Genozid in Titos Jugoslawien

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Genozid in Titos Jugoslawien
Stefan Teppert, M. A. (Meßstetten)
Genozid in Titos Jugoslawien –
Johannes Weidenheims Roman „Treffpunkt jenseits der Schuld“ und einige weitere Beispiele von literarischer Dissidenz, nonkonformer Zeugenschaft und antiideologischer Stellungnahme aus der donauschwäbischen, serbischen, kroatischen und ungarischen Belletristik
1. Johannes Weidenheims Roman „Treffpunkt jenseits der Schuld“
1.1 Einleitung
Es entspricht einer langjährigen Tradition, daß bei Symposien und Fachtagungen zur deutschen Literatur aus Südosteuropa die Länder Ungarn und Rumänien im Mittelpunkt standen,
während das ehemalige Jugoslawien stets unterrepräsentiert war oder völlig fehlte. Dabei
lebten in allen drei Ländern bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs jeweils etwa eine halbe
Million Deutsche.
Abgesehen von einer Gruppe, die bereits 1945 in den Westen floh oder aus der Gefangenschaft entlassen wurde, fand in Rumänien nach 1945 eine Vertreibung der Deutschen nicht
statt. Die im Lande Verbliebenen wurden jedoch ihrer Bürgerrechte beraubt und vollständig
enteignet, nach Rußland verschleppt oder in die Bărăgan-Steppe verbannt. 1948 wurden die
deutschen Rumäniens wieder zu gleichberechtigten Bürgern und konnten einen umfassenden Kulturbetrieb in deutscher Sprache entwickeln, bis sie ab Mitte der siebziger Jahre des
vergangenen Jahrhunderts als Spätaussiedler Rumänien zum größten Teil verließen, viele
freigekauft von der BRD, was als die letzte Phase der donauschwäbischen Vertreibung gelten
kann.
Ungarn stoppte die Vertreibung seiner Deutschen und behielt etwa die Hälfte zurück. Die
verbliebenen Deutsche wurden bis etwa 1950 diskriminiert, danach kam es zur Herstellung
ihrer verfassungsmäßig zugesagten Gleichberechtigung und einer dadurch ausgelösten Entfaltung des kulturellen Lebens sowie einer Normalisierung des Verhältnisses zwischen Deutschen und Ungarn. Das ungarische Parlament hat sich schließlich am 14. Mai 1990 für das
Kollektivunrecht an der deutschen Minderheit entschuldigt. In dem Dokument heißt es, „daß
die 1944 begonnene Verschleppung und die dann folgende Aussiedlung der Ungarndeutschen
ein die Menschenrechte schwer verletzendes ungerechten Verfahren war“1.
Die ethnische Säuberung Jugoslawiens von seiner deutschen Minderheit am Ende des Zweiten Weltkriegs und in den Jahren danach war im Unterschied zu Rumänien und Ungarn erbarmungslos und radikal, sie ist nahezu vollständig gelungen. Etwa 510.000 Menschen verschwanden durch Evakuierung, Flucht, Liquidierung, Verschleppung, durch die systematische
Austilgung in Hungerlagern. Mindestens 195.000 Donauschwaben fielen den Tito-Schergen
in die Hände. Etwa 8.000 Deutsche, hauptsächlich Männer, wurden von Ende 1944 bis Anfang 1945 in einer ersten Terrorwelle, der sogenannten „Aktion Intelligenzija“ zur Eliminierung der „Kulaken“ bzw. Intelligenzschicht nach Stalins Vorbild, ohne Gerichtsurteil von den
kommunistischen Machthabern erschossen oder auf andere Weise ermordet. Rund 12.000
1
Kathrin Sitzler, Gerhard Seewann: Aktuelle Stimmen zur Vertreibung aus Ungarn, in: Deutschland und seine
Nachbarn. Forum für Kultur und Politik, Heft 18, Bonn 1997, S. 50-83
Deutsche wurden zur Zwangsarbeit in die UdSSR deportiert und rund 180.000 in die Arbeitsund Konzentrationslager interniert, darunter rund 40.000 Kinder unter 14 Jahren, von denen
6.000 in den Lagern verstarben, während 20.000 in jugoslawischen Kinderheimen im Sinne
der herrschenden Staatsideologie umerzogen wurden.2 In diesen Vernichtungslagern kamen
planvoll mindestens 48.500 Donauschwaben durch Mißhandlungen, Hunger und Seuchen
ums Leben und wurden größtenteils in Massengräbern verscharrt. Rund 60.000 zivile Nachkriegsopfer haben die Deutschen Jugoslawiens zu beklagen. Nach Auflösung der Internierungslager 1948 mußten die arbeitsfähig gebliebenen Überlebenden weitere drei Jahre
Zwangsarbeit leisten, bevor sie sich von ihrem Heimatland loskaufen durften, um auszuwandern, vor allem um als „Spätheimkehrer“ Bürger der Bundesrepublik Deutschland zu werden.
Ab 1954 gab es kaum noch Deutsche in dem kommunistischen Balkanstaat unter Titos diktatorischer Herrschaft. Nur 1,8 Prozent der einst im Lande lebenden Donauschwaben ist in der
alten Heimat geblieben, oft deshalb, weil sie in Mischehen lebten, weil sie Schutz durch andersnationale Nachbarn genossen, weil ihre beruflichen Fähigkeiten zum Aufbau des neuen
Staates unentbehrlich waren, weil sie zu Südslawen umerzogen wurden oder auch weil sie in
seltenen Fällen als Deutsche unerkannt blieben. Die Behandlung der Deutschen Jugoslawiens
in den Jahren 1944 bis 1948 und darüber hinaus trägt alle Merkmale eines Völkermords.
Diese Tatsache hat Dieter Blumenwitz in einem Rechtsgutachten nachgewiesen.3
Bis heute gibt es von serbischer Regierungsseite keine offizielle Entschuldigung für das an
der deutschen Minderheit begangene Unrecht, die Gesetzgebung, die einst zu ihrer Entrechtung und Enteignung führte, besteht fort, wenn sie auch nicht mehr praktiziert wird, und in
der Frage der Vermögensrestitution steht man immer noch im Anfangsstadium, obwohl die
EU Druck macht. Von einer Wiedergutmachung kann bisher keine Rede sein. Die Verbrecher
laufen immer noch frei herum, sofern sie noch leben, wohnen unbehelligt in den Häusern
ihrer Opfer, die sie für ihren „heldenhaften“ Kampf erhielten. Couragierte serbische Historiker und Schriftsteller haben inzwischen aber begonnen, zumindest ihre Namen zu nennen.
Seit seinem Auseinanderbrechen stellt sich das Thema Vertreibung für Jugoslawien und die
europäische Öffentlichkeit plötzlich in einer neuen Sicht. Immerhin genießt die deutsche
Minderheit in Serbien inzwischen einen staatlich geschützten Status und hat sich im Jahr
2010 in der Stadt Subotica mit einem Nationalrat etabliert. Allerdings bekommen die deutschen Organisationen des Landes keine finanzielle Unterstützung von der serbischen Regierung. Auch eine binationale Historikerkommission zur Untersuchung der Vertreibungsverbrechen ist im Jahr 2000 vom Parlament der Provinz Wojwodina installiert worden, jedoch
liegen meines Wissens noch keine offiziellen Ergebnisse vor. Im Jahr 2009 wurde zwischen
dem serbischen Präsidenten Boris Tadić und dem damaligen ungarischen Präsidenten Laszló
Solyon die Gründung einer gemischten Kommission vereinbart, um die Verbrechen an der
Zivilbevölkerung in der Wojwodina in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu
untersuchen und geheime Massengräber aufzudecken und zu kennzeichnen. Die Lands-
2
Adalbert Karl Gauß: Kinder im Schatten, Selbstverlag, Salzburg 1950. – Karl Springenschmid: Das goldene Medaillon. Erzählung, Pfad, Salzburg 1953 / Neuausgabe: Leopold Stocker Verlag, Graz und Stuttgart 1977. – Georg
Tscherny: Donauschwäbische Kinderschicksale, in: Geschichte, Gegenwart und Kultur der Donauschwaben.
Texte aus dem Jahresprogramm 1993 der Landsmannschaft der Donauschwaben Bundesverband, Sindelfingen
1993, Heft 4, S. 242-246. – Stefan Barth: Schicksal deutscher Lagerkinder in jugoslawischen Kinderheimen, in:
Donaudeutsche Nachrichten, 56. Jg., Februar 2010
3
Dieter Blumenwitz: Rechtsgutachten über die Verbrechen an den Deutschen in Jugoslawien 1944-1948, Sonderausgabe Juristische Studien, Verlag der Donauschwäbischen Kulturstiftung, München 2002, 64 S.
2
mannschaft der Donauschwaben hat daraufhin ihren Anspruch bei der serbischen Regierung
angemeldet, ihre Interessen in dieser Kommission zu vertreten.4
Im ehemaligen Jugoslawien konnte in der Nachkriegszeit nach der erläuterten Lage der Dinge kaum eine deutschsprachige Literaturszene entstehen, wenn man von ein paar bemerkenswerten Ausnahmen unter dem Häuflein der höchstens 10.000 Zurückgebliebenen absieht. Die einstigen deutschen Kulturtraditionen sind – im Unterschied zu Rumänien und
Ungarn – nahezu vollständig aus dem ehemaligen Jugoslawien verschwunden. Ganz anders
verhält sich dies in den neuen Heimatländern der Geflüchteten und Vertriebenen, besonders
in Deutschland und Österreich, aber auch in Übersee. Sie haben in einem viertausend Seiten
umfassenden Werk ihre entsetzliche Leidensgeschichte im kommunistischen Jugoslawien
dokumentiert und bekannt zu machen versucht5, leider mit offenbar wenig Erfolg, denn immer noch ist der Völkermord an den Jugoslawiendeutschen im öffentlichen Bewußtsein
kaum vorhanden.6 Viele Hundert Autoren legten ihre traumatischen Erinnerungen an Verfolgung, Internierung, Verschleppung und Flucht nieder. Themen wie das Leben in der alten
Heimat, Heimatverlust und Heimweh dominieren die allermeisten dieser Aufzeichnungen,
die häufig nur aus selbsttherapeutischen Motiven verfaßt wurden, für die Schublade, für
familiäre oder Freundeskreise, und wenn sie doch das Licht des Gutenberg’schen Kosmos
erblickten, waren die Auflagen verschwindend gering und kursierten in aller Regel nur innerhalb der eigenen Heimatortsgemeinschaft oder bestenfalls der eigenen Volksgruppe. Es
bleibt einer zukünftigen, ideologisch unbefangenen Literaturwissenschaft vorbehalten, über
4
Vgl. Serbien/Wojwodina Aktuell: Serbien und Ungarn wollen eine Deklaration über die Verbrechen in der
Woiwodina verabschieden. Artikel von B. D. Savić in „Dnevnik (Rubrik „Politika“) vom 09.01.2011, aus dem
Serbischen übersetzt von Stefan Barth, in: Mitteilungen/Der Donauschwabe v. 15.02.2011, S. 3 (Berichte auch
in den Ausgaben von August 2009 und Januar 2010)
5
Leidensweg der Deutschen im kommunistischen Jugoslawien. Band 1: Ortsberichte über die Verbrechen an
3
den Deutschen durch das Tito-Regime in der Zeit von 1944-1948, München-Sindelfingen 1991, 1997 , 998 S.;
3
Band 2: Erlebnisberichte, München-Sindelfingen 1993, 1997 , 1040 S.; Band 3: Erschießungen – Vernichtungslager – Kinderschicksale, München Sindelfingen 1995, 992 S.; Band 4: Menschenverluste – Namen und Zahlen,
München-Sindelfingen 1994, 1052 S. (alle vier Bände im Verlag der donauschwäbischen Kulturstiftung)
- Die ersten drei Bände des „Leidensweges“ wurden inhaltsgleich auch als Lizenzausgabe unter dem Titel Weißbuch der Deutschen aus Jugoslawien im Universitas Verlag in F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München herausgegeben
- Verbrechen an den Deutschen in Jugoslawien 1944-1948. Die Stationen eines Völkermords, Verlag der Donauschwäbischen Kulturstiftung, München 1998, 359 S.
- Genocide of the Ethnic Germans in Yugoslavia 1944-1948, Published by Danube Swabian Association of the
U.S.A., Inc., Santa Ana, California 2001, 133 S.
- Genocide of the Ethnic Germans in Yugoslavia 1944-1948, European English-Language Edition, München 2003,
224 S.
- Genocid nad nemačkom manjinom u Jugoslaviji 1944-1948 („Genozid an der deutschen Minderheit in Jugoslawien 1944-1948“, Text der Europa-Ausgabe von „Genocide ...“ in serbischer Sprache), Belgrad 2004, Verlag
der donauschwäbischen Kulturstiftung, Lizenznehmer und Herausgeber: Gesellschaft für serbisch-deutsche
Zusammenarbeit, Belgrad
- Leitfaden zur Dokumentationsreihe Verbrechen an den Deutschen in Jugoslawien 1944-1948. Gesamtübersicht mit thematischen Ergänzungen und Register (Deutsch – Englisch – Serbisch), Verlag der donauschwäbischen Kulturstiftung, ca. 240 S., in Vorbereitung, München 2005, 287 S.
6
In der Nummer 1/2011 der Reihe „Geschichte“ im Spiegel-Verlag mit dem Titel „Die Deutschen im Osten“
wird der Völkermord an den Jugoslawiendeutschen immerhin erwähnt, wenn auch eine eingehende Würdigung
fehlt. Walter Mayr: Treibgut am Donaustrand, Werschetz, Serbien, S. 67 f.
3
den sicherlich sehr unterschiedlichen Wert dieser Werke zu urteilen. Sie werden in einer
umfassenden Anthologie ediert.7
Die wenigen Ausnahmen, die es unter den aus Jugoslawien stammenden deutschsprachigen
Schriftstellern zu einem größeren Bekanntheitsgrad, ja zu einem gewissen Ruhm gebracht
haben, lassen sich an einer Hand abzählen. Es sind dies vor allem die Namen Johannes Weidenheim, Franz Bahl und Franz Hutterer. Der bedeutendste unter ihnen ist zweifellos Johannes Weidenheim. Ich möchte seinen Roman „Treffpunkt jenseits der Schuld“ hier in den Mittelpunkt stellen, weil der Autor darin so deutlich und umfassend wie sonst nirgends zu den
Totalitarismen des 20. Jahrhunderts Position bezieht. Es ist sowohl auf deutscher wie auf
serbischer Seite die erste und zugleich tiefgründigste, bis heute wegweisende Auseinandersetzung mit dem Thema der Schuld. Neben Weidenheim sollen weitere Autoren gestreift
werden, darunter vor allem donauschwäbische und serbische.
1.2 Zu Person und Werk von Johannes Weidenheim
Johannes Weidenheim, der 1918 als Ladislaus Jakob Johannes Schmidt in der damals ungarischen, heute serbischen Kleinstadt Baćka Topola geboren wurde, stammt aus einer am Ende
des 18. Jahrhunderts aus der Pfalz eingewanderten Handwerkerfamilie. Kindheit und Jugend
verbrachte er in Werbaß, dem kulturellen Mittelpunkt der Batschka-Deutschen. Er wuchs
dreisprachig – deutsch, ungarisch, serbisch – auf. Erste literarische Versuche des zum Lehrer
ausgebildeten Schriftstellers gehen in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurück, als er beim
„Deutschen Volksblatt“ in Neusatz (Novi Sad) und beim deutschen Rundfunk in Belgrad als
Redakteur tätig war. Während des Krieges mußte er zuerst als jugoslawischer Soldat gegen
Deutschland und dann als deutscher gegen Jugoslawien dienen. Nach dem Krieg lebte er,
wie viele seiner vertriebenen donauschwäbischen Landsleute, zuerst in Österreich, wo er
zeitweilig Redakteur der Wochenschrift „Neuland“ war, danach war er im Schuldienst in der
Lüneburger Heide und in Stuttgart, bis er sich 1952 als freischaffender Schriftsteller in Bonn
niederließ. Sein umfangreiches, in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts von der
Kritik geschätztes Werk umfaßt acht Romane und zwei Novellen, sieben Erzählbände und
einen Gedichtband, daneben zwei Einakter, Hörspiele sowie zahlreiche Essays und Aufsätze.
Auch als Übersetzer aus dem Serbischen und Slowenischen ist er hervorgetreten. Im Brennpunkt seines Schaffens steht die Problematik von Schuld und Versöhnung zwischen den Donauschwaben Jugoslawiens und ihren ehemaligen serbischen und andersnationalen Nachbarn. Die Erinnerung an das Zusammenleben verschiedener ethnischer Gruppen im
Pannonien seiner Kindheit einerseits, an die von Deutschen im Zweiten Weltkrieg verübten
Verbrechen an den Angehörigen dieser Gruppen und an das Leid der in Kollektivhaftung genommenen Donauschwaben andererseits bilden die Pole, zwischen denen sich seine Literatur bewegt. Mit seiner Hinwendung zum Thema deutscher Schuld und der Schuld des TitoRegimes nimmt Weidenheim eine Sonderstellung in der ost- und westdeutschen Literatur
der fünfziger und sechziger Jahre ein. Er gilt als eine der bedeutendsten literarischen Stimmen der in viele Länder zerstreuten Donauschwaben. In den siebziger Jahren publizierte
Weidenheim zumindest im Westen keine Bücher, weil er, bedingt durch den Kalten Krieg,
keinen Verleger mehr fand. Ein neuer Roman erschien mit „Heimkehr nach Maresi“ erst
1994. Weidenheim wurde u. a. mit dem Andreas-Gryphius-Preis und dem Donauschwäbi7
Die Erinnerung bleibt. Donauschwäbische Literatur seit 1945. Eine Anthologie, herausgegeben und jeweils mit
einem Vorwort von Stefan Teppert, Hartmann Verlag, Sersheim (bisher erschienen: Band 1, A-D, 1995, 669 S.;
Band 2, E-G, 2000, 1021 S.; Band 3, H-J, 2004, 1010 S.; Band 4, K-L, 2009, 1143 S.)
4
schen Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. Er starb am 8. Juni 2002 in
Bonn.
1.3 „Treffpunkt jenseits der Schuld“
Dieser Roman8 ist der Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit während und
nach dem Zweiten Weltkrieg sowie der Versöhnung zwischen den schuldig gewordenen Parteien, den Donauschwaben und den Serben, gewidmet.
Das Buch gibt ein Gespräch wieder, das der Serbe Marko Jastrogonac, der Deutsche aus Jugoslawien Hans Daffee und der alte Jude Samuel Horowitz, dessen Herkunft ebenfalls in
Pannonien liegt, im Jahr 1954 im Laufe einiger Abende miteinander geführt haben. Schauplatz ist eine deutsche Stadt mittlerer Größe, weil u. a. Ministerien genannt werden, ist sie
erkennbar als die provisorische deutsche Hauptstadt Bonn, wo Johannes Weidenheim sich
dauerhaft niedergelassen hatte. Die Gesprächsteilnehmer treffen sich in der Emigrantenkneipe „Konak“, das einzige balkanische Gasthaus in der Stadt, wo die Ausgewanderten,
Flüchtlinge und Vertriebenen aller südosteuropäischen Staaten zur Pflege ihres Heimwehs
und des guten Essens halber verkehren.
Der Roman ist in drei Teile gegliedert, wobei jeder der Teile eigentlich eine mehr oder weniger monologische Erzählung darstellt, miteinander verbunden werden diese Teile durch die
Einleitung, Kommentare und Zwischenbemerkungen des fiktiven Autors Hans Daffee, der die
Gespräche bzw. Darlegungen der drei Beteiligten für wichtig genug erachtete, um sie nachträglich in deutscher Sprache, eigener Ausdrucksweise und raffenden Bearbeitung niederzuschreiben. Es sei, wie er bekundet, nicht nur das Heimweh, das ihn dazu drängte, sondern
auch die politische Bedeutung ihres Inhalts, in dem sich seiner Meinung nach auch ein größeres Stück unserer Welt spiegelt mit ihren Verhängnissen, offenen Rechnungen und den
Möglichkeiten, diese zu schließen.
Jastrogonac und Daffee erkennen sich allmählich als alte Schulfreunde wieder, doch nach
allem, was in Jugoslawien geschehen ist, begegnen sie sich zunächst feindlich, vereinbaren
aber, ein Gespräch „unter uns“ zu führen, bei dem jeder den anderen aussprechen lassen
muß. Daffee ist als erster an der Reihe und stellt das Leben der Deutschen in Maresi – Weidenheims Dichter-Wort für Pannonien – und die grundstürzenden Veränderungen vor und
nach dem Einmarsch der Roten Armee dar. Ein in Jahrhunderten gewachsener Organismus
kollabiert. Die Deutschen sind lange unschlüssig, ob sie bleiben oder fliehen sollen, die einen
tun es, die anderen nicht, weil sie meinen, durch ihr reines Gewissen geschützt zu sein, was
sich jedoch als verhängnisvoller Fehler erweist. Nach dem Zwischenspiel der Umsturztage
zeigt das neue Partisanen-Regime sein wahres Gesicht. Nachdem die kommunistische Propaganda den Haß gegen die Deutschen des Landes als „Konquistadoren Hitlers“9 aufgeheizt
hat, werden diese kollektiv verantwortlich für die Verbrechen der Faschisten gemacht und
ohne Unterschied verfolgt. Verhaftungen, Plünderungen, Erschießungen sind an der Tagesordnung, Arbeitsfähige werden für Rußland zusammengefangen oder kommen in Arbeitslager, Alte und Kinder werden systematisch in einem über das Land verteilten Netz von Todeslagern durch Hunger und Krankheiten dezimiert. Die Finsternis einer „diluvialen Abrechnung“
ist angebrochen, an den Schwaben nehmen die Partisanen in einem wahren Blutrausch Rache, indem sie sämtliche Arten von Grausamkeit erproben.
8
9
Johannes Weidenheim: Treffpunkt jenseits der Schuld, C. Bertelsmann Verlag, Gütersloh 1956, 464 S.
Ebenda, S. 99
5
„Vielleicht war es ein alter Traum der Serben, einmal ein fremdes Volk zu beherrschen, um an
diesem alle Grausamkeiten auszuprobieren, die sie als Erleidende von den Türken erlernt hatten. Und da kein fremdes Volk ihnen zufiel, machten sie eines aus ihrem eigenen Lande zum
fremden.“10
Daffee selbst als intellektueller Zeitungsschreiber entgeht der Hinrichtung nur durch das Einschreiten eines russischen Offiziers und indem er sich vor seinen Peinigern demütigt und der
Lächerlichkeit preisgibt.
Die Bilder des Elends vor allem im Lager Jarek, das einzige, das Weidenheim stellvertretend
für alle anderen beim Namen nennt, sind erschütternd.
„Wie schwach waren sie doch! Nichts von alledem vermochten sie festzuhalten, was ihren
gesellschaftlichen Rang ausgemacht hatte. Wie Traumgebilde waren ihnen ihre Äcker und
Häuser, ihre Kirchen und Straßen durch die Finger geglitten; selbst die ungeheuerlichste Willensanstrengung hätte das nicht verhindern können. Aber nicht allein das Erbaute, auch das
Anerzogene ließ sie im Stich; sie waren nicht mehr reinlich und gesittet, sie waren nicht mehr
fleißig und redlich. Sie waren nur noch das widerwärtige Werk von Bestien.“11
Der Name Jarek gehört für Weidenheim in jene Reihe, „die mit Lidice, Auschwitz und BergenBelsen nur unvollständig benannt ist – Namen, die als Menetekel nie vergessen werden sollen, die aber auch – weil sie auf beiden Seiten anzutreffen sind – nicht zu Barrieren zwischen
den Völkern werden dürfen.“12
In die ausgeraubten Schwabendörfern ziehen Montenegriner und Mazedonier, denen das
unmenschliche Regime gleichfalls die Heimat geraubt hat und die nun in eine völlig fremde
Welt verpflanzt sind, von der sie nichts verstehen, nichts wissen von der Bedeutung des
Ackers als der eigentlichen Lunge dieses Landes, sie schlagen Löcher in die Decken der Häuser und errichten Feuerstellen darunter, zerstören, was ihnen bald fehlen wird, und sie hassen alle Schwaben, weil man ihnen das eingeimpft hat. So ging das alte Maresi endgültig
zugrunde, resümiert Daffee am Ende seiner Darstellung, erfüllt von der Gewißheit, seinen
Rivalen in der Rolle des Zuhörers peinlich beeindruckt, ihm die Schuld seines Volkes nahegebracht und ihn beschämt zu haben.
Wenngleich sich Jastrogonac durchaus nicht ungerührt zeigt, fällt seine Erwiderung selbstbewußt aus. Zunächst macht er den Schwaben ein Zugeständnis: „Sie waren ein braves, unschuldiges Bauernvolk, und was in den Kanzleien von Wien und Berlin ausgekocht wurde,
davon hatten sie keine Ahnung und darauf besaßen sie keinen Einfluß.“13
Der Serbe Jastrogonac erzählt nun eine Geschichte, die zehn Jahre vor den von seinem deutschen Landsmann geschilderten Ereignissen begann, nämlich im Jahr 1934/35, als der nationalsozialistische Ungeist mit seiner rassischen Überheblichkeit in Pannonien Einzug hielt,
eine zuvor friedliche und harmonische Nachbarschaft aus dem Gleichgewicht brachte und
die Saat zum Untergang legte. Die Schwaben haben Besuch aus dem Reich mit staatlichem
Auftrag. Sie werden getrimmt, auf all die primitiven Balkanesen im Taumel einer angeblich
überlegenen arischen Zivilisation geringschätzig hinabzublicken. Mit den Abgesandten des
Reiches zusammen begehen sie die Ansiedlungsfeier ihres Dorfes Josephshausen (17851935) und schließen ihre alten Nachbarn kaltblütig als artfremd aus.
10
Ebenda, S. 140
Ebenda, S. 162
12
Ebenda, S. 417
13
Ebenda, S. 166
11
6
Der Eindruck, den sie in Deutschland machen, ist ihnen wichtiger geworden als der Eindruck
im eigenen Lande, stellt Jastrogonac bitter fest.
„Ein paar Wochen nach alledem, gleich nach der Weizenernte, fand dann die Ansiedlungsfeier statt – das größte Fest unseres Dorfes seit seinem Bestehen und zugleich die feierliche Ausrufung seines Untergangs. Eine Woche lang strahlten die Gesichter der Schwaben vor Stolz
und biederer Provokation, und ebensolange verdunkelten sich unsere Gesichter vor Bitterkeit
und Zorn. Denn die Schwaben feierten dieses wundervolle, prächtige Fest nicht mit ihren
Nachbarn und Gefährten aus einer langen gemeinsamen Geschichte zusammen; sie feierten
es nicht mit den Serben und Zigeunern, nicht mit den Magyaren und Juden, nicht mit all jenen, die seit jeher die bunte Gemeinschaft des vielsprachigen Dorfes bildeten. Sie setzten sich
vielmehr ganz klar von allen ab, die nicht ihres Blutes waren, und teilten ihren erlauchtesten
Gedenktag nicht mit denen, die schon lange vor ihnen im Lande gewesen waren, die ihnen als
Knechte und Kunden zum Reichtum mitverholfen und sie durch ihr bloßes Da-Sein und Anders-Sein zur höchsten Entfaltung ihrer Kräfte angespornt hatten. Schon dies kränkte uns
natürlich, denn wir bekamen zu fühlen, daß wir ihnen nicht gut genug und daß wir in ihren
Augen am gemeinsamen Werk der Heimat nicht beteiligt waren. Unsere Mitwirkung blieb auf
den amtlichen Teil beschränkt; sie ging nur so weit, wie die Gesetze des Staates er erforderten.“14
Weidenheim erwähnt zwar, daß die Älteren unter den Schwaben sich dem Rausch widersetzten, der die Zerstörung ihrer eigenen gesamten Geschichte zur Folge haben mußte, daß
sie aber den Kampf gegen die Erneuerer verloren und alles laufen ließen, wie es lief.15 Man
könnte behaupten, daß die Darstellung dieses Konfliktes Ende der dreißiger Jahre in Weidenheims Roman zu kurz kommt, daß er die politische Polarisierung der Donauschwaben,
wie Erneuerer und Kulturbündler, Schwarze, Rote und Magyaronen sich gegenseitig beschimpfen und bekämpfen, nicht ausreichend darstellt, doch ist dieser Konflikt stellvertretend in den tragenden Figuren von Jakob und Ludwig Köppel bis hinein in die familiären
Verwerfungen zwischen Vätern und Söhnen ausgemalt.
Auch von deutschen Herren und serbischen Knechten ist die Rede, vom Bodenhunger,
Hochmut und Besitzerstolz der donauschwäbischen Großgrundbesitzer, denen Standesunterschiede wichtig, solche der Nationalität aber eher fremd sind. Die Figur des selbstgerechten, gönnerhaften, ausbeuterischen Bauern Jakob Köppel steht für diese verbreitete Spezies,
die auch aus anderen Quellen, aus Werken der donauschwäbischen Literatur vielfach bezeugt ist. Weidenheim hat mit dem reichen, massigen, herrischen Jakob Köppel einen repräsentativen Typus gezeichnet, auch wenn gerade diese Figur bei donauschwäbischen Lesern
als klischeehaft empfunden und kritisiert wurde.
Köppels noch schulpflichtiger Sohn Ludwig ist mit Duschan, dem Sohn seines Vorknechts
Djoka Schuwakow, eng befreundet, Duschan verkehrt wie selbstverständlich im Hause Köppel, verliebt sich in Köppels Töchterchen Lili, was auf Gegenseitigkeit beruht, und macht sich
Hoffnung, sie zur Frau zu bekommen. Daß diese Hoffnung völlig vergeblich ist, hätte er wissen können, wenn er die vorherrschende donauschwäbische Heiratspolitik gekannt hätte,
bei der ein Geschacher der Eltern des ausersehenen Paars um die standesgemäße Mehrung
von Feld und Besitz keine Rücksicht auf das Glück der oft schon im Kindesalter Verkuppelten
nimmt. In Duschan brennt ein dunkler Schmerz, er fühlt sich fremd geworden im eigenen
Vaterland, erniedrigt und verachtet, seine Enttäuschung und sein Haß entladen sich in zer14
15
Ebenda, S. 307
Ebenda, S. 306
7
störerischer Wut auf Köppels Feldern, die schuld seien an aller Blindheit und Hartherzigkeit
der Schwaben, die Grundlage ihres verbissenen Wohlstandes, denn ihr wachsender Reichtum zwingt die anderen, ständig im Rückzug und in der Beschämung vor ihnen zu leben.
Schließlich läuft Duschan zu den Partisanen über, zu den Freischärlern gegen das Unrecht,
und kehrt erst nach neun Jahren als Rächer wieder. „Man darf uns besiegen, aber nicht erniedrigen“16, in diesem Satz kristallisiert sich die Demarkationslinie des Hasses. Der allwissende Autor erzählt mit viel Einfühlungsvermögen aus Duschans Perspektive und „zeigt
exakt den pathologischen Keim, der soviel Unheil angerichtet hat …“17
Der technologisch-zivilisatorische Vorsprung der deutschen Kolonisten gepaart mit ihrem
organisierten Fleiß und ihrem Ordnungsdrang war in Weidenheims Sicht zwar ein staatlich
gesteuerter Innovationsschub für ihre neue Umgebung, auch steigerte er den Wohlstand des
Gemeinwesens in nie zuvor gekannte Dimensionen, allerdings war der Preis dafür nicht nur
die tiefgreifende Veränderung, ja das weitgehende Verschwinden der natürlichen Landschaften mit dem Zauber ihrer Flora und Fauna, sondern auch die Zerstörung der Lebenswelt aller
dort seit langer Zeit siedelnden Völker, die ehrfürchtig mit ihrem Lebensrhythmus, ihren Sitten und Bräuchen auf ihre Umgebung eingestimmt waren. Weidenheim blickt – damals ein
Avantgardist – zivilisationskritisch hinter die Fassade eines skrupellosen Fortschrittsglaubens
und macht die Verlustrechnung auf. Die deutsche Besiedlung erscheint so nicht nur im Glanz
der Modernisierung, sondern auch mit ihrer kaum beleuchteten Kehrseite, die ebenfalls ursächlich ist für nationale Demütigung und Enteignung. Aus dieser Perspektive ergibt sich
auch die Möglichkeit, die oftmals arrogant belächelte balkanische Trägheit bzw. Arbeitsscheu unvoreingenommen zu betrachten.
„Nein, unsere Schwaben hatten nicht nur aus einer Wildnis ein blühendes, fruchtbares Land
gemacht, sondern sie hatten auch dieses riesige Dorf von fünf Kilometer Länge aufgebaut an
einer Stelle, wo damals lediglich ein paar ziemlich verwilderte Serben am Rande eines Weidengehölzes siedelten; sie hatten das Weidengehölz kraft ihrer Abneigung gegen alles Unangetastete spurlos weggeräumt und an seiner Stelle ein bewunderungswürdiges Netzwerk von
vier Längs- und neun Querstraßen gezogen – jede Straße lotrecht zur anderen verlaufend und
einen Steinwurf breit; sie hatten mit allem, was sie taten, ein breites Tor aufgestoßen für die
Geister eines friedfertigen Furor teutonicus, und seit sie hier waren, hallte es im Land nicht
mehr von Kartaunen wider, sondern nur noch vom Stampfen der Dreschmaschinen; sie hatten das Äußerste an geschlossener Siedlung geschaffen – von oben betrachtet, sah das Dorf
wie ein riesiges Schachbrett aus oder wie eine gewissenhafte Anordnung von akkurat angelegten Parzellen, von denen jede um das aus Gärten und Höfen bestehende Innere einen lückenlosen Gürtel von Häusern, Mauern und Zäunen gelegt bekam; sie hatten als erste in diesem Lande das Gebot von mein und dein praktiziert und das gegenseitige Überrunden durch
die höhere Leistung eingeführt.
Sie waren von jenem unglücklichen Wiener Kaiser aus der geschichtlichen Taufe gehoben
worden, der es für unbedingt notwendig gehalten hatte, den schon vor ihnen hier heimischen
Völkern den größten Teil ihrer hergebrachten Feiertage zu verbieten und sie zum Rackern und
Unzufriedensein zu zwingen.
Sie waren mit den besten Absichten in ein Land gekommen, das einst der Fee Delibab gehört
hatte, die es mit der Kulisse ihrer Luftspiegelungen in wechselnde Bühnenbilder von zauber16
Ebenda, S. 101
Ivan Poljaković: Schatten der Vergangenheit. Flucht und Vertreibung in der donauschwäbischen Literatur der
Nachkriegszeit, Novum, Zagreb 2009, S. 225
17
8
hafter Glasigkeit zu verwandeln verstand. Aber auch die Delibab hatte vor dem Aufräumungsdrang der Schwaben zurückweichen müssen; bis in die innersten Bezirke der
Hortobagy war sie mit der Zeit geflohen und hatte mit sich genommen all ihr Geschmeide
und ihren gekränkten Stolz.
Nein, sie hatten aber nicht nur jede Faszination verdrängt und nicht nur den Schlummer der
genügsamen Armut abgelöst durch die eifersüchtige Reizbarkeit des ehrgeizigen Neulings,
sondern sie hatten auch vor lauter friedlicher Arbeit die politische Leidenschaft nicht kennengelernt – bis jetzt -, und sie hatten dadurch inmitten älterer, leicht erhitzbarer und nationalbewußter Völker ausgleichend gewirkt – bis jetzt.“18
Unwissenheit, Vorurteile und Ignoranz gegenüber den Serben sind bei den Deutschen beschämend normal, ebenso wie die Ungarn werden sie kurzerhand als zurückgeblieben und
primitiv, matt und faul abqualifiziert. Doch Jastrogonac macht klar, daß zwischen Deutschen
und Serben durchaus auch alte und auf gegenseitigem Respekt beruhende Kulturbeziehungen bestehen, beginnend mit der Begegnung zwischen dem mittelalterlichen König Friedrich
Barbarossa mit Großgespan Stephan Nemanja bis hin zu derjenigen zwischen Goethe und
dem Reformator der serbischen Sprache und Volksliedsammler Vuk Stefanović Karadžić. Den
deutschen Dichterfürsten begeisterten die serbischen Heldenepen so, daß er einige von ihnen ins Deutsche übertrug. Herder, Humboldt, Jakob Grimm und Ranke lernten das serbische Volk kennen und verbreiteten die Kunde von ihm in der westlichen Welt.
Die Protagonisten Daffee und Jastrogonac legen aus eigener Betroffenheit ihre Teilwahrheiten und Standpunkte der Beschuldigung ausführlich und aus persönlicher Sicht dar, vielmehr
sie erzählen romanhafte Geschichten, durch die nicht nur das historisch Geschehene transparent wird, sondern auch die Lebenswelten, Sitten und Gebräuche, die Mentalitäten, die
Stärken und Schwächen der beteiligten Völker, nämlich vor allem die der Donauschwaben
und Serben, daneben aber auch die der Juden, der Ungarn, der Zigeuner (heute würde man
politisch korrekt Sinti und Roma sagen) sowie der Ruthenen. Die beiden dargelegten Betrachtungsweisen stehen dann zunächst wie erratische Blöcke nebeneinander, zwar nicht
mehr so feindlich wie zuvor, denn allein das offene Wort hat Bestürzung und Scham auf beiden Seiten ausgelöst, aber noch ohne die Möglichkeit echter Begegnung. Beide Kontrahenten haben sich gegenseitig den Spiegel vorgehalten und sich darin erkannt. Nicht ohne Staunen muß der Serbe dem Volksdeutschen und dieser dem Serben zugestehen, gründliche
Kenntnisse des jeweils fremden Volkes zu besitzen.
Aber erst eine dritte Ebene der Betrachtung macht zu gegenseitiger Annäherung und Versöhnung bereit, nämlich die Erzählung des alten Juden Horowitz, der sich den Kontrahenten
im zweiten Teil ihres Gesprächs zugesellt, aber rechtzeitig genug, um den Kern der Auseinandersetzung zu verstehen, die Tragweite der Anschuldigungen kennt er ohnehin. Auch er
ist ein serbischsprachiger Pannonier, der die dort lebenden Völker bestens kennt, die Leiden
seines Volkes müssen hinter denen der anderen nicht zurückstehen. Sein Lebensalter wie
auch seine ethnische Zugehörigkeit stehen zugleich für abgeklärte Weisheit, er stellt sich
daher auf eine neutrale, vermittelnde, dialektisch höhere Stufe, die in seiner Erzählung von
Liebe getragen ist, symbolisch verdichtet in der beinahe unmöglichen, am Ende aber doch
glückenden Liebe zwischen einem serbischen Lageraufseher, der die schlimmsten Ausschreitungen heimlich zu verhindern sucht, und einer donauschwäbischen Internierten, die durch
seine Interventionen überlebt. Erst der dritte Gesprächsteilnehmer Horowitz ist es also, der
die ganze Völker vereinnahmenden Pauschalurteile ergänzt um die Dimension des Individu18
Ebenda, S. 282 f.
9
ellen, in der allein Verdienst und Schuld zu suchen sind. Er als Jude hatte weder von den
Deutschen noch von den Slawen viel Gutes erfahren, weiß aber dennoch, daß es neben dem
propagierten und organisierten Bösen auch Mitleid und Bereitschaft zum Helfen seitens einzelner Menschen aus beiden Lagern gab, gerade auch in bedrohlicher Lage. Es sei „fast lächerlich, es zu sagen“, resümiert er, „doch muß man nicht daran erinnern in dieser Zeit? –:
jedes Volk besteht aus einzelnen Menschen …“19 Damit hat – noch in großer Nähe zur Katastrophe – Horowitz/Weidenheim auch den Vorwurf der Kollektivschuld ad absurdum geführt, der speziell in Jugoslawien zur Auslöschung der ganzen deutschen Volksgruppe geführt
hatte. Die Beispiele Rumäniens und Ungarns, deren deutsche Bevölkerungen nicht dasselbe
Schicksal wie in Jugoslawien erleiden mußten, beweist, daß die Doktrin von der Kollektivschuld keineswegs zu einem universalen Denken jener Zeit gehörte, wenn es auch noch Jahrzehnte nach dem Krieg auf das deutsche Volk Anwendung fand. Horowitz weiß, daß man auf
einen Standort jenseits der Schuld erst gelangt, wenn man zwei Wahrheiten kennt, wenn
man nicht nur die Beschränkung und Blindheit jeder Seite betont, sondern auch die Quellen
ihrer Potentiale, ihre je eigene Art von Genialität. Die zuvor noch haßerfüllten, unversöhnlich
scheinenden Gegner haben am Ende verstanden, „daß unsere Aussöhnung keine Idylle ist,
sondern ein hartes Stück ehrlicher Arbeit unserer Vernunft und unserer Herzen“20.
Diese Quintessenz des Romans ist nicht als schon erbrachte Leistung zu verstehen, sondern
als bevorstehende Aufgabe, eine Aufgabe, die bis heute fortbesteht, sowohl auf persönlicher
wie auf staatlicher Ebene. Weidenheim traut der Literatur, darin Bertolt Brecht und Walter
Benjamin verwandt, eine die Gesellschaft verändernde Kraft zu.
1.4 Rezeptionsgeschichte
„Treffpunkt jenseits der Schuld“ ist 1956 mit 3.000 Exemplaren im renommierten Gütersloher Bertelsmann-Verlag erschienen. Ein Jahr später mußten weitere 4.000 Exemplare aufgelegt werden. Dieser Roman hat also ein relativ großes Interesse hervorgerufen, er wurde
aber auch bald nach seinem Erscheinen hart kritisiert, er ist zweifellos das umstrittenste
Werk Weidenheims. In der donauschwäbischen Presse entbrannte eine erbitterte Kontroverse mit dem Tenor, daß Weidenheim die Slawen zu positiv gezeichnet habe, den Donauschwaben aber nicht gerecht geworden sei. Weidenheim wurde mit diesem Werk endgültig
zum Enfant terrible seiner Landsleute, während Außenstehende sich anerkennend und lobend äußerten. Die Vorwürfe konzentrieren sich auf die Behandlung der Schuldfrage. Weidenheim sei „politisch extravagant“, fälle „ungerechte Fehlurteile“, sei „kaltherzig-böse“ gegenüber dem Schicksal seiner Landsleute. Es wird gar die peinliche Frage gestellt: „Warum
dies Abgleiten nach links? Will der Weidenheim von heute den NS-Propagandisten Johannes
Schmidt der Vergangenheit radikal vergessen machen? Flüchtet er sich aus einem ideologischen Extrem ins andere? (...) Ohne Liebe hat Weidenheim seine Landsleute im Unglück beschrieben und ohne Gerechtigkeit. Dafür bemüht er sich, dem Kommunismus Gerechtigkeit
zuteil werden zu lassen und dessen Schuld an der Hinschlachtung der Jugoslawiendeutschen
mit einer Handbewegung auszulöschen. (...) Hochmut, Selbstsucht, Materialismus, selbstgefällige Sattheit, Abstand von den anderen Nationalitäten – aus diesen angeblich begangenen
Sünden wird der Hanfstrick der schwäbischen Schuld gewirkt. (...) Fürwahr – hier wird beim
Abwiegen der Völkerschuld die Waagschale der armen Schwaben heimlich mit dem Daumen
hinuntergedrückt. Nicht der Mörder, der Ermordete trägt die Hauptschuld. Die Schuld des
19
20
Ebenda, S. 316
Ebenda, S. 463
10
großbäuerlichen, kapitalistischen Besitzenden – des Kulaken mit einem Wort!“ Der mit H. H.
unterzeichnende Verfasser des Artikels in der Wochenzeitung „Der Donauschwabe“21 hält
Weidenheim seine Wandlung vom „Alles-für-den-Endsieg-“ und „Blut-und-Boden-Aktivisten“
zum „linkslerischen Intellekturellen“ vor und führt folgende Zitate von Weidenheim an, die
dieser als Journalist bei der „Volksdeutschen Stunde“ am Soldatensender Belgrad zu verantworten habe: „Du sollst wissen, daß deine Rasse die germanische ist, die vom ewigen Verwalter und Verteiler des Lebens zu Großem ausersehen wurde …“ und „du sollst alles lieben, was
deinem Volk nützt, und alles hassen, was ihm schadet …“ und „Aber wir glauben an die Teilung der Menschheit nach Rassen und an den Sieg unseres Blutes …“ und „Du deutscher
Landsmann in diesem Land, wer vermag auf der ganzen Welt vor dich zu treten und zu sagen,
er sei besser als du? Wo steht die Saat reifer als bei dir, wo ist die Häuslichkeit so unberührt
wie bei dir, wo sind die Frauen so rein wie bei dir und wo wird mehr gearbeitet als bei dir?“
„Hochmut, Selbstsucht, Materialismus, selbstgefällige Sattheit, Abstand von den anderen
Nationalitäten – aus diesen angeblich begangenen Sünden wird der Hanfstrick der schwäbischen Schuld gewirkt“, so kritisiert der anonyme Verfasser weiter. Es sei nicht das deutschslawische Konfliktmotiv gewesen, das zur Vernichtung und Vertreibung des Deutschtums
zwischen Ostsee und Adria führte, behauptet er, dies sei nur die emotionale Oberfläche gewesen. „Im Kern handelt es sich um einen revolutionsstrategischen Vorstoß des Kommunismus, der – und das kommt ja gerade bei Weidenheim ungewollt so deutlich zum Ausdruck –
örtlich den Charakter eines gesellschaftlichen Racheaktes (und weniger den eines nationalistischen) annahm.“
Aus Leserbriefen im Erscheinungsjahr geht hervor, daß dieses Buch für einen betroffenen
Donauschwaben eine „unerträgliche Lektüre“ sei, ein anderer Leser schreibt, das habe nichts
mit der Wahrheit zu tun, sondern sei „ressentimentgeladene Dichtung“, ein dritter urteilt,
ohne das Buch gelesen zu haben, daß der Autor lieblos und ohne Ehrfurcht sei, ein vierter
hält es in seiner technischen Gestaltung für glänzend gelungen, aber doch bedenklich, ein
fünfter wirft Weidenheim seinen Extremismus vor und bezeichnet ihn im Sinne von Nietzsches Zarathustra als einen „Frechen, Höhnenden und Vernichter“.22
Etwas nachdenklicher verfährt ein ohne Namensnennung auskommender Artikel unter der
Überschrift „Durchsichtige Fragen nach der Schuld“. Der Verfasser bezichtigt Weidenheim
der Sensationslüsternheit. Er habe die Frage nach der Schuld aufgeworfen, um eines Honorars aus der Sowjetzone und des intellektualistischen Nervenkitzels willen.23
Peter Binder aus Batsch-Palanka, damals Leiter der Heimatbücherei der Donauschwaben in
Freilassing, schreibt anerkennend: „Ganz gleich, ob wir einst in die Heimat zurückkehren oder
nicht, aus den Versäumnissen der Vergangenheit müssen wir lernen. Unser Kontinent ist für
Nationalstaaten zu klein geworden, wir alle müssen uns ‚jenseits der Schuld’ treffen, um ein
besseres Europa aufzubauen. Aber wir müssen fair, objektiv, gerecht und aufrichtig bleiben –
wir und die anderen! Keinesfalls kann es heute darum gehen, das genaue Schuldverhältnis zu
errechnen: hier 49, dort 51 Prozent …“24
Die Kritik „richtete sich nicht gegen die völkerversöhnende Tendenz des Buches, aber sehr
wohl gegen das Bemühen des Verfassers, am Beispiel eines raffgierigen, hartherzigen, prunk21
H. H.: Schuld mit falschem Maß gewogen. Kritische Betrachtungen zu J. Weidenheims Batschka-Roman, in:
Der Donauschwabe v. 23.8.1959, S. 4
22
Neuland Folge 1 v. Juni 1956, S. 4
23
ng: Durchsichtige Fragen nach der Schuld, in: Neuland, Folge 2, Juni 1956, S. 3
24
Offener Sprechsaal, in: Neuland v. 10.3.1956, S. 6
11
süchtigen deutschen Großgrundbesitzers die geschichtliche Schuld der Deutschen aufzuweisen. Demgegenüber wurde zurecht festgestellt, daß ländliche Ausbeutertypen, ‚Kulaken’, im
Südosten als soziales, nicht aber als nationales Problem zu betrachten waren.“25
Kaum bestreitbar und unbestritten ist jedoch Weidenheims eigene Behauptung, „daß in diesem Buche die Blutschuld der chauvinistischen Slawen auf eine bisher kaum offenere Weise
an den Pranger gestellt worden ist“26.
Vor allem bezogen auf seinen Roman „Treffpunkt jenseits der Schuld“ wird Weidenheim
vorgeworfen, ein Kommunist zu sein. Auch seine „Vorliebe für randseitige Gestalten“ gehört
in diesen Zusammenhang. Weidenheim nimmt dazu folgendermaßen Stellung: „... Daß ich
ein Kommunist sein soll, ist ein bösartiger Blödsinn. Jeder Kommunist, dem man mich als seinesgleichen vorstellen wollte, würde wahrscheinlich nur lachen.“
Weidenheim zeigt die sozialen Zusammenhänge des Lebens in der Heimat und damit zusammenhängend die Versäumnisse. Er bezeichnet sich nicht als Kommunist, sondern als Sozialist oder Sozialkritiker, der für die Sozialisierung der meisten Produktionsmittel und ein
egalitäres staatliches Gesundheitswesen ebenso eintritt wie für die Aufhebung aller Bildungsprivilegien und die Emanzipation der Frau.
„Mein persönlicher Wachstumsprozeß hat mich als reifen Mann dahin gebracht, daß ich den
Sozialismus im Vergleich zum Kapitalismus als die höhere Gesellschaftsform erkannt habe –
und dieser Grundzug ist in allem, was ich schreibe, nachweisbar, auch wenn es nicht verbal so
dasteht.“
Insbesondere für die Landsmannschaft der Donauschwaben ist Weidenheim die längste Zeit
ein rotes Tuch. Diese Front beginnt erst Mitte der 1990er Jahre zu bröckeln, als der Schriftsteller von der unbefangenen Bekenntnisgeneration wiederholt zu Lesungen nach Sindelfingen eingeladen wird, allerdings nur Proben aus seinem milden Alterswerk zum Besten gibt.
Adalbert Karl Gauß hat in den Jahren 1961, 1963, 1972 und 1974 als Chefredakteur der in
Salzburg beheimateten Vertriebenenzeitung „Neuland“ vier große Interviews mit Johannes
Weidenheim geführt, die dem angefeindeten Erzähler wohlwollend die Möglichkeit gaben,
explizit und relativ ausführlich insbesondere zu politischen, historischen und poetologischen
Fragen Stellung zu nehmen oder seine im literarischen Kontext zuweilen mißverstandenen
Positionen zu erläutern. Den Roman „Treffpunkt jenseits der Schuld“ hielt Gauß für das Werk
einer „eigenwilligen schöpferischen Persönlichkeit“, es sei „das geistige Ereignis eines Jahrzehnts donauschwäbischen Vertriebenendaseins“, mit dem man sich auseinandersetzen
müsse.27
Außer einer Vielzahl von meist kurzen und nicht sehr tiefschürfenden Buchbesprechungen
Weidenheimscher Werke in der bundesdeutschen und österreichischen Presse haben das
größere Verständnis und das anhaltendere Interesse einige der eigenen, aus Pannonien
stammenden Landsleute aufgebracht.
25
Südostdeutsche Vierteljahresblätter 1969/2, S. 113
Offener Sprechsaal, in: Neuland v. 24.3.1956, S. 6
27
Neuland v. 11.2.1956, S. 3. Vier Interviews von Adalbert Karl Gauß mit Johannes Weidenheim in der Salzburger Wochenzeitung „Neuland“: 1) Das unausgeglichene Konto. „Neuland“-Interview mit Johannes Weidenheim,
25.2.1961, S. 3; 2) Tragische Entfremdung. J. Weidenheim: Für mich ist meine Heimat Jugoslawien noch nicht
untergegangen, 26.10.1963, S. 3; 3) Ein Gespräch mit Weidenheim – dem konstruktiven Unruhestifter,
5.8.1972, S. 3 u. 5; 4) Johannes Weidenheim: Ich will nicht rehabilitiert werden!, 16.11.1974, S. 3
26
12
Anton Scherer hat in seiner 1959 erschienenen Anthologie „Die nicht sterben wollten“ ein
Gedicht und eine Erzählung von Johannes Weidenheim aufgenommen und ihm in der am
Ende des Bands stehenden „Einführung in die donauschwäbische Literatur“ drei Seiten (von
23) gewidmet, selbst mehr als dem Erzschwaben Adam Müller-Guttenbrunn. Zweifelsohne
sei dieser stark intellektualisierte, aber auch mit den untersten sozialen Schichten denkende
und fühlende Erzähler das größte Talent der jüngeren Generation, das die Freiheit des Geistes und der Völkerversöhnung über die Kräfte des Volkstums stellt. Auch in seiner 19 Seiten
umfassenden Schrift „Die Literatur der Donauschwaben als Mittlerin zwischen Völkern und
Kulturen“ (1972) räumt Scherer die letzte Seite dem Werk von Weidenheim ein und erwähnt
die Erzählungen „Das späte Lied“ und „Der verlorene Vater“ sowie die Romane „KaleMegdan“, „Das türkische Vaterunser“, „Mensch, was für eine Zeit“ und schließlich, trotz Bedenken und Einwänden, die er schon in seiner „Einführung“ erhoben hatte, „Treffpunkt jenseits der Schuld“, das harte Stück Arbeit der Aussöhnung zwischen Donauschwaben und Serben vor Augen. Weidenheim sei, meint Scherer resümierend, „ein starkes Glied in der stattlichen Kette der Donauschwaben, die seit zwei Jahrhunderten bewußt oder unbewußt als Mittler zwischen der deutschen und den südosteuropäischen Literaturen und Kulturen im Dienst
der Verständigung der Völker wirken“28.
Karl-Markus Gauß, der Sohn von Adalbert Karl Gauß, hat die Erzählung „Der süße Kuchen
des heiligen Sava“ in seine Prosaanthologie „Das Buch der Ränder“ (1992) aufgenommen
und in seinem Buch „Die Vernichtung Mitteleuropas“ (1991) Johannes Weidenheim unter
der Überschrift „Maresi als Zentrum der Welt“ ein eigenes Kapitel eingeräumt. Darin und in
einigen Presseartikeln liefert er treffende Charakterisierungen und insgesamt die wohl hellsichtigste Einschätzung seiner Werke. Gauß bezeichnet Weidenheim als einen „getreuen
Chronisten des pannonischen Alltags“, der eine „konzentrierte und poetische Fassung der
donauschwäbischen Geschichte“ geliefert habe. „Seine Entdeckung steht noch immer aus“,
und „der so schmählich unbekannte Johannes Weidenheim“ könnte kundig die Besichtigung
eines zerstörten Kontinents begleiten. Wie kaum ein anderer schätzt Gauß die literarische
Bedeutung Weidenheims und sein Potential für die Völkerverständigung in Mitteleuropa
überaus hoch ein.29
Reinhold Grimm hat zur Definition der politischen Novelle vier exemplarische, überaus lehrreiche Beispiele herangezogen, neben Werken von Bruno und Leonhard Frank, Thomas
Mann und Gottfried Benn auch die „Pannonische Novelle“ von Johannes Weidenheim, die
wegen einer ans Romanhafte streifenden lebenszeitlichen Erstreckung und Auffächerung der
28
Anton Scherer: Einführung in die Geschichte der donauschwäbischen Literatur, 1960, S. 25-27; Ders.: Die
Literatur der Donauschwaben als Mittlerin zwischen den Kulturen, Selbstverlag, Graz 1972, S. 18 f.; Ders.: Große Verdienste. Tomislav Bekić übersetzte Jochanes Wajdenchajm, in: Der Donauschwabe v. 13.2.2000, S. 5
29
Karl-Markus Gauß: Das Buch der Ränder. Prosa, hrsg. v. Karl-Markus Gauß, Wieser Verlag, Klagenfurt/Salzburg 1992, S. 251-257; Ders.: Maresi als Zentrum der Welt – Johannes Weidenheim, in: Die Vernichtung Mitteleuropas. Essays, Wieser Verlag, Klagenfurt/Salzburg 1991, S. 185-198; Vgl. auch Ders.: Johannes
Weidenheim: Ein pannonischer Schriftsteller, in Wiener Tagebuch 1984, H. 7/8, S. 30-32; Ders.: Ineinander der
Literatur. Dichterische Entdeckungen, in: Zeitschrift für Kultur und Politik, Graz 1985, Nr. 48; Ders.: Das Experiment Maresi. Johannes Weidenheim: ein pannonischer Schriftsteller, in: Wiener Zeitung v. 18.7.1986; Ders.:
Geistige Zeugen Mitteleuropas, in: Parnaß, Linz 1991, H. 4, S. 82 f.; Ders.: Eines Morgens war er blind, in: Die
Presse, Wien v. 21.3.1999
13
Handlung keine makellose Novellenform besitze, aber dank der übrigen Merkmale der Gattung durchaus als Muster zugerechnet werden müsse.30
Stefan Sienerth interviewte Johannes Weidenheim für die Südostdeutschen Vierteljahresblätter 1992. Im Vorspann findet sich folgende Charakterisierung Weidenheims: „Der fabulierfreudige, auf minutiöse und atmosphärische Wiedergabe des Erlebten und Erfahrenen
bedachte Autor, dem ein Hang sowohl zu ironisch-kritischer Haltung als auch zu Schwermut
und Resignation eigen ist, siedelt – von den wenigen Ausnahmen abgesehen – die Handlung
seiner Romane und Erzählungen in der multinationalen Welt seiner Herkunft an.“31
In diesem Interview erklärt Weidenheim, von der deutschen Kritik für seine Werke recht viel
Lob geerntet zu haben, paradoxerweise sei aber aus den Kreisen seiner Landsleute ein positives Echo ausgeblieben, stattdessen habe er von dieser Seite nur Schläge einstecken müssen. „Der Sturm, der damals … durch den einschlägigen Blätterwald ging, bewies mir nur,
daß mir meine Absicht, den Finger in eine echte Wunde zu legen, gelungen war. Die Wunde
hieß … die Mitschuld, ja gewissermaßen die Vorausschuld der Donauschwaben an ihrer Vernichtung …“32
In intellektuellen serbischen Kreisen schätzte man Weidenheims Werk als überaus konstruktiv ein, das gilt insbesondere für seinen Roman „Treffpunkt jenseits der Schuld“. Weidenheim war verschiedentlich zu Lesungen in Jugoslawien eingeladen. Daß die „Pannonische
Novelle“ und „Heimkehr nach Maresi“ ins Serbische übersetzt wurden33, ist ein deutliches
Zeichen der Anerkennung.
Wieviel man gemeinhin in Deutschland von Johannes Weidenheim und seinem Werk zu wissen pflegt, dafür gab das Hamburger Wochenmagazin „Der Spiegel“ ein erhellendes Beispiel,
als dort in der Rubrik „Register“ anläßlich von Weidenheims Tod im Jahr 2002 in wenigen
Zeilen dessen Leben und Wirken gewürdigt wurden.34 Der Autor des wenige Zeilen umfassenden Nachrufs brachte es fertig, mehrere sachliche Fehler bzw. Ungenauigkeiten unterzubringen und sie mit dem ungläubigen Staunen zu verbinden, wie man ausgerechnet im krisengeschüttelten Jugoslawien seinen Traum vom friedlichen Miteinander der Völker ansiedeln könne. In den Büchern Weidenheims kann man auf Schritt und Tritt erfahren, daß ein
friedliches multiethnisches Zusammenleben in Jugoslawien durchaus einmal möglich war.
Einem Journalisten, der gewissenhaft recherchiert und mit dem Werk dieses Autors durch
Lektüre auch nur ansatzweise vertraut ist, hätten auch folgende Fehleinschätzungen nicht
unterlaufen dürfen: die Anzahl der Romane von tatsächlich acht auf dreißig zu steigern; den
Autor als Verfasser von Theaterstücken zu bezeichnen, obwohl er lebenslänglich nur zwei
kleine Einakter geschrieben hat; irrtümlich zu behaupten, daß es um Weidenheim still geworden sei, dies aber seiner Produktivität keinen Abbruch getan habe. Obwohl also das Epitaph des „Spiegel“ an sich verdienstvoll ist, zeigt er zugleich schlaglichtartig, wie sehr Wei30
Reinhold Grimm: Drei bis vier politische Novellen: Notizen zu Bruno und Leonhard Frank, Johannes Weidenheim, Thomas Mann und Gottfried Benn, in: Versuche zur europäischen Literatur, Europäischer Verlag der
Wissenschaften, Bern 1994, S. 93-134
31
Meine Betroffenheit ist kaum zu beschreiben ... Ein Gespräch mit Johannes Weidenheim (Die Fragen stellte
Stefan Sienerth.), in: Südostdeutsch Vierteljahresblätter 1992/4, S. 287-97; auch in: Stefan Sienerth: „Daß ich in
diesen Raum hineingeboren bin“. Gespräche mit deutschen Schriftstellern aus Südosteuropa, Verlag Südostdeutsches Kulturwerk, München 1997, S. 21-36
32
Ebenda
33
Von Tomislav Bekić ins Serbische übersetzte Werke Johannes Weidenheims: „Pannonische Novelle“
(Panonska novela. Životna povesc Katarine D., Krovovi, Sremski Karlovci 1998, 105 S.); „Heimkehr nach Maresi“
(Povratak u Marezi, Krovovi, Sremski Karlovci 1999, 328 S.)
34
Johannes Weidenheim, in: Der Spiegel, Hamburg, Ausgabe vom 25/17. 6.2002, S. 206 (Register)
14
denheim in Vergessenheit geraten oder besser, wie bedauerlich unbekannt er geblieben ist.
Selbst Kürschners Deutscher Literatur-Kalender verzeichnet lediglich fünf von acht Romanen.
Erfreulicherweise ist in der akademischen Welt dem Werk Weidenheims neuerdings große
Beachtung erwiesen worden. Der 1956 in Maria-Theresiopel (Subotica) in der Batschka geborene Germanist Ivan Poljaković promovierte im Jahr 2004 an der University of Auckland in
Neuseeland mit der Dissertation „Flucht und Vertreibung in der donauschwäbischen Literatur der Nachkriegszeit unter besonderer Berücksichtigung des Werks von Johannes Weidenheim“. Im September 2009 erschien diese Doktorarbeit in kroatischer und deutscher Sprache
in Zagreb.35 In diesem ersten Versuch, die donauschwäbische Vertreibungsliteratur als ein
einheitliches Thema zu erforschen und systematisch darzustellen, widmet sich der Doktorand in einem eigenen Kapitel auch Weidenheims Werk „Treffpunkt jenseits der Schuld“, zu
dem er folgendes Resümee zieht: „Das Grundanliegen des Romans bleibt das Streben danach, jenes Wirrwarr von Schuld und Not, von Leid und Verbrechen, das auf der Kriegsgeneration so lange nach der Verwüstung lastete, mit dem Blick auf die Zukunft zu überwinden. Er
bietet Möglichkeiten einer Lösung, eines ‚Treffpunkts jenseits der Schuld’, freilich lediglich
eine individuelle, menschliche Lösung …“36
1.5 Forschungslage
Wenn man will, kann man in der Existenz der „Serbisch-deutschen Gesellschaft“ und des
„Donauschwäbisch-serbisches Dialog-Symposions“ (ARDI) 1999 in Wien so etwas wie die
Realisierung der Weidenheim’schen Romanvorlage erkennen. In beiden Vereinigungen ist
viel Aufklärungsarbeit geleistet worden, man hat sich mittlerweile gegenseitig seine Standpunkte erschöpfend dargelegt, Interesse und Verständnis für den jeweils anderen aufgebracht, sich durchaus angenähert, damit ist jedoch der Prozeß zu einem gewissen Stillstand
gekommen, allem Anschein nach fehlt noch der alte Horowitz, d. h. die höhere, versöhnende
Stufe, die sich dann auch auf Regierungsebene spiegeln müßte.
Nach meinem Informationsstand ist bisher kein Versuch unternommen worden, das Werk
von Johannes Weidenheim systematisch auf seine völkerkundliche Ergiebigkeit zu untersuchen, auf sein feines Sensorium für die historisch gewachsenen Charaktereigenschaften der
Völker im pannonischen Raum und die sich daraus ergebenden interethnischen Relationen
und Beziehungen, schließlich auf seinen vorausweisenden Gehalt für eine Versöhnung der
Völker nach den Verheerungen von Nationalsozialismus und Kommunismus. Lange bevor die
Komparatistische Imagologie sich in der Literaturwissenschaft etablieren konnte, hat Weidenheim in seinen Romanen und Erzählungen diese Methodik des Vergleichens und
Gegenüberstellens von kulturell und geschichtlich entstandenen Welt- und Menschenbildern, die sich die Völker voneinander machen, auf dichterische Weise angewandt und sie
geradezu prototypisch mit der Kennerschaft des multikulturell und mehrsprachig Aufgewachsenen zu bewundernswerter Plastizität und Leuchtkraft getrieben. Sein oberstes Ziel
war dabei, kollektive Selbst- und Fremdbilder, stereotype Wahrnehmungsweisen der eigenen und anderer Kulturen bewußt zu machen, Interesse und Befähigung für die interkulturelle Kommunikation und Verständigung zu entwickeln, die aber nur dann stattfinden kann,
wenn die Gesprächsteilnehmer in der Lage sind, die Welt auch mit den Augen der anderen
35
Ivan Poljaković: Schatten der Vergangenheit. Flucht und Vertreibung in der donauschwäbischen Literatur der
Nachkriegszeit, Novum, Zagreb 2009, 295 S. (deutscher Teil) + Bildanhang / Sjene prošlosti. Bijeg i progon u
poratnoj književnosti podunavskih Švaba, Novum, Zagreb listopad 2009, 227 S.
36
Ebenda, S. 226
15
zu sehen und ihre Perspektiven in das eigene Denken einzubeziehen. Genau diesen Anspruch
hat Weidenheim in seinem „Treffpunkt“ einzulösen versucht. Aber auch seine übrigen Werke sind mehr oder minder immer zugleich Studien von Mentalitäten und Milieus, Temperamenten und Begabungsprofilen, ihres Interagierens, ihrer Konfliktherde und tragischen Zuspitzungen, aber auch ihrer friedlichen, sich gegenseitig befruchtenden Koexistenz, wie sie
vor dem Kriege – Europa zum Exempel! – tatsächlich praktiziert wurde. Mit einem Wort:
Weidenheims Werk ist eine Idealvorlage zur Fortentwicklung einer interkulturellen Germanistik, die es bisher nur in Ansätzen gibt.37
Wir müssen Titel und Motto des hier in Rede stehenden Romans zu seiner Deutung genauer
bedenken. Es geht um einen Treffpunkt jenseits der Schuld. Der kann nur hinter den perspektivischen Teilwahrheiten der betroffenen, schuldig gewordenen Völker und jenseits ihrer Religionen und Weltanschauungen liegen, ganz gleich, ob sie Christen, Muslime oder
Juden, Agnostiker oder Atheisten sind, was ihnen im übrigen unbenommen bleibt. Der Treffpunkt kann demzufolge nur auf einer Ebene des ideologiefreien Humanismus liegen oder
anders gesagt: der reinen Menschlichkeit. So verstanden wird das Motto aus dem Munde
des alten Juden Horowitz „Man muß ein Mensch sein, das ist alles“38 als Schlüssel für diesen
Roman und darüber hinaus für das gesamte Schaffen Weidenheims erkennbar. Von diesem
Standpunkt aus wird es auch verständlich, daß Weidenheim weder den Serben noch den
Schwaben vollständige Gerechtigkeit angedeihen lassen konnte, obwohl er sich darum redlich bemüht hat, auch die guten Seiten beider Völker zu würdigen. Allen Seiten uneingeschränkte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist wohl auch eine übermenschliche Anforderung. Es ging dem Verfasser dieses Romans vielmehr um die Keimzellen und neuralgischen
Punkte der Feindseligkeit, um die Krisenherde und Problemfelder im Zusammenleben der
Völker und einzelnen Menschen, die letztlich zur Katastrophe führten. Deshalb ist der Treffpunkt jenseits der Schuld auch gleich weit von Kapitalismus wie von Kommunismus entfernt,
während sich Weidenheim auf der Plattform dieses Treffpunkts gleichwohl um soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Toleranz, interkulturelles Verständnis und – damals schon –
um die Bewahrung der Schöpfung sorgt. Auch in unserer Gegenwart der multikulturellen
Durchmischung, der die Politik gängelnden Arroganz des Geldes, der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, der Verheerungen unserer natürlichen Lebensgrundlagen und der Unterdrückung des Selbstbestimmungsrechts, auch heute also, wo wir immer noch weit von
solchen Idealen und Forderungen der Menschlichkeit entfernt sind, erweist sich Weidenheim als „konstruktiver Unruhestifter“39, als Versöhner mit visionärem Weitblick, der zwar
nicht unverblendet blieb, aber wohl gerade aus dem Bewußtsein einer gewissen Mitverantwortung für die NS-Ideologie eine radikale Wandlung vollzog, selbstgerechte Überheblichkeit
überwand, sich zum vermittelnden Gewissen läuterte und sich letztlich gegen beide Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts auflehnte.
37
Die „Gesellschaft für interkulturelle Germanistik“ wurde 1984 in Karlsruhe gegründet. Ihr Ziel ist es, kulturelle
Unterschiede zu respektieren und die Erkenntnischancen zu nutzen, die in der Unterschiedlichkeit der jeweiligen kulturellen Ausgangsposition, in dem produktiven Wechselverhältnis zwischen Fremdem und Eigenem
liegen. Indem wir uns diese Positionen bewußt machen, die kulturelle Vielfalt ihrer Bedingungen, Fragestellungen und Erkenntnismöglichkeiten in den Blick nehmen, gewinnen wir Zugänge nicht nur zur fremden, sondern
auch zur eigenen Kultur. Die Gesellschaft ist der Ansicht, daß die Erforschung interkultureller Kommunikation
im Zeichen global zunehmender Kontakte, Kontexte und Konflikte auch in der Germanistik an Bedeutung nur
gewinnen kann.
38
„Man muß ein Mensch sein, das ist alles.“ Diesen Satz formuliert der alte Horowitz als Quintessenz am Ende
des Romans. (S. 462). Er wird dem Werk auch als Motto vorangestellt. (S. 5)
39
Vgl. Anm. 27
16
1.6 Zusammenfassung
Die genozidartigen Ausschreitungen von 1944 bis 1948 blieben den Bürgern Jugoslawiens
nicht verborgen, obwohl sie nach Kräften vertuscht wurden. Wenn auch viele mehr oder
weniger Bescheid wußten, sprach man in den Jahrzehnten danach nur hinter vorgehaltener
Hand und lediglich gegenüber eng Vertrauten darüber. Für die Presse und öffentliche Diskussion waren solche Themen bis lange nach Titos Tod 1980 absolut tabu, Verstöße wurden
strengstens geahndet. Auch in Deutschland war das politische Klima für die Thematisierung
von Kriegsverbrechen, die an Deutschen begangen wurden, alles andere als günstig.40 Während sich die Welt mit berechtigter Sorgfalt um die nie zuvor dagewesene Dimension der NSVerbrechen kümmerte, blieben die Vertreibung von bis zu 14 Millionen Deutschen und die
an ihnen unterscheidungslos begangenen Massenverbrechen unbeachtet und ungesühnt.
Von ethnischer Säuberung und Genozid im Namen anderer Völker wurde wirksam und dauerhaft abgelenkt. Am auffallendsten sind hier wohl die Verbrechen der Tito-Partisanen an
der deutschstämmigen Bevölkerung Jugoslawiens, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt
nicht angemessen im öffentlichen Bewußtsein verankert sind, obwohl die Donauschwaben
selbst mit aller wünschenswerten Eindringlichkeit ihr Schicksal dokumentiert und diese einzigartige Dokumentation vielen politischen Entscheidungsträgern im In- und Ausland zu Verfügung gestellt haben. Solange selbst die Bundesregierung die Archive zu den Verbrechen an
Deutschen unter Verschluß hielt und deutschen Vertriebenen sogar diplomatischen Schutz
verweigerte, mußte freilich die Aufarbeitung dieses Kapitels der ganzen Wahrheit stagnieren, solange konnte sich ein schuldig gewordenes Regime mit retuschiertem Geschichtsbild
und einer manipulierten Bevölkerung in Sicherheit wiegen.
Erst seit der Europarat im Jahr 2000 ein allgemeines Diskriminierungsverbot beschloß, können auch deutsche Heimatvertriebene das an ihnen begangene Unrecht vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einklagen, nach mehr als einem halben Jahrhundert
können endlich auch sie aufgrund der Unverjährbarkeit von Völkermord-Delikten ihr Recht
auf Heimat und Eigentum durchsetzen.
Bis heute scheint es jedoch ein Sakrileg zu sein, über Opfer und Verluste auf der Verliererseite zu sprechen, bis heute kochen die Emotionen hoch, wenn etwa das von Anfang an übernational konzipierte „Zentrum gegen Vertreibungen“ angeschnitten wird, stets mit denselben schablonenhaften Unterstellungen und Verdächtigungen, daß von der deutschen Seite
Aufrechnung des Leids und Reinwaschung betrieben werde, der Massenmord an den Juden
relativiert, das Verursacherprinzip aufgeweicht und Wiedergutmachung gefordert werden
solle. Diese Ängste sind zwar verständlich. Jedoch kann eine vollständige Geschichtsschreibung und echte Versöhnung nicht stattfinden, solange die „Einmaligkeit“ der NaziVerbrechen andere Untaten verleugnen hilft, sie verniedlicht oder gar zu Heldentaten stilisiert, solange Trauer das Privileg der einen und Sühne das der anderen bleibt. „Die Humanitas ist unteilbar“, sagte Ralph Giordano41, der nicht im Verdacht steht rechtslastig zu sein,
aber sein Feindbild eingerissen hat und zum Befürworter des Zentrums geworden ist.
Wie Angehörige und Freunde von Opfern immer wieder bekunden, könnten sie zwar vergeben, aber niemals vergessen. Vor der Versöhnung steht der ehrliche Wille zur Erinnerung.
40
Eine Ausnahme bildet etwa das Buch von Erich Kern: Verbrechen am deutschen Volk. Dokumente alliierter
Grausamkeiten 1939-1949, Verlag K. W. Schütz, Göttingen 1964, 332 S.
41
Interview mit Ralph Giordano: „Ich habe mein Feindbild eingerissen“. Das Interview führte Severin Weiland,
Spiegel Online vom 29.7.2002, www.spiegel.de
17
Ohne Erinnerung ist Versöhnung gar nicht denkbar. Eine alte jüdische Weisheit besagt, das
Geheimnis der Versöhnung heiße Erinnerung. Das Gedenken und Erinnern darf nicht nur das
eigene Leid und die eigenen Opfer im Gedächtnis bewahren, sondern muß auch die Opfer
von Verfolgung und Verbrechen auf der anderen Seite umfassen. Nur eine uneingeschränkte
Aufarbeitung der Vergangenheit vermeidet Beschönigung und Einseitigkeit, sie stellt große
Anforderungen an die Wahrhaftigkeit aller Betroffenen. Als zeitverhaftete Wesen können
wir die Kette von Kausalität und Schuld nicht einfach durchbrechen, um einen unbefleckten
Neuanfang zu setzen, wir müssen unentrinnbar historisch denken, die Last der Erinnerung
deutend bewahren, um den Weg in die Zukunft zu finden. Nur darüber hinaus steht uns die
erlösende Kraft des Vergebens offen, allerdings verlöre sie Gewicht und Bedeutung, wäre
der Verzeihende nicht der ganzen Tragweite des Vergehens schmerzlich eingedenk. Es kostet
Überwindung, dennoch zur Versöhnung bereit zu sein. Glaubhaftes Verzeihen kann nur aus
einem sehr bewußten geistig-seelischen Akt entspringen, der um alles Geschehene weiß, aus
dem Zusammenhang der Aufrechnung aber heraustritt und gerade deshalb auf märchenhaft
anmutende Weise erstarrte Fronten aufweicht. Aus diesem Aufbruch im Bereich des Individuellen können sich sukzessive ungeahnte Perspektiven eröffnen. Persönliche Entwicklungen
– nicht selten von der Literatur oder allgemein der Kunst angeregt – pflegen sich langfristig
in den Breichen der Medien, der Politik und der Schulen niederzuschlagen und haben das
Potential, letztlich einen Paradigmenwechsel im Zusammenleben der Völker herbeiführen.
Genau diese Voraussetzungen für eine echte Versöhnung hat Johannes Weidenheim mit
allen dazugehörigen Dimensionen wie der geschichtlichen, völkerkundlichen, kulturellen,
moralischen und religiösen schon vor mehr als einem halben Jahrhundert in seinem Roman
„Treffpunkt jenseits der Schuld“ vorgezeichnet. Weidenheim war nicht nur der erste, der
diese zwei antagonistischen Wahrheiten voreinander ausrollte und sie schonungslos miteinander konfrontierte, sondern auch der erste mit dem vorauseilenden Weitblick des Vermittlers und Versöhners. Je weniger der Prozeß der Versöhnung in der politischen Realität
fortgeschritten ist, desto mehr kann und soll Weidenheims dialektische Utopie uns Heutige
immer noch leiten. Sie kann es, auch wenn der Autor selbst sich zuvor durch einseitige Parteinahme schuldig gemacht hatte und trotz des immer möglichen Einwandes, daß er einer
Partei nicht gerecht geworden sei.
Zusammenfassend möchte ich noch einmal thesenartig diejenigen Aspekte nennen, die Weidenheims Werk als unvermindert modern, ja brandaktuell auszeichnen: 1) Weidenheim war
mit seiner Vision eines „Treffpunkts jenseits der Schuld“, also einer Annäherung und Versöhnung durch vorausgehende Selbsterforschung und das Eingeständnis eigener Schuld,
seiner Zeit weit voraus und scheint es heute immer noch zu sein; 2) Aus Geschichte und Erbe
der Donauschwaben leitet Weidenheim für sie den unveralteten Auftrag einer Mittlerrolle
zwischen den Völkern mit der Fähigkeit zu Multikulturalität, verständnisvoller Toleranz und
europäischer Integration ab; 3) Mit seiner europäischen Grundeinstellung war Weidenheim
der um 1960 an der adriatischen Küste einsetzenden Mitteleuropa-Debatte voraus (Der damals sehr junge Triestiner Literaturwissenschaftler Claudio Magris42 ist einer der geistigen
42
Claudio Magris: - Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna, 1963; dt.: Der
habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, übers. v. Madeleine von
Pásztory, Otto Müller Verlag, Salzburg 1966; nach der italienischen Neuausgabe bearb.:
Zsolnay Verlag, Wien 2000
Ders.: Danubio, 1966; dt.: Donau. Biographie eines Flusses, übers. v. Heinz-Geog Held, Hanser Verlag, München 1988, dtv 2007
18
Väter dieses Gefühls der natürlichen Verbundenheit mit Mitteleuropa und machte bereits
mit seiner Dissertation „Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur“ auf
längst verschüttete Zusammenhänge mitteleuropäischer Zusammengehörigkeit aufmerksam. 4) Das Tabu, auch das Leiden deutscher Opfer als Folge des Zweiten Weltkriegs literarisch darzustellen, hat Weidenheim fast ein halbes Jahrhundert vor Günter Grass gebrochen.
Grass nimmt sich in seiner Novelle „Im Krebsgang“43 aus dem Jahr 2002 des tragischen
Untergangs der „Wilhelm Gustloff“ und der Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart
an. 5) Bevor es ins modische Gespräch kam, hat Weidenheim mit einem im multiethnischen
Raum geschulten Sensorium Fremdenfeindlichkeit in Deutschland dargestellt.44
Das Werk Weidenheims weist – so viel hoffe ich gezeigt zu haben – einen bis heute gültigen
und immer noch in die Zukunft weisenden Gehalt auf, der zwischen den vertriebenen Donauschwaben und ihren einstigen Nachbarvölkern einerseits und erst als Konsequenz daraus, als Bewußtseinsbildung, auch für den deutschen Staat und die jugoslawischen Nachfolgestaaten andererseits Verständnis und Versöhnung stiften kann. Dieser Prozeß der Annäherung konnte aus ideologischen Gründen bislang nur auf untergeordneten Ebenen vorangetrieben werden. Aus den gleichen Gründen sind auch die Bücher Weidenheims nach kurzfristig hohem Bekanntheitsgrad in den fünfziger und sechziger Jahren wieder in Vergessenheit
geraten. Nun, wo das Ende der staatlich verordneten Geschichtsschreibung im ehemaligen
Jugoslawien angebrochen ist und neue Möglichkeiten der Begegnung und Vergangenheitsbewältigung eröffnet sind, ist die Zeit reif, auch die Frage der Schuld ohne einseitige Brandmarkung neu aufzuwerfen und damit engstens zusammenhängend zugleich das System von
Auto- und Heteroimages aufzuarbeiten, um zu einer fundierteren Völkerverständigung im
Blick auf die Zukunft zu gelangen. Es kann so ein Beitrag zur Entwicklung eines Bewußtseins
für die kulturell und geschichtlich bedingte Unterschiedlichkeit von Perspektiven und Mentalitäten geleistet werden. Dabei müssen neben Fehlern und Verbrechen, die begangen wurden, selbstverständlich auch die positiven Seiten, das Nachgeahmte und Nachahmenswerte
herausgestellt und der öffentlichen Wahrnehmung zur Verfügung gestellt werden. Durch
imagologische Analyse können die im Zentrum stehenden Texte des donauschwäbischen
Autors Weidenheim mit besonders signifikanten Beispielen einerseits aus den Reihen seiner
Landsleute und andererseits mit einigen südslawischen Autoren verglichen werden. Es liegt
nahe und fügt sich in den imagologischen Ansatz, über die autoreferentielle Struktur von
literarischen Texten hinaus auch Zeugnisse aus historischen Werken sowie aus der Medienlandschaft beider Seiten heranzuziehen. Diese Aufgabe konnte ich hier nur andeuten, sie ist
jedoch auf weite Strecken und als geschlossene Darstellung ein Desiderat.
43
Günter Grass: Im Krebsgang, Steidl Gerhard Verlag, Göttingen 2002, 216 S. (auch als Taschenbuch bei dtv).
Das deutsche Passagierschiff „Wilhelm Gustloff“ hatte hauptsächlich zivile Flüchtlinge an Bord, es wurde am 30.
Januar 1945 durch das sowjetische U-Boot S-13 versenkt und riß mehr als 9000 Menschen in den Tod.
44
Fremdenfeindlichkeit in Deutschland kommt bei J. Weidenheim etwa in folgenden Erzählungen zur Darstellung: Morgens zwischen vier und fünf / Der Laie, in: Morgens zwischen vier und fünf. Erzählungen, Union Verlag, Berlin 1963, S. 59-81, 99-106; Brief eines Bosniaken an einen deutschen Amtsgerichtsrat, in: Der Wegweiser. Zeitschrift für das Vertriebenen- und Flüchtlingswesen Nr. 7, Düsseldorf 1976, S. 26 f.; Janusz Kowalski,
alias Schmidt, verteidigt Zabrze, in: Neues Rheinland Nr. 5, Köln 1977, S. 36 f.; Wie kommt der Junge an den
Rhein, in: Der Wegweiser. Zeitschrift für das Vertriebenen- und Flüchtlingswesen Nr. 8-9, Düsseldorf 1981, S.
21; Stojanov kann gehen, Düsseldorf 1982; Die Bürgernähe unseres Stadthauses, in: Neues Rheinland Nr. 3,
Köln 1982, S. 26 f.; Der arme Milosevic, in: Südostdeutsche Vierteljahesblätter, München 4/1983, S. 278
19
2. Weitere Positionen in der donauschwäbischen Literatur
Franz Bahl ist neben Johannes Weidenheim als der wohl bedeutendste donauschwäbische
Literat aus Jugoslawien anzusehen. Er wurde 1926 in Tscheb in der Batschka, einem kleinen
Schwabendorf an der serbischen Donau, geboren. Zu ersten Bildungselementen werden ihm
die Natur und die fremdartige Welt der verschiedenen Nationalitäten und Kulturkreise. Als
Fünfzehnjähriger erlebt er die Bilder des Kriegs und der Verfolgung. Im Oktober 1944 flüchtet er vor dem Einmarsch der Roten Armee, über Budapest und Österreich kommt er 1946
nach Deutschland. In Frankfurt studiert er Germanistik, Philosophie und Geschichte, wird
Lehrer, Leiter eines Studienseminars, Schulrat und Schulamtsdirektor in Frankfurt. Als Mitarbeiter von Fachzeitschriften schreibt er pädagogisch-soziologische Abhandlungen, historische Bücher für Unterrichtszwecke, auch im Rundfunk ist er präsent, in Zeitungen erscheinen
Gedichte, der geliebten Donau widmet er 1961 einen Bildband. Bahls literarische Buchveröffentlichungen sind im Lauf von fünf Jahren in rascher Folge erschienen. Sie schildern unverblümt die Zustände in einem Schwabendorf während des Zweiten Weltkriegs mit ihren unliebsamen Begleiterscheinungen und Folgen. In dem Roman Schwarze Vögel (1957) wird die
Welt der alten Heimat aus der Sicht des abenteuerlustigen serbischen Bauernjungen Jowan
und seiner halbwüchsigen Freunde geschildert, der über die Donau einen Ausbruchsversuch
in die Große Welt unternimmt, aber scheitert. In Hitlers Balkanfeldzug werfen die „schwarzen Vögel“, die deutschen Stukas, auf dem Rückflug von der Bombardierung Belgrads auch
über dem kleinen Dorf Bomben ab. Als Jowans Vater wider Willen zu den Waffen eingezogen
wird, gerät der Sohn in einen Konflikt zwischen Kriegsbegeisterung und Pazifismus, der seine
Kindheit verfrüht beendet. Das Buch wurde 1960 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Während einer Tagung der namhaften „Gruppe 47“ sprachen Heinrich Böll und
Günter Grass ihm ihre Anerkennung aus.45
Ebenfalls aus der Sicht von Buben, die dem Kindesalter kaum entwachsen sind, schildert der
Roman Patrouillen der Nacht (1960), wie durch die deutschen Besatzungstruppen Feindschaft unter die bis dahin friedlich miteinander lebenden Völker kommt. Die Söhne deutscher Bauern leben seit Generationen an der unteren Donau und gehören zum jugoslawischen Staat. „In den Jahrzehnten der Türkenvertreibung waren sie gekommen und hatten
Sümpfe trocken gelegt, Wälder gerodet und Flüsse reguliert, damit das Land fruchtbar werde
und seine Bewohner ernähre: Deutsche, Serben, Madjaren und die kleinen Sippen der streunenden Zigeuner, nicht abgesondert in hochmütiger Überlegenheit, sondern im friedlichen
Nebeneinander glücklicher Menschen, Bauern neben Bauern. Jetzt war Krieg. Der jugoslawische Staat war besiegt und zerstückelt worden, deutsche Truppen standen im Land, und mit
den deutschen Truppen kam Feindschaft unter die Völker. Die Serben begannen die deutschen Siedler zu hassen. Die zogen die Uniformen der Besatzungstruppen an und machten
sich zum Feind des Landes, in dem sie lebten und leben wollten und das ihr Vaterland war.“46
Ähnlich schonungslos wie Weidenheim kritisiert auch Bahl die politische Blindheit und provinzielle Arbeitswut der Schwaben, die im Gegensatz zu allen anderen nicht merken, in welcher Gefahr sie schweben, als die Rote Armee täglich näherrückt. Auch bei den Serben hatten die Deutschen vor dem Krieg noch viel gegolten. „Damals lernte jeder Serbe, wenn er
etwas werden wollte, deutsch, zerbrach seine Zunge, um deutsche Romantik, Weltverklärung
zu verstehen. In den Schaufenstern lagen deutsche Waren, Bücher, Beethoven, Bach. Aber die
Wirklichkeit, die deutsche Wirklichkeit sah anders aus, die roch nach Gewalttat und Blut, Sta45
„Ich war ein Geschöpf jener verlorenen Welt …“ Franz Bahl im Gespräch mit Stefan Sienerth, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 2/1995, S. 101
46
Franz Bahl: Patrouillen der Nacht, Roman, Westermann Verlag, Braunschweig 1960, S. 7
20
cheldraht, Konzentrationslagern.“47 Die Reaktion bleibt nicht aus. Jugoslawische Partisanen
verbrennen auf nächtlichen Patrouillen die Weizenernte von Tscheb und anderen Dörfern
nach dem Motto, daß sinnlos vernichtetes Brot der Menschheit besser dient als Brot, das
nach Deutschland rollt und in Faschistenhände gerät. Die Partisanen stecken Tscheb in Brand
und ermorden einzelne Bewohner aus dem Hinterhalt. Raubend und brandschatzend ziehen
sie in der Nachhut der sowjetischen Armee durch die schwäbischen Dörfer und stecken die
deutschen Bewohner in Ausrottungslager. Wie es in diesen Lagern aussah, was sich da an
Folter und Mißhandlung zutrug, verdeutlicht Bahl in der Erzählung Spuren im Wind (1960).
Dort finden wir folgende sehr aufschlußreiche Stelle: „Die Schuldigen sitzen im eigenen Volk:
unsere Herren, die große Töne gespuckt und von Endsieg und Großdeutschland und Führer
und Heimat redeten – man kennt die Kundgebungen und Ansprachen noch –, sind schuld.
Unsere Herren, und sonst niemand, denn unsere Herren haben, um vor den ‚reichsdeutschen
Brüdern’ etwas zu gelten (vielleicht auch um etwas zu werden, falls der Krieg doch irgendwie
gewonnen worden wäre), so lange in das Kriegshorn von Blut und Ehre und Heldentum geschrien, bis der ‚Führer’ uns endlich rief. Was haben wir jetzt. Deutsche Art und deutsches
Wesen und Ahnenglaube und Vätererbe geschützt. Nichts haben wir, ins Gras gebissen und
endlich die Dummheit, die man uns Bauern aufgeschwätzt hat, mit Entsetzen erkannt. Ja, und
verloren haben wir, was uns gehörte, alles verloren. Die Herren haben gewußt, daß da keine
Heldentum und keine Tapferkeit nützten, die haben gut gewußt, wie sinnlos und überflüssig
der ganze Spektakel war. Aber nein, damit das Maß voll wird, haben sie uns noch in letzter
Stunde verraten und verkauft. Wenn ich dir sage, dort in den Drecklöchern hab ich keinen
einzigen Herrn bemerkt, keinen Kreisleiter und keinen Gebietsführer und keinen Abgeordneten und keinen Volksgruppenvertreter (der Teufel hole sie und ihre geschwollenen Titel). Aber
ich habe mir berichten lassen, daß sie bei Ödenburg an der österreichischen Grenze ein süffiges Leben führten und geheime Tafelrunden hielten, während ich und Rudolf und noch ein
paar Männer im Heuschuppen steckten und hörten, wie die Russen im Weinkeller grölten.“48
Um einen verantwortungsvollen „Umgang mit der Sprache in der Bewältigung der Vergangenheit zu statuieren, war es ein Anliegen Bahls, die verhängnisvollen Ereignisse der vierziger
Jahre in der Batschka differenziert, von verschiedenen Gesichtspunkten aus und nach Möglichkeit ohne leichtfertige und einseitige Schuldzuweisungen zu beleuchten – und damit näherte er sich in seinem Vorhaben der Position Weidenheims, der seit Ende des Krieges bereits
mehrere Bücher dieser Orientierung verfaßt hatte, und zum Teil auch jener des fast gleichaltrigen Hutterer, der ähnliche Gedanken vertrat“.49 Die Thematik der Bücher von Franz Bahl
dürfte der Grund gewesen sein, daß sie in der bundesdeutschen Öffentlichkeit für einige
wenige Jahre Resonanz fanden, dann aber an den Rand gedrängt und vergessen bzw. totgeschwiegen wurden. Der Schriftsteller Bahl geriet daraufhin in eine Lebenskrise und zog sich
aus der literarischen Szene zurück. Unveröffentlicht geblieben sind meines Wissens zwei
Gedichtbände und ein dreibändiges Romanwerk, das den Arbeitstitel Nimrod trägt.
Wendelin Gruber (1914-2002) hat das wohl bedeutendste, wenn auch nachträglich rekonstruierte Lagertagebuch eines Donauschwaben geschrieben. Es besitzt dokumentarischen
Wert. Das Buch erschien 1977 zuerst in portugiesischer Sprache in Brasilien, weil der Autor
in der donauschwäbischen Siedlung Entre Rios wirkte. Ins Deutsche rückübersetzt unter dem
47
Ebenda, S. 91
Franz Bahl: Spuren im Wind. Erzählung, Pannonia-Verlag, Freilassing 1960, S. 31 f.
49
Stefan Sienerth: Zum schriftstellerischen Werk des Franz Bahl, in: Geschichte, Gegenwart und Kultur der
Donauschwaben. Texte aus dem Jahresprogramm 1994 der Landsmannschaft der Donauschwaben, Bundesverband, Heft 5, Sindelfingen 1994, S. 83; Ders.: „Ich habe die Stille gehört“. Zum schriftstellerischen Werk des
Franz Bahl, in: Der Gemeinsame Weg Nr. 80/1995, S. 32-35
48
21
Titel In den Fängen des roten Drachen erschien es 1986, also dreißig Jahre nach Grubers
Freilassung aus dem berüchtigten Zuchthaus Mitrovitza in der ehemals jugoslawischen, heute serbischen Wojwodina. Gruber war aufgrund einer persönlichen Intervention des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer entlassen worden.
Der Autor war Zeuge der sogenannten freiwilligen Rekrutierungen seiner Landsleute zur
Waffen-SS sowie auch Zeuge der Bestrafung derselben donauschwäbischen Landsleute
durch das Tito-Regime nach dem Zusammenbruch der deutschen Front im Südosten. Im ersten Teil seines Tagebuchs, der am 8. Mai 1945, dem Tag seiner Verhaftung in Zagreb beginnt,
schildert der Autor in aller Nüchternheit ein modernes Kapitel der Acta Martyrum, wie er die
Geschichte der Ausrottungslager Jugoslawiens einige Male ausdrücklich nennt. Gruber wollte den mindestens 70.000 Opfern dieser Lager, deren Leiden von der Welt gar nicht wahrgenommen oder längst wieder vergessen wurde, „ein geistliches Monument“ errichten, „wenn
man schon von Seiten der roten Machthaber bisher alles Mögliche versuchte, jede blutige
Spur ihrer Greueltaten von der Erdoberfläche verschwinden zu lassen“50. Thema des Tagebuchs ist zunächst, was Gruber in diesen Lagern für seine Landsleute tun konnte. Bei den
Säuberungsaktionen war auch er selbst mehrere Monate lang schweren Mißhandlungen in
den Gefängnissen ausgesetzt, wurde aber doch freigelassen, weil ihm kein Geständnis zu
entlocken war und weil die Kommunisten wohl glaubten, ihn mürbe gefoltert zu haben. Mitte Januar 1946 drang Gruber heimlich in das Lager Gakowa/Batschka, nach Ostern auch in
das größte der zehn Vernichtungslager Rudolfsgnad/Banat ein, um in aufopferungsvoller
Hingabe seinen ohne Schuld und Gericht dem Hungertod preisgegebenen Landsleuten
christlichen Glaubenstrost zu spenden und materielle Hilfe zu leisten, die er wagemutig und
listenreich beschaffen konnte. Dies tat er in aller Verborgenheit, teils getarnt als Gefangener.
Hier wie dort nahm er seinen Gemeinden das Gelöbnis ab, jährlich zu wallfahren, „wenn wir
wieder Befreiung finden“. Bis heute erfüllen die Donauschwaben weltweit dieses Gelöbnis
und pilgern nach Altötting, auf den Schönenberg bei Ellwangen, nach Bad Niedernau, nach
Mary Lake in Kanada und Entre Rios in Brasilien. Unerschrocken schlich Pater Gruber sich
auch in die Todesmühlen von Molidorf/Banat, Kruschiwl/Batschka und Tenje/Slawonien,
immer suchte er die gefährlichsten Stellen auf, leitete intern Hilfsaktionen in die Wege, wurde dreimal verhaftet, und dennoch gelang es ihm, Titos Schergen zu überlisten und seine
Maßnahmen fortzusetzen, bis er am 5. Oktober 1948 zu 14 Jahren Zwangsarbeit verurteilt
wurde. Dem Neusatzer Gericht lagen seine Tagebuchaufzeichnungen als Anklagematerial vor
und enthüllten seine subversive Tätigkeit. Nun begann sein beinahe zehnjähriger Kreuzweg
durch die kommunistischen Kerker, die Strafe, die er wegen des Einsatzes für seine Landsleute erleiden mußte. Knapp und unaufdringlich wird die Zeit im Zuchthaus Mitrowitz, die Arbeit in der Ziegelei, der Aufenthalt im Zuchthauslazarett geschildert. Diesen Leidensweg beschreibt Wendelin Gruber im letzten Drittel seines erschütternden Tagebuchs. Das authentische Werk fand einen gewissen Widerhall in der Öffentlichkeit und erlebte mehrere Auflagen. Der frühere Südosteuropa-Experte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Johann Georg
Reißmüller nannte es eine furchtbare Leseerfahrung, die er den Bonner Politikern empfahl.51
50
Wendelin Gruber: In den Fängen des roten Drachen. Zehn Jahre unter der Herrschaft Titos, Miriam Verlag,
Jestetten 1986, S. 15
51
Johann Georg Reißmüller: Das aktuelle Buch. Geschundene Leiber und Seelen. Was Zehntausende Deutscher
in Vernichtungslagern erlitten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 7.5.1985; vgl. auch: Ders.: Die Toten unseres Volkes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.5.1986, S. 1; Herbert Czaja: Geschunden in Jugoslawien.
Leserbrief, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24.5.1986; Hans Krump: Vom Los der Donauschwaben in Jugoslawiens KZs. Auf blutigen Spuren, in: Die Welt Nr. 134 v. 12.6.1986, S. 18
22
Neben Pater Wendelin Grubers Tagebuch „In den Fängen des roten Drachen“ ist uns ein Tagebuch im eigentlichen Sinn des Wortes, eines also, das tagesaktuell entstanden ist, von seinem ebenfalls aus Filipowa in der Batschka stammenden Landsmann Matthias Johler erhalten geblieben. Johler wurde am 15. März 1945 als Kaplan mit den deutschen Bewohnern von
Prigrewitza Sentiwan von Titos Partisanen ins Lager Filipowa getrieben. Dort erhielt er unter
Hinweis auf die Religionsfreiheit die Erlaubnis, die Messe zu zelebrieren. 1945-46 war er Lagerkaplan im Vernichtungslager Gakowa. Man wird die Geschichte des Hungerlagers Gakowa
nicht schreiben können, ohne die aufopfernde Rolle Johlers zu würdigen, der sich im priesterlichen Dienst bis zur Erschöpfung der Lagerinsassen annahm, unter widrigsten Umständen
Eucharistiefeiern, Kindergottesdienste und Krankenpastoral zustande brachte, Seelsorgehelfer heranzog und unverdrossen die Kinder religiös und profan zu unterrichten versuchte.
Sein Einsatz muß „zu den seelsorgerlichen Großtaten der donauschwäbischen Geschichte
gerechnet werden“52. Aus der Zeit zwischen 1945 und 1947 hat Johler ein aufschlußreiches
Lagertagebuch hinterlassen, ohne literarischen Anspruch zwar, aber zweifellos mit der Absicht, die Außenwelt in gläubig-nüchterner Zeugenschaft über himmelschreiendes Unrecht
zu unterrichten. Tatsächlich konnte Johler seine Aufzeichnungen in die Freiheit retten, es
sind die einzigen uns bekannten aus einem jugoslawischen Vernichtungslager, die einzigen,
die das Leid dort hautnah, aus täglicher Mitleidenschaft und nicht aus dem Abstand nachträglicher Erinnerung überliefern. Durch seine singuläre Stellung besitzt Johlers Tagebuch für
uns Heutige neben seinem historischen Quellenwert eine aus Not und Schrecken geborene
Würde.
Johannes Weidenheim selbst nimmt in einem seiner Artikel53 Bezug auf den jugoslawiendeutschen Schriftsteller Franz Hutterer, der neben Franz Bahl und ihm selbst zu den erfolgreichsten donauschwäbischen Schriftstellern der Nachkriegszeit bis hin zu Herta Müller gehört. Er nennt Hutterer einen „Abtrünnigen zur höheren Ehre des Vaterlandes“, dessen Erlebnismittelpunkt und Schicksalsfaktor die Donau ist, der aber trotzdem als moderner
Schriftsteller einzuschätzen sei. In seinem Kinderbuch An den Ufern der Donau (1959) lernen
Kinder die ehemalige Heimat ihrer Eltern während einer Dampferfahrt von Wien aus auf der
Donau kennen und werden sich darüber klar, wieviel Unglück und Heimatlosigkeit der Krieg
gebracht hat. Hier beginnt die Versöhnung der Völker mit der vorurteilslosen Freundschaft
der Kinder. In seinem Schreiben wie in seinem Wirken war Hutterer darauf aus, Brücken zu
schlagen, ausgleichend zu wirken, das Gespräch zu suchen, was er auch bis zu seinem Tod als
Vorsitzender des „Südostdeutschen Kulturwerks“ in München (heute: „Institut für deutsche
Kultur und Geschichte Südosteuropas“) tat. Die Literatur der Donauschwaben sah er noch zu
sehr vom tatsächlich Geschehenen dominiert, als daß neben Erinnerungsprosa und Biographischem auch ein großes episches Werk hätte entstehen können. Diese Feststellung trifft
auch auf Hutterer selbst zu, er hat kein episches Werk hinterlassen, sondern zeigte sein Talent als Erzähler von Kurzgeschichten und Essayist. Ein Roman mit dem vorläufigen Titel Gras
wächst über die Geschichte oder Die Erbschaft ist nicht vollendet worden, allerdings gliederte Hutterer einzelne Kapitel aus und veröffentlichte sie als in sich geschlossene Erzählungen
(„Djordje oder die Erbschaft“).54 Die gesammelten Erzählungen sind in dem Band Gesang
52
Drei Lagerseelsorger in Gakowa, in: Filipowa – Bild einer donauschwäbischen Gemeinde. Sechster Band:
Kriegs- und Lageropfer, hrsg. v. Paul Mesli, Franz Schreiber, Georg Wildmann, Wien 1985, S. 177
53
Johannes Weidenheim: Der Erzähler Franz Hutterer, in: Neuland v. 23.5.1953, S. 3
54
Stefan Sienerth: Einspruch gegen das Vergessen. Literarische Vergegenwärtigung als Gegenmittel. Der Erzähler und Schulbuchautor Franz Hutterer, in: Geschichte, Gegenwart und Kultur der Donauschwaben. Texte aus
dem Jahresprogramm 1995 der Landsmannschaft der Donauschwaben, Bundesverband, Heft 6, Sindelfingen
1995, S. 75-80
23
über dem Wasser 1996 erschienen. Hutterer war immer bemüht, ausgleichend zwischen den
Völkern zu wirken, auf Versöhnung hinzuarbeiten, die Vergangenheit multiperspektivisch
aufzuarbeiten, dabei ist er immer ein hellwacher und mißtrauischer Beobachter der jugoslawischen Politik und Kultur geblieben, er war aber auch der erste, wenn es darum ging,
Schritte der Aufklärung vor allem innerhalb der serbischen Literatur seit den achtziger Jahren
des letzten Jahrhunderts zu würdigen. Sowohl in seinen Erzählungen wie auch in seinen Aufsätzen bemühte er sich stets, die Schuldfrage in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit
darzustellen. Das Unheil des Krieges machte nicht nur die Donauschwaben zu Opfern, sondern auch die Angehörigen der Nachbarvölker. In seinem tiefschürfenden Geschichtsessay
Streng vertraulicher Völkermord. Unterlassungssünden der gegenwärtigen Geschichtsschreibung aus dem Jahr 199955 hat er die bis heute nahezu unverändert schwierige Gemengelage umrissen. Ich halte es für angebracht, drei bedeutsame Passagen zu zitieren, weil
Hutterer sich hier gültige Gedanken zum Problem der Minderheiten und des Minderheitenschutzes gemacht hat:
„Das Zusammenleben in einer multikulturellen Region beruht auf der Beachtung ungeschriebener Verhaltensformen. Diese werden in enger Nachbarschaft eingehalten, solange der latente Funke vorhandener Nationalismen nicht entfacht und agitatorisch mißbraucht wird.
Der Schritt dazu ist nicht groß. Jede Minderheit hat tief eingewurzelte Vorstellungen des eigenen Selbstverständnisses. Demütigungen und Verluste spielen darin eine große Rolle. Konflikte und Traumata, die lange Zeit stagnieren, die von einer Generation nicht gelöst werden
können, geraten nicht in Vergessenheit, sie werden an die nächste weitergegeben. Sie bergen
Möglichkeiten explosiver Entwicklungen in sich. In einer Region von Minderheiten, wie sie in
Südosteuropa anzutreffen ist, will jede Gruppe ihre Probleme allein lösen, sie strebt keine
Partnerschaften an. Solange nationalstaatliches Denken als Priorität akzeptiert wird und nationalstaatliches Handeln auch staatsrechtlich Vorrang vor Minderheitenschutz erhält, sind
Minderheitenprobleme nicht anders zu lösen als durch Assimilation oder durch Aussiedlung
und Rückführung in den Bereich des sogenannten Muttervolkes. Auf diese Alternativen hat
sich die Entwicklung der Minderheiten nicht nur in Südosteuropa zugespitzt. Beide wurden
dort Realität. Die zweite, eine Um- oder Rücksiedlung, erfuhren die deutschen Minderheiten
in der extremsten Lösung, in der Vertreibung mit allen verbrecherischen Konsequenzen. Die
Geschichte der deutschen Minderheiten in Südosteuropa bezeugt in ihren einzelnen Stadien
paradigmatisch den Weg von Minderheiten in forciert gebildeten Nationalstaaten.“
Wie die Donauschwaben unschuldig schuldig geworden sind, dazu bemerkt Hutterer folgendes:
„Einer Minderheit, die ihre Sprache, ihre Schulen, ihre Kultur, ihr ethnisches Umfeld geschützt
sehen wollte und für diese Rechte eintrat, geriet eine weltanschaulich interpretierte ‚völkische Erneuerung’ in eine Eigendynamik, die sie nicht mehr steuern konnte. Auch hier die großen weißen Flecken, der direkte Zugriff des Dritten Reiches auf die Minderheit, ihre wirtschaftlichen Ressourcen und ihre Menschen. Die Rekrutierung der Volksdeutschen für die
Waffen-SS, die Verträge, die Berlin mit den Regierungen von deren Heimatstaaten geschlossen hat, die sogenannten ‚freiwilligen Meldungen’ mit dem Druck, der dahinter stand, die
einen Komplex von Schuldgefühlen erzeugten, der Einsatz der Division ‚Prinz Eugen’ durch das
deutsche Oberkommando in Südosteuropa, nicht zuletzt die Reaktionen, die der Einsatz von
Angehörigen deutscher Minderheiten für die Belange der deutschen Kriegsführung bei den
55
Franz Hutterer: Streng vertraulicher Völkermord. Unterlassungssünden der gegenwärtigen Geschichtsschreibung, in: Heimatbote, Toronto, Juli 2001, S. 15 f., Fortsetzung: August 2001, S. 15 f.
24
Völkern in der Region, besonders den slawischen, ausgelöst und hervorgerufen hat, das sind
Fragen, die sich nicht von selbst erledigen. Es ist weithin nicht zu verstehen, warum die deutschen Minderheiten nicht mit Nachdruck darauf dringen, diese Fragen untersucht und beantwortet zu bekommen. Sie wurden nach 1945 in Haftung genommen für eine Politik, die sie
nicht bestimmt haben. Sie sind von dieser Politik wie der Rache ihrer Heimatländer mißbraucht und getroffen worden, was weniger mit der Unfähigkeit zur Gestaltung einer eigenen
Geschichte zu tun hat als mit einem Grundproblem dieses Jahrhunderts, dem einer Minderheit.“
Und schließlich sei hier noch das Ende dieses lehrreichen Aufsatzes angeführt:
„Wir, Zeugen eines Jahrhunderts, das uns nicht geschont hat, haben seine Realität erlebt. Wir
wollen seine Taten und Untaten nicht beschönigen oder verniedlichen, weder Entschuldigung
noch Verständnis für seine Täter finden, seine Opfer auch nicht vergessen. Das Jahrhundert
hat uns gelehrt, Deutungen und Erklärungen gegenüber mißtrauisch zu sein. Wir wollen uns
an Daten, Abläufen, Dokumenten orientieren. Aber auch diese stellen wir in Frage, wollen
selber prüfen und vergleichen. Unsere Generation hat die große Manipulation, die Verführung, die Propaganda erlebt. Wir wollen nicht erklärt bekommen, was oder wie wir zu denken
haben. Wir wollen den Dialog, nicht Gefälligkeitsbekundungen. Ereignisse, die nicht betrauert
und verarbeitet werden, bleiben im Unbewußten stehen und brechen wieder auf. Traumata
graben sich in die Seele der Völker ein. Für sie kann es keine obrigkeitlichen Schlußstriche
geben. Wir wollen nicht nach einem neuen Vokabular instrumentalisiert und mobilisiert werden. In Sprachregelungen kennen wir uns aus. Die haben wir erlebt. Das Jahrhundert nimmt
Abschied. Wir trauern ihm nicht nach. Wir sind offen für die Zukunft.“
Ernst Hodschager harrte aus Verbundenheit mit seinen Schwaben trotz der schlimmen Ereignisse der Nachkriegszeit in Jugoslawien aus. Ungewollt wurde er zum Zeugen von Massakern an seinen Landsleuten und ihrer Rußlandverschleppung. Da er als Ungar eingetragen
und durch seinen Namen Blaschek nicht als Deutscher angesehen wurde, blieb er von Übergriffen unbehelligt, mußte allerdings unfreiwillig bis zum Kriegsende in der Petöfi-Brigade
dienen. Diese Lebensphase fand später in einer Erzählung ihren Niederschlag.56 Nach dem
Krieg konnte er in Zagreb sogar Medizin studieren. Seine Gesinnung und seine Gedichte
mußte er sorgfältig verbergen, denn sie lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.
Was Hodschager in Worte faßte, wurde für ihn selbst ein Mittel, Ungeheuerliches auszuhalten. Seine Gedichte bedeuteten für ihn Überlebenshilfe, mit denen er Vereinsamung, Bedrückung, Drohung, Gewalt, der Gefahr für Leib und Leben standhalten konnte. In seinem literarischen Wirken war er Autodidakt. Ideelle Vorbilder waren ihm Andreas Hofer und Leo
Schlageter, literarisch orientierte er sich an Nikolaus Lenau, Friedrich Schiller, Wilhelm Weber (Dreizehnlinden) und Hans Carossa. Seit 1957 war Hodschager Dorfarzt in der Batschka,
zunächst in Lalić, dann in Doroslovo. Er verstand seine exponierte Stellung als Mittelsmann
zwischen Heimat und Fremde, als Posten gegen Kommunismus und Tyrannei. In der Heimat
wurde er zunehmend zum Fremdling, fühlte sich unbehaust und allein. 1966 verließ er enttäuscht das Land und ging in die BRD, wo er als Arzt in Frankfurt a. M. Fuß faßte.
Ein wesentlicher Antrieb seines Schaffens war das Entsetzen über Unmenschlichkeit,
„unversöhnt, voll Haß“ zeigte er darauf. Und vor allem als Mahnung mochte er sein Dichten
56
Ernst Hodschager: Das nannte man Petöfi Brigade, in: Mahnruf. Gedichte und Berichte, Oswald Hartmann
Verlag, Sersheim 1989, S. 41-52; vgl. Koloman Stumpfögger: Nutzlos auf Posten. Gedanken zu Gedichten von
Ernst Hodschager, in: Geschichte, Gegenwart und Kultur der Donauschwaben. Texte aus dem Jahresprogramm
1995 der Landsmannschaft der Donauschwaben Bundesverband, Sindelfingen 1995, Heft 6, S. 107-117
25
und Schreiben verstanden wissen. Er wollte der Welt die Augen öffnen über den aus „Raubgelüst“ begangenen und selbst von der UNO totgeschwiegenen Völkermord an den Deutschen Jugoslawiens, über die „unsägliche Brutalität eines Josip Broz, genannt Tito, und Konsorten“ und die Tyrannei der „satten Bonzen der Partei“57, gegen die sich das Volk nicht erhob, wie er es stets erhofft und anzustoßen versucht hatte.
1989 erschien sein Mahnruf. Dieser Band mit Gedichten und kurzen Prosastücken füllt eine
Lücke, weil nur äußerst wenige Veröffentlichungen, die vom Unheil der Schwaben in Jugoslawien berichten, von donauschwäbischen Autoren stammen, die erst Mitte der sechziger
Jahre in die BRD umsiedelten. Die Auslieferung seines Buches hat Hodschager nicht mehr
erlebt, er starb am 30. März, am Abend zuvor.
Alois und Georgine König, beide in Kroatien in deutschen Familien geboren, erzählen in ihrem Roman Die Tage der ungesäuerten Brote (Dani beskvasnoga kruha, 1992) von den
Kriegs- und Nachkriegsschrecken der deutschen Minderheit, die die Autoren als Kinder selber durchgemacht haben. Die Hauptgestalt des Romans ist Elisabeth Müller, die in einem
kleinen Dorf nahe Zagreb aufwächst, die Verfolgungen zuerst der Zigeuner, Serben und
Kommunisten, später der Deutschen miterlebt und überlebt und schließlich nach Deutschland aussiedelt, um sich dort zu integrieren. Der Roman bietet Umrisse einer der Ideologie
entzogenen Geschichtsschreibung, die Möglichkeiten zur donauschwäbischen Identitätssicherung bereitstellen kann, wie ein kroatiendeutscher Interpret meint.58 Nachdem die akademisch gebildeten und tätigen Autoren in Zagreb eine Buchhandlung eröffnet hatten, wollten sie ihre Tätigkeit auf das Herausgeben und Drucken von Büchern ausweiten, bekamen
aber deswegen Probleme mit den Behörden. In der Arbeit lahmgelegt, beschlossen sie 1986,
nach Deutschland auszuwandern. In Hemmingen bei Stuttgart gründeten sie einen eigenen
Verlag, in dem 1992 auch ihr gemeinsamer Roman auf deutsch erschien.
Einer der Beweggründe für Rita Prost-Pertschy, ihr Buch Das Heimweh der Simon Rita
(1994) aus der deutschen in die serbische Sprache übersetzen zu lassen, war die unerträglich
verzerrte Darstellung der Deutschen Jugoslawiens in dortigen Veröffentlichungen. Speziell
störte sie sich an den dick aufgetragenen Lügen, wie sie in der 1991 erschienenen Monographie über die Gemeinde Bački Gračac – so heißt ihr Heimatort Filipowa seit 1948 – über die
ehemaligen deutschen Einwohner verbreitet werden. Dort heißt es etwa, daß die Deutschen
Filipowa vom 9. bis 12. Oktober 1944 vollständig evakuierten und im festen Glauben an eine
baldige Rückkehr ihre gesamte, im Laufe von zwei Jahrhunderten erarbeitete Habe einschließlich der nicht abgeernteten Felder einfach zurückließen. Nach einem Jahr sei das völlig leere Dorf mit armen Menschen aus einem Teil der im Krieg geschundenen Lika neu besiedelt worden. Mit solcher und ähnlicher Geschichtsfälschung wurde die zu einem großen
Teil ahnungslose Bevölkerung Jugoslawiens in der gesamten Nachkriegszeit abgespeist. Ein
Klima der Repression und Verängstigung verhindert teilweise bis heute, daß die verordnete
Ideologie öffentlich hinterfragt wird. Mit großer Dankbarkeit greifen die Menschen in der
Wojwodina aber nach Informationsquellen, die ihnen die Geschichte ihrer Heimat aus einer
bisher tabuisierten Perspektive erzählen und ihnen die Augen für die Wahrheit öffnen. Noch
sind diese Quellen so selten und kostbar wie Oasen. Durch etliche Leserzuschriften aus Serbien an die Autorin hat es sich erwiesen, daß ihr Buch nicht nur gelesen wird, übrigens auch
57
Ebenda: „Unversöhnt“, S. 23; „Bundesrepublik“, S. 35 f.; „Darüber kann man nie genug schreiben“, S. 56;
„Zeitungsverkäufer“, S. 27
58
Goran Beus Richembergh: Alois und Georgine König: Dani beskvasnoga kruha / Tage des hefelosen Brotes, in:
Geschichte, Gegenwart und Kultur der Donauschwaben. Texte aus dem Jahresprogramm 1993 der Landsmannschaft der Donauschwaben Bundesverband, Sindelfingen 1993, Heft 4, S. 176-178
26
von jüngeren Leuten, sondern auch als eine solche Quelle betrachtet wird, die heilende, versöhnende Kraft entfaltet. Im Serbischen trägt dieses von Gordana Bukvić übersetzte Buch
den Titel „Žal za zavičajem Rite Simove“. Einer der Briefe an die Autorin sei hier auszugsweise wiedergegeben.59 Es kann dem Prozeß der Versöhnung nur schaden, wenn weiterhin die
Stimmen der Gutwilligen ungehört bleiben und radikale Blockierer die Deutungshoheit behalten. Wegen einer tiefsitzenden Angst, die in der Bevölkerung Serbiens bei diesem Thema
immer noch spürbar ist, wurden die Nachnamen des Verfassers weggelassen.
Bács Topola, 30. November 2004
Liebe Rita,
(…) Die Menschen haben das Bedürfnis, über das eigene Leiden zu sprechen, leider ohne an
das Leid der anderen zu denken. Genauso habe ich viel über das Leiden meines Volkes gelesen und gelernt, aber über das Leiden Deines Volkes habe ich keine Ahnung gehabt. Jetzt
wurden meine Augen geöffnet, ich habe die Geschichte dieser Zeit besser kennengelernt und
bin schockiert. Ich will nicht über Ursachen und Wirkungen in der Geschichte nachdenken,
das sollen andere machen. Ich wollte Dir nur sagen, daß leider in den Kriegsgeschehnissen
meistens die kleinen Menschen leiden mußten, obwohl sie keinen Einfluß hatten. Alles geht
über den Rücken der Ohnmächtigen. In Deinem Buch kann man das schön erkennen. Jede
Zeile Deines Buches hat in mir mein Antikriegsgefühl noch mehr verstärkt. (…) Du hast in Deinen jungen Jahren so ein Elend erlebt, wenn der Mensch als Kind am bildsamsten ist. Trotzdem hat Dich das nicht gebrochen und Deine Seele nicht vergiftet. (…) Du hast so ein Leiden
erlebt, und trotzdem hast Du Deine Seele vor Haß gerettet und bewiesen, daß das Gute stärker ist als das Böse. Ein slowenischer Dichter hat einmal darüber geschrieben, wie eine Muschel am Meeresboden eigene Schmerzen in eine Perle verwandelt. Ich finde, Du hast auch
Deine Schmerzen in ein Werk der Literatur übertragen, das historischen und literarischen
Wert hat. Teile Deines Buches (…) haben es verdient, in die Schulbücher übernommen zu
werden, weil sie eine starke Humanität ausstrahlen. Das ganze Elend, das auf Deinen kindlichen Rücken geladen wurde, hat Deinen Optimismus und Glauben an das Gute nicht gebrochen. Bravo! Danke! (…)
Dragan
Das Buch „Ein Junge aus der Nachbarschaft. Lebensbericht eines Donauschwaben“ (2007)
zeigt den Autor Stefan Barth mit der „versöhnenden Kraft einer geborenen Mittlerfigur“.
Den Tag, als er in Futok in der jugoslawischen Batschka das Licht der Welt erblickte, den 26.
Februar 1937, sowie seine eigene Taufe gleich am folgenden Sonntag beschreibt Stefan
Barth mit präzisen Beobachtungen und so viel Atmosphäre, als hätte er alles selbst registriert und im Gedächtnis bewahrt. Aber es war die Mutter, die ihm viele hundert Male von
dem freudigen Ereignis erzählt hat, bis es ihm vorkommt, als wäre es ein Teil seiner Erinnerung geworden. Ansonsten schöpft der Autor allerdings weitgehend tatsächlich aus eigenen,
guten wie bösen Memorabilien in seinem „Lebensbericht eines Donauschwaben“, der knapp
sieben Jahrzehnte umfaßt und sich auf gut dreihundert Seiten erstreckt.
Zutiefst prägend waren die ersten acht Lebensjahre, in denen der Junge in der Nachbarschaft von Deutschen, Serben und Ungarn aufwuchs. Das Multiethnische mit seiner Mehrsprachigkeit bildete ein Lebenselement für alle in der Wojwodina beheimateten Völker, deren Zusammenleben mustergültig funktionierte, bevor ideologische Verblendung in Gestalt
59
Stefan Teppert: Wie funktioniert Versöhnung?, in: Das Donautal-Magazin Nr. 143 v. 1.5.2007, S. 31-34; Mitteilungen / Der Donauschwabe v. 15.3.2007, S. 14
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des Nationalsozialismus, dann des Kommunismus Einzug hielt und in Jahrhunderten gewachsene Symbiosen zerstörte.
Zuweilen, wenn Barth über die Donau und den Fischfang, über Nikolaus, Weihnachten und
Ostern, über Kinderspiele, Tanz und Feste in seinem Heimatort Futok spricht, mag sich der
Leser an die Themenliste eines der zahlreichen donauschwäbischen Heimatbücher erinnert
fühlen mit ihrem obligatorischen Défilé kirchlicher und volkstümlicher Bräuche, örtlicher
Verbände und Vereine, des Lebens und Arbeitens im Dorf. All diese mit eigenen Kapiteln
gewürdigten Segmente einer intakten Ortsgemeinschaft in der Vorkriegszeit klingen im ersten Drittel dieses Buches ebenfalls an. Barths erinnerungsselige Hommage an den Heimatort
ist aber sehr persönlich gefärbt, durchflochten mit den frühesten Bezugspersonen, Haustieren, Örtlichkeiten und Begebenheiten, eben mit Familiengeschichte. Darüber hinaus unterscheiden sich seine Erinnerungen in einem wesentlichen Punkt von den meisten Heimatbüchern, sie blicken nämlich über den donauschwäbischen Tellerrand hinaus und werfen später einen bedauernden Blick auf die andersnationalen Nachbarn, ihre Leiden und Verluste
durch den Terror der Partisanen. Auch die Verbrechen der Nationalsozialisten in Jugoslawien
werden hier nicht unter den Teppich gekehrt. Dagegen rechtfertigt Barth die Rolle des geschmähten Kulturbundes als eines legitimen Instruments zur Bewahrung der eigenen Identität, ähnlicher Mittel hätten sich ja auch die Nachbarvölker bedient.
Als nach dem Durchmarsch der Roten Armee im Oktober 1944 Titos Partisanen das Regiment übernahmen, brach bis 1947 die Zeit des „totalen Hasses“ aus, ihre Mordlust wütete
uferlos. Systematisch wurden alle Privilegierten, Intellektuellen und Besitzenden als „Volksfeinde“ liquidiert, auch viele Serben, Kroaten und Ungarn kamen ums Leben. Die nicht geflüchteten Deutschen Jugoslawiens wurden aus haßerfülltem Neid und Rache für Hitlers südslawischen Feldzug einem staatlich gelenkten Enteignungs-, Entrechtungs- und Vernichtungsprogramm preisgegeben, dem 64.000 Zivilpersonen zum Opfer fielen.
Im Zuge der „Volksbefreiung“ kamen Stefans Vater und Großvater in ein Arbeitslager, er
selbst mit seiner Mutter, Großmutter und Schwester ins KZ Jarek, wo viele Menschen an
Hunger oder Krankheiten starben oder angesichts der Mißhandlungen und Entwürdigungen
Selbstmord verübten. Täglich fuhren Leiterwagen mit aufeinander geschichteten Leichen
durchs Dorf zum Massengrab. Sogar den Kindern war der Tod kein Schrecken mehr, so sehr
gehörte er zum Alltag. Damit die Kleinen ihre Mütter nicht bei der (mitunter sinnlosen, nur
der Schikane dienenden) Zwangsarbeit stören konnten, kamen sie in Kinderheime, Geschwister wurden auseinandergerissen und ihrem Volk entfremdet, falls sie nicht zuvor
elend gestorben waren. Diesem Schicksal entging Stefan nur durch die Intervention eines
befreundeten Serben, der die Familie als Leiharbeiter für sein Gut aus dem Lager holte.
Ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen. So lautet der gar nicht so selbstverständliche Kernsatz
dieses aufwühlenden Buches. Gleichgültig, welche Seite ein Verbrechen begangen hat, man
muß es verurteilen, „insbesondere dann, wenn der Täter sich auf angeblich höhere Ziele
beruft“. Dieses Fundamentalaxiom der Gerechtigkeit hat den im Kern seiner Menschlichkeit
Verletzten wie viele seiner Landsleute ein Leben lang umgetrieben, es war wohl auch die
tiefste Ursache für die Niederlegung seiner Memoiren. Denn, so Barths Credo, ohne Gerechtigkeit, ohne Wahrhaftigkeit kann es letztlich auch keine echte Versöhnung geben, die er aus
tiefstem Herzen wünscht, weil ihm seine alte Heimat teuer blieb.
Als Vermittler zwischen Serben und Donauschwaben (Deutschen) eignet sich Stefan Barth
durch Werdegang und Charakter in hervorragender Weise. Die Rolle des ehrlichen Maklers
war ihm wiederholt zugefallen, sie schien einen Grundzug seines Lebens auszumachen.
28
Dank seiner Lehrerin Nada Aleksić konnte er in zwei Jahren vier Klassen Volksschule abschließen und so die im Lager versäumten Jahre wettmachen. Auch andere Lehrer lebten
ihm in einer Zeit voller Ressentiments Unvoreingenommenheit vor. Die serbische Sprache,
Kultur und Mentalität hat er in Volksschule und Gymnasium gründlich kennengelernt, als
einziger Deutscher in seiner Klasse. Nach Stefans Abitur wanderte die Familie in die Bundesrepublik aus, weil die Deutschen in Jugoslawien 1949 zwar ihre Bürgerrechte, nicht aber ihr
Vermögen zurückerhielten. Wieder befand er sich zwischen allen Stühlen. Hatte er in Jugoslawien als Faschist gegolten, so galt er nun in Deutschland als Kommunist. Es folgten Berufsausbildung und Karriere, Familiengründung und Hausbau, Einzug in den Stadtrat von
Erlangen und Sorge für die Umwelt. Als der Eiserne Vorhang fiel, engagierte sich Barth für
die Völkerverständigung durch Städtepartnerschaften. Er hielt Verbindung zur alten Heimat,
der freundschaftliche Kontakt zu seinen Schulkameraden ist nie abgerissen, die politische
Entwicklung des Landes hat er besorgt im Auge behalten. Doch erst als ein Krebsleiden ihn
auf die wesentlichen Dinge im Leben zurückwarf, beschloß er, die guten Taten zu vergelten,
die den Verfolgten in Serbien widerfahren waren, und an seine Wohltäter zu erinnern. Ohne
Rachegedanken setzt er sich für die Rehabilitation der Donauschwaben ein, für eine echte
Versöhnung auf der Grundlage der historischen Wahrheit, er stellte Hilfslieferungen in das
verarmte Land zusammen, im September 2004 gab es eine von ihm initiierte und organisierte Ausstellung in Novi Sad, die auch das so lange verleugnete Fanal der donauschwäbischen
Geschichte veranschaulichte.
Mit realistischem Augenmaß hält Barth eine Entschädigung der Enteigneten nur auf symbolischer Ebene für möglich. Zahlungen sollten, so seine ausgezeichnete Idee, in eine Stiftung für
deutsch-serbische Versöhnung einfließen, um Kulturdenkmäler pflegen und Schriftsteller
unterstützen zu können, die sich für die Völkerverständigung verdient gemacht haben. Eine
zweite Randbemerkung mit Pfiff nimmt den Nationalstolz aufs Korn: Er habe nur dann eine
Berechtigung, wenn man selber einen Beitrag zum Erfolg seines Vaterlandes geleistet hat.
Im ganzen Buch ist der Wechsel zwischen individuellem Erleben und zeitgeschichtlichem
Bezugsrahmen gut gelungen. Dem Leser geht bei den Ausblicken auf übergreifende geschichtliche Zusammenhänge die Entwicklung des Ich-Erzählers nie verloren, dessen auch
mit Fotos illustrierter Lebenslauf bekommt im Gegenteil erst den rechten Verständnishorizont und leistet so die Aufgabe einer guten Autobiographie. Besonders Leser ohne Vorwissen werden dankbar sein für die vorausgeschickte, auf wenige Seiten komprimierte Einführung in die Geschichte der Donauschwaben, dieses jüngsten deutschen Volksstammes, von
drei Kaisern des Hauses Habsburg in das von den Türken zurückeroberte, verwüstete und
nahezu menschenleere Pannonien gerufen, um es urbar zu machen und aufzubauen, was die
Kolonisten als erste freie Bauern in Europa mit fortschrittlichen Methoden und deutscher
Arbeitsmoral erfolgreich bewerkstelligten. Nicht unbedingt neu, aber klug und ausgewogen
sind Barths Einlassungen über die widersinnige Zwangskollektivierung in Jugoslawien, die
zum Verderben der fruchtbaren Wojwodina wurde und katastrophale Auswirkungen für die
ganze Volkswirtschaft hatte; über die tief wurzelnden Gründe für den Genozid an den Jugoslawiendeutschen; über den aberwitzigen Personenkult um Tito und die ausgebliebene Vergangenheitsbewältigung in Jugoslawien, die ähnlichen Exzessen am Ende des 20. Jahrhunderts Vorschub leistete; weiterhin über Willy Brandts Ostpolitik und Michail Gorbatschows
Perestrojka; schließlich leidgeprüfte Gedanken über den Fluch nationalistischer Borniertheit
im Unterschied zur Notwendigkeit eines gesunden Patriotismus. Diese analytischen Betrachtungen sind gerafft und gehaltvoll, sie zeugen von einem reifen homo politicus.
29
Daß der Endredakteur offenbar vergessen hat, das Silbentrennungsprogramm zu aktivieren,
ist ein Wermutstropfen, der aber durch das gefällige, ja faszinierende Äußere des Buches
mehr als aufgewogen wird. Einem Freundschaftsdienst verdanken sich die vier Gemälde des
international bekannten, aus Werschetz stammenden Künstlers Robert Hammerstiel, die
Einband und Vorsatz zieren, auch sie verarbeiten traumatische Lagererlebnisse.
So sind diese wegen ihrer großen Offenheit sympathisch berührenden, spannend geschriebenen und außerordentlich lehrreichen Aufzeichnungen ein Mehrfaches in Einem: Heimatbuch und Autobiographie, Zeitzeugenschaft eines Davongekommenen und Geschichtskompendium, der Versöhnung zwischen Serben und Donauschwaben gewidmetes Vermächtnis,
Mahnmal und Herausforderung für Heutige und Künftige. Kurz: ein pädagogisch überaus
wertvolles und lesenswertes, ein politisch bedeutsames Buch! Nach der bahnbrechenden
Publikation „Ein Volk an der Donau“ von Nenad Stefanović wiederum ein Meilenstein gegen
das Schweigen und Vertuschen in Serbien, aber nicht nur dort! Ein unentbehrliches Hilfsmittel, um eine der schwersten Hypotheken abzubauen, die Europa aus einer unseligen Vergangenheit auch heute noch belastet. Denn trotz Enttabuisierung der Themen Vertreibung und
Völkermord stoßen Versuche der Landsmannschaft, auf den Massengräbern der einstigen
Konzentrationslager Denkmäler zu errichten, immer noch auf Widerstand, immer noch will
ein großer Teil der serbischen Bevölkerung nichts von dem geschehenen Unrecht wissen,
immer noch gibt es keine offizielle Stellungnahme von Regierungsseite zum Genozid an den
Donauschwaben, selbst die AVNOJ-Gesetze, 1942-45 erlassen, um die Jugoslawiendeutschen
zum Abschuß freizugeben, existieren nach wie vor. Stefan Barths Buch ist daher zu wünschen, daß es diejenige Verbreitung findet, die es um der Völkerverständigung, um des Friedens willen verdient.60
3. Ausgewählte Positionen in der jugoslawischen bzw. serbischen oder kroatischen und
ungarischen Literatur
Nach 1945 erlangte das Genre der „Partisanenerzählung“ oder der „Prosa des nationalen
Befreiungskampfes“, wie es in der offiziösen Terminologie heißt, in der Literatur aller jugoslawischen Nationen und Nationalitäten eine außerordentliche Bedeutung. Im sogenannten
„sozialistischen Realismus“ wurde der heldenhafte Abwehrkampf der Partisanen gegen den
Nationalsozialismus verherrlicht, während freilich die Schattenseiten der Vergangenheit fast
vollständig ausgeblendet blieben, was die Schundliteratur ausufern ließ. Über die Verbrechen, die in Jugoslawien aus ethnischen Motiven, aus nationalistischem Wahn, aus Rache,
religiösem Fanatismus und der Gier, sich über das Blut des anderen in den Besitz seines Bodens zu setzen, nicht nur gegenüber Donauschwaben verübt wurden, durfte nach 1945 nicht
gesprochen werden. Tito verordnete denen, die er zur Ausrottung der Deutschen des Landes
legitimiert hatte, und von denen, die sich gegenseitig hatten vernichten wollen und von ihm
daran gehindert wurden – gemeint sind die Serben und Kroaten –, den gleichen nicht mehr
ethnisch, sondern staatsbürgerlich verstandenen Jugoslawismus, eine soziale Utopie des
südslawischen Völkerfriedens, der auch das Schweigen darüber einschloß, was geschehen
war. Die Verteufelung der ausgerotteten Donauschwaben und ihre Gleichsetzung mit dem
faschistischen Feind gehörte ebenso zum Programm der Sowjetisierung Jugoslawiens wie die
alle Südslawen betreffende Auslöschung des Bildungs-, Geld- und Industriebürgertums, die
60
Stefan Teppert: Versöhnende Kraft einer geborenen Mittlerfigur. Lebensbericht eines Donauschwaben, Besprechung des Buches von Stefan Barth: Ein Junge aus der Nachbarschaft, Verlag der Donauschwäbischen Kulturstiftung, München 2007, 323 S., in: Deutscher Ostdienst (DOD), Bonn 2/2008, S. 23 f.
30
komplette Enteignung der serbischen orthodoxen Kirche und Racheakte gegen die kroatische, ungarische und italienische Volksgruppe. Indem Tito planmäßig die Zeugnisse der Geschichte beseitigte, glaubte er eine lichte Zukunft zu begründen. Mit Hilfe der Geheimpolizei
und des Militärs mußte er diesen Zustand aufrecht erhalten. Auch noch lange nach seinem
Tod hielt diese Repression an. An die wahre Geschichte des Landes ist jedoch nach wie vor
nur über das dunkle Kapitel der Vernichtungslager und Massengräber heranzukommen. Nur
so kann das eingeschläferte Gewissen geweckt und die verordnete Amnesie überwunden
werden.
Der Montenegriner Milovan Djilas (1911-1995), zunächst überzeugter kommunistischer Ideologe und Agitator, jahrelang mit hohen Funktionen innerhalb des Bundes der Kommunisten
Jugoslawiens bis hin zur Stellvertretung seines persönlichen Freundes Josip Broz Tito betraut,
dessen Ideologie er theoretisch untermauerte und mit unmenschlicher Härte im Partisanenkampf durchsetzen half, wandelte sich zum kompromißlosen Kritiker des Kommunismus,
worauf es 1954 zum Bruch zwischen den beiden Volkshelden kam. Milovan Djilas verlor seine Ämter und war neun Jahre lang inhaftiert. Lange vor Alexander Solschenizyn und Andrej
Sacharow galt er als Urbild des kommunistischen Dissidenten. Seine Schrift Die neue Klasse.
Eine Kritik des zeitgenössischen Kommunismus (1957) markiert die Wende in der Haltung
des Autors gegenüber der Staatsideologie, insbesondere ihren stalinistischen Deformationen. Djilas’ Grundthese ist, daß der europäische Kommunismus, weit entfernt, die klassenlose Gesellschaft der marxistischen Theorie zu verwirklichen, eine neue auf Herrschaft und
Unterdrückung gegründete Ordnung geschaffen hat. Ihre Träger beschreibt Djilas als „neue
Klasse“, die als Parteibürokratie die Verhaltensnormen der Bürger vorgibt, die Nutzung der
Produktionsmittel administriert und kontrolliert und das gesamte Leben und Denken im
Staat kanalisiert. Gnadenlos entlarvte Djilas den totalitären Alltag im real existierenden
Kommunismus.
Auch der Nobelpreisträger Ivo Andrić (1892-1975) und der große kroatische Schriftsteller
Misroslav Krleza (1893-1981) hatten sich von der Parteidoktrin abgekehrt und ihre eigene
poetische Welt auf Motiven der Vergangenheit aufgebaut. Ihre Romane und Erzählungen
wurden ebenso wie diejenigen von Miloš Crnjanski (1893-1977), Meša Selimović (19101982), Milorad Pavić (1929-2009), Miodrag Bulatović (1930-1991) und Danilo Kiš (19351989) in verschiedene Sprachen übertragen und erreichten die Weltöffentlichkeit.
Diejenigen Werke von serbischen, aber auch kroatischen und ungarischen Erzählern, die sich
thematisch mit den Verbrechen der Parteidiktatur sowie dem tragischen Schicksal der deutschen Bevölkerung und anderer Minderheiten im ehemaligen Jugoslawien beschäftigen und
kritisch auseinandersetzen, weisen inzwischen eine sich über mehr als drei Jahrzehnte erstreckende Entwicklungsgeschichte auf. Sie waren und sind Vorreiter für das Aufbrechen der
kommunistischen Desinformationspolitik, deren lange Arme bis an die Jahrtausendwende, ja
teils sogar bis in die Gegenwart reichen. Diese Werke stehen als Pioniere vor der seit den
neunziger Jahren langsam einsetzenden Debatte in den Medien Kroatiens und später auch
Serbiens. Trotzdem sind auch sie meist nicht frei von verzerrenden oder bruchstückhaften
Darstellungen und einseitigen Schuldzuweisungen. Es ist hier nicht der Platz, alle diese Autoren und Werke ausführlich zu diskutieren, wir können nur kursorisch auf einige der markantesten von ihnen eingehen, soweit sie überhaupt ins Deutsche übersetzt oder für die deutsche Literaturszene rezipiert worden sind. Viele liegen bis heute nur in serbischer Sprache
vor, manche wurden ins Ungarische übersetzt, was die Auseinandersetzung mit ihnen aber
31
für uns nicht wesentlich erleichtert. Auch der vergleichenden Literaturwissenschaft sind sie
daher kaum zugänglich.61
Daran hat selbst die Leipziger Buchmesse im März 2011 nicht viel ändern können. Dort war
Serbien das Schwerpunktland und konnte sich mit 30 neu übersetzten Titeln, darunter vier
umfangreichen Sammelbänden, vorstellen, in denen viele junge Stimmen erstmals zu Wort
kommen. Abgesehen von einer Handvoll Neuerscheinungen moderner Klassiker wie Ivo
Andrić und dem nach zwei Jahrzehnten nach seinem Erscheinen in Serbien ins Deutsche
übersetzten Roman „Mein lieber Petrović“ von Milovan Danojlić war aber die uns interessierende Thematik kaum präsent. Aber die Tatsache, daß die marktbeherrschenden Staatsverlage im früheren Jugoslawien inzwischen kaum noch eine Rolle spielen und durch private
Verleger ersetzt wurden, läßt immerhin für die Zukunft hoffen.
Noch zur Zeit des „sozialistischen Realismus“ und der offenen Polizeidiktatur trat ein Autor
hervor, der sich nicht damit zufrieden gab, auf die sozialistische Umformung der Landwirtschaft einzuwirken, sondern als erster das heikle Thema des heute sogenannten Posttraumatischen Belastungssyndroms aufgrund von Kriegserfahrungen thematisierte und literarisch
verarbeitete. 1957 erschien in Sarajevo der Roman Das Vermächtnis (Molitva za moju Braću,
Sarajevo 1957) des damals gerade 31jährigen Autors Mladen Oljača (1926-1994), der zu den
Jungen der seinerzeitigen Gegenwartsliteratur zählte, aber als Kommunist und Literat bereits
eine Karriere hinter sich hatte. Sein literarisches Werk war sogar mit einem Preis ausgezeichnet worden. Schon als Schüler war er in den Kampf gegen das „volksfeindliche Regime
des alten Jugoslawien“ eingetreten, seine politische Laufbahn setzte sich linientreu als Genosse und Mitglied des Bundes der Kommunisten fort, er wurde 1941 Kommissar eines Partisanenbataillons und dann Wirtschaftsführer im Zentralkomitee des kommunistisch kontrollierten Jugendverbandes.
„Das Vermächtnis“, im Originaltitel „Gebet für meine Brüder“, gehört nicht zu denjenigen
Werken, für die das Nachwuchstalent ausgezeichnet worden war, er durfte zwar erscheinen,
wurde aber dann systematisch totgeschwiegen. Diese zweifellos vom Politbüro gelenkte
Maßnahme ist aus dessen Sicht verständlich, denn Oljača wagt es zwar nicht, das kommunistische System direkt anzugreifen, dennoch setzte sich der Autor über die engen Grenzen der
Parteidoktrin und seiner eigenen ideologischen Herkunft hinweg, unterwarf sich der Stimme
seines Gewissens und machte sich seine eigenen Gedanken, ohne zu fragen, wem sein Buch
gefallen könnte. Der Autor erkannte klar, daß der sozialistische Realismus mit seiner Theorie
von der Konfliktlosigkeit die Möglichkeit der Kritik preisgebe. Wohl wegen dieser
nonkonformen Pionierleistung hat der Donauschwabe Johannes Weidenheim den Roman ins
Deutsche übertragen, er erschien 1962 im Münchner Kindler Verlag.
Oljačas Romanheld, Hauptmann Draschko Jaruga, der aus dem kollektiven Korsett ausbrechen will und schriftstellerische Ambitionen hat, notiert als Alter ego des Autors in sein Ta61
Daher können wir hier etwa auf die Schriftsteller Momir Čalenić mit seinem Roman Tudje godine („Fremde
Jahre“), wo er von den Deutschen in Nadalj erzählt, auf Arsen Diklić mit Salaš u malom ritu („Salasch im kleinen
Ried“), auf Milenko Fudurulja oder auf Vuksan Kenžević mit seinem Roman Heroji i heroji zla („Helden und
Helden des Bösen“), auf die Erzählungen von Aleksandar Kron mit dem Titel Trijumfalna kapija smrti („Das
Triumphtor des Todes“, Gutenbergova galaksija), auf Stevan Radak mit dem Roman Igračke sa poljane („Spielzeug vom Feld“, Vršac) oder Nemanja Rotar mit dem Roman Netrpeljivost („Intoleranz“, Stubovi kulture, Belgrad 2005), auf Miroslav Popovićs Sudbine („Schicksale“), Igor Marojevićs Šnit („Schnitt“, Laguna 2007) oder
Stjepan A. Seder mit seinen Büchern Prvoj smrt, drugoj patnja, trećoj hleb („Dem ersten der Tod, dem zweiten
die Not, dem dritten das Brot“) bzw. Plitki grobovi („Flache Gräber“) gar nicht, auf die Schriftsteller Ivan Aralica,
Mladen Markov und Miodrag Maticki nur indirekt eingehen.
32
gebuch: „Die Kaserne lehrt mich Unterwürfigkeit, doch es gibt keinen schöpferischen Menschen ohne Freiheit. Ich liebe Schriftsteller nicht, die nicht gewagt schreiben, gewagt bis zum
Widersinn. Ein sozialistischer Autor muß nicht immer denken wie das Politbüro. Auch er hat
das Recht, ein Banner zu sein. Ich höre von meinen Freunden, der Stil unserer Nationalliteratur sei nicht immer gut. Unser literarisches Wörterbuch macht den Eindruck des Kastrierten,
des Blutleeren …“62
Jaruga ist der Überzeugung, daß seine Generation eine vollständig geopferte sei. Sie wurde
im blutigen Kampf zur Verwirklichung der kommunistischen Ideale von Freiheit und brüderlicher Gleichheit mißbraucht, um ihre Jugend und ihre privaten Interessen betrogen. Jaruga
gehört zu den tapfersten seiner Brigade, steigt auf; weil die Ideale und die Parolen es so
verlangen, tut er manches und läßt manches geschehen, was seinem natürlichen, von der
bäuerlichen Herkunft geprägten Empfinden widerstrebt. Als erwachsener Mann im Alter von
zwanzig Jahren hat Jaruga nach vier Jahren Okkupation, nach dem Elend des Volksbefreiungskrieges und der Revolution sowie dem Verlust der Eltern noch keinerlei Erfahrung
mit dem weiblichen Geschlecht sammeln können und ist doch bereits menschlich verkrüppelt, unfähig, die grausame Vergangenheit abzuschütteln und eine gelingende Beziehung zu
einer Frau aufzubauen, heimgesucht von den Toten, von Schuldgefühlen, weil er freiwillig
angetreten war, um eine deutsche Spionin zu exekutieren, ein Mann, der den Helden und
Kommunisten herauskehrt, aber von Angstzuständen gefoltert wird, wenn es Abend wird.
Weder die Flucht in die Ehe mit Bojana, der zwei Kinder entsprießen, noch in Liebschaften
mit Marina, Emilia, Ipolita und Brankica können Jarugas Partisanenseele retten. Für den Verrat an seiner Ehe, seinen Kindern und der Partei übt schließlich die Gattin mit einem Revolverschuß auf den wehrlos Schlafenden Vergeltung.
Der ganze Roman wird aus dem Grab heraus von dem erschossenen Helden in Ich-Form erzählt, was ein Rezensent für einen absurd kitschigen Einfall hielt.63 Der Kunstgriff ermöglicht
es dem Autor jedoch, eine freie Sprache zu führen, denn ein Toter ist ohne Furcht und Illusion, also unangreifbar und objektiv, er kann endlich aufrichtig bekennen, was er im Leben
geschickt sogar vor sich selbst zu verbergen wußte.
Novi Sad und die Wojwodina, die Heimat des in Horgoš nahe der ungarischen Grenze geborenen Aleksandar Tišma (1924-2003), ist auch das offene oder kryptische Zentrum seines
Werkes. Die Stadt und die Gegend, in der Serben, Kroaten, Ungarn, Deutsche und Juden zusammenlebten, werden zum literarischen Kosmos, in dem sich das historische Panorama der
europäischen Geschichte mit den Schrecken des 20. Jahrhunderts entrollt: Deportationen,
Vernichtungslager, Folterungen, Massaker, Kriegs-, Besatzungs- und Friedenszeiten werden
im Schicksal einzelner Romanfiguren plastisch greifbar und individuell faßbar. Der Autor war
gerade 18 Jahre alt, als er die Schlüsselerfahrung seines Lebens machte: Kroatische Nazis
massakrierten in seiner Heimatstadt Novi Sad mehr als tausend jüdische Kinder, Frauen und
Männer und warfen die leblosen Körper durch ein Loch in der zugefrorenen Donau in die
eisigen Fluten. „Fünf Bände lang schildert der Autor das Zerbrechen der Zivilgesellschaft …“
(Pentalogie) Umkreisen Die Schule der Gottlosigkeit (1978), Der Gebrauch des Menschen
(1980), Kapo und Das Buch Blam (1983) noch die dreißiger und vierziger Jahre, die Zeit des
Dritten Reiches und die unmittelbare Nachkriegszeit, so greift Die wir lieben bis in die fünfzi62
Mladen Oljača: Das Vermächtnis. Roman, Kindler Verlag, München 1962, S. 92, vgl. auch S. 291 ff.
Heinrich Zillichs Besprechung, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, München 1963, Folge 2, S. 118; vgl.
auch dk.: Ein Gebrannter spricht. Zu Mladen Oljacas totgeschwiegenem Roman „Das Vermächtnis“, in: Volksbote, München, 15.06.1963, S. 7
63
33
ger und schließlich Treue und Verrat bis in die sechziger Jahre des sozialistischen Jugoslawien voraus. In Tišmas zweitem Erzählband Ohne einen Schrei (1980) tritt die Schilderung geschichtlicher hinter die Schilderung existentieller Erfahrung zurück. Tišmas Romane zeugen
von der Zerstörung durch Krieg und Terror einer durch friedliches Zusammenleben zwischen
Deutschen, Ungarn, Serben, Juden und Zigeunern geprägten Gesellschaft, vom Scheitern des
europäischen Humanismus, von der Schuldverstrickung menschlicher Existenz, ohne Hoffnung und ohne Ausweg aus ihrem Gefangensein in reiner Immanenz, aus ihrer Unfähigkeit
zum Glück. Die Frage der Schuld wird nicht expressis verbis aufgeworfen, sondern ist ständig
anwesend, die Erinnerung an eine von Gewalt erfüllte Vergangenheit hält alle Akteure unerbittlich in ihren Klauen. Der Autor richtet jedoch nicht über seine Figuren, er berichtet ohne
Pathos und Sentimentalität, mit „unterkühlter Perfektion“, wie der Mensch den Menschen
als Objekt gebraucht, wie das Schicksal den Menschen zu Boden wirft und ihn zermalmt, wie
am Ende nur Erniedrigte und Beleidigte, Gebrochene und Entwurzelte, an Körper und Seele
Verstümmelte übrigbleiben, Persönlichkeit und Würde vernichtet sind. Den Bürgerkrieg im
zerfallenden Jugoslawien kommentiert Tišma als Folge des Zweiten Weltkriegs, in dem die
deutschen Besatzer den Nationalismus der einzelnen Völker geschürt hätten: „Das Abschlachten von damals ist in den Köpfen geblieben.“ Besonders die Serben hätten darunter
gelitten: „Es war dann auch die Furcht vor der Wiederholung solcher Massaker, welche die
Brutalität bewirkt hat. Furcht inspiriert Terror. Und das Morden unserer Tage wird nicht ohne
Folgen für die Zukunft bleiben.“64
Der Grazer Germanist Anton Scherer kritisierte 1992 den Roman „Der Gebrauch des Menschen“ scharf als tendenziös gegen die Deutschen im allgemeinen und die Deutschen Jugoslawiens im besonderen gerichtet. Im ganzen Buch werde den Donauschwaben keine einzige
positive Eigenschaft zuerkannt. Der Schritt von der Tendenz zur Geschichtslüge sei hier bereits getan. Dem Leser werde die Lüge aufgetischt, daß die in der Wojwodina angesiedelten
Deutschen „im Schutz des erstarkten Dritten Reichs den Serben das fruchtbarste Feld weggeschnappt, geräumige Häuser darauf gebaut und diese mit ihrer scheinbar blutarmen und
schlaffen, jedoch fleißigen und zielstrebigen Brut angefüllt“ 65 haben. Diese offenbare Geschichtslüge werde als historische Tatsache verkauft. Gehässiger und ungerechter als mit der
Auswahl der die Jugoslawiendeutschen typisierenden Figuren im Roman, nämlich einer
ehemaligen Hure und eines von Mordlust erfüllten SS-Manns, könne man die Freiheit und
Autonomie der Kunst nicht mißbrauchen. Der Autor befolge parteiamtliche Direktiven. Das
Massensterben in den jugoslawischen Internierungslagern werde von Tišma vollständig verschwiegen.
Dazu ist zu bemerken, daß Scherer offenbar nicht ausreichend zwischen einer historischen
Darstellung und einer literarischen Aufarbeitung unterscheidet, sonst hätte er beispielsweise
bemerken können, daß in der Figur des Nemanja Lazukić ein aus Bosnien nach Neusatz zugewanderter Serbe dargestellt ist, ein indoktrinierter Chauvinist, der die Deutschen haßt und
sie als seine und seines Volkes Feinde betrachtet, ohne je mit ihnen in Berührung gekommen
64
Franz Hutterer: Die Donauschwaben in der zeitgenössischen serbischen Literatur: Beispiele aus dem Werk
von Aleksandar Tišma, in: Geschichte, Gegenwart und Kultur der Donauschwaben. Texte aus dem Jahresprogramm 1994 der Landsmannschaft der Donauschwaben, Bundesverband, Heft 5, Sindelfingen 1994, S. 85-91
65
Anton Scherer: Zur Frage der politischen Lüge in der Literatur. Betrachtungen zu einem jugoslawischen Roman, in: Geschichte, Gegenwart und Kultur der Donauschwaben. Texte aus der aktuellen Diskussion, herausgegeben von der Landsmannschaft der Donauschwaben Bundesverband, Heft 2, 1992, Sindelfingen 1991, S. 8588; vgl. auch die inhaltsgleiche Zweitveröffentlichung: Ein geehrter Staatspreisträger. Die Republik Österreich
zeichnet einen Donauschwabenhasser aus, in: Der Donauschwabe v. 22.11.1998, S. 6
34
zu sein. Diese Figur ist durchaus als repräsentativ zu verstehen für eine breite Gruppe von
Zuwanderern aus Altserbien in die Wojwodina.
Der 1938 in Ivanovci geborene Milovan Danojlić zählt mit seinem umfangreichen Werk –
das Romane, Essays, Gedichte und Kinderbücher umfaßt – zu den wichtigsten Autoren Serbiens. Zwar lebt er seit 1984 in Poitiers, wo auch der größte Teil seines Œuvres entstand, ist
aber in Serbien sehr präsent. Zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen in der Originalsprache
1990 ist sein Roman Dragi moj Petroviću als erstes Werk dieses im deutschen Sprachraum
bisher unbekannten Schriftstellers endlich auch auf deutsch unter dem Titel Mein lieber
Petrović zu lesen.
Der 1977 aus dem amerikanischen Exil in seinen Geburtsort Kopanja zurückgekehrte pensionierte Universitätsprofessor Mihailo Putnik beschreibt für seinen in Cleveland, Ohio, zurückgebliebenen Freund und Kollegen Steve Petrović in zehn ausführlichen Briefen die Zustände
in ihrer gemeinsamen Heimat, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg Hals über Kopf auf der
Flucht vor dem Zugriff des Bösen verlassen hatten. Auch Petrović will sich nach seinem Arbeitsleben in der alten Heimat zur Ruhe setzen. Die Briefe seines Freundes Putnik sollen ihm
jedoch zur Warnung dienen, es sind Zeugnisse der Desillusionierung, denn in der Fremde
haben die Freunde alles Negative ausgeblendet und sich ein ideales Sehnsuchtsbild der Heimat voller Verklärungen und patriotischer Illusionen geschaffen. Der Rückkehrer Putnik (das
Wort bedeutet: Reisender) analysiert nun eindringlich die unsanfte Kollision seines sentimentalen, hoffnungsfrohen Elans mit der erstarrten Wirklichkeit eines Einparteiensystems,
das Verwahrlosung, Niedertracht und Haß gezüchtet hat und wo weder Putniks Bildung noch
sein importiertes Geld etwas zählen.
Die Briefe verteilen sich über den Zeitraum von 1977 bis 1985, setzen also noch zu Lebzeiten
des Partisanenführers Tito ein und markieren das beginnende Ende der fragilen gesamtjugoslawischen Staatskonstruktion. Jedoch ist von Politik und politischem Personal im Roman
nicht die Rede, er zeigt nur höchst anschaulich, in luziden Beobachtungen, vielfach auch in
essayartigen Passagen und philosophischen Reflexionen die Folgen politischer Orientierung.
Zu der verbreiteten balkanischen Trägheit, die für ein Zeichen von Tiefe und Weisheit gehalten wird, gesellt sich nämlich eine tiefe Depression, die einerseits aus der serbischen Geschichte zu resultieren scheint, vor allem aber aus der jede Initiative und das selbständige
Denken lähmenden kommunistischen Ideologie, was zusammen wie eine Schlafkrankheit mit
Gedächtnisverlust wirkt. So ist der Alltag „eine Mischung aus Stumpfsinnigkeit und Unverständlichkeit“66, Unternehmer werden zermürbt vom Mißtrauen der Behörden, das freie
Leben ist paralysiert von ungeschriebenen Denk- und Sprechverboten, verstellt von den
Wahrern unrechtmäßig erworbenen Besitzes und gewaltsam usurpierter Macht, von den
„Verbrechen, die in der Vergangenheit passiert sind“67, die jedoch niemals aufgearbeitet,
statt dessen verleugnet und verfälscht wurden und so ihren verderblichen Einfluß auf die
Gegenwart behielten. „Die Erinnerungen an das Geschehene haben nicht die Kraft, bis zu
irgendwelchen Schlußfolgerungen durchzuschlagen.“68 Putnik ist anfangs angenehm überrascht von der herrschenden Gleichgültigkeit, muß aber später erkennen, „dass es sich nicht
um Toleranz handelt, sondern um eine tiefe Verachtung gegenüber allem, was der Einzelne
denkt und fühlt“.69
66
Milovan Danojlić: Mein lieber Petrović. Roman, Suhrkamp, Berlin 2010, S. 21
Ebenda, S. 66
68
Ebenda, S. 59
69
Ebenda, S. 67
67
35
So sieht sich Putnik, das schreibende Alter ego des Verfassers, hin- und hergerissen, einerseits möchte er in seinem Volk leben, weil er es liebt, zugleich aber ist er peinlich von ihm
abgestoßen, weil es rückständig und arbeitsscheu, abergläubisch, übellaunig und von heuchlerischem Respekt, ohne Größe und ohne Geistesgrößen, in all seiner Unwichtigkeit aufgeblasen sei, er vermißt die Errungenschaften und Annehmlichkeiten der westlichen Welt. Am
liebsten wäre er daher gleichzeitig in der Heimat und in der Fremde, um Wohlstand und Armut, Freiheit und Einschränkung zugleich auskosten zu können. Aber die heimatliche Realität
läßt seine Wünsche und Hoffnungen, Bestrebungen und selbst seine Gedanken auf ein Minimum zusammenschrumpfen.
In der Figur des pensionierten Gymnasiallehrers für Geschichte Vitomir Lukić zeichnet der
Autor den aufgeklärten kommunistischen Ideologen, der verbissen und für Gegenargumente
– wie etwa Solschenizyns „Archipel Gulag“ – nicht zugänglich an der Verwirklichung des totalen Menschen festhält. Aus einer „dreisten Distanz“70 zerpflückt Danojlić das aus Neid und
Mißgunst geborene Gesellschaftskonstrukt, das in einer allgemeinen gegenseitigen Übereinkunft zur Verachtung von Begabung, Elite und Leistung, zur Drosselung aller Impulse, zur
Zerschlagung des Bauernstandes, zur Erstickung des wirtschaftlichen und geistigen Wettbewerbs führt. Der Autor liefert eine vernichtende Fundamentalkritik am sozialistischen Experiment.
In der Figur des ehemaligen Apothekers Vuk Paligorić dagegen typisiert er den verbohrten
Nationalisten, für den das Serbentum eine unantastbare Größe ist und der mit aggressiver
Arroganz andere Lebensformen, andere Denk- und Fühlweisen nicht gelten läßt. Paligorić
verkörpert die serbische Geistesverwirrung in der Zeit, Kleinmut und Größenwahn in einem,
die Verfangenheit in einem Netz von Täuschungen und Selbsttäuschungen. Was Danojlić hier
an Serbenschelte liefert, ist ein kühles und zugleich leidenschaftliches Bravourstück beißender Selbstkritik. Ein besonders wunder Punkt sei die Ablehnung des logischen Denkens bei
den Südslawen. Das Denken an sich wird im repressiven Staat gar zum Delikt, denn das Denken kann nicht ohne Freiheit bestehen wie auch umgekehrt „die Freiheit ohne das Denken
sinnlos ist“.71 „Die Angst vor der konsequenten Denkweise ist die Angst vor der Wahrheit; wir
haben es uns abgewöhnt, uns mit ihr zu konfrontieren.“72 Auf dem Balkan weiß man nicht,
„bis wohin die Politik reicht, wo die Gewohnheiten und die Bräuche beginnen, wo die Grenze
zwischen Mentalität und Ideologie verläuft“.73 „Die Entschlossenheit, im Selbstbetrug auszuharren, ist neben der Gekränktheit ein bedeutendes Charakteristikum unseres Patriotismus.“74
Danojlićs Roman ist eine melancholisch poetische und zugleich schonungslos kritische Abrechnung mit der Misere seines Landes in politischer, ökonomischer, kultureller, intellektueller und moralischer Hinsicht. Trotz einer rückhaltlosen Bissigkeit, wie sie vielleicht nur ein
Exilserbe zustande bringen konnte, sind die Verbrechen von 1944 bis 1948 nur mit einer vagen Andeutung in die Thematik dieses Romans eingeflossen. Es handelt sich ja immerhin um
Titos Jugoslawien – dessen Name im ganzen Buch übrigens nicht genannt wird –, bevor es in
einem blutigen Bruder-Gemetzel untergehen sollte.
Ivan Ivanji, serbisch-jüdischer Schriftsteller, Publizist und Übersetzer, 1929 als Sohn eines
Ärzteehepaares in Betschkerek geboren, ist Überlebender von Auschwitz und Buchenwald.
70
Ebenda, S. 191
Ebenda, S. 206
72
Ebenda, S. 138
73
Ebenda, S. 169
74
Ebenda, S. 239
71
36
Er studierte Architektur und Germanistik in Belgrad. Über zwanzig Jahre arbeitete er als
Journalist und Dolmetscher für Tito und die jugoslawische Staats- und Parteiführung, trat
aber nach dem Machtantritt von Slobodan Milošević aus der Partei aus. Seine diplomatische
Laufbahn führte ihn u. a. nach Bonn, wo er 1974-78 als Botschaftsrat für Kultur und Presse
fungierte. 1982-88 war er Generalsekretär des jugoslawischen Schriftstellerverbandes. Seit
1992 lebt er in Wien. Seine literarische Karriere begann er mit Lyrik. 1954 veröffentlichte er
seinen ersten Roman über seine Zeit im Konzentrationslager. Seitdem sind Romane und Essays erschienen – wenn auch ohne große Resonanz beim deutschen Publikum. Sein Roman
Das Kinderfräulein (1998) knüpft an den autobiographischen Text „Schattenspringen“ aus
dem Jahr 1993 an, verschmilzt aber historische Fakten mit fiktiven Figuren und Situationen.
Ivanji setzt sich darin mit dem Schicksal der Deutschen im Banat während und nach der Nazizeit auseinander. Aus zum Teil leidvoller Erfahrung rekapituliert Ivanji den geschichtlichen
Hintergrund des Romans: die deutsche Besetzung Jugoslawiens 1941, die Pogrome und Deportationen durch die Nazis, den Widerstand der Partisanen, die militärische Wende und die
Befreiung durch die Rote Armee, die Internierungen und Vergeltungsaktionen durch die
Kommunisten bis hin zum jugoslawischen Sonderweg 1948 und der Absetzung vom Terror
des Stalin-Regimes. Im Mittelpunkt des Romans steht der Lebensweg der Erzieherin Ilse von
Blockberg aus Klagenfurt, eine zwanzigjährige Lehrerin aus verarmtem Adel, die ohne Aussicht auf eine andere Anstellung nun als Kinderfräulein arbeiten will. Mitte der dreißiger Jahre reist sie in eine Kleinstadt im Banat, um im Hause des jüdischen Zuckerfabrikanten Moritz
Keleti dessen Sohn Viktor zu betreuen. Zu jener Zeit leben in dieser mitteleuropäischen Enklave der Wojwodina Deutsche und Juden, Serben und Ungarn, Slowaken und Zigeuner nicht
spannungsfrei, aber in fruchtbarem Austausch und relativ friedlich miteinander, ähnlich wie
dies auch in den Romanen von Milo Dor und Johannes Weidenheim überliefert wird. Ilse
verliebt sich in den deutschnationalen Spediteur Peter Jaksch, der dem SchwäbischDeutschen Kulturbund angehört und die allmähliche Hitlerisierung der Stadt vorantreibt.
Damit ist sie, ohne es zu merken, zwischen die Fronten geraten, die sich kurze Zeit später auf
so krasse Weise bilden werden: ihre jüdische Gastfamilie Keleti einerseits, ihr Volksdeutscher
Geliebter und ihre eigene adelige und deutsche Herkunft andererseits. Damit ist eine tragische Verstrickung vorprogrammiert. Bei der Machtübernahme durch die Nazis wird Keleti
ermordet. Um seine Frau und Viktor zu retten, akzeptiert Ilse die Stelle einer GestapoSekretärin, über deren Schreibtisch Verhaftungsbefehle und Todesurteile gehen. Mit dieser
Hypothek muß sie nachher leben und sich von Viktor den Vorwurf gefallen lassen, sie sei
eine Verräterin und schuld am Tod seiner Eltern. Das Werk beinhaltet bemerkenswerte Reflexionen zu den Fragen von Schuld und Vergebung, privater Erinnerung und öffentlichem
Gedächtnis. Es bringt dem Leser näher, daß Geschichte nicht ein Abstraktum ist, sondern
eine Verstrickung von unzähligen Einzelschicksalen und daß sich Schuldige nicht säuberlich
von Unschuldigen trennen lassen. Dieses Fazit stimmt im wesentlichen mit dem von Johannes Weidenheim überein. Die entscheidenden Differenzen sind herauszuarbeiten.
Wichtig sind auch einige weitere Arbeiten von Ivanji zum Thema, etwa „Vergeltung und
Scham. Das Schicksal der Donauschwaben in der Wojwodina“75. Ivanji bestreitet die systematische Ausrottung der Deutschen nach der Befreiung durch die Sowjets. Im anfänglichen
Chaos seien lediglich nicht genügend Kräfte vorhanden gewesen, um „einzelne wilde und
räuberische Handlungen an schutzlosen deutschen Häusern und Geschäften zu vermeiden“.
75
Skript von Dr. Peter Binzberger. Auch Ivanjis Hörspiel „Rache und Scham. Das Schicksal der Volksdeutschen in
Jugoslawien“, ist hier relevant, gesendet wurde es in WDR 3, Köln, am 25.1.1990 von 21.00 bis 22.00 Uhr (Regie/Produktion: Joachim Sonderhoff; Verantwortlicher Redakteur: Ansgar Skriver; Programmgruppe: Kommentare und Feature; Programmbereich: Politik)
37
Über die Ermordung der Deutschen habe er keinerlei Angaben in den Archiven gefunden. Es
gebe bis heute (1999) nirgendwo Direktiven betreffs der Organisation von Lagern für die
Deutschen. „Vielleicht schmachten noch im Archiv des ZK Berichte über die Untaten oder sie
wurden einfach vernichtet. Vielleicht handelte es sich um abgesprochene Vorgänge, die nie
schriftlich festgehalten wurden.“ Die in ehemals deutschen Dörfern angesiedelten Kolonisten
aus „angegriffenen“ Gebieten Jugoslawiens dürften trotz des Rechts auf Heimat und Eigentum nicht wiederum enteignet und vertrieben werden. Sie lebten bereits in der dritten Generation dort und hätten in ihren Fabriken enorme Summen investiert. Es sei unmöglich, die
alte Ungerechtigkeit mit neuen Ungerechtigkeiten wiedergutmachen zu wollen. Dies dürfe
auch kein Hindernis bei der Absicht Serbiens sein, in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Nach Lektüre einiger donauschwäbischer Erlebnisberichte aus den Lagern (so u. a. Wendelins Grubers „In den Fängen des roten Drachen“) bekannt sich Ivanji
aber dazu, daß „sicherlich auch die Deutschen das Recht bekommen“ sollen, sich an alle auf
diesem Boden begangenen Untaten zu erinnern und so wie alle anderen auch „ihre Toten zu
beweinen“. Ivanji gesteht, nicht zu wissen, wie er damals gehandelt hätte, wäre er in Freiheit
gewesen. „Aber heute erfüllt mich der Gedanke mit Entsetzen und Scham, daß einem deutschen Kind, einem kleinen Mädchen, die Ratten die Zehen an den Füßen abgenagt haben in
einem Lager im Banat, zur gleichen Zeit, als ich in Deutschland ebenfalls in einem Lager war.“
Mladen Markov, der 1934 in Samoš im Südbanat geborene und mit Schwaben in dieser Gegend aufgewachsene Serbe, hat ihre Vertreibung und Internierung miterlebt. Markov kennt
alle maßgeblichen Köpfe der politischen Elite seines Landes. In den 90er Jahren war er selbst
politisch aktiv, war Mitbegründer einer nationalistisch eingefärbten Partei und organisierte
die ersten Massendemonstrationen gegen Slobodan Milosevic. Seine Romane und Kurzgeschichten handeln meist vom Trauma des Zweiten Weltkriegs, oft hat er damit politische
Tabus gebrochen. Er war einer der ersten serbischen Autoren, der die grausame Ausrottung
der deutschen Minderheit nach 1945 thematisierte und die Ressentiments innerhalb des
Vielvölkerstaats Jugoslawien beschrieb. In seinem umfangreichen Werk kommt er breit aufgefächert auf die Schwaben zu sprechen, die Volksdeutschen, die im pannonischen Raum,
wo alle seine Romane und Erzählungen spielen, „einträchtig mit den Serben gelebt“ haben,
selbst in jener Zeit, als das Banat von deutschen Truppen besetzt war. Der Kulturbund
kommt ebenso vor wie die Deutsche Volksgruppe, der Marienbund, Franz Reith, der Polizeipräfekt des Banats, Dr. Spiller und auch Volksgruppenführer Sepp Janko sowie die Aktionen,
die im Banat durchgeführt wurden.
Im zweiten Teil des Buches, den der Autor Mittlere Glocke (Srednje zvono) nennt, steht die
Erzählung Die Vertreibung des Vetter Peter (Proterivanje Tate Petera), in der Markov die
Internierung der Deutschen schildert. Die Betrachtung ist vielschichtig und bleibt mehrdeutig. Im Mittelpunkt steht der serbische Offizier Skakić, der zweifelnd und widerwillig den Auftrag der Internierung (logorizacija) der Schwaben ausführt und dabei eine Verkehrung aller
Verhältnisse erlebt. Die Schwaben, mit denen die pannonischen Serben alles außer der Sprache verbunden hat, sind vertrieben und bleiben dennoch gegenwärtig, die „Hergelaufenen“
Bosniaken, Serbianer und Montenegriner aber, die nun in die fertigen Häuser der Schwaben
einziehen, wirken wie Fremdkörper, mit denen die einheimischen Serben nichts außer der
gemeinsamen Sprache verbindet. Skakić kann die Bilder vergangener Tage nicht abschütteln,
sie bedrängen ihn im Gegenteil immer stärker. In dem Roman Austreibung Gottes
(Isterivanje boga), erschienen 1984 in Belgrad, erzählt Markov über Ereignisse aus dem Jahr
1945, u. a. von dem schwäbischen Bauern Jakob Stuhlmüller, der ausgerechnet von jenem
Serben „Tarojec“ denunziert wird, den er im Krieg versteckt hatte. Markovs zweibändiger
38
Roman Schindanger (Pseće groblje) erschien 1990 in Belgrad und erzählt die Geschichte der
Hermine Deutsch, geborene Huber, die Geschichte des Serben Matija, der Hermine von der
logorizacija bewahren will, sie versteckt und doch nicht retten kann.76
Danilo Kiš, geboren 1935 in Subotica an der jugoslawisch-ungarischen Grenze als Kind eines
ungarisch-jüdischen Vaters und einer montenegrinischen Mutter, gestorben 1989 in Paris,
kann neben Ivo Andric und Milos Crnjanski als der bedeutendste serbische Schriftsteller des
20. Jahrhunderts betrachtet werden. Sein Vater und andere Familienmitglieder starben in
verschiedenen Lagern der Nazis. Kiš überlebte die Okkupation Jugoslawiens durch die Truppen des Dritten Reiches versteckt bei Bauern in Ungarn.
Die Veröffentlichung seines Romans Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch (1976) rief in ganz
Jugoslawien einen Skandal hervor, hinterließ im literarischen Establishment bleibenden Eindruck und beeinflußte entscheidend jüngere Autoren, die in den siebziger Jahren zu schreiben begannen. Als Kiš nach Erscheinen des Buches ein literarischer, de facto aber ein politischer Prozeß gemacht wurde – es ging um seine Kritik am Stalinismus und Nationalismus als
Paranoia – antwortete er, da es ihm verwehrt war, in der Presse Stellung zu nehmen, mit
dem fulminanten Essay Anatomiestunde (Čas anatomije, 1978) und verließ seine Heimat.
Von 1979 bis zu seinem frühzeitigen Tod 1989 lebte er in Paris. In seinem Werk, dessen geschichtlicher Hintergrund der Holocaust in Mitteleuropa und der stalinistische Terror sind,
begibt er sich auf Spurensuche im vernichteten Kontinent Pannonien („ich evoziere nur Erinnerungen“). Neben ihren einstigen Nachbarvölkern und vor allem der jüdischen
Intelligentzija Mitteleuropas werden auch die Schwaben bzw. Folksdojčeri genannt. Jahre
seiner Kindheit war Kiš in der Neusatzer Bem-Gasse, der Deutschen-Gasse aufgewachsen,
seine Lehrerin hieß Fräulein Fanni, sein Freund Fredi Fuchs, genannte Atza der Lange war ein
„Volksdeutscher“.77 In seiner ironisch als „Familienzirkus“ betitelten Trilogie, zu der neben
Frühe Leiden (Rani jadi, Belgrad 1969) und Garten, Asche (Bašta, pepeo, Belgrad 1965) der
Roman Sanduhr (Peščanik, 1972) gehört, betätigt sich Kiš mit seiner „Ethik und Poetik des
Details“ als Archäologe, Archivar und Rekonstrukteur einer verschwundenen Welt, der gegen
das Vergessen anschreibt. Die geheime Hauptfigur, der verrückte Luftmensch und Erfinder
internationaler Fahrpläne Eduard Sam, geistert mit Brille, Stock und schwarzem Gehrock
durch den Roman, bis er ein schreckliches Ende im Lager nimmt. In dem Erzählungsband
Enzyklopädie der Toten (Enciklopedija mrtvih, Zagreb 1983) geht es um die Würde und Einzigartigkeit noch des unscheinbarsten Menschenlebens. Danilo Kiš war für den LiteraturNobelpreis nominiert, doch kam sein Tod der Verleihung zuvor.
Kaća Čelan, Jahrgang 1956, schrieb ihr Theaterstück Heimatbuch (1989) aus Angst, sie könnte vergessen, woher sie kommt. Die ersten sieben Jahre ihres Lebens verbrachte sie nämlich
im ehemaligen Parabutsch (heute Ratkovo) in der Obhut einer volksdeutschen Familie. Ihre
Eltern waren als Kroaten aus Bosnien in die Batschka zugezogen und knüpften eine „große
Freundschaft“78 mit der donauschwäbischen Familie. Kaća Čelan studierte in Sarajevo an der
Philosophischen Fakultät vergleichende Literatur- und Theaterwissenschaft sowie Schau76
Franz Hutterer: Die Donauschwaben in der zeitgenössischen serbischen Literatur: Beispiele aus dem Werk
von Mladen Markov, in: Geschichte, Gegenwart und Kultur der Donauschwaben. Texte aus dem Jahresprogramm 1992 der Landsmannschaft der Donauschwaben, Bundesverband, Heft 3, Sindelfingen 1993, S. 107-112
77
Danilo Kiš: Frühe Leiden, München 1989, S. 10
78
Anton Scherer: Kaća Čelans „Heimatbuch“. Eine Parabutscher Kroatin setzte den Donauschwaben ein literarisches Denkmal, in: Der Donauschwabe v. 7.10.2001, S. 5; vgl. auch Kaća Čelan, in: Dürener Illustrierte 05/2006;
Die letzte Geschichte und ein neuer Anfang. Kaća Čelan und ihr Exiltheater in Düren, in: Geschichte, Gegenwart
und Kultur der Donauschwaben. Texte aus dem Jahresprogramm 1995 der Landsmannschaft der Donauschwaben Bundesverband, Sindelfingen 1995, Heft 6, S. 118-122
39
spielkunst. Später war sie dort Regisseurin am selbst gegründeten „Amfiteatar“ und Professorin an der Akademie für szenische Künste. Nach dem Ausbruch des Krieges im ehemaligen
Jugoslawien flüchtete sie zunächst nach Slowenien, anschließend nach Deutschland. Während ihres Aufenthalts im Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich als Stipendiatin des Kultusministeriums Nordrhein-Westfalen gründete und leitete sie das Theater TAS im Exil und die
Celan-Theaterschule auf Schloß Burgau bei Düren. Für ihre aufsehenerregenden gesellschaftskritischen Dramen und Hörspiele sowie ihren Gedichtband „ICH UND DU“ erhielt die
Autorin mehrere Preise. Heute lebt sie als Theaterwissenschaftlerin, Autorin und Regisseurin
in New York.
Schon als Kaća Čelan zum Studium nach Sarajevo kam, nahm sie sich vor, ein Buch über jene
Leute zu schreiben, die sie voller Liebe auf den Arm nahmen, als sie ein Kind war. So ist das
Theaterstück „Heimatbuch“ entstanden, geschrieben in Moskau, Subotica, Belgrad, Sarajevo
und beendet in Deutschland. Das Stück spielt in Gakowa, einem Vernichtungslager für Donauschwaben in der nordwestlichen Wojwodina, zu Frühlingsbeginn des Jahres 1946. Im
Hungerlager sind 15.000 Deutsche interniert. Dargestellt wird die ohnmächtige Endstation
der unschuldig schuldig Gewordenen. Es handelt sich dabei um das erste künstlerische Werk
– und wahrscheinlich auch das einzige – im ehemaligen Jugoslawien, das sich ausschließlich
mit dem Schicksal der im Land gebliebenen Volksdeutschen beschäftigt, wenn auch von einem „verspäteten Zeugen“ geschrieben. Immerhin war das Thema bis zur Erstaufführung des
Stücks „Heimat“ 1988 am Nationaltheater der serbischen Stadt Subotica auf jugoslawischen
Bühnen tabu, kam aber dann auch in Zagreb, Belgrad und Sarajevo zur Aufführung. Mit großem Erfolg wurde es damals auch in Mühlheim an der Ruhr und im April 1997 unter dem
Titel „Heimatbuch“ am Bonner Schauspielhaus aufgeführt. Im Jahr 2006 inszenierte die Autorin selbst ihr Stück am TAS-Theater auf Schloß Burgau. Sie vertritt übrigens die Ansicht, das
Schicksal nationaler Minderheiten gehöre in den „Spielen der Sieger und der Mächtigen“ zu
den allergrößten Problemen und werde als unversiegbares Thema das neue, also unser jetziges Jahrhundert begleiten. „Heimatbuch“ bedeutet einen Meilenstein für die Wahrnehmung
des Genozids an den Donauschwaben in der jugoslawischen, aber auch in der deutschen
Öffentlichkeit. Für das Stück „Heimatbuch“ wurde Kaća Čelan 1995 mit dem Dramatikerpreis
der Theatergemeinden Deutschlands ausgezeichnet.
Nenad Stefanović, geboren 1961 in Belgrad, Redakteur der Zeitung Politika, Journalist und
Romanautor, war langjähriger Befürworter eines Dialogs mit den aus Jugoslawien vertriebenen Deutschen, bevor er im Herbst 1995 am Chiemsee, in Sindelfingen und Tübingen unzensierte Gespräche mit zwölf donauschwäbischen Zeitzeugen führen und damit ein in Serbien
jahrzehntelang herrschendes Tabu weiter aufweichen konnte. Kriegsdienst, Enteignung, Vertreibung, die bestialische Rache der Sieger, die Internierung in Arbeits- und Todeslagern in
Jarek, Rudolfsgnad, Gakowa, Sombor und anderen Orten, aber auch die Hilfeleistung zwischen den Angehörigen verschiedener Völker und das Heimweh werden von Augenzeugen in
autobiographischer Realitätsnähe dargestellt, die bis dahin in serbischen Publikationen nicht
vorgekommen war. Die Berichte geben Einblick in individuelle Schicksale, die der These von
einer Kollektivschuld widersprechen. Zusammen mit Kommentaren und kurzen geschichtlichen Abhandlungen sind diese Gespräche unter dem Titel Jedan svet na Dunavu Ende 1996
zunächst in serbischer Sprache erschienen, finanziert von serbischen Akademikern in Stuttgart und Umgebung. Dieses Buch wurde zum damals wichtigsten Mittel, die serbische Öffentlichkeit aufzuklären und wachzurütteln. Tatsächlich erfüllte es die Rolle eines Augenöffners und Eisbrechers. Schon ein Jahr später konnte der Band auch in deutscher Sprache unter dem Titel Ein Volk an der Donau. Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien unter dem
40
kommunistischen Tito-Regime erscheinen. Das Buch stellt nach Dutzenden von Romanen,
Novellen, Feuilletons, Interviews und Artikeln und neben Studien von Wissenschaftlern wie
Vladimir Geiger und Zoran Žiletić die ersten Dokumentation von serbischer Seite dar, die
vorausgegangene Darstellungen des Genozids an den Deutschen Jugoslawiens von donauschwäbischer Seite nicht nur bestätigt und fortsetzt, sondern um die spezifisch serbische
Sicht erweitert. Dabei gewinnt die neue Einsicht an Raum, daß die Deutschen nicht die
Hauptschuldigen an der Verfolgung der Serben gewesen seien, sondern vielmehr die kroatische Ustascha. Die Angehörigen der deutschen nationalen Minderheit hätten sich im Gegenteil vielfach bemüht, den Ustascha-Terror zurückzudrängen und aufzuhalten. Die Deutschen
hätten nach dieser Einschätzung für die Sünden anderer büßen müssen und ihr Leidensweg
sei zum Fundament geworden für die in der Folge verbesserten Beziehungen zwischen Kroaten und Serben. Das Problematische an dieser wohl nicht ganz falschen Revision der Geschichte ist es allerdings, daß der Wille zu neuer Versöhnlichkeit auf der einen Seite mit dem
Aufbrechen neuen Hasses auf der anderen erkauft wird. Auf gegenseitige Hilfeleistungen
zwischen Deutschen und Serben weisen mehrere Erlebnisberichte hin. Von den vor mehr als
50 Jahren erlassenen diskriminierenden Gesetzen hat sich Jugoslawien jedoch bis heute
nicht losgesagt. Interessant ist auch die Feststellung in einem Nachwort von Goran Nikolić,
daß in der Nachkriegszeit bis zur Öffnung der jugoslawischen Grenzen und dem Beginn des
deutschen Wirtschaftswunders ca. 70.000 Angehörige der deutschen Minderheit durch
Umdeklarierung zu Magyaren, Kroaten und Serben in Jugoslawien assimiliert wurden und
nachweislich am öffentlichen Leben des Landes aktiv teilnahmen, teils sogar an hervorragenden Stellen in Staat und Parteiapparat als Verfechter des „Proletarischen Internationalismus“. Beipflichten muß man dem resümierenden Satz: „Die kommunistischen Verbrechen
an Deutschen müssen genauso als verwerflich gelten wie die NS-Verbrechen und sollten dieselbe Beachtung finden.“79
Das Erscheinen dieses Buches hat offensichtlich eine Wandlung angestoßen. Bei einer Präsentation in der Bücherei in Zrenjanin/Betschkerek80 sind, wie der Autor selbst es schildert,
Repräsentanten der damals demokratischen lokalen Regierung anwesend. Ein Raum im Oberen Geschoß ist vollgestopft mit Menschen. Viele Besucher stehen im Korridor und den Toreingängen. Es herrscht spannungsgeladene Stille. Nach der Lesung wagt niemand, Fragen zu
stellen, weil ein einstiger Lagerwächter im Publikum ist. Die zehn anwesenden Lagerinsassen
von einst erkennen ihn. Doch ihre Angst ist unbegründet, der pensionierte Wächter ist inzwischen machtlos und verläßt die Veranstaltung in der Pause. Jetzt erst reden die Leute ohne
Unterlaß. Auch die Regierungsvertreter können nicht unbeeindruckt sein. Stefanović fragt sie
am Ende des Abends, ob sie der Errichtung eines Denkmals im Lager Rudolfsgnad zustimmen
würden. Dort wurden 11.000 donauschwäbische Opfer in Massengräbern verscharrt, meist
Alte und Kinder. Die Politiker stimmen zu und halten ihr Versprechen. Die Gedenktafeln haben ein neues Verhältnis zwischen den einstigen und den jetzigen Rudolfsgnadern eingeleitet. Sie besuchen sich gegenseitig, halten gemeinsame Mittagessen ab, haben die Friedhofskapelle renoviert und eine gemischte serbisch-deutsche Gesellschaft zur Erhaltung der
Denkmäler gegründet.
79
Nenad Stefanović: Ein Volk an der Donau. Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien unter dem kommunistischen Tito-Regime. Gespräche und Kommentare serbischer und deutscher Zeitzeugen, Übersetzung ins Deut2
sche von Oskar Feldtänzer, 1997, Donauschwäbische Kulturstiftung, München-Eggenfelden-Belgrad 2004, S. ?;
vgl. Julia Schiff: Besprechung „Ein Volk an der Donau“, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 2001/4, S.
80
Geschichte des Entstehens des „Eisbrecher” Buches: Ein Volk an der Donau, donauschwabenusa.org/2008_oktober_ardi_dialog_symposium.htm
41
Die Literaturkritikerin Nadežda Radović sieht das Ganze trotz der positiven Entwicklungen
skeptischer. Sie schreibt in einer Besprechung des in Rede stehenden Buches im Jahr 2007:
„In dem Land, wo nur eine Wahrheit gepflegt wurde, in dem das Monopol über die historische Wahrheit ein halbes Jahrhundert lang nur die Sieger besaßen, in dem weder über ihre
Fehler, geschweige denn über ihre Verbrechen ein Wort gesagt werden durfte, da bahnte sich
‚Ein Volk an der Donau’ nur langsam seinen Weg. Trotz der großen Wertschätzung dieses
Buches bin ich nicht überzeugt, daß es – genauso wenig wie zahlreiche andere Bücher, die
danach geschrieben wurden – die historische Ungerechtigkeit korrigiert hat, noch daß der
systematisch gepflegte Haß gegenüber den Deutschen verringert wurde. Der Spruch ‚Ich hasse dich als Deutschen’ ist weiterhin gebräuchlich. Damit die Ideen des Buches Wirkung zeigen, ist es notwendig, daß die Regierung hinter diesen Ideen steht und das tut, was sie den
unschuldigen deutschen Kindern schon seit sechzig Jahren schuldig ist: sich zu entschuldigen,
die völkermörderischen Entscheidungen des AVNOJ (Anm. Teppert: AVNOJ steht für ‚Antifaschistische Ratsversammlung für die Befreiung der Völker Jugoslawiens’, gegründet am 26.
November 1942 zur Verwaltung von Gebieten unter Partisanenherrschaft) außer Kraft zu
setzen, ihnen das Vermögen ihrer Vorfahren zurückzugeben, ihre Leiden anzuerkennen. Es ist
notwendig, daß die Medien offen über das Unrecht, das ihnen zugefügt wurde, berichten. Die
Stimmen der ehrlichen Aktivisten sind nur ein Tropfen der Wahrheit im Meer von Lüge, hinterhältigem Schweigen, Vertuschen und Verantwortungslosigkeit.“81
Was Frau Nadežda Radović hier anmahnt, ist unleugbar richtig. Aber erst, wenn genug Druck
von unten entsteht, werden auch die Politiker handeln müssen. Immerhin hat das Buch Ein
Volk an der Donau in Serbien sechs Auflagen mit 15.000 Exemplaren erlebt, für dieses kleine
Land mit knapp 7,5 Millionen Einwohnern ist das recht ansehnlich und läßt den Hunger nach
Wahrheit erkennen. So gesehen ist es doch ein gewisser Durchbruch gewesen. Auch in
Deutschland mußte übrigens 2004 eine zweite Auflage gedruckt werden, in den Vereinigten
Staaten erschien 2007 die Übersetzung ins Englische.
Stefanović hat mit dem in Form eines Reiseberichts zu den Donauschwaben in Amerika verfaßten Band Erde im Koffer (2007) gewissermaßen den Fortsetzungsband zu Ein Volk an der
Donau geliefert, und in seiner Novelle Der Doktor hört Swing (2009, liegt bisher nur in serbischer Sprache vor) befaßt er sich abermals, zwar fiktiv, aber doch realitätsnah und solide
recherchiert, mit dem Schicksal der Donauschwaben im Vernichtungslager Rudolfsgnad,
stellvertretend also insgesamt mit der grausamen Behandlung der deutschen Minderheit in
Jugoslawien durch die Tito-Partisanen. Stefanović erhielt für diese Erzählung den Liplje-Preis,
eine Auszeichnung der internationalen Buchmesse im bosnischen Banja Luka. Seine Erzählung wurde zum „Buch des Jahres in serbischer Sprache“82 gekürt.
Mit seinem Roman Fremde im eigenen Haus (1991) gibt Juro Marčinković, geboren 1942 in
Belice/Bosnien als achtes von dreizehn Kindern, gibt der Autor gleich anfangs Anlaß zu Irritationen. Wegen widersprüchlicher Angaben ist der Ort unweit von Neusatz, wo die Handlung
1945 beginnt, logisch nicht vorstellbar. Auch mit Klischees und geschichtlichen Halbwahrheiten arbeitet der Autor, der in Eutingen bei Karlsruhe als Franziskanerpater lebt und von seinem Anliegen getragen ist, die Einheimischen unbedingt besser über das leidvolle Schicksal
der Vertriebenen aufzuklären. So versucht Marčinković, eine ihm wohl exemplarisch erscheinende Geschichte von dem neunzehnjährigen Iwan und Maria zu erzählen, die sich als
Waisen auf der Flucht im Zug nach Deutschland kennenlernen, heiraten und ein ansehnli81
Nadežda Radović: Nenad Novak Stefanovićs Erde im Koffer, Belgrad 2007, übersetzt von Stefan Barth, Gesellschaft für serbisch-deutsche Zusammenarbeit, http://www.drustvosns.org
82
www.donauschwaben-ooe.at unter dem Artikel „Ein Volk an der Donau“
42
ches Haus bauen, bis sie nach zehn glücklichen Ehejahren von Verleumdung, Mißtrauen und
Neid seitens der Einheimischen getroffen werden. Die Ehe zerbricht, weil Iwan der Einflüsterung glaubt, seine Frau habe ihn mit seinem Freund betrogen, er erhängt sich, und Maria
widmet sich hinfort der Caritas, den Vertriebenen und den Umsiedlern. Herausgekommen ist
eine einfache, seelsorgerisch durchwirkte Geschichte, Erbauungsliteratur mit traktathaften
Einschüben und, vor dem Hintergrund der zweihundertjährigen Geschichte der Donauschwaben in Pannonien, einem Gemisch von Angaben zu Ereignissen um das Jahr 1945, von
Stationen einer kinderreichen Familie bis zum Einbruch ihres Unglücks. Trotz der möglicherweise guten Absicht, die dahintersteckt, leistet dieses Buch weder in aufklärerischer noch in
polemisch antiideologischer Hinsicht einen besonders neuartigen oder weiterführenden und
ist daher auch als Beitrag zur Aufarbeitung von Schuld und der Wegbereitung für Versöhnung als marginal zu betrachten.
Marian Nakitsch, 1952 im kroatischen Novska geboren, ein deutsch schreibender kroatischer Lyriker von eigenwüchsiger lyrischer Ausdruckskraft, der eine lange tragische Liebe zu
Deutschland hegte, bevor er im Land seiner Sehnsucht leben durfte, hat sich ausdrücklich als
Donauschwabe bekannt und schreibt u. a. in seinem ersten Gedichtband Flügelapplaus
(1994) Gedichte über den Leidensweg der Donauschwaben in jugoslawischen Vernichtungslagern wie z. B. Rudolfsgnad. Nakitsch vollzog seine Nationalitätenwende, als er schon erwachsen war, weil im damaligen Kroatien das Kroatentum unterdrückt war, weil Land und
Sprache von den Serben besetzt waren und weil dem kroatischen Volk ohnehin „eine Vorliebe für das Deutsche eigen ist“83, so Nakitsch wörtlich in seinem Bekenntnisschreiben „Mein
Verhältnis zu den Donauschwaben“. Seine allmähliche innere Wandlung zu einem Deutschen ging einher mit einer zunehmenden Entfremdung von seinem kroatischen Umfeld,
Mißhandlungen durch die serbische Volksmiliz und die Einbürgerung seiner schon seit Ende
er sechziger Jahre in Deutschland weilenden Familie haben diesen Prozeß beschleunigt. Als
Nakitsch 1987 durch eine Artikelserie in der Agramer Zeitung „Danas“ und der Belgrader
„Nin“ auf das Schicksal der Volksdeutschen in seiner Heimat stößt, nimmt ihn das mit Haut
und Haaren gefangen und läßt ihn diese Menschen als seine wahren Landsleute erleben. Als
deutschsprachiger Schriftsteller, der sich die deutsche Sprache autodidaktisch angeeignet
hat, versuchte Nakitsch, „ihre Leiden zu erben“84, indem er sich eingehend mit ihrem Schicksal befaßte und darüber Gedichte voller Empathie und poetischer Kraft schrieb. Nachdem
man Marian Nakitsch die Aufenthaltsgenehmigung aus gesundheitlichen Gründen lange
verweigert hatte, konnte er schließlich doch noch seine Einbürgerung erreichen und lebt seit
1994 als freier Schriftsteller in Deutschland, zuerst in Werl, seit 1996 in Berlin. Nakitsch ist
Mitglied des Verbands Deutscher Schriftsteller. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, u. a.
1995 den Andreas-Gryphius-Förderpreis und 1996 den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis.
Miodrag Maticki, Sohn eines Popen, erzählt in mündlicher Tradition von Kudritz, von Veliko
Središte, von Margita im Umkreis von Werschetz, thematisiert die entfesselte Habgier der
Partisanen und Zigeuner, die Plünderungen in deutschen Häusern, grausame Einzelschicksale, die Evakuierung der Deutschen in letzter Minute, einen Flüchtlingstreck, Massenexekutionen, Internierungslager und Massengräber sowie landsmannschaftliche Treffen der Donauschwaben in Österreich. Es kommt sogar zur Sprache, daß die Banater Deutschen die Schulden anderer bezahlen mußten. „Der Roman Matickis Die Deutschen gehen (1994) wird von
83
Marian Nakitsch: Mein Verhältnis zu den Donauschwaben, in: Geschichte, Gegenwart und Kultur der Donauschwaben. Texte aus dem Jahresprogramm 1995 der Landsmannschaft der Donauschwaben, Bundesverband,
Heft 6, Sindelfingen 1995, S. 81
84
Ebenda
43
der Revolte über das ein halbes Jahrhundert und mehr andauernde Totschweigen über die
ideologische Fälschung des bösen Schicksals derjenigen Jugoslawiendeutschen getragen, die
glaubten, das Banat nach dem Abzug der deutschen Wehrmacht im Oktober 1944 nicht verlassen zu müssen, da sie reinen Gewissens waren. Sie hatten dabei jedoch – wie der Großteil
der übrigen Bevölkerung des Banats auch – die Gefahren des Totalitarismus stalinotitoistischer Prägung verkannt.“85 Matickis apolitischer Roman beinhaltet keine Polemik gegen das Regime oder die mit ihm konformen Feuilletonisten, Filmographen oder Geschichtsschreiber, sondern hat wohl eher seinem Verfasser ermöglicht, sich vom Druck seiner Kindheitserinnerungen freizuschreiben. Nach Žiletić hat Matickis Historiographieren des Tabuierten aus den Umbruchzeiten des AVNOJ-Jugoslawien die Funktion des Lückenschließers.
Maticki werbe um die Opfer der anarchischen Zeiten ohne Verständnis für ihre Urheber.
Ivan Aralica, geboren 1930 im dalmatinischen Promina bei Knin, einer der bedeutendsten
Exponenten der kroatischen Literatur in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts,
hat sich mit dem Schicksal der Donauschwaben beschäftigt, wenn auch nur vorübergehend
und fragmentarisch. Nach einigen schwachen Romanen im Stil des sozialistischen Realismus
gehörte Aralica zu den Befürwortern einer größeren Unabhängigkeit Kroatiens vom kommunistischen Jugoslawien. Die gewaltsame Unterdrückung dieser nationalen Bewegung 1971,
auch „Kroatischer Frühling“ genannt, und seine spätere berufliche und soziale Degradierung
veranlaßten Aralica, zu seinen katholischen Wurzeln zurückzukehren. Er wandte sich ab von
doktrinärer Propagandaliteratur und entwickelte seine eigenen literarischen Anschauungen,
beeinflußt vor allem von Ivo Andric, Thomas Mann und Knut Hamsun. Interessanterweise
war er als Dalmatiner der erste kroatische Literat, der das heikle Thema der Volksdeutschen
aufgriff. Er schreibt über die serbischen Orthodoxen, die nach dem Krieg in das Dorf Berak in
Slawonien kamen, die Häuser der verjagten Deutschen und deren Land als Kämpferpension
bekamen. Sie hatten die Macht, kamen sich deshalb wichtig vor und führten sich entsprechend hochnäsig auf. In Aralicas Erzählung Dreirosengasse (1992) geht es um das Flüchtlingsschicksal der kroatischen Bosniakin Marta Ivosević und ihrer Familie, die aus den armen
Landesteilen kommt und auf der Suche nach einem besseren Leben Ende der sechziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts nach Slawonien einwandert. Dort allerdings wird sie überall fortgejagt oder findet verschlossene Türen vor. Ausgerechnet in der ärmlichen Behausung einer
alten Schwäbin, bei „Tante Tereza“ in der Dreirosengasse, die wie durch ein Wunder in Berak
zurückgeblieben ist, obwohl ihr gesamtes Volk verjagt wurde, findet sie jahrelang, über deren Tod hinaus eine Bleibe, nur weil sie nicht mit der angesagten Formel „Hallo Genossin“
grüßte, sondern aus alter Gewohnheit mit „Gelobt sei Christus“. Ganz gezielt bringt Aralica
das Schicksal der heimatsuchenden Bosnier mit jenem tragischen und verhängnisvollen
Schicksal der heimischen Schwaben, verkörpert in Tante Tereza, in Verbindung und verdeutlicht so die Geschichte einer fortlaufenden pannonischen Tragödie. Die durch Kriegsgewinn
reich und mächtig gewordene Schicht der orthodoxen Serben bedienstet die ärmeren Zugewanderten und schürt damit einen alten, nun wieder aufflammenden Konflikt. Das kroatische Fernsehen hat 1992 nach dieser Vorlage eine gleichnamige Verfilmung unter der Regie
85
Zoran Žiletić: „Die Deutschen gehen“ Miodrag Matickis. Der Leidensweg der Deutschen aus Veliko Središte
und Werschetz vom Oktober 1944 und kurz darauf als literarischer Stoff, in: Geschichte, Gegenwart und Kultur
der Donauschwaben. Texte aus dem Jahresprogramm 1995 der Landsmannschaft der Donauschwaben Bundesverband, Sindelfingen 1995, Heft 6, S. 92-106, hier S. 102; vgl. auch: Helmut Frisch: Idu Nemci – Die Deutschen
gehen. Eine außergewöhnliche Buchbesprechung, in: Der Donauschwabe v. 29.10.1995, S. 5, 11; Maria Moser:
Die Deutschen gehen. Herr Maticki, sein Buch und Groß-Sredischte, in: Der Donauschwabe v. 20.4.1997, S. 5
44
von E. Galić ausgestrahlt. Der Streifen wurde dem Publikum bei den Tagen des kroatischen
Films damals vorgestellt.86
Prof. Dr. Zoran Žiletić, geboren 1933 in Belgrad, hat sich als einer der wenigen serbischen
Wissenschaftler mit dem Thema der Donauschwaben gründlich befaßt und nimmt eine Position jenseits von Vorurteil, Ideologie und einseitiger Betrachtung ein, die es ihm ermöglicht,
einige Defizite in der Geschichtsschreibung sowohl auf donauschwäbischer als auch auf serbischer Seite aufzuzeigen. Žiletić verfaßte mehrere Beiträge über die Fälschung der donauschwäbischen Zeitgeschichte von 1945 bis zum Fall des Milošević-Regimes. Die Jugoslawiendeutschen waren bis 1991 eines der Tabuthemen der stark eingeschränkten Öffentlichkeit
und somit auch kein Thema für die jugoslawische Germanistik seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs. In der Belgrader Germanistik wurden sie erst 1992 Gegenstand eines von Žiletić
veranstalteten halbsemestrigen Spezialkurses über ihre Ansiedlung, ihre Herkunft und ihre
kulturelle Leistung bis zu ihrer Vertreibung. Um einen in Ansätzen schon begonnenen Rehabilitierungsprozeß den Donauschwaben gegenüber fortzusetzen und zu verstärken und der
Indoktrinierung entgegenzuwirken, plädiert er dafür, das Thema im akademischen Unterricht anzubieten. Vor allem müsse die Geschichte der Donauschwaben in der Wojwodina
auch eingebettet in die Sowjetisierung Jugoslawiens und vernetzt mit den parallel laufenden
Leidenswegen anderer Volksgruppen dargestellt werden, so seine Forderung. Ebenso dürften sich die Medien in Serbien nicht mehr an den tief eingefressenen, von ehemaligen Instituten für die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung gefälschten geschichtlichen
Gegebenheiten orientieren. Erst wenn eine ideologiefreie Geschichtsdarstellung vorliege
und gelehrt werde, werde man aufhören, die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und
die Donauschwaben für den serbischen Erzfeind zu erachten. Nur so könnten die Voraussetzungen für die serbische Wiedereingliederung in Europa geschaffen werden.
Žiletić stimmt mit donauschwäbischen Historikern darin überein, daß die WojwodinaDeutschen nicht so sehr wegen ihrer Rolle während der Kriegsjahre, besonders seit der Okkupation Jugoslawiens 1941, entrechtet, enteignet und ausgerottet wurden, sondern vor
allem wegen ihres beträchtlichen Vermögens an Geld, Grund und Boden, Häusern und
Sachwerten. Dieses Vermögen wurde zum Aufbau der neuen kommunistischen Gesellschaftsordnung, zur Einführung der Kollektivwirtschaft benötigt. Verdiente Partisanenkämpfer konnten mit guten Häusern und fruchtbarem Boden belohnt werden, man erlangte so
problemlos das wirtschaftliche Übergewicht und konnte zugleich die Macht des neuen Regimes stabilisieren. Indem man den Wojwodina-Deutschen alle Schuld in die Schuhe schob
und sie ihrer Geschichte beraubte, entschuldigte man auf der anderen Seite die Verbrechen
von Kroaten und Albanern, die auf diese Weise in den neuen Staatsverband einbezogen
werden konnten. Gerade die Deutschen wären für das neue System wegen ihres Vermögens
am wenigsten zu gewinnen gewesen, außerdem waren sie als Kriegsverlierer und Angehörige des bis 1949 im gesamten Europa für vogelfrei erklärten deutschen Volkes eine leichte
Beute. Dem großserbischen Nationalismus hingegen mißt Žiletić keine tragende Rolle bei der
Vernichtung des Deutschtums in Jugoslawien durch Titos Partisanen bei.
Seit ihrer Gründung 1991 in der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste bis
2001 war Prof. Žiletić Vorsitzender der Gesellschaft für deutsch-serbische Zusammenarbeit,
zu deren Aufgaben auch die ideologisch unverkrampfte Aufarbeitung der jüngsten Geschich86
Vladimir Geiger (Zagreb/Agram): Das Schicksal der Donauschwaben in der Erzählung „Dreirosengasse“
(„Kokak triju ruža“) des kroatischen Schriftstellers Ivan Aralica, in: Geschichte, Gegenwart und Kultur der Donauschwaben. Texte aus dem Jahresprogramm 1993 der Landsmannschaft der Donauschwaben, Bundesverband, Heft 4, Sindelfingen 1993, S. 179-181
45
te Jugoslawiens und seiner Donauschwaben gehört. Žiletić wandte sich mit Vorträgen über
die Ansiedlung der späteren Donauschwaben gegen die herrschende Meinung, sie sei ein
Germanisierungsakt gewesen, und gegen eine fast ein halbes Jahrhundert andauernde Verteufelung alles Deutschen. Die Gesellschaft konnte auch die Erlaubnis erwirken, auf Massengräbern von Deutschen wie in Rudolfsgnad Gedenktafeln zu errichten und Gedenkfeiern im
Beisein hoher kirchlicher Würdenträger und unter Anteilnahme der Öffentlichkeit zu organisieren. Dank dieser Pionierarbeit konnten in der Folge, wenn auch mitunter gegen heftigen
Widerstand, auf serbischem Boden eine ganze Reihe von Gedenkstätten errichtet werden:
Neben Rudolfsgnad sind dies Kikinda, Gakowa und Kruschiwl, Syrmisch Mitrowitz und Jarek.
Im Juni dieses Jahres (2011) kann nun auch auf der Heuwiese bei Filipowa (heute Bački
Gračac) eine Gedenkstätte eingeweiht werden. Dort wurden am 12. November 1944 von
Tito-Partisanen 212 deutsche Männer ermordet und in einem Massengrab verscharrt. Bei
der Feier wird der Freiburger Erzbischof und Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz
Robert Zollitsch zelebrieren. Er stammt aus Filipowa, sein älterer Bruder gehört zu den Opfern der Heuwiese.
Lajos László, 1925 im ungarischen Szekszárd geboren, hat sich stets auf die Seite der Schwachen und Benachteiligten gestellt und sich auch in Zeiten, als dies bittere Konsequenzen
nach sich ziehen konnte, unangenehmen Themen gewidmet. Von den Donauschwaben Jugoslawiens wurde es als geradezu befreiend empfunden, daß ein ungarischer Anwalt sich ihres
Leidensweges annahm und ihn literarisch in ungarischer Sprache und in Form einer Trilogie
gestaltete. Der erste Teil Im Bergwerk spielt niemand Balalaika (1992) schildert in einem
Kranz von Erzählungen einige Schicksale von Rußlandverschleppten. Ende der 80er Jahre
hatte der Autor eine Anzahl Donauschwaben ins Lenau-Haus in Fünfkirchen eingeladen und
ihre Geschichten dann literarisch aufgearbeitet. Den Mittelteil der Trilogie bildet der Roman
Ich komme aus dem Todeslager (1997), er handelt über die bestialische Rache der Partisanen Titos für die Kriegsverbrechen der Deutschen während ihres Jugoslawien-Feldzuges. Die
Zeit im Todeslager wird aus der Sicht der 13jährigen Esther geschildert. Die Brutalität ihrer
Bewacher, der Haß und die Gefühllosigkeit, das Sterben und Morden in der Marschkolonne
und im Lager Jarek gehen dem Leser unter die Haut und wirken gerade deshalb so eindringlich, weil sie in kurzen, einfach strukturierten, eben kindgemäßen Sätzen wiedergegeben
werden, sie verharren in naiver Gläubigkeit an die ausgleichende Gerechtigkeit eines göttlichen Strafgerichts und beinhalten deshalb keine moralische Anklage. Abgeschlossen wird die
Trilogie mit dem Roman Und führe uns nicht in Versuchung (1998). Darin zeigt der Autor die
Epoche nach den großen Tragödien im Leben einer Familie gemischter Nationalität, in der
sich die grausamen Ereignisse und Schicksalsprüfungen, vielmehr die schmerzlichen Erinnerungen daran bereits aufzulösen scheinen in der Wärme des familiären Beisammenseins, in
wiedergefundener Menschlichkeit, im Glück der Gegenwart. Allmählich rückt das Thema des
geschundenen Menschen im Prozeß der sich ablösenden Generationen in eine unwirkliche
Ferne.87
Siniša Jakonić, 1961 in Kikinda im serbischen Banat geboren, hat in seinem Ende Dezember
2002 erschienenen Buch „Zločini Miloševićeve tajne policije“ (Die Verbrechen der Geheimpolizei von Milošević, 2002) auch das Schicksal der Donauschwaben offen angesprochen, als
87
Stefan Teppert: Trilogie des geschundenen Menschen (Besprechung Lajos László: Im Bergwerk spielt niemand
Balalaika / Ich komme aus dem Todeslager / Und führe uns nicht in Versuchung), in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 1999/4, S. 406 f.; Donaudeutsche Nachrichten, Folge 6, 1999, S. 22; Deutsches Wort 35/2000, S. 27 f.
(mit Übersetzung ins Kroatische); Das Donautal-Magazin v. 1.12.1999, S. 13
46
einer der ersten serbischen Autoren hat er öffentlich auf die Massengräber im Lande hingewiesen.88
Im Falle Jugoslawiens hat ein halbes Jahrhundert der Vertuschung, der ideologisch aufbereiteten Geschichte und der einseitigen Erziehung einen „eingeschüchterten, handlungsscheuen Menschen mit einer einseitigen geistigen Ausrichtung“ geformt, der vollständig abhängig
war von der Verwaltung und der Staatswirtschaft, kaum einen wirtschaftlichen Rückhalt hatte und nur im Geiste des Regimes geduldete und überwachte Gruppierungen bilden konnte.
Dennoch waren die Leute nach den Beobachtungen Binzbergers keineswegs in ihrer Gesamtheit gebrochen, sondern wichen anarchisch der Bedrängung von oben aus, entzogen
sich dem als bedrohlich erlebten Staat und konspirierten je nach Interessenlage. Dieses distanziert-ablehnende Verhältnis des Untergebenen zum Staat hatte Binzberger auch schon
vor dem Krieg registriert.
Zu allen Zeiten und in allen Völkern tauchen jedoch immer wieder unerschrockene einzelne
auf, die ihrer tyrannischen Obrigkeit die Stirn bieten und unter Lebensgefahr versuchen, deren Lügengebäude zum Einsturz zu bringen. Zu diesen mutigen Verfechtern der Wahrheit
gehören auch der 1989 verstorbene Banater Serbe Luka Nadlački und der 1961 in Kikinda
geborene Serbe Siniša Jakonić. Der gebildete Historiker und Leiter des Kikindaer Zentralarchivs Nadlački machte sich Toma Granfil, ein prominentes Mitglied des Tito-Regimes, zum
Intimfeind, indem er sich dessen Wunsch verweigerte, seine zwielichtige Vergangenheit zu
frisieren.
Granfil hatte nämlich allem Anschein nach, so behauptet Jakonić, als Doppelagent zwischen
Kommunisten und Nazis fungiert. Er sei verantwortlich gewesen für die Versorgung oder
besser Unterversorgung der donauschwäbischen Hungerlager, für die Plünderung der nicht
unbeträchtlichen deutschen Vermögen, deren Filetstücke er seinem Privatvermögen zuführte. Er habe auch dafür gesorgt, daß alle Deutschen eigens erschlagen wurden, die zu Zeugen
seines Tuns geworden waren. Nach Jakonić war er neben Tito der Hauptverantwortliche für
die Verbrechen an den Deutschen Jugoslawiens.
Nadlački jedenfalls stellte sich Granfils Ansinnen entgegen, belastende Dokumente zu vernichten. Der integere Archivar fiel daraufhin in Ungnade, wurde entlassen und in seiner ganzen Existenz ruiniert, während aus dem Archiv verräterische Spuren über den verheimlichten
Genozid verschwanden. Unbeugsam sammelte Nadlački jedoch vierzig Jahre lang beweiskräftiges Material über Granfil und veröffentlichte es ab Anfang der achtziger Jahre. Da weder polizeiliche Einschüchterung noch ständige Überwachung, ja nicht einmal drei Mordanschläge durch fingierte Autounfälle, von denen der letzte ihn zum Invaliden machte, etwas
an seiner Haltung ändern konnten, wurde der junge Inspektor der geheimen Staatspolizei
Siniša Jakonić auf ihn angesetzt, um ihn zu verhören und gefügig zu stimmen. Die intensiven
Gespräche unter den beiden ließen jedoch eine enge Gesinnungsverwandtschaft zutage treten, die sie zu Verbündeten schmiedete. Dem Argusauge des Überwachungsapparates
entging dies freilich nicht, was Jakonić zum Verhängnis wurde. Er verlor Posten, guten Ruf
und jede Chance auf eine neue Anstellung. Jahrelang kämpfte er verbittert um seine Rehabilitierung, das korrupte System saß jedoch bis zum Regimewechsel im Oktober 2000 am längeren Hebel.
88
Vor ihm hat bereits Slobodan Maričić, vermutlich als erster serbischer Autor, in seinem Buch Susedi, dželati
žrtve. Folksdojčeri u jugoslaviji (Nachbarn, Henker, Opfer. Volksdeutsche in Jugoslawien), Beograd 1995 auf die
Internierungslager für die donauschwäbische Bevölkerung hingewiesen. Er zählt Arbeits-, Kinder-, Kranken- und
Konzentrationslager auf im Banat, der Batschka, Slawonien und der Baranja, insgesamt 78.
47
Bis dahin versuchte Jakonić, sein gefährliches Wissen über die Massenmörder der jugoslawischen Vernichtungslager zu publizieren und gegen die damals Befehlsgewaltigen Strafanzeige zu erstatten. In den neunziger Jahren konnte er etliche Artikel über das heikle Thema in
verschiedenen Zeitungen im Lande veröffentlichen. Sein am 16. April 1993 in dem Sonntagsblatt „Balkan Ekspres“ veröffentlichter Text „Die Wahrheit über die geheimen Gräber“ war
wohl der erste seiner Art schlechthin in Jugoslawien. Einen gegen ihn wegen Rufschädigung
angestrengten Prozeß gewann er. In seinem 1992 geschriebenen, aber erst zehn Jahre später
erschienenen Buch „Die Verbrechen der Geheimpolizei von Milošević“ schreibt Jakonić auch
über den Genozid an den Deutschen, den Juden und Serben, zudem über ungarische Opfer
und bestätigt die Angaben, wie sie von donauschwäbischer Seite im „Leidensweg“ vorgelegt
wurden. Darin offenbart er das Ausmaß der Kriegsverbrechen durch die jugoslawischen
Kommunisten wie auch die Dimension des Lagersystems im Lande, er entwickelt eine überraschend differenzierte Sicht auf die Donauschwaben mit ihrem Vorbildcharakter und ihrer
weitgehenden Loyalität, er nennt die Gründe ihrer Flucht oder ihres Bleibens, enthüllt die
Verschleierung der Wahrheit über sie und stellt resigniert fest, daß auch nach 55 Jahren viele
Tatsachen immer noch verschleiert werden. Vergeblich bot er das Manuskript 15 Verlagen
zur Veröffentlichung an, unterbreitete es 1997 und 1999 sogar der Deutschen Botschaft –
ohne Erfolg. Als sein Buch schließlich im Dezember 2002 erschien, trug es bezeichnenderweise weder den Namen eines Verlags noch den einer Druckerei. Der Autor mußte auf den
Straßen selbst für den Vertrieb seines Werkes sorgen und machte die Erfahrung, daß die
Leute ihm die Ware buchstäblich aus der Hand rissen.
Jakonić begrüßt übrigens nicht nur die Gedenkstätte in Kikinda, sondern hat selbst schon in
den Jahren 1992, 1997 und 1999 der katholischen wie auch orthodoxen Kirche von Kikinda
vorgeschlagen, auf den Gräbern Kreuze zu errichten, allerdings trafen seine Vorstöße auf
wenig Gegenliebe. Dergestalt gehört der streitbare Ex-Polizist neben Nadlački zu den besten
Beispielen für einen von ihm selbst geprägten Satz: „So wie es keine Kollektivschuld gibt, gibt
es auch bei keinem Volke ein völliges Schweigen.“89
Der junge, 1971 in Zrenjanin (früher Großbetschkerek) geborene serbische Schriftsteller
Uglješa Šajtinac hat als erster nach dem Heimatbuch von Kaća Čelan aus dem Jahr 1989 ein
Schauspiel über das Schicksal der aus Jugoslawien verschwundenen Donauschwaben geschrieben: „Das Banat“. Ebenso wie Čelans Drama durchbricht dieses Bühnenstück die noch
von Titos und Milošević’ Zeiten nachwirkende Doktrin. Das 2003 in Zrenjanin fertiggestellte
Stück ist die erste und einzige Arbeit des Autors, die sich mit diesem Thema auseinandersetzt. Ob der Vater des Autors, der Lyriker und Romancier Radivoj Šajtinac, dazu angeregt
hat?
Uglješa Šajtinac diplomierte 1999 an der Fakultät für dramaturgische Künste in Belgrad. Neben Beiträgen in verschiedenen serbischen Zeitschriften hat er einen Roman und einen Band
mit Erzählungen veröffentlicht. Eine seiner Erzählungen ist auch in der Anthologie der neueren serbischen Prosa vertreten. Aufgeführt wurden die Dramen Requisiteur von 1999 im serbischen Volkstheater in Novi Sad, Sprechen Sie australisch? von 2001 im Volkstheater „Toša
Jovanović“ in Zrenjanin und Huddersfield von 2004 auf der Szene im Westyorkshire Playhouse in Leeds sowie an der Volksbühne Berlin.
Durch Zufall ist der aus Futok stammende und in Erlangen lebende Donauschwabe Stefan
Barth an den serbischen Text des Schauspiels „Das Banat“ herangekommen und hat ihn
89
Vgl. Stefan Teppert: Stationen einer Annäherung. Serben und Donauschwaben seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs (1. Fortsetzung), in: Das Donautal-Magazin Nr. 127 vom 1. März 2004, S. 12-17
48
spontan ins Deutsche übersetzt. Schon lange hatte er nämlich nach Werken in der serbischen Literatur Ausschau gehalten, die das Thema „Donauschwaben“ nicht propagandistisch
verzerrt, sondern objektiv für beide Seiten bearbeiten. Barths Idee, das Stück im Rahmen
einer von ihm im Jahr 2004 auf die Beine gestellten Ausstellung über die Donauschwaben in
Novi Sad aufführen zu lassen und zugleich einen Runden Tisch mit Historikern zu veranstalten, ließ sich aus Geld- und Zeitmangel leider nicht verwirklichen. Seine Anläufe, es in
Deutschland auf die Bühne zu bringen, sind bisher gescheitert. Ein Verleger hat sich bedauerlicherweise auch noch nicht gefunden. „Das Banat“ wurde bisher nur am Jugoslawischen
Dramentheater in Belgrad aufgeführt ( JDP = Jugoslovensko dramsko pozoriste u Beogradu).
Es gibt auch eine englische Übersetzung. Der Titel wurde angepaßt in „Borderland“.
Schauplatz dieses Stücks ist das nach Hitlers Überfall auf Jugoslawien von Deutschen okkupierte serbische Banat gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Seit dem tragischen Tod seiner
Frau durch eine Erntemaschine hat der einst ehrgeizige deutsche Landwirt Josef Wolf jeden
Antrieb verloren, seine Pferde verkauft, das Feld verpachtet und sitzt nur noch rauchend im
Hof herum. Seine vierzehnjährige Tochter Magdalena hat Sehnsucht nach ihrer Mutter. Sie
phantasiert an einem Brunnen – in Märchen und Sagen das Tor ins Jenseits und zurück – von
Selbstmord und stickt wie besessen, um Erinnerungszeichen ihrer Existenz zu hinterlassen.
Statt gewöhnlicher Bauer ist der achtzehnjährige Sohn Erwin Soldat mit großdeutscher Gesinnung geworden, er trägt schwarze Uniform mit dem Abzeichen der SS-Truppen. Die Fotographie seiner Mutter an der Stubenwand ersetzt er durch ein Hitler-Porträt, brüllt davor mit
Führergruß die „Hymne der Banater Deutschen“ und kann sich zwischen dem Kreuz Christi
um seinen Hals und dem Hakenkreuz auf seiner Armbinde nicht entscheiden, wenngleich der
Vater ihn warnt, wie unvereinbar beide sind. Der konservative Vater ist gläubiger Katholik, er
personifiziert eine breite bäuerliche Schicht der Donauschwaben, die den Nationalsozialismus entschieden ablehnte. Auch sein Name Josef deutet auf glaubensfeste Frömmigkeit.
Dies ist die Ausgangssituation des Schauspiels.
Nicht in Akte, sondern in 16 Szenen ist das Schauspiel unterteilt, deren Sequenzen sich in der
zweiten Hälfte beschleunigen und teilweise in zwei parallelen Aktionen über die Bühne gehen. Parallel, aber doch entgegengesetzt sind auch die extremen Figuren des Stücks. Auf der
einen Seite der dem Nationalsozialismus verfallene Erwin und dessen jüngere Schwester
Magdalena, auf der anderen der vom Kommunismus indoktrinierte Dobrivoj und dessen
ebenfalls jüngere, wiederum stickende Schwester Djudja. Zur Ideologie Erwins gehört der
Glaube an die Überlegenheit der deutschen Zivilisation, die Kolonisten auch ins Banat gebracht und das Land aufgebaut haben, nunmehr aber von neidischen Feinden umzingelt leben müssen. Zu Dobrivojs Ideologie gehört die Bereitschaft, um der Revolution willen rücksichtslos über Leichen zu gehen, gleichgültig, ob Freund oder Feind. Er wird damit der Bedeutung seines Namens „Guter Kämpfer“ gerecht. Sowohl Dobrivoj wie auch Erwin verarmen menschlich dadurch, daß sie sich von einer Ideologie vereinnahmen lassen, ihren
Schwestern dagegen ist dieser Vorgang nicht geheuer, gefühlsmäßig lehnen sie sich dagegen
auf, verharren aber beim Sticken, während die mörderische Konfrontation ihrer Brüder sich
zuspitzt.
Zwischen den Fronten steht der pazifistisch eingestellte Student Svetislav, Sohn eines reichen serbischen Bauern. Er verkehrt sogar im Hause der Wolfs, respektiert – zumindest
symbolisch – den Führer und hegt gewisse Sympathien für die Deutschen, läßt sich aber von
ihrer straffen Organisation und kriegstechnologischen Überlegenheit nicht blenden. Entrüstet ist er über die Schleifung der Synagogen, obwohl es keine Juden mehr gibt. Die maßlose
Vergeltungspraxis der Deutschen gegenüber den Partisanen findet er deprimierend, sie ver49
schaffe ihnen lediglich Zulauf. Erwin hält er für einen unglücklichen, verirrten Hitzkopf, der
das am meisten haßt, wovon er am wenigsten weiß, der aber im Grunde ein guter Junge sei.
Seine unkorrumpierte Haltung bringt ihm zwar nicht Erwins, aber Magdalenas Vertrauen ein.
Ihr zeigt er abseits des Dorfes durchs Fernglas, wie Kommunisten von den Nazis zu Dutzenden hingerichtet werden. Wenig später liquidieren die Partisanen seinen eigenen Vater, einen Kommunistengegner. Angesichts einer grotesken, unwirklich erscheinenden Welt des
gegenseitigen Mordens finden die minderjährige Deutsche und der verunsicherte Serbe vor
allem über das Thema Film und Kino zueinander, dort suchen sie Wahrheit. Svetislav hat
sogar davon geträumt, Kinobesitzer zu werden und amerikanische Filme vorzuführen.
Zwischen Svetislav auf der einen, Dobrivoj und Djudja auf der anderen Seite kommt es zum
Zerwürfnis. Zu unversöhnlich prallen die weltanschaulichen Haltungen aufeinander. Erwin
kehrt mit Eisernem Kreuz dekoriert, aber verkrüppelt von der Ostfront heim. Nun durchschaut er die Propagandalügen im Kino und ist von den Nazis kuriert. Das Hitler-Porträt in
der Stube der Wolfs wird wieder entfernt. Aber die Heimat ist verloren. Svetislav überbringt
die Botschaft: „In Rumänien morden die Russen die Deutschen.“ Die Wolfs packen und flüchten. Zum Abschied schenkt Magdalena ihrem serbischen Freund ein von ihr besticktes Taschentuch; durch ihn von ihrer Besessenheit befreit, geht sie, analog ihrer biblischen Namensgeberin, ihrem Golgatha entgegen.
Die Partisanen haben nun das Regiment übernommen und inventarisieren den zurückgelassenen Besitz der Deutschen. Der Partisan Dobrivoj bedient sich am „göttlichen“ Wein der
Wolfs. Ihr Hof ist wüst und leer. Djudja empfindet die Selbstbereicherung der Partisanen an
den Häusern der Schwaben als Schande, während Dobrivoj dieses Vorgehen als ausgleichende Gerechtigkeit legitimiert. Er berichtet Djudja von der Gefangennahme des deutschen
Flüchtlingstrecks. Er sei im Lager für deutsche Gefangene gewesen, „um zu überprüfen, wer
von hier ist, ob es unter ihnen Kriegsverbrecher gibt, damit man die Verzeichnisse abgleichen
kann“. Dabei habe er erfahren, daß Erwin sich als SS-Angehöriger der Rache der Partisanen
durch Selbstmord entzog. Sein Vater sei an Herzversagen in Magdalenas Armen gestorben.
Das Mädchen, „nicht ganz bei Verstand“, wolle sich auf einer tropischen Insel verstecken.
Was Dobrivoj nicht weiß: Sie hat dabei den Film „La Habanera“ mit Zarah Leander von Detlev
Sierck als Vorbild im Sinn, von dessen Inhalt Svetislav ihr erzählt hat.
In der letzten Szene befindet sich Svetislav auf einem Schiff nach Australien. Dort trifft er
Mathias Häuser, einen ehemaligen deutschen Soldat aus Dresden. Auch dessen Vater wurde
als Kommunist von den Nazis umgebracht. Auf seinem Grammophon spielt Häuser das Lied
„Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“ von Zarah Leander. Svetislav denkt dabei
mit geschlossenen Augen an Magdalena. Dies suggeriert jedenfalls das gestickte Taschentuch von ihr, das er in Händen hält, sowie Magdalenas paralleles Erscheinen am anderen
Ende der Szene. Die Musik verschmilzt mit ihrer Gestalt; sie selbst scheint das Lied zu singen.
Am Ende des Schauspiels verschränken sich die schreckliche Wirklichkeit und die Flucht aus
ihr zur Sehnsuchtsmelodie nach einer heilen Welt.
Eine ausführliche Inhaltsangabe erschien hier sinnvoll, weil „Das Banat“ nicht greifbar ist.
Durch die Parallelisierung der zwei großen Trugbilder des 20. Jahrhunderts, des Kommunismus und des Nationalsozialismus, gelingt es dem Dramatiker, eine starke Ambivalenz aufrechtzuerhalten und ein relativ unparteiisches, aufklärendes und vielschichtiges Drama vorzulegen, das Verstrickung und Schuld nicht nur auf einer Seite sucht. Die Momentaufnahme
einer epochalen Umwälzung präsentiert sich in einfacher, aber konzentrierter Sprache, die
Dialoge sind so sparsam wie das Bühnenbild. Freilich bleibt, im Gegensatz zu Kaća Čelans
Theaterstück, das im Lager Gakowa spielt, die furchtbare Fratze der Partisanenherrschaft,
50
wie sie sich in den Massenerschießungen der donauschwäbischen Intelligenz und der Vernichtung der nicht arbeitsfähigen Bevölkerung in Hungerlagern darbot, völlig ausgeblendet.
Vor allem in der Neigung zwischen Magdalena und Svetislav spiegelt sich ein auch in dieser
Zeit heil gebliebenes Humanum als Möglichkeit. Denn wo das Schicksal es in der Wirklichkeit
nicht zuläßt, auf der Ebene der Fiktion wenigstens (nämlich durch Film und Filmmusik) überschreitet Liebe die bornierten Grenzen von Vorurteil, Völkerhaß und Ideologie. Das Medium
des Films eignet sich jedoch gleichermaßen zur Verbreitung von Lüge wie von Wahrheit.
Šajtinac zeigt beide Möglichkeiten.
Zwei von der herkömmlichen parteigelenkten Sprachregelung abweichende Sentenzen seien
hier noch herausgegriffen. Der unorthodoxe Svetislav sagt im Zusammenhang mit Hitlers
Überfall auf Jugoslawien: „Den Pakt hätte man unterschreiben sollen. Es hätte keine Zerstörung gegeben. Die begeisterte Menge Unwissender jubelte und brüllte aus lauter Trotz.“
Auch eine Aussage Dobrivojs mag überraschen: „Jetzt holen sie die Verzeichnisse heraus, und
solange die Deutschen da sind, säubern sie. Es verraten uns die, die unsere Sprache sprechen.
Sie leben hier mit uns. Sie verraten uns aus Angst und weil es Mistkerle sind, schlimmer als
jeder deutsche Mistkerl.“90
Dragi Bugarčić kam 1948 in Werschetz zur Welt, auf serbisch Vršac genannten, nahe der
rumänischen Grenze im serbischen Banat. Bugarčić engagiert sich seit vielen Jahren für die
Versöhnung zwischen Serben und Donauschwaben. Seit 1999 wirkt er als Gründungsmitglied
von „Društvo srpsko-nemačko-austrijskog prijateljstva“ (1999), auf deutsch: Verein der Serbisch-Deutsch-Österreichischen Freundschaft, wo er den Vorsitz des Vereinsvorstandes innehat. Auch das dem gleichen Zweck dienende Wiener Dialogsymposium ARDI unterstützt
er.
Sein neuester Roman kam 2006 in Belgrad unter dem Titel Sporedna ulica heraus. Wörtlich
übersetzt bedeutet das „Nebengasse“. In der deutschen Ausgabe, die 2010 erschien, heißt
der Roman Dreilaufergasse, so der alte deutsche Name der betreffenden Straße in Vršac.
„Dreilaufergasse“ ist eine Erzählung über die Verbrechen, die an den Bewohnern der Stadt
Werschetz am Ende des Zweiten Weltkrieges begangen wurden. Die Russen haben die Stadt
von allen Seiten umstellt, man hört den dumpfen Donner der Katjuscha. Dann rollt die Rote
Armee durch die Straßen. Nach ihrem glorreichen Einmarsch verschwinden die Bewohner
zur Zwangsarbeit und hinterlassen gespenstische Leere. Die Sieger ziehen saufend durch die
Häuser, vergewaltigen die zurückgebliebenen Frauen. Als ein russischer Major von einer
Sauftour nicht zurückkommt, durchkämmen seine Kameraden die Häuser, entdecken seinen
Leichnam schließlich vergraben in einem Misthaufen. Er wurde erschlagen, als er sturzbetrunken seine unfreiwillige junge Wirtin vergewaltigen wollte. Deren im Hof versteckter Bruder war ihr zu Hilfe geeilt. Das eigentliche Verbrechen ist nun aber die schändliche Rache
dafür, nämlich die Erschießung aller Bewohner der Dreilaufergasse, mehr als 130 Menschen.
Tagelang karren angeheuerte Zigeuner die Leichen auf die Schinderwiese zu den Tierkadavern außerhalb der Stadt und verscharren sie ohne Kennzeichnung in einem Massengrab.
Von diesem lokalen Ereignis löst und erweitert sich der Blick alsbald auf die vorausgegangene und folgende Verkettung von Verbrechen. Das Generalthema dieses Romans reicht von
der Ansiedlung der Deutschen in der Wojwodina am Ende des 18. Jahrhunderts bis zu ihrer
90
Vgl. Stefan Teppert: „Das Banat“, ein neues serbisches Schauspiel über die Donauschwaben, in: fenster,
Karlowitz, August 2005, Nr. 03, S. 9-11; „Das Banat“, ein neues serbisches Schauspiel auch über Donauschwaben, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 2005/4, S. 358-360
51
Vertreibung und Auslöschung von 1944 bis 1948. Im Mittelpunkt steht aber das dann über
ein halbes Jahrhundert währende Schweigen über ihre ehemalige Anwesenheit wie auch ihr
Verschwinden aus dem Land. Dabei bleiben die Verbrechen der Deutschen Wehrmacht nicht
ausgeblendet, sondern bilden den Hintergrund für eine systematisch betriebene und ausgesucht grausame Vergeltung, für den Genozid an den Deutschen Jugoslawiens. Einem staatlich verordneten Credo gelingt es bis heute, dieses Nachkriegsverbrechen aus dem Gedächtnis der jugoslawischen Völker wie auch der übrigen Welt zu verbannen. Doch hat die nie
ganz unterbrochene konspirative Überlieferung des Ungeheuerlichen eine komplette Gehirnwäsche verhindern können. Dennoch durfte keiner ungestraft über die Greueltaten der
Partisanen publizieren oder öffentlich reden. Parteien, einflußreiche Gruppen und mächtige
Einzelpersonen diktierten eine kraß schöngefärbte Version der eigenen Vergangenheit.
Um die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, nimmt der Romanautor Dragi Bugarčić
durch die Einführung mehrerer Erzählebenen mehrfachen Anlauf.
Diese Erzählebenen wechseln sich gegenseitig ab, auch im Schriftbild übrigens, sie fragmentieren den Roman in viele überschaubare Episoden, die immer neue Perspektiven eröffnen,
sukzessive Informationen preisgeben, sich gegenseitig erhellen und verweben, dem Roman
Spannung und Tiefe verleihen. Dieses dialektische Spiel mit einer Kakophonie von Stimmen,
mit These, Antithese und Synthese führt schließlich zu einer Objektivierung des sensiblen
Themenkomplexes. Wie in einem Thriller wird das Verbrechen Stück für Stück in seinem
Schuldzusammenhang aufgedeckt und läßt seine erschreckende Fratze unverhüllt sehen.
Ein Strang der Erzählung versetzt uns nach Werschetz zwanzig Jahre nach den Pogromen,
also im Jahr 1964. Im damaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien herrscht Tito mit seiner kommunistischen Ideologie. Hauptfigur ist jetzt der Erzähler und Romanschriftsteller Danilo
Kopča als Gegenstand der Erzählung. Er wagt es, brisante Themen aufzugreifen, investigative
Prosa zu schreiben, über das Wesen des Krieges nachzudenken, die Geschichte der Donauschwaben aufzurollen, die Leichen im Keller seiner Vaterstadt Werschetz beim Namen zu
nennen. Darin gleicht er spiegelbildlich seinem Schöpfer Dragi Bugarčić. Doch Kopča kapituliert am Ende vor der repressiven Macht des Staates und begibt sich als eingeschüchterter
Untertan in Selbstzensur.
Am Ende des Romans münden alle seine Erzählebenen in die sozusagen nunmehr voll orchestrierte finale Apokalypse der Donauschwaben: einerseits in der Werschetzer
Dreilaufergasse, dann im größten Vernichtungslager Rudolfsgnad, schließlich ausgedehnt auf
den ganzen Archipel GuLag der Wojwodina. Das Grundmotiv des Völkermords an der deutschen Volksgruppe in Titos Jugoslawien wird multiperspektivisch dargestellt, man könnte
geradezu sagen: eingehämmert. Selbst der Epilog vertieft das Thema noch einmal, bevor er
Helmut darauf warten läßt, von den Partisanen abgeholt zu werden. In dieser abschließenden Reprise wird so das Leitmotiv ein letztes Mal variiert und zugleich umgepolt. Die Schrecken, die längst vergangen schienen und sich bis dahin aus der Retrospektive darboten, werden im Zustand angsterfüllter Erwartung als unmittelbar bevorstehend vergegenwärtigt und
dadurch abermals in eindringlicher, nicht mehr zu überbietender Steigerung heraufbeschworen. Ein Ende im Inferno der Angst, ohne versöhnlichen Abschluß, anders gesagt: ein Finale,
dem die Versöhnung noch fehlt, ein herausfordernd offener Schlußakkord also, der offenbar
etwas Neues in Gang setzen will.
52
Danach folgt nur noch buchhalterisch trocken: „Am vierzehnten Oktober zweitausendvier
war der letzte Satz dieses Romans geschrieben.“91 Diese Bemerkung erinnert uns an den eigentlichen Verfasser des Romans, der alle Fäden in der Hand hält und gleichsam eine fünfte,
übergeordnete und ständig immanente Erzählebene einnimmt. Hier, wo sie zum einzigen
Mal explizit wird, schlägt das Ende einen schalkhaften Bogen zurück bis zum Anfang des
Werks.
Der Knoten des Romans „Dreilaufergasse“ schürzt sich am Ende so unentrinnbar, als sollte
dem Leser kein Schlupfloch zugestanden werden, die grauenhaften, über mehr als zwei Generationen tabuisierten Ereignisse weiterhin zu verdrängen oder zu verschleiern. Sie stehen
nun mit voller Wucht am Tageslicht, allen sichtbar, empathisch und beredsam, gewissenhaft
und ungeschminkt, ohne Unterschlagung, ohne Verharmlosung. Daß es ein Serbe ist, der
diesen Stoff ausgräbt und nicht nur wohlinformiert darstellt, sondern auch vielstimmig und
kunstvoll verwoben, in einer berührenden, nachdenklich stimmenden Form erzählt, ist alles
andere als eine Beiläufigkeit. Es ist die Pforte zu einem historischen Durchbruch. Mit bisher
nicht dagewesener Ehrlichkeit und historischer Tiefenschärfe werden die dämmrigen Zonen
einer abträglichen Desinformationspolitik ausgeleuchtet. Allein die Gedanken über Kriegsvermeidung und Friedenserhaltung machen die Lektüre dieses Romans lohnend. Fazit: Feige
Übeltäter, die ihrer Strafe entkommen, erhalten so wieder ausreichend Zeit, um anderswo
neue Konflikte anzuzetteln und über unschuldige Opfer hinwegzutrampeln. Genau dies ist
auf dem Balkan geschehen.
Dragi Bugarčić hat mit diesem Roman dem donauschwäbischen Schicksal, den deutschen
Opfern, aber auch der verleugneten Vergangenheit seines Landes ein erschütterndes Denkmal gesetzt, das durch seine dichterische Intensität unter die Haut geht. Damit hat er zugleich für die Versöhnung zwischen Serben und Donauschwaben einen Beitrag von rehabilitierender Qualität geleistet. Stellvertretend für sein Volk hat er gesellschaftliche und politische Verantwortung übernommen, dazu braucht es in einer zwischen Aufbruch und Beharren zerrissenen Gesellschaft bewundernswerten Mut.92
Brisanz und Tragweite dieses bahnbrechenden Romans sind von den Rezensenten in Serbien
übrigens durchaus wahrgenommen worden. Ilija Bakić schreibt u. a.: „Die Verbrechen und
Lügen verflechten sich in ein Knäuel, welches das ganze nationale Wesen belastet.“ Nadežda
Radović meint: „Bugarčić hält die Erzählung fest in der Hand, und die Fragmente sind nur
eine Falle für den Leser, damit er die Qualen der Offenbarung über Dinge begreift, über die
man ein halbes Jahrhundert schmerzlich geschwiegen hat.“ Zlatoje Martinov bemerkt, daß es
nach der vierjährigen Okkupation Jugoslawiens durch die Nazis im Herbst 1944 „zu unnötigen und unbegreiflichen Verbrechen an unschuldigen Zivilisten deutscher Volkszugehörigkeit,
vor allem Frauen, Kindern und alten, erschöpften Personen“ gekommen sei. Er erkennt eine
„metaphysische Verantwortung“ an den Verbrechen. Eine Gruppe von sensiblen und gewissenhaften Weschetzer Intellektuellen habe „genau zwei Jahrzehnte nach dem magnum
crimen der Befreier“ die Spuren der Vergangenheit zu ergründen versucht. „Deshalb“, so
teile uns der Autor mit, soll es in letzter Konsequenz aus der Erkenntnis der absurden Banalität des Bösen „einerseits eine individuelle und kollektive Lehre sein, daß sich das Böse und die
Verbrechen nicht wiederholen, und andererseits sollen sie vollkommen und bedingungslos
91
Dragi Bugarčić: Dreilaufergasse. Roman, aus dem Serbischen von Goran Miletić, Oswald Hartmann Verlag,
Sersheim 2010, S. 209
92
Vgl. Stefan Teppert: Blick in die Welt der Donauschwaben. Vorstellung des Romans „Dreilaufergasse“ (Abdruck einer Buchpräsentation bei der Studientagung des St. Gerhards-Werks in Stuttgart am 30. Oktober 2010),
in: Das Donautal-Magazin Nr. 164 v. 15.12.2020, S. 8-11
53
schuldhaft strafbar sein und individuell und kollektiv, moralisch und metaphysisch einer Reinigung unterzogen werden“.93
Primärliteratur
Aralica, Ivan:
- Sokak triju ruža (Dreirosengasse. Gespräche, Ansichten und Erzählungen), Znanje, Zagreb
1992, 217 S.
Bahl, Franz:
- Schwarze Vögel. Roman, Westermann Verlag, Braunschweig 1957, 195 S.
- Patrouillen der Nacht. Roman, Westermann Verlag, Braunschweig 1960, 220 S.
- Spuren im Wind. Erzählung, Pannonia-Verlag, Freilassing 1960, 93 S.
- Die Donau von der Quelle bis zur Mündung. Ein Strom der Völker (mit 2 Vorsatzkt. u. 147
Fotos), Pannonia-Verlag, Freilassing 1961, 190 S.
Barth, Stefan:
Ein Junge aus der Nachbarschaft. Lebensbericht eines Donauschwaben, Verlag der Donauschwäbischen Kulturstiftung, München 2007, 323 S.
Bugarčić, Dragi:
- Sporedna ulica, Belgrad 2006; dt.: Dreilaufergasse. Roman, aus dem Serbischen von Goran
Miletić, Oswald Hartmann Verlag, Sersheim 2010, 214 S.
Čelan, Kaća:
- Heimatbuch. Drama, ausgestrahl in: Zbornik 3. programa Radio Sarajeva, Sarajevo 1989;
aufgeführt 1997 am Bonner Schauspielhaus, 2006 am TAS-Theater auf Schloß Burgau, letzteres inszeniert von der Autorin
Danojlić, Milovan:
- Mein lieber Petrović (Dragi moj Petroviću). Roman, Suhrkamp, Berlin 2010, 310 S.
Djilas, Milovan:
- Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems (Nova klasa. Kritika
savremenog komunizma), München 1958
- Die unvollkommene Gesellschaft. Jenseits der „Neuen Klasse“ (Nesavršeno društvo), Ins
Deutsche übertragen von Zora Shaked, Verlag Fritz Molden, Wien-München-Zürich 1969,
255 S.
Gruber, Wendelin:
- In den Fängen des roten Drachen. Zehn Jahre unter der Herrschaft Titos, Miriam Verlag,
Jestetten 1986, 240 S.; Neuauflage Stefan Gauß, Ditzingen 1994, 256 S.
Hodschager, Ernst:
93
Rezensionen zu Dragi Bugarčić: „Dreilaufergasse“ von Ilija Bakić: „Dunkle Geheimnisse des Siegers“, Nadežda
Radović: „Über den Schinderplatz und uns“, Zlatoje Martinov: „Die Banalität als Vorhof des Verbrechens“, in:
Dragi Bugarčić als Schriftsteller, Belgrad 2009, S. 211-221 (Die Übersetzung von Auszügen dreier Rezensionen
aus dem Serbischen ins Deutsche verdanke ich Stefan Barth, Erlangen.)
54
- Mahnruf. Gedichte und Berichte, Oswald Hartmann Verlag, Sersheim 1989, 75 S.
Hutterer, Franz:
- An den Ufern der Donau. Peter, Michael und Brigitte reisen in die Heimat ihrer Eltern,
Pannonia-Verlag, Freilassing 1959, 100 S.
- Die Welt an der Donau. Vom Schwarzwald bis zum Schwarzen Meer. Ein Buch für junge
Menschen, Pannonia-Verlag, Freilassing 1964, 79 S.
- Die Geschichte der Donauschwaben ist noch nicht geschrieben. Anmerkungen und Fragezeichen, in: Geschichte, Gegenwart und Kultur der Donauschwaben. Texte aus dem Jahresprogramm 1994 der Landsmannschaft der Donauschwaben Bundesverband, Sindelfingen
1994, Heft 5, S. 163-169
- Gesang über dem Wasser. Erzählungen, Verlag Südostdeutsches Kulturwerk, München
1996, 180 S.
- Eine Welt an der Donau. Stimmen aus Belgrad, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, 46.
Jg., Folge 3, 1997, S. 199-204
- Streng vertraulicher Völkermord. Unterlassungssünden der gegenwärtigen Geschichtsschreibung, in: Heimatbote, Toronto, Juli 2001, S. 15 f., August 2001, S. 15 f.
- „Der Südosten, unser Erfahrungsraum …“ Gedanken über kontinentale Geistesbeziehungen, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, Folge 2, 2002, S. 116-118
Ivanji, Ivan:
- Vergeltung und Scham. Das Schicksal der Donauschwaben in der Wojwodina, Manuskript
- „Rache und Scham. Das Schicksal der Volksdeutschen in Jugoslawien“, Hörspiel, gesendet in
WDR 3, Köln, am 25.1.1990 von 21.00 bis 22.00 Uhr (Regie/Produktion: Joachim Sonderhoff;
Verantwortlicher Redakteur: Ansgar Skriver; Programmgruppe: Kommentare und Feature;
Programmbereich: Politik)
- Das Kinderfräulein. Roman, Picus Verlag, Wien 1998, 286 S.
- Titos Dolmetscher. Als Literat am Pulsschlag der Politik, Promedia Verlag, Wien 2007, 200 S.
Jakonić, Siniša:
- Zločini Miloševićeve tajne policije (Die Verbrechen der Geheimpolizei von Milošević), 2002
Johler, Matthias:
- Lagertagebuch 1945-1947, in: Die Erinnerung bleibt. Donauschwäbische Literatur seit 1945.
Eine Anthologie, Band 3, H-J, herausgegeben und mit einem Vorwort von Stefan Teppert,
Hartmann Verlag, Sersheim 2004, S. 817-836
Kiš, Danilo:
- Garten, Asche (Bašta, pepeo, Belgrad 1965)
- Frühe Leiden. Roman (Rani jadi, Nolit, Belgrad 1969), Aus dem Serbokroatischen von Ivan
Ivanji, Carl Hanser Verlag, München-Wien 1989, 164 S.
- Sanduhr (Peščanik, Prosveta, 1972), Aus dem Serbokroatischen von Ilma Rakusa, Carl Hanser Verlag, München-Wien 1988, 283 S.
- Ein Grabmal für Boris Davidowitsch (Grobnica za Borisa Davidoviča, 1976)
55
- Anatomiestunde (Čas anatomije, Nolit, Belgrad 1978), Aus dem Serbokroatischen von Katharina Wolf-Grießhaber, Carl Hanser Verlag, München-Wien 1998, 375 S.
- Enzyklopädie der Toten. Erzählungen (Enciklopedija mrtvih, Globus, Zagreb 1983), Aus dem
Serbokroatischen von Ivan Ivanji, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1988, 217 S.
König, Alois & Georgine:
- Die Tage der ungesäuerten Brote (Dani beskvasnoga kruha), Georgine König Verlag, 1991,
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László, Lajos:
- Im Bergwerk spielt niemand Balalaika (Halálpolka, 1990), Oswald Hartmann Verlag,
Sersheim 1992, 244 S.
- Ich komme aus dem Todeslager (Könyörgés a hontalanokért, 1993), Oswald Hartmann Verlag, Sersheim 1997, 240 S.
- Und führe uns nicht in Versuchung (Tigrismosoly, 1990), ins Deutsche übersetzt von Vata
Vágyi, Babits-Verlag, Szekszárd 1998, 240 S.
Marčinković, Juro:
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Markov, Mladen:
- Banatski voz. Roman (Banater Zug), 1973
- Mittlere Glocke. Roman (Srednje zvono), 1979
- Austreibung Gottes. Roman (Isterivanje boga), Belgrad 1985
- Hundefriedhof. Roman (Pseće groblje), Belgrad 1990
Maticki, Miodrag:
- Die Deutschen gehen. Roman (Idu Nemci), DBR International Publishing, Belgrad 1994
Nakitsch, Marian:
- Flügelapplaus. Gedichte, mit einem Pass-Bild von Reiner Kunze, Collection S. Fischer, Frankfurt a. M. 1994, 107 S.
- Mein Verhältnis zu den Donauschwaben / Gedichte (Vukovar, Der vertriebene Kroate, Slawonien, Kindheitserinnerung, Winterliche Landschaft, Feldafing, Augengedicht, Reiner Kunze), Weihnachtsfest, in: Geschichte, Gegenwart und Kultur der Donauschwaben. Texte aus
dem Jahresprogramm 1995 der Landsmannschaft der Donauschwaben, Bundesverband, Heft
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Oljača, Mladen:
- Das Vermächtnis. Roman (Molitva za moju Braću, Sarajevo 1957), ins Deutsche übersetzt
von Johannes Weidenheim, Kindler Verlag, München 1962, 399 S.
Prost-Pertschy, Rita:
- Das Heimweh der Simon Rita, Oswald Hartmann Verlag, Sersheim 1994, 175 S., übersetzt
ins Serbische von Gordana Bukvić 2007 unter dem Titel „Žal za zavičajem Rite Simove“.
Šajtinac, Uglješa
56
- Das Banat. Schauspiel in 16 Szenen, Zrenjanin 2003, bisher unveröffentlicht, wurde lediglich
am Jugoslawischen Dramentheater in Belgrad aufgeführt ( JDP = Jugoslovensko dramsko
pozoriste u Beogradu). Es existieren Übersetzungen ins Deutsche und Englische. Der englische Titel heißt „Borderland“.
Stefanović, Nenad:
- Jedan svet na Dunavu – Razgovori i komentari (Ein Volk an der Donau – Gespräche und
Kommentare), Tiker, Belgrad 1996 (6 Auflagen mit insgesamt 15.000 Exemplaren);
Dt.: Ein Volk an der Donau. Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien unter dem kommunistischen Tito-Regime. Gespräche und Kommentare serbischer und deutscher Zeitzeugen,
Übersetzung ins Deutsche von Oskar Feldtänzer, 1997, Donauschwäbische Kulturstiftung,
München-Eggenfelden-Belgrad 22004, 257 S.;
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World War II, Years of 1944-48 in Communist Yugoslavia, übersetzt aus dem Deutschen:
Hans Kopp, John Michels, Eduard Grünwald, Bismarck, North Dakota, USA, University of
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- Zemlja u koferu (Erde im Koffer), Belgrad 2007
- Der Doktor hört Swing. Novelle, 2009
Tišma, Aleksandar:
- Die Schule der Gottlosigkeit (Škola bezbožništva, 1978), dtv, München 2000
- Der Gebrauch des Menschen (Upotreba čoveka, Nolit, Belgrad 1980), Hanser, München
1991, dtv, München 2001
- Ohne einen Schrei (Bez krika, 1980), dtv, München 2006
- Kapo. Roman, dtv, München 1999
- Das Buch Blam (Knjiga o Blamu, 1983), dtv, München 2000
- Die wir lieben (Koje volimo, ??), dtv, München 1999
- Treue und Verrat (Vere i zavere, ??), dtv, München 2001
- Reise in mein vergessenes Ich. Tagebuch 1942-1951. Meridiane Mitteleuropas, HanserVerlag, München 2003
Weidenheim, Johannes:
Romane:
- Kale-Megdan, Hansischer Gildenverlag, Hamburg 1948, 475 S.
- Das türkische Vaterunser, C. Bertelsmann Verlag, Gütersloh 1955, 384 S. (auch holl.)
- Treffpunkt jenseits der Schuld, C. Bertelsmann Verlag, Gütersloh 1956, 464 S. (auch holl. u.
serb.)
- Schultage (unter dem Pseudonym Ernest Waldteufel), Halle 1961, 231 S.
- Mensch, was für eine Zeit oder Eine Laus im deutschen Pelz, List Verlag, München 1968,
445 S. (auch poln.)
- Heimkehr nach Maresi, Otto Müller Verlag, Salzburg 1994, 405 S.
57
- Theodora. Roman, Landpresse Verlag, 1998
- Maresi. Eine Kindheit in einem donauschwäbischen Dorf, Rowohlt Verlag, Reinbek bei
Hamburg 1999, 271 S.
Novellen:
- Nichts als ein bißchen Musik, Hansischer Gildenverlag, Hamburg 1947, 126 S. (Neufassung
unter dem Titel „Nur ein bißchen Musik“, G. Westermann Verlag, Braunschweig 1959, 176 S.
- Lebenslauf der Katharina D., Pannonia-Verlag, Freilassing 1963, 118 S.; Neuauflage unter d.
Titel: Pannonische Novelle. Lebenslauf der Katharina D., Otto Müller Verlag, Salzburg 1991,
119 S.
Erzählbände:
- Der verlorene Vater, Claudius-Verlag, München 1955, 115 S.
- Der verlorene Vater. Drei Erzählungen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1956, 276 S.
- Das späte Lied. Zwei Erzählungen, Kreuz-Verlag, Stuttgart 1956, 61 S.
- Das späte Lied, Stuttgart 1957, auch in: Anton Scherer: Die nicht sterben wollten, PannoniaVerlag, Freilassing 1959, S. 143-54
- Seltene Stunden, Kreuz-Verlag, Stuttgart 1957, 61 S.
- Morgens zwischen vier und fünf, J. F. Steinkopf Verlag, Stuttgart 1958, 131 S. u. Union Verlag, Berlin (DDR) 1963, 248 S.
- Maresiana. Eine erzählerische Suite, J. F. Steinkopf Verlag, Stuttgart 1960, 248 S.
Lied vom Staub, Otto Müller Verlag, Salzburg 1992, 208 S.
Žiletić, Zoran:
- „Die Deutschen gehen“ Miodrag Matickis. Der Leidensweg der Deutschen aus Veliko
Središte und Werschetz vom Oktober 1944 und kurz darauf als literarischer Stoff, in: Geschichte, Gegenwart und Kultur der Donauschwaben. Texte aus dem Jahresprogramm 1995
der Landsmannschaft der Donauschwaben Bundesverband, Sindelfingen 1995, Heft 6, S. 92106
- Die Deutschen der Wojwodina und der Zweite Weltkrieg, in: Nenad Stefanović. Ein Volk an
der Donau. Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien unter dem kommunistischen TitoRegime. Gespräche und Kommentare serbischer und deutscher Zeitzeugen, Belgrad 1996, 2.
deutsche Auflage, München-Eggenfelden-Belgrad 2004, S. 201-217, siehe auch Vorwort von
Zoran Žieltić, S. 10-21
- Die Geschichte der Donauschwaben in der Wojwodina. Zu ihrer Darstellung in Serbien und
Deutschland, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, 45. Jg., Folge 2, 1996, München, S. 8390 (gekürzt). Dieser Text erschien vollständig in: Die Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa. Geschichte, Wirtschaft, Recht, Sprache. Bd. 2, hrsg. v. Gerhard Grimm u. Christa Zach,
München 1996, S. 223-236
- „Zwischen Völkern zu vermitteln, die oft durch tiefe Gräben getrennt waren“. Zoran Žiletić
im Gespräch mit Stefan Sienerth, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, München, Folge 1,
2002, S. 38-53
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