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1. READER DER YXK 2015 «DENN AUF DEN SOZIALISMUS ZU BESTEHEN BEDEUTET AUF DAS MENSCHSEIN ZU BESTEHEN.» A. ÖCALAN HERAUSGEBERIN YXK - Verband der Studierenden aus Kurdistan e.V. c/o ISKU Spaldingstraße 130, 20097 Hamburg www.yxkonline.de [email protected] INHALT 1 35 Ein Interview mit Cemil Bayik, dem stellvertretenden Vorsitzenden der KCK, im September 2012 (Teil I - III) Eine neue Form der internationalen Solidarität ͧͧ Duran Kalkan, Mitglied des Exekutivrates der KCK 40 «Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden» ͧͧ Hüseyin Çelebi im Interview mit der Zeitung CLASH 56 Ein Interview mit Riza Altun, dem Leitungsmitglied der PJAK, im September 2012 (Teil I - II) 68 Rede der YXK auf dem Jugendpolitischen Ratschlag der DKP, 26.01.2013, Hannover ͧͧ YXK HOCHSCHULGRUPPEN REGION NORD [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] REGION NRW [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] REGION SÜD [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] YXK JIN [email protected] www.yxkonline.de/yxk-jin KOMMISSIONEN [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] tinyurl.com/ yxk-fb @YXKonline WEBSITE II ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 Ein Interview mit Cemil Bayik, dem stellvertretenden Vorsitzenden der KCK, im September 2012 (Teil I - III) Teil I - Kurdische Bewegung, Demokratischer Konföderalismus und die Rolle Abdullah Öcalans «Denn auf den Sozialismus zu bestehen bedeutet auf das Menschsein zu bestehen.» Cemil Bayık gründete zusammen mit Abdullah Öcalan 1978 die PKK (Partiya Karkerên Kurdistan, Arbeiter_innenpartei Kurdistans). Heute ist er stellvertretender Vorsitzender des Exekutivrats der KCK. Die KCK (Koma Civakên Kurdistan) ist die Union der Gemeinschaften Kurdistan, sie stellt die Dachorganisation zur Umsetzung des von Abdullah Öcalan entwickelten Konzeptes des demokratischen Konföderalismus dar. Das Interview setzt sich mit der Ideologie des demokratischen Konföderalismus, der Rolle des Vorsitzenden der PKK Abdullah Öcalan, der Tagespolitik der kurdischen Freiheitsbewegung und vielen weiteren Fragen auseinander. Das Gespräch wurde im September 2012 im Qandil-Gebirge geführt und ist die komplette Übersetzung eines 6-stündigen Gesprächs. Es wird in drei aufeinander folgenden Teilen veröffentlicht. Dabei wurde die Reihenfolge der Fragen nicht geändert, sodass das vorliegende Interview dem tatsächlich geführten Gespräch entspricht. Die Mitschrift versucht durchgängig in einer geschlechtersensiblen Schreibweise zu formulieren, die der geschlechtsunspezifichen Form im Türkischen entspricht. Bei der Übersetzung wurde die Bezeichnung von Abdullah Öcalan als „Serok“, „Apo“ oder „Serok Apo“ beibehalten und nicht übersetzt, da die wörtliche Übersetzung ins Deutsche mit „Führer“, „Anführer“ stark konnotiert erschien und um eine sprachliche Gleichsetzung zu vermei- den. Der Begriff „Anführer“ bezieht sich in der kurdischen Bewegung unter anderem auf die politische Schlüsselposition, die Abdullah Öcalan für den Prozess zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und dem türkischen Staat innehat sowie auf seine ideologische Vorreiterrolle. Öcalan wurde durch ein Referendum von Millionen Kurd_innen als legitimer Vertreter der kurdischen Bewegung anerkannt. Die PKK, 1978 gegründet, befindet sich seit mittlerweile mehr als drei Jahrzehnten im Kampf gegen den türkischen Staat, bezeichnet sich aber als eine Bewegung der Jugend. Was ist damit gemeint? Zuallererst ist die PKK-Bewegung in Form einer Bewegung von Studierenden entstanden. Sie hat sich in Form einer Studierendenbewegung entwickelt und setzt sich in Form einer Studierendenbewegung weiter fort. Zu keiner Zeit will die PKK ihre Form als Studierendenbewegung aufgeben. Deshalb hat PKK- Vorsitzender Abdullah Öcalan gesagt: „Wir haben jung angefangen, wir machen jung weiter und werden es jung zu Ende bringen.“ Das drückt die Realität der PKK-Bewegung aus. Wieso wollen wir immer jung bleiben? Weil wir eine Lösungskraft sein wollen, deshalb. Jung zu sein bedeutet eine Lösungskraft zu sein. Eine Bewegung, eine Partei und deren Anhänger_innen, die aufhört eine Lösungskraft zu sein, kann keine Probleme mehr lösen, kann keine 1 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 Erfolge erzielen und kann die Befreiung nicht verwirklichen. Eine Bewegung, die die Freiheit als Ziel hat, sei es als persönliche Freiheit oder gesellschaftliche Freiheit, muss jung sein. Denn Freiheit bedeutet die Probleme zu verstehen und zu lösen. Anders gibt es keine Freiheit. Die Jugend ist voller Energie, verfolgt ständig das Neue, ist stets lebendig, lehnt das Alte ab, hat sich den Erfolg als Prinzip gesetzt und ist zudem bereit, dies alles bedingungslos zu verwirklichen. Jede_r, _dessen Ziel die Freiheit ist, muss sich die Jugend und ihre Besonderheiten als Grundlage nehmen. Vor allem um das Problem der Freiheit des kurdischen Volkes zu lösen, muss mensch eine Lösungskraft sein, also eine junge Kraft darstellen. _Er muss sich ständig als Lösungskraft weiter vertiefen. Nur so kann _er die Probleme verstehen, lösen, Entwicklung und Erfolg hervorbringen und die Befreiung verwirklichen. Zum Beispiel bestehen meine ganzen Bemühungen darin, mich selbst jung zu halten, nicht alt zu werden, also nicht aufzuhören eine Lösungskraft zu sein, sich ständig als Lösungskraft neu zu erschaffen und dadurch jung zu bleiben. Denn alt werden bedeutet, dass mensch keine Lösungskraft mehr darstellt. Wer keine Lösungskraft mehr darstellt, kann kein Problem mehr verstehen, lösen und damit auch keinen Erfolg erzielen und die Befreiung nicht verwirklichen. Deshalb ist die PKK eine Bewegung, die sich zum Ziel gesetzt hat, immer jung zu bleiben. Sie lehnt das Altwerden, also aufzuhören eine Lösungskraft zu sein, ab. sität. Wir haben uns bei Auseinandersetzungen mit Faschist_en kennen gelernt. So hat unsere Freundschaft angefangen. Und später hat mich Kemal Pir mit Abdullah Öcalan bekannt gemacht. Bei unserem ersten Treffen hat der Vorsitzende fünf Stunden lang mit mir eingehend über Kurdistan diskutiert. Ich hörte das erste Mal solche Einschätzungen. Danach verwandelte sich die Freundschaft mit Kemal Pir und Abdullah Öcalan in eine politische Freundschaft. Und danach hat dann sowieso die Formierung der Bewegung begonnen. Diese Formierung der Gruppe fand zum einen durch ideologische Vertiefung statt und zum anderen durch Kämpfe gegen Faschist_en in den Stadtvierteln und Schulen. Der ideologische Kampf wurde erweitert und im Zuge dessen haben wir uns mit den anderen Organisationen und Gruppen erfolgreich auseinandergesetzt. Denn 3 es gab keine Kräfte, die in der Lage gewesen sind, sich ideologisch mit uns auseinanderzusetzen. Wir waren stark und deshalb haben die ideologischen Auseinandersetzungen, die ideologische Weiterbildung der Gruppe und die Organisierung im Kampf gegen die Faschist_en die Organisation in kurzer Zeit stark gemacht. Später haben wir uns zum Ziel gesetzt, nach Kurdistan zu gehen und dort zu arbeiten. Als wir diese Entscheidung getroffen hatten, waren wir mit sehr vielen Problemen konfrontiert. Ein Teil der Gruppe, der sich in Ankara angeschlossen hatte, fand die Entscheidung, nach Kurdistan zu gehen und dort zu arbeiten, verfrüht und gefährlich. Sie wollten, dass wir in Ankara bleiben. Wie bist du damals politisiert worden in den Sie wollten, dass wir so arbeiten wie alle ande70er Jahren, als es in den Städten heftige Aus- ren Gruppen und Bewegungen. Das haben wir einandersetzungen zwischen Linken und Fa- nicht akzeptiert. Daraufhin haben sich einige von uns getrennt. Ich kann sagen, dass dies fast der schist_en gegeben hat? größte Teil der Gruppe war. Trotzdem sind wir Als wir nach Ankara gegangen sind, kannten wir diesen Schritt gegangen. Wir haben es geschafft, die türkische und kurdische Realität nicht. Da nach Kurdistan zu gehen und dort zu arbeiten. ich vom staatlichen türkischen Bildungssystem Ich bin zusammen mit Kemal Pir einer der ersten unterrichtet worden war, hatte ich selbst auch gewesen, die nach Kurdistan gegangen sind und keine Ahnung von der Realität. Ich konnte nicht dort in Antep (Eine Stadt im Südosten der Türkei, mal kurdisch sprechen, ich hatte es vergessen. In Anm. d. Red.) gearbeitet haben. Wir sind die ersAnkara habe ich durch die Bekanntschaft mit Ab- ten Freunde, die nach Kurdistan gekommen sind. dullah Öcalan die Realität von Kurdistan kennen- Und so hat die Entwicklung bis zu ihrem heutigen gelernt. Der Freund Kemal Pir hatte mich ihm vor- Tage ihren Lauf genommen. gestellt. Kemal Pir war nicht aus Kurdistan, er war auch kein Kurde, er kam aus dem Schwarzmeergebiet. Wir studierten an der gleichen Univer2 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 vWie schätzt die PKK die bisherigen sozialistischen Versuche ein? den sozialistischen und kommunistischen Parteien, die den Realsozialismus unterstützt haben, deutlich gemacht, und dieser Unterschied ist immer deutlicher zu Tage getreten. Der spätere Paradigmenwechsel hat sich auf dieser Grundlage entwickelt. Der Paradigmenwechsel ist also nicht, wie viele annehmen, durch die Gefangennahme Abdullah Öcalalans entstanden. Seit der Gründung und Entwicklung der PKK hat der Realsozialismus zwar einen Einfluss auf uns gehabt, wir haben ihn aber immer auch sehr kritisch betrachtet. Als die PKK entstand, waren die Zentren des Realsozialismus schon entstanden. Es gab Spaltungen zwischen Russland, China und Albanien. Das hatte auch Auswirkungen auf die Bewegungen in der Türkei und Kurdistan. Fast alle Organisationen hatten sich für ein Zentrum entschieden. Sie haben den Sozialismus jeweils nur in einem dieser Zentren gesehen. Aber die PKK hat sich niemals an diesen Zentren orientiert. Sie sah weder Russland, China, noch Albanien als Zentrum an. Sie begegnete dem Sozialismus respektvoll, aber mit einer kritischen Haltung. Sie hat von Anfang an ihren Unterschied deutlich gemacht. Um diesen Unterschied deutlich zu machen, haben wir gesagt, dass für uns der wissenschaftliche Sozialismus im Mittelpunkt steht. Damit haben wir bei allen Diskussionen klargestellt, dass wir weder Russland, China noch Albanien als Zentrum sehen. Noch später, als wir die Praxis entwickelten, haben wir daraus weitere Schlussfolgerungen ziehen können. Uns darauf stützend konnten wir unsere Unterschiede zum Realsozialismus noch deutlicher und offener darstellen. Schon im Jahr 1984 auf einer zentralen Versammlung hat Abdullah Öcalan den bestehenden Realsozialismus und seine sozialistischen und kommunistischen Parteien sehr stark kritisiert. Er hat deutlich gemacht, dass die existierenden Parteien den Sozialismus nicht mehr vertreten, und dass sie sich entweder auflösen oder sich neu organisieren sollten. Die 1 984 von Abdullah Öcalan an den Tag gelegte Einschätzung, wurde 1 989 in die Praxis umgesetzt. Als wir uns auf diesen Weg begaben, haben wir gesehen, dass unsere Ziele und unsere zentralen Mittel nicht übereingestimmt haben. Wir haben gesehen, dass die Prinzipien des Realsozialismus und dessen entwickelte Mittel in sich widersprüchlich waren. Wir haben begonnen diese zu hinterfragen, dabei jedoch nie den Sozialismus verleugnet. Wir sind ihm mit Respekt begegnet, haben uns aber die Hinterfragung zum Prinzip gemacht. Dies hat den Unterschied zwischen der PKK und Du hast gerade den Paradigmenwechsel angesprochen. Vielleicht können wir uns etwas darin vertiefen. Was bedeutet dieser? Und was waren die Reaktionen seitens der Türkei und der anderen Staaten? Seit Anbeginn der PKK waren die Grundlagen dieses neuen Paradigmas vorhanden. Vielleicht war dies am Anfang nicht allzu deutlich, im Laufe der Zeit wurde dies jedoch deutlicher und 1984 tritt dies noch offener zu Tage. 1993, zusammen mit dem ersten Waffenstillstand, wurde die neue Strategie des Paradigmas festgelegt. Aber da die Partei und das Volk nicht genügend darauf vorbereitet worden waren, konnte diese Strategie nicht verwirklicht werden. 1998, bei den Feierlichkeiten zum 15. August, hat Serok Apo dies noch deutlicher gemacht und gesagt, dass der Strategiewechsel mit Entschiedenheit umgesetzt werden wird. Mit dem Waffenstillstand zum 1 . September 1 998 wollte er diesen in die Praxis umsetzen. Als die kapitalistische Moderne und deren Vertreter_innen sich diesen Umstandes bewusst wurden und erkannten, dass dieser für sie gefährliche Entwicklungen bringen könnte, wurden entsprechende Vorkehrungen getroffen und der internationale Komplott verwirklicht. Diese Zeit war gleichzeitig der Beginn des 3. Weltkrieges seitens der Vertreter_innen der kapitalistischen Moderne gegen den Mittleren Osten. Der internationale Komplott wurde in einer Zeit verübt, als die PKK ihren Paradigmenwechsel vertieft umsetzen wollte und der 3. Weltkrieg im Mittleren Osten in die Praxis umgesetzt werden sollte. Das Ziel des internationalen Komplotts war, Serok Apo bewegungsunfähig zu machen, die PKK unter großen Druck zu setzen, den Paradigmenwechsel zu verhindern und damit das größte Hindernis, den größten Widerstand bei der Umsetzung des 3. Weltkrieges im Mittleren Osten zu neutralisieren um den Krieg somit beginnen und mit Erfolg führen zu können. In die3 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 sem Zustand sollte die PKK eliminiert werden, so wie dies auch mit der Sowjetunion gemacht wurde. Vor dem Hintergrund des 3. Weltkrieges und des Paradigmenwechsels der PKK sollte diese eliminiert werden. Dadurch wollte die kapitalistische Moderne sicherstellen, dass sie im Mittleren Osten Ergebnisse erzielt. der Frauen und der Jugendlichen gestellt. Er hat also in der Frage der Avantgarde diese Änderung vollzogen. Die Prinzipien des neuen Paradigmas wurden auf diese Weise zusammengesetzt. Und damit ist ein neues Sozialismus-Verständnis verbunden, dessen Grundlage die demokratische Moderne ist. Woraus besteht das neue Paradigma, was sind Wer aufpasst kann feststellen, dass die kapitaseine Grundlagen? Welche Kritik hat Abdullah listischen Moderne die Philosophie, die Moral Öcalan dabei am Realsozialismus zum Ausdruck und die Politik angreift. Dadurch werden die Menschen, die Gesellschaft gespalten, sie wergebracht? den von sich selbst entfremdet, das GeschichtsNachdem Serok Apo im Zuge des internationalen bewusstsein wird ausgelöscht, das Gehirn und Komplotts gefangen genommen wurde, hat er das Herz werden geblendet und auf diese Weise den Paradigmenwechsel unter den sehr harten kann sich das System selbst aufrechterhalten. Bedingungen von İmralı (İmralı ist die Gefängni- Der größte Angriff findet statt, indem behauptet sinsel, auf der Abdullah Öcalan seit 1999 in Ein- wird, dass die Zeit der Ideologien vorbei ist. Dazelhaft sitzt, Anm. d. Red.) vorangetrieben. Er mit sollen alle unterdrückten Völker entideolohat einige Prinzipien des alten Paradigmas, wir gisiert, von Ideologie, von Philosophie und vom nennen sie die Prinzipien des Realsozialismus, Denken ferngehalten werden. Eine Gesellschaft, durch neue Prinzipien ersetzt. Er hat ein neues die nicht in der Lage ist zu denken, bringt einen Paradigma des Sozialismus in den Mittelpunkt nichtdenkenden Menschen hervor. Eine nichtgestellt. Was sind die grundlegenden Prinzipien denkende Gesellschaft, einen nichtdenkenden des neuen sozialistischen Paradigmas? Es nimmt Menschen zu regieren ist sehr leicht, denn ein_e die Demokratie als System. Im alten Realsozia- Nichtdenkende_ ist ein Mensch, _die nichts in lismus war die Demokratie kein eigenes System: Frage stellt. Deshalb ist es sehr angenehm, eine es gab das Verständnis, dass die Demokratie ein solche Gesellschaft zu regieren. Jedoch gibt es Mittel sei, die dem Staat und der Herrschaft zu auf dieser Welt nichts ohne Ideologie, in allem dienen habe. Die Demokratie wurde als Teil des steckt Ideologie. Die Propaganda der kapitalistiStaates gesehen. schen Moderne entbehrt jeder Grundlage. Es ist Deshalb hat Serok Apo als Prinzip nicht den Staat eine Propaganda, um die Völker, die Arbeiter_inund die Herrschaft genommen, sondern die De- nen, die Unterdrückten von Ideologie, vom Nachmokratie in den Mittelpunkt gestellt. Er sieht den denken fernzuhalten, sozusagen der Gesellschaft Staat als eigenes System und die Demokratie als und den Menschen das Dasein als Gesellschaft eigenes System an. Er hat die Prinzipien des So- und Mensch an sich zu nehmen. Im Kampf gegen zialismus von Freiheit und Gleichheit mit dem die Entideologisierung hat Serok diese Ideologie Sozialismus selbst vereint. Er hat die Demokratie und Philosophie entwickelt. ebenfalls mit dem Sozialismus vereint. Er hat die Die kapitalistische Moderne greift die Politik an. Prinzipien des neuen sozialistischen Paradigmas Sie will die Gesellschaft, den Menschen in der zu unserem Fundament gemacht. Er hat ein au- Politik außen vor lassen. Sie will komplett nur ßerstaatliches System vorgesehen, das von einer mit sich selber Politik betreiben. Politik ist Orgademokratischen Gesellschaft ausgeht. Dessen nisierung und Kampf, also die Organisierung und Grundlagen sind die Demokratie, die Ökologie der eigene Kampf der Völker, der Unterdrückten, sowie die Freiheit der Frau. Um dieses politische das ist Politik. Wieso greift die kapitalistische und gesellschaftliche System verwirklichen zu Moderne die Politik an? Damit die Völker, die können, hat er die Philosophie, die Moral und Unterdrückten sich nicht selbst organisieren und die Politik als Grundlage genommen. Das System für ihre Rechte kämpfen. Das Ziel ist eine unorbasiert auf diesen ganisierte, eine nicht kämpfende Gesellschaft. drei Säulen. An Stelle der Avantgarde des Prole- Die kapitalistische Moderne greift auch die Motariats im Realsozialismus hat er die Avantgarde 4 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 ral an. Es entwickelt sich eine Unmoral. Warum? Da das, was die Gesellschaft erst zu einer Gesellschaft werden lässt, sie aufrechterhält, die Moral ist. Wenn eine Gesellschaft ihre Moral verliert, dann wird diese Gesellschaft ausgelöscht. Denn das, was die Gesellschaft zur Gesellschaft werden lässt, die Gesellschaft am Laufen hält, ist weder das Recht noch etwas anderes, sondern die Moral. Die Moral anzugreifen, eine Unmoral zu entwickeln, bedeutet, der Gesellschaft das Dasein zu nehmen, also den Menschen vom Menschsein zu trennen. Eine Gesellschaft zu regieren, die ihre Menschlichkeit verloren hat, ist sehr angenehm. Wenn die kapitalistische Moderne die Moral angreift, die Unmoral entwickelt, die Gesellschaft zerstört, die Gesellschaft von ihrem Dasein als Gesellschaft ebenso wie den Menschen vom Menschsein trennt, benutzt sie dazu Dinge wie Sex, Sport und ähnliches. Sie legt ihren Schwerpunkt auf diese Dinge. Das heißt nicht, dass wir gegen Sex und Sport sind. Wir sind dagegen, dass diese Dinge von der kapitalistischen Moderne dazu benutzt werden um den Menschen leichter regieren zu können. Damit trennt sie den Menschen vom Menschsein. Wenn ein System den Menschen vom Menschsein trennt, kann dieses System niemals menschlich sein. Wenn ein System den Menschen mit Hunger bändigt, kann es nicht menschlich sein. Wenn ein System das Geschichtsbewusstsein der Gesellschaft angreift, sie entwurzelt, sie von ihrer Vergangenheit abtrennt, kann es nicht menschlich sein. Eine Gesellschaft von ihrer Vergangenheit abzutrennen bedeutet, ihre Zukunft zu verbauen. Wir stellen fest, dass die kapitalistische Moderne versucht sich selbst am Leben zu halten, indem sie die Ideologie, die Philosophie, die Moral und die Politik angreift. Das von Serok Apo entwickelte sozialistische Verständnis, das neue sozialistische Paradigma stellt die Ideologie, die Philosophie, die Moral und die Politik in den Mittelpunkt. Damit wird gegen die kapitalistische Moderne angekämpft. sehr leicht gewesen. Wenn diese Bewegung nicht von Anfang an ihre Unterschiede zum Realsozialismus betont hätte und diese immer mehr vertieft hätte, dann wäre dieser Paradigmenwechsel niemals möglich gewesen. Das sowjetische System hat sich aufgelöst und ebenso haben es die existierenden kommunistischen und sozialistischen Parteien getan, von denen viele daraufhin der kapitalistischen Moderne hinterhergelaufen sind und sich selbst verleugnet haben. Der PKK ist es anders ergangen. Es lässt sich feststellen, dass mit der Auflösung des sowjetischen Systems die PKK sich nicht wie die existierenden kommunistischen und sozialistischen Parteien aufgelöst hat, sich nicht selbst verleugnet hat. Ganz im Gegenteil konnte die PKK in dieser Zeit ihr Wachstum und ihre Entwicklung ausbauen. Und sie hat klargestellt, dass sie die Fahne des Sozialismus mit Ehre weiter tragen wird. Das hat damals Abdullah Öcalan von Rom aus im Fernsehen ganz offen deutlich gemacht. In einer Zeit, in der alle den Weg des Sozialismus verließen, ihn beschimpft haben, hat Serok Apo selbst während des internationalen Komplotts im Fernsehen deutlich gemacht, dass er die Fahne des Sozialismus mit Ehre trägt. Die PKK hat ihren eigentlichen Aufschwung nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus erlebt. Unter den Bedingungen des 3. Weltkrieges, unter den Bedingungen des Paradigmenwechsels und noch dazu an einem Ort wie İmralı, war die mutige Entwicklung des neuen Paradigmas natürlich nicht sehr leicht. Wären die Grundlagen nicht schon vorher gesetzt worden, wäre es nicht möglich gewesen den Wechsel unter diesen Bedingungen zu vollziehen. Wenn wir, ohne die Grundlagen dazu zu haben, versucht hätten den Wechsel zu vollziehen, wäre bei uns wie bei der Sowjetunion ein Auflösungsprozess eingeleitet worden. Auch in der Sowjetunion sollte ein Paradigmenwechsel umgesetzt werden, was jedoch nicht geschafft wurde und die Sowjetunion ist untergegangen. Wenn man die Bedingungen Die Grundlage der PKK war bis zum neuen Para- und Möglichkeiten der Sowjetunion nimmt und digma der Marxismus-Leninismus. Konnte das dazu die inneren Bedingungen und Möglichkeineue Paradigma nach ausführlichen Diskussi- ten der PKK ansieht, kann man diese nicht mal onen denn so einfach in der Partei umgesetzt miteinander vergleichen, so ungleich waren die Bedingungen. Aber trotzdem hat die PKK das werden? Schwierige geschafft. Sie hat unter schwersten Natürlich ist dieser Paradigmenwechsel nicht 5 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 Bedingungen den Paradigmenwechsel vollzogen. Das hat von Anfang an mit der Art der Gründung und Entwicklung der PKK zu tun. Denn sie ist von Anbeginn an eine Bewegung gewesen, die sich unter den schwersten Bedingungen entwickelt hat, die in ständiger Auseinandersetzung mit verschiedensten Problemen stand. Sie ist als eine Bewegung des Willens entstanden. Deshalb ist der Wille bei der PKK sehr stark. Keine Kraft konnte und kann die PKK im Krieg des Willens besiegen. Sie ist die Bewegung der schwersten Bedingungen. Und genau deshalb konnte sie unter den schwierigsten und gefährlichsten Bedingungen den Paradigmenwechsel vollziehen. Wenn von Anfang an ihre Geburt und ihre Entwicklung nicht auf diese Weise vonstatten gegangen wäre, sie bei den Kriegen des Willens nicht gewonnen hätte, hätte sie unter den Bedingungen des 3. Weltkrieges, unter den Bedingungen des internationalen Komplotts, unter den Bedingungen der Gefangenschaft von Serok den Paradigmenwechsel niemals realisieren können. sein kann. Keiner gibt der PKK Kraft. Sie gibt sich mit ihrer eigenen Mentalität, also ihrer eigenen Philosophie und Ideologie und ihrer eigenen Art ständig Kraft und Energie und hält damit den Kampf am Laufen. Sie erzeugt ihre eigenen Kraftquellen. Wenn man die positiven und negativen Dinge als Fundament der Entwicklung und des Erfolgs nimmt, entwickelt sich die Bewegung ständig. Wenn eine Bewegung die Jugendlichen und die Frauen, ihre Besonderheiten und Charakteristika als Avantgarde und Mittelpunkt ansieht, erfährt sie eine ständige Entwicklung. Deshalb ist die PKK eine Bewegung, die sich ständig selbst erneuert, die sich ständig am Leben erhält, die die Entwicklung und den Erfolg als maßgeblich ansieht und dafür ihre eigenen Kraftquellen erzeugt. Die Unbesiegbarkeit der PKK ist darin begründet. Das ist auch die Realität, die viele nicht verstehen. Liegt darin der Unterschied zu bisherigen sozialistischen Staaten und Parteien? Die PKK hat eine Dialektik und diese steht seit der Gründung der PKK im Mittelpunkt. Sich ständig selbst erneuern, das Alte, das nicht mehr Nützliche abwerfen, sich selbst ständig lebendig zu halten. Das ist die Dialektik der PKK. Deshalb reinigt die PKK ständig ihre Struktur von nicht mehr Nützlichem, Zurückbleibendem und löst sich von diesen Dingen. Deshalb gibt es in der PKK keinen Konservatismus, keinen Dogmatismus. Eine Bewegung, die den Sozialismus umsetzt, kann nicht konservativ und dogmatisch sein. Darin liegt einer der größten Fehler des Realsozialismus. Dogmatismus und Konservatismus widerspricht den ureigenen Grundbedingungen des Sozialismus. Eine Bewegung, die sich ständig selbst erneuert, die sich ständig am Leben hält, kann keinen Dogmatismus und Konservatismus beinhalten. Eine Bewegung, die den Sozialismus als Bezugspunkt sieht, muss sich dafür geeignete Mittel erschaffen. Die Mittel müssen den Zielen dienen. Wenn die Mittel nicht den Zielen dienen, also der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Gerechtigkeit, dem Frieden, dann sind diese demzufolge nicht richtig. Dann dürfen wir diese Mittel nicht anwenden. Dann müssen wir andere Mittel entwickeln, die den Zielen dienen. Die Ziele des Realsozialismus waren großartig und stark. Es waren die Ziele des Sozialismus, der Mensch- Worauf beruht der Erfolg der PKK? Seit Jahrzehnten steht sie nicht nur im Konflikt mit der Türkei sondern mit den Hauptakteur_innen der kapitalistischen Moderne, wie der USA, und deren Projekt zur Umstrukturierung des Mittleren Ostens. Man muss die Linie der PKK, die Linie von Serok Apo gut verstehen. Was ist deren Linie? Die Schwierigkeiten besiegen und beseitigen und den Erfolg herbeiführen. Was würde Apo auf İmralı sagen? „Wer mich nicht umbringt, lässt mich am Leben“. Also allein einen Atemzug zu tun ist die Bedingung zum Erfolg des Lebens. Bei der PKK steht folgende Linie im Mittelpunkt: Zum einen die positiven Eigenschaften der PKK in den Vordergrund zu stellen und sie zum Ziel zu führen und zum anderen die Bedingungen für die Überwindung aller möglichen negativen Dinge, Barrieren, Schwierigkeiten und Erfolglosigkeiten zu schaffen und somit zur Entwicklung der PKK beizutragen. Das ist die Linie der PKK. Wenn eine Bewegung die positiven und negativen Dinge zur Grundlage ihrer erfolgreichen Entwicklung macht, dann entwickelt sie sich und dies kann keine andere Kraft verhindern. Viele fragen sich zum Beispiel, wer der PKK Kraft und Unterstützung gibt, wie sie so erfolgreich 6 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 lichkeit. Aber die Mittel standen im Widerspruch zu den Zielen, sie haben den Zielen nicht gedient und deshalb war der Sozialismus erfolglos. Zum Beispiel hatten sie Freiheit, Demokratie und Gleichheit auf ihre Fahnen geschrieben, setzten aber den Staat in den Mittelpunkt. Den Staat in den Mittelpunkt zu stellen heißt, die Demokratie, die Freiheit und die Gleichheit aus dem Fokus zu rücken. Mensch kann so viel _er will für Demokratie, Freiheit und Gleichheit kämpfen wer den proletarischen Staat in den Mittelpunkt stellt, kann diese Ziele nicht verwirklichen. Darin liegt der größte Fehler des Realsozialismus. Deshalb konnte er seine Ziele nicht verwirklichen. Für die PKK ist ihre Ideologie, also ihre Theorie und Praxis am wichtigsten. Die Ideologie kommt nicht vor der Praxis, aber auch die Praxis kommt nicht vor der Ideologie. Sie denkt nach und handelt und handelt und denkt nach. Das bildet zusammen eine Einheit. Das ist die Dialektik der PKK. So lebt und wendet sie die Dialektik an. Sie ist eine Bewegung, die Theorie und Praxis vereint. Es kann nicht alles durch Ideologie gelöst werden, es muss durch die Praxis gelöst werden. Aber auch die Praxis kann nicht alles lösen, es muss durch Ideologie gelöst werden. Deshalb muss mensch die Ideologie und die Praxis zusammen in die Hand nehmen und darf keinem einen Vorrang geben. Also zum einen Denken und Machen und zum anderen Machen und Denken. Mensch muss beides gemeinsam realisieren. Wer dies macht, erkennt _seine Fehler und Unzulänglichkeiten auf der Stelle. Dann kann mensch, ohne größere Verwüstungen und Verluste zu erleiden, seine Fehler überwinden und Entwicklung und Erfolg erleben. Da die PKK die Dialektik auf diese Weise im Leben umsetzt, ist sie eine Bewegung, die Theorie und Praxis vereint. Und deshalb ist sie eine Bewegung, die Ergebnisse erzielt. gespalten haben und ihn von seiner eigenen Realität ferngehalten haben. Auf andere Weise hätten sie ihre Herrschaft nicht aufrechterhalten können. Eine Bewegung, die die Gesellschaft, die Geschichte, die Menschlichkeit und die Grundlagen des Menschen als Mittelpunkt sieht, kann sich nicht konträr zur Realität der Geschichte, der Menschheit und der Gesellschaft entwickeln. Sie kann deshalb die Wahrheit nicht aufteilen. Wenn sie dies tun würde, würde sie auf die Linie der Herrschenden verfallen. Solch eine Bewegung kann niemals die Demokratie, die Freiheit und die Gerechtigkeit verwirklichen. Die Wahrheit als Schwerpunkt zu nehmen bedeutet sich der Gesamtheit der Geschichte, der Gesellschaft und des Menschen zu nähern. Das bedeutet, die Gesellschaft, die Geschichte und den Menschen auf Basis der wesenseigenen Grundlagen neu aufzubauen. Das bedeutet, die Ideale und Ziele des Sozialismus ernst zu nehmen und zu verwirklichen. Die kapitalistische Moderne und der Realsozialismus nahmen die Geschichte und die Gesellschaft von einem bestimmten Punkt an auf, nicht in ihrer Gesamtheit und nicht von Anbeginn der Menschheitsgeschichte. Wir jedoch nehmen die Menschheit von ihrem Anbeginn an auf. Deshalb lehnen wir auch die existierende Geschichtsschreibung ab und entwickeln eine eigene. Dadurch lässt sich noch besser feststellen, an welchem Punkt der Geschichte der Mensch sich von seinen Wesensgrundlagen entfremdet hat. Das haben wir in den Mittelpunkt gestellt, als wir das neue Paradigma, die neue Linie, die neuen Prinzipien des Sozialismus entwickelt haben. Serok hat noch vor dem internationalen Komplott das neue Paradigma verwirklichen wollen, aber die internationalen Akteur_innen des kapitalistischen Systems haben dies nicht zugelassen. Sie wollten die Umsetzung des neuen Paradigmas mit Hilfe des internationalen Komplotts Kannst du etwas näher auf die Philosophie der verhindern. Aber Apo hat unter den schweren Bedingungen von İmralı diesen ParadigmenBewegung eingehen? wechsel mit Hartnäckigkeit fortgesetzt. Denn die Die Wahrheit ist eine Gesamtheit und kann nicht Verteidigung der Erfolge der Bewegung, die Umzerteilt werden. Wenn mensch die Wahrheit setzung ihrer Ziele war damit verbunden, das inzerlegt, ist die Wahrheit keine Wahrheit mehr. ternationale Komplott ins Leere laufen zu lassen. Sämtliche Herrscher_ haben ihre Herrschaft in Weil wir dies geschafft haben, konnten wir uns der Geschichte aufrechterhalten, indem sie die auf den Beinen halten, können wir nun weiter Gesellschaft gespalten haben, den Menschen 7 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 kämpfen. Im gegenteiligen Fall wären auch wir eliminiert worden. das Volk und die Kader, die sich Serok verpflichtet fühlten, haben sich zusammen den inneren und äußeren Angriffen entgegengestellt und die Auflösung verhindert. Zum einen wurde der Paradigmenwechsel verwirklicht, zum anderen wurde die Elimination verhindert. Damit sind wir in eine neue Etappe des Kampfes eingetreten. Der heute geführte Kampf und die erreichten Ergebnisse sind damit verbunden. Die Strategie der PKK während der Zeit des Komplotts ist eine andere als die heutige Strategie. In der PKK fand in diesem Zusammenhang eine große Erneuerung statt. Die PKK ist eine Bewegung, die von ihrer Gründung bis heute den Sozialismus zum Ziel hat. Eine Bewegung, die auf den Sozialismus besteht. Denn auf den Sozialismus zu bestehen, bedeutet auf das Menschsein zu bestehen. Aber die PKK ist nicht mehr so, wie sie vor dem internationalen Komplott war. Denn bis zu diesem Komplott stand für die PKK die Diktatur des Proletariats, der Staat und die Herrschaft im Mittelpunkt. Der ganze Kampf fand für diese Ziele statt. Zusammen mit dem Paradigmenwechsel nimmt die PKK nun den Staat und die Herrschaft nicht mehr als Basis für ihren Kampf. Die PKK hat ihre Strategie geändert. Sie hat ihre Ideologie vertieft und erneuert. Es gab Veränderungen im Organisations- und Aktionsverständnis. Die Veränderungen in der PKK sind sehr tief. Sie hat das Staats- und Herrschaftsverständnis des Sozialismus hinter sich gelassen. Anstelle von Staat und Herrschaft nimmt sie die Demokratie als ein System zum Ziel. Sie sieht ein neues gesellschaftliches und politisches System vor, das sich nicht am Staat orientiert, sondern an der Demokratie, der Ökologie und der Freiheit der Frau. Ein System, das die Moral und die Politik weiterentwickelt. Sie will ein System erschaffen, das eine demokratische Gesellschaft als Mittelpunkt hat. Ein einschneidender Wendepunkt in der Bewegung war die Gefangennahme Abdullah Öcalans im Frühjahr 1999. Wie hat sich das auf die Umsetzung des neuen Paradigmas ausgewirkt? Wurde versucht, die Bewegung zum Aufgeben zu bringen? Weil der Paradigmenwechsel unter solch schweren Bedingungen angegangen wurde, gab es eine sehr vorsichtige Annäherungen an den Wandel um nicht das gleiche Schicksal wie die Sowjetunion zu erleiden. Dies war der Grund für einige Verschiebungen und Verspätungen bei der Umsetzung des neuen Paradigmas. Die Vertreter_innen der kapitalistischen Moderne haben unsere Schwächen ausgenutzt und wollten von der Verzögerung der Umsetzung des Paradigmas profitieren. Sie wollten verhindern, dass die Bewegung den Paradigmenwechsel zur richtigen Zeit vollzieht und damit sicherstellen, dass sie sich wie die Sowjetunion auflöst. Darauf haben sie hingearbeitet. Während sich deshalb eine Säule des internationalen Komplotts mit der Gefangenschaft Apos auf İmralı von außen gegen die Bewegung richtete, sollte die zweite Säule gegen die Bewegung aus dem Inneren der Organisation entwickelt werden. Das internationale Komplott wollte sich selbst in die Organisation hineintragen, sich dort organisieren und von dort aus die Organisation angreifen. Während zum einen von außen angegriffen wurde, sollte zum anderen von innen angegriffen werden. Das war noch gefährlicher als der Angriff von außen, denn es wurde versucht die Bewegung von innen heraus zu zerstören. Die äußeren und inneren Kräfte wollten sich vereinen und damit den internationalen Komplott vollenden. Das war sehr gefährlich, das hat ernsthafte Zerstörungen hervorgerufen. Aber da die erste Säule des internationalen Komplotts verwirklicht wurde und daraus Erfahrungen gezogen wurden, war die zweite Säule, soviel Zerstörungen sie auch angerichtet hat, nicht erfolgreich. Wenn aus dem ersten Teil des Komplotts keine Erfahrungen gemacht und daraus Lehren gezogen worden wären, hätten die inneren Aktivitäten des zweiten Teils des Komplotts nicht aufgehalten werden können. Serok Apo, Inwiefern hat sich das Organisationsverständnis der Partei verändert und welche Schwierigkeiten gab es bei der Umsetzung? Inwiefern haben sich diese Veränderungen auf die Ziele der Partei ausgewirkt? Es gab Veränderungen zum einen im Organisationsverständnis der Partei und zum anderen in den Vorstellungen darin, was für ein System erschaffen werden soll. Früher war die PKK ein Instrument zur Erzeugung von Staat und Herr8 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 schaft. Auf dieser Grundlage wurde die Organisierung betrieben. Deshalb hatte sie sich auch nach den Prinzipien des demokratischen Zentralismus organisiert. Heute organisiert sich die PKK als Partei nicht mehr nach den Prinzipien des demokratischen Zentralismus. Wir sind auch keine Partei mehr, die für die Diktatur des Proletariats kämpft. Wir sind eine Partei, die dafür kämpft eine außerstaatliche demokratische Gesellschaft zu erschaffen. Wir sind eine Partei, die die Organisierung der demokratischen Nation zum Ziel hat und auf dieser Grundlage auch die kurdische Frage lösen will. Es gibt ein von der Partei angestrebtes gesellschaftliches, politisches System, und zwar das System des demokratischen Konföderalismus. Also kein System, das sich auf Staat und Herrschaft stützt, das die Herrschaft einer Partei vorsieht. Im alten Paradigma des Realsozialismus war die Herrschaft der Partei maßgeblich. Die Partei setzte sich an die Stelle des Staates, der Gesellschaft, der Herrschaft, also an die Stelle von allem. Das trifft für die PKK nicht mehr zu, denn sie hat den Staat und die Herrschaft nicht mehr als Ziel. Sie will der Gesellschaft dienen und deshalb gibt es auch in ihrer Organisierung tiefgehende Veränderungen. Denn eine Partei organisiert sich entsprechend ihrer Ziele und nach der Linie, wie diese Ziele zu erreichen sind. Die Ziele der PKK haben sich nicht geändert. Wie im alten Paradigma kämpft sie im neuen Paradigma immer noch für den Sozialismus. Es gibt aber Veränderungen bei den Mitteln, die sie verwendet, um das Ziel zu erreichen. Deshalb gibt es Veränderungen in der Linie der Partei. Zum Beispiel sollte die kurdische Frage früher durch Krieg und die Errichtung der Diktatur des Proletariats gelöst werden, also den Staat stürzen und einen anderen Staat errichten. Das ist aber nicht mehr der Weg der PKK. Stattdessen ist eine demokratische Gesellschaft und eine demokratische Nation ihr Ziel. Sie will die kurdische Frage mithilfe der demokratischen Autonomie lösen. Sie will das gesellschaftliche und politische System in Form des demokratischen Konföderalismus entwickeln. Die demokratische Autonomie stellt die Lösung der kurdischen Frage dar, und der demokratische Konföderalismus die Organisierung der Gesellschaft Kurdistans. Die demokratische Autonomie regelt die politi- sche Beziehung zwischen dem kurdischen Volk und dem türkischen Staat. Sie sagt nichts darüber aus, auf was für einer Grundlage die kurdische Gesellschaft sich organisieren und was für ein gesellschaftliches und politisches System sie sich geben wird. Dies ist eine Frage, die nur die Kurd_en betrifft. Was die Türkei und die Kurd_innen gemeinsam angeht, ist, auf welcher Grundlage die kurdische Frage gelöst wird. Wir sehen die Lösung in Form der demokratischen Autonomie und in der Erschaffung einer demokratischen Nation. In Kurdistan selbst wollen wir ein gesellschaftliches und politisches System in Form des demokratischen Konföderalismus erschaffen. Dieser bedeutet, dass alle Gesellschaften, alle Völker, alle Unterdrückten, alle Religionen und Konfessionen Kurdistans sich in Freiheit, mit ihrem eigenen Willen, ihren eigenen Identitäten auf der Basis von Freiheit und Demokratie organisieren können und sie sich gleichzeitig dem Ganzen gegenüber verpflichtet fühlen. Die Einheit muss auf der freiwilligen Basis von Freiheit, Gleichheit und Demokratie erfolgen. Kein Teil der Gesellschaft darf aus dieser ausgeschlossen und verdrängt werden. Das ist wichtig. Wie wird denn die Wirtschaft im demokratischen Konföderalismus organisiert sein? Wenn ein System es nicht schafft eine eigene Ökonomie aufzubauen, kann es gar nicht zum System werden beziehungsweise wird es nicht lange existieren. Wenn wir den demokratischen Konföderalismus in Kurdistan entwickeln wollen, müssen wir auch eine entsprechende Ökonomie aufbauen und eine Politik der Ökonomie entwickeln. Geschieht dies nicht, werden wir mit dem bisher existierenden Ökonomieverständnis an die Sache herangehen und dies würde dazu führen, dass wir den demokratischen Konföderalismus nicht umsetzen könnten. Das ökonomische System des demokratischen Konföderalismus beinhaltet nach unserer Vorstellung eine gemeinschaftliche Ökonomie. Das ist die Grundlage unserer ökonomischen Politik. Gegen die Monopolisierung und für die Selbstorganisierung der Ökonomie durch alle Teile der Gesellschaft. Damit der demokratische Konföderalismus in Kurdistan verwirklicht und lebensfähig werden kann, muss dieses ökonomische Verständnis ent9 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 wickelt werden. Der demokratische Konföderalismus hat drei Grundlagen, auf denen er beruht. Erstens die vom Volk selbst organisierte Ökonomie, zweitens das Rätesystem, das die Selbstverwaltung des Volkes darstellt, und drittens Akademien der Volksbildung. Wenn eine dieser Grundlagen nicht verwirklicht wird, kann der demokratische Konföderalismus als Ganzes nicht verwirklicht werden. Die Aufgabe der Akademien ist es, die Gesellschaft zu einer bewussten Gesellschaft zu machen. Die ganze Gesellschaft zu politisieren, zu organisieren, zum Kämpfen zu bringen und eine bewusste Gesellschaft zu erschaffen. In den Räten soll sich das Volk selbst organisieren und selbst regieren. Angefangen von den Dorfkommunen, über die Stadträte zu den Gebietsräten bis hin zum „Kongre Gel“, dem höchsten Willensausdruck aller Räte (Kongra Gel ist die Bezeichnung für den höchsten Rat, den Volkskongress, Anm. d. Red.). Auf diese Weise organisiert und regiert sich das Volk selbst. Und zuletzt die Ökonomie des Volkes, die die eigenen Bedürfnisse des Volkes befriedigt. Wenn mensch das gesellschaftliche und politische System auf diese Art entwickelt, wird es überhaupt erst zum System. Wenn nicht, kann der demokratische Konföderalismus nicht zu einem System werden. schen Staaten im Westen getan haben. In unserer ökonomischen Politik gibt es keinen Industrialismus, keine Monopolisierung, keine grenzenlose Beherrschung und Zerstörung der Natur. Deshalb ist ein ökologisches Bewusstsein für uns so wichtig, denn damit nimmt man das menschliche Leben auch wichtig. Für uns sind der Nationalstaat und der Industrialismus nicht das Ziel. Das muss gut verstanden werden. In unserem Paradigma gibt es dafür keinen Platz. Wir sehen die kapitalistische Ökonomie auch nicht als Ökonomie an. Abdullah Öcalan spricht in seinen Schriften nicht von der sofortigen Abschaffung der kapitalistischen Moderne, sondern davon sie langfristig zu verdünnen und zu verkleinern. Was meint er damit? Denkst du, dass der Kapitalismus, der sich derzeit in einer tiefen Krise befindet, die Möglichkeiten hat sich zu erneuern? Eigentlich ist die Zeit der kapitalistischen Moderne vorbei. Sie befindet sich in einem großen Chaos. Aber dieses System hat eine Eigenschaft: es reproduziert sich durch Krisen. Wenn dieses System keine Krise hervorbringt, kann es gar nicht funktionieren. Es ist sein Prinzip. Allein schon das ist nicht menschlich. Ein System, dass nur durch Krisen funktioniert, ist wild und unmenschlich. Das ist eine Realität des Kapitalismus. Die kapitaUnd welche konkreten Eigentumsformen wird listische Moderne kann ohne Krisen nicht existiees im demokratischen Konföderalismus geben? ren. In diesem System gibt es keine Kontinuität. Es wird Privateigentum geben, allerdings kei- Die kapitalistische Moderne nimmt sich niemals ne Monopolisierung. Es wird kollektives und Kontinuität als Maßstab, sondern immer nur Kripersönliches Eigentum geben. Aber es werden sen. Sie existiert nur in der Krise. Und deswegen niemals die Monopole im Mittelpunkt stehen. ist sie unter allen Systemen, die es auf der Welt Es wird auch nicht der Industrialismus im Mit- gab und gibt, das gefährlichste, unmenschlichstelpunkt stehen. Dies ist zum Beispiel einer der te. Die Krisen dienen zur Anhäufung von Profit. größten Fehler des Marxismus. Er ist gegen den Das fügt der Menschheit großen Schaden zu, es Kapitalismus aber er ist nicht gegen den Industri- ist unmenschlich, und dem muss und wird genau alismus. Lenin geht noch weiter und bindet den deswegen ein Ende folgen. Erfolg der Sowjetunion an die Industrialisierung, Ob dieses System durch die aktuelle Krise weian die Elektrifizierung des Landes. Genauso wie ter existieren wird oder nicht, hängt von den im Kapitalismus die Natur und die Gesellschaft Revolutionär_innen, von den Sozialist_innen ab. zerstört wurden, ist auch in der Sowjetunion Wenn sie sich genug anstrengen, können sie dem ähnliches geschehen. Das sind die Ergebnisse System ein Ende bereiten. Der Realsozialismus des Industrialismus. Wer die Natur zerstört, zer- hat hier den Fehler gemacht, indem er gesagt stört gleichzeitig auch die Gesellschaft, nimmt hat, dass die Menschheit sich sowieso vorwärts dem Menschen die Lebensgrundlagen. Das ist in in Richtung Sozialismus entwickelt. Dass dem der Sowjetunion gemacht worden, in manchen nicht so ist, hat der Niedergang der SowjetuniGebieten noch schlimmer als es die kapitalisti- on bewiesen. Das zeigt uns, dass diese Annahme 10 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 nicht richtig ist. Was wir brauchen ist ein starker Wille. Wenn Sozialist_innen sich anstrengen, wenn die Wissenden sich anstrengen und dieses unmenschliche System abschaffen wollen, sich aus dieser Wildnis und aus diesem Nichtsein befreien wollen, dann können sie das auch. Denn dieses System ist eigentlich in aller Hinsicht am Ende. Zu seinem Beginn war das nicht so. Als der kapitalistische Handel sich entwickelte war das nicht der Fall. Als die Phase der kapitalistischen Industrie erreicht wurde, war es auch nicht so. Aber in Zeiten des Finanzkapitals hat das System sein Ende erreicht. So sehr es auch weiter existieren will, kann es das nicht wie früher tun. Seine Probleme werden immer größer, es ist am Ende. Jetzt müssen dies die Revolutionär_innen und Sozialist_innen vollenden. Es ist falsch zu denken, da das System am Ende ist, wird es automatisch abgeschafft werden. Nur wenn mensch es selbst abschafft, verschwindet es. Wenn man nicht selbst anpackt, läuft es von alleine weiter. Zu einem anderen Punkt: Im Prinzip sind wir gegen den Staat. Wir sind gegen Herrschaft. Wir sind gegen die kapitalistische Moderne. Aber es ist wichtig zu wissen, wie mensch mit _ihren Prinzipien _ihr Leben innerhalb dieser Realitäten fortführen kann. Es gibt eine Realität. Das heißt aber nicht, dass mensch diese Realität nicht kritisieren darf. Damit diese Realität geändert werden kann, müssen wir uns nach ihr richten. Ort, Zeit, Mühe, Art und Weise muss genau ausgewählt werden, um dadurch zur Wahrheit gelangen zu können. Du kannst zur Sprache bringen, was du für richtig hältst. Das heißt aber nicht, dass daraus folgend deine Praxis dann die Wahrheit ist. Damit du deine Prinzipien auch verwirklichen kannst musst du den richtigen Zeitpunkt im Leben finden, die Maßnahmen richtig auswählen und dich am richtigen Ort anstrengen. Die Alternative kannst du dann durch deine Praxis zur Realität machen. Wir sind in unseren Prinzipien gegen den Staat und gegen den Kapitalismus. Aber das in die Praxis umzusetzen ist nicht so einfach. Dieses System herrscht überall auf der Welt. Wir sprechen hier von Bio- Macht (Cemil Bayık bezieht sich hier auf die Analytik der Macht von Michel Foucault, Anm. d. Red.). Das System der kapitalistischen Moderne organisiert sich bis in die Individuen hinein, hat sich im Gehirn und Blut der Menschen etabliert. Der Finanzkapitalismus hat diese Ebene erreicht, diesen abzuschaffen geht sicher nicht von heute auf morgen. Wir brauchen nicht träumen. Um dieses System abschaffen zu können, müssen wir uns eben anstrengen. Dieses aus der Welt zu schaffen ist nicht so einfach und geschieht auch nicht in kurzer Zeit. Das ist es, was die PKK sagt. Auch aus dem Realsozialismus müssen wir Lehren ziehen. Dieser stand an der Front, die Welt war zweigeteilt. Beide Seiten wollten sich gegenseitig vernichten. Der Realsozialismus hatte einige Defizite, und hat deswegen die Schlacht verloren. Allein an der Front dem Feind gegenüberzustehen reicht heute nicht mehr aus. Wir sind gezwungen innerhalb des Systems gegen das System zu kämpfen. Das aber ist nicht einfach, das ist das Schwierige. Trotzdem müssen wir es tun. Zu Zeiten des Realsozialismus gab es zwei verschiedene Systeme, in denen diese Frontstellung möglich war, doch heute ist es anders. Du lebst im System und bist gezwungen im System unter ihrem Bombardement durch Fernsehen, Medien, Internet Widerstand zu leisten. Das ist nicht einfach. Und wer diesen Kampf bestreiten will, muss sich komplett von diesem System lossagen. Sowohl als Person, als auch als Bewegung muss mensch sich davon lossagen, um dagegen kämpfen zu können. Ja, das ist etwas sehr schweres. Es ist schwieriger als zu Sowjetzeiten. Aber es gibt auch einige Vorteile im Vergleich zu früher. Die Erfahrungen des Realsozialismus haben der Idee des Sozialismus Klarheit gebracht und erleichtern damit die Arbeit. 11 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 Teil II - Rolle der Jugend und Frauen, die kurdische Bewegung in Europa und politische Situation der Türkei und Syrien Der erste Teil des Interviews behandelte die politischen Grundlagen des Paradigmenwechsels der PKK, die Ideologie des demokratischen Konföderalismus und die Rolle des Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan. Im zweiten Teil spricht Cemil Bayık über die Rolle der Jugend und der Frauen als Vorreiter_innen der Revolution, über die Situation und Potentiale der kurdischen Bewegung in Europa sowie über die politische Lage in der Türkei, besonders bezüglich der aktuellen Entwicklungen in Syrien und Nordkurdistan. Welche Rolle haben die Jugend und die Frauen ten in der Gesellschaft sagen uns das ebenfalls. im neuen Paradigma? Schon seit ihrem Beginn sieht sich die PKK als In unseren Paradigmen haben die Jugend und eine Bewegung der Freiheit. Dafür haben wir uns die Frau eine herausragende Rolle. Im Gegensatz auf die Geschichte unserer Gesellschaft bezogen, zum Realsozialismus sind nicht die Proletarier_ haben uns diese als Grundlage genommen. Und die Avantgarde der Revolution, sondern die Ju- je mehr wir darin die Wahrheiten unserer Gegend und die Frau. Das ist ein Unterschied. Des schichte erkannt und verstanden haben, desto Weiteren sehen wir uns als eine Frauenbewe- mehr haben wir die Wahrheiten der Frau erkannt gung, die zuallererst die Befreiung der Frau vor- und somit auch die Wahrheiten der Menschheit. sieht. Die PKK ist eine Frauenbewegung. Die Be- Darauf aufbauend haben wir uns entwickelt. Das freiung der Frau ist die Grundlage ihres Kampfes. hat uns eigentlich den Charakter einer FreiheitsEin freies Individuum und eine freie Gesellschaft bewegung gegeben. Und dafür müssen wir die ist nur über die Befreiung der Frau möglich. Wer Männlichkeit im Mann vernichten. Nur wenn wir nicht die Befreiung der Frau vorsieht, kann kei- diese töten, ebnen wir den Weg zur Freiheit. Denn ne Freiheitsbewegung werden. Diese Bewegung die Männlichkeit im Mann zu vernichten bedeukann kein freies Leben, kein freies Individuum tet gleichzeitig auch die Rückständigkeit der Frau zu vernichten, in ihr Kraft und Hoffnung zu erweoder eine freie Gesellschaft schaffen. Jede Unfreiheit ist mit der Versklavung der Frau cken, das Ungleichgewicht zwischen Mann und verbunden. Jede Sklaverei und Unterdrückung Frau aufzuheben. Auch das Ungleichgewicht zwiauf dieser Erde ist eine Folge der Versklavung schen Mensch und Natur hat seinen Ursprung im der Frau. Wenn die Frau ihre Freiheit verliert, Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau. Der verlieren auch der Mann, die Gesellschaft und Anfang aller Gleichgewichte besteht zwischen die Menschheit ihre Freiheit. Die Entfremdung Mann und Frau. Jedes Ungleichgewicht stammt des Menschen von sich selber beginnt in der Ge- vom Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau, schichte mit der Versklavung der Frau. Jede Skla- davon dass der Mann eine stärkere und die Frau verei und Unterdrückung baut darauf auf. Der eine schwächere Position einnimmt, sowohl in Weg zu einer freien Gesellschaft und zu einem der Natur, als auch in der Menschheit. Aufheben können wir dieses Ungleichgewicht freien Mann läuft über eine freie Frau. Das ist unsere Grundlage. Schon beim 3. Kon- nur, wenn wir das Ungleichgewicht zwischen gress der PKK (Dieser fand 1986 statt. Anm. d. den Geschlechtern aufheben. Nur so können wir Red.) hat Serok Apo das festgestellt. Die Realitä- zu einer Freiheitsbewegung werden. Wir kön12 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 nen so viel Widerstand leisten, wie wir wollen, aber wenn wir dieses Ungleichgewicht nicht abschaffen, können wir unser Ziel niemals erreichen. Die Praxis der Sowjetunion beweist uns das. Deswegen muss sich die Jugend dieses Ungleichgewicht vornehmen. Das ist nämlich ein Teil unserer Bewegung. Nur wenn die Jugend diese Aufgabe übernimmt kann sie ihre Rolle als Vorreiterin spielen, nicht anders. Dafür muss die Jugend gegen den gesellschaftlichen Sexismus kämpfen und ihn aufhalten. Sie darf nicht meinen, dass das die alleinige Aufgabe der Frau ist. Das ist eigentlich vor allem die Aufgabe der Männer. Weil der gesellschaftliche Sexismus durch die Männer geschaffen wurde. Dieser bedeutet, die Frau nach den Vorstellungen des Mannes zu formen. Das bedeutet die Versklavung der Frau. Der Mann wird zum Unterdrücker. Das führt zur Spaltung und Entfremdung. Freiheit, Demokratie, Gleichheit, alles verschwindet durch diese Ungleichheit. Die Einheit von Mann und Frau auf der Basis der Gleichheit entsteht nur, wenn wir gegen den gesellschaftlichen Sexismus ankämpfen. Das muss vor allem von den Männern vorangetrieben werden. Aber der Mann ist raffiniert und sagt, dass das eigentlich die Aufgabe der Frau sei. Doch das ist falsch. Hier muss dieser Kampf richtig geführt werden. Das ist unsere Linie. Nur so können wir die Männlichkeit im Mann und die Sklavenmentalität der Frau vernichten und auf einer gleichgestellten Basis die Einheit von Mann und Frau bilden. Das ist die Voraussetzung für die Abschaffung von Sklaverei und Unterdrückung in der Gesellschaft und die Schaffung einer gesellschaftlichen Einheit. So muss die Jugend die Bewegung auch auffassen, sie so leben und fortentwickeln. Auch die Jugend hat ihre Eigenheiten. Damit die Jugend ihre Vorreiterinnenrolle erfüllen kann, muss sie ihre Eigenheiten mit den Eigenheiten der Frau verbinden. Wenn sie jeweils nur sich selbst im Mittelpunkt sehen, können sie ihre Vorreiterinnenrolle nicht erfüllen. Vorreiter_innen sind diejenigen, die die gesamte Gesellschaft organisieren und sie in Bewegung setzen. Es sind die, die die Probleme der Gesellschaft als ihre eigenen Probleme sehen und diese lösen. Es sind die, die Möglichkeiten für Widerstand schaffen. Es sind die, die der Gesellschaft Lebendigkeit geben und damit den Willen der Gesellschaft nach Freiheit vergrößern. Vorreiter_innen sind nicht nur auf die eigenen Probleme fixiert. Niemensch akzeptiert die, die sich nur um die eigenen Probleme kümmern. Für wen willst du ein Vorreiter_in sein? Wenn mensch das für die gesamte Gesellschaft machen will, dann muss mensch die Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen und nicht die eigenen Interessen. Wie du dich selbst organisierst, so musst du auch die gesamte Gesellschaft organisieren. Wie du deine eigenen Probleme lösen willst, so musst du auch die Probleme der gesamten Gesellschaft lösen wollen. Die Jugend sieht sich zwar als Vorreiterin, hält diese Linie aber nicht ein. Das System, das die PKK entwickeln will, nimmt die Jugend nicht an, obwohl sie eigentlich die Vorreiterin dieses Systems sein sollte. Die Bewegung will die konföderale Demokratie erschaffen, das ist unser politisches System. Die Aufgabe der Vorreiter_innen ist hier, sich zu organisieren und dadurch größer zu werden, sich weiterzuentwickeln und jede_n in dieses System zu ziehen, so dass niemensch außerhalb bleibt. Das ist die Pflicht der Vorreiter_innen. Aber wir sehen, dass die Jugendlichen nicht mal selber ein Teil dieses Systems werden, nicht diesem System beitreten, sondern außerhalb davon bleiben. Dass sie die Organisierung nicht als ihre eigene Aufgabe sehen und sich im Namen der Eigenständigkeit außerhalb des Systems stellen. Und trotzdem behaupten sie danach immer noch, dass sie die Vorreiter_innen sind. Das geht nicht. Diesen Irrsinn muss die Jugend hinter sich lassen. Wenn nicht die Jugend in das System eintritt, es erneuert und vergrößert, dann macht es niemensch. Wer soll denn den demokratischen Konföderalismus organisieren, natürlich die Frauen und die Jugend! Weil sie die Vorreiter_innen dieses Systems sind. Die Pflicht der Vorreiter_innen gibt allem eine Dynamik. Du kannst doch nicht zu_r Vorreiter_in werden, wenn du deine Pflichten der Organisierung, Weiterentwicklung und Erneuerung nicht erfüllst. Was sollst du denn sonst machen? Unser System hat so viele Institutionen, deren Vorreiterin die Jugend ist und die durch die Jugend weiterentwickelt werden. Das meine ich mit „Dynamik geben“. Aber die Jugend selbst erfüllt ihre Aufgabe nicht. Sie küm- 13 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 mert sich nur um sich selbst und organisiert sich selbst. In Europa zum Beispiel nehmen sie nicht an Versammlungen teil. Wenn sie kritisiert werden, stehen sie auf und gehen. Sie behaupten, dass sie eigenständig sind. Das verstehen sie unter Eigenständigkeit. Sich von allem abzuschneiden und bei allem außen vor zu bleiben. Das ist ein großer Missstand. So kann die Jugend nicht ihre Pflicht erfüllen. Niemensch akzeptiert eine solche Jugend. Die Jugend muss diese falsche Mentalität hinter sich lassen und die Linie des Systems verstehen, diese weiterentwickeln. Und jede_n mit sich ziehen. Niemensch denkt an _die andere_n. Jede_r verbringt _seinen Tag für sich. Jede_r ist entfernt von Ideologie und von Politik. In diesem System lässt es sich bequem leben und deshalb entwickelt sich auch keine Alternative. Die Gesellschaft von ihrem Dasein zu entfremden, bedeutet gleichzeitig auch den Menschen von seinem eigenen Dasein zu entfremden. Nachdem das kapitalistische System die Menschen vom Dasein entfremdet hat, kann es sie wie eine Herde Schafe führen. Genau das macht das System in Europa. Und deswegen gibt es in Europa ein ernstes Problem des Menschlichseins. Viele Menschen, die Europa verlassen, verlassen es aus diesem Wie schätzt du die Gesellschaften in Europa ein Grund – bewusst oder unbewusst. Sie ziehen in irgendwelche exotischen Länder, obwohl dort und was für eine Rolle kommt der Jugend zu? der Lebensstandart eigentlich viel niedriger ist. Die Jugend in Europa lebt im Zentrum der ka- Aber sie bevorzugen die Menschlichkeit. Die pitalistischen Moderne. Vielleicht wird dieses Menschlichkeit, die sie suchen, finden sie in dieSystem durch die USA vorangetrieben, aber das sen Ländern. Das ist wichtig. Zentrum der kapitalistischen Moderne ist Europa. Europa hat das kapitalistische System entwi- Das System macht die Menschen für die gesamckelt. Das Bindeglied zwischen Europa und der te Menschheit absolut gleichgültig. Egal, was USA ist England. Lange Jahre war England der passiert und gesagt wird. Sie werden taub und Vorreiter dieses Systems, nach dem 2. Weltkrieg stumm. Sie verstehen nichts und leisten deshalb hat die USA diese Rolle übernommen. Aber den- keinen Widerstand. Sie richten sich an den Staat noch gibt es hier eine starke Verbindung. Die und halten sich an die Bedingungen, die dieser kapitalistische Moderne bombardiert ununter- ihnen stellt. Weil sie abhängig sind vom Staat. brochen die Geister und Köpfe der Menschen Der Mensch ist so einsam und schwach, dass er mit ihrer Propaganda, pflanzt in ihre Köpfe ihre ohne Staat nicht überleben kann. Das ist die Reeigene Mentalität und Lebensweise ein und bil- alität des Systems. Und für die, die keine Europädet damit ein Individuum nach ihren eigenen er_innen sind, aber in Europa leben, betreiben Bedürfnissen. Im Namen der Integration assimi- sie eine Politik der Assimilation. Das ist nichts liert sie alle Nicht-Europäer_innen und stellt sie anderes, als sie von ihrer Herkunft und von ihdamit in ihren Dienst. Das ist keine Integration: rem Volk zu entfremden. Sie psychisch von ihrem umformen, sie anpassen und danach in ihren ei- zu Volk trennen und sie nach ihren eigenen Begenen Dienst stellen. Aber das wird nicht nur mit dürfnissen zu formen, sie in sich zu verschmelzen Nicht- Europäer_innen gemacht, sondern auch und in den eigenen Dienst zu stellen. Das ist die mit der europäischen Jugend und der gesamten größte Gefahr für die kurdischen Jugendlichen. Gesellschaft. Die Gesellschaft wird gespalten, Sie besuchen dort die Schulen und Universitädie Gesellschaft wird von ihrem Dasein als Ge- ten, die die Mentalität und die Lebensweise der sellschaft entfernt, der Individualismus wird vor- Menschen komplett nach den Bedürfnissen des angetrieben, sogar Familien werden abgeschafft. Staates formen. Wer diesen Weg durchgeht, hat Jeder wird vereinsamt und geschwächt, damit gar keine psychischen Verbundenheit mehr zu diese Menschen vom Staat abhängig werden. Kurdistan, denn sie werden von allem getrennt. Ohne den Staat können diese Menschen dann Aber gleichzeitig können sie auch nicht wie Euronicht mehr leben. Schaut, bei euch in Europa ist päer_innen werden. Dadurch erleben sie große die Gesellschaftlichkeit, die Menschlichkeit ab- Identitätsprobleme. Sie leben weder die kurdigeschafft. sche Identität noch die europäische, stehen ir14 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 gendwo dazwischen. Sie wollen dieses Dilemma zwar durchbrechen, wissen aber nicht, wie. Was bietet ihnen das System an? Drogen und andere verrückte Sachen mit denen sie dann komplett ihren Verstand verlieren. Wenn die Jugend das begreift, kann sie vielen einen Weg aus diesem Dilemma bieten. Die Jugend hat eine besondere Eigenschaft: Sie ist mit dem Existierenden niemals zufrieden, sie will immer Neues sehen. Sie wollen aus dem Dilemma entkommen und, wenn wir ihnen einen Weg geben, dann schaffen sie es. Noch sind wir dazu nicht in der Lage, wir müssen es aber versuchen. Und damit wir das machen können, müssen wir uns ideologisch immer mehr vertiefen und erneuern. Wir müssen uns kulturell stark machen, damit wir gegen das System standhalten können und die Assimilation verhindern können. Das muss beides gemacht werden. Manche Sachen gibt es, wogegen wir nur mit ideologischer Überzeugung Widerstand leisten können, bei anderen Sachen können wir es nur mit kultureller Stärke. Das System greift deswegen zum einen die Ideologien an, lässt die Menschen ohne Ideologie und setzt ihnen dann ihre eigene in den Kopf und zum anderen zwingt es den Menschen die Lebensweise des Systems auf. So assimiliert es die Menschen. Wir müssen mit Ideologie und Kultur dagegen Widerstand leisten. Es ist notwendig, dass die Freund_innen in Europa das fördern. phisch den Menschen entwickeln, damit er anfängt zu denken, zu hinterfragen und Schlechtes und Gutes zu erkennen, was menschlich ist und was nicht. Andererseits braucht es Leute, die wie Apo den Blick der Menschen in Richtung Kurdistan lenken können, also in Richtung des Freiheitskampfes. Nur dann kann mensch vorwärts kommen. Wenn Menschen sich ideologisch und philosophisch nicht weiterbilden, dann gelangen sie nicht zur Erkenntnis. Ihre Herangehensweise wird dann eine unbewusste Herangehensweise sein. Deswegen ist Ideologie notwendig, damit die Menschen überhaupt verstehen, wie sie die Probleme lösen können. Wenn wir die ideologische Bildung voranbringen, dann geschieht das. Und wenn mensch dabei die Realitäten in Kurdistan aufzeigt, werden sie nicht in Europa bleiben. Wenn wir das nicht machen, dann schluckt das System die Menschen. Ich war auch bis zum Ende meiner Studienzeit immer in staatlichen Einrichtungen. Der Staat hat meine Identität nach seinen Bedürfnissen geformt und mich dadurch von Kurdistan entfernt. Ich hatte die kurdische Sprache und Kultur vergessen. Und ich habe Schritte in Richtung Türkisierung gemacht. Eine Person, die komplett dem Staat dient, wurde geschaffen. Das Bildungssystem hatte genau das zum Ziel. Erst als ich den Sozialismus kennen gelernt habe und mit AbdulKönntest du näher auf die Anpassung der Ju- lah Öcalan in Kontakt kam, habe ich den Staat, gend an den Staat eingehen? Was genau meinst Kurdistan und alles weitere erkannt und dann du damit? Was sind die Gegenmaßnahmen, die die Universität verlassen. Ich bin nach Kurdistan gegangen und habe hier mit der Arbeit begondie Bewegung unternimmt? nen. Ich war einer der ersten, die anfangs nach Damit die Freund_innen verstehen, was ich ge- Kurdistan gekommen sind. Und das müssen wir, nau meine, gebe ich ein Beispiel von mir: Als wir natürlich auf Europa angepasst, auch in Europa von Kurdistan nach Ankara zum Studieren gegan- machen. Es gibt dort momentan keine ideologigen sind – unsere Familien wollten, dass wir stu- sche und philosophische Bildung. Und deswegen dieren – haben wir dort den Sozialismus kennen erkennen die Menschen dort auch nicht die Regelernt. Darauf alitäten Kurdistans. Wie soll es die Jugend dann aufbauend hat Apo uns die Realität in Kurdistan verstehen? Das System bombardiert sie dazu nahe gebracht. Durch den Sozialismus haben wir noch jeden Tag mit seinem Fernsehen, seinen Kurdistan erst kennen gelernt und somit auch Schulen und so weiter. Die Jugend wird von allem uns selbst. Und deswegen führte unser Weg getrennt, ist hin und her gerissen und wird letztdann zurück nach Kurdistan. Wenn Serok Apo endlich dadurch gebrochen. Diese ideologische unseren Blick nicht nach Kurdistan gerichtet hät- und philosophische Bildung könnt ihr betreiben. te, wäre der Weg zurück sehr schwer gewesen. Die Freund_innen an den Universitäten, die HüUnd für euch in Europa könnt ihr dasselbe sagen: seyin Çelebi (in Hamburg geboren, war viele JahEinerseits müsst ihr ideell, ideologisch, philoso15 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 re in Deutschland für die kurdische Bewegung aktiv, 1 992 in Kurdistan im Guerillakampf gefallen; Anm. d. Red.) als Vorbild nehmen, können diese Arbeit machen. Ihr habt natürlich auch einen Vorteil dadurch, dass ihr in Europa studiert. Ihr kennt die Sprache, ihr kennt die Staaten, ihr versteht sie. Diese Vorteile könnt ihr mit kultureller und ideologischer Vertiefung ausnutzen und sie in den Dienst der Völker stellen. Ihr könnt Kontakte mit Europäer_innen knüpfen, mit ihnen zusammenarbeiten, ihnen die Bewegung näher bringen, Freund_innenschaften knüpfen, politisch zusammenarbeiten, und Europäer_innen zu Freund_innen der PKK, des kurdischen Volkes und der Freiheitsbewegung machen. uns in der Gesellschaft zu ändern. Ein Beispiel aus Deutschland: Dort hat der türkische Staat den Sozialdemokrat_innen ihre Unterstützung zugesichert, falls diese ihre Interessen verfolgen. Daraufhin wurde die kurdische Tageszeitung Özgür Politika verboten. Wir sind zwar in Deutschland auch stark und können viele Gefahren vorbeugen, aber es gibt eine Faulheit und die Freund_innen engagieren sich nicht. Der türkische Staat, die Konsulate und ihre Verbündeten dort arbeiten alle gegen die Bewegung, machen Antipropaganda, sodass die europäischen Völker, die europäische Gesellschaft, sogar Demokrat_innen, Sozialist_innen und Kommunist_innen die Bewegung nicht richtig kennen. Wir haben diesbezüglich große Defizite, Wie kann das Bild von der PKK, das seitens der das dürfen wir nicht verschweigen. Wir müssen Türkei und anderer Staaten propagiert wird, ge- uns in Europa vorstellen und uns zu verstehen geben. Das geht nicht von alleine. Sonst werden ändert werden? die Menschen uns nur über die schlechten Dar(In den folgenden Ausführungen richtet sich Bay- stellungen des türkischen, iranischen oder syriık auch direkt an die im Gespräch anwesenden schen Staates kennen. Hier haben wir ernsthafte Aktivist_innen aus Europa.) Defizite. Die Freund_innen dort sind faul, arbeiten nicht und schaffen es nicht, die Bewegung Ihr könnt das Bild von den Kurden und der Be- richtig darzustellen. Wir sind eine große Bewewegung, welches vom türkischen Staat, von den gung und haben es trotzdem noch nicht mal geeuropäischen Staaten und von den USA geprägt schafft, die Verteidigungsschriften zu übersetzen wurde, ändern. Ihr könnt starke diplomatische (Gemeint sind die geschichtsphilosophischen und politische Arbeit betreiben. An den Univer- und politischen Schriften von Abdullah Öcalan, sitäten habt ihr viele Kontakte, Verbindungen die er in Isolationshaft geschrieben hat. Sie beinund Möglichkeiten. Ihr könnt Informationsarbeit halten umfangreiche Darstellungen der Philosomachen, in Zeitungen, in Zeitschriften, im TV und phie und Politik der PKK und der kurdischen FreiRadio. Die Realitäten in Kurdistan, das, was die heitsbewegung. Von sechs Büchern sind bisher Unterdrücker_innen nur zwei ins Deutsche übersetzt worden: „Gilgamachen, alles könnt ihr berichten, zu verste- meschs Erben“ und „Jenseits von Staat, Macht hen geben. Ihr könnt auch bürokratische Ar- und Gewalt“; Anm. d. Red.). Allein diese Überbeit machen, denn viele unserer Freund_innen setzung würde vieles erklären. Die Wahrheiten haben Schwierigkeiten dabei. Staaten knüpfen über Serok Apo und die PKK ließen sich besser mit Staaten Kontakte und wollen uns dadurch verstehen. Unsere Student_innen könnten zum vernichten. Sogar internationale Organisationen Beispiel diese Übersetzung machen. Es gibt keiwie die UN und zivile Organisationen nutzen sie ne wichtigere Aufgabe. Wenn die Verteidigungsaus um uns zu vernichten, von oben und unten schriften übersetzt und unter die Bevölkerung greifen sie uns an und zeichnen von uns das Bild gebracht werden, dann werden sich die Dinge einer Terrororganisation. Die Realität der PKK ändern. Darauf aufbauend kann mensch viel arwird nicht gesehen. Die Freund_innen können beiten. Es gibt in Europa genug zu tun. zum Beispiel in solchen zivilen Organisationen Wenn eine Demonstration stattfindet mit hunarbeiten. Nicht in staatlichen Institutionen, aber derttausend Teilnehmer_innen und davon zehnes gibt sehr viele zivile Organisationen, in denen tausend Deutsche sind, dann hat das schon eine die Freund_innen arbeiten können, um eine Ge- ganz andere Wirkung. Wenn es nur Kurd_ingenöffentlichkeit zu schaffen und das Bild von 16 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 nen sind, dann hat das keine große Wirkung. Die Kurd_innen können durch den deutschen Staat ignoriert werden. Aber wenn zehntausend Deutsche dabei sind, kann der Staat diese nicht so einfach ignorieren. Ein anderes Beispiel: Es werden in Europa auf den Demonstrationen türkische und kurdische Slogans gerufen. Wer soll das denn bitte verstehen? Warum werden diese Demos denn gemacht? Damit der deutschen Gesellschaft etwas mitgeteilt wird. Wie soll das denn auf türkisch und kurdisch geschehen? Die Slogans müssen auf deutsch und kurdisch sein. Die Reden müssen auf deutsch und kurdisch sein. Damit das deutsche Volk uns verstehen kann. Sogar das wird falsch gemacht. In unserer Arbeitsweise gibt es also viele Defizite. lichkeit muss ausgenutzt werden. Als Serok nach Syrien ging, kannte er dort nur eine Familie über einen Freund. Als diese den Freund fragten, wer Abdullah Öcalan sei, sagte er, dass er ein Verwandter aus der Türkei sei. Sie kannten Serok nicht. Er wollte dann diese Familie gewinnen. Er hat es vollbracht und gewann dadurch mit der Zeit die gesamte Region für die Bewegung. Er hat aus einer kleinen Möglichkeit etwas Großes geschaffen. Das ist die Arbeitsmoral der PKK. So müssen die Freund_innen in Europa arbeiten. Vielleicht hat mensch irgendwo nur eine kleine Anzahl von Freund_innen. Wenn mensch sich aber anstrengt, dann wird mensch größer. Alles hängt mit der eigenen Arbeit zusammen. Auch die PKK war zu Beginn eine kleine Gruppe aus fünf, sechs Menschen. Heute sind Es gibt einige Kritik an der Arbeit der kurdischen wir Millionen. Das heißt, dass alles mit Mühe Bewegung in Europa. Gibt es denn auch positive zusammenhängt. Als die PKK entstand, gab es viele Bewegungen. Heute gibt es keine ernstzuBeispiele? nehmende Bewegung außer der PKK. In der PKK Ich hatte zum Beispiel gelesen, dass ihr eine Kon- sind geringe Möglichkeiten der Ansporn dafür, ferenz ausgerichtet habt. Das war gut. Das lässt durch Arbeit und Mühe die Möglichkeiten zu sich an vielen Universitäten machen: über die vergrößern. Hindernisse sind dafür da, um überPKK, über unser Paradigma, über Kurdistan und wunden zu werden. Wir sollten uns nicht das über die Unterdrückung. Darüber kann mensch Einfache vornehmen. Wenn ihr das macht, dann viele Seminare und Diskussionsveranstaltungen findet ihr immer irgendwelche Ausreden. Wenn ausrichten. Die kurdischen Studierenden sollten ihr euch aber den Erfolg vornehmt, dann kommt nicht nur Kontakte zu kurdischen Jugendlichen ihr vorwärts. aufbauen, sondern auch zu europäischen. Wer die Jugend für sich gewinnt, gewinnt die gesamte Gesellschaft für sich. Wenn die Freund_innen Könntest du auf die Situation von Abdullah der Bewegung gute Arbeit machen, die Jugend- Öcalan eingehen? Seit fast eineinhalb Jahren ist lichen aus Kurdistan erreichen, die Jugendlichen er in vollständiger Isolation. Wie ist seine Geaus Europa erreichen, dann können sie vieles fangennahme vor mehr als 13 Jahren einzuordändern und viele Meinungen ändern. Vielleicht nen? ist die Mehrheit der Jugendlichen fern von Poli- Zu glauben, dass die Politik gegen Serok Apo von tik, aber es gibt viele gewissenhafte Jugendliche, der Türkei entwickelt worden ist, ist falsch. Diese die das nicht sind, die sich sehr wohl mit Politik Politik wurde von den USA, Großbritannien, Israbeschäftigen. Wenn wir diese erreichen, können el und der NATO entwickelt und von der Türkei in wir viel ändern. Alles hängt mit der Mühe zusam- die Praxis umgesetzt. Mensch muss die Gründe men, die sich die Freund_innen machen. Zahlen, für die Isolierung von Apo und die Inhaftierung Größe, etc. sind unwichtig. Wenn du dir Mühe seiner Anwält_innen inklusive Kontaktverbot gut gibst, dann wächst du automatisch. Es gibt ein verstehen. Serok Apo wollte ein neues Paradigkurdisches Sprichwort: „Wenn ein_e Bäuer_in es ma verwirklichen und wenn dies damals gelunwirklich will, kann _sie sogar einen Bullen mel- gen wäre, hätte es eine ernsthafte Gefahr für das ken. Wenn _sie nicht will, kann _sie nicht mal kapitalistische System dargestellt. Damit dies eine Kuh melken.“ Die PKK-Kader holen nicht aus nicht geschieht, musste er handlungsunfähig geder Kuh die Milch, sondern aus dem Bullen. Das macht werden. Zu welcher Zeit ist der internaist unsere Herangehensweise. Die kleinste Mög- tionale Komplott umgesetzt worden? Genau zu 17 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 der Zeit als Serok Apo ein neues Paradigma entwickelt hatte und der 3. Weltkrieg im Mittleren Osten begonnen wurde. Wir befinden uns im Mittleren Osten gerade im 3. Weltkrieg. Das ist die Strategie von Brzeziński, einem bedeutenden Strategen der USA. Er hatte Anfang 2000 ein Buch geschrieben, in dem er die Strategie offen legte, nach der heute der Krieg geführt wird. Das Ziel des 3. Weltkrieges ist, die Hegemonie der USA weltweit zu konsolidieren und zu stärken. Alle Hindernisse bei der Verwirklichung dieses Zieles sollten aus dem Weg geräumt werden, egal ob dies ein Staat oder eine Organisation ist. Dieser Krieg findet überall statt, aber sein Schwerpunkt liegt im Mittleren Osten und in Asien und dort muss er zu Ende gebracht werden. Das Zentrum des Krieges liegt hier. Afghanistan und der Irak wurden angegriffen. Afghanistan ist aufgrund seiner geographischen Lage zu China und Indien wichtig. Der Irak ist aufgrund seiner Lage im Mittleren Osten wichtig. Die Realisierung des 3. Weltkrieges fand in diesem Gebiet auf diese Weise statt. Zur gleichen Zeit als der 3. Weltkrieg im Mittleren Osten gegen den Irak konkretisiert wurde, wurde der internationale Komplott gegen Serok Apo und die Bewegung durchgeführt. Denn um den 3. Weltkrieg im Mittleren Osten zum Erfolg führen zu können, mussten Serok Apo und die PKK als Hindernis aus dem Weg geschafft werden. Sie stellten das größte Hindernis dar. Ohne dieses Hindernis zu beheben, hätte dieser Krieg nicht erfolgreich begonnen und verwirklicht werden können. Wieso wird dieser 3. Weltkrieg überhaupt geführt? Nachdem sich die Sowjetunion aufgelöst hat, gab es eine Leere, und diese musste gefüllt werden. Das System befindet sich in einer Krise, die es versucht, in den Griff zu bekommen, und deshalb wird der 3. Weltkrieg geführt. Eine Macht, die auf der Welt hegemonial werden will, muss im Mittleren Osten hegemonial werden, dies wird durch die Geschichte bestätigt. Wieso ausgerechnet der Mittlere Osten? Er ist das Rückgrat der Welt. Dort ist der Ort, von dem ursprünglich alle Völker stammen. Die Geschichte fängt im Mittleren Osten an. Die Grundlage der heutigen Zivilisation liegt dort. Wenn eine Macht die ganze Welt beherrschen will, muss sie den Mittleren Osten beherrschen. Wenn sie ihn nicht in der Hand hat, kann sie auch die Welt nicht beherrschen. So wie der Mittlere Osten das Rückgrat der Welt ist, ist Kurdistan das Rückgrat des Mittleren Ostens. Wer Kurdistan nicht beherrscht, kann den Mittleren Osten nicht beherrschen und damit auch die Welt nicht. Als Amerika, die kapitalistische Moderne und seine Institutionen, wie zum Beispiel die NATO, den 3. Weltkrieg begonnen haben, wurde der internationale Komplott ausgeführt. Durch die Neutralisierung Seroks wurde die PKK unter großen Druck gesetzt. Damit wurde versucht zu verhindern, dass die PKK in der Lage ist, weitere Schritte zu unternehmen. Um sicherzustellen, dass der Krieg im Mittleren Osten erfolgreich begonnen und geführt werden kann und die eigenen Ziele realisiert werden können. Denn die PKK haucht den Völkern im Mittleren Osten Leben ein. Dies musste unbedingt verhindert werden. Außerdem wollte die PKK zu dieser Zeit ein neues Paradigma umsetzen, ein alternatives System erschaffen, und auch das musste unbedingt verhindert werden. Deshalb wurde der internationale Komplott entwickelt. Du bist jetzt schon ein bisschen auf die Lage im Mittleren Osten eingegangen. Kannst du deine Gedanken dazu noch weiter ausführen? Der Krieg, der im Irak begonnen und dann über Libyen, Ägypten, Tunesien und den Jemen weitergeführt wurde, soll nun in Syrien beendet werden. Der Krieg in Syrien ist der letzte auf arabischem Boden. Es ist der Ort, der den geführten Krieg zu einem Ergebnis bringen kann. Je nachdem, wie am Ende die Lage Syriens sein wird, wird der Mittlere Osten neu geordnet werden können. Von dort aus wird zum Iran übergegangen werden. Dieser wird im Kriegsfall vermutlich in vier bis fünf einzelne Staaten aufgeteilt werden. Noch später wird sich dann, über Afghanistan gehend und mit dem Mittleren Osten im Rücken, darauf orientiert, China, Indien und Russland zu neutralisieren. Das ist die Strategie und deshalb erleben wir momentan diesen großen Krieg. Wir müssen Folgendes beachten: Als der Krieg im Mittleren Osten begonnen wurde, wurde gegen Serok Apo vorgegangen und heute, da der Krieg in Syrien zu Ende gebracht werden soll, wird wieder gegen ihn und die 18 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 Bewegung vorgegangen. Der Grund für den Abbruch aller Gespräche mit ihm, für die Inhaftierung seiner Anwält_innen, für die Unterbindung jeglichen Kontakts mit der Außenwelt, für die Einsperrung tausender demokratischer Politiker_innen, für die Verwendung jeglicher Art von Waffen gegen die Guerilla, für den andauernden Druck ist der 3. Weltkrieg. Es sind die Bemühungen unserer Bewegung, eine Alternative zum kapitalistischen System zu erschaffen. Während der 1. und 2. Weltkrieg im Mittleren Osten geführt wurde, gab es keine Organisierung und keinen Kampf seitens der Kurd_innen. Deshalb konnte die Aufteilung Kurdistans durch die Verleugnung der Existenz der Kurd_innen erfolgen. (1 923 wurden beim Vertrag von Lausanne zwischen der Türkei und den Besatzungsmächten Italien, Frankreich und dem Vereinigten Königreich die heutigen Staatsgrenzen festgelegt, die das kurdische Siedlungsgebiet durchziehen; Anm. d. Red.) Dadurch konnte der Status Quo aufrechterhalten werden. Doch dieser funktioniert heute nicht mehr. Mit dem 3. Weltkrieg soll der gesamte Mittlere Osten, natürlich inklusive Kurdistan, von Neuem geordnet werden. Da der durch den 1. und 2. Weltkrieg zustande gekommene Status nicht mehr funktioniert, dem kapitalistischen System nicht mehr dient, soll eine neue Ordnung geschaffen werden, die dem System dient. Auch wenn der Krieg im Irak begonnen hat und über die arabischen Länder nach Syrien gebracht wurde, geht der eigentliche Krieg um Kurdistan. Der 3. Weltkrieg hat sich zu einem Krieg entwickelt, der in Kurdistan geführt wird. Momentan hat die PKK Erfolge zu verzeichnen, sei es im syrischen Teil Kurdistans oder auch in Nordkurdistan, wo große Gebiete von der türkischen Armee nicht mehr betreten werden können. Wohin werden diese Erfolge führen? Wir halten momentan die Initiative auf politischer und militärischer Ebene in der Hand. Wir haben die USA, die Türkei und die KDP (Kurdische Demokratische Partei; auf kurdisch PDK, Partîya Demokrata Kurdistan; Regierungspartei in der kurdischen Autonomieregion im Irak; Anm. d. Red.) momentan in die Enge gedrängt. Diesen Zustand müssen wir weiter vertiefen. Wenn uns das gelingt, wird dies die Freiheit von Abdullah Öcalan und die Freiheit des kurdischen Volkes zur Folge haben. Dies ist der Weg zur Freiheit. Der Kampf, den wir bisher geführt haben, ist noch nicht auf die Ebene gekommen, dass er die Freiheit von Öcalan und des kurdischen Volkes bewirken könnte. Erst wenn er auf einer entsprechenden Ebene ankommt, werden Serok Apo und das Volk befreit werden. Bis unser Kampf auf diese Ebene kommen wird, werden sie ihre Politik gegen Serok Apo, gegen das Volk, gegen die demokratische Politik und die Guerilla fortführen. Da müssen wir realistisch sein. Das System hat entschieden, Apo jeden Tag umzubringen. Das ist die Politik, die sie anwenden. Dies ist auch die Politik, die gegen das kurdische Volk angewendet wird. Nicht töten, nicht am leben lassen, sondern einen Zustand dazwischen, der jeden Tag den Tod bedeutet. Das ist der schwerste und schlimmste Tod. Das ist eine unmenschliche Politik, es gibt keine unmenschlichere Politik auf der Welt als diese. Wenn mensch es dem System überlassen würde, würde Serok Apo İmralı (die Gefängnisinsel, auf der Abdullah Öcalan seit 1999 inhaftiert ist; Anm. d. Red.) nicht mehr lebendig verlassen können. Nur die Standhaftigkeit und der Kampf der Bewegung kann ihn lebendig aus İmralı befreien. Erst wenn der Kampf der Bewegung ihnen die Nase bricht, ihnen jegliche Hoffnung auf Vernichtung nimmt, dann sind sie gezwungen ihre Politik zu ändern, dann kann Serok Apo befreit werden. Deshalb wird die Isolation von ihm weitergehen bis wir es schaffen, dass sie keine Erfolge mehr erzielen. Wir hatten die Haftbedingungen von Abdullah Öcalan und den internationalen Komplott schon kurz angesprochen. Könntest du etwas näher darauf eingehen? Wir konnten beobachten, als Syrien auf die Tagesordnung gesetzt wurde, dass sämtliche Verhandlungen mit Öcalan abgebrochen und seine Anwält_innen inhaftiert wurden. Sie haben ihn komplett von der Außenwelt abgeschnitten, damit sie ein Ergebnis erzielen können, damit Serok dem Volk und der Bewegung keine Perspektiven mehr geben kann. Wir führen diesen Kampf, 19 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 um diese Politik ins Leere laufen zu lassen, also damit das System, der türkische Staat und die kurdischen Kollaborateur_innen kein Ergebnis erzielen können. Wir müssen den Kampf erst auf dieses Niveau bringen. Dann können sie ihre Politik nicht fortführen, die Isolation Apos wird beendet werden und er kann befreit werden. Natürlich wissen wir nicht, was er alles durchmachen muss, ob er lebt oder nicht. Schon als die Verhandlungen noch geführt wurden, konnten wir sehen, dass er vergiftet wird, dass sie ihm zwangsweise die Haare geschnitten haben, dass sie ihn gefoltert haben und wir wissen nicht, was sie jetzt gerade mit ihm machen. Sie können die Folter jetzt noch verstärkt ausüben. Wenn wir Serok aus dieser Situation befreien wollen, müssen wir eine entsprechende Praxis entwickeln. Einen anderen Weg gibt es nicht. Als einmal ein türkischer General nach Europa gekommen ist, wurde er gefragt, wieso sie Abdullah Öcalan nicht hingerichtet haben. Er antwortete, dass er es, wenn sie ihn hingerichtet hätten, zu schnell hinter sich gehabt hätte. „Wir richten ihn jeden Tag hin.“ Das war die Antwort, die der General gegeben hatte. Sami Türk, ehemaliger Justizminister unter Ministerpräsident Ecevit, hat im Fernsehen ganz offen gesagt, dass er alle rechtlichen Mittel verhindert habe, die Abdullah Öcalan und seine Anwält_innen hätten anwenden können, und Gesetze verabschiedet haben, die verhindern, dass er jemals lebend aus dem Gefängnis kommt. Damit sagt er ganz offen, dass sie ihn dort umbringen wollen und er nur als Leichnam aus diesem Gefängnis kommen wird. Das ist die Politik, die sie anwenden, und etwas anderes können wir von ihnen auch nicht erwarten. Wer Serok Apo aus diesem Zustand befreien will, muss einen entsprechenden Kampf führen, damit sie ihre Hoffnungen auf Auslöschung verlieren. Nur dann kann Serok Apo befreit werden. Er leistet auf İmralı den größten Widerstand in der Geschichte. Dieser Widerstand wird nicht nur gegen den türkischen Staat geleistet, sondern gleichzeitig auch gegen die kapitalistische Moderne. Alles in allem wird dort eine Politik gemacht, die darauf ausgerichtet ist, den Willen Seroks zu brechen, um dadurch den Willen des Volkes und der Bewegung zu brechen, um ihnen den eigenen Willen aufzwingen zu können. Dagegen leistet Serok seinen Widerstand. Er will ihren Willen brechen, damit sie den Willen des Volkes akzeptieren. Deshalb erleben wir dort gerade einen großen Krieg. Wer wird wessen Willen brechen? Wem dies gelingt, der wird seinen Willen dem anderen aufzwingen können. Das System versucht Apo seine Rolle als Vorreiter, seine Rolle als politische Persönlichkeit zu nehmen und ihn in einen „normalen“ Häftling umzuwandeln, so wie es tausende andere Häftlinge gibt. Deshalb wollen sie auch, dass seine Familienanwält_innen ihn besuchen. Dies akzeptiert Apo nicht, denn wenn er dies tun würde, würde genau das passieren, was sie wollen: Er wäre ein Gefangener unter vielen, der von seinen Familienanwält_innen Besuch bekommt. Deshalb lehnt Serok auch Gespräche mit seinen Familienanwält_innen ab. Er sagt, dass er nichts mit ihnen zu bereden hätte, denn sein Gesprächspartner sei der Staat. Denn die Lösung der kurdischen Frage ist nur mit dem türkischen Staat möglich, nicht mit Familienanwält_innen. Und da der türkische Staat die Vernichtung will und keine Lösung, gibt es momentan keine Gespräche. Abdullah Öcalan hat selbst gesagt: wenn der Staat wirklich eine Lösung will, dann wäre er bereit, Verhandlungen zu führen. Wenn nicht, ziehe er sich zurück. Der Staat ist noch nicht bereit für eine Lösung. Serok Apo hat seine Protokolle dem Staat überreicht und dieser hat sie abgelehnt, also blieb Serok nichts anderes übrig, als sich zurückzuziehen. Diesen Zustand wollte der Staat mithilfe der Familienanwält_innen durchbrechen, aber Serok Apo hat gesagt, dass er so nicht verhandeln wird. Die von Serok entwickelte Ideologie stellt eine große Alternative dar und diese Alternative soll verhindert werden, darauf ist diese Politik ausgerichtet. Serok will diese Alternative unbedingt realisieren, da wir momentan im Mittleren Osten und in Kurdistan eine revolutionäre Situation erleben, die zu noch größeren Revolutionen führen könnte, wie damals 1789 in Frankreich und 1 905/1 91 7 in Russland (Französische Revolution und Oktoberrevolution; Anm. d. Red.). Das Gebiet wird von Neuem geordnet. Dies sind laut Serok die momentanen Bedingungen und er 20 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 hat die PKK kritisiert, dass sie nicht bereit ist und Angst hat, Schritte in Richtung der Revolution zu gehen. So wie in Frankreich zu Zeiten der europäischen Krise die Revolution gemacht wurde, so wie im 1 . Weltkrieg während einer großen Krise Lenin die Revolution in Russland realisiert hat, so erleben wir auch in der heutigen Welt eine große Krise, in dessen Zentrum der Mittlere Osten steht, und in dessen Zentrum wiederum Kurdistan ist. Die PKK will dazu ein Alternative entwickeln und muss deshalb in Richtung Revolution voranschreiten. Nachdem Serok diese Einschätzungen getroffen hatte, hat der Staat jegliche Verhandlungen abgebrochen, damit die PKK keine revolutionäre Alternative entwickelt und er das Gebiet Kurdistans nach den eigenen Wünschen formen kann. Das ist der Kern der Sache. Momentan hat die PKK an der Grenze von Süd- zu Nordkurdistan große Gebietsgewinne zu verzeichnen und auch in Syrien sind viele Grenzposten unter der Kontrolle der YPG, der bewaffneten kurdischen Volksverteidigungseinheiten. Wie reagieren die Türkei und auch die USA darauf? Wir haben die Türkei durch unseren Kampf im syrischen Teil Kurdistans und in Nordkurdistan umzingelt. Dies kommt auch einer Umzingelung der USA gleich und deshalb sind US- Amerikaner_innen vor kurzem in die Türkei gekommen, um über die aktuelle Lage in Syrien und die PKK zu reden, wie sie aus dieser Gefahr herauskommen können, welche Roadmap sie wählen. Deshalb bedrohen sie uns. Diese Bedrohungen haben zwei Ziele: Zum einen uns zu erschrecken, uns zum Rückzug zu bewegen und zum anderen einen neuen Angriff gegen uns vorzubereiten. Es wird aber kein Zurückweichen geben, die Revolution wird weiter entwickelt werden. Der Westen und der Norden Kurdistans ergänzen sich gerade gegenseitig. Die Entwicklungen auf der Linie Şemdinli, Hakkâri und Çukurca (die eingenommenen Gebiete an der Grenze zwischen Nord- und Südkurdistan; Anm. d. Red.) und die Entwicklungen in Westkurdistan beleben sich gerade gegenseitig und drängen gleichzeitig die KDP (Kurdische Demokratische Partei, Regierungspartei in der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak, die wirtschaftlich und politisch mit den Nato-Staaten kooperiert, Anm. d. Red.) und die Türkei in die Enge. Je weiter diese Entwicklungen fortschreiten, umso näher rückt die Befreiung Seroks. Wie schätzt du die aktuelle politische Situation des türkischen Staates ein? Die innenpolitische und außenpolitische Situation der Türkei ist momentan nicht sehr gut. Die türkische Mittelost-Politik ist fehlgeschlagen. Die Türkei hat sich selbst für den Mittleren Osten als Modell vorgeschlagen. Doch sie wird als Modell nicht akzeptiert, da dahinter der Herrschaftsgedanke des Osmanischen Reiches steckt. Zuerst haben die islamischen Bewegungen in Tunesien und Ägypten gegen die AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung; Regierungspartei in der Türkei, die stark auf eine staats-islamische Politik setzt; Anm. d. Red.) Stellung bezogen. Sie haben gesagt, dass die Türkei unter dem Banner des Osmanischen Reiches die Region von neuem erobern und sie versklaven will. Diese Politik ist also nicht aufgegangen. Die Türkei hat über den syrischen Markt den arabischen Mark erobert und dort großen Handel betrieben, von dem die türkische Wirtschaft profitiert hat. Als zweiter Schwerpunkt wurde der Handel mit der kurdischen Autonomieregion in Südkurdistan und dem Irak betrieben, der der türkischen Wirtschaft ebenfalls Aufschwung gegeben hat. Während es auf der Welt eine Wirtschaftskrise gab und nach wie vor gibt, hat die Türkei mit ihrer stabilen Wirtschaft angegeben, da sie in der Region mit viel Geld Handel betrieben hat. Aber als Syrien auf die Tagesordnung kam, ist der syrische Markt und damit der arabische Markt zusammengebrochen. Das hat die türkische Wirtschaft stark getroffen und ins Wanken gebracht. Der südkurdische und irakische Markt allein deckt nicht die Kapazität der türkischen Wirtschaft ab. Der Plan der Türkei war, in kurzer Zeit das syrische Regime zu stürzen, die Muslimbrüder (Diese politischen Interessengruppen versuchen, im Zuge der Neustrukturierung der arabischen Länder, den politischen Islam mit neoliberaler Wirtschaftspolitik zu verbinden; Anm. d. Red.) an die Macht zu bringen, Syrien komplett unter eigene Kontrolle zu bringen und von dort aus 21 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 den Mittleren Osten zu kontrollieren. Und damit in ökonomischer Hinsicht den syrischen und arabischen Markt in den Dienst der türkischen Wirtschaft zu stellen. Sie wollten politisch und ökonomisch Profit aus der Situation schlagen. Sie nahmen an, dass das syrische Regime sehr schnell zusammenbrechen würde. Wir konnten feststellen, dass sich die türkische Regierung vor allen anderen und in kürzester Zeit gegen das syrische Regime positioniert hatte. Aber auch diese Politik ist nicht aufgegangen. Das syrische Regime ist nicht schnell zusammengebrochen, es zieht sich weiter in die Länge und dies schadet der türkischen Wirtschaft und Politik. Außerdem können es Europa, Nordamerika und die arabischen Staaten nicht hinnehmen, wenn die Muslimbrüder als Alleinherrscher an die Macht kommen und Syrien als weitere Region an die Türkei angebunden wird. Dadurch ist die Syrien- und Mittelost-Politik der Türkei fehlgeschlagen. Um diesem Dilemma zu entfliehen, hat die Türkei einige Taktiken entwickelt. Sie hat ein Flugzeug geschickt, das von Syrien abgeschossen wurde. Damit wollte die Türkei die NATO in einen Krieg gegen Syrien einbinden. Das hat die NATO nicht akzeptiert. Daraufhin hat die Türkei die eigenen Flugzeuge zurückgezogen und begonnen die Freie Syrische Armee zu unterstützen. Das Ziel war, Westkurdistan unter die Kontrolle der Freien Syrischen Armee, also unter die Kontrolle der Türkei zu bringen. Wenn dies gelungen wäre, hätten die Kurd_innen in Syrien keinen Erfolg gehabt. Wir sind aber rechtzeitig dahinter gekommen und haben die kurdischen Städte sofort befreit und damit den Plan der Türkei verhindert. Jetzt hat sie einen neuen Plan. Sie will von neuem eine Puffer-Zone in Westkurdistan errichten, damit die Kurd_innen wieder außen vor gelassen werden können. Sie versuchen, die Kurd_innen zu hintergehen, indem sie sagen, dass sie gar nicht gegen einen Status für die Kurd_innen sind, sondern gegen den Einfluss der PKK dort. Dadurch wollen sie die dortige Einheit der Kurd_ innen zerstören und sie spalten. Denn wenn die Kurd_innen dort unter dem Einfluss der PKK einen Status erlangen, dann kann die Vernichtungspolitik der Türkei in Nordkurdistan nicht mehr fortgeführt werden. Dann müssten sie auch dort die kurdische Frage lösen und wenn diese gelöst wird, dann nur mit der PKK, da diese in Nordkurdistan sowie in Syrien hegemonial ist. Daraus folgend würde auch das kapitalistische System in Gefahr geraten. Dies muss von ihnen verhindert werden und der Weg führt über Westkurdistan. Wir haben ihre Pläne zu einer für sie unerwarteten Zeit durcheinander gebracht. Alle sind schockiert. Nicht nur dort, sondern auch im Gebiet Hakkâri, Şemdinli und Çukurca haben wir eine neue Taktik begonnen. Früher hatte die Guerilla immer zugeschlagen und sich danach zurückgezogen. Jetzt schlägt sie zu und behält das Gebiet unter ihrer Kontrolle. Sie entzieht der Türkei die Kontrolle über diese Gebiete und sperrt sie in ihre eigenen Militärstützpunkte ein, sodass sie diese nicht mehr verlassen können. Die Wege werden abgeschnitten und die Stützpunkte sind nicht mehr handlungsfähig. Die Soldat_en können diese weder verlassen, noch von aussen Unterstützung bekommen. Diese Entwicklung bringt die Türkei ziemlich in Bedrängnis. Und wie sieht es innenpolitisch in der Türkei aus? Während sie außenpolitisch komplett versagt hat, gibt es auch innenpolitische Entwicklungen der Türkei. Die Fetullah-Gülen- Bewegung (politisch-islamische Bewegung um den in Texas, USA lebenden Prediger Fetullah Gülen, der große Teile der Medienlandschaft in der Türkei gehören, unter anderem die Tageszeitung „zaman“, und gesellschaftlich-politische Institutionen, beispielsweise Schüler_innen-Nachhilfe-Institute; Anm. d. Red.) und die AKP sind mit Unterstützung der USA zusammen an die Macht gelangt. Jetzt findet zwischen ihnen ein Machtkampf statt. Es geht darum, wer wie viel Macht erhält. Das sind typische Machtverteilungskämpfe, die es überall gibt. Fetullah Gülen will die Macht nicht mit der AKP teilen und andersherum dasselbe. Die AKP hat versucht, mithilfe einer Taktik Fetullah Gülen aus den USA in die Türkei zu bringen, aber er ist nicht gekommen und die Taktik der AKP ist nicht aufgegangen. Es gibt momentan einen Machtkampf zwischen der AKP und Fetullah Gülen, der sich stetig verschärfen wird. Das liegt allein schon in der Logik der Macht begründet. Zum einen bringt diese Situation die AKP gegen- 22 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 über Fetullah Gülen in eine unglückliche Lage. Zum anderen wurden die AKP und Fetullah Gülen, als sie sich zusammengeschlossen hatten, um an die Macht zu kommen, von den Demokrat_innen, den Liberalen und den Intellektuellen in der Türkei erfolgreich unterstützt. Ihre ideologische Unterstützung haben sie von dort bezogen. Sie haben die AKP unterstützt, weil sie gedacht hatten, dass diese die kurdische Frage lösen wird, den Demokratisierungsprozess der Türkei vorantreiben und eine neue Verfassung auf den Weg bringen wird. Aber mittlerweile haben sie realisiert, dass keine dieser Fragen von der AKP gelöst werden wird. Dass dies also nicht das Ziel der AKP war. Aufgrund dessen hat ein Teil der Liberalen und Demokrat_innen ihre Unterstützung zurückgezogen und stellt sich jetzt gegen die AKP und kritisiert diese. Das ist wichtig. Eine andere wichtige Sache ist, dass es in der Armee, unabhängig davon wie weit die aktuelle Regierung die oberste Generalität schon unter ihre Kontrolle gebracht hat, drei Gruppierungen gibt. Das ist eine ernste Situation für die AKP und Fetullah Gülen. Wir konnten feststellen, dass Tayyip Erdoğan (der türkische Ministerpräsident von der AKP; Anm. d. Red.) in der letzten Zeit gegen die Inhaftierung von Ilker Basbug (ehemaliger 1. General der türkischen Armee: Anm. d. Red.) aufgetreten ist. Damit will er die Gruppen im Militär, die gegen ihn auftreten, besänftigen, da er in diesen eine Gefahr sieht. Gleichzeitig ist das Justizwesen in der Türkei in einem noch nie dagewesenen Maße politisiert. Das schafft nach innen und nach außen eine bedeutende Ungerechtigkeit. Das ist ebenfalls eine ernsthafte Situation für die Regierung. relang gefahren und waren in großen Teilen auch erfolgreich. Aber durch unseren Widerstand in den Zap- Gebirgen (die Erlangung der Kontrolle über südöstliche Gebirgszüge des türkischen Staatsgebietes durch die PKK seit dem Sommer 2012; Anm. d. Red.) haben sich die Umstände geändert. Ihre Strategie hat Rückschläge erlitten. Wir haben bei den Regionalwahlen ein Bündnis mit türkischen Sozialist_innen, Demokrat_innen und Linken geschlossen, das zu guten Ergebnissen geführt hat. Der Kampf in Kurdistan wird langsam auch in der Türkei deutlich. Dadurch haben die türkischen Demokrat_innen und Linken sich wieder etwas aufrappeln können. Deshalb haben wir auch den Demokratischen Kongress der Völker (HDK) entwickelt. Ziel ist es, sowohl das Bündnis zwischen den Völkern zu stärken, als auch eine Alternative zur jetzigen Herrschaft darzustellen. Auch diese Entwicklung stellt eine Gefahr für die AKP dar. Wenn diese Entwicklungen weiter voranschreiten, kann es die Strategie der AKP komplett in Gefahr bringen. Außerdem gibt es die neue Entwicklung, dass linksorientierte, demokratische und liberale sowie islamischantikapitalistisch denkende Menschen beginnen, die kurdische Freiheitsbewegung und die PKK als demokratische Kraft zu sehen, und erkennen, dass ein gemeinsames Leben in der Türkei nur über Verhandlungen mit uns erreicht werden kann. Wenn wir all diese Punkte zusammen betrachten, dann ist auch die innenpolitische Lage der AKP nicht sehr gut. Wenn diese Lage sich mit der außenpolitischen Situation verknüpft und noch dazu der Kampf in West- und Nordkurdistan sich weiter entwickelt, ist der türkische Staat in ernsthafter Gefahr. Wie sieht die Zusammenarbeit mit linken, demokratischen türkischen Kräften aus? Wir konnten beobachten, dass die CHP (Cumhuriyet Halk Partisi, Republikanische Volkspartei; kemalistisch-nationalistisch- laizistische Partei, gegründet von Mustafa Kemal „Atatürk“; Anm. d. Red.) und die AKP sofort zusammengekommen sind und behaupteten, die kurdische Frage lösen zu wollen. Wer ist die CHP und die AKP? Die CHP ist die Gründungspartei der Ersten Türkischen Republik und die AKP ist die Gründungspartei der Zweiten Republik. Diese beiden Parteien sind also in aller Eile zusammengekommen, um die Republik zu retten. Doch allein das reich- Es gibt eine Strategie gegen die Kurd_innen und die PKK, die seit Jahren entwickelt worden ist. Diese besteht darin, dass das türkische und kurdische Volk sich nicht verbünden, der Kampf sich in der Türkei nicht entwickelt, er nur auf die Grenzen Kurdistans und auf die Berge Kurdistans beschränkt bleibt, die türkische Bevölkerung gegen die Kurd_innen und die PKK aufgehetzt wird und somit dieser Kampf zu keiner ernsthaften Bedrohung wird. Diese Strategie haben sie jah- 23 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 te nicht aus und Erdoğan hat vorgeschlagen, die kurdische Sprache als Wahlunterricht in den Schulen anzubieten, um damit die Kurd_innen zu beeinflussen. Doch auch das hat nicht gereicht. Sie wollten noch weitere Schritte gehen, doch dies hat nicht geklappt, weil die Bewegung sie durch die Entwicklungen in Westkurdistan und in Şemdinli-Hakkâri-Çukurca bloßgestellt hat. Die Türkei sieht sich selbst nun in Gefahr. Wenn wir diese Entwicklungen noch weiter vorantreiben, wird die Türkei noch mehr in Schwierigkeiten kommen, ihre bisherige Politik wird ihre Gültigkeit verlieren. Wenn die Türkei sich retten möchte, muss sie die kurdische Frage lösen und Serok Apo freilassen. Geschieht dies nicht, droht die Teilung der Türkei, wie zum Ende des Osmanischen Reiches. In diese Richtung entwickelt sich die Türkei. 24 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 Teil III - Europäische Union und internationales Kräfteverhältnis, Rolle der Religion und die Praxis der Kritik und Selbstkritik Der erste Teil des Interviews behandelte die politischen Grundlagen des Paradigmenwechsels der PKK, die Ideologie des demokratischen Konföderalismus und die Rolle des Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan. Im zweiten Teil spricht Cemil Bayık über die Rolle der Jugend und der Frauen als Vorreiter_innen der Revolution, über die Situation und Potentiale der kurdischen Bewegung in Europa sowie über die politische Lage in der Türkei, besonders bezüglich der aktuellen Entwicklungen in Syrien und Nordkurdistan. Im dritten Teil äußert sich Cemil Bayık über die Europäische Union und das internationale Kräfteverhältnis, über die Rolle der Religion, besonders des politischen Islam, und erläutert die Praxis der Kritik und Selbstkritik innerhalb der PKK. Wie schätzt du die Rolle der Europäischen Union ein? Siehst du sie auch als Demokratisiererin oder nur als eine Vertreterin der kapitalistischen Moderne? Das kurdische Problem selbst wurde von der kapitalistischen Moderne erzeugt. Und zwar durch die Ordnung des Mittleren Ostens nach dem 1. und 2. Weltkrieg seitens Großbritanniens und Frankreichs durch die Aufteilung Kurdistans unter den Kolonialstaaten und durch ihre Verleugnungs- und Vernichtungspolitik gegenüber den Kurd_innen. Somit ist es Europa selbst, also Frankreich und Großbritannien, das die kurdische Frage überhaupt erst erzeugt hat. Als nach dem 2. Weltkrieg die USA zu den Hauptvertretern des Systems geworden ist, hat es diese Politik fortgesetzt. Diese Politik ist bis heute aufgrund des kurdischen Kampfes nicht aufgegangen und die USA müssen jetzt gezwungenermaßen einige Änderungen an ihrer Politik vornehmen. Das ist die Realität. Der Grund, weshalb die kurdische Frage bisher nicht gelöst werden konnte, ist die kapitalistische Moderne, nicht die Türkei. Das System will keine Lösung, die eine_n freie_n Kurd_in beinhaltet. Früher wollte es gar keine Lösung der kurdischen Frage, es unterstützte die Vernichtungspolitik gegen die Kurd_ innen. Da diese Politik aufgrund des kurdischen Freiheitskampfes nicht aufgegangen ist, setzt es nun auf kurdische Kollaborateur_innen und will das Problem mithilfe dieser lösen, da Kurdistan dadurch weiterhin im Dienst des Systems bleiben wird. _Die freie Kurd_in entzieht Kurdistan dem Einfluss des Systems und versucht noch dazu, eine Alternative zum System zu erschaffen. Deshalb ist das System dagegen, das Problem mit der PKK, mit _der freien Kurd_in zu lösen. Es will das Problem mit der KDP lösen (Kurdische Demokratische Partei, Regierungspartei im kurdischen Autonomiegebiet im Nordirak; Anm. d. Red.), denn dies bedeutet, dass Kurdistan weiterhin dem System dienen wird, dass Kurdistan sogar gegen die Völker in der Region benutzt werden kann. Die kapitalistische Moderne gibt der Türkei im Kampf gegen _die freie_ Kurd_in dabei die Kraft, denn es ist nicht die Türkei selbst, es ist das System und seine NATO, die gegen uns Krieg führen. Die Türkei alleine hätte unserem Kampf nicht standhalten können und wäre längst untergegangen. Der Kampf der PKK ist also nicht ein Kampf, der nur im Norden für Kurdistan geführt wird. Es ist ein Kampf des gesamten Mittleren Ostens, ein Kampf der Menschheit. Ein Kampf gegen die kapitalistische Moderne. Und deshalb ist die PKK das Ziel aller systemrelevanten Kräfte. Von hier komme ich nun zu Europa. Vielleicht wollen in Europa einige eine Lösung, aber die Mehrheit ist gegen eine Lösung, vor allem gegen eine Lösung zusammen mit der PKK. Europas Politik bezüglich der Kurd_innen ist zwiespältig. 25 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 Zum einen wird betont, dass sie auf der Seite der Kurd_innen sind, zum anderen unterstützen sie die Unterdrücker_innen. Europa will auf keinen Fall, dass sich hier ein freies Leben, eine freie Gesellschaft entwickelt, weil es dem Profitdenken des Systems widerspricht. Und deshalb erfolgt die Annäherung Europas nicht auf Basis von Demokratie und Freiheit. Die Begriffe „Demokratie“ und „Freiheit“ benutzen die USA und Europa sehr häufig, auch wir benutzen sie sehr häufig. Aber es kommt auf die Bedeutung an, die wir diesen Begriffen geben. Die kapitalistische Moderne begeht unter dem Banner der „Demokratie“, der „Freiheit“ und der Menschenrechte die größten Ungerechtigkeiten, die größten Massenmorde, die größten Menschenrechtsverletzungen. Ist denn Saudi-Arabien etwa eine Demokratie, wenn es dabei unterstützt wird, Syrien oder sonstige Länder zu zerstören. Die Situation in Saudi-Arabien ist noch schlimmer als in Syrien. Es ist eine Monarchie, es gibt keinerlei Freiheiten. Im Vergleich dazu ist Syrien frei. Das Maß sind also nicht Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, sondern inwiefern mensch den USA dient oder nicht. Wenn mensch ihnen dient, gibt es keine Probleme und wenn nicht, wird mensch von der Landkarte getilgt. Es gibt auch Widersprüche zwischen Europa und den USA, und zwar wirtschaftliche. Das sind keine Widersprüche, die das System als solches betrifft, denn Europa ist keine Kraft, die grundsätzlich gegen die Politik der USA ist. Europa ist der Ursprung des Kapitalismus, es würde niemals dem System als solches schaden wollen. Trotzdem muss mensch sich bewusst sein, dass Europa bei der Lösung der kurdischen Frage eine Rolle spielt, denn es hat das Problem überhaupt erst erzeugt. Wenn Europa keine Lösung will, wird die Türkei dieses Problem niemals lösen. Das müssen wir wissen. Europa würde aber eine Lösung nur akzeptieren, wenn es zum eigenen Vorteil wäre, sonst nicht. Deshalb darf mensch sich bei der Annäherung der EU an die Kurd_innen nicht viel Positives erhoffen. Das bedeutet aber nicht, dass wir keine Beziehungen zur EU haben sollten, keine Gedanken austauschen sollten, uns nicht gegenseitig beeinflussen sollten. Genau im Gegenteil: Das ist notwendig. Aber hier muss vor allem der Kontakt zu und die Unterstützung von den Völkern Europas, von den zivilgesellschaftlichen Organisationen im Mittelpunkt stehen und ihnen die Situation deutlich gemacht werden. Wir müssen die Unterstützung der demokratischen und linken Kräfte gewinnen. Wenn dies gelingt, wird der Druck auf die einzelnen Staaten größer und die kurdische Frage kann gelöst werden. Wie steht die PKK denn zur Frage der Religion? Wie geht sie als sozialistische Bewegung mit der Religiösität vieler Menschen im Mittleren Osten um? Die Religion ist eine Lebensphilosophie, deren Einfluss im Mittleren Osten besonders groß ist. Wir müssen die Natur, den Ursprung der Religion verstehen. In der Philosophie der Religion gibt es Gerechtigkeit, Widerstand gegen Unterdrückung, Gleichheit und Frieden. Das sind gemeinsame Werte der Menschheit, die wir verteidigen müssen. Jede religiöse Bewegung ist eine ideologische Bewegung. Und alle haben zum Ziel, Schlechtes aus dem Weg zu schaffen. Die Annahme war, dass die Menschheit verschmutzt sei und die Religionen entstanden sind, um diese Verschmutzung zu bereinigen. Je mehr die Religionen diese Werte vertreten haben, desto wirkungsmächtiger wurden sie auch. Einige Religionen waren politischer, einige waren ideologischer. Eine andere Eigenschaft von Religionen ist, dass sie gesellschaftliche Bewegungen sind. Das war im Islam, im Christentum und im Judentum so. Wer die Gesellschaftlichkeit fördert und sich danach richtet, fördert die Menschlichkeit, da der Mensch erst durch Gesellschaftlichkeit zum Menschen wird. Auch das ist ein gemeinsamer Wert der Menschheit, den wir verteidigen müssen. Eine revolutionäre Bewegung muss dies berücksichtigen. Deshalb ist es notwendig, dass mensch sich der Religion kulturell nähert und ihre Werte, die sie mit der gesamten Menschheit teilt, beachtet. Das ist eine kulturelle Herangehensweise. Eine kulturelle Herangehensweise entgegen einer politischen und ökonomischen Herangehensweise an die Religion. Mensch kann nur mit einem kulturellen Islam gegen den politischen Islam vorgehen. Wenn wir uns wie der Realsozialismus oder die kapitalistische Moderne an die Religion nähern, würden wir als revolutio- 26 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 näre Bewegung verlieren. Wenn wir Werte, die die gesamte Menschheit teilt, dem System, den Herrschenden überlassen, dann wird dies den politischen Islam stark machen. Eben auch hier ist die Herangehensweise von Abdullah Öcalan progressiv, indem er eine Synthese aus den gemeinsamen Werten der Menschheit bildet. Die sozialistischen Bewegungen haben viele Werte den Herrschenden überlassen, die eigentlich nicht die Werte der Herrschenden sind. Gerade das wollen ja die Herrschenden: Alles als ihre eigenen Errungenschaften darstellen. Wenn wir die Werte der Völker und der gesamten Menschheit ihnen überlassen, können wir im Kampf gegen sie nicht erfolgreich sein. Die Herrschenden haben der Menschheit ihre Werte gestohlen. Der Sozialismus muss sich diese zurückerobern. Zum Beispiel haben wir die Epoche der Renaissance anfangs als eine Epoche der Bourgeoisie interpretiert. Das war falsch. Die Bourgeoisie hat sich diese Epoche angeeignet. Doch eigentlich steckt in ihr ein großer Kampf der europäischen Völker. Die Epoche beinhaltet große Werte, die die Linke verteidigen muss. Wenn wir das nicht machen, dann machen es die Herrschenden. Wir würden uns dadurch selbst entwaffnen und alles den Herrschenden übergeben. Das darf nicht sein. Sozialismus heißt Menschlichkeit, Gesellschaftlichkeit und eben die Verteidigung ihrer Werte. Und deswegen ist das beste Mittel im Kampf gegen den politischen Islam, der Macht und Profit zum Ziel hat, der kulturelle Islam. Genau dieses Mittel nutzt die PKK. Der politische Islam ist die stärkste Waffe des Systems, mit der es den Nahen Osten beherrschen und dadurch kontrollieren will. Das ist die Strategie. Es bedeutet gleichzeitig eine Aushöhlung der Natur der Religion und die Verwendung der Religion gegen diese Natur. er und der Besitzer des TV-Senders TGRT, Enver Ören, eine Vorreiterrolle gespielt. Es ist auch kein Zufall, dass heute TGRT und „Voice of America“ gemeinsam Sendungen produzieren. Damals wurden diese Sender gegen die Sowjetunion und für den Kampf gegen den Sozialismus in den jeweiligen Ländern aufgebaut. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde allerdings die gesamte Organisierung umstrukturiert und auf eine neue Strategie ausgerichtet. Und zwar nach der Strategie des politischen Islams. Die gesamte Finanzierung läuft über die USA. Die Gülen-Bewegung organisiert sich ja nicht nur in der Türkei, sondern auf der ganzen Welt. Dass der deutsche Staat sagt, er arbeite mit der Gülen-Bewegung zusammen, ist deshalb keine Überraschung. Der deutsche Staat hat als NATO-Mitglied die Aufgabe, die Politik dieses Bündnisses auszuführen, und das bedeutet eben, den politischen Islam zu fördern. Fetullah Gülen ist ein Teil dieser Strategie und deswegen sieht der deutsche Staat auch keine Gefahr in ihm. Mit dieser Strategie geht der deutsche Staat auch im eigenen Land gegen Demokrat_innen, Sozialist_innen und Revolutionär_innen vor. Das ist ja das Ziel dieser Strategie. Jeden in den Dienst des Systems zu stellen. Jede_r, _der sich dagegen wehrt, befindet auf einer Zielscheibe: Umweltaktivist_innen, Feminist_innen, Sozialist_innen. Auch die AKP wurde durch die USA aufgebaut, um dadurch die Türkei kontrollieren zu können. Der Grundstein wurde mit dem Militärputsch am 1 2. September 1 980 gelegt. Damals hat mensch die Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und der Türkei entwickelt. Eine Menge Kapital ist aus Saudi-Arabien in die Türkei geflossen und das sogenannte grüne Kapital hat sich in der Türkei entwickelt. Der MÜSIAD (Muslimischer Arbeitgeber_innenverband; Die Führungsfigur im politischen Islam ist Fetul- Anm. d. Red.) wurde gegründet. Zu der Zeit hat lah Gülen, der in den USA lebt. Seine Bewegung sich in der Türkei die Zahl der Imam-Hatip-Gymkontrolliert maßgebliche Teile der AKP- Regie- nasien (Gymnasien, die streng nach religiöser rung. Wie wird seine Bewegung im Kampf ge- Weltanschauung lehren; Anm. d. Red.) verdreifacht. Necmettin Erbakan (Gründer der islamistigen die PKK in Stellung gebracht? schen Bewegung Milli Göruş, die die Einführung Fetullah Gülen ist ein Lakai der CIA. Er hat in den der Scharia als Ziel hat; Anm. d. Red.), der in die 70er Jahren in der Türkei, in Erzurum, die ersten Schweiz geflohen war, wurde durch die Generäantikommunistischen Vereine gegründet, die von le zurückgeholt und durfte eine Partei gründen. den USA für den Kampf gegen die Sowjetunion Turgut Özal wurde Ministerpräsident und daunterstützt und aufgebaut wurden. Hier haben 27 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 nach Staatspräsident. Alles, damit die Grundlage für den Strategiewechsel gebildet werden konnte. Als Ergebnis kam die AKP im Jahr 2001 an die Macht. Nach dieser Strategie wird heute die Türkei und Fetullah Gülen im Nahen Osten benutzt. Deshalb geht vom politischen Islam die größte Gefahr aus. Auch die Mitglieder der türkischen Hizbollah (Die türkische Hizbollah wurde für den Kampf gegen die kurdische Freiheitsbewegung aufgebaut, sie sind verantwortlich für Morde an hunderten Kurd_innen in den neunziger Jahren; Anm. d. Red.) wurden aus den Gefängnissen entlassen. Mit Hilfe der AKP gründete die Hizbollah den TV-Sender Çaĝri TV. Für den Kampf gegen die PKK wird die Hizbollah wieder aufgebaut. Ihr wird bewusst ein kurdisch-islamisches Profil verpasst, weil viele Kurd_innen religiös sind. Das ist im Gesamten eine Taktik der CIA. Anders können sie gegen die PKK nicht vorgehen. In Israel wurde dieselbe Strategie verfolgt: Gegen die Fatah wurde von Israel die Hamas entwickelt. Auch Osama Bin Laden wurde von den USA unterstützt und danach erledigt, weil er außer Kontrolle geraten ist und den Interessen nicht mehr gedient hat. Die Anti-Bin-Laden- Haltung und Anti-Hamas-Haltung sind Lügen und dienen nur zur Manipulation. Was denkst du über die Situation an der Peripherie Europas, also Griechenland, Portugal und den Widerstand der Bevölkerung gegen die „Sparmaßnahmen“, die aktuelle Wirtschaftspolitik? Gleichzeitig nehmen auch faschistische Tendenzen in Europa zu. Wie schätzt du diese Entwicklungen ein? Der Nationalstaat ist in Europa etwas geschwächt. Früher gab es Tendenzen zur Vergrößerung der Nationalstaaten und deshalb gab es Kriege zwischen ihnen, die teilweise in Form von Religionskriegen ausgetragen wurden. Auch die späteren Kriege zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien waren Kriege, die zum Ausbau des jeweils eigenen Nationalstaats geführt wurden. Aber mit der Entwicklung der Europäischen Union sind die Nationalstaaten in Europa etwas schwächer geworden. Mensch muss die Europäische Union deshalb als eine Schwächung der Nationalstaaten sehen, als eine Form Wo ist der Standpunkt von Russland und China der supranationalen Einheit in Richtung eines im internationalen Kräftegleichgewicht? Konföderalismus. Aber auch dort sind jetzt einiRussland, Indien und China haben im internatio- ge Probleme zu Tage gekommen und wie diese nalen Kräfteverhältnis eine gewisse Wichtigkeit. gelöst werden, ist noch unklar. Zeiten der Krise Vor allem das sich ökonomisch entwickelnde Chi- sind immer auch Zeiten der Revolution und Konna ist ein ernsthaftes Problem für die USA. Auch terrevolution. In Europa gibt es eine ernsthafte auf militärischer Ebene entwickelt sich China ökonomische Krise, die alle Gesellschaften Euweiter. Deshalb stehen für die USA die Entwick- ropas trifft und dabei vor allem in Griechenland, lungen in China im Mittelpunkt. Russland und Spanien und Irland am meisten zu spüren ist, Indien hingegen stellen für die USA aus militäri- aber auch Auswirkungen auf Italien und Frankscher Sicht keine größeren Probleme dar. Jedoch reich hat. In Krisenzeiten entwickeln sich immer aus ökonomischer Sicht ist auch Indien als sich rassistische Bewegungen, aber auch Entwickentwickelndes Land für die USA ein Problem. lungsmöglichkeiten für linke Kräfte nehmen zu. Aber am meisten wird die USA durch die öko- Die Entwicklung von faschistischen Bewegunnomischen und militärischen Entwicklungen in gen in solchen Zeiten ist auch immer teilweise China beunruhigt. Deshalb will sie dieses Gebiet auf staatliche Bemühungen zurückzuführen. Die niederhalten und keine_n neue_n Gegenspieler_ rassistischen Bewegungen in Europa werden von aufkommen lassen. Dies ist auch ein Grund da- den Staaten und seinen Geheimdiensten gefür, weshalb Russland, China und der Iran hinter nährt. Das machen sie aus zwei Gründen: Zum eidem Regime in Syrien stehen. Denn wenn dieses nen benutzen sie diese Bewegungen als Reserve fällt, kommt der Iran an die Reihe und danach gegen alle Nicht-Europäer_innen, Ausländer_insind sie selbst dran. nen und andere Völker und zum anderen, um die 28 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 linken Bewegungen in Europa schwach zu halten. Die rassistischen Bewegungen in Europa können niemals ganz ausgeschaltet werden, da die Staaten diese immer als Reserve in der Hinterhand halten. In gefährlichen Zeiten stärken die Staaten diese Bewegungen und lassen sie gewisse Rollen spielen und in ungefährlichen Zeiten werden sie schwach und als Reserve gehalten. Nun befindet sich Europa gerade in einer Krise und die Gesellschaften sind in Unruhe, es entwickelt sich Widerstand und die linke, demokratische Opposition kann jeden Moment gestärkt werden und genau deshalb werden jetzt die rassistischen Bewegungen gestärkt. Revolutionäre Bewegungen können sich in Krisenzeiten am besten entwickeln, da die Widersprüche in den Gesellschaften zunehmen, die Suche nach Alternativen größer wird und die Linke darauf Antworten geben und sich entwickeln kann. In Griechenland zum Beispiel ist die linke Bewegung stark, sie hat sich zur stärksten Partei im Land entwickelt. Das hat natürlich auch eine historische Grundlage, aber die Kräfte der Linken waren nicht mehr so stark wie sie jetzt zu Zeiten der Krise wieder sind. Sie hätte fast zur alleinigen stärksten Partei werden können, doch dies wurde verhindert, da es für das System hätte gefährlich werden können. Denn die Partei hatte radikale Forderungen, wie zum Beispiel die Möglichkeit des Ausstiegs aus der Währungsunion oder komplett aus der Europäischen Union. Diese Äußerungen stellten eine Gefahr dar und mussten verhindert werden, genauso wie in der Vergangenheit in Italien die Machtübernahme der Kommunistischen Partei durch die NATO und den CIA verhindert wurde. Die Konterguerilla und Gladio (paramilitärische Geheimorganisation der CIA, der NATO und der britischen M1 6 während des Kalten Krieges; Anm. d. Red.) waren in Italien sehr stark und haben damals die Machtübernahme verhindert. Mensch muss auch dies deutlich machen: Wir befinden uns in Zeiten des globalen Kapitalismus und dagegen müssen wir eine globale Demokratie entwickeln. Ein ehemaliger Parteivorsitzender einer linken türkischen Partei hat uns vor kurzem einen Brief geschrieben. In dem sagt er, dass die PKK eine Vorreiter_innenrolle der internationalen, demokratischen Bewegungen innehaben sollte, deren Zentrum Europa sein könnte. Er sagt, dass die PKK eine solche Arbeit in Europa beginnen sollte und er sich auch daran beteiligen würde. Vielleicht sagt er das bezogen auf die Vergangenheit der ersten und zweiten Internationalen in Europa und der dritten Internationalen in Russland, dass es jetzt einer Organisierung der sozialistischen Bewegung bedarf, die die der früheren Internationalen übertrifft. Wir haben es heute mit einem globalisierten Kapitalismus zu tun, der die Organisationsweise der bisherigen Internationalen in den Schatten stellt und wir müssen deshalb eine globale demokratische Bewegung entwickeln. Dies ist auch das Ziel der PKK. Denn es ist möglich, dass die sozialistische Bewegung in Europa wieder gestärkt wird. Die Schaffung einer globalen demokratischen Bewegung gegen den globalen Kapitalismus muss in der europäischen Linken auf die Tagesordnung gesetzt und diskutiert werden. Vielleicht hätte eine solche Diskussion vor ein paar Jahren in Europa zu keinem Ergebnis geführt, aber wenn wir die jetzige Krise in Europa mitberücksichtigt, könnte es eine Diskussion zum richtigen Zeitpunkt sein. In Europa gibt es die Partei der Europäischen Linken. Die prokurdische Partei BDP (Partei des Friedens und der Demokratie) diskutiert gerade eine mögliche Mitgliedschaft. Was hältst du von der Vereinigung der Linken? Wir wollen gerade unter dem Namen Demokratischer Kongress der Völker (HDK) eine ähnliche Dach-Bewegung in der Türkei auf die Beine stellen. Unter dessen Schirm sollen alle Linien der Linken, der Demokrat_innen und sogar einiger Liberalen gesammelt werden und zu einer organisierten Kraft werden. Etwas Ähnliches muss und kann auch in Europa geschaffen werden. So wie die Herrschenden, die Staaten unter dem Namen der Europäischen Union zusammen gekommen sind, um die eigene Herrschaft abzusichern, den eigenen Profit zu sichern, sollten auch die demokratischen Kräfte in Europa zusammen kommen. Nur so können sie stärker werden. Deshalb sind auch die Entwicklungen in Lateinamerika wichtig, die wir unbedingt berücksichtigen sollten und daraus lernen. Sie müssen nicht in ihrer Gesamtheit richtig sein, sie können auch Fehler enthalten, Dinge enthalten, die wir nicht richtig finden oder die nicht auf die europä- 29 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 ischen Bedingungen passen. Aber trotzdem sind die Entwicklungen in Lateinamerika sehr wichtig, sie können uns viel lehren und wir können daraus einen Nutzen ziehen. In der PKK gibt es eine starke Praxis der Kritik und Selbstkritik. Was bedeutet das in der Umsetzung? Die von der PKK entwickelten Vorstellungen sind Was kann die türkische Linke für eine Rolle im sehr stark. Ich kann sagen, dass es die stärksKampf gegen die AKP- Regierung und gegen die ten Vorstellungen auf der Welt sind und dieser sogenannte kapitalistische Moderne spielen? Tatsache muss mensch Rechnung tragen. Wie Die türkische Linke ist momentan sehr schwach werden diese Vorstellungen in Kurdistan und auf und zersplittert. Wir versuchen sie zu unterstüt- internationaler Ebene in die Praxis umgesetzt? zen, damit sie wieder stärker wird. Ohne unse- Das ist sehr wichtig. Ihr seid zwar aus Kurdisre Bemühungen und Unterstützung kommt die tan, aber ihr lebt in Europa. Ihr tragt zum einen türkische Linke nur sehr schwer wieder auf ei- Verantwortung gegenüber Kurdistan, aber auch gene Beine, denn sie hat den Glauben an sich gegenüber der internationalen Ebene. Wir sind verloren. Die Unterdrückung der Linken durch eine Bewegung, für die nicht Kurdistan im Mittelden 1 2ten-September-Faschismus (Gemeint ist punkt steht. Das haben wir überwunden. Für uns der Militärputsch vom 1 2. September 1 980, in steht die komplette Welt im Mittelpunkt. Die Kadessen Verlauf mehr als 60.000 Sozialist_innen der dieser Bewegung müssen sich dieses Niveau und Demokrat_innen inhaftiert wurden; Anm. d. als Ziel vornehmen und dementsprechend PoliRed.) und dann auch noch die Auflösung der Sow- tik machen. Zum einen Kader dieser Bewegung jetunion hat sie psychologisch belastet. Um sich sein und zum anderen seine eigene Welt stark vor staatlicher Repression zu schützen, waren sie einengen: dies befindet sich im Widerspruch mit lange Zeit auf Distanz zur kurdischen Bewegung den Zielen und Vorstellungen der Bewegung. und Kurdistan, doch das hat sie noch mehr ge- Vielleicht haben wir in Kurdistan begonnen, troffen und das haben sie mittlerweile verstan- doch wir sind zum Mittleren Osten übergeganden. Jetzt versuchen sie durch Anlehnung an die gen und haben diese Ebene auch überwunden PKK stärker zu werden und das ist eine gute Sa- und befinden uns jetzt auf einem internationache. Denn wir wollen sie unterstützen, damit die len Level. Und das ist auch die Ebene, die Serok türkische Linke wieder zu Kräften kommt. Das ist Öcalan zum Ziel hat. Jede_r muss sich die Frage zum einen für die Türkei notwendig, zum ande- stellen, wie _er dieses Paradigma in Kurdistan, ren auch für uns. Denn dies ist notwendig, da- im Mittleren Osten und auf der ganzen Welt ummit der Kampf in Kurdistan erfolgreich sein kann. setzen kann. Als Serok diese Thesen entwickelt Wenn sich in der Türkei die Demokratie- Bewe- hat, verlangte er, ihm alle Vorschläge und Kritigung nicht entwickelt und die Türkei nicht demo- ken zukommen zu lassen. Für uns als Bewegung kratisiert wird, ist die Lösung der kurdischen Fra- ist seit Beginn Kritik und Selbstkritik sehr wichge sehr schwer. Das ist keine neue Feststellung, tig. Wir haben zweimal in unserer Geschichte sondern stand schon seit der Gründung der PKK die Praxis der Kritik und Selbstkritik in einer sehr im Mittelpunkt. Der Erfolg des Freiheitskampfes tiefen Form angewendet. Einmal während unsein Kurdistan ist an die Entwicklung des demo- rer Entstehung und einmal während des Paradigkratischen Kampfes in der Türkei gebunden. Wir menwechsels. Kritik und Selbstkritik sind unsere haben an der türkischen Front ständig versucht, Prinzipien. Dies ist auch ein Grund dafür, wieso die linke und demokratische Bewegung zu stär- wir unbesiegbar sind. ken. Aber unsere Anstrengungen haben nicht Wenn eine Bewegung ständig Kritik und Selbstausgereicht, da es auch von ihrer Seite her nicht kritik durchlebt, verliert sie nie ihre Ziele und genügend Anstrengungen gab, um sich selbst zu Absichten aus den Augen. Es entsteht kein Dogstärken. Doch auch heute sind sie noch schwach matismus, Fundamentalismus, sie erneuert sich und sie müssen unbedingt stärker werden. Der ständig und bleibt lebendig. Außerdem bleibt „Demokratische Kongress der Völker“ (HDK) diese Bewegung rein und wird nicht schmutzig. stellt einen Versuch dar, eine gemeinsame Front Denn wo entsteht Verschmutzung in einer Bewegung? Dort wo keine_r nach Rechenschaft gefragt gegen den AKP-Faschismus zu bilden. 30 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 wird und diese nicht ablegen muss. Dort kann es auch keine Gerechtigkeit geben. Gerechtigkeit, Gleichheit, Demokratie und Freiheit gibt es nur dort, wo nach Rechenschaft verlangt und diese auch abgelegt wird. Anders geht es nicht. Deshalb müssen die Kader dieser Bewegung für Kritik und Selbstkritik offen sein. Sie müssen das leben und ständig Rechenschaft über ihre Tätigkeiten ablegen. Sie müssen die Kritiken und Vorschläge von anderen über ihre Arbeitsweise annehmen. Das stärkt. _Derjenige, _der schwach ist und kein Vertrauen in sich selbst hat, wird sich der Kritik und Selbstkritik nicht nähern. Schwache und Versklavte können keine Selbstkritik üben. Nur _diejenige, _die Selbstvertrauen hat und sich _ihren Zielen bewusst ist, kann Kritik und Selbstkritik üben. Wir sind eine Bewegung, die sich niemals vor Kritik und Selbstkritik scheut. Wir haben ein Prinzip und das ist Transparenz. Die PKK wendet diese nach innen und nach außen an. Wer dieses Prinzip nicht anwendet, kann kein_e PKKler_in sein. Dieses Prinzip in der Praxis anzuwenden, bedeutet Rechenschaft fordern und ablegen, Kritik und Selbstkritik üben. Nun ist es leicht, Kritik und Selbstkritik zu fordern und auf Wunsch oder zwangsweise diese durchzuführen. Aber das wichtige ist, dass die Kritik und Selbstkritik unaufgefordert gelebt wird. Sonst wird das Ganze zum Zwang, ohne dass wirklich daran geglaubt wird. Das hat keinen Wert. Keine_r verlangt von Serok unter den Bedingungen von İmralı eine Kritik und Selbstkritik, aber er lebt dieses Prinzip der Bewegung trotzdem. Wir als Parteiführung haben den Beschluss gefasst, dass alle Mitglieder des Exekutivrats Selbstkritik-Berichte schreiben müssen, und dies wurde auch in die Tat umgesetzt. Diese haben wir allen PKK-Kadern weitergeleitet und mit ihnen diskutiert: welche sie als hinreichend finden, welche sie nicht als ausreichend finden und welche sie überhaupt nicht akzeptieren. Das haben wir zum einen gemacht, damit die Leitung innerhalb der PKK bekannter wird, dass klar wird, unter welcher Führung der Kampf geführt wird. Denn es ist das gute Recht der Kader zu wissen, unter welchem Vorstand sie den Kampf führen. Zum anderen haben wir diese Selbstkritik- Berichte schreiben lassen, damit die einzelnen Mitglieder des Vorstandes daraus lernen können. Aus diesen Berichten konnten sie auch die Situation der Organisation kennen lernen, Fehler und Unzulänglichkeiten sehen und diese verbessern. Diese Berichte haben zum aktuellen Zeitpunkt alle GenossInnen bekommen, die in der Bildung tätig sind. Wieso haben sie nicht alle Freund_innen bekommen? Das liegt daran, dass viele Freund_innen momentan in der Praxis tätig sind, sich im Krieg befinden und dafür keine Zeit haben. Diese Berichte werden aber alle zu lesen bekommen, vom Mitglied, das sich erst vor kurzem angeschlossen hat, bis zum Mitglied, das am längsten dabei ist. Das gibt den Freund_innen Vertrauen. Sie werden von den Kritiken in den Berichten nicht entmutigt, sondern im Gegenteil positiv bestärkt. Das ist die Methode in der PKK. Zum Beispiel kam einmal ein alter Schulfreund von mir, der jetzt im Vorstand einer linken türkischen Organisation ist, vorbei. Wir hatten uns fast 40 Jahre nicht gesehen und er genoss in unseren Einrichtungen unsere Bildung. Als er unsere Diskussionen, unsere Kritiken und Selbstkritiken gesehen hat, sagte er, dass wenn sie dies in seiner eigenen Organisation machen würden, nicht mal eine Person übrig bleiben würde. Aber ihr macht das und ich bewundere euch dafür, sagte er. Das hängt mit der Struktur und Form der PKK zusammen. Es gab auch zum Beispiel in der Türkei den alten Kommunisten Mihri Belli, der vor kurzem gestorben ist. Er sagte zu mir, dass er die PKK dafür bewundere, dass sie alles offen und ohne Zurückhaltung schreiben würde. Das habe keine Kommunistische Partei eines sozialistischen Landes geschafft und dafür bewundere er die PKK. Das stimmt, wir genieren uns nicht, denn wir vertrauen unserer Ideologie, unserer Linie, uns selbst, unseren Genoss_innen, unserem Volk. Wenn wir kein Vertrauen hätten, könnten wir dies alles nicht machen. Für uns ist Kritik und Selbstkritik ein sehr wichtiges Prinzip. Es ist ein Prinzip, das die PKK erst zur PKK macht. Es wird seit so langer Zeit ein psychologischer Krieg gegen uns geführt, der aber zu keinem Ergebnis führt, da die PKK nichts zu verheimlichen hat. Die PKK steht zu allem, was sie macht, sei es schlecht oder sei es gut. Sie ist keine Bewegung, die nur zu ihren guten Seiten steht. Wie nähert sich die türkische Gesellschaft der 31 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 kurdischen Frage? Die Mehrheit der türkischen Gesellschaft will eigentlich, dass die kurdische Frage gelöst wird. Der türkische Staat aber ist ein Staat, der auf Grundlage des „Spezialkrieges“ aufgebaut ist. Das ist der Charakter des türkischen Staates. Wenn dieser Staat keinen Krieg führt, kann er nicht überleben. Er gibt die Ziele vor und setzt die Gesellschaft für seine Zwecke in Bewegung. Er hat viele Institutionen, auch zivile, deren Aufgabe es ist, den Chauvinismus in der Gesellschaft und die Feindschaft gegenüber den Kurd_innen zu stärken. Aber trotzdem will die Mehrheit der Gesellschaft, dass diese Frage gelöst wird. Bis vor kurzem wurde die Realität der Kurd_innen und Kurdistans der türkischen Gesellschaft vorenthalten. Aber nun ist es unmöglich, diese Realität zu leugnen. Es wird nun schon von Rechten, die auch die Kurd_innen haben sollen, gesprochen, allerdings noch sehr unkonkret. Das ist grob die Situation der türkischen Gesellschaft. Es gibt auch innerhalb der türkischen Gesellschaft immer mehr Menschen, die gegen diesen Krieg sind. Immer weniger Eltern, die wie früher ihre Kinder stolz begruben, die in diesem Krieg gestorben sind. Wenn wir uns mehr Mühe geben, können wir dieses Potential besser ausschöpfen. Zurzeit befinden sich in unseren Händen Polizist_en, Soldat_en und Landrät_e. (Gemeint sind die kurzzeitigen Entführungen von politischen Akteur_innen des Kriegs gegen die Kurd_innen, die nach Gesprächen nach einigen Tagen wieder freigelassen werden; Anm. d. Red.) Die Regierung hat bis heute kein einziges mal eine Erklärung diesbezüglich abgegeben. Das verärgert natürlich deren Familien. Diese Reaktionen sind verständlich und gut. Es ist der Staat, der keine Lösung des Problems will und der den Faschismus und Chauvinismus fördert. Weil dieses Regime ein Teil des Systems der kapitalistischen Moderne ist, das den Kurd_innen-Konflikt nicht lösen will, bleibt er ungelöst. In den Medien wird massive Propaganda gemacht, dass zum Beispiel „das Volk“ Gebäude der BDP angreift und anzündet. Wenn mensch es aber näher betrachtet, sind es immer nur einige Faschist_en, die diese Angriffe machen. Die Polizei steht daneben und mischt sich nicht ein. Sie lässt diese Angriffe geschehen. Danach wird behauptet, dass diese Angriffe vom Volk ausgehen. Das ist ein Teil der psychologischen Kriegsführung. Das Problem ist also nicht das türkische Volk, sondern der Spezialkrieg, auf dem die Existenz des türkischen Staates beruht. Was waren Schwierigkeiten im Rahmen des Paradigmenwechsels in Bezug auf die Kultur der Selbstkritik? Die Kultur der Selbstkritik ist nicht etwas, das wir erst nach dem Paradigmenwechsel entwickelt haben. Wir leben diese Kultur seit unserer Gründung. Allerdings gab es natürlich viele andere Probleme, die während des Paradigmenwechsels entstanden sind, die auch ich selbst durchlebt habe. Wir vollzogen diesen Wechsel in einer sehr schwierigen Phase. Da war die Verschleppung Serok Apos, die großen Angriffe auf die Guerilla mit dem Ziel, die Bewegung zu zerschlagen, die Erfahrungen des Zusammenbruchs der Sowjetunion und die Vorsicht, nicht das gleiche Schicksal zu erleiden. Es gab Kräfte, die gegen den Wandel waren, und wiederum andere, die dafür waren, aber Schwierigkeiten bei der Umsetzung hatten. Einerseits mussten wir gegen die Feind_innen außerhalb der Bewegung kämpfen, andererseits musste der innere Wandel vorangetrieben werden. Die USA, die Türkei, die KDP und die PUK hatten uns von allen Seiten angegriffen. Es gab also viele Schwierigkeiten in dieser Phase. Das ist nicht gerade einfach. Es musste alles mit Vorsicht angegangen werden. Wenn eine Organisation die inneren Strömungen nicht berücksichtigt, zerfällt sie. Während wir das alles berücksichtigen mussten und gleichzeitig gegen äußere Feinde kämpfen mussten, haben wir den Wandel in der Bewegung vollzogen. Auch der Fall Osman Öcalan (ehemaliges Leitungsmitglied der PKK und Bruder Abdullah Öcalans, der in den 90er Jahren entgegen von Absprachen mit der USA kooperierte; Anm. d. Red.) bereitete uns damals einige Sorgen. Ich kann mich an Zeiten erinnern, an denen ich drei Nächte am Stück nicht geschlafen habe und mich die ganze Zeit mit mir selbst auseinandergesetzt habe, ja fast schon mit mir selber gestritten habe. Ernsthaftigkeit ist bei der PKK sehr wichtig. Nur wer Ernsthaftigkeit mit sich bringt, kann Verantwortung übernehmen und die eigenen Pflichten erfüllen. Unsere Mitglieder kommen aus einer Gesell- 32 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 schaft, die ihnen ein bestimmtes Bewusstsein, eine Kultur, ein Weltbild und bestimmte Maßstäbe mitgegeben hat. Die PKK will diese Eigenschaften durch Bildung verändern. Sie will aus diesen Menschen völlig neue Menschen schaffen. Deshalb können Menschen, die nicht in der Lage sind, sich zu ändern, nicht lange bei der PKK sein. Was empfehlt ihr den Freund_innen für ihre Arbeit in Europa? Eines muss gut verstanden werden. Ein_e PKKler_in arbeitet nicht nur mit PKKler_innen, sondern mit jede_m. Gerade das macht uns stark. Wir haben immer sowohl mit PKKler_innen als auch mit Nicht- PKKler_innen gearbeitet. Denn jede_r kann bei uns _seinen Platz, _ihre Aufgaben finden: auf den Bergen, in den Städten oder in Europa. Die Arbeit der PKK bezieht sich nicht nur auf eine Ebene. Die PKK befindet sich und arbeitet auf allen Ebenen. All diese Arbeiten ergänzen sich gegenseitig. Jede Arbeit hat ihre eigenen Herausforderungen. Das heißt nicht, dass wir unterteilen zwischen wichtiger und unwichtiger Arbeit. Jede Arbeit und Mühe ist für uns wichtig. Die PKK zwingt niemals jemensch PKKler_in zu werden. Das ist immer die Entscheidung _der Einzelnen. Mensch kann für die PKK als Kader, Mitarbeiter_in, Sympathisant_in oder Freund_in arbeiten. Es ist deswegen falsch, irgendwem die Mitgliedschaft aufzudrängen. Wenn mensch die Ziele und Arbeitsweise der PKK richtig darstellt und vorlebt, dann entscheiden sich die Menschen sowieso von selbst PKKler_in zu werden. Die PKK arbeitet und entwickelt sich auf diese Weise. Viele Menschen haben sich deswegen für die PKK entschieden. Diese Arbeitsweise müsst ihr auch auf die Jugend anwenden. Wer von sich behauptet PKKler_in zu sein, muss natürlich die Prinzipien und die Ideologie der PKK vertreten. In Europa wird das sehr individuell interpretiert, was fatal ist. Es kann nicht sein, dass mensch sich nur die Seiten aneignet, die einem passen. Natürlich gibt es auch bei der PKK Probleme und negative Seiten. Wer aber in die PKK eintritt, muss gegen die negativen Seiten der PKK ankämpfen. Von eine_m Kader werden die Maßstäbe der PKK erwartet, von eine_r Sympathisant_in oder Freund_in kann das nicht erwartet werden. Das wird oft falsch umgesetzt und darf nicht ver- mischt werden. Das schadet der PKK. PKKler_in zu sein bedeutet, den Menschen ins Zentrum zu stellen. Alles wird durch und für den Menschen errungen. Deshalb müssen wir uns Mühe geben, die Menschen, die ein sehr unterschiedlich ausgeprägtes Abstraktionsvermögen, eine unterschiedliche Schnelligkeit und Klassenzugehörigkeit haben, zu gewinnen. Dafür gibt es nicht ein einziges richtiges Mittel. Einige brauchen vielleicht zwei Wochen, andere vielleicht drei Jahre bis sie überzeugt werden. Geduld, Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit macht einen richtigen PKK-Kader aus. Kemal Pir sagte vor dem Gericht in Amed (Metropole in Nordkurdistan, auf türkisch „Diyarbakir“; Anm. d. Red.): „Wenn wir für die Überzeugung eines Menschen zwei Stunden benötigen, dann setzen wir uns diese zwei Stunden als Maßstab, wenn wir 200 Stunden benötigen, dann setzen wir uns 200 Stunden als Maßstab.“ Das ist die Arbeitsethik der PKK. Die Ethik, wie sie sich dem Menschen nähert. Ähnlich sagt es auch Serok Apo: „Wenn es nur eine einprozentige Chance auf Erfolg gibt, dann setzen wir uns dieses eine Prozent als Maßstab.“ So versuchen wir die Menschen zu gewinnen. Indem wir uns nach dem Positiven richten und versuchen, das Negative abzuschaffen. Die Freund_innen in Europa dürfen deshalb nicht oberflächlich an die Arbeit herangehen. Das erfordert Vielseitigkeit und ein sehr hohes Maß an Bewusstsein. Die Engstirnigkeit muss überwunden werden. Ein Mensch ist, wenn _er es will, in der Lage sich neu zu schaffen und _seine Kraft um ein Vielfaches zu erhöhen. Der Entfaltung sind niemals Grenzen gesetzt. Wir sind eine Bewegung, die niemals einen schwachen Menschen akzeptiert. Der Mensch hat keine Schwäche verdient. Schwäche ist ein Grund dafür, sich zu stärken. Damit unsere Freund_innen in Europa erfolgreich sind, müssen sie sich vorerst vollständig von der kapitalistischen Moderne lossagen, sowohl in ihrer Lebensweise als auch in ihrer Denkweise. Nur dann können sie durch die kapitalistische Moderne nicht beeinflusst werden. Nur dann können sie eine Alternative zu diesem System bilden. Die Freund_innen müssen hier ihre größte Selbstkritik entwickeln. Habt ihr eine Kritik an mich, einen Vorschlag für mich? 33 ͧͧ Interview mit Cemil Bayik 1. YXK-Reader | 2015 Hast du denn eine Frage an uns? Da ich eine Zeit lang in Europa gearbeitet habe, kenne ich ein wenig die Realitäten in Europa. Eure Arbeit ist eine sehr wertvolle Arbeit. Sie ist schwieriger als unsere hier in den Bergen. Ihr lebt im Zentrum des Kapitalismus und kämpft dort gegen ihn. Hier in den Bergen sind wir freier. In Europa zu leben und sich zu schützen bedarf einer großen Standhaftigkeit. Das schätzen wir sehr. Während wir hier unseren Kampf führen, macht ihr das in Europa. Beides ergänzt sich. Aber ihr müsst eure Arbeit immer als unzureichend sehen, damit ihr euch selber immer zwingt mehr zu tun. Ihr dürft nichts leugnen, aber auch nicht selbstverliebt sein. Ihr dürft euch nicht nur an die kurdische Jugend richten, sondern an alle Jugendlichen und müsst ihnen die Wahrheiten Kurdistans und der PKK aufzeigen. Nicht nur mit der Jugend, sondern mit allen Teilen der Gesellschaft. Ihr seid Vorreiter_innen einer Gesellschaft und müsst deshalb alle Probleme der Gesellschaft als eure eigenen sehen und sie lösen. 34 ͧͧ Eine neue Form der internationalen Solidarität 1. YXK-Reader | 2015 DEMOKRATISCHE AUTONOMIE VERSUS NATIONALSTAAT Eine neue Form der internationalen Solidarität ͧͧ Duran Kalkan, Mitglied des Exekutivrates der KCK Duran Kalkan, Mitglied des Exekutivrates der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), erläutert in einem Gespräch für den Kurdistan Report das System der Demokratischen Autonomie, des Demokratischen Konföderalismus. Was können wir unter Demokratischer Autonomie oder dem Demokratischen Konföderalismus verstehen? Ist dieses System regional begrenzt und wird damit nur die kurdische Bevölkerung angesprochen? Die Demokratische Autonomie kann ich, indem ich einen historischen Abriss mache, wie folgt erklären: Früher gab es die Bezeichnung einer außerstaatlichen Gesellschaft, die später auch als Zivilgesellschaft bekannt wurde. Sie stand auch für demokratische Errungenschaften. Gewisse Teile der Gesellschaft haben durch eine Form der Selbstorganisierung gewisse ökonomische und demokratische Rechte errungen. Vor einiger Zeit waren beispielsweise in Westeuropa die Gewerkschaften sehr stark. Ihnen gelang es innerhalb ihres Systems, einen gewissen Lebensstandard für ihre Mitglieder zu gewährleisten. Die Demokratische Autonomie bedeutet eigentlich, Strukturen dieser Art zu stärken und in verschiedenen weiteren Bereichen auszubauen. Das heißt, demokratische Errungenschaften in eine außerstaatliche demokratische Gesellschaftsorganisierung umzuwandeln. Das System (in Westeuropa) basierte mehr auf Klassenkampf. Die ArbeiterInnen versuchen, mit ihren Gewerkschaften und Parteien durch Streiks oder Lohnverträge Rechte zu erlangen, zu festigen. Die Demokratische Autonomie bedeutet, dies auf alle Teile der Gesellschaft auszuweiten. Nicht nur die ArbeiterInnen und ihre gewerkschaft- liche Organisierung, sondern die Jugend, die Frauen, alle Teile der Gesellschaft können sich in ähnlicher Form organisieren, ihr eigenes demokratisches und wirtschaftliches Leben planen und in ihr tägliches Leben implementieren. Ohne den Staat zu zerschlagen, aber auch ohne ihre Rechte dem Staat zu überlassen, können wir das machen. Mit dem Staat wird dadurch eine neue Vereinbarung, ein neuer [Gesellschafts-]Vertrag geschaffen. Die Demokratische Autonomie oder der Demokratische Konföderalismus haben eine solche Vereinbarung als Ziel. In diesem Sinne ist die Demokratische Autonomie nicht ein System, das allein für die KurdInnen gedacht ist. Alle unterdrückten und ausgebeuteten Teile der Gesellschaft können mit diesem System unter den gegebenen Bedingungen in den Regionen der Welt ihre eigenen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Rechte erringen. Darauf aufbauend lässt sich auch die Geschlechterfrage lösen. Darauf aufbauend lassen sich auch die Probleme der ArbeiterInnenschaft lösen. Oder darauf aufbauend lässt sich auch die Frage der Selbstbestimmung der Jugend lösen. Dasselbe gilt auch für die ökologische Frage. Letztlich, wenn die Menschen aus den verschiedenen Teilen der Gesellschaft sich organisieren, können sie ihre eigenen Fragen besser lösen. Zugleich wird dadurch auch eine lokale Selbstorganisierung und Selbstverwaltung zutage treten. Nun aber hat der Staat durch die Bildung des Nationalstaats – gemeinsam mit einer Faschisie- 35 ͧͧ Eine neue Form der internationalen Solidarität 1. YXK-Reader | 2015 rung – einen extremen Zentralismus etabliert. Er will über alles bestimmen. Wenn jedoch eine Organisierung im Sinne der Demokratischen Autonomie vorangetrieben würde, könnte die Basis der Menschen über sich selbst bestimmen. So kann beispielsweise ein Dorf, eine Kleinstadt, ein Stadtteil oder eine Stadt sich selbst verwalten. Die Formel lautet: »Staat plus Demokratie« – mit dem Ziel, den Staat zu verkleinern und die demokratische Gesellschaft auszuweiten. Dies ist zunächst ein Modell für die Lösung der kurdischen Frage. Nationale Fragen können auf diese Weise gelöst werden. Auch religiöse Fragen lassen sich so lösen. Das gilt vor allem, wenn verschiedene Religions- und Volksgruppen miteinander leben. Was vielleicht noch wichtiger ist, auch wirtschaftliche Fragen lassen sich auf diesem Wege lösen. Unterdrückung und Ausbeutung werden bekämpft. Denn wenn eine zentralistische und auf Ausbeutung fußende Wirtschaft durch eine Wirtschaft abgelöst wird, die sich an den Bedürfnissen der Menschen an der Basis orientiert, können Lösungen für bestehende Fragen auf der Grundlage des benannten Modells geschaffen werden. Das ist das Ziel des Demokratischen Konföderalismus. Auch für Teile der Gesellschaft, die unter dem Problem einer fehlenden Demokratie leiden, ist dieses System eine Perspektive, ebenso auch, wie schon gesagt, für die Befreiung der Frau. Deshalb kann aus meiner Sicht dieses System genauso ein Lösungskonzept für die kapitalistische Metropole im Westen darstellen wie für die wenig kapitalistisch ausgebildeten Regionen des Ostens. Wenn wir uns Europa ansehen, gibt es ohnehin die Ansätze für solch eine Organisierung. Ich sprach schon von der gewerkschaftlichen Organisierung der ArbeiterInnen. In manchen Dörfern haben sich die BewohnerInnen autonom organisiert. Es gibt in der Tradition der Pariser Kommune eine solche Form der Organisierung. Die Demokratische Autonomie ist eine gegen das Ziel der Hegemonie der kapitalistischen Moderne und deren Versuch, die Gesellschaft ganz in ihre Fänge zu bekommen, gerichtete Organisierung. Wirtschaft, Gesundheit, Bildung, Kultur und andere Bereiche werden in diesem System selbst organisiert. So kann die kapitalistische Ausbeutung umzingelt und einge- grenzt werden. Dadurch kann auch das staatliche System, das hinter der kapitalistischen Ausbeutung steckt, eingegrenzt und die demokratische Gesellschaftsorganisierung gestärkt werden. Die Pariser Kommune und die sozialistisch-demokratischen Revolutionen müssen als ein Erbe betrachtet werden. Ausgehend von dieser Basis muss die Organisierung in alle Teile der Gesellschaft übertragen werden, so dass eine demokratische Autonomie der Gesellschaft geschaffen wird. Das ist möglich. Ein solcher Kampf ist in der Lage, große Teile der Gesellschaft miteinzubeziehen. Es ist ein Kampf, der das herrschende System einzugrenzen versucht – und er ist dazu in der Lage. Anders als bei der Oktoberrevolution, die den herrschenden Staat abschaffte und an dessen Stelle einen neuen errichtete, der vermeintlich alle Probleme der Gesellschaft lösen konnte, gibt es ein anderes Verständnis. Warum? Erstens hat dieser Weg ohnehin nicht funktioniert. Den alten Staat durch einen neuen abzulösen ist keine Lösung. Denn der Staat an sich ist ein Mittel der Ausbeutung. Mit ihm kann mensch keine Demokratie bringen, keine Freiheit und Gleichheit schaffen. Am Ende kehrt er sich in Unterdrückung und Ausbeutung. Staat bleibt Staat, egal in wessen Hand er sich befindet. Am Ende wird er uns zum selben Punkt zurückführen. Deswegen war dieses Paradigma keines der Lösung. Zweitens ist es unter den heutigen Bedingungen ohnehin nicht möglich, eine solche Vorstellung umzusetzen – selbst wenn es gewollt ist. Es ist einfach unrealistisch zu glauben, das herrschende Staatssystem könne zerschlagen und so Demokratie, der Sozialismus aufgebaut werden. Aber nehmen wir mal an, die Revolution wäre 36 ͧͧ Eine neue Form der internationalen Solidarität 1. YXK-Reader | 2015 doch erfolgreich, dann könnte auf diesem Weg keine nachhaltige Lösung herbeigeführt werden. Das hat der Realsozialismus unter Beweis gestellt. So ist der Aufbau des Demokratischen Konföderalismus oder der Demokratischen Autonomie unter den Bedingungen, unter denen wir leben, für alle, die Frauen, die Jugend, die ArbeiterInnen, die Umsetzung einer demokratischen und sozialistischen Revolution. Nicht einen neuen Staat zu erschaffen, sondern eine demokratische Gesellschaft zu bilden; nicht den aktuellen Staat zu zerschlagen, sondern gegen ihn eine organisierte demokratische Gesellschaft zu schaffen, die den Staat eingrenzt – das ist das Ziel. So erschafft mensch das, was wir mit der Formel »Staat plus Demokratie« bezeichnen. So werden im Demokratischen Konföderalismus dem Staat die Kompetenzen, die er zuvor allein an sich gebunden hat, einzeln entrissen und hinein in die Gesellschaft getragen. Und die Gesellschaft übt diese Kompetenzen in ihrer demokratischen Organisierung selbst aus. So verstehen wir den Demokratischen Konföderalismus. Und dies kann überall auf diese Weise umgesetzt werden. Also, das ist kein Konzept, das auf einen geographischen Raum begrenzt ist. Wir begreifen es als Weg, um alle gesellschaftlichen Fragen lösen zu können. Das ist also auch kein Modell, das allein für die Lösung ethnischer oder religiöser Probleme gedacht ist. Alle Fragen der Freiheit und der Demokratie können mit diesem System gelöst werden. Wenn jede gesellschaftliche Gruppe sich selbst organisiert und selbst für ihre Interessen eintritt, dann wird sie auch für die Probleme, die sie im kapitalistischen System erlebt, Lösungen finden können. Es ist zwar ein System, das vor allem im Osten für nationale, religiöse und ethnische Fragen Lösungen darbieten kann. Aber auch im kapita- listischen Zentrum kann es umgesetzt werden. Denn auch dort herrscht das Problem des Zentralismus. Auch dort werden immer größere Teile der Gesellschaft vom System ausgeschlossen oder von ihm brutal ausgebeutet und unterdrückt. Auch dort bedroht das System die Köpfe, die Herzen, das gesamte Leben der Menschen immer stärker. Das System versucht diese Menschen zu lenken, wie es will. Deshalb besteht ein ernstzunehmender Widerspruch zwischen diesen Teilen der Gesellschaft und dem von der kapitalistischen Moderne geschaffenen Staat. Das bietet die Möglichkeit, dass auf Fragen von Unterdrückung und Ausbeutung, von Freiheit und Gleichberechtigung auf der Grundlage der Demokratischen Autonomie Lösungen gefunden werden können. Wenn sich die Ideen und Gedanken der Demokratischen Autonomie und des Demokratischen Konföderalismus verbreiten, glauben wir, dass auch in der kapitalistischen Moderne in diesem Sinne neue Strategien und Organisierungsformen zur Überwindung der Probleme gefunden werden. Ist das System auch eine zeitgemäße Antwort auf den proletarischen Internationalismus? Zunächst einmal will ich sagen, dass der Demokratische Konföderalismus das Lösungsmodell für die gesellschaftlichen Probleme darstellt, die die kapitalistische Moderne im Zeitalter des imperialistisch globalen Finanzkapitals geschaffen hat. Diese Probleme gibt es sowohl in Ländern, die der Kapitalismus als entwickelt bezeichnet, als auch in Ländern, die durch ihn ausgebeutet werden. Es gibt diese Probleme also überall. Das geht von Arbeitslosigkeit weiter über ethnische und kulturelle Probleme. Es gibt sogar das Problem, dass die Menschen ihres Verstandes beraubt werden. Sie können ihre eigene Realität nicht mehr begreifen. Sie können sich nicht mit ihrem eigenen Bewusstsein organisieren. Es gibt das Problem des Militarismus. Es gibt staatliche Probleme. Es ist die Rede von einem dritten Weltkrieg. Jederzeit könnte ein neuer weiterer Krieg ausbrechen. Es gibt also die Frage von Krieg und Frieden. Das sind Probleme, die die gesamte Menschheit betreffen. Mancherorts zeigen sich Probleme schärfer und andernorts sind es wieder andere. Aber diese Probleme sind allesamt Menschheitsprobleme. Und ihre Ursache ist ein 37 ͧͧ Eine neue Form der internationalen Solidarität 1. YXK-Reader | 2015 5 000-jähriges andauerndes staatliches System. In der heutigen Zeit werden sie auf ein nie dagewesenes Niveau gehoben; sie erscheinen praktisch als unüberwindbar. Und dafür ist die kapitalistische Moderne verantwortlich, also der 500-jährige Kapitalismus. Das System des Demokratischen Konföderalismus ist der Ausdruck eines Lösungsweges für diese Probleme. Und das gilt für alle gesellschaftlichen Bereiche. Egal, in welchem Bereich diese Probleme auftauchen, ihnen kann mit einer demokratischen Organisierung der Gesellschaft begegnet werden. Wenn wir dem folgen, dann können wir, auch wenn an verschiedenen Orten unterschiedliche Probleme vorherrschen, ihnen mit dem Modell der demokratischen Moderne Abhilfe leisten. Unter den gegebenen Bedingungen haben die herrschenden Kräfte, die Bourgeoisie, die VertreterInnen der kapitalistischen Moderne in ihrem Sinne eine Organisierung etabliert, die dem Rest der Gesellschaft vorschreibt, dass sie nach ihren Vorstellungen, also nach den Vorstellungen der Herrschenden, zu sein und zu leben haben. Sie drängen sozusagen ihr System der Gesellschaft auf. Demgegenüber sagt das System der Demokratischen Autonomie: »Nein, Ihr müsst nicht wie sie sein. Ihr seid ein Teil der Gesellschaft. Ihr habt eine eigene Kultur, Euer eigenes Verständnis von Moral und ein eigenes Lebenssystem. Ihr könnt Eure eigenen Probleme selbst lösen. Deshalb müsst Ihr Eure eigene Moderne, Eure eigene Organisierung und Euer eigenes Lebensverständnis entwickeln und umsetzen.« Der Vorsitzende Apo hat dies als die Demokratische Moderne bezeichnet und in seinen Verteidigungsschriften den Aufruf an die gesellschaftlichen Gruppen, egal wo auf der Welt, gemacht: Organisiert Eure eigene demokratische Moderne. Ihr seid nicht gezwungen, den Kapitalismus zu leben. Ihr könnt auch die Demokratie leben. Deswegen könnt Ihr ein freies, auf Pluralismus beruhendes, gleichberechtigtes und solidarisches System aufbauen. Ihr könnt Euch also selbstständig organisieren und, ohne ein Staat zu werden, Euer Leben gemeinsam aufbauen. Und so könnt Ihr das vom Kapitalismus geschaffene Problem der Unterdrückung und Ausbeutung überwinden. Wenn mensch dieses Lösungsmodell für sich be- reit ist anzunehmen, dann kann es überall auf der Welt umgesetzt werden. Mit dem realsozialistischen Verständnis von Revolution hieß es, die Revolution wird zuerst in Europa stattfinden. Dann hieß es, nein, nicht in Europa, sondern in Asien. Oder nein, zuerst in den Kolonien oder den wenig entwickelten Staaten. Das Verständnis der demokratischen Moderne überwindet eine solche Auffassung. Die demokratische Moderne ist Organisierung, den demokratischen Sozialismus mit Leben füllen. Unser Vorsitzender hat das als eine Lehre formuliert und gesagt, dass die demokratische Moderne das System für den demokratischen Sozialismus darstellt. Überall auf der Welt gibt es dringende Probleme. Dagegen kann auch überall auf der Welt revolutionärer Widerstand geleistet und eine revolutionäre demokratische Organisierung geschaffen werden. Und dadurch können die gesellschaftlichen Probleme überwunden werden. Das gilt von Amerika bis Europa, von Asien bis Afrika. Aber alle müssen das den eigenen Problemen entsprechend angehen. Wenn das so ist, dann bekommt natürlich der Internationalismus eine neue Bedeutung. Früher war es so, dass, wenn irgendwo eine Kraft vorausging und es ihr gelang, einen Staat zu gründen, der dann auch die Vorreiterrolle des Internationalismus übernahm. Diese Kraft verbreitete dann den Internationalismus überallhin. Das hat mit der Zeit seine Funktion als Internationalismus verloren und sich in eine Form der Hegemonie transformiert. So wurde beispielsweise die Sowjetunion noch vor ihrem Zerfall aufgrund dessen von anderen SozialistInnen kritisiert. Sie sagten, dass das, was sie tue, kein Internationalismus sei, sondern eine neue Form der Hegemonie im Namen des Sozialismus. Durch dieses Verständnis hat sich der Internationalismus nicht entwickeln können. Aber mit dem Verständnis der demokratischen Moderne wird der Weg für den Internationalismus neu geöffnet. Überall dort, wo sich das System der Demokratischen Autonomie entwickelt, dort, wo sich gegen den Staat eine demokratische gesellschaftliche Organisierung auftut, zwischen all diesen Organisierungen überall auf der Welt können solidarische Beziehungen aufgebaut werden. So entwickelt sich die internationale Solidarität. Für 38 ͧͧ Eine neue Form der internationalen Solidarität 1. YXK-Reader | 2015 ein freies, pluralistisches und gerechtes Leben aller Unterdrückten, aller ArbeiterInnen, eigentlich aller gesellschaftlichen Kreise, die von ihrer eigenen Arbeit leben, müssen diese Kreise in einer Art Beziehung zueinander stehen, eine Solidarität untereinander aufbauen. Und das würde selbstverständlich zu einer neuen Form der internationalen Solidarität führen. Das ist eine Solidarität, die nicht darauf abzielt, andere von sich abhängig zu machen oder die eigene Hegemonie zu erweitern, sondern eine internationale Solidarität im wahrhaftigen Sinne. Denn das System selbst ist ein demokratisches, das auf gegenseitiger Solidarität beruht. Und deswegen ist es egal, wo auf der Welt wir uns gerade befinden, diese Solidarität wird auf den Werten der Freiheit und der Gerechtigkeit beruhen. Niemand wird die Möglichkeit bekommen, die anderen unter seinen Einfluss zu bekommen, sie zu kontrollieren oder sie einem selbst anzugleichen. In diesem Sinne ist die Frage richtig. Das alte an den Staatsgedanken gebundene Paradigma des Sozialismus, oder besser der Versuch des Sozialismus, hat es nicht geschafft, einen Internationalismus aufzubauen. Er hat stattdessen neue Hegemonien hervorgebracht. Die demokratische Moderne bzw. der Demokratische Konföderalismus unterbinden demgegenüber die Bildung neuer Hegemonien. Es sollen in diesem System ausschließlich Beziehungen, Bündnisse und solidarische Verhältnisse auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Freiheit entstehen. Und das ist eine neue Form des Internationalismus. zuerst erschienen im Kurdistan Report 39 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 EIN INTERVIEW MIT HÜSEYIN ÇELEBI «Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden» ͧͧ Hüseyin Çelebi im Interview mit der Zeitung CLASH Das folgende Interview führte die Zeitung CLASH (Zeitung für den Widerstand in Europa) im Juni 1990 mit Hüseyin Celebi vom Kurdistan Komitee Köln. Hüseyin äußert darin eine Kritik und Bewertung der Solidaritätsbewegungen und der allgemeinen Linken der BRD, die noch heute an Aktualität nichts verloren hat. Hüseyin ist in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen und hat sich hier an vielen politischen Initiativen beteiligt. Er war selbst Gefangener im Düsseldorfer Prozess, nach einem Angriff der Bundesregierung gegen die zu der Zeit noch nicht verbotenen PKK. Zur Gründung der YXK im Jahr 1991 hatte er maßgeblich beigetragen, weshalb ihn der Verband posthum zum Ehrenvorsitzenden ernannt hat. Hüseyin ist 1992 im Südkrieg, dem großen Krieg zwischen der PKK und der KDP, der PUK und türkischen Armee in Südkurdistan gefallen. ,,Die revolutionäre Perspektive müssen wir jetzt neu aufbauen. Was in der Sowjetunion derzeit passiert, das ist es auf jeden Fall nicht! Wir müssen die großen Chancen, die diese Situation mit sich bringt, nutzen. Wir müssen unsere eigenen Modelle, unsere eigenen Vorstellungen versuchen durchzusetzen und zu realisieren. Wir müssen die große Chance, neue Perspektiven mitentwickeln zu können nutzen. Wir müssen die neue Perspektive selbst sein, anstatt immer nur andere Perspektiven darzustellen. Und wir müssen aus den Fehlern lernen, um sie nicht noch einmal zu begehen und das anhand unserer eigenen konkreten Bedingungen.“ Verhaftung und Knast Vorwort In dieser Broschüre dokumentieren wir ein Interview, das die Zeitung CLASH (Zeitung für den Widerstand in Europa) im Juni 1990 mit Hüseyin Celebi vom Kurdistan Komitee Köln führte. Wir denken, es beinhaltet wichtige Gedanken zu Fragen, Verständnis und Perspektiven im Verhältnis zwischen Solidaritäts- und Widerstandsbewegungen in den imperialistischen Metropolen im Norden und den im Süden kämpfenden Befreiungsbewegungen, also zu revolutionärer und internationaler Solidarität. Diese Diskussion zu führen ist nicht nur notwendig in der BRD, sondern zumindest europaweit. Daher erscheint auch diese Broschüre in zwei Sprachen: englisch und deutsch. Frage: Ende 1987 begann die Bundesanwaltschaft unter Federführung von Generalbundesanwalt Rebmann mit einer massiven Welle der Kriminalisierung gegen kurdische Organisationen vorzugehen, die den Unabhängigkeitskampf in Nordwest-Kurdistan unterstützen. Es gab Bespitzelungen, Angriffe auf eure Feste, zahlreiche Hausdurchsuchungen und die Beschlagnahme von Geld und Schriften. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Kampagne am 15. Februar 1988 mit Deiner Verhaftung und der von 19 weiteren Kurden und Kurdinnen. Grundlage hierfür war der § 129a. Hüseyin kannst du erzählen, wie es Dir damals ergangen ist und was dir vorgeworfen wurde? Welcher Zweck wurde 40 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 deiner Meinung nach mit dieser sehr breit angelegten Repressionswelle verfolgt? Hüseyin Celebi: Diesen 15. Februar 1988 werde ich so schnell sicherlich nicht vergessen. Aber ich will etwas weiter ausholen: die Repressionswelle begann zwar insoweit 1987 als sie besonders verstärkt wurde, aber die eigentliche Verfolgung ging schon etwas länger. Schon Mitte der 80er Jahre hatte es sehr heftige Hetzkampagnen gegeben mit dem Ziel, uns zu kriminalisieren. Das war in Schweden so, aber auch hier in der BRD. Das ging soweit, daß Komplotte organisiert wurden - ich erinnere da an die Sache mit Faruk Bozkurt in Hamburg - und so wurde eine Atmosphäre geschaffen, die zusammen mit der rechtlichen Erweiterung des § 129a auf ausländische Organisationen dazu führte, daß am 1. Januar 1987 ein Ermittlungsverfahren gegen die PKK eingeleitet wurde. Aber es hat schon, ich glaube im Jahre 1983, Drohungen vom Innenministerium gegeben, daß man die PKK verbieten werde, wenn es sein müsse. Das war kurz nach dem Verbot von Dev Sol/Halk Der (nach der Besetzung des türkischen Konsulats in Köln, Anm. d. Red.) und schon 1984 wurde immer wieder geäußert, daß man uns beobachte usw. Der Beginn des Ermittlungsverfahrens war verbunden mit einem Haufen von Repressionen, die den Zweck hatten, uns erstemal auszuforschen. Es sollte eine Grundlage geschaffen werden, wie man uns angreifen könne und diese Vorbereitungen endeten dann, vorläufig, mit dieser Verhaftungswelle im Februar 1988. Wenn wir uns diese ganze Zeitspanne ansehen, dann wird klar, daß dahinter viel mehr Sachen stecken, als das, was uns da jetzt konkret vorgeworfen wird. Es gibt 3 Grundsäulen dieses Projektes ,,Angriff auf die PKK“: die erste, wesentliche Grundsäule ist die Entwicklung in Kurdistan, d.h. die Entwicklung eines Befreiungskampfes, der den Nato-Partner Türkei, die Südostflanke der Nato, in Bedrängnis bringt und wodurch eine Lösung der kurdischen Frage im imperialistischen Sinne zunehmend verhindert wird. Ein Befreiungskampf, der dieses kolonialistische Gebilde im Nahen 0sten, das den Interessen des Imperialismus entsprach und entspricht, angreift und versucht, auseinanderzunehmen. In dieser Situation war es für sie ganz wichtig, einen Einhalt zu gebieten. Die Türkei hat in diesem Krieg die verschiedensten Methoden angewandt. 1984 (Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes der PKK in Nordwest-Kurdistan) wurde der Beginn dieser Entwicklung noch mit ziemlichem Schulterzucken quittiert, sie sagten, das ist eine Frage von 72 Stunden und dann haben wir das hinter uns. Aber der Befreiungskampf entwickelte sich zunehmend, es wurden neue Stufen erreicht und sie kamen schließlich an den Punkt, wo sie sagen mußten, so wie bisher, so schaffen wir das nicht. Das Problem konnte für sie nur in einem letzten Schlag gelöst werden, den sie dann vorbereite. 1988 ist von ihnen daher als ,,Schicksalsjahr“ bezeichnet worden, was auch mit den Beschlüssen des 3. Kongresses der PKK 1986 zusammenhängt, wo wichtige Entscheidungen für die Weiterentwicklung des Befreiungskampfes getroffen wurden. Während 1987 die Vorbereitungen für die Umsetzung dieser Beschlüsse getroffen wurden, mit mehr oder weniger erfolgreichen Aktionen, sollten sie im Jahr 1988 umgesetzt werden. Dem türkischen Staat war diese Planung natürlich bekannt und er hat alles daran gesetzt, diese Entwicklung zu verhindern. In diesem Kontext müssen wir diese Offensive 1988 sehen. 3 Standbeine hatte ich gesagt, einmal also der militärische Angriff der Türkei Ende 1987 gegen die Guerilla ziemlich verstärkte. Diese Vorgehensweise entsprach der militärischen Lösung des ,,Problems“. Das zweite Standbein waren die Angriffe in der BRD. Es wurde ganz deutlich gesagt, daß man die Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden müsse. Damit sollte die Unterstützung gekappt werden und der Schlag sollte so endgültig sein, daß die Bewegung auch durch Öffentlichkeitsarbeit nichts mehr dagegen unternehmen könne. Zum Hintergrund muß man auch sagen, daß die Türkei schon seit 1985 immer wieder die verschiedensten Regierungsvertreter in die BRD schickte und ein Ende der sog. ,,separatistischen Aktivitäten im Ausland forderte. Gerade hier in der BRD gibt es ca. 400 Tausend Kurden und Kurdinnen, von denen ein beträchtlicher Teil den Befreiungskampf massiv unterstützt, sowohl ideell als auch materiell. Das wollen sie verhindern. Die BRD, deren Interessen sich mit denen der Türkei decken, hat dann ohne viel Federlesen 41 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 Vorbereitungen getroffen, deren vorläufiges Ende die Verhaftungen 1988 gewesen sind. Das dritte Standbein des Projekts ,,Angriff auf die PKK“ war ein Angriff aus dem Innern der PKK, dessen gesamtes Ausmaß bis heute noch nicht geklärt werden konnte. Es gab Infiltration durch den türkischen Staat, die, vermischt mit politischen Differenzen, dazu führten, daß eine Clique innerhalb der Organisation versuchte, die Organisation zu liquidieren. Die mittlerweile verfaulende Losung von der Schaffung einer ,,demokratischeren PKK“ sollte durchgesetzt werden. Diese Angriffe waren tatsächlich auch zeitlich ziemlich gut aufeinander abgestimmt: die militärische Offensive im Winter 1987/88, im Frühjahr 1988 die Verhaftungen und im Herbst 1988 der Vorstoß dieser Gruppe. Objektiv gehören diese Angriffe alle zusammen und haben alle das gleiche Ziel verfolgt. Und es wird auch subjektiv Zusammenarbeit gegeben haben. In diesem Schicksalsjahr ging es also darum, die Entscheidung zu fällen. Das ist, grob geschildert, der Hintergrund zu diesem Verfahren. Wie es mir dann speziell ergangen ist? Ja, ich habe also hier im Kurdistan-Komitee gesessen, als das SEK auf seine ,,liebenswürdige“ Art hier hereingestürmt kam und wir wurden mit aufs Polizeipräsidium genommen. Uns wurde nicht gesagt, worum es ging. Am nächsten Morgen kam dann mein Anwalt, aber der war auch kaum informiert, er sagte nur, wir würden nach Karlsruhe geflogen, es sei ein Verfahren der Generalbundesanwaltschaft und er rechne damit, daß ein Haftbefehl erlassen würde. Wir sind dann nach Karlsruhe geflogen worden und kamen vor den Haftrichter. Es war noch ein Vertreter der Bundesanwaltschaft anwesend. Der Haftrichter verlas den Haftbefehl und auch die konkreten Vorwürfe gegen mich: Mitgliedschaft in einer ,,terroristischen“ Vereinigung, § 129a, Freiheitsberaubung und versuchter Mord. Was den anderen im einzelnen vorgeworfen wurde, wußte ich damals noch nicht, die Trennung voneinander war spätestens seit unserer Ankunft in Karlsruhe perfekt. Ich war sehr erstaunt über diese Vorwürfe, besonders über die Formulierung, die der Vertreter der BAW betonte, nämlich daß ich Mitglied einer ,,terroristischen“ Vereinigung innerhalb der PKK“ sein solle. Naja, mit diesem Haftbefehl kam ich dann nach Wuppertal in den Knast. Ich muß sagen, daß es einige Tage gedauert hat, bis ich den ersten Schock hinter mir hatte, bis ich mal verstanden hatte, was passiert war. Ich hab den Haftbefehl unzählige Male durchgelesen und konnte es immer noch nicht begreifen. Das hatte sicherlich damit zu tun, daß ich völlig unvorbereitet von dieser Verhaftung getroffen wurde. Frage: Du hast gerade gesagt, ihr seid sofort in Karlsruhe voneinander getrennt worden. Kannst du zu Euren und zu Deinen Haftbedingungen etwas sagen? Hüseyin: Getrennt wurden wir eigentlich schon in dem Moment, in dem wir festgenommen wurden. Hier im Büro gibt es ja recht viele Räume und wir wurden schon hier jeder in einen Raum gesteckt. Ich wurde dann allein ins Polizeipräsidium gefahren, wo ich einige Leute sehen konnte, die noch aus anderen Büros und Räumen dorthin gebracht worden waren. Das Interessante im Polizeipräsidium war, daß alles ablief wie in einer Maschine: ich kam meine Tür, wo ich stehenbleiben mußte. Dort konnte ich sehen, wie jemand anders von uns dort drin durchsucht wurde und ein Dritter bereits aus dem Raum zur nächsten Maßnahme geführt wurde. Dann kam ich in den Raum zur Durchsuchung, der vor mir wurde weitergeführt und hinter mir wartete der nächste - das war wie in einer Maschine. Offensichtlich war, daß wir uns nicht sehen und nicht miteinander reden sollten. Wenn wir uns doch trafen wurden wir sofort voneinander weggezogen. Dann kam ich in eine Einzelzelle. Später, bei einer Gegenüberstellung kamen einige von uns, so ca. 8 Personen, noch mal zusammen Wir haben erst aus den Akten, erfahren, daß es sich um eine Gegenüberstellung gehandelt hatte, es lief alles verdeckt ab. Das waren natürlich nur ein paar Minuten, aber ich schildere das so ausführlich, weil es selbst diese paar Minuten später für lange lange Zeit nicht mehr gegeben hat. Auf dem Weg nach Karlsruhe kamen wir noch einmal zusammen. Wir wurden auf dem Weg zum Hubschrauber in so eine Wanne verfrachtet, wo zwischen den Einzelzellen so Fensterscheiben waren, daß wir uns sehen und ein bißchen miteinander reden konnten. Da hab ich auch einige getroffen, von denen ich bis dahin nicht wußte, daß wir 42 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 Opfer desselben Schicksals geworden waren. Im Hubschrauber waren wir auch zusammen, aber Reden war da nicht möglich, es war einfach zu laut. Danach war Schluß, bis zum Prozeß haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich weiß noch, daß ich in Karlsruhe, als ich mit dem Haftbefehl weggebracht wurde, an einer Tür, die ungefähr 100 m weit weg war, den Selman gesehen hab, wie er weggebracht wurde. Das war das letzte Bild im Hinterkopf, was ich noch mitgenommen habe. Im Knast selber war es die absolute Isolation. 24 Stunden war ich allen, 23 Stunden allein auf der Zelle, 1 Stunde allein Hofgang. Menschen sah ich, wenn überhaupt, nur in Uniformen, meist drei bis vier. Als besonders gefährlicher Gefangener wirst du stigmatisiert, du hast drei bis vier Schließer um dich herum. In der ersten Phase der Verhaftung hast du ja auch nichts, keine Zeitungen, keine Bücher, kein Radio. Du wirst also völlig von der Umwelt abgeschnitten. Es hat dann ungefähr 3 Monate gedauert bis es erste Veränderungen gab: Zeitungen, gemeinsamer Hofgang. Ich bekam keine türkischen Zeitungen, weil ich der deutschen Sprache so mächtig bin, daß ich deutsche Zeitungen zu lesen hatte. daß dann plötzlich zwei politische Gefangene in einem Raum sind. Die merken das meistens nach ein paar Minuten und dann ist sofort Schluß. Aber ein-, zweimal hab ich den Hafiz so gesehen und wir haben ein bißchen geredet. Später, nachdem die Anklageschrift gekommen war, gab es ein umfangreiches Haftstatut, das aus 57 Einzelpunkten bestand. Diese Einzelpunkte waren so ein richtig auf uns als ausländische politische Gefangene abgestimmtes Programm. Kurdische Zeitungen wurden einfach verboten, türkische Zeitungen wurden reduziert auf drei Boulevardblätter, die man wirklich nicht lesen konnte; Radio wurde dahingehend zensiert, daß wir keine Kurzwellen und keine UKW-Sender hören durften und das bedeutete, daß es keine Sendung gab, die wir überhaupt hören konnten in einer Sprache, die wir verstanden - also wenn wir kein deutsch konnten. Dann gab es noch einige Spezialitäten, z.B. daß wir zum Gemeinschaftshofgang herausgehen durften, aber nicht mit Gefangenen kurdischer Volkszugehörigkeit, wie sie sich ausdrückten, zusammenkommen durften. Es gibt selten Situationen für Kurden, wo es gut ist, daß sie keinen Paß haben, aber in dieser Situation Frage: Du hast eben gesagt, daß ihr nach drei war das schon ganz gut, denn die Knastleitung Monaten die Möglichkeit gemeinsamen Hof- konnte zwischen Türken und Kurden nicht richtig gangs hattet, aber das mit anderen Gefange- unterscheiden und so ließ sich dieser Beschluß praktisch nicht durchsetzen. Ein sehr starkes Mitnen, nicht mit deinen Freunden? tel der Isolation, das sehr oft mit den verrücktesHüseyin: Ja natürlich, ich vergaß das immer zu ten Begründungen angewendet wurde, war die sagen, es ist ganz klar, daß politische Gefange- Zensur. So wurden politische Äußerungen ohne ne nie Zusammen-kommen. In diesem Knast gab Maßstäbe, z.B. in Briefen angehalten, zerschnipes sowieso, außer mir nur noch einen anderen pelte Zeitungen kamen rein usw. usf. politischen Gefangenen. Das änderte sich allerdings, als ein weiterer Genosse von mir, der in Frage: Ihr habt zwischendurch ja Hungerstreiks einem ganz anderen Trakt gewesen ist, den ich gemacht, um bessere Haftbedingungen durchnie zu Gesicht bekommen habe; der ist dann kur- zusetzen. Hat sich dadurch denn irgend etwas ze Zeit später auch entlassen worden. Aber auch spürbar für euch verändert? das habe ich erst sehr viel später über Beschlüs- Hüseyin: Es gab minimale Veränderungen. Es gab se mitgekriegt, in denen stand, daß ich nicht mit diese ganz verrückten und harten Beschlüsse, ihm zusammengebracht werden dürfte. Dann wie z.B. daß wir ein Radio haben durften, das wir kam später noch ein palästinensischer Genos- aber nicht verstehen konnten, oder Zeitungen se, der lange Zeit dort war, der Hafiz, mit dem lesen zu müssen, die man sonst im normalen Leaber auch kein Kontakt möglich war. Ab und zu ben nicht mal anfassen würde - also solche Dinpassiert ein Versehen, wenn sie uns zum Einkau- ge wurden schon geändert. Auch gemeinschaftfen führen, politische Gefangene werden allein lichen Hofgang machen zu können wurde erst zu einer bestimmten Zeit dorthin gebracht, und nach einem Hungerstreik eingeführt. Und auch, zwar nacheinander. Und wenn sie dann die Ko- daß wir sog. Gemeinschaftsveranstaltungen beordination nicht genau hinkriegen, passiert es, suchen durften, wobei gesagt werden muß, daß 43 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 bei diesen Gemeinschaftsveranstaltungen Bedingungen vorgeschrieben wurden, die wirklich menschenunwürdig waren. So erlaubten sie einem z.B. an einem Gottesdienst teilzunehmen - was vom Inhalt her ziemlich uninteressant ist, aber es ist gut, mit anderen zusammenzukommen. Deswegen gehen auch die meisten Gefangenen dorthin. Sie sagten also, man durfte am Gottesdienst teilnehmen, aber müsse irgendwo so abseits gesetzt werden, daß man mit keinem anderen Gefangenen direkten Kontakt bekommen könne und Schließer müßten dabei sitzen. Das wollten wir so natürlich nicht machen, das ist doch absolut sinnlos. Ich möchte noch ausdrücklich betonen, daß zu dieser gesamten Situation der Isolation kommt, daß wir die Sprache nicht können; außer mir und einem anderen Genossen können alle anderen kein deutsch sprechen. Selahattin Erdem beschrieb in einem Brief an mich das mal so: er meinte, „Du bist ein Gefangener, aber ich bin ein doppelter Gefangener.“ Er konnte noch nicht mal diesen Schließern irgend etwas sagen oder irgend etwas verstehen, was sie ihm sagten. dieses ständige Schikanieren, diese ständigen willkürlichen Beschlüsse, das ständige Hin und Her, dieser ständige Druck, der auf dich ausgeübt wird, die absolut kalte Umwelt, die absolute Abschottung von jeder Form von Menschlichkeit, von jedem Kontakt - das alles hat genau dasselbe Ziel. Nach 3 Monaten Totalisolation kommen plötzlich so BKA-Typen zu dir und fragen, ob du denn nicht endlich eine Aussage machen willst. Damit nutzen sie eine ganz bestimmte Situation aus, nachdem du 3 Monate lang mit niemandem geredet hast, hast du ein ganz natürliches Verlangen egal mit wem, egal aber was, mit irgendwem zu reden. Das ist eine gezielte Politik. Das, was die türkischen Folterer versuchen, an einem Tag zu erfahren, versuchen hier die Folterer mit 3 Monaten Isolationshaft zu erreichen. Der Unterschied ist erstemal, daß es keine offen physische Folter ist, aber wenn ich mir ansehe, was es für Spätfolgen bei Menschen gibt, die in der Türkei gefoltert wurden und den Menschen, die hier gefoltert wurden, dann sehe ich da keine großen Unterschiede. Im Endeffekt geht es darum, wie es die Menschen prägt, daß man in ganz Frage: Diese Haft wird ja international als ,,wei- bestimmten Situationen immer noch unter dem ße Folter“ bezeichnet. Warst du in irgendeiner Eindruck dieser Folter steht, das sind vor allen Weise auf solche Haftbedingungen vorbereitet, Dingen psychische Folgen. hattest du dich irgendwie und irgendwann mal Frage: Für die politischen Gefangenen in der damit auseinandergesetzt oder war das eine BRD ist die Isolationshaft seit 20 Jahren, d.h., völlig neue Erfahrung für dich? seitdem es hier politische Gefangene gibt, eine Hüseyin: Es war eine völlig neue Erfahrung für Realität. Am 1. Februar 1989 begannen die Gemich, was nicht heißt, daß ich nicht schon einmal fangenen aus der RAF den 10. Hungerstreik für davon gelesen hatte, aber wenig. Ich möchte das ihre Zusammenlegung und die Freilassung der Wort Erfahrung betonen, man kann soviel lesen haftunfähigen Gefangenen. darüber, wie man will, ohne die praktische Erfahrung glaube ich nicht, daß du einen wirklichen Sinn dafür bekommen kannst, was es ist. Ich kann das absolut unterstreichen, wenn gesagt wird, das ist die ,,weiße Folter“, die saubere, unblutige Form von Folter. Denn im Endeffekt, was die Zielsetzung und die langfristigen Schmerzen betrifft, hat es denselben Effekt. Einen, den du physisch folterst, dem bereitest du kurzfristig, in dem Augenblick der Folter, schwere Schmerzen mit dem Ziel, etwas aus ihm herauszupressen oder ihn zu brechen. Es bleiben aber die langfristigen Schäden. Und hier, bei der Isolationshaft, ist es genau dieselbe Sache, nur daß es alles langfristiger geplant ist. Dieses ständige Alleingelassen werden, Gefangene aus dem revolutionären Widerstand schlossen sich ebenfalls dieser Hungerstreikkette an. Nach und nach haben sich dann noch andere Gefangene diesem Hungerstreik mit eigenen Forderungen angeschlossen oder sie haben sich einfach solidarisiert. Hast du zu diesem Hungerstreik irgend etwas mitbekommen und wie war dein eigenes Verhältnis dazu? Hüseyin: Mitbekommen habe ich den Beginn und den Verlauf des Hungerstreiks schon. Authentisches habe ich nicht mitbekommen, denn alles, was hierzu an mich geschickt wurde, wurde konsequent angehalten. Jede Seite, auf der etwas ausführlicher über den Hungerstreik berichtet worden ist, jeder Artikel, jede kleine Nachricht 44 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 weggeschnitten, die Zensur war absolut. Auch das, was wir oder was ich je dazu geschrieben habe, wurde, soviel wie ich weiß nicht durchgelassen. Sie haben wirklich alles daran gesetzt, zu verhindern, daß wir mitbekommen, was dort abläuft. Meine anderen Genossen, also da muß ich sagen, daß einige, also diejenigen, die der Sprache überhaupt nicht mächtig sind, lange Zeit überhaupt nichts von dem Streik mitgekriegt haben. Bei uns gab es während des Hungerstreiks ganz andere Diskussionen, über ganz andere Sachen. Diese Auseinandersetzung um die Zusammenlegung kannte ich schon von früher, ich war auch informiert über die konkrete Realität der Gefangenen, erst recht noch mal durch unsere eigene Situation und damit war für mich klar, daß die Forderung nach Zusammenlegung und alle anderen Forderungen auch unsere Forderungen waren. Auch wenn wir sie nie so formuliert haben, dann ist es für uns doch ganz klar, daß die Forderungen der politischen Gefangenen dieselben sind, wie unsere, denn es geht um dieselben Sachen. Es lief bei uns während dieser Zeit ja auch ein Hungerstreik, mitten in dieser Phase, gegen diese verschärften Haftbedingungen, das war sicherlich ein unglücklich gewählter Zeitpunkt. Ich habe in meiner Erklärung zu unserem Hungerstreik auch einen konkreten Bezug hergestellt zu dem Hungerstreik der Gefangenen hier und erklärt, daß ich mich solidarisiert habe. Ich weiß nicht, ob dies je bekannt geworden ist, soviel ich weiß, wurden meine Erklärungen dazu alle beschlagnahmt und nicht herausgelaufen. Prozessverlauf und Verteidigungsrede Frage: Aufgrund der Isolationshaft konntet Ihr euch ja nicht gemeinsam auf den Prozeß vorbereiten, trotzdem vermittelt ihr während des Prozesses eine Stärke und Einheit, die uns alle wirklich sehr beeindruckt hat. Was macht diese gemeinsame Stärke und Verbundenheit unter Euch aus? Hüseyin: Erst einmal das, worum wir kämpfen. Das ist wohl eines der wichtigsten Bindeglieder zwischen uns. Die Situation von Menschen, die ein Sklavendasein führen, in einem Kampf als Menschen gegen dieses Sklavendasein für eine Befreiung, ja für Freiheit. Das ist unser Ziel - und diese Vorstellung der Ziele ist sicherlich ein Bindeglied zwischen uns macht und gibt uns unsere Stärke. Auch, weil wir davon ausgehen, daß wir im Recht sind und einen gerechten Kampf führen. Auf der anderen Seite haben wir eine lange Kampferfahrung, was Gefangenschaft betrifft, Kämpfe in Knästen, Prozesse - es gibt genug PKK-Prozesse in der Türkei und wir stellen uns auch ganz klar und konkret in die Tradition der Erfahrungen unserer Genossen in der Türkei und in Kurdistan in den Knästen. Diese beiden Sachen, das gemeinsame Ziel und die enge menschliche Verbundenheit, daß wir bereit sind, für einander dazu sein, nach der bekannten Losung: Einer für alle, alle für einen, das sind wohl die wichtigsten Gründe, daß wir viel Stärke und Verbundenheit zum Ausdruck bringen. Wobei ich dazu auch sagen muß, wir kennen uns alle mehr oder weniger, wir haben vieles gemeinsam gemacht und das schweißt uns auf jeden Fall zusammen. Frage: Diese Bedingungen im Prozeßbunker waren von Anfang an so extrem, daß eine rechtmäßige Verteidigung ausgeschlossen war. Kannst du vielleicht was sagen über diese Bedingungen im Prozeßbunker, sie genauer beschreiben und was, denkst du, sollte mit diesen Bedingungen erreicht werden? Hüseyin: Es ist ja bekannt, daß dieser Bunker für ungefähr 8 Millionen Mark umgebaut worden ist, extra für diesen Prozeß. Im Keller sind neue Hafträume eingerichtet worden. Wenn ich mich nicht irre, dürften 50 Hafträume dort unten sein. Allein dort, wo 5 oder 6 von uns sind, waren 13 Haftzellen, aber dieser Teil ist nur einer von mehreren Zellenteilen dort unten. Das macht klar, worum es hier geht, nämlich die Vorbereitung eines dieser Prozeßbunker - es gibt ja mehrere, Stammheim z.B. noch - für Massenprozessen. Und alle Möglichkeiten, die für kleine Gruppen von Gefangenen gelten, oder auch für einzelne, haben sie hiermit auch für große Prozesse vorbereitet. Die Abteilungen sind voneinander abgeschottet und es ist ein richtiges Labyrinth dort unten. Ich war ja 4 Monate dort und hab in dieser nicht kapiert, wie wir dahin kamen, wo wir hinkamen. Es ist aufgebaut wie in einen Labyrinth, damit du es nicht durchschaust. Wenn 45 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 wir z.B. zum Prozeßsaal gebracht wurden, wurde jedesmal ein anderer Weg genommen, und so verstehst du nie so genau, wo du gerade bist. Oben im Prozeßsaal ist dieses Aquarium, dieser Käfig das erste gewesen, was sofort ins Auge stach. Eine Plexiglaswand, die uns, die Angeklagten, von der Verteidigung abschottete ebenso wie vom Rest des Prozeßsaals. Es gab sog. Sprechstellen, 3 Löcher in dieser Plexiglasscheibe, wo wir, wenn wir wollten, mit unseren Anwälten sprechen konnten. Die Anwälte selber saßen ziemlich weit entfernt, z.T. bis zu 16 Meter. Um mit ihnen sprechen zu können, mußten wir auf einen Knopf drücken, der auf so einem Schaltbrett vor uns war, wenn wir darauf gedrückt haben, leuchtete bei ihren ein rotes Lämpchen auf. Das klappte aber hinten und vorne nicht, weil schon am 2. Tag des Prozesses, das gesamte Schaltsystem zusammenbrach. Diese Trennscheibe selber, ein Novum in der Prozeßgeschichte der BRD, hängt auch mit dem zusammen, was da unten im Keller gemacht worden war, eben der Versuch, einen Massenprozeß als Pilotprojekt durchzusetzen und durchzuführen. Hier haben sie mal ausprobiert, inwieweit das klappt und wie man das machen kann. Heute ist diese Glaswand ja abgebaut worden, aber ich glaube trotzdem, daß sie schon einige Erfahrungen mit diesem Ding gesammelt haben und das nächste Mal werden sie es wahrscheinlich besser machen, schlauer angehen. Ich glaube einfach nicht, daß sie das Projekt aufgegeben haben. Wenn sie die Glaswand abgebaut haben, dann hat das sicherlich viele andere Gründe, aber nicht den, daß sie tatsächlich Abstand davon genommen haben. Alle Bedingungen in diesem Prozeß, z.B. auch das Problem mit den Dolmetschern, alles hat in erster Linie einen Propagandazweck. Diese zweijährige Hetze als sogenannte ,,gefährlichste Terroristen“, als die neue, eigentliche Gefahr für die innere Sicherheit der BRD mußte in ansprechenden Bild auch dargestellt werden. Was bietet sich da besser, als so eine Glasscheibe, so ein Käfig, der ja auch bestimmte Assoziationen hervorruft, nämlich daß dahinter Ungeheuer, Monster sitzen müssen, die so gefährlich sind, daß sie hinter Scheiben von dem Rest der Menschheit abgeschottet werden müssen. Alles das mußte noch mal zum Ausdruck gebracht werden und wenn diese Scheibe heu- te weg ist, dann hat das auch damit zu tun, daß eben diese Propaganda in diesem Punkt nicht geklappt hat, daß dieses Bild von den ,,gefährlichen Terroristen“ einfach nicht durchzusetzen war. Frage: Du hast ja schon gesagt, die Trennscheibe steht heute nicht mehr, und ich teile aber Deine Einschätzung, daß es sich nicht um eine Liberalisierung handelt. Gegen zwei von Euch wurde das Verfahren eingestellt, sieben sind gegen Kaution freigelassen worden. Was denkst Du waren die Gründe für diese Veränderungen? Hüseyin: Also sie sagen ihre Gründe dafür ganz offen: Rebmann sagte ja, die deutsche Justiz ist mit diesem Verfahren überfordert. Wenn er das sagt, dann hat das weniger damit zu tun, daß irgendwelche Gesetzeslücken vorhanden sind, sondern es hat damit zu tun, daß die BRD noch ziemlich unerfahren ist in dieser neuen Rolle, die sie mit diesem Prozeß als Weltpolizist spielen will. Schwierigkeiten hat sie also einmal mit der propagandistischen, aber auch mit der realen Abwicklung dieses Prozesses. Dieses Bild, das sie versucht hat, mit diesem Prozeß zu schaffen, hat sich umgekehrt. Der Versuch, 20 Menschen als Ungeheuer hinter eine Glasscheibe zu stellen, hat sich umgekehrt. Selbst aus liberalen Kreisen kam Kritik, daß man das so doch hier nicht machen könne. Ein Massenprozeß, der Assoziationen zu den schlimmsten Massenprozessen in der Türkei hervorrief, sollte hier nicht geführt werden. Der Schauprozesses kam deutlich zum Ausdruck. Jeder, der in diesen Prozeßsaal hereinkam, hat gesehen, hier läuft eine Show ab. Diese Scheibe, hinter der wir steckten, war das Sinnbild dieser Show, die große Anzahl von Leuten - das war schon technisch eine Show, dieses Ausgestelltsein zwischen den Schließen. All das hat doch zu deutlich gemacht, was hier ablief, das mußte also geändert werden. Mit der Freilassung von sieben der Gefangenen und der Einstellung von zwei Verfahren haben sie jetzt erst mal versucht, sich neue, günstigere Bedingungen zu schaffen. Die Ziele sind geblieben. Was haben sie mit der Entlassung von 9 Leuten erreicht? Sie haben erst mal in ganz bestimmte Schichten der liberalen Öffentlichkeit gewirkt, die jetzt sagen: na also, was wollt ihr denn, die Gerechtigkeit hat zum Schluß doch gesiegt! Und alles, woran sich äußerlich die Kritik festgemacht 46 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 hat, wie z.B. die Scheibe, wurde beseitigt. Aber inhaltlich, die Punkte der Anklagen, der Versuch, zum ersten Mal eine Befreiungsbewegung in der BRD als ,terroristisch‘ zu verurteilen und der Versuch, der BRD eine Gerichtsbarkeit im Ausland einzuräumen, mit, also die Libanon-Anklage, daran hat sich nichts geändert. Sie brauchen Ruhe, um genau diese Punkte durchzusetzen. Prozessen ist und es viele andere Bewegungen auf der Welt tun, begreifen wir diesen Prozeß als Tribunal. Hüseyin: Für einen Revolutionär ist der Ort, an dem er sich aufhält, absolut unwichtig. Das heißt, ein Revolutionär ist überall Revolutionär. Dieser Gerichtssaal ist also kein Ort, an dem wir uns anders verhalten sollten oder wollen wie in einer anderen Situation in Freiheit oder sonstwo. Wir sagen das auch ganz offen, daß wir diesen Prozeß als eine Bühne betrachten. Auf dieser Bühne wollen wir ganz konkret darstellen, warum wir was, wann und wo und wie wir es machen. Das ist in unseren Erklärungen ja sehr ausführlich dargelegt worden. Da geht es um die wirtschaftlichen, politischen, sozialen Hintergründe unseres Kampfes. Das ist der eine Teil unser Erklärungen. Dazu möchte ich Ismail Besikci zitieren, der gesagt hat, daß im Prozeß die Möglichkeit besteht, einen differenzierten Einblick in unseren Kampf in Kurdistan zu geben, denn wir können dort auftreten und erklären, worum es uns geht. Der andere Punkt ist, daß wir den Prozeß als einen Teil unseres Kampfes gegen Imperialismus, Kolonialismus und feudale Reaktion begreifen. Entsprechend müssen wir anklagen, was der Imperialismus und Kolonialismus den unterdrückten Schichten unseres Volkes antut. Wir klagen sehr konkret an, an welchen Verbrechen Imperialismus und Kolonialismus beteiligt sind, wo sie zusammenarbeiten. Wie es wohl immer bei diesen durch, dann kann jede Äußerung zu den Befreiungsbewegungen als Unterstützung gewertet werden und entsprechende Konsequenzen nach sich ziehen. Dann wird es einen massiven Angriff gegen alle Aktivitäten von uns geben. Klar ist, daß damit der Boden für die Arbeit mit den 400 Tausend Kurden, die hier leben, entzogen wird. Durch Kriminalisierung soll die politische Arbeit und Organisierung bei einem großen Teil unserer Menschen, die hier leben, unmöglich gemacht werden. Für andere Befreiungsbewegungen gibt es da erst mal überhaupt keinen Unterschied, denn wenn das hier durchkommt, kann es morgen jede andere Befreiungsbewegung treffen. Wenn die Libanonanklage durchkommt, wird es ein leichtes Spiel für die BRD sein, morgen angebliche Straftaten in irgendeinem anderen Teil dieser Welt, von denen die BRD ausgeht, daß es sich ,nicht um einen Rechtsstaat handelt, anzuklagen. Wenn das durchgeht, bedeutet das, jeder ist dran! Frage: Zum ersten Mal soll ja mit diesem §129a-Verfahren und dem Mammutprozeß, der zwei Jahre und möglicherweise auch noch länger dauern wird, gegen eine ausländische Befreiungsbewegung vorgegangen werden. Frage: In den ersten Wochen wurde ein umfang- Welche Bedeutung hat das deiner Ansicht nach reicher Einstellungsantrag von der Verteidigung für die weitere Entwicklung in der BRD sowohl vorgebracht. Einen großen Teil dieses Antrages für euch als Kurden, als auch für andere Befreinimmt eure Darstellung des Befreiungskampfes ungsbewegungen? in Kurdistan ein. Ihr begründet sehr ausführlich Hüseyin: Mit diesem Pilotprojekt wird eine ziemwarum es im Rahmen deutscher Gesetze nicht lich gefährliche Geschichte gebastelt. Gelingt es möglich sein kann, den nationalen Befreiungs- der BRD, diese Kriminalisierung und Stigmatisiekampf eines Volkes zu kriminalisieren und zu rung als „Terroristen“ juristisch festzuklopfen und verurteilen. Du hast zu den Zusammenhängen es zu einer Verurteilung nach dem 129a kommen ja schon einiges gesagt, kannst du noch mal sa- sollte, darin fängt ihr Repressionsapparat ja erst gen, wie ihr eure eigenen Aufgaben in diesem an zu laufen. Noch muß, zumindest dem AnProzeß bestimmt im Verhältnis zum Befreiungs- schein nach, eine ,,terroristische Vereinigung“ ja kampf. erst einmal festgestellt werden. Kommt das aber Frage: Anfang Februar diesen Jahres wurde der Einstellungsantrag als ,,derzeit unbegründet“ vorläufig zurückgewiesen. Nun hat die Beweisaufnahme begonnen. Da sich die Anklageschrift hauptsächlich auf die Aussagen von 3 Kronzeugen stützt, kommt ihnen eine besondere Bedeu- 47 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 tung für den weiteren Prozeßverlauf zu. Welche Bedeutung meßt ihr von eurer Seite diesen Zeugen zu? Hüseyin: Erstmal wollen wir uns die Gegenseite angucken. Die mißt diesen Kronzeugen eigentlich eine sehr wichtige Bedeutung zu und zwar dahingehend, daß sie sagt, diese Anlage fällt und steht mit der Aussage dieser Typen. Ganz speziell bei dem einen richtigen Kronzeugen, also dem, der auch einen Rabatt gekriegt hat (Ali Cetiner, Anm. d. Red.), sieht es so aus, daß die gesamte ,,mutige Indizienkette“ (Zitat BAW Senge) erst durch ihn ,,rund gemacht“ wird. Die beiden anderen Zeugen hatten erstemal die Aufgabe, Leute in den Knast zu bringen. Diesen Leuten im Knast eine Struktur überzustüpeln, diese Aufgabe hat Ali Cetiner übernommen. Grundsätzlich ist für uns die politische Seite des Verfahrens wichtiger. Wir wissen natürlich, und das haben wir von Anfang an gesagt, daß wir keine Angst vor diesen Zeugen haben. Es macht uns keine Schwierigkeiten, unter den richtigen Bedingungen, diese Zeugen auseinanderzupflücken. Für uns haben diese Zeugen eine geringere Brisanz, als für die BAW. Inzwischen scheint die BAW allerdings zu den gleichen Erkenntnissen zu kommen. Die Aussagen bzw. die Nicht-Aussagen des ersten Kronzeugen in der vergangenen Woche (Hasan Dogan, Ende Mai in Düsseldorf, Anm. d. Red.) hat dies ganz deutlich gemacht. Einer jener Kronzeugen, der über Jahre als das Beweisstück überhaupt gilt, weigert sich auszusagen. Er beruft sich auf den § 55, weil er sich angeblich selbst belasten könne, denn er hat noch ein eigenes Ermittlungsverfahren laufen. Dieses umfassende Aussageverweigerungrecht wurde ihm vom Vorsitzenden des Strafsenats gewährt. Er weigert sich auszusagen und klopft damit aber die umfangreichen Aussagen, die er vor der Polizei gemacht hat, fest. Im Gerichtssaal gibt es jetzt nur noch die Möglichkeit, daß die Polizeibeamten diese Aussagen bestätigen, aber sie sind nicht überprüfbar, denn eine Befragung des Zeugen ist nicht möglich. Uns geht es nicht darum, irgendeine Kritik am § 55 zu üben, der ist richtig, wichtig und notwendig. Aber es ist für uns natürlich interessant, mitzukriegen, mit welchen Methoden hier gearbeitet wird. Warum gibt es ein Ermittlungsverfahren gegen H. Dogan? Aus den zwei Akten an Aussagen, die er gemacht hat, geht hervor, daß dieses Ermittlungsverfahren gegen ihn immer wieder als Druckmittel eingesetzt worden ist. Er ist ein sehr labiler Mensch und er wird durch Versprechungen einerseits, dann wieder durch Drohungen richtiggehend erpreßt. Während all seiner Aussagen hat ihm nie jemand was vom § 55 erzählt, das ist in den Akten nachzulesen. Ständig ließ man ihn sich selbst belasten und erpreßte gleichzeitig Aussagen von ihm gegen uns. Und jetzt, wo er vor der Öffentlichkeit seine Aussagen praktisch wiederholen soll, wo sie überprüft werden sollen, da braucht er auf einmal nicht mehr zu reden. Ich glaube das sagt viel. Es gibt noch einen weiteren Zeugen, Nusret Arslan, der demnächst, nach den Sommerferien auftreten wird. Der wird wohl in die Geschichte dies Prozesses als der Baron von Münchhausen eingehen, denn der hat viele Lagen aufgetischt, womit er ziemlich baden gehen wird. Er hat kein Ermittlungsverfahren und kann sich nicht auf den § 55 berufen. Dann bleibt noch Ali Cetiner, der eigentliche Kronzeuge, mit dem hier sehr viel gespielt worden ist und wo wir noch lange darum werden kämpfen müssen, daß wir ihn befragen können, wie wir das wollen. Doch auch hier sehen wir keine Schwierigkeiten, denn Ali Cetiner ist ein ,,verbrauchter“ Zeuge. Schon in Schweden ist er als Zeuge in dem Olof Palme - Verfahren aufgetreten und hat dort der schwedischen Regierung viele Schwierigkeiten gebracht, einen Skandal nach dem anderen. Nach den Geschichten in Schweden kam er in Abschiebungshaft, er sollte abgeschoben werden und die BRD hat sich diesen Zeugen dann geangelt. Frage: Kannst du vielleicht noch eine allgemeine Prognose für den weiteren Prozeßverlauf abgeben und wie wird eure weitere Verteidigungsstrategie aussehen? Hüseyin: In diesem Prozeß Prognosen abgeben zu wollen, ist wirklich schwierig. Nichts läuft so, wie es laufen soll, alles ist hier drin ein Novum. Entsprechend schwierig ist es auch, für die Zukunft eine Prognose abzugeben. Was gesagt werden kann ist, daß das Ende dieses Prozesses noch völlig offen ist. Bezüglich dem § 129a sind noch beide Möglichkeiten offen. Die BRD hat feststellen müssen, daß es mit 48 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 dem Prozeß nicht so einfach läuft, wie sie sich das vorgestellt haben, sie müssen sich nach neuen Methoden umsehen. Das neue Ausländerrecht ist dafür ein neues Mittel, womit sie ihre Ziele durchsetzen können. Große Prozeßkosten werden wegfallen, und das „Problem“ wird sich viel leichter, viel ruhiger lösen lassen, z.B. über Abschiebungen, Verbote politischer Betätigungen usw. Natürlich stellt sich die Frage nach dem Nutzen des Prozesses, den er jetzt noch hat. Es ist schwierig, hier eine klare Prognose abzugeben. Aufgrund der Tatsache, daß der Ausgang noch offen ist, kann unsere Verteidigungsstrategie nur offensiv aussehen. Wir werden das tun, die BAW wird sich noch wundern, was wir noch alles aufdecken werden, vor allem bei der Befragung ihrer Kronzeugen. Die BAW wird von uns noch viele Schwierigkeiten in diesem Prozeß bekommen. Sie hat ihn zwar propagandistisch ausgeschlachtet, aber juristisch nicht gut vorbereitet. Das weiß die BAW auch selber, weswegen unsere Verteidiger immer wieder zum Ziel von Angriffen ihrerseits werden. Es geht ja sogar soweit, daß einige unserer Anwälte Verfahren haben, ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoß gegen die Geheimhaltung von Akten (Kamalatta-Flugschrift 1) oder zwei Ehrengerichtsverfahren gegen einen Anwalt und eine Anwältin. Weil sich die BAW in die Enge getrieben fühlt, versucht sie sich mit solchen schmutzigen Methoden zu wehren. Damit werden sie uns jedenfalls nicht einschüchtern können. Hintergrund und Solidaritätsbegriff Frage: Welche Rolle wird die BRD im Konflikt zwischen der Türkei und Kurdistan einnehmen? Um welche Interessen geht es da? Siehst du einen Zusammenhang zwischen dem Prozeß und der Entwicklung des Befreiungskampfes in Kurdistan? Hüseyin: Die BRD ist Partei in dieser Auseinandersetzung. Sie ist Partei auf der Seite der Türkei oder besser gesagt, auf der Seite der herrschenden Klasse in der Türkei. Die BRD ist konkret auf allen Ebenen der Auseinandersetzung beteiligt. Es sind ihre Interessen, die Angriffsziele des Befreiungskampfes sind, es sind ihre Interessen, die die Unterdrückung durch den kolonialisti- schen türkischen Staat ausmachen, es sind ihre Waffen, die in dem Krieg benutzt werden, es ist ihr Geld, was hier investiert wird. Das macht auch ihre Rolle in der konkreten Auseinandersetzung aus. Seitdem sich der Befreiungskampf in NW-Kurdistan sowie jetzt aktuell entwickelt, versuchen in Westeuropa und die verschiedenen Großmächte der imperialistischen Staaten eine ganz bestimmte Kurdistan-Politik zu entwickeln. Es gibt verschiedene Versuche der Befreiung und hier muß man ganz klar sehen, daß die BRD bei dem Versuch, eine neue Politik zu entwickeln, die reaktionärste Position einnimmt und vertritt. Viele versuchen durch Umarmen und Erdrücken Kurdistan zu befrieden, die BRD aber versucht es über den direkten Angriff. Die BRD übernimmt ganz klar die Rolle eines Mitkämpfers, eines Bündnispartners in diesem Krieg. In diesem Kontext sehe ich den Prozeß, der ist ganz klar Teil dieser Position. Wenn man sich die offiziellen Verlautbarungen der westeuropäischen Länder zur Kurdistan ansieht und dann, was hier in der BRD, gerade in der Aktuellen Stunde jetzt im Bundestag gesagt wird, darin wird deutlich-. die Koalitionsparteien stehen auf der Seite der Türkei und das, was die SPD gesagt hat, fällt weit weit hinter das zurück, was andere sozialdemokratische Parteien in Europa inzwischen dazu sagen. Die BRD verficht eine Position, die inzwischen überholt ist. Frage: Du meinst die reale Situation, die Entwicklungen in Kurdistan haben diese Haltung überholt? Die Politik der BRD ist veraltet, wie die der Türkei? Hüseyin: Genau so meine ich das. Die BRD hat uns mit diesem Prozeß angegriffen, es ging um die Liquidierung der PKK. Das ist ihnen aber nicht gelungen, das Gegenteil ist eingetreten. Eine Liquidierung auf diesem Wege ist nicht möglich, das weiß die BRD ebenso wie die Türkei. Es gibt keine militärische Endlösung mehr gegen uns, das sind Realitäten, die sie anerkennen müssen. Wenn sie aber trotzdem auf dieser Politik der militärischen Endlösung beharren, dann kann ich nur sagen, diese Politik ist überholt und wird von den Realitäten entsprechend beantwortet werden. Man muß schon sehen, daß nach den letzten Entwicklungen in Osteuropa sich die Situation ziemlich rasant verändert, aber das bedeutet 49 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 nicht, daß die BRD ihr Interesse für unsere Region jemals aufgeben wird, Das Verhältnis wird sich verändern. Die Türkei wird ihre alte Stellung als die Südostflanke der Türkei, als das einzige Nato-Land mit einer direkten Grenze zur Sowjetunion nicht mehr so behalten, die Bedeutung ändert sich. Diese gewichtige Rolle, die sie in der Phase des Status-Quo hatte, verliert sie damit. Das will sie aber nicht. Mit allen möglichen Methoden versucht sie an ihrer alten Rolle festzuhalten, was sie aber immer weiter in Bedrängnis bringt, zunehmend auch zu den anderen Regimen in der Region. Seit den neuen Entwicklungen in Osteuropa hat sich die Türkei ja von einem Fettnäpfchen ins andere gesetzt, was ihre diplomatischen und auswärtigen Beziehungen betrifft. Einerseits sollten die USA bei der Stange gehalten werden, indem sie Israel unterstütze bei der Einwanderung sowjetischer Juden nach Israel, die über die Türkei reisen konnten, sie hat versucht, Druck auf den Irak und Syrien mit der Wasserzufuhr auszuüben und dadurch Staaten, die eigentlich natürliche Bündnispartner der Türkei sind, vor den Kopf gestoßen. Die veränderte Situation in Bulgarien hat sie als Ventil genutzt, um türkisch-nationalistische Gefühle, die sog. türkisch-islamische Synthese, noch weiter anzuheizen, was Bulgarien erst einmal in Angst und Schrecken versetzt hat und im Endeffekt gerade den türkischstämmigen Bulgaren sehr viele Schwierigkeiten bereitet hat. Aber trotz all dieser Entwicklungen - und gerade das macht wohl die besondere Beziehung zwischen der Türkei und der BRD aus - steht die BRD immer noch zur Türkei. Wahrscheinlich soll das so bis zum bittren Ende bleiben. Das muß schon eine sehr innige Liebe sein, denn mit Vernunft ist das nicht mehr zu erklären. Hier müßte die BRD eigentlich wirklich mal neu nachdenken. Die neue Marktsituation in Osteuropa, der Zusammenschluß der gesamten Nordhalbkugel unter völliger Herrschaft des Weltimperialismus ist die derzeit bestimmende Politik. Das bedeutet einerseits, daß die Länder des Trikont außen vorgelassen werden und die Machtkonzentration im Norden eine zunehmende Gefahr für die Trikontländer bedeutet. Andererseits ist die Situation aber auch eine Chance, hier einen Zusammenschluß gegen den reichen Norden anzustreben. Der Druck in manchen Regionen ist etwas zurückgegangen, was auch Möglichkeiten in ganz bestimmten Regionen für die Durchsetzung revolutionärer Umgestaltung schafft. Länder wie Kuba, Nikaragua usw, werden natürlich Angriffsziele des Imperialismus bleiben. Aber es entstehen natürlich Lücken, die wir erkennen müssen und nutzen sollten. Frage: Das ist ein wichtiges und umfangreiches Thema, über das wir sicherlich noch länger reden könnten und auch müssen. Aber noch einmal zu eurem konkreten Kampf: kurz nach Beginn der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes in Kurdistan begann in einigen Ländern Westeuropas eine beispiellose Hetze- und Diffamierungskarnpagne gegen die PKK als die führende Kraft des Befreiungskampfes. In allen Medien wurde sie als „terroristisch“ bezeichnet, die in Kurdistan Frauen und Kinder massakriert und in Europa angebliche Abweichler mit dem Tode bestrafen. In Schweden hat man sogar versucht euch den Mord an Ministerpräsident Palme anzuhängen. Kannst du etwas zu diesen Vorwürfen sagen? Wer waren die Drahtzieher dieser Kampagne und welche Interessen wurden damit verfolgt? Hüseyin: Sehr viele verschiedene Sachen kamen da zusammen und haben ein gemeinsames Interesse ausgemacht und daran hat sich eine Politik der Hetze festgemacht. Erstmal gibt es das Interesse des türkischen Staates, dann gibt es das Interesse des BRD-Imperialismus, das muß man sehen. Wieso aber, und das ist doch die eigentliche Frage - haben sich denn Linke und Fortschrittliche an dieser Kampagne beteiligt? Und hier sehe ich ein Bündnis von ganz bestimmten Kräften aus der türkischen und aus der BRD-Linken, die bei dieser Kampagne zusammengearbeitet haben. Viele haben es als Nebenkriegsschauplatz genutzt, um von ihrer eigenen Situation abzulenken. Für die türkische Linke war das der Zusammenbruch seiner Strategien, ihre Perspektivlosigkeit, in die sie geraten waren. Da, wo sie selber keine Lösung hatten, versuchten sie andere anzugreifen. Für die BRD-Linke möchte ich sagen, daß sie von einer sehr stark eurozentristischen, metropolenchauvinistischen Haltung geprägt ist, die konkret den Leuten vielleicht noch gar nicht einmal bewußt ist, wie überheblich, was für eine.... ich finde fast schon keine Worte mehr für dieses Aus- 50 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 maß an Anmaßung, was in dieser Haltung steckt. Sie haben gar nicht mehr mitgekriegt, wie sehr ihnen der Imperialismus schon die Köpfe gestohlen und das, was hier als Metropole bezeichnet wird, in ihre Köpfe hereingemauert hat. Ich habe bei einigen Gruppen noch nie so viel Energie feststellen können im Kampf gegen die Hauptwidersprüche, wie sie in die Hetzkampagne gegen die PKK eingebracht haben. Ganz konkretes Beispiel sind dafür mich die Hamburger Grünen, die GAL, die im Jahre 1987 zwei Broschüren herausgebracht haben, die beide Teil dieser Hetzkampagne gegen die PKK waren. Diese Hetzkampagne nutzte dann auch sehr stark den Komplotten, die es gegeben hat - unsere Geschichte ist eine Geschichte von Komplotten, das kann man schon so sagen. Schon vom 1. Tag unserer Entstehung an waren wir mit solchen Sachen konfrontiert, daß es uns z.T. heute noch wundert, daß noch immer manche Menschen darauf hereinfallen. Noch mal zusammengefaßt, was da zusammenkommt: einmal diese Niedergeschlagenheit der Linken, diese Perspektivlosigkeit plus das nicht Anerkennen wollen der eigenen Fehler, was dann überging in die Auseinandersetzung gegen eine Kraft, die einen anderen Weg eingeschlagen hat. Andererseits ist es bei der BRD-Linken dieser tiefe Ausdruck, wie sehr es dem Imperialismus schon gelungen ist, die Köpfe der Menschen einzubetonieren. Was nicht heißt, daß es auf unserer Seite keine Fehler gegeben hat. Frage: Ja, Du hast die Hetzkampagnen, an denen sich viele linke und fortschrittliche Kreise der BRD beteiligt und diese widerspruchslos übernommen haben jetzt schon sehr deutlich angesprochen. Das ist sicherlich auch ein Grund, warum sich bis heute keine breite Solidarität gegen diesen Prozeß und mit dem Befreiungskampf in Kurdistan hier durchgesetzt hat. Ich möchte da noch einmal nachfragen, ob es auf Eurer Seite nicht auch Fehler im Umgang mit den Linken hier gegeben hat? Hüseyin: Ja, natürlich, auch auf unserer Seite hat es viele Fehler gegeben, kleine und große, Wir können und wollen sie nicht bestreiten. Wichtig ist weniger, ob wir das nun anerkennen oder nicht, sondern wichtig ist, was lernen wir daraus? Wir haben einen Prozeß durchgemacht, den ich gern als einen Prozeß des Erwachsenwerdens bezeichne. Ein Prozeß, bei dem wir aus unseren Kinderschuhen langsam herausgewachsen sind, ein Prozeß, bei dem wir unsere Kinderkrankheiten durchgemacht haben und heute in eine neue Phase eintreten. Ich will betonen, daß wir das natürlich nicht alles einfach so als Kinderkrankheiten abtun können, daß es jetzt vorbei und alles wieder gut ist. Ich sehe da in vielen Vorkommnissen, die es gegeben hat, auch eine gewisse Gesetzmäßigkeit Wir sind eine Bewegung gewesen, die in einer äußerst schwierigen Situation entstanden ist, mit schwierigsten Bedingungen konfrontiert, einen äußerst schwierigen Kampf geführt hat. Noch dazu ohne jegliche Erfahrung und in einer Situation der absoluten Verfolgung. Die PKK und das ist bekannt, ist der eigentliche Staatsfeind innerhalb der Türkei schon immer gewesen. Nun, daß es in einer solchen Situation zu etlichen Fehlern gekommen ist, das ist für mich klar, und ich denke, das gehört auch mit zur Einschätzung. Heute gibt es eine andere Seite der Geschichte, heute versuchen wir, aus unseren Fehlern zu lernen, sie möglichst nicht zu wiederholen - und ich glaube auch, daß uns das gelingen wird - und damit haben wir bewiesen, daß wir lernfähig sind. Und jetzt fordern wir einen eben solchen Lernprozeß bei genau denjenigen, die lange Zeit an diesem Konflikt beteiligt waren. Es gibt, das sehen wir, einen gewissen Lernprozeß, Denkveränderungen, es gibt keine offenen Angriffe mehr; die, die früher am lautesten diese Angriffe geführt haben, schweigen heute. Und viele, die damals die Angriffe mitgeführt haben, haben ihr Schweigen gebrochen und reden jetzt auch wieder. Das ist gut und das müssen wir auch weiter vorantreiben. Das ist die Basis, auf der ein Dialog entstehen könnte und auf beiden Seiten, das möchte ich betonen, auf beiden Seiten zu gucken, was falsch gelaufen ist, um daraus für die Zukunft für beide Seiten zu lernen. Wer versucht, nach wie vor alle Schuldauf. uns abzuwälzen , den werden wir einfach nicht ernst nehmen, mit denen werden wir darüber auch nicht weiter diskutieren, das ist für mich ganz klar. Frage: Ich möchte noch einmal auf diesen Vorwurf des Eurozentrismus zurückkommen, denn ich denke, daß ist ein sehr wesentlicher Punkt, dieses metropolenchauvinistischen Denkens 51 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 bei vielen Linken hier, das ihnen möglicherwei- die eigenen Entwicklungen, die die Menschen se nicht bewußt ist, wie Du gesagt hast. Sag hier durchgemacht haben, assoziiert. Mit den doch mal so ein Beispiel dafür. Vorwürfen gegen die K-Gruppen-Mentalität, die Hüseyin: „Ich möchte nicht wissen, wie es der K-Gruppen-Strukturen, mit den Vorwürfen gekurdischen Bevölkerung ergehen wird, wenn die gen die Parteistrukturen usw. usf., schlechte ErPKK an der Macht ist“, das ist konkret so ein Satz, fahrungen, die hier Realität sind. Und aufgrund den ich vor einigen Tagen gehört habe und der dieser Basis hat man eine ganz bestimmte Auffür mich ein Ausdruck für dieses absolut über- fassung von innerer Demokratie, von Struktur. hebliche Denken ist. Es ist dumm, was sie sagt Und jetzt zu versuchen, aus diesem Blickwinkel (es war eine Frau, die das sagte), einfach, weil etwas zu betrachten und sogar zu bewerten, es ausdrückt, daß sie nichts weiß. Sie weiß nicht, was sich ganz woanders entwickelt, ist für mich daß die Kurden noch nie „an der Macht“ gewesen metropolenchauvinistisch. Wer von denen, die sind, noch nie strukturelle Macht hatten, mit der sowas sagen, kennt auch nur einen Aspekt der sie was falsch machen konnten. Was da zum Aus- kurdischen Geschichte, der kurdischen Parteidruck kommt ist, daß diese Frau die Menschen geschichte, der kurdischen Entwicklung?! Doch in Kurdistan für dumme Leute hält, die irgendei- wohl niemand. Und trotzdem versuchen eine ner Kraft zur Macht verhelfen und sich dann wie Bewertung unserer Bewegung - das ist für mich Blinde unter deren Fittiche stellen. Das heißt das Ausdruck von Metropolenchauvinismus. doch: Wie wird die PKK denn - wenn - die an die Macht kommen? Doch nicht über einen Putsch oder sonstwie! Nur über den Befreiungskampf, an dem die Bevölkerung sich aktiv beteiligt! Das weiß sie auch, daß das so ist. Und das heißt, sie assoziiert mit dem Kampf der Bevölkerung den Kampf eines dummen, armen, kleinen Negerleins, des armen, kleinen, dummen Asiaten, der irgendwelchen schlauen Demagogen hinterherläuft und denen, die gute Missionarin aus dem Land der Weißen erst einmal klarmachen muß, was für eine Dummheit die Menschen dort begehen. Das drückt sich darin aus. Wenn ich ihr das so ins Gesicht sagen würde, ich glaube, sie würde umfallen. So denken die Menschen auch nicht, ich glaube auch kaum, daß sie es mit bösem Willen gesagt hat, jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, daß sie die Türkei näher kennt. Ich mache ihr das auch nicht zum Vorwurf, vielleicht ist sie auch aufgehetzt. Ich mache ihr nur zum Vorwurf, daß das, was in diesem Satz steckt, viel tiefer, etwas in ihr selber ist. Aber das ist nur einer solcher Sprüche, es gibt ganz viele in diesem Zusammenhang. Das drückt sich auch immer wieder bei der Kritik unserer Struktur aus: „Wie sieht es denn mit der inneren Demokratie der PKK aus?“ Das war auch so eine Frage, die ich in den letzten Tagen gehört habe. Jemanden, der draußen steht, den weißen Mann sozusagen oder die weiße Frau, geht diese Frage erst einmal gar nichts an. Mit dieser Frage werden doch Frage: Ende der 60er Jahre, zur Zeit des Vietnamkrieges hat eine sehr breite internationale Solidarität auch in der BRD in dem Kampf des vietnamesisch Volkes gegen die USA gegeben Massaker in Kurdistan, auf den Philippinen oder in Palästina scheinen die Menschen heute nicht mehr zu erschüttern. Kannst da Gründe vorstellen, warum es ein internationalistisches Bewustsein auch bei den Linken hier der BRD nicht mehr gibt? Wie würdest Du die politische Situation hier in der BRD und Westeuropa definieren? Siehst Gefahren für die Zukunft? Hüseyin: Ich glabe, die Solidatätsbewegung von damals hat bei der Definition des klassischen Imperialismus einen wichtigen Aspekt vergessen, nämlich die unglaubliche Flexibilität und Lernfähigkeit, die der Imperialismus inzwischen gewonnen hat. Der sog. sterbende Kapitalismus ist kein alter krank Mann, sondern ist eine junge Entwicklung, die zwar objektiv sich in einem Prozeß des Sterbens befindet, die aber aus diesem Wissen heraus alles dazu tut, den Zeitpunkt des Todes so weit wie möglich hinauszuzögern. Und in dies Kampf ist der Kapitalismus unglaublich dynamisch. Das ist die Situation des Imperialismus heute. Die Vietnam-Bewegung war eine sehr starke und wichtige Bewegung bezüglich bestimmter Entwicklungsprozosse hier. Und sie war auch ein wichtiger Bestandteil des Kampfes in Vietnam, diese Bewegung hat den Vietnamesen sehr viel geholfen. Die Lehre, die 52 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 der Imperialismus aus dieser Etappe gezogen hat ist, das solche Bewegungen wie zur Zeit des Vietnam-Krieges nicht wieder entstehen dürfen. Um das zu verhindern, wird alles getan. Auf der anderen Seite, und das ist eine Frage des Bewußtseinstandes hier, war die Vietnam-Bewegung das Ergebnis einer Entwicklungsgeschichte hier in der BRD. Wesentlicher Bestandteil für die damalige Solidaritätsbewegung war sicherlich der Kampf des armen, kleinen vietnamesischen Volkes gegen den bösen, großen imperialistischen Yankee. Die Widersprüche waren so kraß, daß es leicht war, sich auf die eine Seite gegen die andere zu stellen. Gleichzeitig wurde der vietnamesische Kampf zu etwas, was man zwar selber wollte, die Ungerechtigkeit nämlich zu bekämpfen, aber nicht schaffte. Diese kleinen Vietnamesen, in allem klein, also wirklich ein kleines Volk, auch als Menschen sind sie ja klein, schafften es, dem Imperialismus derart die Stirn zu bieten. Das rief einfach Bewunderung hervor. Insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg hatten die Menschen mit dem Neuaufbau Europas ja mitgekriegt, daß es nichts anderes war als die Neuauflage von dem, was es schon immer gewesen war, nur in einer anderen Farbe. Man hatte gemerkt, daß man betrogen und belogen worden war. Und dort war das vietnamesische Volk, daß sich alledem entgegenstellte. Mit diesem Kampf konnte man sich identifizieren. Aber, und das ist ein Grund dafür, daß es heute diese Bewegung nicht mehr gibt, damit wurde vieles verbunden, was mit der Realität nichts zu tun hatte. Die Vietnam-Bewegung war stark geprägt von Utopie und Euphorie, die einfach nichts mit der Realität Vietnams zu tun hatten. Vietnam braucht gerade heute z.B. nach 1975 eine ebenso starke Solidarität. Aufgrund der unglaublichen Folgen des Krieges, an denen das Volk heute noch zu leiden hat, klappt eben auch vieles nicht so, wie es klappen sollte. Natürlich liegt das auch an Fehlern, die politisch gemacht werden, aber auch an der wirtschaftlichen und ökologischen Situation. Diese Solidaritätsbewegung hörte auf, als die USA vertrieben waren und das vietnarnesische Volk den Alltag versuchte zu organisieren. Ich möchte noch ein bißchen zu diesem Begriff „Utopie“ sagen: es fehlte die Vorstellung, daß auch die Vietnamesen nur mit Wasser kochen. Aufgrund der Ent- fernung und daß man nicht sehr viel über die konkrete Situation im Trikont weiß, gibt es die Vorstellung, diese Menschen seien mit irgendwelchen Zaubertränken ausgestattet. Das ist natürlich nicht so, wir kämpfen mit den Mitteln, die wir haben und versuchen, mit dem, was wir erkämpfen, etwas Neues aufzubauen. Niemand im Trikont hat Wundermittel. Die Kämpfe im Trikont wurden und werden leicht idealisiert. Und dann, wenn gemerkt wird, daß auch dort nur mit Wasser gekocht wird, gibt es den abrupten Abbruch der Solidarität. Hätte die Vietnam-Bewegung auf einer realistischen Grundlage gestanden, auf der Grundlage des konkret Möglichen und des konkret Machbaren, dann hätte diese Bewegung nicht zusammenbrechen dürfen. Die Nicaragua-Bewegung hat daraus ein bißchen gelernt, auch wenn sie nie das Ausmaß der Vietnam-Bewegung erreichte. Nicaragua hatte ja vor der Revolution kaum Solidarität, wer kannte schon die Sandinisten 1978? Doch nur wenige. Danach hat sich das dann geändert, obwohl auch hier Fehler gemacht wurden. Darauf einzugehen würde jetzt wohl zu weit führen, nur soviel, die Herangehensweise an ein die Situation Nicaraguas wie an ein Sozialprojekt, wurde den Problemen überhaupt nicht gerecht. Im Endeffekt müssen die Veränderungen in großem Maßstab erfolgen, um sich wirklich auf die konkrete Situation der Menschen auswirken zu können. Frage: Sprichst du auf die Projektepolitik in Nicaragua an? Hüseyin: Ja, das auch, aber ich will auf keinen Fall sagen, daß das alles falsch gewesen ist. Es kommt auf die Situation drauf an, z.B. dieses Projekt der Kaffeernte war eine ziemlich internationalistische Bewegung in einer Situation, wo diejenigen, die eigentlich den Kaffee pflücken, in den Krieg ziehen mußten. Das war schon eine sehr konkrete Form des Intemationalismus. Interessant ist hier bei den europäischen Solidaritätsbewegungen auch, daß sie sich mit Entwicklungen beschäftigen, die sehr weit von ihnen entfernt passieren. Sachen, die sozusagen vor ihrer Nase passieren, werden von ihnen nicht besonders stark aufgegriffen. Das hat wohl auch sehr viel damit zu tun, daß Internationalismus und Solidaritätsbewegung stark romantisiert wird. Der Papa fährt nach Mallorca und Fritzchen fährt 53 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 nach Nicaragua - und beides ist Urlaub. Was fehlt ist das Bewußtsein über den charakteristischen Unterschied, daß es um die konkrete Veränderung der Situation der Menschen dort geht, um eine andere Politik. Ich glaube auch, daß das viel damit zu tun hat, daß es hier keine revoltionäre Perspektive gegeben hat. Das heißt, daß es um Machtergreifung, die Veränderung der Machtverhältnisse geht. Die Veränderung der Struktur ist nur mit der Veränderung der Machtverhältnisse zu erreichen. Wer von den Menschen, die hier von der Revolution irgendwo schwärmen, kann sich schon vorstellen, morgen irgendein Minister zu sein? Und jetzt muß man mal versuchen, sich in die Köpfe von Ortega, Borge oder anderen hineinzuversetzen. Das war doch auch nur eine ganz bestimmte Szene in der Linken, die unter den konkreten Bedingungen dort, die Macht erreicht bzw. die Macht erhalten hat Daß also revolutionäre Perspektiven hier gefehlt haben, ist für mich mit ein wichtiger Grund, daß es hier keine Solidaritätsbewegung geben kann. Das Fehlen einer hiesigen Organisierung (Organisation, die ihre eigenen Interessen formuliert und umsetzt in konkrete revolutionäre Politik, ist der Grund, daß es keine starke internationalistische Bewegung gibt -das bedingt sich gegenseitig. das ist hier so gut wie gar nicht bekannt. Insofern würde ich auch nicht sagen, ob ich eine Gefahr sehe, denn ich lebe in dieser Gefahr, sie ist schon da. Bei der Linken hier herrscht derzeit eine ziemliche Niedergeschlagenheit, Perspektivlosigkeit. Es besteht die große gefahr, im Selbstmitleid zu versinken und nur noch die eigenen Wunden zu lecken. Das kann man natürlich machen, eine Zeitlang mag das ja auch ganz schön sein, aber wenn das nicht aufhört, dann geht die Bewegung und die Perspektive hier für immer kaputt. Dann wird es im Endeffekt darauf hinauslaufen, daß es vielleicht noch einige guten Kabarettisten mehr gibt, die die Situation in Ironie und Karikatur darstellen können und der Rest wird sich ins normale Leben zurückziehen. Hier gilt es, im Namen des Trikonts zu sagen: Hört auf mit diesem verdammten Selbstmitleid! Hört auf, die eigenen Wunden zu lecken! Gut, ihr müßt eure Wunden schon verbinden, aber dann könnt ihr euch nicht wochen- oder jahrelang in irgendwelche Lazarette legen und warten, bis es auskuriert ist. So lange kann die Welt nicht warten, angesichts der vielen Probleme! Und egal, wie schwierig diese Situation für euch heute ist, egal wie perspektivlos ihr seid, eins ist doch klar: das, was die Frage: Welche Gefahren siehst du jetzt in den da oben an Wiedervereinigung vollziehen oder Entwicklungen in Westeuropa, auch für die nicht, das passiert auch ohne euch. Ihr spielt darin überhaupt keine Rolle, mit deren InteresMenschen und Völker im Trikont? se habt ihr doch nichts zu tun! Wer immer noch Hüseyin: Also, da entstehen viele Gefahren, das von der Mitgestaltung dieser neuen Situation sehen wir hier in der BRD am besten: es gibt nur träumt, der ist schon verloren. Wir können nur noch Deutschland und der Rest der Welt ist zu- sagen: eure Interessen und unsere Interessen, sammengebrochen. In dieser Situation der Na- das sind gemeinsame Interessen! Unsere Intebelschau, der Kraftmeierei, die hier betrieben ressen im Trikont, die gefährliche Situation die wird, fallen viele wichtige Sachen weg. Der hie- jetzt schon besteht durch die große konterrevosigen Linken fehlt auch hier eine Alternative. Ein lutionäre Bewegung, sind bedroht. Dieser Kampf anderes Informations- und Nachrichtensystem wird verschärft, wird mit allen Mitteln gegen uns fehlt, wo wirkliche Nachrichten aus aller Welt geführt. Und die Menschen hier müssen erkenzusammengeholt und weitergegeben werden, nen, was ihre wirklichen Interessen sind, wo ihre denn auch die Linken hier kriegen nur wenig von wirklichen Bündnispartner sitzen. dem mit, was wirklich in der Welt passiert. Dieses letzten Massaker z.B. in Palästina, das größte Frage: Kannst du jetzt zum Schluß noch einmal wohl seit es die Intifada gibt, hat zu gar keinen sagen, z.T. zieht es sich ja immer wieder durch Reaktionen geführt, oder die aktuellen Entwick- deine Stellungnahmen, die neue Politik der relungen in der Türkei, kein Mensch kriegt das so al-sozialistischen Staaten und ihre weltweiten richtig mit, daß es dort in Kurdistan einen Volks- Auswirkung. Kannst noch mal was dazu sagen, aufstand gibt, der von Tag zu Tag in die verschie- welche Auswirkungen diese Entwicklungen auf denen Orte schwappt, sich ständig entwickelt - die Perspektiven von nationalen Befreiungsbe54 ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden 1. YXK-Reader | 2015 wegungen haben? Hüseyin: Mittlerweile gibt es ja aus verschiedenen Teilen der Welt Thesenpapiere dazu. Einige kommunistische Parteien Lateinamerikas haben dazu z.B. eine Erklärung abgegeben. Wir können sagen, daß wir die Entwicklung in den sozialistischen Staaten nicht völlig ablehnen. Wir sehen die Notwendigkeit von Veränderungen in diesen Staaten. Wir sehen die Stagnation, wir sehen die unglaublichen Folgen der Staatsbürokratie, diese Auswirkungen des administrativen Sozialismus. Wir sehen die Notwendigkeit der Öffnung und der Umgestaltung. Wir sehen gleichzeitig die unglaubliche Macht des imperialistischen Weltmarktes und die Auswirkungen der jahrzehntelangen Einkesselung der UdSSR durch diesen Weltmarkt. Und wir sehen dies alles auch als Ergebnis der falschen Politik der friedlichen Koexistenz. Die lenin‘sche Taktik der friedlichen Koexistenz wurde zueiner chruschtschow‘schen, schon einer stalin‘schen Strategie der friedlichen Koexistenz, die die Interessen der Völker des Trikonts außer acht läßt. D.h. die Interessen der eigentlichen Bündnispartner wurden nicht mehr beachtet, mit denen ein revolutionäres rollback hätte geschafft werden können. Das, was man die Notwendigkeit einer permanenten Revolution nennt, Hierfür gibt es eine Mitschuld der real-sozialisti schen Staaten, man kann nicht sagen, die Schuld für diese Situation käme nur von außen. Aus diesem Grund sagen wir, mit der Veränderung muß endlich angefangen werden. Die alten Denkstrukturen müssen aufgegeben und die große Chance muß genutzt werden, daß wir uns zusammensetzen, ausdiskutieren, weiche Fehler wir wirklich gemacht haben und welche Perspektiven wir für uns entwickeln können. Gerade das ist heute wichtig. Derzeit betreibt die Sowjetunion eine Politik, die sowohl lang- als auch kurzfristig gesehen, ziemlich schädlich für sie selbst ist und natürlich auch für die anderen Länder in dieser Region. Andererseits aber dürfen wir uns aufgrund dieser Entwicklungen nicht in irgendeine Resignation treiben lassen, wie das in der BRD sehr stark der Fall ist. Revolutionsimporte mögen noch so gut gemeint sein, sie helfen nicht. Wir wußten schon immer, daß die Revolution nur das Werk unserer eigenen Hände sein kann. Aus diesem Grund kann es für uns nur eine Perspektive geben: unsere revolutionäre Perspektive weiterzuentwickeln und voranzutreiben. In dem Zusammenbruch des reellen Sozialismus sehen wir einen großen Verlust aber auch einen großen Gewinn. Wir haben schon viele wichtige Dinge damit verloren, aber auch viel Schlechtes, und das ist jetzt er daraus lernen und das Positive heraus zu ziehen. Das heißt für mich, anzuerkennen, daß eine falsche Politik gegenüber dem Imperialismus betrieben wurde und damit verbunden auch eine falsche Politik nach innen. Die revolutionäre Perspektive müssen wir jetzt neu aufbauen. Was in der Sowjetunion derzeit passiert, das ist es auf jeden Fall nicht! Wir müssen die großen Chancen, die diese Situation mit sich bringt, nutzen. Wir müssen unsere eigenen Modelle, unsere eigenen Vorstellungen versuchen durchzusetzen und zu realisieren. Wir müssen die große Chance, neue Perspektiven mitentwickeln zu können, nutzen. Wir müssen die neue Perspektive selbst sein, anstatt immer nur andere Perspektiven darzustellen. Und wir müssen aus den Fehlern lernen, um sie nicht noch einmal zu begehen und das anhand unserer eigenen konkreten Bedingungen. Das sind die wichtigsten Lehren die wir aus dieser Entwicklung ziehen. Und das wir mit dieser Haltung richtig liegen, das zeigen die aktuellen Entwicklungen in Nordwest-Kurdistan jetzt. zuerst veröffentlicht von ISKU (Informationsstelle Kurdistan, nadir.org/nadir/initiativ/isku) 55 ͧͧ Interview mit Riza Altun 1. YXK-Reader | 2015 Ein Interview mit Riza Altun, dem Leitungsmitglied der PJAK, im September 2012 (Teil I - II) Teil I - Demokratischer Konföderalismus in Europa Das KCK-System beschränkt sich nicht nur auf Kurdistan, sondern kann auch ein Wegbereiter für eine türkische Revolution, für eine arabische Revolution, für eine kaukasische Revolution sein. Die Mitschrift und das Interview sind durchgängig in einer geschlechtersensiblen Schreibweise formuliert, die der geschlechtsunspezifischen Form im Türkischen entspricht. Welche Analysen sind grundlegend, um eine zielführende, politische Organisierung in Europa – und Deutschland im Speziellen – zu entwickeln? Riza Altun ist Leitungsmitglied der PJAK (Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê, Partei für ein freies Leben Kurdistan). Die PJAK ist die politische Vertretung der kurdischen Freiheitsbewegung in Ostkurdistan/Iran, zu der auch die bewaffneten Volksverteidigungskräfte HRK (Hezin Rojhilatê Kurdistan, Kräfte des Ostens Kurdistans), die Frauenorganisierung YJRK (Yekitiya Jinên Rojhilatê Kurdistan, Vereinigung der Frauen Ostkurdistans) und die Jugendbewegung KCR (Komalên Ciwanên Rojhilatê, Jugendverbände Ostkurdistans) gehören. Riza Altun ist Gründungsmitglied der PKK (Partiya Karkerên Kurdistan, Arbeiter_innenpartei Kurdistans) und war jahrelang für die kurdische Freiheitsbewegung in Europa aktiv, davon zwei Jahre lang in Paris. Das Gespräch wurde in den Qandil-Bergen Kurdistans im September 2012 geführt. Es handelt sich beim ersten Teil des vorliegenden Textes um im Nachhinein ausformulierte Gesprächsnotizen. Somit sind die Formulierungen nicht als Originalaussagen von Riza Altun zitierfähig. Der zweite Teil ist die Übersetzung aus dem Türkischen der Transkription des Originalinterviews. Zunächst ist es notwendig, sich der herausragenden Rolle Deutschlands bewusst zu werden. Zu verstehen, welche politische Kultur dort vorherrscht und woher sie ihre Ursprünge hat. Deutschland ist als eines der letzten europäischen Länder zum Nationalstaat geworden und es gibt dort eine sehr dynamische, ständige Weiterentwicklung des Geistes des Kapitalismus. Mit Hegels ideologischer Legitimation für den Nationalstaat und Kants Argumentation für Rechtsstaatlichkeit sind im deutschsprachigen Gebiet grundlegende Beiträge für die Ideologie des Kapitalismus verwurzelt. Was der politischen Kultur dort zu Grunde liegt, ist die Überzeugung vom Staat als Souverän, der durch den Rechtsstaat legitimiert ist. Das folgt einem ideologischen Muster, in dem der Staat als Gott funktioniert, dessen Prophet das Recht ist. Die Rolle Deutschlands im Kapitalismus ist seit Bismarck beständig wichtiger geworden und führte zu zwei Weltkriegen und zum Faschismus. Der historische Werdungsprozess ist sehr wichtig, um die Ideologie hinter der Politik Deutschlands zu verstehen. Dort ist es am wenigsten möglich, als freie Menschen zu leben. Was wir bezüglich der kurdischen Freiheitsbewe- 56 ͧͧ Interview mit Riza Altun 1. YXK-Reader | 2015 gung beobachten ist, dass seit Abdullah Öcalans Verhaftung Deutschland Vorreiter der Kriminalisierung der Bewegung ist. grundsätzlich überwunden werden. Im neuen Paradigma organisieren sich alle selbst. Jede Schicht der Gesellschaft bildet ein selbstorganisiertes Welche neuen Entwicklungen sind in der politi- politisches Organ, das sich nach seiner selbstbestimmten ideologischen, politischen, kulturellen, schen Kultur zu beobachten? wirtschaftlichen Zugehörigkeit selbst verwaltet. Das Ende des Realsozialismus hat die Wege für Es gibt viele Zentren, die Unterschiedlichkeiten ein radikales Neudenken geebnet. Es gibt Strö- organisieren sich dezentral. Kein politischer Ormungen, die ein Neudenken vorantreiben und ganisierungsprozess sollte sich demnach auf die die eurozentrische Sicht reflektieren, wie anar- Zentren konzentrieren. So sollte eine politische chistische Ansätze, Postmodernismus (Dekon- Kraft, die das neue Paradigma vorantreiben will, struktivismus) und Postkolonialismus. Diese sich als Initiatorin einer breiten SelbstorganisieStrömungen müssen zusammen gedacht wer- rung der gesellschaftlichen Gruppen sehen. Zum den, sodass eine produktive Synthese entstehen Beispiel sollte sich eine Studierendenorganisatikann. Es ist sehr wichtig zu reflektieren, dass die on als Initiatorin der breiten Selbstorganisierung bestehenden politischen Bewegungen in Wohl- der Studierenden verstehen. Dabei geht es dastandsgesellschaften geboren sind und vieles rum, sie zur autonomen Selbstorganisierung zu überwinden müssen. leiten und keinesfalls an sich selbst zu binden. Jede_r politische Aktivist_in muss die aktuellen Das ist das konföderale Paradigma. Und durch soziopolitischen Zustände analysieren, ihre his- meine Erfahrung der letzten Jahre bei der torische Einordnung verstehen und die eigene Umsetzung dieser Form von gesellschaftlicher politische Praxis dementsprechend überden- Selbstverwaltung frage ich mich heute nur noch: ken. Bei Betrachtung der politischen Kultur in Wie soll das denn sonst funktionieren? Dabei ist Deutschland wird deutlich, dass die bestehenden es bei der anleitenden Funktion durch eine InitiRahmen keine Motivation, keine Anreize bieten, atorin wichtig zu beachten, dass die Selbstorgaum sich zu engagieren. Die Festgefahrenheit der nisierung anderer nicht vorgeplant werden kann, politischen Organisierung bietet nicht den Reiz die Selbstorganisierung und Selbststrukturierung zur eigenen Initiative. Und was besonders für muss von vornherein nach den Bedürfnissen der die Organisierung der Jugend zu betonen ist: Wo Mitglieder der gesellschaftlichen Gruppe geformt bieten die bestehenden Rahmen eine alternative werden. Grundlegend für ein demokratisches Lebensperspektive? Hier setzt die Bewusstwer- konföderales Verständnis ist, dass Unterschiede dung der eigenen gesellschaftlichen Rolle ein. als gesellschaftliche Realität anerkannt werden. Die eigene gesellschaftliche Rolle bei der Ent- Vereinheitlichend zu organisieren widerspricht wicklung einer persönlichen Zukunftsperspekti- der Dynamik der Gesellschaft und besonders der ve wird erkannt und anerkannt. Eine politische Impulsivität der Jugend. Hier muss ein UmdenJugend kann in dieser Gesellschaft nicht nur auf ken stattfinden, das abgrenzende Betonen der äußere Einflüsse und Angriffe reagieren, sondern Unterschiede gesellschaftlicher Gruppen muss sie muss ihre eigenen Ziele und ihre eigene Im- überwunden werden, um stattdessen eine kolpulsivität entwickeln. Diese sollten nicht unver- lektivierende Strukturierung nach Gemeinsambindlich und wechselhaft umgesetzt werden, keiten zu entwickeln. Eine gemeinsame Philososondern in einer neuen Zielstrebigkeit. phie organisiert gesellschaftliche Unterschiede, Wie ist die politische Kultur in Europa und dementsprechend kann ein Dach gebildet werDeutschland bezüglich des neuen Paradigmas den, unter dem sich die Unterschiede organisieren: Die Austauschplattform gesellschaftlicher zu betrachten? Gruppen, in der Gemeinsamkeiten produktiv geDie politische Organisierung nach dem neuen nutzt werden können. Gesellschaftliche DynamiParadigma ist auf jede Gesellschaft übertragbar. ken werden durch enge Rahmen eingeschränkt, So lassen sich die Prinzipien des Demokratischen jede_r muss sich selbst unter dem Dach wiederKonföderalismus auch für Europa denken. Die pofinden, diese Struktur darf niemals aufgedrückt litische Tradition einer Partei, die alle eint, muss 57 ͧͧ Interview mit Riza Altun 1. YXK-Reader | 2015 sein. Grundlage demokratischer Politik ist es, wirklich selbst wählen zu können und für die Wahlen anderer Verständnis zu entwickeln und sie verstehen zu lernen. Bei der gesellschaftlichen Organisierung ist es wichtig, eine moderne Mentalität zu entwickeln, die der Zeit entsprechende Vernetzungen anstrebt, wobei ich auch explizit auf das Internet verweisen will. Ich möchte noch auf die Grundlage der autonomen Initiative für eine demokratisch konföderale Organisierung eingehen. Wir sollten freiheitlich und undogmatisch denken, autonome Initiative entwickeln. Niemenschem sollte die Identität einer Gruppe aufge- drückt werden, wie es die Ideologie des Nationlalstaats und sein assimilierender Charakter vorsieht. Persönlichkeiten gliedern sich nicht in eine Partei ein, sondern sie bilden sie. Eine gemeinsame Weltanschauung, ein gemeinsames Wertegerüst und Ziele binden Persönlichkeiten. Dabei möchte ich die Wichtigkeit der Selbst_bildung betonen. Die Entwicklung von Eigeninitiative ist nötig. Ein_e Sympathisant_in ohne Eigeninitiative ist nur Aufgabenerfüller_in der Bewegung. Es sollen revolutionäre Persönlichkeiten aus der Selbstorganisierung heraus entstehen. Wichtig ist es, persönliche Impulse zu setzen. Eine intensive Selbst_bildung muss stattfinden, um ein Selbstbewusstsein im Denken und Handeln zu entwickeln. Eine Selbstorganisierung lebt von _den Einzelnen, die selbst-bewusst initiativ sind und Verantwortung mutig übernehmen. Nur so kann eine Organisierung gesund und organisch wachsen und eine eigene Produktivität entwickeln. Niemensch sollte einer bestehenden Bewegung „beitreten“, um den Herausforderungen der Selbstorganisierung zu entgehen, denn die Bewegung sollte für jede_n einzelne_n Ansporn zur Selbstorganisierung sein. Eine revolutionäre Persönlichkeit sollte selbstbewusst grenzüberschreitend handeln. Jede_ sollte _ihr demokratisches Bewusstsein analysieren und im eigenen Leben weiterentwickeln. Antipathie entsteht, wenn Theorie und Praxis auseinandergleiten. Daher muss die Analyse ehrlich und schonungslos sein und die Praxis selbstkritisch weiterentwickelt werden. Das Außenbild und die Außenwirkung wie Name, Flagge und „Programm“ können nicht für sich sprechen: sie müssen immer wieder aktiv mit Inhalt gefüllt werden. Es kommt auf die Selbst_bildung der Persönlichkeiten einer Bewegung an. Entscheidend ist ein politisches Selbstbewusstsein, ohne Selbstbewusstsein ist ein politisches Bewusstsein abstrakt und konsequenzlos, da die eigene Rolle nicht erkannt wird. Das ist der Unterschied zwischen einer potentiell revolutionären politischen Persönlichkeit und einer vermeintlich politischen Identität. Die Dynamik der Jugend widerspricht der klassischen Parteiorganisierung, mit diesen Rahmen und Denkmustern müssen wir brechen. Entscheidend ist das intellektuelle Potential einer suchenden Jugend bei der Entwicklung einer demokratischen Moderne. Wir müssen die Potentiale einer Gesellschaft genau analysieren. Die Jugend ist auf der Suche und auf vielfältige Weise rebellisch gegenüber dem Bestehenden und seinen Zukunftsperspektiven. Intellektuelle hinterfragen das Bestehende und erforschen seine Systematik. Intellektuell und militant, das sind die Potentiale, mit denen eine neue Gesellschaft erkämpft werden kann, wie es auch seit den Anfängen in der PKK der Fall ist. Maßgeblich für die Entwicklung eines Selbstbewusstseins der Jugend ist ein Bewusstwerden der Geschichte der Jugend. Mit der Geschichte der Jugend erkennen wir das Potential der Dynamik der Jugend, wie es z.B. 1929, 1968 sowie heute unter anderem in UK, Chile, Griechenland und den nordafrikanischen Ländern der Fall ist. 58 ͧͧ Interview mit Riza Altun 1. YXK-Reader | 2015 Teil II - Demokratischer Konföderalismus im Mittleren Osten Wie ist die PJAK organisiert? Was ist ihre Aufgabe? Es gibt in allen vier Teilen Kurdistans Organisationen, die für die Befreiung Kurdistans kämpfen. Die PJAK (Partiya Jihana Azad ya Kurdistanê, Partei für ein freies Leben in Kurdistan; Anm. d. Red.) ist verantwortlich für die kurdische Revolution in Ostkurdistan, also dem Iran. Diese Organisation steht in der Tradition der PKK (Partiya Karkerên Kurdistan, Arbeiterpartei Kurdistans; Anm. d. Red.), sie wurde durch den Einfluss der PKK Anfang des Jahrtausends überhaupt erst gegründet, sie ist aber nicht identisch mit der PKK. Denn während diese sich eher auf Nordkurdistan konzentriert, ist das Organisationsgebiet der PJAK der Osten Kurdistans. Sie kommen aus der gleichen Tradition. Sie haben zwar unterschiedliche Richtungen, die der PJAK zugrundeliegende Weltanschauung ist jedoch ebenfalls das Paradigma von Abdullah Öcalan. Sie wendet dieses Paradigma auf die Bedingungen Ostkurdistans an. Sie organisiert sich dort zum einen als Guerilla, aber auch als politische Partei. Es gibt eine an sie angegliederte Frauenbewegung, eine Jugendbewegung, eine Kulturbewegung, eigene Presse- und Informationsstrukturen, also alle notwendigen Teile einer politischen Partei. Über all diesem steht ein Hauptquartier, das die Arbeit koordiniert. Die beiden wichtigsten Positionen nehmen die Frauen- und die Jugendstrukturen der Partei ein, die auch nicht vom Organisationszentrum geleitet werden – sie sind unabhängiger als andere Teile der Partei. Sie organisieren und leiten sich selbst. Abgesehen von den genannten Bereichen, gibt es noch den militärischen Arm, die Guerilla. Ein Teil dieser Kräfte ist außerhalb der Grenzen des Irans und ein Teil ist innerhalb der Grenzen des Irans auf dem dortigen kurdischen Gebiet verteilt. Diese Kräfte kämpfen im Kriegsfall, im Falle eines Waffenstillstands verteidigen sie sich nur selber und verteidigen ihre Positionen. Die PJAK ist somit nicht nur eine politische Partei, sondern gleichzeitig eine Organisation, die einen bewaffneten Kampf führt. Dies ist der Aufbau der PJAK und gleichzeitig sind die gesamten Strukturen Teil des KCK-Systems (Koma Ciwakên Kurdistan, die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans ist die Dachorganisation aller Kräfte, die sich auf den Demokratischen Konföderalismus berufen; Anm.d.Red.). Eine Besonderheit des KCK-Systems ist es, dass es keine Partei ist, sondern eine Bewegung der Vielfalt, deren Gemeinsamkeiten die Akzeptanz des von Abdullah Öcalan entworfenen Paradigmas sind. Das KCK-System ist nicht auf das Parteiensystem begrenzt und versucht die Revolution nicht ständig mit dem gleichen Prinzip umzusetzen, sondern sie will das System des neuen Paradigmas umsetzen, das eine internationale Ausrichtung hat. Das Paradigma beschränkt sich nicht nur auf den Mittleren Osten, sondern hat einen internationalen Anspruch. In den vier Teilen Kurdistans hat sich das System organisiert. In der Türkei als PKK, in Syrien als PYD (Partiya Yekitiya Demokrat, Partei der demokratischen Einheit; Anm. d. Red.), in Südkurdistan als PÇDK (Partiya Çariseriya Demokratik a Kurdistanê; Anm. d. Red.) und in Ostkurdistan als PJAK. Das KCK-System besteht aus diesen unterschiedlichen Organisationen. Den Frauen- und Jugendstrukturen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Das KCK-System beschränkt sich nicht nur auf Kurdistan, sondern kann auch ein Wegbereiter für eine türkische Revolution, für eine arabische Revolution, für eine kaukasische Revolution sein. Der internationalistische Charakter der KCK ermöglicht es, dass sich all diese Kämpfe im KCK-System wiederfinden können. Das System ist für jede_n offen, _der die Grundsätze des Paradigmas akzeptiert. Es ist kein zentralistisches System. Natürlich gibt es eine Leitung der KCK, aber eben keine zentralistische. Diese Überwindung des Zentralismus ermöglicht es, an jedem Ort eine eigene Revolution unter freien Bedingungen zu erreichen. 59 ͧͧ Interview mit Riza Altun 1. YXK-Reader | 2015 Die PJAK gehört zu diesem System. Sie kämpft politisch und militärisch, je nach den Bedingungen. In welchem Kontext kämpft die PJAK? Wie bewertest du die aktuelle Lage im Mittleren Osten? Die jetzigen Bedingungen müssen zusammen mit den derzeitigen Zuständen im Mittleren Osten analysiert werden. Es ist eine Frage der Strategie und Taktik. Mensch kann keine Politik machen, ohne den Zustand der Region und der Welt und dessen Auswirkungen auf das KCK-System zu beachten. Und während die PJAK zum einen den Kampf gegen den Iran führt, ist sie weiterhin sensibel für die Entwicklungen im gesamten Mittleren Osten und innerhalb der KCK. Um die heutige Politik der PJAK verstehen zu können, muss mensch die aktuelle Situation im Mittleren Osten beachten, das ist sehr wichtig. Zuerst muss mensch einige Feststellungen treffen. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ist klar geworden, dass die kapitalistische Moderne sich nicht mehr auf die alte Art und Weise am Laufen halten konnte. Es kann sogar gesagt werden, dass der Realsozialismus der kapitalistischen Moderne ständig Lebensenergie gegeben hat und mit dem Zusammenbruch desselbigen, die nackte Form des Kapitalismus in all seiner Realität zutage getreten ist. Und deshalb war sich das kapitalistische System bewusst, dass es nicht mehr so weiter machen konnte wie zuvor. Das System war vor die Wahl gestellt: Entweder es erneuert sich selbst oder es würde im Chaos aufgelöst werden. Um die Auflösung zu verhindern, ist das System dazu übergegangen, eine neue Weltordnung zu schaffen, eine eigene Modernisierung des kapitalistischen Systems. Wir bezeichnen dies als neue Weltordnung, nämlich dass sich der Kapitalismus von neuem organisiert. Wer die Geschichte des Kapitalismus kennt, weiß, dass er sich zu Beginn seiner Entstehung, also sozusagen während der ersten Etappe, eine Zeit lang über den Merkantilismus definiert hat, in einer Zeit, in der der internationale Handel und der Austausch von Kapital stark zugenommen haben. Die zweite Etappe war geprägt von der Industrialisierung. Also, dass die Kapitalakkumu- lation sich auf die Industrialisierung konzentriert hat. Die dritte Etappe ist in ihrem Schwerpunkt eine Finanzetappe. Die kapitalistische Moderne hält sich durch diese ständige Erneuerung selbst am Leben. Jede einzelne dieser drei Etappen hat eine spezielle gesellschaftliche und politische Formierung mit sich gebracht. Und diese Formierungen sind derzeit allesamt überlebt. Die Epoche des Finanzkapitalismus ist massiv ins Stocken geraten, sie befindet sich in einer Krise. Diese Krise ist so stark, dass sie den Einsturz und die Fäulnis der Gesellschaft des Kapitalismus zur Folge haben kann. Und deswegen gibt sich der Kapitalismus gerade große Mühe aus dieser Krise herauszukommen. Er versucht neue Modelle zu entwickeln, um die Krise zu überwinden. Er versucht sich selbst zu erneuern. Dies wird durch die Schaffung einer neuen Weltordnung deutlich. Die Europäische Union ist eines dieser Modelle. Dieses stellt den Versuch des Kapitalismus dar, sich zu erneuern, indem mensch den Nationalstaat schwächt, Grenzen abbaut, Zölle aufhebt und mehr soziale Teilhabe anbietet. Dies stellt einen Versuch des kapitalistischen Systems dar, die Krisen und das alte System zu überwinden. Wenn ich sage, das alte System überwinden, dann meine ich damit nicht den Kapitalismus zu überwinden, sondern die Fäulnis des Kapitalismus aus sich selbst heraus zu überwinden. Allerdings spielt dieses Modell momentan keine aktive Rolle mehr auf der Weltebene, es ist ein langfristig ausgelegtes Modell. Das aktivere Modell ist die von den USA bevorzugte und von der EU unterstützte Errichtung einer neuen Weltordnung. Das Grundelement dieser neuen Weltordnung besteht in der Aufhebung der Grenzen und Hindernisse der internationalen Finanzmonopole, sowie die politischen Systeme noch weiter in den Dienst der Finanzmonopole zu stellen. Aufgrund dessen wird eine bestimmte Politik gegenüber dem Mittleren Osten praktiziert. Diese Politik hat mit der Intervention gegen den Irak begonnen. Wir müssen uns dieser bestehenden Realität der Intervention in den Mittleren Osten, in den Irak bewusst sein. Seit dieser Zeit gab es verschiedene Schritte. Einer bestand in der militärischen Besatzung des Iraks und als realisiert wurde, dass dies nicht erfolgreich sein würde, wurde diese Politik geändert. Die Ziele allerdings 60 ͧͧ Interview mit Riza Altun 1. YXK-Reader | 2015 sind gleich geblieben. Die eigenen militärischen Kräfte wurden abgezogen und es wurde dazu übergegangen die regionalen Kräfte im Mittleren Osten gegeneinander aufzuhetzen und dadurch zu einem Ergebnis zu kommen. Heute besteht die grundsätzliche Politik der USA in der Erschaffung der neuen Weltordnung darin, die regionalen Mächte gegeneinander aufzuhetzen, damit zu schwächen und so die eigene Macht aufrecht erhalten zu können. Betrachtet mensch das letzte Jahr, gibt es eine Entwicklung, die von allen als „Arabischer Frühling“ bezeichnet wird. Also während es auf der einen Seite die militärischen Interventionen der USA gibt, gibt es auf der anderen Seite Aufstände der Völker der arabischen Länder. Wir bezeichnen es zwar als „Arabischen Frühling“, als Aufstand der Völker, aber dies müssen wir tiefer analysieren. Welchen Anteil haben die Völker wirklich bei den begonnenen Revolutionen? Wie viel davon ist durch internationalen Komplott und Aufmischung geschehen? Das ist es, was wir betrachten müssen. Wenn mensch sich die Realität des Mittleren Ostens anschaut, bestehen zwischen diesen beiden Polen interessante Schnittpunkte. Zum einen der Einfluss der im Rahmen der Interventionen seitens der internationalen Monopole entwickelten Propaganda; zum anderen die Unzufriedenheit der Völker und deren darauf folgende Reaktionen aufgrund der bestehenden Regime. Während die kapitalistische Moderne die Ablehnung der Regime durch die Völker anheizt und ausnutzt, verhindert sie zugleich, dass diese sich selbst organisieren und der Kapitalismus seine neue Weltordnung durchsetzen kann. Wenn mensch sich Tunesien anschaut, gab es auf der einen Seite internationale Einmischung und auf der anderen Seite den Aufstand des Volkes. Die Gemeinsamkeit bestand darin, dass sich das dortige Regime nicht mehr am Leben halten können sollte. Doch die Frage, was an seiner Stelle folgt, muss diskutiert werden. Das Regime, das die USA aufbauen wollen, ist ein Regime, das den Menschen einige soziale und politische Rechte zugesteht, eine Art lockereres Staatsmodell, dass aber nichts anderes darstellt, als die Fortsetzung des Staates an sich. Die Forderungen des Volkes bestehen allerdings darin, die 40-50 Jahre währenden Diktaturen zu überwinden, politische Freiheit zu gewinnen und gleiche Rechte für alle zu erhalten. Es ist deutlich geworden, dass sich die stärkere Kraft, die von der kapitalistischen Moderne bevorzugte neue Weltordnung, durchgesetzt hat. Den Forderungen des Volkes wird nur sehr begrenzt entgegen gekommen. Es ist nicht das herausgekommen, was die Sehnsüchte des Volkes nach Freiheit sich gewünscht haben. Das ist in Tunesien passiert. Ein altes Regime ist zusammengebrochen und ein neues Regime ist an seine Stelle getreten. Es gab keine grundlegenden Veränderungen. Außer einer etwas sanfteren Art der Regierung, gibt es keinen Unterschied zum Regime davor. In Ägypten ist letztendlich das gleiche passiert. Dort gab es auch verschiedene Interventionen, einmal seitens der USA, sowie seitens der traditionellen religiösen Fundamentalist_en in Gestalt der Muslimbrüder (Diese politischen Interessengruppen versuchen, im Zuge der Neustrukturierung der arabischen Länder, den politischen Islam mit neoliberaler Wirtschaftspolitik zu verbinden; Anm. d. Red.). Dann gab es auch noch die Forderungen des Volkes. Die USA sahen die Notwendigkeit ein, die 40-jährige diktatorisch-faschistische Herrschaft Hosni Mubaraks und das dadurch ausgelöste Chaos durch einen politischen Regimewechsel mit Hilfe des Militärs durch eine „sanftere“ Regierung abzulösen. Die Muslimbrüder haben sich zum einen mit der kapitalistischen neuen Weltordnung verbunden und dafür ihr eigenes Islamverständnis etwas aufgeweicht, um an die Macht zu kommen. Das Volk hingegen will politische Freiheit und ökonomische Gleichheit. Der gemeinsame Schnittpunkt dieser drei Seiten war die Verbündung gegen das alte bestehende Regime und ist unter dem Namen „Arabischer Frühling“ bekannt geworden. Nachdem das Mubarak-Regime gestürzt worden war, wurden die Probleme wieder nicht gelöst. Die Forderungen des Volkes bestehen weiterhin und dafür geht es auf die Straße. Gleichzeitig versuchen die Muslimbrüder, die Macht zu ergreifen. Doch die USA halten weiterhin die Armee in ihrer Hand und kontrollieren damit das Land. Auch hier hat der „Arabische Frühling“ dem Volk keine wirkliche Freiheit gebracht. All die Länder in denen es Aufstände gegeben hat, gleichen sich in ihrem Ergebnis, auch Libyen. Die alten Re- 61 ͧͧ Interview mit Riza Altun 1. YXK-Reader | 2015 gimes, die sich stärker gewehrt haben, wurden mit militärischer Macht gestürzt, diejenigen die sich weniger gewehrt haben, wurden mit politisch- gesellschaftlichen Aktionen gestürzt. In Tunesien und Ägypten ist es durch den Widerstand des Volkes, durch politischen Druck und Embargos gelungen. Aber da der Widerstand des Regimes in Libyen stark war und die Opposition und das Volk dieses nicht aus eigener Kraft stürzen konnten, haben sich internationale Kräfte, vor allem Frankreich, eingemischt und das Regime von oben bombardiert und von unten die Opposition mit Waffen und Geld ausgestattet. Während sich die USA und Frankreich darauf geeinigt haben, die Ressourcen Libyens untereinander aufzuteilen, befindet sich die Opposition in einem Bürgerkrieg darum, wer die Macht erhält. Die Veränderungen in Tunesien, Ägypten und Libyen sind durch die Intervention des kapitalistischen Systems vonstatten gegangen. Die berechtigten Forderungen der Völker wurden nicht erfüllt, auch deshalb, weil diese zu wenig organisiert waren, um die politische Macht erringen zu können. Die jetzigen Ergebnisse stellen keine Lösung dar. Die neuen politischen Regime sind keine Lösung, weder für die Anforderungen des kapitalistischen Systems und seiner neuen Weltordnung, noch für die Forderungen des Volkes nach Freiheit und Gleichheit. Allerdings wurde der alte Status quo im Mittleren Osten gebrochen. Im Jemen, in Bahrain, in Saudi-Arabien, in Kuwait und Dubai gab es ähnliche Versuche der Opposition, die allerdings zu keinem Ergebnis gekommen sind. Die Regime dort sind nicht gefallen, da es nicht im Interesse der internationalen Gemeinschaft war. Kommen wir nun zu Syrien, das eine Schlüsselposition inne hat. Denn wenn die Versuche des Regimewechsels dort erfolgreich sind, hat das Ausstrahlungskraft auf alle vorhin genannten Länder, in denen die Opposition noch nicht erfolgreich war. Die Vorgänge und Ergebnisse in Syrien werden direkten Einfluss auf Palästina, Israel, Libyen und den Iran haben. Diese Länder stellen die Hälfte des Mittleren Ostens dar. Deshalb ist die Syrien-Krise eine sehr tiefgehende. Sie hat die Schlüsselrolle für die zukünftigen Entwicklungen im Mittleren Osten inne. Deshalb sind die Kämpfe in Syrien auch besonders grau- sam. Es kämpfen dort sehr unterschiedliche Kräfte. Zum einen die Kräfte, die die kapitalistische neue Weltordnung im Mittleren Osten durchsetzen wollen und diese vertreten. Dies sind Kräfte, die sich nicht unmittelbar politisch organisieren und ausdrücken. Sie tun das hinter den Kulissen. Wenn mensch sich zum Beispiel fragt, durch wen die US-amerikanischen Interessen dort vertreten werden, kann mensch auf Anhieb keine konkrete Kraft benennen. Aber trotzdem besitzen sie eine versteckte Kraft, die Opposition zusammen mit internationalem Druck in Syrien zu vereinen. Deswegen spielt hier Syrien eine Schlüsselrolle. Wie weit wird das Regime in Syrien, das den Status quo erhalten will, seine Existenz wahren können, wenn die global hegemonialen und regionale Kräfte dessen Sturz wollen? Wie weit werden wir den dritten Weg, den wir gegen Widerstand des Systems, aber mit einer großen Basis in der Bevölkerung eingeschlagen haben, weiter fortführen können und unser Paradigma auf den Mittleren Osten ausweiten? Falls wir keinen Widerstand leisten können, ist die Frage, welchen Platz wir im neuen Regime, das sich bilden wird, einnehmen werden. Welche zukünftigen Entwicklungen ergeben sich deiner Meinung nach aus der Umgestaltung des Mittleren Ostens? Was ist die Rolle des Krieges in Syrien, was bedeutet der Fall des Regimes? Das jetzige Regime in Syrien wird sich langfristig nicht erhalten können, weil von seiner Transformation die Existenz der gesamten kapitalistischen Moderne abhängt. Denn wenn die veraltete Form des Kapitalismus es nicht schafft, sich im Nahen Osten zu erneuern und zu stärken, bedeutet das die Spaltung der Welt. Auf der anderen Seite gibt es in Syrien ein großes Freiheitsstreben der Völker. Dieses Streben ist dort im Vergleich zu anderen Staaten wie Libyen, Ägypten und Tunesien sehr gut organisiert. Diese Organisierung wird die Entwicklungen im Irak, im Iran und in der Türkei beeinflussen und deshalb in Zukunft eine große Rolle bei der Neugestaltung des Mittleren Ostens spielen. Dieser dritte Weg der Völker muss politisch ernst genommen werden. Gegen diese beiden Kräfte, die kapitalistische Moderne und die demokratischen Kräfte, kann das jetzige Regime in Syrien nicht langfristig standhalten. Entweder wird es einen Kompro- 62 ͧͧ Interview mit Riza Altun 1. YXK-Reader | 2015 miss geben und Assad wird die Macht Schritt für Schritt abgeben oder er wird komplett gestürzt werden. Ob das ein oder zwei Jahre dauern wird, können wir heute nicht sagen. Es stellen sich viele Fragen. Wie wird das neue Regime aussehen? Wie werden die internationalen Kräfte in diesem Regime ihre Rolle spielen? Welche Rolle werden der Iran und China im neuen Syrien spielen? Das neue Regime muss auf viele Kräfte eingehen. Auf der einen Seite auf die Überbleibsel des Assad- Regimes, auf der anderen Seite auf den sich neu formierenden dritten Weg und gleichzeitig auch noch auf die internationalen Kräfte, die versuchen wollen, in Syrien ihre Position zu stärken. Was werden die Widersprüche unter diesen sein? All diese Fragen warten auf Antworten. Allgemein können wir sagen, dass die Phase der Umbrüche im Nahen und Mittleren Osten anhält, in Syrien ihren schärfsten Zustand erreicht hat und darüber hinaus sich noch vergrößern wird. Das wird auch den Iran betreffen. Der Sturz Syriens wird den Beginn des Krieges mit dem Iran mit sich bringen. Deswegen will der Iran diesen Sturz mit allen Mitteln verhindern. Falls nicht anders möglich, ist der Iran auch bereit einen regionalen Krieg dafür zu beginnen. Es besteht also die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Graben zwischen der Türkei und dem Iran speziell, den Schiit_innen und den Sunnit_innen im allgemeinen vertieft. Deshalb können wir auch sagen, dass die Umstürze in Ägypten, Tunesien oder Libyen keine strategischen Umbrüche waren. Der große Umbruch wird erst mit dem Sturz des syrischen Regimes kommen. Derzeit befinden wir uns kurz vor diesen Umbrüchen, die zweifellos auch große Kriege mit sich bringen werden. Wie sich diese Kriege entwickeln, hängt von der Politik der einzelnen Akteur_innen ab. All diese Bedingungen muss die PJAK berücksichtigen. Die PJAK hat ihr Paradigma, das universell ist. Wenn sie diesen Anspruch von Universalität erfüllen will, dann muss sie auch die regionalen Entwicklungen in ihrer Politik berücksichtigen. Während die Welt ihr eigenes Schicksal schreibt, muss sich die PJAK darin Platz verschaffen. Gleichzeitig muss sie die Revolution im Iran vorantreiben. Sie darf sich nicht marginalisieren lassen, sondern mit ihrem universellen Paradig- ma den weltweiten Konflikten Antworten geben. Und während sie all das berücksichtigen muss, muss sie sich mit dem KCK-System, dem sie angehört, koordinieren. Das benötigt politischen Scharfsinn. Beispielsweise hat die PYD in Syrien große Errungenschaften erlangt. Das sind sehr strategische Errungenschaften. Wer Syrien nicht richtig analysiert hat, beging auch große Fehler in der gesamten Nahostpolitik. Viele haben auch von einem Frühling der Völker geredet und den Einfluss imperialistischer Mächte übersehen. Das ist eine populistische Herangehensweise und legitimiert den Eingriff imperialer Mächte im Nahen und Mittleren Osten, weil diese mit der Begründung, dass sie die Aufstände unterstützen erst recht in den Prozess einschritten. Dass dem nicht so war, haben wir gesehen, als innerhalb von zehn Tagen die Aufstände niedergeschlagen wurden. Und all die, die von einem Frühling der Völker sprachen, verschwanden von einem Tag auf den anderen. Die Bewertung war nämlich eine falsche. Als es in Syrien zu den Aufständen kam, sprachen alle vom Sturz des Regimes. Niemensch hat allerdings hinterfragt, wer diese Opposition eigentlich ist, wer sie finanziert oder wie ihre Verbindungen zu internationalen Mächte sind. Niemensch hat nachgefragt, wer nach einem Sturz kommen könne. Obwohl die neuen ‚Herr‘scher das internationale Finanzkapital, die Monopole und in ihrer regionalen Version die Muslimbrüder sein werden, hat niemensch nachgebohrt. Den Konflikt schwarz-weiß zu malen und in Assad-Regime und Opposition aufzuteilen ist eine blinde Herangehensweise. Welche Kräfte wirken noch in Syrien? Welche Rolle spielt die PYD? Warum unterstützt sie nicht die Opposition? Wir müssen beide Seiten analysieren. Auf der einen Seite haben wir das seit 40 Jahren diktatorisch herrschende Regime. Es ist ein repressives Regime, das auf die Leugnung der Völker und Religionen aufgebaut ist. Niemensch kann das leugnen. Dieses Regime muss weg. Auf der anderen Seite sind aber die, die dieses Regime stürzen wollen, die Monopole und das internationale Finanzkapital. Wir wollen uns nicht zwischen dem alten Regime und dem Finanzkapital, das eine neue Weltordnung schaffen will, entscheiden. 63 ͧͧ Interview mit Riza Altun 1. YXK-Reader | 2015 Dazwischen gibt es die legitimen Rechte und Forderungen der Völker, die jedoch unorganisiert sind. Diese Forderungen sollen für die Ziele des internationalen Finanzkapitals organisiert und missbraucht werden. Die Muslimbrüder sollen durch die Unterstützung der Türkei und der USA diese Funktion erfüllen. Das Regime soll sich ändern und an ihre Stelle soll eine Herrschaft der Muslimbrüder zusammen mit dem internationalen Finanzkapital kommen. Um die beiden Alternativen, die geboten werden, besser zu kennen, müssen wir sie uns genauer anschauen. Das jetzige Regime verleumdet die Völker. Die Muslimbrüder: haben sie ein Programm, das wir demokratisch nennen können? Nein, das haben sie nicht. Und haben die internationalen Kräfte ein Programm, das die Demokratisierung Syriens vorsieht? Auch das gibt es nicht. Hier sehen wir, dass die Opposition genauso die Realitäten der Gesellschaft leugnet wie das Regime. Eine Seite ist die, die dich seit Jahrzehnten tötet, die andere, die dich nach dem Sturz des Regimes ebenfalls töten wird. Deshalb stellen sich die Kurd_innen nicht auf die eine oder andere Seite, sondern bilden nach ihren eigenen Paradigmen ihre eigene organisatorische, politische und ideologische Haltung in Form eines dritten Weges. Diesen Auftrag hat die PYD innerhalb Syriens. Ihre Position beruht auf der Selbstbestimmung aller Völker. Das heißt auch, dass die PYD nur mit denen zusammenarbeitet, die demokratisch sind, die die Existenz der Völker anerkennen und die ein freiheitliches Leben aufbauen wollen. Als sich die PYD diesbezüglich mit der Opposition in Verbindung gesetzt hat, sah sie, dass diese viel rückständiger ist als das Regime und, dass sie mit der Unterstützung der Türkei im Namen des Islam zu großen Barbareien imstande ist. Ihre ‚Herr‘schaft wäre nichts anderes als ein Scharia-Regime. Ihre gemäßigtere Form wäre eine Synthese mit den internationalen Mächten. Auch diese akzeptieren keine Demokratie. Hier kann es keine gemeinsame Politik der PYD mit der Opposition zum Sturz des Assad-Regimes geben. Ganz im Gegenteil, sie muss dieser Entwicklung entgegenwirken. Und hier bezieht sie deshalb gegen die Opposition ideologisch Stellung, was gleichzeitig auch eine Stel- lung gegen die kapitalistische Moderne ist. Viele verstehen diese Stellung nicht. Sie machen es der KCK zum Vorwurf, dass sie die entstandene Opposition in Syrien nicht unterstützen. Die KCK wolle nicht, dass das Regime gestürzt werde. Sie arbeite mit dem Baath-Regime zusammen. Das ist die Bewertung derer, die sich an der wirklichen Revolution nicht beteiligen, die sich als pseudointellektuell geben und dadurch eigentlich zu_r Sprecher_in der kapitalistischen Moderne werden. Sie haben die Realität in Syrien nicht erkannt, die PYD schon. Die PYD kämpft einerseits gegen das Regime, aber andererseits auch gegen diese Opposition. Einerseits kämpft sie für den Sturz des Regimes, andererseits drängt sie durch ihre eigene politische und diplomatische Organisierung die Opposition im Falle der Machtübernahme zur Demokratisierung. Beide Seiten haben deshalb die PYD nicht anerkannt. Jedoch haben beide Seiten den Einfluss der PYD berücksichtigt und sich bisher nicht gegen sie gestellt. Die PYD hat hier eine kluge Politik betrieben, indem sie sich nicht in militärische Auseinandersetzungen verwickelt und sich auf der Basis der kurdischen Identität organisiert hat. Dadurch hat sie sich als einen Faktor, den es zu berücksichtigen gibt, in Syrien etabliert. Während sich die kämpfenden Seiten schwächen, etabliert die PYD Schritt für Schritt ihr eigenes System. Innerhalb dieses Jahres schaffte es weder die Opposition, die Kurd_innen zu übergehen, noch schaffte es das Regime, sich gegen die Opposition durchzusetzen. Gleichzeitig konnten aber die Kurd_innen das Vakuum füllen, das durch den Kampf des Regimes gegen die Opposition entstand, indem sie ihren Status in Syrien aufbauten. Dadurch ist eine historisch einmalige Situation entstanden. Zum ersten Mal in der Geschichte konnten die Kurd_innen einen so großen Freiheitsgrad erreichen und unser Paradigma so sehr entfalten. Das ist ein großer Erfolg. Dies hielt bisher so an. Das ist kein Endergebnis. Was in Zukunft passieren wird, wissen wir noch nicht. Aber diese Entwicklung wird zur Folge haben, dass, egal wer sich in Zukunft durchsetzen wird, die Kurd_innen unmöglich übergangen werden können. Diese Entwicklung kann zu einem föderalen Syrien führen, in dem sich alle Kräfte auf einen Kompromiss einigen. Sie kann aber 64 ͧͧ Interview mit Riza Altun 1. YXK-Reader | 2015 auch zu einer noch größeren Welle an Massakern führen. Deshalb betreibt die PYD eine Politik, die auf der Basis der Selbstorganisierung und der Selbstverteidigung aufbaut. In einem föderalen Syrien würde sich dann auf kurdischem Gebiet das Paradigma der KCK etablieren. Und wenn ein erneuter Angriff auf Kurd_innen beginnt, dann wären sie auch in der Lage, sich selbst zu verteidigen. wahrscheinlichsten erreichen. So bewertet die KCK Syrien. Die gesamte Kraft wird sich auf diese Strategie aufbauen. Zur Türkei: Auch die Türkei hat mit großen Schmerzen große Umbrüche durch die Entstehung der islamischen Bewegung und dem Wachsen der kurdischen Freiheitsbewegung erlebt. Das, was in den arabischen Staaten gerade geschieht, ist auf eine andere Art zur Überwindung der 80- jährigen ‚Herr‘schaft des Wie könnte ein zukünftiges Syrien aussehen? Kemalismus (Staatsideologie des ersten PräsiIst es realistisch, dass eine Seite eine neue He- denten der Türkei Mustafa Kemal „Atatürk“, die gemonie etablieren kann? Welchen Einfluss hat ein zentralistisches, nationalistisches und laizistisches Herrschaftskonzept vorsieht; Anm. d. Red.) die Türkei? in der Türkei ebenfalls geschehen. Und durch Wenn wir uns die Eigenheiten näher anschauen, diese Umbrüche will auch die Türkei im Nahen dann scheint ein föderales System für Syrien nä- Osten eine größere Rolle spielen. Auch internaher zu liegen, weil in Syrien auf der einen Seite tionale Kräfte geben ihr hierbei eine ähnlich Roldie USA und Europa ihre Finger im Spiel haben le. Deswegen ist die Türkei wichtig. Jede Rolle, und auf der anderen Seite der Iran, Russland die eine_r Akteur_in gegeben wird, muss jedoch und China mitspielen. Die ‚Herr‘schaft einer die- zur richtigen Zeit gespielt werden. Die Türkei ist ser Blöcke alleine könnte nur über einen großen noch nicht so weit, um die Rolle, die ihr gegeben Krieg, einen 3. Weltkrieg etabliert werden. Der wird zu spielen. Weil sie im Nahen Osten aktiv Iran wird niemals auf seine großen Quellen in Politik betreiben will, will mensch weder eine zu Syrien verzichten. China will in der Weltpolitik starke Türkei, noch eine zu schwache Türkei. Desseine Position gegen die USA stärken. Russland halb sind viele widersprüchliche Prozesse in der sieht sich in der Konkurrenz zu den USA und hat Türkei zu beobachten. Einerseits gibt es Prozesse große Investitionen in Syrien, die es nicht ver- der Transformation, die sich an die Umbrüche im lieren will. Investitionen in die Baath-Partei, in Nahen und Mittleren Osten anpassen, vor allem die Wirtschaft und, überaus wichtig, die militä- im Bezug auf die sogenannte Kurd_innenprobrischen Stützpunkte an der Küste zum Mittel- lematik, andererseits gibt es Kräfte, die auf den meer, besonders auch in Tunesien. Der Kampf Status Quo beharren. um Syrien ist eher ein Kampf um mehr Einfluss Wir haben die Situation in Syrien analysiert. als ein Kampf um die ‚Herr‘schaft. Deswegen Jetzt gehen wir auf die Türkei ein. Die Türkei leiwird es notwendig sein, dass diese Kräfte sich det seit Jahrzehnten unter den Schmerzen des auf Kompromisse einigen müssen. Eine Einigung Krieges gegen die Kurd_innen. Genauso wie es könnte dazu führen, dass in Syrien ein gemäßig- auf der ganzen Welt zu Umbrüchen kommt, wird teres Regime an die Macht kommt. Deswegen es auch in der Türkei, aufgrund des Aufdrängens ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Syrien ein der Kurd_innen zu Umbrüchen kommen. Allerzu vier bis fünf Teilen geteiltes föderales System dings sehen wir, dass der türkische Staat sich bekommt. Die Kurd_innen, die Alevit_innen, die weigert diesen Konflikt an den Wurzeln zu löSunnit_innen in Damaskus und Qamislo und die sen. Er macht nur oberflächliche Reformen um Drus_innen im Süden könnten jeweils ein Teil die kurdische Freiheitsbewegung zu zerschlagen. dieses föderalen Systems bilden. Die PYD würde Das führt nicht zur in einem solchen Regime eine sehr fortgeschrit- gewünschten Demokratisierung der Türkei. Dietene Position innehaben. Deshalb hat für das se Herangehensweise sieht auch die KCK und KCK-System Syrien eine strategische Bedeutung. entwickelt deshalb Strategien, um gegen diesen Denn revolutionäre Bewegungen führen ihren Plan vorzugehen und dem Staat die DemokratiKampf nicht überall auf der gleichen Stufe fort, sierung aufzudrängen. Sie hat die Kapazitäten, sondern konzentrieren sich dorthin, wo es die in der Türkei gesellschaftliche und politische meisten Umbrüche gibt und wo sie ihre Ziele am 65 ͧͧ Interview mit Riza Altun 1. YXK-Reader | 2015 Umschwünge herbeizuführen. Das sieht auch der türkische Staat und macht deshalb zwar gewisse Reformen, die aber, wie gesagt, nur das Ziel haben, die kurdische Freiheitsbewegung zu zerschlagen. Hier sehen wir zwei gegenläufige Strategien. Die türkische mit dem Ziel, die kurdische Freiheitsbewegung zu zerschlagen, und die Strategie der KCK mit dem Ziel, der Türkei die Demokratisierung aufzudrängen. Genauso wie die KCK umfassende Analysen zu Syrien gemacht hat, muss sie das auch zu Nordkurdistan/Türkei machen und den zweiten Schwerpunkt ihrer Arbeit hierhin verlagern. Der militärische und politische Kampf muss verstärkt und die Organisierung vorangetrieben werden, um die Strategie des türkischen Staates ins Leere laufen zu lassen und ihn zur Änderung seiner Strategie zu zwingen, damit sie auf Demokratisierung und Lösung der kurdischen Frage hinführt. Wenn die KCK das nicht schafft, dann wird der Kampf um Demokratisierung in der Türkei einen herben Rückschlag erleiden. Jede Demokratisierung in Nordkurdistan wird automatisch alle anderen Teile Kurdistans und somit den gesamten Mittleren Osten beeinflussen. Sie würde den Status der Kurd_innen in Syrien und im Irak bestärken und den Iran zur Lösung des Kurd_innenkonflikts verurteilen. Wenn das in der Türkei aber nicht erreicht wird, ist sogar die Zukunft aller kurdischen Parteien ungewiss. Die Türkei ist deswegen sehr strategisch. Wenn das so ist, muss mensch gleichzeitig mit allen Kräften im Nahen und Mittleren Osten in taktische Beziehungen treten und den Widerstand in der Türkei und in Syrien vergrößern. Das sehen wir auch in der Realität. Derzeit gibt es die größten Kämpfe der Parteigeschichte. Gerade dort, wo der Staat dachte, die Partei zerschlagen und besiegt zu haben, hat mensch gesehen, wie schwach der Staat eigentlich dasteht. Diese Schwäche führt die Türkei zur internationalen Isolation. Während mensch davon spricht, dass die Türkei Hegemoniebestrebungen im Nahen Osten hat, fällt sie gleichzeitig in einen Zustand, in dem sie sich nicht mal selber schützen kann. Die innere Gefahr des Machtverlustes, der droht, sofern dieser Konflikt nicht gelöst wird, ist offensichtlich. Wenn wir also in der Türkei/Nordkurdistan die Demokratisierung herbeiführen können, bedeutet das gleichzeitig die Festigung des KCK-Paradigmas im Mittleren Osten. Während das die Strategie in West- und Nordkurdistan ist, wird natürlich auch die PJAK in Ostkurdistan ihre eigene Strategie haben, die sie aber auf die anderen Teile abstimmt. Das Regime in Syrien und die Kurd_innen dort haben zwar keine Vereinbarung, aber es besteht ein Nicht-Angriffs-Konsens. Das verschafft den Kurd_innen dort Luft zum Aufbau des KCK-Systems. Der Iran weiß auch, dass, wenn die Kurd_innen sich ebenfalls mit Gewalt gegen Assad erheben, sich dann das Regime nicht mehr lange halten wird und der Iran deswegen einen strategischen Verbündeten verlieren würde. Deswegen gibt es auch keine offensiven Kämpfe in Ostkurdistan. Die Strategie der PJAK wird sein, durch Errungenschaften in West- und Nordkurdistan in Ostkurdistan verstärkt Druck auf das iranische Regime auszuüben. Die Aggressionen der Türkei gegen Syrien führen zu Uneinigkeiten zwischen der Türkei und dem Iran. Wenn die PJAK jetzt aggressiv gegen den Iran ankämpft, werden diese Uneinigkeiten geringer und es würde dazu führen, dass beide wieder gemeinsam gegen die PKK, PJAK und die PYD kämpfen. Hier müssen wir statt aktiv in Kampfhandlungen mit dem Iran zu geraten, die Türkei und den Iran sich selbst ihren Uneinigkeiten überlassen. Deshalb hat die PJAK mit dem Iran einen Waffenstillstand ausgehandelt, um ihre Energie vermehrt in die gesellschaftliche Etablierung und Organisierung in Ostkurdistan zu stecken und sich auf einen größeren Krieg in der Zukunft vorzubereiten. Der Waffenstillstand der PJAK mit dem Iran muss deshalb als Taktik interpretiert werden. Aber was wird in den nächsten Jahren passieren? Was passiert, nachdem das Regime in Syrien gestürzt ist, womit wir fest rechnen? Wie werden sich die Konflikte zwischen dem Iran und der Türkei vertiefen? Wenn diese Phasen kommen und sich neue Umstände entwickeln, wird sehr wohl auch die PJAK ihre Taktik überdenken. Einige Kurd_innen verstehen das nicht. Sie betrachten diese Taktik als eine Endphase und nähern sich sehr nationalistisch an die Sachen. Während hier die Rede von der Umgestaltung des gesamten Nahen und Mittleren Ostens ist, beschweren sich besonders Kurd_innen in Ostkurdistan darüber, warum ein Hügel hier und ein Dorf dort „aufgegeben“ wurde. All unsere Guerilla-Einhei- 66 ͧͧ Interview mit Riza Altun 1. YXK-Reader | 2015 ten in Ostkurdistan sind nicht im Kriegszustand, sondern in Verteidigungsposition. Sie betreiben politische Arbeit und organisieren sich, versuchen dies ohne militärische Angriffe zu vertiefen. Ich kann jetzt nicht sagen, wie erfolgreich sie das machen. Für einen größeren Krieg in der Zukunft muss jedoch auch die Gesellschaft einen hohen Bewusstseinsgrad erreicht haben. Dieses Bewusstsein darf nicht auf Nationalismus, sondern muss auf demokratischen Prinzipien beruhen. Die kurdische Identität muss auf einem demokratischen Bewusstsein beruhen. Die politischen Aktivitäten in den Jugendstrukturen, den Frauenstrukturen und allen anderen gesellschaftlichen Strukturen müssen auf die Schaffung dieser demokratischen Identität abzielen. Nur dadurch kann die PJAK in einem größeren Krieg eine starke Position beziehen. zuerst erschienen in der Ronahî 67 ͧͧ YXK-Rede auf jugendpolit. Ratschlag der DKP 1. YXK-Reader | 2015 Rede der YXK auf dem Jugendpolitischen Ratschlag der DKP, 26.01.2013, Hannover ͧͧ YXK «Die Jugend gibt sich nie mit dem Existierenden zufrieden!» Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen, wir, Delegierte des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan – YXK, möchten euch, Teilnehmende am Jugendpolitischen Ratschlag, vor allem als Jugendliche begrüßen. An dieser Stelle möchten wir der DKP danken, dass sie uns als YXK im Besonderen, aber auch als Jugendliche generell diese Möglichkeit bietet, zusammenzukommen, uns auszutauschen, uns kennenzulernen und unsere Anliegen an einer Stelle vorzutragen, an der sie auch Gehör zu finden scheint. Die Angriffe des Systems auf die Gesellschaft sind nicht zuletzt Angriffe auf die Jugend. Unsere Gesellschaft durchlebt eine Zeit des verschärften Angriffs von Seiten des Kapitals und derjenigen, die hinter dem Kapital stehen. Es ist auch eine Zeit des Angriffs auf die Jugend. Gerade jetzt – im Zuge der Krise – entledigt sich das Kapital vieler erkämpfter Klassenkompromisse. Viele dieser sozialen Errungenschaften, die aus Jahrzehnte-, wenn nicht sogar Jahrhundertelangen Kämpfen hervorgegangen sind, werden innerhalb weniger Jahre eingestampft. Diese Angriffe setzen bei der Ausschlachtung der öffentlichen Bildungs- und Sozialsysteme an. Je nachdem, welchen Zahlen mensch folgen möchte, ist etwa jedes fünfte Kind in der BRD arm, jede oder jeder vierte im Alter zwischen 16 und 24 Jahren lebt in materieller Not oder ist davon betroffen. Die Perspektiven dieser – nicht nur materiellen (!) – Armut zu entkommen sehen sehr düster aus. Jugendlichen wird dann die großzügige Möglich- keit eröffnet, Teil des bundesdeutschen Militärs zu werden, wenn sie keinen Ausbildungs-, Studien- oder Arbeitsplatz gefunden haben und von irgendetwas leben müssen. Die fortschreitende Militarisierung der gesamten Gesellschaft betrifft zuallererst die Jugend, welche für die Interessen von Kapital und Herrschaft in den Krieg ziehen soll. Sexistische und rassistische Übergriffe sowie strukturelle sexisitische und rassistische Gewalt treffen zumeist Jugendliche und Kinder, die vielleicht (noch) nicht die Möglichkeit haben, sich zur Wehr zu setzen. Solche Gewalt gehört zum Alltag der Jugend in der BRD einfach dazu, sei es in der sog. Leitkultur, der Familie, im direkten Kontakt mit dem Staat in Form von Schule oder Polizei, im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz oder sonst wo. Richten sich Jugendliche aber entschlossen gegen Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung, hat das System seine wirkungsvollen Mechanismen der Sanktionierung bis hin zur Verurteilung des Widerstandes, wie sie dem Genossen Deniz K. oder kurdischen JugendaktivistInnen in der BRD droht, oder gar seiner physischen Vernichtung, wie sich an der Ermordung unserer Genossin Leyla Şaylemez vor zweieinhalb Wochen in Paris zeigt. Gegen diese aktuellen Angriffe im Zuge der Verschärfung der weltweiten Krise, aber auch gegen das kapitalistische System rassistischer, patriarchaler und gerontokratischer Herrschaft an sich, müssen wir als Jugend in Europa und der BRD gemeinsam Widerstand leisten. In einer Zeit, in der sich das vorherrschende System reorganisiert und wiedererstarkt ist dies keine Option, sondern eine Notwendigkeit. 68 ͧͧ YXK-Rede auf jugendpolit. Ratschlag der DKP 1. YXK-Reader | 2015 Was bedeutet für uns „Jugend“? Wir begreifen „Jugend“ vor allem als eine politische Kategorie. Eine politische Kategorie, an der sich Herrschaft ausrichtet: die „Gerontokratie“, also die „Herrschaft der Alten“. Die Kategorien „Jugend“ und „Alte“ verstehen wir allerdings nicht nur als zählbares Maß an Lebensjahren, das festschreibt, wann mensch jugendlich ist oder nicht, sondern als Kategorien, die sich an der Mentalität der Einzelnen festmachen lassen. So können Menschen mit 15 Jahren schon viel weniger jugendlich sein, als Andere mit 60 Jahren. Die Mentalität der Jugend äußert sich in der Haltung, offen zu sein für neue Entwicklungen. Die Jugend – als politisches Subjekt – gibt sich nie mit dem Existierenden zufrieden. Sie will immer etwas Neues, nämlich etwas besseres. Sie ist noch nicht dermaßen abgestumpft, dass sie gelernt hat, Fehler – vor allem die eigenen Fehler – hinzunehmen, sondern sucht immer nach Antworten auf bestehende Fragen und Probleme. Dabei richtet sich die Jugend immer nach einem ganz menschlichen Verlangen nach Freiheit und Gerechtigkeit. Selbst Kinder, die ihre Gedanken und Gefühle noch nicht artikulieren können, haben sehr wohl ein Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit; vor allem, wenn sie merken, in ihrer Freiheit und in ihrem Recht eingeschränkt zu werden. Dieses Verlangen nach Freiheit und Gerechtigkeit treibt die Jugend auch an, Wahrheiten und Lösungen zu finden. Das macht sie aus, das macht sie stark und das macht sie vor allem gefährlich. Gefährlich ist diese Haltung nämlich für die Herrschaft und ihre Ausbeutung und deshalb wird die Jugend – wie selbstverständlich – in ein System von Zwangseinrichtungen gesteckt, in dem es gilt sie zu erziehen. Die Jugend soll dahingehend erzogen werden, dass sie die Werte und Regeln des Systems derart verinnerlicht, bis sie als eigene Vorstellungen aufgefasst und reproduziert werden. An dieser Stelle lässt sich beweisen, wie „alt“ junge Menschen sein können: jugendliche Konservative? Das ist ein Oxymoron! Indem Jugendliche den Anspruch auf Herrschaft übernehmen, unterwerfen sie sich dem System der Ausbeutung und beuten sich zuallererst selbst aus. Es wäre allerdings ein sehr großer Fehler die Ju- gend losgelöst von der Gesellschaft zu betrachten. Wenn Jugend eine Vorreiterinnen-Rolle in der Linken und der Gesellschaft einnehmen will, muss sie sich zunächst selbst, aber davon ausgehend die gesamte Gesellschaft organisieren und in Bewegung setzen. Es reicht nicht, wenn wir die Alten in bestimmten Punkten kritisieren, denn wir müssen zuerst diese Punkte bei uns ändern, sie als unsere eigenen Probleme begreifen, um dann unsere Forderungen und Lösungsansätze in die allgemeinen Strukturen der Linken und die Gesellschaft zu tragen. Es kann also nicht darum gehen, nur die eigenen Probleme in Angriff zu nehmen, sondern sich der gesamtgesellschaftlichen Probleme als eigene Herausforderungen anzunehmen und somit eine VorreiterInnen-Rolle für die gesamte Gesellschaft einzunehmen. Wenn wir uns als Jugend organisieren, dürfen wir das nicht losgelöst von der Gesellschaft oder der allgemeinen Linken machen. Wir müssen uns in diese Gefüge einordnen und versuchen als treibende Kraft Einfluss zu nehmen und mehr Jugendliche für die fortschrittliche Veränderung der Gesellschaft zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund müssen wir als Jugend ein gemeinsames „Wir“ entwickeln, eine gemeinsame widerständige Identität. Wir verorten uns dann mit unserer widerständigen jugendlichen Identität innerhalb der Linken und als Teil der Gesellschaft. Aus dieser Identität erwachsen unsere Perspektiven und Ansätze für politische Praxen. Unsere radikale Demokratie und Internationale Solidarität gegen ihre liberal-bürgerliche Demokratie und Staat Wir müssen uns als Jugend vor der Vereinnahmung des Staates und der Herrschaft schützen. Für uns als kurdische Freiheitsbewegung ist der Staat mehr, als ein hierarchisches Gerüst zur Verwaltung der Gesellschaft. Für uns bedeutet „Staat“ zuallererst eine Mentalität von Herrschaft, die gesellschaftliche Fragen und Konflikte nicht im Dialog miteinander, sondern durch den Gebrauch von Macht versucht zu lösen. In diese Mentalität versucht das System uns Jugendliche hinein zu erziehen und unsere progressiven und produktiven Eigenschaften für sich 69 ͧͧ YXK-Rede auf jugendpolit. Ratschlag der DKP 1. YXK-Reader | 2015 zu missbrauchen. Dazu wird den Jugendlichen Mitbestimmung und Teilhabe vorgegaukelt. Wir werden mit SchülerInnen-Vertretungen, Studierenden-Parlamenten oder Allgemeinen Studierenden Ausschüssen, den Jugend-Parlamenten und Jugend-Ringen oder Auszubildenden-Vertretungen abgespeist, die im Grunde auch nur das Ziel haben, Jugendliche in das System parlamentarischer Schein-Demokratie hinein zu erziehen. Die Regierung der Herrschenden stellt sich dabei als Retterin der Jugend dar, wenn sie Programme zur Ausbildungsförderung oder das Ziel der Bildungsrepublik ausruft. Ziel bleibt allerdings die Kontrolle und Verwertung der Jugend innerhalb des kapitalistischen Systems. Wir erwarten keine Lösungen vom Staat und den Herrschenden, wir müssen die Lösungen selbst herbeiführen, die Lösungen selbst sein. tive begrüßen wir den Jugendpolitischen Ratschlag erneut und sehen sehr großes Potential in ihm für den Aufbau einer Jugendbewegung in Europa. Vor allem für uns als überwiegend migrantische, nicht-weiße Organisation ist es wichtig den notwendigen internationalistischen Charakter einen erfolgreichen Jugendbewegung herauszustellen. Dieser Internationalismus darf sich allerdings nicht auf reine Solidaritätsarbeit oder den Austausch von Standpunkten durch Besuche anderer Länder beschränken, sondern muss vor allem die Herausbildung einer gemeinsamen, internationalen Perspektive in seinen Fokus rücken. Voraussetzung dafür ist der (selbst-) kritische Umgang mit Eurozentrismus, Orientalismus, Kolonialismus und nicht zuletzt Nationalismus. Auch innerhalb der BRD zeigt sich sehr deutlich Wie bereits dargestellt begreifen wir die libe- wie wichtig der internationalistische Anspruch ral-bürgerliche Demokratie als ein Versuch der an linke Politik sein muss. Die bundesdeutsche Herrschenden ihren politischen Gegner – näm- Integrations- und Migrationspolitik zielt auf die lich uns – zu umarmen, um uns die Bewegungs- Homogenisierung der Gesellschaft ab und setzt freiheit zu nehmen. Vielleicht – wenn wir uns den tiefsitzenden deutschen Nationalismus in daran erinnern, dass selbst diese parlamentari- neuem Gewand fort. Integration bedeutet nach sche Demokratie hart erkämpft werden musste der Definition der Regierenden Assimilation und – können wir dieser westlichen Demokratie noch nicht Anerkennung. Am Besten sind diejenigen das positive Attribut eines Klassenkompromisses integriert, die sich anpassen, nicht diejenigen, abgewinnen. Liberal- bürgerliche Demokratie ist die sich mit ihren Eigenschaften und Fähigkeiten und bleibt jedoch reinster Zynismus, indem prin- in die Gesellschaft einbringen. Genau das gleiche zipiell das Wort „Demokratie“ seiner Bedeutung gilt für die Jugend, die es gilt, in das kapitalistientledigt und vollkommen ausgehöhlt wird. Die sche System hinein zu erziehen, also zu integliberal- bürgerliche Demokratie ist Herrschaftssi- rieren. Dieser Chauvinismus, der sehr tief in der cherung und als solche sollte sie auch benannt Gesellschaft sitzt, öffnet dann Tür und Tor für Powerden. sitionen, die nach rechts-außen offen sind. Unsere Antwort darauf sollte radikale Demokratie sein. Diese radikale Demokratie beginnen Unsere Antwort auf gesellschaftlichen Chauviwir mit dem gleichberechtigten Dialog unter uns nismus muss die Solidarität sein. Solidarität, die selbst, hier und heute – ein nicht zu verachten- sich nicht darauf beschränkt, Wohlwollen für der, wichtiger Schritt. Die kurdische Freiheitsbe- bestimmte Kämpfe auszudrücken, sondern die wegung spricht von Demokratischer Autonomie, durch die Gleichwertigkeit aller Beteiligten eine womit sie meint, dass jede Identität sich im ei- Begegnung auf Augenhöhe möglich macht. „Sogenen politischen und gesellschaftlichen Bereich lidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ verstehen organisiert, um die eigenen Bedürfnisse selbst wir vor allem als das Eingestehen der eigenen zu definieren und Lösungen für die sich daraus Verletzlichkeit und Wichtigkeit eines behutsaergebenden gesellschaftlichen Fragen zu finden. men Umgangs miteinander. Solidarität kann Diese Zusammenhänge treten untereinander in nicht in dem paternalistischen Helfen eines Teils Dialog und Kooperation, um ihre Anliegen ge- des Verhältnisses bestehen, sondern bedarf der meinsam anzugehen. Auch aus dieser Perspek- ehrlichen Offenlegung der eigenen Schwächen 70 ͧͧ YXK-Rede auf jugendpolit. Ratschlag der DKP 1. YXK-Reader | 2015 aller Beteiligten. In diesem Sinne verstehen wir Solidarität nicht nur als Zustand oder punktuelle Haltung, sondern als Prozess, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und gemeinsame Handlungsperspektiven zu eröffnen. Sachzwänge und das Diktat des kapitalistischen Systems, welches uns umgibt und durchdringt, bestimmen nicht nur unseren Alltag, sondern auch unsere politische Arbeit. Wir passen uns der politischen Realität an, indem wir uns an das System anlehnen, nicht indem wir radikale Alternativen hervorbringen. Dabei wollen und können wir uns als YXK alles andere als ausnehmen, sondern wollen bekräftigen, dass wir in diesem Punkt gemeinsame Lösung entwickeln und uns gemeinsam Mut machen müssen, diese Lösungen umzusetzen. Nur gemeinsam können wir dieser scheinbaren Allgegenwärtigkeit des Kapitalismus entkommen, nur zusammen werden wir den Kampf gegen die Windmühlen gewinnen können. Aus der Auseinandersetzung mit den vorangegangenen Überlegungen heraus haben wir vier Punkte herausgearbeitet, die wir für gemeinsame Perspektiven auf eine zukünftige Jugendbewegung in der BRD wichtig halten: 1. Organisierung Sich zu organisieren bedeutet nicht nur, sich als Individuen strukturell zusammenzuschließen, sondern vor allem auch, seine eigene Kraft aus sich selbst hervorzubringen. Zentral, aber nicht ausschließlich sind dabei 1. das Gewinnen neuer Mitglieder, neuer Menschen, die ein Bewusstsein entwickeln, dass dieses vorherrschende kapitalistische System überwunden werden muss und es an uns selbst liegt, dies zu tun, 2. der Aufbau einer eigenen Infrastruktur wie etwa die Vernetzung untereinander, der Ausbau bestehender und der Aufbau neuer Jugendorganisationen und -zusammenhänge oder die selbstständige Finanzierung und Sicherung der materiellen Grundlage unserer Arbeit, 3. eine eigene Bildungsarbeit, die uns hilft, unser politisches Bewusstsein als Jugendliche herauszubilden, zu verbreiten und zu festigen, und 4. eigene politische Perspektiven, die sowohl Grundlage als auch Resultat der drei vorangegangenen Aspekte von eigenständiger Organsierung als Jugend sind. Nur so können wir als Jugend eine tatsächliche Unabhängigkeit behaupten und darüber hinaus einen tatsächlich eigenständigen Beitrag zu gesellschaftlichen Veränderungen leisten. 2. Selbstverteidigung Die Vorstellung von körperlicher Selbstverteidigung – etwa linker Kampfsportgruppen – greift hier viel zu kurz. In unserem Verständnis ist eine selbstständige Organisierung der Jugend nicht ohne eine funktionierende Selbstverteidigung möglich. Selbstverteidigung bedeutet für uns, die Möglichkeit sich gegen Angriffe, vor allem ideologische Angriffe der Gerontokratie und der herrschenden Ideologien zur Wehr zu setzen. Die eigene Selbstverteidigung beginnt also mit der Herausbildung eines politischen Bewusstseins und dem Werden eines politischen Subjektes. Sie ist notwendig, um im ideologischen Kampf bestehen zu können. Natürlich resultiert dies auch in konkreten Handlungen wie der Durchsetzung und Verteidigung von Demos, Freiräumen, eignen Alternativen zum Bestehenden, Projekten und Perspektiven. Sowohl die Gesellschaft als auch die Jugend müssen sich gegen Angriffe des Alten und der Herrschenden verteidigen können, damit die zaghaften Schritte, welche wir in die richtige Richtung unternehmen, nicht gleich wieder zurückgeschlagen oder vereinnahmt werden können. 3. Ideologie Als Ideologie begreifen wir nicht die Dogmatik, die wir unseren Klassikern und VordenkerInnen entnehmen und die wir unhinterfragt reproduzieren. Uns wurde das Ende der Geschichte und zugleich das Ende der Ideologien angedreht, nachdem die realsozialistischen Versuche größtenteils scheiterten oder vernichtet wurden. Dass dem nicht so ist und Ideologie nach wie vor hochaktuell ist, ist in unseren Augen eine Tatsache. Alle unsere Entscheidungen, bewusst oder unbewusst, richten sich nach ideologischen Gesichtspunkten. Ideologie entwickelt sich aus unserer Sozialisation, unserer politischen Bildung und nicht zuletzt aus unserer politischen Praxis; dabei darf weder die Ideologie, noch die Praxis 71 ͧͧ YXK-Rede auf jugendpolit. Ratschlag der DKP 1. YXK-Reader | 2015 Überhand gewinnen, sondern beide müssen ein Dialektisches Verhältnis der Selbstreflexion und des Ausprobierens eingehen. Unserer Ideologie müssen wir uns bewusst sein und sie aktiv gestalten: dynamisch, offen, selbstkritisch in einem ständigen kollektiven Prozess. Die kurdische Frauenbewegung nennt dies „organisiertes Bewusstsein“. Diese Klarheit im eigenen Denken muss die Grundlage für die Bestimmung und Ausrichtung der eigenen Kämpfe sein. sen lassen können. Dazu würden wir gerne drei praktische Schritte zur Diskussion stellen. Der Jugendpolitische Ratschlag möge beschließen: 4. Eigenes Bewusstsein 2. Gemeinsame und einzelne Treffen der verschiedenen beteiligten Organisationen auf regionaler und vor allem lokaler Ebene, um sich intensiv kennen zu lernen und gemeinsame politische Praxen zu entwickeln. Hierbei können die heutigen Diskussionen als Grundlage genommen werden, um sich lokal konkret auftretenden Fragen und Kämpfen zu widmen und diese gemeinsam aufzugreifen. Zuletzt genannt, aber Voraussetzung für eine eigenständige Organisierung, effektive Selbstverteidigung und eine selbstkritische Ideologie ist ein eigenes Bewusstsein. Wir müssen ein Bewusstsein als politische Subjekte, auch als politisches Kollektiv der Jugend entwickeln, indem wir uns die Geschichte fortschrittlicher Kämpfe der Jugend aneignen. Auf diese Geschichte aufbauend gilt es die Kultur der Jugend fortzuführen. Jugendkultur ist keine Subkultur oder Szene; Jugendkultur ist widerständig, produktiv und kreativ. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie vereinnahmt und vermarktet wird. Sie ist eine wichtige Trägerin unserer Kämpfe und Vorstellungen, die wir nutzen und entwickeln müssen. Sie ist eine wichtige Garantin, uns vor dem alltäglichen Angriff des kapitalistischen Systems auf die Jugend, zu schützen, die jugendliche Haltung und Mentalität aufrecht zu erhalten und auszubilden, um nicht aufzuhören zu fragen warum und wie. Ein Schlüssel zur Aneignung unserer Geschichte und zur Herausbildung unserer Kultur ist Bildung. Selbstverständlich nicht die Bildung, welche der Staat offeriert und die uns eine gute Karriere sichern soll, sondern unsere eigene und selbstbestimmte Bildung mit dem Ziel ein eigenes Bewusstsein zu schaffen und uns letztendlich vom Kapitalismus zu emanzipieren. 1. Die Einrichtung einer gemeinsamen Kommission, die einen weiteren Jugendpolitischen Ratschlag vorbereitet, auf dem die heutigen Diskussionen weitergeführt und vertieft werden können, damit sich alle teilnehmenden Organisationen selbstkritisch hinterfragen und einander annähern können. 3. Gegenseitige Besuche von Veranstaltungen der einzelnen Organisationen, insbesondere die Camps und Bildungsveranstaltungen, um den Austausch fortzuführen, aber auch der Demos, Vorträge u.ä. und natürlich auch der Feiern und Feste. In dem Sinne einer solidarischen Jugend möchten wir alle Jugendlichen und Jugendorganisationen einladen, sich an den angestoßenen Diskussionen zu beteiligen und einen politischen Prozess gemeinsam zu gestalten. Mit solidarischen Grüßen, Verband der Studierenden aus Kurdistan – YXK Hannover, 26.01.2013 zuerst erschienen in der Ronahî Um heute möglicherweise einen ersten kleinen Schritt hin zur Organisierung, Selbstverteidigung, Entwicklung einer eigenen Ideologie und Herausarbeitung eines eigenen Bewusstseins einer Jugendbewegung in der BRD zu machen, unterbreiten wir dem Jugendpolitischen Ratschlag den Vorschlag, eine Resolution zu verabschieden, an der wir uns und unsere Arbeiten in Zukunft mes72 Kontaktdaten der YXK Web yxkonline.de Facebook tinyurl.com/yxk-fb Mail [email protected] Twitter @YXKonline Post YXK e.V. c/o ISKU Spaldingstraße 130-136 20097 Hamburg Bankverbindung YXK e.V. 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