und er bewegt sich doch!

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und er bewegt sich doch!
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Christophorus 329
Historie
... und er
bewegt sich doch!
Christophorus 329
Text
Michael Sönke
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Fotografie
Christoph Bauer, Archiv
Nach einem für Rennwagen fast biblischen Schlaf von 36 Jahren wurde
der 917 Gulf-Porsche, der 1971 direkt von der Piste ins Museumsarsenal kam,
wiedererweckt. Die Schatzkammer bebte unter dem Zwölfzylinder-Motor. Es
ist ohnehin ein magisches Aggregat, das bis heute einen einsamen Rekord hält.
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Auf dem Datenblatt ist eine klare Botschaft notiert: „Durchschnitt 249,069 km/h“. Das Papier wird vom Scheibenwischer
an dem blauen Porsche mit orangefarbigen Streifen fixiert.
Hinter der Zahl verbirgt sich ein grandioses Rennen. 249,069
km/h – die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Rennens über
1000 Kilometer. Gefahren von Pedro Rodriguez und Jackie Oliver
am 9. Mai 1971 in Spa-Francorchamps. Es war womöglich das
schnellste Straßenrennen, das – inklusive Nachtanken, Reifenund Fahrerwechsel – je gefahren wurde. Zum Vergleich: Als
schnellsten Formel-1-Grand-Prix führen die Statistikbücher den
Sieg von Michael Schumacher beim Großen Preis von Italien in
Monza 2003. Der Durchschnitt des Ferrari: 247,585 km/h. Ohne
Fahrerwechsel – versteht sich.
Um den Porsche mit der großen Geschichte machte Klaus Bischof,
der Hüter der Fahrzeug-Schatzkammer von Porsche, nie viel Aufsehen. Der 917 „Gulf“ soll seinen gebührenden Auftritt im neuen
Porsche-Museum bekommen. Nach seiner bewegten Renngeschichte war das „Chassis Nummer 15“ vor 36 Jahren abgestellt
worden. Staub setzte sich an, die Reifen waren irgendwann platt.
Im Frühjahr 2007 wurde das Fahrzeug wieder hübsch gemacht.
Zuerst durch eine neue Lackierung und die Startnummer „2“, mit
der Pedro Rodriguez und Leo Kinnunen 1970 das 24-StundenRennen von Daytona gewonnen hatten. Aber richtig zum Leben
erweckt werden auch historische Rennwagen erst mit dem Anlassen des Motors. „Starten wir ihn doch einfach mal“, sagte Bischof
kühn, sicherte sich aber die Expertise zweier Mitglieder aus der
Porsche-Rennabteilung, die den 917 zu dessen Glanzzeiten be-
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gleitet hatten: Meister Gerhard Küchle und Monteur Dieter Leibold. Wie Bischof halten die beiden Routiniers den 917 für den
aufregendsten Rennsportwagen der Geschichte. Zwölf Zylinder,
viereinhalb und später fünf Liter Hubraum. Sieger in Le Mans
1970 und 1971 und in jenen Jahren auch Markenweltmeister. Mit
Turbo-Aufladung erreichte der 917 in der amerikanisch-kanadischen CanAm-Serie bis zu 1200 PS.
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„Für mich ist das ein sehr aufregender Moment“, sagt Gerhard
Küchle, als er und Dieter Leibold die Haube des 917 abnehmen.
Dann sortieren sie auf dem Radkasten ihr Werkzeug so sorgfältig
wie Chirurgen vor der Operation. Es geht tatsächlich um einen
tiefen Eingriff. Was heißt hier einen, vielmehr um 24 tiefe Griffe
zwischen die Kühlrippen der Zylinderreihen. So viele Zündkerzen
befeuern den flachen 12-Zylinder mit 180 Grad Zylinderwinkel.
Auf der rechten Seite des 917 brummt Küchle: „Die Ingenieure
haben beim Konstruieren nie daran gedacht, dass wir Monteure
an den eingebauten Motoren arbeiten müssen.“ Gegenüber ergänzt Leibold, während seine Arme hinter dem Ölbehälter verschwinden: „Wenn du beim Wechsel der Zündkerzen nichts siehst,
dann ist das in etwa so, als wenn sich eine Frau ohne Spiegel
schminkt.“
Schneller war bisher keiner: 249,069 km ⁄ h
betrug die Durchschnittsgeschwindigkeit
des 917 Gulf-Porsche beim 1000-KilometerRennen 1971 in Spa-Francorchamps – da
kam bisher nicht einmal die Formel 1 mit.
Bischof erinnert sich während der „Operation“ immer wieder an
das Rennen von Spa 1971. Jo Siffert und Pedro Rodriguez auf
dem ultraschnellen und damals 14,1 Kilometer langen Straßenkurs im Duell in zwei gleichwertigen Rennwagen – das war der
beste Thriller jener Sportwagenära. Der Start erfolgte bei leichtem
Regen auf Intermediate-Reifen, später trocknete die Piste ab.
Der Schweizer und der Mexikaner flogen den Gegnern davon.
Manchmal berührten sich die Porsche der beiden Werksfahrer. A
Die beiden 917 während ihrer Triumphfahrt 1971 im belgischen
Spa-Francorchamps
Gerhard Küchle (l.) und Dieter Leibold legen Hand an,
um dem Fahrzeug wieder Leben einzuhauchen
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Angesichts der Rundenzeiten begann das Porsche-Team zu rechnen: Würde man die 1000 Kilometer tatsächlich unter vier Stunden schaffen und damit die Schallmauer von 250 km/h brechen?
Inzwischen sind die 24 Zündkerzen des Porsche von den drei Experten mittels Pressluft gereinigt. Dann erklärt Gerhard Küchle
den nächsten Schritt: „Wir müssen die Gasschieber gängig machen.“ Er greift zu einem Hammer, der Gesichtsausdruck verrät,
dass es nicht das Lieblingswerkzeug des Spezialisten ist: „Nur wenn
es absolut notwendig ist.“ Die Gasschieber haben ein Einsehen
und geben ohne brachiale Gewalt schnell nach. Jetzt noch der
Zündfunke. Küchle dreht mit einem beherzten Griff das oben auf
dem Motor montierte Lüfterrad und erkennt: „Prima, der Motor
dreht durch.“
In Spa 1971 füllten die Porsche-Mechaniker mittels hohen Gestellen 112 Liter Sprit binnen vier Sekunden in die beiden führenden
917. Rodriguez führte, Siffert drehte die schnellste Runde in
3:14,6 Minuten – Schnitt 260,842 km/h! Zunächst übernahm
Derek Bell von Siffert, Rodriguez setzte sich ab. Und er führte
auch deutlich, als Jackie Oliver übernahm. Sifferts Partner Bell
Operation gelungen, Patient wohlauf: Das Zwölfzylinder-Triebwerk
hat die lange Pause unbeschadet überstanden
war zwar klar schneller als sein britischer Landsmann, blieb aber
Zweiter. Mit einer Differenz von 0,4 Sekunden überquerten die
beiden Porsche die Ziellinie genau nach vier Stunden, einer Minute
und 9,7 Sekunden.
Vier Stunden – ungefähr so lange brauchen Bischof, Küchle und
Leibold für den Re-Start des Porsche nach mehr als drei Jahrzehnten. Dann darf Nicole Nagel aus der Abteilung Historische
Öffentlichkeitsarbeit im Cockpit des 917 mit vier Schaltern Zündung und Benzinpumpen zur Bereitschaft aktivieren. Der mutige
Druck auf den Starterknopf folgt und löst Schall, Rauch und einige Flammen aus. Tatsächlich: Der Zwölfzylinder lebt! Auch
wenn Küchle nach noch mehr Lebenszeichen ruft: „Alle Zylinder
sind es noch nicht!“ Es herrscht wieder Ruhe in der Halle. Alle begreifen den geradezu historischen Augenblick. Es vergehen einige
Sekunden, bis ein sehr zufriedener Klaus Bischof die Bilanz des
ungewöhnlichen Versuchs zieht: „Na ja, belassen wir es dabei.“
Natürlich denkt er an eine gründliche Restaurierung des Triebwerks. Wenn dieser Motor irgendwann einmal wieder richtig
rund läuft, muss er es auch nicht im Öl aus dem Jahr 1971 tun.
B
Versprochen.