Funkerausbildung an der Funkschule Königs Wusterhausen
Transcription
Funkerausbildung an der Funkschule Königs Wusterhausen
Autor: Wolfgang Buddrus www.ruegen-radio.org Funkerausbildung an der Funkschule Königs Wusterhausen Die folgende Darstellung ist keine Dokumentation der Funkerausbildung in Königs Wusterhausen und erst recht keine Geschichte der Funkschule, in der die Funkerausbildung immer nur ein Bereich am Rande war. Diese Themen verdienen eine umfassende kritische Würdigung durch kompetente Autoren – darauf warten wir noch. Hier handelt es sich vielmehr um die Niederschrift meiner Erinnerungen an meine eigene Funker-Ausbildung in Königs Wusterhausen und an meine Tätigkeit als Funker bei der Küstenfunkstelle Rügen Radio bis zu meiner Lehrtätigkeit wieder an der Funkschule. Hinzugefügt habe ich einige Dokumente, darunter Abbildungen, und belegbare sachliche Erläuterungen, die zu einem besseren Verständnis der inzwischen schon historischen Umstände beitragen können. Berichtigungen und Ergänzungen von allen Seiten sind sehr willkommen und sollten an diese Adresse geschickt werden: [email protected] 1 Königs Wusterhausen Die Bildungseinrichtung unter den eindrucksvollen Sendemasten auf dem Funkerberg in Königs Wusterhausen hatte im Verlauf ihrer Geschichte von 1954 bis 1989 viele Namen; einfach als „Funkschule“ ist sie auch nach ihrer Zerschlagung durch die Deutsche Telekom im Zuge des Anschlusses der DDR an die BRD im Gedächtnis vieler Menschen geblieben. Als Schüler der Funkerklasse 951 (1955-57) und Angehöriger des Lehrkörpers (1963-1998) habe ich den größten Teil der Geschichte der Funkschule erlebt, und nun, im Jahre 2009, will ich meine Erinnerungen aufschreiben. Der Funkerberg, er erscheint noch heute unter diesem Namen auf Karten am nördlichen Stadtrand von Königs Wusterhausen, ist ein historisch bedeutsames Gelände. Gleich nach dem Ende des 1. Weltkrieges übernahm die Deutsche Reichspost das übriggebliebene Gerät der dortigen militärischen Funkstation und begann mit Versuchen zur drahtlosen Übertragung von Nachrichten. Die Übertragung eines Instrumentalkonzertes aus einem improvisierten Studio in einem Wohnzimmer eines Hauses auf dem Funkerberg im Dezember 1920 gilt als die Geburtsstunde des Rundfunks in Deutschland. Über Jahrzehnte war dann „Königs Wusterhausen“ auf den Skalen der Rundfunkempfänger zu lesen. Und Königs Wusterhausen war jahrzehntelang das Synonym für „Deutschlandsender“. Zahlreiche schlanke Gittermasten mit Höhen bis 200 Meter wurden als Antennenträger für die Rundfunksendungen errichtet. Als ich als Funkschüler 1955 nach Königs Wusterhausen kam, standen noch elf dieser imposanten Masten, wir fanden aber auch mehrere Beton fundamente früherer Masten gleich hinter unserem Wohnheim. Und natürlich fanden wir es hinter unseren Fenstern unge heuer spannend, bei Gewitte r die springenden Funken auf den Pardunen zu beobachten. Uns Funkschülern wurde auch bald erklärt, daß ein Funkmast Pardunen, Abspannseile, hat, um ihn auf seinem kleinen Fuß auf dem Betonfundament zu halten; ein Funk turm da gegen steht frei und ve rjüngt sich meist von einem großen Funda - ment aus nach oben. Der König der Antennenträger, der dann auch in das Stadtwappen kam, wurde mit 243 Metern Höhe der dann „Dicker Emil“ oder wegen seines dreieckigen Querschnitts auch „da s Dreibein“ nannten. Der Seitenabstand am Funda - ment soll 60 Meter betragen haben. Seine Geschichte aufzu- schreiben würde sich sicher lohnen. Dieser 1925 erbaute Antennenturm, den wir Turm stürzte bei einem Sturm im November 1972 völlig überraschend um. Durch das Fenster des Klassenraums, in dem ich an diesem Tag unterrichtete, hatte ich den Turm immer im Blick. Als ich am Ende der Stunde auf das Toben des Sturms durchs Fenster sah, fand ich, daß sich das gewöhnliche Bild irgendwie verändert hatte, und erst im Lehrerzimmer erfuhr ich dann von Kollegen, daß der Dicke Emil umgestürzt war. Wir waren alle sehr betroffen. Die zerrissenen und verdrehten Stahlträger sehe ich noch ganz deutlich bis zu dem Drahtzaun am Ende des Funkschulgeländes liegen. Schade, daß ich mir damals nicht wenigstens eine der abge sprungenen Nieten als Andenken mitgenommen habe. Von der „Wiege des Rundfunks in Deutschland“ auf dem Funkerberg in Königs Wusterhausen kommen seit 1995 keine Rundfunk wellen mehr. Aber es gab glücklicherweise einige FunkEnthusiasten, darunter der langjährige Wohnheimleiter der Funk schule Fritz Menz, die 2 wesentliche Teile der technischen Anlagen be wahrt und mittlerweile in einem Funkmuseum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben (www.funkerberg.de ). Die Funkschule wurde 1953, also vier Jahre nach Gründung der DDR, als Fachschule für Funkwesen der Deutschen Post eingeweiht. Es wird einen „gelernten DDR-Bürger“ sicher nicht überraschen, daß die ersten Studenten noch kräftig an dem Komplex mitgebaut haben. Auch als die erste Funkerklasse 1954 dort ankam, waren noch nicht alle Gebäude fertig, und vieles war noch provisorisch. Als ich dort im September 1955 einzog, standen alle Gebäude so wie sie heute noch stehen, und hieß sie schon Fachschule für Fernmelde- und Funkwesen (Berlin), Abt. Funkwesen. Die Abteilung Fernmeldewesen bildete Ingenieure für drahtgebundenes Fernmeldewesen aus und hatte ihren Sitz in der Berliner Scharnhorststraße. Die Funkschule, wie sie wohl die meisten Absolventen in Erinnerung haben werden. Hier ist es schon der Zustand von 1974: Der Weg vor dem Lehrtrakt ist mit farbigen Platten belegt. Die schöne Sonnenuhr am Giebel des Speisesaals gibt es immer noch. Die ersten Studenten waren drei Klassen Ingenieure für Funksende- und Empfangsanlagen, von denen eine ganze Reihe nach Abschluß ihres dreijährigen Studiums zu den Pionieren des Rundfunks und Fernsehens der DDR gehörten. Und dann kamen ab 1954 die jungen Spunde, die Funkschüler, dazu. Es ist bemerkenswert, denke ich, daß die Mädels in den ersten Jahren in beiden Studienformen etwa 30 Prozent ausmachten. Bei den Funkern betrug die Ausbildungszeit zwei Jahre, es wurde aber jedes Jahr eine neue Klasse mit etwa 25 Schülern aufgenommen, so daß es fast immer zwei Funkerklassen gleichzeitig an der Schule gab. Als meine Klasse dort begann, hatten wir noch ein gemeinsames Jahr mit der allerersten regulären Funkerklasse von 1954. In dieser Klasse waren u.a. Joachim Pott, späterer Wachleiter bei Rügen Radio, Gerhard Stoye, Autor des Lehrheftes „Vorschriften für den Funkdienst“ (1974), und Frieder Ullmann, später langjähriger Ausbilder für den praktischen Funkdienst an der Funkschule. Später, als der Bedarf an Funkern enorm stieg, wurden pro Jahr manchmal sogar zwei Klassen aufgenommen. 3 Der Komplex auf dem Funkerberg mit der Postanschrift Berliner Straße 16b umfaßte die Lehrtrakte, das zweigeschossige Wohnheim, den Speiseraum mit Bühne und angeschlossener Küche und in einem besonderen Flügel zwei Lehrerwohnungen. Im Wohnheim – unten die Jungs, oben die Mädels – waren schätzungsweise 120 Studenten untergebracht. In einem Zimmer standen in der Regel drei Betten mit je einem kleinen Bücherbord an der Wand, Schränken sowie einem (viel zu kleinen) Tisch und drei Stühlen. Waschraum, Duschen und Toiletten für alle Bewohner einer Etage befanden sich etwa in der Mitte des langen Mittelflures. Für die damaligen Verhältnisse (Vergeßt nicht: Das war vor über 50 Jahren und nur acht Jahre nach dem katastrophalen Hitlerkrieg.) war das eine moderne, fast luxuriöse Einrichtung, wenn auch nicht immer alles einwandfrei funktionierte. Ich kann mich zum Beispiel an unangenehme Ausfälle oder eine ungenügende Leistung der Heizanlage erinnern. Und um allen Vermutungen von „gelernten BRD-Bürgern“ vorzubeugen: Die Funkschule unterstand dem Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR, kurzzeitig auch mal dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, wir waren also immer eine zivile Einrichtung. Der Wohnheim-Trakt hatte außer den beiden Wohnetagen noch ein Kellergeschoß, das für die Funker von einiger Bedeutung war. Die Räume dort lagen zur Hälfte unter der Erde, die kleinen Fenster hoch oben ließen aber immerhin Tageslicht ein. 4 Einige der Räume wurden zeitweilig sogar als Wohnräume genutzt. Überwiegend befanden sich hier jedoch technische Räume und Lager, auch ein Sportraum und sogar eine gut eingerichtete Dunkelkammer, in der ich im Fotozirkel bei Gustav Heesch das „Bilder machen“ lernte und später dann etliche Nächte mit meinen Kleinbildfilmen verbrachte. Hier unten war auch Frau Schurmanns Reich, und von ihr war jeder Funker abhängig, denn sie gab Kopfhörer und Tasten aus und reparierte diese und auch die einfacheren Geräte im Funksaal. Horst Behlert war offiziell zwar Hausmeister, in der Praxis aber „Mädchen für alles“, auch Tischler, Gärtner, Transportarbeiter und Hilfsheizer. Hier unten befand sich auch die Heizungsanlage. Der Heizkessel wurde meist mit Briketts, manchmal auch mit Braunkohle geheizt. Diese Brennstoffe wurden von Lkw vor die Luken gekippt und mußten dann nach und nach in den Heizungskeller geschafft werden. Mit dieser Arbeit waren die häufig wechselnden Heizer überfordert, und deshalb sicherlich war der Direktor (oder Abteilungsleiter?) Heidenreich auf die Idee gekommen, uns Funker dafür einzuspannen. Und dazu wurde dieser Kohletransport per Schubkarre von dem großen gelagerten Berg zum Heizungskeller als „erzieherische Maßnahme“ deklariert. Das geschah so, daß wir bei jedem kleinen Vergehen (häufig handelte es sich um einen Verstoß gegen das Verbot, Geschirr aus dem Speisesaal mit auf das Zimmer zu nehmen) nach Unterrichtsschluß auf dem Bett einen kleinen von der Chefsekretärin Frl. Gehrke (später verehelichte Frau Ludwig) unterzeichneten Zettel vorfanden, mit dem der jeweilige Schüler aufgefordert wurde, um … Uhr beim Direktor zu erscheinen. Unter uns nannten wir das dann den „Fünf-Uhr-Tee beim Direktor“. Und von ihm wurden wir dann kurz und drastisch zu einem Kohlentransport verdonnert. Da gab es verschiedene Stufen, je nach Schwere des Vergehens, die Differenzierung bestand in der Anzahl der zu transportierenden Kohlenkarren oder in der Zeit des Einsatzes. Eine Stunde (oder 10 Schubkarren) bildeten die Basiseinheit und wurden von uns dann sehr bald als die Einheit „1 Heidenreich“ bezeichnet. Das Betreten des Heizungskellers war uns Funkern natürlich verboten. Aber mir wurde von Beteiligten auch folgendes berichtet: Als der Rügen-Radio-Funker Jaesky, ein großer, starker Kerl und ehemaliger Seefahrer, für einige Zeit die funkpraktische Ausbildung an der Funkschule übernehmen mußte, kam es ab und zu mal vor, daß er zusammen mit einigen Funkschülern bis nach dem „Zapfenstreich“ um 22 Uhr im Ort unten gezecht hatte. Dann soll er sich immer als Kumpel gezeigt haben, indem er die verspäteten Funkschüler durch den Heizungskeller (Eingang vom Kohlenhof aus) ins Wohnheim schleuste. WICHTIG: Verpflegung und Ausgang Aber nun muß ich auch die Dinge erwähnen, die für einen Neuen an der Funkschule von unmittelbarer Bedeutung waren: Die Verpflegung und der Ausgang. Ja, der Ausgang für uns noch minderjährige Funkschüler war klar geregelt. An der Pforte beim Haupteingang hatte man sich ab- und wieder anzumelden, wenn man 5 das Funkschulgelände verlassen wollte, und, wie schon erwähnt, um 22 Uhr hatte man wieder im Wohnheim zu sein. Das Ausgangsbuch wurde streng geführt. Tagsüber saß in der Pförtnerloge Frau Estler, die die Essenmarken verkaufte und die Telefonvermittlung übernahm. Nach ihrem Dienstschluß am Nachmittag wurde der Pförtnerdienst von ziemlich häufig wechselnden männlichen „Nachtpförtnern“ versehen. Als Frau Estler aus Altersgründen ausschied, übernahm diesen wichtigen Posten Dieter Rohde, der Sohn einer langjährigen, älteren Mitarbeiterin der Verwaltung, der allgemein nur „der Käptn“ genannt wurde. Gegessen wurde (manchmal in zwei „Schichten“) im Speisesaal, und zwar morgens, mittags und abends, wir waren also alle in Vollverpflegung, und die Mitnahme von Essen und Geschirr auf die Zimmer im Wohnheim war strengstens untersagt. Mein Eindruck war, daß die nicht so richtig be liebten Frauen vom Reinigungspersonal gerne Teller oder Tassen auf den Zimmern fanden; sie ließen dann alles stehen und liegen und liefen zur Schulleitung, um dort Meldung zu machen. Um so freundlicher und nachsichtiger waren die meisten Küchenfrauen. In den Anfangsjahren brachten sie das Essen mit Servierwagen an die Vierertische. Einen einzigen langen Tisch gab es, der stand hinten rechts, mit der Stirnseite vor der Tür zur Bühne, und das war der Lehrertisch. Später gab es den Tresen vor der Küche als Essenausgabe, wo sich dann lange Schlangen (manchmal quer durch den ganzen Speisesaal) von Hungrigen bildeten, und daneben befand sich die Luke für die Geschirr-Rückgabe. Eine weitere wichtige Person war Frau Hanschke, die Küchenchefin, mit ihrem Mini-Büro im Wintergarten, also dem Durchgang zwischen Klassenräumen und 6 Speisesaal. Sie legte großen Wert auf Respekt vor ihrem Posten und kannte im Gegensatz zu den Küchenfrauen keine Nachsicht, wenn mal einer keine Essenmarke, aber trotzdem Hunger hatte oder wenn man leeres Geschirr vom Zimmer zurück in den Speisesaal an ihrem Fenster vorbeischmuggeln wollte. Die Rangordnung Natürlich gab es auch eine bestimmte Hierarchie unter den Studenten der Funkschule. Die Ingenieurstudenten waren eindeutig immer das bestimmende Element an der Funkschule. Sie hatten zumeist schon eine abgeschlossene Berufsausbildung und waren alle deutlich älter als wir Funker-Anwärter, sie bildeten ganz klar die „Oberschicht“. Es hat sich mir aber auch eingeprägt, daß die jeweils ältere Funkerklasse immer mit Respekt und ein bißchen Neid angesehen wurde, und daß wir dann als die ältere Klasse unsere Nachfolger ziemlich herablassend behandelten. Doch es gab auch Liebschaften „nach oben“ und „nach unten“, da galten andere Kriterien. In unserem Alter von etwa 17 Jahren waren wir Jungs noch ziemlich „grün“, während unsere gleichaltrigen Mädels sich naturgemäß mehr für die in jeder Hinsicht erfahreneren Ingenieurstudenten und manchmal auch für die Jungs aus der älteren Funkerklasse interessierten. An eine Art Ausgleich erinnere ich mich immer noch gerne: Mein Mitschüler Jürgen Drude, aus gutem Hause in Rostock stammend, war ein begeisterter Klavierspieler, und im Speisesaal auf der Bühne stand ein ganz ordentlicher Flügel. Dort saßen wir abends manchmal stundenlang; Jürgen spielte, ich sang, beide mit voller Inbrunst Schlager wie „Ich küsse Ihre Hand, Madame, und denk, es wär’ Ihr Mund“ oder „Man müßte Klavier spielen können, wer Klavier spielt, hat Glück bei den Frau’n“. 7 Die beiden folgenden Fotos mit Schülern unserer Klasse 951 belegen das oben Gesagte ganz gut, Beide Aufnahmen wurden auf einer Bank vor dem Lehrtrakt gemacht. Die Mädels sind: Brigitte Stangenberg (Biggi),Marie Bohner (Mambo), B. Zotzmann(Teddy) und Helga Merseburger. 8 Die Jungs sind: Jürgen Drude (Drudi), Paul Linke (hieß wirklich so), Meinhard Willer (Rerik), Rolf Hoffmann, Josef Fitz, Peter Behrens, Reinhard Schmidt. Die Klassenbezeichnung hört sich nur kompliziert an, ist aber ganz einfach: Die 9 stand für „Funker“ (Die Ingenieure für Funksendeanlagen hatten die 6, die Techniker-Klassen die 7, die Ton-Ingenieure die 8, die Ziffern 1 bis 5 waren den verschiedenen Fachrichtungen an der Fernmeldeschule Berlin vorbehalten.) Die 5 stand für die letzte Ziffer des Jahres des Ausbildungsbe ginns (bei mir also für 1955), die 1 für die Numerierung der Klassen in einem Jahrgang. Unpraktisch wurde dieses System dann nach einem Jahrzehnt. Ob die Erfinder dieser Numerierung an eine längere Ausbildung als zehn Jahre nicht geglaubt haben? Es wurden schließlich fast vierzig Jahre, in denen Funker ausgebildet wurden. Und die Entwicklung ging von einem quasi Fachschulabschluß bis zu einer kurzen speziellen Funkerausbildung von Facharbeitern für Funksendetechnik und schließlich von Facharbeitern für Fernschreibtechnik. Unsere Unterrichtsfächer Wir kamen mit einem Mittelschulabschluß (also Abschluß der 10. Klasse) an die Funkschule, und der vollgepackte Lehrplan dort hatte in den Anfangsjahren durchaus Fachschulniveau. Diese fundierte Ausbildung erleichterte mir später die Aufnahme meines Studiums an der Universität Rostock. In meiner Klasse wurden die folgenden Fächer unterrichtet: Praktischer Funkbetrieb mit den Disziplinen Hören (Hand und Maschine), Geben, Rekorderstreifen lesen, Lochstreifen Stanzen. (Lehrer: Martin Beiersdorff) Betriebsvorschriften. (Lehrer: Herr Scheidweiler) Betriebsökonomie. (Lehrer: Willi Vehlow/Herr Scheidweiler) Funkgeographie. (Lehrer: Martin Beiersdorff) 9 Elektrotechnik, dazu ein Labor-Praktikum. (Lehrer: Horst Löbig, Labor: Erhard Georgi) Funktechnik. (Lehrer: Gustav Heesch) Mathematik. (Lehrer: Peter Schmidt) Deutsch. (Lehrer: Erich Brendel) Russisch. (Lehrer: Herr Lieson) Englisch. (Lehrer: Frau Neuffer) Französisch. (Lehrer: Frau Neuffer/Herr Scheidweiler) Gesellschaftswissenschaften. (Lehrer: Herr Lang/Otto Heidelbach) Sport. (Lehrer: Horst Pyrtek) Martin Beiersdorff (hier in „Zivil“) und seine Frau bei der Abschlußfeier der allerersten Funkerklasse im Jahre 1956. 10 Martin Beiersdorff war 1955 wohl fast 60 Jahre alt und eine Funker-Legende. Er war lange in Spanien (oder auf der deutschen Relaisstation der Funkverbindung nach Südamerika auf den Kanarischen Inseln?) als Funker tätig gewesen und erzählte aus dieser Zeit einige Storys, denen wir jungen Spunde begierig lauschten. Zum Beispiel schilderte er uns die Gefahren, die einem jungen Mann drohen, wenn er eine unverheiratete spanische Schöne ein wenig länger ansah. Das gelte dort nämlich praktisch als Heiratsversprechen, und man müsse sich darauf gefaßt machen, daß die Eltern des Mädchens umgehend bei einem erschienen, um die Details für die Hochzeit zu besprechen. In allen Belangen des Funkverkehrs war er wirklich ein Fuchs, mit allen Wassern gewaschen. Als ich dann ab 1963 praktisch sein Kollege wurde, lernte ich ihn als sehr toleranten Menschen mit einem besonderen bissig-humorvollen Wesen kennen. Über sein Privatleben wußte aber wohl niemand etwas mehr. Mehrere Jahre wurde er von der Schulleitung immer neu überredet, „noch dieses eine Jahr“ den Unterricht im Praktischen Funkdienst weiterzuführen, weil kein Ersatz für ihn da war. Dabei war er jeden Tag wohl drei Stunden unterwegs, er wohnte in Schöneiche bei Rüdersdorf und hatte ungünstige Verkehrsverbindungen. Der weiße Kittel Im Zusammenhang mit den Lehrern der Anfangszeit ist mir noch eine Besonderheit eingefallen, als ich ein Foto von Martin Beiersdorff im Funksaal sah, das mir Gerhard Stoye freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Profi Beiersdorff hat dort einen weißen Kittel an! Bis weit in die sechziger Jahre war es an der Funkschule üblich, daß die Lehrer der natur-wissenschaftlichen und technischen Fächer einen weißen Kittel im Unterricht trugen. Die Kittel wurden von der Schule gestellt, die Lehrer zogen ihn im Lehrerzimmer vor Unterrichtsbeginn über ihre „Zivilkleidung“. Ursprünglich war dieser weiße Kittel wohl als eine Art Arbeitsschutzkleidung (technische Versuche und Kreidestaub) gedacht, doch später war er eindeutig ein „Rangabzeichen“ der Lehrkräfte der technischen Fächer. Profi Beiersdorff und später Frieder Ullmann, Physiklehrer „Papa“ Kluge und Herbert Lange, aber auch die Mathelehrer Helmut Janke und Hanna Hein bestanden auf ihrem weißen Kittel. Merkwürdigerweise sehe ich in meiner Erinnerung aber auch Willi Vehlow in einem weißen Kittel. Nie hätte sich ein Lehrer der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer trauen dürfen, auch in einem weißen Kittel zu erscheinen. Es war wohl Otto Heidelbach, der einmal versucht hat, für diese einen blauen Kittel einzuführen, aber der hat sich nicht durchgesetzt. Ich kann mir für mich auch nicht vorstellen, im Klassenraum in einem Kittel zu erscheinen. Es gab später für einige Jahre die dienstliche Vorschrift, im Unterricht die PostUniform zu tragen, das war schlimm genug, und es hat erheblichen Nach-Drucks „von oben“ bedurft, um diese Anweisung bei den Lehrkräften der Funkschule durchzusetzen. 11 Frieder Ullmann im weißen Lehrer-Kittel im Funksaal, 1967. Rekorderstreifenlesen für alle! Bei der Aufzählung der Fächer habe ich vorhin auch das „Rekorderstreifenlesen“ erwähnt. Die jüngeren ehemaligen Funker, also die, die in diesen Jahren in Rente gehen, werden vermutlich gar nicht wissen, was das Fach Rekorderstreifen lesen, kurz „Rekorder“, beinhaltete. Dazu muß man erst einmal wissen, daß die Funker an der Funkschule von Anfang an für drei „Bedarfsträger“ ausgebildet wurden, nämlich die Küstenfunkstelle Rügen Radio, das Haupttelegraphenamt (HTA) Berlin und die Funkempfangsstelle Beelitz, später auch den Funkkontroll- und Meßdienst (Radiocon/ZFK). An diesen drei Stellen gab es für einen Funker ganz unterschiedliche Aufgaben. Zur Zeit meiner Ausbildung sah das aus der Sicht der Funkschüler so aus: Funkempfangsstelle Beelitz In Beelitz mußt du bloß ein bißchen hören können, um in einer Sendung ein Rufzeichen zu erkennen, mit einer Taste kommst du da nie Berührung. Haupttelegraphenamt Berlin 12 Im HTA mußt du entweder die endlose Zahl der zu sendenden Telegramme stanzen oder die eingegangenen Telegramme von einem endlosen Rekorderstreifen mit der Maschine abschreiben, und das womöglich in einem Empfangssaal. (Daß die Funkertätigkeit im HTA in Wirklichkeit nicht ganz so eintönig war, daß es dort z.B. auch Funkfernschreiben und Bildfunk gab, daß man mit den Gegenfunkstellen rund um den Globus auch mal per Taste Verbindung aufnehmen mußte, das nahmen wir eingeschworenen Rüganer nicht zur Kenntnis.) Küstenfunkstelle Rügen Radio Wirkliche Funkerei gab es für uns nur in Glowe bei Rügen Radio, nämlich selbst am Empfänger sitzen, die richtige Frequenz suchen und mit der Hand oder der Schreibmaschine die verschiedensten Nachrichten aufnehmen (meist waren es dann eben doch die Einheitstelegramme), mit der Taste in die ganze Welt funken, Sprechfunk gab es da auch, wenn man Glück hatte, sogar Seenotverkehr. Und du bist alleine, höchstens zu zweit in einem Betriebsraum. Und du bist an der See, das ganze Jahr! An der Funkschule mußten aber alle alles lernen, eben auch das Rekorderstreifenlesen, obwohl das nur im HTA gebraucht wurde. Die Begründung war einfach: Das Großfunkzeugnis gilt für alle Stellen, wenn also ein Funker mit diesem Zeugnis seinen Arbe itsplatz wechseln will, kann er das ohne weiteres tun. Bis heute werden die ersten an der Funkschule ausgebildeten Funker sofort wissen, was gemeint ist und grinsen, wenn jemand mit den Händen Schreibmaschine schreiben mimt und dabei den Kopf immer weiter in eine Richtung neigt, bis schließlich der ganze Oberkörper nach dieser Seite verdreht ist, während die Hände immer noch verzweifelt die Tastatur bearbeiten. Ja, so war das, der Papierstreifen lief auf einer Schiene in Augenhöhe an einem vorbei, während man die von einer Schreibnadel aufgezeichneten Ausschläge im Rhythmus eines Morsetextes im Kopf in normale Morsezeichen, diese wieder in Buchstaben, Zahlen und Zeichen übersetzen und dann auch noch blind in die Maschine tippen mußte. Verrückt, bis auf wenige Experten haßten wir alle diese Disziplin, und, verrückt, heute liebe ich diese Recorderstreifen. Ich habe sie vor einigen Jahren sogar in einem LehrerWeiterbildungskurs in England einem sehr interessierten Publikum vorgestellt. Klasse 951 im Funksaal. Vorne: Marianne Piepkorn, Josef Fitz. Dahinter: Almut Schach. Hinten: Wolfgang Buddrus. Ganz hinten: Peter Behrens? Ganz gut zu sehen ist hier die Schiene, auf der der 13 Rekorderstreifen an uns vorbeilief. Noch eine Besonderheit in der Funkerausbi ldung, wie sie zumindest bei Martin Beiersdorff, praktiziert wurde, möchte ich hier erwähnen, weil sie bis auf den heutigen Tag Spuren bei mir hinterlassen hat. Das war die besondere Funkerhandschrift. Bei der Handaufnahme kam es ja weniger auf Schönheit, sondern ausschließlich auf Lesbarkeit, auf Eindeutigkeit an. Der alte Funker-Hase Beiersdorff hatte da mehrere eindrucksvolle Beispiele auf Lager, zu welchen bösen Folgen ein Text führen kann, in dem ein, zwei Buchstaben falsch gelesen wurden, weil sie vom aufnehmenden Funker in Eile eben nicht eindeutig niedergeschrieben wurden. Die besonderen „Funkerbuchstaben“ waren meistens die Buchstaben der alten deutschen Kurrent-Schrift. In drei Etappen zum Ziel Die Funkerausbildung bestand immer aus drei Lehrabschnitten, wenn sich auch der Lehrplan im Laufe der Jahre immer mal änderte, nämlich: Theoretische und funkpraktische Ausbildung I, Betriebspraktikum (praktische Ausbildung am wahrscheinlich zukünftigen Arbeitsplatz), Theoretische und funkpraktische Ausbildung II mit Abschlußprüfung für das Großfunkzeugnis II. Klasse. Unser Betriebspraktikum im Sommer 1956 in Glowe habe ich als ein richtiges Abenteuer in Erinnerung – wir waren 17, 18 Jahre alt. Daß wir uns tatsächlich auf einem historisch interessanten, abenteuerlichen Gelände bewegten, wurde mir erst viel später klar. Das begann schon mit unserer Unterbringung in einer Baracke des Jugendwerkhofs auf dem Gelände des sogenannten A-Lagers. Die Barackenlager in Glowe Die Barackenlager A, B und C in Glowe waren die übriggebliebenen Unterkünfte der etwa 5.000 Bauarbeiter, der Verwaltung und Versorgungseinrichtungen eines 1952 begonnenen, aber im Rahmen des „Neuen Kurses“ im Juni 1953 wieder abgeblasenen großen Bauprojektes der DDR. Bereits Preußen hatte 1855 an diesem Ort die Anlage eines Kriegshafens geplant, das nationalsozialistische Deutschland machte Ernst und begann 1938 mit den Arbeiten zum Kanaldurchstich zwischen Ostsee und Bodden am östlichen Ortsrand von Glowe. Doch auch jetzt wurden die Arbeiten bei Glowe (wie auch die im KdF-Bad Prora) 1940 eingestellt. Nachdem in der internationalen Politik im Frühjahr 1952 klar geworden war, daß es keine Wiedervereinigung Deutschlands und keine gesamtdeutsche Regierung geben würde und daß Kanzler Adenauer wie auch die Westmächte intensiv die Westintegration der Bundesrepublik betrieben, kam es zu dem Beschluß, eine Marinebasis (evtl. sogar U-Boot-Hafen) wiederum im Großen Jasmunder Bodden bei den 14 Banzelvitzer Bergen bei Glowe zu errichten. Ende 1952, auf dem Höhepunkt der Bauarbeiten, kam noch ein Haftarbeitslager hinzu, in dem Ende Mai 1953 etwa 3.000 Häftlinge aus zahlreichen Haftanstalten der DDR untergebracht wurden. Das erst im Frühjahr 1953 fertiggestellte C -Lager war für die Unterbringung weiterer Häftlinge vorgesehen, wurde aber nicht mehr bezogen. Diese großen Barackenlager wurden dann als Betriebs ferienlager (Buna, C-Lager) und Kinderferienlager (Gewerkschaft Unterricht und Erziehung, C-Lager) und für einige Jahre eben auch als Jugendwerkhof genutzt. Als wir zum Praktikum in Glowe eintrafen, wurde der Jugendwerkhof gerade aufgelöst, aber wir brauchten Sonderausweise zum Betreten und Verlassen des Geländes. Es gab zwar viele Gerüchte um den JWH, aber wir haben dort nichts Aufregendes erlebt. Ich erinnere mich nur, daß mich die angestrebte Autarkie des JWH mit eigener Bäckerei, Tischlerei, Landwirtschaft usw. sehr beeindruckte und an Makarenkos Projekte erinnerte. Mein Ausweis für den JWH. Der Eingang zum ehemaligen Jugendwerkhof. Es war ein ziemlich weiter Fußweg bis ans andere Ende des Dorfes zur Empfangsstelle von Rügen Radio. Die Mädchen hatten es besser, die waren in der Nähe in einer Baracke untergebracht, und deshalb hielten wir uns auch meist dort auf. Was unsere Abenteuer aber in Grenzen hielt: Mit uns, sozusagen als Aufsicht, war Miss Neuffer, unsere Englisch-Lehrerin. Und dann das Erlebnis, einem Funker bei der richtigen Arbeit zuzusehen, mehr durften wir ja noch nicht. Oder doch, einige durften schon mal einen Text am Mikrophon vorlesen oder sogar mal einen Sammelanruf tasten. Auf jeden Fall wurde mit diesem Praktikum erreicht, daß wir uns auf Rügen Radio freuten. „Bestanden“ oder „Nicht bestanden“ Am Ende der Ausbildung einer Funkerklasse standen die Prüfungen in den Hauptfächern, die zumindest mit „bestanden“ bewertet werden mußten, wenn man das Großfunkzeugnis II. 15 Klasse erhalten wollte. Die beiden Haupthürden hießen Praktischer Funkdienst und Englisch. Gerade bei den Disziplinen im Praktischen Funkdienst kam es immer auch auf die Form am Prüfungstag an. Und wenn sich jemand kontinuierlich gesteigert hatte, galt das für die Prüfungskommission mehr als eine offensichtlich „verpatzte“ Prüfungsarbeit. Das war vor allem auch die Einstellung des Vorsitzenden der Prüfungskommission, des Abteilungsleiters Aus- und Weiterbildung der Werktätigen (AWW) Erhard Georgi. Die Lehrerkollegen und die Funkerausbildung überhaupt hatten ihm viel zu verdanken. Auch er stammte aus der Generation der ersten an der Funkschule Königs Wusterhausen ausgebildeten Ingenieure. Gefeiert wird auf jeden Fall Nachdem „bestanden“ und „durchgefallen“ verkündet und die Zeugnisse überreicht waren, gab es in jeder Klasse selbstverständlich eine zünftige Abschlußfeier. Häufig nahmen daran dann auch die „Durchfaller“ teil, was das Lehrerkollegium immer förderte, denn es ging ja auch um die gemeinsam an der Funkschule verbrachte Zeit. Für diese Abschlußfeiern gab es drei Möglichkeiten, wenn man nicht in einem Klassenraum an der Schule feiern wollte: Das war anfänglich das U-Boot, also der „Goldene Adler“ in der Berliner Straße, mit der rothaarigen Mary im Schankraum unterhalb des Straßenniveaus, dann der „Fröhliche Hecht“ in der heutigen Schloßstraße, ein paar Treppenstufen hoch, schließlich abe r immer häufiger das gemütliche „BQ“ (HO-G „Bärenquell“, später Hoehnke) hinter der Kirche, da hatte man einen kleinen separaten Raum. An den Wochenenden fanden sich die Funker (meine Klasse eingeschlossen) auch gerne in Neue Mühle ein, zum Bootfahren auf dem Krimnicksee oder „auf ein Bier“ im Gartenlokal vor der Schleuse. Oh ja, gefeiert haben die Funker immer gerne! Die Absolventenlenkungskommission (oder wie das Gremium hieß) hatte wohl immer Schwierigkeiten, den Wünschen aller Beteiligten gerecht zu werden, denn insgesamt zuwenig Funker gab es eigentlich immer. So mußte ich mich von meiner Freundin trennen, sie blieb wie fast alle Berliner in Berlin, und von meinem guten Freund und Zimmerkumpel Gerhard Schäfer, der nach Beelitz ging, denn für mich kam nur Rügen Radio in Frage, ich kam ja aus dem Norden. Einzug in Glowe Nach dem zweiten Jahr in Königs Wusterhausen war es dann so weit: Fünf Jungs und drei Mädels aus meiner Klasse 951 kamen am 15. Juli 1957 als 16 frischgebackene Funker nach Glowe. Jetzt wurden wir nur für kurze Zeit am Anfang in einer Baracke untergebracht, dann konnten wir in den gerade fertiggestellten massiven Neubau des Ledigenwohnheims einziehen – Jungs oben, Mädels unten. (Das ist das graue Gebäude, das parallel zur Straße steht und seit der Schließung der Funkstelle leer steht und mehr und mehr vergammelt.) Das Zimmer, das ich mit zwei Freunden aus meiner Klasse teilte, war recht groß und lag direkt über dem Klubraum, manchmal hörten wir den Fernseher von dort. Unser Fenster an der Giebelseite des Gebäudes konnte man schon von weitem sehen, wenn man aus dem Dorf kam. (Dörfliches Kopfsteinpflaster natürlich, die Straße verlief damals noch in einem großen Bogen bis zur Schulbaracke.) Schräg unter uns lagen der Speisesaal und die Küche mit der legendären Köchin Erna Bernstein. Der Speisesaal war auch der Ort, an dem wir später so manches wilde Fest gefeiert haben. Es ist mir in schöner Erinnerung geblieben, wie mein Freund und Zimmerkumpel Peter Behrens und ich tagelang an den Dekorationen gearbeitet haben, und wir hatten Mädchen „von draußen“ (in unserem Fall vom Fernamt Sassnitz) eingeladen. Ja, die Mädchen … (Wir waren 18, 19 Jahre alt!) Da waren im Sommer die Gruppenleiterinnen aus dem Ferienlager der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung im C-Lager, die waren etwa unsere Kragenweite, aber dann abends beim Tanz im Kurhaus waren wir Funker zwar gefragter als die Fischerjungs aus dem Dorf, es kamen auf ein Mädel aber wohl immer mindestens drei Bewerber. Moralvorstellungen anno 1957 An eine aus heutiger Sicht lustige Begebenheit bei der Aufteilung der Neuen auf die Zimmer kann ich mich noch erinnern. Als wir gefragt wurden, mit wem wir zusammen auf ein Zimmer wollten, nannte ich einen guten Freund von mir. Aber ich sollte noch einen dritten für dieses Zimmer nennen, Zweibettzimmer gäbe es prinzipiell nicht, das könnten wir uns ja denken. Ich konnte mir gar nichts denken und mußte später erst darüber aufgeklärt werden, daß man zwei jungen Männern (auch Mädchen?) aus moralischen Gründen „oder so“ nie ein gemeinsames Zimmer gab. Jetzt erst fiel mir auf, daß wir an der Funkschule auch nur Dreibettzimmer hatten. Ich fand das doof, und meine Meinung hat sich da nicht geändert. Nach meiner Erfahrung bildet sich immer eine gute Zweierfreundschaft heraus, bei der der Dritte dann abseits steht. Von homosexuellen Beziehungen habe ich in meiner Jugendzeit nie etwas erfahren. Aber wir mußten uns den herrschenden Moralnormen natürlich fügen. Wir sind wer! Der wahrscheinlich Standesbewußteste aus unserer Klasse hatte anfangs ein Schild mit dieser Aufschrift an seine Zimmertür geheftet: „G. Fiege – op. naut. vulg.“, was 17 wohl dem Dr. med. dent. nachempfunden war und „Gewöhnlicher Seefunker“ bedeuten sollte. Ich fand das richtig gut. Noch kein I.-Klasse-Mann, aber eben doch schon fertiger Seefunker – na ja, er hat vielleicht nicht gewußt, was „Inhaber des Großfunkzeugnisses II. Klasse mit derzeitigem Einsatz im Küstenfunkdienst“ auf Lateinisch heißt. Aber ehrlich, das hätte sich auch nicht sehr aufregend angehört. Der erste Arbeitsvertrag in meinem Leben war der vom Leiter des Amtes, Steiger, unterschriebene Arbeitsvertrag mit der Küstenfunkstelle Rügen Radio vom 15.7.1957. Danach bekam ich in der Gehaltsgruppe T II ein monatliches Bruttogehalt von 376 DM und 18 Arbeitstage Urlaub im Jahr. Später wurden wir in die Gehaltsgruppe T III (376,DM mtl. brutto) eingestuft, und 1958 bekam ich dann für eine „Leistungsstufe“ noch 66,- DM, so daß ich am Ende ein monatliches Bruttogehalt von 498 DM hatte. Auch diese Schriftstücke besitze ich noch. Natürlich hören sich 498 Mark Brutto monatlich heute lächerlich an, aber wenn man diesen Betrag ins Verhältnis zu den damaligen Preisen setzt, macht dieses Gehalt schon einen anderen Eindruck. Für das Kantinen-Mittagessen bezahlten wir nicht einmal eine Mark, und die Miete machte etwa 4 Prozent des Gehalts aus. Aber das Wichtigste war: Bei Rügen Radio verdiente ich zum ersten Mal in meinem Leben selbst Geld mit meiner Arbeit! Dieses Hochgefühl bei der Entgegennahme der ersten Lohntüte (Gehaltskonten waren damals noch unbekannt) war phantastisch und verführte so manchen von uns auch zu nicht gut überlegten Ausgaben. Was kostet die Welt? Auf ins Dorf: Jürgen Drude, Schorsch Fiege, Wolfgang Buddrus. Unten: mit Peter Behrens. Es fehlt: Jimmy Adler. 18 Peter hat dann aber doch noch den Finger von der Linse genommen. War das schon symbolisch gemeint? Wer bleibt? Wer geht? Bei Rügen Radio Ende der 1950er Jahre Welche Erinnerungen vom Ende des ersten Jahrzehnts der Küstenfunkstelle Rügen Radio sind geblieben? Ein Blick aus einem Fenster des Wohnheims auf das markante weiße Empfangsgebäude. Das Verwaltungsgebäude rechts steht hier noch nicht. 19 Was die Arbeit angeht, muß ich vor allem die Angst etwas falsch zu machen, in einer kritischen Situation zu versagen nennen. Diese Angst führte bei mir zu Verkrampfungen beim Geben und dann zu wirklichen Fehlern. Es gab diesen Druck, der durch Bemerkungen des Mentors und manchmal auch des Wachleiters noch verstärkt wurde: Was du jetzt hier gibst, hört die ganze Welt, zumindest die ganze Ostsee, du kannst den Ruf von Rügen Radio versauen, wenn du einen Bolzen schießt. Eine gefürchtete und in ihren Kommentaren nicht gerade zimperliche Me ntorin war Irene Selke, die ihre Ausbildung an der Seefahrtschule Wustrow erhalten hatte, glaube ich. Bei ihr war man nicht gerade gerne Assi, weil sie immer ihre Überlegenheit hervorkehrte. Die zweite Funkerin, die ihre Ausbildung in Wustrow erhalten hatte, war Barbara Ziebell. Sie war mit uns Neulingen ein bißchen nachsichtiger, und glücklicherweise war ich die längste Zeit bei ihr Assi. Wenn ich mich nicht sehr irre, waren diese beiden gezwungenermaßen zu Rügen Radio gekommen, weil sie nach Abschluß ihrer Ausbildung an der Seefahrtschule Wustrow dann doch nicht zur See fahren durften, weil sie Frauen waren. Mein Wachleiter war Martin Steinert, mit dem ich dann immer besser zurechtkam; wir führten nachts in der verkehrsarmen Zeit viele Gespräche über Kunst und Literatur und Innenarchitektur, auch über politische und weltanschauliche Fragen. Die anderen Wachleiter waren Ernst(Albrecht) Lahl, Karl-Heinz (Hein) Meyenberg und Ewald Stramm, den ich wegen seines ruhigen, verständnisvollen Umgangs mit uns Anfängern besonders schätzte. Ein Seenotfall auf 2182 kHz, also Sprechfunk, aus meiner Dienstzeit bleibt mir unvergeßlich. Da war ein holländisches oder griechisches Kümo bei dem Versuch, statt des Zwangsweges 1 eine Abkürzung zum Weg nördlich Rügen zu nehmen, nordöstlich Darßer Ort auf Grund gelaufen war. Die Lage für das Schiff war ernst, es nahm Wasser in schwerer See, und der den Funkdienst ausübende Kapitän wurde immer hektischer. Die Rettungskräfte an Land waren zu alarmieren und laufend zu informieren, das Schiff mußte über die eingeleiteten Maßnahmen auf dem laufenden gehalten werden. Die Mannschaft wurde geborgen, das Schiff sank später. Als ich die vorgeschriebene Meldung zur Beendigung des Notverkehrs gesendet hatte, sank ich schweißnaß auf meinem Stuhl zusammen. Mein Wachleiter stand hinter mir, wohl schon die ganz Zeit, klopfte mir kurz auf die Schulter, sagte „Ganz gut gemacht“ und verschwand wieder in seinem Dienstzimmer. Das war das äußerste Lob, das ich bei Rügen Radio als Funker jemals bekommen habe. 20 Die Küstenfunkstelle vom Ufer aus gesehen etwa 1958. Es gibt noch keinen Anbau an das Empfangsgebäude und auch das Verwaltungsgebäude steht noch nicht. Die ununterbrochene Überwachung der Seenotfrequenzen nahmen wir alle immer sehr ernst, und mit der Zeit war das Gehör im selektiven Hören so geschult, daß man das Not- und das Dringlichkeitszeichen schon im Ansatz erkannte und sofort zum Stift griff. Bei Rügen Radio waren die Arbeitsplätze für beide Notfrequenzen in einem Raum (zu meiner Zeit jedenfalls, gleich der erste Raum rechts), was sich oft als Vorteil erwies, weil die beiden Funker sich direkt durch Zuruf verständigen konnten. Und es gab eine ganze Reihe spektakulärer Seenotfälle unter der Leitung von Rügen Radio; hoffentlich finden sich noch rechtzeitig ein paar ehemalige Funker, um auch das interessante Gebiet der Seenotfälle und des funkärztlichen Beratungsdienstes zu dokumentieren. Die Geschichte mit om Keller, die von einigen für eine Legende gehalten wird, habe ich tatsächlich selbst miterlebt. Es war während einer Frühschicht, glaube ich, da rief ein Funkerkollege ganz aufgeregt aus seinem Raum in den Flur: Kommt mal her, ich habe hier ganz was Komisches. Da rief tatsächlich einer DHS von einem fünfstelligen deutschen Rufzeichen. Ganz einwandfrei, ein Verrückter oder Besoffener. Doch nach einer Beantwortung des Anrufs durch unseren Kollegen gab er ganz sauber viele Grüße an die Ex-OMs, verabschiedete sich und verschwand von der Frequenz. Der Vorfall 21 wurde erst Tage später aufgeklärt, und zwar als eine zwar illegale, aber nette Botschaft eines ehemaligen DHS-Funkers, der jetzt bei der Interflug arbeitete und mit einer überholten Maschine von Dresden aus zu einem Probeflug über Rügen unterwegs war. Sein Name soll Keller gewesen sein. Ob der Vorfall in das Funktagebuch aufgenommen wurde, ist mir nicht bekannt. Kurzwellentelefonie In die letzte Zeit meiner Tätigkeit als Funker bei Rügen Radio fielen die ersten Versuche mit dem Funksprechverkehr auf Kurzwelle. Dafür war der letzte Raum links, gegenüber der Telegraphie-Kurzwelle, eingerichtet, und es gab Spezialisten, die sich damit befaßten. Wir fanden das alle sehr spannend und freuten uns über jeden gelungenen Versuch und eine stetige Verbesserung der Qualität der Verbindung. Viel Ärger bereitete wohl die Funkgabel, das war die Verbindungsstelle zwischen Funkverbindung und drahtgebundenem Landnetz, wenn ich mich recht erinnere. Hier ist vielleicht auch der Platz, an einen erfahrenen und höchst verdienstvollen technischen Mitarbeiter zu erinnern, nämlich an Rolf Zeuschner. Er war ein Alleskönner und zu uns Anfängern immer fair und hilfsbereit. Abteilungsleiter Technik war Hans Hartmann, der nach einer kürzeren Zeit als Amtsleiter dann zum Funkamt Schwerin wechselte. Der Haupteingang in dem Zustand von 1958 mit dem markanten „Firmenschild“. In die Zeit meiner kurzen Rolle als Funker bei Rügen Radio muß auch der Wechsel des Amtsleiters gefallen sein. Höchst unangenehme Erinnerungen habe ich an den Amtsleiter Steiger, der uns einstellte. Er wurde von Willi Schulz, einem 22 passionierten Jäger, abgelöst, der viel vernünftiger mit uns umging. Nach dessen frühem Tod übernahm mein ehemaliger Klassenkumpel und Freund Georg Fiege die Leitung, und er war in dieser Funktion bis zur Übernahme des Funkamtes durch die Telekom der BRD am 3. Oktober 1990. Die Nachtschichten waren oft tödlich langweilig. Die Kurzwelle vielleicht ausgenommen, passierte zwischen 3 Uhr und Schichtende um 6 Uhr morgens meist gar nichts. Das war die Zeit, in der ich immer mehr rauchte und Kaffee trank. Im Sommer konnte man wenigstens am offenen Fenster stehen und der Nachtigall lauschen, die regelmäßig in den Büschen zwischen den Antennenmasten sang. Es kam auch vor, daß man sich mit einem Kollegen im Nachbarraum über die Gegensprechanlage unterhielt. Daß wir manchmal ziemlich lange und sehr private Telefongespräche mit einem Mädel vom Fernamt Sassnitz führten, traue ich mich erst heute zuzugeben. Auf diese Weise lernte ich übrigens meine erste richtige große Liebe kennen, meine Anne aus Sassnitz. Der „Landfunk“ In den warmen Sommernächten hatten wir die Fenster weit offen wegen der frischen Luft, denn die meisten von uns qualmten ja wie die Schlote. Manchmal hörte man sogar die Brandung von unten an der Steilküste. Was wir gar nicht mehr bewußt wahrnahmen, das war das Krähen der Hähne am frühen Morgen, das Quaken der Frösche und das Jubilieren der Vögel. Manchmal schlossen wir die Fenster auch nicht, wenn der Seewetterbericht mit den vielen Sprechpausen zu verlesen war, so daß auch alle diese Nebengeräusche übers Mikrofon in die Welt verbreitet wurden. Auf diesen Umstand wurden wir erst von einigen Bordfunkern aufmerksam gemacht, die das überwiegend mit Humor vermerkten, da fiel auch der Begriff „Landfunk“. Unser Chef aber fand das wohl nicht so lustig und erließ eine entsprechende Anweisung. Die Schwedenfähren Ein fester Posten im Grenzwellenverkehr (UKW kannten wir damals noch nicht) waren die Ladungsmeldungen der von Trelleborg kommenden Schwedenfähren an die Hafenmeisterei Sassnitz, damit man sich dort auf eine zügige Entladung vorbereiten konnte. Das Gespräch mit den Funkern der „Starke“, „Konung Gustav V“ und „Trelleborg“ empfand ich immer als eine schöne Abwechslung, sie hatten diesen schönen schwedischen Akzent in ihrem Deutsch. Schon nach kurzer Zeit 23 kam bei mir der Ehrgeiz auf, ihnen hier und da auf Schwedisch zu antworten. Was ich nicht im Wörterbuch fand oder nicht richtig aussprechen konnte, fragte ich sie, und sie halfen gerne, bis wir dann den gesamten Verkehr auf Schwedisch abwickelten. Irgendwann freundete ich mich mit Walter Brandt an, und manchmal tauschte ich mit einem Kollegen sogar den Arbeitsplatz, wenn ich ihn an der Frequenz erwartete. Wir verabredeten uns in Sassnitz, verfehlten uns aber. Seine Briefe habe ich noch, da steht zum Beispiel „Jag förstår Din svenska mycket bra.“ Als ich ihn 2003 in Trelleborg besuchen wollte, erfuhr ich von den Nachmietern seiner Wohnung, daß er vor fünf Jahren gestorben war. Tågfärja „Trelleborg“ i Sassnitz, 1959 Der Strand Unvergeßlich bleiben die Stunden nach einer überstandenen Nachtschicht im Sommer, denn dann holten wir uns nur etwas zu essen und zu trinken, nahmen 24 eine Decke unter den Arm und zogen los zum Strand. Dort schliefen wir, bis das damals noch sehr bescheidene Strandleben uns wach machte. Unser bevorzugtes Ziel war die Gegend um den Flakturm, dieser militärischen Ruine aus dem Krieg, fast auf halbem Wege nach Juliusruh. Das war die paradiesische Zeit, als zwischen einer Strandburg und der nächsten noch 20 Meter oder mehr lagen. FKK war selbstverständlich; Baden in Kleidung war für uns absurd. Allerdings: Wo sich heute der Jachthafen befindet (oder muß ich „Marina“, so wie die Margarinesorte, sagen?), stand zu meiner Zeit ein fürchterlich stinkender Schweinestall, und beim Dunkelwerden oder gar nachts ging man besser nicht an den Strand, denn dann konnte man leicht auf eine Streife (wahrscheinlich der „Grenzbrigade Küste“) stoßen, die den Ausweis sehen wollte . Betriebssportfeste, Musik und Bücher Zu unserer Zeit gab es Betriebssportfeste bei Rügen Radio. Die Sprintstrecken wurden auf der Straße vor dem Funkamtsgelände markiert, ja, bei dem damaligen Verkehr war das noch möglich. An einen sehr schönen und erfolgreichen selbstgestalteten Mozartabend im Speisesaal kann ich mich gut erinnern, bis vor meinem letzten Umzug hatte ich sogar noch mein Manuskript dazu. Mit Eva Schultz und Irmgard Fritzsche (geb. Kokles) brachten wir eine Lesung aus einer Mozart-Biographie, dazu Musikbeispiele von Schallplatte. Mit klassischer Musik verbinden sich auch meine Gedanken an Ernst Lahl. In seinem Zimmer – man stieß auf seine Tür, wenn man im Wohnheim die Treppe hoch kam – hörte ich mit ihm tief bewegt das Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowski. Auch als später der Beginn dieses Konzerts zur Erkennungsmusik des Weihnachtssolidaritätskonzerts des DDR-Rundfunks „Dem Frieden die Freiheit“ wurde, mußte ich immer an diesen einsamen Menschen denken. Es gab bei Rügen Radio eine Gewerkschaftsbibliothek, die von Frau Lange oder Frau John verwaltet wurde, glaube ich. Zwei, drei Bücher von dort hatte ich immer auf dem Zimmer. Zu unserer Lektüre gehörten vor allem die abenteuerlichen Erlebnisse der Arktisforscher und die Rolle der Funker dabei, z.B. „Die Geburt auf dem Gurkenland“ von Boris Gorbatow (erschienen 1952), die Geschichten und Berichte über den legendären Eisbrecher „Krassin“, den sowjetischen Funker Ernst Krenkel, die „Tscheljuskin“ und die Polarexpedition „Nordpol 1“, die Nobi le-Katastrophe. Autor: Wolfgang Buddrus www.ruegen-radio.org 25 Herr Hummel war schon zu meiner Zeit nicht mehr der Jüngste, wie man so sagt. Er schied gerade aus dem aktiven Funkdienst aus, wenn ich mich recht erinnere. Er war aber auch erfolgreicher Sportschütze (KK-Pistole) und versuchte, uns junge Burschen als Nachwuchs zu gewinnen. Am Strand unter dem Steilufer trainierten wir bei ihm, man stelle sich das heute vor! Zu dieser „alten Garde“ der Funker, die jetzt am Ende ihres Berufslebens standen, gehörte auch Walter Pott, dessen Sohn Joachim auch Funker und später Wachleiter wurde. Über die Herkunft und Ausbildung dieser allerersten Funker ist mir leider nichts bekannt. Meister Hummel beurteilt das Trefferbild. Horst Waldeck war der Hauptbuchhalter bei Rügen Radio und fuhr dann einige Zeit als Zahlmeister auf dem Typ-IV-Schiff der DSR MS „Berlin“, das sollte wohl so eine Art Erfahrungsaustausch sein. Als sein Schiff dann mal (zur Reparatur?) in Warnemünde lag, haben wir ihn an Bord besucht. Dabei erfuhr ich doch mit einiger Überraschung, welches Bier (nämlich Rostocker Hafenbräu) in welchen Mengen (nämlich kistenweise) von den Seeleuten konsumiert wird. Zu einigen vom grün uniformierten Betriebsschutz entwickelte sich mit der Zeit auch ein freundschaftliches Verhältnis, sie waren ja kaum älter als wir. Aber den Betriebsausweis durfte man nicht vergessen, sonst mußte man an der Wache beim Eingang zum Betriebsgelände tatsächlich noch einmal umkehren und ihn von oben holen. Autor: Wolfgang Buddrus www.ruegen-radio.org 26 Die Hauptstraße in Glowe 1957/58. Im Vordergrund die Gaststätte „Zur Schaabe“, hinten das weiße Haus kannten wir als „Kurhaus“, in dem wir zum Schwof gingen. Fast am (damaligen) Ortsausgang in Richtung Juliusruh gab es ein Landambulatorium mit dem be rühmten Dr. Schwertz und Schwester Marlies, der Frau meines Wachleiters. Dort habe ich die be rühmte Schwertzsche Schwitzpackung, das erfolgreiche Heilmittel gegen Erkältungskrankheiten, kennengelernt. Nach höchstens einer Woche konnte man geheilt entlassen werden. Die Reste der Erdarbeiten für den geplanten Kanaldurchstich von der Ostsee zum Großen Jasmunder Bodden fanden wir gleich hinter dem Funkamt und dann auf der anderen Straßenseite bis hin zum Bodden. Dieses Gelände zu erforschen war natürlich ungeheuer spannend. Ohne das Hintergrundwissen von heute wußten wir nur, daß da vor nicht langer Zeit etwas Geheimnisvolles vor sich gegangen war. Wir fanden halbverrostete Geschoßhülsen, 2 cm oder größer, das gab Nahrung für alle möglichen Spekulationen. (Damals wußten wir noch nicht, daß diese Geschoßhülsen von den Aktivitäten der Flakstellungen zeugten, die hier in den Kriegsjahren bestanden hatten.) Und wir waren bei einem Großeinsatz dabei, als die kahlen Flächen zwischen Straße und Bodden (wohl auch ein Überbleibsel dieses begonnenen wahnwitzigen Kanaldurchstichs) mit Pappeln aufgeforstet wurden. Wenn ich heute, im Jahr 2009, durch den hohen Pappelwald dort gehe, stelle ich mir mit gemischten Gefühlen immer wieder vor, wie wir seinerzeit Löcher in den Sand gruben und die ein bis zwei Meter hohen Pappeln einsetzten, in Reih und Glied. 27 Mit Verwunderung denke ich heute daran, wie wenig wir eigentlich von Rügen wußten, wir kamen durch den Schichtdienst nicht zu größeren Unternehmungen und hatten dann wohl auch keine Lust dazu. Ich mochte immer die Boddenseite ganz besonders, den Weg am Ufer an Alt Glowe vorbei, dann durch den Blaubeerwald bis fast nach Breege, was man eben so zu Fuß erreichen konnte. Mit dem Fahrrad, ich mußte es mir von meinem Kumpel Jürgen Drude borgen, fuhr ich bis zum Bahnhof Sagard, dort gab ich das Rad bei der Gepäckaufbewahrung auf und fuhr mit der Bahn nach Sassnitz zu meiner Freundin. Die Fotos, die wir damals auf dem Findling „Klein Helgoland“ machten, gehören heute zu meinen besonders gehüte ten Schätzen. Nach Bergen kam man ab und zu mit dem Bus, weiter nie. Daß einer von uns, nämlich Schorsch Fiege, dann ein 250-ccm-Motorrad AWO Sport hatte, war eine Sensation. Schorsch stellte sich glücklicherweise nicht so pingelig an, wir machten so manche halsbrecherische Geländefahrt im Wald der Schaabe auf dem Gelände, das später der Zeltplatz wurde. Hausarbeiten zum Großfunkzeugnis I. Klasse Zumindest bei Rügen Radio wurde angestrebt, nach dem ersten Berufsjahr die Prüfung für das Großfunkzeugnis I. Klasse abzulegen. Das war für den Funker nicht nur eine Prestigefrage, als Funker I. Klasse bekam man ja auch ein höheres Gehalt. Die Prüfung bestand natürlich aus einer praktischen Prüfung, aber man hatte auch in halbjährlichem Abstand zwei Hausarbeiten anzufertigen. Meine Hausarbeit für das zweite Halbjahr besitze ich noch heute, sie hatte das Thema „Die Entwicklung des Funk verkehrs mit besonderer Berücksichtigung des Seefunkdienstes“. Na ja, zur Prüfung habe ich mich dann aber nicht mehr beworben, meine Begeisterung für den Funkerberuf war durch den Schichtdienst, die praktisch nicht vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten und den für einen ledigen jungen Mann nicht gerade attraktiven Standort Glowe doch ziemlich verflogen. Mit einigen Schwierigkeiten kam ich im Herbst 1959 von Rügen Radio los und ging nach Rostock, wo ich dann schließlich an der Universität mein Studium aufnahm. Es blieb also bei meinem Großfunkzeugnis II. Klasse Nr. 165, unterschrieben von Herrn Klose, Bereich Rundfunk und Fernsehen des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen. 28 Ein neues Kapitel: Als Lehrer an der Funkschule Im Sommer 1963 legte ich an der Universität Rostock mein Staatsexamen ab, und bereits im September begann ich meine Lehrtätigkeit an der Funkschule in Königs Wusterhausen. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, an der Schule, an der ich erst vor wenigen Jahren als Funker ausgebildet worden war, jetzt als Lehrer selbst Funker auszubilden. Für meine Stellung an der Funkschule hatte das Vor- und Nachteile. Meine erste Funkerklasse, die ich an der Funkschule in Englisch und Französisch unterrichtete, war die 921. Das waren 29 Schüler, von denen 22 dann im Juli 1964 die Prüfung bestanden. Ich war nicht viel älter als die Schüler. In dieser Klasse 921 waren auch noch Martin Beiersdorff und Willi Vehlow tätig, dann Herbert Lange in Funktechnik und Herr Borchers in Deutsch, der den schönen Brauch eingeführt hatte, jede Unterrichtsstunde mit einem Gedicht unter der Überschrift „Perlen der deutschen Literatur“ zu beginnen. Aus dieser Klasse sind später mehrere leitende Mitarbeiter bei Rügen Radio und erfahrene Funker bis zum letzten Tag geworden. Es ist mir eine Freude, mit mehreren von ihnen immer noch freundschaftlich verbunden zu sein. Was ist einem Funker von seiner Ausbildung geblieben? Also ich profitiere seit Jahrzehnten sehr von de m 10-Finger-Blind-Schreiben auf der Tastatur (einst Schreibmaschine, heute PC-Tastatur), das wir alle lernen mußten. Bei der obersten Zeile mit den Ziffern und Zeichen muß ich aber immer noch hinsehen, da habe ich in der Schule gebummelt. In Englisch sollte sich eigentlich jeder im Urlaub verständigen können. Diejeni gen, die Französisch und Russisch lernen mußten, können zumindest Wörter und Sätze in diesen Sprachen lesen und korrekt aussprechen. Sie haben alle eine elektrotechnische und funktechnische Grundausbildung, die im Alltag durchaus nützlich sein kann. Sie haben ganz ordentliche geografische Kenntnisse und wissen mehr von der Seefahrt als der Durchschnittsbürger, das kann z.B. für seesportliche Aktivitäten ganz nützlich sein. Und wer will, kann im Verkehr mit Eingeweihten sehr platzsparend die QGruppen und andere Funkbetriebsabkürzungen verwenden. Wir waren Mitgestalter einer wesentlichen Etappe in der Entwicklung der drahtlosen Kommunikation und schließlich Zeugen ihres Übergangs zur weltweiten Satellitenkommunikation. Und das ist nicht wenig. Altefähr, Juli/August 2009 Wolfgang Buddrus Autor: Wolfgang Buddrus www.ruegen-radio.org 29