Winterreise

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Winterreise
Winterreise
Winterreise ist ein Zyklus von 24 Liedern für Singstimme und Klavier, den Franz
Schubert im Herbst 1827, ein Jahr vor seinem Tod, vollendete.
Entstehung
Die Texte stammen von Wilhelm Müller (1794-1827). Die ersten zwölf Gedichte
wurden von ihm unter dem Namen „Wanderlieder von Wilhelm Müller verfasst.
Die Winterreise. In 12 Lieder“ in „Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1823“
veröffentlicht. Weitere zehn Werke erschienen 1823 in „Deutsche Blätter für
Poesie, Literatur, Kunst und Theater“. Es waren also zuerst nur 12 der 24
Gedichte veröffentlicht. Erst 1824 erschien unter dem Namen „Gedichte aus den
hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten. Zweites Bändchen.
Lieder des Lebens und der Liebe.“ alle Gedichte zusammen, erweitert um „Die
Post“ und „Täuschung“. Müller kam aus Dessau und verkehrte im schwäbischen
Dichterkreis um Ludwig Uhland, Justinus Kerner, Wilhelm Hauff und Gustav
Schwab. Beeinflusst wurde er von den Romantikern Novalis (Friedrich von
Hardenberg), Clemens Brentano und Achim von Arnim. Franz Schubert fühlte
sich von den Texten unmittelbar angesprochen und vertonte sie im Todesjahr
Wilhelm Müllers. Die ersten 12 Gedichte verarbeitete er, laut Autograph, im
Februar 1827. Diese wurden dann am 24. Januar 1828 von dem Wiener Verleger
Tobias Haslinger veröffentlicht. Wahrscheinlich im Spätsommer 1827 stieß
Schubert dann auf die restlichen 12 Gedichte, die er nun auch vertonte. Diese
wurden, ebenfalls von Tobias Haslinger, erst sechs Wochen nach Schuberts Tod,
am 31. Dezember 1828 veröffentlicht. Schubert und Müller sind sich nie
persönlich begegnet, Müller wünschte jedoch insgeheim, dass jemand seine
Texte vertonen möge. Ob dieser noch vor seinem Tode 1827 von Schuberts
Vertonungen erfuhr, ist unklar.
Inhalt [
„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ - mit diesen Versen
beginnt die „Winterreise“, einer der bekanntesten Liederzyklen der Romantik, mit
dem Schubert eine Darstellung des existentiellen Schmerzes des Menschen von
fast schon mythischer Größe gelang. Im Verlauf des Zyklus wird der Hörer immer
mehr zum Begleiter des Wanderers, der zentralen Figur der Winterreise. Dieser
hat nach einem Liebeserlebnis, das bereits vor Beginn des Zyklus abgeschlossen
ist, Liebe und Geborgenheit bewusst und aus eigener Entscheidung hinter sich
gelassen und zieht ohne Ziel und Hoffnung hinaus in die Winternacht.
Innerhalb des Zyklus lässt sich kein durchgehender Handlungsstrang erkennen.
Es handelt sich eher um einzelne Eindrücke eines jungen Wanderers. Auf den 24
Stationen seines passionsgleichen Weges ist er zunächst starken
Stimmungsgegensätzen von überschwänglicher Freude bis hin zu hoffnungsloser
Verzweiflung ausgesetzt - von Schubert durch den häufigen Wechsel des
Tongeschlechts verdeutlicht -, bevor sich allmählich eine einheitliche, jedoch
vielfältig schattierte, düstere Stimmung durchsetzt.
Im Ausklang des Zyklus trifft der Wanderer auf den Leiermann, der frierend seine
Leier dreht, aber von niemandem gehört wird. Die Melodie erstarrt hier zur
banalen Formel, das musikalische Leben hat sich verflüchtigt und das Gefühl
scheint aus einem verloschenen Herzen entwichen zu sein - und doch gelingt
Schubert in dieser Szenerie unendlicher Hoffnungslosigkeit hier eines seiner
anrührendsten und gleichzeitig schlichtesten Lieder.
Mit der Frage „Willst zu meinen Liedern Deine Leier dreh´n?“ endet die
„Winterreise“. Manche sehen in diesem Lied die Kunst als letzte Zuflucht
dargestellt, andererseits wird der Leiermann, dem der Wanderer sich anschließen
will, auch als Tod gedeutet.
Rezeption
Der Zyklus wurde von nahezu allen bedeutenden Liedsängern (Bass, Bariton,
Tenor), aber auch von Sängerinnen (Mezzosopran und Alt) interpretiert. Das
Werk gilt neben dem Zyklus „Die schöne Müllerin“ als Höhepunkt der Gattung
Liederzyklus und des Kunstlieds. Es gilt sowohl technisch als auch
interpretatorisch als große Herausforderung für Sänger und Pianisten. Über 30
verschiedene Einspielungen existieren auf Schallplatte und CD.
Der deutsche Komponist Hans Zender bearbeitete das Werk im Jahre 2000 unter
dem Titel: „Schuberts Winterreise - eine komponierte Interpretation“ für Tenor und
kleines Orchester unter enger Anlehnung an Schuberts Tonsprache und
Einbeziehung von effektvollen verfremdenden Klangeffekten, welche die eisige
Kälte und metaphysische Düsternis des Werkes noch betonen.
Das wohl bekannteste Lied aus der „Winterreise“ ist das fünfte Lied des Zyklus:
„Der Lindenbaum“.
Nach dem Vorbild einer Version für Viola und Klavier von Tabea Zimmermann hat
der österreichische Bratschist Peter Aigner die Winterreise ebenfalls für Viola
bearbeitet, seine Bearbeitung wird jedoch ergänzt von einer szenischen
Realisation der Texte von Wilhelm Müller durch einen Schauspieler. Diese
Version erlebte bereits mehrere Aufführungen in Österreich und Deutschland.
Nach dem Vorbild von Franz Schuberts Liederzyklus drehte Hans Steinbichler
2006 den Film „Winterreise“ mit Josef Bierbichler und Hanna Schygulla.
Lieder
Im nachfolgenden sind die Titel der Lieder mit ihren Deutsch-VerzeichnisNummern und kurzer analytischer Beschreibung aufgelistet.
1. „Gute Nacht“ (Fremd bin ich eingezogen) D 911,1 dMoll
Text: Das lyrische Ich nimmt Abschied von seiner bisherigen Bleibe und - vor
allem - seiner Liebsten. Die Liebesbeziehung zwischen den beiden war glücklich
(Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh), muss jedoch beendet
werden, da das Mädchen ihn nicht mehr liebt. So bricht das lyrische Ich in einer
Winternacht auf und schreibt seiner Geliebten, die bereits schläft, einen GuteNacht-Gruß ans Tor. Die Verarbeitung dieses Verlustes ist das Thema des
folgenden Gedichtzyklusses.
Musik: Es handelt sich um ein variiertes Strophenlied: Die ersten beiden
Strophen sind musikalisch identisch, die dritte und vierte Strophe variiert. Die
durchgehende Achtelbegleitung in der Klavierstimme kennzeichnet das Lied als
ein für die Winterreise typisches Gehlied, da sie die Schritte des lyrischen Ichs
darstellen, welches ziellos umherwandert. Die stetigen Achtel verleihen dem Lied
außerdem Schwere, welche durch die durchweg fallende Melodie der
Gesangstimme in den Moll-Teilen zusätzlich verstärkt wird. Die vierte Strophe
steht in der gleichnamigen Durtonart D-Dur, da das lyrische Ich hier seine
Geliebte anspricht und sich nach der Vergangenheit sehnt. In den letzten 2
Takten der vierten Strophe wird aus D-Dur wieder d-Moll. Das abschließende
Klaviernachspiel, in welchem die Oberstimme von a auf d hinabfällt und nur noch
die monotone Achtelbewegung herrscht, deutet bereits die Hoffnungslosigkeit der
Situation des lyrischen Ichs an.
2. „Die Wetterfahne“ (Der Wind spielt mit der
Wetterfahne) D 911,2 h-Moll
Text: Das lyrische Ich nimmt Anstoß an der Wetterfahne, welche auf dem Haus
seiner Geliebten steht. Die Wetterfahne wird als Symbol des gehobenen
Bürgertums gedeutet, der Text legt nahe, dass die Liebesbeziehung des lyrischen
Ichs abgebrochen wurde, weil das Elternhaus der Liebsten ihr einen
wohlhabenderen Ehemann ausgesucht hat. Das lyrische Ich sieht sich in
Bedeutungslosigkeit versinken (Was fragen sie nach meinen Schmerzen? Ihr
Kind ist eine reiche Braut.).
Musik: Die Klavierbegleitung besteht auf weite Strecken aus einer Melodie, die
von beiden Händen im Oktavabstand gespielt wird und mit der Singstimme
identisch ist. Die Oktavverschiebung gibt dem Lied einen schaurigen Charakter,
welcher durch das schnelle Tempo, Triller, Vorschläge und arpeggierte Akkorde
verstärkt wird. Auch hier findet sich bei der Erwähnung der reichen Braut die
gleichnamige Durtonart, um die Erinnerung an die Geliebte aufzuzeigen. Das Lied
endet ohne Akkord auf eine a-Oktave.
3. „Gefrorene Tränen“ (Gefrorne Tropfen fallen) D 911,3 fMoll
Text: Die Tränen des lyrischen Ichs gefrieren auf seinen Wangen, und er wundert
sich darüber, dass diese Tränen aus der heißen Sehnsucht nach seiner Liebsten
geboren werden.
Musik: Die Klavierbegleitung wird von zwei rhythmischen Elementen geprägt:
Einmal der synkopischen Halben auf dem zweiten Schlag in der linken Hand und
einmal durch die viertelbetonte rechte Hand, die oft auf dem zweiten Schlag zwei
Achtel hat. Durch die starke Viertelorientierung kann wie bei Gute Nacht von
einem Gehlied gesprochen werden. Vorangetrieben wird das Lied auch durch die
oft auftretende Dominante auf dem vierten Schlag. Die oft staccatierten Viertel
symbolisieren die Tränen des lyrischen Ichs. Der plötzliche Forte-Ausbruch am
Ende (des ganzen Winters Eis) verdeutlich den aufgewühlten Zustand des
lyrischen Ichs, welcher noch öfters - vor allem musikalisch - thematisiert wird.
4. „Erstarrung“ (Ich such im Schnee vergebens) D 911,4
c-Moll
Text: Das lyrische Ich wandert durch den Schnee, sucht die Spur seiner
Geliebten und weint ihr nach. Die Natur ist tot (die Blumen sind erstorben) und so
bleibt dem lyrischen Ich als Erinnerung an seine Liebste nur der Schmerz. Es
beschließt, ihr Bild in seinem Herzen einzuschließen und sich nie wieder zu
verlieben (schmilzt je das Herz mir wieder, ist auch ihr Bild dahin).
Musik: Die Begleitung besteht durchgehend aus sehr schnellen Achteltriolen und
einer immer wiederkehrenden Bassmelodie. Dies verdeutlicht die emotional
angetriebene, durchaus auch hektische Suche des lyrischen Ichs nach Spuren
der Vergangenheit. Beim Ausruf mit meinen heißen Tränen findet sich das As als
einer der höchsten Töne der Singstimme in der Winterreise. Sehr deutlich wird
der Gedanke an die Vergangenheit im Mittelteil (Wo find ich eine Blüte?), der in
As-Dur steht, jedoch wird die Rückerinnerung musikalisch durch anhaltende
verminderte Akkorde zunichte gemacht.
5. „Der Lindenbaum“ (Am Brunnen vor dem Tore) D 911,5
E-Dur
Hauptartikel: Am Brunnen vor dem Tore
Text: Das lyrische Ich kommt bei seiner Wanderung an einem Lindenbaum vor
dem Tor der Stadt vorbei, den es nun zum letzten Mal sieht. (Der Lindenbaum
wird in der romantischen Literatur häufig als Symbol für Heimat und Geborgenheit
verwendet.) Das lyrische Ich fühlt sich stark zum Baum hingezogen und muss
beim Vorbeiwandern die Augen schließen und sich zwingen, sich nicht
umzudrehen, da der Lindenbaum eine ungeheure Anziehungskraft auf es
auswirkt. Der Vers Du fändest Ruhe dort lässt sich als Todessehnsucht
ausdeuten, der sich das lyrische Ich hier widersetzt.
Musik: Das Lied wird mit einem Vorspiel eingeleitet, das durch die
Sechzehnteltriolen und die Bewegung in der Oberstimme stark an das vorherige
Lied (Achteltriolen und Basslauf) erinnert. Die Hornquinten im Bass und die
zunächst homophone, unterordnende Begleitung der Singstimme geben dem
Lied einen volkstümlichen Charakter. Die exotische Tonart E-Dur spiegelt die
Entrücktheit des lyrischen Ichs wider, das hier in der Vergangenheit gefangen ist
und ihr kaum entkommen kann. Die Textpassagen, welche sich auf die
Gegenwart beziehen, sind in Moll vertont: Die oktavverschobenen Begleitstimmen
in der ersten Passage (Ich musst auch heute wandern) erinnern an Die
Wetterfahne, die zweite Stelle (Die kalten Winde bließen) ist mit ihren vielen
Halbtonverschiebungen fast schon atonal und bildet einen starken Kontrast zum
Rest des Liedes. Das Lied endet wieder in E-Dur.
6. „Wasserflut“ (Manche Trän aus meinen Augen) D 911,6
e-Moll
Text: Das lyrische Ich spricht hier die Natur an. Es versucht, sie mit seinen
fallenden Tränen zu verändern und durch den schmelzenden Schnee, der in das
Dorf zurück fließt, einen vagen Kontakt zu seiner Liebsten aufzunehmen.
Musik: Das fast immer gleichbleibende viertaktige Rhythmusostinato im Klavier
erinnert durch die Punktierung und das langsame Tempo an einen Trauermarsch.
Durch das Forte, das immer wieder spontan aus dem Pianissimo herausbricht,
werden emotionale Ausbrüche des lyrischen Ichs verdeutlicht.
7. „Auf dem Flusse“ (Der du so lustig rauschtest) D 911,7
e-Moll
Text: Das lyrische Ich befindet sich auf einem zugefrorenen Fluss. Es ritzt in das
Eis den Namen seiner Liebsten. Nun vergleicht es sein Herz mit dem Bach: Es ist
an der Oberfläche zugefroren, ist aber darunter total aufgewühlt (Ob's unter
deiner Rinde wohl auch so reißend schwillt?). Der Wanderer hat die Liebe noch
nicht vergessen. Sein Herz lässt sich, genauso wie die Eisschicht auf dem Fluss
leicht verletzen (grab ich mit einem spitzen Stein)
Musik: Die Begleitachtel am Anfang erinnern trotz Staccato an Gute Nacht, es
handelt sich wieder um ein Gehlied. Gleichzeitig symbolisiert das stockende
Staccato die zugefrorene Rinde. Außerdem stellt es den Herzschlag des
Wanderers dar. Das untergründige Schwellen wird durch Begleitsechzehntel
ausgedrückt, die sich im Laufe des Stücks immer mehr häufen und schneller
werden; am Ende sind es Zweiunddreißigstel. Die Rückerinnerung an die
Geliebte ist wie immer wieder in der gleichnamigen Durtonart gehalten. Die fünfte,
letzte Strophe wird durch mehrmalige Wiederholung stark betont, da hier im
Gegensatz zu den ersten beiden Strophen wieder auf den psychischen Zustand
des lyrischen Ichs eingegangen wird: Unter seiner Rinde ist es stark aufgewühlt
und lässt sich wieder zu lauten Ausrufen hinreißen (ob's wohl auch so reißend
schwillt?).
8. „Rückblick“ (Es brennt mir unter beiden Sohlen) D
911,8 g-Moll
Text: Das lyrische Ich flüchtet aus der Stadt seiner Liebsten, wo es von Krähen
hinausgejagt worden ist. Es erinnert sich daran, wie es in die Stadt gezogen und
dort freundlich empfangen worden war. Es sehnt sich wieder zurück zum Haus
seiner Liebsten.
Musik: Das Lied ist eines der hektischsten in der Winterreise, was vor allem
durch die durchgängigen Achtel, verbunden mit den synkopischen Sechzehnteln
im Klavier bewirkt wird, die sich durch das ganze Lied ziehen; das Lied ist wieder
ein Gehlied. Gleichzeitig zeigt sich hier sehr deutlich der Kontrast von Gegenwart
und Vergangenheit, der wiederum durch das Überwechseln in die gleichnamige
Durtonart G-Dur verdeutlicht wird. Die Singstimme hat in der ersten Strophe fast
nur Achtel und Sechzehntel, was seine Hektik und Flucht untermalt (Ich möcht
nicht wieder Atem holen, bis ich nicht mehr die Türme seh). In der zweiten
Strophe - der Erinngerung an die Vergangenheit - werden die Sechzehntelpausen
zwischen den Synkopen aufgefüllt. Zusammen mit der Bindung der Achtel in der
linken Hand und der Durtonart wird die Gegenwart der ersten Strophe
kontrastiert. In der dritten Strophe kehrt das Lied zunächst zurück in Moll, endet
aber in Dur, da sich das lyrische Ich zurück wünscht und nicht von der
Vergangenheit loskommt.
9. „Irrlicht“ (In die tiefsten Felsengründe) D 911,9 h-Moll
Text: Das lyrische Ich wird von einem Irrlicht getäuscht und verirrt sich im
Gebirge. Es vergleicht das Wirken des Irrlichts mit den Wirren seines Lebens und
denkt über den Tod nach (s führt ja jeder Weg zum Ziel; jeder Strom wird's Meer
gewinnen, jedes Leiden auch sein Grab).
Musik: Das Irrlicht wird von Schubert durch unstete Rhythmik im Klavier, wobei
er des öfteren im Takt die schnellen Notenwerte vor die langsamen setzt, was
beim Hören als irritierend aufgefasst wird. Die vielen Punktierungen erinnern wie
in Wasserflut an einen Trauermarsch, der hier angesichts der Erwähnung des
Grabes angemessen erscheint.
10. „Rast“ (Nun merk ich erst, wie müd ich bin) D 911,10
c-Moll
Text: Das lyrische Ich fühlt sich müde, als es eine Rast einlegt. Aber der
seelische Schmerz meldet sich nun, da das Wandern nicht mehr als Ablenkung
vorhanden ist, umso stärker zurück.
Musik: Der Rast zum Trotz handelt es sich wieder um ein Gehlied wegen der
immer präsenten Achteln. Schubert orientiert sich hier vor allem an der zweiten
Strophe (Doch meine Glieder ruhn nicht aus, so brennen ihre Wunden). Ein
gewisses Rastgefühl wird durch die meist nur taktweise wechselnde Harmonik
vermittelt. Wieder drückt die Singstimme durch einen lauten Ausruf (mit heißem
Stich sich regen!) die emotionale Aufruhr des lyrischen Ichs aus.
11. „Frühlingstraum“ (Ich träumte von bunten Blumen) D
911,11 A-Dur
Text: Das lyrische Ich wird brutal aus einem schönen Frühlingstraum gerissen
und sucht aus der Realität den Weg zurück in seinen Traum (Ihr lacht wohl über
den Träumer, der Blumen im Winter sah?). Wieder zurück in der Erinnerung an
den Traum erinnert sich das lyrische Ich an die Nähe seiner Geliebten. Das
lyrische Ich ist unfähig, die Erinnerung an die Vergangenheit zu verdrängen und
sehnt sich zurück in den Frühling (Wann grünt ihr Blätter am Fenster? Wann halt
ich mein Liebchen im Arm?).
Musik: Die Musik ist hier in drei Ebenen unterteilt: Zuerst der wiegende
Sechsachteltakt, der den schönen Traum verkörpert; dann das brutale Erwachen,
das mit schnellem Tempo, Wechsel in Moll, Staccato und tiefem, drohendem
Sechzehnteltremolo ausgedrückt wird, und schließlich das Zurücksehnen an den
Traum, das durch den konkreten Zweivierteltakt näher an der Realität liegt und
durch die Rückkehr nach Dur gleichzeitig das Festhalten am Traum und der
Vergangenheit verdeutlicht. Diese drei Teile werden bei den zweiten drei
Textstrophen wiederholt. Der Schluss des Liedes verweigert aber die Rückkehr
nach Dur, das Verharren in der dunklen Mollvariante kann als Hinweise auf die
Hoffnungslosigkeit des Wanderers gesehen werden. Die abschließende Frage
des Liedes (Wann halt ich mein Liebchen im Arm?) wird durch die Musik negativ
beschieden.
12. „Einsamkeit“ (Wie eine trübe Wolke) D 911,12 h-Moll
Text: Das lyrische Ich vergleicht sich mit einer einzelnen Wolke am klaren
Himmel. Ihm schlägt beim Wandern Ruhe und Frohsinn entgegen. Durch diese
Eindrücke fühlt es sich noch elender (Als noch die Stürme tobten, war ich so
elend nicht.).
Musik: Dieses Lied wird in der ersten Strophe von durchgehenden Achteln
geprägt und ist deshalb zuerst ein Gehlied. Die Einsamkeit des lyrischen Ichs
wird durch die vielen unvollständigen Zweiklänge und wenigen Töne, aus der die
Begleitung zunächst besteht, verdeutlicht. In der zweiten Strophe orientiert sich
die Begleitung stark an den Stürmen mit Tremoli und Sechzehnteltriolen. Die
elende Stimmung des lyrischen Ichs wird mit dem tief gesetzen Schlussakkord
deutlich. Wichtig ist, dass Schubert dieses Lied als Endlied komponierte, da er
von der zweiten Hälfte des Gedichtszyklusses noch nicht wusste.
(Kompositionspause von Schubert)
13. „Die Post“ (Von der Straße her ein Posthorn klingt) D
911,13 Es-Dur
Text: Das lyrische Ich hört ein Posthorn und fühlt sich freudig erregt, ohne
zunächst zu wissen warum. Dann fällt ihm ein, dass die Post aus der Stadt seiner
Geliebten kommt, sein Herz möchte umdrehn und nochmal zu ihr gehen.
Musik: Der durchgehend punktierte Rhythmus erinnert an Hufgetrappel von
Pferden der Postkutsche (dieselbe Methode verwendete Schubert beim Erlkönig).
Das durchgehende Es-Dur erzeugt einen fröhlichen Charakter, was wohl daran
liegt, dass das lyrische Ich hier sehr rational denkt (Nun ja, die Post kommt aus
der Stadt, wo ich ein liebes Liebchen hatt). Das wird auch durch die oftmalige
Wiederholung der Anrede mein Herz am Ende jedes Satzes ausgedrückt: Der
Verstand redet auf die Seele ein. Die unterschwellig schmerzliche
Rückerinnerung deutet Schubert nur mit einem Rückgang der Dynamik ins
Pianissimo an.
14. „Der greise Kopf“ (Der Reif hatt einen weißen Schein)
D 911,14 c-Moll
Text: Der Schnee auf dem Kopf gibt dem lyrischen Ich die Illusion von weißen
Haaren, welche aber bald schmilzt. Das lyrische Ich klagt darüber, dass es so
langsam altert, und wünscht sich den Tod. Gleichzeitig fürchtet es sich vor der
Zukunft, denn die Zeit, die es noch zu leben gilt, wird als unerträglich lang
empfunden. Das lyrische Ich befindet sich auf seinem tiefsten Punkt der
Depression auf seiner bisherigen Reise.
Musik: Das Klavier hat eine deutliche Begleitrolle; es untermalt den Sänger mit
langen Akkorden übernimmt nur in Zwischenspielen die Melodie. Stellenweise ist
das Lied sehr rezitativisch. Hervortretend ist die Begleitung beim Text wie weit
noch bis zur Bahre!, wo das Klavier eine oktavversetzte Bewegung spielt, die den
Text schaurig untermalt. Die Ruhe und Trägheit, die das ganze Lied beherrscht,
spiegeln den Todeswunsch des lyrischen Ichs wider.
15. „Die Krähe“ (Eine Krähe war mit mir) D 911,15 c-Moll
Text: Eine Krähe folgt dem lyrischen Ich, seit es die Stadt verlassen hat. Das
lyrische Ich glaubt, sie würde es als Beute ansehen und meint zu ihr, sein Leben
würde bald zu Ende gehen und verlangt von ihr Treue bis zu Grabe, was
vermutlich eine zynische Anspielung auf die Floskel bis das der Tod euch
scheidet ist. Die Krähe wird fast als Freund angesprochen und ist gleichzeitig ein
Symbol des Todes.
Musik: Die Klavierbegleitung ist sehr hoch gesetzt und symbolisiert mit den
hohen Sechzehnteltriolen den Flug der Krähe. Das viertaktige Hauptmotiv des
Liedes kehrt immer wieder und versinnbildlicht wohl das Kreisen der Krähe um
den Kopf des lyrischen Ichs. Ein starker Ausruf erfolgt beim Wort Grabe, da es
wieder die Todessehnsucht des lyrischen Ichs verdeutlicht.
16. „Letzte Hoffnung“ (Hie und da ist an den Bäumen) D
911,16 Es-Dur
Text: Das lyrische Ich treibt ein Gedankenspiel: Es hängt seine Hoffnung an das
Blatt eines Baumes, sieht es im Wind zittern und schließlich abfallen. Es sieht alle
Hoffnung gestorben und begräbt sie weinend in Gedanken.
Musik: Die Singstimme dieses Liedes hat kein melodisches Eigengewicht,
Melodie und Begleitung bilden gemeinsam die Harmonik. Deshalb ist die
Harmonie an vielen Stellen schwer greifbar. Erst in Takt 8 wird die Tonika Es-Dur
erreicht. Dies spiegelt die Entrücktheit des lyrischen Ichs wider. Das Zittern des
Blattes wird durch ein Tremolo ausgedeutet, das Fallen durch eine fallende
Bewegung im Bass. Beim Text wein auf meiner Hoffnung Grab wird das Lied
plötzlich harmonisch und homophon. Mit diesem kirchenmusikalischen Charakter
wird der Tod der Hoffnung ausgedrückt.
17. „Im Dorfe“ (Es bellen die Hunde, es rasseln die
Ketten) D 911,17 D-Dur
Text: Das lyrische Ich läuft nachts durch ein Dorf und wird von Hunden angebellt.
Es sieht in Gedanken die Menschen von Dingen träumen, die sie nicht haben. Die
Träume der Menschen werden als Hoffnung angesehen, das lyrische Ich aber ist
am Ende mit allen Träumen, hat also keine Hoffnung mehr.
Musik: Die Halbtaktige Begleitung aus Achtelakkorden und Sechzehnteltremoli
stellt die bellenden Hunde dar. Der Mittelteil, in dem über die Träumer
gesprochen wird, hat eine mehr harmonische Begleitung, aber das monotone,
sich immer wiederholende d in der Oberstimme gibt dem Teil einen bitteren
Beigeschmack. Der zweitaktige homophone Ausbruch am Schluss (was will ich
unter den Schläfern säumen?) erinnert stark an das Ende des vorigen Liedes:
Nach der Hoffnung gibt das lyrische Ich nun auch seine Träume auf.
18. „Der stürmische Morgen" (Wie hat der Sturm
zerrissen) D 911,18 d-Moll
Text: Das lyrische Ich betrachtet einen Morgenhimmel, der vom Sturm
verunstaltet ist: Die Wolken sind zerfetzt und die Sonne steht rot strahlend
dahinter. Es vergleicht den Himmel mit dem Bild seines Herzens (Der Winter kalt
und wild!), eine ähnliche Betrachtung wie in Auf dem Flusse.
Musik: Das schnelle Tempo, das durchgängige Forte und der Wechsel zwischen
gebundenen und staccatierten Tönen stellen den Sturm dar. Das Lied ist ähnlich
wie die Wetterfahne komponiert: Das Klavier spielt die Melodie in der
Gesangstimme oktavparallel mit und erzeugt so eine schaurige Stimmung. Mit
weniger als einer Minute ist das Lied das Kürzeste der Winterreise.
19. „Täuschung“ (Ein Licht tanzt freundlich vor mir her) D
911,19 A-Dur
Text: Das lyrische Ich folgt bei seiner Wanderung einem Licht, obwohl es weiß,
dass die Hoffnung auf Wärme und Geborgenheit, die das Licht ausstrahlt, nur
Täuschung ist. Diese Täuschung benutzt das lyrische Ich zur Ablenkung von
seinem Elend. Der Text hat inhaltlich etwas Ähnlichkeit mit Irrlicht.
Musik: In der Begleitung fallen die durchgängigen Oktaven in der rechten Hand
auf, die von der linken Hand meist nur mit Zweiklängen untermalt werden, so
dass selten ein vollständiger Akkord entsteht. Zusammen mit dem vielen
Tonrepetitionen in der Begleitung entsteht so ein vermeintlich fröhliches Lied, das
sehr stark den Täuschungscharakter zum Vorschein bringt.
20. „Der Wegweiser“ (Was vermeid ich denn die Wege) D
911,20 g-Moll
Text: Das lyrische Ich führt ein Selbstgespräch darüber, dass es auf versteckten
Wegen wandert, um keinen anderen Menschen zu begegnen. Es fragt sich,
warum es die Einsamkeit sucht, denn es scheint sein „törichtes Verlangen“ selbst
nicht ganz zu verstehen. Es sieht neben den vielen Wegweisern auf den Wegen
einen Wegweiser, der ihn zu seinem Tod führt. Ihm wird also im übertragenen
Sinne der Weg in sein Grab gewiesen. (Einen Weiser seh ich stehen unverrückt
vor meinem Blick; eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück.) Hier
spiegelt sich wieder stark die Todessehnsucht des lyrischen Ichs wider.
Musik: Das Lied wird geprägt durch die vielen Tonrepetitionen sowohl in der
Begleitung als auch im Gesang. Die durchgängigen Achtel zeigen wieder den
Charakter eines Gehlieds. In einem kurzen Dur-Teil wird die Unschuld des
lyrischen Ichs betont. Das langsame Tempo und die Tonrepetitionen
symbolisieren den Tod, nach dem sich das lyrische Ich sehnt. (Diesen Ausdruck
für den Tod verwendet Schubert in ähnlicher Weise in seinem Kunstlied Der Tod
und das Mädchen). In der zweiten Hälfte des Liedes verwendet Schubert ein
Sequenzmodell, das bezeichnenderweise „Teufelsmühle“ genannt wird, und mit
dem immer neue überraschende Tonarten erreicht werden. Schubert drückt damit
aus, dass der Wanderer orientierungslos ist und der bzw. die Wegweiser ihm
auch nicht helfen. Der Bezug zum ersten Teil des Zyklus wird eng geknüpft, es
lassen sich unter anderem durch die Grundtonart g-moll Fäden zum „Rückblick“
ziehen.
Aufbau
Teil A bis Takt 21, Teil B Takt 22-39, Teil A' Takt 41-55, Teil A Takt 56 bis
Schluss
21. „Das Wirtshaus“ (Auf einen Totenacker) D 911,21 FDur
Text: Das lyrische Ich wandert über einen Friedhof und sieht in ihm ein
Wirtshaus, in das es einkehren möchte. Doch da kein Grab offen ist, fühlt es sich
abgewiesen (Sind denn in diesem Hause die Kammern all besetzt?). Das lyrische
Ich fühlt sich tödlich schwer verletzt, womit sein Seelenzustand gemeint ist.
Schließlich wandert es weiter.
Musik: Das Dur stellt zusammen mit dem extrem langsamen Tempo die
Verlockung des Todes dar (ähnlich wie bei Der Lindenbaum). Das homophon
komponierte Lied erzeugt eine andachtvolle Stimmung, um die Vorstellung des
Friedhofes hervorzurufen. Das öfters auftretende Moll steht für den Schmerz, den
das lyrische Ich durch die Abweisung erfährt.
22. „Mut!“ (Fliegt der Schnee mir ins Gesicht) D 911,22 gmoll
Text: Das lyrische Ich will die Schmerzen seiner Seele durch Fröhlichkeit
unterdrücken und vertuscht sie. Um den Schmerz nicht zu fühlen, muss es stark
übertreiben: Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter! Der
Unterdrückungsversuch ist ein Zeichen dafür, dass das lyrische Ich nicht mit
seinem seelischen Schmerz fertig wird und letztendlich daran zugrunde gehen
muss.
Musik: Das Lied beginnt sehr ereignisreich und interessant, da der Rhythmus
sehr stark variiert.Der ständige Wechsel zwischen den Tongeschlechten macht
dieses Lied sehr aufregend. Das Forte in diesem Lied zeigt das wahre Fühlen
und Empfinden des lyrischen Ichs.
23. „Die Nebensonnen“ (Drei Sonnen sah ich am Himmel
stehn) D 911,23 A-Dur
Text: Ausgehend von einem optischen Phänomen von Nebensonnen - worauf
der Titel des Gedichtes eindeutig verweist - erzählt das lyrische Ich von drei
Sonnen, die es am Himmel gesehen hat, die aber nicht seine gewesen seien. Es
sagt, dass es selbst auch einmal drei Sonnen hatte, die besten zwei davon
jedoch untergegangen sind. Nun wünscht es sich, dass die dritte ebenfalls
untergehe. Diese dritte Sonne symbolisiert das Leben des lyrischen Ichs, die
anderen beiden könnte man als Liebe und Hoffnung deuten, da das lyrische Ich
beides auf seiner Wanderung verloren hat. Ursprünglich waren mit den „besten
zwei“ Sonnen die Augen seiner Liebsten gemeint. Die beobachteten
Nebensonnen sind nicht die seinen, da sie andern ins Angesicht schauen.
Musik: Wieder handelt es sich um einen homophonen Satz. Die
Klavierbegleitung ist sehr tief gesetzt, so wird den Sonnenerscheinungen
Erhabenheit verliehen. Auffällig ist der geringe Ambitus der Singstimme, die sich
das ganze Lied hindurch nur in Sekundschritten bewegt. So ergibt sich ein
statischer, nicht vorantreibender Charakter, was die Auswegslosigkeit,
Hoffnungslosigkeit und Todessehnsucht des lyrischen Ichs verdeutlicht.
Symbolik: In den „Nebensonnen“ finden sich Symbolik, die auf die Zahl drei
verweist. Sowohl der Dreiviertel-Takt, die drei Kreuze der Grundtonart A-Dur, die
Form A-B-A und somit die dreimal erscheinende Melodie verkörpern und
durchziehen das gesamte Stück.
24. „Der Leiermann“ (Drüben hinterm Dorfe) D 911,24 amoll
Text: Das lyrische Ich bemerkt einen alten Leiermann, den niemand beachtet;
ihm schlägt eine Welle der Ignoranz entgegen, nur die Hunde knurren ihn an.
Dennoch dreht er weiter an seiner Leier, und das lyrische Ich fragt sich, ob es mit
ihm gehen und zu seiner Dreh-Leier singen soll. Das statische Bild des immer
weiterdrehenden Leiermanns, der doch nicht vorankommt, passt gut auf den
Gemütszustand des lyrischen Ichs, der sich im Laufe seiner Reise entwickelt hat.
Mit der Frage Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn? wird keine Hoffnung
geweckt, dass sich das Leben des lyrischen Ichs doch noch zum Besseren
wendet. Vielmehr besiegelt sie den unheilbaren Zustand der Hoffnungslosigkeit
und schließt so den Gedichtszyklus ab.
Musik: Schubert orientiert sich stark am Bild der immer wiederkehrenden
Leiermusik (natürlich der Drehleier, einem vom Rad "gestrichenen"
Saiteninstrument, nicht dem Leierkasten): Die Begleitung besteht aus einer immer
präsenten, gleichbleibenden Quinte aus a und e im Bass, darüber erklingt eine
kurze, wiederkehrende Leiermelodie. Das Lied ist monoton und durch seine
Trägheit und Wiederholungen sehr statisch, was dem Text sehr gut entspricht.
Auch dynamisch gibt es kaum Änderungen, nur beim letzten Vers (Willst zu
meinen Liedern deine Leier dreh'n?) ertönt kurz ein Forte wie ein letztes
Aufbäumen aus der Monotonie und Hoffnungslosigkeit des lyrischen Ichs. Die
Musik bleibt aber offen und beantwortet die Frage nicht. Das Lied steht in der
Schicksalstonart a-moll und schließt die Winterreise schwermütig ab.