. Onkel und Tante beschließen, das Mädchen
auf dem Rummelplatz auszusetzen. Am nächsten Tag setzen sie ihren Plan in die Tat um.
2. Szene:
Eine Gruppe obdachloser Jugendlicher wohnt zusammen. Um zu überleben, sind sie gezwungen zu
betteln, Gelegenheitsjobs anzunehmen oder auch zu stehlen. Doch das wenige Geld reicht nicht, um
genug Essen, Kleidung und Wärme für alle zu bekommen. In dieser aussichtslosen Situation
beschließen die Jugendlichen, sich zu prostituieren.
3. Szene:
In einem autoritären Staat haben es Regimegegner schwer. Sie müssen sich verstecken, können
nicht legal arbeiten, kämpfen daher ums Überleben. Der Geheimdienst macht sich nun an ein
Mitglied einer Widerstandsgruppe heran und verspricht Straffreiheit und Lebensmöglichkeiten, wenn
er/sie dafür die anderen Mitglieder der Gruppe verrät. Schockiert wird das Angebot
zurückgewiesen, doch später wird der Überlebensdruck so groß, dass er/sie die anderen an den
Geheimdienst verrät.
4. Szene:
Ein junges Paar geht im Wald spazieren. Das Mädchen hat eine Vergangenheit: es hat sich
prostituiert. Ein ehemaliger Freier ist ihnen gefolgt und verlangt, dass ihm das Mädchen zu Willen
ist. Das Paar widersetzt sich und es kommt zum Kampf. Der junge Mann möchte das Mädchen
beschützen und erschlägt den Freier.
Kinderrechte (zur Vor- oder Nachbereitung)
Im Anhang finden Sie eine Übung zum Thema „Kinderrechte“ von humanrights.ch
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7. FRAGENKATALOG ZUR STÜCKNACHBEREITUNG
1. „Kiwi“ ist eine Produktion, in der viel Handlung erzählt, aber nicht auf der
Bühne dargestellt wird. Das Meiste spielt sich also im Kopf des Zuschauers ab. Was
haltet ihr von dieser Theaterform?
2. Ihr habt das Mädchen Kiwi kennen gelernt. Was haltet ihr von ihr? Könnt ihr
Kiwis Verhalten nachvollziehen? Wer ist schuld daran, dass ihr Leben so ist wie es
ist? Worin seht ihr Kiwis Stärken/ihre Schwächen?
3. Welche Szene ist euch besonders in Erinnerung geblieben? Warum?
4. Innerhalb der Gruppe versuchen die Jugendlichen, einander Wärme und
Geborgenheit zu schenken. Wie wichtig sind für euch eure FreundInnen? Was geben
sie euch, was eure Familie euch nicht geben kann?
5. Obdachlose Jugendliche, die sich (auch) prostituieren: wart ihr schockiert? Habt
ihr davon gewusst? Wo auf der Welt gibt es – eurer Meinung nach – solche
Lebensumstände?
6. Welche Figuren aus dem Stück habt ihr gemocht / welche nicht? Was haltet ihr
von Traube und seinem Verhalten?
7. Kiwi träumt sich wenn es ganz schlimm wird an einen anderen Ort. Wohin
würdet ihr euch träumen? Wie würde es da aussehen?
8. Wie geht die Geschichte von Kiwi und Litchi weiter?
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8. LITERATUREMPFEHLUNGEN ZUM THEMA
Für Jugendliche
Belletristik
Morton Rhue: Asphalt Tribe. Kinder der Straße. Ravensburger 2004
Sabrina Tophofen: Mein Leben 04. So lange bin ich vogelfrei: Mein Leben als Straßenkind. Würzburg:
ARENA, 2010
Fachbücher
Reiner Engelmann, Urs M. Fiechtner (Hg.): Kinder ohne Kindheit. Ein Lesebuch über Kinderrechte.
Düsseldorf: Sauerländer, 2006
Reiner Engelmann: Kinder: ausgegrenzt und ausgebeutet. Edition Menschenrechte. Herausgegeben
von Marion Schweizer. Unkel: Horlemann, 2008
Für Erwachsene
Birgitta Reddig-Korn (Hg): Morton Rhue: Asphalt Tribe. Materialien zur Unterrichtspraxis.
Ravensburger 2009
Markus H. Seidel: Straßenkinder in Deutschland. Schicksale, die es nicht geben dürfte. Berlin:
Ullstein, 2002
Cathrin Schauer: Kinder auf dem Strich. Bericht von der deutsch-tschechischen Grenze.
Herausgegeben von ECPAT Deutschland und dem Deutschen Komitee für UNICEF. Unkel: Horlemann,
2003
9. WEBLINKS ZUM THEMA
http://www.tdh.de/content/themen/schwerpunkte/strassenkinder/index.htm
http://www.unicef.at/infomaterial_liste.html?kat=217
siehe auch die Angaben bei den jeweiligen Texten
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