Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
Mirko F. Schmidt
Der Anti-Detektivroman
Mirko F. Schmidt
Der Anti-Detektivroman
Zwischen Identität und Erkenntnis
Wilhelm Fink
Umschlagabbildung:
Randy Adams, The intrepid code detective (2007)
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© 2014 Wilhelm Fink, Paderborn
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Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5275-7
INHALTSVERZEICHNIS
1.
EINLEITUNG – DER FALL DER WELT .........................................
2.
DER DETEKTIVROMAN ................................................................. 13
2.1
2.2
Typologische Problematisierung ......................................................
Der Detektivroman: Varianten und Entwicklungslinien ...................
2.2.1 Der klassische Detektivroman ...............................................
2.2.2 „I play the game for the game’s own sake“ ...........................
2.2.3 Hard-boiled school ................................................................
2.2.4 Weiterentwicklung ................................................................
3.
DER ANTI-DETEKTIVROMAN ............................................... 39
3.1
3.2
3.3
3.4
Annäherung ......................................................................................
Forschungslage..................................................................................
3.2.1 Einordnung und Forschungsstand, Deutschland ...................
3.2.2 Definitionsgeschichte und Forschungsstand, USA/England .
3.2.3 Postmodernes Paradigma ......................................................
Parodie, Antiroman, Anti-Detektivroman .........................................
Zusammenfassung: Der Anti-Detektivroman ...................................
4.
FRÜHE BEISPIELE DER ANTI-DETEKTIVLITERATUR ............. 59
4.1
4.2
4.3
4.4
Borges – Der scheiternde Detektiv ..................................................
Robbe-Grillet und Butor – Revision im Nouveau roman..................
Dürrenmatts Requiem auf den Kriminalroman .................................
Pynchon – Die gestörte Noesis .........................................................
5.
FRAGEN DER IDENTITÄT ...................................................... 69
5.1
5.2
5.3
Identitätskonzepte ............................................................................ 69
Das Identitätsgefühl .......................................................................... 74
Krisen und Probleme von Identität ................................................... 76
9
13
18
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22
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41
41
44
50
51
56
59
60
64
65
INHALTSVERZEICHNIS
6.
EINZELANALYSEN – ERMITTLUNGEN ÜBER TEXTE .............. 81
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
6.6
Kobo Abe: Moetsukita chizu (1967) ................................................
Patrick Modiano: Rue des Boutiques Obscures (1978) ....................
Antonio Tabucchi: Notturno indiano (1984).....................................
Antonio Tabucchi: Il filo dell’orizzonte (1986) ................................
Paul Auster: City of Glass (1985) .....................................................
Jean-Philippe Toussaint: La réticence (1991) ...................................
7.
DIE ‚ÜBERSCHRIEBENEN‘ GRENZEN DES DETEKTIVROMANS 255
7.1
7.2
7.3
Transformation ................................................................................. 255
Geschichten von Detektiven ............................................................. 257
Ein Rätsel ohne Zentrum? ................................................................. 260
81
112
147
165
195
231
BIBLIOGRAFIE ............................................................................... 269
I always shoot them in the head, and it’s not just because I
want to make sure of the job. I think it’s because the head,
theirs and mine, is where all the trouble started: theirs and
mine.
Philip Kerr, A Philosophical Investigation (1992)
“What we all dread most,” said the priest in a low voice,
“is a maze with no centre.”
Gilbert Keith Chesterton, The Head of Caesar (1913)
EINLEITUNG – DER FALL DER WELT
„Etwas ist nicht geheuer [...].“1 Mit diesen Worten beginnt Ernst Bloch seine
Philosophische Ansicht des Detektivromans. „Nach einem versteckten Wer ist
gefragt“, fährt Bloch fort, denn im klassischen Detektivroman gibt es immer
jenen anderen, der sich bemüht, der Figur des Detektivs verborgen zu bleiben.
Hier ist analytisches Vorgehen vonnöten, um zunächst Unerzähltes offen zu
legen und eine Geschichte zu erzählen, die die Wahrheit sein wird.
Die Lesbarkeit der Welt und die Sinnhaftigkeit der gefundenen Spur sind
Voraussetzungen für den Erfolg der klassischen Detektivfigur und Grundlage
ihrer Aufgabe, das durch die Störung des Verbrechens in Unordnung geratene
Gefüge der erzählten Welt zu korrigieren und die Ordnung zu restituieren. Jede Tat, jedes Ereignis hinterlässt Spuren, schreibt sich ein in diese Welt, die
der Detektiv zu deuten versteht. Damit feiert der Detektivroman die Omnipotenz menschlichen Intellekts vor allem in den Great Detectives und Thinking
Machines der Frühphase des Genres, denen die innerhalb der Diegese evozierte Struktur aus Objekten und Subjekten zum Text wird, aus dem sie zweifelsfrei lesen können und deren Zeichen sie in Beziehung zueinander setzen. Dabei geht der detektivischen Ermittlung das Postulat einer kohärenten Welt und
deren Erfass- und Verstehbarkeit voraus: Um das vorliegende Verbrechen zu
klären, um das Rätsel zu lösen und den Täter zu finden, müssen und können
die Detektive die abwesende Geschichte der Tat anhand von Spuren und Zeugenaussagen rekonstruieren und das zunächst Ungeheure zu einem vermittelbaren, einfachen Kausalzusammenhang destillieren. Alles ist schließlich rational erklärbar und mittels Logik rückführbar auf eine Wahrheit. Als Funktion2
gewordene Figur reduziert der Detektiv die Komplexität und löscht die Polysemien aus. Seine Schlussrede ist die Antwort auf alle aufgeworfenen Fragen.
Ein Scheitern des Detektivs, das die Unlesbarkeit der Welt oder gar deren Absurdität oder Irrationalität ausstellt, ist in diesem Ablaufmodell undenkbar: Im
klassischen Detektivroman wird der Detektiv nicht in Frage gestellt; im Gegenteil ist er unangreifbarer und unfehlbarer3 Katalysator des Reorganisationsprozesses. Der Detektiv avanciert zum Mythos der Moderne, wird gar – in
Siegfried Kracauers charmanter Diktion – zum anmaßenden „säkularisierte[n]
1
2
3
Ernst Bloch: Philosophische Ansicht des Detektivromans. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: Fink 1998, S. 38.
Zur Figur als Funktion vgl. Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975, S. 31-70, S. 79-83, insbesondere S. 79: Auszug mit dem Ziel, etwas zu suchen.
Viktor Žmegač: Aspekte des Detektivromans. In: Ders. (Hg.): Der wohltemperierte Mord.
Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans. Frankfurt/M.: Athenäum 1971, S. 15.
10
EINLEITUNG – DER FALL DER WELT
Priester“4 der Aufklärung, er wird in seiner Hybris zum „Detektiv-Genie“5 und
„Gott-Detektiv“,6 der allerdings – so Kracauers Kritik – nur eine durch die Ratio verklärte Welt beherrscht, die nicht sein kann.7
Das strukturell und ideologisch zunächst geschlossene Konzept des Detektivromans provoziert ein mannigfaltig ausdifferenziertes Feld kritischer Modifikationen, die das Terrain der detektivischen Recherche erweitern oder die
einzelnen generischen Elemente einer Revision unterziehen: Es wird unternommen, den Detektivroman durch Annäherung an den realistischen Roman
zu nobilitieren, ihn zum Gesellschaftsroman zu erweitern, die Investigation
zur politischen und sozialen Enquête zu transformieren und zugleich die funktional reduzierten Figuren durch komplexere zu ersetzen.
Kumulativer Höhepunkt der Revision und zugleich parodistisch-metatextuelle Reflexion der strukturellen, ideologischen und epistemologischen Modelle
des Detektivromans ist der Anti-Detektivroman. Im Laufe seiner Entwicklung
wird das optimistische gnoseologische Heilsversprechen detektivischer Aufklärung und das hieraus resultierende Weltverständnis konsekutiv durch Diskontinuität und Inkohärenz, durch pluralistische Modelle, Vieldeutigkeit,
Unabgeschlossenheit, Unlösbarkeit und Momente des Scheiterns ersetzt, was
letztlich auch den Detektiv als literarische Figur aus seiner Unverletzlichkeit
und Souveränität in der Beobachterrolle entlässt und seine Integrität in Orientierungslosigkeit verwandelt. Sein und Wahrnehmung, Deutung und Bedeutung werden in Frage gestellt. Welt und Gesellschaft scheinen nicht – wie im
konservativen Prozess des klassischen Detektivromans – schlussendlich stabilisiert, sondern destabilisiert. Der Anti-Detektivroman wird zur ontologischen
und metaphysischen Investigation, die das Motiv der Suche zur existenziellen
Fragestellung radikalisiert.
Frühere Analysen des Subgenres indizieren den Anti-Detektivroman vorrangig durch die Abweichung vom klassischen Detektivroman. Diese generische Devianz ist auch basales Element der folgenden Untersuchung, die mittels intertextueller Lektüren die Differenzen zwischen Hypotext und Hypertext
bzw. zwischen Prätext und Transposition auslotet. Im Zentrum dieser Studien
steht jedoch die Analyse eines quasi invertierten Topos der Hypogattung: Der
Detektivroman ist grundsätzlich mit der ungeklärten Frage nach der Identität
befasst. Der in ihm verhandelte Fall ist – dem Titel einer 1891 im Strand Magazine publizierten Sherlock Holmes-Geschichte folgend – A Case of Identity.
4
5
6
7
Siegfried Kracauer: Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 55.
Ebd., S. 122.
Ebd., S. 54.
An dieses Urteil schließt sich z. B. auch Viktor Žmegač an, wenn er konstatiert, dass „der Detektivroman in seiner schablonenhaften Praxis die Wirklichkeitserfahrung“ missachte. (Vgl.
Žmegač: Aspekte des Detektivromans, S. 16.)
EINLEITUNG – DER FALL DER WELT
11
Die Frage nach der „Identität des Schuldigen“8 ist durch die klassische Detektivfigur einfach zu klären, weil es auf sie nur eine einzige exakte und schließlich objektiv verifizierbare Antwort gibt: Einen Namen, durch den in der Auflösung die Täterrolle einer Figur der Diegese zugewiesen und die Instanz des
Schuldigen besetzt wird. Identität bedeutet in diesem Fall nicht mehr als eine
Etikettierung im mäandrierenden Rollenspiel des Rätsellösens.
Die Arbeitshypothese der folgenden Untersuchung ist, dass im AntiDetektivroman die Frage nach der Identität, dem Selbst des zentralen Textsubjekts und dessen Konstituenzien, das klassische Whodunit als Ermittlung des
Täters endgültig abgelöst hat. Dabei wird zu klären sein, inwiefern das für den
Detektivroman typische Muster der aufdeckenden Suche im AntiDetektivroman einer neuen Aufgabe, der Recherche der Identität, zugeführt
bzw. in welcher Weise die motivische Konstante der Suche enttrivialisiert
wird, indem sie sich auf das Ich des Suchenden richtet. Ziel der Untersuchung
ist es dabei nicht, präskriptive Paradigmen zu entwickeln, sondern Wege zu
einer interpretativen Kontextualisierung des Identitätskomplexes im Subgenre
des Anti-Detektivromans aufzuzeigen.
Ist der Detektivroman in gattungstypologischen Studien immer wieder
fruchtbar strukturell beschrieben worden, bietet sich parallel dazu ein
narratologisches Vorgehen – unter Verwendung des von Gérard Genette entwickelten Instrumentariums – auch in der Analyse des Anti-Detektivromans
an, insbesondere um die Umbesetzung und invertierende Funktionalisierung
der einzelnen Strukturmerkmale der Hypogattung im Anti-Modell präzise zu
erfassen.
Ergänzend ist eine auf die intendierte Wirkung der Texte fokussierende
Vorgehensweise nötig: Das Genre des Detektivromans ‚lebt‘ nicht unwesentlich vom Einbezug des Lesers,9 insbesondere in dessen immer wieder beschriebener „Teilnahme am Rätselraten“:10 Die Texte sehen Leser vor, die das
eingangs präsentierte Rätsel im Wettstreit mit dem Protagonisten zu lösen versuchen und bedienen sich auf der Handlungsebene retardierender Momente
wie falscher Spuren (red herrings) oder unvollständiger Informationen, um
das für die gespannte Rezeptionshaltung maßgebliche Geheimnis möglichst
lange aufrecht zu erhalten, d. h. die Texte sehen einen bestimmten Akt der Rezeption vor11 und weisen – im Sinne Ecos – „strukturale Charakteristika [auf,]
8
9
10
11
Ernest Mandel: Ein schöner Mord. Sozialgeschichte des Kriminalromans. Frankfurt/M.:
Athenäum 1987, S. 25.
Vgl. Richard Alewyn: Anatomie des Detektivromans. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: Fink 1998, S. 54-56.
Volker Ott: Der Kriminalroman. In: Otto Knörrich (Hg.): Formen der Literatur in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Kröner 1981, S. 218.
Vgl. zum durch den Text vorgesehenen bzw. gesteuerten Leser z. B. Michael Dunker: Beeinflussung und Steuerung des Lesers in der englischsprachigen Detektiv- und Kriminalliteratur.
Eine vergleichende Untersuchung zur Beziehung Autor-Text-Leser in Werken von Doyle,
Christie und Highsmith. Frankfurt/M. u. a.: Lang 1991. Vgl. auch Daniel Grunwald: Methoden der Lösungsverschleierung und Detektivgeschichte und -roman. Eine systematisch-
12
EINLEITUNG – DER FALL DER WELT
die insgesamt die Ordnung [der] Interpretation regulieren und stimulieren“.12
Auch für den Anti-Detektivroman wird solches, wenn auch auf einer ganz anderen Ebene, immer wieder festgestellt: Basierend auf der einfachen Annahme, dass der Leser für die Rezeption von Detektivromanen konditioniert und
sozialisiert sei, ist die vom Anti-Detektivroman erzeugte Irritation als Reaktion auf das Unterlaufen bzw. die Erweiterung13 des von den Prätexten installierten Erwartungshorizonts zu verstehen.14 Was hier reichlich trocken anklingt, hat Borges zu einem wunderbaren Aphorismus verdichtet: „Wenn wir
einen Kriminalroman lesen, sind wir Poes Erfindung.“15 Doch was geschieht
mit Poes Erfindung, wenn sie unversehens Teil eines falschen Spiels wird, in
dem tradierte Regeln außer Kraft gesetzt werden?
Basis der Untersuchung des zentralen Problemfelds der personalen Identität
bildet die Analyse der Detektivfiguren, die als konstruiert-fingierte Bewusstseinsinstanzen zum Träger und Schnittpunkt der sich in den Texten entfaltenden Identitätsdiskurse werden. Die Figuren werden dabei ebenso als mentale
Konzepte und symbolische Konstrukte wie als ‚Agenten‘ bzw. Agens einer
Handlung verstanden, die – als detektivische Suche – durch sie organisiert ist.
Die Figurenanalyse versteht sich als Element einer integrativen Deutung des
jeweiligen Werkes, die immer auch im Rekurs auf das in ihm variierte oder
deformierte Muster der Hypogattung unternommen wird.
Die Untersuchung kann dabei nicht entlang verschiedener Merkmalslinien
durchgeführt werden: Nur in der Einzelanalyse von Texten ist es möglich, die
verschiedenen Elemente – Umbesetzung der Instanzen, Transformation des
konventionellen Musters, narrative Desintegration der geschlossenen Form
und die Integration aktueller Identitätsdiskurse – in ihrem komplexen Zusammenspiel zu untersuchen.
12
13
14
15
analytische Untersuchung an Beispielen aus der englischen und amerikanischen Detektivliteratur. Norderstedt: Books on Demand 2003.
Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München: dtv 31990, S. 5. Richard Alewyn kommt in seiner Analyse des Detektivromans zu einem ganz ähnlichen Ergebnis: „Was hier stattfindet, ist eine Emanzipation des Lesers vom
Erzähler, die sich allerdings nicht gegen den Willen des Erzählers vollzieht, vielmehr von
diesem geplant wird.“ (Alewyn: Anatomie des Detektivromans, S. 56.)
Hans Robert Jauss: Theorie der Gattungen und Literaturen des Mittelalters. In: Hans Robert
Jauss, Erich Köhler (Hg.): Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. 1.
Heidelberg: Winter 1972, S. 119.
Vgl. z. B. Stefano Tani: The Doomed Detective. A Contribution of the Detective Novel to
Postmodern American and Italian Fiction. Carbondale, Edwardsville: Southern Illinois University Press 1984, S. 40.
Jorge Luis Borges: Die Kriminalgeschichte. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 5/II: Essays,
1952-1979. München, Wien: Hanser 1981, S. 270. Hinsichtlich der später unternommenen
Problematisierung der Begriffe Kriminalroman und Detektivroman sei bereits hier angemerkt,
dass Borges jenen Romantypus meint, der im Folgenden Detektivroman genannt werden
wird, da seine Beispiele sich ausschließlich auf den reinen bzw. klassischen Detektivroman
beziehen. Im Original benutzt Borges die Bezeichnung „novela policial“, die sowohl Kriminal- als auch Detektivroman meinen kann. (Vgl. Jorge Luis Borges: El cuento policial. In:
Ders.: Borges oral. Madrid: Alianza Editorial 1995, S. 75.)
DER DETEKTIVROMAN
Typologische Problematisierung
Der Detektivroman, uns allen in irgendeiner Form vertraut, entzieht sich beharrlich
den Definitionsversuchen.
Paul G. Buchloh, Jens P. Becker1
Immer wieder ist die Stellung des Detektivromans innerhalb der Kriminalliteratur ausführlich problematisiert worden.2 In dieser Diskussion zeichnen sich
vor allem zwei Tendenzen ab: Entweder wird der Detektivroman als Haupt-3
und „Standardform der Kriminalliteratur“4 gesehen und beide Termini erscheinen als nahezu deckungsgleich5 bzw. synonym,6 oder der Detektivroman
wird deutlich vom Kriminalroman unterschieden, wie z. B. Richard Alewyn es
tut:
Der Kriminalroman hat überhaupt keine definierbare Grenze – außer gegenüber
dem Detektivroman. Denn so nebelhaft die Konturen des Kriminalromans, so
scharf sind die des Detektivromans. Das ist nicht eine Sache des Stoffs, sondern
der Form.7
1
2
3
4
5
6
7
Paul G. Buchloh, Jens P. Becker: Der Detektivroman. Darmstadt: WBG 41990, unpaginiert.
Vgl. zu dieser Diskussion: Dietrich Naumann: Zur Typologie des Kriminalromans. In: Viktor
Žmegač (Hg.): Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans.
Frankfurt/M.: Athenäum 1971, S. 243-244.
Vgl. z. B. Edgar Marsch: Die Kriminalerzählung. Theorie, Geschichte, Analyse. München:
Winkler 21983, S. 89-93. In Marschs Betrachtung geht der Detektivroman als Hauptform der
Kriminalerzählung völlig in dieser auf.
Ulrich Suerbaum: Krimi. Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam 1984, S. 74.
Vgl. z. B. Gerhardt Schmidt-Henkel: Kriminalroman und Trivialliteratur. In: Viktor Žmegač
(Hg.): Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans. Frankfurt/M.: Athenäum 1971, S. 149. Schmidt-Henkel schlägt vor, „Kriminalroman und Detektivgeschichte unter ‚Kriminalroman‘ zusammenzufassen.“
Vgl. z. B. Günter Waldmann: Kriminalroman – Anti-Kriminalroman. Dürrenmatts Requiem
auf den Kriminalroman und die Anti-Aufklärung. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman,
Bd. 1. München: Fink 1971, S. 206: „‚Kriminalroman‘ meint im üblichen Sprachgebrauch
[...] ‚Detektivroman‘, wie ihn E. A. Poe inauguriert hat [...].“
Vgl. Alewyn: Anatomie des Detektivromans, S. 52-53.
14
DER DETEKTIVROMAN
Während der Kriminalroman zumeist thematisch, nämlich als „Geschichte eines Verbrechers oder eines Verbrechens“,8 definiert wird, erzählt der Detektivroman, wie Alewyn anmerkt, „die Geschichte der Aufklärung eines Verbrechens“,9 die formal bzw. strukturell bestimmt wird.
Am plausibelsten scheinen hier die verschiedenen Ansätze, die als zentrales
Moment des Detektivromans eine Zweiteilung der Geschichte ausmachen. So
spricht z. B. Todorov 1966 in Anlehnung an eine Passage aus Butors L’emploi
du Temps10 von einer „Doppelstruktur“11 des Detektivromans: Der „Roman
enthält nicht eine, sondern zwei Geschichten: die Geschichte des Verbrechens
und die seiner Untersuchung.“12 Die erste Geschichte ist die der Tat, des Rätsels und des Geheimnisses. Die zweite Geschichte ist die der Ermittlung, des
Untersuchungs- und Erhellungsprozesses. Die erste Geschichte ist abwesend
und verdeckt; sie liegt im Allgemeinen vor dem Einsetzen der Erzählung und
existiert nur als abgeschlossene Vergangenheit. Die zweite Geschichte, die der
Untersuchung, ist präsent und auf die erste gerichtet. Die erste Geschichte
handelt davon, „was wirklich geschehen ist“, die zweite erklärt, „wie der Leser (oder der Erzähler) davon erfahren hat.“13
Ernst Bloch kommt, bei weniger strukturalistischem Vorgehen, zu einem
ähnlichen Ergebnis, wenn er als zentrales Merkmal des Detektivromans „das
Entlarvende, Aufdeckende“ beschreibt, das sich bezieht „auf Vorgänge, die
aus ihrem Unerzählten, Vor-Geschichtehaften erst herauszubringen sind“.14
Später fährt er fort: „Thema ist das Herausfinden eines bereits Geschehenen
ante rem“,15 welches in einer Geschichte der „Rekonstruktion“16 geschildert
wird, die jene analytische „Form“17 präfiguriert, die auch für Alewyn das basale Modell des Genres ausmacht.18
Das größte definitorisch-typologische Problem stellt die Differenz zwischen
dem nach dem Strukturmodell des analytischen Romans definierten Muster
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
Hans-Hugo Steinhoff: Detektivroman. In: Günther u. Irmgard Schweikle (Hg.): Metzler Literatur Lexikon. Stuttgart 21990, S. 253. Vgl. auch Alewyn: Anatomie des Detektivromans, S.
53.
Alewyn: Anatomie des Detektivromans, S. 53.
Butors Protagonist erklärt den Detektivroman als Übereinanderblendung zweier Handlungsfolgen: Tatgeschichte und Aufklärungsgeschichte. Vgl. Michel Butor: L’emploi du temps. Paris: Editions de Minuit 1957, S. 146-147, S. 171.
Tzvetan Todorov: Typologie des Kriminalromans. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: Fink 1998, S. 209. Ganz ähnlich findet sich
die Doppelstruktur aus Ermittlung und Geheimnis z. B. bei Boileau und Narcejac. Vgl. Pierre
Boileau, Thomas Narcejac: Der Detektivroman. Neuwied, Berlin: Luchterhand 1967, S. 1011.
Todorov: Typologie des Kriminalromans, S. 209.
Ebd., S. 210.
Bloch: Philosophische Ansicht des Detektivromans, S. 41.
Ebd., S. 45.
Ebd.
Ebd., S. 51.
Vgl. Alewyn: Anatomie des Detektivromans, S. 53.
DER DETEKTIVROMAN
15
des Detektivromans und dem nach seinem Protagonisten benannten Detektivroman dar, der nicht oder nur partiell analytisch erzählt ist und die Doppelstruktur nicht oder nur marginal aufweist. Exemplarisch vorgeführt wird dieses Dilemma z. B. von Richard Gerber. In seiner Untersuchung Verbrechensdichtung und Kriminalroman geht er empirisch vor und unterzieht zwei
exemplarische Texte einer Überprüfung hinsichtlich der Definition Alewyns:
Eine Detektivgeschichte ist nun nach Alewyn – und er steht hier repräsentativ
für viele andere – eine Geschichte in der 1. das Verbrechen schon begangen ist,
2. der Täter unbekannt ist, 3. der Detektiv durch außergewöhnliche Kombinationsgabe den Hergang des Verbrechens aufklärt und den Täter feststellt.19
Von seinen beiden Beispielen, Poes The Murders in the Rue Morgue und
Doyles A Scandal in Bohemia, entspricht das erste in allen, das zweite in keinem Punkt der Merkmalsliste Alewyns. Auch wenn die Makrostruktur der
Doyle-Geschichte sie eher als Präform eines aktionistischen Agentenromans
ausweist, enthält sie gleichwohl analytisch-deduktive Passagen, innerhalb derer Holmes z. B. die Vorgeschichte Watsons aus Spuren rekonstruiert und aus
verschiedenen Indizien und dem Auftreten des camouflierten Auftraggebers
auf seine Identität schließt und dessen Inkognito enthüllt. Aufgrund dieser
Passagen und vor allem wegen der Dominanz der Detektivfigur Holmes20 wird
sie im Allgemeinen, d. h. infolge eines Gattungskonzepts im Sinne „soziokulturelle[r] Verständigungsbegriffe“21 im Rekurs auf das Gattungsbewusstsein
der Leser, sicherlich trotz der kaum ausgebildeten Makrostruktur von RätselAufklärungsgeschichte-Lösung bzw. Doppelstruktur im Sinne Todorovs als
Detektivgeschichte eingeordnet.
Auf dasselbe definitorische Problem trifft man im Hinblick auf die Frage,
ob die hard-boiled novel als hart-realistische22 Erzählung um einen DetektivProtagonisten noch dem Genre des Detektivromans zuzuordnen sei oder nicht.
So bezeichnet etwa Nusser in seiner Studie Der Kriminalroman diese Romane
als Thriller, die als „kriminalistische Abenteuererzählung[en]“ eher eine
19
20
21
22
Richard Gerber: Verbrechensdichtung und Kriminalroman. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: Fink 1998, S. 75.
Vgl. Suerbaum: Krimi, S. 50: „Die Geschichten sind in erster Linie Vehikel für das Auftreten
des großen Detektivs [...].“
Wilhelm Voßkamp: Gattungen. In: Helmut Brackert, Jörn Stückrad (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 265.
Es lässt sich natürlich trefflich darüber streiten, wie realistisch die einzelnen Werke tatsächlich sind. George Grella stellt hierzu fest: „[T]he hard-boiled stories were considered by their
writers and readers honest, accurate portraits of American life.“ (George Grella: The HardBoiled Detective Novel. In: Robin W. Winks (Ed.): Detective Fiction. A Collection of Critical Essays. Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall 1980, S. 105.) Kann man dieses Urteil insbesondere für die Texte Hammetts und Chandlers noch nachvollziehen, trifft es kaum auf die
weitere Entwicklung des harten amerikanischen Detektivromans zu, der immer weniger an
der Schilderung von Milieus arbeitet und sich dafür mittels der so genannten violence-is-funTechnik insbesondere der Schilderung von Schusswechseln und Faustkämpfen widmet. Vgl.
hierzu z. B. die Romane Mickey Spillanes, die schon in ihrer Titelgebung kaum Zweifel lassen, z. B. I, the Jury (1947), My Gun is quick (1950), Vengeance is mine (1950).
16
DER DETEKTIVROMAN
„vorwärtsgerichtete[n], chronologische[n] Erzählweise“23 präferierten und so
nicht der analytisch-rückwärtsgerichteten Narration des reinen Detektivromans entsprächen. Buchloh und Becker hingegen sehen die hard-boiled
school als wichtigsten „Beitrag der Gattung Detektivroman zur Literatur des
20. Jahrhunderts“.24 Auch Suerbaum kommt zu dem Ergebnis, dass der Detektivroman der hard-boiled school – trotz thematischer und struktureller Differenzen – „mit dem [...] früher entwickelten Typus eine Reihe von fundamentalen Strukturen gemeinsam hat“,25 als welche die dominierende Zentralfigur des
Detektivs, ein Mord als Auslöser eines Komplexes von Fragen, die Täterfrage
und die schließlich vollständige Lösung des jeweiligen Falles bestimmt werden.
Buchloh und Becker konstatieren hinsichtlich der verschiedenen
klassifikatorisch-typologischen Bemühungen in ihrer umfassenden Studie Der
Detektivroman, dass „an praktischen Beispielen [...] die meisten Definitionen
[versagen]“,26 wenn sie zu enge gattungstypologische Grenzen ziehen und folgern:
Eine stringente Definition der Detektiverzählung ist trotz vieler Versuche nach
inhaltlichen oder formalen Kriterien bis heute nicht gelungen und wird auch bei
der Vielschichtigkeit des Genres kaum gelingen können.27
In ihrem definitorischen Exkurs merken sie schließlich an, dass das Abarbeiten an einer allgemeingültigen Definition des Genres auch und vor allem ein
Problem der deutschen Forschung sei, die in ihrer Gründlichkeit „nach einer
perfekten Aussage strebt“28 und Definitionen aus eben diesem Grund nicht als
aufgeschlossenes Modell und „offene[s] System von Form- und Funktionsmerkmalen“29 anlegen kann, das der Flexibilität sowie dem Wandlungs- und
Entwicklungspotential des Genres Rechnung trägt, sondern sich um die Herstellung einer präskriptiven und invarianten Schablone bemüht.30
23
24
25
26
27
28
29
30
Peter Nusser: Der Kriminalroman. Stuttgart, Weimar: Metzler 32003, S. 3.
Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S. 96.
Suerbaum: Krimi, S. 130.
Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S. 9.
Ebd., S. 3.
Ebd.
Peter Wenzel: Gattung. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze-Personen-Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, S. 174.
Vgl. Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S. 10: Ein ganz anderes Problem der Begriffsbildung kann an dieser Stelle nur kurz skizziert werden: Zugrunde liegt dem definitorischen Tohuwabohu auch ein Übersetzungproblem. Die verschiedenen Termini wie z. B. „cuento
policial“, „roman policier“, „roman à enigme“, „polar“, „giallo“, „mystery novel“, „detective
novel“, „crime novel“, „Kriminalroman“ und „Detektivroman“ werden allzu häufig recht beliebig übersetzt – in vielen Fällen, weil es keine exakte Entsprechung in der jeweiligen Zielsprache gibt, oft aber aus Unachtsamkeit. Sind die Begriffe in den einzelnen Sprachen schon
häufig kaum trennscharf, verwischen Differenzen in den Übersetzungen (insbesondere der
wissenschaftlichen Literatur) zusehends. So wird aus einer „detective novel“ in deutscher
Übersetzung schnell ein „Kriminalroman“ und der „roman policier“ gibt sich in einer englischen Übersetzung als „detective novel“, während er in einer deutschen Übersetzung als
DER DETEKTIVROMAN
17
Eine Alternative bietet Ulrich Schulz-Buschhaus, wenn er die Vielfalt des
Kriminalromans durch drei Elemente in jeweils unterschiedlicher Gewichtung
bestimmt sieht:
ACTION [...] bezeichnet die eigentlichen Handlungselemente des Kriminalromans, seine narrativen Partien, in denen Verbrechen, Kampf, Verfolgung, Flucht
und ähnliches erzählt werden. [...] ANALYSIS [...] umfasst alle jene Elemente
des Kriminalromans, die ihm den vielgepriesenen Charakter einer Denksportaufgabe geben [...]. [...] MYSTERY [ist] jene planmäßige Verdunkelung des Rätsels, die am Schluß einer völlig unvorhergesehenen, sensationellen Erhellung
Platz macht.31
An der Gewichtung dieser Elemente in einem fließenden Modell – insbesondere auf der Achse Analysis-Action – demonstriert Schulz-Buschhaus in überzeugenden Einzelanalysen, inwiefern der untersuchte Text z. B. durch starke
Gewichtung des Analysis-Elements eher eine reine Detektiverzählung im Sinne von Poes Detektivgeschichten ist oder durch das Zurücktreten des Analysiszu Gunsten des Action-Elements der komplementären Form des Kriminalromans entspricht.
Trotz der referierten Definitionsprobleme lassen sich einige idealtypische
Konstanten des Detektivromans bzw. der Detektivgeschichte ausmachen, die
Stefano Tani pragmatisch zusammenfasst:
A conventional detective story is a fiction in which an amateur or professional
detective tries to discover by rational means the solution of a mysterious occurrence […]. This definition implies the presence of at least three invariable elements: the detective, the process of detection, and the solution.32
Diese Minimaldefinition erweiternd, zeichnet sich der Detektivroman mindestens durch folgende Merkmale33 aus:
1. Detektiv: Dominierender Handlungsträger muss eine Detektivfigur,
ob Privatperson, Privatdetektiv oder professioneller Polizeiermittler,
sein.
2. Rätsel/Geheimnis: Anlass des Auftretens der Detektivfigur ist die
Klärung einer Frage, die sich auf zunächst Unbekanntes richtet.
3. Detektion/Ermittlung: Den Schwerpunkt und Hauptteil der Narration
bildet ein lösungs- bzw. erklärungsorientierter Ermittlungsvorgang.
Dieser Prozess muss, auch wenn er es zumeist ist, nicht sklavisch auf
31
32
33
„Kriminalroman“ firmiert – diese hier nur angedeutete Übersetzungsproblematik ist Symptom
der generellen begrifflichen Unschärfe.
Ulrich Schulz-Buschhaus: Formen und Ideologien des Kriminalromans. Frankfurt/M.:
Athenaion 1975, S. 3-4.
Tani: The Doomed Detective, S. 41.
Als anderen Versuch einer Merkmalsliste vgl. Zdenko Škreb: Die neue Gattung. Zur Geschichte und Poetik des Detektivromans. In: Viktor Žmegač (Hg.): Der wohltemperierte
Mord. Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans. Frankfurt/M.: Athenäum 1971, S.
71-72.
18
DER DETEKTIVROMAN
die Vergangenheit gerichtet sein. Er besteht im Allgemeinen aus der
Lokalisierung von Spuren und deren Interpretation, einer Hermeneutik der Spur, des Clues, schließt jedoch auch andere archetypisch detektivischen Tätigkeiten wie das Beschatten, Verfolgen, Befragen mit
ein. Zentrum des Detektivromans ist die Suche nach der verlorenen,
unbekannten, verdeckten Geschichte. Der Detektivroman erzählt von
Erkenntnisprozessen und Erkanntem – seien sie auf die Vergangenheit oder quasi simultan zum ermittelnden Geschehen auf die Gegenwart gerichtet.
4. Lösung: Am Ende steht die ermittelte Lösung, die alle rätselhaften
Ereignisse und die Beziehungen der verschiedenen Figuren zueinander erklärt, auch wenn, wie z. B. in den Detektivromanen Hammetts
und Chandlers, die ‚Ordnung‘ der Welt nicht endgültig wieder herstellt werden kann.34
Der Detektivroman: Varianten und Entwicklungslinien
Trotz der bereits angesprochenen Polymorphie des Genres, die eine eindeutige
Definition erschwert, ist die Existenz von zwei Haupttypen oder Basismustern35 der Detektivliteratur zu konstatieren: der klassische oder reine Detektivroman, der auch als Rätselroman36 bezeichnet wird, und die hard-boiled
detective novel als „wichtigste Alternative zur klassischen Detektivgeschichte“,37 deren archetypische Form Hammett und Chandler in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts schaffen.
34
35
36
37
Diese Definition ließe sich dann aufgrund ihrer Offenheit z. B. auch auf Arthur Conan Doyles
A Scandal in Bohemia anwenden: Detektivfigur: Sherlock Holmes, Geheimnis: Wo ist die Fotografie, Ermittlung: Suche nach dem Versteck einer Fotografie, Lösung: Das Foto muss im
Haus der Dame sein; durch einen vorgetäuschten Feuerarlarm bringt Holmes sie dazu, das
Versteck zu offenbaren, weil sie das Dokument retten will.
Nusser spricht hier – allerdings hinsichtlich des Oberbegriffs Kriminalroman – von „zwei
idealtypischen Strängen“. (Vgl. Nusser: Der Kriminalroman, S. 2.)
Grundsätzlich ist die Struktur des Genres durch Fall und Lösung bzw. Frage und Antwort bestimmt. Es haben sich dabei vor allem drei Grundfragen herausgebildet: Whodunit als Frage
nach dem Täter, Howdunit als Frage nach der kunstvollen Ausführung der Tat und Whydunit
als Frage nach dem Motiv. Vgl. hierzu Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S. 17-18.
Suerbaum: Krimi, S. 127.
DER DETEKTIVROMAN
19
Der klassische Detektivroman
As the strong man exults in his physical
ability, delighting in such exercises as call
his muscles into action, so glories the analyst in that moral activity which disentangles.
Edgar Allan Poe38
Der klassische Detektivroman stellt eine Sonderform des Kriminalromans dar,
in dem nicht das Verbrechen bzw. Rätsel, sondern dessen schrittweise Aufklärung durch einen Ermittler, den Detektiv, erzählt wird. Dieses detektorische
Erzählmodell schafft eine rückwärts gerichtete analytische Narration mit dem
Ziel, die vor der Ermittlung liegende Zeit, die ‚abwesende Geschichte‘,39 aus
Spuren und Indizien zu rekonstruieren. Die Erzählung bezieht sich in ihrem
Fortschreiten also auf Vergangenes, mit dem Ziel, diese Vergangenheit in der
Auflösung, dem Dénouement, als restlos geklärte Geschichte zu erzählen.
Die meisten Kritiker40 sind sich darüber einig, dass die literarhistorische
Geschichte des Detektivromans 1841 mit Edgar Allen Poes Erzählung The
Murders in the Rue Morgue um den Pariser Detektiv C. Auguste Dupin beginnt, die die bis dahin nur verstreut vorliegenden generischen Elemente zum
Prototyp der Detektiverzählung bündelt: Anhand von Spuren, Indizien und
Zeugenaussagen gelingt es Poes Ermittler, einen in einem locked room41 geschehenen bestialischen Doppelmord zu klären. Die analytischen Fähigkeiten
des menschlichen Intellekts42 demonstrierend, rekonstruiert Dupin die Abläufe, indem er durch Spuren und Zeugenaussagen präsente Fakten in Verbindung setzt und als Zeichensystem begreift, um aus dem Vorgefundenen Aussagen über Abläufe in der Vergangenheit zu treffen – Beispiel eines klassischen, auf aristotelischer Logik basierenden detektivischen Analyseprozesses.
38
39
40
41
42
Edgar Allan Poe: The Murders in the Rue Morgue. In: Ders.: The Annotated Tales of Edgar
Allan Poe. Ed. with an introduction, notes, and a bibliography by Stephen Peithman. Garden
City, New York: Doubleday 1981, S. 197.
Vgl. Todorov: Typologie des Kriminalromans, S. 210-211.
Vgl. die kursorisch dargestellte Diskussion in Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S. 8-10.
Vgl. auch Škreb: Die neue Gattung, S. 68.
Zu den verschiedenen Varianten des wirkungsmächtigen, von Poe inaugurierten locked room
mystery vgl. John Dickson Carr: Der verschlossene Raum. Köln: Dumont 21995, S. 199-204.
[The Hollow Man, 1935] Carrs Detektivfigur Dr. Gideon Fell erläutert in einem Vortrag sieben Basisvarianten der Tat bzw. Lösung.
Poe benennt sie als „mental features discoursed of as the analytical“. Vgl. Poe: The Murders
in the Rue Morgue, S. 197.
20
DER DETEKTIVROMAN
Trotz dieser eindeutig zu datierenden ersten Detektiverzählung43 sind Entstehungsbedingungen und Vorläufer des Genres vielfältiger Natur: Von Sophokles’ detektivisch-analytischem Ödipus-Drama44 (um 415 v. Chr.) und den
Kriminalfallsammlungen (Causes Célèbres, 1734-43) von François Gayot de
Pitaval45 bis zur Gothic novel46 und der Novellistik der deutschen Romantik47
werden viele Texte für einzelne Aspekte des Genres relevant und prägend.
Grundbedingungen finden sich auch in der Zeit- und Sozialgeschichte: Die
ersten offiziellen Detectives beginnen ihre Arbeit ab 1812 in der Pariser Sûreté
und in der 1829 gegründeten, als Scotland Yard bekannten, Metropolitain Police of London. Später entstehen mit François Eugène Vidocqs Büro für wirtschaftliche Auskünfte (1832) und Allan Pinkertons Pinkerton Agency (1850)
erste private Detektivbüros.
Die Erscheinung der ersten literarischen Privatdetektive hängt dabei wiederum ursächlich mit dem soziokulturellen Phänomen des Dandys und Flaneurs
zusammen: Der Exzentrismus des Dandys, gepaart mit dem analytischen Auge
des Flaneurs, der urbane Lebensräume durchschreitet, findet sich in Poes Dupin ebenso wie in Arthur Conan Doyles Figur des Sherlock Holmes, zwei Protagonisten, die das Lösen der Rätsel als spleenige Form der eigenen Unterhaltung kultivieren. Ihre Ermittlungsmethoden berufen sich dabei auf die Methodik der Naturwissenschaften, die innerhalb des Positivismus für alle Bereiche
der Wissenschaften als Epistemologie propagiert wurde. Ermittelt wird anhand
von Erfahrung und empirischem Wissen, Spuren und Beweise werden innerhalb des analytischen Prozesses zur Rekonstruktion der Wahrheit benutzt,
43
44
45
46
47
Natürlich existieren verschiedenste Versuche, die Genealogie des Detektivromans anders zu
bestimmen. Sie müssen jedoch insgesamt als wenig überzeugend gewertet werden, da die
Kombination der verschiedenen funktionalen Elemente erst von Poe realisiert wird. Vgl. z. B.
Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S. 8-10. Vgl. auch Schmidt-Henkel: Kriminalroman
und Trivialliteratur, S. 160-161. Einzelne Versuche, andere Texte als frühe Detektiverzählungen zu bestimmen, sind bei genauerer Betrachtung kaum ernst zu nehmen. Vgl. z. B. die Bewertung der melodramatischen ‚Räuberpistole‘ Der Kaliber. Aus den Papieren eines Kriminalbeamten (1828) von Adolf Müllner als „first German Detective Story“. (Barbara Burns:
Adolf Müllner’s Der Kaliber: The first German Detective Story? In: German Life and Letters,
Vol. 58, January 2005, S. 1-12.)
So sieht z. B. Wolfgang Schadewaldt Sophokles’ Drama als „detective story von großartig
erhabener Art“. (Wolfgang Schadewaldt: Der ‚König Ödipus‘ des Sophokles in neuer Deutung. In: Ders.: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur. Zürich, Stuttgart: Artemis 1960, S. 280.) Vgl. auch Hinrich Hudde: Ödipus als Detektiv – Die Urszene als Geheimnis des geschlossenen Raums. In: Zeitschrift für französische
Sprache und Literatur, Nr. 86/1, 1976, S. 1-25; Bloch: Philosophische Ansicht des Detektivromans, S. 46-47: Bloch bezeichnet hier den Ödipusstoff als „Urstoff des Detektorischen
schlechthin“.
Vgl. François Gayot de Pitaval: Unerhörte Kriminalfälle. Leipzig: Dieterich 1992.
Insbesondere in der Tendenz, das Unheimliche häufig als erklärbare Mystifikation zu behandeln, können Gothic novel und Schauerroman als Vorläufer des Detektivromans betrachtet
werden.
Als exemplarisch kann hier E. T. A. Hoffmanns Erzählung Das Fräulein von Scuderi (1819)
angesehen werden, die ein Bindeglied zwischen Schauerroman und Aufklärungsgeschichte
des klassischen Detektivromans darstellt.
DER DETEKTIVROMAN
21
auch wenn dieser Prozess häufig wissenschaftlich-logischen Kriterien nicht
genügen kann und so zumeist literarischer Kunstgriff bleibt.48
Die Grundannahme, dass positivistische Methoden dem Denken und Vorgehen der Detektivfiguren angemessen sind, erklärt auch den Umstand, dass
die meisten literarischen Ermittler – Žmegač nennt sie „Helden des Positivismus“49 – als Naturwissenschaftler auftreten und ihre Nachforschungen unter
Zuhilfenahme physikalischer oder chemischer Untersuchungen durchführen.
Erscheinen Poes Tales of Ratiocination um Dupin zunächst als isoliertes
Phänomen,50 die aufgrund ihres sparsamen Aktionismus, ihres traktathaften
Charakters und der Neigung, die analytischen Gedankengänge des Protagonisten in aller Ausführlichkeit zu theoretisieren, kaum Breitenwirkung entfalten,
ändert sich dies mit Arthur Conan Doyle, der – insbesondere im Rekurs auf
die Mémoires (1828/29) François Eugène Vidocqs – vielfältige Elemente des
Abenteuerromans51 für das Genre verfügbar macht. Spätestens mit Doyles
Romanen und Erzählungen um den Detektiv Sherlock Holmes, die sich namentlich auf Poes Detektiverzählungen beziehen und zugleich deren Personal,
Motive und mit der homodiegetischen Erzählerfigur Watson auch die Erzählsituation52 neuerlich aufnehmen, ist das Muster des Genres vorerst festgeschrieben.53 Nicht umsonst sind die populärsten Protagonisten, beginnend mit
Poes C. Auguste Dupin über Doyles Sherlock Holmes, Gaston Leroux’ Joseph
Rouletabille, Chestertons Father Brown, Agatha Christies Hercule Poirot und
Miss Marple sowie Dorothy L. Sayers’ Lord Peter Wimsey, Seriendetektive.
Für die stark schematisierte Gattung, deren ästhetische Norm dementsprechend nicht die Innovation, sondern die minimale Variation eines Grundmus-
48
49
50
51
52
53
Vgl. hierzu Ecos Einführung des Begriffes der „Abduktion“ bezüglich der Methoden literarischer Detektive. (Umberto Eco: Die Abduktion in Uqbar. In: Ders.: Über Spiegel. München,
Wien: Hanser 1988, S. 201-213.)
Žmegač: Aspekte des Detektivromans, S. 13.
Zwischen Poe und Doyle ist zunächst allenfalls eine Aufnahme der Detektivgeschichte in den
Feuilletonroman zu beobachten, z. B. in Charles Dickens’ Bleak House (1852) und in Wilkie
Collins’ The Woman in White (1860) sowie The Moonstone (1868). Deutlich monothematischer eingesetzt wird die Aufklärungshandlung schließlich in Emile Gaboriaus Roman
L’affaire Lerouge (1866), der die Entwicklung von der Kurzgeschichte zur Langform des Detektivromans präfiguriert.
Zu den von Vidocq übernommenen spannungsgenerierenden Handlungselementen zählen u.
a. Verfolgung, Kampf und Maskierung. (Vgl. François Eugène Vidocq: Vidocq – der Mann
mit hundert Namen. München: dtv 1970.)
Die homodiegetische, intern fokalisierte Erzählung ist funktional der Erzeugung der Rätselspannung geschuldet, die durch eine autodiegetischen, intern fokalisierte Erzählung nicht zu
erzeugen wäre. Sie lässt den Leser in Bezug auf den Protagonisten eine Außenperspektive
einnehmen. Er kann so jeden Schritt des Detektivs verfolgen, ohne unmittelbar in dessen
Schlussfolgerungen eingeweiht zu werden.
Vgl. zu dieser Einschätzung z. B. Suerbaum: Krimi, S. 50-73, und Škreb: Die neue Gattung,
S. 69.
22
DER DETEKTIVROMAN
ters ist, entstehen 1928 die ersten expliziten Kodizes54 von S. S. van Dine und
Ronald A. Knox, die besonders die Auffassung des Golden Age of Detective
Fiction55 (ca. 1914-1939) repräsentieren und mitprägen.56
„I play the game for the game’s own sake.“57
As for these murders, let us enter into some
examinations for ourselves, before we
make up an opinion respecting them. An
inquiry will afford us amusement […].
Edgar Allan Poe58
Im klassischen Detektivroman wird die Handlung zu Ende geführt. Alles, was
zu Beginn noch irrational, unerklärbar und verwirrend erschien, wird rational
geklärt – es bleibt kein ungelöster Rest, denn, wie Dorothy L. Sayers anmerkt,
„ein Detektivroman, der irgendetwas offen läßt, ist keiner“.59 Schließlich ist alles logisch und fest bestimmt, lose Fäden sind verknüpft, die Experimente abgeschlossen, die Ordnung unter Beantwortung sämtlicher Fragen wiederhergestellt. Und diese Ordnung beruhigt, sie versichert dem Leser die einfache d. h.
letztlich versteh- und logisierbare Natur der Welt sowie menschlicher Handlungen und Motivationen. Aufgrund dieser einfachen Teleologie wurde dem
Genre immer wieder sein mangelnder Realismus vorgeworfen:
[Der Detektivroman] vermittelt [...] die optimistische Hoffnung auf eine heile
Welt, [...] auf die Möglichkeit, alle Probleme rational zu lösen. Was er ver-
54
55
56
57
58
59
Vgl. Ronald A. Knox: A Detective Story Decalogue und S. S. van Dine: Twenty Rules for
Writing Detective Stories. In: Howard Haycraft (Ed.): The Art of the Mystery Story. New
York: Biblo & Tannen 1976, S. 194-197, S. 189-193.
Vgl. zum sog. Golden Age z. B. Buchloh, Becker: der Detektivroman, S. 69-80.
Hinsichtlich der Regelkataloge von Knox und Van Dine ist anzumerken, dass sie, obwohl sie
als Beleg für die schematisierte Verfasstheit einer großen Menge von Detektivromanen gewertet werden dürfen, von den wenigsten Autoren als normative Poetik des Kriminalromans
verstanden wurden und heute nur noch von historischem Interesse sind. Vgl. Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S. 81-95.
So begründet Sherlock Holmes seine Motivation in dem Fall The Bruce-Partington Plans zu
ermitteln. Arthur Conan Doyle: His Last Bow. Some reminiscences of Sherlock Holmes. Oxford: Oxford University Press 1993, S. 43.
Poe: The Murders in the Rue Morgue, S. 209.
Dorothy L. Sayers: Aristoteles über Detektivgeschichten. Vorlesung in Oxford am 5. März
1935. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München:
Fink 1998, S. 14.
DER DETEKTIVROMAN
23
schweigt [...], ist die tatsächliche Widersprüchlichkeit unserer Welt, ist die Gebrochenheit realer Charaktere [...].60
Das Motto der klassischen, zumeist omnipotenten und unfehlbaren Detektive
– „Give me your clues and I will build you a theory“61 – führt in der Aufklärung zum Kausalnexus, zu Kohärenz und Homogenität:
Everything mysterious that it [the detective novel] introduces, it makes coherent.
[…] It makes a complete and simple picture from […] incomprehensible fragments.62
Diese zumeist ‚naive‘ und simplifizierende Weltsicht und mit gnoseologischen
Heilsversprechungen versehene Aufklärungsbewegung klassischer Detektivromane ist nicht allein ideologisch fragwürdig, sie wirkt auch als „narcotizing
effect“,63 blendet Fragen durch völligen Abschluss des Systems aus und führt
zu „perceptual refamiliarization“64 und „märchenhafter Beruhigung“.65 Die Geschichte präsentiert eine Welt die, strukturiert und bestimmt durch feste Gesetze, in eine einfache Ordnung zurückgeführt werden kann:
[D]etective stories are experienced as reassuring because they project the image
of a cosmos subject to the operations of familiar laws.66
Die Abgeschlossenheit des Systems, der locked room der narrativen Mechanik, ist zugleich seine Schwäche: Ist das Rätsel gelöst, ist es nicht mehr interessant, die Erzählung „verschwindet zum guten Schluß in einem Nullzustand“,67 in der „leeren Dauer des Nicht-mehr-Erzählenswerten.“68 Der literarische Kunstgriff war die Verrätselung und natürlich die unterhaltsam mäandrierende, schrittweise Enträtselung als rückwärts gewandte Rekonstruktion. Mit
der Auflösung sind die Signifikanten und Polyvalenzen für immer arretiert,
sind alle Möglichkeiten auf eine reduziert, bleibt der Blick auf die Vergangenheit schließlich konstant und scheint das Objekt der Betrachtung letztgültig
60
61
62
63
64
65
66
67
68
Malte Dahrendorf: Der Kriminalroman als didaktisches Problem. In: Sprache im technischen
Zeitalter, 44 (1972), S. 311.
Dennis Porter: The Pursuit of Crime. Art and Ideology in Detective Fiction. London, New
Haven: Yale University Press 1981, S. 225.
Roger Caillois: The Detective Novel as a Game. In: Glenn W. Most, William W. Stowe
(Eds.): The Poetics of Murder. Detective Fiction and Literary Theory. San Diego, New York,
London: Harcourt Brave Jovanovich 1983, S. 11.
Michael Holquist: Whodunit and Other Questions: Metaphysical Detective Stories in PostWar Fiction. In: New Literary History, Vol. 3, 1971-1972, S. 155.
Porter: The Pursuit of Crime, S. 245.
Schulz-Buschhaus: Funktionen des Kriminalromans in der post-avantgardistischen Erzählliteratur. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München:
Fink 1998, S. 533. Vgl. auch Žmegač: Aspekte des Detektivromans, S. 16: Hier ist vom
„Nachgeschmack des Märchens“ bezüglich des Endes des Detektivromans die Rede.
Porter: The Pursuit of Crime, S. 223.
Dieter Wellershoff: Vorübergehende Entwirklichung. Zur Theorie des Kriminalromans. In:
Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: Fink 1998,
S. 499.
Ebd., S. 499.
24
DER DETEKTIVROMAN
erklärt und zu Stein erstarrt. In einer „Explosion der Wahrheit“69 werden alle
zuvor ambigen Fakten und Spuren geordnet, die Zeichen haben genau eine
Bedeutung, festgelegt durch die ‚Interpretationshoheit‘ des Detektivs, die sich
schließlich in Präsentation und Verknüpfung der auf eine Bedeutung festgelegten Zeichen zur Auflösung bestätigt:
Wissenschaftsgläubig wie er [der Detektivroman] ist, kommt der Roman dem
Bedürfnis des Lesers entgegen, die Realität als eine lückenlose Kette von Ursache und Wirkung zu begreifen. Die Befriedigung, die er spendet, ist die Befriedigung über die Rechnung, die stets aufgeht. [...] Metaphysische Vorstellungen
muß er daher normalerweise ebenso ausschließen wie das Absurde und dessen
„negative Theologie“.70
Glaubt man Kritikern – wie z. B. Ulrich Suerbaum –, hat der Detektivroman
über die durch die Rätselspannung seines Plots erzeugte suspense hinaus
nichts zu sagen, ist er nicht fähig, weitreichendere Ideen zu entwickeln, denn
der „Detektiv ist kein quester-hero, kein Wahrheitssuchender in einem höheren Sinne.“71 Aus diesem Grund ‚erlischt‘ folglich der Detektivroman in der
Auflösung seines begrenzten Problems:
Detective novels are the most blatant examples of throwaway literature. They are
books to leave behind in trains or vacation homes because in most cases their only “meaning” is in the first reading of them.72
Das vielgeäußerte Diktum, man könne einen Detektivroman kaum ein zweites
Mal mit Vergnügen lesen,73 trifft sicherlich auf die erhebliche Mehrzahl der
Texte zu; einzelne Beispiele erzeugen jedoch durchaus auch gegenteilige Rezeptionseffekte: Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd beispielsweise wird bei einer Relektüre im Wissen, dass der homodiegetische Erzähler und
Co-Ermittler auch der am Schluss durch Poirot überführte Täter sein wird, zu
einem gänzlich anderen Text. Ist die erste Lektüre der Erzählung eines zunächst unverdächtigen Arztes wahrscheinlich durch die Spannung des
Mitratens74 geprägt, erfährt die Erzählung des Mörders nach dessen Demaskierung eine neue Wertung. Durch die veränderte Perspektive auf den Text
69
70
71
72
73
74
Jochen Mecke: Funktionen des Kriminalromans in Moderne und Postmoderne. In: Ottmar
Ette, Andreas Gelz (Hg.): Der französischsprachige Roman heute: Theorie des Romans –
Roman der Theorie in Frankreich und der Frankophonie. Tübingen: Stauffenburg 2002, S. 62.
Žmegač: Aspekte des Detektivromans, S. 32.
Ulrich Suerbaum: Der gefesselte Detektivroman. Ein gattungstheoretischer Versuch. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: Fink 1998,
S. 94. Zur Annahme der „Minderwertigkeit“ von Detektivromanen vgl. auch Richard Gerber:
Verbrechensdichtung und Kriminalroman, S. 78-79.
Porter: The Pursuit of Crime, S. 7.
Vgl. z. B. Wystan Hugh Auden: The Guilty Vicarage. In: Robin W. Winks (Ed.): Detective
Fiction: A Collection of Critical Essays. Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall 1980, S. 15: „
I forget the story as soon as I have finished it, and have no wish to read it again. If, as sometimes happens, I start reading one and find after a few pages that I have read it before, I cannot go on.“
Vgl. Bloch: Philosophische Ansicht des Detektivromans, S. 41
DER DETEKTIVROMAN
25
kommen nun andere Kriterien zum Tragen und führen zu einer permanenten
Analyse des nun als unzuverlässig enttarnten Aussagemodus’ und der raffinierten narrativen Techniken der Verschleierung, denn – das ist das Faszinosum dieses Romans – man kann den Erzähler keiner Lüge, sondern höchstens
einer partiellen Schweigsamkeit, Auslassung oder Unschärfe überführen.
Trotzdem funktioniert auch dieses exponierte Beispiel75 in den erläuterten Parametern und stellt sich so als dem Modell Tat-Fahndung-Lösung entsprechend dar.
Als rein auf Aufklärung und Enträtselung fixierte Form erscheint der klassische Detektivroman Kritikern als Geheimnisspannung erzeugende „pleasure
machine“76 mit einer einzigen Wirkung:
[It] returns its reader to the safety of his point of departure once the thrilling circuit is completed […].77
Vielfach wird der Detektiverzählung und dem Detektivroman aufgrund dieser
geschlossenen, tektonisch kompakten Struktur der Charakter eines Rätsels78
oder „um der ratio willen arrangierten Spiels“79 attestiert. Schon Edgar Allan
Poes erste Detektivgeschichte The Murders in the Rue Morgue beginnt mit einer kurzen Abhandlung über die Natur von Spielen wie z. B. Schach, Dame
und das Kartenspiel Whist.80 Die häufig herangezogenen Vergleiche des Detektivromans mit einem Puzzle,81 Kreuzworträtsel,82 „Mosaikspiel“83 oder
„chess problem“84 verraten viel über die zunächst favorisierte Konzeption des
Genres: „It is not a tale but a game, not a story but a problem.“85
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78
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85
In der Nachfolge von Christies The Murder of Roger Ackroyd wurde die Konstellation des
Täter-Erzählers noch einige Male verwandt. Auf einer ähnlichen Basis funktioniert auch Nicholas Blakes Roman The Beast must die von 1939, dessen erstes Drittel aus dem Tagebuch
des späteren Mörders besteht, bevor nach einem Perspektivwechsel ein auktorialer Erzähler
von der Ermittlung des Detektivs Strangeways erzählt. In Romanen von Francis Iles (i. e. Anthony Berkeley) gibt sich der Erzähler gleich zu Beginn als Täter zu erkennen (Malice
aforethought, 1929; Before the Fact, 1931).
Porter: The Pursuit of Crime, S. 246.
Ebd.
Vgl. André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus,
Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen: Niemeyer 51974, S. 126-149. Vgl. auch Žmegač: Aspekte des Detektivromans, S. 29.
Kracauer: Der Detektiv-Roman, S. 123. Vgl. auch Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S.
88-89.
Dieses Spiel präsentiert sich als konventionalisiertes „Regel-Spiel (game)“ – im Gegensatz
etwa zum „freien Spiel (play)“. Vgl. Bettina Bannasch: Spiel. In: Nicholas Pethes, Jens
Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt 2001, S. 556-558.
Vgl. Poe: The Murders in the Rue Morgue, S. 197-199.
Vgl. Mandel: Ein schöner Mord, S. 25.
Vgl. Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S. 70-73.
Žmegač: Aspekte des Detektivromans, S. 29.
Caillois: The Detective Novel as a Game, S. 9
Ebd., S. 10.
26
DER DETEKTIVROMAN
Sicherlich ist diese Perspektive eine eingeschränkte und resultiert aus der
oft diagnostizierten rein stofflich orientierten Konzeption vieler früher Beispiele des Genres. Natürlich war der Detektivroman als Genre immer mehr als
„un jeu présenté sous forme de récit“,86 natürlich transportiert er Menschenbilder, eine eigen(artig)e Epistemologie und Konzepte der Welterschließung und
lässt sich so als Produkt seiner Zeit lesen.87 Doch auch wenn Kritiker, wie z. B.
Richard Alewyn,88 Uri Eisenzweig,89 Bernard Suits90 oder Roger Caillois91 die
Spiel-Natur der Gattung später u. a. aus eben diesen Gründen relativieren,
lässt sich die beschriebene Verwandtschaft nicht leugnen – der Detektivroman
präsentiert sich auf mehreren Ebenen als Spiel: Zum einen ist der Leser Beobachter eines vom Autor inszenierten Versteck-Spiels zwischen Täter und
Detektiv. Zum anderen wird der Leser zum Mitspieler (und so zum Gegenspieler des Autors), wenn er versucht, die Lösung durch die Analyse der dargebotenen Fakten vorwegzunehmen,92 den Fall schneller als der literarische
Detektiv zu klären und die durch literarische Taktiken der Irreführung evozierten Hürden – die falschen Fährten bzw. red herrings – zu überwinden.93 Für
86
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88
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90
91
92
93
Uri Eisenzweig: Quand le policier devient genre. In: Ders.: (Ed.): Autopsies du roman policier. Paris: Union Générale d’Editions 1983, S. 15.
So wird der Detektivroman z. B. immer wieder als Zeugnis des Positivismus, des „technischen Zeitalters“ (Žmegač: Aspekte des Detektivromans, S. 32), als „Kind des Kapitalismus“
(Ernst Kaemmel: Literatur unterm Tisch. Der Detektivroman und sein gesellschaftlicher Auftrag. In: Viktor Žmegač (Hg.): Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des
Detektivromans. Frankfurt/M.: Athenäum 1971, S. 178) oder „literarische Zwillingsschwester
der Moderne“ gelesen (Mecke: Funktionen des Kriminalromans in Moderne und Postmoderne, S. 57).
Vgl. Alewyn: Anatomie des Detektivromans, S. 60-61: „Diese Vergleiche [des Detektivromans mit dem Spiel] sind nicht falsch, aber sie sind nicht vollständig. [...] Sobald die Gattung
sich zum Roman ausweitet, bereichert sie sich mit Sachen, bevölkert sie sich mit Menschen
und konstituiert eine Welt, in der sich mehr versteckt als nur ein Mörder.“ Vgl. auch S. 67.
Vgl. Eisenzweig: Quand le policier devient genre, S. 15-16: Eisenzweig kritisiert zu Recht,
dass die Betrachtung des Detektivromans als Spiel dessen ästhetische Disposition außer Acht
lasse.
Suits führt zu Recht an, dass die Konzeption des Romans als Spiel von der Rezeption des Lesers abhängig ist. Nimmt dieser das Spiel nicht an und liest den Roman allein, um sich durch
die Lösung überraschen zu lassen, wird der Spiel-Begriff für diese Konstellation zumindest
fragwürdig. (Vgl. Bernard Suits: Die Detektivgeschichte: Eine Fallstudie über Spiele in der
Literatur. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: Fink 1998, S. 262-263.)
Roger Caillois: Der Kriminalroman oder: Wie sich der Verstand aus der Welt zurückzieht,
um seine Spiele zu spielen, und wie darin dennoch die Probleme der Gesellschaft behandelt
werden. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: Fink 1998, S. 157-180.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Ernst Bloch in seinem Essay Philosophische
Ansicht des Detektivromans von der „Spannung des Ratens“ spricht. Hier ergibt sich offensichtlich eine Parallele zur Analyse detektivischen Vorgehens unter den Vorzeichen der Semiotik, in deren Licht die Detektion als Abduktion im Sinne Charles S. Peirces als Methode
des Ratens bezeichnet werden kann. (Vgl. Umberto Eco, Thomas A. Sebeok (Hg.): Der Zirkel
oder Im Zeichen der Drei – Dupin, Holmes, Peirce. München: Fink 1985.)
Ronald A. Knox etwa beschreibt 1929 diesen Wettstreit folgendermaßen: „Der Detektivroman ist eine Partie zwischen zwei Spielern, dem Verfasser auf der einen und dem Leser auf
DER DETEKTIVROMAN
27
dieses zweite Spiel wird – in Bestätigung des Spiel-Charakters der Romane
durch deren Autoren – immer wieder das „fair-play“94 eingefordert: Dem Leser müssen im Laufe der Geschichte alle Fakten zugänglich werden, mit deren
Hilfe ein potenzielles Lösen des Falles möglich wird. Diese Forderung und der
Spiel-Charakter des Genres führten in den dreißiger Jahren des zwanzigsten
Jahrhunderts zu verschiedenen extremen Ausprägungen: Es erschienen Detektivromane, denen in Form von Fotos, Faksimiles, Briefen, Knöpfen, Haaren
oder Zigarettenstummeln die Beweismittel beigegeben waren, wodurch sich
die Positionen von Leser und Detektiv immer mehr annäherten. Eine andere
Variante waren die so genannten ‚Sealed Mysteries‘, denen das Ende des Romans, also die Auflösung des Falles, in einem verschlossenen Umschlag beilag.95
Natürlich überschreitet vor allem die Langform des Detektivromans, anders
als viele Kurzgeschichten des Genres, in seiner Erzählung immer wieder die
engen Grenzen und die Ökonomie96 eines solchen Spiels, indem sie in der
Schilderung der Geschehnisse über den Rätselplot hinausgeht und differenzierte Figuren und Milieus kreiert. Dies ist beispielhaft schon in einem der
frühesten Detektivromane, Emile Gaboriaus L’affaire Lerouge97 (1865), zu
94
95
96
97
der anderen Seite. Der Leser hat gewonnen, wenn er etwa in der Mitte des Buches die richtige
Person als Täter erkannt oder die genaue Methode erraten hat, nach der das Verbrechen ausgeführt wurde, allen Irreführungen des Autors zum Trotz. Der Autor seinerseits bleibt Sieger,
wenn es ihm gelingt, das Urteil des Lesers über den Täter im Schwebezustand zu halten oder
ihn bis zum letzten Kapitel in völliger Unklarheit über die Methode zu lassen, und wenn er
dennoch dem Leser zeigen kann, wie jener das Geheimnnis mit den gegebenen Hinweisen
hätte lüften sollen. Wie beim Akrostichon, wie beim Kreuzworträtselwettbewerb kann ein ehrenvoller Sieg nur errungen werden, wenn die Lösungshilfen ‚fair‘ waren.“ (Ronald A. Knox:
Zehn Regeln für einen guten Detektivroman. In: Paul G. Buchloh, Jens P. Becker (Hg.): Der
Detektiverzählung auf der Spur. Essays zur Form und Wertung der englischen Detektivliteratur. Darmstadt: WBG 1977, S. 191.)
Sayers: Aristoteles über Detektivgeschichten, S. 19. Vgl. auch die Regel Nr. 8 der Regelliste
von Knox: „Der Detektiv darf nicht auf irgendwelche Anhaltspunkte stoßen, die nicht sofort
dem Leser zur Prüfung vorgelegt werden.“ (Ronald A. Knox: Zehn Regeln für einen guten
Detektivroman. In: Paul G. Buchloh, Jens P. Becker (Hg.): Der Detektiverzählung auf der
Spur. Darmstadt: WBG 1977, S. S. 192.) Vgl. auch The Detection Club Oath. In: Howard
Haycraft (Ed.): The Art of the Mystery Story. A Collection of Critical Essays. New York:
Biblo & Tannen 1976, S. 198: „Ruler: Do you solemnly swear never to conceal a vital clue
from the reader? / Candidate: I do.“ Die Notwendigkeit des fair-play wird auch von S. S. van
Dine und Agatha Christie unterstrichen (Vgl. Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S. 8688.). Vgl. Caillois: Der Kriminalroman, S. 161. Vgl. auch Žmegač: Aspekte des Detektivromans, S. 30: Žmegač merkt richtigerweise an, dass das fair-play auch im klassischen Detektivroman häufig nur eine Illusion ist, da die Hinweise und Clues zwar vorhanden, aber in solcher Weise camoufliert sind, dass sie vom Leser eben nicht entdeckt werden können, damit
ein überraschendes Ende möglich bleibt.
Vgl. Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S. 81-82.
Vgl. Žmegač: Aspekte des Detektivromans, S. 21.
Vgl. Emile Gaboriau: Die Affäre Lerouge. Stuttgart: Goverts 1970. Auch im Hinblick auf die
Entwicklung des Anti-Detektivromans ist Gaboriaus Roman bemerkenswert, denn es besteht
bis zum Ende die Gefahr, dass durch einen Fehlschluss des Detektivs Tabaret ein Unschuldiger hingerichtet wird, bis dann die Aufklärung des Verbrechens schließlich doch gelingt.
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DER DETEKTIVROMAN
beobachten. Vor allem jedoch die Detektivromane des Golden Age besitzen
„einen eigenartig informierenden Charakter.“98 Dorothy L. Sayers beschreibt
diese Entwicklung als notwendige generische Evolution:
We also took occasion to preach at every opportunity that if the detective story
was to live and develop it must […] become once more a novel of manners instead of a pure crossword puzzle.99
Doch auch in diesen Detektivromanen ist das inhärente Rätsel noch immer das
dominante und strukturierende Moment, das das zwischen Enigma und Lösung liegende Feld der Erzählung aufspannt. So bleibt die klare SpielKonfiguration erhalten, und es liegt in der Natur des Spiels, wie Johan Huizinga theoretisiert, dass es sich als „eine bestimmte Qualität des Handelns [...]
vom ‚gewöhnlichen‘ Leben unterscheidet.“100
Betrachtet man den Detektivroman als Spiel, so wird ostensiv, wie sehr
grundlegende Definitionen des Spiels eben auch auf ihn anwendbar sind, denn
die Spiel-Natur erklärt schlüssig seine schematisierte Verfasstheit, seinen klaren teleologischen Ablauf, seine Ökonomie der Mittel und die entstandenen
Regelkataloge,101 denn
[j]edes Spiel hat seine eigenen Regeln. Sie bestimmen, was innerhalb der zeitweiligen Welt, die es herausgetrennt hat, gelten soll. Die Regeln eines Spiels
sind unbedingt bindend und dulden keinen Zweifel.102
Auf dieser theoretischen Grundlage wird klar, warum z. B. Ulrich Suerbaum
1967 den Detektivroman als „gefesselte“103 Gattung bezeichnet, in der nur
„Scherzrätsel“104 gelöst werden, und, wie Dieter Wellershoff anmerkt, allein
„Scheinprobleme“105 verhandelt werden können, denn
Spiel ist nicht das »gewöhnliche« oder das »eigentliche« Leben. Es ist vielmehr
das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz.106
Die ‚Sphäre der Aktivität‘ ist in diesem Fall auf der Handlungsebene der Ermittlung ebenso anzutreffen wie auf der Rezeptionsebene: So wie die detekti98
99
100
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102
103
104
105
106
Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S. 17.
Dorothy L. Sayers: Gaudy Night. In: Haycraft (Ed.): The Art of the Mystery Story. New
York: Biblo & Tannen 1976, S. 209. [Hervorhebung des Verf.]
Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 1997, S. 11-12.
Vgl. Regelkataloge Knox und Van Dine, die, auch wenn sie nicht als bindende Regelwerke
gemeint waren, eine Aussage über das Genre als Schemaliteratur treffen. Zur Bedeutung der
Regeln für den Detektivroman und den Detection Club vgl. Antje Wulff: Die Spielregeln der
Detektiverzählung. In: Paul G. Buchloh, Jens P. Becker: Der Detektivroman. Darmstadt:
WBG 41990, S. 81-95.
Huizinga: Homo Ludens, S. 20.
Suerbaum: Der gefesselte Detektivroman, S. 84-96.
Ebd., S. 95.
Wellershoff: Vorübergehende Entwirklichung, S. 499.
Huizinga: Homo Ludens, S. 15.
DER DETEKTIVROMAN
29
vischen Protagonisten den jeweiligen Fall häufig als Spiel einstufen;107 zeigt
sich auch das intendierte Rezeptionsverhalten des Lesers – als Rätselraten und
Wetteifern mit dem Detektiv auf der Suche nach der Auflösung des einzelnen
Falles – als Spiel. Ausgehend von beiden Ebenen führt Roger Caillois’ frühe
Kritik am Detektivroman von der Einordnung der Gattung als Spiel zum daraus resultierenden mangelnden Realismus und zum Vorwurf einer unüberschreitbaren Immanenz der Gattung, die sich als Gefangen-Sein im Spiel darstellt:
[The detective novel] takes from reality nothing but a setting, sees in psychology
nothing but a research method or an aid to investigation, and is only interested in
passions and emotions to the extent that they provide the impulse that sets in motion the mechanism it has constructed.108
Caillois ist nicht der Einzige, der dem Detektivroman das Verhaftetsein innerhalb der eigenen Regeln und Mechanik zum Vorwurf gemacht hat. Auch Richard Alewyn merkt an, der Detektivroman erzeuge „artifizielle Situationen“
und die in ihm präsentierte Welt sei „anders aufgebaut [...] als die unserer täglichen Erfahrung“, es sei eine „Welt ohne Zufall“.109 Friedrich Dürrenmatt
spitzt diese Kritik 1958 in Das Versprechen weiter zu. Der Polizeikommandant Dr. H. äußert sich hier gegenüber einem Autor von Detektivromanen folgendermaßen:
Nein, ich ärgere mich vielmehr über die Handlung in euren Romanen. Hier wird
der Schwindel zu toll und zu unverschämt. Ihr baut eure Handlung logisch auf;
wie bei einem Schachspiel geht es zu [...]; es genügt, daß der Detektiv die Regeln kennt und die Partie wiederholt [...]. Diese Fiktion macht mich wütend.110
Ulrich Broich hat schon 1978 in Der entfesselte Detektivroman111 Suerbaums
Vorwurf an den Detektivroman teilweise entkräftet. Diagnosen, die den Detektivroman als an die archetypische Form des ‚reinen‘ Detektivromans bzw.
pointierten Rätselromans gefesselt sehen, beruhen nach Broich „auf einem
entscheidenden Fehler. Sie gehen aus von dem Detektivroman in seiner klassischen Ausprägung [...].“112 Broichs Kritik an der Unfähigkeit, die Form schon
in der Definition für eine Entwicklung zu öffnen, ist durchaus angemessen. So
kritisieren auch Buchloh und Becker diese definitorisch-strukturelle Begren107
108
109
110
111
112
Z. B. Sherlock Homes: “I play the game for the game’s own sake.” (Arthur Conan Doyle: His
Last Bow, S. 43.)
Caillois: The Detective Novel as a Game, S. 11.
Richard Alewyn: Die Anfänge des Detektivromans. In: Viktor Žmegač (Hg.): Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans. Frankfurt/M.: Athenäum
1971, S. 192.
Friedrich Dürrenmatt: Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. In: Ders.: Gesammelte Werke. Romane, Bd. 4: Romane. Hg. von Franz Josef Görtz. Zürich: Diogenes
1988, S. 430.
Ulrich Broich: Der entfesselte Detektivroman. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman.
Poetik – Theorie – Geschichte. München: Fink 1998, S. 97-110.
Ebd., S. 101.
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DER DETEKTIVROMAN
zung des Detektivromans, die dessen Invarianz festschreibt, indem sie von einer „Schablone des Detektivromans abstrahiert [und] keine Varianten [berücksichtigt]“.113
Hard-boiled school
Nachdem der Detektivroman in der Massenliteratur vor allem nach der weltweiten Popularisierung des Schemas durch Arthur Conan Doyle zur Kolportage oder in vielen Detektivromanen des Golden Age zum hochartifiziellen Puzzle und „Gesellschaftsspiel für alle Klassen“114 wurde, entwickelten sich dennoch vielfältige literarische Varianten, die durchaus geeignet sind, Aussagen
über eine potenzielle Wirklichkeit zu treffen und diese zu problematisieren
oder die das Prinzip der Ver- und Enträtselung zu einem einzelnen Element
des Detektivromans neben vielen anderen reduzieren und so neue Terrains für
die ‚gefesselten Gattung‘ erschließen und deswegen einem Urteil Dorothy L.
Sayers’ von 1929 widersprechen, dem sie angesichts späterer Entwicklungen
vielleicht selbst nicht mehr zugestimmt hätte:
It [the detective novel] does not, and by hypothesis never can, attain the loftiest
level of literary achievement. Though it deals with the most desperate effects of
rage, jealousy, and revenge, it rarely touches the heights and depths of human
passion.115
In den dreißiger Jahren entstehen in den USA in Reaktion auf die Manieriertheit116 der kanonischen Detektivliteratur und als Gegenentwurf zum klassischen amerikanischen, viktorianischen und nachviktorianischen Detektivroman die ersten hard-boiled Detektivgeschichten, die zunächst im Black Mask
Magazine erscheinen. Die Texte der hard-boiled school stellen einen ersten
Umbruch in der Entwicklung des Detektivromans dar,117 der zugleich zur literarhistorischen Unterteilung des Genres führt:
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Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S. 11.
Frauke Stroh: Mord in Pfarrhäusern. Über Agatha Christie und Dorothy Sayers. In: die horen.
Jg. 38, H. 172, 1993, S. 36.
Dorothy L. Sayers: The Omnibus of Crime. In: Robin W. Winks (Ed.): Detective Fiction: A
Collection of Critical Essays. Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall 1980, S. 77.
Diese Manieriertheit lässt sich leicht an der Entwicklung einzelner Motive, z. B. der immer
unwahrscheinlicher und artifizieller werdenden Konstruktion des locked room mystery, ablesen. Eine Entwicklungslinie ließe sich hier z. B. ziehen von Poes The Murders in the Rue
Morgue (1841) über Arthur Conan Doyles The Adventure of the Speckled Band (1892) bis zu
Gaston Leroux’ Le mystère de la chambre jaune (1907).
Grella geht hier vielleicht einen Schritt zu weit, wenn er bereits die hard-boiled detective
novel als Invertierung der Konventionen des klassischen Whodunit beschreibt. (Vgl. Grella:
The Hard-Boiled Detective Novel, S. 116.) Angemessener sehen dies Buchloh und Becker,
wenn sie z. B. Hammetts The Maltese Falcon als „Absage an den englischen Detektivroman
im Stile von Agatha Christie“ werten. (Buchloh, Becker: Der Detektivroman, S. 101.)