Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
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Nr. 6 | 28. Juni 2015 NZZ am Sonntag Saint-Exupéry Viel Geld mit dem kleinen Prinzen 14 Löwensucher Kenneth Bonerts grosse Familiensaga 4 Jugendbuch Ferientipps für Kinder ab 6 Jahren 12 Scham Die Kraft eines unterschätzten Gefühls 18 Bücher am Sonntag Die kritische Bibliothek der Unfreiheit Neu Eine Sammlung klassischer Texte der Entmündigung mit Wirkungsgeschichte der wichtigsten politischen Manifeste der Unfreiheit. Nach einer kurzen Darstellung von Kontext und Biografie folgt eine pointierte Inhaltsangabe, danach wird aus liberaler Warte Stellung dazu bezogen. Mit aussagekräftigen Zitaten und Literaturhinweisen. Die Werke schlagen den Bogen von der Antike bis heute, vom Westen bis zum Osten, von der Rechtfertigung eines milden Paternalismus bis zur Verherrlichung brutaler Unterjochung. Von Platon bis Piketty, von Wagenknecht bis Mao, von Habermas bis Lenin. Karen Horn (Hrsg.) Verlockungen zur Unfreiheit Eine kritische Bibliothek von 99 Werken der Geistesgeschichte. 2015, 416 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. Fr. 48.– / € 48.– nzz-libro.ch Inhalt Vomausserirdischen Blondschopf und einer Ökologin, die die Welt retten will Antoine de SaintExupéry (S. 14). Illustration von André Carrilho Belletristik 4 Kenneth Bonert: Der Löwensucher Von Alexis Schwarzenbach 6 J. F. Dam: Die Nacht der verschwundenen Dinge Von Jürg Scheuzger Andreas Maier: Der Ort Von Regula Freuler 7 Paul Harding: Verlust Von Simone von Büren 8 Antonia Baum: Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stossstangen zu ernähren Von Sieglinde Geisel 9 Lea Singer: Anatomie der Wolken Von Stefana Sabin W. Smerling, T. Bezzola, F. Ullrich: China 8 Von Gerhard Mack 10 Davide Longo: Der Fall Bramard Von Sandra Leis 11 Dagny Gioulami: Alle Geschichten, die ich kenne Von Martin Zingg Kurzkritiken Belletristik 11 Wolfgang Bortlik: Spätfolgen Von Manfred Papst Adrian Witschi: Hoffentlich ist niemand verletzt Von Regula Freuler Daniel Kehlmann: Kommt, Geister Von Regula Freuler Joseph Zoderer: Dauerhaftes Morgenrot Von Manfred Papst Kinder- und Jugendbuch 12 Stefan Boonen: Ein Mädchen, sieben Pfannkuchen und ein roter Koffer Von Christine Knödler Chris Riddell: Ada von Goth und die Geistermaus Von Verena Hoenig Christian Frascella: Bet empört sich Von Daniel Ammann Wissen Sie, was ein «Pölözöst» ist? Dann blättern Sie rasch auf Seite 12, wo vom Märchen «Ein Mädchen, sieben Pfannkuchen und ein roter Koffer» die Rede ist. Wie immer im Sommer sollen Tipps für 6- bis 14-Jährige Lust aufs Lesen wecken. Wenn Sie also mit Ihrem Nachwuchs an den Strand oder in die Berge reisen, stecken Sie doch ein paar Bücher ins Gepäck. Strahlende Kinderaugen werden es Ihnen am Ende der Ferien danken. Über ein wunderschönes Buch, das Generationen von Jugendlichen bezaubert hat, schreibt Manfred Papst: «Der Kleine Prinz» erzählt von einem Jungen, den es von einem Asteroiden auf die Erde verschlagen hat und der dort auf einen notgelandeten Flieger trifft. Das Jahrhundertwerk des schriftstellernden französischen Piloten Antoine de Saint-Exupéry wird auch heute noch neu übersetzt und immer wieder aufgelegt (S. 14). Wer einen Schuss Romantik braucht: Bitte lesen! Weitere berührende Literatur finden Sie im Belletristik-Teil, zum Beispiel den Schelmenroman «Der Löwensucher» von Kenneth Bonert (S. 4). Eher intellektuelle Anregung bieten im Sachbuch-Teil das Plädoyer der US-Umweltprofessorin Jennifer Jacquet, die im Gefühl der Scham eine politische Kraft entdeckt, die es gesellschaftlich zu nutzen gelte (S. 18), oder Jan Assmanns Auseinandersetzung mit dem Gründungsmythos der monotheistischen Religionen, dem biblischen «Exodus» (S. 21). Wir freuen uns auf ein Wiederlesen am 30. August. Urs Rauber Karin Bruder: Haifische kommen nicht an Land Von Christine Knödler Gideon Samson: Doppeltot Von Andrea Lüthi 13 Anna Crausaz: Die Vögel auf dem Apfelbaum Britta Teckentrup: Alle Wetter Von Hans ten Doornkaat Katja Brandis: Floaters – Im Sog des Meeres Von Sabine Sütterlin Das ultimative Überlebenshandbuch – Outdoor Von Andrea Lüthi Reiner Engelmann: Der Fotograf von Auschwitz Von Christine Knödler Claire A. Nivola: Das blaue Herz des Planeten Von Verena Hoenig Essay 14 Riesengeschäfte mit dem kleinen Prinzen Manfred Papst erklärt, warum 2015 so viele Neuübersetzungen des Saint-ExupéryKlassikers «Le Petit Prince» erscheinen Kolumne 17 Charles Lewinsky Das Zitat von Francis Bacon Kurzkritiken Sachbuch 17 Ulrich L. Lehner: Mönche und Nonnen im Klosterkerker Von Urs Rauber Alfie Kohn: Der Mythos des verwöhnten Kindes Von Kathrin Meier-Rust Eva Illouz: Israel Von Kathrin Meier-Rust Michael Furger, Chanchal Biswas: Der Kult um unser Essen Von Simone Karpf Sachbuch 18 Jennifer Jacquet: Scham Von Kirsten Voigt 20 Werner Vogt: Winston Churchill und die Schweiz Von Urs Bitterli Loretta Napoleoni: Die Rückkehr des Kalifats Von Susanne Schanda 21 Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt Von Kathrin Meier-Rust 22 Max Tobler: «Die Welt riss mich». Aus der Jugend eines Rebellen Von Urs Rauber 23 GregWoolf:Rom Von Geneviève Lüscher Stefanie Carp: Barbara Ehnes – Alles auf Anfang Von Simone Karpf 24 Bernard Imhasly: Indien Von Jörg Fisch Karl Sigmund: Sie nannten sich «Der Wiener Kreis» Von André Behr 25 Rainer Moritz: Wer hat den schlechtesten Sex? Von Berthold Merkle 26 Katharina Raabe, Manfred Sapper: Testfall Ukraine Von Reinhard Meier Das amerikanische Buch Thomas Kunkel: Man in Profile. Joseph Mitchell of The New Yorker Von Andreas Mink Agenda 27 Corina Flühmann: Weststrasse Von Regula Freuler Bestseller Juni 2015 Belletristik und Sachbuch Agenda Juli 2015 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Simone Karpf (ska.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Björn Vondras (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected] 28. Juni 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman Der in Südafrika geborene Autor Kenneth Bonert beschreibt in seinem grandiosen Erstling das Schicksal einer jüdischen Familie, die es von Litauen nach Johannesburg verschlägt Lebenspraller Epochenroman Kenneth Bonert: Der Löwensucher. Diogenes, Zürich 2015. 800 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 30.–. Von Alexis Schwarzenbach Es ist lange her, seit ich einen 800-Seiten-Roman verschlungen habe, aber die Figuren in Kenneth Bonerts Erstling «Der Löwensucher» haben es mir angetan. Allen voran Isaac Helger, den wir zu Beginn des Buches als frechen jüdischen Bengel auf einem Auswandererschiff kennenlernen, das ihn und seine Familie kurz nach dem Ersten Weltkrieg von Litauen nach Südafrika bringt. Er schert sich nicht darum, was seine Eltern wollen und worüber sie grübeln, betritt unbekümmert das neue Land, die neue Stadt – Johannesburg. Die Helgers sind arm und wohnen zur Miete in einem schäbigen Haus in Doornfontein, neben anderen litauischen Juden und ein paar nationalistischen Afrikaanern. Isaac erkundet seine neue Heimat und geht selbstverständlich auch zu den Schwarzen, die damals in den Innenstädten noch toleriert werden. Doch als er von einer dieser Exkursionen einen weissen Welpen nach Hause bringt, werden Grenzen gezogen. Die resolute Mutter Gitelle, die bei der Ankunft sofort die im Hinterhof wohnende schwarze Haus4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Juni 2015 haltshilfe als Schickse identifiziert und rauswirft, zwingt den Jungen, den Hund abzugeben, und zwar an eine seiner neuen Bekannten. Ihr verkauft Gitelle unter der Hand Alkohol weiter, den Schwarze damals schon nicht mehr ohne weiteres selber kaufen durften. Beim nächsten Mal gibt sie den Hund gratis dazu. Getragen wird der Roman von Isaacs Familie, deren Schicksal im Mittelpunkt der Erzählung steht. Da ist zunächst die Mutter, deren Gesicht von einem Ereignis in der alten Heimat, über das sie nicht spricht, verstümmelt ist. Die Verunstaltung verbirgt sie hinter einem Schleier, der sich auch metaphorisch über alles legt, was in Litauen passiert ist, als das Land noch Teil Russlands war. Gitelle träumt von einem besseren Leben, einem eigenen Haus, Wohlstand. Sie setzt alle ihre Hoffnungen auf den Sohn, dem sie in ständig wechselnden Business-Phantasien riesige Gewinnchancen vorrechnet, deren Erfolg genauso ausbleibt wie bei den allermeisten Goldgräbern, die Jahrzehnte vor den Helgers nach Südafrika gezogen sind auf der Suche nach Glück. Der Vater hingegen, auch er gezeichnet von einem russischen Ereignis, ist wortkarg und bescheiden. Er ist Uhrmacher und flickt Chronometer, der stille Mittelpunkt einer Familie, die eine Zeit hinter sich gelassen hat, ohne damit abzuschliessen. Isaacs Schwester Rively schliesslich ist strebsam und intelligent. Sie interessiert sich im Gegensatz zu ihrem lernfaulen Bruder nicht nur für die Schule, sondern auch für die Politik. Obwohl sie nur ganz am Rand der Erzählung auftaucht, zeigt Rively den Helgers durch einen selbstbestimmten Lebensentwurf einen Ausweg aus der Sackgasse, in die die Familie in Südafrika hineingerät. Liebe zu Karossen Statt für die Schule schlägt Isaacs Herz für Autos. Nachdem er sich dummerweise in seine Lehrerin verliebt hat und wegen eines herrlich grotesken Vorfalls von der Schule fliegt, beschliesst er, Automechaniker zu werden, auch wenn Gitelle das gar keine gute Idee findet. Wie immer, wenn es um etwas ganz Wichtiges geht, schimpft sie auf Jiddisch: «A mechanic is asój wi a schwarzer.» Trotzdem setzt sich Isaac durch und lernt kaputte Autos auszubeulen und zu reparieren, bis man ihnen die Unfälle nicht mehr ansieht, in die sie verwickelt waren – auch das ein treffendes Symbol für die von allerlei Ungemach gezeichneten Helgers. Isaacs Liebe zu Autos lässt ihn aus der Enge des Elternhauses ausbrechen und führt ihm neue Menschen zu. Neben ERNST HAAS / GETTY IMAGES RICHARD DUBOIS Unterwegs mit dem Auto: Der «Löwensucher» führt uns von der Stadt Johannesburg hinaus auf das südafrikanische Veld (Foto 1954). Autor Kenneth Bonert (unten). schwarzen Arbeitskollegen, mit denen er sich bestens versteht und von denen er viel lernt, findet Isaac in Hugo Bleznik den älteren Bruder, den er nie hatte. Hugo ist freier Handelsreisender, und obwohl seine Geschäftsideen kaum besser sind als diejenigen Gitelles, ist Scheitern mit Hugo deutlich lustiger. Und dank Autos lernt Isaac auch Yvonne Linhurst kennen, deren Vater einen der wenigen Cadillacs in Südafrika besitzt, was den Jungen fast genauso fasziniert wie die schöne Tochter. Eine Spritztour in der edlen Karosse endet im Township Orlando, wo Yvonne und Isaac in arge Bedrängnis geraten. Während damit die von bitterer Armut und bewusster infrastruktureller Vernachlässigung geprägte Realität der Apartheid direkt in den Blickwinkel des Romans gerückt wird, erzählt er gleichzeitig vom Schicksal der in Europa verbliebenen Verwandten der Helgers. In den 1930er Jahren gerät Litauen unter immer grösseren Druck seiner deutschen und sowjetischen Nachbarn, aber wie fast alle Staaten nimmt auch Südafrika just dann fast keine jüdischen Einwanderer mehr auf. Eine der grossen Leistungen des Romans besteht darin, dass es Kenneth Bonert gelingt, zwei Grosserzählungen des 20. Jahrhunderts, die Rassentrennung in Südafrika und den Holocaust in Europa, nicht nur zu verbinden, sondern in der Figur von Isaac Helger auch einen Protagonisten zu schaffen, der sich beidem durch Frechheit, Mut und Lebenslust immer wieder entziehen kann. Dass sich der unerschrockene Grenzgänger den grossen Themen schliesslich dennoch stellt und Kenneth Bonert dafür überzeugende, neue Bilder findet, unterstreicht das grosse Talent des 1972 in Johannesburg geborenen Autors. Ein anderes Südafrika Inzwischen lebt Bonert nicht mehr in Südafrika, sondern ist mit seinen Eltern schon als 17-Jähriger nach Kanada ausgewandert. Sein Buch ist daher auch ein Tribut an eine verlassene Heimat, deren literarische Landschaft in den letzten Jahrzehnten von einem heute ebenfalls ausgewanderten Autor entscheidend geprägt wurde, J. M. Coetzee. Vermutlich gerade weil dem Autor das Coetzee’sche Terrain bestens bekannt sein dürfte, erleben wir dank Isaac Helger ein ganz anderes Südafrika. Frech und unbekümmert wie sein Protagonist schreibt Kenneth Bonert gegen eine unheimliche, von konkreten politischen Ereignissen losgelöste Landschaft an und verwebt seinen Roman direkt mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Und obwohl die Erzählung lange Zeit auf den Stadtraum Johannesburgs beschränkt bleibt, wagt sich Bonert auch hinaus auf das Veld, die Quintessenz der von den Buren erfundenen südafrikanischen Landschaft. Zunächst fährt Issac zusammen mit dem Handelsreisenden Hugo Bleznik hinaus aufs Land, um gutgläubigen Bauern neumodischen Mist anzudrehen. Beim zweiten Mal sitzt Mutter Gitelle auf dem Beifahrersitz. In einem geliehenen Austin lässt sie sich von ihrem Sohn zum einzigen Verwandten fahren, der es auch aus Litauen nach Afrika geschafft hat, Avrom Suttner. Mit Hilfe des erfolgreichen Geschäftsmanns hofft Gitelle Ausreisevisa für ihre in Litauen verbliebenen Schwestern zu erhalten. Beim Besuch auf der Farm Suttners, von dessen Existenz Isaac zuvor noch nie etwas gehört hatte, verdichten sich die Erzählstränge des Buches, lichten sich erste Schleier, fallen neue hinab und verwirren Leser und Protagonisten gleichermassen. Vor dem Hintergrund der eigenen jüdisch-südafrikanischen Familiengeschichte und einer jener Grossmütter, die bekanntermassen zu den besten Buchinspiratorinnen überhaupt zählen, überzeugt Kenneth Bonerts grandioser Familien- und Epochenroman durch filigran ziselierte Charaktere im Spannungsfeld zwischen Grausamkeit und Liebe, Zukunft und Vergangenheit. ● 28. Juni 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman Der österreichische Autor J. F. Dam variiert in seinem neuen Buch das Werther-Motiv, eingebettet in eine moderne Liebesgeschichte GnadenlosschlägtdieLeidenschaftzu Von Jürg Scheuzger Der Roman beginnt mit einem tödlichen Schlangenbiss in Burma und endet mit einem möglicherweise tödlichen Verkehrsunfall in den europäischen Bergen. Dazwischen erzählt der österreichische Erzähler J. F. Dam in «Die Nacht der verschwundenenDinge»eineLeidenschaftsGeschichte im 21. Jahrhundert – nach dem Muster von Goethes «Werther». J. F. Dam, geboren 1963, hat Sanskrit und indische Philosophe studiert, Bücher über den Hinduismus geschrieben und 2013 den Kriminalroman «Der dritte Berg» veröffentlicht, der den Kenntnissen des Autors über indische Weisheit viel verdankt. Und nun also ein Roman über europäische Stadtmenschen und die sogenannte Liebe. Leidenschaft braucht keinen Grund, sie schlägt einfach zu. Thomas, recht erfolgreich als Architekt, nichtssagend verheiratet mit der schönen Modedesignerin Christina, sieht nach einem Messiaen-Konzert Helen, die Frau seines besten Freundes, wie zum ersten Mal und ist fortan für das Leben verloren. «Ich war berührt worden. […] Ich war ein Ausgestossener. Schon in dieser Nacht war ich so gut wie tot.» Der Autor hält sich nicht streng an das Werther-Muster, aber es ist stets zu erkennen. Der erste Teil des Romans ist ein Bericht von Thomas über den Beginn seiner ausweglosen Leidenschaft, der zweite Teil ist sein Tagebuch, und eine lange Mail Christinas zeigt ihre Sicht der Ereignisse. Bericht und Tagebuch erlauben ein subjektives Schreiben ohne Hemmungen, stil- und geschmacklos; Helen hat ein «Botticelli-Gesicht», sie ist «die grösste Liebe des Lebens», und Thomas kann schreiben: «Niemals noch habe ich eine Frau so begehrt.» Er kann bedenkenlos Metaphern aneinanderreihen: «Ich verblute in der Abenddämmerung zwischen rauchenden Himmeln und Verheissungen auf das höchste Paradies, das fünfzehn Minuten lang neben mir im Wagen sitzt.» Vielleicht hat der Autor beim Schreiben dieses Satzes gelächelt. Dem literarischen Vorbild entspricht auch die Zeichnung der Figuren: Thomas’ Freund Michael, der Schatten von Goethes Albert, ist ein fader Bildungsbeamter, und Helen, die Lotte-Figur, ist eine «engelhafte» Muttergestalt, von der GETTY IMAGES J. F. Dam: Die Nacht der verschwundenen Dinge. Deuticke/Zsolnay, Wien 2015. 208 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 21.90. In J. F. Dams Roman fängt ein erfolgreicher Architekt Feuer für die Frau seines besten Freundes. niemand, auch Thomas nicht, weiss, ob sie wahrhaft liebt, ob sie sich eine kleine Affäre wünscht oder ob sie tugendhaft ein wenig leidet. Thomas’ Suizid-Phantasien verdichten sich, und der finale Autounfall kann bewusst herbeigeführt worden sein – vom betrogenen Freund. Der Roman handelt in einer Grossstadt, wahrscheinlich in Wien, wo, satirisch überhöht, ein Glasturm, ein aufdringliches Dingsymbol, errichtet wird. Die Gestalten bewegen sich in einer postideologischen Cüpli-Gesellschaft, in der ein Europa-müder Kulturrelativismus en vogue ist. Ein vielleicht sogar echter Erleuchtungsmoment in einem buddhistischen Tempel wird ironisch als PartyShowstück dargeboten. Thomas beobachtet und kommentiert das unernste Treiben mit Abscheu, aber ohne sich zu ereifern, denn für ihn zählt nur die Leidenschaft. Sex und Alkohol sind allgegenwärtig, selbst für Thomas, der immer wieder versucht, die Helen-Besessenheit zu ersticken oder zu ertränken. Aber vielleicht ist dieser Roman über totale Liebe auch nur ein Vexierstück des indologisch gebildeten Autors. Thomas schreibt Bücher über asiatische Tempel, er zieht sich für Monate meditativ nach Ostasien zurück. Er schreibt in Burma: «Ich bin berührt worden von den richtigen Dingen: einem Flusssteg, Erkenntnis, Abgrund.» Ist das eine Erinnerung an Hesses «Siddhartha»? Dies könnte bedeuten, dass die Leidenschaft nur im oft genannten «falschen Leben» im Westen eine Bedeutung hätte. Doch der Satz wird gleich wieder dementiert. Die Interpretation des Romans bleibt so offen wie der Schluss dieser klugen Folge von fiktionalen Intertexten. ● Roman Im vierten Teil seiner Heimaterkundung seziert Andreas Maier die erste Verliebtheit So taumelten sie durch den Tag Andreas Maier: Der Ort. Suhrkamp, Berlin 2015. 154 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 18.–. Von Regula Freuler Auf nicht weniger als elf Bände hat Andreas Maier seine Heimaterkundung angelegt. Eine Autobiografie? Nicht ganz. Oder so, wie eine Autobiografie auch sein kann: autobiografisch grundiert, aber mit der ganzen Freiheit der Fiktion im Detail. Und Andreas Maiers «Ortsumgehung», wie der 2010 mit «Das Zimmer» begonnene Roman-Zyklus heisst, besteht eigentlich aus nichts anderem als aus Details. Der Autor schreibt, als hätte er eine Lupe statt einer Tastatur. Er geht so nah an die Dinge heran, bis sie die Crux der langsamen Betrachtung offenbaren: Man glaubt etwas fassen zu können, wenn man nur genug genau schaut, 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Juni 2015 doch dann beginnt es zu verschwimmen, und man muss wieder zum ganzen Bild zurückgehen. Dieses Heran- und Wegzoomen ist die Schreibbewegung Andreas Maiers. Maier wurde 1967 in Bad Nauheim geboren, einer mittelgrossen Stadt in der hessischen Wetterau, die schon einige berühmte Kurgäste gesehen hat. Diese Landschaft ist es, die Maier seziert. Es wird sein Lebenswerk sein, «ein Werk, das du so lange weiterschreibst, bis du tot bist», schreibt er im ersten, langen Satz des vierten Teils, «Der Ort». Jetztzeit ist das Jahr 2009, von dem aus der IchErzähler Andreas sich ans Frühjahr 1983 erinnert. Er war damals 15 Jahre alt und verliebt in Katja Melchior, las zwanghaft Bücher: Frisch, Nietzsche, Mann, Benn, Kant, was auch immer. Die Buchhandlung zu betreten, «bedeutete auch jedesmal einen Rausch», denn der Bü- cherkauf war für ihn eine «Nervenreizung der ganz überdrehten Art». Andreas ist überzeugt, verrückt zu sein – was für ein überzeugenderes Selbstbild eines Teenagers kann es geben? Zu viel mehr als einer scheuen, aber umso innigeren Umarmung kommt es nicht zwischen den beiden Jugendlichen Andreas und Katja, die sich an einer Party in konzentrischen Kreisen annähern und wieder voneinander entfernen. Auch dies eine wunderbare Metapher für den Schriftsteller als jungen Mann, der von sich schreibt: «Ich war dabei, ein Bild von mir zu entwerfen, das erste Bild meiner Wahl.» Kühl mag der schmale Roman in Satzstruktur und Wortwahl wirken. Doch steckt seine Kraft in genau solchen Sätzen. Wer die ersten drei Teile des Roman-Zyklus noch nicht kennt, wird sie lesen wollen, und auf die Fortschreibung wartet man nun neugierig. ● NATIONAL GEOGRAPHIC / GETTY IMAGES Roman Pulitzerpreisträger Paul Harding schreibt in seinem Zweitling über den Verlust von Familie Ziellosunterwegs Paul Harding: Verlust. Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. Luchterhand, München 2015. 272 Seiten, Fr. 28.90. Von Simone von Büren Die Zeit ist durcheinander geraten in Charlie Crosbys Wahrnehmung. Mrs Hale war bereits alt, als sein Grossvater ihre Standuhr reparierte, und nun sitzt sie Jahrzehnte später nach wie vor in ihrer Villa und schimpft. Und seine Tochter wird im 21. Jahrhundert von ausgemergelten Seemännern auf eines der Segelschiffe getragen, mit denen die Puritaner in Amerika ankamen. Auf das Durcheinandergeraten der Zeit versteht sich Paul Harding bekanntlich. Mit seinem eindringlichen Debüt «Tinkers» (Luchterhand 2010) über die fragmentierte Zeitwahrnehmung des sterbenden Uhrmachers George Crosby gewann der Autor 2010 den Pulitzerpreis. In seinem neugierig erwarteten Zweitling gerät nun die Zeit von Georges Enkel durcheinander, als dessen 13-jährige Tochter Kate tödlich verunfallt. Verzweifelt, einsam, von Alkohol und Schmerzmitteln betäubt, kann Charlie Gegenwart und Vergangenheit, Tote und Lebendige nicht mehr auseinanderhalten. Er begegnet Geistern, treibt mit Quallen durch urzeitliche Gewässer und landet in einer vergilbten Fotografie von zwei Kindern, von denen eines Kate ist «und wiederum doch nicht Kate». Landkarte der Erinnerung Hardings Protagonist steht unsicher in der Zeit, ist aber umso sicherer verortet in Enon, nach dem der Roman im Original benannt ist. Charlies gegenwärtige und erinnerte Spaziergänge lassen eine innere Karte dieser Kleinstadt an der USOstküste entstehen, annotiert mit historischen Ereignissen, Kindheits-Schauplätzen und Erinnerungen an Kate. Die immer selben Wiesen und Wälder, die Charlie als Teenager, frisch Verheirateter, glücklicher Vater und ausgehungertes Wrack durchstreift, bieten eine Kontinuität, die die Zeit nicht geben kann. Sie bergen aber auch einen Abgrund, der sich «wie eine Welt in einem Aufklappbuch» für den abenteuerlustigen Jungen und den betäubten Mann gleichermassen auftut: Unter Wäldern und Häusern liegen ineinander verkeilt die Rippen und Zähne, Schienbeine und Knöchel von Schafen, Hunden und Eulen, von Puritanern, Indianern und namenlosen Kindern. Und in Charlies morbiden Visionen gibt diese Unterwelt ihre Wesen frei: Geister schlitteln auf dem Friedhof. Kate steigt aus einem Haufen von Knochen, die «mal Reliquien von Märtyrern und mal Reste von Essenstellern sind, mal die Überbleibsel von Leviathanen und Heiligen». Sie kommt verdreifacht zurück, um dreifach wieder zu sterben. Charlie wird ein Umhang aus Vogelkadavern umgelegt und am Hals mit Krallen verhakt. Dem Jungen kam auf diesen Grenzgängen stets ein Kamerad zu Hilfe, wenn er in Not war. Dass sich um den verzweifelten Erwachsenen nun so gar niemand kümmert, ist eines von vielen nicht ohne weiteres plausiblen Elementen im Roman: Dass Charlies Frau die Nachricht von Kates Tod auf die Combox spricht; dass sie kurz nach der Beerdigung für immer verreist und Charlie kaum je an sie denkt; dass der einmalige Kauf von Kaffee und Zigaretten über fast 20 Seiten geschildert wird, aber sonst von Einkaufen oder Essen nie die Rede ist. Nicht recht glaubwürdig wirke, so befanden manche Kritiker, die Trauer an sich, die Charlie zu berechnen versucht, indem er «Mandalas und Teilchenbeschleuniger und Kalender, zusammengesetzt aus konzentrischen Kreisen und ochsenwendigen Algorithmen», an die Wand malt. Sie wirke unglaubwürdig, weil Charlie den Grossteil der Zeit damit verbringt, ganz ungestört über so vieles nachzudenken, das mit Kate und ihrem Tod nichts zu tun hat. Und weil wir statt der gesunden Tochter, die ihren Vater so Verdrängung der Trauer: In «Verlust» flüchtet sich die Hauptfigur in die Auseinandersetzung mit der Vegetation einer Kleinstadt an der US-Ostküste. glücklich machte, dass er ihren Verlust nicht verkraftet, alle Kates sehen, «die ich seit ihrem Tod erfunden hatte, auf einem Wandvorsprung aufgereiht wie alte Puppen». Angesichts dieser grotesken «Flickenpuppe» von Tochter bleibt die Verzweiflung des Vaters tatsächlich eher abstrakt. Das hat aber auch damit zu tun, dass Harding weniger die Trauer an sich beschreibt, als den Versuch, diese mittels Medikamenten, Alkohol, nächtlichen Spaziergängen und manischem Nachdenken über die Vegetation, Etymologie und Geschichte Enons zu vermeiden. Ausführlich schildert er Strategien der Abstumpfung und Ablenkung, zu denen nicht zuletzt die gebrochene Hand gehört, die von einem unerträglichen Schmerz ablenkt, der keinen direkten Ausdruck findet. Zeitliches Durcheinander Einen umso direkteren Ausdruck findet Hardings Ich-Erzähler für seinen verwirrten Zustand. Er beschreibt seine mentale Abstumpfung in einer komplexen, metaphernreichen Sprache (die auf Deutsch zusätzlich verkompliziert wird, wenn etwa «the chains moved» übersetzt wird mit «nun hatten die Ketten ein Einsehen»). Das irritiert. Denn auch wenn der Roman in der Vergangenheitsform, aus einer Position wiedererlangter Klarheit erzählt wird, fragt man sich, ob Charlie sich und die Welt im Moment der Betäubung so bewusst hat wahrnehmen und reflektieren können und sich danach so genau daran erinnert. Es entsteht der Eindruck einer eigenartigen Gleichzeitigkeit. Als ob sich jemand auf einer Bühne – im Roman neben Knochen, Vögeln und Löchern ein zentrales Motiv – kritisch und wach zuschauen würde bei der Darstellung eines verzweifelten Verrückten. Und das ist bei aller Irritation durchaus eine konsequente Folge des zeitlichen Durcheinanders, das in dem Moment entsteht, als Kate an ihrem Vater vorbei, ihm voraus, in den Tod rennt. ● 28. Juni 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Antonia Baum schildert mit viel Witz die Idylle und das Elend des Mittelstands FamiliäreSpritzfahrt imLeichenwagen und das wahre Elend der Mittelklasse, sie geht lieber dorthin, wo es weh tut. Die erste Hälfte ihres Romans fasziniert. In der zweiten Hälfte des Buchs wird die Sprache jedoch überraschend konventionell – weil die Ich-Erzählerin älter wird? –, und es ist auch nicht mehr so viel los. Dass man sich weniger gut unterhält als zuvor, hat überdies mit der ParallelErzählung zu tun, die mit den Kindheitspassagen wechselt. Die erwachsenen Kinder versammeln sich in Theodors vermülltem Haus: Er ist verschwunden, in Panik machen sich die drei auf eine Suche, die mit den Worten endet: «Jetzt ist alles Schrott. Der Porsche, Clint, Jonny und ich, Theodor sowieso. Wir haben alles zu Schrott gemacht. Wie es sich für uns gehört vielleicht.» Und dann ist doch nicht alles Schrott. «Es ging alles gut. Irgendwie halt und wie immer.» Antonia Baum: Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stossstangen zu ernähren. Hoffmann & Campe, Hamburg 2015. 400 Seiten, Fr. 33.90, E-Book 20.90. Von Sieglinde Geisel «Theodor ist unser Vater. Er behauptet von sich, er habe sich selbst erzogen, also ohne dass ihm dabei jemand geholfen hätte.» Ein bemerkenswerter Romananfang: Die Kinderstimme, die hier erzählt, ist bereits ganz da. Und rasant geht es weiter: Der einäugige Theodor fährt mit seinen drei Kindern zum Schrottplatz, in einem Leichenwagen mit selbst gezimmerter roter Kunstlederrückbank, auf der sich nur einer anschnallen kann. Der abgründige Dialog, der sich zwischen Vater und Kindern entspinnt, verschafft uns gleich auf der ersten Seite die wohlige Gewissheit, dass wir in diesem Roman mit allem rechnen müssen. «Bei uns sind viele Sachen anders, und das meine ich nicht so: Haha, zwinker, zwinker, unsere Familie ist echt supercrazy. Ich meine, bei uns stimmt das wirklich.» Hardcore-Prosa Wir lesen und hören die Stimme von Romy, am Anfang des Romans noch keine neun Jahre alt, am Ende zwölf, ein leicht abgebrühtes, neugieriges, hellwaches Mädchen, das kein anderes Leben kennt als eben dieses mit einem höchst zweifelhaften Vater: Arzt, Autonarr, Geizhals, zwischendurch Künstler, später Kneipenbesitzer und bei all dem stets in undurchschaubare kriminelle Machenschaften verstrickt. Die Mutter der Kinder ist tot, aber darüber mag Theodor nicht reden – und doch lieben ihn nicht nur seine Kinder, sondern auch wir Leser, denn Theodor ist im Buch die Figur mit den besten Sprüchen. «‹Was ist anarchisch?›, fragte ich. ‹Wenn man tut, was man für richtig hält.›» Obwohl seine zugenähte Augenhöhle «totenkopfmässig» aussieht, trägt Theodor nur im Notfall eine Augenklappe, zum Beispiel wenn Frau Reiss vom Jugendamt kommt, für Romy eine Schreckensgestalt: «Wie sie alles exakt und überdeutlich aussprach, so, als müsse man ein Wort vom Anfang bis zum Ende gründlich durchturnen.» Das Jugendamt hat allen Grund für Besuche. Wochenlang fehlen die Kinder in der Schule, denn Theodor nimmt sie mit nach Berlin, wo er ein Wettbüro eröffnen will, das allerdings über das BaustellenStadium nicht hinauskommt, samt zwei Kampfhähnen, einer entlaufenen Vogel8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Juni 2015 DAVID ROTH / GETTY IMAGES Durchgeknallter Vater Spielende Kinder im Abflussrohr: Die kleine Romy erzählt, wie sie und ihre Geschwister in Machenschaften ihres Vaters verwickelt werden. spinne namens Luise sowie einem gefährlich schwelenden Konflikt zwischen Kalli, der nur noch sechs Zähne hat, früher Geigenbauer war und jetzt, trotz seiner Trunksucht, als Handwerker unverzichtbar ist, und Theodors Geschäftspartner Fuat, einem ordentlichen, ja fast spiessigen Türken, in dessen Wohnung die Kinder zum ersten Mal ein geregeltes Familienleben geniessen – bis dann alle die Flucht ergreifen müssen, unter dramatischen Umständen natürlich. Und so geht es munter weiter, knallige Szenen, fetzige Dialoge, und immer knapp am Abgrund, mit elf sind die Kinder bereits Drogendealer, sie haben das Überleben gelernt auf dem Schrottplatz, der das Leben sein kann. Antonia Baum ist eine Autorin, die keine Lust hat auf die verlogenen Idyllen Je länger man liest, desto mehr schleichen sich Zweifel ein. Dass mit einem Buch möglicherweise etwas nicht stimmt, verrät der Stil. Wörter wie «zeitlupenmässig», «weltuntergangsmässig», «losermässig» sagt Romy ständig, und auch wenn das Kinderslang und somit Rollenprosa sein sollte, ist es eine Masche, ebenso die ewigen BindestrichWendungen: Wenn jemand etwas sagt, dann tut er es «mit einem intensiven Duweisst-genau-dass-du-das-nicht-sagensollst-Blick», «auf diese Mir-könnt-ihres-doch-erzählen-Weise» oder auch «so auf die Versau-mir-das-jetzt-bloss-nichtWeise». Was die Illusion, die durch Stil entsteht, endgültig zerstört, sind Sätze, die man einem Kind nicht glaubt: Kalli befindet sich «in der totalen Verneinung», die Katastrophe fing an, «ihr gemeines Maul aufzumachen». Antonia Baum kann schreiben, und sie sprüht vor Einfällen, daher ist die Lektüre ihres Romans streckenweise ein beträchtliches Vergnügen. Doch man zweifelt an der Authentizität des Berichteten – einem Kriterium, das in der Literatur so heikel wie unverzichtbar ist. Glauben wir, was wir lesen? Haben wir es bei Antonia Baum, die im Brotberuf Feuilleton-Redaktorin bei der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» ist, tatsächlich mit einer angry young woman zu tun? Man wird den Verdacht nicht los, die Autorin wolle sich mit ihrer Hardcore-Prosa von den Erzeugnissen der viel gescholtenen Literaturinstituts-Absolventen und Akademikerkinder absetzen. Das wäre dann allerdings kein bisschen wild und radikal, sondern das, was Adorno «freundliche Anpassung ans Gewünschte» nannte. ● Erzählung In ihrem neuen Künstlerroman lässt Lea Singer den jungen Caspar David Friedrich sich gegen den alternden Goethe behaupten EdlerWilderreiztDichterfürsten Lea Singer: Anatomie der Wolken. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 255 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.90. Von Stefana Sabin Schon bevor sie sich kennenlernten, mochten sie einander nicht: der alternde Johann Wolfgang von Goethe, Dichterfürst in Weimar, und der junge Caspar David Friedrich, Landschaftsmaler in Dresden. Goethe hatte, nachdem die Farbenlehre nicht so begeistert aufgenommen worden war, wie er erwartet hatte, angefangen, sich der Wolkenkunde zu widmen. Dabei stiess er auf die Bilder von Friedrich, der als Wolkenmaler schon bekannt war. Aber als er Friedrich in seinem Atelier in Dresden besucht, ist Goethes Abneigung gegen die nebelverhangenen düsteren Himmelslandschaften deutlich. «Ich begreife nicht», sagt Goethe vor dem Gemälde «Der Mönch am Meer» stehend, «was dieser Himmel soll.» Und dann fragt er Friedrich: «Haben Sie Reisepläne? Italien vielleicht?» Diese Frage macht den Gegensatz zwischen den beiden Temperamenten und Weltanschauungen deutlich: Friedrich malte den erhabenen Norden, Goethe China Ein Kunstkontinent setzt sich in Szene Mit der Welt ihrer Grossmutter verbindet Dong Yuan ihre frühesten Erinnerungen. Ihr Haus steht für eine Welt, in der die Dinge vertraut sind, und für eine einfache Lebensweise, die noch direkte Erfahrungen erlaubt. Diese Erinnerungslandschaft hat die 1984 geborene, heute in Peking lebende Künstlerin mit ihrem Verständnis von Hieronymus Bosch verbunden, dessen Bilder alltägliche Szenen in eine surreale Welt übersteigern. In drei Jahren hat sie 855 Ölbilder gemalt, in denen sie die Welt ihrer Kindheit mit Traumwelten der westlichen Kunst zusammenbringt. Boschs Völlereien sind da schon mal fein säuberlich auf vielen kleinen Leinwänden zu Lebensmittelporträts geordnet. Die Mischung aus Fremdheit und Vertrautheit kennzeichnet viele der Arbeiten der rund 120 Künstlerinnen und Künstler, die der Band anlässlich von acht Ausstellungen im Ruhrgebiet (bis 13.9.) zu einem Panorama zeitgenössischer chinesischer Kunst vereint. Hier kann man auf Entdeckungsreise gehen und Positionen entdecken, die im Westen noch nicht überall zu sehen waren. Gerhard Mack China 8. Hrsg. von W. Smerling, T. Bezzola, F. Ulrich. Wienand, Köln 2015. 496 Seiten, 325 Abb., Fr. 68.–. hing dem arkadischen Süden nach. Friedrichs melancholische Wolken- und Meerlandschaften begriffen die Romantiker als Seelenlandschaften. Goethe hielt die Romantiker für exaltierte Spinner und ignorierte sie, wenn er sie nicht verspottete. So ist Goethes Besuch in Friedrichs Atelier gewissermassen die Schlüsselszene in dem neuen Roman von Lea Singer (Pseudonym der Kunsthistorikerin Eva Gesine Baur), der um die entschiedene Antipathie zwischen Goethe und Friedrich kreist. Singers Goethe steht zwar im Zenit seines Ruhms, doch die Reime gelingen ihm nicht mehr so mühelos wie früher, das Flirten mit den jungen Frauen in seiner Umgebung wirkt nicht mehr, er kränkelt ununterbrochen. Aber er ist zugleich ein machtbewusster Dichterfürst, der seine Bekanntheit nicht nur auskostet, sondern auch ausnutzt – und der seine eigenen Meinungen auch dann noch für massgeblich hält, wenn eine neue Generation längst andere Vorstellungen durchgesetzt hat. Singers Friedrich dagegen ist ein edler Wilder, der sich über ästhetische und gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzt und sich in der feinen Weimarer Gesellschaft wie «ein räudiger Hund zwischen Seidenbeinen» fühlt. Zwar sucht Friedrich Goethes Anerkennung, aber er ist nicht bereit, dafür von seinem Kunstbegriff abzurücken. Keineswegs nach Italien, sondern nach Island wolle er reisen, hält er Goethe entgegen. Goethe will die Wolken studieren, sie erfassen und benennen. Friedrich dagegen will «in den Wolken träumen» können. Deshalb ist er über Goethes Auftrag, seine Wolkenkunde zu illustrieren, entsetzt. «‹Was?›, schrie er. ‹Was?› In Friedrichs Gesicht wetterleuchtete es. ‹Ich soll die Träume…die Phantasie in Ketten legen? Ich?›» In der gegensätzlichen Auffassung von den Wolken verdeutlicht Singer den Unterschied zwischen den beiden Kontrahenten im Roman – und auch den Unterschied zwischen der untergehenden Klassik und der aufkommenden Romantik. Darin liegt der Reiz dieses Künstlerromans: Ausgehend von einer realen Begebenheit – der Begegnung von Goethe und Friedrich 1810 –, macht Singer einen kunsthistorischen Gegensatz nachvollziehbar. Singer alias Baur, die für ihre Musiker-Romane und ihre gastrosophischen Bücher schon mit dem HanneloreGreve-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, hat ein Gespür für den angemessenen Erzählrhythmus und für die richtige Mischung aus Sentimentalität und Nüchternheit. Sie zeichnet die beiden Künstler-Hauptfiguren ebenso glaubhaft wie die Nebengestalten, Friedrichs jugendlichen Zorn ebenso plausibel wie Goethes altkluge Gereiztheit, Sylvie von Ziegesars Unbekümmertheit ebenso wie Louise Seidlers Ernst. Auf diese Weise ist Lea Singer ein Unterhaltungsroman der gehobenen Art gelungen. ● 28. Juni 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Davide Longo zählt zu den wichtigsten literarischen Stimmen Italiens. Sein neuer Krimi handelt von einem Kommissar, der aus dem Ruhestand zurückkehrt EingeholtvonderVergangenheit Davide Longo: Der Fall Bramard. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2015. 320 Seiten, Fr. 28.90, E-Book Fr. 18.–. Die Vorgehensweise war immer dieselbe: Alle sechs Opfer waren zwischen 25 und 30 Jahre jung, gross, schlank, hatten einen kleinen Busen und langes schwarzes Haar. Der Mörder entführte die Frauen, forderte kein Lösegeld, sondern schrieb jeweils einen anonymen Brief ans Polizeipräsidium und lenkte die Polizei an den jeweiligen Tatort. Dort fand sie die Frauen mit Schnitten am Rücken und amputierten Zehen, die schwarzen Haare abgeschnitten und ringsum verstreut. Das erste Opfer hat überlebt und dämmert seit 25 Jahren in der Psychiatrie vor sich hin; alle anderen Frauen kamen bei der Tortur ums Leben. Das letzte Opfer war die Frau des ermittelnden Kommissars Corso Bramard, zudem ist seine kleine Tochter seit diesem Mord spurlos verschwunden. Das ist Dramatik pur, hält den Leser bis zum Schluss bei der Stange und passt zum Schreiben des 44-jährigen italienischen Schriftstellers Davide Longo. Bereits sein Debütroman «Der Steingänger» (2007) handelte von einem Mord in den piemontesischen Alpen. Und sein Weltuntergangsroman «Der aufrechte Mann» (2012) inszeniert eine durch und durch barbarische Version der Zukunft. Frauen als Opfer Davide Longo, selber im Piemont geboren und bis heute dort zu Hause, kennt die einsamen Landstriche und die Stadt Turin, kennt den Menschenschlag, insbesondere die wortkargen Männer, und lässt sie Sätze zueinander sagen wie: «Frauen, die diese Orte verstehen wie wir, gibt es nicht.» So erstaunt es nicht sonderlich, dass Frauen in diesem Roman in erster Linie Opfer sind, Prostituierte, Ehefrauen oder Geliebte. Im Kontrast dazu gibt es eine junge rotzige Polizistin, deren Schädel zur Hälfte kahl rasiert ist und die die Dachfenster ihrer Mansarde mit Müllsäcken verhängt. Das klingt im ersten Moment verwegen, bedient letztlich aber nur ein Klischee. Hauptfigur ist der Mittfünfziger Corso Bramard, einst der jüngste Kommissar Italiens, heute Geschichtslehrer, Vielleser und Grübler. Nach dem Mord an seiner Frau Michelle und dem Verschwinden seiner Tochter Martina quittierte er den Polizeidienst, verfiel dem Alkohol und zog auf den Bauernhof seiner Eltern. Hier lebt der passionierte Bergsteiger in der Nähe seiner geliebten Berge, die ihm vorübergehend Linderung verschaffen. Doch er bleibt ein einsamer Wolf, ein Getriebener, den die Vergangenheit immer wieder einholt. Zwanzig Jahre nach Mi10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Juni 2015 PAOLO GIAGHEDDU Von Sandra Leis Davide Longo, 44, im Piemont zu Hause, kennt die einsamen Landstriche, wohin Grübler wie Ex-Commissario Bramard sich zurückziehen. chelles Tod kehrt sie mit aller Wucht zurück in die Jetzt-Zeit, ins Jahr 2006. Der Mörder schickt erneut einen Brief, wieder auf einer alten Olivetti geschrieben und mit einem handschriftlichen Zitat aus dem Song «Story of Isaac» von Leonard Cohen. Diesmal legt der Mörder ein Haar bei, das vom ersten Opfer stammt. Der Ex-Kommissar nimmt den alten Fall wieder auf und kann auf die Hilfe seines einstigen Assistenten zählen, der seinen Posten übernahm und ihm jetzt die junge clevere Polizistin zur Seite stellt. Schönheit des Verbrechens Während die Ermittlungen ihren Lauf nehmen und mit viel zu vielen Fährten und Figuren in manche Sackgasse führen, ergründet Bramard immer wieder sein Inneres. Er weiss um den «Dreh- und Angelpunkt», der ihm sein wahres Gesicht offenbarte. Nicht Michelles Tod, nicht die vergebliche Suche nach Martina haben ihn zu dem Menschen gemacht, der er jetzt ist. «Bei ihm war es das Öffnen der Tür zu dieser Hütte gewesen, in der er Schönheit entdeckt hatte dort, wo der Mensch, der er zu sein glaubte, nur Grauen hätte sehen können.» Anstatt über den Anblick der toten Michelle zu erschrecken, ergötzte er sich an der Schönheit des Verbrechens. Und genau das hat auch der Mörder gemacht, der ihn beim Showdown am Ende des Romans fragt: «Was geschehen ist, ist im Namen der Schönheit geschehen? Was geschehen ist, hat eine Schönheit hervorgebracht, die höher steht als das Opfer? Die Antwort ist ja.» In diesem Kriminalroman geht es nicht primär um die Frauenmorde, eigentlich geht es um den titelgebenden «Fall Bramard». Und der löst sich insofern auf, als Davide Longo die verhängnisvolle Nähe von Verbrechen und Schönheit aufzeigt. Bei der Aufklärung der Frauenmorde hingegen bleibt auch bei der zweiten Lektüre zu vieles unklar. Bramard besucht das erste Opfer in der Psychiatrie und findet Hinweise auf ein Turiner Edel-Bordell namens «belles ronfleuses»; die Fäden zog der Vater des ersten Opfers gemeinsam mit zwei Freunden. In den 1970er Jahren konnten in diesem Etablissement, so heisst es, alte Männer bei jungen Mädchen schlafen, ohne mit ihnen Sex zu haben. Die Idee stammte aus dem Roman «Die schlafenden Schönen» des japanischen Literaturnobelpreisträgers Yasunari Kawabata. Was bei ihm eine literarische Altmännerphantasie ist, entgleiste in Turin. Ein Mädchen wurde schwanger, und das Haus wurde ohne öffentliches Aufhebens geschlossen. Das war möglich, weil viele Machtträger aus Politik und Kirche involviert waren. Nur: Was hat der Mörder, der damals um die zwanzig war, mit diesen Alten zu tun? Es hilft nichts: Die Story rund um die Frauenmorde bleibt konstruiert. Ein paar Glanzlichter setzt Davide Longo seinem Roman indes auf, wenn Corso und sein Nachfolger miteinander fachsimpeln oder wenn Corso beschreibt, warum ihm die Arbeit als Kommissar fehlt.● Roman Die junge Schweizer Erzählerin Dagny Gioulami überrascht mit einem phantasievollen Erstling Im Dickicht der Verwandtschaft Kurzkritiken Belletristik Wolfgang Bortlik: Spätfolgen. Kriminalroman. Gmeiner, Messkirch 2015. 246 Seiten, Fr. 17.90, E-Book 11.90. Adrian Witschi: Hoffentlich ist niemand verletzt. Novelle. Salis, Zürich 2015. 199 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 9.90. Auf Wolfgang Bortlik ist Verlass. Der 1952 geborene Münchner Hüne, der seit fünfzig Jahren in der Schweiz lebt, schreibt nicht nur seit deren Anbeginn das wöchentliche «Sportgedicht» in der «NZZ am Sonntag»; er hat sich auch als Rezensent sowie als Buchautor einen Namen gemacht. Eine besondere Neigung hat der Vater dreier erwachsener Kinder und gefürchtete Hobbyfussballer für das Genre des Krimis. Deshalb hat er den Detektiv Melchior Fischer erfunden, einen sympathischen Unglücksraben. In dessen zweitem Fall bekommt es dieser Mann mit einer sehr persönlichen Geschichte zu tun: Sein Bruder war in der Anti-AKW-Szene aktiv. Bei einem Unfall ist er ums Leben gekommen. War es bloss ein Unfall? Ging da alles mit rechten Dingen zu? Bortlik versteht sein Handwerk. Geschickt vermischt er seine spannende Erzählung mit Stimmen von Zeugen. Und stets geht es auch um Liebe. «Generation Y» oder «Generation Maybe» nennt man sie: Diese jungen Menschen, die sich von all den Möglichkeiten in jener Dauerüberforderung befinden, deren Symptom die Unentschiedenheit ist. Der Amerikaner Benjamin Kunkel lieferte 2006 in «Indecision» das umwerfend komische Porträt dieser Generation. «Hoffentlich ist niemand verletzt» ist nach der Anthologie «Life-Ticker» das eigentliche Debüt von Adrian Witschi, geboren 1981, und angekündigt als Porträt eines solchen Y-ers. Die Unentschlossenheit des 30-jährigen Protagonisten Vinzent Walder nimmt man allerdings vielmehr indirekt wahr, durch seine Freundin Ava. Da hätte sich der Autor ruhig mehr Zeit und Zeilen nehmen können. Grandios gelangen dem Zürcher hingegen Vinzents Tag- und Drogenträume – sowie eine siebenseitige Sexszene. Solche gelingen selbst gestandenen Schriftstellern nun wirklich selten. Daniel Kehlmann: Kommt, Geister. Frankfurter Vorlesungen. Rowohlt, 2015. 176 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.–. Joseph Zoderer: Dauerhaftes Morgenrot. Haymon, Innsbruck 2015. 200 Seiten, Fr. 27.90. Ausgerechnet ein Schweizer Werk war die prägende Lektüre seiner Kindheit, erzählt Daniel Kehlmann in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen, die er 2014 abhielt: «Die schwarze Spinne» von Jeremias Gotthelf alias Albert Bitzius (den das Suhrkamp-Lektorat konsequent als Blitzius durchgehen liess). Die Mahnschrift des Pfarrers liess den 9-Jährigen nicht mehr schlafen, und vielleicht brachte sie ihn zum Schreiben, mutmasst er. Wie seine Romane sind auch die Vorlesungen, die Geistern und sonstigen Schreckenswesen motivisch folgen, durchdrungen von Kehlmanns stupender Fähigkeit, Gelehrtheit mit Virtuosität und Leichtigkeit zu verbinden. Wie ein Flaneur durchstreift er die Literaturgeschichte; mit Shakespeare, Grimmelshausen bis Tolkien, Stephen King und vielen mehr sinniert er über unsere Ängste und Verdrängungsleistungen. Man reibt sich die Augen bei dieser Neuerscheinung: Den Roman «Dauerhaftes Morgenrot» von Joseph Zoderer, dem 1935 in Meran geborenen Autor: Kennt man den nicht schon? Und richtig: 1987 ist das Werk erstmals erschienen; nun wird es im Rahmen der Zoderer-Werkausgabe im Haymon-Verlag neu aufgelegt. Die bewegende, in einer Hafenstadt angesiedelte Geschichte einer unmöglichen Liebe, in der sich die Sehnsucht als die eigentliche Erfüllung entpuppt, hätte als virtuoses Verwirrspiel ohnehin einen Hinweis verdient. Diese Ausgabe aber wartet mit Überraschungen auf: In einem fünfzigseitigen Anhang, den Verena Zankl erarbeitet hat, wird die Entstehungsgeschichte des Werks akribisch rekonstruiert: mit überraschenden Dokumenten, Werkplänen, Briefen, Fotos. Diese Spurensuche fasziniert nicht weniger als der Roman von damals. Dagny Gioulami: Alle Geschichten, die ich kenne. Weissbooks, Frankfurt 2015. 149 Seiten, Fr. 26.90. E-Book 18.90. Von Martin Zingg Die junge Frau, die neulich die chemische Reinigung von vis-à-vis übernommen hat, ist zwar sehr freundlich, aber sie arbeitet nicht sorgfältig genug. Ihr muss dringend geholfen werden, und die Erzählerin weiss, wie. Kommt hinzu, dass die junge Frau nächstens heiraten wird, in Konstantinopel – aber das schöne Kleid aus grünem Taft, das sie bei dieser Gelegenheit tragen sollte, ist in schlechtem Zustand. Die Erzählerin besorgt sich grünen Taft und weiss auch, wer eine Kopie des Hochzeitskleids für die junge Frau nähen wird: ihre Tante Irini in Griechenland. Was nun folgt, ist eine Fahrt durch Griechenland. Zusammen mit dem «tätowierten Polizisten», einem «Kollegen», bricht die Erzählerin auf, hin zu ihrer Verwandtschaft, zu Tanten und Onkeln, und hinein in eine Fülle von kleinen schrägen Begebenheiten. «Alle Geschichten, die ich kenne», der Erstling von Dagny Gioulami, handelt von einer wunderbaren Expedition ins Dickicht einer Familiengeschichte. Tante Marianthi wird besucht, Tante Ninitsa und Onkel Fotis, und als die beiden Reisenden mit dem Taftbündel endlich bei Tante Irini ankommen, will diese von Nähen gar nichts wissen. Sie sei zu alt, ihr Mann sei krank, und tatsächlich sind sie alle sehr alt, die Tanten und Onkel. Und zugleich sind sie reich an kleinen und oft skurrilen Geschichten, und sie produzieren ständig neue. Dagny Gioulami, 1970 in Bern geboren, ist eine wunderbare Erzählerin, mit einem genauen Blick für die Anekdote, die rechtzeitig vor einer Pointe zurückschreckt und nicht grell aufleuchten muss, sondern glimmen darf, mit viel Sprachwitz. Vor allem hat sie, als erfahrene Schauspielerin und Autorin zahlreicher Libretti, ein präzises Ohr für den bizarren Dialog. Natürlich wird die Erzählerin das Kleid selber nähen. Und als sie mit dem tätowierten Polizisten das Kleid abliefern will, ist alles wieder anders. Auch das haben womöglich die Moiren eingefädelt, die Schicksalsgöttinnen, die im Hintergrund so vieles bestimmen, dem man sich nur fügen kann – indem man davon erzählt. In diesem kleinen Büchlein geschieht es auf grossartige Weise. ● Manfred Papst Regula Freuler Regula Freuler Manfred Papst 28. Juni 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Kinder- und Jugendbuch Kurzkritiken Stefan Boonen: Ein Mädchen, sieben Pfannkuchen und ein roter Koffer. Fischer KJB 2015. 268 S., Fr. 21.90 (ab 8 Jahren). Monochrome Bilder Naturverständnis durch ruhige Illustrationen Chris Riddell: Ada von Goth und die Geistermaus. Sauerländer, Frankfurt a. M. 2015. 224 S., Fr. 21.90, E-Book 13.– (ab 10 J.). Variationen in Grün Anna Crausaz: Die Vögel auf dem Apfelbaum. Jacoby & Stuart, Berlin 2015. 110 Seiten, Fr. 34.90. Britta Teckentrup: Alle Wetter. Jacoby & Stuart, Berlin 2015. 160 Seiten, Fr. 38.90. Von Hans ten Doornkaat Opulent illustrierte Kinderbücher liegen im Trend. Dieses ist eines davon. Auf sattes Gelb, Rot oder Blau hat der flämische Zeichner Tom Schoonooghe filigranschräge Bleistiftzeichnungen gesetzt: Ein grossartiger Blickfang für das moderne Märchen. Das erzählt, wie einst «Jim Knopf», vom Stranden und Ankommen. Ort der Handlung ist Wammerswald. Die Personen sind u. a. eine kinderreiche Bäckerfamilie, ein nöselnder Pölözöst, ein vermeintlich gefährlicher Bär und eben: das mutige, angespülte Mädchen. Findling, wie alle sie nennen, soll nun bei verschiedenen Dörflern probewohnen. Aber sie wird nicht nur gefunden, sie findet auch selbst, nämlich Freundschaft, Geborgenheit und die Freiheit vieler Zuhause. So ist das Schlussbild der poetischen Geschichte einer Rettung grün – grün wie die Hoffnung. Die aufgeweckte Ada lebt in einem Schloss, einsam. Ihr Vater erträgt den Anblick seiner Tochter nur einmal in der Woche – zu sehr erinnert sie ihn an seine verstorbene Frau. Die Geistermaus Ishmael bringt Ada dazu, ein Komplott aufzudecken und dem Lord die Augen zu öffnen. Dabei begegnen Ada und Ishmael – das sind die eigentlichen Höhepunkte der reich illustrierten Geschichte – den seltsamsten Kreaturen, wie Sirenen oder Vampirgouvernanten, die an das Personal britischer Gruselklassiker erinnern. In diesen Parodien übertrifft Chris Riddell sich selbst. Die Buchausstattung mit glänzend violettem Schnitt spart an nichts, um Adas Auftritt als Reihenstart zu erleichtern. Riddells Lust am Fantastisch-Skurrilen überträgt sich auf den Leser, der sich amüsiert, gruselt und an den Zeichnungen delektiert. Christian Frascella: Bet empört sich. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2015. 286 S., Fr. 23.90, E-Book 15.90 (ab 14 J.). Karin Bruder: Haifische kommen nicht an Land. Peter Hammer, Wuppertal 2015. 204 Seiten, Fr. 19.90 (ab 10 Jahren). Mit ihrer direkten Art stösst die 17-jährige Turinerin Bet alle vor den Kopf. Hinter der rebellischen Verschlossenheit und kaltschnäuzigen Coolness steckt aber kein aufmüpfiger Teenager, sondern eine junge Frau, die dem Leben und sich einiges abfordert. Bet ärgert sich über Schwachköpfe und Tussis in der Schule, feige Spanner und über Frauen, die sich schikanieren lassen. Als ein Streik gegen die drohende Entlassung ihrer Mutter gewaltsam beendet wird und Bet erfährt, dass ihr in Rom lebender Vater gar nicht die Absicht hat, nach Turin zurückzukehren, schlagen Ohnmacht und Trauer endgültig in Wut um. Christian Frascella lässt seine Heldin mit Verve und Witz erzählen und wartet mit einem furiosen Finale auf. Bet wird zur Stimme einer Generation, die ungehalten, aber sicher nicht gleichgültig ist. Deutschland trifft Nicaragua, reich trifft arm: Rosa, viel gereiste Tochter eines Ethnologen, begleitet ihren Vater nach Ometepe und begegnet dort dem 12-jährigen Joaquín. Der war nie in der Schule, hat zig Jobs, um seine Familie mit durchzufüttern, hungert immer wieder, aber schlägt sich schlau durchs Leben. Und er kann erzählen wie ein Weltmeister. Damit steht er Rosas Vater Red und Antwort gegen Essen und Bezahlung. Stolz hält er seine Lebensweise derjenigen der verwöhnten Rosa entgegen und damit dem Leser einen Spiegel vor: mal wütend, mal eifersüchtig, mal keck. Denn der Roman konfrontiert eine Freundschaftsgeschichte zwischen den Kulturen mit Kindheitsbildern und gesellschaftlichen Voraussetzungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: ein Abenteuer mit Aufklärungsanspruch. Christine Knödler Daniel Ammann 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Juni 2015 Verena Hoenig Christine Knödler Keine schreienden Aufmacher ködern Leser für diese Sachbücher, keine bunten Infokästchen wetteifern mit Schlagzeilen, einfach nur Augenweide, grosszügig und unaufgeregt. Anne Crausaz studierte Graphic Design in Lausanne, konnte sich dank eines Stipendiums des Bundes in Krakau weiterbilden und arbeitet heute wieder in der Waadt. Sie nutzt die digitale Bildtechnik, um an der Astgabel eines Apfelbaums Woche für Woche die Veränderung des Blattwerks zu zeigen. Diese 52 Szenerien bevölkert sie mit 52 Vogelarten, die hier Knospen oder Obst picken und Insekten jagen. Die Lokalfarben sind monochrom gehalten. Die Einzelflächen wirken dadurch stilisiert, doch reichen zum Beispiel drei Grüntöne aus, Oberund Unterseite eines Blattes sowie den Stiel zu formen und so ein plastisches, botanisch eindeutiges Blatt zu gestalten. Um Flaum und Federn zu zeichnen, setzt die Illustratorin wenige Linien ein, doch sind es just die künstlich homogenen Flächen, die den Eindruck von ruhig beobachteter Natur erzeugen. Auch Britta Teckentrup setzt auf Hinschauen und arbeitet doch ganz anders: Sie generiert digital Strukturen, legt feine Farbschichten übereinander, lässt die unteren durchschimmern und erzeugt mit brüchigen Flächen Regenvorhänge und Abendlicht, Nebelschwaden und Wolkenlandschaften. Man könnte solche Stimmungen auch aus Gemälden zusammentragen. Nicht selten ist man an Turner, Monet oder Hockney erinnert. Und doch hat Teckentrup, die in London arbeitete und heute wieder in Deutschland lebt, einen ganz eigenen Katalog von Wetter-Atmosphären kreiert. Auf ihrer Website lässt sich verfolgen, wie die Künstlerin mit grellbunten Figuren anfing. 70 Kinderbücher später hat sie die feinen Töne gefunden, jene Stimmungen ins Zentrum zu setzen, deren Poesie sich länger schon zwischen Bäumen und im Hintergrund ihrer Szenen abzeichnete. Die Texte des Vogelbuches sind einfacher, die über das Wetter anspruchsvoller; beide aber bieten Begriffe und Fakten und belegen so auch die Sachlichkeit, die in den Bildern steckt. Die Freude daran ist keine Frage des Alters, sondern der Bereitschaft, verweilend zu schauen. ● Kurzkritiken Katja Brandis: Floaters – Im Sog des Meeres. Beltz & Gelberg, Weinheim 2015. 437 S., Fr. 24.90, E-Book 23.90 (ab 13 Jahren). Albtraum Mädchen täuscht Tod vor Das ultimative Überlebenshandbuch – Outdoor. Fischer Meyers Kinderbuch 2015. 256 Seiten, Fr. 14.90 (ab 10 Jahren). Zwölfjährige auf Abwegen Gideon Samson: Doppeltot. Gerstenberg, Hildesheim 2015. 224 Seiten, Fr. 21.90 (ab 14 Jahren). Von Andrea Lüthi Billig, leicht, beliebig formbar – Plastik ist praktisch. Doch nach Gebrauch wird Kunststoff zum Albtraum: Bis zu 450 Jahre kann es dauern, bis eine achtlos weggeworfene Limonadenflasche verrottet ist. Acht Millionen Tonnen Plastikmüll landen jährlich in den Ozeanen, verschmutzen Strände, verstopfen die Mägen von Tieren und sammeln sich in gigantischen Müllstrudeln. Einer davon spielt die Hauptrolle in diesem Sachbuch, das sich geschickt als atemraubender Thriller tarnt: Im Jahre 2030 machen sich die Zwillinge Malika und Danilo mit einem reichen Umweltaktivisten in den Pazifik auf, um das Meer zu säubern und den Müll zu recyceln. Doch andere haben auch entdeckt, welch wertvoller Rohstoff da schwimmt. Obendrein treiben Piraten ihr Unwesen. Mehr wird nicht verraten. Selber in den Sog ziehen lassen! Wie baut man einen Unterschlupf oder ein Floss, wie macht man Feuer ohne Streichhölzer? Die klassischen Themen fehlen in diesem detailreich illustrierten Outdoor-Buch nicht. Es geht aber nicht nur ums (Über-)Leben in der Wildnis, sondern ebenso um Freizeitaktivitäten, etwa um Mountainbike-Techniken oder die Kanuausrüstung. Auch geografisch ist das Werk weit gefasst: Im Kapitel über gefährliche Tiere tauchen Eisbär und Krokodil auf. Was bei einer Begegnung – oder einem Schlangenbiss – zu tun ist, erfährt man hingegen nicht. Hier wird weniger auf konkrete Hilfe als auf Fülle gesetzt. Das regt Kinder dazu an, sich Abenteuer auszumalen, aber gleichzeitig bietet das Buch in handlichem Format eine Menge alltagstauglicher Tipps sowie Informationen zu Naturerfahrungen, die für Kinder tatsächlich erlebbar sind. Reiner Engelmann: Der Fotograf von Auschwitz. cbj, München 2015. 192 Seiten, Fr. 22.90, E-Book 14.90 (ab 13 Jahren). Claire A. Nivola: Das blaue Herz des Planeten. Freies Geistesleben, Stuttgart 2015. 32 Seiten, Fr. 23.90 (ab 6 Jahren). Warum werden Menschen so gedemütigt? Sind die Täter noch Menschen? Das sind Fragen von Wilhelm Brasse, der als «Fotograf von Auschwitz» fünf Jahre Lager überlebt. Er hat Zehntausende Gefangene für den Lagererkennungsdienst aufgenommen. Die Angst in den Gesichtern verfolgt ihn fortan; und dass er nicht helfen kann, genauso. Dem Befehl kurz vor der Befreiung, das Archiv zu verbrennen, hat er sich widersetzt. So sind 38’000 Bilder geblieben, Porträts namenloser Opfer wie berüchtigter Täter. Eine schier unerträgliche Diskrepanz, die keine der Fragen beantwortet, aber Schlaglichter wirft auf das, was in Auschwitz geschehen ist. Nun hat Reiner Engelmann «Das Leben des Wilhelm Brasse» für Jugendliche nachgezeichnet; eine wichtige Dokumentation mit Auftrag. Nie wieder. Gäbe es die Meere nicht, fehlte uns der Sauerstoff zum Atmen. Dennoch plündert und vergiftet der Mensch die Ozeane. Kaum 100 Jahre hat er gebraucht, um die in 3 ½ Milliarden Jahren gewachsene Wasserwelt grundlegend zu verändern. Aber statt dies anzuprangern, erzählt das Sachbilderbuch vom Zauber der Ozeane und warum es die Meeresforscherin Sylvia Earle in die Fluten getrieben hat – immer tiefer, um noch mehr zu sehen und zu begreifen. Die inzwischen 89-Jährige stemmt sich mit Reden, Publikationen sowie mit der von ihr gegründeten Aktivistengruppe «Mission Blue» gegen Nichtwissen und Profitgier. Das Buch überzeugt mit detailreichen Bildtafeln und spricht Kinder mit seinem biografischen Zugang direkt an. Vielleicht nehmen sie so das Wissen auf, wie wichtig die Weltmeere für unser Leben sind. Sabine Sütterlin Christine Knödler Andrea Lüthi Verena Hoenig Rifka ist nicht einfach ein 12-jähriges Mädchen mit etwas verrückten Ideen – das merkt man schnell. «Mein Vater ist tot», sagt sie. Ein makaberer Scherz, doch sie freut sich, dass sie Düveke damit erschrecken kann. Die unsichere Düveke ist stolz, die selbstbewusste Rifka zur besten Freundin zu haben. Deshalb macht sie auch mit, als Rifka ihren eigenen Tod vortäuschen will, um dann heimlich an der Beerdigung teilzunehmen. Doch dann beginnt Düveke zu zögern, und die beiden geraten in einen immer wilderen Strudel, der zu einem rabenschwarzen Ende führt. Der niederländische Autor Gideon Samson hat seinen erschütternden Roman in die Teile «Davor», «Danach» und «Währenddessen» gegliedert. Durch die verschobenen Zeitebenen schafft er Spannung, doch nutzt Samson die erzähltechnischen Mittel auch, um die Figuren vielschichtiger darzustellen und ihre Beziehungen untereinander herauszuarbeiten. Da ist das enge Band zwischen Düveke und ihrem Bruder, der den mittleren Teil erzählt. Und da ist Düvekes und Rifkas Freundschaft, die keine ist, wie Düveke schrittweise erkennt. Wenn sie als IchErzählerin berichtet, schmerzt ihre anfängliche Gutgläubigkeit beinahe. Noch schlimmer wird es, wenn man im letzten Teil in Rifkas Kopf blickt. «Eine Klasse voller Dummtussis und du suchst dir ausgerechnet die Falscheste aus», sagt Rifka zu sich selbst. Sie erzählt im lyrischen Du; das wirkt ein wenig überheblich und lässt die Schülerin Rifka zugleich selbstentfremdet wirken. Ihr verzweifeltes Ringen um Bestätigung und um Aufmerksamkeit ist tragisch, doch Empathie kommt kaum auf mit dem Mädchen, das ihre «Freundin» erpresst, bedroht und deren Ängste gnadenlos ausnutzt. Gideon Samson ist stark darin, sich in seine Figuren hineinzuversetzen und ihre Gefühle wiederzugeben. Er beschreibt glaubwürdig Düvekes Selbstzweifel und die grosse, unbestimmte Angst, die sie immer wieder überfällt – ein Gefühl, «als würde die Welt gleich umkippen». Auch die psychologischen Druckmittel, die Rifka anwendet, wirken beklemmend realistisch. Wenn Samson seine Figuren aber in immer extremere Situationen schickt, bekommt der Roman am Ende einen fast surrealen, albtraumartigen Zug. ● 28. Juni 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Essay Antoine de Saint-Exupérys Kinderbuch «Le Petit Prince» zählt zu den grössten Bestsellern aller Zeiten. Seit die Rechte an ihm im deutschen Sprachraum frei geworden sind, befinden sich die Verlage im Goldrausch. Berühmte Autoren von Hans Magnus Enzensberger bis Peter Stamm legen konkurrierende Übersetzungen vor. Was macht das kleine Werk so faszinierend? Von Manfred Papst Riesengeschäfte mitdem kleinenPrinzen 1943 erschien in New York die Erzählung «Der Kleine Prinz», gleichzeitig im französischen Original und in einer englischen Übersetzung. Der französische Autor Antoine de Saint-Exupéry hatte sie im Exil verfasst und mit eigenen Zeichnungen versehen. In seiner französischen Heimat erschien das Buch erst 1945 – bei Gallimard. Da war der Autor schon tot: Am 31. Juli 1944 wurde der leidenschaftliche Pilot nach allem, was man heute weiss, bei einem Aufklärungsflug der französischen Luftwaffe von einem deutschen Flieger bei Marseille abgeschossen. Postum wurde «Le Petit Prince» nicht nur zum erfolgreichsten Buch Saint-Exupérys, sondern zu einem der grössten Bestseller aller Zeiten. Das zierliche Werk wurde in 180 Sprachen übersetzt und verkaufte sich in dreistelliger Millionenhöhe. Sein Erfolg ist leicht zu erklären: «Le Petit Prince» bietet als modernes Kunstmärchen die einfache Deutung einer komplizierten Welt an. Es ist ein Plädoyer für Humanität, Liebe und Freundschaft. Es übersetzt ein philosophisches Programm in eine schlichte, anschauliche Sprache und verbindet Leichtigkeit mit Tiefsinn, französischen Charme mit symbolgeladener Lebenshilfe. Zudem zeichnet es sich – zu- Neuübersetzungen Unter den Neuübersetzungen von «Der Kleine Prinz» verdienen hervorgehoben zu werden: • Ulrich Bossier, Reclam (2015), Fr. 6.40. • Elisabeth Edl, Karl Rauch (2010), Fr. 14.90. • Hans Magnus Enzensberger, dtv (2015), Fr. 9.40. Dasselbe in einer Prachtsausgabe, Arche (2015), Fr. 21.90. • Peter Stamm, S. Fischer (2015), Fr. 12.90. • Die deutsche Erstübersetzung (1950) von Grete und Josef Leitgeb ist 2015 bei Karl Rauch in einer zweisprachigen Ausgabe erschienen, Fr. 15.90. mindest im Original – durch subtilen Humor aus. Es erzählt von der Begegnung zwischen dem Ich-Erzähler, der – wie der reale Saint-Exupéry Ende 1935 – mit seinem Flugzeug in der Sahara notlanden musste, und einem kleinen Prinzen, der nicht von dieser Welt ist, sondern auf dem kleinen Asteroiden B 612 lebt. Wie er von dort über sechs andere Stationen auf die Erde gekommen ist und wie er auf diesem Weg eine Reihe von einsamen Personen kennengelernt hat, die alle für eine Lebens- und Denkform stehen, das erzählt er im Folgenden. So geraten der König, der Eitle, der Trinker, der Geschäftsmann, der Laternenanzünder und der Geograf in unser Blickfeld. Auf der Erde aber trifft der kleine Prinz eine kluge Schlange, eine Blume und einen Fuchs, der ihm sein Geheimnis verrät: «Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.» Nachdem Pilot und Prinz auf der verzweifelten Suche nach Wasser einen Brunnen gefunden haben, wird der kleine Prinz vom Heimweh nach seinem Asteroiden und der dort zurückgelassenen einzigen Rose überwältigt und verschwindet wieder von der Erde, während der Pilot sein Flugzeug repariert und nachdenklich in die zivilisierte Welt zurückkehrt. Seit sieben Jahrzehnten ist die anrührende Geschichte des kleinen Prinzen omnipräsent: in zahllosen Buchausgaben, Bühnenadaptionen, Hörspielen, im Puppentheater, Comic, Zeichentrick- und Spielfilm. Verwaltet werden die Rechte am Buch wie an der als geschützte Marke ein- getragenen Figur von der «Succession Antoine de Saint-Exupéry-d’Agay» in Paris. Diese kassiert, so oft der blonde Lockenkopf in den Medien, aber auch auf Handy-Hüllen, T-Shirts oder Tassen erscheint. Ein Dutzend Angestellte arbeitet für die Erbengemeinschaft, die übrigens auch vom Kuriosum profitiert, dass in Frankreich für Autoren, die im Kriegseinsatz umkamen, ein besonderes Copyright gilt. Es soll die Hinterbliebenen von Kriegsopfern begünstigen. In Frankreich liegen die Rechte für Saint-Exupéry deshalb weiterhin bei Gallimard. Als Schullektüre ist «Der Kleine Prinz» seit Generationen Pflichtstoff. Millionen von Schülern haben das kleine Buch geliebt und gehasst, mit Anmerkungen und Zeichnungen vollgekritzelt, mit Eselsohren und Fettflecken versehen. Die Botschaft des Werks rührte die Herzen von Alt und Jung. Gewiss: Die Erzählung stand mit ihrem Überhang an Gesinnung auch immer unter Kitschverdacht. Doch im Vergleich mit Machwerken von Paolo Coelho, Eric Emmanuel Schmidt und weiteren Konsorten erwies sie sich doch als Werk von eigener Qualität: Kristallin in der Sprache, selbstironisch im Duktus. Die «captatio benevolentiae» der unverbildeten Kinder im Gegensatz zu den verbildeten Erwachsenen war damals noch nicht sozialpädagogisch ausgeschlachtet. Dass die kritischen Franzosen Antoine de Saint-Exupéry bereits 1959 einen Platz in der kanonischen Sammlung der Pléiade einräumten und «Le Petit Prince» sogar in grösserer Type präsentierten als die Romane «Vol de nuit», «Terre des hommes» sowie «Citadelle», spricht für sich. Übertragung hat Staub angesetzt Im deutschen Sprachraum wurde das Buch erstmals 1950 publiziert, und zwar in der Übersetzung von Grete und Josef Leitgeb, die gleichzeitig im Arche-Verlag Zürich und bei Karl Rauch in Bad Salzig erschien. Diese Ausgabe dominierte den Markt über Jahrzehnte. Sie hat ihre Meri- ▲ 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Juni 2015 Millionen von Schülern haben das kleine Buch geliebt und gehasst, mit Notizen und Zeichnungen vollgekritzelt, mit Eselsohren versehen. Ein blonder Lockenkopf als Plädoyer für Humanität, Liebe und Freundschaft. Antoine de Saint-Exupéry hat die Zeichnungen für den kleinen Prinzen selbst angefertigt. 28. Juni 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Essay ▲ ten, doch sie hat Staub angesetzt. Im Vergleich mit dem Original ist sie pathetischer, stärker auf raunenden Tiefsinn angelegt, die Dialoge wirken steifer. 2010 publizierte die österreichische Übersetzerin Elisabeth Edl, die auch massgebende Übertragungen von Stendhal, Flaubert, Modiano und anderen vorgelegt hat, deshalb just im Verlag Karl Rauch eine neue Übertragung des «Kleinen Prinzen». Diese hat sich in bloss fünf Jahren fast eine Million Mal verkauft. Das Kalkül des Verlags, sich selbst zu konkurrenzieren, ging auf: Nach wie vor preist er neben der Edel-Version die Übertragung der Leitgebs als «Originalübersetzung» an – in vielerlei Ausstattungen und Formaten. Der Erfolg von «Le Petit Prince» ist leicht zu erklären: Als modernes Kunstmärchen bietet er die einfache Deutung einer komplizierten Welt an. AFP Prominente Übersetzer 2014 jährte sich der Tod des Autors Saint-Exupéry zum siebzigsten Mal. Von diesem Datum an wurden seine Werke in verschiedenen Ländern gemeinfrei. Auf dem deutschen Buchmarkt hatte das zur Folge, dass etliche Verlage versuchten, sich ein Stück der Beute zu sichern. Alle witterten das grosse Geschäft. «Dieser Kuchen ist so gross», sagten sie sich wohl, «dass wir auch noch mit einer Minderheitsbeteiligung einen guten Schnitt machen.» Doch wie konnte man in dieser Situation punkten? Mehrere Verlage setzten in dieser Situation bei den Übersetzern auf grosse Namen, die man in erster Linie als Autoren kennt. Der Deutsche TaschenbuchVerlag rückte mit Hans Magnus Enzensberger ins Feld und vergab die Lizenz für eine gediegene Hardcover-Ausgabe gleich an den ArcheVerlag. S. Fischer brachte Peter Stamm ins Spiel. Der Insel-Verlag kündigt für den Herbst 2015 eine Übersetzung des Philosophen Peter Sloterdijk an. Reclam dagegen positioniert sich mit einer Übersetzung von Ulrich Bossier, der sich 2003 mit der Studie «Wenn Literaten übersetzen» einen Namen gemacht hat. In diesem Buch vergleicht er sieben deutsche Versionen von Molières «Menschenfeind» und geht namentlich mit Enzensbergers modernisierter Fassung kritisch ins Gericht. Das Rennen der «Petit Prince»-Übersetzer ist also eröffnet. Daran ist auch gar nichts falsch. Wir sind in einem freien Markt. Die Besten sollen gewinnen. Interessant ist dabei, wie unter- Antoine de Saint-Exupéry (1900–1944), hier vor seinem Flugzeug, wurde im Krieg über Marseille abgeschossen. schiedlich der philologisch relativ schlichte Text übertragen werden kann. Das Buch bietet ja beileibe keine jener Verständnisschwierigkeiten, die uns bei Proust oder Claude Simon in fast jedem Satz begegnen. Alles scheint klar am Tag zu liegen. Aber eben: Es scheint nur so. Auf den zweiten Blick ist alles viel vertrackter. Melancholie und Leichtfüssigkeit Schon auf den ersten Zeilen (nach der Widmung des Werks an den «besten Freund» Léon Werth) zeigt sich das. Sie lauten: «Lorsque j’avais six ans j’ai vu, une fois, une magnifique image, dans un livre sur la forêt vierge qui s’appelait Histoires vécus. Ça représentait un serpent boa qui avalait un fauve.» Grete und Josef Leitgeb sehen im Buch «Erlebte Geschichten» ein prächtiges Bild mit einer Riesenschlange, die ein Wildtier verschlingt. Bei Elisabeth Edl ist das Bild phantastisch, und eine Boa verschlingt ein wildes Tier. Bei Bossier ist das Bild wunderschön, und eine Boa verschlingt ein Raubtier. Peter Stamm sieht ein wunderbares Bild. «Darauf war eine Boa zu sehen, eine Riesenschlange, die ein Raubtier verschlang.» Und bei Enzensberger verschlingt eine Riesenschlange gerade ein wildes Biest. Schon dieses kleine Beispiel zeigt: Es gibt verschiedene Arten, einen Satz zu übersetzen. Die Semantik ist dabei nur das eine. Wildtier, wildes Tier, Raubtier, Biest? Das andere sind Fragen von Rhythmus, Sprachmelodie und Sprachebene. «J’essaierai, bien sûr, de faire des portraits le plus ressemblants possible», sagt der Erzähler im vierten Kapitel. «Ich werde versuchen, die Bilder so wirklichkeitstreu wie möglich zu machen», übersetzen die Leitgebs. Elisabeth Edl schreibt: «Natürlich will ich versuchen, so getreue Porträts wie möglich zu machen.» Bossier übersetzt, die folgenden Sätze bereits vorwegnehmend: «Natürlich will ich mein Bestes tun, den kleinen Prinzen so getreu wie möglich abzubilden.» Bei Stamm will der Erzähler versuchen, «meine Zeichnungen so ähnlich wie möglich hinzukriegen», bei Enzensberger, «dass meine Bilder so naturgetreu wie möglich werden». Gewiss, wir verstehen in jedem Fall, was gemeint ist. Und doch haben wir es mit ganz verschiedenen Auslegungen zu tun. Ein summarischer Vergleich der Übersetzungen ergibt folgenden vorläufigen Befund: Die Leitgeb-Version hat den Vorteil, dass sie älteren Generationen von Saint-Exupéry-Lesern einfach noch im Ohr ist – so wie die ShakespeareÜbersetzung von Schlegel/Tieck oder Klemperers Beethoven. Elisabeth Edls Übertragung ist heller und genauer, beispielsweise im Beachten der Leitmotive und Wortspiele. Bei ihr ist auch Saint-Exupérys Witz viel stärker spürbar. Bossier überzeugt durch Exaktheit, Straffheit und den Verzicht auf modische Experimente. Von den beiden Dichtern im Felde hat Peter Stamm die überzeugendere Arbeit geleistet. Seine unaufgeregte Übertragung ist prägnant, leicht, erfrischend herb und mit mehr Erfolg um eine zeitgemässe Umgangssprache bemüht als Enzensberger. Dem gelingen zwar zahlreiche originelle Wendungen, aber er tut oft auch zu viel des Guten. So verwendet er Modewörter wie «tipptopp» und «doof»; aus «cet homme» macht er «dieser Typ», aus der «occupation» einen «Job», «Pourquoi vends-tu ça» wird zu «Warum verkaufst du dieses Zeug?». Manchmal verdirbt er auch Stellen, weil er vom allgemein Anerkannten abweichen will. Elisabeth Edl hat zu Recht gesagt, dass es an der Formulierung «Man sieht nur mit dem Herzen gut» nichts zu verbessern gebe. Was aber schreibt Enzensberger? «Man begreift gar nichts, wenn das Herz nicht dabei ist.» Damit ist nun weder semantisch noch melodisch etwas gewonnen. Dass «Der Kleine Prinz» nach wie vor fasziniert, liegt an seiner gelungenen Mischung aus Melancholie und Leichtfüssigkeit. Zudem ist das Märchen, wie seine Entstehungsgeschichte zeigt, ein Text, der weit genauer in der Vita des Autors und in dessen Erlebnissen während der 1930er Jahre und des Zweiten Weltkriegs verankert ist, als man bei einer naiven Lektüre annehmen würde. l Zürich Basel Bederstrasse 4 Güterstrasse 137 Bern Länggassstrasse 46 <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIzsgAAkStyvg8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIztAQAxEhY4g8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysjQwMQEAjzsSMg8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIzsgAAkStyvg8AAAA=</wm> 100‘000 antiquarische Bücher buecher-brocky.ch 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Juni 2015 Luzern Aarau Ruopigenstrasse 18 <wm>10CFXKIQ7DQAxE0RN5NTNeb-MaVmFRQVW-JArO_VHasoL_0du2ioZfj_X5Xl9FoIdJGloqcrS8eTF7W5KFpAT2O9IRoOPPG5jD4fNrDGnU_FxpwUmhnftxAYCSdmhyAAAA</wm> <wm>10CFXKIQ6AMAwF0BN16W-7jlJJ5giC4GcImvsrAg7x3FvXrIU_S9-OvieYrZKIOCJreImmibAyBZKbqDBshkuFTorfJ0a4so73EDcSHXASI7UR3sp9Xg82ZWsHcgAAAA==</wm> <wm>10CFWKMQoDMQwEXySzWkt2dCqDO5MiXO_mSJ3_VzHXpRgYhpkzveDmOV7neKcC5kIGzNLDC3tLDZbuLUFWQv1AsLux4e8XaLSKuvZjohTawkMqtu9m5Xt9fi0-0d5yAAAA</wm> <wm>10CFXKoQ4CMRRE0S96zcy8TkupJOs2Kwi-hqD5f8WCQ9xcc_Z9uuDXbTse230SqA5JTZfp4aLeJodK93mwC6xXKq1q488HOFoi19cEEeyLiqyRXqcu7-frA2AIQV9yAAAA</wm> Kunst Kinder Helvetika Freihofweg 2 Sport Politik Literatur Hobby Reisen Kochen u.v.m. Kolumne Charles LewinskysZitatenlese Manche Bücher muss man probieren, andere verschlingen, und einige wenige muss man kauen und verdauen. Kurzkritiken Sachbuch Ulrich L. Lehner: Mönche und Nonnen im Klosterkerker. Topos plus, Kevelaer 2015. 174 Seiten, Fr. 15.90, E-Book 8.40. Alfie Kohn: Der Mythos des verwöhnten Kindes. Beltz, Weinheim 2015. 304 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 28.90. Dem Theologen Ulrich L. Lehner, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Milwaukee (USA), ist es sichtlich peinlich, bei seinen Forschungen auf «Bastionen der Unmenschlichkeit und Intoleranz» gestossen zu sein: Klosterkerker, monastische Foltermethoden, physische Gewalt und Misshandlungen durch Priore und Äbtissinnen, Kindsmissbrauch, sexuelle Delikte von und an Mönchen und Nonnen, Verwahrung von Geisteskranken in unterirdischen Klosterverliessen. Sein Streifzug durch Kloster- und Kirchenarchive fördert eine Menge von Absonderlichkeiten in zahlreichen Orden bis weit ins 18. Jahrhundert zutage. Ist es ein Randphänomen, wenn in Bayern «weniger als 2 Prozent» der franziskanischen Brüder wegen schwerer Vergehen eingekerkert waren? Oder eher erschreckend viel? Lehner jedenfalls deckt ein dunkles Kapitel katholischer Geschichte sachkundig auf. Kinder seien heute verwöhnt, anspruchsvoll und egoistisch; sie würden zu viel gelobt, zu ängstlich überwacht, zu wenig diszipliniert, zu wenig gefordert und zeigten ganz einfach zu viel Selbstbewusstsein und zu wenig Gehorsam: Die Litanei ist bekannt und der amerikanische Publizist Alfie Kohn widerspricht ihr mit Gusto. Nicht nur seien diese Klagen so alt wie die Menschheit, sie stützten sich auch auf keinerlei Daten, sondern einzig auf Anekdoten und auf ein konservatives Denken. Ausführlich und erhellend diskutiert Kohn die Erkenntnisse zu den zentralen Konzepten Selbstwertgefühl und Selbstdisziplin und präsentiert nach der langen Schelte der Gehorsams- und Leistungsideologie endlich auch ein eigenes Konzept: das einer Erziehung zur sanften Rebellion. Das ist durchaus optimistisch, dürfte aber Eltern eines tobenden Zweijährigen etwas ratlos zurücklassen. Eva Illouz: Israel. Soziologische Essays. Suhrkamp, Berlin 2015. 229 Seiten, Fr. 22.90, E-Book 22.–. Michael Furger, Chanchal Biswas (Hrsg.): Der Kult um unser Essen. NZZ Libro, Zürich 2015. 180 Seiten, Fr. 48.–. Eva Illouz kennen wir als kluge Analytikerin der romantischen Liebe in unromantischen Zeiten. Hier nun richtet die aus Marokko stammende, in Frankreich aufgewachsene jüdische Soziologin ihren unbestechlichen Blick auf ihre Wahlheimat Israel. Ob es um die Macht der Ultraorthodoxen in Israel geht, um die «ethnische Tiefenstruktur» zwischen Aschkenasen und Sepharden, um einen Vergleich Israels mit dem Frankreich der Dreyfuss-Affäre oder um das jüdische Gebot zu einer Hypersolidarität, die selbst jüdische Kritiker Israels als Antisemiten brandmarkt – Illouz deutet Politik und Gesellschaft Israels aus dem klaren Geist der Menschenrechts-Tradition Frankreichs. Alle 14 Essays sind in den vergangenen Jahren in der linksliberalen israelischen Tageszeitung «Haaretz» erschienen – ein Glück, dass sie nun gesammelt auf Deutsch vorliegen. In der Überflussgesellschaft ist die Ernährung zu einer komplizierten Angelegenheit geworden: Wie verpflegen wir uns «richtig»? Sind wir, was wir essen? Wie viel Moral ist auf unseren Tellern? Aufgeladen mit solch ethischen Fragen hat das Essen einen identitätsstiftenden Charakter erhalten – und ist zum Gegenstand unserer Tage geworden. Die «NZZ am Sonntag» hat der aktuellen Thematik unlängst in einer Artikelserie nachgespürt und die Beiträge, ergänzt durch weitere Texte, nun in Form eines umfassenden Sammelbandes publiziert. Von der industriellen Herstellung und Vermarktung von Esswaren über die Gründe für die weltweit zunehmende Fettleibigkeit bis hin zur Fleischproduktion aus dem Labor beleuchten 18 Autoren und Autorinnen die Themen Essen und Ernährung aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. LUKAS MAEDER Francis Bacon Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein letzter Roman «Kastelau» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Lies nicht so gierig! Wenn du dir schon Fast-Food-Romane reinziehen musst, solltest du sie wenigstens nicht am Stück runterschlingen. Das ist nicht gut für die geistige Verdauung. Wenn dir mitten in einer gepflegten Unterhaltung der Inhalt wieder aufstösst, wer muss sich dann schämen? Wir! Die Leute müssen ja denken, bei uns zuhause käme überhaupt nie ein anständiges Buch auf den Tisch. Warum nimmst du dir nicht ein Vorbild an deinen Eltern? So ein Robert Walser, in winzigen Portionen genossen… «Der Gehülfe» zum Beispiel. Nein, nicht Gehilfe! Gehülfe. Das ist eben die ganz feine Würzung. Das muss man sich auf der linken Gehirnhälfte zergehen lassen. Aber du… Was sagst du? Davon wird man nicht satt? Literatur ist nicht zum Sattmachen da! Sonst wäre Karl May der grösste Dichter, den es je gegeben hat. Weisst du, was man von solchen Büchern bekommt? Gehirnverstopfung! Und verfettete Bücherregale von all den ErzählKalorien! Nein, ich rege mich nicht auf. Ich bin nur enttäuscht von dir. Dich kann man ja nicht mal in eine bessere Bibliothek mitnehmen, ohne dass du einen blamierst. Beim letzten Mal hast du allen Ernstes gefragt, was E. T. A. Hoffmann ausser dem «Jedermann» noch geschrieben habe. Deine Mutter war einer Ohnmacht nahe. Unser Sohn – und kennt noch nicht mal den Unterschied zwischen Hoffmann und Hofmannsthal. Zum Glück hatte ich das Fläschchen mit den Hoffmannstropfen dabei. Und warum musst du immer genau dann dringend Aufgaben machen, wenn wir uns am Fernsehen den «Literaturclub» ansehen? Die Sendung, in der die angesagten Literatur-Rezepte besprochen werden. Was soll das heissen: «Die Leute, die dort auftreten, können selber gar nicht kochen»? Seit wann muss man kochen können, um kluge Dinge übers Essen zu sagen? Ein Ballettkritiker geht auch nicht im Tutu ins Theater! Aber weisst du, was deine schlechteste Angewohnheit ist? Dass du auf einem E-Book liest! Wo man noch nicht mal weiss, wo man sein Exlibris einkleben soll. Wenn Gott gewollt hätte, dass wir E-Bücher lesen, hätte er die Fadenheftung nicht erschaffen. Wir verlangen ja nicht, dass du Romane von Murakami mit Stäbchen isst, oder dir deinen Bashevis Singer nur im koscheren Restaurant bestellst – aber ein bisschen Stil sollte schon sein. Merk dir das endlich, mein Sohn: Ein zivilisierter Mensch liest nicht einfach nur zum Vergnügen! Urs Rauber Kathrin Meier-Rust Kathrin Meier-Rust Simone Karpf 28. Juni 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Moral Jennifer Jacquet untersucht die Bedeutung von Schuldgefühlen und sieht darin eine Kraft, gesellschaftliche Verhältnisse zu revolutionieren Schämteuch–und verändertdieWelt! Von Kirsten Voigt «Schämst du dich denn gar nicht?» Mit einer solchen Frage wurden früher Kinder erzogen. Der Blick des errötenden Befragten ging betrübt auf die eigenen Schuhspitzen und neben dem Gefühl der Schuld stellte sich das der Scham ein. Je stärker eine Kultur auf Individualität setzt, je mehr sie den Einzelnen zum Souverän seiner persönlichen Wertmassstäbe, Erfolgs- und Glücksvorstellungen macht, desto geringer wird dessen Furcht vor dem potenziell ungünstigen Urteil der Gemeinschaft über ihn. Scham hatte schon grössere Konjunktur, die Zeitalter der Schandstrafen und öffentlichen Demütigungen scheinen in westlichen Kulturen, zumal sie nicht nachtragend sind, sondern ein kurzes Gedächtnis haben, vorüber. Das hat sein Gutes. Wo solche Strafen verhängt werden, flammt Streit auf – etwa, wenn in den USA Bürger dazu verurteilt werden, Kennzeichen an ihren Fahrzeugen anzubringen, die klarmachen, dass sie schon einmal in alkoholisiertem Zustand gefahren sind, oder mehrere Stunden mit Schildern auf dem Gehweg zu stehen, die von ihren Verfehlungen künden. «Die Beschämung kann ein wirkungsvolles Instrument sein, doch ob sie es tatsächlich ist, hängt wie im Falle der Antibiotika vom richtigen Zeitpunkt und der richtigen Dosierung ab», schreibt Jennifer Jacquet. Die Assistenzprofessorin an der Fakultät für Umweltwissenschaften der New York University erkennt in ihrem Buch, wie der Untertitel sagt, «Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls». Und sie plädiert dafür, diese Kraft vor allem im Bezug auf den Erhalt unserer Lebensgrundlagen und einen würde- und respektvollen Umgang mit anderen Arten einzusetzen. Mit dem Mittel der Beschämung können Einzelne und Konzerne zu einem sozial erwünschten Verhalten gebracht werden. Jennifer Jacquets Mutter schenkte ihr, als sie noch ein Kind war, das Buch «50 einfache Dinge, die Kinder tun können, um die Erde zu retten». Heute ist Jacquet Expertin auf dem Gebiet des Ressourcenmanagements und verfasste auf der Website von «Scientific American» drei Jahre lang den «Guilty Planet Blog». Im Buch «Scham» analy- Onlineshop für secondhand Lektüre mit über 50 000 Büchern Kontakt: [email protected] http://blog.buchplanet.ch http://facebook.com/buchplanet.ch http://www.twitter.com/buchplanet 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Juni 2015 <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysjQwNQAA185kLA8AAAA=</wm> <wm>10CFWKoQ6EQAwFv6ib99ptoay8rCMIgl9D0Py_Og53YkZMZl2bF7x8-nb0vRGoLqoJf3p60Ska0wqZDUFV0BckjTVm-_sFzDDY-D2CEOpAPharoybLfV5fVOajUnIAAAA=</wm> Sara Grob Betriebsleiterin siert sie das Thema weniger moralphilosophisch als sozial-empirisch und kulturpsychologisch. Sie sammelt munter und erhellend Fakten und Fallbeispiele für Unverschämtheiten grossen Stils und erfolgreiche, dem Gemeinwohl dienliche Beschämungen der Schuldigen. Vom Klatsch zum Pranger Scham lässt sich auch bei Gruppen erzeugen, sie steckt an, während die Suche nach dem oder den Schuldigen zumeist nur auf eine begrenzte Zahl von Individuen zielt und sie zur konkreten Rechenschaft zieht. Scham basiert auf der Wahrnehmung eines Regelverstosses und auf dessen öffentlicher Ahndung, die mit einem Verlust an Ansehen und dadurch auch ideeller und materieller Entfaltungsmöglichkeiten einhergehen kann. Im besten Falle treibt Scham nicht in die Isolation oder ins private Gefühlsde-saster – dem amerikanischen Schriftsteller Jonathan Franzen bescherte die Scham über seine misslungene erste Ehe und seine «generelle Naivität» nach eigenem Bekunden eine zehnjährige Schreibblockade –, sondern motiviert Verhaltensänderungen. Ob östliche Scham- oder westliche Schuldkultur – in beiden spielt der Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch Jennifer Jacquet: Scham. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2015. 224 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 18.–. SVETLANA BEKYAROVA / GETTY IMAGES Klatsch als Unterkategorie der Beschämung eine Rolle. Zwei Drittel der menschlichen Konversation – ob bei den Kung-Buschmännern in Botswana oder in der Mensa einer britischen Universität – beruhen nach Erkenntnissen der Anthropologen Polly Wiessner und Robin Dunbar auf Klatsch. Positive Urteile über unsere Mitmenschen machen nur zehn Prozent dieses Klatsches aus. Die Medien haben sich zu immer wirkungsvolleren, weil weitreichenderen Beschämungsinstrumenten entwickelt. Der effektvollste potenzielle Pranger, das Internet, wird derzeit von drei Milliarden Menschen genutzt. Auch dies macht ein neues Nachdenken über Scham und Beschämung nötig. Druck aufs Ökogewissen Noch wesentlicher sind jedoch die faktischen Bedrohungslagen für die Reflexion dieses Themas, die angebrachten «Grünen Gewissensbisse», wie Jacquet sie nennt. Riesenseekuh und Labradorente, Tasmanischer Tiger oder Pinta-Riesenschildkröte: Mehr als 90 Prozent aller Arten, die einst auf der Erde lebten, existieren nicht mehr. 17'000 sind aktuell vom Aussterben bedroht. Ob es um die Jagd auf den Thunfisch oder die Abholzung des Regenwaldes geht, ob um Diamantenhandel, durch den afrikanische Bürgerkriege finanziert werden, ob um Garnelen aus Bangladesh, deren Produktion auf der Ausbeutung von Frauen und Kindern beruht, oder um den täglichen Handy-Verschleiss, der auf dem Umweg der fatalen Entsorgungsbedingungen das Grundwasser in Nigeria verseucht – wir werden dem Verdikt des Wildbiologen George Schaller zunehmend gerechter, der 2008 äusserte: «Der Mensch war der grösste Fehler der Evolution.» Der Emissionshandel unserer Tage, meint Jacquet, lässt sich am besten mit dem mittelalterlichen Ablasshandel vergleichen, und unser schlechtes Öko-Gewissen kurieren wir zumeist lediglich über den durch Umweltsiegel ethisch scheinveredelten Konsum. Beschämung kann Normen etablieren, indem sie Exempel statuiert. Sie kann einfache, sachliche mediale For- Erröten, zu Boden blicken, sich schämen. US-Autorin Jennifer Jacquet will mit Schuldgefühlen positives Verhalten bewirken. men annehmen – wie etwa die Veröffentlichung der 100 rücksichtslosesten LuftVerpester der USA auf der Internetseite des PERI-Instituts – oder sie kann kreativ und spielerisch werden wie etwa die Aktionen der Gruppe «Yes Men». Jude Finisterra, der als fingierter Pressesprecher von Dow Chemical an die Öffentlichkeit ging, verkündete im Dezember 2004 zum Jahrestag der Giftgaskatastrophe im indischen Bhopal, der Konzern übernehme nun erstmals die volle Verantwortung für die Katastrophe und habe einen 12-Milliarden-Dollar-Plan entwickelt, um die 120’000 von dem Unglück betroffenen Menschen zu entschädigen. Die BBC – aufmerksam geworden durch die Internetseite der «Yes Men» mit der gefälschten Entschuldigung von Dow Chemical – sendete ein Interview mit Finisterra. Es vergingen zwei Stunden, bis das Unternehmen auf den Fake aufmerksam wurde und sich zu der entblössenden Stellungnahme genötigt sah, man übernehme keinerlei Verantwortung und denke nicht an Entschädigungen. Aber auch ohne Massenmedien kann der Protest Aufsehen erregende Formen annehmen – etwa als perfektes Strassentheater. In New York City traten in den neunziger Jahren zunächst überdimensionale Ratten, später auch Kakerlaken, Schweine und Wanzen auf den Plan, richteten sich prall vor Gebäuden auf. In Gewerkschafterkreisen werden Arbeitgeber, die gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiter nicht einstellen, als «Ratten» bezeichnet. Die vier Meter hohen, aufblasbaren Gummi-Tiere outeten die Manager durch ihr Auftauchen vor deren Firmensitzen – amerikanische Nachrichtensender vermeldeten die täglich neuen Standorte der Riesen-Nager. Auch Jennifer Jacquet selbst hat nicht nur ihr lesenswertes, informatives Buch zum Thema abgeliefert, sondern im Jahr 2011 selbst einen Schampfahl aus den Logos der Unternehmen geschaffen, die in einer Umfrage zu den sozial-schädlichsten gewählt wurden. Er wurde in der Londoner Serpentine Gallery ausgestellt. Der Musiker Brian Eno komponierte zu ihm eine Musik. ● 28. Juni 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Geschichte Ein Bild-Text-Band beschreibt die vielfältigen Beziehungen Winston Churchills zur Schweiz FastwäreerimGenferseeertrunken Werner Vogt: Winston Churchill und die Schweiz. NZZ Libro, Zürich 2015. 231 Seiten, Fr. 51.-. Was wäre geworden, wenn es Winston Churchill nicht gegeben hätte? In einer Zeit, in der prominente Historiker wie Niall Ferguson und Alexander Demandt sich mit «virtueller Geschichte» befassen, ist kaum eine Frage häufiger gestellt worden. Und was immer man sich an abenteuerlichen Geschichtsverläufen auch ausdenken mag: Ein freies Europa hätte dann wohl keine Zukunft mehr gehabt. Zum Leben des englischen Kriegspremiers gibt es in deutscher Sprache zwei empfehlenswerte Bücher. Das eine stammt von Sebastian Haffner; das andere, erst kürzlich erschienen, verdanken wir Thomas Kielinger, dem Londoner Korrespondenten der «Welt». Nun liegt ein neues Buch vor, das sich mit den Beziehungen des englischen Politikers zur Schweiz befasst. Sein Verfasser Werner Vogt hat 1996 mit einer vielbeachteten Dissertation zur Churchill-Berichterstattung der «Neuen Zürcher Zeitung» promoviert. Seither hat er sich immer wieder mit dem Staatsmann auseinandergesetzt und durch seine Berufstätigkeit auch eine gute Kenntnis englischer Mentalität erworben. Winston Churchill hat die Schweiz schon vor dem Ersten Weltkrieg auf mehreren Reisen kennengelernt. Wir wissen von diesen Aufenthalten wenig mehr, als dass der junge Mann den Monte Rosa bestieg, fast im Genfersee ertrunken wäre und sich auf der Riederfurka SCHWEIZERISCHES KUNSTARCHIV / NACHLASS MONTAG Von Urs Bitterli über das Geläut der Kuhlocken ärgerte. In der Zwischenkriegszeit befasste sich Churchill kaum je mit unserem Land. Die NZZ aber druckte zwischen 1936 und 1938 immer wieder seine politischen Artikel ab, die durch eine Presseagentur verbreitet wurden. Während des Krieges kam Churchill gelegentlich auf die Schweiz zu sprechen, in der er einen potenziellen Verbündeten im Kampf gegen Hitler sah. Nach der Niederlage Frankreichs im «Blitzkrieg» erschien der Staatsmann in Presse und Öffentlichkeit unseres Landes als Hoffnungsträger; man weiss, dass über dem Schreibtisch Willy Bretschers, des Chefredaktors der NZZ, ein Porträt Churchills hing. Im Zentrum von Vogts Darstellung steht der Besuch, den Churchill im Sommer 1946 der Schweiz abstattete. Der Autor gibt eine detaillierte Darstellung Winston Churchill malt den Genfersee. Seine Frau Clementine (3. von rechts) und Freunde betrachten das Kunstwerk, 1946. dieses Aufenthalts, an den sich zahlreiche ergötzliche Anekdoten knüpfen. Vogt stützt sich auf frühere Recherchen des Historikers Max Sauter, auf Berichte der Schweizer Filmwochenschau und auf die Aussagen noch lebender Augenzeugen. Zuerst verbrachte Churchill einige Ferientage am Genfersee und reiste dann mit dem «Roten Pfeil» über Bern nach Zürich. Überall wurde er von einer begeisterten Menge begrüsst. In Zürich hatte er ein anstrengendes Besuchsprogramm zu absolvieren, das nicht ohne Zwischenfälle und Komplikationen verlief und seinen Höhepunkt in der berühmten Europa-Rede an der Universität fand. Der Text wird in Vogts Buch im vollen Wortlaut auf Englisch und Deutsch wiedergegeben. Gegen Schluss kommt der Autor noch auf das Schweizer Küchenpersonal zu sprechen, das auf Churchills Landsitz Chartwell beschäftigte wurde und von dem wenn nicht wichtige, so doch amüsante Nachrichten überliefert sind. So erfährt man mit Interesse, dass des grossen Mannes Lieblingsdessert Karamellköpfli gewesen sind. Kein Zweifel: Werner Vogts Buch ist das Buch eines Bewunderers. Es wird die kritische Churchill-Forschung nicht auf neue Erkenntnispfade führen, aber es zeichnet ein überaus anschauliches und humorvolles Bild von einem Schweizer Besuch, der in Winston Churchills Leben eine Episode, in der Geschichte unseres Landes aber ein Ereignis war. Hervorragend ist das Fotomaterial, das der Autor aus in- und ausländischen Archiven zutage gefördert und seinem Buch beigegeben hat. ● Urs Bitterli ist emeritierter Professor der Geschichte der Universität Zürich. Syrien Uno-Beraterin Loretta Napoleoni spricht sich für einen pragmatischen Umgang mit Terroristen aus Den «Islamischen Staat» anerkennen? Loretta Napoleoni: Die Rückkehr des Kalifats. Rotpunkt, Zürich 2015. 158 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 19.–. Von Susanne Schanda «Kenne deinen Feind»: So einfach diese Aufforderung klingt, so komplex ist deren Umsetzung. Dies gilt ganz besonders beim Phänomen der Terrormiliz Islamischer Staat. Die Terrorexpertin Loretta Napoleoni, die als Uno-Beraterin und Auslandkorrespondentin u.a. für «Le Monde» tätig war, trägt mit ihrem Buch wesentlich zum Verständnis bei. Dies beginnt bereits bei der Benennung des Feinds. Während zahlreiche westliche Medien und Politiker nur die Abkürzungen ISIL, ISIS oder IS verwenden, um der Gruppe bewusst die Anerkennung als Staat zu verweigern, nennt Loretta Napoleoni das 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Juni 2015 Kind beim Namen. Nicht nur weil sich die Gruppe selbst so nennt, sondern weil gerade vom Anspruch auf Staatenbildung die grösste Gefahr ausgehe und die Gruppe mit der Ausrufung des Kalifats kurz vor Erreichung ihres Ziels sei: «Zum ersten Mal seit dem Ersten Weltkrieg ist eine bewaffnete Gruppierung dabei, die von den Franzosen und Briten entworfene Karte des Nahen Ostens neu zu zeichnen: Der Islamische Staat radiert zurzeit die Grenzen aus, die im SykesPicot-Abkommen von 1916 festgelegt worden waren.» Napoleoni schreibt, dass die Invasion der USA und ihrer Verbündeten 2003 im Irak bestehende Terrorgruppen stärkte. Der Islamische Staat verkörpere keine neue Art von Terrorismus, sondern sei «als Weiterentwicklung seiner früheren Form auferstanden». Durch die mediale Selbstinszenierung und den professionellen Einsatz der sozialen Medien wie etwa Facebook oder Twitter für Propaganda, Rekrutierung und Finanzierung agiere der IS geradezu modern. Für junge, im Westen geborene Muslime, die mit ihrem Leben nicht zurechtkommen, biete der Islamische Staat «die einmalige Gelegenheit, bei der Erschaffung einer neuen politischen Ordnung im Nahen Osten mitwirken zu können». Für Napoleoni ist klar, dass man dem IS mit anderen Mitteln als mit Krieg entgegentreten muss. Ihr Vorschlag, «einen solchen Staat in die internationale Gemeinschaft zu holen und ihn dadurch zur Respektierung des Völkerrechts zu zwingen», ist allerdings provokativ. Das Buch basiert auf fundierter Kenntnis und ist eine pointierte und kühne Alternative zur gängigen Debatte. Diese lasse sich gemäss Napoleoni von der Greuel-Propaganda des IS zugleich lähmen und in Panik versetzen. ● Religion Der grosse Ägyptologe Jan Assmann deutet das biblische Buch «Exodus» und schildert seine enorme Wirkungsgeschichte MonotheismusderTreue Religion ausmachen und sich im Judentum wie im Christentum bis heute ausprägen.» Die Exodus-Erzählung stelle damit nichts Geringeres dar als einen «revolutionären Ausstieg aus dem politischen System der altorientalischen Sakralkönigtümer» und die Wende von einer mythischen in die geschichtliche Zeit, in der wir bis heute leben. Historisch datierbar ist der Auszug aus Ägypten jedoch nicht, darin stimmt Assmann mit der heutigen Bibelwissenschaft überein. So sehr man sich mit allen möglichen Theorien bemüht hat: Das Geschehen lässt sich weder aus historischen noch aus archäologischen Quellen verifizieren. Auch die kausale Verbindung zwischen dem Pharao Echnaton (um 1340 v. Chr.), der den Sonnengott über alle anderen Götter setzte, und der Entstehung des biblischen Monotheismus hält Assmann für haltlos. Ohne auszuschliessen, dass im 12. Jahrhundert v. Chr. etwas passiert sein könnte, das dann eine Erinnerungskultur auslöste, hält Assmann fest: Entstanden ist das Buch Exodus in seiner bis heute kanonisierten Form erst im 6. Jahrhundert v. Chr., als Folge des babylonischen Exils, als es galt, die jüdische Identität zu verteidigen und zu bewahren. Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt. C. H. Beck, München 2015. 493 Seiten, Fr. 42.90, E-Book 26.–. Von Kathrin Meier-Rust Die Superlative erinnern an die Kinowerbung für Ridley Scotts MonumentalEpos «Exodus – Gods and Kings». Die Geschichte vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten, so schreibt Jan Assmann, sei die «grandioseste und folgenreichste Geschichte, die sich Menschen jemals erzählt haben». Es handle sich hier nicht nur um den Gründungsmythos Israels, sondern um jenen des «Monotheismus und damit eines zentralen Elements der modernen Welt». Doch während im Kino die Geschichte von Moses samt den zehn Plagen und einer spektakulären Teilung des Roten Meeres in Grossaufnahme an uns vorbeirauscht, fordert Assmanns Buch einiges an konzentriertem Lesen. Wie immer umkreist und deutet der grosse Doyen der deutschen Ägyptologie, emeritierter Professor in Heidelberg und Konstanz, jedes Detail seiner Quelle – das zweite Buch Mose, genannt Exodus – mit der ihm eigenen stupenden Gelehrsamkeit und Akribie. Mit seinen Büchern «Moses in Ägypten» (1998) und «Die mosaische Unterscheidung» (2002) hatte Assmann vor einigen Jahren eine grosse Kontroverse ausgelöst – sie liegt mit «Die Gewalt des einen Gottes», Berlin University Press 2014, inzwischen in Buchform vor. Mit dem biblischen Monotheismus, so plädierte Jan Assmann damals, sei zum ersten Mal die Unterscheidung zwischen wahr und falsch in den Raum des Religiösen eingedrungen. Diese «mosaische Unterscheidung» zwischen dem einen wahren Gott und den vielen falschen Göttern habe fortan religiöse Gewalt, Intoleranz und heilige Kriege begründet und legitimiert. Die These stiess von Seiten der Bibelwissenschaften auf einigen Widerstand. Auch ein Mythos lebt Biblische Geschichte à la Hollywood im actionreichen Spektakelfilm «Exodus – Gods and Kings» (2014) von Ridley Scott. Es handelt sich deshalb hier um eine «symbolische Erzählung», um eine «erfundene Tradition», um einen «Gründungsmythos», wie ihn so viele Völker kennen, in dem sich zwar durchaus Spuren historischer Ereignisse finden könnten, die aber im Grunde unerheblich seien. Denn ob ein Mose je existiert habe, könne man getrost auf sich beruhen lassen: «Er lebt stark und vielfältig genug in den Köpfen und Herzen nicht nur des jüdischen Volkes.» Assmanns grossartige Sätze – man möchte sie immerfort zitieren – schlagen gewaltige Schneisen ins Dunkel der altorientalischen Geschichte. Bei Auslegung und Diskussion der einzelnen Verse und hebräischen Worte der biblischen Erzählung referiert derselbe Autor dann aber über weite Strecken des Buches vollkommen fachwissenschaftlich und überfordert damit den Laien-Leser. Doch immer wieder findet er zurück zum grossen Blick. Dazu gehört vor allem auch die enorm breite Rezeption der Exodus-Erzählung, keineswegs nur im Judentum, sondern auch in der christlichen und islamischen Welt. Schon die zahlreichen schönen Illustrationen des Buches führen dies vor Augen. Ebenso die im Buch diskutierten Beispiele: von der Bachkantate «Wann kömmt der Tag, an dem wir ziehen aus dem Ägypten dieser Welt» bis zum Gospelsong «Let my people go», von Schillers Essay «Die Sendung Moses» bis zu Freuds «Der Mann Moses», von Händels Oratorium «Israel in Egypt» bis zu Schönbergs Oper «Moses und Aron». Die Puritaner in den USA wie die Buren in Südafrika, die Civil-RightsBewegung wie die Befreiungstheologie in Lateinamerika haben sich mit der Exodus-Geschichte identifiziert . Man kann sich also den Auszug aus Ägypten durchaus von Ridley Scott in 3D zu Gemüte führen. Wer mehr wissen möchte über die geistigen und historischen Hintergründe dieses Mythos – der greife zu Jan Assmanns «Exodus». ● Rachsüchtiger Gott «Exodus» unternimmt nun eine Revision dieser These – er habe von seinen Kritikern viel gelernt, gesteht Assmann im Vorwort freimütig ein. Und indem der Ägyptologe die Geschichte von Moses und den Hebräern diesmal sozusagen von innen betrachtet, aus der biblischen Überlieferung nämlich, kommt er zum Schluss: Nicht Wahrheit, sondern Treue stehe im Zentrum der neuen monotheistischen Religion. Nicht um wahr und falsch gehe es nämlich im Bund mit Gott, sondern um Treue und Verrat – einen Verrat, den Gott rachsüchtig bestraft, wie in der Geschichte vom Goldenen Kalb exemplarisch vorgeführt. «Es sind die Ideen des Bundes, der Treue, der Befreiung und der Verheissung, die das Wesen (…) der biblischen 28. Juni 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Memoiren Mit der Biografie von Max Tobler (1876–1929) wird an eine faszinierende Persönlichkeit der Zürcher Arbeiterbewegung erinnert Max Tobler: «Die Welt riss mich». Aus der Jugend eines Rebellen. Chronos, Zürich 2015. 371 Seiten, Fr. 48.90. Von Urs Rauber In der Reihe «Schweizer Texte, Neue Folge» publiziert der Zürcher Chronos Verlag seit 1994 wenig bekannte Texte von Schweizer Autorinnen und Autoren – so von Silvia Andrea, NZZFeuilletonchef Eduard Korrodi, Heinrich Zschokke, Annemarie Schwarzenbach und anderen. Die neuste Publikation der Autobiografie des früh verstorbenen Arztes, Publizisten und Politikers Max Tobler ist ein doppelter Fund: Sie erinnert an eine überaus populäre, doch von der Forschung ebenso wie von der politischen Linken vergessene Figur der Zürcher Arbeiterbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts; und sie publiziert ein Manuskript, das – der Öffentlichkeit verborgen – über 80 Jahre lang in der Schublade von Verlegern, Freunden und des Sozialarchivs schlummerte. Aufgeweckter Teenager Der in St. Gallen 1876 in eine Kaufmannsfamilie geborene Max Tobler war eine aussergewöhnliche Persönlichkeit. Im städtischen Gymnasium, wo er zusammen mit Freunden beschloss, «dass wir Genies werden wollten», liess er sich von der Abstinenzbewegung Auguste Forels anstecken – damals das Weltverbesserungsprojekt idealistisch gesinnter Menschen. Der hagere Jüngling entfloh dem elterlichen Geschäft, das mit Lederriemen, Gummischläuchen und Maschinenfetten handelte. Mehr noch entfremdete er sich jedoch seinem autoritären, patriotisch gesinnten Vater, der an jedem Sänger-, Schützen- oder Turnfest zu Hause drei Flaggen aushängte: zwei rotweisse und eine grünweisse. Dass der Sohn auf Most verzichtete und nur noch alkoholfreies «süsses Zeug» trank, passte ihm gar nicht: So verbot Tobler senior seinem Sprössling den Beitritt zu den Abstinenten. Vor allem, schärfte er ihm ein, dürfe er «kein Sozialdemokrat und Sonderling» werden. Die von Christian Hadorn herausgegebene Autobiografie ist ein Juwel schweizerischer Coming-of-Age-Literatur des 19. Jahrhunderts. Mit feiner Feder beschreibt der fünfzigjährige Freigeist und ironische Beobachter – das Manuskript 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Juni 2015 entstand ca. 1924/25 – seine Adoleszenz in den 1880er und 90er Jahren. Dass die Jugendlichen des Abstinenzvereins «Humanitas» nicht nur der Alkoholverzicht, sondern auch das ungestillte Verlangen nach dem anderen Geschlecht plagte, kommt darin auf wunderschönste Weise zum Ausdruck. Dutzendfach erinnert sich der Biograf an potenzielle Jugendlieben, zu denen er als schüchterner Jüngling nie Zugang fand: vom heimlich verehrten Kindergartenschwarm über eine «Alleinherrscherin in meiner Phantasie» namens Emmi bis zur Eisläuferin, die «so gesund und kraftvoll aussah wie eine gelbe, frisch aufgeblühte Butterblume». Die Memoiren geben einen höchst interessanten Einblick in das Denken und Fühlen eines aufgeweckten Teenagers im späten 19. Jahrhundert, aber auch in das Erwachen der schweizerischen Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Aus dem Gymnasiasten wurde ein Französischlehrer in Cressier, dann ein Zoologie-Student in Genf, wo er den vielen russischen Studentinnen begegnete, sowie später in Würzburg und Zürich. Auch hier kreisten die Gedanken nicht allein um die Erforschung von Käfern und neuseeländischen Schnecken, sondern um die grosse Aufgabe im Dienste der Menschheit. Im Unterschied zu den russischen Kommilitonen, für die das Studium nur eine Etappe auf dem Lebensziel war, zu Hause Revolutionär zu werden, war Max Tobler lange auf der Suche. Die Schilderung, wie die Studiosi in den 1890er Jahren ihre Zeit in Hörsälen, Cafés, Vereinen und auf Exkursionen – möglichst in weiblicher Begleitung – verbrachten, erinnert an die Welt der 1968er und 1980er Studenten. Man erfährt: Bereits Ende des 19. Jahrhunderts planten Jungakademiker den radikalen Umsturz eher im Diskussionszirkel als in der harten Wirklichkeit. Unorthodox und libertär Ein Schlüsselerlebnis war Toblers Zusammentreffen mit dem zwei Jahre älteren Zürcher Arbeiterarzt Fritz Brupbacher (1874–1945), der die Studenten für ein Engagement in der Sozialdemokratie zu gewinnen suchte. Diese Begegnung, die später zu einer Freundschaft und Wohnpartnerschaft in Zürich führte, gab dem 22-Jährigen die erhoffte Perspektive. Tobler begann, für Brupbachers Zeitschrift «Die junge Schweiz» zu schrei- PRIVARARCHIV RUDOLF TOBLER Feinsinniger Revoluzzer Max Tobler mit seiner Ehefrau Minna und den beiden Söhnen James (links) und Rudolf in Zürich um 1927. ben und sich als «politischer Verschwörer» zu verstehen. Die Autobiografie endet mit der Rückkehr des 26-Jährigen aus England nach Zürich. Die Rolle, die Max Tobler von 1903 bis zu seinem frühen Tod an Magenkrebs 1929 in der Arbeiterbewegung ausübte, resümiert Christian Hadorn in einem ausführlichen Nachwort (es nimmt rund 80 von 370 Seiten ein). Tobler wurde Redaktor des sozialdemokratischen Zürcher «Volksrechts» (1904–1910), engagierte sich in der Arbeiterbildung, schloss sich dem Diskussionszirkel «Schwänliklub» an, schrieb für die Zeitschriften «Polis» und «Der Revoluzzer» und pflegte Kontakte zur Dada-Bewegung. Im Alter von 33 Jahren holte er das Medizinstudium nach und heiratete die zehn Jahre jüngere Ärztin und Frauenrechtlerin Minna Christinger (1886–1936), die in Arbeiterkreisen für einen lustvollen Umgang mit der Sexualität plädierte und mit der er zwei Söhne hatte. Im Unterschied zu sozialistischen Parteigrössen wie Fritz Platten, Willi Münzenberg oder Robert Grimm vertrat Max Tobler stets unorthodoxe, libertäre Positionen – bis hin zur Frauenfrage, wo er bei den roten Patriarchen zuverlässig aneckte. Zu bemängeln ist an der ChronosPublikation einzig, dass sie keine biografische Zeittafel und auch kein Register enthält. Ihrem Wert als bedeutendes Zeitzeugnis der abstinenten Jugendbewegung der Schweiz tut dies freilich keinen Abbruch. ● Antike Althistoriker Greg Woolf erklärt, warum das Römische Imperium alle andern überdauert hat AufstiegundFallRoms dende Anpassungsleistungen zu erbringen; ganz im Gegensatz zu den USA in Vietnam oder Afghanistan. Die Römer machten ihre «Untertanen» auch rasch zu römischen Bürgern und ermöglichten ihnen die Teilnahme am Imperium bis in die höchsten Ämter – Kaiser Septimius Severus stammte aus Nordafrika, Kaiser Severus Alexander aus Syrien. Dem Wesen Roms fremd waren die ab dem 4. Jahrhundert nach Christus aus dem Norden einfallenden «Barbaren», die den Niedergang des Imperiums einleiteten. Mit den islamisch-arabischen Eroberungen im 8. Jahrhundert lässt Woolf Rom enden. Drei Faktoren hätten ihm den Todesstoss versetzt: «Invasio- Greg Woolf: Rom. Die Biografie eines Weltreichs. Klett-Cotta, Stuttgart 2015. 495 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 33.90. Von Geneviève Lüscher Bühnenbilder Sinnliche Raumkunstwerke JULIAN ROEDER / OSTKREUZ 1500 Jahre oder 50 Generationen hat das römische Reich existiert, länger als jedes andere Imperium auf der Welt. Wohl gab es andere Grossreiche – China, Persien, das Britische Empire –, aber keines hat so lange überlebt. Und es scheint nicht, dass die USA dieses hohe Alter erreichen werden. Es ist aber nicht das Ende des Imperiums, sondern die lange Dauer, die Greg Woolf fasziniert. Der an der St.AndrewsUniversität in Schottland lehrende Althistoriker versucht, die Frage zu beantworten, wie Rom wurde, was es war. Warum es wuchs, wankte, fast fiel, sich erholte, expandierte, wie es ihm stets gelang, sich neuen Umständen anzupassen. Wie es möglich war, dass aus einem Dorf am Tiber ein Weltreich wurde, das im Mittelalter zu Konstantinopel, einer Stadt am Bosporus, schrumpfte. Natürlich hat auch er keine endgültigen Antworten. «Das Römische Reich war wie eine gewaltige Flutwelle, die sich immer höher aufrichtete, bis sich ihre Kraft verströmte», umschreibt er den Prozess, den er auf 380 Seiten in 18 Kapiteln auffächert. Ein ambitioniertes Vorhaben. Sehr nützlich erweist sich das erste Kapitel, eine schnelle Übersicht über die Geschichte. Es sei vor allem denjenigen Lesern empfohlen, die in der römischen Vergangenheit nicht sattelfest sind. Im folgenden wechseln historisch-chronologische Kapitel mit narrativ-thematischen ab, in denen Ökologie, Kaisertum, Religion und anderes abgehandelt werden. Sie referieren den neuesten Forschungsstand, von dem die hundert Seiten Anmerkungen und Bibliografie beredtes Zeugnis ablegen. Dazwischengeschaltete Zeittafeln helfen, den Überblick über die insgesamt 15 Jahrhunderte zu bewahren. Interessant und bisweilen überraschend sind die im Text immer wieder eingestreuten Vergleiche mit anderen Imperien: China, das Reich Alexanders, Ägypten, die Herrschaft der Moguln in Indien, das Osmanische Reich, die Inka. Gemäss Greg Woolf liegt der Erfolg des Römischen Reiches zu einem kleineren Teil in seiner geografischen Lage, ökonomischen Stärke, technologischen Vorreiterrolle oder Religion. Entscheidend waren vielmehr seine Institutionen, die sämtliche Erschütterungen überdauerten: seine Elite, das Klientelwesen, die Sklaverei, das Rechtssystem und seine militärische Anpassungsfähigkeit. Erfolgreich war es auch, weil die eroberten Gebiete rund ums Mittelmeer ähnliche klimatische und ökologische Bedingungen aufwiesen wie Rom selber. Für eine Eingliederung hatten weder die Eroberer noch die Eroberten einschnei- nen, Auseinanderbrechen und eine dramatische Verkleinerung». Aber Rom lebt weiter, bis heute. Nicht nur in seinen toten Ruinen, die den modernen Tourismus alimentieren, auch in lebendigen Institutionen. Oder warum heisst der Kongresssitz in Washington Capitol und seine Mitglieder nennen sich Senatoren? Greg Woolf hat ein gut verständliches Buch geschrieben, es liest sich leicht, ist aber ein dichtes Geschichtswerk. Wer etwas Süffiges im englischen Stil der Geschichtsschreibung sucht, mit szenischen Einschüben, Schlachtgetümmel, Mord und Totschlag, der sollte die Finger davon lassen. ● «Alles auf Anfang» (Starting over), so der Titel des Buches über die Arbeiten der deutschen Bühnenbildnerin Barbara Ehnes, bezeichnet im Theaterjargon jenen Vorgang während der Proben eines Stückes, bei dem alles aufs erste Bild zurückgebaut und von vorne begonnen wird. Der Ausdruck umschreibt aber zugleich auch das Arbeitsprinzip von Ehnes – immer wieder kombiniert sie in ihren Bühnenbildern neue Elemente miteinander. Durch Licht- und Videoprojektionen suggeriert sie irritierende Tiefenwirkungen und Grössenverhältnisse der Räume, erzeugt ungewohnte Perspektiven für den Zuschauer, erbaut spektakuläre Hindernisse für die Schauspieler und zeigt, wie das Bühnenbild von der blossen Kulisse zum gestaltenden Bestandteil einer In- szenierung werden kann. Gewürdigt wird Ehnes’ Arbeit nun in einem Bildband, herausgegeben von der Dramaturgin Stefanie Carp. Die oft doppelseitigen Fotografien verschiedener Bühnenbilder lassen uns eintauchen in die vielschichtigen und sinnlichen Raumkunstwerke von Barbara Ehnes, die mit Regiegrössen wie Stefan Pucher an den namhaften Bühnen des deutschsprachigen Raums arbeitet, immer wieder auch am Schauspielhaus Zürich. Im Bild: Puchers Inszenierung «Die Zofen» an den Münchner Kammerspielen. Gespräche mit der Künstlerin ergänzen den Bildband. Simone Karpf Stefanie Carp (Hrsg.): Barbara Ehnes. Alles auf Anfang. Bühnenbilder, Konzepte. Theater der Zeit, Berlin 2015. 256 Seiten, Fr. 39.90. 28. Juni 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Indien Porträt einer schwer zugänglichen Gesellschaft DerMilliardenkoloss Bernard Imhasly: Indien. Ein Länderporträt. Ch. Links, Berlin 2015. 208 Seiten, Fr. 23.90. Von Jörg Fisch Bernard Imhasly, langjähriger IndienKorrespondent der NZZ, schreibt weder einen Reiseführer noch einen Reisebericht. Er geht, ohne sie klar auszusprechen, einer grundsätzlicheren Frage nach: Was können wir heute von diesem Land wissen und verstehen, und vielleicht sogar lernen? Bei der Antwort fällt die Dominanz der Mittelklasse auf, die Urteil und Wissen in Europa wie in Indien prägt, wenn vielleicht auch auf unterschiedliche Weise. Der Autor lebt seit langem in Indien und ist mit einer Inderin verheiratet. So ist ihm die Perspektive der Mittelklasse in besonderer Weise geläufig. Im Gegensatz zu den meisten seiner indischen Standesgenossen aber begibt er sich immer wieder in die Slums und versucht einen weiteren Überblick zu gewinnen, etwa über die unvorstellbaren sanitären Verhältnisse des Landes und die dazugehörige Mentalität. Doch es ist nicht seine Welt, während ihm das mittelständische Leben, bis hin zur reichlichen Verfügbarkeit von Dienstboten, vertraut ist. Die Unterschichten hingegen gelangen im Buch selten über den Status von Objekten hinaus. Das Werk ist in zwölf Sachbereiche eingeteilt, von Geschichte und Gesell- schaft über Religion, Kaste, Minderheiten, Politik, Familie, Wirtschaft und Diaspora bis zu Umwelt, Sport und Kultur. Die Stärke des Autors liegt im genauen Beobachten und Beschreiben. Politik und Wirtschaft sind mehr Pflichtübungen; fasziniert ist Bernard Imhasly von Religion, Kaste und, ganz besonders, der Familie, die in der indischen Gesellschaft, ja im indischen Leben überhaupt eine sehr viel umgreifendere Rolle spielt als hierzulande. Hier gelingen dem Autor fesselnde Durchblicke in ein komplexes System, etwa bei der Analyse des Heiratsmarktes. Eine seiner Grundthesen ist, dass die traditionellen Gesellschaftsstrukturen in Verbindung mit dem Hinduismus dank grosser Anpassungsfähigkeit wesentlich zu Indiens Erfolgen beigetragen haben. Die zentralen Begriffe des Autors sind die Kaste und die Religion, wobei freilich insbesondere die Kaste ein rätselhafter Gegenstand bleibt. Das Buch ist locker und leicht lesbar geschrieben. Der Aufbau ist offener, als es die thematische Gliederung zunächst vermuten lässt. Imhasly verzichtet fast konsequent auf das, was viele Leser besonders interessieren wird, auf den Vergleich mit anderen Gesellschaften, insbesondere mit China. So sehr man das im Einzelnen bedauern mag, so angemessen ist die Entscheidung letztlich wohl doch – das Thema ist auch so noch komplex genug. Dass Indien mittlerweile ein demografischer Milliardenkoloss gewor- In Regenmonaten verdienen Rikscha-Läufer mehr – dank den ist, erfährt der Leser immer wieder, mit der auch in Indien verbreiteten Mischung aus Stolz und Sorge. Die Folgen werden sehr wohl genannt, von der Umweltverschmutzung bis zum Austrocknen der Gewässer. Das hat nun aber nicht dazu geführt, dass der Autor die Hoffnung auf die unsichtbare Hand, die es schon richten wird, wirklich aufgegeben hätte. Die Frage, wie sich der gewaltigen demografischen Herausforderung begegnen lässt, wird leider nicht Kulturgeschichte In der Zwischenkriegszeit trafen sich hochkarätige Philosophen, Mathematiker und Physiker im «Wiener Kreis» zum Disput – bis die Nationalsozialisten sie vertrieben HochburgderGeistesgrössen Karl Sigmund: Sie nannten sich «Der Wiener Kreis». Springer, Heidelberg 2015. 361 Seiten, Fr. 17.90, E-Book 20.–. Von André Behr Die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie hat erstaunlich viele bedeutende Literaten und Wissenschafter hervorgebracht. Ein Grund für diese Produktivität war sicher das Völkergemisch, das «zu einem politischen und gesellschaftlichen Durcheinander» führte, wie der Nationalökonom Otto Neurath konstatierte. Robert Musil fand dafür den Begriff «Kakanien» und schrieb dazu: «Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger.» In Wien, der Hauptstadt «Kakaniens», war die Dichte an Geistesgrössen besonders hoch. Man gruppierte sich locker 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Juni 2015 und traf sich bekanntlich gerne und oft in Kaffeehäusern. Mit einem dieser Zirkel hat sich der bald 70-jährige Wiener Mathematikprofessor Karl Sigmund über Jahrzehnte auseinandergesetzt. Er ging als «Der Wiener Kreis» in die Geschichte der Philosophie ein und wird noch bis Oktober an der Universität Wien mit einer Ausstellung gefeiert, die Karl Sigmund zusammen mit Historiker Friedrich Stadler kuratierte, dem Gründer des der Uni angeschlossenen «Institut Wiener Kreis». Am Anfang des Denkzirkels, schreibt Sigmund in seinem die Ausstellung begleitenden Buch, stand an der Schwelle zum 20. Jahrhundert eine vielbeachtete Auseinandersetzung in der Akademie der Wissenschaften zwischen den Physikern Ernst Mach und Ludwig Boltzmann zur Frage: «Gibt es Atome?» Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg stand am Ende ein erbitterter Streit bei einem Kamingespräch in Cambridge von Ludwig Wittgenstein mit Karl Popper um die Frage: «Gibt es philosophische Probleme?» Das halbe Jahrhundert dazwischen ist von leidenschaftlichen Kontroversen unter den Protagonisten des heterogenen Kreises geprägt, von Liebschaften, Nervenzusammenbrüchen und Selbstmord – und auch von politischen Verfolgungen und Mord. Initiiert wurde der Zirkel 1924 vom Philosophen Moritz Schlick, dem Mathematiker Hans Hahn und dem als Sozialreformer berühmt gewordenen Otto Neurath. Das Trio steht in der Tradition von Ernst Mach und Ludwig Boltzmann und will ohne idealistisches Gerede von unergründlicher Tiefe und bedeutungsschwangerer Weltabgewandtheit wissenschaftlich philosophieren. Bald stossen die Philosophen Ludwig Wittgenstein und Rudolf Carnap sowie die Mathematiker Karl Menger und Kurt Gödel hinzu, und ab 1929 tritt der Zirkel unter dem von Neurath vorgeschlagenen Namen «Wiener Kreis» mit Publikationen, Vorlesungen und Tagungen an die Erotik Rainer Moritz präsentiert die grössten Entgleisungen berühmter Schriftsteller beim Schreiben von Liebesszenen SexdurchtränkteProsa Rainer Moritz: Wer hat den schlechtesten Sex? DVA, München 2015. 250 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 17.90. PIYAL ADHIKARY / KEYSTONE Von Berthold Merkle eines Monsunzuschlags (Kalkutta, Juni 2015). gestellt. Hier liegen die Grenzen des leicht gewobenen Textes, der dennoch sehr wohl wichtige Fragen stellen und vor allem Einblick in eine schwer zugängliche Gesellschaft vermitteln kann. Das Buch kann und will kein Führer sein – aber es wird immer wieder ein willkommener Begleiter nachdenklicher Reisenden sein. ● Jörg Fisch ist emeritierter Professor der Universität Zürich für Geschichte mit Spezialgebiet Kolonialgeschichte. Öffentlichkeit. Man strebt eine «Wissenschaftliche Weltauffassung» an, will die Gesellschaft reformieren und engagiert sich an der Seite der Sozialdemokraten im Kampf um die Stadt, doch noch vor dem «Anschluss» an Hitlers Deutschland haben die meisten Mitglieder des Kreises Wien bereits verlassen. Der Staat spart an den unbequemen Akademikern, politische Anfeindungen nehmen zu und 1936 wird Schlick an der Uni von einem psychisch angeschlagenen ehemaligen Studenten erschossen. Als letztem gelingt 1940 Kurt Gödel eine dramatische Flucht in die USA. Karl Sigmund schildert die jedem Bühnendrama bestens anstehenden Biografien und Ereignisse am «Rand des Untergangs» sehr detailreich in dreizehn Kapiteln. Darüber hinaus vermittelt er mannigfaltige Einblicke in das Denken der Protagonisten des Wiener Kreises, das über gesellschaftliche Querelen weit hinausweist und bis heute noch immer aktuell ist. ● Schon seltsam: Wenn es um die schönste Sache der Welt geht, wird’s in der Literatur ziemlich öde. Die wortgewaltigsten Autoren schlaffen da richtig ab. Warum eigentlich? Diesem weiten Thema hat Rainer Moritz ein ganzes Buch gewidmet. «Wer hat den schlechtesten Sex» ist eine unglaubliche Fleissarbeit. Auf 230 Seiten arbeitet der Leiter des Hamburger Literaturhauses alle Stilformen und Spielarten dieses grossen Themas ab. «Eine literarische Stellensuche» nennt der 57-Jährige sein Werk und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das ist ehrlich, denn so zahlreich die Beispiele auch sind, nie können sie alles abdecken, was in diesem Bereich so verfasst wurde. Oder verbrochen wurde. Denn Rainer Moritz findet Stellen heraus, die an Peinlichkeit kaum noch zu überbieten sind. Und das gilt nicht nur für die kleinen Schreiberlinge, die Triviales am Fliessband verfassen. Immer wieder glaubt man als Leser so etwas wie Schadenfreude zu verspüren, wenn Moritz die hohe Weltliteratur bei der Flucht in eine hilflose Vulgarität ertappt oder – noch besser – darin absurde Metaphern entdeckt. Das gibt es schlimme Szenen überall: bei Hermann Hesse, bei Günter Grass und auch bei Nick Hornby. Nicht zu vergessen Philip Roth, aber dessen sexdurchtränkte Prosa kennen wir ja schon. Seine drastischen Schilderungen von Frust und Lust der amerikanischen Vorortbewohner sind legendär. Einsamer Höhepunkt in der Liste der schlechten Sexbeschreibungen ist aber James Salter. In seinem Roman «Alles was ist» versteigt er sich zu diesem stark gemeinten, aber schiefen Bild: «Er kam wie ein trinkendes Pferd.» Das muss man erst mal auf sich wirken lassen. In eine ähnliche Kategorie der unwahrscheinlichen Vorkommnisse gehören beliebte Sätze wie «...und sie rissen sich die Kleider vom Leibe». Wie soll das gehen?, fragt sich Rainer Moritz, und weder mit seiner Erfahrung als Literaturwissenschafter noch als ganz normaler Mensch kann er eine befriedigende Erklärung liefern. Nur die: Da ging es mit einem Schriftsteller beim Versuch, besonders plastisch und lebensnah zu sein, mal wieder durch. Das alles ist so komisch und so witzig, dass es eine wahre Freude ist, mit Moritz in den Niederungen der hohen Literatur zu stöbern. Ganz besonders amüsant in diesem herrlich unterhaltsamen Buch sind die Gegensätze, die Moritz da aufzeigt: Wo moderne Autoren «bumsen» und «vögeln» oder noch härter: es «hämmern» und «nageln» lassen, was das Zeug hält, da setzen ganz alte Schriftsteller wie Heinrich von Kleist oder noch nicht so alte wie Max Frisch einen verschämten Gedankenstrich. Ganz schön. Das kann doch heissen: Lieber Leser, denke Dir den Rest doch selber... So elegant sind die meisten Schriftsteller aber nicht. Sie wollen es selber machen, und da geht beim Sex ganz schön oft etwas daneben. Mit wissenschaftlicher Genauigkeit kann der Autor auch nachweisen, dass die Häufigkeit der beschriebenen Höhepunkte in den vergangenen Jahrzehnten stets zugenommen hat. Nicht erst mit Helene Hegemann und Charlotte Roche, sondern schon viel früher. Rammeln und stöhnen. Was bringt’s? Rainer Moritz ist mit seiner dicken Sammlung der besten schlechten Stellen überhaupt nicht peinlich. Er trifft munter den richtigen Ton zwischen Ironie und dezenter Doppeldeutigkeit. Es ist anregend, mal wieder ein schönes Buch zu lesen mit etwas Erotik, vielleicht von Max Frisch. Denn angesichts der ganzen Sammlung an verunglückten Höhepunkten und hilflosem Gestammel, ist ein züchtiger Gedankenstrich nicht das Schlechteste. ● Wo grosse Literaten einen auslassenden Gedankenstrich setzen, geht Charlotte Roche in die Details. Die Verfilmung ihrer «Feuchtgebiete» (2013) tut es ihr gleich. 28. Juni 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Politik Fünfzehn Spezialisten analysieren die Ukraine-Krise und ihren Einfluss auf die EU Vom weissen Fleck auf der Landkarte zum Testfall Katharina Raabe, Manfred Sapper (Hrsg.): Testfall Ukraine. Suhrkamp, Berlin 2015. 256 Seiten, Fr. 22.90, E-Book 18.–. Von Reinhard Meier Kein geringerer als der profunde Russland-Kenner Karl Schlögel gesteht in seinem Beitrag für diesen Band, erst durch die aufwühlende Ukraine-Krise der vergangenen anderthalb Jahre sei ihm und andern Osteuropa-Fachleuten klar geworden, dass dieses Land im eigenen Bewusstsein «nicht wirklich präsent war». Tatsächlich ist die Ukraine von vielen Seiten hauptsächlich als Bestandteil Russlands verstanden worden – die Westukraine mit Lemberg und Czernowitz allenfalls als östliche Provinzen der Habsburger Monarchie. Die Autoren des vorliegenden Sammelbandes sind be- strebt, solchen unwissenden oder jedenfalls oberflächlichen Ansichten über das flächenmässig grösste Land in Europa energisch entgegenzutreten. Es sind ausgewiesene Kenner, die in diesem brandaktuellen Buch die verschiedensten Aspekte des ineinander verzahnten russisch-ukrainischen, innerukrainischen, russisch-westlichen und teilweise auch innerwestlichen Konflikts beleuchten. Andreas Kappeler, ein führender Experte der ukrainischen Geschichte, befasst sich mit dem Einfluss der populären Kosakenmythen auf den Widerstandsgeist des Kiewer Euro-Maidan. Der russische Journalist Arkadi Babtschenko, Mitarbeiter der kremlkritischen Zeitung «Nowaja Gaseta», sieht die in seinem Land populäre Intervention in der Ostukraine gar als «Anfang vom Ende des Putinismus». Der Berliner Historiker Herfried Münkler stellt Wladimir Putins expansive Muskelspiele in weitere geostrategische und nationalpsychologische Zusammenhänge. Der Politologe Bruno Schoch seinerseits seziert die vor allem in westlichen Kreisen selbstgefällig kolportierten «Legenden von der imperialen Expansion des Westens» gegenüber dem heutigen Russland mit beissender Schärfe. Unerwartet ist die Ukraine zum Testfall für den Frieden und die Integrationsfähigkeit Europas geworden. Von dessen Ausgang wird die Zukunft der EU und Russlands – und ihr Verhältnis zueinander – entscheidend bestimmt werden. Der Sammelband vermittelt tiefe Einblicke in die Komplexität der Ukraine-Krise. Ihre Entschärfung erfordert von westlicher und ukrainischer Seite gleichzeitig Standvermögen und Fingerspitzengefühl – und von Russland mehr Realitätssinn statt nationalistischer Illusionen. ● Das amerikanische Buch Licht und Schatten des literarischen Journalismus Nun bringt der Medienhistoriker Thomas Kunkel Licht in das Mysterium. Man in Profile. Joseph Mitchell of The New Yorker (Random House, 366 Seiten) kommt nicht nur einer Erklärung der Schreibprobleme nahe. Gestützt auf Interviews mit Zeitzeugen und Mitchells Nachlass, präsentiert Kunkel beunruhigende Fakten. So war bereits bekannt, dass der Reporter seinen «Mister Flood» mit Zustimmung der MagazinLeitung aus mehreren Habitués am Fulton Fish Market «zusammengesetzt» hatte. Aber Kunkel weist nach, dass Mitchell weitere Protagonisten 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Juni 2015 ger vor. Behutsam zeichnet er Mitchell als erstklassiges Talent und Perfektionisten, aber auch als zerrissene Figur. Früh von Verwandten als «alte Seele» bezeichnet, hatte Mitchell die wilden Sumpflandschaften seiner Kindheit als Paradies erlebt. Diesem entfloh er in die intellektuelle Freiheit New Yorks. Aber dort erlebte Mitchell den unaufhaltsamen Vormarsch von Kommerz und Verwertungsdenken. Mit archaischen Gestalten wie dem Pastor George H. Hunter schrieb er gegen die Zerstörung eigenständiger und eigenwilliger Lebenswelten wie einer Siedlung schwarzer Austernfischer auf Staten Island an. COURTESY ESTATE OF JOSEPH MITCHELL Für den «New Yorker» hat Joseph Mitchell (1908–1996) seit 1938 Milieus, Lokalitäten und Menschen am Rand der städtischen Gesellschaft beschrieben. Seine Geschichten über Zigeuner, die Bar «McSorleys Old Saloon» und den steinalten Abbruchunternehmer Hugh G. Flood mit seinem unerschöpflichen Wissen über Meeresfrüchte wurden zu Klassikern des literarischen Journalismus. Ihren Status als erste Adresse für tief recherchierte Reportagen hat die Wochenzeitschrift nicht zuletzt dem Sohn eines Grossbauern und Unternehmers aus North Carolina zu verdanken. Und doch blieb Mitchell auch ein Rätsel. Als junger Journalist war er nach seiner Umsiedlung an den Hudson 1929 durch Produktivität und ein scharfes Auge aufgefallen. Von 1965 bis zu seinem Tod kam er zwar in seine Schreibstube am «New Yorker». Und stets war er dabei makellos in Anzüge von Brooks Brothers und eine schmalkrempige Fedora gekleidet. Aber während durch die geschlossene Tür das Klappern seiner geliebten Underwood-Schreibmaschine klang, gab Mitchell 30 Jahre lang keine Manuskripte mehr ab. Reporter Joseph Mitchell in Fairmont, North Carolina, 1950. Autor Thomas Kunkel (unten). wie den «Zigeunerkönig» Johnny Nikanov und den Mohawk-Indianer Orvis Diabo erfunden hat. Zudem legte der literarisch weit bewanderte und im Glauben seiner Vorfahren verwurzelte Baptist realen Gesprächspartnern tiefschürfende Aussagen über Gott, die Welt und die Übel der Moderne in den Mund. Lange Monologe seiner Figuren waren zunehmend ein Markenzeichen Mitchells geworden. Nun zeigt Kunkel, dass eindrückliche Passagen darin den Sehnsüchten und Obsessionen des meisterhaften Stilisten entsprangen. Von der amerikanischen Kritik weithin gelobt, geht Kunkel nicht wie ein Anklä- Der Verletzung journalistischer Grundregeln bewusst, nahm Joseph Mitchell nach 1960 seine Leidenschaften zwar in den Griff. Thomas Kunkel zufolge wollte er seine Weltanschauung dann als autobiografisches Bekenntnis in Buchformat niederschreiben. Doch anscheinend gelang Mitchell der Sprung von Essay und Reportage in das längere Format nicht zur eigenen Zufriedenheit. So hinterliess er lediglich drei kurze Kapitel, die der «New Yorker» 2013 auszugsweise veröffentlicht hat. Mitchell fiel über dieses Ringen immer wieder in Depressionen. Dazu trug der Tod seiner Frau Therese 1980 bei. Dennoch war der liebevolle Vater zweier Töchter ausserhalb der Redaktion etwa als Mitglied eines offiziellen Denkmalschutzkomitees bis ins hohe Alter produktiv. Damals hatte ihm der wundervolle Sammelband «Up in the Old Hotel» (1992, Pantheon Books, 718 Seiten; auf deutsch 2011 bei Diaphanes) bereits Generationen neuer Bewunderer gebracht. ● Von Andreas Mink Agenda Weststrasse Wo Zürich sich gentrifiziert Agenda Juli 2015 Baden Donnerstag, 2. Juli, 22 Uhr Valérie Cuénod: Vollmondlesung aus Jenny Browns Tagebüchern. Fr. 15.–. Museum Langmatt, Römerstr. 30. Reservation: Tel. 056 200 86 76. Bern Freitag, 3. Juli, 20 Uhr Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes. Lesung. Kornhausbibliothek, Kornhausplatz 18. Reservation: Tel. 031 327 10 10. Leukerbad Freitag, 3., bis Sonntag, 5. Juli 20. Internationales Literaturfestival mit gegen 30 Autoren und Autorinnen, unter anderen: Judith Hermann, Thomas Hürlimann (Bild). Info: www.literaturfestival.ch. Winterthur Gespenstisch war die Ruhe, als im August 2010 die Zürcher Weststrasse für den Durchgangsverkehr definitiv gesperrt wurde. Davor rollten einem ab sechs Uhr in der Früh die Lastwagen durchs Schlafzimmer, so kam es einem zumindest vor. Zehntausende Autos passierten täglich die Westtangente, 38 Jahre lang. Früher war es anders, erinnert sich Autor Charles Lewinsky, der als Bub auf der kaum befahrenen Strasse Fussball spielte. Auch die Buchpreisträgerin Melinda Nadj Abonji wohnte einst am «Auspuff der Nation». In ihrer Langzeitstudie dokumentiert die Kunsthochschuldozentin Corina Flühmann die Entwicklung des Lebens an der Weststrasse zwischen 2007 und 2015. Vieles ist von früher oder sieht noch so aus: Fahrzeuge, orthodoxe Juden, Studentenbuden, kleine Läden. Dazwischen aber schon neue Gebäude und hippe Cafés, die von der rasanten Gentrifizierung der Gegend zeugen. Autos wünscht man sich wahrlich nicht zurück, die unprätentiöse Atmosphäre hingegen schon. Regula Freuler Corina Flühmann: Weststrasse. Mit Texten von Charles Lewinsky, Melinda Nadj Abonji, Caspar Schärer. Edition Patrick Frey, Zürich 2015. 292 Seiten, Fr. 79.90. Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Donna Leon: Tod zwischen den Zeilen. Diogenes. 288 Seiten, Fr. 34.90. Martin Suter: Montecristo. Diogenes. 320 Seiten, Fr. 33.90. Ruth Schweikert: Wie wir älter werden. S. Fischer. 272 Seiten, Fr. 31.90. Blanca Imboden: Matterhörner. Wörterseh. 208 Seiten, Fr. 25.90. Martin Walker: Provokateure. Diogenes. 432 Seiten, Fr. 34.90. Andrea Camilleri: Das Spiel des Poeten. Bastei Lübbe. 272 Seiten, Fr. 28.90. Lori Nelson Spielman: Morgen kommt ein neuer Himmel. Fischer Krüger. 368 Seiten, Fr. 21.90. Guillaume Musso: Nacht im Central Park. Pendo. 384 Seiten, Fr. 21.90. Viveca Sten: Tod in stiller Nacht. Kiepenheuer & Witsch. 400 Seiten, Fr. 21.90. Freitag, 17. Juli, 19.30 Uhr Ingrid Noll: lauschig und rabenschwarz – Krimiabend. Lesung mit musikalischer Umrahmung. Fr. 25.–. Naturgarten Lindberg, Lindbergstrasse. Reservation: 052 267 68 60. Zürich Bestseller Juni 2015 Lori Nelson Spielman: Nur einen Horizont entfernt. Fischer Krüger. 368 Seiten, Fr. 21.90. Freitag, 3. Juli, 20 Uhr Matthias Müller: Sand. Buchvernissage mit musikalischer Performance. Güterschuppen Bahnhof Winterthur Töss. Info: www.kulturstreuer-toess.ch. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 18.90. Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 26. Aufl. Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 34.90. Per Andersson: Vom Inder, der nach Schweden fuhr. Kiepenheuer & Witsch. 336 S., Fr. 21.90. Thomas Gottschalk: Herbstblond. Heyne. 368 Seiten, Fr. 28.90. Thomas Maissen: Schweizer Heldengeschichten. Hier + Jetzt. 240 Seiten, Fr. 29.–. Joachim Bauer: Selbststeuerung. Blessing. 240 Seiten, Fr. 28.90. Wilhelm Schmid: Gelassenheit. Insel. 118 Seiten, Fr. 12.90. Mahtob Mahmoody: Endlich frei. Ehrenwirth. 416 Seiten, Fr. 22.90. Alexander Eben: Vermessung der Ewigkeit. Ansata. 224 Seiten, Fr. 28.90. Katrin Bentley: Allein zu zweit. Wörterseh. 224 Seiten, Fr. 37.90. Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 16.6.2015. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Mittwoch, 1. Juli, 19 Uhr Tibor Pataky: Fruchtmann. Lesung. Buchhandlung Bodmer, Stadelhoferstr. 34. Info: www.kommode-verlag.ch. Samstag, 4. Juli, 19.30 Uhr 150 Years of Alice in Wonderland. Naomi Steinberg liest (auf Englisch), dazu werden Tee und englische Spezialitäten serviert. The Bookshop, Bahnhofstrasse 70. Info: www.books.ch. Montag, 6., bis Sonntag, 12. Juli Openair-Literaturfestival. An sieben Tagen und Nächten lesen Autorinnen und Autoren im Alten Botanischen Garten, u. a. Xiaolu Guo, Ruth Schweikert (Bild), Michail Schischkin. Programm/Tickets: Tel. 044 254 00 00, www.kaufleuten.ch. Samstag, 25. Juli, 20.45 Uhr Dieter Meier im Gespräch mit Stefan Zweifel. 150 Jahre Seebad Utoquai. Seebad Utoquai. Info: www.stadt-zuerich.ch. Bücher am Sonntag Nr. 7 erscheint am 30.8.2015 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 28. Juni 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Wie ein Reformator die Schweizer reich machte. Das neue Magazin der NZZ schreibt Geschichte. Verstehen, wie Zwinglis Reformation mit dem Siegeszug des Kapitalismus und seinen Nebenwirkungen zusammenhängt. Mit «NZZ Geschichte» haben Sie es in der Hand – ein vielseitiges Magazin, das die Vergangenheit beleuchtet und die Gegenwart erhellt. Mit einem überraschenden Themenmix und Beiträgen von namhaften Historikern und Denkern unserer Zeit. Erhältlich als Abo oder ab 9. Juli 2015 am Kiosk. <wm>10CAsNsja1NLU01DU3sDAyNQIAMPk4uA8AAAA=</wm> <wm>10CFWKoQ7DMAwFv8jR84vtxAucyqqCajxkGt7_ozZjAyfdSbfvwwt-PLfjtZ3D01OlodO5orDF6GSBtYGAEeoPtQp69Pz7BZpRUed6BCGwqSZMYbuF5fv-XFYdGc1yAAAA</wm> t Hef s e Erst henkt c ges Jetzt Abo bestellen 25% Rabatt auf das Jahresabo 4 Ausgaben für Fr. 43.50 statt Fr. 58.– www.nzz.ch/geschichte5 SMS an 880 mit NZZGESCHICHTE5, Namen und Adresse (20 Rp./SMS) Schriftliche Bestellungen mit NZZGESCHICHTE5, Namen und Adresse an: Neue Zürcher Zeitung, Leserservice, Postfach, 8099 Zürich