Zuerst nach der Schuld am Krieg fragen

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Zuerst nach der Schuld am Krieg fragen
Zuerst nach der Schuld am Krieg fragen
Über Flucht, Vertreibung und Erika Steinbach
Von Harry Nick
Der Streit um die Besetzung des Beirats der Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung«
schwelt in der schwarz- gelben Koalition schon seit Monaten. Die FDP ist strikt gegen die
Berufung der Präsidentin des Bundesverbandes der Vertriebenen, Erika Steinbach, die
Union unterstützt ihre Kandidatur. Betroffene haben auf Flucht und Vertreibung ihre ganz
eigene Sicht.
Es muss im Sommer 1941 oder 1942 gewesen sein, als unsere polnische Nachbarin
tränenüberströmt zu meiner Mutter kam und sie fragte, warum sie sie aus ihrem Hause
vertreiben wolle. Nachdem meine Mutter ihren eigenen Zorn besänftigt hatte, gelang es ihr, die
Nachbarin damit zu beruhigen, dass es sich hier um eine Gerücht handeln müsse. Für lange hat
das aber auch nicht geholfen; die Nachbarin wurde von einer anderen deutschen Familie
vertrieben. Wir wohnten damals in einem Dorfe im »Warthegau«, in der Nähe von Lodz, das von
den deutschen Okkupanten in Litzmannstadt umbenannt worden war. So etwas war durchaus
üblich und es geschah millionenfach. Offenbar auch auf unbürokratische Weise.
Meine Frage ist: Hätte Frau Erika Steinbach nicht von sich aus mitteilen sollen, dass sie 1943 in
einem Hause im damaligen Westpreußen geboren wurde, aus welchem kurz vorher die
polnischen Eigentümer von ihrem Vater, einem Wehrmachtsangehörigen, vertrieben worden
waren? Die Polen hatten dies kürzlich herausgefunden. Ist die Erwiderung Frau Steinbachs auf
diese Mitteilung, dass sie als Säugling und Kind an solcher Vertreibung unschuldig sei, für die
Präsidentin des deutschen Vertriebenenverbandes ausreichend, hinnehmbar?
Hätte Frau Steinbach in diesem Zusammenhang nicht daran erinnern sollen, dass es nach der
Eroberung Polens durch Nazideutschland nicht nur den Raubzug der deutschen Wirtschaft,
sondern eine radikale »Arisierung« gab, eine entschädigungslose Enteignung, auch
mittelständischen Eigentums, aller polnischen Bauern, Ladenbesitzer ... Angehörige der
polnischen Intelligenz wurden interniert, viele umgebracht. Alle polnischen Bildungseinrichtungen
wurden geschlossen. Polen durften nicht mit der Eisenbahn fahren. Meine Mutter wurde zu der
horrenden Geldstrafe von eintausend Reichsmark verurteilt, weil sie einer polnischen Bekannten,
die ihre Eltern besuchen wollte, einen Fahrschein über 20 Kilometer gekauft hatte. Sie hat dieses
Geld bei ihren wohlhabenderen Brüdern, aktiven Nazis, eingetrieben.
Ich habe die Flucht nach Deutschland als Zwölfjähriger wie Frau Steinbach in einem Treck von
Pferdefuhrwerken erlebt. Wer aber gab nun wirklich den Befehl zu unserer Flucht, Frau
Steinbach, wer hat uns vertrieben? In meinem Falle gab der NSDAP-Ortsbauernführer das
Signal zum Aufbruch. Ein ziemlich rüder Bursche, der das Verprügeln der polnischen Knechte,
die auf deutschen Gehöften arbeiteten, persönlich besorgte. Diese Knechte wurden von den
deutschen Bäuerinnen, deren Männer fast sämtlich im Kriege waren, zu solcher Bestrafung
geschickt.
Am 19. Januar 1945 nachmittags kam der Befehl und am 20. Januar vormittags setzte sich die
Kolonne der Pferdefuhrwerke unseres Dorfes – Sonnenfeld/Orpischwo, Kreis Krotoschin – in
Bewegung. Wer führte das Pferdegespann? Der polnische Knecht unserer Bäuerin natürlich. Bei
der waren wir – meine Mutter, mein Bruder und ich – untergekommen, nachdem wir Ende
September 1944 wegen angeblicher Luftgefahr aus Litzmannstadt/Lodz umgesiedelt worden
waren. Das Fuhrwerk wie der ganze aufgegebene Bauernhof gehörten auch erst seit sechs
Jahren unserer Bäuerin. Vordem gehörten sie eben dem Knecht, der nun das Fuhrwerk ins
»Altreich« führte. Am 18. Februar langten wir in einem Dorf im Südharz an und wurden als
Umsiedler aufgenommen.
Kurz nach Kriegsende erschien der Pole wieder in unserem Dorf, um sein Gespann, die Pferde
vor allem, wieder nach Hause in seine Heimat zurückzubringen. Solche Reise zu damaliger Zeit
war einfach ein Wunder. Das Heimholen seines Gespanns aber verhinderte der sowjetische
Ortskommandant, den es in den Wochen nach Kriegsende selbst in unserem kleinen Dorf gab.
Nachdem es ihn nicht mehr gab, setzte sich die Bäuerin mit dem Fuhrwerk in die Westzonen ab.
War das wirklich eine Vertreibung? Durch wen denn? Soweit ich mich erinnere, wollte kein
Deutscher wirklich bleiben. Es war eine wirkliche Flucht. Vor wem aber? Vor der Roten Armee
natürlich. Vor allem aber vor den Polen. Die hatten die deutschen Flüchtlinge leibhaftig vor sich.
Außer dem allgemeinen Zorn der Polen gegen alle Deutschen, unter denen sie gelitten hatten,
wussten sie auch genau, was jeder Deutsche in ihrer Umgebung sich persönlich hatte
zuschulden kommen lassen.
Natürlich muss, wenn es um Flucht und Vertreibung geht, zuerst gefragt werden, wer denn
eigentlich wen überfallen hat, wem die Schuld an diesem Kriege anzulasten ist. Und es soll auch
das Leid der Deutschen in diesem Kriege, der Verlust ihrer Heimat, ihres Eigentums benannt
werden. Wenn aber von Vertreibung die Rede ist, darf nicht die vorangegangene Vertreibung der
Polen in ihrem eigenen Land vergessen werden. Die hatten kein Land, wohin sie hätten fliehen
können. Ob daran auch im Zentrum für Flucht und Vertreibung erinnert werden wird? Vielleicht
auch von Frau Steinbach?