Illegalität und Macht
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Illegalität und Macht
Philosophische Fakultät Seminar „Religiöser Aktivismus in Ägypten – 1922 bis heute“ WS 2008/09 Konstanze Gemeinhardt-Buschhardt, M.A. Illegalität und Macht - Die ägyptische Muslimbruderschaft in den 1980ern und frühen 1990ern - Name Vorname (Matrikelnummer) Hauptstudienrichtung (Fachsemester) Nebenstudienrichtung (Fachsemester) Email-Adresse Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung Seite 2-3 2. Islamische Reform und Militanz – Die Geschichte der Muslimbrüder 1928-1981 Seite 3-4 3. Die Transformation der Ikhwan in den 1980ern 3.1 Generationenwechsel & Flexibilität – Strukturelle Muslimbruderschaft Veränderungen der Seite 4-6 3.2 „Der Islam ist die Lösung!“ in Koalition – Die Bedeutung der Wahlen für die Ikhwan Seite 69 3.3 Gewerkschaften und eine Wohlfahrtsorganisation – Die soziale Komponente der Muslimbrüder Seite 9- 12 3.4 Repressionen - Die Staatliche Reaktion Seite 13- 14 3.5 Faktoren, Umstände, Gelegenheiten – Gründe für den Erfolg der Muslimbrüder Seite 1415 4. Die Muslimbruderschaft – Eine demokratische Partei? Seite 15-17 5. Fazit Seite 17-18 2 Literaturverzeichnis Seite 19 1. Einleitung Die Muslimbruderschaft ist die älteste und traditionsreichste Bewegung Ägyptens, und zugleich die mittlerweile bestorganisierteste Oppositionskraft.1 Gerade dem „westlichen“ Beobachter mutet es seltsam an, dass ausgerechnet eine islamistische Gruppierung der ärgste Gegner der autoritären Regierung unter Husni Mubarak ist und für politische Freiheit plädiert. Nicht ohne Grund ist die Muslimbruderschaft (al-ikhwān al-muslimūn, auch kurz als Ikhwan bezeichnet) eine der kontrovers diskutiertesten Organisationen Westasiens. Zuletzt machten die Muslimbrüder durch den Gewinn von 17 Sitzen bei den Parlamentswahlen 2005 von sich reden.2 Aufgrund der neuen Brisanz der Muslimbrüder finden sich mittlerweile vermehrt Werke zu diesem Thema. Der religiöse Aktivismus der Ikhwan seit den 1980ern ist zwar dezidiert islamistisch geprägt, jedoch agierte die Muslimbruderschaft stets im Rahmen des Legalen und nutzte Methoden der friedlichen stetigen Einflussnahme. Daher wäre die vorliegende Form religiösen Aktivismus´ nicht in dem Sinne „klassisch“ islamistisch, sofern als klassisch revolutionär-militantes Agieren gilt. Der Grundstein für diese Bewegungsrichtung der Ikhwan wurde bereits in den 1980ern gelegt. Seit dieser Zeit drängten die Muslimbrüder immer mehr in den öffentlichen Raum und konnten sich als Oppositionspartei etablieren. Dieser Zeitraum, genauer die Spanne von 1981 bis in die frühen 1990er, soll Gegenstand dieser Hausarbeit sein. Ich möchte die Entwicklungen und Veränderungen der Muslimbrüder während dieses Abschnitts sowie die Gründe dafür darstellen, um anschließend der Frage nachzugehen, inwieweit eine Transformation der Muslimbruderschaft in den 1980ern in eine pro-demokratische Partei stattgefunden hat. Eine erschöpfende und hinreichende Darstellung aller relevanten Prozesse und deren Auswirkungen ist aufgrund der Weite des Untersuchungsfeldes im Rahmen dieser 1 2 LÜBBEN, IVESA: Die ägyptische Muslimbruderschaft - Auf dem Weg zur politischen Partei? In: ALBRECHT, HOLGER/ KÖHLER/ KEVIN (Hrsg.): Politischer Islam im Vorderen Orient – Zwischen Sozialbewegung, Opposition und Widerstand. Baden-Baden, 2008. S. 75-97. S. 75. Vgl. LEIKEN, ROBERT S./ BROOKE, STEVE: The Moderate Muslim Brotherhood. In: Foreign Affairs. Vol. 86, No. 2 (März /April 2007). S. 107-121. S. 107 & LÜBBEN: S. 75. 3 Hausarbeit leider nicht möglich, weshalb ich mich auf einen zuweilen etwas groben Überblick beschränken werde. Als erstes werde ich die Geschichte der Muslimbrüder von ihren Anfängen bis zu den 1980ern knapp darstellen, um dann die Transformationen in Struktur und Ideologie der Ikhwan in den 1980ern zu beleuchten. Das darauf folgende Kapitel wird sich mit der Rolle der Wahlen als Mittel der Einflussnahme befassen, ähnlich bedeutsam sind dabei die karitativen, edukativen und sozialen Aktivitäten der Ikhwan, welche in Abschnitt 3.3 behandelt werden. Danach wird die Reaktion des Staates auf diese Entwicklung der Muslimbrüder thematisiert, um im letzten Unterpunkt des dritten Kapitels die Gründe für den Aufschwung der Muslimbrüder noch einmal kurz zu resümieren. Der Frage, inwiefern die Muslimbruderschaft eine Partei mit demokratischen Zielen ist, wird im darauf folgenden Abschnitt nachgegangen. 2. Islamische Reform und Militanz – Die Geschichte der Muslimbrüder 1928-1981 Die Muslimbruderschaft kann auf eine lange und wechselhafte Geschichte zurückblicken. Hassan al-Banna (1906-59) rief diese Organisation 1928 als antikolonialistische islamische Reformbewegung ins Leben.3 Al-Banna, der u.a. im damals kosmopolitischen Kairo die „westliche“ Zivilisation näher kenne lernte, sah die Ursache des von ihm wahrgenommenen moralischen Niedergangs und der existenten sozialen Problemen und Spannungen innerhalb Ägyptens in der „Westernization“ der arabischen Welt begründet. Die Lösung bestand für ihn in einer Hinwendung zum Islam, welche durch Reformen erreicht werden sollte. Al-Bannas Islamverständnis dabei bezog sich vor allem auf einen „puren“ bzw. „reinen“ Islam, aus dem alle Elemente die als bid´a oder „unislamisch“ galten entfernt werden sollten. Am Ende dieser Entwicklung ständen der islamische Staat und eine islamische Gesellschaftsordnung. 4 Al-Banna verknüpfte islamistische Theorien mit einer politischen Ideologie. Seine Ideen basierten dabei fundamental auf den Lehren früherer muslimischer Reformdenker. 5 „Al- Banna was intellectually a combination of Muhammad Abduh reformism, Rashid Rida conservatism, and al-Afghani's political activism.” 6 Die Muslimbruderschaft zeichnete sich zu Beginn ihrer Existenz durch einen religiösen, karitativen und edukativen Charakter aus. Dem Prinzip der tarbiyya (Predigt und Unterricht) LÜBBEN: S. 77f. Vgl. ALY, ABD AL-MONEIN SAID/ WENNER, MANFRED M.: Modern Islamic Reform Movements: The Muslim Brotherhood in Contemporary Egypt. In: Middle East Journal. Vol. 36, No. 3 (Sommer, 1982). S. 336361. S. 337f. & LÜBBEN: S. 77f. 5 LÜBBEN: S. 77f. 6 ALY: S. 339. 3 4 4 kam dabei besondere Bedeutung zu. Der Fokus lag zunächst auf der Konsolidierung im familiären und lokalen Bereich. Erst in den späten 1940ern wurde sie zunehmend im politischen Spektrum aktiv. Diese Entwicklung geht mit der Ausbreitung der Muslimbruderschaft auf nahezu alle ägyptischen Städte einher. Später expandierte sie ebenfalls auf internationaler Ebene, so dass heute regionale Ableger der Muslimbruderschaft in nahezu allen Ländern Westasiens zu finden sind.7 Seit Mitte der 1940er wurde die Muslimbruderschaft zusehends militanter und gewaltbereiter. Mittlerweile versuchte man die Regierung aktiv zu bekämpfen und zu stürzen, um sie durch ein islamisches Substitut zu ersetzen. So wurden 1948 ein Richter und ein Polizeichef vom militanten Flügel der Ikhwan ermordet. 8 Seit den 1950er Jahren ist das Verhältnis zwischen Muslimbruderschaft und ägyptischer Regierung äußerst ambivalent. Nach anfänglicher Kooperation mit den „Freien Offizieren“ und der Regierung Gamal Abdel Nassers, kam es recht bald zum Bruch zwischen beiden Fraktionen, welcher 1954 in dem Verbot der Muslimbrüder durch Nasser kulminierte. Mitte der 1960er entsagte die Muslimbruderschaft den militanten Methoden. 9 Unter Nassers Nachfolger Anwar Sadat wurde eine Annäherung an die Muslimbruderschaft vollzogen, sie wurden teilweise rehabilitiert und wieder geduldet, auch wenn das Verbot nie revidiert wurde. Die Intention Sadats hinter diesem politischen Manöver war die Nutzung der Muslimbruderschaft als Konterpart zu den linken und nasseristischen Oppositionskräften.10 Während Sadats Regierungszeit nahmen die Ikhwan ihre Aktivität wieder auf, v.a. die karitativen und edukativen Dienstleistungen. Man war dabei sehr um gesetzeskonformes Auftreten bemüht, weshalb politische Agitation vermieden wurde. 11 3. Die Transformation der Ikhwan in den 1980ern 3.1 Generationenwechsel & Flexibilität – Strukturelle Veränderungen der Muslimbruderschaft Die 1980er Jahre waren von einer relativen Toleranz von staatlicher Seite gegenüber den Muslimbrüdern geprägt. Nach der Ermordung Sadats 1981 versuchte dessen Nachfolger 7 Vgl. ALY: S. 338, EL-GHOBASHY, MONA: The Metamorphosis of the Egyptian Muslim Brothers. In: International Journal of Middle East Studies. Vol. 37, No. 3 (2005). S. 373–395. S. 373 & LEIKEN/BROOKE: S. 108 & LÜBBEN: S. 77f. 8 Vgl. ABED-KOTOB, SANA: The Accommodationists Speak: Goals and Strategies of the Muslim Brotherhood of Egypt. In: International Journal of Middle East Studies, Vol. 27, No. 3 (August 1995). S. 321339. S. 333 & IBRAHIM, SAAD EDDIN: Egypt's Islamic Activism in the 1980s. In: Third World Quarterly. Vol. 10, No. 2, Islam & Politics (April, 1988). S. 632-657. S. 640. 9 Vgl. ABED-KOTOB: S. 333 & LÜBBEN: S. 79f. 10 Vgl. LÜBBEN: S. 75 & S. 79f. 11 LÜBBEN: S. 79f. 5 Husni Mubarak die politischen und gesellschaftlichen Spannungen, die sich unter Sadat entwickelt hatten und die Konsolidierung Mubaraks neuen Regierung bedrohten, abzubauen. Zu diesem Zweck kooperierte Ägyptens neuer Präsident mit der Muslimbruderschaft. Die Ikhwan sollten dabei als Gegengewicht zu extremistischeren und militanteren Islamisten fungieren. Die Muslimbrüder, zwar nicht legalisiert aber offen toleriert, gewannen infolge dieser Entwicklung wieder an Einfluss in Ägypten. 12 Bereits in 1970ern zeichnete sich innerhalb der Muslimbruderschaft eine Reform der internen Strukturen und ideologischen Linie ab, welche in den 1980ern fortgeführt wurde. Beispielhaft ist hier die Entschärfung der hierarchischen Elemente innerhalb der Organisation zu erwähnen. Auch die Aufgabe der eher als sozialistisch zu bezeichnenden Einstellung zur Wirtschaft zugunsten einer marktwirtschaftlich kapitalistisch orientierten Haltung kann in diesem Kontext angeführt werden. Das Verhältnis zum arabischen Nationalismus wurde ebenfalls revidiert. Galt die Einheit der arabischen Welt seit den 1950ern als eine der Grundvoraussetzungen für ein Erstarken des Islam, da die arabische Welt mit der islamischen gleichgesetzt wurde, wandte man sich nach dem Zerwürfnis mit der nasseristischen Regierung und der Erkenntnis, dass der arabische Nationalismus mit einer Säkularisierung statt Islamisierung einher gehe, von dieser Ideologie ab. 13 Warum kam es zu diesen teilweise tiefgreifenden Änderungen innerhalb der Muslimbruderschaft und zur Kooperation mit dem vorher repressiv agierenden Staat? Zum einen war man bemüht sich von den Dogmen und Prinzipien der nasseritsichen Ära zu distanzieren, dieser Zeitraum war mit großen Rückschlägen konnotiert. Die Erkenntnis, dass die Muslimbrüder nicht in der Lage waren, Einfluss auf die „Freien Offiziere“ und ihr Regime auszuüben, sorgte für einen Paradigmenwechsel hin zu dem neuen Ansatz, politisches Gewicht durch die Nutzung demokratischer Mittel und Wege zu erlangen. Nicht nur Veränderungen innerhalb der Muslimbruderschaft begründeten den Doktrinwechsel, auch Zugeständnisse seitens der Regierung schufen Anreize zur Kooperation. So wurde im Mai 1980, noch unter Anwar Sadat, der zweite Artikel der Verfassung dahingehend geändert, dass die Schari´a „ the only source of legislation“ 14 sein solle. Ein weiterer gewichtiger Grund für diese Veränderungen lag in der Verschiebung der Zielgruppe und Machtbasis. 15 12 Vgl. AL-AWADI, HESHAM: Mubarak and the Islamists: Why Did the "Honeymoon" End? In: Middle East Journal. Vol. 59, No. 1 (Winter, 2005). S. 62-80. S. 62f., EL-GHOBASHY: S. 377f. & STACHER, JOSHUA A.: Parties over: The Demise of Egypt's Opposition Parties. In: British Journal of Middle Eastern Studies. Vol. 31, No. 2 (November, 2004). S 215-233. S. 218. 13 Vgl. AL-AWADI: S. 67ff. & ALY: S. 350-353. 14 ABED-KOTOB: S. 331. 15 Vgl. ABED-KOTOB: S. 331 & ALY: S. 353. 6 Die neue Generation von Muslimbrüdern rekrutierte sich v.a. aus der gebildeten Mittelschicht. Bereits in den 1960ern und 1970ern konnte die Muslimbruderschaft Einfluss als Oppositionskraft zum Staat und islamische Alternative an den ägyptischen Universitäten erlangen. Die aus diesem früheren studentischen Milieu stammenden Fachkräfte und Eliten waren es, die in den 1980ern die neue Linie der Ikhwan mitprägten. Diese neue Machtbasis war deutlich reformwilliger, offener und kompromissbereiter als die politisch verbitterten Vertreter der „prison generation“16. Die Muslimbruderschaft war in den 1980ern eine von der gebildeten Mittelschicht dominierten Bewegung geworden. Die neue Doktrin lautete Akkomodation mit dem existierenden politischen System. 17 Dies schlug sich auch in der Ideologie der Ikhwan in den 1980er Jahren nieder. In Anbetracht der Erfolglosigkeit der Muslimbrüder während ihrer militanteren Phase und der neuen Zusammenarbeit mit der Regierung Mubaraks erfolgte ein Wechsel von den eher radikalen Lehren Sayyid Qutbs zu den Ansichten Hassan al-Bannas. Die neue ideologische Lehre lässt sich wohl mit „Worte statt Waffen“ umschreiben. Die Muslimbruderschaft votierte zwar immer noch für einen islamischen Staat, dies sollte jedoch mit demokratischen Mitteln geschehen. Die Muslimbrüder präsentierten sich als Befürworter von Parteienpluralismus und parlamentarischer Demokratie. 18 „The Ikhwan followed the path of toleration and eventually came to find democracy compatible with its notion of slow Islamization. An Islamic society, the idea goes, will naturally desire Islamic leaders and support them at the ballot box.”19 Die Abkehr von gewalttätigen Methoden zugunsten friedlicher Reform verbesserte die Attraktivität der Muslimbrüder innerhalb der Bevölkerung ungemein und sorgte für weiteren Zulauf. Sie war nunmehr als respektable und verantwortungsbewusste Oppositionskraft akzeptiert. Koalitionen mit anderen Oppositionskräften ließen sich nunmehr leichter eingehen.20 Dieser ideologische Kurswechsel stieß natürlich nicht nur auf Zustimmung, mehrere Gruppierungen innerhalb der Ikhwan, die einen radikaleren Kurs vorzogen, spalteten sich daraufhin ab. Auch andere extremistischere islamistische Organisationen verurteilten diese in ihren Augen „Anbiederung“ an die ägyptische Regierung. 21 3.2 „Der Islam ist die Lösung!“ in Koalition – Die Bedeutung der Wahlen für die Ikhwan EL-GHOBASHY: S. 374. Vgl. ABED-KOTOB: S. 336, AL-AWADI: S. 63, EL-GHOBASHY: S. 373f. & LÜBBEN: S. 79ff. 18 Vgl. ABED-KOTOB: S. 332 & 335, IBRAHIM: S, 646 & LEIKEN/BROOKE: S. 110f. 19 LEIKEN/BROOKE: S. 110. 20 IBRAHIM: S. 645. 21 LEIKEN/BROOKE: S. 110f. 16 17 7 Bereits 1941 versuchte die Muslimbruderschaft (erfolglos) als Partei am politischen Geschehen teilzunehmen. Erst seit den Wahlen 1984 gelang es ihnen sich als feste Oppositionspartei zu etablieren.22 Bereits in den frühen 1980ern wurde unter den Muslimbrüdern mit der Gründung einer politischen Partei geliebäugelt. Allerdings wurde dieses Ansinnen verworfen, um den Wiederzulassungsprozess der Muslimbruderschaft nicht durch zu forsches Agieren zu gefährden.23 Die ägyptische Wahlgesetzgebung der Wahlen 1984 war sehr umstritten und äußerst nachteilig für eine parlamentarische Partizipation der Muslimbrüder. Die gesetzlichen Umstände (die z.T. kurz vor den Wahlen erst geändert wurden) verhinderten eine Kandidatur von Parteiunabhängigen und Vertretern nicht-parteilicher Organisationen, als welche die Muslimbrüder aufgrund des noch bestehenden Verbotes angetreten wären. Des Weiteren sahen die Richtlinien vor, dass eine Partei mindestens 8% der Stimmen erlangen müsse, um im Parlament Sitze zu erhalten. Die Intention hinter diesen Gesetzesänderungen war, die ägyptische Opposition an politischer Einflussnahme zu hindern und möglichst „klein zu halten“. Im Kontext dieser Bestimmungen gingen die Ikhwan überraschenderweise eine Koalition mit der liberalen und eher säkular orientierten Wafd-Partei ein. Das Parteienbündnis ging als zweitstärkste Partei hinter Präsident Mubaraks Nationaldemokratischer Partei (NDP) hervor. Wafd und Muslimbrüder konnten 15,5% der Stimmen für sich verbuchen, was 58 Plätzen im Parlament entsprach. Von diesen entfielen 8 an die Muslimbrüder.24 Im weiteren Verlauf konnte sich die Muslimbruderschaft im Parlament konsolidieren. „The 1984 elections, however, established the Ikhwan as a leading political contestant.” 25 Schon bei den folgenden Wahlen 1987 war die Muslimbruderschaft dem Status des “JuniorPartners” der Wafd-Partei entwachsen. Mittlerweile hatten die Ikhwan genug Einfluss gewonnen, um selber dominierende Partei innerhalb einer Koalition zu werden. Partner waren diesmal die Socialist Labour Party (SLP) und die Liberal Party (LP), mit denen die Muslimbruderschaft die Islamic Alliance (IA) ins Leben rief. Die neuen Koalitionspartner waren deutlich schwächere und ideologisch flexiblere Gefährten als die Wafd-Partei. Die IA kam auf ein Stimmenergebnis von insgesamt 17% und war damit zweitstärkste Kraft hinter der NDP, wobei diesmal der Muslimbruderschaft der Großteil der Sitze der IA zugestanden wurde. Wie 1984 wurde auch bei diesen Wahlen die Wahlgesetzgebung kurz vor dem ABED-KOTOB: S. 328. LÜBBEN: S. 90f. 24 Vgl. , ABED-KOTOB: S. 328, EL-GHOBASHY: S. 377f & IBRAHIM: S. 646. 25 EL-GHOBASHY: S. 377f. 22 23 8 Urnengang geändert, diesmal jedoch leicht zum Vorteil der Ikhwan, da die Kandidatur Unabhängiger eingeschränkt wieder legalisiert wurde. 26 Im Zuge des gestiegenen politischen Gewichtes der Muslimbrüder wurden die Bestimmungen zur Wahl 1990 erneut geändert. Diesmal waren nur Einzelpersonen statt Parteien zugelassen. Die Muslimbruderschaft und weitere Oppositionsparteien reagierten mit einem ProtestBoykott der Parlamentswahlen.27 Die Ikhwan etablierten sich in den 1980ern als bedeutende Oppositionspartei. Doch mit welchen programmatischen Zielsetzungen traten sie bei den Wahlen an, aus denen sie mit einem verhältnismäßigen großen Stimmenanteil hervorgingen? Die Programmatik der Muslimbrüder und das von ihnen proklamierte letztendliche Ziel, die Errichtung eines islamischen Staates mit der Schari´a als rechtliche Grundlage, galt ebenso in den 1940ern wie auch 40 Jahre später.28 Doch v.a. in Details und der Rolle und Berechtigung demokratischer Elemente ist eine Veränderung erkennbar. 29 „The major goal pursued by the Brotherhood is the establishment of an Islamic state governed by Islamic jurisprudence; the imposition of democratic ideals such as liberty, representation, and accountability; and the pursuit of socioeconomic justice.”30 Ein Kritikpunkt, der im Zusammenhang des politischen Einflussgewinns der Ikhwan in den frühen 1980ern oft angeführt wurde und z.T. immer noch wird, ist das Fehlen konkreter Inhalte. Der eher schwammige und ubiqitäre Slogan „Der Islam ist die Lösung!“ und die fehlenden verbindlichen Stellungnahmen der Muslimbruderschaft zu Themen wie Parteienpluralismus, Meinungsfreiheit, Minderheitenrechte etc. werden beanstandet. Die Muslimbruderschaft vollzog, wie bereits angesprochen, in den 1980er einen (offiziellen) Diskurswechsel von Qutb zu einer Reinterpretation von al-Banna, in dessen Folge Ideen islamischer Modernisten und demokratische Grundelemente in das Islamverständnis der Ikhwan integriert wurden. Man war bemüht, sich als relativ offene und tolerante Partei zu präsentieren.31 Offizielle Verlautbarungen der Muslimbrüder bekannten sich offen zu Demokratie und Parteienpluralismus.32 Vgl. EL-GHOBASHY: S. 377f. & IBRAHIM: S. 646. Wobei die Muslimbrüder in Lokal-Wahlen 1990 durchaus noch kandidierten. Vgl. ABED-KOTOB: S. 328 & 331. 28 Das Wahlprogramm der IA 1987 räumte der Implementierung der Schari´a als Gesetzesgrundlage einen hohen Stellenwert ein. S. IBRAHIM: S. 646. 29 ABED-KOTOB: S. 324. 30 Ebda.: S. 336. 31 Vgl. EL-GHOBASHY: S. 374 & LÜBBEN: S. 76 & 82. 32 Interessant ist hierbei, dass al-Bannas Parteien dezidiert ablehnte und für eine Direktwahl plädierte. Parteien waren für al-Banna Ideen des „Westens“, welche die Einheit des ägyptischen Volkes untergraben würden. Die Muslimbruderschaft begründete dies jedoch mit dem damaligen historischen Kontext des antiimperialistischen Widerstands gegen die Briten, weshalb diese Haltung als obsolet erachtet wurde. Vgl. ELGHOBASHY: S. 383 & LÜBBEN: S. 83f. 26 27 9 “God created humans with differences, so plurality is the normal state of things. The problem is how to organize these differences without turning them in to chaos, and that’s why you need several parties. “ 33 In ihrem Wahlprogramm von 1987 sicherte die Muslimbruderschaft der koptischen Minderheit den Status von vollwertigen gleichberechtigten Bürgern zu. Ebenso sei die Einführung der Schari´a eher gedacht als “a long range process not confined to Islamizing penal provisions but extending to the entire legal infrastructure.” 34 Auch die Rolle der Frau wurde sehr liberal gehandhabt, stellten Frauen doch von jeher einen aktiven Teil innerhalb der Muslimbruderschaft dar. So traten bei entsprechender Eignung öfters auch Frauen zu Wahlen an. Nichts desto trotz war die Muslimbruderschaft nach wie vor eine islamistische Partei, weshalb ihr Ansinnen staatliche Schnapsbrennereien, sowie Nachtclubs und Casinos zu schließen, nicht weiter überraschte. 35 Die Überlegungen dahinter waren sicherlich auch von dem Bestreben geleitet, ein Verbot aufgrund des Vorwurfes anti-demokratisch zu sein, zu verhindern und durch moderate und flexible Haltungen eine größere potenzielle Wählerschaft anzusprechen, sowie sich gegenüber radikalislamischen Organisationen abzugrenzen. 36 Auch wenn die Wahlen 1990 von den Ikhwan boykottiert wurden und sie 1995 nur ein Mandat erlangen konnten, war der Einzug ins Parlament in den 1980ern von großer Bedeutung für die Muslimbruderschaft.37 “The election process has notably become important both in order to gain parliamentary and professional-association representation and, perhaps more importantly, to gain access to an unrestricted channel whereby the group's Islamist message can be disseminated to the Egyptian masse.”38 3.3 Gewerkschaften und eine Wohlfahrtsorganisation – Die soziale Komponente der Muslimbrüder Ein prägendes Kernelement der Muslimbruderschaft ist der karitative und edukative Charakter, eng verknüpft mit einer Verbreitung der Ideen der Muslimbrüder, in welchem der Rückhalt innerhalb der Bevölkerung begründet liegt.39 „A major reason for the popularity of the Islamists in Egyptian society was based on their ability to address people's wider social EL-GHOBASHY: S. 383. Ebda.: S. 377f. 35 Vgl. Ebda.: S. 377f. & 382. 36 Vgl. Ebda.: S. 375 & 382. 37 LÜBBEN: S. 82. 38 ABED-KOTOB: S. 336. 39 LÜBBEN: S. 77f. 33 34 10 needs and concerns.”40 Die Sympathien und das gute Image der Ikhwan in weiten Bevölkerungsteilen wurde dadurch gesteigert, dass die Muslimbruderschaft z.T. effektiver als das staatliche Sozialsystem bzw. als einzige Alternative dort fungierte, wo staatliche Sozialleistungen fehlten. Aufgrund dieses Status´ bei der Bevölkerung verfügten die Muslimbrüder über eine besondere Art Legitimität, Rückhalt und Unterstützung im Volk.41 Seit Mitte der 1980er drängte die Muslimbruderschaft in den öffentlichen Raum, zum einen durch Wahlerfolge, zum anderen durch zunehmend effektivere und professionellere soziale Arbeit. Wie bereits erwähnt, vollzog sich in den 1980ern ein Generationswechsel innerhalb der Ikhwan. Dies wirkte sich auch auf den internen Aufbau der Bruderschaft aus. Bedingt durch die Tatsache, dass die Muslimbrüder mittlerweile von Fachkräften der Mittelschicht dominiert wurden, vollzog sich eine Dezentralisierung der Organisationsstruktur zugunsten spezialisierter und fachkompetenter Sektionen, in denen die Mitglieder gemäß ihrer Expertise eingesetzt wurden. Das soziale Netzwerk zwischen den einzelnen Mitgliedern war seit jeher eine der größten Stärken der Ikhwan. Da viele der neuen Mitglieder aus dem wirtschaftlichen Bereich stammten, wurde durch die Verquickung von Wirtschaft und religiösen Aktivismus dem Netzwerk eine weitere Dimension hinzugefügt, der wirtschaftliche Sektor. Der neue Einfluss in wirtschaftlichen Organisationen, insbesondere in den in Ägypten sehr bedeutsamen Berufsgewerkschaften, ermöglichte der Muslimbruderschaft Zugang zu zusätzlichen Ressourcen, nicht nur finanzieller Art, für soziale und später auch politische Aktivitäten der Muslimbrüder.42 Wie bereits erwähnt waren die Ikhwan zuweilen kompetenter und effizienter bei der Bereitstellung von sozialen Diensten als die Regierung. Dies lässt sich zum einen auf den volksnahen Charakter zurückführen, zum anderen ist es den unbürokratischeren Strukturen geschuldet. Ein Beispiel für die höhere Effizienz der Muslimbruderschaft im sozialen Bereich sind die schweren Erdbeben in Kairo 1992. Die Muslimbrüder konnten durch ihr soziales Netzwerk nicht nur schneller finanzielle Mittel und Ausrüstung bereitstellen als staatliche Stellen, ihre Kontakte ermöglichten auch eine stärkere Unterstützung von Seiten der Bevölkerung für die Hilfsbedürftigen, als sie die Regierung mobilisieren konnte.43 Das Beispiel der Erdbeben verdeutlicht auch, wie stark soziale Dienste mit Propaganda verknüpft waren.44 “The Ikhwan turned the crisis into a political campaign. The movement exploited the AL-AWADI: S. 63. Vgl. AL-AWADI: S. 78ff. & LÜBBEN: S. 79f. 42 Vgl. AL-AWADI: S. 63 & 67ff. & LÜBBEN: S. 79f. 43 Die Unterstützung der Bevölkerung hängt dabei auch sicherlich mit der effektiveren Hilfe der Muslimbruderschaft zusammen. 44 Vgl. AL-AWADI: S. 67ff. & 70f. 40 41 11 earthquake-damaged areas and promoted its political concerns by displaying banners that carried the slogan ´Islam is the Solution´.” 45 Die Muslimbruderschaft erlangte nicht nur Geltung im Wirtschaftssektor, auch im akademischen Bereich gelang es ihr, ihren Einfluss weiter auszubauen. 46 “In addition to their religious appeal, the Ikhwan were able to address the basic concerns of students, which included the provision of affordable textbooks, study aid materials and free revision classes. Though these had been familiar services since the late 1970s, when most university campuses were controlled by Islamists, their quality was developed during the 1980s and 1990s, and new ones were initiated to match the needs of contemporary students.” 47 Ähnliches gilt auch für Lehrer- bzw. Professorenverbände. Ab Mitte der 1980er dominierten die Muslimbrüder auch diese Gremien, indem sie sich für Gehaltserhöhungen einsetzten, da die damaligen Löhne längst nicht mehr im Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten standen. Des Weiteren votierten die Ikhwan für eine bessere medizinische Versorgung und preisgünstige Unterkünfte für Lehrer und Professoren, was v.a. bei den jüngeren und ergo finanziell weniger stabilen Vertretern dieser Berufsgruppe Beifall fand. 48 Eines der wichtigsten Standbeine der Ikhwan in den 1980er waren die traditionell äußerst einflussreichen Berufsgewerkschaften und Konsortien, welche neben ihrer offenkundigen Funktion zumeist Sprachrohr der Mittelschicht und unteren Mittelschicht waren. Erstmals traten die Muslimbrüder in diesem Zusammenhang 1984 bei der Wahl zum Vorstand der Mediziner-Gewerkschaft in Erscheinung. Nun saßen äußerst aktive Mitglieder der Muslimbruderschaft in einem solchen Gremium, mit weitreichenden Folgen für das „Networking“ der Ikhwan. Die Gewerkschaften und Verbände der Ingenieure und Apotheker folgten. 1992 gewannen Mitglieder der Muslimbruderschaft 2/3 der Sitze im Vorstand der politisch besonders gewichtigen Anwalts-Gewerkschaft. 49 Diese Übernahme von Berufsverbänden war eher ein Prozess stetiger Einflussnahme denn einer Aneignung. “The Muslim Brothers’ successful performance in the associations is due to their superior organizational and get-out-the-vote skills and transparent management of the syndicates’ finances. Not infiltration but tireless, open campaigning in free and fair elections and the provision of a generous network of post-election services is responsible for the Muslim Brothers’ success.” 50 Die Beziehung zwischen Muslimbruderschaft, Berufsverbänden und Hochschul-Institutionen war durchaus wechselseitig. Die Organisationen verhalfen den Muslimbrüdern zu politischem AL-AWADI: S. 73. Ebda.: S. 64. 47 Ebda.: S. 64. 48 Ebda.: S. 65f. 49 Vgl. ABED-KOTOB: S. 329 & EL-GHOBASHY: S. 380. 50 EL-GHOBASHY: S. 380. 45 46 12 und sozialem Einfluss und konnten sich im Gegenzug deren Unterstützung und besonderen Wohlwollen sichern, sobald diese zu Macht gekommen waren. Zusätzlich zu dem gesellschaftlichen und politischen Gewicht, welches sich aus der Dominanz der BerufsVerbände und akademischen Gremien ergab, bot dieser Einfluss den Ikhwan die Plattform, ihre Ideen und Lehren auf Konferenzen, Treffen und Kongressen darzulegen. 51 Die bisher dargestellten Ereignisse und Entwicklungen beziehen sich auf den „Mainstream“ der Muslimbruderschaft in den 1980ern und frühen 1990ern, es existiert allerdings noch eine Strömung innerhalb der Ikhwan, die die politischen Aspirationen der Mehrheit ablehnen und sich völlig auf den sozialen Charakter der Organisation beschränkten. Die sogenannte „apolitische Muslimbruderschaft“ ist nur eine kleine Fraktion und setzt sich mehrheitlich aus Fachkräften mittleren Alters zusammen. „The apolitical Muslim Brotherhood Encompassing a smaller number, mostly middle-age professionals, this group while still loyal to the mission of the Muslim Brotherhood has decided to devote its time and energy to religious teaching, moral reinforcement, and setting up modern economic and service institutions along 'Islamic lines; not less active than others.”52 Der apolitische Flügel versucht nicht die gesellschaftlichen und politischen Umstände in Ägypten aktiv zu verändern, sondern so islamkonform wie möglich in diesen Rahmen zu leben. Ein wichtiger Aspekt ihrer Aktivität sind die von ihnen geführten islamischen Unternehmen: zinsfreie Banken, Investmentgesellschaften, Fabriken etc. Weitere Bedeutung kommt den sozialen und karitativen Einrichtungen zu, Krankenhäusern, verschiedenen Arten von Schulen usw., welche sich üblicherweise durch hohe Qualität auszeichnen und sich aufgrund der ehrenamtlich zur Verfügung gestellten Expertise der Muslimbrüder wirtschaftlich tragen.53 Das Drängen der Muslimbruderschaft in soziale Räume, wie die vorgestellten Gremien, wird oft als Substitut für fehlenden Einfluss der Ikhwan in der politischen Dimension gewertet. 54 „The political use by the Islamists of student unions and university teachers' clubs and syndicates [Anm.: die Berufsgewerkschaften] should be viewed largely as a consequence of the state's persistent refusal to recognize Islamists as a legitimate' force.” 55 Vgl. ABED-KOTOB: S. 329 & AL-AWADI: S. 67ff. IBRAHIM: S. 643. 53 Ebda.: S. 643. 54 AL-AWADI: S. 78ff. 55 Ebda.:.: S. 78ff. 51 52 13 3.4 Repressionen - Die Staatliche Reaktion Als islamistische Organisation, wenn auch offiziell moderat islamistisch, wird der Muslimbruderschaft von „westlicher Seite“ wie auch von arabischen Regierungen oft mit großer Skepsis begegnet.56 Auch zwischen Mubarak und der Muslimbruderschaft kam es zum Zerwürfnis. Sah Mubarak die Ikhwan zu Beginn seiner Amtszeit als tolerierbares Gegengewicht zu radikaleren Islamisten, nahm er sie aufgrund ihres Rückhaltes bei der Bevölkerung und ihrer islamistischen Zielsetzung und Oppositionsrolle zusehends als Bedrohung wahr. Die Wahlgesetzgebungen von 1984 und den folgenden Wahljahren sind Ausdruck dessen.57 Der unerwünschte Wahlerfolg der Ikhwan und die anschließenden Versuche diese wieder zurückzudrängen, sowie die Rolle der Muslimbrüder als alternative Dienstleister von sozialen Leistungen verschärften den Konflikt weiter. Einen besonderen Stand nimmt hierbei das Jahr 1992 ein. Während der Katastrophenhilfe für die Erdbebenopfer in Kairo stand die Regierung deutlich im Schatten der Muslimbruderschaft. Im Zuge dessen verabschiedete die Regierung einen Erlass, der die Annahme ausländischer Geldzuwendungen ohne staatliche Erlaubnis unter schwere Strafe stellte. Dies traf die Muslimbrüder schwer, stammte doch ein nicht unbeträchtlicher Teil ihrer Geldmittel von staatlichen und privaten ausländischen Gönnern. Die Repressalien gegen die Ikhwan waren zunächst gerichtlicher Natur. Zunehmend bediente sich die Regierung Mubaraks jedoch physischer Gewalt, welche ihren Höhepunkt 1995 erreichte, als mehrere Muslimbrüder inhaftiert worden. 58 Auch der Einfluss der Muslimbrüder in den Berufsverbänden und Hochschulen sollte unterbunden werden. 1993 wurde ein Gesetz verabschiedet, dass den Wahlprozess zu Ungunsten der Muslimbruderschaft reorganisierte. Die erfolgreichen islamischen Banken der apolitischen Muslimbruderschaft wurden bereits früher Gegenstand einer staatlichen Kampagne, die die Vertrauenswürdigkeit und Transparenz dieser Kreditinstitute in Frage stellte, jedoch keinen nachhaltigen Effekt hatte. Mit der Zurückdrängung der Islamisten verschwanden auch die von ihnen angebotenen Sozialleistungen. Der Staat konnte das daraus entstanden „Sozial-Vakuum“ nicht hinreichend füllen, was wiederum zu Spannungen mit Teilen der Bevölkerung führte.59 Die Entwicklungen innerhalb der arabischen Welt in den 1990ern wirkten sich letztendlich zum Nachteil der Muslimbrüder aus. Im Gegensatz zu Mubarak protestierten die EL-GHOBASHY: S. 374. LÜBBEN: S. 82. 58 Vgl. AL-AWADI: S. 70 & 75, EL-GHOBASHY: S. 38, LÜBBEN: S. 75 & STACHER: S. 217. 59 Vgl. AL-AWADI: S. 70f. 78ff. , ABED-KOTOB: S. 329, IBRAHIM: S. 641. 56 57 14 Muslimbrüder gegen den Militäreinsatz im Irak 1991. Die Regierung warf ihnen daraufhin Illoyalität vor. Zwar versicherte die Muslimbruderschaft immer wieder ihre Treue zum ägyptischen Staat, Skepsis und Misstrauen wuchsen jedoch weiter, v.a. im Kontext zunehmend islamistisch motivierter Gewalttaten in Ägypten in den 1990ern. Nach Ansicht der Regierung hätten die Muslimbrüder sich von diesen Taten nicht hinreichend distanziert. Das Attentat auf Mubarak 1995 sorgte letztlich für den Eklat. Eine Unterscheidung zwischen moderaten und radikalen Islamisten wurde nicht mehr vorgenommen, Mitglieder und Wahlaktivisten der Muslimbruderschaft wurden verhaftet bzw. massiv behindert.60 Die Muslimbrüder argumentierten zwar, “more moderate factions in the Islamist movement- that is, the Brotherhood- will be able to pre-empt the growth of radicalism and militancy by appealing to the Egyptian people's inherent sense of justice” 61 stieß damit aber kaum auf Gehör bei der Regierung. Bei den Wahlen 1995 erlangte die Muslimbruderschaft gerade einmal einen Parlamentssitz. Die wichtigsten Kader der Ikhwan waren inhaftiert, die darauffolgenden Jahre waren von internen Streitigkeiten, ideologischen Kurswechseln und geringer parlamentarischer Bedeutung geprägt. 62 3.4 Faktoren, Umstände, Gelegenheiten – Gründe für den Erfolg der Muslimbrüder Die Attraktivität der Muslimbruderschaft in den 1980ern hing mit einer Vielzahl von Faktoren zusammen. Einige möchte ich hier noch einmal anführen: Von elementarer Bedeutsamkeit ist hierbei die Entwicklung der Muslimbrüder von einer antikolonialen Bewegung hin zu einer Massenoppositionspartei, welche durch flexible Ideologie und moderates Auftreten Personen unterschiedlichster Couleur, sei es Bildungsgrad, sozialer Hintergrund oder politische Zielsetzung, ansprach. Weiteres Gewicht wird der Ambivalenz der Ikhwan zugerechnet. Die Dualität von einer de facto politischen Oppositionspartei, welche zugleich eine islamistische Bewegung ist, ermöglichte sowohl die Nutzung der Pragmatik der Politik als auch der Dogmatik der Religion. Des Weiteren spiegelte der neue Charakter der Muslimbruderschaft die gesellschaftlichen Veränderungen wieder, v.a. die Diskrepanz zwischen (religiösen) Traditionalismus und Modernität. Die Muslimbruderschaft verstand es, diesen scheinbaren Widerspruch in sich zu vereinen, was ihre Attraktivität in der Bevölkerung erklärt. 63 Vgl. AL-AWADI: S. 70f. & EL-GHOBASHY: S. 384. ABED-KOTOB: S. 332. 62 Vgl. AL-AWADI: S. 70f. & EL-GHOBASHY: S. 384f. 63 LÜBBEN: S. 86f. 60 61 15 Die Ikhwan verstanden es zudem, aus der Frustration der Bevölkerung64, allen voran der Jugend und des Mittelstandes, Kapital zu schlagen, vor allem in der Hinsicht, dass sich ein Großteil der Mitglieder seit Ende der 1970er aus diesen Kreisen rekrutierte. 65 The new generation of Muslim Brothers activists who transformed the professional unions are a major causal force behind the society’s adaptation into a flexible political party, particularly its ideological amendments66 Ein weiterer Grund für den Erfolg der Muslimbrüder war, dass sie versuchte ihre Ziele auf legalem und friedlichem Weg zu erreichen, was sie von anderen radikalen islamistischen Gruppierungen abhob und vergleichsweise moderat und respektabel erschienen ließ.67 4. Die Muslimbruderschaft – Eine demokratische Partei? Seit ihrem Drängen in den politischen Raum wird die Muslimbruderschaft mit einer Vielzahl an Vorwürfen und Beschuldigungen konfrontiert: „Allegations that they are driven by immutable sacred texts that make them untrustworthy political contestants, “sham democrats,” and avid theocrats intent on overturning the secular state. None of these claims is corroborated by any credible evidence.” 68 Viele Analysen die Muslimbruderschaft betreffend, bezweifeln ihre Verbundenheit zur Demokratie. Das neue angepasste Auftreten der Ikhwan hätte v.a taktische und machtpolitische Gründe. Befürchtungen, das Bekenntnis zur Demokratie wäre nur ein opportunistischer Meineid und gelte nur bis die Muslimbruderschaft in der Lage wäre, eine Staatsform nach ihren Vorstellungen einzusetzen, wurden in diesem Kontext laut. 69 “Behind that warning is an extensive history of similar cadre organizations that promised democracy and then recanted once in power: the Bolsheviks, the Nazis, the Baath Party in Iraq and Syria, even the Nasserists.” 70 Die Besorgnis der Skeptiker gegenüber der Muslimbruderschaft, insbesondere die der koptischen Minderheit, kommt in folgendem Zitat zum Ausdruck: “The problem is that there is a vast area of mistrust. Sometimes we feel – not only Christians but also secular Muslims – that they are wolves in sheep’s clothing. Historically their message is a double one. There will always be a worry that once in power they will say they want an Islamic Soziale Spannungen (Arbeitslosigkeit, geringe Löhne etc.) spielten dabei ebenso eine Rolle wie die „Krise der muslimischen Gesellschaften“ (Scheitern säkularer Regime, militärische Niederlagen, z.B. gegen Israel). S. IBRAHIM: S. 656. 65 IBRAHIM: S. 649. 66 EL-GHOBASHY: S. 380. 67 IBRAHIM: S. 647f. 68 EL-GHOBASHY: S. 381. 69 Vgl. ABED-KOTOB: S. 330 & LEIKEN/BROOKE: S. 111. 70 LEIKEN/BROOKE: S. 111. 64 16 state like Iran. A religious party is unacceptable to us, Copts, and to the Egyptian system. They need to be explicit in accepting Copts as full citizens, not dhimmis. But it’s a mistake for the regime to arrest the Muslim Brothers. A better approach would be to encourage them to integrate by giving up the religious flavour of their program, notably dropping their slogan “Islam is the solution” and their call for the establishment of an Islamic state.”71 Kritiker merken weiterhin an, dass die Ikhwan Muslime in Westasien und Europa radikalisieren würde. Die Muslimbruderschaft verwehrt sich gegen die Anschuldigungen und verweist auf den von ihnen vertretenen karitativen und politischen Aktivismus, welcher in völligen Gegensatz zur Militanz stünde. Kritik an dem Kurs ist allerdings auch aus dem islamistischen Lager zu vernehmen, wie bereits erwähnt verurteilen radikalere Islamisten die „Anbiederung“ der Ikhwan an das, in ihren Augen, „unislamische“ System. 72 Gegen die Vorwürfe des mangelnden Demokratieverständnisses erheben die Ikhwan vehement Einspruch: “Muslim Brother ´Isam al-´Aryan, for example, calls the charge that the Brethren are against democracy "a great lie," stressing, "The Brothers consider constitutional rule to be closest to Islamic rule.... We are the first to call for and apply democracy. We are devoted to it until death.“ 73 “I've said many times, we entered elections under the slogan 'Islam is the solution.' How can it be said that we participate in the existing system when we are trying to change it in the preferred manner-by changing institutions with institutions?” 74 Mustafa Mashhur, 1996 zum Führer der Ikhwan ernannt, führt speziell zum Thema Minderheitenschutz aus: "Islam confirms freedom, equality, and security for Muslims and non-Muslims. It condemns each Muslim who attacks a non-Muslim.... The true Muslim ... protects the rights of non-Muslims.” 75 Spätestens seit den Anschlägen vom 11.09.2001 ist der Begriff islamischer Fundamentalismus mit Terrorismus konnotiert. Dies gilt auch für die fundamentalistischen Strömungen der Salafiyya. Auf die Frage, ob die Muslimbruderschaft salafitisch sei, antworten Ikhwan meist mit der Gegenfrage wie Salafiyya definiert sei - wenn damit das modernistische, reformerische Islamverständnis Jamal ad-Din al-Afghanis und Muhammad Abduhs gemeint sei, dann seien sie Salafiten.76 Die Ikhwan sind bemüht sich als moderate, verantwortungsbewusste und legitime politische Kraft darzustellen.77 Sie sehen sich zwar als islamistische Organisation, die Zielsetzung eines islamischen Staates schließe aber eine demokratische Regierung nicht zwangsläufig aus. 71 Egypt’s Muslim Brothers: Confrontation or Integration? In: Crisis Group Middle East/North Africa Report. No. 76, 18 June 2008. S. 21. 72 Vgl. ABED-KOTOB: S. 330 & LEIKEN/BROOKE: S. 112. 73 ABED-KOTOB: S. 325. 74 Ebda.: S. 330. 75 Ebda.: S. 333. 76 LEIKEN/BROOKE: S. 112. 77 LÜBBEN: S. 92. 17 “At the political center of the movement, the Muslim Brotherhood is proving to be a highly pragmatic organization that has rejected violence and calls for the expansion of democracy within a state ruled by Islamic legislation.”78 Die Wissenschaftlerin Sana Abed-Kotob bewertet das Demokratieverständnis der Ikhwan folgendermaßen: “Although the definitive technical dimensions of the anticipated Islamic state are not specified, it must be noted that the terms "democracy" "liberty," and "freedom" are used freely and repeatedly by Brethren, implying a conviction that democratic institutions can function within a system of Islamic legislation.”79 Die Akkomodation der Muslimbrüder basiere jedoch nicht auf einer Anerkennung des herrschenden Systems Mubaraks, sondern vielmehr auf dem Bestreben, die Bevölkerung zu „erleuchten“, um so auf friedlichem Wege einen islamischen Staat zu ermöglichen. 80 5. Fazit Resümierend lässt sich feststellen, dass sich in den 1980ern ein fundamentaler Wandel der Muslimbrüder vollzog, der die Organisation bis heute prägt. Die vorgenommen Veränderungen ermöglichten und konsolidierten die Rolle der Ikhwan als Oppositionskraft. Das Drängen der islamistischen Ikhwan in zuvor von ihnen weitgehend unerschlossene politische, gesellschaftliche und öffentliche Räume und der ideologische Kurswechsel weckten verständlicherweise Argwohn bei Gegnern und Skeptikern. Befürchtungen, eine starke Muslimbruderschaft würde die Islamisierung Ägyptens nach sich ziehen, waren mit Blick auf das Parteienprogramm der Ikhwan durchaus berechtigt. Wie sich die Islamisierung gestalten würde und wie fundamental das Islamverständnis war bzw. ist, blieb im Rahmen des in dieser Hausarbeit betrachten Zeitraums zunächst offen. Sollte die Muslimbruderschaft einen „Gottesstaat“ angestrebt haben, propagierten sie dieses logischerweise nicht offen. Vielmehr waren sie bemüht, ihren Einfluss in der Politik und Rückhalt in der Bevölkerung nicht zu gefährden. Um Zweifel und Vorbehalte zu zerstreuen, betonten die Muslimbrüder ihren offenen und moderaten Charakter und bekannten sich offiziell zur Demokratie. Politisch wurde die eigene Rolle als (islamische) Alternative und Oppositionspartei hervorgehoben. Sozial präsentierte man sich als Wohlfahrtsorganisation, ideologisch grenzten die Ikhwan sich durch moderate und offene offizielle Haltungen von anderen islamistischen Gruppierungen ab. Die offiziellen Verlautbarungen der Muslimbrüder vermitteln das Bild einer der Demokratie ergebenen Partei. Da es jedoch nicht möglich ist „hinter die Kulissen“ zu ABED-KOTOB: S. 337. Ebda.: S. 325. 80 Ebda.: S. 332. 78 79 18 schauen, muss die Frage, ob die Haltung der Muslimbruderschaft in den 1980ern bis in die frühen 1990er ein Lippenbekenntnis war, oder ob sich in den Reihen der Ikhwan tatsächlich die Einstellung durchsetzte, dass ohne die konsequente Einbettung demokratischer Grundelemente in ihre Ideologie kein (islamischer) Staat Ägypten möglich ist, offen bleiben. Neuere Forschungen bewerten den angeblichen pro-demokratischen Kurs der Ikhwan allerdings als reines machtpolitisches Manöver. Es mag fragwürdig sein, inwiefern die Muslimbruderschaft und die von ihr verkörperte Ideologie langfristig eine bessere Alternative zu Mubaraks autoritären System darstellt, und ob man letztlich den Teufel mit dem Beelzebub austreibt, jedoch ist die Rolle der Muslimbruderschaft als wichtigste Oppositionskraft zu Mubarak von hoher Bedeutung. Die Muslimbrüder sind insgeheim höchstwahrscheinlich nicht so pro-demokratisch, wie sie sich in der Öffentlichkeit geben, allerdings leisten sie in ihrer Rolle als ernsthafte Opposition (andernfalls wäre es wohl kaum zum Vorgehen seitens der Regierung gekommen) einen wichtigen Beitrag zu einer demokratischen politischen Landschaft. Literaturverzeichnis 19 ABED-KOTOB, SANA: The Accommodationists Speak: Goals and Strategies of the Muslim Brotherhood of Egypt. In: International Journal of Middle East Studies, Vol. 27, No. 3 (August 1995). S. 321-339. AL-AWADI, HESHAM: Mubarak and the Islamists: Why Did the "Honeymoon" End? In: Middle East Journal. Vol. 59, No. 1 (Winter, 2005). S. 62-80. ALY, ABD AL-MONEIN SAID/ WENNER, MANFRED M.: Modern Islamic Reform Movements: The Muslim Brotherhood in Contemporary Egypt. In: Middle East Journal. Vol. 36, No. 3 (Sommer, 1982). S. 336-361. EL-GHOBASHY, MONA: The Metamorphosis of the Egyptian Muslim Brothers. In: International Journal of Middle East Studies. Vol. 37, No. 3 (2005). S. 373–395. IBRAHIM, SAAD EDDIN: Egypt's Islamic Activism in the 1980s. In: Third World Quarterly. Vol. 10, No. 2, Islam & Politics (April, 1988). S. 632-657. LEIKEN, ROBERT S./ BROOKE, STEVE: The Moderate Muslim Brotherhood. In: Foreign Affairs. Vol. 86, No. 2 (März /April 2007). S. 107-121. LÜBBEN, IVESA: Die ägyptische Muslimbruderschaft - Auf dem Weg zur politischen Partei? In: ALBRECHT, HOLGER/ KÖHLER/ KEVIN (Hrsg.): Politischer Islam im Vorderen Orient – Zwischen Sozialbewegung, Opposition und Widerstand. Baden-Baden, 2008. S. 75-97. STACHER, JOSHUA A.: Parties over: The Demise of Egypt's Opposition Parties. In: British Journal of Middle Eastern Studies. Vol. 31, No. 2 (November, 2004). S 215-233. Egypt’s Muslim Brothers: Confrontation or Integration? In: Crisis Group Middle East/North Africa Report. No. 76, 18 June 2008. 20