31295000822345
Transcription
31295000822345
TOD UND LEBEN DER SOLDATEN IN HEINRICH BÖLLS WERKEN by ROBERT MINER V/EKERLE, H.A. A THESIS IN GERMA.N Submitted to the Gi'aduate Faculty of Texas Tech University in Partial Fulfillment of the Requirements for the Degree of MASTER OF ARTS Approved •T.-l 1 ''Lz:^-,o a.,'..lL ^-''-4i< i-a k, ~rrx^Vr-^j Chairman of the Committee - ^ ^^"^^^4^'^..,/^ VJL i^j^.^v, Accepted ,.-<> Dean of the Graduate School AUGUST, 1970 -7 '>f) WIDMUNG Zu besonderer Dankbarkeit bin ich Frau Doktor Margarete E. Freitas verpflichtet, nicht nur für ihre Vorschläge in Bezug auf diese Arbeit, sondern auch ihr und den Herren Professoren Theodor W. Alexander, Dr. Carl Hammer, Jr., und Dr. Alexander P. Hüll für ihre anregenden Lehrgänge und ihre Freundlichkeit. 11 INHALTSVERZEICHNIS I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. WIDMUNG ii EINLEITUNG 1 ALS DER KRIEG AUSBRACH 6 VOR DEM EINSATZ 15 FÜR GROSSDEUTSCHLAND GEFALLEN 28 RUNENTRÄGER UND PARTEIMITGLIEDER 41 DIE LIEBE ZUR FRAU 48 NACH DEM ZUSAMMENBRUCH 52 ZUSMLMENFASSUNG 63 BIBLIOGRAPHIE 65 111 KAPITEL I EINLEITUNG Die Geschichte des Menschentums wird durch die Kriege der Menschen fast regelmäßig unterbrochen: Kriege, die dem Einzelraenschen sein Leben, seinen Besitz und seine Freiheit gefährdeten; Kriege an denen die Völker der Erde verbluteten; Kriege, in denen Christen sich im Namen Christi niedermetzelten und sich der grauenhaftesten Untaten schuldig machten. Kriege werden von Menschen ausgeführt: Menschen, die den Waffen- rock irgend eines Vaterlandes anziehen, und nach einigen Wochen bereit sein sollen, für dieses Vaterland zu kämpfen und zu sterben. Die mili- tärische Ausbildung des Vaterlandes legt den höchsten Wert darauf, die individuellen Eigenschaften des Einzelmenschen durch den Waffenrock auszulöschen, um die menschlichen Qualitäten durch Vaterlandsliebe und Blutlust nach irgendeinem Feind zu ergänzen. Die Kasernenbullen erkennen keine Unterschiede außer der Farbe der Kragenaufschläge und der Rangabzeichen unter den Menschen in Uniform. Die Berufssoldaten, diese Kaser- nenbullen, sind die Ausbilder in den Heeren der Welt. Sie sind diejeni- gen, die einen normalen Zivilisten in eine identitätslose Maschine verwandeln sollen. Die Berufssoldaten sind diejenigen, die an das Motto "Gott mit uns" glauben, und die dasselbe Motto in den Rekruten einprägen wollen. Aber seit wann nimmt Gott an den Schlachten der Menschen teil? Seit wann wird ein Völkerstamm einem anderen in den Augen Gottes bevor- zugt? Und seit wann verlieren alle Männer ihre unsterbliche Seele und ihren unbiegsamen Geist, sobald sie die Waffenröcke eines Landes anziehen? Der Mensch ist und bleibt ein Individuum, sein Körper kann be- zwungen werden, aber sein Geist bleibt frei. Der letzte Weltkrieg und die vorhergehende Epoche der Geschichte eröffneten ein neues Kapitel der deutschen Literaturgeschichte, das erst nach dem Krieg begonnen werden konnte. Gefühle, die jahrelang aufgestaut waren, wurden nach dem Jahre 1945 gelöst und überschwemmten die Ebenen der Reue und des Schmerzes, die der Krieg hinterlassen hatte. Die Dichter und Schriftsteller der "verlorenen Generation" legten ihre Klagen und Fragen dem deutschen Volk zu Füßen, und das Volk las und besann sich dessen, das so lange geduldet wurde. Manche wollten ver- gessen und konnten es nicht, und manche vergaßen und hätten es nicht tun sollen, denn das Vergessen ist gefährlich. Solange wir vergessen, las- sen wir die Tür für eine zweite Inszenierung des Geschehenen offen. Wenn wir vergessen, kann das Hakenkreuz oder ein ähnliches Symbol die Körper und Geister der Deutschen wieder vergewaltigen. Die Dichter der Nachkriegszeit fanden oft wenig Gelegenheit, ihre Stimmen an die Öffentlichkeit zu bringen. Einer der bedeutendsten Versuche der deutschen Nachkriegsliteratur war die literarische Zeitschrift Der Ruf, veröffentlicht von Hans Werner Richter, die von den 1 amerikanischen Besatzungsbehörden unterdrückt wurde. Im September 1947 lud Richter einige gleichgesinnte Schriftsteller ein, um eine zweite Zeitschrift, Der Skorpion, zu besprechen Elizabeth Welt Trahan, Gruppe 47: Ein Querschnitt (Waltham, Massachusetts: Blaisdell Publishing Company, 1969), S. ix. und um die Beiträge der Versammelten zu diskutieren. sammentreffen am Bannwaldsee entsprang Aus diesem Zu- die Gruppe 47, die sich zu einer der wichtigsten literarischen Bewegungen Deutschlands entwikkelte. Unter der Führung Richters kam die Gruppe 47 jedes Jahr einmal, bis 1955 sogar zweimal, pro Jahr zusammen, um die Werke ihrer Mitglieder sowie die von eingeladenen Dichtern zu besprechen und zu kritisieren. Die Gruppe 47 wurde die höchste Instanz für die Dichter der Nach- kriegszeit, denn ihr Urteil beschloß oft das Schicksal eines jungen Dichters. Im Jahre 1950 verlieh die Gruppe 47 zum ersten Mal ihren literarischen Preis an den Lyriker Günter Eich. Im folgenden Jahr, bei der achten Tagung der Gruppe 47 in Bad Dürkheim, verzichteten die Mitbegründer und alten Freunde der Gruppe aus Eigenem zu lesen, denn sie wollten den neuen, zum Teil unbekannten Dichtern, eine Chance geben, "... und ein Neuer ging denn auch schließlich bei der Abstimmung über die preiswürdigste Arbeit durchs Ziel. dreiunddreißigjährige Erzähler Es war Heinrich Böll, der .... Heinrich Böll kannte den Krieg. Er wurde während des ersten Weltkrieges im Jahre 1917 geboren, während sein Vater als Landsturmmann Brückenwache schob. Seine erste Erinnerung war Hindenburgs heim- kehrende Armee, grau und trostlos marschierte sie an seinem Fenster vorbei. Bölls Vater verfluchte den Krieg und den kaiserlichen Namen. Er zeigte dem jungen Knaben das Kaiserdenkmal, worauf der Kaiser stets 2 Reinhard Lettau, Die Gruppe 47 (Neuwied und Berlin: Luchterhand Verlag GmbH, 1967), S. 60. Hermann 3 westwärts ritt, obwohl er längst abgedankt hatte. Auch Böll gehörte zu den unzähligen, die von der Schule in den Arbeitsdienst mußten, um dort ihre vormilitärische Ausbildung zu erhalten. Nach einem Jahr im Arbeitsdienst mußte auch Heinrich Böll den Waffenrock seines Führers anziehen, um seinem Vaterland von 1939 bis 1945 als Infanterist zu dienen. Die früheren Werke Heinrich Bölls befaßten sich hauptsächlich, wenn nicht ganz und gar, mit den Kriegs- und Nachkriegsjähren. In die- sen Werken gibt der Dichter uns ein Bildnis des Soldaten, das das Menschliche im Unmenschlichen zeigt. Für Böll, wie für seinen geisti- gen Vorgänger Wolfgang Borchert gab es keine Ehren und Helden im Krieg, denn der Krieg ist zu grauenhaft, um auf diese V.'eise veredelt zu werden. Böll zeigt uns das Innere des Soldaten und jene menschlichen Gefühle, die der Ausbilder des Heeres nicht ausrotten konnte. Für Heinrich Böll war der Waffenrock nicht ehrenhaft, sondern ein Joch, das sobald wie möglich abgestreift werden mußte, um seinem Gemüt Luft zu machen. Heinrich Bölls Sammelband Wanderer kommst du nach Spa . . . und sein Kriegsroman Der Zug war pünktlich sind außerordentliche Beispiele der Literatur der Nachkriegszeit und deuten auf einen möglichen Einfluß des all zu früh verstorbenen Borchert. Böll und Borchert wurden beide als Dichter der "Trümmerliteratur" bezeichnet, da sie sich mit den Problemen der Nachkriegszeit befaßten und dem deutschen Volk die jüngste Vergangenheit vor Augen hielten. Während Borchert nie eine Gelegen- heit hatte, sich gegen diese Bezeichnung zu wehren, erkannte Böll, daß 3 Heinrich Böll, "Über mich selbst," in Der Schriftsteller Heinrich Böll, herausgegeben von Werner Lengning (München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH, 1968), S. 21. die Bezeichnung "Trümmerliteratur" für die ersten schriftstellerischen Versuche nach 1945 berechtigt war, denn: "Wir schrieben also vom Krieg, von der Heirrl:ehr und von dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr vorfanden: von Trümmern .... 4 Heinrich Böll, Bekenntnis zur Trümmerliteratur," in Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze (Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch, 1961) S. 339. KAPITEL II ALS DER KRIEG AUSBRACH Als der Krieg ausbrach, waren die Soldaten noch immer in den Kasernen. Niemand wollte den Krieg, und das deutsche Volk war nicht darauf vorbereitet, trotz der Schlagzeilen, die die Zeitungen schon seit V.^ochen auf Befehl des Propagandaministers Goebbels trugen. Die von den Deutschen angestifteten Unruhen im Osten des Landes bedeuteten den eventuellen Krieg, denn die Führung der deutschen Regierung verlangte einen Krieg, um den Drang nach dem Osten des Führers zu sättigen. Der Demagoge Adolf Hitler war mit dem Anschluß Österreichs und der Zerstörung der Tschechoslowakei nicht zufrieden. Er wollte Danzig und den Polnischen Korridor wieder ins Reich bringen und plante deswegen die Machtübernahme Polens, die dann am 1. September 1939 verwirklicht wurde. Für die meisten Deutschen kam der Einmarsch in Polen als eine große Überraschung: "in Deutschland war—im Gegensatz zu 1914—von Kriegsbe- geisterung nichts zu spüren. Die Soldaten gehorchten. Volk fügte sich in das Unabänderliche. Das deutsche ii5 Und doch gab es einige Menschen die eine Vorahnung von dem Geschehenen hatten, denn Hitler hatte die Reservisten schon im Sommer des Jahres zu den Fahnen rufen lassen. Die deutsche Regierung hatte die 5 Hannah Vogt, Schuld oder Verhängnis? Verlag Moritz Diesterweg, 1961), S. 162. (Frankfurt am Main: allgemeine Wehrpflicht im Jahre 1935 wieder ins Leben gerufen, und alle Männer waren der V.'ehrmacht als Reservisten verpflichtet, obwohl sie ihre Dienstzeit schon längst hinter sich hatten. Jene Reservisten und deren Angehörige, die in den Sommermonaten des Jahres 1939 zum Kommiß zurückgerufen wurden, hatten ein schlechtes Gefühl, als sie die eingeschriebene Postkarte lasen: "Sie haben sich am 5.8.39 in der Schlief- fen-Kaserne in Adenbrück zu einer achtwöchigen Übung einzufinden. In Bölls kurzer Geschichte Die Postkarte versucht der Erzähler, ein junger Mann namens Bruno Schneider, seine Mutter nach Empfang dieser verhängnisvollen Postkarte zu trösten, indem er ihr wiederholt versichert, daß es nur für acht Wochen wäre. Seine Mutter scheint getröstet zu sein und trocknet sich die Tränen, und er denkt " . . . wir logen beide, ohne zu wissen, warum wir logen . . . . ' Der Einzug zum Militär ist immer schwer, und für Bruno Schneider wurde er durch die Tränen seiner Mutter nicht erleichtert, und deswegen verabschiedete er sich von ihr fünf Stunden bevor sein Zug nach Adenbrück fuhr. Bruno Schneider verbrachte seine letzten Stunden als Zivi- list mit einem Mädchen, mit dem er sich an diesem Tag in einem Strandbad treffen wollte. Der einrückende Reservist fühlte jetzt schon den Drang des Soldaten mit einer Frau zusammen zu sein, nicht wegen des Geschlechtsverkehrs, sondern wegen des Zusammenseins. Das Zusammensein mit einer Frau ist eine Flucht von der Kaserne, denn die Frau steht im Heinrich Böll, "Die Postkarte," in Geschichten aus zwölf Jahren (Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1969), S. 55. ^Ibid., S. 56. 8 Gegensatz zum Militär: in der Kaserne benimmt der Soldat sich grob und laut, aber mit einer Frau ist er meistens zart und leise; beim Kommiß lernt man Haß, bei einer Frau lernt man Liebe; in der Kaserne ist alles dasselbe, bei einer Frau ist alles anders. Diese Unterschiede sind Teilgründe, warum der Soldat die Kaserne mit einer Frau vergessen will, aber der größte Unterschied ist der geschlechtliche, denn man will von den Männern weg. Der vermutliche Geschlechtsverkehr ist eigentlich Nebensache. Für Bölls Soldaten ist der Geschlechtsverkehr mit einer Frau Nebensache, doch für die Priester des Heeres schien er Hauptsache zu sein, denn der Priester, von dem Böll in seinem 'Brief an einen jungen Katholiken spricht, kam immer wieder auf das Thema der moralischen Fallen zurück in seiner Ansprache an eine Gruppe einkehrender Rekruten. Als ehemaliger Soldat " . . . er war im Weltkrieg Feldwebel gewesen und war einer der wenigen Träger des Pour le Merite der Unteroffiziersklasse wußte der Priester was den jungen Soldaten bei einem Kompanie- fest bevorstand, und er konnte ihnen einige Ratschläge geben, wie sie der sittlichen Gefahr beim kollektiven Bordellbesuch entgehen konnten. Diese "geistliche Fürsorge" wurde allen einkehrenden Rekruten gegeben. Natürlich sprach man nicht nur von den sittlichen Gefahren / des Soldatenlebens, sondern auch von der Ehre und den Heldentaten jener, die für das Vaterland fielen. Auch sprach dieser Priester von der theo- logischen Rechtfertigung für die allgemeine Wehrpflicht, von dem Haupt- Q Heinrich Böll, "Brief an einen jungen Katholiken," in Hierzulande. Aufsätze zur Zeit (München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH, 1963), S. 24. mann von Kampharnaum, aber er sprach nie über jene Dinge, die den neuen Rekruten wahrscheinlich am wichtigsten waren: "Kein Wort über Hitler, kein Wort über Antisemitismus, über etwaige Konflikte zwischen Befehl und Gewissen. „10 Diese geistliche Fürsorge, die Böll in diesem Brief beschrieb, kann sehr leicht als Tadel der katholischen Kirche erfaßt werden, obwohl Böll selber ein praktizierender Katholik ist. Doch für Böll ist die Frage der Befehlsverweigerung ein ehrenwertes Delikt, denn wer trägt die Verantwortung für die Ausführung eines Befehles, der das Gewissen des Ausführenden belastet? Die Sieger des zweiten Weltkrieges befaßten sich mit diesem Thema beim Nürnberger Prozeß, aber auch in unserer Zeit hob diese Frage ihr lästerliches Haupt ; von Nürnberg zu den Dschungeln in Asien ist es nur ein kurzer Sprung. Für die National- sozialisten wurde die Verantwortung für ihre Grauenstaten durch das Wort "Befehl" abgenommen, doch für Böll ist die Sache etwas komplizierter, indem das Konto nicht beglichen werden kann, wenn man einem Eichmann die Toten eines Landes aufs Gewissen legt, denn: "... immer wird ein Teil der Verantwortung unangenommen bleiben und an die Unschuldigen, unsere Kinder, weitergegeben werden . . . ." Im Sommer des Jahres 1939 machte man sich keine Sorgen über die Themen "Befehl" und "Verantwortung", außer in dem engeren, militärischen Sinne; auch das Thema "Befehlsverweigerung" war bis jetzt noch nicht in 9 Ibid., S. 26. 10 „ Ibid., S. 27. Heinrich Böll, "Befehl und Verantwortung. Gedanken zum Eichmann-Prozeß," in Aufsätze, Kritiken, Reden (Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch, 1967), S. 115. 10 den Akten der Strafbataillone sehr oft erschienen. Die Reservisten, die in die Kasernen eilten, fanden alles für sie bereit, den Übergang zum Soldatenleben aufs schnellste zu vollenden, denn die Bekleidungsunteroffiziere des Heeres hatten die Zeughäuser des Landes auf Hochtouren gebracht. Alles funktionierte wie eine gutgeölte Maschine, die nun nicht mehr abgestellt werden konnte. Während der Krieg für die meisten Deutschen im August 1939 nur eine Vorahnung war, wurde er eine plötzliche V.'irklichkeit für den Erzähler der Geschichte Als der Krieg ausbrach, sobald die Telefonisten des Regimentsstabes ihre Stahlhelme aufsetzten. In dieser Geschichte schildert Heinrich Böll die Vorbereitungen zum Krieg und das kriegerische Milieu der Kasernen in den letzten Tages des Friedens. Eigent- lich handelt es sich hier um zwei Geschichten, die durch die Freundschaft zwischen dem Erzähler, einem einfachen Landser, und dem Telefonisten-Unteroffizier Leo Siemers verbunden und verwoben sind. Als Telefonist hatte Leo die Gelegenheit, dienstlichen Gesprächen zuzuhören und sie auch, je nach Laune, zu unterbrechen; das zweite geschah besonders wenn er oder sein Freund, der Erzähler, mit den Mädchen in der Heimat sprechen wollte. Soldaten zu einer Frau. Auch hier sehen wir den Drang des Für den Erzähler und seinen Freund waren diese strafbaren Gespräche auf Heereskosten wichtiger als der Umgang mit den Dirnen und leichten Mädchen des Kasernenstädtchens. Da es Leos Gewohn- heit war, geheime Dienstgespräche abzuhören, war er einer der ersten des Regiments, der über den ausgebrochenen Krieg Bescheid wußte. Auf diese Weise nimmt Böll den Kriegsanfang aus den Kartenräumen des Oberkommandos und überreicht ihn den Mannschaftsdienstgraden. Auch deutet 11 Böll an, daß die Freunde sich über die politische und militärische Lage des Vaterlandes unterhalten hatten, denn der Erzähler reagiert auf keine Weise zu dem sie in Leos ernster Erklärung: Krieg—sie habens geschafft." "Es ist Krieg, Krieg, 12 Nachdem die beiden Freunde sich noch schnell über die graue Zukunft unterhielten, ging Leo in die Telefonzentrale zvirück, um dem Erzähler ein Ferngespräch nach Köln und dessen Mädchen zu vermitteln. Dieses kurze Gespräch im Kasernenhof war das letzte Mal, daß der Erzähler seinen Freund sah. Böll erzählt uns von Leos Schicksal in zwei Zetteln, die der Unteroffizier in seinem Spind hinterließ und in der Bekanntmachung, daß der Unteroffizier Leo Siemers der erste Gefallene 13 des Regiments war. Bölls zweite Geschichte innerhalb dieser Erzählung hat nun ihren eigentlichen Anfang mit dem Landser und wie er seinen sinnlosen Anteil an den Vorbereitungen des Krieges abrichtet. Kurz nach seiner Unterhal- tung mit Leo und dem Ferngespräch mit dem Mädchen in Köln, mußte der Erzähler sich dem Regimentsbekleidungsfeldwebel stellen, um beim Ausgeben 12 Heinrich Böll, "Als der Krieg ausbrach," in Als der Krieg ausbrach (München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH, 1965) , S. 10. 13 In seiner Interpretation dieser Geschichte schreibt Klaus Doderer, in Interpretationen zu Heinrich Böll, Bd. I, (München: R. Oldenbourg Verlag, 1965), daß Leo Siemers beim Umstöpseln von dienstlichen Gesprächen erwischt und wahrscheinlich hingerichtet wurde. Ich finde das nicht glaubhaft, da Leo genügend Zeit hatte, seinen Spind auszuräumen und seinem Freund eine Nachricht zu hinterlassen. Wahrscheinlich wurde Leo bei seiner "Sabotage" erwischt, wurde aber dann als Telefonist abgelöst und an die sich bildende Front geschickt ; es ist nicht plausibel, daß er vor ein Exekutionskommando gestellt wurde, besonders, wenn man seine früheren Verdienste—er wurde ja wegen besonderer Befähigung zum Unteroffizier befördert—in Betracht nimmt. 12 der Ausrüstungsstücke an die Reservisten behilflich zu sein. Auch hier in der Kleiderkammer war alles außerordentlich organisiert, indem jeder der Einkommandierten ein Stück der Ausstattung auf eine Zeltbahn legte: . . . und wenn alles ausgelegt war, kamen die Reservisten herein, wurden vor ihre Zeltbahn geführt, banden deren Enden zusammen, nahmen ihr Bündel auf den Rücken und gingen auf ihre Zimmer, um sich umzukleiden. „14 Zwei Tage lang mußte der Erzähler Kochgeschirre auf Zeltbahnen auslegen, dem Gespräch des Bekleidungsfeldwebels zuhören: "... wenn der Feldwebel selber einmal ein paar tote Minuten hatte, kam er zu uns und klärte uns auf über den Unterschied zwischen Dienstgrad und Dienst„15 Stellung . . . , und zusehen, wie die Unzähligen in die Kaserne rann- ten und sie eine Stunde später wieder verließen. Jedes ausrückende Bataillon wurde von einer Musikkapelle begleitet, die das alte Soldatenlied "Muß i denn, muß i denn" auf dem Weg zum Bahnhof ableierte, doch gab es keine Begeisterung und keine Mädchen, die den Soldaten einen Blumenstrauß ans Gewehr steckten. Trostlos marschierten die Reservisten in den Krieg, und auch der Erzähler und seine Kameraden verrichteten ihren monotonen Dienst in der Kleiderkammer ohne Freude; selbst der Bohnenkaffee und die Zigaretten, die ihnen ausgehändigt wurden, erfreuten sie nicht, da solche Verpflegung nur im Krieg umsonst ausgeteilt wurde. Auch der dienstfreie Sonn- tag brachte keine Erlösung von der Langeweile des Kriegsanfangs, denn der Erzähler konnte sich nicht von dem militärischen Milieu entfernen. Böll, "Als der Krieg ausbrach," S. 14, 15 Ibid., S. 15. 13 An diesem letzten Sonntag im August 1939 ging der Erzähler in die Kirche und wurde nach der Messe von dem Priester wegen seines unsoldatischen Aussehens wie von einem Feldwebel angeschnauzt. Er suchte ein Cafe, wo er nicht grüßen müßte, und er begegnete einem jungen Feldwebel, der es mit dem Grüßen nicht so ernst nahm. Weil er nicht grüßen wollte, ging unser Landser an diesem Sonntagnachmittag ins Kino, das so leer war, daß er während der Vorstellung rauchen konnte. konnte er sich nicht entspannen: Doch auch hiei' "ich erinnere mich nur der Wochenschau: sehr unedel aussehende Polen malträtierten sehr edel aussehende Deut„16 sehe . . . . Als er in die Kaserne zurückkam, mußte der Erzähler sich einem Kommando eingliedern, das Persilkartons mit maschinege17 schriebenen Adressen auf Lastwagen lud und beim Postamt stapelte. Spät nach Mitternacht kehrte unser erzählender Landser mit seinen Zimraerkameraden in die Kaserne zurück. Nach einer kurzen Mahl- zeit wollten alle zu Bett gehen, doch sollte es keine Ruhe mehr in dieser Nacht für den Erzähler geben, da der Korapanieschreiber auf die Stube kam, um ihm den Befehl zu geben, sich in zwanzig Minuten feldmarschmäßig bei einer ausrückenden Kompanie zu melden. Beim Auftritt des Kompanieschreibers zeigt Böll dem Leser, wie der Krieg, der eigentlich noch nicht begonnen hat, schon jetzt die Umgangssprache des Soldatenlebens verändert hat, indem das Wort "gefallen" zum erstenmal erscheint. Nachdem der Kompanieschreiber dem Erzähler •'^^Ibid. , S. 23 17 Es ist anzunehmen, daß es sich bei diesen Persilkartons um die Zivilkleidung und andere Habseligkeiten der Reservisten handelte, denn bei einem Feldzug benötigen die Soldaten kein Zivil. 14 seinen Marschbefehl gab, drehte er sich zu den anderen und sagte: "Es ist eine traurige Mitteilung, die ich Ihnen machen muß, traurig, und doch ein Grund, stolz zu sein; der erste Gefallene des Regiments war „18 Ihr Stubenkamerad Unteroffizier Leo Siemers. Die folgenden sechs Jahre waren ein trauriges Kapitel in der deutschen Geschichte, und die Ereignisse dieser letzten Woche des Friedens spiegelten das Geschehende für die Soldaten in dieser Kaserne wider. Viele der Reservisten, die es so eilig hatten, in die Kasernen zu kommen, blieben auf den Schlachtfeldern Europas zurück, unzählige wurden verwundet und litten ihr Leben lang an den innerlichen sowie den äußerlichen Wunden dieses Krieges. Keiner wußte, was ihm bevor- stand, als die marschierenden Kolonnen sich Polen näherten, doch die Worte des Hauptfeldwebels hatten eine besondere Bedeutung für die Sol„19 daten: . . . unterwegs wird sich alles klären. Böll, "Als der Krieg ausbrach," S. 25. 19. Ibid., S. 26. KAPITEL III VOR DEM EINSATZ Nachdem der Krieg angefangen hatte, fanden sich die deutschen Soldaten in fast allen Ländern Europas entweder an der jeweiligen Front oder als Angehörige der Besatzungstruppen einer Stadt hinter der Front. Doch auch in diesen zurückliegenden Städten mußte man sich stets gefechtbereit halten, denn man war immer noch im Krieg und konnte jederzeit wieder an die Front geschickt werden. Diese Ortschaften wurden nicht nur für die "Ruhe und Reserve" der Frontkämpfer benötigt, sondern sie waren auch die Sammelplätze für jene Soldaten, die als Ersatz in den Krieg gerufen wurden. Die Kampftruppen wurden mit diesem frischen Blut wieder auf Sollstärke gebracht, und man verbrachte die Zeit bis zum Fronteinsatz mit den üblichen militärischen Übungen. Um die Wartezeit bis zum Einsatzbefehl zu erleichtern, wurde den alten sowie den zukünftigen Frontkämpfern soviel Ausgang wie möglich genehmigt. Aber auch bei Ausgangssperre konnte man immer viele umher- wandernde Soldaten in diesen Städten finden, denn sie wußten, daß sie bald an die Front geschickt würden, und daß einige unter ihnen nicht mehr zurückkommen würden. Für die Soldaten bedeutete der Ausgang, ob erlaubt oder nicht, ein Geschmack der Freiheit und des Lebens, indem sie die Kaserne hinter sich ließen und versuchten, den Krieg zu vergessen- Bei Ausgangssperre wurde die Zahl der Betrunkenen immer größer 15 16 denn die ausziehenden Frontkämpfer versuchten, sich diese Tatsache mit Alkohol aus dem Gedächtnis zu waschen. Fast krampfhaft bemühten sie sich, diesen verbotenen Ausgang, der vielleicht ihre letzten freien Stunden im Leben war, zu genießen. Niemand kümmerte sich um die vielen torkelnden Uniformierten, die allmählich dem Kasernentor zustrebten, und sie kümmerten sich nicht um den Unteroffizier, der sie anschnauzte und sie mit einem Kriegsverfahren bedrohte, denn jeder wußte, daß diese uniformierten Säufer sehr wahrscheinlich ihr Leben opfern würden. For Bölls Soldaten scheint der Alkohol und der einzelne oder gemeinsame Kneipenbesuch sehr wichtig zu sein, da fast alle seine Landser sich dem Gewissen und der Gegenwart zu entziehen versuchten, indem sie bei jeder Gelegenheit bei einer Flasche Trost suchten. Seine Er- zählung Damals in Odessa ist eine erschütternde Darstellung des gemeinsamen Kneipenbesuches während einer Ausgangssperre, doch zeigt er dem Leser ein traurigeres Bild in Trunk in Petöcki, worin sich ein Landser während des legalen Ausgangs allein betrinkt. Leider waren die Mann- schaftsdienstgrade nicht die einzigen, die sich mit Alkohol zu stärken versuchten. In Kapitel IV seines Romans Wo warst du, Adam? findet ein Offizier während seines Ausgangs Vergessen im Rausch. Zweifellos ist die Wartezeit vor dem Einsatz das nervenzerstörendste Erlebnis mit der Ausnahme des eigentlichen Gefechts, dem die Soldaten ausgesetzt sind. Aus diesem Grund kann und soll man die Sol- daten wegen ihrer Suchenach einer Narkose nicht verdammen. Auch kann man sie wegen ihres Benehmens beim Ausgang nicht zu sehr tadeln, da das Bevorstehende selbst diese letzten Stunden des Lebens überschattete. Für die Soldaten bedeutete der Ausgang von der Kaserne ein Geschmack 17 des Lebens, da ihre Existenz beim Konmiiß stets gefährdet war. Diese ewige Todesgefahr ist auch schließlich der Grund, warum manche Landser sich wie Schweine beim Ausgang benahmen, denn es war ihnen wirklich scheißegal" was die Zurückbleibenden von ihnen hielten. In seiner Beschreibung eines zweistündigen verbotenen Urlaubs, die Erzählung Damals in Odessa, gibt Schriftsteller Heinrich Böll dem Leser einen unvergeßlichen Einblick in die Einstellung des Soldaten zum Krieg und das Warten auf den Einsatz. Drei Soldaten in der Kaserne in Odessa erwarten den Einsatzbefehl, um in die Krim zu fliegen. Da der verhängnisvolle Befehl nur wegen des Wetters aufgeschoben wurde, hatte die Ortskommandantur eine Ausgangssperre ausgesprochen, so daß die Soldaten nichts tun konnten, als in der Kaserne zu sitzen und Karten zu spielen. Der Erzähler beschreibt die trostlose Lage: "in der Kaserne waren viele wartende Soldaten und keiner durfte in die Stadt. . . . und die Posten pendelten vor den schwarzen, schmutzigen Mauern der Kaserne „20 auf und ab. Durch eine freche Lüge, sie sagten dem Posten, daß sie dienstlich unterwegs wären, gelang es dem Erzähler und seinen zwei Kameraden, die Kaserne zu verlassen. Die drei Soldaten wußten, daß sie sich der Fahnenflucht schuldig machten, aber das störte sie nicht ; sie wollten leben, und dieser gestohlene Urlaub war wahrscheinlich der letzte Genuß ihres Lebens. Auf dem Weg in die Stadt trafen die drei Kameraden einige Solda- Heinrich Böll, "Damals in Odessa," in 1947 BIS 1951 (Köln: Friedrich Middelhauve Verlag, 1961), S. 324. Da fast alle der Erzählungen, die in diesem Kapitel besprochen werden aus diesem Sammelband stammen, werde ich bei der Ersterwähnung der jeweiligen Erzählung nur den Titel andeuten. 18 ten, die auf dem Rückweg zur Kaserne waren. Auch sie wollten umkehren, denn sie fürchteten sich vor den Streifen, aber sie hatten eine größere Angst vor der Verzweiflung und Langeweile der Kaserne. Und so wanderten sie durch die dunkelwerdende Vorstadt, bis sie an das helle Fenster einer Soldatenkneipe kamen. Obwohl die drei erst seit acht Wochen beim Mili- tär waren, wußten sie genug vom Kommiß, um zu wissen, daß kein Soldat eine Kneipe verschmäht. Sie gingen in die Schenke und ließen sich von der Wärme und dem Qualm umarmen, doch fühlten sie sich nicht wohl angesichts der vielen, sehr getragenen Uniformen, denn ihre nagelneuen Uniformen: . . . stachen uns in Arme und Beine, und die Unterhosen und Hemden juckten schrecklich auf der bloßen Haut, und auch die Pullover „21 waren ganz neu und stachelig." Jeder der drei Soldaten hatte nur zehn Mark, denn sie hatten beim Siebzehn-und-Vier ziemlich viel Geld verloren und den Rest unter sich geteilt. Zuerst wußten sie nicht, was sie bestellen konnten und beneideten die anderen Soldaten, die anscheinend genügend Geld hatten, um den Abend in der Kneipe zu genießen. lichen Obergefreiten: Auf den Ratschlag eines freund- "Verscheuern könnte man hier alles, Mantel und 22 Mütze oder Unterhosen, Uhren, Füllfederhalter," versetzten die drei Kameraden einige ihrer Sachen, um das Schweinefleisch und die Wurst der Wirtin mit ihren Getränken zu genießen. Zwei Stunden später hatten die Soldaten kein Geld und nichts mehr, das sie verscheuern konnten, und deshalb machten sie sich auf den Weg in die Kaserne. Trotz des vielen Geldes, das die drei bei der Wir- 21 22 Ibid., S. 326. Ibid., S. 328. 19 tin mit dem gutmütigen Gesicht vertrunken hatten, waren sie immer noch nicht betrunken, wahrscheinlich nur etwas angeheitert. Am Kasernentor wurden sie von einem Posten zum Unteroffizier vom Dienst auf die Wachstube geschleppt, weil sie ohne Ausgangsgenemigung die Kaserne verlassen hatten. Doch die Folgen ihres verbotenen Ausgangs blieben aus, denn am nächsten Morgen bestiegen sie die Flugzeuge, die sie in die Krim und den Krieg fliegen würden. Und plötzlich wußten sie: TT . . . „23 daß wir nie wiederkommen würden, nie mehr . . . . " Diese Geschichte ist besonders bedeutungsvoll für jeden Mann, der je den Waffenrock getragen hat, denn hier bringt Böll die Einsamkeit des Soldaten in einer fremden Stadt und in einem fremden Land zum Ausdruck. Daß die drei Soldaten kurz von der Front entfernt sind, ist eigentlich Nebensache in dieser Geschichte eines verbotenen Urlaubs, obwohl dieser Krieg stets im Hintergrund der Geschichte steht. Soldaten überall fliehen aus den Kasernen, sobald sie die Gelegenheit dazu haben, denn die Kaserne ist wie ein Käfig, der den Einzelmenschen in eine ungewöhnliche Situation zwingt. Es ist sehr leicht, den Drang nach der Außenwelt zu verstehen, und doch ist der Drang zu der Kaserne genau so stark, wie der Wunsch sie zu verlassen, denn die Außenwelt ist dem Soldaten feindlich gesinnt. Wegen dieser Feindlichkeit ist die Kaserne, die immer wie ein lauerndes Tier mit gähnendem Rachen im Hintergrund sitzt, zuletzt doch die letzte Zuflucht der Soldaten—dort sind sie mit ihresgleichen und schreiten demselben Schicksal entgegen, selbst wenn das der Tod sein sollte. ^^Ibid., S. 329, Daß 20 diese drei Soldaten mit ihren Kameraden in den sicheren Tod flogen, ist historische Tatsache, da die Krim nur durch die Luft versorgt werden konnte, nachdem sie schon längst eingekesselt war. Im Gegensatz zu den drei angehenden Krimkämpfern in Odessa steht der namenlose Landser in der Erzählung Trunk in Petöcki ; er ist ein Veteran des Fronteinsatzes, er genießt einen erlaubten Ausgang, und es gelingt ihm, sich zu betrinken, so daß er nur noch ein bißchen an diesen Mistkrieg" denkt. Doch ist er seinen Schicksalsgesellen in Odessa ähnlich, indem auch er den Drang zur Außenwelt spürt, weil auch er einsam ist. Auch leidet dieser Landser am Geldmangel und muß genau wie die drei in Odessa etwas verscheuern, um für seinen Wein bezahlen zu können. Für den Landser in Petöcki ist die Einsamkeit fast unerträglich. Er sehnt sich nach Gesellschaft und entflieht der Gegenwart indem er seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen läßt; er denkt an eine Frau, ob Frau oder Geliebte wissen wir nicht, und an den Abschied, den er von ihr nehmen mußte: "... wir hatten noch ein paar Minuten Zeit, und nirgends war eine Ecke, eine dunkle, schöne, menschliche Ecke, wo wir uns hätten küssen und umarmen können. „24 Hier sehen wir nochmals den Drang zum Weiblichen und zu jenen Gefühlen, die der Umgang mit Frauen erweckt. Da dieser Landser aber keine Frau bei sich hat, und da er doch so einsam ist, wünscht er sich, daß einige Liebespaare in dieser Kneipe wären, denn: " E S wäre eine reizende Kneipe für Liebespaare, in diesem schönen, grünen und blauen Dämmer. ^^"Trunk in Petöcki," S. 343. ^^Ibid., S. 342. „25 Trotz aller Sehnsucht 21 aber bleibt dieser Landser allein und diese "reizende Kneipe" bleibt fast leer. Als er endlich geht, versucht der namenlose Landser, sich ein Plätzchen in der Erinnerung zweier an der Theke stehenden Ungarn zu erwerben, indem er einen Geldschein für ihre Getränke auf die Theke legt. Da er aber ein deutscher Soldat in Ungarn ist, also ein uner- wünschter Gast, wird diese kleine Geste der Freundlichkeit ohne Dank in Empfang genommen. Diese Kälte, wenn nicht offene Feindlichkeit, bekamen die deutschen Soldaten in fast allen überrumpelten Ländern zu spüren. Auch die Offiziere der Armeen waren vor dem Haß der Zivilisten nicht sicher, denn der Haß, wie der Tod, kennt keine Rangabzeichen. In seinem Kriegsroman Wo warst du, Adam? beschreibt Heinrich Böll den Ausgang eines Offiziers in einer kleinen Stadt irgendwo in Ungarn. Oberleutnant Dr. Greck, der als Zivilist Assessor und Doktor der Rechte war, war nicht gerade ein typischer Offizier, doch genoß er einen ziemlich typischen Ausgang an einem heißen Nachmittag in diesem Städtchen. Leutnant Grecks Ausgang begann mit einem Besuch bei einer Prostituierten: "Aber er folgte damit dem Rat seines Vaters, der ihm ge- sagt hatte, er müsse sehen, mindestens einmal im Monat zu einer Frau zu gehen.'* Für den Leutnant war dieser Geschlechtsverkehr also gesund- heitliche Pflicht, genau wie es ein gesundheitliches Verbot war, öfter als zweimal im Monat bei einer Frau zu sein. Eine gewisse Freude fand der Leutnant bei diesem Besuch wahrscheinlich schon, da der väterliche Ratschlag ihm nach einem jugendlichen, sexuellen Übermaß gegeben wurde. 26 "Wo warst du, Adam?", S. 189. 22 Nachdem die Frau ihm das letzte Geld abgenommen hatte, mußte Leutnant Greck seinen Ausgang auf dieselbe Weise finanzieren wie die Landser in Odessa und Petöcki, indem er eine Hose an einen alten Juden verkaufte. Als Offizier aber unterschied Leutnant Greck sich von den Mannschaf tsdienstgraden dadurch, daß er Gewissensbisse über den illegalen Verkauf der Hose spürte; falls es jedoch zu einem Skandal kommen sollte, entschloß er sich, ihn rücksichtslos zu leugnen, denn: "Niemand würde irgendeinem dreckigen Juden recht geben, der behauptete, er, Greck, habe 27 seine Hose bei ihm verkauft." Trotz der Rationalisierung, daß alle irgend etwas verkauften, wünschte Greck, daß die Angelegenheit mit dem Juden nie geschehen wäre, und der Gedanke daran störte ihn so sehr, daß er seinen Ausgang früh beendete. Es ist zweifelhaft, ob man diesen Oberleutnant anständig nennen kann, da seine Gewissensbisse durch Furcht vor einer etwaigen Bestrafung und nicht durch Scham oder irgendeinem Schuldgefühl erweckt wurden. Oberleutnant Greck wird dem Leser etwas sympathischer, wenn man seine chronischen Magenleiden in Betracht zieht und seinen Wahn, seinen Kameraden gleich zu sein; er beneidet die anderen wegen des Geldes, das sie sich durch illegale Verkäufe verdient haben: "... ich bin sehr dumm gewesen, immer dumm. Ewig anständig und korrekt, und die anderen, die anderen haben immer gut gelebt." 28 Das Magenleiden des Leutnants stört seinen Ausgang noch mehr als sein Gewissen, besonders, da er verschiedene Getränke und warme Aprikosen rücksichtslos verschlungen hatte. Er wußte, daß er seinen Magen schonen mußte, aber er wollte dem frechen Leutnant in seiner Stube 27 28 Ibid., S. 183. Ibid.. 23 nicht nachstehen und amüsierte sich, so lange er konnte. Oberleutnant Greck litt an einem Minderwertigkeitsgefühl, das durch sein Magenleiden und sein sexuelles Versagen nur noch erhöht wurde. Auch seine kümmer- lich dekorierte Brust brachte ihn leicht in Verlegenheit. Sein Stuben- kamerad aber hatte viele Orden auf der Brust, aß und trank soviel er wollte und ging oft zu den Weibern; das Schlimmste aber war, daß er sich oft über Greck und dessen Leiden lustig machte. Diese Episode vom magenkranken Leutnant ist eine der besten Beschreibungen eines Ausgangs in Bölls Erzählwerk. In seinen Erzählungen über die Landser in Odessa und Petöcki hatte Böll dem Leser nicht sehr viel über die Personen der Geschichten erzählt, aber in dieser Episode des Romans Wo warst du, Adam? malte er dem Leser ein eingehendes Bild von Oberleutnant Dr. Greck und dessen Lebenslauf. Die Gestalt des Leut- nants wirkt menschlicher durch sein Magenleiden und seine Gewissensbisse, besonders da Böll den Lebenslauf des Leutnants der Geschichte hinzufügte. Auch die Kleinigkeiten des Alltags, wenn man die Zeit der Handlung alltäglich nennen darf, verwirklichen die Geschehnisse der Geschichte: die Frau des Schiffschaukelbesitzers, die im Unterrock zur Tür kam, das Hinterzimmer des Juden, die Pantoffeln des Wirts, die aprikosenfarbene Wäsche der Prostituierten, selbst die "Heil Hitler" Grüße, die Greck mehrere Mal fast zaghaft von sich gab. Der Krieg wurde in die- ser Geschichte in den Hintergrund gedrückt, und nur Grecks Uniform und das Benehmen der Einwohner der Stadt gegen die Uniformierten deuten auf Irgendeine Front. Das Menschliche im Soldaten, in diesem Fall ein Offi- zier, wurde in dieser Geschichte betont, doch wird der Leser jäh wieder in das Unmenschliche des Krieges gezerrt, als Greck erfährt, daß auch er V 24 mit den Truppen die Stadt verlassen muß. Die Rückkehr in die Kaserne, die eigentlich ein Lazarett war,, bedeutete eine Rückkehr in den Krieg und den eventuellen Tod für den magenleidenden Oberleutnant. Während Oberleutnant Greck und die anderen Träger des deutschen Waffenrockes im Osten kämpften, sicherten andere deutsche Einheiten die westlichen Grenzen des Vaterlandes in Frankreich. Und auch hier ver-^' brachten die deutschen Soldaten einige Zeit in verschiedenen Ortschaften hinter der Front: ' .- . . 'denn nach" eihem genau ausgeklügelten Ein- satzplan kehrte jede erste Kompanie jedes Bataillons nach einer gewissen Zeit in dieses Kaff zurück,- um hier sechs Wochen,, 'Ruhe und Reserve' abzumachen. 29 Obwohl die Soldaten sich im kulturellen Frankreich^befan- den, litt ihre Moral auch hier, denn der Krieg war nur einen Einsatzbefehl entfernt und die Zwischenzeit wurde mit den üblichen militärischen Diensten und äußerst begrenzten Ausgängen verbracht. In seiner Erzählung Unsere gute, alte Renee schildert Heinrich Böll die Eintönigkeit in einem dieser "Ruhe und Reserve-Dörfer", die von der Wehrmacht beschlagnahmt wurden und die Freundschaft zwischen einem deutschen Landser und einer französischen Kneipeninhaberin. Der Erzähler dieser Geschichte ist wieder ein namenloser Landser, der sich weigert, an den ewigen, irrsinnigen Übungen teilzunehmen, indem er sich krank meldet, um dem Dienst zu entgehen: "ich hatte mir eine Krankheit ausgesucht, derentwegen der Arzt mich unbedingt zum „30 Spezialarzt nach Amiens oder Paris fahren lassen mußte. Es ist anzu- 29"unsere gute, alte Renee", S. 347. 30> Ibid., S. 348. '^ 25 nehmen, daß dieser unternehmungslustige Landser so bald wie möglich zurückkam, denn gegen halb elf klopfte er an die Tür dieser einzigen Kneipe dieses einsamen Dorfes; auch kann der Leser vermuten, daß der Landser dies öfter tat, obwohl es sich in der Erzählung nur um einen Tag handelt. Und so geschah es, daß ein deutscher Landser mit einer französischen Frau Schnaps trank, während seine Kompanie außerhalb des Dorfes im Dienst war, um sich nicht zu langweilen. Diese keimende Freundschaft zwischen einem Deutschen und einer Französin entspricht einer Episode, die Böll selber während des Krieges in Frankreich erlebte. In seinem Brief an einen jungen Katholiken be- schreibt Böll seinen Dienst als Dolmetscher bei einer Ortskommandantur in einem kleinen französischen Badeort: "... eine meiner Aufgaben war die höchst ehrenvolle, morgens so gegen neun in das Bordell zu gehen und jene Gegenstände einzusammeln, die . . . während der Nacht in die31 sen trostlosen Venusquartieren liegengelassen worden waren . . . ." Durch diesen täglichen Besuch lernte Böll die Madame kennen, so daß sie jeden Morgen eine gemeinsame Tasse Kaffee genossen; manchmal kamen auch einige der Mädchen herunter, und sie frühstückten alle miteinander. Auch die Tendenz, sich vom Dienst zu drücken, hat Böll in einem anderen Werk besprochen. In dem fast autobiographischen Erzählwerk Entfernung von der Truppe beichtet Böll: "Zeit meines Lebens . . . ist 32 es mein Ziel gewesen, dienstuntauglich zu werden." Mit Hilfe eines Augenarztes gelang es Böll, wegen eines angeblichen Nystagmus, auf eine 31 Brief an einen jungen Katholiken, S. 27. 32 Heinrich Böll, Entfernung von der Truppe (Köln: penheuer & Witsch, 1964), S. 9. Verlag Kie- 26 Dienstreise durch Frankreich zu gehen, um für den Arzt das Gesamtwerk von Frederic Chopin zusammenzukaufen. Da dies ihm aber nicht gelang, wurde Böll als "Vom Schießen befreit" zur Truppe zurückgeschickt, wo sein Vorgesetzter den Diphthong im Schießen umdrehte und ihn zum Fäka33 lientragen verurteilte. Für den Landser in der Erzählung Unsere gute alte Renee war es nicht so wichtig, daß er vormittags Schnaps trank, während seine Kompanie beim Exerzieren war, denn er hätte auch anderes mit seiner gestohlenen Zeit anfangen können. Aber es war wichtig, daß er mit einem Men- schen Umgang hatte und sich gemütlich während des Kartoffelschälens unterhalten konnte. Renee akzeptierte ihn als einen Menschen, und für sie war es nur ein Zufall, daß dieser Mensch den Waffenrock eines anderen Landes trug. Für den Landser bedeuteten diese Besuche bei Renee echte Ruhe, die er in diesem für nießen sollte. Ruhe und Reserve' bestimmten Dorf ge- Daß diese Ruhe gestohlen war, störte den Landser nicht, da er genug von der Langeweile und dem Exerzieren hatte. Die Zeit vor dem Einsatz war für die meisten Soldaten wirklich langweilig, denn nicht alle hatten das gute Glück eine Renee in einem netten Wirtshaus zu finden. Die meisten Landser verbrachten diese Zeit mit Kartenspielen, Trinken, und Bordellbesuchen, alles mögliche, um nicht an den Krieg denken zu müssen. Soldaten, die auf den Einsatzbe- fehl warteten, wußten, daß diese Zeit möglicherweise ihr letzter Genuß des Lebens war, und deshalb mußte jede Minute bis zum vollsten ausgekostet werden. Jeder versuchte auf seine Weise ein ganzes Leben in die 33 Ibid., S. 13, 27 kurzen Stunden des Ausgangs zu drängen. Auch für die Besatzungstruppen, und jene Einheiten die für Ruhe und Reserve von der Front zurückgezogen wurden, bedeutete diese Übergangszeit ein letzter Abschnitt ihres Lebens. Jeder lebte, als ob dieser Tag sein letzter wäre, und für manche war er es auch. Die Lange- weile war manchmal tödlicher als das Gefecht, denn die Seele erstarb an der Unsicherheit der Zukunft. Für Böll und viele Soldaten war die Zeit vor dem Einzug die schönste und die schlimmste ihres Lebens unter der Fahne. KAPITEL IV FÜR GROSSDEUTSCHLAND GEFALLEN Die Geschichte der Menschheitsentwicklung ist stets mit Blut geschrieben worden, Blut das von den gefallenen Kriegern der verschiedenen Völkerstämme floß und die Erde tränkte. In den früheren Kapiteln der Geschichte wurden die Kriege meistens aus wichtigen Gründen gefochten, um den Stand eines Völkerstammes zu verbessern, und dies konnte nie geschehen, ohne daß ein anderer Stamm einem dieses Recht streitig machte. sein: Dies scheint wirklich das Menschliche an den Menschen zu wenn es größere Gruppen gibt, entsteht immer Zwiespalt, und wenn die verschiedenen Völker einander nicht verstehen, dann kommt es zu einem Krieg. Leider gewöhnten sich die frühen Einwohner unserer Erde an den Krieg und veredelten ihn, indem die Kraft- und Gewalttaten der einzelnen Krieger, Helden genannt, der Jugend des Landes durch Geschichten und Lieder vor Augen gehalten wurden. Auch wurden diese Helden für den Tod eines Feindes auf irgendeine Weise ausgezeichnet. Man gab ihnen ein Grundstück, eine schöne Frau, oder ein gutes Pferd; erst später gab man ihnen Abzeichen verschiedener Art, die sie auf ihren Kleidern tragen durften, um aller Welt zu zeigen, daß sie echte Helden waren. Je länger die Menschen sich bekämpften, desto größer wurde die Zahl dieser Orden, die sie ihren Kriegern verliehen, da die Orden sich unterschieden, um den Zivilisten zu zeigen, ob der Held einen Feirdauf dem Meer oder auf 28 29 dem Land getötet hatte. Man händigte aber auch kleinere Orden aus für jene Helden, die ihr Blut für ihr Land vergossen hatten und nicht an ihren Wunden gestorben waren. Mit der wissenschaftlichen Entwicklung des Krieges wuchs die Zahl dieser Verwundetenabzeichen bis es kaum noch Krieger gab, die diese Auszeichnung nicht verdient hätten. Die Sitten der früheren Jahrhunderte wurden auch von unserem Zeitalter ererbt. Man besinne sich des ersten Weltkrieges: am Tag der Kriegserklärung und der allgemeinen Mobilmachung jubelte das ganze Volk, und Tausende junger Männer strömten zu den Fahnen, um für den Kaiser und das Vaterland zu kämpfen! Für die meisten dieser angehenden Helden war der Krieg eine tiefe Erschütterung, die sie geistig und all zu oft auch körperlich zerstörte. Die körperliche Zerstörung wurde der Welt mit einem gestanzten Stück Blech gezeigt, aber die seelische Zerstörung, die manchmal viel schlimmer war, konnte nicht auf den Rockaufschlägen getragen werden. Es ist eigentlich bemerkenswert, daß die höheren Or- den fast immer die Gestalt eines Kreuzes annahmen, was wahrscheinlich seinen Ursprung in den Kreuzzügen des Mittelalters hatte, doch hatten die Heldentaten der Kreuzträger fast gar nichts mit den Leiden des Gekreuzigten zu tun. Während der erste Weltkrieg mit großem Jubel und Eifer begann, fing der zweite Weltkrieg—eigentlich nur eine Fortsetzung des vorhergegangenen—mit keinerlei Begeisterung an. Die diktatorische, national- sozialistische Regierung Deutschlands hatte diesen Krieg sehr vorsichtig angefangen und hatte sich dadurch fast alle Länder der Welt zu Feinden gemacht. Adolf Hitler und seine Henker versuchten, die Begeisterung des Volkes durch Verbände und Abzeichen aller Art zu gewinnen. Haken- 30 kreuze erschienen überall und fast jeder mußte irgend einer Organisation beitreten, um eine vormilitärische Ausbildung zu erhalten. Der Reichs- arbeitsdienst wurde die letzte Stufe vor dem Eintritt in die Wehrmacht; doch ehe man zum RAD kam, hatte man schon mehrere Jahre in der Hitlerjugend und dem Jungvolk hinter sich. Die Erziehung der Jugend hatte die Verehrung des Militärs und des Krieges im Sinn. sprach davon: Hitler selbst "Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. . . . Sie sollen mir in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen." 34 Auf diese Weise sollten die deutsche Jugend und das deutsche Volk auf den kommenden Krieg und den Heldentod vorbereitet sein. Doch die Führung des Reiches hatte vergessen, daß die Uniform nur den Körper kleidet, ohne die Seele des Menschen zu erfassen. Äußerlich konnte man sich den verschiedenen Pflichtverbänden anschließen, aber innerlich war man noch immer frei. Es gab nicht viele Deutsche, die am 1. September 1939 über den Einmarsch in Polen jubelten. Zu viele Veteranen erinner- ten sich an das Grauen, das sie vor knapp zwanzig Jahren mitgemacht hatten, und dem sie nun ihre Söhne entgegenschreiten sahen. Durch die Kün- ste der Wissenschaft sollte dieser Krieg viel grausamer sein als je ein Krieg zuvor in der Geschichte der Menschheit. Es war ein Krieg, der sich über ganz Europa, Asien und Afrika ausdehnte, und cfer Millionen Menschen, Soldaten und Zivilisten aller Länder aufs Gräßlichste niederstreckte, ein Krieg, der nie vergessen werden soll und dessen Grausamkeit Heinrich Böll in seinen Erzählungen beschreibt. 34 Vogt, Schuld oder Verhängnis?, S. 137. 31 Für Heinrich Böll, der wahrscheinlich gern Kriegsdienstverweigerer gewesen wäre und dann aber den Kommiß dem KZ bevorzugte, sind der Krieg und die Opfer der Gefallenen eine sinnlose Verschwendung von Menschen und Materialien. den Diese Überzeugung wird im Sterben seiner "Hel- offenbart, da kein einziger einen heroischen Tod stirbt und die militärische Lage auf keine Weise beeinflußt wird. Auch scheint Böll der Ansicht zu sein, daß der militärische Tod verschlimmert wird, weil die Soldaten meistens nicht wissen, warum sie sterben müssen. rer heutigen Gesellschaft wird diese Frage auch besprochen. warum muß der Soldat sterben? taucht immer wieder auf. In unse- Das Thema: Die Verteidi- gung des Vaterlandes scheint nicht die richtige Antwort zu sein, da der heutige Krieg wie der Krieg von Bölls Soldaten weit außerhalb der Grenzen des Vaterlandes gefochten wird. Böll beantwortet diese Frage nicht, er läßt seinen Leser auf eigene Gedanken kommen, indem er ihm die Sinnlosigkeit des Heldentodes vor Augen hält. Nur wenige Landser in Bölls Erzählungen starben, weil sie an etwas glaubten und sich deswegen gegen das Unvermeidliche wehrten. Der namenlose Landser in den Ssiwasch-Sümpfen, zum Beispiel, ließ sich nicht von seinem Wachtmeister verführen: "... und eines Nachts, als er „35 allein auf Posten stand, hat ihn der Wachtmeister erschossen. Ge- walttaten dieser Art gibt es leider in allen Kriegen, da immer einige Soldaten vorhanden sind, die die Nähe des Gefechts benutzen, um ihre ^^Böll, "Der Zug war pünktlich," in 1947 BIS 1951, S. 52. Da die meisten Zitate dieses Kapitels, wie die des vorhergehenden, aus diesem Sammelband stammen, werde ich auch hier nur den Titel der jeweiligen Erzählung angeben. 32 persönliche Revanche auszuüben. In Kapitel VII seines Romans Wo warst du, Adam? beschreibt Heinrich Böll einen jener Runenträger, die ihre Dienstzeit benutzten, um sich an Unschuldigen für irgendwelche Verschmähungen der Vergangenheit zu rächen. Als Mitglied der Totenkopf- verbände wurde Obersturmführer Filskeit die Verantwortung eines kleineren Vernichtungslagers auferlegt, und er befand sich in einer Situation, wo er zum erstenmal selbst einen Menschen töten mußte. Zwischen diesen beiden Extremen, dem uniformierten Mörder und dem uniformierten Ermordeten, liegen viele Leichen, die aus verschiedenen Gründen die letzte Station auf Erden erreicht hatten. In seinem Kriegsroman Der Zug war pünktlich, einer Geschichte, die sich mit der Vorahnung des eigenen Todes befaßt, zeigt Böll uns, wie der Tod stets seine Opfer nimmt, selbst wenn die Opfer sich dagegen sträuben. Indem I Böll seinem Leser die letzten Stunden des Landsers Andreas miterleben läßt, hält er ihm stets den Tod vor Augen, während der Alltag des Krieges Andreas und den Leser ständig umgibt. Als Andreas den Fronturlauberzug nach Przemysl bestieg, wurde er sich dessen bewußt, daß dieser Zug ihn in den sicheren Tod führen würde, denn, als er sich von seinem Freund verabschiedete: '. .. fiel das Wort bald in ihn hinein wie ein Geschoß, schmerzlos und fast „36 unmerklich durch Fleisch, Gewebe, Zellen . . . Bei diesem Wort wußte er, daß er nie wieder zurückkommen würde, da er es unmöglich fand, sich eine Zukunft vorzustellen. Mit diesem unheimlichen Wissen belastet, fuhr Andreas nun an die Front. 36 Ibid., S. 8. Er schloß sich zwei Schick- 33 salsgenossen an, um dieses Bald in den Hintergrund zu schieben. Doch es sollte ihm nicht vergönnt sein, diese Vorahnung seines Todes zu vergessen, denn immer wieder kam Andreas auf diesen Gedanken zurück, und es gelang ihm schließlich auch, den Ort und die Zeit seines Todes vorherzusagen: "... er weiß schon, daß er in der Nacht von Samstag auf Sonntag sterben wird. Zwischen Lemberg und Czernowitz . . . in Galizi- „37 en. Die beiden Kameraden von Andreas, die seinen Schicksalsweg und Tod teilen, bleiben zuerst namenlos. Unrasierten und den Blonden. Andreas kennt sie nur als den Aber im Laufe der Erzählung hat Böll ihnen einige Personalien gegeben und dem Leser ein Bildnis des äußerlichen Menschen gemalt. Der Unrasierte entpuppt sich als ein Panzerunteroffi- zier namens Willi, der seinen Urlaub abgebrochen hatte, weil er seine Frau mit einem anderen Mann zusammen fand. Der Blonde ist ein zwanzig- jähriger Gefreiter namens Siebental, der von seinem Wachtmeister in den Ssiwasch-Sümpfen verführt wurde. Während Böll das Äußerliche dieser Seitenfiguren der Erzählung beschreibt, vernachlässigt er Andreas, indem er sich auf das Innerliche und das Vergangene in dessen Charakterentfaltung konzentriert. Über das soldatische dieser Hauptfigur wissen wir sehr wenig, nur, daß er in Frankreich gedient hatte und dort auch verwundet wurde; es ist anzunehmen, daß er Infanterist und wahrscheinlich ein einfacher Landser ist. Diese Verkleinerung des Militärischen erhöht das Menschliche an Andreas und läßt seinen erwarteten Tod um so grausamer erscheinen, da dieser gewalthafte Tod nicht mehr der Tod eines Soldaten, sondern der Tod eines 37 Ibid. , S. 32 34 Menschen ist. Leider ist es immer wieder nötig, daß man unsere Umwelt daran erinnert, daß Soldaten auch Menschen sind, daß sie dieselben Gefühle, Sorgen und Schmerzen wie Zivilisten haben. Indem Böll sich auf den inneren Menschen in der Person des Andreas konzentriert, ist es ihm gelungen, den Soldaten als Menschen in Uniform zu zeigen und die Nachkriegswelt an die Schrecken des Krieges und des Todes zu erinnern. Obwohl der Tod dieses Soldaten in diesem Roman stets erwartet wird, kommt er doch als völlige Überraschung, insofern, da Andreas und seine Kameraden von einer befreundeten Prostituierten in ein entlegenes Partisanendorf eingeladen werden. Auf der Landstraße nach Stryj erfüllte sich Andreas' Schicksal, während sein Freund, der Priester in der Heimat, gerade die Stufengebete der Messe beginnt, genau wie Andreas es gewußt hatte. "Und dann wird der Wagen zersägt, von zwei rasenden Messern, die knirschen vor wildem Haß, eins rast von vorne und das andere von hinten in den metallenen Leib, der sich auf38 bäumt und dreht, erfüllt vom Angstgeschrei seiner Insassen . . . " Der sinnlose Tod des Andreas und seiner Kameraden kam, als sie dachten, sie würden dem Tod entkommen. Nur Andreas wußte, daß der Tod sie auf dieser Straße erwischen würde. In gewissem Sinne ist der Tod von Feldwebel Schneider im dritten PCapitel des Romans Wo warst du, Adam? • • • -.11».—•^••l^l•• I ..,—,1 l ^ • • ^ l l • ^ , , genauso ironisch, da er auch starb, als er versuchte, das Sterben zu verhindern. Feldwebel Schneiders Tod war eigentlich ein Unfall, indem er über einen Blindgänger stolperte, als er im Begriff war, sich den Russen zu ergeben. 38 Ibid., S. 126. 35 Der Drang, dem Tod zu entkommen, wurde auch dem Soldaten Feinhals zum Verhängnis, da er von einer deutschen Granate vor der Tür seines Elternliauses getötet wurde. bei gewesen. Für Feinhals war der Krieg fast vor- Er hatte gesehen, wie seine Kameraden ihr Blut für den Führer vergossen hatten, und auch er wurde verwundet. Doch nun, in diesen letzten Tagen des Krieges, wurde er von seiner Einheit entlassen, und er hatte sich in Zivil auf den Weg nach Hause begeben. Fein- hals konnte nicht wissen, daß das weiße Tischtuch, das seine Mutter über die Tür gehängt hatte, einem diensteifrigen, deutschen Wachtmeister an diesem Tag als Zielscheibe dienen würde. Dieses deutsche Ge- schütz hatte nur sieben Granaten, die täglich abgeschossen werden mußten, und es gelang Feinhals, den ersten sechs aus dem Weg zu gehen, doch die siebente war für ihn bestimmt: ' . . . er schrie sehr laut, einige Sekunden lang, und er wußte plötzlich, daß Sterben nicht das einfachste war—er schrie laut, bis die Granate ihn traf, und er roll„39 te im Tod auf die Schwelle des Hauses. Mit dem Tod des Soldaten Feinhals, eigentlich war er schon Zivilist, da er von seiner Einheit entlassen worden war, endet Böll seinen RcMtian Wo warst du, Adam?. Die Figur des Soldaten Feinhals war der Faden, mit dem Böll die verschiedenen Episoden dieses Erzählwerks verband, da sonst jedes Kapitel eine selbstständige Geschichte gewesen wäre. Kurz vor seinem Tod, zum Beispiel, genoß Feinhals die Gastfreund- schaft einer Familie, deren Mann vor Feinhals Augen starb. Unteroffi- zier Finck schied aus dem Leben weil er einen Koffer Wein für seinen 39 Wo warst du, Adam?, S. 294, 36 Chef besorgt hatte. Sein Pflichtgefühl erlaubte es nicht, daß er den schweren Koffer mit dem Wein zurückließ, selbst wenn er ins Gefecht mußte. Feinhals nahm seiner Leiche die Erkennungsmarke ab, nachdem Finck durch den Einschlag einer Granate getötet wurde. Die meisten Soldaten gewöhnten sich an den plötzlichen Tod, der jeden Augenblick auch sie niederstrecken konnte, denn es gab keine Zuflucht in den Schützengräben, außer Gott. Als praktizierender Katholik fühlt Böll sich dem christlichen Glauben gebunden. Er ist der Ansicht, daß der Tod nur der Übergang vom irdischen zum himmlischen Dasein ist, und er zeigt dieses Hinübergehen in einigen seiner Erzählungen. Doch ist es bemerkenswert, daß jede dieser Geschichten, die den Tod als einen Anfang und nicht als ein Ende betrachtet, von einer Ich-Person erzählt wird. In einer Remarque-ähnlichen Situation—die Stellungen sind eingegraben und sitzen nun seit Monaten fest—wird der Erzähler der Geschichte Die Essenholer beauftragt, als Essenholer in das zurückliegende Dorf zu gehen. Mit drei anderen Landsern muß da* Erzähler zur Feldküche gehen, um die Verpflegung für den Zug abzuholen, doch sollen die vier eine Leiche mit ins Dorf nehmen, da der Tote nicht in der Stellung liegen bleiben kann. Die vier legen den Toten auf eine Zeltbahn und ma- chen sich auf den Weg zum Dorf. schleppen, denn: Es ist nicht leicht, diesen Toten zu "jeder Tote ist so schwer wie die ganze Erde, aber dieser halbe war so schwer wie die Welt." Die vier Essenholer erreichten das Dorf und die Feldküche nie, denn eine Granate tötete auch sie. 40 Die Essenholer, S. 399. Der Erzähler spürte keinen Schmerz, 37 und er ging weiter im völligen Dunkel, auf einem wunderbaren, sanften Boden und machte sich Gedanken, wieviel er dem Fourier melden sollte. Beim Anblick von drei Sternen, die sich zu einem Dreieck zusammenschlössen, wußte der Erzähler: "... daß ich an einem anderen Ziele war und wahrheitsgemäß vier und einen halben würde melden müssen, und als ich lächelnd vor mich hinsagte: liebevolle Stimme: Fünf! viereinhalb, sprach eine große und „41 Die drei Sterne symbolisieren die katholische Dreieinigkeit, und die liebevolle Stimme deutet an, daß der halbe Pionier, dessen Leiche die vier Essenholer trugen, eine ganze Seele in diesem himmlischen Heer ist. Der Moment des Übergangs war nicht schmerzhaft, da ein Christ es nie bereuen soll, wenn er zu seinem Schöpfer gerufen wird. Ein schneller, schmerzloser Tod scheint der beste zu sein, denn der Erzähler der Geschichte Wiedersehen in der Allee stirbt auch auf diese Weise, nur wird er von einem Scharfschützen statt von einer Granate getötet. Auch diese Geschichte findet in den Gräben an der Front statt. Der Erzähler und sein Leutnant gönnen sich manchmal einen Geschmack des Friedens, indem sie eine Flasche echten Kognaks trinken, während der feindliche Scharfschütze sie stets daran erinnert, daß dieser Genuß nicht ein Traum ist. Doch ihr künstlicher Frieden wird eines Tages zu glaub- haft, und der Leutnant stellt sich in die Schußlinie des Scharfschützen, der ihn mit einem Kopfschuß niederstreckt. Bei der Ansicht des hervor- quellenden Blutes, das den ganzen Boden des Loches bedeckt, vergißt auch der Erzähler alle Vorsicht und erhebt sich von der Deckung der Böschung: ^^Ibid., S. 400. 38 "... und erhielt im gleichen Augenblick einen Schlag gegen den Rük- ken, der seltsamerweise gar nicht schmerzte . . . " 42 Auch für diesen Soldaten wird die Rettung angedeutet in der winkenden Silhouette des Leutnants, hinter dem ein sanftes goldenes Licht schimmert. Leider war der plötzliche Tod nicht für jeden ein schmerzloses Erlebnis; viele der Gefallenen erlitten unbeschreibliche Qualen, ehe der Tod sie erlöste. In der Geschichte Wir Besenbinder beschreibt Böll das Sterben eines Landsers, der seine letzten Minuten des irdischen Daseins in einem stürzenden Flugzeug verbrachte. Dieser namenlose er- zählende Landser befand sich auf dem Flugplatz von Odessa mit seinen Kameraden: . . . grauen, müden und verzweifelten Soldaten, in deren Au- gen kein anderes Gefühl, mehr zu lesen war als das der Angst—denn lange schon war die Krim eingeschlossen . . . Kurz nach dem Aufstieg der Maschine bemerkte der Erzähler, daß eine wilde Riesenhand farbige Bogen an den Himmel zeichnete, genau wie er es vor kurzer Zeit für seinen Mathematiklehrer an der Tafel getan hatte. Doch diese farbigen Bogen bedeuteten den Tod für den Erzähler und dessen Schicksalsgenossen in dem Flugzeug, da sie vermutlich die Leuchtspurmunition einer feindlichen Flak war. Für den Erzähler war der Tod eine schmerzhafte Explosion: " . . . ein ungeheurer zischender Kurzschluß erfüllte den ganzen Kreis mit Licht und Feuer, bis der ganze Himmel brannte und die Welt von der jähen Wucht des stürzenden Flugzeugs entzweigeschnitten wurde. Ich sah nichts mehr außer Licht und Feuer, den verstümmelten Schwanz der Maschi- ^^iedersehen in der Allee, S. 409 43 Wir Besenbinder, S. 422. 39 „44 ne . . . Dieser Landser kannte keinen Frieden in seiner Todesstunde, mir den Schmerz des Feuers und der Explosion, die sein kurzes Leben jäh beendet. Wenn man die Leiden der sterbenden Soldaten betrachtet, so muß man unbedingt an jene Landser denken, die in einem Lazarett ihre letzte Stunde erlebten. In einer Schattenwelt schwebten sie zwischen Leben und Tod, und wußten oft selbst nicht, wann sie die Grenze zum Jenseits überschritten hatten. In der Erzählung Wiedersehen mit Drüng beschreibt Böll die Schmerzen eines verwundeten Soldaten, der auf einer Bahre neben einem ehemaligen Schulkameraden liegt. Fünf Jahre hatte der Erzähler seinen Kameraden Hubert Drüng nicht mehr gesehen und doch erkannte er ihn sofort ; er bemerkte auch, daß Drüng tot war^ Die Erinnerung an die Vergangenheit, die neun Schuljahre mit Drüng, und nun Drüngs Leiche als Nachbar in diesem dunklen Zimmer verursachten es, daß der Erzähler anfing zu weinen. Weinend wurde er in ein Operationszimmer getragen, wo ein ärgerlich aussehender Arzt und eine Russin namens Dina sich um seine Kopfwunde bemühten. Der Arzt untersagte dem Erzähler das Weinen, doch der Landser schämte sich nicht und wußte: " . . . daß es sinnlos gewesen wäre, dem Arzt zu erklären, 45 warum ich weinen mußte," denn er weinte wegen des Drecks und der Läu- se, Drüngs Gesicht, und der neun Schuljahre, die zu Ende gewesen waren, als der Krieg ausbrach. Unter dem Bohren des Messers in seiner Wunde verlor der Landser das Bewußtsein. Es ist anzunehmen, daß der Erzähler die Schwelle zum Jenseits überschritt, als er bewußtlos wurde, denn nach AA 45 Ibid. S. 424 Wiedersehen mit Drüng, S. 392. 40 der Operation spürte er keine Schmerzen mehr: Schmerz gewesen, so leer. "Niemals war ich so ohne „46 Bei der Rückkehr in den Warteraum ändert sich die Stimmung der Geschichte, denn hier zeigt Böll uns zwei Seelen, die darauf warten, daß sie ihr himmlisches Ziel erreichen. Bei dem Licht einer Kerze, die schon längst gelöscht sein müßte, warteten der Erzähler und Drüng bis die Russin Dina zu ihnen durch die verschlossene Tür trat: "... und wir wußten, daß wir nun lächeln durften, und nahmen ihre ausge„47 streckten Hände und folgten ihr . . . ." Für die Toten gibt es keine Orden, nur einen Grabstein--falls man ihre sterblichen Reste finden kann—und manchmal erinnert man sich ihrer an einem Heldengedenktag. Für die Angehörigen der Gefallenen gibt es ein Telegramm oder eine Postkarte, um ihnen anzukünden, daß der geliebte Mann für "Führer und Großdeutschland" gefallen ist. In den heutigen Armeen bekommen die Angehörigen auch noch die Orden, die die Gefallenen durch ihren Tod verdient haben. Mit einem Stück Blech be- zahlt man für ein Menschenleben! 46 Ibid., S. 393. 47 Ibid., S. 395. KAPITEL V RUNENTRÄGER UND PARTEIMITGLIEDER Die nationalsozialistische Regierung Deutschlands genoß nicht das völlige Vertrauen des Volkes, da keinerlei politische Opposition erlaubt war. Schon in den früheren Jahren der Nationalsozialistischen Partei kam es zu Straßenkämpfen zwischen den Nazis und anders-orientierten politischen Gruppen. Nachdem Adolf Hitler die Führung des Reiches an sich gerissen hatte, wurde die Sturmabteilung der Partei (SA) als Hilfspolizei vereidigt und unternahm nun gesetzliche Aktionen gegen jegliche politische Opposition. Doch beschränkten die braununiformier- ten Straßenkämpfer sich nicht nur auf politische Gruppen, sondern sie verbreiteten den Judenhaß und machten ihn zum Kern der nationalsozialistischen Weltanschauung. Während die SA das deutsche Volk einschüchterte und ihm den Glauben an das Hakenkreuz aufzwang, kam es auch innerhalb der SA zum Konflikt zwischen den SA Stürmern und den schwarzuniformierten Gefolgsleuten der Schutzstaffel (SS), unter der Führung von Heinrich Himmler. Himmler und seine SS, denen auch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) und der Sicherheitsdienst (SD) unterlegen war, gelang es, durch die Niederschläge der sogenannten "Röhm-Revolte", an die Spitze dieser Privatarmee zu gelangen, deren Eid auf die Person Adolf Hitlers geschworen war. Als dann auch die Wehrmacht auf Hitler vereidigt wurde, war die Machtübernahme der NSDAP vollständig. 41 42 Die Totenkopfverbände der SS übernahmen die Verwaltung der Konzentrations- und Arbeitslager, in denen die Häftlinge allmählich verschmachteten. gert. Der Antisemitismus der SA wurde in der SS noch gestei- Die Juden wurden aufs grausamste schikaniert und vertrieben, und einige mußten in den Vernichtungslagern der SS für ihren Glauben büßen. In seinem Roman V/o warst du, Adam? schildert Heinrich Böll eines dieser Lager, doch gelingt es selbst diesem Schriftsteller nicht, die unbeschreibbaren Gräßlichkeiten eines Vernichtungslagers völlig wiederzugeben. Das Lager, das Böll in seinem Roman beschreibt, muß wegen der zurückziehenden Front geräumt werden, und der Kommandant, derselbe Obersturmführer Filskeit, der schon erwähnt wurde, hat den Befehl erhalten, die Insassen des Lagers zu vernichten. An dem Morgen des Tages, an dem dieser Befehl ausgeführt werden soll, kommt ein grüner Möbelwagen mit siebenundsechzig weiteren Opfern für das bereits beschäftigte Krematorium des Lagers. Obwohl das Schicksal dieser Ankömmlinge schon längst beschlossen wurde, müssen sie trotzdem offiziell in Empfang genommen werden: "Sie befinden sich in einem Durchgangslager. enthalt hier wird sehr kurz sein. Ihr Auf- Sie . . . müssen alle zum Bad und zur Entlausung, dann wird es für alle heißen Kaffee geben. Wer den gering„48 sten Widerstand leistet, wird sofort erschossen. Die meisten Juden wußten wohl, was für "Badeanstalten" es waren, von denen dieser uniformierte Henker sprach. In den meisten Lagern dieser Art mußten die Juden beim Empfang 48 Wo warst du, Adam?," in 1947 BIS 1951, S. 240. 43 einzeln an einem Offizier vorbeimarschieren, damit dieser entscheiden konnte, welche von ihnen in den Arbeitskommandos brauchbar waren. Die kräftigsten Häftlinge wurden benutzt, um die Leichen ihrer Schicksalsgenossen aus den Gaskanmiern in die Öfen zu befördern, nachdem sie den Toten alles entrissen hatten, was dem Reich auf irgendeine Weise nutzbar sein konnte. Auch in diesem Lager wurden die Juden einzeln zur Häftlingskartei genommen, damit Obersturmführer Filskeit neue Sänger für seinen Lagerchor finden konnte, obwohl das Lager geräumt werden mußte. Obersturmführer Filskeit liebte die Musik. Er war ein leiden- schaftlicher Chorleiter und hatte sich durch seine musikalischen Führer- „ . . . er leitete die ge- eigenschaften innerhalb der SS ausgezeichnet: „49 sangliche Ausbildung ganzer SS-Armeen . . . . Auch als Lagerkomman- dant bemühte Filskeit sich stets als Chorleiter, indem er die musikalische Kapazität der Häftlinge benutzte: "... er wandte das Auswahl- prinzip in der Weise an, daß er jeden der Neuankömmlinge zum Vorsingen bestellte und seine gesangliche Leistung auf der Karteikarte mit Noten versah . . . ."'^ Auf diese Weise hatte Filskeit sich einen Chor zusan,- mengestellt, auf den er äußerst stolz war, da er mit diesem Chor jede Konkurrenz bezwungen hätte. Leider wurde dieser Lagerchor in letzter Zeit etwas geschwächt, da der Chorleiter den Befehl erhalten hatte, die Häftlinge zu töten. Doch hatte Obersturmführer Filskeit genügend Arbeitskommandos in seinem Lager, um die ausgezeichneten Sänger auf diese Weise für die Musik sicher- 49 Ibid., S. 238. 50 Ibid.. 44 zustellen. Die Wachmannschaft des Lagers wunderte sich, ob der Komman- dant den Chor mitnehmen würde, wenn dieses Lager evakuiert werden müßte: "Der Alte ist wirklich verrückt mit seinem Chor. ihn wieder mit . . . . „51 Paßt auf, er schleppt Doch dieser Chor sollte nicht mitgenommen werden, da er mit den anderen Häftlingen getötet wurde. Während Obersturmführer Filskeit anderen Runenträgern in der Musik überlegen war, fühlte er sich durch sein Aussehen gedemütigt: "... weil er schwarzhaarig war, zu klein und offenbar dem pyknischen Typus angehörte . . . er gehörte nicht dieser Rasse an, die er glühend verehrte und der Lohengrin angehört hatte. „52 An diesem letzten Tag seines Lagers wurde ihm seine rassische Minderwertigkeit durch eine hübsche Jüdin vor Augen gehalten. In dieser Person sah er die Verkörperung jener Eigenschaften, die er oft im Spiegel gesucht hatte: " . . . hier war es: Schönheit und Größe und rassische Vollendung, verbunden mit ,,53 etwas, das ihn vollkommen lähmte: Glauben." Als diese Jüdin die Allerheiligenlitanei mit einer kräftigen, warmen Stimme sang, wurde Filskeit wie wahnsinnig und schoß das ganze Magazin seiner Pistole leer auf diese Frau. Dieser Mord an der Jüdin bedeutete den Anfang der Metze- lei der Häftlinge, und auch der Lagerchor wurde nicht verschont. Doch nicht jeder, der unter dem Totenkopf und den Runen der SS diente, trug die schwarze Uniform der Allgemeinen SS. Durch die Ein- gliederung einiger SS-Einheiten in die Wehrmacht entstand die Bildung der Waffen-SS, die sich durch ihren Fanatismus an allen Fronten des Krieges auszeichnete. Ihr Motto "Meine Ehre heißt Treue" war ihnen heilig o j und die Parolen der Parteibonzen wurden von ihnen stets ausgeführt: " E S 51 Ibid.,' S. 234. 52 ibid *^« . \ ^ ' t S^' 9'^•50. =o TU •^ , „ Ibid. S. « 246, 45 gibt nur einen Befehl—durchhalten bis zum letzten Mann, durchhalten oder sterben. „54 Die Kampffähigkeiten der SS-Truppen wurden von dem Oberkommando der V.'ehrmacht sehr geschätzt, und die Runenträger wurden oft als Kesselflicker an der Front eingesetzt, da ihre Treue zu ihrem Führer ihnen den Rückzug nicht gestattete. Wegen der Grausamkeiten, die von der SS an den Juden ausgeführt wurden, wurde Hitlers Elitetruppe nach dem Krieg von den Alliierten als eine Verbrecherorganisation angesehen. Die Wunden, die dem europäischen Völkerstamm von den Totenkopfverbänden geschlagen wurden, belasten das deutsche Gewissen noch heute. Immer wieder liest man, daß ein ehemali- ger SS-Angehöriger als Kriegsverbrecher angeklagt wird, doch haben viele Menschen die Taten dieser Leute vergessen, oder sie versuchten, sie zu vergessen. Aber die Wahrheit muß gehört werden, und die Schriftsteller unseres Zeitalters bemühen sich stets, sie am Leben zu halten. Für die meisten Nationalsozialisten bedeuteten die Totenkopfverbände den Gipfel ihres Parteidienstes, insbesonders da die Jugend des Landes durch ihre Mitgliedschaft in anderen Parteiorganisationen zum blinden Gehorsam für Führer und Vaterland erzogen wurde. Schritt im Dienst der Partei war die Hitlerjugend. darüber: Der erste Heinrich Böll schreibt "Um diese Zeit, im Sommer 1938, waren die meisten meiner Schul- kameraden längst aus den verschiedenen katholischen Jugendgruppen in die HJ oder ins Jungvolk übergewechselt." 55 Eines der wichtigsten Ziele der 54 Aus einer Rede des Reichsmarschall Göring am 23.11.1944; nach einem Flugblatt, das die Alliierten an der Front abwarfen, um die deutschen Soldaten zum Ergeben zu bewegen. 55 B ö l l , B r i e f an einen jungen Katholiken. S. 25. 46 Partei war, eine Spaltung zwischen der Jugend des Landes und den Kirchen zu erreichen. Für Heinrich Böll war die SA viel abscheulicher als die SS, da die Braununiformierten Heuchler ersten Grades waren. Die SA fand es schick, in ihren Uniformen zum Gottesdienst zu gehen und nach der Kirche sofort mit ihren rassischen Hetzliedern anzustimmen. "Wenn das Judenblut vom Messer spritzt . . . " Lieder wie spornten den Mut der SA-Angehörigen an, die Juden zu hetzen und zu ermorden; der Jude Absalom Billig, zum Beispiel, wurde von singenden SA-Leuten in einer Kasematte , 56 zertrampelt. In den letzten Tagen des Krieges wurden auch die Parteimenschen aufgerufen, die Feinde des Vaterlandes zu bekämpfen. Hitlerjugend und Jungvolk trainierten mit Übungspanzerfäusten, um der Wehrmacht als Werwölfe behilflich zu sein. Um diesen blutjungen Kämpfern das Ehrenhafte am Krieg vor Augen zu halten, erzählte man ihnen die Geschichte von dem Jungen: "... der mit zehn schon das Eiserne Kreuz erster Klasse be- kommen hatte, irgendwo im fernen Schlesien, wo er mit Panzerfäusten drei russische Panzer erledigt hatte. „57 Daß die Jungen nicht wußten, wofür sie kämpfen sollten, und daß sie sich gelegentlich mit einer Panzerfaust in die Luft sprengten, war eigentlich Nebensache für die Parteimenschen. Diese geistige Vergewaltigung der deutschen Jugend und die Kaltblütigkeit, mit der sie ausgeführt wurde, entsprach aber den Wünschen Heinrich Böll, Haus ohne Hüter (Köln: Witsch, 1965), S. 38-39. Verlag Kiepenheuer & 57 Heinrich Böll, Ansichten eines Clowns (Köln: ~ — heuer & Witsch, 1963), S.^2: Verlac Kienen^ fiepen 47 und Gefühlen des Führers: "v.'enn das deutsche Volk unter der augenblick- lichen Last zusammenbrechen sollte, würde ich ihm keine Träne nachwei,,58 nen. „ und seines Propagandaministers: Bis zum letzten Mann, bis zur letzten Frau, ja bis zum letzten Kind sind wir zu allem bereit und ff 5 9 zu allem entschlossen. ' Auch Heinrich Himmler, der Reichsführer der SS, beschrieb, auf welche Weise die Parteibonzen das Vaterland zu verteidigen gedachten: "... Jeder Häuserblock einer Stadt, jedes Dorf, jedes Gehöft, jeder Graben, jeder Busch, jeder Wald wird von Männern, Knaben und Greisen—und wenn es sein muß—von Frauen und Mädchen verteidigt. Nicht jedes Parteimitglied v/ar ein Fanatiker, doch wurde jeder Nazi von den alliierten Besatzungstruppen nach dem Krieg als mitschuldig empfunden, da alle die Taten der Parteibonzen auf irgendeine Weise gebilligt hatten. Die Schande der Nationalsozialisten ist allmählich die Nationalschände aller Deutschen geworden, und das frühere Hoheitszeichen belastet jeden, der unter ihm kämpfte. Der Schatten des Haken- kreuzes liegt noch immer auf Deutschland, doch sollte man bemerken, daß es von den Soldaten nicht als Parteizeichen getragen wurde. 58 Aus einer Rede Adolf Hitlers am 8.11.1943. 59 Propagandaminister Josef Goebbels am 17.9.1944. 60 Reichsführer-SS Heinrich Himmler am 18.10.1944. KAPITEL VI • DIE LIEBE ZUR FRAU Der Mensch will nicht allein sein, und wenn dieser alleinstehende Mensch ein Mann ist, dann sehnt er sich meistens nach einer Frau, da die Männer fast immer die Gesellschaft einer Frau bevorzugen. Die Psy- chiater der heutigen Welt versuchen diesen Drang nach dem Weiblichen auf verschiedene V.'eisen zu erklären; am beliebtesten ist die Theorie, daß der Mann in den Mutterleib zurückzukehren versucht. Die Anspielung hier richtet sich natürlich hauptsächlich auf den sexuellen Aspekt zwischen RIann und Frau und verzichtet ganz und gar auf den Unterschied, den die Frau in einer stets männlichen Umgebung darstellt. Der typische Mann versucht zum größten Teil dem männlichen Umgang durch das Zusammensein mit einer Frau zu entgehen, da er einen größeren Teil seiner Existenz unter Männern verbringt, besonders beim Militär. Die Sehnsucht nach der Frau empfindet jeder Mann; falls dieser Mann aber Soldat ist, so wird dieser Drang durch den ständigen Umgang mit Männern erhöht, sogleich aber wegen der Vorschriften und Vorgesetzten vermindert. Durch Ausgangssperre und Arbeitskommandos aller Art findet der Soldat den Verkehr mit Frauen äußerst beschränkt, insbesonders da es in den meisten Garnisonsstädten stets nie genug Frauen für die uniformierten Liebesjünger gibt. In seiner Erzählung Als der Krieg ausbrach bemerkt Heinrich Böll, daß die netten Mädchen mit den Soldaten nichts zu tun haben wollten, während die "leichten Mädchen" sofort beleidigt waren 48 49 wenn man sich mit ihnen nur unterhalten wollte. Bölls Soldaten bevor- zugten die echte Liebe gegenüber der käuflichen, doch war sie schwer zu finden. In manchen Einzelfällen aber war die käufliche Liebe auch die echte. Der Landser Andreas in Bölls Kriegserzählung Der Zug war pünl^t- lich, zum Beispiel, fand die echte Liebe in einem Bordell. Die Prosti- tuierte Olina, die wegen ihres vorkrieglichen Musikstudiums die sängerin Opern- genannt wurde, verbrachte eine keusche Nacht mit Andreas und sättigte auf diese V.'eise dessen Wunsch für v/eibliche Gesellschaft. Für Andreas hatte diese Nacht eine besondere Bedeutung, da er wußte, daß er am nächsten Morgen sterben würde und er wollte diese letzte Nacht seines Lebens nicht allein verbringen. Vielleicht war die Vorahnung sei- nes Todes ajach der Grund für Andreas' Keuschheit, da er seine Seele nicht mit einer Todessünde belasten wollte. In den letzten Stunden seines Le- bens hatte Andreas eine echte, keusche Liebe gefunden: "ich mußte, muß- te hierherkommen in dieses Lemberger Bordell, um zu erfahren, daß es eine Liebe gibt ohne Begehren, so wie ich Olina liebe . . . . „61 Diese Gefühle, die der Geschwisterliebe nicht unähnlich waren, waren das Ideal, das viele Soldaten begehrten, aber nur wenige fanden. In seiner Kritik der christlichen Themen in Bölls Werken macht Herr Albrecht Beckel die folgende, richtige Bemerkung: "Oft haben Män- ner bei Böll einfach das Bedürfnis, neben einer Frau zu sitzen, mit ihr zusammenzusein, in einer durch die Geschlechtsverschiedenheit schon genügend akzentuierten Mitmenschlichkeit, ohne weitere persönliche Be- 61 "Der Zug war pünktlich," in 1947 BIS 1951. S. 118. 50 Ziehungen oder Verstrickungen. „62 Der Sanitätsfeldwebel Schneider in Kapitel III des Romans Wo v/arst du, Adam? spürte dieses Bedürfnis, als er sich danach sehnte, mit der Obstlieferantin Szarka zu sprechen. Er hatte sie wochenlang beobachtet, ohne mit ihr zu reden, doch an diesem Tag, der zugleich sein letzter sein sollte, da er durch einen explodierenden Blindgänger getötet wurde, gelang es ihm, sie anzusprechen und zu küssen. Daß Szarka Deutsch nicht verstand, wurde Nebensache als sie seinen Küssen nicht auswich. Feldwebel Schneiders Neigung zum Weib- lichen wurde kurz vor seinem Tod erfüllt. Die Liebe zur Frau wird oft durch einfache Situationen ausgedrückt. In der Erzählung Als der Krieg zu Ende war bekommt der Erzäh- ler, der in einem Gefangenentransport nach Deutschland zurückkehrt, auf einem Bahnhof von einer Frau ein Brot in den Zug hineingereicht, was ihn so rührt, daß er dem Schluchzen nahe ist, weil er: "... zum ersten Mal in acht Monaten für einen Augenblick die Hand einer Frau auf meinem Arm gespürt hatte. Auch Andreas in Der Zug war pünktlich em- pfindet eine gewisse Rührung, als ein junges Mädchen ihm eine Tasse Kaffee eingießt: "... wenn doch der Becher ein Loch hätte, sie müß- te gießen, gießen, ich würde ihre sanften Augen und diesen reizenden „64 Nacken sehen . . . Kleine Ereignisse dieser Art bedeuteten damals viel. 62 Albrecht Beckel, Mensch, Gesellschaft, Kirche bei Heinrich Böll (Osnabrück: Verlag A. Gromm, 1966), S. 51. ~~ ~~ 63 "Als der Krieg zu Ende war," in Als der Krieg ausbrach. S. 32. CA "Der Zug war pünktlich," in 1947 BIS 1951. S. 14-15. 51 Trotz des Krieges gelang es vielen Soldaten, die Liebe in kurzen, gestohlenen Stunden zu genießen. Da der Tod stets drohte, durfte man keine Gelegenheit entgehen lassen, um sich an den Früchten der Liebe zu erfreuen, denn die Liebe bedeutete Leben, und das irdische Leben wurde viel zu oft jäh gekürzt. In seinem Roman Haus ohne Hüter be- schreibt Heinrich Böll einige der unwahrscheinlichsten Orte, in denen die lebenshungrigen Soldaten während des Krieges die Liebe fanden: auf Holzbänken, Sofas, Küchenbänken, Kasernenluftschutzbetten, in Pferdeställen, Fluren, Kantinenliinterräumen und in billigen Hotels. role der Zimmervermieter war: Die Pa- "Es ist Krieg, und die Betten werden rar „65 und teuer . . . , und doch mußten die Abc-Schützen der Nachkriegs- jahre gezeugt werden, damit die Lehrer nicht vor leeren Schulbänken stehen würden. Für Heinrich Böll jedoch, und auch für die Soldaten, die er in seinen Erzählungen beschrieb, war der Umgang mit Frauen viel wichtiger als der etwaige Geschlechtsverkehr; das heißt, das Sexuelle wurde nicht betont, weil es nicht von so langer Dauer war wie die Gefühle, die zwischen Mann und Frau existierten. Der Krieg und die Einsamkeit des Sol- datenlebens stellten den Geschlechtsverkehr oft in den Vordergrund. scherzte oft über die vielen "Urlaubskinder", doch in der Erinnerung huldigten die meisten Soldaten die Liebe zur Frau und nicht deren Gebrauch. 65 Böll, Haus ohne Hüter, S. 40 Man KAPITEL VII NACH DEM ZUSAmiENBRUCH Am 8. Mai 1945 fand die deutsche Regierung sich gezwungen, die Waffen gegen die Alliierten bedingungslos zu strecken. Durch die Über- legenheit der alliierten Streitmächte glich Deutschland einem großen Trümmerfeld, doch waren die V.'unden des Landes minimal im Vergleich zu den Wunden, die dem deutschen Volk geschlagen worden waren. forderte seine Opfer an allen Fronten. Der Krieg Die Leichen deutscher Soldaten waren gräßliche Grenzsteine für die blutige Epoche, die nun zu Ende war. Doch die Leiden der Gefallenen waren längst vorüber, während der Kampf um das Leben für die Überlebenden nun erst wirklich begann. Die Sieger des Krieges hatten Deutschland in vier Besatzungszonen geteilt, um die völlige Niederlage Deutschlands auf diese Weise zu sichern. Sinn: Die Verwaltung der Besatzungstruppen hatte nur ein Ziel im Deutschland sollte fortan als europäische Macht erledigt sein, da dieses Volk zwei Weltkriege innerhalb von fünfundzwanzig Jahren angefangen hatte. Das deutsche Volk war völlig auf die Besatzungsbehör- den angewiesen, da die Alliierten alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ämter kontrollierten, um einen Wiederaufstand der nationalsozialistischen Bewegung zu verhindern. Während die Russen ihre Besat- zungszone systematisch plünderten, halfen die westlichen Besatzungstruppen dem deutschen Volk allmählich auf den Weg zur Selbstbestimmung. 52 53 Im Jahre 1949 wurde die Regierung der drei westlichen Besatzungszonen den Deutschen zurückgegeben. Die Bundesrepublik Deutschland stand so- fort, und verharrt auch noch heute, in politischer und gesellschaftlicher Opposition zu der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik 66 der russischen Besatzungszone. Diese historische Epoche—die Zeit von Kriegsende bis zu Beginn der Bundesrepublik--war auch die Zeit der "Trümmerliteratur", zu der sich Heinrich Böll bekannte. Böll und die anderen Schriftsteller der Nachkriegszeit schrieben von dem Alltäglichen dieser Jahre: vom Schwar- zen Markt, Kohlenmangel, Wohnungsmangel, Nahrungsmangel, und all jenen Dingen, die in einem normalen Leben so selbstverständlich sind und die es während dieser Zeit nicht gab. Für die meisten Soldaten wurde der Übergang zum Zivilisten, der selbst während des Friedens ziemlich schwierig sein kann, durch die Nachkriegssituation fast unmöglich gemacht, da sie nichts kannten, außer Krieg und dem militärischen Handwerk. In seiner Erzählung Geschäft ist Geschäft beschreibt Böll den Idealübergang, den nur sehr wenige Soldaten erlebten: Und als wir nach Hause kamen, sind sie aus dem Krieg ausgestiegen wie aus einer Straßenbahn, die dort gerade etwas langsamer fuhr, wo sie wohnten, sie sind abgesprungen, ohne den Fahrpreis zu bezahlen. Sie haben eine kleine Kurve genommen, sind eingetreten, und siehe da: das Vertiko stand noch, es war nur ein bißchen Staub in der Bibliothek, die Frau hatte Kartoffeln im Keller, auch Eingemachtes; man umarmte sie ein bißchen, wie es sich gehörte, und am nächsten Morgen ging man fragen, ob die Stelle noch frei war: die Stelle war noch frei. Es war alles 66 Hier sollte erwähnt werden, daß die Alliierten nicht immer so freundlich gegen die Deutschen gesinnt waren. Während des Krieges hatte der damalige Finanzminister der Vereinigten Staaten Henry Morgenthau den Vorschlag gemacht, daß Deutschland nach dem Krieg in ein "pastoral Germany" des 18. Jahrhunderts verwandelt werden sollte! 54 tadellos, die Krankenkasse lief weiter, man ließ sich ein bißchen entnazifizieren, . . . man erzählte von Orden, Verwundungen, Heldentaten und fand, daß man schließlich doch ein Prachtbengel sei: man hatte letzten Endes nichts als seine Pflicht getan. Es gab sogar wieder Wochenkarten bei der Straßenbahn, das beste Zeichen, daß wirklich alles in Ordnung war. Indem dar Erzähler das Pronomen "sie" in dieser Geschichte benutzt, zeigt er seine Verbitterung, da es ihm nicht gelang, diese "Straßenbahn" rechtzeitig zu verlassen, wodurch er und die anderen Fahrenden für das Gepäck der Abgestiegenen verantwortlich wurden. Die Rückkehr in das Vaterland war ein erschütterndes Erlebnis für die meisten Soldaten der deutschen V.'ehrmacht, da viele einige Zeit in einem alliierten Gefangenenlager verbracht hatten und daher nicht wußten, was in Deutschland geschehen war. Böll beschreibt die Gefühle des zurückkehrenden Soldaten in seiner Kurzgeschichte Als der Krieg zu Ende war, worin der Erzähler eine Böllsche Auffassung über das Militär hat, 68 indem er sich weigert, seine Rangabzeichen an seinen Waffenrock zu nähen. Für den Erzähler ist es idiotisch, daß die Zurückkehrenden irgendwelchen Wert auf die Abzeichen einer geschlagenen Armee legten, insbesonders, da sie gezwungen wurden, den Waffenrock im Dienst einer verbrecherischen Regierung zu tragen. Daß viele der Heimkehrer aber auf ihren Abzeichen bestanden, scheint ein Hinweis auf das Germanenblut zu sein, das die Nationalsozialisten veredeln wollten. ^'^Böll, "Geschäft ist Geschäft," in 1947 BIS 1951. S. 445. 68 Es ist bemerkenswert, daß einige von Bölls Erzählungen sehr autobiographisch erscheinen, besonders da die Ereignisse von Böll in anderen Werken besprochen werden. Dieser Eindruck wird in den Geschichten der Nachkriegszeit gestärkt, da der Schriftsteller immer wieder eine Ich-Person als Erzähler benutzt. 9 55 Für den Erzähler dieser Geschichte war die V.'iedervereinigung mit seiner Frau das Allerwichtigste. von Männern in Uniformen. Er hatte genug von Männern, besonders Doch mußte das V/iedersehen eine kleine Weile aufgeschoben werden, bis der Erzähler die letzten Formalitäten der Entlassung hinter sich gebracht hatte, wobei er feststellte: " . . . daß die Deutschen plötzlich Sinn für Witz zu haben schienen, wenn es Ausländerwitz war . . . . „69 Auch bemerkte er, daß die uniformierten V.'ächter sehr wütend wurden, wenn etwas nicht in ihr Klischee paßte; der Erzäh- ler, zum Beispiel, hatte sein Soldbuch längst gegen Zigaretten eingetauscht, doch mußte er dem englischen Posten seine Papiere überlassen, was in diesem Fall nur ein Tagebuch war, um sie in eine Latrine zu werfen. Überhaupt macht Böll sich ein bißchen lustig über die Besatzungsmächte, indem er die Soldaten der Sieger fast kameradschaftlich beschreibt. Ein belgischer Posten verkaufte dem Erzähler der Geschich- te Als der Krieg zu Ende war ein Paket Tabak und ließ ihn seine Maschinenpistole halten, während er die Seife, die als Geld galt, in seinen Manteltaschen versteckte. Auch der englische Posten, der vor einer ge- meinen Soldatenkneipe Wache stand, wurde durch Bölls Beschreibung vermenschlicht. Auf diese Weise erinnert Böll seine Leser, daß der Krieg vorüber war und daß diese Soldaten, obwohl sie die Uniform eines anderen Landes trugen, auch Menschen waren. ' Während der militärischen Besatzung Deutschlands unter den Alli- ierten litt die deutsche Wirtschaft an einem Mangel von fast allen Din- 69^.. Böll, "Als der Krieg zu Ende war," in Als der Krieg ausbrach, S. 35. 56 gen, die für das tägliche Leben der Menschen benötigt v.urden: nur 40 Prozent des errechneten Mindestbedarfs an Nahrungsmitteln standen zur Verfügung. Heizmaterial und Bekleidung waren kaum vorhanden." Jeder Student der Ökonomie kann hieraus sofort erkennen, daß die Preise für das Vorhandene weit höher als unter normalen Umständen waren. Die- se Preissteigerungen auf dem offenen Markt brachte der schwarze Markt mit sich, auf dem die Währung nicht Geld, sondern andere begehrte Ware war. Meistens tauschte man das, was man im Augenblick nicht benötigte, gegen Lebensmittel, Zigaretten, und Kohle ein. Da der schwarze Markt eine so wohlbekannte Tatsache des Lebens der damaligen Zeit war, befaßte auch Heinrich Böll sich mit diesem Thema, da er stets ein naturgetreues Bild der Deutschen malte. Der heimkehrende Soldat erfuhr sehr schnell, daß der Handel auf dem schwarzen Markt nicht nur nötig, sondern auch begehrenswert war, da man sich hier einiges anschaffen konnte, das auf dem offenen Markt überhaupt nicht vorhanden war. In der Erzählung Als der Krieg zu Ende war wurde dem Erzähler dies vor Augen gehalten, bevor er völlig aus der Gefangenschaft entlassen wurde, indem die Seife, die den Gefangenen in den amerikanischen Lagern gegeben wurde, als Währung benutzt wurde. Betrug kam sehr selten vor, doch profitierte mancher von den Umständen der Zeit, denn: "... offenbar galten hundert Prozent Gewinn als honoriger Satz, besonders unter 'Kameraden' . . . ." 71 70 Helmut Arntz, ed., Tatsachen über Deutschland (Wiesbaden: Steiner-Verlag, 1962), S. 7. 71 Böll, Als der Krieg zu Ende war, S. 37. 57 In der Erzählung Kumpel mit dem langen Haar beschreibt Heinrich Böll die Probleme der Schwarzhändler, die den gelegentlichen Razzias der Zivil- und Militärbehörden entkommen mußten. Auch ist hier zu er- sehen, daß die meisten Menschen keine "feste Bleibe" während dieser Zeit hatten, denn der Erzähler nimmt es nicht so tragisch, daß seine Bude bewacht wurde. Er bedauert nur, daß er wegen der Beschlagnahme seiner Habseligkeiten seine Waren verlor. In derselben Geschichte bespricht Böll das Problem der Einsamkeit und den ewigen Drang zum Weiblichen, der durch die Trostlosigkeit der Nachkriegszeit manchmal erhöht wurde. Als der Erzähler dieser Ge72 schichte wegen der erwähnten polizeilichen Aktion und der folgenden 'dicken Luft" diese Stadt, wahrscheinlich Köln, verlassen mußte, verbrachte er einige Zeit im Bahnhof: . . . nirgendwo hätte ich so wun- derbar allein sein können mit meinen Gedanken wie hier, mitten im Gedränge und im kreisenden Trubel des Wartesaales. „73 Der Halbtraum, in den der Erzähler versunken war, wurde durch ein Mädchen an einem anderen Tisch gestört, indem der Erzähler sie unwissentlich anstarrte. Nach- dem das Mädchen auch ihn angeblickt hatte, folgte der Erzähler ihr auf den Bahnsteig und auch in einen ausfahrenden Zug. Vermutlich empfand der Erzähler keinen sexuellen Drang, aber er hatte das Bedürfnis, nicht allein zu sein, und dieses blasse Mädchen mit dem alten Brotbeutel auf der Schulter schien dieses Gefühl auch zu spüren. Nachdem der Erzähler 72 Da Böll während der Nachkriegszeit schon längst verheiratet war, handelt es sich bei dieser Geschichte, trotz des Ich-Erzählers, anscheinend nicht um eine autobiographische Erzählung. 73 Böll, "Kumpel mit dem langen Haar," in 1947 BIS 1951. S. 304. 58 dem Mädchen in ein Abteil folgte, trafen sich ihre Augen ein zweites Mal: »f . . . da las ich es in ihren großen grauen Augen: 74 daß ich die ganze Zeit über hinter ihr gewesen war." sie wußte, Der Erzähler spricht sehr wenig über das Zusammensein mit diesem Mädchen, doch erwähnt er, daß er seit jenem Abend mit ihr "in dieser Zeit" zusammenblieb. Das Thema der Frauenliebe während der Nachkriegszeit hatte Böll in seinem Roman Und sagte kein einziges V.'ort ausführlicher besprochen. Der frühere Wehrmachtstelefonist Fred Bogner kann nur am V/ochenende mit seiner Frau zusammen sein, da seine Einzimmerwohnung für Mann und Frau mit drei Kindern zu klein ist, um eine Ehe zu führen. Um ein billiges Hotelzimmer für sich und seine Frau für ihr wöchentliches Rendezvous zu haben, muß Bogner auf jeglichen Luxus verzichten, da sein Lohn von der kirchlichen Behörde, bei der er als Telefonist tätig ist, kaum ausreicht, um seine Familie zu ernähren. Er selbst schlägt sich durch, in- dem er Geld von allen Bekannten borgt, um die wöchentliche Hotelmiete bezahlen zu können. Für sich selbst braucht er sehr wenig, da er nachts in einer Bank im Gepäckaufbewahrungsraum des Bahnhofs schläft, und da er selten ißt. Das einzige, das er sich von Zeit zu Zeit gönnt, ist, daß er trinkt, doch fällt es dem Leser leicht, diese Schwäche zu entschuldigen, da Fred Bogner den Alkohol als gelegentliche Narkose zu benötigen scheint. Während der drei Tage, die Böll in diesem Roman schil- dert, findet eine Versammlung von Drogisten in dieser Stadt statt, die im krassen Gegensatz zu Bogners Umständen steht. In diesem Roman ist es Böll gelungen, die Trümmer einer Stadt 74 Ibid., S. 306. 59 und das Leben von deren Einwohner aufs Traurigste zu beschreiben. Über- raschenderweise hatte Böll dieser Stadt keinen Namen gegeben, aber es handelt sich höchstwahrscheinlich um sein heimatliches Köln, da seine Beziehungen zu dieser Stadt denen von Borchert und Hamburg nicht unähnlich sind. Während V/olfgang Borchert die totale Zerstörung seiner Heimatstadt durch die Augen eines alliierten Fliegers in der Kurzgeschichte Billbrook beschrieben hatte: "... Zehntausend Tote. Flach, „75 platt und tot. Zehntausend in zwei Nächten. Eine ganze Stadt! be- schrieb Böll das alltägliche Leben dieses Mannes, um eine in Trümmern liegende Gesellschaft heraufzubeschwören. Durch den surrealen Hinter- grund, den die Drogisten mit ihrem Motto: "Was bist du ohne deinen „76 Drogisten den Ereignissen dieser drei Tage setzen, nimmt das Gesche- hen einen fast grotesken Ausdruck an. Die wiederholte Schwangerschaft seiner Frau ist für Fred Bogner nur ein weiteres Problem, anstatt der Freude, die er empfinden sollte. Hierbei erweist Böll sich als Gesell77 Schaftskritiker, wofür er heute bekannt ist. Leider hatte der Krieg nicht nur die Städte der Deutschen zerstört, sondern auch ihr Leben. Viele Soldaten kehrten als Invaliden in die Heimat zurück, da der Krieg ihnen geistige oder körperliche Wunwolf gang Borchert, Das Gesamtwerk (Hamburg: GmbH, 1949) S. 87. Rowolt Verlag 7ß Heinrich Böll, Und sagte kein einziges Wort (Frankfurt/M: Verlag Ullstein GmbH, 1968), S. 53. 77 Obwohl Böll praktizierender Katholik ist, hat er die Kirche oft scharf kritisiert. Diese Schwangerschaft kann als eine Kritik des kirchlichen Verbots der Empfängnisverhütung angedeutet werden, da diese Eltern wegen ihrer Armut unfähig sind für ein Kind zu sorgen, ohne ihre anderen Kinder zu vernachlässigen. 60 den geschlagen hatte. Diese Kriegsinvaliden fanden es am schwierigsten, die Umwandlung in einen Zivilisten in den Ruinen des Vaterlandes erfolgreich durchzumachen, da ihre Leiden sie oft bei der Arbeit behinderten, was ihnen bei der Stellensuche zum Nachteil wurde. Auch Böll erkannte die traurige Lage der Kriegsbeschädigten und widmete zwei seiner Kurzgeschichten den Beinamputierten, da diese Art der Verstümmelung am häufigsten unter den Heimkehrenden bemerkt wurde. Beide Geschichten sind auch eine Kritik der Bürokraten, die den Kriegsinvaliden als einen halben Mann betrachteten und sich sehr selten nach seinen Fähigkeiten erkundeten. Während die Geschichte Mein teures Bein ein Gesuch nach einer Rentenerhöhung beschreibt, wobei der Rentner eine angebotene Stelle als zu erniedrigend ablehnt, berichtet Böll von einem Mann, dem die Behörden eine Stelle gaben, in der Erzählung An der Brücke. Beide Geschich- ten sind ein Ausdruck der Selbstbestimmung des Einzelmenschen, indem der Rentner sein eigenes Schicksal durch zufriedenstellende Arbeit entscheiden will, während der angestellte Beinamputierte sich weigert, jeden Menschen, der seine Brücke überquert, in die Schattenwelt der Statistik zu befördern. Der eine wollte die nutzlose Arbeit des Schuheputzens in einer Bedürfnisanstalt nicht annehmen, und der andere empfand das Zählen der Passanten als eine nutzlose Arbeit. Das Ironische an der ganzen Sache ist, daß es keinen Mangel an Arbeitskräften während der Nachkriegszeit gab, sondern einen Arbeitsmangel, wobei die Behörden oft die Kriegsbeschädigten bevorzugten, was die "diensttauglichen" Heimkehrer dazu zwang, sich als Hilfsarbeiter zu verdingen. Der Erzähler der Geschichte Geschäft ist Geschäft spricht nicht nur für sich, wenn er die traurigen Tatsachen schildert: 61 Das Furchtbare ist, daß ich keinen Beruf habe. Man muß ja jetzt einen Beruf haben. Sie sagen es. Damals sagten sie alle, es wäre nicht nötig, v/ir brauchen nur Soldaten. Jetzt sagen sie, daß man einen Beruf haben muß. Ganz plötzlich. Sie sagen, man ist faul, wenn man keinen Beruf hat. Aber es stimmt nicht. Ich bin nicht faul, aber die Arbeiten, die sie von mir verlangen, will ich nicht tun. Schutt räumen und Steine tragen und so. Nach zwei Stunden bin ich schweißüberströmt, es schwindelt mir vor den Augen, und wenn ich dann zu den Ärzten komme, sagen sie, es 78 ist nichts. Unter solchen Umständen ist es natürlich verständlich, wenn ein ehemaliger Oberleutnant froh ist, daß ein früherer Untergebener ihn mit Messern bewirft, da dies ein ziemlich gut bezahlter, richtiger Beruf ist: " •. . . wo ich mich nur hinzustellen brauchte und ein bißchen zu träumen. Zwölf oder zwanzig Sekunden lang. 79 Ich war der Mensch, auf den man mit Messern wirft . . . ." Das war also die Heimat der Heimkehrer: ein zerstörtes Land, das ihnen nicht helfen konnte, ein Land, in dem jeder nur an sich denken konnte und in dem die Nächstenliebe anscheinend nicht mehr existierte. Deutschland war das Land der Arbeitslosen, der Waisen und der Hungrigen. Man lebte nur von einem Tag zum andern, denn man wußte nie, was die Zukunft mit sich bringen würde. Die Soldaten wurden nicht mit Ehren empfangen, sondern als Symbole der vergangenen Epoche in Acht und Bann getan, beleidigt, und schikaniert. Ihre Frauen wurden ihnen untreu, da die Besatzungstruppen oft großzügig mit ihrem überwältigenden Reichtum umgingen. Die Zerstörung der Städte, die Überlebenden, den Hunger und den "^^Böll, "Geschäft ist Geschäft," in 1947 BIS 1951, S. 442. ^^Böll, "Der Mann mit den Messern," in 1947 BIS 1951, S. 320 62 schwarzen Miarkt hatte der deutsche Soldat schon lange in anderen Ländern Europas gesehen. Doch nun spiegelten die Gesichter seiner Lands- männer das Unbegreifliche wider. "Warum?". In jedem Gesicht stand die Frage Der Soldat wußte nicht die Antwort darauf, doch im Stillen bekannte er sich als mitschuldig, da er sich nicht gegen die Vergewaltigung seiner Heimat durch eine verbrecherische Regierung gewehrt hatte. Er hatte für diese Regierung, die ein verzerrtes Kreuz zum Hoheitszeichen machte, in fremden Ländern gekämpft, um das Vaterland zu beschützen, aber nun mußte er einsehen, daß das Vaterland seinen Feinden unterlegen war und daß die ungeheuren Opfer umsonst waren. Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit und Lebensangst betonten das deutsche Wesen nach dem Zusammenbruch, Stimmungen, die Heinrich Böll der Nachwelt in seinen Nachkriegserzählungen wiedergegeben hat. KAPITEL VIII ZUSMMENFASSUNG Deutschland ist des Krieges müde, aber die Deutschen dürfen die Ereignisse der Hitlerzeit nicht vergessen, um eine Wiedergeburt des Nationalsozialismus zu verhindern. Nie wieder darf die Hakenkreuzfahne oder ein ähnliches S^Tnbol einer Diktatur über deutschen Häuptern wehen; nie wieder darf eine Einzelpartei die Regierung kontrollieren; nie wieder darf das Gewissen in den Hintergrund des Menschlichen geschoben werden; und nie wieder darf das deutsche Vaterland "über alles" gelten. Die Schriftsteller der Nachkriegszeit, und ganz besonders Heinrich Böll, der heute als Gesellschaftskritiker tätig ist, mußten über das Vergangene schreiben, um die Deutschen stets zu warnen, daß sie ihre neue Freiheit nicht durch einen Fehltritt gefährden sollten. Böll erlebte den zweiten Weltkrieg als Soldat und machte bei mehreren Feldzügen mit, obwohl er den Waffenrock des Führers mit Abscheu trug. Als ausgeprägter Pazifist und gläubiger Katholik empfand Böll, daß der Krieg ein Verbrechen war, das an dem deutschen Volk ausgeübt wurde. In seinen Werken sehen wir seine Empörung, seinen Schmerz, und seine Anklage, nicht nur an der Führung des Landes, aber auch an dem Volk, das es duldete, daß ein prostituiertes Kreuz zur Anstiftung eines barbarischen Krieges führte. Obwohl Böll sich in den letzten Jahren der Gesellschaftskritik zuwandte, erscheint der Krieg und der Nationalsozialismus noch immer 63 64 in seinen V.'erken. In dem Roman Billard um halb Zehn spricht er vom "Sakrament des Büffels"—eine hübsche Verschleierung der Nationalsozialisten— und einem Gelübde, nicht daran teilzunehm.en, während der Erzähler von Das Brot der frühen Jahre sich an seinen Vater erinnert, der seine besten Bücher als Tausch für das tägliche Brot benutzen mußte. Die Deutschen und ihre Dichter können dem Krieg nicht entkommen, da es kaum möglich ist, etwas zu schildern, ohne auf das Thema Krieg zu sprechen zu kommen. Für Böll wie für Saint-Exupery, den er in der Widmung seines Romans Wo warst du, Adam? zitiert, ist der Krieg nicht ein Abenteuer, sondern eine Krankheit, an der man lange leidet. Von größerer Bedeutung sind Bölls Beschreibungen des deutschen Soldaten, da dieser zu oft als nichtdenkende Todesmaschine geschildert wurde. Besonders im Ausland wurden die Wörter Deutsch und Nationalso- zialismus als gleichbedeutend angesehen, da das Hakenkreuz auf dem Waffenrock getragen wurde. Indem Böll das Menschliche im Soldaten be- schreibt, hat er einen Teil der Schande von den gesenkten Köpfen der Gefallenen gehoben. Es soll keinen Unterschied zwischen Menschen und Soldaten geben, denn auch der Soldat liebt, weint und stirbt. Bölls Erzählwerk ist nicht eine Rechtfertigung des Krieges, sondern eine Verteidigung des Soldaten, der in diesem Krieg kämpfte. BIBLIOGRAPHIE Arntz, Helmut, ed. Tatsachen über Deutschland. Verlag, 1962. Wiesbaden: Steiner- Beckel, Albrecht. Mensch, Gesellschaft, Kirche bei Heinrich Böll. Osnabrück: Verlag A. Fromm, 1966. Böll, Heinrich. Als der Krieg ausbrach. buch Verlag, 1965. Ansichten eines Clowns. 1963. Köln: Aufsätze, Kritiken, Reden. 'witsch, 1967. Billard um halb Zehn. ~195?^^ München: Das Brot der frühen Jahre. "witsch, 1965. Ende einer Dienstfahrt. "l966. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln: Köln: Köln: Köln: Köln: Geschichten aus zwölf Jahren. 'l969. . 1947 BIS 1951. Köln: Köln: Verlag Kiepenheuer & Köln: Verlag Kiepenheuer Verlag Kiepenheuer & Witsch, Frankfurt/M: Hierzulande. Aufsätze zur Zeit. buch Verlag, 1967. Haus ohne Hüter. Verlag Kiepenheuer & Verlag Kiepenheuer & Witsch, . Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze. "& Witsch, 1961. Frankfurter Vorlesungen. "1966. Verlag Kiepenheuer & Verlag Kiepenheuer & V.'itsch, Köln: . Entfernung von der Truppe. "witsch, 1964. Deutscher Taschen- München: Suhrkamp Verlag, Deutscher Taschen- Verlag Kiepenheuer & Witsch, 1965. Friedrich Middelhauve Verlag, 1961. 65 66 . Und sagte kein einziges Wort. Franl^furt/M: GmbH, 1967. Borchert, Wolfgang. 1949. Das Gesamtwerk. Hamburg: Verlag Ullstein Rowohlt Verlag GmbH, Friedmann, Hermann und Mann, Otto. Deutsche Literatur im Zwanzigsten Jahrhundert. Heidelberg: Wolfgang Rothe Verlag, 1956. Friedrich, Werner P. An Outline-History of German Literature. York: Barnes & Noble, Inc., 1961. Hartfield, Henry. Modern German Literature. Press, 1967. Interpretationen zu Heinrich Böll. Verlag, 1965. Interpretation zu Heinrich Böll. Verlag, 1965. Bd. I. New York: München: Bd. II. München: Berlin: Ley, Ralph, ed. Böll für Zeitgenossen. lishers, 1970. R. Oldenbourg München: Deut- Hermann Luchterhand Verlag New York: Martini, Fritz. Deutsche Literaturgeschichte. Kröner Verlag, 1965. Reich-Ranicki, Marcel, ed. & Witsch, 1968. St. Martin's R. Oldenbourg Lengning, Werner. Der Schriftsteller Heinrich Böll. scher Taschenbuch Verlag, 1968. Lettau, Reinhard. Die Gruppe 47. GmbH, 1967. New In Sachen Böll. Harper & Row, Pub- Stuttgart: Köln: Alfred Verlag Kiepenheuer Trahan, Elizabeth Welt, ed. Gruppe 47: Ein Querschnitt. Waltham, Massachusetts: Blaisdell Publishing Company, 1969. Vogt, Hannah. Schuld oder Verhängnis?. Moritz Diesterweg, 1961. Frankfurt am Main: Wilpert, Gero von. Deutsches Dichterlexikon. Kröner Verlag, 1963. Sachwörterbuch der Literatur. Verlag, 1969. Stuttgart: Stuttgart: Verlag Alfred Alfred Kröner ZEITSCHRIFTEN Andersch, Alfred. Christus gibt keinen Urlaub." XII (Dezember, 1951), 939-41. Frankfurter Hefte, Baacke, Dieter. "The Short Stories of Heinrich Böll." Short Fiction, III (Winter, 1966), 89-103. Bachmann, Ingeborg. Der Zug war pünktlich." (1952), 623-4. Studies in Wort und Wahrheit, VII Günther, Helmut. "Die deutsche Kriegsliteratur 1945-1952." Welt und Wort, VIII (1953), 179-84. Hanson, W. P. "Heinrich Böll: Das Brot der frühen Jahre." Languages, XLVIII (Dezember, 1967), 148-51. Kennebeck, Edwin. "Wounds and Wrenches in German Lives." weal, LXVII (November, 1957), 134-5. Lange, Victor. "Worlds of Desolation." ber, 1965), 36-8. Mühlberger, Josef. "Böll, Heinrich: III (1955), 86. Schonauer, Franz. 189-92. Modern The Common- The New Republic, CLII (Novem- Haus ohne Hüter." Welt und Wort, "Sie kämpften im Dunkel." Zeitwende, XXV (1954), Waidson, H. M. "The Novels and Short Stories of Heinrich Böll." German Life and Letters, (New Series) XII (July, 1959), 264-72. Ziolkowski, Theodore. "Heinrich Böll: Conscience and Graft." Abroad, (Summer, 1960), 213-22. 67 Books m