Kapitel 5 Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen

Transcription

Kapitel 5 Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
ΚΥΜ 8
ϑΟΣΕΦ ΕΥΛ ςΕΡΛΑΓ
Σχηριφτεν ζυ Κοοπερατιονσ− υνδ Μεδιενσψστεµεν ! Βανδ 8
Ηεραυσγεγεβεν ϖον ςολκερ Ωυλφ, ϑργ Ηαακε, Τηοµασ Ηερρµανν, Ηελµυτ
Κρχµαρ, ϑοηανν Σχηλιχητερ, Γερηαρδ Σχηωαβε υνδ ϑργεν Ζιεγλερ
Εφφεκτιϖεσ Λερνεν ερφορδερτ ινδιϖιδυελλε υνδ κοοπερατιϖε Λερνπηασεν. Ωηρενδ β−
λιχηε Λερνπλαττφορµεν ηαυπτσχηλιχη ινδιϖιδυελλεσ Λερνεν υντερσττζεν, ζιελεν κο−
οπερατιϖε Υµγεβυνγεν ϖορωιεγενδ αυφ δασ Λερνεν ιν Γρυππεν. ∆ιεσε Αρβειτ στελλτ
εινε Κονζεπτιον φρ ϖιρτυελλε Λερνυµγεβυνγεν ϖορ, διε ινδιϖιδυελλεσ υνδ κοοπερατι−
ϖεσ Λερνεν ιντεγριερτ υνδ φλεξιβλε ⇐βεργνγε ερµγλιχητ.
∆ιε ζεντραλε Ιδεε ιστ εσ, δεν Κοντεξτ δεσ κοοπερατιϖεν Λερνενσ ζυρ Υντερσττζυνγ
δεσ Λερνπροζεσσεσ ηερανζυζιεηεν. Κοντεξτυελλεσ κοοπερατιϖεσ Λερνεν, δ. η. αυφ
Βασισ δεσ Κοντεξτεσ υντερσττζτεσ κοοπερατιϖεσ Λερνεν, ερφορδερτ εινε γεειγνετε
Ρεπρσεντατιον υνδ Νυτζυνγ δεσ Κοντεξτεσ.
∆ιε Αρβειτ αναλψσιερτ διε Ανφορδερυνγεν αν σολχηε Λερνυµγεβυνγεν ανηανδ δερ
ρελεϖαντεν τηεορετισχηεν Γρυνδλαγεν, εινεσ Σζεναριοσ αυσ δερ Ωειτερβιλδυνγσ−
πραξισ σοωιε εξιστιερενδερ Ανστζε υνδ Σψστεµε. Εινε διδακτισχηε Αναλψσε λιεφερτ
διε Παραµετερ δεσ Κοντεξτεσ. Εσ ωιρδ γεζειγτ, ωιε εινε Λερνυµγεβυνγ δεν Κον−
τεξτ φρ διε Ιντεγρατιον ινδιϖιδυελλεν υνδ κοοπερατιϖεν Λερνενσ νυτζεν κανν (ζ. Β.
δυρχη διε Ζυσαµµενστελλυνγ σιννϖολλερ Λερνγρυππεν).
∆ερ Ανσατζ ωυρδε ιµ ΒΜΒΦ−Προϕεκτ Λ≥ υµγεσετζτ υνδ εϖαλυιερτ. ∆ιε Λ≥−Υµγεβυνγ
ερλαυβτ ινδιϖιδυελλεσ Λερνεν µιτ ωεβ−βασιερτεν Κυρσεν, σποντανε Κοοπερατιον ζωι−
σχηεν Λερνενδεν υνδ Λεηρενδεν σοωιε διε Βεαρβειτυνγ ιµ Κυρσ ιντεγριερτερ κο−
οπερατιϖερ Αυφγαβεν ιν Λερνγρυππεν. ∆ιε Ερφαηρυνγεν αυσ δερ Υµσετζυνγ δεσ Αν−
σατζεσ υνδ αυσ δεµ πρακτισχηεν Εινσατζ δερ Υµγεβυνγ ζειγεν διε Μαχηβαρκειτ
υνδ Ακζεπτανζ κοντεξτυελλερ Κοοπερατιον ιν ϖιρτυελλεν Λερνυµγεβυνγεν.
Μαρτιν Ωεσσνερ, γεβορεν 1966 ιν Αλζεναυ−Ωασσερ−
λοσ, στυδιερτε 1986–1992 Ινφορµατικ (∆ιπλ.−Ινφορµ.)
υνδ 1991–1997 Βερυφσπδαγογικ (Μ. Α.) αν δερ ΤΗ
∆αρµσταδτ. 1992–1997 ωαρ ερ ωισσενσχηαφτλιχηερ
Μιταρβειτερ αµ Λεηρστυηλ φρ Βερυφσ− υνδ Ωιρτσχηαφτσ−
πδαγογικ δερ ΡΩΤΗ Ααχηεν. Σειτ 1997 ιστ ερ ωισ−
σενσχηαφτλιχηερ Μιταρβειτερ αµ Φραυνηοφερ ΙΠΣΙ (βισ
2000: ΓΜ∆−ΙΠΣΙ) ιν ∆αρµσταδτ. Σειτ 2001 λειτετ ερ
αµ ΙΠΣΙ δεν Φορσχηυνγσβερειχη ΧΟΝΧΕΡΤ – Κο−
οπερατιϖε Υµγεβυνγεν υνδ Ε−Λεαρνινγ – σοωιε
δασ ΧΣΧΛ−Κοµπετενζζεντρυµ. Μιτ εινεµ ιντερδισ−
ζιπλινρεν Τεαµ κονζιπιερτ, ρεαλισιερτ υνδ εϖαλυιερτ
ερ δορτ Λσυνγεν φρ χοµπυτεργεσττζτεσ κοοπερα−
τιϖεσ Αρβειτεν υνδ Λερνεν. Ιµ ∆εζεµβερ 2004 ωυρ−
δε ερ ϖοµ Φαχηβερειχη Ινφορµατικ δερ ΤΥ ∆αρµ−
σταδτ ζυµ ∆ρ.−Ινγ. προµοϖιερτ.
ωωω.ευλ−ϖερλαγ.δε
ΙΣΒΝ 3−89936−416−3
! 44,− (∆)
Ωεσσνερ ! Κοντεξτυελλε Κοοπερατιον ιν ϖιρτυελλεν Λερνυµγεβυνγεν
Σχηριφτεν ζυ Κοοπερατιονσ− υνδ Μεδιενσψστεµεν
Μαρτιν Ωεσσνερ
Κοντεξτυελλε Κοοπερατιον
ιν ϖιρτυελλεν Λερνυµγεβυνγεν
Σχηριφτεν ζυ Κοοπερατιονσ− υνδ Μεδιενσψστεµεν
!
Βανδ 8
Ηεραυσγεγεβεν ϖον Προφ. ∆ρ. ςολκερ Ωυλφ, Σιεγεν, Προφ. ∆ρ. ϑργ
Ηαακε, Ηαγεν, Προφ. ∆ρ. Τηοµασ Ηερρµανν, ∆ορτµυνδ, Προφ. ∆ρ.
Ηελµυτ Κρχµαρ, Μνχηεν, Προφ. ∆ρ. ϑοηανν Σχηλιχητερ, Μνχηεν,
Προφ. ∆ρ. Γερηαρδ Σχηωαβε, Ζριχη, υνδ Προφ. ∆ρ.−Ινγ. ϑργεν
Ζιεγλερ, ∆υισβυργ
Μαρτιν Ωεσσνερ
Κοντεξτυελλε Κοοπερατιον
ιν ϖιρτυελλεν Λερνυµγεβυνγεν
Μιτ εινεµ Γελειτωορτ ϖον Προφ. ∆ρ.−Ινγ. Ραλφ Στεινµετζ, ΤΥ ∆αρµσταδτ,
υνδ Προφ. ∆ρ.−Ινγ. ϑργ Μ. Ηαακε, ΦερνΥνιϖερσιττ Ηαγεν
Geleitwort
E-Learning, das Lernen mit Hilfe des Computers, hat inzwischen eine lange Tradition, die vom Programmierten Unterricht auf Großrechnern über das computerbasierte Training (CBT) auf Personal Computern bis hin zum webbasierten Training
(WBT) und anderen Internet-gestützten Lernkonzeptionen reicht. Virtuelle Lernumgebungen präsentieren individuell auf den Lernenden zugeschnittenes, interaktives und multimediales Lernmaterial, strukturieren den Lernprozess und stellen
Werkzeuge für das Erarbeiten und Überprüfen von Wissen zur Verfügung.
Die zunehmende weltweite Vernetzung der Computer ermöglicht aber auch Formen
des computerunterstützten kooperativen Lernens (computer-supported collaborative
learning; CSCL), sei es das Lernen in Gruppen oder die Betreuung der Lernenden
durch einen Tutor. In kooperativen Lernumgebungen wird Wissen ausgetauscht bzw.
gemeinsam aufgebaut. Dazu werden verschiedene Kommunikations- und Kooperationswerkzeuge genutzt. Chat, Audio- und Videokonferenzen unterstützen die synchrone Kommunikation, E-Mail und Foren unterstützen die asynchrone Kommunikation. Shared Whiteboards und Dokumentablagen erlauben das gemeinsame
Erstellen, Bearbeiten und Verwalten von Skizzen, Texten und sonstigen Artefakten.
Dieses Buch stellt einen sehr innovativen Ansatz vor, das individuelle und das
kooperative Lernen in einer virtuellen Lernumgebung eng zu verzahnen und damit
die Vorteile beider Lernformen zu kombinieren. Die Lernenden eignen sich vorhandenes Lernmaterial individuell an, bearbeiten kooperative Übungen in Gruppen und
können bei Problemen jederzeit andere Lernende oder Tutoren zu Rate ziehen. Kern
dieses Ansatzes ist es, den Kontext einer Kooperation, d.h. die relevanten Informationen und Rahmenbedingungen zu modellieren und zur Unterstützung der Kooperation sowie der Übergänge zwischen individuellem und kooperativem Lernen heranzuziehen.
Aufbauend auf einer Analyse der wesentlichen Grundlagen aus der Informatik sowie
aus dem Gebiet des kooperativen Lernens wird der Begriff der kontextuellen Kooperation in virtuellen Lernumgebungen erarbeitet. Die Betrachtung eines praxisorientierten Nutzungsszenarios aus der Weiterbildung liefert die wesentlichen Anforderungen an eine Lernumgebung, die kontextuelle Kooperation unterstützen soll. Eine
solche Lernumgebung ermöglicht nicht nur (passiv) kooperatives Lernen, sondern
unterstützt die Kooperation (aktiv) durch die Berücksichtigung ihres Kontextes. Es
wird gezeigt, dass bisherige Ansätze des computerunterstützten kooperativen
Lernens diesen Anforderungen nicht gerecht werden.
v
vi
Geleitwort
Der Kontext einer Kooperation wird auf den Ebenen von kooperativen Kursen und
von kooperativen Episoden, modelliert. Der so modellierte Kontext wird dann zur
aktiven Unterstützung des Lernens genutzt.
Der Ansatz wird durch die Umsetzung der Modellierung und der Nutzungskonzepte
in einer virtuellen Lernumgebung validiert. Die Umsetzung und die mit der Lernumgebung gesammelten Erfahrungen in dem BMBF-geförderten Leitprojekt L³ zeigen, dass der Ansatz erfolgreich die bisher getrennten Sichtweisen des individuellen
und kooperativen Lernens integriert.
Die erfolgreiche Entwicklung und Umsetzung des Konzepts der kontextuellen Kooperation ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass der Autor Kompetenzen aus der
Informatik und der Pädagogik in diesem Buch zu einer hervorragenden interdisziplinären Sichtweise kombiniert. Es wird ein gelungener Bogen von den technischen und pädagogisch-didaktischen Grundlagen des computerunterstützten kooperativen Lernens, einer Analyse existierender Gestaltungsansätze und technischer
Systeme, über die Modellierung kooperativen Lernens und darauf basierender neuartiger Unterstützungskonzepte, bis hin zur Umsetzung und Erprobung dieser Konzepte im praktischen Einsatz gespannt.
Dieses Buch liefert damit einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung von virtuellen Lernumgebungen, die individuelles und kooperatives Lernen integrieren. Der Leser erhält
neben einer gründlichen theoretischen Aufarbeitung der relevanten Ansätze und der
Entwicklung innovativer Konzepte des computerunterstützten Lernens auch viele
Hinweise für die Praxis der Gestaltung und des Einsatzes virtueller Lernumgebungen.
Die Arbeit ist daher für Wissenschaftler in den Bereichen E-Learning und CSCL von
ebenso großem Interesse wie für Entwickler von virtuellen Lernumgebungen. Das
hier vorgestellte Konzept der kontextuellen Kooperation sollte sich darüber hinaus
auch für viele andere Anwendungsbereiche, in denen kooperiert wird, gewinnbringend einsetzen lassen.
Darmstadt und Hagen, im Dezember 2005
Ralf Steinmetz und Jörg Haake
Danksagung
Das Anfertigen einer Dissertation ist eine Kombination individueller und kooperativer
Arbeits- und Lernphasen. Viele Personen kooperierten in den letzten Jahren mit mir
und trugen so zur Entstehung dieser Arbeit bei. Ihnen gebührt mein herzlicher Dank!
Zuallererst danke ich Prof. Dr.-Ing. Ralf Steinmetz und Prof. Dr.-Ing. Jörg M. Haake
für die engagierte Betreuung meiner Arbeit und zahlreiche konstruktive Anregungen.
Als meine (ehemaligen) Instituts- und Bereichsleiter am GMD- bzw. FraunhoferInstitut für Integrierte Publikations- und Informationssysteme (IPSI) haben sie einen
förderlichen Kontext für meine Dissertation geschaffen. Zu diesem Kontext gehörte
insbesondere auch das BMBF-geförderte Projekt „L³: Lebenslanges Lernen als
Grundbedürfnis“ (1999 – 2002), in dessen Rahmen ich zentrale Ideen dieser Arbeit
entwickeln und evaluieren konnte.
Meinen Kolleginnen und Kollegen sowie den Studierenden am IPSI danke ich für
viele hilfreiche Diskussionen und Ratschläge zur Entwicklung der Lösungskonzepte
und die tatkräftige Unterstützung bei deren Umsetzung: Prof. Dr. Hans-Rüdiger
Pfister sicherte die Konzepte aus lernpsychologischer Sicht ab, Dr. Daniel Tietze
unterstützte mich in Fragen der technischen Umsetzung und Torsten Holmer war
steter Dialogpartner für das Jonglieren mit Ideen zur Unterstützung des kooperativen
Lernens. Auf den Konzepten dieser Arbeit aufbauend entwarfen und implementierten
(in alphabetischer Reihenfolge) Peter Dawabi, Jutta-Maria Fleschutz, Badie Garzaldeen, Axel Guicking, Torsten Holmer, Friederike Jödick, Dirk Köhlhoff, Martin
Mühlpfordt, Prof. Dr. Hans-Rüdiger Pfister, Dr. Shirley Roth, Dr. Jessica Rubart, Jan
Schümmer, Till Schümmer, Jan Spohr, Dr. Daniel Tietze, Dr. Bo Xiao und Peter
Zentel viele Werkzeuge zur kontextuellen Kooperation und ermöglichten dadurch erst
die Evaluation der entwickelten Konzepte. Für die ausdauernde und sehr konstruktive Begleitung der Arbeit bedanke ich mich bei Dr. Andrea Kienle, für die handwerkliche Unterstützung in der Endphase der Ausarbeitung besonders bei Axel
Guicking.
Schließlich bin ich meiner Familie zu ganz besonderem Dank verpflichtet. Meine
Frau Rita Eberle-Wessner, Arabella und Laetitia ermöglichten diese Arbeit durch
ihren beständigen Rückhalt und Ansporn sowie das Übernehmen vieler zusätzlicher
Aufgaben.
Mörlenbach, im Dezember 2005
Martin Wessner
vii
Inhalt
Kapitel 1: Einleitung .................................................................................................1
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
Problemfeld .........................................................................................................1
Interdisziplinärer Charakter der Arbeit.................................................................5
Zielsetzung..........................................................................................................7
Lösungsidee........................................................................................................8
Vorgehen und Aufbau .........................................................................................9
Kapitel 2: Problemanalyse .....................................................................................11
2.1 Lernen, Kontext und Kooperation......................................................................12
2.1.1 Lernen ....................................................................................................12
2.1.2 Kontext ...................................................................................................16
2.1.3 Kooperation............................................................................................17
2.2 Virtuelle Lernumgebungen ................................................................................19
2.2.1 Lernumgebung und virtuelle Umgebung ................................................19
2.2.2 Virtuelle Lernumgebungen .....................................................................20
2.2.3 Elemente virtueller Lernumgebungen ....................................................21
2.2.4 Kontext des Lernens in virtuellen Lernumgebungen ..............................21
2.3 Kooperatives Lernen .........................................................................................22
2.3.1 Kooperatives und kollaboratives Lernen ................................................22
2.3.2 Kooperative Episoden ............................................................................25
2.3.3 Bildung von Lerngruppen .......................................................................27
2.3.4 Kooperatives Lernen Erwachsener ........................................................30
2.3.5 Problembereiche des kooperativen Lernens ..........................................31
2.3.6 Unterstützung für kooperatives Lernen ..................................................31
2.3.7 Beispiele kooperativer Lernmethoden....................................................34
2.3.8 Kontext des kooperativen Lernens.........................................................35
2.4 Kooperation in virtuellen Lernumgebungen.......................................................36
2.4.1 Computerunterstütztes kooperatives Lernen..........................................36
2.4.2 Computerunterstützte Gruppenarbeit und Group Awareness ................38
2.4.3 Ermöglichen vs. Unterstützen des kooperativen Lernens ......................39
2.5 Zusammenfassung: Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen..40
2.5.1 Zusammenfassung.................................................................................40
2.5.2 Präzisierung des Zieles dieser Arbeit.....................................................41
ix
x
Inhalt
Kapitel 3: Anforderungen.......................................................................................45
3.1 Ein Nutzungsszenario aus der Weiterbildung ...................................................46
3.1.1 Hintergrund des Szenarios.....................................................................46
3.1.2 Szenario: Spanisch Lernen mit der SuperLearn GmbH .........................48
3.2 Anforderungen zur Realisierung kontextueller Kooperation ..............................51
3.2.1 Diskussion des Szenarios ......................................................................51
3.2.2 Detaillierte Darstellung der Anforderungen ............................................52
3.3 Zusammenfassung............................................................................................57
Kapitel 4: Vergleich mit verwandten Arbeiten......................................................59
4.1 Ermittlung verwandter Arbeiten .........................................................................59
4.1.1 Relevante Forschungsgebiete................................................................59
4.1.2 Klassifikation der Forschungsansätze....................................................60
4.2 Analyse und Vergleich verwandter Arbeiten .....................................................62
4.2.1 Auswahl .................................................................................................62
4.2.2 Dokumentbasierte Ansätze ....................................................................64
4.2.3 Konferenzbasierte Ansätze ....................................................................66
4.2.4 Raumbasierte Ansätze...........................................................................69
4.2.5 Kontextbasierte Ansätze ........................................................................72
4.2.6 Domänenmodellbasierte Ansätze ..........................................................74
4.2.7 Prozessbasierte Ansätze .......................................................................75
4.2.8 Standardisierungsansätze......................................................................77
4.3 Erfüllung der Anforderungen .............................................................................78
4.3.1 Individuelles kursbasiertes Lernen .........................................................78
4.3.2 Spontane Kooperation ...........................................................................78
4.3.3 Flexible Übergänge zwischen verschiedenen Lernmodi ........................79
4.3.4 Intendierte Kooperation..........................................................................79
4.3.5 Unterstützung für die Bildung von Lerngruppen .....................................79
4.3.6 Methodische Unterstützung der Lerngruppe ..........................................80
4.3.7 Offenheit des Systems ...........................................................................80
4.4 Zusammenfassung............................................................................................81
Kapitel 5: Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen.................83
5.1 Systemunterstützung ........................................................................................84
5.2 Modellierung einer kooperativen Episode .........................................................85
5.2.1 Entscheidungsraum des Lehrenden.......................................................85
5.2.2 Göttinger Katalog didaktischer Modelle..................................................86
Inhalt
5.3
5.4
5.5
5.6
xi
5.2.3 Modellierung einer kooperativen Episode ..............................................91
5.2.4 Beispiele: Instantiierungen der Modellierung kooperativer Episoden .....94
5.2.5 Lebenszyklus einer kooperativen Episode .............................................98
Modellierung kooperativer Kurse.....................................................................100
5.3.1 Points of Cooperation (PoC) ................................................................100
5.3.2 Kombination von individuellen und kooperativen Episoden .................103
5.3.3 Kombination kooperativer Episoden.....................................................103
5.3.4 Zeitliche Entkopplung von Qualifizierung und Durchführung................105
5.3.5 Generische und spontane Kooperation................................................105
Werkzeuge für die kontextuelle Kooperation...................................................105
5.4.1 Phasen des kooperativen Lernens.......................................................105
5.4.2 Werkzeuge für die Vorbereitung...........................................................106
5.4.3 Werkzeuge für die Durchführung .........................................................107
5.4.4 Werkzeuge für die Nachbereitung........................................................108
Unterstützung für das Zusammenstellen von Lerngruppen.............................109
5.5.1 Varianten und Methoden der Gruppenbildung .....................................109
5.5.2 Phasen der Lerngruppenbildung ..........................................................110
5.5.3 Lernermodell ........................................................................................112
5.5.4 Gruppenbildungsalgorithmen ...............................................................112
5.5.5 Verwandte Ansätze zur Gruppenbildung..............................................115
Zusammenfassung..........................................................................................116
Kapitel 6: Realisierung .........................................................................................119
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
6.6
6.7
6.8
Implementierung im Rahmen des Projektes L³ ...............................................119
Programmiersprachen, Plattformen, Standards ..............................................121
System-/Softwarearchitektur ...........................................................................121
Umsetzung der Modellierung ..........................................................................124
Erstellen kooperativer Kurse ...........................................................................126
Durchführen kooperativer Kurse und Bilden von Lerngruppen .......................127
Durchführen kooperativer Episoden................................................................132
Generische und spontane Kooperation...........................................................134
Kapitel 7: Erfahrungen und Gestaltungsempfehlungen....................................137
7.1 Zur Evaluation kooperativer Lernumgebungen ...............................................138
7.2 Einsatz im Projekt L³ .......................................................................................140
7.2.1 Workshops mit Kursautoren .................................................................140
7.2.2 Erfahrungen im Rahmen der Erprobung in L³-Lernzentren ..................142
7.3 Expertenworkshop ..........................................................................................143
xii
Inhalt
7.4 Tests am Fraunhofer IPSI ...............................................................................146
7.5 Weitere Studien...............................................................................................148
7.6 Gestaltungsempfehlungen ..............................................................................148
7.6.1 Standards für kooperatives Lernen ......................................................148
7.6.2 Kursebene............................................................................................149
7.6.3 Kooperationsebene ..............................................................................150
Kapitel 8: Zusammenfassung und Ausblick ......................................................151
8.1
8.2
8.3
8.4
Zusammenfassung der Arbeit .........................................................................151
Vergleich mit den Anforderungen....................................................................152
Wesentliche Beiträge zum Stand der Technik ................................................154
Zukünftige Forschungsarbeiten und Verallgemeinerung der Ergebnisse........156
Anhang ...................................................................................................................159
A.1 Pro-Kontra-Gespräch als Beispiel einer kooperativen Episode.......................159
A.2 Die manuelle Gruppenbildung.........................................................................162
Literaturverzeichnis ..............................................................................................165
Kapitel 1
Einleitung
1.1 Problemfeld
In einer durch Globalisierung geprägten Welt werden neue Anforderungen an die
Qualifikation jedes Einzelnen gestellt (Senge 1990). Die technischen, wirtschaftlichen
und sozialen Veränderungen führen dazu, dass Lernen nicht mehr als eine abgeschlossene Lebensphase der schulischen Bildung und der beruflichen (Erst-)Ausbildung angesehen werden kann. Vielmehr bestimmt das Bild des Lebenslangen
Lernens die politische Bildungsdiskussion. Angesichts der Geschwindigkeit, in der
neues Wissen entsteht und die Nutzbarkeit vorher vorhandenen Wissens abnimmt,
sowie angesichts der weltweiten Verteilung von Wissensträgern und Lernenden
werden neue Anforderungen an das Lehren und Lernen gestellt. Aus diesen Veränderungen erwächst insbesondere im Bereich der Erwachsenenbildung und der
Weiterbildung die Notwendigkeit, Wissen stetig zu erweitern und zu aktualisieren
(Arnold et al. 2000, S. 6). Lernmaterialien müssen effizient zu erstellen und zu warten
sein, um auf inhaltliche Veränderungen schnell reagieren zu können. Sie müssen an
heterogene Zielgruppen anpassbar sein, z.B. in Sprache, Niveau oder implizierter
Lehr-/Lernmethode. Um der örtlichen Verteilung von Wissensträgern und Lernenden
gerecht zu werden, müssen neue Lehr-/Lernmethoden wie Tele-Lernen und Unterstützung ortsübergreifender Lerngruppen zum Einsatz kommen.
Auch hier spielen neue Informations- und Kommunikationstechnologien eine Rolle,
es lässt sich eine stetige Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien in die verschiedenen Bereiche des Bildungswesens (Schule, Berufsausbildung, Hochschule, Weiterbildung) beobachten (vgl. Kerres 2001, Schulmeister
2001).
Multi-, hyper- und telemediale Technologien ermöglichen die Kommunikation und
Kooperation auch in geographisch verteilten (Lern-)Gruppen (Steinmetz 2000). Auf
Basis dieser Technologien können traditionelle Lehr- und Lernformen weiterentwickelt werden (Schulmeister 1997, Rützel 2000, Sesink 2003). Es lassen sich Lern1
2
1. Einleitung
prozesse realisieren, bei denen Lehrende und Lernende weder am gleichen Ort noch
gleichzeitig mit dem Lernen beschäftigt sein müssen. Diese Technologien ermöglichen neue Lernformen (z.B. örtlich verteiltes synchrones Gruppenlernen, asynchrones Gruppenlernen mittels Diskussionsforen), neue Formen und Qualitäten des Lernmaterials (z.B. Simulationen, hypermediale Repräsentationen von Zusammenhängen) oder neue Lernorte (z.B. beim Lernen mit mobilen Endgeräten).
Der Einsatz von Computersystemen zur Verbesserung von Lehr-/Lernprozessen hat
bereits eine lange Tradition (Schulmeister 1997). Im Mittelpunkt steht in der Regel
die Individualisierung, das Eingehen auf den individuellen Lernenden hinsichtlich seiner Präferenzen und Kompetenzen, z.B. in Bezug auf Lernzeit und Lernort, Lerngeschwindigkeit, Lernweg oder Anzahl der Wiederholungen. Je nach Systemtyp übernimmt der Lernende oder das Computersystem die Steuerung des Lernprozesses.
Die Erfahrungen mit computerunterstütztem Lernen haben eine Reihe von Grenzen
und Schwächen offenbart (Oberle & Wessner 1998, Schulmeister 1997), z.B.:
‚ Lernsoftware bietet nur eine begrenzte Interaktivität, häufig erschöpft sich die
Interaktion im Umblättern von Bildschirmseiten.
‚ Die Individualisierung des Lernweges ist meist auf wenige, vom Autor der Lernsoftware vorgedachte Navigationspfade beschränkt.
‚ Lernsoftware kann nur für relativ einfach strukturierte Wissensbereiche inhaltliches
Feedback geben.
‚ Lernsoftware tritt als monolithisches, in sich geschlossenes System auf, Wartbarkeit und Wiederverwendbarkeit sind gering.
Das letztgenannte Problem von Lernsoftware, die geringe Wartbarkeit und Wiederverwendbarkeit, wird zunehmend durch die Modularisierung von Lernmaterialien
(Seeberg 2002), die Verwendung von Metadaten zur Beschreibung von Lernmodulen
(Steinacker 2002) und weitere Anstrengungen zur Standardisierung im Bereich des
computerunterstützten Lernens (z.B. IEEE LTSC 2004) adressiert.
Um die Interaktivität zu erhöhen, besser auf den einzelnen Lernenden einzugehen
und dadurch die Motivation und den Lernfortschritt zu verbessern, werden in traditionellen (nicht computerunterstützten) Lehr-/Lernszenarien häufig Formen des Lernens
in Gruppen, so genannte kooperative Lernformen, eingesetzt (Slavin 1995). Dem
liegt die Grundannahme moderner Pädagogik zugrunde, dass erfolgreiches Lernen
durch die Konstruktion neuen eigenen Wissens in der aktiven Auseinandersetzung
mit eigenem und fremdem Wissen erfolgt. Ein tiefergehendes Verständnis entsteht
erst im Diskurs, also durch soziale Kommunikations- und Kooperationsprozesse.
1.1 Problemfeld
3
Dass das Lernen in Gruppen in vielen Fällen dem individuellen Lernen überlegen ist,
konnte empirisch nachgewiesen werden (Dillenbourg et al. 1996, Johnson & Johnson
1990, Slavin 1995). Auch Forderungen nach Teamfähigkeit und der Fähigkeit zu
selbstorganisiertem Lernen sprechen für die Einführung kooperativer Lernmethoden.
Die Unterstützung kooperativer Lernformen durch Computer ist Gegenstand des
Forschungsgebietes Computer-Supported Collaborative Learning (CSCL) (O’Malley
1994, Koschmann 1996, Haake et al. 2004a). CSCL kann als eine Lernform definiert
werden, in der mehrere Personen (mindestens zwei) unter Nutzung von Computern
ein Lernziel verfolgen, indem sie über den Lerninhalt kommunizieren und neues
Wissen kooperativ aufbauen. Protagonisten des computerunterstützten kooperativen
Lernens gehen davon aus, dass sich die Vorteile des kooperativen Lernens auch in
der computerunterstützten Form zeigen, dass Kommunikation und Kooperation mit
anderen Lernern im Team die oben angesprochenen Schwächen des computerunterstützten Lernens abmildern kann. Vor allem beschäftigt sich CSCL mit örtlich
verteiltem kooperativem Lernen, also Szenarien, in denen die Lernenden nur computervermittelt kommunizieren, und der Lösung der dadurch bedingten Probleme
(Döring 1999, S. 127ff.; Hesse et al. 1997).
Aus Sicht der Informatik kann CSCL zum einen auf Erfahrungen mit computerunterstütztem (individuellem) Lernen in virtuellen Lernumgebungen aufbauen. In Bezug
auf die Unterstützung der Kooperation in Lerngruppen bildet das Forschungsgebiet
computerunterstützte Gruppenarbeit (Computer-Supported Cooperative Work;
CSCW) eine wichtige Grundlage (Borghoff & Schlichter 1998, Schwabe et al. 2001a).
Zur Koordination komplexer Prozesse können Ergebnisse aus dem Forschungsgebiet Workflow-Technologie (WfMC 2004) beitragen.
Viele der heute verfügbaren und für Lehr-/Lernzwecke eingesetzten Kommunikations- und Kooperationssysteme sind nicht speziell für einen Einsatz zu Lernzwecken
entwickelt worden. Sie ermöglichen z.B. die textbasierte Kommunikation, eine Audio/
Video-Konferenz oder das gemeinsame Bedienen von Anwendungsprogrammen.
Aufgrund ihrer Allgemeinheit werden sie spezifischen pädagogischen Anforderungen
meist nicht gerecht. Auch speziell für das kooperative Lernen entwickelte Systeme
ermöglichen zwar Lernprozesse, aber unterstützen diese häufig nicht aktiv. Wie
kooperative Aktivitäten auf „intelligente“ Weise unterstützt werden können, ist bislang
nur wenig untersucht worden (vgl. Harrer 2000).
Insgesamt ist deutlich geworden, dass Lernende die angebotenen Kooperationsmöglichkeiten häufig nicht oder nicht effektiv nutzen (können). Mehr noch als in traditionellen Face-to-Face Situationen müssen sie meist durch ein kooperatives Szenario geführt werden, damit sie effektiv gemeinsam lernen (Guzdial et al. 1997).
4
1. Einleitung
Hinzu kommt, dass sich Lernen normalerweise nicht ausschließlich in kooperativen
Lernprozessen vollzieht. Meist wechseln individuelle Phasen, in denen Wissen vom
Einzelnen erarbeitet und angewandt wird, und kooperative Phasen, in denen Wissen
in einer Gruppe vertieft und angewandt wird, einander ab.
Folgende wichtigen Aspekte des kooperativen Lernens (vgl. Abschnitt 2.3.1) werden
von existierenden Systemen häufig nicht berücksichtigt:
1. Zusammensetzung und Bildung der Lerngruppe: Wer lernt mit wem zusammen?
Wie finden sich die Lernenden zu einer Lerngruppe? Wie groß soll die Lerngruppe sein?
2. Aufgabe und Ziel des kooperativen Lernprozesses: Welche Aufgabenstellung soll
die Lerngruppe bearbeiten? Zu welchem Ziel?
3. Kooperative Lernmethode: Welche Methode wendet die Gruppe an? Wie kann
der kooperative Lernprozess strukturiert werden? Wie wird die Gruppe in den einzelnen Phasen der Lernmethode angeleitet? Welche Werkzeuge werden in den
einzelnen Phasen benötigt?
4. Einordnung in den gesamten Lernprozess: Auf welchem Vorwissen, auf welchen
vorherigen Ergebnissen baut der kooperative Lernprozess auf? Wie werden die
Ergebnisse des Lernprozesses für das weitere Lernen verwendet? Wie hängen
individuelle und kooperative Lernphasen zusammen?
Diese Aspekte des kooperativen Lernens werden in dieser Arbeit als Kontext des
kooperativen Lernens zusammengefasst. 1 Die Wahrnehmung des Kontextes durch
die Beteiligten ist aufgrund der Beschränkungen computervermittelter Kommunikation nicht oder nur schwer möglich. Dadurch können die Beteiligten ihre Lernprozesse nur unzureichend koordinieren, worunter letztendlich die Kooperation in der
Lerngruppe leidet.
Existierende Systeme berücksichtigen den Kontext des kooperativen Lernens nicht in
ausreichendem Maße. Da das kooperative Lernen dem System gegenüber nicht
durch Gruppenbeschreibung, Aufgabe, Methode und die Einordnung in den Lernprozess näher bestimmt ist, kann das System lediglich als passives, ermöglichendes
Medium dieser Kooperation fungieren. Eine aktive Unterstützung, eine kontextspezifische Funktionalität, ist nicht möglich. Beispielsweise kann das System aufgrund des
fehlenden Wissens über den Kontext die folgenden Fragen nicht beantworten: Was
für eine Lerngruppe liegt vor bzw. soll gebildet werden? Welche Aufgabe soll mit
1
Der Kontextbegriff wird in den Kapiteln 2 und 5 dieser Arbeit genauer definiert.
1.2 Interdisziplinärer Charakter der Arbeit
5
welchem Ziel bearbeitet werden und wie ist der Stand der Aufgabenbearbeitung?
Welche Methode soll dabei angewendet werden? In welcher Phase der Methode ist
die Gruppe und in welcher Rolle agieren die einzelnen Beteiligten? Auf welchen
Materialien baut der Lernprozess auf und wie werden die Ergebnisse weiterverwendet?
Zur Lösung der genannten Probleme scheint eine Kombination des individuellen und
des kooperativen computerunterstützten Lernen sinnvoll: Wie oben skizziert kann
kooperatives Lernen viele Nachteile des individuellen Lernens ausgleichen. Sinnvolle
Interaktivität, Individualisierung und Feedback kann durch die Kooperation mit anderen Lernenden realisiert werden. Mit der Computerunterstützung für individuelles
Lernen wurden viele Erfahrungen mit der Strukturierung und der aktiven Unterstützung von Lernprozessen auf Basis des Wissens über den Kontext, z.B. in
Abhängigkeit vom bisherigen Lernweg oder den Präferenzen eines Lernenden, gesammelt. Gelingt es, diese Strukturierung und aktive Unterstützung des Lernprozesses auf das computerunterstützte kooperative Lernen zu übertragen, ist ein Fortschritt in der Lösung der oben genannten Probleme des CSCL zu erwarten. Kooperatives Lernen, das in einem System auf Basis des Wissens über den Kontext der
Kooperation unterstützt wird, bezeichnen wir als kontextuelles kooperatives Lernen
oder kurz: kontextuelle Kooperation. Die Kombination von Ansätzen des individuellen
und des kooperativen computerunterstützten Lernens in virtuellen Lernumgebungen
könnte die kontextuelle Kooperation ermöglichen, also dazu beitragen, Lernende
unter Berücksichtigung des Kontextes aktiv in ihrem (kooperativen) Lernprozess zu
fördern.
1.2 Interdisziplinärer Charakter der Arbeit
CSCL ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das von den Beiträgen und der
Zusammenarbeit vor allem von Informatikern, Pädagogen und Psychologen
bestimmt wird. Die interdisziplinäre Natur des CSCL macht ausführliche Begriffsklärungen notwendig. Relevante Begriffe werden in den beteiligten Disziplinen in
unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. So kennzeichnet z.B. der Begriff „Interaktion“ in der Pädagogik traditionell die Handlung einer Person in Bezug auf andere
Personen, in der Informatik wird er im Zusammenhang mit der Bedienung eines
Computersystems durch einen Menschen verwendet.
Die Pädagogik beschäftigt sich als Wissenschaft mit der Theorie der Erziehung und
Bildung. Im Kontext der vorliegenden Arbeit sind vor allem die folgenden, sich überlappenden Teilgebiete der Pädagogik relevant (Schelten 1994):
6
1. Einleitung
‚
Die Didaktik als Theorie des Lehrens und Lernens ist mit der Methodik (wie?),
den Medien (womit?), den Sozialformen (in welcher sozialen Konstellation?) und
der Artikulation (wie strukturiert?) des Lehrens und Lernens befasst.
‚
Die Berufspädagogik adressiert Fragestellungen der Erziehung und Bildung in der
Berufs- und Arbeitswelt.
‚
Die Erwachsenenbildung untersucht Anlässe und Bedingungen, Strukturen und
Prozesse, Wirkungen und Ergebnisse des Lernens Erwachsener.
Die Psychologie, und hier vor allem das Teilgebiet Pädagogische Psychologie,
beschäftigt sich mit dem Verhalten und den mentalen Prozessen beim Lehren und
Lernen (Gage & Berliner 1996, S. 27). Weitere Grundlagen entstammen der Lernpsychologie sowie der Arbeits- und Organisationspsychologie.
Die Informatik ist vor allem mit der Gestaltung und Realisierung von Informationssystemen befasst. Dies reicht von der Theoriebildung über die Analyse, den Entwurf,
die Implementierung bis hin zur Anwendung und zu den Auswirkungen informationsverarbeitender Prozesse (Schneider 1997).
Computerunterstütztes kooperatives Lernen
Psychologie:
Wie wird (kooperativ) gelernt?
Pädagogik:
Wie wird kooperatives Lernen unterstützt?
Informatik:
Wie werden Informationssysteme gestaltet und realisiert,
die kooperatives Lernen unterstützen?
Abbildung 1.1: An CSCL beteiligte Disziplinen
Abbildung 1 zeigt, welche Komponenten des Begriffes CSCL im Mittelpunkt der Disziplinen Pädagogik, Psychologie und Informatik stehen, und nennt für jede Disziplin
eine zentrale Fragestellung.
1.3 Zielsetzung
7
Die vorliegende Arbeit hat aufgrund ihres Themas einen interdisziplinären Charakter
und greift auf Grundlagen aus der Pädagogik und der Psychologie zurück. Ihr
Schwerpunkt liegt jedoch in der Informatik: Im Mittelpunkt steht ein innovativer
Ansatz zur (softwaretechnischen) Gestaltung von virtuellen Umgebungen für kooperatives Lernen.
1.3 Zielsetzung
Das Ziel dieser Arbeit ist die Entwicklung eines Konzepts zur Gestaltung von virtuellen Lernumgebungen, die kontextuelle Kooperation ermöglichen:
In bisherigen virtuellen Lernumgebungen wird der Kontext des kooperativen Lernens
nicht ausreichend repräsentiert. Sie können deshalb das kooperative Lernen nicht
aktiv unterstützen. In dieser Arbeit soll die Hypothese geprüft werden, dass virtuelle
Lernumgebungen, die über eine explizite Repräsentation des Kontextes verfügen,
kontextuelle Kooperation ermöglichen können, also eine über den Stand der Technik
hinausgehende Unterstützung für kooperatives Lernen bieten können. Diese Unterstützung umfasst die Bildung von Lerngruppen, das Vermitteln der Aufgabenstellung,
die Strukturierung des kooperativen Lernprozesses und die Integration der Kooperation in den gesamten Lernprozess.
Dazu werden die Defizite existierender Systeme analysiert, eine Methode zur Repräsentation des Kontextes entwickelt und gezeigt, wie eine virtuelle Lernumgebung
diesen Kontext zur Unterstützung des kooperativen Lernens nutzen kann.
Um existierende Lernmaterialien weiternutzen zu können und dadurch eine möglichst
breite Verwendbarkeit der angestrebten Lösung zu erreichen, werden in dieser Arbeit
kursbasierte Lernumgebungen betrachtet, d.h. Lernumgebungen, in denen Kurse mit
festgelegten und in Form von Lernmaterialien vorliegenden Lerninhalten angeboten
werden. Aus Gründen der vielfältigen Einsetzbarkeit und Übertragbarkeit der angestrebten Lösung fokussiert diese Arbeit auf webbasierte Lernumgebungen, also
Lernumgebungen, die von den Benutzern über einen Web-Browser bedient werden.
Ziel ist es ferner, die verschiedenen am kooperativen Lernen direkt beteiligten Rollen
zu unterstützen: die Lernenden, die Autoren von Lernmaterialien und die Lehrenden
bzw. Tutoren, die beratende, anleitende und bewertende Funktionen übernehmen
können. Auf die Unterstützung weiterer Beteiligter (beispielsweise für die Systemadministration oder die Koordination und Bewertung von Kursangeboten und Tutoren
etc.) wird dagegen nicht weiter eingegangen. Im Hinblick auf die Zielgruppe der
Lernumgebung orientiert sich die Arbeit an der beruflichen Weiterbildung, d.h. Nutzer
der Lernumgebung sind Erwachsene.
8
1. Einleitung
Angestrebte Ergebnisse dieser Arbeit sind eine Modellierung des Kontextes kooperativen Lernens sowie Werkzeuge, die auf Basis dieser Modellierung die am Lernprozess Beteiligten unterstützen. Hierzu zählen Werkzeuge für Kursautoren zur Definition kooperativer Kurse, Werkzeuge für Lernende zur Bearbeitung kooperativer
Kurse und Werkzeuge für Tutoren zur Betreuung kooperativer Lernprozesse. Diese
Ergebnisse sollen in einer virtuellen Lernumgebung integriert sein. Schließlich stellen
auch die mit der Modellierung und den Werkzeugen gesammelten Erfahrungen und
die daraus abgeleiteten Gestaltungsempfehlungen eine wichtige Ausgangsbasis für
zukünftige Forschungs- und Entwicklungsarbeiten dar.
Es existiert eine Reihe weiterer Aspekte kontextueller Kooperation in virtuellen Lernumgebungen, die in dieser Arbeit aber nicht weiter behandelt werden sollen:
‚
Der physikalische Kontext, beispielsweise die geographische Position eines
Benutzers oder die aktuelle Temperatur, kann durch Sensortechnologie
ebenfalls für die Realisierung der kontextuellen Kooperation herangezogen
werden (Nelson 1998, Reinema 2002, Tandler 2004).
‚
Computerunterstütztes Lernen stellt, beispielsweise bei Prüfungssituationen
oder in der kommerziellen Weiterbildung, hohe Anforderung an die Sicherheit
des Zugriffs und der Übertragung von Daten. Eckert (2003) beschreibt für
computerunterstütztes Lernen relevante Schutzziele, aktuelle Bedrohungen
und Lösungsansätze. Moschgath (2002) stellt ein Konzept zur kontextabhängigen Zugriffskontrolle vor.
1.4 Lösungsidee
Zentrale Idee dieser Arbeit ist es, eine Beschreibungsmöglichkeit für den Kontext
einer kooperativen Lernsituation zu entwickeln, die von einer virtuellen Lernumgebung zur kontextuellen Kooperation 2, also zur kontextbezogenen aktiven Unterstützung der Kooperation genutzt werden kann. Auf Basis dieser Kontextbeschreibung soll die virtuelle Lernumgebung die Kooperation in vielfältiger Weise aktiv
unterstützen. Dazu werden folgende Schritte unternommen:
‚
Analyse des Kontextes einer Kooperation in kooperativen Lernprozessen.
‚
Ermittlung der Parameter zur Beschreibung eines solchen Kontextes und Beurteilung der Relevanz der Parameter.
‚
Entwicklung von Verfahren, die das Wissen über den Kontext nutzen, um
kooperatives Lernen zu unterstützen.
1.5 Vorgehen und Aufbau
9
Ein wichtiges Element des Kontextes ist die vorgesehene kooperative Lernmethode.
Unter kooperativer Lernmethode soll an dieser Stelle die Methode, nach der kooperiert wird, z.B. als Menge von Rollen, Regeln und Aktivitätsfolgen in einer Kooperation, verstanden werden. 3 Dazu sollen bereits jetzt in traditionellen Szenarien oder
existierenden CSCL-Systemen ablaufende Kooperationen analysiert und relevante
Beschreibungsparameter identifiziert werden. Ein Ansatz hierzu stellen Kooperationsskripte nach O’Donnell & Dansereau (1992) dar.
Auf Basis der identifizierten Beschreibungsparameter kann eine Repräsentation der
Kooperation konstruiert werden. Mit Hilfe dieser systemlesbaren Beschreibung können nun die die Kooperation festlegenden Elemente wie Rollen, Regeln und Aktivitätenfolgen vom System moderiert bzw. überwacht und zur Generierung der Unterstützung genutzt werden.
Der Gesamtprozess des (kooperativen) Lernens kann in einzelne Teilprozesse oder
Episoden zerlegt werden. Diese Episoden sehen entweder individuelles oder kooperatives Lernen vor. Durch das Wissen über vergangene, laufende und vorgesehene
Episoden ist das System in der Lage, Übergänge zwischen verschiedenen Episoden
zu unterstützen. Diese Übergänge betreffen z.B. die Zusammenstellung von Lerngruppen für eine kooperative Episode und die „Bestückung“ von kooperativen Episoden mit den für diese Episode vorgesehenen Ressourcen (z.B. Kommunikationskanäle oder Dokumente).
1.5 Vorgehen und Aufbau
Um das Ziel dieser Arbeit zu erreichen, wird folgendes Vorgehen gewählt, das sich
im Aufbau der Arbeit widerspiegelt:
Im Anschluss an diese Einleitung werden in Kapitel 2 die Problemstellung der kontextuellen Kooperation und relevante Grundlagen erarbeitet. Dies umfasst die Begriffe Lernen, Kontext und Kooperation, das Lernen in virtuellen Lernumgebungen
und das kooperative Lernen.
Anhand eines Anwendungsszenarios aus der Weiterbildungspraxis wird in Kapitel 3
die notwendige Funktionalität zur Realisierung der kontextuellen Kooperation skizziert. Aus diesem Szenario werden die spezifischen Anforderungen an eine virtuelle
Lernumgebung zur Realisierung der kontextuellen Kooperation abgeleitet.
2
Der Begriff der kontextuellen Kooperation wird in den Kapiteln 2 und 5 genauer definiert.
3
Auch der Begriff der kooperativen Lernmethode wird in den Kapiteln 2 und 5 genauer definiert.
10
1. Einleitung
Kapitel 4 erörtert den aktuellen Stand der Technik im Bereich virtueller Lernumgebungen im Hinblick auf die kontextuelle Kooperation. Ausgehend von den in Kapitel 3
dargestellten Anforderungen werden Ansätze und Systeme ausgewählt, vorgestellt
und dahingehend überprüft, inwieweit sie die Anforderungen erfüllen. Dabei wird
deutlich, welche der Anforderungen bisher nicht oder nicht ausreichend erfüllt
werden (können).
In Kapitel 5 werden Lösungskonzepte zur Realisierung kontextueller Kooperation für
Lernende, Autoren und Tutoren entwickelt. Diese Konzepte ermöglichen die Entwicklung von virtuellen Lernumgebungen, die auf Basis des Kontexts das kooperative Lernen aktiv unterstützen. Dabei wird auf die Repräsentation kooperativer Episoden und kooperativer Kurse sowie auf den Aufbau kooperativer Lernumgebungen
eingegangen. Diese Repräsentation des Kontextes wird für die aktive Unterstützung
des kooperativen Lernens in virtuellen Lernumgebungen genutzt. Dies umfasst die
aktive Unterstützung bei der Erstellung, Durchführung und Nachbereitung kooperativer Episoden und Kurse. Für die Lerngruppenbildung, den Übergang vom individuellen zum kooperativen Lernen wird exemplarisch gezeigt, wie der Kontext zur aktiven Unterstützung genutzt werden kann.
Kapitel 6 beschreibt die exemplarische Umsetzung der Lösungskonzepte in einer
virtuellen Lernumgebung. Diese Lernumgebung zeigt als „proof-of-concept“ die
prinzipielle Realisierbarkeit des Ansatzes.
Kapitel 7 thematisiert die mit dem Konzept und der Realisierung gesammelten
Erfahrungen in ausgewählten Einsatzbereichen. Hieraus werden Empfehlungen zur
Erstellung von virtuellen Lernumgebungen auf Basis der Lösungskonzepte abgeleitet.
Im abschließenden Kapitel 8 werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst.
Potenziale zur Übertragung der Ergebnisse auf andere Anwendungsgebiete sowie
weiterführende Forschungsfragen werden identifiziert und diskutiert.
Kapitel 2
Problemanalyse
In diesem Kapitel wird die Problemstellung dieser Arbeit, die Realisierung der
kontextuellen Kooperation in virtuellen Lernumgebungen analysiert. Dies beinhaltet
auch die Klärung der grundlegenden Begriffe und Verweise auf die theoretischen
Grundlagen. Eine Behandlung der Begriffe und Grundlagen ist insbesondere aufgrund der Interdisziplinarität des Forschungsgebiets Computerunterstütztes kooperatives Lernen (CSCL), zu dem diese Arbeit gehört, notwendig (vgl. Abschnitt 1.2). In
den verschiedenen beteiligten Disziplinen werden häufig gleiche Bezeichnungen für
verschiedene Sachverhalte verwendet.
Als Grundlage der Problemanalyse werden zunächst die Begriffe Lernen, Kontext
und Kooperation allgemein definiert (Abschnitt 2.1). Diese Definitionen werden im
Laufe der weiteren Analyse schrittweise verfeinert. Den nächsten Schritt bildet die
Betrachtung virtueller Lernumgebungen als softwaretechnische Plattformen zur
Unterstützung von Lernprozessen (Abschnitt 2.2). Es folgt die Klärung des Begriffs
kooperatives Lernen (Abschnitt 2.3). Danach wird analysiert, inwieweit Kooperation
bzw. kooperatives Lernen in (bisherigen) virtuellen Lernumgebungen unterstützt wird
(Abschnitt 2.4). Schließlich werden die wichtigsten Ergebnisse der Problemanalyse
zusammengefasst. Darauf aufbauend wird das Ziel dieser Arbeit, die Realisierung
kontextueller Kooperation in virtuellen Lernumgebungen, präzisiert (Abschnitt 2.5).
Im darauf folgenden Kapitel 3 werden diese Ergebnisse anhand eines Szenarios aus
der Weiterbildung aufgegriffen und in Form von Anforderungen an eine virtuelle Lernumgebung zur Realisierung der kontextuellen Kooperation konkretisiert.
11
12
2. Problemanalyse
2.1 Lernen, Kontext und Kooperation
In diesem Abschnitt werden die Begriffe Lernen, Kontext und Kooperation allgemein
definiert. Diese Definitionen werden in den folgenden Abschnitten 2.2 bis 2.5 schrittweise auf die Zielstellung dieser Arbeit bezogen verfeinert.
2.1.1 Lernen
Gage und Berliner definieren Lernen als „Prozeß, durch den ein Organismus sein
Verhalten als Resultat von Erfahrung ändert“ (Gage & Berliner 1996, S. 230). Je
nach zugrunde liegender Sichtweise des Lernens, d.h. je nach Lerntheorie kann
diese allgemeine Definition präzisiert werden (vgl. bspw. Baumgartner & Payr 1994,
Schulmeister 1997). Im behavioristischen Sinn wird Lernen als (von außen) beobachtbare Änderung des Verhaltens definiert. Kognitivistische Lerntheorien stellen
die Änderung kognitiver Strukturen in den Mittelpunkt. Unter dem Blickwinkel des
Konstruktivismus bezeichnet Lernen die aktive Konstruktion von Wissen auf der
Basis von Wahrnehmungen und Erfahrungen. Die Unterstützung des Lernens durch
eine Person wird als Lehren bezeichnet.
Lernen steht für eine Vielzahl unterschiedlicher Arten von Verhaltensänderungen.
Beispielsweise wird zwischen formalem, nicht-formalem und informellem Lernen
folgendermaßen differenziert (vgl. Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen
Lernens o.J.): Findet das Lernen in Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen statt und
führt zu anerkannten Abschlüssen oder Qualifikationen, spricht man von formalem
Lernen. Nicht-formales Lernen findet außerhalb von Bildungseinrichtungen z.B. am
Arbeitsplatz statt und führt nicht unbedingt zu einem anerkannten Abschluss. Informelles Lernen schließlich bezeichnet das permanent, teilweise sogar unbewusst, als
Begleiterscheinung des täglichen Lebens stattfindende Lernen. Unter der Bezeichnung Lebenslanges Lernen werden all drei genannten Arten des Lernens zusammengefasst: „Lebenslanges Lernen umfasst für die Expertenkommission die
Gesamtheit allen formalen, nicht-formalen und informellen Lernens über den
gesamten Verlauf des Lebens eines Menschen hinweg.“ (Expertenkommission
Finanzierung Lebenslangen Lernens o.J.).
Im Folgenden wird formales und nicht-formales Lernen, das sich auf vorgegebene
Lernmaterialien (Kurse) stützt, als kursbasiertes Lernen bezeichnet und betrachtet.
Informelles Lernen vollzieht sich zwar auch häufig als Begleiterscheinung formalen
bzw. nicht-formalen Lernens (beispielsweise angestoßen durch ein Ergebnis einer
Literaturrecherche oder durch ein Gespräch mit anderen Lernenden), soll aber hier
auch aufgrund seiner definitionsgemäß weitgehenden Unbestimmtheit nicht weiter
behandelt werden.
2.1 Lernen, Kontext und Kooperation
13
In dieser Arbeit wird ein Ausschnitt des Lebenslangen Lernens, das Lernen Erwachsener, betrachtet. Die Wissenschaft der Erwachsenenbildung zielt auf „die Erforschung von Anlässen und Bedingungen, von Strukturen und Prozessen, von Wirkungen und Ergebnissen des Lernens [Erwachsener] in unterschiedlichen lebensweltlichen und institutionellen Kontexten“ (Arnold et al. 2000, S. 6). Die Fokussierung
erlaubt es, Entscheidungen bezüglich grundlegender Konzepte bis hin zur Gestaltung der Benutzungsoberfläche an den Charakteristika der Zielgruppe „Erwachsene“
auszurichten.
Für weitere Analysen des Lernens soll das in der Pädagogik bewährte Berliner
Modell des Unterrichts (Heimann et al. 1965) herangezogen werden. Dieses Modell
wurde als Hilfsmittel sowohl für die Planung als auch für die Analyse von Unterricht
entwickelt. Nach diesem Modell kann Unterricht in sechs Strukturelemente aufgeteilt
werden:
‚
Die anthropogenen, d.h. menschbezogenen, und die sozio-kulturellen Voraussetzungen werden als Bedingungsfelder des Unterrichts bezeichnet. Ein
Unterricht muss an diesen Voraussetzungen ausgerichtet werden.
‚
Die Strukturelemente Ziel, Inhalt, Methode und Medium bilden die vier
Entscheidungsfelder des Unterrichts. In diesen Feldern kann der Lehrende
(unter Berücksichtigung der äußeren Vorgaben wie z.B. Lehrpläne) Entscheidungen für seinen Unterricht treffen.
Abbildung 2.1 zeigt das Berliner Modell mit den Bedingungs- und Entscheidungsfeldern. Die Pfeile zwischen den Bedingungs- und Entscheidungsfeldern weisen
darauf hin, dass der Entscheidungsspielraum bezüglich Ziel, Inhalt, Methode und
Medium durch die beiden Bedingungsfelder begrenzt wird. Die Pfeile zwischen den
einzelnen Entscheidungsfeldern deuten die wechselseitige Abhängigkeit der Entscheidungen an, da beispielsweise die gewählte Methode zu den gewählten Zielen
passen muss. Die Pfeile vom Unterricht zurück zu den Bedingungsfeldern verdeutlichen, dass Unterricht Auswirkungen auf die Lernenden und ihr sozio-kulturelles
Umfeld hat (und haben soll!).
Das Berliner Modell wurde für schulische Unterrichtssituationen entwickelt und in der
Zwischenzeit in der Pädagogik weiter verfeinert (vgl. Schulz 1980). Für die Zwecke
dieser Arbeit kann es jedoch – gerade aufgrund seiner geringen Komplexität – als
geeignetes Instrument zur Identifikation der zu betrachtenden Aspekte des Lernens
herangezogen werden. Im Weiteren sollen die einzelnen Felder des Berliner Modells
bezogen auf die Problemstellung dieser Arbeit weiter betrachtet werden.
14
2. Problemanalyse
Entscheidungsfelder
Ziel
Inhalt
Methode
Medium
Anthropogene
Voraussetzung
Sozio-kulturelle
Voraussetzunge
Bedingungsfelder
Abbildung 2.1: Das Berliner Modell des Unterrichts
Anthropogene Voraussetzungen:
Die anthropogenen Voraussetzungen lassen sich durch Parameter wie Geschlecht,
Alter, Herkunft, Motivation, Lernkapazität, Leistung erfassen. Die Zielgruppe in dieser
Arbeit sind erwachsene Lerner. Eine ausführliche Charakterisierung erwachsener
Lerner würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, es soll jedoch kurz auf einige
Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen hingewiesen
werden: Erwachsene unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht von Kindern und
Jugendlichen in Bezug auf Lernen (vgl. Michelsen 1991). Aus physiologischer Sicht
nehmen die Wahrnehmungsfähigkeit und die Wahrnehmungsgeschwindigkeit mit
zunehmendem Alter teilweise deutlich ab. Aus motivationspsychologischer Sicht ist
die Motivation in ihrer Auswirkung auf den Lernprozess vergleichbar wichtig. Allerdings verändert sich im Laufe des Lebens das Motivationsgefüge, d.h. einzelne
Bestimmungsgrößen der Lernmotivation nehmen an Bedeutung zu oder ab. Beispielsweise sind Erwachsene weniger an Noten, Belohnungen oder Leistungsver-
2.1 Lernen, Kontext und Kooperation
15
gleichen innerhalb einer Gruppe interessiert als vielmehr am Erreichen des selbst
gesteckten Lernziels. Das Lernen Erwachsener ist häufig zielorientierter, anwendungsbezogener und soll schneller in die Praxis transferiert werden können. Aus
lernpsychologischer Sicht wird deutlich, dass u.a. bedingt durch verlängerte Lernund Reaktionszeiten die sog. „fluid intelligence“, die Fähigkeit schnell neue Inhalte zu
lernen, abnimmt, die sog. „cristallized intelligence“, die Fähigkeit bereits Gelerntes zu
nutzen, aber im Allgemeinen höher ist als bei Jugendlichen. (Für eine ausführliche
Darstellung dieser Aspekte siehe Michelsen 1991.)
Sozio-kulturelle Voraussetzungen:
Die sozio-kulturellen Voraussetzungen lassen sich u.a. durch Parameter wie Klassengröße, Ausstattung des Lernraums, Schülerauswahl, Lehrerkollegium beschreiben. Für das in den folgenden Abschnitten weiter charakterisierte Lernen in virtuellen
Lernumgebungen beeinflusst vor allem die örtliche Verteilung der am Lernprozess
Beteiligten die Entscheidungen über den Unterricht, speziell die Entscheidungen hinsichtlich der Methodik und der Medienwahl. Weitere Aspekte der sozio-kulturellen
Voraussetzungen, die sich auf die umgebende Gesellschaft oder Kultur beziehen,
lassen sich dagegen schlechter erfassen und sollen im Folgenden nicht weiter betrachtet werden.
Ziel und Inhalt:
Die Entscheidungsfelder Ziel und Inhalt sind Gegenstand pädagogischer bzw. didaktischer Überlegungen und werden im Rahmen dieser Arbeit nicht weiterbehandelt.
Methode und Medien:
Im Bereich der Methodik sind Entscheidungen u.a. bezüglich der Artikulation des
Unterrichts (Gliederung in einzelne Phasen), der Vorgehensweise (z.B. analytisch,
synthetisch, projektierend), der Sozialformen (Einzelarbeit, Partner-/Gruppenarbeit,
Plenum) und Aktionsformen (z.B. Vortrag, Demonstration, Diskussion, Stillarbeit) zu
treffen. Die Entscheidungen über einzusetzende Medien basieren auf den jeweiligen
Eigenschaften verfügbarer Medien. Die Medien können in rezeptive (Präsentations-)
Medien, interaktive Medien und Kooperationsmedien unterteilt werden. Methode und
Medium stehen in einem engen Bezug zueinander, beispielsweise erfordert die Entscheidung für eine kooperative Lernmethode bei der örtlichen Verteilung der Akteure
auch geeignete Kooperationsmedien. Die Festlegungen in den Entscheidungsfeldern
Methode und Medien bestimmen die Art der Unterstützung von Lernprozessen.
Pädagogen betonen, dass es wichtig ist, die Methodik, und hier insbesondere die
Vorgehensweise, die Sozial- und die Aktionsform im Laufe des Unterrichts immer
16
2. Problemanalyse
wieder einmal zu wechseln. Dies trägt dazu bei, die jeweiligen Stärken der einzelnen
Methoden zu nutzen und durch Abwechslung sinkender Motivation der Lernenden
vorzubeugen (vgl. bspw. Flechsig & Haller 1975).
Zusammenfassend wird in dieser Arbeit Lernen als kursbasiertes Lernen von Erwachsenen betrachtet. Bei der Unterstützung des Lernens müssen die anthropogenen und sozio-kulturellen Voraussetzungen beachtet werden. Entscheidungen sind
(neben den im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter betrachteten Festlegungen von
Zielen und Inhalten) im Bereich der Methoden und Medien des Lernens zu treffen.
Dieser Lernbegriff bildet die Grundlage für das in Abschnitt 2.3 betrachtete kooperative Lernen.
2.1.2 Kontext
Im Duden wird Kontext definiert als „umgebender Text, Zusammenhang, Inhalt (eines
Schriftstückes)“ (Duden 1991). Das zugehörige Adjektiv nach Duden (1991) heißt
kontextuell und wird erklärt als „den Kontext betreffend“ (Duden 1991). Um den
Bezug zu einem Kontext aufzuzeigen, werden in der Fachliteratur gleichbedeutend
auch die Bezeichnungen kontextbezogen, kontextsensitiv und kontextbewusst (engl.
context-related, context-sensitive, context-aware) verwendet (z.B. Dey & Abowd
1999, Dey 2001, Dix et al. 2000).
Kontext und Kontextabhängigkeit des Handelns sind Gegenstand vieler Wissenschaftsdisziplinen. Sprachwissenschaft (Linguistik) und Kommunikationswissenschaft
nutzen den Kontext zur Analyse und Interpretation menschlicher Äußerungen
(Bünting 1987). Die Psychologie beschäftigt sich mit dem Einfluss des Kontextes auf
das (individuelle) menschliche Denken und Handeln (Zimbardo & Gerrig 2003), die
Soziologie sieht dieses unter dem Blickwinkel der Interaktion zwischen Individuen
bzw. in Gruppen (Abels 2001). Die Pädagogik thematisiert die Gestaltung von Lernkontexten (Mandl et al. 1997), die Arbeitswissenschaft betrachtet die Gestaltung von
Arbeitskontexten (Luczak & Volpert 1997).
Auch in der Informatik spielt der Kontext in verschiedenen Forschungsgebieten eine
wichtige Rolle. Das Forschungsgebiet „Künstliche Intelligenz“ beschäftigt sich mit
schlussfolgerndem Denken, der dazu benötigte Kontext wird als Domänenmodell
repräsentiert (Brézillon 1999). In den letzten Jahren wird der Kontext vor allem unter
der Blickrichtung der Allgegenwärtigkeit von Computern (Forschungsgebiet „Ubiquitous Computing“) und der Nutzung mobiler Computer erforscht (Dey & Abowd
1999). Kontext bezieht sich hier meist auf (physikalische) Umgebungsbedingungen
wie den aktuellen Ort und dort verfügbare Ressourcen. Die Gestaltung der MenschMaschine-Interaktion (Forschungsgebiet „Human-Computer-Interaction“) beruht
wesentlich auf der Betrachtung des Kontextes, innerhalb dessen diese Interaktion
2.1 Lernen, Kontext und Kooperation
17
stattfinden soll (Shneiderman 1998, Wixon et al. 1990). Der Kontext der computerunterstützten Kooperation wird im Forschungsgebiet „Computerunterstütztes kooperatives Arbeiten (CSCW)“ vor allem unter dem Aspekt der Wahrnehmung des
Gruppenprozesses (Awareness; siehe Abschnitt 2.4.2) betrachtet (Borghoff &
Schlichter 1998).
Definition: Kontext
Kontext kann als die Menge von Informationen und Rahmenbedingungen, die eine
Situation umgeben, definiert werden. Da dies eine potentiell sehr große Menge ist,
muss der Kontextbegriff im Sinne der Handhabbarkeit weiter eingegrenzt werden.
Kontext soll nur die relevanten Informationen und Rahmenbedingungen zur Charakterisierung einer Situation beinhalten. Um die Relevanz einer Information oder
Rahmenbedingung beurteilen zu können, muss ein Ziel betrachtet werden. Weiterhin
ist ein Ziel an eine Entität gebunden: Jemand oder etwas hat ein Ziel. Zur Erreichung
dieses Ziels ist eine Menge von Informationen und Rahmenbedingungen relevant.
Definition: Kontextuell
Ein Computersystem ist kontextuell, wenn es den Kontext benutzt, um dem Benutzer
relevante Informationen oder Dienste zur Verfügung zu stellen, wobei die Relevanz
von der Aufgabe des Benutzers abhängt (vergl. Dey & Abowd 1999).
In den weiteren Abschnitten dieses Kapitels wird der Kontextbegriff im Hinblick auf
diese Arbeit weiter verfeinert.
2.1.3 Kooperation
Kooperation als die Zusammenarbeit von Personen wird vor allem im interdisziplinären Fachgebiet Computerunterstütztes kooperatives Arbeiten (CSCW) erforscht.
Kooperation basiert auf der Interaktion zwischen Personen.
In der Soziologie wird mit Interaktion die wechselseitige Beeinflussung des Verhaltens von Individuen und Gruppen bezeichnet (Brockhaus 1970, Fuchs-Heinritz et
al. 1994). In der Informatik wird Interaktion häufig im Sinne der Mensch-ComputerInteraktion, also der wechselseitigen Beeinflussung des Verhaltens des Benutzers
durch den Computer bzw. des Computers durch den Benutzer, gebraucht.
Eine Form der Interaktion ist die Kommunikation. Sie dient der Verständigung und
dem Austausch von Informationen. Während im allgemeinen Sprachgebrauch damit
die Interaktion zwischen Personen gemeint ist, wird der Begriff Kommunikation in der
Informatik auch für die Interaktion zwischen technischen Systemen (unter Nutzung
18
2. Problemanalyse
von Kommunikationsprotokollen) verwendet. In dieser Arbeit wird Kommunikation
jeweils auf Personen bezogen betrachtet, also die Kommunikation zwischen Personen unter Nutzung vernetzter Computer. Kommunikation erfolgt sowohl in Situationen, die durch unterschiedliche oder sich widersprechende Zielsetzungen gekennzeichnet sind (Konflikt, Konkurrenz), als auch in Situationen, die durch gemeinsame
Ziele und Zusammenarbeit (Koordination, Kooperation, Kollaboration) gekennzeichnet sind.
Die Koordination bezeichnet allgemein die Abstimmung von Personen bei der Bearbeitung von Aufgaben. Diese Koordination wird durch Kommunikation realisiert
(Herrmann 2001, S. 23). Ziel der Koordination ist das Beherrschen der Abhängigkeiten zwischen Zielen, Aktivitäten und Akteuren bei der Bearbeitung einer Aufgabe
(Malone & Crowstone 1994). Dazu zählt beispielsweise die Zerlegung einer komplexen Aufgabe in Teilschritte oder die Zuordnung von Mitarbeitern zu Teilaufgaben
(vgl. Herrmann 2001, S. 25).
Mit Kooperation oder Kollaboration wird die Zusammenarbeit der Gruppenmitglieder
bei der Erledigung einer (gemeinsamen) Aufgabe bezeichnet. Voraussetzung für
diese Zusammenarbeit ist die Kommunikation (z.B. von Teilergebnissen) sowie die
Koordination der gemeinsamen Arbeit (z.B. von Teilaufgaben).
Während manche Autoren die Begriffe Kooperation und Kollaboration weitgehend synonym verwenden (z.B. Harasim et al. 1995), differenzieren andere Autoren
zwischen ihnen nach dem Grad der inhaltlichen oder methodischen Strukturierung
der Gruppenarbeit (z.B. Matthews et al. 1995). Danach bezeichnet Kooperation eine
eher strukturierte Zusammenarbeit, Kollaboration eine eher unstrukturierte Zusammenarbeit. Eine besondere Schwierigkeit bei der Verwendung des Begriffs Kollaboration im deutschsprachigen Raum liegt darin begründet, dass Kollaboration im allgemeinen Sprachgebrauch in der Bedeutung einer verräterischen oder eigennützigen
Zusammenarbeit mit dem Feind verwendet wird (siehe Duden 1991, Brockhaus
1970). Im Forschungsbereich CSCW hat sich der Begriff Kooperation als Oberbegriff
für alle Formen der Zusammenarbeit bei der Erledigung einer Aufgabe durchgesetzt
(vgl. FG CSCW o.J.).
Definition: Kooperation
Eine Kooperation wird in dieser Arbeit durch eine Gruppe von Personen und eine von
dieser Gruppe bearbeitete Aufgabe definiert. Die Gruppe ist durch ihre Mitglieder und
die Gruppenstruktur definiert. Die Aufgabe umfasst die Aufgabenstellung, dazu
benötigte Ressourcen, das Ziel der Aufgabenbearbeitung und die Methode der
Zusammenarbeit bei der Aufgabenbearbeitung.
2.2 Virtuelle Lernumgebungen
19
Definition: Kontext einer Kooperation
Der Kontext einer Kooperation bezeichnet die Menge der aus Sicht einer Entität zur
Erreichung des Kooperations(teil)zieles relevanten Informationen und Rahmenbedingungen.
2.2 Virtuelle Lernumgebungen
In diesem Abschnitt werden der Begriff virtuelle Lernumgebung und weitere damit
zusammenhängende Begriffe geklärt.
2.2.1 Lernumgebung und virtuelle Umgebung
In der Pädagogik wird mit Lernumgebung das gesamte Umfeld eines Lernprozesses
bezeichnet. Im Sinne des im Abschnitt 2.1.1 vorgestellten Berliner Modells umfasst
die Lernumgebung die anthropogenen und sozio-kulturellen Voraussetzungen des
Lernens.
Der Begriff virtuell wird inflationär für computergestützte Werkzeuge, Prozesse und
Datensammlungen verwendet (vgl. Schulmeister 2001, S. 222). Seufert und Mayr
(2002) differenzieren drei Bedeutungen:
‚
Nicht real vorhanden, aber scheinbar existierend
‚
Nicht gleich, aber sehr ähnlich
‚
Digital, computer- oder internetbasiert
In dieser Arbeit bezeichnet ein virtueller Raum die Kombination aus
‚
einem im Computer repräsentierten logischen Ort (z.B. eine Webseite, eine
Sitzung),
‚
einer Menge von Personen,
‚
einer Menge von Objekten, auf denen die Personen im virtuellen Raum operieren können, und
‚
einer Menge von Handlungsmöglichkeiten, mit denen die Personen die
Objekte manipulieren können sowie miteinander kommunizieren, sich koordinieren und zusammenarbeiten können.
Eine virtuelle Welt ist eine Menge von virtuellen Räumen, zwischen denen Personen
navigieren können. Eine virtuelle Umgebung ist eine Software, die eine virtuelle Welt
für Benutzer zugänglich macht.
20
2. Problemanalyse
2.2.2 Virtuelle Lernumgebungen
Virtuelle Lernumgebungen sind virtuelle Umgebungen, die Lernprozesse von Personen in einer virtuellen Welt weitgehend unabhängig von Ort und Zeit ermöglichen
bzw. fördern. Im einfachsten Fall wird eine solche virtuelle Lernumgebung nur von
einem einzigen Benutzer verwendet (d.h. die Menge der Benutzer umfasst genau
diese Person; Einbenutzer-Lernumgebung). Teilen mehrere Benutzer dieselbe virtuelle Welt, liegt eine Mehrbenutzer-Lernumgebung vor. In diesem Fall interagiert nicht
nur jeder Benutzer mit der virtuellen Welt, sondern die Benutzer können miteinander
(über das Medium der virtuellen kooperativen Welt) in der Lernumgebung kooperieren. (Vgl. Haake & Wessner 2001)
Virtuelle Lernumgebungen sind eine Ausprägung von Lernsoftware. Lernsoftware soll
hier als Oberbegriff für alle Arten von Software zur Unterstützung von Lehr- und
Lernprozessen stehen. Dabei herrscht eine große begriffliche Vielfalt in Bezug auf
verschiedene Arten von Lernsoftware (vgl. Schulmeister 1997, Oberle & Wessner
1998).
Virtuelle Umgebungen können beispielsweise von Computer-based Training (CBT),
multimediale Lernsoftware und intelligenten tutoriellen Systemen abgegrenzt werden
(vgl. Schulmeister 1997). Der neuere Begriff E-Learning wird in der Regel synonym
zu Lernsoftware gebraucht, betont oft aber auch das Internet als technisches
Medium. Im engeren Sinne findet E-Learning statt, „wenn Lernprozesse in Szenarien
ablaufen, in denen gezielt multimediale und (tele-)kommunikative Technologien
integriert sind“ (Seufert & Mayr 2002).
Die Bezeichnungen Virtuelle Lernumgebung, (webbasierte) Lernplattform und
Learning Management System (LMS) werden synonym gebraucht (vgl. Schulmeister
2003, S. 10, Baumgartner et al. 2002, S. 30). Engere Definitionen dieser Begriffe, die
beispielsweise auf die rein serverseitige Installation der Software abheben oder die
Nutzung des Internets voraussetzen (Baumgartner 2001), haben sich bisher nicht
durchgesetzt. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird die Bezeichnung virtuelle Lernumgebung, kurz: Lernumgebung verwendet. Zur Beschreibung von in Lernumgebungen genutzten Entitäten (beispielsweise von Lernobjekten, Kursen, Benutzerprofilen) existieren eine Reihe von Standardisierungsvorschlägen (vgl. IEEE LTSC
2004).
Baumgartner und Payr vertreten die These, dass Lernsoftware nicht „didaktisch
neutral“ sein kann (Baumgartner & Payr 1994). Eine Lernsoftware zeigt vielmehr
immer auch die vom Entwickler bzw. Designer der Software implizit oder explizit
zugrunde gelegte Lerntheorie (vgl. Baumgartner & Payr 1994). Virtuelle Lernumgebungen bieten die technischen Voraussetzungen für die Umsetzung verschiedener
2.2 Virtuelle Lernumgebungen
21
Lerntheorien. Beispielsweise können konstruktivistische Ansätze durch die Funktionen zur Kommunikation und zur Konstruktion von Objekten unterstützt werden.
2.2.3 Elemente virtueller Lernumgebungen
Lernumgebungen dienen der Organisation und Betreuung von Lernprozessen. Dazu
verfügen sie typischerweise über folgende Funktionsbereiche (vgl. Schulmeister
2003):
‚
Benutzerverwaltung
‚
Kursverwaltung
‚
Rollen- und Rechtevergabe
‚
Kommunikations- und Lernwerkzeuge
‚
Darstellung der Inhalte in einem netzwerkfähigen Browser
Weiter werden noch Funktionalitäten zur Erstellung von Lerninhalten (Piendl &
Brugger 2001) sowie zur Evaluation und Bewertung (Baumgartner et al. 2002) gefordert. Ein Werkzeug zum Vergleich von Lernumgebungen hinsichtlich ihrer Funktionalitäten findet man auf der Webseite der „Western Cooperative for Educational
Telecommunications“ (EduTools 2004).
2.2.4 Kontext des Lernens in virtuellen Lernumgebungen
Lernen in virtuellen Lernumgebungen hat Vorteile gegenüber dem Lernen mit anderen (früheren) Arten von Lernsoftware, es bestehen jedoch weiterhin Defizite (vgl.
bspw. Schulmeister 2001). Dies umfasst zum einen Probleme bei der Gestaltung von
Lernprozessen, zum anderen fehlende Funktionalitäten.
Hinsichtlich der Gestaltung wird festgestellt, dass in der Regel traditionelle Wege der
Wissensvermittlung unreflektiert in das neue technologische Medium übertragen
werden. Virtuelles Lernen wird als Stoffvermittlung konzipiert und die Interaktionsmöglichkeiten des neuen Mediums werden selten richtig genutzt (Schulmeister 2001,
S. 226).
In funktionaler Hinsicht berücksichtigen virtuelle Lernumgebungen den Kontext des
Lerners nicht ausreichend (Schmidt & Winterhalter 2004). Dies betrifft nach Schmidt
und Winterhalter (2004) die Anpassung an die Charakteristika des Lernenden und
die Unterstützung von Prozessen und Aufgaben (organisatorischer Kontext).
22
2. Problemanalyse
Definition: Kontext des Lernens in einer virtuellen Lernumgebung
Der Kontext des Lernens in einer virtuellen Lernumgebung bezeichnet die Menge der
aus Sicht einer Person (vor allem: eines Lernenden oder eines Tutors) zur
Erreichung des Lernzieles relevanten Informationen und Rahmenbedingungen. Dies
beinhaltet u.a. das Lernmaterial, die Werkzeuge, das Lernerprofil sowie Informationen über andere Personen in der virtuellen Lernumgebung.
2.3 Kooperatives Lernen
In diesem Abschnitt wird kooperatives Lernen als eine Form des Lernens dargestellt.
Dabei wird deutlich, dass kooperatives Lernen nicht mit jeglichem Lernen in Gruppen
gleichzusetzen ist. Vielmehr werden beim kooperativen Lernen bestimmte Anforderungen an die Lerngruppe und ihre Mitglieder sowie an die zu bearbeitenden Aufgaben gestellt.
2.3.1 Kooperatives und kollaboratives Lernen
Auch für das gemeinsame Lernen werden die beiden Begriffe Kooperation und
Kollaboration (vgl. Abschnitt 2.1.3) verwendet. In der Fachliteratur werden die
Bezeichnungen kooperatives Lernen und kollaboratives Lernen teilweise synonym
verwendet, teilweise wird zwischen ihnen – in unterschiedlicher Weise – differenziert.
Häufig wird kooperatives Lernen als durch einen Lehrenden oder eine Aufgabenstellung vorstrukturiertes gemeinsames Lernen definiert, während kollaboratives
Lernen keine oder nur eine geringe (externe) Strukturierung aufweist. Wichtigstes
Kriterium für kollaboratives Lernen ist das Bekenntnis aller Gruppenmitglieder zum
gemeinsamen (Lern-)Ziel (vgl. z.B. Mayrberger 2004). Kienle (2003) differenziert
zwischen kooperativ und kollaborativ nicht nach dem Vorhandensein einer Strukturierung, sondern im Hinblick auf das Ziel der Zusammenarbeit. Danach steht kooperatives Lernen für die Zusammenarbeit mit dem Ziel des individuellen Wissenszuwachses, während kollaboratives Lernen die Bedeutung des gemeinsamen Verständnisses (Konsens) innerhalb der Lerngruppe betont. Neben kooperativ und
kollaborativ werden zuweilen auch die Bezeichnungen kollektiv oder konversational
(Koschmann 1996; Koschmann et al. 2002) für gemeinsames Lernen gebraucht.
Für diese Arbeit soll kooperatives Lernen als Oberbegriff verwendet werden. Dabei
wird der Lernprozess als potentiell strukturiert betrachtet. Kollaboratives Lernen kann
als Spezialfall des kooperativen Lernens betrachtet werden, indem die Strukturierung
die einfachste Form annimmt, d.h. keine Vorgaben zur Struktur existieren.
2.3 Kooperatives Lernen
23
Definition: Kooperatives Lernen
Kooperatives Lernen ist ein Prozess, in dem mehrere Personen in einer Lernumgebung kommunizieren und kooperieren, um gemeinsam Wissen aufzubauen bzw.
zu erwerben. (vgl. Slavin 1995).
Zur Gestaltung und Erklärung des kooperativen Lernens werden verschiedene
Theorien herangezogen (Slavin 1995, Koschmann 1996a). Wichtige theoretische
Grundlagen liefern der Konstruktivismus, die sozio-kulturelle Theorie und die Theorie
der verteilten Kognition. Eine Gemeinsamkeit aller Theorien besteht darin, dass Lernen jeweils als aktiven Prozess des Lernenden in einer authentischen, multiperspektivischen Situation betrachtet wird (Slavin 1995, Koschmann 1996a). Nach
dem Konstruktivismus (vgl. z.B. Sherman 1995) kann Wissen nicht zum Lernenden
transferiert werden, sondern dieser muss sich das Wissen aktiv durch Erfahrung aufbauen. Die sozio-kulturelle Theorie (Vygotsky 1978) betont, dass ein individueller
Wissenszuwachs zunächst durch Interaktion mit der sozialen Umgebung entsteht
und erst danach internalisiert wird. Ein wichtiges Konzept ist die Zone der nächsten
Entwicklung. Sie bezeichnet denjenigen Wissensbereich, den ein Lernender zwar in
Interaktion mit z.B. fortgeschritteneren Lernenden, aber noch nicht alleine beherrscht. Die Theorie der verteilten Kognition (Hutchins 1991) rückt das Zusammenspiel der Individuen, der sozialen Umgebung und der kulturellen Artefakte in den
Mittelpunkt der Betrachtung. Lernen vollzieht und zeigt sich von individuellen Anstößen ausgehend in der Interaktion mit anderen und in Werkzeugen und Gegenständen. An weiteren Theorien werden häufig die Cognitive Flexibility Theorie (Spiro
et al. 1988), Problembasiertes Lernen (Cognition and Technology Group at Vanderbilt 1993), Cognitive Apprenticeship (Collins et al. 1989) und Situiertes Lernen (Lave
& Wenger 1990) zur Begründung des kooperativen Lernens herangezogen.
Mit diesen Theorien lassen sich die Vorteile des kooperativen Lernens gegenüber
individuellem und kompetitivem Lernen begründen. Diese Vorteile wurden in zahlreichen Studien nachgewiesen (vgl. die Metaevaluation in Slavin (1995)). Panitz
(1997) führt insgesamt 66 Vorteile des kooperativen Lernens auf und teilt sie nach
dem inhaltsbezogenen, dem sozialen und dem psychologischen Nutzen sowie den
erweiterten Beurteilungsmöglichkeiten in vier Gruppen ein:
‚
Inhaltsbezogener Nutzen: Kooperatives Lernen fördert die Fähigkeit zu kritischem Denken, erreicht die aktive Beteiligung der Lernenden, verbessert die
Lernerfolge im Klassenzimmer, vermittelt Problemlösetechniken, erlaubt die
Personalisierung von Vorlesungen und bietet weitere, fachspezifische Vorteile.
24
2. Problemanalyse
‚
Sozialer Nutzen: Kooperatives Lernen realisiert ein soziales Unterstützungssystem für die Lernenden, fördert die Toleranz, bewirkt eine positive Einstellung zu Modelllernen, Kooperation und dem Lernen in Gemeinschaften.
‚
Psychologischer Nutzen: Kooperatives Lernen steigert das Selbstwertgefühl
der Lernenden, reduziert die Ängstlichkeit, fördert eine positive Einstellung
gegenüber den Lehrenden.
‚
Alternative Beurteilungsmöglichkeiten: Kooperatives Lernen erweitert das
Spektrum der Beurteilungsmöglichkeiten. Die Beobachtung der Lernenden
und die Selbstbeurteilung der Gruppe liefern zusätzliche Anhaltspunkte für die
Beurteilung der Lernenden. Außerdem erhält der Lehrende durch die
Beobachtung eine schnelle Rückmeldung über die Lernprozesse und kann
entsprechend reagieren.
In Gruppen sind im Vergleich zu individuellem Lernen neue Lernformen möglich, beispielsweise reziprokes Lernen, Lernen durch Diagnose, Lernen durch Beobachten
und Lernen durch Diskussion. Daneben eignet sich kooperatives Lernen auch, um
soziale Fähigkeiten und kooperative Verhaltensweisen zu erlernen bzw. zu vertiefen.
In einem engeren Sinne wird für kooperatives Lernen gefordert, dass alle Gruppenmitglieder den gleichen Status haben und jeweils (auch) individuell verwertbares
Wissen erwerben (Dansereau & Johnson 1994). In diesem Sinne kann kooperatives
Lernen von Tutoring und Team-Training abgegrenzt werden: Kooperatives Lernen
kann von einem Tutor geleitete Phasen (Tutoring) beinhalten. Überwiegt aber der
Anteil solcher Phasen, verhindert das Statusgefälle zwischen Tutor und Lernenden
kooperatives Lernen. Das Team-Training zielt auf die Förderung des Teams (der
Gruppe) und weniger auf die Förderung der einzelnen Mitglieder.
Nimmt man kooperatives Lernen als Form des Lernens können die Elemente des
Berliner Modells des Unterrichts (vgl. Abschnitt 2.1.1) weiter spezifiziert werden:
‚
Bedingungsfeld Anthropogene Voraussetzungen: Für die Unterstützung des
kooperativen Lernens sind neben den allgemeinen Parametern zur Beschreibung der beteiligten Personen insbesondere auch solche von Interesse, die
die Einstellungen, Erfahrungen und die Eignung in Bezug auf kooperatives
Lernen erfassen. Diese Parameter wirken sich auf die Zusammensetzung und
Bildung von Lerngruppen aus (vgl. die Abschnitte 2.3.3 und 2.3.4).
‚
Bedingungsfeld Sozio-kulturelle Voraussetzungen: Die Unterstützung des
kooperativen Lernens muss insbesondere die Eignung der Lernumgebung (im
pädagogischen Sinne) für das kooperative Lernen berücksichtigen und auf die
2.3 Kooperatives Lernen
25
Förderung einer geeigneten Lern- und Kooperationskultur zielen (vgl. die Abschnitte 2.3.2 und 2.3.5).
‚
Entscheidungsfelder Ziel und Inhalt: Entscheidungen hinsichtlich dieser Felder
gehören in den Kompetenzbereich der Pädagogik bzw. Didaktik und werden
hier nicht weiter behandelt.
‚
Entscheidungsfelder Methode und Medium: Die Wahl der Lernform kooperatives Lernen beschränkt die Auswahl der Sozial- und Aktionsformen und
erfordert die Bereitstellung geeigneter Kooperationsmedien. Kooperatives
Lernen kann durch verschiedene Methoden praktisch umgesetzt werden (vgl.
die Abschnitte 2.3.6 und 2.3.7).
2.3.2 Kooperative Episoden
Wie in Abschnitt 2.1.1 allgemein für Lernen gefordert, soll auch im kursbasierten
Lernen Erwachsener möglichst zwischen verschiedenen Methoden und Sozialformen
abgewechselt werden. Ähnlich wie kooperative Arbeitsprozesse in der Regel aus
individuellen und kooperativen Phasen bestehen (vgl. Schwabe 2002), wird auch
kooperatives Lernen als eine Kombination individueller und kooperativer Lernphasen
betrachtet (Linder & Rochon 2003). In kooperativen Lernphasen werden Aufgaben je
nach Zeitdauer in informellen oder formalen kooperativen Lerngruppen bearbeitet
(vgl. Abschnitt 2.3.4). Eine solche kooperative Phase innerhalb eines individuellen
Lernprozesses wird als kooperative Episode bezeichnet (Linder & Rochon 2003).
Lernepisode wird im Folgenden als Überbegriff für individuelle und kooperative
Phasen verwendet.
Damit die oben genannten Potentiale des kooperativen Lernens wirksam werden
können, muss eine kooperative Episode bestimmte Bedingungen erfüllen (vgl. Kienle
2003, S. 49; Slavin 1995). Die Gestaltung der kooperativen Episode muss so erfolgen, dass effektives kooperatives Lernen stattfindet. Effektives kooperatives Lernen
zeigt sich in folgenden Aspekten der Gruppenarbeit (Johnson & Johnson 1990,
Johnson et al. 1991; in Klammern ist jeweils die von Johnson & Johnson gewählte
Bezeichnung angegeben).
Positive Abhängigkeit (positive interdependence): Die Gruppenmitglieder nehmen
wahr, dass eine Abhängigkeit zwischen ihnen derart besteht, dass keiner erfolgreich
sein kann, ohne dass auch die anderen erfolgreich sind bzw. dass das gewünschte
Ergebnis nur erreicht werden kann, wenn alle ihre Aktivitäten koordinieren. Es gibt
zwei Arten der Abhängigkeit, die Ergebnis- und die Mittelabhängigkeit. Erstere umfasst das Ziel, den Endzustand und die Belohnung, letztere die Abhängigkeit in
Bezug auf Ressourcen, Rollen und (Teil-)Aufgaben. Die positive Abhängigkeit führt
26
2. Problemanalyse
zu höherer Motivation, da jeder die Notwendigkeit und den Effekt eigener Anstrengungen wahrnehmen kann. Dabei ist das gemeinsame Ziel die wichtigste Abhängigkeit, die Kombination mehrerer Abhängigkeiten kann die Wirkung verstärken.
Individuelle Zurechenbarkeit/Persönliche Verantwortlichkeit (individual accountability/personal responsibility): Jedes Gruppenmitglied trägt die Verantwortung für die
Erledigung der von ihm übernommenen Aufgaben und für das Unterstützen der Aktivitäten der anderen Gruppenmitglieder. Dies wird gefördert durch die individuelle
Zurechenbarkeit der Leistung, d.h. die von einem Gruppenmitglied erbrachten
Leistungen gehen nicht im gemeinsamen Ergebnis unter, sondern sind im Ergebnis
sichtbar. Diese Eigenschaft hängt mit der positiven Abhängigkeit zusammen und
verstärkt deren Wirkung.
Fördernde Interaktion (promoting interaction): Die Gruppenmitglieder ermutigen und
fördern sich bei der Erledigung ihrer Aufgaben zur Erreichung des gemeinsamen
Ziels. Dies umfasst u.a., dass die Gruppenmitglieder einander helfen, benötigte Informationen und Hilfsmittel austauschen, sich konstruktives Feedback geben, die Argumente und Teilergebnisse der anderen mit dem Ziel hinterfragen, zu besserem Verständnis und besser begründeten Entscheidungen zu kommen.
Soziale Kompetenz (social skills): Die Gruppenmitglieder lernen sich gegenseitig
kennen und bauen ein Vertrauensverhältnis auf, kommunizieren klar und verbindlich,
akzeptieren und unterstützen sich gegenseitig und wenden konstruktive Konfliktlösestrategien an. Ein bestimmtes Maß an sozialer Kompetenz ist Voraussetzung für
kooperatives Lernen. Gleichzeitig kann kooperatives Lernen durch entsprechendes
Feedback durch den Lehrenden oder die Gruppe die soziale Kompetenz der
Gruppenmitglieder fördern.
Reflexion der Gruppenarbeit (group processing): Die Gruppenmitglieder thematisieren regelmäßig ihre Zusammenarbeit und mögliche Änderungen. Dadurch wird die
Zusammenarbeit verbessert. Gleichzeitig erhalten die einzelnen Gruppenmitglieder
Feedback zu ihrem Beitrag am Gruppenprozess.
Zahlreiche Studien (vgl. Johnson et al. 1991) zeigen, dass diese fünf Gruppeneigenschaften den Rahmen für erfolgreiche Gruppenarbeit im Sinne des kooperativen
Lernens schaffen. Bei der Gestaltung kooperativer Episoden sind diese Anforderungen an die Arbeit einer Lerngruppe zu berücksichtigen.
Cohen (1994) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen „echten“ und
„unechten“ kooperativen Aufgaben. Während echte kooperative Aufgaben von
keinem Gruppenmitglied alleine mit vertretbarem Aufwand zu bewältigen sind, sind
unechte kooperative Aufgaben solche, die auch alleine erfolgreich bearbeitet werden
2.3 Kooperatives Lernen
27
können. Nur echte kooperative Aufgaben ermöglichen die oben beschriebende Art
von Gruppenarbeit.
2.3.3 Bildung von Lerngruppen
Im Hinblick auf die Dauer der Zusammenarbeit kann zwischen drei Arten von Lerngruppen differenziert werden (vgl. Johnson & Johnson 1996):
‚
Informelle kooperative Lerngruppen werden ad hoc gebildet und haben für
wenige Minuten bis zu einer kompletten Lernsitzung Bestand. Ihr Einsatz
erfolgt gezielt, um die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema zu lenken,
die Erwartungen der Lernenden zu klären, sicherzustellen, dass ein bestimmtes Lehrmaterial bearbeitet wird, oder eine Unterrichtseinheit abzuschließen.
‚
Formale kooperative Lerngruppen bearbeiten für eine oder mehrere Lernsitzungen eine bestimmte Unterrichtseinheit gemeinsam. Der Lehrende führt
in die Aufgabe ein und gibt den organisatorischen Rahmen der Gruppenarbeit
vor. Er beobachtet die Lernenden während der Gruppenarbeit und liefert bei
Bedarf weitere Hilfestellung. Zum Abschluss der Gruppenarbeit erfolgt eine
Bewertung der Gruppenarbeit durch den Lehrenden und/oder die Gruppe
selbst.
‚
Kooperative Basisgruppen existieren über einen längeren Zeitraum (mindestens ein Semester). Ihre Mitglieder unterstützen sich gegenseitig bei ihren
Lernfortschritten fachlicher, sozialer und methodischer Art.
Informelle und formale kooperative Lerngruppen unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihrer Lebensdauer und der Art bzw. Komplexität der zu bearbeitenden Aufgabe. Sie sind eingebettet in einen (nicht-kooperativen) Lernprozess, sei es der
Unterricht in traditionellen Szenarien oder das kursbasierte (individuelle) Lernen, das
in dieser Arbeit betrachtet wird. Kooperative Basisgruppen existieren parallel zum
traditionellen Unterricht bzw. kursbasierten Lernen.
Der Erfolg des kooperativen Lernens hängt stark vom Gruppenklima, von der geeigneten Gestaltung der Aufgabe und von der Passung von Gruppe und Aufgabe ab
(Kagan 1994, S. 4:2). Das Gruppenklima wird durch die Gruppenidentität (WirGefühl) und das Verhältnis zwischen den Gruppenmitgliedern (freundschaftliche
Gefühle, Respekt und Vertrauen) bestimmt (Kagan 1994, S. 4:2). Die Aufgabe ist so
zu gestalten, dass die Anforderungen an eine Lerngruppe (siehe Abschnitt 2.3.2)
erfüllt werden können. Die Passung zwischen Gruppe und Aufgabe umfasst die für
diese Aufgabe passende Größe und Zusammensetzung der Lerngruppe sowie
weitere Aspekte (z.B. Verständlichkeit und Lösbarkeit der Aufgabe für die Lernen-
28
2. Problemanalyse
den). Im weiteren werden die Fragen nach der Größe und Zusammensetzung von
Lerngruppen diskutiert.
Die Kriterien für die Bestimmung der Größe einer Lerngruppe richten sich nach der
Dauer und dem Ziel des kooperativen Lernens. Je größer eine Gruppe ist, desto
weniger Anteil hat jedes Gruppenmitglied am gemeinsamen Ergebnis, desto weniger
Redezeit bzw. Aufmerksamkeit der Gruppe steht ihm zur Verfügung, desto größer ist
die Gefahr, dass einzelne Gruppenmitglieder sich nicht angemessen an der
Gruppenarbeit beteiligen. Andererseits ist die Meinungs- und Erfahrungsvielfalt in der
Gruppe umso geringer, je kleiner die Gruppe ist. Verschiedene Studien und Praxisberichte legen Gruppengrößen zwischen zwei und vier nahe (Cohen 1994; Felder &
Brent 1994; Johnson & Johnson 1996, Kagan 1994, Slavin 1995).
Gruppen mit drei oder vier Mitgliedern sind groß genug, um genügend viele verschiedene Meinungen, Lernstile und Erfahrungen in der Gruppe zu haben. Andererseits ist eine solche Gruppe klein genug, um unerwünschte Gruppeneffekte (Cohen
1994; siehe Abschnitt 2.3.8 zu den Problembereichen kooperativen Lernens) zu verhindern.
Die Heterogenität der Gruppe z.B. in Bezug auf den Leistungsstand, den bevorzugten Lernstil, das Alter, das Geschlecht und die ethnische Zugehörigkeit wirkt sich
für kooperatives Lernen positiv aus, da dadurch verschiedene Zugänge zum Lerngegenstand in der Gruppe existieren und in der Gruppenarbeit thematisiert werden
(Johnson & Johnson 1996). Heterogene Gruppen begünstigen das Auftreten des
wechselseitigen Lehrens zwischen den Gruppenmitgliedern. Aufgrund der unterschiedlichen Interessen und Leistungsstände ist es wahrscheinlicher, dass sich die
Lernenden untereinander Wissen vermitteln, was sowohl für den „Lehrenden“ als
auch den „Lernenden“ positive Effekte hat. Ein weiterer Vorteil heterogener Gruppen
ist vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene von Bedeutung: Heterogene
Gruppen sind besser als homogene Gruppen geeignet, Lernende auf die (heterogene) Gesellschaft vorzubereiten, da die Lernenden in der Gruppe mit Partnern aus
unterschiedlichen Kulturen, mit unterschiedlichen Einstellungen und Perspektiven
arbeiten (Johnson & Johnson 1996).
Um die Funktionsfähigkeit der Gruppe zu gewährleisten, ist jedoch ein Mindestmaß
an Homogenität notwendig. Insbesondere sollte die Heterogenität in Bezug auf das
kognitive Niveau nicht allzu groß sein (Slavin 1990). Im Einklang mit soziokonstruk-
2.3 Kooperatives Lernen
29
tivistischen Theorien (vgl. Abschnitt 2.2) wirken sich kleine Unterschiede positiver auf
den Lernprozess und auf den Wissenszuwachs aus als große Unterschiede. 4
Heterogenität ist nicht in allen Fällen besser als Homogenität (vgl. Gage & Berliner
1996, S. 465). Wenn beispielsweise Textverstehen und sprachliche Fähigkeiten eine
große Rolle bei der Bearbeitung einer Aufgabe spielen, soll die Gruppe in Bezug auf
die sprachliche Kompetenz der Mitglieder möglichst homogen sein. In Bezug auf
andere Eigenschaften der Lernenden soll aber auch bei solchen Aufgaben
Heterogenität herrschen (Kagan 1994, S. 6:12).
Johnson und Johnson (1996) kommen nach der Diskussion zahlreicher, z.T. widersprüchlicher Ergebnisse von Studien zum Schluss, dass kooperatives Lernen sowohl
bei homogenen als auch bei heterogenen Gruppen Vorteile gegenüber individuellem
Lernen haben kann. Während schwache Lernende in heterogenen Gruppen sich
deutlich verbessern konnten, lernen gute Lernende entweder auch dazu oder
erreichten zumindest dieselben Ergebnisse wie gute Lernende in homogenen
Gruppen.
Gruppen können auf verschiedene Arten zusammengestellt werden. Die Entscheidung über die Zuordnung der Lernenden zu Gruppen kann von den Lernenden
selbst, vom Lehrenden oder unter Nutzung bestimmter Gruppenbildungsverfahren
getroffen werden. Diese Arten sind mit unterschiedlichem Aufwand verbunden. Ihre
Eignung hängt von der Art der Aufgabe ab.
Eine zufällige Zuordnung der Lernenden zu Gruppen erfordert geringen Aufwand. Sie
eignet sich für kurze kooperative Episoden. Zufällig zusammengestellte Gruppen in
kurzen Episoden führen zu großer Abwechslung und guter Weitergabe von Wissen in
den wechselnden Gruppen (Kagan 1994, S. 6:11).
Die sorgfältige Zusammenstellung einer Gruppe durch den Lehrenden unter Berücksichtigung der jeweils angemessenen Heterogenität bzw. Homogenität erfordert zwar
höheren Aufwand als die zufällige Zusammenstellung, führt aber zu größeren Lernerfolgen (Kagan 1994, S. 6:11). Die Zusammenstellung durch den Lehrenden kann
weiterhin als Vorbereitung auf das Berufsleben gesehen werden, in dem Gruppen in
der Regel nicht frei gewählt, sondern durch Vorgesetzte zusammengestellt. Kagan
(1994, S. 6:1ff.) beschreibt eine Reihe von praxisnahen Methoden und Hilfsmitteln
zur Gruppenbildung durch den Lehrenden.
Wird die Gruppenzusammensetzung von den Lernenden selbst vorgenommen, entstehen meist eher homogene Gruppen mit hoher gegenseitiger Akzeptanz. Hetero4
Zur kognitiven Entwicklung und der Problematik der Bestimmung kognitiver Niveaus vgl. Zimbardo
& Gerrig 2003, S. 65ff.
30
2. Problemanalyse
genität kann in diesem Fall dadurch erreicht werden, dass der Lehrende bestimmte
Kriterien zur Zusammenstellung der Gruppe oder zur Fluktuation der Mitglieder vorgibt (Felder & Brent 1994).
Da jede Art der Gruppenzusammenstellung jeweils spezifische Stärken und
Schwächen aufweist, empfiehlt es sich, verschiedene Arten zu berücksichtigen und
im Lernprozess abwechselnd zu verwenden (Kagan 1994, S. 6:11).
Zusammenfassend ergeben sich als Anforderungen für diese Arbeit, dass Gruppen
verschiedener Größe zu berücksichtigen sind, dass Fragen der Homogenität bzw.
Heterogenität bei der Zusammensetzung von Gruppen beachtet werden müssen und
dass verschiedene Arten der Gruppenbildung in Betracht zu ziehen sind.
2.3.4 Kooperatives Lernen Erwachsener
Bisher wurde kooperatives Lernen meist in Schulen und Hochschulen eingesetzt und
erforscht, für den Einsatz mit Erwachsenen außerhalb der Hochschule liegen nur
wenige Erfahrungen vor (vgl. Dansereau & Johnson 1994, Johnson et al. 1991,
Slavin 1995). Da erwachsene Lerner meist bereits über persönliche Strategien und
gefestigte Einstellungen verfügen, fällt ihnen das Umlernen schwerer als Kindern und
Jugendlichen. Dies betrifft mit ihrem Wissen, ihrer Erfahrung oder ihrem Weltbild in
Widerspruch stehende Inhalte ebenso wie ihnen aus der eigenen Schulzeit unbekannte offenere Lernformen. Huber (1997) unterscheidet bei Erwachsenen ungewissheitsorientierte und gewissheitsorientierte Lerner. Ungewissheitsorientierte Lerner werden durch Widersprüche und Ungewissheiten motiviert, gewissheitsorientierte
Lerner möchten Ungewissheiten im Lernprozess möglichst vermeiden. Daraus lässt
sich schließen, dass kooperatives Lernen aufgrund der multiplen Perspektiven und
der Notwendigkeit zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand eher für
ungewissheitsorientierte Lerner geeignet ist, während gewissheitsorientierte lieber in
traditionellem Unterricht lernen und zu offeneren Lernformen erst behutsam hingeführt werden müssen.
Das Lernen Erwachsener stellt auch im Vergleich zur schulischen Situation andere
Anforderungen an die Lernepisoden (Dansereau & Johnson 1994): Lernepisoden
sind hier im Vergleich zur Schule kürzer und thematisieren mehr Lernstoff. Die einzelnen Episoden sind demzufolge sehr fokussiert und verdichtet. Erwachsene
bearbeiten komplexere Aufgaben, die eine andere Art von Kooperation erfordern als
typische kooperative Aufgaben in der Schule. Eine Aufteilung des Materials oder der
Aufgabe in Teilaufgaben ist bei komplexen Aufgaben nur begrenzt möglich. Stattdessen sind meist Phasen der gemeinsamen Bearbeitung einer Aufgabe und das
Hinzuziehen zusätzlicher Ressourcen notwendig.
2.3 Kooperatives Lernen
31
Schließlich resultieren Unterschiede aus den Lernereigenschaften (vgl. Abschnitt
2.1.1). Erwachsene befinden sich häufig auf einem höheren kognitiven Entwicklungsstand und besitzen mehr Sozialkompetenz. Auch verfügen sie meist über bestimmte
Strategien zur Lösung komplexer Probleme. Die Kooperationsmethode muss diesen
Lernereigenschaften Rechnung tragen. Beispielsweise gilt die Belohnung der Gruppe
im Bereich des schulischen Lernens als sinnvoll, während Erwachsene dies nicht
benötigen bzw. ablehnen (Dansereau & Johnson 1994).
2.3.5 Problembereiche des kooperativen Lernens
Trotz der oben aufgeführten Vorteile des kooperativen Lernens hat sich kooperatives
Lernen bisher noch nicht auf breiter Basis im Bildungswesen durchgesetzt. Panitz
und Panitz (1998) analysieren die Probleme und liefern u.a. folgende Begründungen:
Die gegenwärtige Schul-, Hochschul- und Weiterbildungskultur zielt stark auf wettbewerbliches Verhalten zwischen den Lernenden, beispielsweise wenn die Verteilung der Benotungen möglichst einer Gaußschen Glockenkurve nahe kommen soll.
Auch die Lehrenden wurden in der Regel selbst vorlesungsartig und in einer kompetitiven Kultur ausgebildet. Sie fürchten zudem den Kontrollverlust im Klassenzimmer
und verfügen nicht über ausreichendes Selbstvertrauen, geeignetes Lehrmaterial
und passende methodische Instrumente, um den Lernenden eine aktivere Rolle
zuzugestehen. Ähnliche Begründungen bzw. Befürchtungen existieren auch für
Schulleiter oder Eltern. Zur Adressierung dieser Problembereiche müssen geeignete
Maßnahmen bei der Entwicklung von Methoden und Werkzeugen für kooperatives
Lernen und bei deren Einführung in eine Organisation getroffen werden. Entsprechende Maßnahmen, z.B. die frühzeitige Partizipation der Lehrenden und
Lernenden, und Erfahrungen werden in Kapitel 7 dieser Arbeit angesprochen.
Ein weiterer Grund liegt in den individuell gesammelten, teilweise schlechten Erfahrungen mit Gruppenarbeiten. Renkl und Kollegen (1995) beschreiben typische Phänomene in Lerngruppen, die das Gruppenklima und die Gruppeneffektivität beeinträchtigen. Als Beispiel sei der Free-Rider-Effekt genannt, der sich derart zeigt, dass
Arbeiten in der Gruppe vor allem von denjenigen Gruppenmitgliedern erledigt
werden, denen dies wichtig ist, während andere sich zurückhalten (Social Loafing).
Kooperatives Lernen adressiert diese Effekte durch die oben aufgeführten Anforderungen an Lerngruppen (Abschnitt 2.3.3) bzw. an die kooperative Episode (Abschnitt
2.3.4).
2.3.6 Unterstützung für kooperatives Lernen
Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, die Rahmenbedingungen für kooperatives
Lernen zu verbessern, um die Erfolgswahrscheinlichkeit kooperativen Lernens zu
32
2. Problemanalyse
erhöhen. Dies umfasst die Unterstützung für den Autor kooperativer Aufgaben, für
den Lehrenden und für die Lernenden.
Es liegen zahlreiche Handbücher und Leitfäden zum Einsatz des kooperativen
Lernens vor (z.B. Davidson 1990, Johnson et al. 1991, Kagan 1994, Slavin 1995).
Diese enthalten Arbeitsblätter, Beschreibungen von kooperativen Methoden und
heuristische Empfehlungen. Durch Verwendung dieser Hilfestellungen können viele
der oben genannten Probleme kooperativen Lernens gemildert werden. Beispielsweise trägt eine Klärung der Beurteilungskriterien für eine Leistung dazu bei, die
Ängste vor ungerechter Benotung abzubauen.
Eine wichtige Rolle für die Unterstützung kooperativen Lernens spielt die Gestaltung
der Aufgabe. Diese Gestaltung beinhaltet neben der Angabe des Ziels der Kooperation vor allem Angaben zur Strukturierung des kooperativen Lernprozesses und
evtl. das Bereitstellen weiterer aufgabenbezogener Ressourcen.
Ineffektives kooperatives Lernen wird häufig darauf zurückgeführt, dass der kooperative Lernprozess spontan und unkoordiniert stattfindet (Renkl & Mandl 1995). Verschiedene Ansätze zielen daher auf die Strukturierung des kooperativen Lernprozesses. Diese Strukturierungen versuchen die individuellen Denkprozesse, die Art
der Gespräche und die Koordination des wechselseitigen Austausches so zu
beeinflussen, dass der kooperative Lernprozess möglichst gut von den individuellen
Perspektiven der Gruppenmitglieder profitiert und eine möglichst gute Verarbeitung
des Lerngegenstandes in der Gruppe erfolgt. Nachteilige Effekte einer derartigen
externen Strukturierung bestehen darin, dass mit der Regelung der Interaktionen
gleichzeitig auch der freie Austausch von Ideen und die Freiheit von Problem- und
Lösungsdefinitionen eingeschränkt wird (Renkl & Mandl, 1995). Dies wirkt sich vor
allem bei unstrukturierten Aufgaben, wo es gerade auf eine relativ freie und kreative
Erschließung des Problems ankommt, negativ aus (Cohen 1994). Für diese Arbeit
folgt daraus, dass die Art der Strukturierung von der Art der Aufgabe abhängig sein
muss.
Schank und Abelson (1977) haben das Konzept Skript als handlungsleitende
kognitive Struktur eingeführt. Ein solches Skript wird von einer Person in der Regel
unbewusst in einer Situation aktiviert und befolgt. Schank und Abelson nennen als
Beispiel das Restaurantskript, das die Verhaltensweisen des Gastes und der Bedienung während der einzelnen Phasen eines Restaurantbesuchs (aus Sicht des
Gastes: Warten auf die Zuteilung eines Tisches, Bestellen, Bestellung erhalten,
Verzehren, Bezahlen) beschreibt.
Eine Anwendung von Skripts für kooperatives Lernen sind Kooperationsskripte
(Scripted Cooperation; Dansereau et al.1979, Dansereau 1988, O’Donnel &
2.3 Kooperatives Lernen
33
Dansereau 1992). Ein Kooperationsskript spezifiziert die von den Lernenden auszuführenden Aktivitäten, bringt sie in eine Reihenfolge und weist sie den einzelnen
Lernern zu.
Mit Dansereau und Johnson (1994) lassen sich direkte und indirekte Skripts unterscheiden. Ein indirektes Skript gibt die Aufteilung des Materials oder der Aufgabe
unter den Gruppenmitgliedern sowie ein vorheriges Erwerben der nötigen Sozialkompetenzen vor. Ein direktes Skript besteht aus einer expliziten Beschreibung der
Rollen und Aktivitäten. Bei einer zu starken Strukturierung des Lernprozesses durch
Skripts werden die Vorteile des kooperativen Lernens dadurch egalisiert, dass den
Lernenden zu wenig Spielraum zur lebendigen Interaktion zur Verfügung steht
(Dillenbourg 2002).
Skripte können auf zwei verschiedene Arten den kooperativen Lernprozess unterstützen (O’Donnell 1999): Zum einen stoßen sie kognitive Prozesse der Lernenden
an, die ohne Skript eventuell nicht aktiviert werden würden. Beispielsweise kann das
Skript explizit die Reflektion des bisher Gelernten enthalten. Zum anderen können
sie dem Auftreten negativer Effekte der Gruppenarbeit (siehe Abschnitt 2.3.7) entgegenwirken. Beispielsweise kann durch die Zuweisung von Rollen und Teilaufgaben
der Free-Rider-Effekt vermieden werden.
Wie oben dargestellt (siehe Abschnitt 2.3.7) weisen kooperative Aufgaben für
Erwachsene häufig eine hohe Komplexität auf. Aufgrund dieser Komplexität kann ein
direktes Skript notwendig sein, um die gewünschten positiven Effekte eintreten zu
lassen (Dansereau & Johnson 1994). Dies gilt zumindest für solche Erwachsene, die
über wenig Erfahrung mit kooperativem Lernen verfügen.
Ein Kooperationsskript als vorgegebene Strukturierung der Zusammenarbeit und
auch die tatsächliche stattfindende Zusammenarbeit in einer Gruppe kann mit Hilfe
von Rollen und Prozessen beschrieben werden:
Die Bearbeitung der gemeinsamen Aufgabe kann durch das Einnehmen bestimmter
Rollen durch die Gruppenmitglieder erleichtert werden. Beispiele sind der Moderator
und der Protokollant einer Gruppendiskussion oder die verschiedenen Stakeholder in
einem Unternehmensplanspiel. Rollen sind durch spezifische Sichtweisen, Erwartungen, Handlungsmuster, Ressourcen, Ziele oder Teilaufgaben gekennzeichnet.
Die Zusammenarbeit der Beteiligten kann als Prozess aufgefasst werden. Dieser
Prozess besteht aus einer Menge von Phasen. Jede Phase besteht aus einer Menge
logisch miteinander verbundenen Tätigkeiten, die für das Erreichen eines bestimmten Ergebnisses durchgeführt werden. Für den Prozess als Ganzes sowie für jede
Phase des Prozesses können bestimmte Regeln existieren, die die Zusammenarbeit
34
2. Problemanalyse
näher bestimmen. Weiterhin können für jede Phase und Rolle bestimmte Ressourcen (z.B. Informationen und Werkzeuge) zur Verfügung gestellt werden.
Neben dem Prozess, der die Tätigkeiten der Gruppe im Hinblick auf das gemeinsame Ziel, das Arbeitsergebnis umfasst, durchläuft auch die Gruppe selbst einen
Prozess der Gruppenentwicklung (Gruppenprozess). Bekannte Modelle des
Gruppenprozesses sind das Stufenmodell (mit den Stufen Forming, Storming,
Norming und Performing) nach Tuckman (1965) und die TIP-Theorie (Time-Interaction-Performance) nach McGrath (1991), die vier Arbeitsmodi vorsieht, zwischen
denen eine Gruppe wechselt.
Definition: Kooperationsmethode
Die Unterstützungsmöglichkeiten Rollen und Prozess – bestehend aus Phasen,
Tätigkeiten, Regeln und Ressourcen – werden unter der Bezeichnung Kooperationsmethode zusammengefasst.
Definition: Kooperative Lernmethode
Eine kooperative Lernmethode ist eine Kooperationsmethode, die zum Lernen im
Sinne des kooperativen Lernens geeignet ist.
Als theoretische Basis dieser Unterstützungsmöglichkeiten können neben der Skripttheorie die Sprechakttheorie nach Austin, die Argumentationstheorie nach Toulmin
sowie die Konversationstheorie nach Winograd und Flores herangezogen werden
(vgl. Herrmann 2001).
2.3.7 Beispiele kooperativer Lernmethoden
Kooperative Lernmethoden setzen die in den Abschnitten 2.3.3 und 2.3.4 geforderten
Eigenschaften einer Lerngruppe bzw. kooperativen Episode um, um einen Rahmen
für effektives kooperatives Lernen zu schaffen. In den vergangenen vier Jahrzehnten
wurde eine Reihe von kooperativen Lernmethoden entwickelt und erprobt (vgl. Slavin
1995, Johnson et al. 2000). Eine Metaevaluation von 164 Studien zur Effektivität von
Methoden kooperativen Lernens zeigte für alle acht dort untersuchten Methoden
positive Effekte auf den Lernerfolg (Johnson et al. 2000).
An drei Beispielen kooperativer Lernmethoden soll die Umsetzung der genannten
Anforderungen skizziert werden:
Beim Gruppenpuzzle (Jig Saw; Aronson 1978) werden die Lernenden in Gruppen
eingeteilt, jeder Lernende übernimmt innerhalb seiner Gruppe ein bestimmtes
Thema. Zusätzlich zu diesen (Basis-)Gruppen existieren Expertengruppen, die von
2.3 Kooperatives Lernen
35
jeweils allen Lernenden mit demselben Thema gebildet werden. Durch die Arbeit in
den Expertengruppen werden die Lernenden zu Experten für ihr jeweiliges Thema.
Sie vermitteln dieses Expertenwissen anschließend an die anderen Mitglieder in ihrer
jeweiligen Basisgruppe.
Bei der STAD-Methode (Student Teams-Achievement-Divisions; Slavin 1978)
bearbeiten die Lernenden nach einer Lehreinheit in Vierer- oder Fünfergruppen
Arbeitsblätter zum Thema der Lehreinheit. Danach bearbeitet jeder Lernende einen
Test. Die Gruppe wird danach beurteilt, wie sehr sich jedes Gruppenmitglied im Vergleich zu seiner durchschnittlichen bisherigen Leistung verbessert hat. Das beste
Team erhält eine Belohnung.
Besonders deutlich werden bei diesen beiden Methoden die Anforderungen nach
positiver Abhängigkeit und individueller Zurechenbarkeit umgesetzt. Beim Gruppenpuzzle erfolgt dies durch die Verteilung der Informationen bzw. Zuständigkeiten, bei
der STAD-Methode durch die Art, wie die Belohnung in Abhängigkeit von der individuellen Verbesserung erfolgt.
Group Investigation (Sharan & Sharan 1992) ist eine projektorientierte Methode.
Zunächst wird ein Rahmenthema für die Gruppenarbeit vorgegeben und die Lernenden werden in Gruppen aufgeteilt. In der Planungsphase entscheidet jede Gruppe,
welches Unterthema sie nach welcher Methode und mit welcher Zielsetzung untersuchen will. Danach sammeln, analysieren und bewerten die Gruppenmitglieder
Informationen zum gewählten Thema und erarbeiten Schlussfolgerungen. Jede
Gruppe erstellt nun einen Gruppenbericht und präsentiert ihn dem Plenum. Dabei
werden nach Möglichkeit alternative Präsentationselemente wie Rollenspiele oder
Streitgespräche eingebaut. Abschließend erfolgt die Bewertung der Gruppenarbeiten, deren Zielsetzung und Methoden zwischen den Lernenden und dem
Lehrenden ausgehandelt werden.
Bei Group Investigation wird besonderer Wert auf die Förderung der Interaktion, die
soziale Kompetenz und die Reflexion der Gruppenarbeit gelegt. Dies erfolgt durch
das Aushandeln des Themas, der Untersuchungsmethode, die Vorbereitung und
Durchführung der (möglichst interaktiven) Präsentation sowie durch das gemeinsame
Aushandlung der Bewertungskriterien.
2.3.8 Kontext des kooperativen Lernens
In ihrer Analyse des Standes der Forschung zum kooperativen Lernen weisen
Dansereau und Johnson (1994) darauf hin, dass zwar einige wenige kooperative
Lernmethoden für bestimmte Fächer entwickelt wurden, die meisten bekannten
Methoden aber als unabhängig vom Lerngegenstand und dem sonstigen Kontext
36
2. Problemanalyse
einsetzbar beschrieben werden. Als Folge werden kooperative Lernmethoden in der
Praxis in verschiedensten Lernszenarien eingesetzt, ohne dass eine ausreichende
Anpassung an die jeweiligen Rahmenbedingungen vorgenommen wird. Angesichts
der spezifischen Charakteristika des Lernens Erwachsener (vgl. die Abschnitte 2.1.1
und 2.3.4) ist aber davon auszugehen, dass die weit überwiegend mit Kindern und
Jugendlichen erprobten Methoden ohne Anpassung nicht sinnvoll für das kooperative
Lernen Erwachsener eingesetzt werden können.
Definition: Kontext des kooperativen Lernens
Der Kontext des kooperativen Lernens bezeichnet die Menge der aus Sicht einer
Person (vor allem: eines Lernenden, eines Lehrenden bzw. Tutors) zur Erreichung
des individuellen oder gemeinsamen Lernzieles relevanten Informationen und
Rahmenbedingungen. Dies umfasst u.a. Informationen über die Lernenden und
Lehrenden/Tutoren, die Lerngruppe, die gemeinsame Aufgabe, den Lernprozess und
vorhandene Ressourcen.
2.4 Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
Das Forschungsgebiet Computerunterstütztes kooperatives Lernen (ComputerSupported Collaborative Learning 5; CSCL) beschäftigt sich mit kooperativem Lernen
unter Nutzung vernetzter Computer (O’Malley 1994, Koschmann 1996, Haake et al.
2004a). Wichtige Grundlagen liefern Forschungen zum kooperativen Lernen und zur
Computerunterstützten Gruppenarbeit (CSCW).
2.4.1 Computerunterstütztes kooperatives Lernen
CSCL kann auf für (nicht-computerunterstütztes) kooperatives Lernen bewährte Aufgabenarten und Lernmethoden aufbauen. Andererseits erweitert die Nutzung vernetzter Computer das Spektrum an Einsatzszenarien für kooperatives Lernen.
Ein aus Informatik-Sicht trivialer Fall ist die Nutzung einer Einbenutzeranwendung
durch mehrere Benutzer, ohne dass dem System Informationen über diese kooperative Nutzung vorliegen. Dieser Fall wird hier nicht weiter betrachtet, es wird davon
ausgegangen, dass das System Aktivitäten dem jeweiligen Akteur zuordnen kann.
Zur Charakterisierung kooperativer Lernsituationen können folgende Dimensionen
betrachtet werden (Wessner 2001, Flor 2004):
‚
5
Ort: Findet das Lerngeschehen an einem Ort (Schulungsraum, elektronisches
Klassenzimmer) oder örtlich verteilt statt?
Zu den Begriffen kooperativ und kollaborativ siehe auch die Ausführungen in Abschnitt 2.3.1.
2.4 Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
37
‚
Zeit: Beteiligen sich die Teilnehmer gleichzeitig (synchron) oder zu verschiedenen
Zeiten (asynchron) am Lernprozess?
‚
Lernziel: Ist das Lernziel vorgegeben oder von den Teilnehmern frei wählbar? Soll
am Ende jeder Teilnehmer einzeln oder die Gruppe als Ganzes über das Wissen
verfügen?
‚
Lerninhalt: Ist Lernmaterial vorgegeben oder von den Teilnehmern zu erstellen
bzw. zu suchen?
‚
Gruppenzusammensetzung: Ist der Kreis der Teilnehmer vorgegeben oder
können beliebige Personen teilnehmen? Wie groß ist die Lerngruppe (Lerndyade,
kleine, mittlere, große Gruppe)? Wie ist die Gruppe zusammengesetzt? Welche
Unterschiede herrschen bezüglich des Vorwissens/des Status?
‚
Kontrolle: Wird das Lerngeschehen durch einen Moderator oder ein Programm
explizit angeleitet oder steuert sich die Gruppe selbst?
‚
Dauer: Handelt es sich um eine kurzfristige Kooperation oder ist sie auf Dauer
angelegt (vgl. 2.3.3)?
Die in virtuellen Lernumgebungen gegebenen Möglichkeiten der örtlichen und zeitlichen Verteilung der Lernenden, zur Bereitstellung und Verarbeitung von (Lern-)Materialien sowie zur Anleitung und Kontrolle des Kooperationsprozesses erschließen
neue Einsatzszenarien und Unterstützungspotentiale. Die Gestaltung einer geeigneten virtuellen Lernumgebung muss die Ausprägungen dieser Dimensionen berücksichtigen. Beispielsweise benötigt eine örtlich verteilte Lerngruppe andere Kommunikationsfunktionalitäten als eine Präsenzgruppe.
Die Aufgabenarten und Lernmethoden aus dem (nicht durch Computer unterstützten)
kooperativen Lernen können allerdings nicht ohne weiteres in das CSCL übertragen
werden (Lipponen 2001). Es ist vielmehr jeweils zu evaluieren, ob diese auch unter
den Bedingungen der computerunterstützten Kooperation positive Effekte zeigen.
Darüber hinaus können neue Aufgabenarten und Lernmethoden entworfen und implementiert werden, welche die zusätzlichen Potentiale des CSCL gegenüber dem
kooperativen Lernen ausnutzen und den Bedingungen der computerunterstützten
Kooperation gerecht werden.
Eine virtuelle Lernumgebung für kooperatives Lernen ist dann in vielen Anwendungsbereichen einsetzbar, wenn sie verschiedene Kooperationsformen unterstützt
und um neue Formen erweitert werden kann.
38
2. Problemanalyse
2.4.2 Computerunterstützte Gruppenarbeit und Group Awareness
CSCL kann auf den Ergebnissen des Forschungsgebiets Computerunterstützte
Gruppenarbeit (Computer-Supported Cooperative Work; CSCW) aufbauen (Schwabe
et al. 2001a).
Computerunterstützte Kommunikation und Kooperation ist vor allem dann schwierig,
wenn die Teilnehmer örtlich oder zeitlich verteilt sind (Sproull & Kiesler 1986, Hesse
et al. 1997). Durch die fehlende (direkte) Wahrnehmung der Teilnehmer untereinander (soziale Präsenz) sowie der Aspekte der Umwelt der Teilnehmer wird die
Verständigung, die Koordination und die Schaffung eines gemeinsamen Wissenshintergrundes erschwert. Es fehlt die direkte Wahrnehmung des Kontexts der Kooperation. Zur Unterstützung des Kontexts der Kooperation in CSCW-Systemen ist es
wichtig, diesen Kontext (computervermittelt) wahrzunehmen. Mit Group Awareness
wird “an understanding of the activities of others which provides a context for your
own activity” (Dourish & Belotti 1992) bezeichnet.
Gutwin und Kollegen (1995) differenzieren vier Arten von Group Awareness:
‚
Die Social Awareness bezieht sich auf die Gruppe selbst. Was kann und soll
ich von den anderen Gruppenmitgliedern erwarten? Wie kann ich mit den
anderen Mitgliedern interagieren? Welche Rolle habe ich in der Gruppe?
‚
Die Task Awareness bezieht sich auf die gemeinsame Aufgabe. Was weiß ich
über die Aufgabe und ihre Struktur? Welche Schritte muss die Gruppe absolvieren, um die Aufgabe zu erledigen? Wie wird das Gruppenergebnis bewertet? Welche Ressourcen (Werkzeuge, Materialien, Zeit) werden benötigt?
Welche Ressourcen stehen zur Verfügung?
‚
Die Concept Awareness bezieht sich auf gemeinsame Informationen und gemeinsames Wissen. Wie passen die gemeinsamen Informationen zu meinem
bisherigen Wissen? Welches Wissen fehlt mir noch? Muss ich angesichts
dieser Informationen Teile meines Wissens verändern? Welche Hypothesen
kann ich in Bezug auf das Ergebnis der Aufgabe aufstellen?
‚
Die Workspace Awareness bezieht sich auf den gemeinsamen virtuellen
Arbeitsraum. Was tun die anderen Gruppenmitglieder im Hinblick auf die Erledigung der gemeinsamen Aufgabe? An welchen Teilbereichen arbeiten sie
gerade? Was haben sie bereits erledigt? Was planen sie als nächstes zu tun?
Je nach Art der Kooperation sind diese Awareness-Arten unterschiedlich wichtig für
das Gelingen der Kooperation. Je nachdem, welches Kooperationsszenario (vgl.
2.4 Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
39
Abschnitt 2.4.1) unterstützt werden soll, müssen die relevanten Awareness-Arten
ausgewählt und in der virtuellen Umgebung umgesetzt werden.
Zur Unterstützung kooperativer Prozesse können Konzepte und Erfahrungen aus
den Gebieten Workflow-Management (Jablonski 2001, WfMC 2004) und kooperatives Hypermedia (Wang & Haake 1999b) herangezogen werden.
2.4.3 Ermöglichen vs. Unterstützen des kooperativen Lernens
Die Begriffe „computervermittelt“ und „computerunterstützt“ werden in der Fachliteratur meist synonym verwendet. Hier sollen sie als verschiedene Ausprägungen
des Unterstützungsaspektes betrachtet werden. Computervermittelt steht dabei für
das Ermöglichen, das Bereitstellen der zur Kooperation benötigten Medien, beispielsweise in Form einen Audiokanals oder eines Shared Whiteboards. Computerunterstützt soll zusätzlich die aktive Unterstützung durch das System kennzeichnen,
indem die Gruppe in ihrer Kommunikation angeleitet wird oder Feedback zu ihrer
Kooperation durch das System erhält.
Das Spektrum der Unterstützung soll an einem Beispiel zur textbasierten Kommunikation verdeutlicht werden. Ein Standard-Chatwerkzeug ermöglicht die Kommunikation der Teilnehmer untereinander. Es erfolgt keine weitergehende Unterstützung
durch das System. Eine größere Unterstützung bietet das Werkzeug C-CHENE
(Baker & Lund 1997). C-CHENE realisiert ein Chattool, das den Benutzern eine
Menge möglicher Satzanfänge vorgibt, aus denen der Mitteilende einen passenden
auswählt und ergänzt. Beispielsweise wählt er den Satzanfang „Ich denke, dass ...“
und ergänzt „wir das Experiment noch einmal durchführen sollten.“ Evaluationsergebnisse deuten auf eine stärkere Aufgaben- und Problemlösungsorientierung
sowie einen größeren Anteil an reflektiver Metakommunikation hin (Baker & Lund
1997). Eine noch stärkere Unterstützung ist durch die Implementierung der Scripted
Cooperation (vgl. Abschnitt 2.3.6) etwa in Form von so genannten Lernprotokollen
möglich (Wessner et al. 1999, Pfister et al. 2003).
Die Grenzen zwischen Ermöglichen der Kooperation und ihrer (aktiven) Unterstützung sind dabei fließend. So ermöglicht z.B. eine Awareness-Funktionalität zur
Anzeige der aktuell in einem virtuellen Raum Anwesenden in Form einer einfachen
Liste von Benutzernamen die Kooperation. Wird ein Benutzer etwa durch ein akustisches Signal davon unterrichtet, dass ein anderer Benutzer aus seiner Lerngruppe
gerade in den virtuellen Raum gekommen ist, liegt eine aktivere Form der Unterstützung vor. Neben der anderen Gestaltung (Anzeige vs. zusätzliches akustisches
Signal) unterscheiden sich die beiden Realisierungsformen auch im Grad der
Nutzung dem System bekannter Kontextinformation. Im zweiten Beispiel nutzt das
40
2. Problemanalyse
System das Wissen über Gruppenzugehörigkeit, um Mitglieder der gleichen Gruppe
auf besondere Weise anzukündigen.
2.5 Zusammenfassung: Kontextuelle Kooperation in virtuellen
Lernumgebungen
In diesem Abschnitt werden die wichtigsten Ergebnisse der Problemanalyse zusammengefasst und darauf aufbauend das Ziel dieser Arbeit, die Realisierung der kontextuellen Kooperation in virtuellen Lernumgebungen, präzisiert.
2.5.1 Zusammenfassung
Bei der Betrachtung des Lernbegriffes wurde die Fokussierung der Arbeit auf formales und informelles Lernen, auf kursbasiertes Lernen und auf das Lernen Erwachsener herausgearbeitet. Das vorgestellte Berliner Modell lieferte wichtige Hinweise
zur Analyse der Bedingungen und zur Festlegung der Entscheidungen in Bezug auf
die Medien und Methoden des Lernens (Abschnitt 2.1.1).
Der allgemeine Kontextbegriff wurde auf das Ziel des Wissenserwerbs und die Perspektive einer Person präzisiert (Abschnitt 2.1.2).
Die Betrachtung des Begriffsfeldes Kooperation lieferte Differenzierungen zwischen
den Begriffen Kommunikation, Koordination, Kooperation und Kollaboration. Dabei
wird die Kooperation durch eine Gruppe und ihre Aufgabe, inklusive des Ziels und
der Methode der Zusammenarbeit bestimmt. Der Kontext der Kooperation umfasst
alle zur Erreichung des Kooperations(teil)ziels relevanten Informationen und Rahmenbedingungen aus Sicht einer Person (Abschnitt 2.1.3).
In Abschnitt 2.2 wurden die grundlegenden Begriffe im Begriffsfeld virtuelle Lernumgebung geklärt. Insbesondere zeigte sich, dass die Bezeichnungen virtuelle Lernumgebung, Lernplattform und Learning Management System (LMS) synonym verwendet werden können. Der Kontext des Lernens in einer virtuellen Lernumgebung
bezeichnet dann eine Menge von Informationen über die Personen und Ressourcen
(Lernmaterialien, Werkzeuge) in der virtuellen Lernumgebung.
Im Abschnitt 2.3 wurde kooperatives Lernen als eine Spezialisierung des Lernbegriffes betrachtet. Es wurden die Anforderungen an die Arbeitsweise von Lerngruppen sowie an die Gestaltung kooperativer Aufgaben herausgearbeitet, damit aus
gemeinsamem Lernen kooperatives Lernen wird. Die Differenzierung zwischen verschiedenen Arten kooperativer Lerngruppen und die Aufarbeitung der Anforderungen, wichtiger Parameter und Erfahrungen in Bezug auf die Zusammenstellung
von Lerngruppen lieferten Hinweise für eine mögliche Unterstützung der Zusammenstellung von Lerngruppen durch die virtuelle Lernumgebung. Dabei wurde deutlich,
2.5 Zusammenfassung: Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
41
dass die Methode zur Zusammenstellung von Lerngruppen u.a. mit der Art der
kooperativen Aufgabe korreliert. Für virtuelle Lernumgebungen wurde begründet,
dass Gruppen verschiedener Größe zu berücksichtigen sind, dass Fragen der
Homogenität bzw. Heterogenität bei der Zusammensetzung von Gruppen beachtet
werden müssen und, dass verschiedene Arten der Gruppenbildung in Betracht zu
ziehen sind.
Weiterhin wurde die Strukturierung des kooperativen Lernprozesses als Möglichkeit
der Unterstützung für kooperatives Lernen vorgestellt. Da die Strukturierung auf die
Art der Aufgabe ausgerichtet sein muss, wurde für virtuelle Lernumgebungen gefordert, dass verschiedene Strukturierungsmöglichkeiten berücksichtigt und passend
zur Aufgabenart festgelegt werden sollen. Die Analyse kooperativer Prozesse und
deren Beschreibung durch Rollen, Phasen, Tätigkeiten, Regeln und Ressourcen
führten zum Begriff der Kooperationsmethode bzw. bei Eignung der Kooperationsmethode für das kooperative Lernen zum Begriff der kooperativen Lernmethode. Der
Kontextbegriff wurde weiter präzisiert, indem er auf das Ziel der Person (Lernen) und
die dazu angewandte Methode (kooperative Lernmethode) ausgerichtet wurde.
Die Betrachtung des computerunterstützten kooperativen Lernens bzw. der Kooperation in virtuellen Lernumgebungen in Abschnitt 2.4 zeigte anhand der Dimensionen
zur Beschreibung von Nutzungsszenarien das weite Einsatzspektrum kooperativen
Lernens in virtuellen Lernumgebungen. Deutlich wurde auch, dass die Möglichkeiten
zur Unterstützung kooperativen Lernens stark vom jeweiligen Nutzungsszenario
abhängen. Für die breite Einsetzbarkeit wurde von einer virtuellen Lernumgebung die
Umsetzung verschiedener Kooperationsformen und die Erweiterbarkeit der Umgebung um neue Kooperationsformen gefordert. Schließlich zeigte die Differenzierung
verschiedener Grade der Unterstützung vom Ermöglichen zum aktiven Unterstützen
am Beispiel einer Awareness-Information, dass der konkreten Gestaltung der Unterstützung eine entscheidende Bedeutung zukommt.
2.5.2 Präzisierung des Zieles dieser Arbeit
Aufbauend auf den Definitionen des Kontextes des Lernens in virtuellen Lernumgebungen und des Kontextes des kooperativen Lernens kann nun der Kontext des
kooperativen Lernens in virtuellen Lernumgebungen definiert werden:
Definition: Kontext des kooperativen Lernens in virtuellen Lernumgebungen
Der Kontext des kooperativen Lernens in virtuellen Lernumgebungen bezeichnet die
Menge der aus Sicht einer Person (vor allem: eines Lernenden, eines Lehrenden
bzw. Tutors) zur Erreichung des individuellen oder gemeinsamen Lernzieles
relevanten Informationen und Rahmenbedingungen. Dies umfasst u.a. Informationen
42
2. Problemanalyse
über die Lernenden und Lehrenden/Tutoren, die Lerngruppe, die gemeinsame
Aufgabe, den Lernprozess und vorhandene Ressourcen in der virtuellen
Lernumgebung.
Für kursbasiertes kooperatives Lernen gehören zu diesen Informationen beispielsweise folgende Angaben:
‚
Aktuelle Lernsituation: In welchem Kurs bin ich? Wo bin ich im Kurs?
‚
Person: Welche Rolle habe ich? Welche Präferenzen habe ich? Wer ist noch
da? Mit wem kann oder soll eine Kooperation stattfinden?
‚
Ressourcen: Welche Kommunikationskanäle und Materialien habe ich zur
Verfügung? Welche Materialien sind eine Grundlage meiner Kooperation?
‚
Historie: Welche Kooperation habe ich schon durchgeführt? Welche Ergebnisse sind dabei entstanden? Was steht noch auf meiner To-Do-Liste?
‚
Aufgabe: Was soll/kann ich tun? Wie soll/kann ich es tun? Wann soll/kann ich
es tun? Wie lange wird es voraussichtlich dauern?
Nun kann auch der Begriff im Titel dieser Arbeit, die kontextuelle Kooperation in
virtuellen Lernumgebungen definiert werden:
Definition: Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
Eine kontextuelle Kooperation in einer virtuellen Lernumgebung bezeichnet eine
Kooperation in einer virtuellen Lernumgebung, die vom System auf der Basis des
Wissens über ihren Kontext unterstützt wird.
Auf dieser Basis kann das Ziel dieser Arbeit prägnanter formuliert werden:
Ziel dieser Arbeit ist die Entwicklung einer Gesamtkonzeption zur Gestaltung von
virtuellen Lernumgebungen, die die Kooperation auf der Basis des Wissens über den
Kontext der Kooperation unterstützen, d.h. die kontextuelle Kooperation realisieren.
Dies setzt voraus, dass die Lernumgebung über Wissen über den Kontext der
Kooperation verfügt. Dazu sind die relevanten Parameter des Kontextes zu identifizieren. Unter Nutzung einer Modellierung des Kontextes kann die Lernumgebung
verschiedene Aspekte und Phasen der Kooperation unterstützen. Die Kenntnis des
Kontextes der Kooperation erlaubt beispielsweise folgendermaßen Unterstützung für
die Kooperation:
2.5 Zusammenfassung: Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
43
‚
Verfügt die Lernumgebung über die Kontaktinformationen einer Person, kann
sie einem Benutzer die Kommunikation mit dieser Person ermöglichen, ohne
dass die Kontaktdaten des Kommunikationspartners (erneut) einzugeben sind.
‚
Kennt die Lernumgebung die vom Autor einer kooperativen Aufgabe empfohlene Mindest- und Maximaldauer, kann die Lernumgebung das Einhalten der
Zeiten kontrollieren oder Abweichungen der Gruppe mitteilen.
‚
Ist der Lernumgebung bekannt, wie groß eine Lerngruppe für die Bearbeitung
einer kooperativen Aufgabe sein soll und welche Eigenschaften die Gruppe in
Bezug auf ihre Zusammensetzung aufweisen soll (Homogenität bzw. Heterogenität bezüglich bestimmter Eigenschaften der Gruppenmitglieder), kann die
Lernumgebung den Prozess der Gruppenbildung z.B. durch Vorschlagen
geeigneter Kooperationspartner unterstützen.
‚
Weiß die Lernumgebung, welche Ressourcen zu einer Kooperation gehören,
kann sie die Bereitstellung oder Reservierung von Ressourcen zur Durchführung der Kooperation sowie die Verwaltung der Kooperationsergebnisse
vornehmen.
‚
Auf Basis der Kenntnis über den vorgesehenen oder tatsächlichen kooperativen Lernprozess kann die Lernumgebung die Gruppe bei der Durchführung
des Prozesses anleiten.
Im nächsten Kapitel wird zunächst ein Szenario für kooperatives Lernen in virtuellen
Lernumgebungen vorgestellt. Aus diesem Szenario werden dann detailliertere Anforderungen an die Realisierung der kontextuellen Kooperation in virtuellen Lernumgebungen abgeleitet.
Kapitel 3
Anforderungen
In diesem Kapitel werden die Anforderungen an eine virtuelle Lernumgebung zur
Realisierung der kontextuellen Kooperation, wie sie teilweise im vorangehenden
Kapitel bereits identifiziert wurden, weiter detailliert. Dazu wird zunächst ein Szenario
des (kooperativen) Lernens in einer virtuellen Lernumgebung vorgestellt. Dabei wird
deutlich, wie das kooperative Lernen vom jeweiligen Kontext beeinflusst wird und wie
die Realisierung der kontextuellen Kooperation durch die virtuelle Lernumgebung
dazu beitragen kann, den Erfolg des kooperativen Lernprozesses zu fördern. Anhand
dieses Szenarios werden die Anforderungen an die Realisierung der kontextuellen
Kooperation in virtuellen Lernumgebungen ermittelt und diskutiert.
In Abschnitt 3.1 wird zunächst der Hintergrund des Szenarios skizziert. Danach wird
das im Kontext eines größeren Projektes unter Mitwirkung von Wissenschaftlern und
Weiterbildungspraktikern erarbeitete Szenario des (kooperativen) Lernens in einer
virtuellen Lernumgebung vorgestellt. Innerhalb der Beschreibung des Szenarios wird
jeweils an geeigneter Stelle auf Anforderungen an eine virtuelle Lernumgebung zur
Realisierung der kontextuellen Kooperation hingewiesen. In Abschnitt 3.2 werden die
Besonderheiten der im Szenario beschriebenen Lehr-/Lernsituationen diskutiert und
die einzelnen bereits in der Beschreibung des Szenarios identifizierten Anforderungen detaillierter dargestellt und begründet. In Abschnitt 3.3 schließlich werden die
Anforderungen zusammengefasst und in Form einer Übersichtstabelle präsentiert.
45
46
3. Anforderungen
3.1 Ein Nutzungsszenario aus der Weiterbildung
3.1.1 Hintergrund des Szenarios
Die Beschreibung von Szenarien der Benutzung eines zu entwickelnden Systems ist
sinnvoll, um die Anforderungen der einzelnen Nutzergruppen des Systems zu erheben. Ein Nutzungsszenario beschreibt das Verhalten eines Systems in Interaktion
mit den Personen aus den verschiedenen Benutzergruppen des Systems (Caroll
1995, Cockburn 2001, S. 1ff.). Aus Nutzungsszenarien können jedoch nicht alle
Anforderungen an ein System abgeleitet werden. Beispielsweise ergeben sich Anforderungen zur Reaktionszeit, zur Gestaltung der Benutzungsschnittstelle oder zur
Datenmodellierung meist nicht aus Nutzungsszenarien und sind zusätzlich zu
behandeln (Cockburn 2001, S. 161).
Entsprechend der in Abschnitt 1.3 dargestellten Zielsetzung der Arbeit beschreibt
das im nächsten Abschnitt dargestellte Szenario Lernen mit webbasierten Kursen. Es
setzt auf Szenarien auf, die unter maßgeblicher Beteiligung des Autors im Rahmen
des vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projektes „L³: Lebenslanges Lernen – Weiterbildung als Grundbedürfnis“ (1999-2002)
entwickelt wurden. Diese Szenarien wurden gemeinsam mit Weiterbildungsanbietern, Kursentwicklern und Technologieentwicklern aus Unternehmen und
Organisationen sowie Wissenschaftlern aus der Pädagogik, Psychologie und Informatik iterativ erarbeitet. 6 Für die vorliegende Arbeit wurden vom Autor die
verschiedenen (Teil-)Szenarien integriert und verdichtet sowie im Sinne der kontextuellen Kooperation weiterentwickelt. Aufgrund der aktiven Beteiligung mehrerer
Experten aus der Weiterbildungspraxis und der Wissenschaft kann dieses Szenario
als repräsentativ für kooperatives Lernen in virtuellen Lernumgebungen in weiten
Bereichen der Weiterbildung angesehen werden.
Aufgrund der heterogenen didaktischen und organisatorischen Konzepte und Fokussierungen der an der Ausarbeitung der Szenarien Beteiligten wurde ein Zwei-Ebenen-Modell der Unterstützung kooperativen Lernens entwickelt. Eine Ebene (Makroebene) betrachtet den Lernprozess als aus individuellen und kooperativen Lernepisoden zusammengesetzt und betrifft die Kombination der Lernepisoden. Eine
zweite Ebene (Mikroebene) ist mit der Ausgestaltung konkreter kooperativer Episoden, den dabei verwendeten kooperativen Lernmethoden und den dazu eingesetzten Werkzeugen befasst.
6
Das Projekt L³: Lebenslanges Lernen wird in Abschnitt 6.1 kurz vorgestellt (siehe auch Ehlers et al.
2003). Zu den ursprünglichen Szenarien siehe (L³ 2000a, L³ 2000b).
3.1 Ein Nutzungsszenario aus der Weiterbildung
47
Die Erwartungen und Wünsche hinsichtlich der Einbindung der Kooperation (Makroebene) konvergierten bei den an diesem Projekt beteiligten Experten im Laufe der
Entwicklung. Hinsichtlich der einzelnen kooperativen Episoden, Lernmethoden und
Lernwerkzeuge (Mikroebene) zeigte sich eine große Varianz der Vorstellungen und
Bedürfnisse der Beteiligten je nach dem Lerninhalt, dem Lernziel, der Zielgruppe,
dem pädagogischem Selbstverständnis des Experten bzw. seiner Organisation sowie
der vorhandenen technischen Ausstattung (siehe zu ähnlichen Erfahrungen auch
Derycke 2002).
Daher sind nicht alle Teile des im nächsten Abschnitt dargestellten Szenarios für alle
potentiellen Anwender gleichermaßen relevant. Im Weiteren stehen solche Anforderungen im Mittelpunkt, die (a) die Einbindung der Kooperation in den Lernprozess
betreffen oder (b) die Unterstützung von Kooperationen adressieren. Diese Anforderungen gelten für die kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen generell. Die konkrete Ausgestaltung eines Systems nach den Vorstellungen und Bedürfnissen konkreter Nutzergruppen bleibt der Implementierung bzw. Anpassung der
virtuellen Lernumgebung vorbehalten. Beispielsweise betrifft dies die Kooperationsmethoden, die Bezeichnung von Rollen oder die graphische Gestaltung der Benutzungsschnittstelle. Das Szenario beschreibt eine konkrete Ausprägung des kooperativen Lernens in virtuellen Lernumgebungen. Es dient dazu, die Charakteristika der
kontextuellen Kooperation in virtuellen Lernumgebungen zu analysieren und daraus
die Anforderungen zur Einbindung und Unterstützung der Kooperation abzuleiten.
Angesichts der Vielzahl pädagogischer Konzepte, Zielgruppen und Bildungsinhalte
ist klar, dass auch andere Arten des kooperativen Lernens und seiner Unterstützung
in virtuellen Lernumgebungen existieren. Dem sollte das System durch Offenheit in
Bezug auf die Anpassbarkeit und Erweiterbarkeit Rechnung tragen, um eine möglichst große Zahl an Nutzungsszenarien abdecken zu können.
Das Szenario wird als eine Folge von Situationen im Umfeld des computerunterstützten Lernens präsentiert. Aus den zur Beschreibung des Szenarios möglichen
Sichten wird die Sicht der direkt am Lernprozess Beteiligten ausgewählt. Weitere,
hier nicht dargestellte Sichten betreffen die Organisation bzw. die technische
Infrastruktur. Berücksichtigt werden drei Arten von Benutzern der virtuellen Lernumgebung: Lernende, Tutoren und Kursautoren. Im Anschluss an jede beschriebene
Situation werden die dabei deutlich werdenden Anforderungen an das System
explizit benannt. Die detaillierte Darstellung und Diskussion der einzelnen Anforderungen erfolgt in einem separaten Abschnitt nach der Darstellung des Szenarios.
Diese Anordnung erlaubt die über die im Szenario beschriebenen konkreten
Situationen und Prozesse hinausgehende Diskussion der einzelnen Anforderungen,
ohne den Lesefluss in der Szenariobeschreibung zu beinträchtigen.
48
3. Anforderungen
3.1.2 Szenario: Spanisch Lernen mit der SuperLearn GmbH
Das Weiterbildungsunternehmen SuperLearn GmbH bietet seinen Kunden webbasierte Kurse über das Internet an. Kunden der SuperLearn GmbH nutzen das
Kursangebot mittels eines mit dem Internet verbundenen Rechners von ihrem
Arbeitsplatz aus, von zu Hause oder an sonstigen Orten, beispielsweise im Hotel
oder im Internet-Cafe. Die Darstellung des Szenarios verfolgt das Handeln von vier
Personen: Anna und Bernd nutzen die Lernumgebung als Lernende, Carlos betreut
Kursangebote als Tutor und Diego ist ein Autor für webbasierte Kurse.
Anna meldet sich von ihrem Arbeitsplatz aus in der virtuellen Lernumgebung der
SuperLearn GmbH an und startet den von ihr gebuchten Spanischkurs. Der Kurs
besteht aus einzelnen Webseiten mit Texten, Bildern und Übungsaufgaben. Anna
wählt die Lektion „Vacaciones“ (Urlaub) aus und beginnt, das Kursmaterial zu bearbeiten.
ö Anforderung A1: Unterstützung für individuelles kursbasiertes Lernen
Auf der dritten Seite des Kursmaterials kann sie den Satz „llovía a mares“ nicht übersetzen. Das im Kurs vorhandene Wörterbuch enthält „llover“ = „regnen“ und „el mar“
= „das Meer“, aber Anna bezweifelt, dass ihre Übersetzung „es regnete ins Meer“
korrekt ist. Sie überlegt zunächst, ob sie einen anderen Teilnehmer des Spanischkurses kontaktieren soll, um ihren Zweifel zu klären. Da sie jedoch diesen Kurs in der
Variante mit Tutorunterstützung gebucht hat, entscheidet sie sich, den Tutor nach
der Bedeutung dieses Satzes befragen.
ö Anforderung A2: Spontane Kooperation
Sie aktiviert die Schaltfläche „Kontakt zum Tutor“. Zu diesem Zeitpunkt ist kein Tutor
für diesen Kurs in der Lernumgebung online und verfügbar. Deshalb schlägt die
Lernumgebung Anna vor, eine Nachricht an die für diesen Spanischkurs zuständigen
Tutoren zu verfassen. Anna schickt die Nachricht „Hallo, was heißt ‚llovía a mares’?
Es regnete ins Meer??? Gruß, Anna“. Sie versucht, – auch ohne zu wissen, was
dieser Satz wohl wirklich bedeutet – im Kurs fortzufahren. Nun meldet sich Carlos,
einer der für den Spanisch-Kurs zuständigen Tutoren, in der Lernumgebung an. Er
sieht die Nachricht von Anna und antwortet ihr mit der Nachricht „Hi Anna, das heißt,
dass es stark regnete. Gruß, Carlos“. Anna versteht nicht, warum „mares“ hier „stark“
bedeuten soll. Sie aktiviert erneut die Schaltfläche „Kontakt zum Tutor“. Da Carlos
3.1 Ein Nutzungsszenario aus der Weiterbildung
49
als Tutor nun online verfügbar ist, stellt die Lernumgebung eine (synchrone) ChatVerbindung zwischen Anna und Carlos her. Carlos erläutert ihr die Verwendung von
„mares“ in diesem Satz. Anna bedankt sich, schließt das Chat-Fenster und fährt im
Spanischkurs fort.
ö Anforderung A3: Flexible Übergänge zwischen verschiedenen Lernmodi (individuelles Lernen, synchrones kooperatives Lernen und asynchrones kooperatives
Lernen)
Anna lernt nun im Kurs einige Wörter aus dem Wortfeld „dirección y distancia“
(Richtung und Entfernung) kennen. Nachdem sie sich die Wörter angeschaut und
eingeprägt hat, navigiert sie zum nächsten Kursabschnitt. Der Kursautor Diego hat
an dieser Stelle eine kleine Gruppenübung vorgesehen: Die Lernenden sollen sich
anhand eines Stadtplans von Madrid nun in Zweiergruppen gegenseitig den Weg
vom Bahnhof zum Rathaus beschreiben („Beschreiben Sie einander den Weg ...“).
Damit will Diego erreichen, dass das im Kurs zuvor Gelernte von den Lernenden
aktiv angewandt wird und die Wörter besser im Gedächtnis verankert werden.
ö Anforderung A4: Intendierte Kooperation
Die virtuelle Lernumgebung meldet Anna, dass an dieser Stelle eine solche kooperative Aufgabe vorgesehen ist, und legt einen entsprechenden Eintrag in Annas persönlicher Aufgabenliste in der Lernumgebung an. Anna will diese Übung auch gleich
durchführen und startet die Suche nach einem Lernpartner. Da ihr die Lernumgebung meldet, dass momentan kein geeigneter Lernpartner verfügbar ist, fährt Anna
mit der Kursbearbeitung fort.
Kurze Zeit später meldet sich Bernd, der ebenfalls den Spanisch-Kurs gebucht hat, in
der virtuellen Lernumgebung an. Er hat von seinem letzten Besuch in der Lernumgebung noch ein paar Aufgaben in seiner Aufgabenliste, darunter die vor kurzem von
Anna erreichte Aufgabe („Beschreiben Sie einander den Weg ...“). Er versucht nun,
einen Lernpartner für diese Aufgabe zu finden. Die Lernumgebung findet Anna als
mögliche Partnerin, da sie diese Aufgabe ebenfalls noch unbearbeitet in ihrer
Aufgabenliste hat. Die Lernumgebung schlägt Anna und Bernd durch eine Meldung
vor, diese Aufgabe jetzt gemeinsam zu bearbeiten.
ö Anforderung A5: Unterstützung für die Bildung von Lerngruppen
50
3. Anforderungen
Nachdem beide der gemeinsamen Aufgabenbearbeitung zugestimmt haben, öffnet
sich für beide ein Chat-Werkzeug. Anna und Bernd erklären sich gemäß der Aufgabenstellung gegenseitig den Weg. Danach beenden sie das Kommunikationswerkzeug und fahren individuell mit der Kursbearbeitung fort.
Anna und Bernd haben jeweils noch weitere kooperative Aufgaben in ihrer Aufgabenliste, die sie noch nicht bearbeitet haben. Bernd will die Aufgabe „Rollenspiel
zur Gesprächskultur“ bearbeiten und startet die Gruppenbildung. Für diese Übung
hat der Kursautor Zweiergruppen mit den beiden Rollen „Deutscher“ und „Spanier“
vorgesehen. Für die beiden Rollen gibt er rollenspezifisches Material vor. Weiterhin
soll die Übung durch einen Tutor begleitet werden. Als Lernmethode hat er einen
Prozess mit vier Phasen vorgegeben: Zunächst sollen die Lernenden individuell das
rollenspezifische Material lesen (1). Danach führen sie das Rollenspiel unter
Beobachtung eines Tutors durch (2), sie reflektieren ihr Rollenspiel unter Mitarbeit
eines Tutors (3) und fassen die wichtigsten Erkenntnisse gemeinsam zusammen.
Bernd und Anna (die von der Lernumgebung aufgrund der vorangegangenen Kooperation erneut ausgewählt wurden) beginnen mit dem Rollenspiel. Weiterhin hat die
Lernumgebung den beiden Carlos als Tutor zugeordnet. Das von der Lernumgebung
gestartete Kooperationswerkzeug führt die Lerngruppe durch die vier Phasen der
vorgegebenen Kooperationsmethode und stellt für jede Phase entsprechende
Werkzeuge und Informationen bereit.
ö Anforderung A6: Methodische Unterstützung der Lerngruppe
Diego hat in einem Autorentraining die Blitzlichtmethode kennen gelernt, bei der
jedes Gruppenmitglied in der Reihenfolge der Sitzordnung jeweils ein kurzes Statement zu einer vorgegebenen Frage oder Thematik abgibt. Diego ist davon überzeugt,
dass er eine solche Methode in angepasster Form auch in der nächsten Version des
Spanisch-Kurses an mehreren Stellen gewinnbringend einsetzen kann. Er schickt
deshalb eine Anfrage an seinen Ansprechpartner bei der SuperLearn GmbH und
schlägt vor, die Lernumgebung um ein Werkzeug zur Durchführung der Blitzlichtmethode zu erweitern.
ö Anforderung A7: Offenheit des Systems
3.2 Anforderungen zur Realisierung kontextueller Kooperation
51
3.2 Anforderungen zur Realisierung kontextueller Kooperation
3.2.1 Diskussion des Szenarios
Das vorgestellte Szenario (im Folgenden: SuperLearn-Szenario) beschreibt kursbasiertes Lernen. Die Lernenden arbeiten zum einen individuell mit dem Lernmaterial. Zum anderen können sie bei Bedarf von individuellem Lernen zu kooperativen
Situationen wechseln. Beispielsweise fordern sie Hilfe vom Tutor bzw. anderen
Lernenden an oder sie führen eine Gruppenübung durch. Das SuperLearn-Szenario
beschreibt exemplarische Nutzungsfälle, eine Auflistung aller Nutzungsfälle ist hier
weder sinnvoll, noch möglich. Letztendlich lassen sich jedoch alle Nutzungsfälle als
Kombination individueller und kooperativer Situationen darstellen, sind also im
Wesentlichen Varianten des Dargestellten.
Das SuperLearn-Szenario unterscheidet sich von traditionellen Lehr-/Lernszenarien
(Klassenzimmersituation) und vom traditionellen webbasierten Lernen in virtuellen
Lernumgebungen:
In der Klassenzimmersituation, wie sie beispielsweise in Schulen oder Lehrveranstaltungen an Hochschulen gegeben ist, können viele der dargestellten Lernarten
ebenfalls vorkommen. Es werden ab und zu Gruppenübungen durchgeführt, das
Anfordern von Hilfe und individuelles Arbeiten mit dem Lernmaterial ist möglich.
Unterschiede zum SuperLearn-Szenario bestehen zum einen in der im Klassenzimmer vorhandenen zeitlichen Kopplung der Lernaktivitäten, zum anderen in der
Vertrautheit der beteiligten Personen. Im SuperLearn-Szenario arbeiten die Lernenden zeitlich entkoppelt und treffen sich nur phasenweise zu Kooperationen. Sowohl
die Lernenden untereinander als auch Lernende und Tutoren kennen sich im SuperLearn-Szenario in der Regel nicht. Da sich Lernende einen Kurs beliebig buchen und
beenden oder abbrechen können, ist eine hohe Dynamik bezüglich der beteiligten
Personen vorhanden. Durch den phasenweisen Charakter der Kooperation, die
geringe Vertrautheit der Beteiligten untereinander und durch die Verteilung der
Akteure auf verschiedene Standorte ergibt sich eine Reihe von Problemen, die die
Kooperation (inklusive Kommunikation und Koordination) erschweren. Die Erfahrung
mit dieser Art des zeitlich entkoppelten, phasenweisen kooperativen Lernens zeigen,
dass bei der Umsetzung auf eine ausreichend hohe Nutzerzahl oder wirkungsvolle
zeitliche Koordination der kooperativen Phasen geachtet werden muss (siehe Kapitel
7). Dies gilt insbesondere für synchrone Kooperationsphasen.
Während traditionelles webbasiertes Lernen häufig nur individuelles Lernen vorsieht,
kann bei webbasiertem Lernen mit virtuellen Lernumgebungen wie beispielsweise
Blackboard (Blackboard 2004) oder CLIX (CLIX 2004) auch mit anderen Lernenden
und Tutoren kommuniziert werden. Viele virtuelle Lernumgebungen stellen außer
52
3. Anforderungen
Kommunikationswerkzeugen wie E-Mail, Foren oder Chat auch Werkzeuge für die
Koordination und Kooperation zur Verfügung und unterstützen die Arbeit in Gruppen
durch gruppenspezifische Mailverteiler, gemeinsame Dokumentablagen oder virtuelle
Klassenzimmer. Mehrere Anforderungen des SuperLearn-Szenarios können von bisherigen virtuellen Lernumgebungen jedoch nicht erfüllt werden. Sie bieten keine
aktive Unterstützung für das Finden von Lernpartnern, für die Anwendung spezifischer Kooperationsmethoden sowie für den gezielten Einbau von kooperativen
Aufgaben durch den Kursautor und deren Durchführung. Die Koordination, das Aufteilen in Gruppen und die Überwachung der Kooperationsmethode müssen vom
Tutor oder den Lernenden unter Nutzung generischer Kommunikationswerkzeuge
selbst geleistet werden.
Aus dem SuperLearn-Szenario wird deutlich, dass eine virtuelle Lernumgebung das
Wissen über den Kontext der Kooperation auf vielfältige Weise zur aktiven Unterstützung des Lernens nutzen kann.
3.2.2 Detaillierte Darstellung der Anforderungen
In diesem Abschnitt werden die in Abschnitt 3.2 bei der Beschreibung des SuperLearn-Szenarios identifizierten Anforderungen detaillierter dargestellt. Dabei wird
deutlich, dass diese Anforderungen jeweils kontinuierlich sind in dem Sinne, dass die
Unterstützung für kontextuelle Kooperation umso weitreichender ist, je mehr die
einzelnen Anforderungen durch eine bestimmte virtuelle Lernumgebung erfüllt
werden. Der Vergleich existierender Ansätze und Systeme im Hinblick auf die Erfüllung bzw. den Grad der Erfüllung dieser Anforderungen erfolgt in Kapitel 4.
A1: Unterstützung für individuelles kursbasiertes Lernen
Beim individuellen Bearbeiten von Lernmaterial sollte der Lernende je nach zugrunde
liegendem pädagogischem Konzept entweder den Zeitpunkt, die Geschwindigkeit,
die Reihenfolge der Bearbeitung der Materialien und weitere Aspekte seines Lernens
in Abhängigkeit von seinen Bedürfnissen selbst bestimmen (können) oder aber weitgehend durch das System angeleitet werden. Die pädagogischen Konzepte zum
kooperativen Lernen (vgl. Abschnitt 2.3) betonen, dass individuelles und kooperatives Lernen sich ergänzen und auch kooperatives Lernen in der Regel Phasen der
individuellen Arbeit mit Lernmaterial beinhaltet. Daher wird gefordert, dass eine virtuelle Lernumgebung für die kontextuelle Kooperation auch Phasen des individuellen
Lernens unterstützt.
Aus dem individuellen Lernen eines Lernenden können Informationen gewonnen
werden, die das kooperative Lernen unterstützen. Dies beinhaltet beispielsweise den
aktuell oder in der Vergangenheit vom Lernenden bearbeiteten Lernstoff (Kurs, Posi-
3.2 Anforderungen zur Realisierung kontextueller Kooperation
53
tion im Kurs, gewonnene Kompetenzen). Dieses Wissen kann z.B. die sinnvolle
Zusammenstellung von Lerngruppen erleichtern. Welche weitere Informationen über
den Benutzer, beispielsweise die Geschwindigkeit und die Häufigkeit der individuellen Bearbeitung des Lernmaterials oder auch sein aktuelles kognitives oder körperliches Belastungsniveau Rückschlüsse zulassen, die zur Unterstützung des kooperativen Lernens herangezogen werden können, ist nach dem gegenwärtigen Stand der
Forschung noch weitgehend ungeklärt.
A2: Spontane Kooperation
Beim individuellen Lernen können verschiedene Probleme auftreten, die den Erfolg
des Lernprozesses gefährden. Beispielsweise kann das Material Fehler enthalten, es
können technische Schwierigkeiten mit dem Materialabruf bestehen oder der
Lernende ist aufgrund seines Vorwissens nicht in der Lage, das Lernmaterial zu verstehen. Für solche Fälle wird die Möglichkeit gefordert, dass der Lernende spontan
mit einem Tutor oder anderen Lernenden kommunizieren und kooperieren kann, um
derartige Probleme zu lösen. Die Kommunikation bzw. Kooperation sollte in Abhängigkeit von den technischen Rahmenbedingungen, der Anwesenheit geeigneter
Kooperationspartner und persönlicher Präferenzen der Beteiligten sowohl synchron
als auch asynchron mittels jeweils geeigneter Werkzeuge erfolgen können. Individuelles Lernen, synchrones kooperatives Lernen und asynchrones kooperatives
Lernen stellen verschiedene Lernmodi dar.
Dies erfordert die technischen Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten
(inkl. einer Verbindung zum Internet) sowie die Möglichkeit, für das jeweilige Problem
geeignete Partner (den Tutor oder andere Lernende) zu identifizieren (Awareness)
bzw. vom System eine Empfehlung für (einen) geeignete(n) Partner zu erhalten
(Recommendation). Die Unterstützung der Kommunikation, Koordination und Kooperation soll so konzipiert sein, dass sie die in Kapitel 2 skizzierten Probleme in der örtlich verteilten Situation minimiert. Informationen aus dem individuellen Lernen, hier
beispielsweise die aktuelle Position im Kurs (vgl. Anforderung A1) können Teil des
Kontextes der spontanen Kooperation sein. Durch ihre Berücksichtigung kann die
Kooperation erleichtert werden, beispielsweise dadurch, dass ein Tutor bei einer
Frage eines Lernenden die Information erhält, in welchem Kurs und an welcher Stelle
die Frage gestellt wurde.
A3: Flexible Übergänge zwischen verschiedenen Lernmodi
(individuelles, synchrones und asynchrones kooperatives Lernen)
Individuelles Lernen, synchrones kooperatives Lernen und asynchrones kooperatives
Lernen sollen in der Lernumgebung so unterstützt werden, dass die Benutzer einfach
zwischen diesen Lernmodi wechseln können. Dies erlaubt ihnen z.B. über verschie-
54
3. Anforderungen
dene Lernmodi (und die dafür benutzten Werkzeuge der Lernumgebung) hinweg ihre
Identität zu behalten oder Ergebnisse und Materialien aus einem Lernmodus in
einem anderen Lernmodus weiterzuverwenden.
Diese flexiblen Übergänge zwischen verschiedenen Lernmodi halten Guzdial und
Kollegen (1997) für eine wichtige Voraussetzung, damit kooperative Werkzeuge auch
wirklich genutzt werden, so dass kooperatives Lernen erfolgen kann. Die Integration
der Werkzeuge für die verschiedenen Lernmodi muss sowohl technisch als auch
konzeptuell erfolgen. Die technische Integration beinhaltet den einfachen Wechsel
zwischen verschiedenen Werkzeugen der Lernumgebung, z.B. den Wechsel von
synchroner zu asynchroner Kooperation, wenn ein Kooperationspartner die Lernumgebung verlässt. Dazu können technische Informationen wie verfügbare Hardware (z.B. ob am benutzten Rechner eine Videokamera vorhanden ist) oder die
Parameter zum Aufbau der Kommunikation (z.B. IP-Adresse des benutzten
Rechners, Email-Adresse des Partners) genutzt werden. Die konzeptuelle Integration
zielt darauf, dass die verschiedenen Lernmodi und die dabei benutzten Ressourcen
und Vorgehensweisen zueinander passen. Beispielsweise soll für die Lernenden klar
sein, welche Werkzeuge für welche Episoden benutzt werden sollen (Guzdial et al.
1997).
A4: Intendierte Kooperation
In traditionellen Lehr-/Lernszenarien hat es sich bewährt, kooperative Aufgaben an
einer bestimmten Stelle innerhalb des Unterrichts zu verankern. So erfasst beispielsweise ein Lehrender in der Schule zunächst den Wissensstand der Klasse zum
neuen Thema, stellt dann den Lerninhalt (angepasst an den erhobenen Wissensstand) vor und lässt danach eine Gruppenübung zur tieferen Verarbeitung oder
Anwendung und Sicherung des Gelernten durchführen. Analog dem Lehrenden in
der Klasse soll für die kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen der
Kursautor in der Lage sein, kooperative Aufgaben als Bestandteil des Kurses zu
beschreiben und an einer bestimmten Stelle im Kurs zu verankern.
Dabei ist besonders auf eine einfache Benutzbarkeit der dazu eingesetzten Konzepte
und Werkzeuge zu achten. Ansätze aus der Künstlichen Intelligenz zur Integration
kooperativer Aufgaben in das Lernmaterial sind mit enormem Aufwand verbunden
und deshalb in der Praxis nicht einsetzbar (vgl. Harrer 2000).
A5: Unterstützung für die Bildung von Lerngruppen
Wie in Abschnitt 2.3 dargestellt, beeinflussen Eigenschaften der Gruppe wie die
Größe und die Homogenität bzw. Heterogenität in Bezug auf bestimmte Eigenschaften den Erfolg einer Kooperation. Weiterhin hängt der Erfolg von der Passung
3.2 Anforderungen zur Realisierung kontextueller Kooperation
55
zwischen den Eigenschaften der Gruppe und der Art der kooperativen Aufgabe ab.
Die Zusammenstellung einer Lerngruppe durch die Lernenden, durch einen Tutor
oder automatisch durch die Lernumgebung soll unterstützt werden. Um eine sinnvolle, d.h. eine im Sinne der Forderungen in Abschnitt 2.3.3 potentiell erfolgreiche
Gruppe zu bilden, sollen Kontextinformationen z.B. über Vorwissen und Präferenzen
der Benutzer und die Art der geplanten Kooperation berücksichtigt werden. Insbesondere für Szenarien, in denen sich die Beteiligten nicht kennen und ein Tutor (zu)
wenig Informationen bzw. Zeit zur sinnvollen Bildung von Lerngruppen hat, wird eine
Systemunterstützung für die automatische Bildung von Lerngruppen unter Berücksichtigung des Kontextes gefordert, um erfolgreiche Kooperationen zu begünstigen.
Aufgrund der Kontextabhängigkeit der Verfahren zur Bildung von Lerngruppen (vgl.
z.B. Haake et al. 2004) sollen verschiedene Verfahren und deren kontextabhängige
Auswahl bzw. Anpassung in der Lernumgebung möglich sein. Sind kooperative Aufgabe als notwendige Bestandteile des Lernprozesses vorgesehen (z.B. weil folgende
Lerneinheiten das darin zu erwerbende Wissen voraussetzen), müssen die Verfahren zur Bildung von Lerngruppen auch Ausnahmesituationen berücksichtigen (z.B.
wenn es keine geeigneten Lernpartner in diesem Kurs gibt).
Die Gruppenzusammensetzung beeinflusst neben dem Gruppenergebnis und dem
Gruppenprozess auch die Akzeptanz der Gruppenarbeit bei den Beteiligten, die
Akzeptanz des Lerngegenstandes und damit schließlich insgesamt den Erfolg der
Kooperation (Song 2004). Die ideale Größe einer Gruppe richtet sich nach der festgelegten Kooperationsmethode, das Spektrum sinnvoller Gruppengrößen reicht von
Zweiergruppen bis zu großen Gruppen. Infolgedessen sollen insbesondere auch
Lerngruppen mit mehr als zwei Mitgliedern unterstützt werden.
A6: Methodische Unterstützung der Lerngruppe
Die bisherigen Erfahrungen mit CSCL-Umgebungen zeigen, dass Kooperation dort
häufig nicht oder nicht im gewünschten Ausmaß stattfindet oder nicht zu effektiven
kooperativen Lernprozessen führt (Guzdial et al. 1997; Sadiq et al. 2002; Santoro et
al. 2000, Stahl 1999, Straub 2000, Wessner et al. 1999).
Guzdial und Kollegen (1997) stellen in ihrer Analyse fest, dass Lernende eine Anleitung für ihren Lernprozess benötigen, z.B. dadurch, dass die Umgebung ein Gerüst
für den Kooperationsprozess bereitstellt und die Reflektion des Lernprozesses durch
die Lernenden unterstützt. Für kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen ist daher zu fordern, dass Lernprozesse aktiv unterstützt werden, beispielsweise durch die Strukturierung der Kooperation in einzelne Phasen und Rollen sowie
durch rollenspezifische Ressourcen.
56
3. Anforderungen
Auf der Basis des Wissens über den Lernprozess und die zu bearbeitende Aufgabe
kann die Lernumgebung den Benutzern geeignete Funktionalität zur Strukturierung
des Kooperationsprozesses anbieten. Hierbei sollen möglichst viele verschiedene
Lernformen unterstützt werden können, d.h. es soll keine Festlegung auf einen bestimmten, z.B. den lehrerzentrierten Ansatz erfolgen.
A7: Offenheit des Systems
Aufgrund der Dynamik der technischen Entwicklung, aber auch der mit zunehmender
Medien- und Lernkompetenz zu erwartenden neuen Anforderungen an virtuelle
Lernumgebungen zur kontextuellen Kooperation wird eine Offenheit der Lernumgebung in mehrfacher Hinsicht gefordert. (1) Kursautoren sollen existierende Materialien (webbasierte Kurse) und die zu ihrer Bearbeitung eingesetzten Werkzeuge
weiterverwenden können. (2) Softwareentwickler sollen neue Kooperationswerkzeuge einfach realisieren bzw. existierende Kooperationswerkzeuge einfach in das
System integrieren können. (3) Softwareentwickler bzw. Systemadministratoren sollen möglichst leicht vorhandene Systeme, die Teilfunktionalitäten der kontextuellen
Kooperation realisieren (z.B. Learning- oder Benutzermanagementsysteme), in die
Systemarchitektur integrieren können. (4) Aufgrund der heterogenen Anforderungen
in Bezug auf Kooperationsmethoden und Werkzeuge wird zudem gefordert, dass das
zu entwickelnde System eine möglichst große Offenheit besitzen muss, um von den
Benutzern gemäß der jeweiligen Anforderungen konfiguriert werden zu können.
Um möglichst viele Lernende zu erreichen wird Plattformunabhängigkeit gefordert.
Zur Wiederverwendung bzw. Integration von Materialien und Werkzeugen müssen
existierende Standards berücksichtigt bzw. Schnittstellen geschaffen werden (vgl.
Hoppe & Gaßner 2002, Roschelle et al. 1999).
Derartige Offenheit des Systems wird nicht nur für CSCL-Anwendungen (vgl. z.B.
Derycke 2002), sondern generell für kooperative Systeme gefordert (vgl. z.B.
Stiemerling & Cremers 1998, Tietze 2001, ter Hofte 1998, Wang & Haake 1999).
3.3 Zusammenfassung
57
3.3 Zusammenfassung
In diesem Kapitel wurden anhand eine konkreten Szenarios Anforderungen an virtuelle Lernumgebungen zur Realisierung der kontextuellen Kooperation erarbeitet. Die
Tabelle 3.1 fasst die Anforderungen und mögliche Ausprägungen bzw. Teilaspekte
zusammen.
Anforderungsnummer
A1
A2
A3
A4
A5
A6
A7
Anforderung und Ausprägungen bzw. Teilaspekte
Unterstützung für individuelles kursbasiertes Lernen:
- Möglichkeit, in der Lernumgebung individuell zu lernen
- Möglichkeit, Informationen über das individuelle Lernen zu erfassen,
insbesondere aktuelle Kompetenzen des Lernenden
Spontane Kooperation:
- Kooperation mit dem Tutor
- Kooperation mit anderen Lernenden
- Synchrone und asynchrone Kooperation
- Identifikation von Partnern (Awareness)
- Empfehlung von Partnern (Recommendation)
- Berücksichtigung von Informationen aus dem individuellen Lernen
Flexible Übergänge zwischen verschiedenen Lernmodi:
- Wechsel zwischen den Lernmodi individuelles, synchrones kooperatives
und asynchrones kooperatives Lernen
- Technische Integration der Lernmodi
- Konzeptuelle Integration der Lernmodi
Intendierte Kooperation:
- Verankerung von kooperativen Aufgaben im Kurs
- Beschreiben von kooperativen Aufgaben
Unterstützung für die Bildung von Lerngruppen:
- Gruppenbildung durch Lernende
- Gruppenbildung durch den Tutor
- Gruppenbildung durch die Lernumgebung
- Flexible Gruppenbildungsverfahren
Methodische Unterstützung der Lerngruppe:
- Strukturierung des Kooperationsprozesses
- Rollenspezifische Ressourcen
- Unterstützung für verschiedene Lernformen
Offenheit des Systems:
- Wiederverwendung von Materialien
- Wiederverwendung von Werkzeugen
- Entwicklung neuer Werkzeuge
- Integration mit existierenden Infrastrukturen
Tabelle 3.1: Übersicht über die ermittelten Anforderungen
Im folgenden Kapitel werden existierende Ansätze und Systeme dahingehend diskutiert, inwieweit sie diese Anforderungen erfüllen und welche Anforderungen bisher
noch nicht abgedeckt werden.
Kapitel 4
Vergleich mit verwandten Arbeiten
In diesem Kapitel werden verwandte Forschungsansätze und daraus resultierende
Systeme dargestellt und in Bezug auf die in Kapitel 3 dargestellten Anforderungen an
die Realisierung kontextueller Kooperation in virtuellen Lernumgebungen hin
analysiert.
Zunächst wird das Vorgehen zur Auswahl der zu betrachtenden Ansätze und
Systeme beschrieben sowie eine Klassifikation der Ansätze vorgestellt (Abschnitt
4.1). Es folgen eine Beschreibung der ausgewählten Ansätze anhand von Beispielsystemen und ein Vergleich mit den Anforderungen (Abschnitt 4.2). Für jede der in
Kapitel 3 dargestellten Anforderungen wird analysiert, inwieweit diese Anforderung
durch existierende Forschungsansätze adressiert wird (Abschnitt 4.3). Die Betrachtung dieser Ansätze und Systeme liefert einerseits Hinweise darauf, welche Ansätze
für diese Arbeit aufgegriffen werden können, andererseits weist sie auf bislang noch
ungelöste Probleme hin. In der Zusammenfassung des Standes der Technik wird
deutlich, welche Anforderungen an die Realisierung kontextueller Kooperation in virtuellen Lernumgebungen derzeit noch nicht hinreichend erfüllt werden (können)
(Abschnitt 4.4).
4.1 Ermittlung verwandter Arbeiten
4.1.1 Relevante Forschungsgebiete
Wie in Kapitel 2 dargestellt, kann diese Arbeit auf Ergebnissen in den Forschungsgebieten computerunterstütztes (individuelles) Lernen in virtuellen Lernumgebungen,
computerunterstütztes kooperatives Arbeiten sowie computerunterstütztes kooperatives Lernen aufbauen.
Es liegen mehrere Generationen von Ansätzen und Systemen für computerunterstütztes individuelles Lernen vor, u.a. unter den Bezeichnungen Computerunterstützter Unterricht (CUU), Computerbasiertes Training (CBT), Intelligente Tutorielle
Systeme (ITS) oder Webbasiertes Training (WBT) (vgl. Schulmeister 1997). Da dort
59
60
4. Vergleich mit verwandten Arbeiten
keine Unterstützung für kooperatives Lernen vorgesehen ist, sollen derartige Ansätze
an dieser Stelle nicht weiter betrachtet werden.
Ansätze und Systeme im Bereich des computerunterstützten kooperativen Arbeitens
(CSCW) adressieren die gemeinsame Durchführung von Arbeitsprozessen. Zwar
können CSCW-Systeme durchaus auch zur Unterstützung von kooperativen Lernprozessen genutzt werden, aber angesichts der wesentlichen Unterschiede zwischen
Arbeits- und Lernunterstützung (Schwabe et al. 2001) werden reine CSCW-Systeme
hier nicht weiter betrachtet. Wie in Abschnitt 2.4.2 dargestellt, basieren Systeme für
das kooperative Lernen (CSCL-Systeme; s.u.) meist auf CSCW-Technologien und Konzepten und können von den Erfahrungen des CSCW profitieren.
Die für die Realisierung der kontextuellen Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
relevanten Ansätze und Systeme können im Bereich des Forschungsgebietes
computerunterstütztes kooperatives Lernen (CSCL) gefunden werden, da hier explizit auf die Kooperation zu Lernzwecken fokussiert wird. Zur Auswahl der zu betrachtenden Forschungsansätze wird im nächsten Abschnitt zunächst eine Klassifizierung
anhand der jeweils verwendeten Metapher zur Realisierung der Werkzeuge bzw.
Umgebungen vorgestellt. Danach werden typische Vertreter der einzelnen Klassen
beschrieben und mit den Anforderungen an die Realisierung der kontextuellen
Kooperation in virtuellen Lernumgebungen verglichen.
4.1.2 Klassifikation der Forschungsansätze
Klassifikationen für CSCL-Forschungsansätze nutzen oft Eigenschaften der resultierenden Systeme oder der durch sie unterstützten Szenarien als Klassifikationskriterium (vgl. Wessner 2001b). So kann beispielsweise nach den Dimensionen Ort
(face-to-face oder örtlich verteilte Lerngruppe), Zeit (synchron oder asynchron) oder
nach den für ein bestimmtes System möglichen Gruppengrößen klassifiziert werden.
Miao (2000) schlägt eine Unterteilung von CSCL-Systemen gemäß der darin vorrangig genutzten Metapher vor und differenziert zwischen dokumentbasierten, konferenzbasierten und raumbasierten Ansätzen und schlägt als zusätzliche Kategorie
den kontextbasierten Ansatz vor:
Dokumentbasierte Systeme dienen als gemeinsam genutzte Ablagen für Dokumente
(Lernmaterialien und Kommunikationsbeiträge) und regeln den (in der Regel: asynchronen) Zugriff auf die Dokumente durch die einzelnen Benutzer bzw. Benutzergruppen. Kooperation erfolgt durch das Lesen, Hinzufügen oder Verändern von
Dokumenten in dem für die Kooperationspartner zugreifbaren gemeinsamen Bereich.
Zwar können Benutzer verschiedene Dokumente gleichzeitig bearbeiten, eine synchrone Kooperation auf dem gleichen Dokument ist jedoch nicht möglich.
4.1 Ermittlung verwandter Arbeiten
61
Konferenzbasierte Systeme nutzen Werkzeuge zur synchronen Kommunikation bzw.
Kooperation (z.B. Chat, Audio/Video-Konferenz oder Application Sharing). Dieser
Ansatz zielt meist auf traditionelle Vorlesungs- oder Seminarszenarien. In der Regel
werden die Materialien und Kommunikationsbeiträge nicht persistent gespeichert.
Asynchrone Kooperation ist nicht möglich.
Raumbasierte Systeme kombinieren den dokumentbasierten und den konferenzbasierten Ansatz. Sie überwinden die Probleme der dokumentbasierten und konferenzbasierten Systeme, indem sie persistente virtuelle Räume für die Kooperation
zur Verfügung stellen und den Zugriff auf die Räume regeln. In einem virtuellen
Raum können Benutzer – bei gleichzeitiger Anwesenheit – synchron kooperieren.
Die Persistenz der Materialien und Kommunikationsbeiträge ermöglicht auch
asynchrone Kooperation. Zur Kooperation stehen im Raum bestimmte Werkzeuge
und Dokumente zur Verfügung. Die oft geringe Flexibilität in Bezug auf das Anlegen
und Löschen virtueller Räume sowie die meist starre Zuordnung von Personen,
Werkzeugen und Dokumenten zu bestimmten virtuellen Räumen beeinträchtigen die
Flexibilität des kooperativen Lernens. Auch eine aktive Unterstützung von
kooperativen Lernprozessen z.B. in Form einer Lernprozessunterstützung ist hier in
der Regel nicht vorgesehen.
Als eine Erweiterung des raumbasierten Ansatzes führt Miao (2000) die Klasse der
kontextbasierten Systeme ein. Unter Lernkontext wird dabei eine Menge von Personen, Werkzeugen und Dokumenten an einem virtuellen Ort verstanden. Eine
kontextbasierte Lernumgebung stellt ein System von miteinander verbundenen
Räumen bereit. Personen, Dokumente und Werkzeuge sind nicht notwendigerweise
an einen bestimmten Raum gebunden, wodurch eine flexible Kooperation bzw. ein
leichter Wechsel des Lernkontextes möglich ist. Die in dieser Arbeit erarbeiteten
Begriffe Kontext und Kontextuelle Kooperation gehen über den Begriff des Lernkontextes bei kontextbasierten Systemen hinaus, beispielsweise durch die Berücksichtigung von Informationen über das individuelle Lernen oder durch die Verankerung und Beschreibung kooperativer Aufgaben als Bestandteil von Lernmaterialien.
In Ergänzung der von Miao (2000) vorgeschlagenen Klassifikation werden hier noch
der domänenmodellbasierte und der prozessbasierte Ansatz berücksichtigt.
Domänenmodellbasierte Systeme bieten Unterstützung für kooperatives Lernen auf
Basis einer expliziten Modellierung des Lernmaterials, der Lernziele sowie des
Kooperationsprozesses. Dazu werden Techniken aus dem Bereich der Künstlichen
Intelligenz eingesetzt. Sie stellen eine Erweiterung des auf die Unterstützung individuellen Lernens zielenden Forschungsgebietes Intelligente Tutorielle Systeme (ITS)
62
4. Vergleich mit verwandten Arbeiten
dar. Aufgrund der expliziten Modellierung können domänenmodellbasierte Systeme
weitreichende Unterstützung für kooperatives Lernen bieten.
Prozessbasierte Systeme stellen den Lernprozess (in Analogie zum Workflow
zuweilen auch Learnflow genannt) in den Mittelpunkt. Sie kombinieren die Funktionalität von Lernumgebungen und Workflow-Systemen. Wesentliche Elemente sind
demzufolge die Benutzerverwaltung, Kursverwaltung, die Modellierung und Steuerung von Lernprozessen inklusive der benötigten organisatorischen Prozesse wie
Registrierung für Kurse oder Anmeldung zu Prüfungen. Ähnlich wie Workflowmanagementsysteme wird in der Regel nur die asynchrone Kooperation durch die
Aufteilung eines kooperativen Prozesses in einzelne, nicht-kooperative Prozessschritte und das Weiterleiten von (Zwischen-) Ergebnissen zwischen diesen Schritten
unterstützt.
Im Weiteren wird die Klassifikation in dokumentbasierte, konferenzbasierte, raumbasierte, kontextbasierte, domänenmodellbasierte und prozessbasierte Ansätze für
die Analyse existierender Forschungsarbeiten herangezogen.
4.2 Analyse und Vergleich verwandter Arbeiten
4.2.1 Auswahl
Für E-Learning-Werkzeuge und -Plattformen wird häufig die fehlende (Markt-)Transparenz in Bezug auf ihre Funktionalität beklagt (vgl. z.B. Baumgartner 2001). Auch
die E-Learning-Forschung ist unübersichtlich, da Forschungsergebnisse nur teilweise
auf speziell dem E-Learning gewidmeten Tagungen bzw. in entsprechenden Zeitschriften veröffentlicht werden. Viele Forschungsergebnisse werden im Kontext der
Anwendung (beispielsweise ein E-Learning-System zum Software-Engineering (SE)
auf einer SE-Tagung) oder im Kontext der verwendeten Basistechnologie (beispielsweise eine mit Methoden der künstlichen Intelligenz (KI) realisierte Lernumgebung
auf einer KI-Tagung) präsentiert. Seit ihrem Start im Jahr 1995 werden Forschungsarbeiten zum CSCL im Rahmen der internationalen CSCL-Konferenzreihe präsentiert.
Die Unterstützung des kooperativen Lernens nach dem dokumentbasierten Ansatz
erfolgt häufig mit nicht speziell für das Lernen entwickelten Werkzeugen wie beispielsweise der BSCW-Plattform (Bentley et al. 1995). Deren Weiterentwicklung für
das Anwendungsgebiet des kooperativen Lernens, BSCL (Stahl 2004), ersetzt z.B.
die in BSCW allgemeingehaltenen Bezeichnungen für Rollen und Ablagestrukturen
durch lernspezifische Bezeichnungen. Die weiter unten beschriebene Lernumgebung
KOLUMBUS stellt eine innovative Erweiterung dokumentbasierter Ansätze dar, da
4.2 Analyse und Vergleich verwandter Arbeiten
63
sie die Aufteilung von Dokumenten in einzelne Einheiten und die Diskussion dieser
Einheiten durch Annotationen erlaubt.
Systeme nach dem konferenzbasierten Ansatz werden häufig für die Kopplung verschiedener Standorte, beispielsweise in Form von Televorlesungen oder –seminaren
eingesetzt. Weiter unten werden zwei Erweiterungen dieses Ansatzes vorgestellt: Im
Projekt CASTLE werden synchrone Konferenzen mit persistenten Lernmaterialien
kombiniert. Das Werkzeug CLARE integriert die Unterstützung der Kooperation im
Hinblick auf eine bestimmte Kooperationsmethode. Ein weiterer, hier wegen anderer
Zielsetzung nicht weiter zu behandelnder Ansatz zur kooperativen Benutzung
ursprünglich für die individuelle Benutzung entwickelter (Lern-)Werkzeuge wird von
El Saddik (2001) vorgestellt.
In der Praxis werden häufig Systeme auf der Basis des raumbasierten Ansatzes
eingesetzt, da diese synchrone, asynchrone und gemischte kooperative
Lernszenarien unterstützen. Als Beispiele für raumbasierte Systeme werden unten
die Systeme CommSy und sTeam beschrieben. CommSy ist speziell auf die Unterstützung sogenannter Wissensprojekte ausgerichtet. sTeam kombiniert die Eigenschaften dokumentbasierter und raumbasierter Systeme. Räume werden zur Verwaltung von Dokumenten benutzt und stellen Messageboards, Email und Chat zur
Kommunikation zur Verfügung.
Als System, das auf dem kontextbasierten Ansatz beruht, wird unten die kooperative
Lernumgebung CROCODILE vorgestellt. Diese kombiniert den raumbasierten Ansatz
mit der Prozessunterstützung für kooperatives Lernen.
Der domänenmodellbasierte Ansatz erfordert umfangreiche Arbeiten zur Modellierung u.a. des Lernmaterials, weshalb dieser Ansatz keine weite Verbreitung erlangt
hat. Ein im Hinblick auf die angebotene Unterstützung des kooperativen Lernens
sehr weitreichender Ansatz wird im Projekt FITS/CL verfolgt. Weitere Arbeiten, die
auf diesem Ansatz basieren, werden von Hoppe (1995) und Harrer (2000) vorgestellt.
Für den prozessbasierten Ansatz wird das System Flex-eL ausgewählt, das an verschiedenen Einrichtungen bereits in der Praxis erprobt wurde. Flex-eL kombiniert ELearning- und Workflow-Funktionalität und stellt auch eine gewisse Unterstützung für
kooperatives Lernen bereit.
Abschließend wird außerhalb der gewählten Klassifikation noch auf Standardisierungsbemühungen zur Beschreibung kooperativen Lernens eingegangen, die als
Basis auch für virtuelle Lernumgebungen für die kontextuelle Kooperation dienen
können.
64
4. Vergleich mit verwandten Arbeiten
Die Darstellung der Ansätze und Systeme folgt jeweils folgenden Aufbau: Zunächst
wird das Projekt bzw. System hinsichtlich seiner Zielsetzung und Funktionalität kurz
charakterisiert. Danach wird jeweils analysiert, welche der in dieser Arbeit gestellten
Anforderungen durch diesen Ansatz bzw. dieses System in welchem Maße erfüllt
werden (können). Dazu wird im Text jeweils die Nummer der relevanten Anforderung
aus Kapitel 3 in Klammern () angegeben.
4.2.2 Dokumentbasierte Ansätze
Als Beispiel für eine auf dem dokumentbasierten Ansatz aufbauende Lernumgebung
wird das System KOLUMBUS betrachtet.
KOLUMBUS
KOLUMBUS (Kienle & Herrmann 2002, Kienle 2003) wurde am Fachgebiet Informatik und Gesellschaft der Universität Dortmund entwickelt. Inhalte werden von
Lehrenden und Studierenden in KOLUMBUS abgelegt. Die Rezipienten eines Inhalts
werden explizit angeben, wodurch individuelles Arbeiten am Material, das Arbeiten in
Gruppen und das Arbeiten mit allen KOLUMBUS-Benutzern ermöglicht wird. Hauptziel der Entwicklung von KOLUMBUS war die Integration von Materialablage und
Kommunikationsunterstützung basierend auf einem Annotationskonzept. Das Material liegt in kleine Einheiten zerlegt vor. Zu jeder Einheit (Text, Bild, Binärdateien,
Link) können textuelle Annotationen vorgenommen werden. Annotationen können
ebenfalls annotiert werden, wodurch eine Diskussion möglich ist. Annotationen sind
also jeweils an eine Position im Material gebunden. So berücksichtigt die Kooperation (in Form der Diskussion mittels Annotationen) jeweils den inhaltlichen Kontext.
Für die synchrone Kooperation ist zudem ein Chat in KOLUMBUS integriert.
Ziel der Kooperation in KOLUMBUS ist es, einen Konsens innerhalb einer Lerngruppe zu erlangen. Dazu kann der Urheber einer Inhaltseinheit anderen Personen
die Miturheberschaft vorschlagen. Die Zustimmung, Ablehnung, Enthaltung bezüglich
dieser Einladung oder die Forderung nach weiterer Diskussion wird durch einen im
System realisierten Aushandlungsprozess unterstützt. Stimmt ein bestimmter Prozentsatz der Urheber dem Vorschlag zu, wird die Gruppe der Urheber entsprechend
erweitert.
KOLUMBUS ermöglicht das individuelle Lernen, Informationen darüber werden nicht
erhoben (A1). Spontane Kooperation wird durch Chat, Annotationen und den Aushandlungsprozess zur Konsensfindung unterstützt. Durch die Verankerung der
Annotation und der Aushandlung im Material wird der Kontext der Kooperation deutlich (A2).
4.2 Analyse und Vergleich verwandter Arbeiten
65
Abbildung 4.1: Screenshot des KOLUMBUS-Systems
Der Wechsel von individuellem Lernen zu kooperativem Lernen erfolgt kontextabhängig z.B. durch Veröffentlichen von Inhalten (Erweiterung des Empfängerkreises, Einladen zur Miturheberschaft). Ein Wechsel zur synchronen, vom aktuellen
Kontext unabhängigen Kooperation ist per Aktivierung des Chats möglich (A3).
Inhalte und Annotationen können an beliebigen Stellen im Material verankert werden.
Kooperative Aufgaben können ebenso textuell beschrieben und verankert werden.
Eine vom System interpretierbare Beschreibung einer kooperativen Aufgabe ist nicht
vorgesehen (A4). Lerngruppen werden in KOLUMBUS als Gruppe der Rezipienten
bzw. Gruppe der Urheber einer Information repräsentiert, eine spezielle Unterstützung durch das System zur Identifikation geeigneter Partner wird nicht angeboten
(A5). Der Kooperationsprozess einer Gruppe wird mit Ausnahme der Aushandlungsunterstützung nicht methodisch unterstützt (A6). Als webbasiertes System erlaubt
KOLUMBUS die Wiederverwendung von Materialien, die Integration neuer Werkzeuge und die Kopplung mit anderen Systemen (A7).
66
4. Vergleich mit verwandten Arbeiten
4.2.3 Konferenzbasierte Ansätze
Als Beispiele für auf dem konferenzbasierten Ansatz aufbauende Systeme werden
die im Projekt CASTLE entwickelte Lernumgebung und das Werkzeug CLARE betrachtet.
CASTLE
Im Rahmen des von der Europäischen Union geförderten Projektes CASTLE (Computer Aided System for Tele-Interactive Learning in Environmental Monitoring; 19971999) wurde eine Lernumgebung entwickelt, die selbstgesteuertes individuelles Lernen mit synchronen Lernsitzungen kombiniert (Böhmann et al. 1999). Ziel der Entwicklung war die Bereitstellung eines virtuellen Arbeitsraumes für das gemeinsame
Lernen mit Werkzeugen für die gemeinsame Arbeit am Material. Ein weiteres Ziel
war es, Tutoren die Möglichkeit zur Steuerung des Arbeitsraumes bzw. der Werkzeuge während der Sitzung zu geben.
Als Kooperationsplattform wird Microsoft NetMeeting ergänzt durch webbasiertes
Lernmaterial sowie weitere Werkzeuge aus dem Bereich der Sitzungsunterstützung
(Brainstorming, gemeinsames Erarbeiten von Gliederungshierarchien, Abstimmung)
verwendet. Mit einem Tagesordnungswerkzeug kann der Tutor die einzelnen Phasen
und für jede Phase die zur Verfügung stehenden Werkzeuge festlegen.
Eine Besonderheit von CASTLE ist die Kombination des konferenzbasierten Ansatzes mit individuellem, webbasiertem Lernmaterial. Das Lernmaterial kann individuell
bearbeitet werden, das System erhebt allerdings keine Informationen darüber (A1).
Ohne eine Awareness-Information über andere angemeldete Benutzer ist eine spontane Kooperation mittels des integrierten synchronen Werkzeugs NetMeeting nicht
einfach realisierbar, eine asynchrone Kooperation ist nicht vorgesehen (A2). Der
Wechsel vom individuellen Lernen zum synchronen kooperativen Lernen muss
außerhalb des Systems vorbereitet werden, erfordert also zusätzlichen Aufwand
(A3). Kooperatives Lernen erfolgt in Form geplanter synchroner Sitzungen. Eine
Beschreibung der Kooperation in vom System interpretierbarer Form und verankert
im Lernmaterial ist nicht möglich (A4). Auch die Bildung von Lerngruppen, also die
Zusammenstellung der Teilnehmer für eine synchrone Sitzung, muss außerhalb des
Systems erfolgen (A5). Eine Sitzung kann durch die Verwendung in CASTLE integrierter kooperativer Werkzeuge methodisch unterstützt werden. Da keine vom
System interpretierbare Beschreibung der Kooperation vorliegt, liegt die Auswahl und
Aktivierung in der Hand eines Moderators (A6). CASTLE ist durch die Verwendung
webbasierter Lernmaterialien offen für die Wiederverwendung von Lernmaterialien.
Zusätzliche individuelle Werkzeuge können mit Hilfe des in NetMeeting enthaltenen
Application Sharing genutzt werden, eine Integration kooperativer Werkzeuge und
4.2 Analyse und Vergleich verwandter Arbeiten
67
die Kopplung mit anderen Systemen ist aufwendig, aber durch die NetMeeting-Programmierschnittstelle möglich (A7).
Abbildung 4.2: Screenshot des CASTLE-Systems
CLARE
Das Werkzeug CLARE wurde an der Universität von Hawaii für das gemeinsame
Durcharbeiten und Diskutieren wissenschaftlicher Artikel entwickelt (Wan 1994, Wan
& Johnson 1994).
Die Lerner bauen mit diesem System eine Repräsentation einer wissenschaftlichen
Arbeit als Menge miteinander verbundener kleinerer logischer Einheiten (Hypothese,
Folgerung, Beobachtung, etc.) auf. Sie werden vom System durch den Prozess der
Analyse und Diskussion in mehreren Stufen geführt: Zunächst entwickelt jeder
Lerner individuell durch Zusammenfassen und Bewerten eine Repräsentation des
Artikels. Danach vergleichen und diskutieren die Lerner ihre jeweiligen Repräsentationen und integrieren sie zu einer gemeinsamen Darstellung. Durch die gewählte
explizite Modellierung des Lerninhalts und des Bearbeitungsprozesses kann CLARE
die Lerner in jeder Phase beobachten und gezielt unterstützen. Zur Realisierung wird
68
4. Vergleich mit verwandten Arbeiten
eine halbformale Repräsentationssprache (REpresentational Schema of Research
Artifacts; RESRA) sowie ein explizites Prozessmodell (Summarization, Evaluation,
Comparison, Argumentation, and Integration; SECAI) eingesetzt.
Abbildung 4.3: Screenshot des CLARE-Systems
Eine auf den Prinzipien von CLARE aufbauende, neuere Entwicklung ist CLE
(Ueberall et al. 2003). CLE soll die Integration der individuellen Repräsentationen
durch das Erkennen struktureller Ähnlichkeiten unterstützen.
Die Besonderheit von CLARE ist die Kombination des konferenzbasierten Ansatzes
mit einer methodischen Unterstützung in Form der Repräsentationssprache und des
Prozessmodells. CLARE unterstützt das individuelle Lernen im Rahmen des fest
vorgegebenen Lernprozesses. Die dabei entwickelte Repräsentation des zu bearbeitenden Textes steht dann für die kooperative Arbeit zur Verfügung (A1). Der
Zeitpunkt und die methodische Unterstützung der Kooperation sind ebenfalls im
Lernprozess fest vorgegeben (A6). Spontane Kooperation (A2) und flexible Übergänge zwischen individuellen und kooperativen Phasen (A3) sind nicht möglich. Es
gibt außer dem zu bearbeitenden Text kein Lernmaterial, in dem eine Kooperation
4.2 Analyse und Vergleich verwandter Arbeiten
69
verankert werden kann (A4). Die Zusammenstellung der Lerngruppen erfolgt außerhalb des Systems, das System bietet dazu keine Unterstützung an (A5).
4.2.4 Raumbasierte Ansätze
Als Beispiele für auf dem raumbasierten Ansatz aufbauende Lernumgebungen werden die Systeme CommSy und sTeam betrachtet.
CommSy
CommSy (für Community System) wurde an der Universität Hamburg im Rahmen
des Projektes WissPro entwickelt (Jackewitz et al. 2002, Jackewitz et al. 2004).
CommSy ist eine webbasierte Plattform zur Unterstützung sog. Wissensprojekte im
Rahmen des Studiums. CommSy unterscheidet zwischen Gemeinschaftsräumen
(beispielsweise für alle Studierenden und Lehrenden im Fach Informatik an einer
Hochschule) und Projekträumen (beispielsweise für die Teilnehmer einer bestimmten
Lehrveranstaltung). Die Sichtbarkeit von Informationseinheiten ist grundsätzlich auf
einen Raum beschränkt. Zusätzlich können Informationen auch für die Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
CommSy ist ein raumbasiertes System, das gezielt im Hinblick auf die didaktische
Perspektive eines Wissensprojektes (Jackewitz et al. 2004) gestaltet wurde. Damit
einhergehend wurden die Designprinzipien „Einfachheit der Benutzung“, „verantwortungsvolle Benutzung“ und „Einsatz in Kombination mit anderen Medien“ umgesetzt. Dies wirkt sich u.a. darin aus, dass für raumbasierte Systeme nahe liegende
Funktionalitäten wie Anzeige aktuell virtuell anwesender Benutzer und synchrone
Kooperationsmöglichkeiten bewusst nicht realisiert wurden.
CommSy erlaubt das individuelle Lernen mit Hilfe der im System vorhandenen Lernmaterialien, Informationen über den Lernprozess werden nicht erhoben (A1). Spontane Kooperation ist asynchron durch das Bearbeiten von Dokumenten, Nachrichten,
Ankündigungen und Annotationen möglich (A2). Durch die Verwendung der Raummetapher ist der Wechsel von individuellem zu (asynchron) kooperativem Lernen
leicht möglich. Synchrone Kooperation ist nicht vorgesehen, eine dafür sinnvolle
Anzeige aktuell in diesem Raum virtuell anwesender Benutzer existiert nicht (A3).
Eine vom System interpretierbare Beschreibung einer kooperativen Aufgabe und
deren Verankerung im Lernmaterial sind nicht vorgesehen (A4). Zugang zu einem
Raum erhält man nach Beantragung vom Moderator des Raumes. Innerhalb eines
Projektraumes können die Benutzer Untergruppen bilden und Materialien als wichtig
für eine Untergruppe kennzeichnen, was jedoch keine Auswirkung auf Zugriffsrechte
in diesem Raum hat. Dadurch ist die Bildung von Lerngruppen möglich, eine aktive
Unterstützung etwa unter Berücksichtigung von Informationen über die Lernenden ist
70
4. Vergleich mit verwandten Arbeiten
nicht vorgesehen (A5). Innerhalb der Räume kooperieren die Benutzer nach Belieben, eine methodische Unterstützung der Lerngruppe wird nicht angeboten (A6).
Als webbasiertes System ermöglicht CommSy die Wiederverwendung von Materialien, die Integration von Werkzeugen und die Kopplung mit anderen Systemen (A7).
Abbildung 4.4: Screenshot des CommSy-Systems
sTeam
sTeam (Strukturieren von Informationen in Teams, zeitweise auch mit OpensTeam
bezeichnet) wurde an der Universität Paderborn entwickelt (Hampel 2001, Hampel &
Keil-Slawik 2001). sTeam ist eine Open Source Umgebung, die kooperative virtuelle
Wissensräume bereitstellt. Die verwendete Raummetapher integriert synchrone und
asynchrone Formen der Zusammenarbeit und die Verwaltung hypermedialer Dokumente. Lernende und Lehrende können in den Räumen Dokumente ablegen und
bearbeiten. sTeam bietet gemeinsame Sichten, Funktionen zur logischen und visuellen Organisation von Dokumenten sowie zum Kommentieren. sTeam unterstützt
Nutzergruppen und Zugriffsrechte.
4.2 Analyse und Vergleich verwandter Arbeiten
71
sTeam fokussiert auf die gemeinsame, örtlich verteilte Verwaltung von Wissen und
bietet eine Plattform für verschiedene Kooperationsformen. Wissensstrukturen können individuell, in Gruppen oder Communities aufgebaut werden.
Abbildung 4.5: Screenshot des sTeam-Systems
sTeam realisiert im Vergleich zu CommSy nicht nur asynchrone, sondern auch synchrone Kooperationsmöglichkeiten. sTeam-Räume erlauben das individuelle Lernen,
ohne jedoch Informationen darüber zu erheben (A1). Spontane Kooperation ist via
Email, Nachrichten, Chat und Annotationen möglich. Je nachdem, welches dieser
Medien gewählt wird, erfolgt die Kooperation entweder ohne Bezug auf einen Kontext oder der Kontext wird durch den aktuellen Raum bzw. das annotierte Inhaltselement gegeben (A2). Der Raummetapher folgend sind flexible Übergänge zwischen
individuellem und kooperativem Lernen möglich (A3). Kooperative Aufgaben können
in sTeam nicht in durch das System interpretierbarer Form beschrieben und im
Lernmaterial verankert werden (A4). Auch eine Unterstützung für die Bildung von
Lerngruppen (A5) oder eine methodische Unterstützung des kooperativen Lernens
(A6) ist nicht realisiert. sTeam ist als webbasiertes System offen für die Wiederverwendung von Materialien. Die OpenSource-Umgebung verfügt über Standard-
72
4. Vergleich mit verwandten Arbeiten
Schnittstellen für die Anbindung von Email- und Chat-Systemen sowie weiterer
kooperativer Werkzeuge. Auch für die Kopplung mit anderen Systemen sind Standard-Schnittstellen vorhanden (A7).
4.2.5 Kontextbasierte Ansätze
Als Beispiel für eine auf dem kontextbasierten Ansatz aufbauende Lernumgebung
wird das System CROCODILE betrachtet.
CROCODILE
Die kooperative Lernumgebung CROCODILE (Creative Open Cooperative Distributed Learning Environment; Miao 2000, Pfister et al. 1998b, Wessner et al. 1999)
wurde am GMD-IPSI in Darmstadt entwickelt. Sie baut auf der kooperativen, raumbasierten Lernumgebung VITAL (Pfister et al. 1998a) auf. In die Entwicklung von
CROCODILE sind die Erfahrungen bei der Evaluation von VITAL in verschiedenen
Lehrveranstaltungen eingeflossen (Pfister et al. 1999, Pfister & Wessner 2000). Die
in VITAL realisierte Raummetapher in Form virtueller privater Räume, Gruppenräume
und Auditorien wird bei CROCODILE zum virtuellen Campus erweitert. Zusätzlich
werden in CROCODILE zwei weitere Konzepte zur Unterstützung des kooperativen
Lernens umgesetzt:
So genannte Lernprotokolle (Miao et al. 2000a, Wessner et al. 1999) dienen dazu,
lernspezifische Kommunikations- und Kooperationsmethoden durch das System zu
unterstützen und somit die Koordination der Aktivitäten in der Gruppe zu erleichtern.
Lernspezifische Kommunikationen sind z.B. ein Erklärungsdialog (ein Experte erklärt
einem Lernenden einen komplexen Begriff) oder ein Pro-/Kontra-Gespräch zwischen
Befürwortern und Gegnern zu einem strittigen Thema. Mit Lernprotokollen können für
jede Phase des Kooperationsprozesses für die Teilnehmer Rollen, Regeln und erlaubte Mitteilungstypen festgelegt werden.
Zur inhaltlichen Strukturierung der hypermedialen Lernmaterialien stehen den Lerngruppen so genannte Lernnetze (Wessner et al. 2001c) zur Verfügung. Lernnetze
sind Graphen aus Knoten und Relationen. Knoten und Relationen sind typisiert, d.h.
es sind nur bestimmte Elementtypen und Verbindungen zwischen den Elementen je
nach Anwendungsdomäne und Lernmethode möglich.
CROCODILE unterstützt das individuelle Lernen, erhebt aber keine Informationen
über den individuellen Lernprozess (A1). Spontane Kooperationen sind möglich, die
Modellierung der Benutzer und der Organisationsstruktur unterstützt das gezielte
Kontaktieren von Lehrenden (A2).
4.2 Analyse und Vergleich verwandter Arbeiten
73
Abbildung 4.6: Screenshot des CROCODILE-Systems
Die Verwendung virtueller Räume ermöglicht flexible Übergänge zwischen individuellem und kooperativem Lernen (A3). Eine vom System interpretierbare Beschreibung einer kooperativen Aufgabe und deren Verankerung im Lernmaterial sind
nicht vorgesehen (A4), allerdings können Lernmethoden in Form von Lernprotokollen
beschrieben und durchgeführt werden (A6). Lerngruppenbildung erfolgt entweder
selbstorganisiert oder durch die Modellierung der Organisationsstruktur. Eine
Systemunterstützung für die Lerngruppenbildung, die Eigenschaften der Kooperation
oder der Lernenden berücksichtigt, ist nicht gegeben (A5). CROCODILE wurde prototypisch implementiert und verwendet proprietäre Standards. Die Wiederverwendung von Materialien, die Integration von Werkzeugen und die Kopplung mit anderen
Systemen ist nur mit hohem Aufwand möglich. Zur Unterstützung bestimmter kooperativer Lernmethoden können mit Hilfe eines graphischen Editors auch ohne Programmierkenntnisse Lernprotokolle aus vorgegebenen Bausteinen kombiniert werden (A7).
74
4. Vergleich mit verwandten Arbeiten
4.2.6 Domänenmodellbasierte Ansätze
Als Beispiel für auf dem domänenmodellbasierten Ansatz beruhende Arbeiten wird
das Projekt FITS/CL vorgestellt.
FITS/CL
Das Projekt FITS/CL an der Universität Osaka (Supnithi et al. 1999; Inaba et al.
2000) verfolgt den Ansatz, kooperative Lernaktivitäten auf der Basis einer Ontologie
für kooperatives Lernen zu modellieren. Die Lernenden bearbeiten das Lernmaterial
zunächst individuell. Auf drei verschiedene Arten kann eine Kooperation ausgelöst
werden: Das System erkennt eine Sackgasse im Lernweg, das System erkennt nach
Abschluss einer Lerneinheit die Notwendigkeit, diese in einer Gruppe zu reflektieren
oder der Lernmaterialautor hat eine Kooperation an einer bestimmten Stelle vorgesehen. Eine Kooperation wird durch den Auslöser für diese Kooperation, das
Lernmaterial, das Lernszenario (ein bestimmter Interaktionsfluss zwischen den
Lernenden), die Lerngruppe (eine bestimmte Art von Gruppe) und das Lernziel (eine
bestimmte Kombination aus persönlichen Zielen und Zielen der Lerngruppe als
Ganzes) beschrieben.
Abbildung 4.7: Screenshot des FITS/CL-Systems
4.2 Analyse und Vergleich verwandter Arbeiten
75
Der Schwerpunkt dieser Arbeiten liegt auf der Benutzung von Methoden der Künstlichen Intelligenz, insbesondere Agententechnologie, um Situationen zu erkennen, in
denen eine Kooperation initiiert werden soll, sowie um effektive Lerngruppen zu
bilden. Es ist außerdem geplant, die gewünschte Interaktion unter den Mitgliedern
der Lerngruppe zu moderieren.
FITS/CL unterstützt das individuelle Bearbeiten des Lernmaterials (A1). Der Lernprozess wird vom System überwacht, um bei vom System erkanntem Bedarf eine
Kooperation auszulösen. Eine durch den Lernenden ausgelöste, spontane Kooperation wird nicht unterstützt (A2). Der Übergang zwischen individuellem und synchron
kooperativem Lernen (und zurück) wird vom System ausgelöst (A3). (Dass diese
Übergänge durch Agenten für den jeweiligen Lernenden ohne dessen Mitwirkung
oder Einverständnis ausgelöst werden, könnte für Lernende in der westlichen Welt
und insbesondere für erwachsene Lernende beträchtliche Akzeptanzprobleme verursachen.) Die intendierte Kooperation wird unterstützt, ein Lernmaterialautor kann
Kooperationen für das System interpretierbar beschreiben und im Material verankern
(A4). Das System bildet auf Basis der Eigenschaften der Lernenden und der
geplanten Kooperation durch Aushandlungsprozesse zwischen den Agenten der
Lernenden geeignete Lerngruppen (A5). Eine methodische Unterstützung der
Lernenden während der Kooperation ist geplant (A6). Aufgrund der elaborierten
Modellierung des Lernmaterials und der Lernenden als Basis der KI-basierten Unterstützung ist die Wiederwendung von Material, die Integration neuer Werkzeuge und
die Kopplung mit anderen Systemen mit hohem Aufwand verbunden (A7).
4.2.7 Prozessbasierte Ansätze
Als Beispiel für ein System, das den prozessbasierten Ansatz umsetzt, wird Flex-eL
betrachtet.
Flex-eL
Flex-eL (Flexible e-Learning; Marjanovic & Orlowska 2000; Sadiq et al. 2002) wurde
gemeinsam vom Department of Computer Science and Electrical Engineering und
dem Distributed Technology Centre an der Universität Queensland (Australien) entwickelt. Flex-eL ist ein workflow-basiertes E-Learning-System.
Ziel des Flex-eL-Systems ist die ganzheitliche Unterstützung von E-Learning, Lernen
wird als integrierter Lernprozess bestehend aus einzelnen Lernaktivitäten betrachtet.
Genereller Ansatz ist die Flexibilisierung des Lernprozesses, so dass jeder Lernende
seine Lernaktivitäten möglichst früh und möglichst unabhängig von äußeren Gegebenheiten (z.B. Deadlines) durchführen kann. Neben Benutzerverwaltung, Kursverwaltung, Zeitmanagement, Überwachen des Lernfortschritts, Anmeldung zu
76
4. Vergleich mit verwandten Arbeiten
Kursen, Prüfungen und Sprechstunden soll auch das Lernen in Gruppen unterstützt
werden. Rückgrat des Flex-eL-Systems ist ein Workflow-System. Jede Lernaktivität
ist als „bereit“, „aktiv“ oder „abgeschlossen“ gekennzeichnet (available, commence,
completed). Für jeden Lernenden erzeugt das System eine Liste von Aktivitäten, die
der Lernende bearbeiten soll.
Die Systemüberwachung des Lernfortschritts kann auch die Zusammenarbeit fördern: Lernende können auf Basis der Systemüberwachung herausfinden, wer sonst
noch mit derselben Lernaktivität beschäftigt ist bzw. wer an einer Kooperation in
Bezug auf diese Lernaktivität interessiert ist. Lehrende können den Lernenden auf
Basis der Systemüberwachung gezielte, kontextabhängige Hilfestellungen geben.
Abbildung 4.8: Screenshot des Flex-eL-Systems
4.2 Analyse und Vergleich verwandter Arbeiten
77
Flex-eL unterstützt das individuelle Lernen (A1), es werden zahlreiche Informationen
über den Lernprozess erhoben. Durch die Einbindung von Kommunikationstools
(Chat und Email) ist die spontane Kooperation möglich (A2). Die Modellierung von
Kursen und Rollen erlaubt es, Lernende im selben Kurs oder zugehörige Lehrende
zu identifizieren und zu kontaktieren. Flex-eL erlaubt den Wechsel zwischen individuellem, synchron kooperativem und asynchron kooperativem Lernen (A3). Die Beschreibung der Lernaktivitäten ist auf individuelles Lernen ausgerichtet, eine
Beschreibung kooperativer Aufgaben ist nicht möglich (A4). Ein Lernender kann sich
für eine Lernaktivität eine Liste von Lernenden anzeigen lassen, die an einer Kooperation interessiert sind, dadurch wird die Bildung von Lerngruppen erleichtert (A5).
Lernprozesse werden auf der Ebene der individuellen Bearbeitung der Aktivitäten
unterstützt, nicht jedoch für das kooperative Bearbeiten einer Aktivität (A6). Flex-eL
ist webbasiert und modular aufgebaut, wodurch die Wiederverwendung von Material,
die Integration von Werkzeugen und die Kopplung des Systems mit anderen Systemen unterstützt werden (A7).
4.2.8 Standardisierungsansätze
Abschließend soll hier noch auf Ansätze zur Standardisierung der Beschreibung
kooperativen Lernens eingegangen werden. In der jüngsten Zeit wurden unabhängig
voneinander zwei Ansätze entwickelt, zum einen die CML in Stanford sowie die EML
an der Open University der Niederlande:
Die ClassSync Modeling Language CML (Brecht et al. 2002) erlaubt die Modellierung
von Akteuren, Datenobjekten und Interaktionsnetzwerken für Präsenzlehrsituationen.
Ziel ist die Entwicklung von Systemen auf Basis der CML, die Lehrende und
Lernende bei der Planung und Durchführung kooperativer Aktivitäten unterstützen.
Die Definition der Sprache ist noch nicht abgeschlossen, ein lauffähiges System zur
Interpretation von in CML beschriebenen Lernprozessen ist nicht verfügbar.
Die Education Modeling Language EML (Koper 2001) zielt auf die Generierung von
virtuellen Lernumgebungen für die Durchführung der in EML beschriebenen kooperativen Lernprozesse. Bei der Entwicklung der EML wurden andere internationale
Standardisierungsbemühungen nicht berücksichtigt. Um von diesen Vorarbeiten profitieren zu können, ging EML in IMS Learning Design (IMS LD; Koper et al. 2004) auf.
IMS LD beschreibt eine Lernumgebung als Kombination von Aktivitäten, die von
Rollen(inhabern) im Kontext einer Umgebung bestehend aus Lernobjekten und Services durchgeführt werden sollen. Für IMS LD liegt inzwischen eine erste Bibliothek
zur Integration in eigene Lernplattformen vor (CopperCore 2004), ein ausgereifter
Player zur Interpretation von in IMS LD beschriebenen Lernprozesen ist noch nicht
verfügbar.
78
4. Vergleich mit verwandten Arbeiten
4.3 Erfüllung der Anforderungen
4.3.1 Individuelles kursbasiertes Lernen
Individuelles kursbasiertes Lernen ist bei dokumentbasierten Systemen durch die
individuelle Bearbeitung der Dokumente möglich (KOLUMBUS). Konferenzbasierte
Systeme sehen individuelle Lernphasen nicht vor. Die beiden vorgestellten Systeme
CASTLE und CLARE sind Erweiterungen des konferenzbasierten Ansatzes. Sie
zeigen, wie auch individuelles Lernen unterstützt werden kann, indem dieses als Teil
des Kooperationsprozesses explizit modelliert wird (CLARE) oder kooperatives
Lernen durch die zusätzliche Bereitstellung von Lernmaterialien (für das individuelle
Lernen) ergänzt wird (CASTLE). Durch die Persistenz der Lernmaterialien und Kommunikationsbeiträge eignen sich raumbasierte Ansätze gut für das individuelle Lernen (sTeam, CommSy). In der Regel werden in diesen Systemen keine oder nur
wenige Informationen über das individuelle Lernen erhoben, weshalb eine Nutzung
derartiger Informationen zur Unterstützung der kontextuellen Kooperation nicht möglich ist. Durch die Modellierung des Lernprozesses (CLARE, FITS/CL und Flex-eL)
und besonders durch die Überwachung des individuellen Lernens (FITS/CL) kann
das Lernen aktiv unterstützt werden.
4.3.2 Spontane Kooperation
Dokumentbasierte Systeme erlauben die spontane Kooperation mit anderen Benutzern. In KOLUMBUS vor allem über Annotationen an Dokumenten (oder anderen
Annotationen). In raum- und kontextbasierten Systemen wird die spontane Kooperation durch die Anzeige der aktuell im virtuellen Raum anwesenden Benutzer unterstützt (Awareness; Ausnahme: Bei CommSy wird darauf bewusst verzichtet). Das
kontextbasierte System CROCODILE erlaubt die spontane Kooperation. Neben der
ausgeprägten Awareness über andere Benutzer wird durch die Organisationsmodellierung auch die gezielte Identifikation von Ansprechpartnern ermöglicht. Auch das
vorgestellte prozessbasierte System Flex-eL unterstützt die spontane Kooperation
durch die Awareness über andere Benutzer. Konferenzbasierte Systeme setzen die
Anwesenheit eines Kooperationspartners voraus, da hier nur die synchrone Kooperation unterstützt wird (CASTLE, CLARE). Lernsitzungen in konferenzbasierten
Systemen sind in der Regel nicht spontan, sondern werden außerhalb des Systems
geplant. Der domänenmodellbasierte Ansatz FITS/CL unterstützt vom System spontan (in Abhängigkeit vom aktuellen Lernprozess) ausgelöste Kooperationen, nicht
jedoch vom Benutzer initiierte Kooperationen.
Nur in FITS/CL werden Informationen aus vorhergehenden individuellen Lernphasen
zur Unterstützung der spontanen Kooperation genutzt.
4.3 Erfüllung der Anforderungen
79
4.3.3 Flexible Übergänge zwischen verschiedenen Lernmodi
Sowohl dokument- als auch raumbasierte Systeme ermöglichen den Übergang
zwischen individuellem, synchronem kooperativem und asynchronem kooperativen
Lernen. Kooperatives Lernen kann erfolgen, wenn zu einer Zeit mehrere Benutzer im
System aktiv sind (synchrones kooperatives Lernen) bzw. wenn Lernende auf die
Ergebnisse vorher Anwesender Bezug nehmen (asynchrones kooperatives Lernen).
Individuelles Lernen kann erfolgen, wenn die Benutzer unabhängig voneinander das
System nutzen.
Konferenzbasierte Systeme sehen nur die synchrone kooperative Nutzung vor,
asynchrones kooperatives Lernen ist nicht möglich. Nur in Kombination mit zusätzlichen Funktionalitäten ist auch individuelles Lernen möglich (CASTLE), wobei von
den Benutzern eine engere Integration des individuellen und des kooperativen
Lernens gewünscht wird.
Mit Hilfe von integrierten Kooperationswerkzeugen unterstützen prozessbasierte
Systeme wie Flex-eL die technische Integration der verschiedenen Lernmodi.
FITS/CL löst auf Basis der Domänen- und Prozessmodelle kooperative Situationen
aus und wählt geeignete Kooperationspartner. Die verschiedenen Lernmodi sind hier
sowohl technisch als auch konzeptuell integriert. Die Frage der Eignung des Konzeptes für bestimmte Zielgruppen soll hier nicht betrachtet werden (vgl. Abschnitt
4.2.6).
4.3.4 Intendierte Kooperation
Eine für das System nutzbare Beschreibung kooperativer Aufgaben und deren Verankerung im Kurs ist nur im domänenmodellbasierten FITS/CL-Ansatz möglich. In
allen Systemen kann eine kooperative Aufgabe z.B. als Textelement beschrieben
werden. Mit Ausnahme reiner konferenzbasierter Systeme ist es auch jeweils möglich, diese textuelle Beschreibung an einer bestimmten Stelle im Lernmaterial zu verankern. Diese Beschreibung kann jedoch nicht vom System interpretiert und zur
Unterstützung der Kooperation genutzt werden. Insbesondere erlaubt keines der vorgestellten System, verschiedene Aufgabenarten so im Lernmaterial zu verankern,
dass ihnen auch jeweils eine spezifische Systemunterstützung (z.B. durch unterschiedliche Kooperationswerkzeuge) zur Bearbeitung der Aufgabe zugeordnet ist.
4.3.5 Unterstützung für die Bildung von Lerngruppen
Durch die gemeinsame Sicht auf bestimmte Ressourcen unterstützt eine Reihe von
Systemen die Bildung von Lerngruppen indirekt. Dies erfolgt etwa dadurch, dass
mehrere Benutzer gemeinsam Zugriff auf bestimmte Dokumente oder Dokumentbereiche haben bzw. erhalten. In KOLUMBUS gibt es darüber hinaus die Möglichkeit,
80
4. Vergleich mit verwandten Arbeiten
an Dokumenten bzw. Dokumentteilen gemeinsame Urheberschaft zu besitzen, zu
deren Unterstützung ein Abstimmungsprozess innerhalb der Gruppe der Urheber
vorgesehen ist. Analog dazu können raum- und kontextbasierte Systeme die Bildung
von Lerngruppen durch den gemeinsamen Zugriff auf bestimmte Räume unterstützen. Für dokument-, raum- und kontextbasierte Systeme kann eine Gruppenbildung entweder durch den Lehrenden oder durch die Lernenden erfolgen. Die
Bildung von Lerngruppen für konferenzbasierte Systeme erfolgt außerhalb der
Konferenz. Hier müssen alle Teilnehmer vorher wissen, welcher Konferenz sie beitreten, oder sie geraten „zufällig“ in eine Konferenz.
Flex-eL stellt auf Basis der Informationen über die Lernenden eine Liste von Kooperationsinteressierten für ein bestimmtes Kurselement bzw. für einen bestimmten
Standort bereit. Dies kann von den Benutzern als Ausgangsbasis für die eigenverantwortliche Bildung von Lerngruppen benutzt werden.
FITS/CL stellt eine wesentlich weitergehende Unterstützung für die Bildung von
Lerngruppen zur Verfügung. In diesem Ansatz stellt das System in Abhängigkeit der
auslösenden Situation, der Beteiligten etc. eine geeignete Lerngruppe mittels eines
KI-basierten Aushandlungssystems zusammen.
4.3.6 Methodische Unterstützung der Lerngruppe
Eine methodische Unterstützung für das kooperative Lernen bieten die Systeme
CLARE (ein vorgegebener Prozess), CASTLE (mehrere vorgegebene Kooperationswerkzeuge), CROCODILE (vorgegebene und selbstdefinierte Lernprotokolle) sowie
eingeschränkt KOLUMBUS (für den Teilprozess der Aushandlung).
Durch die Einbindung kooperativer Werkzeuge für bestimmte Kooperationsprozesse
kann der kooperative Lernprozess unterstützt werden. Dies gilt für alle erweiterbaren
Systeme (siehe nächsten Abschnitt). Für die methodische Unterstützung können
spezielle Werkzeuge, die eine Strukturierung des kooperativen Lernprozesses
beispielsweise in Phasen und Rollen vorsehen, eingebunden werden. Die Unterstützung für verschiedene Lernformen muss durch den Benutzer dann explizit durch
Wechsel der Werkzeuge realisiert werden. Eine weitergehende Unterstützung durch
das System setzt voraus, dass eine vom System interpretierbare Beschreibung der
kooperativen Aufgabe vorliegt (siehe Anforderung: Intendierte Kooperation).
4.3.7 Offenheit des Systems
CLARE, FITS/CL und CROCODILE basieren nicht auf Standards des World Wide
Web, sondern weisen proprietäre Schnittstellen auf. Die Wiederverwendung von
Materialien kann hier nur durch Kopieren des unformatierten Textes in das jeweilige
4.4 Zusammenfassung
81
System erfolgen. Auch die Integration existierender Werkzeuge, die Entwicklung
neuer Werkzeuge und die Kopplung der Lernumgebung mit anderen Systemen sind
nur mit großem Aufwand realisierbar. In CROCODILE lassen sich bestimmte Arten
kooperativer Lernmethoden durch einen graphischen Editor ohne Programmierkenntnisse als Lernprotokolle aus vorgegebenen Bausteinen kombinieren.
Bei webbasierten Systemen ist die Wiederverwendung von Material in der Regel
unproblematisch, solange dies im Webbrowser dargestellt werden kann. Bezüglich
der Integration existierender bzw. Entwicklung und Integration neuer Werkzeuge
sowie der Kopplung mit anderen Systemen kann eine Integration jeweils durch die
Kopplung der Komponenten z.B. via HTTP-Schnittstelle realisiert werden.
4.4 Zusammenfassung
In diesem Kapitel wurden exemplarische Ansätze aus dem Forschungsgebiet CSCL
und daraus resultierende Systeme daraufhin analysiert, inwieweit sie die in Kapitel 3
ermittelten Anforderungen an die Realisierung kontextueller Kooperation in virtuellen
Lernumgebungen erfüllen.
Tabelle 4.1 fasst die Bewertung der vorgestellten Ansätze/Systeme bezüglich der
Anforderungen zusammen. Eine Anforderung, die von einem Ansatz/System erfüllt
wird, ist in der Tabelle je nach Grad der Erfüllung mit „(+)“ (=wird teilweise erfüllt), „+“
(=wird erfüllt) oder „++“ (=wird sehr gut erfüllt) gekennzeichnet. Eine Anforderung, die
von einem Ansatz/System nicht erfüllt wird, ist mit „-“ gekennzeichnet.
Die Tabelle zeigt, dass das individuelle Lernen (A1), die spontane Kooperation (A2)
und der flexible Übergang zwischen verschiedenen Lernmodi (A3) durch mehrere
Systeme unterstützt werden. Ebenso existieren Systeme, die methodische Unterstützung für die Kooperation bieten (A6) und offen für Erweiterungen sind (A7).
Unterstützung für die intendierte Kooperation (A4) wird nur durch FITS/CL geleistet.
Allerdings steht die nach dem domänenmodellbasierten Ansatz notwendige Realisierung im Konflikt zur geforderten Offenheit in Bezug auf Schnittstellen, Wiederverwendung von Materialien und Integrationsmöglichkeiten (A7).
Das Bilden von Lerngruppen wird von FITS/CL sowie ansatzweise von Flex-eL
unterstützt. FITS/CL beruht allerdings auf einem KI-basierten Ansatz mit einer elaborierten Modellierung des Lernmaterials und der Lernenden, weshalb ein damit realisiertes System nur mit hohem Aufwand offen für andere Lernmaterialien oder um
neue Werkzeuge erweiterbar ist. Zudem ist bei der vollständig systemgesteuerten
Gruppenbildung mit Akzeptanzproblemen zu rechnen. Flex-eL bietet durch Anzeigen
einer Liste von Kooperationsinteressierten nur mäßige Unterstützung für das Bilden
von Lerngruppen.
82
4. Vergleich mit verwandten Arbeiten
Damit erfüllt keines der betrachteten Systeme die für die Realisierung der kontextuellen Kooperation in virtuellen Lernumgebungen ermittelten Anforderungen. Im folgenden Kapitel wird eine Lösung entwickelt, die insbesondere die Unterstützung der
intendierten Kooperation und die Unterstützung der Bildung von Lerngruppen in
einem offenen System erlaubt (Kapitel 5). Danach wird die exemplarische Umsetzung dieser Lösung in eine die kontextuelle Kooperation realisierende virtuelle Lernumgebung beschrieben (Kapitel 6).
Ansatz
Dokumentbasiert
Konferenzbasiert
Raumbasiert
Kontextbasiert
Domänenmodellbasiert
Prozessbasiert
System
KOLUMBUS
CASTLE
CLARE
Comm
-Sy
sTeam
CROCODILE
FITS/CL
Flex-eL
A1: Individuelles Lernen
+
+
-
+
+
+
++
++
A2: Spontane
Kooperation
+
-
-
(+)
+
+
-
+
A3: Flexible
Übergänge
zwischen verschiedenen
Lernmodi
+
-
-
+
+
+
(+)
+
A4: Intendierte
Kooperation
-
-
-
-
-
-
++
-
A5: Unterstützung für
die Bildung
von Lerngruppen
(+)
-
-
-
-
-
++
(+)
A6: Methodische Unterstützung der
Lerngruppe
(+)
+
+
-
-
+
-
-
A7: Offenheit
des Systems
+
+
-
+
+
-
-
+
Tabelle 4.1: Erfüllung der Anforderungen durch die vorgestellten Ansätze bzw. Systeme
Kapitel 5
Kontextuelle Kooperation in virtuellen
Lernumgebungen
In diesem Kapitel werden Konzepte entwickelt, die die Erfüllung der im Kapitel 3 aufgestellten Anforderungen zur Realisierung der kontextuellen Kooperation in virtuellen
Lernumgebungen ermöglichen. Dabei werden insbesondere auf die in Kapitel 4 identifizierten Defizite des Standes der Technik, die Erfüllung der beiden Anforderungen
A4 (Unterstützung der intendierten Kooperation) und A5 (Unterstützung der Bildung
von Lerngruppen) in Kombination mit der Anforderung A7 (Offenheit des Systems),
adressiert.
Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen wurde in Abschnitt 2.5.2
folgendermaßen definiert: „Eine kontextuelle Kooperation in einer virtuellen Lernumgebung bezeichnet eine Kooperation in einer virtuellen Lernumgebung, die vom
System auf der Basis des Wissens über ihren Kontext unterstützt wird. [...]“
Um diese angestrebte Unterstützung genauer zu charakterisieren, wird zunächst der
Begriff (System-)Unterstützung betrachtet (Abschnitt 5.1). Da die Unterstützung auf
der Basis des Wissens über den Kontext der Kooperation erfolgen soll, muss dieser
Kontext in einer für die Unterstützung durch das System geeigneten Weise beschrieben werden. Dazu werden die relevanten Parameter zur Beschreibung des Kontextes mit Hilfe einer didaktischen Analyse identifiziert und daraus eine Modellierung
kooperativer Episoden abgeleitet (Abschnitt 5.2). Abschnitt 5.3 beschreibt wie aus
der Kombination individueller Lernepisoden mit kooperativen Episoden kooperative
Kurse modelliert werden können.
Aufbauend auf der Modellierung wird dann analysiert, wie die einzelnen Phasen des
kooperativen Lernens durch das System unterstützt werden können (Abschnitt 5.4).
Die einzelnen Phasen des kooperativen Lernens (Vorbereitung, Durchführung, Nachbereitung) werden vorgestellt und für jede Phase werden die Aufgaben der beteiligten Rollen (Kursautor, Tutor, Lernender) beschrieben. Für jede Phase werden die Erweiterung des Kontextes sowie die Möglichkeiten der Unterstützung der Kooperation
83
84
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
durch die virtuelle Lernumgebung auf Basis der vorgestellten Modellierungen kooperativer Episoden und kooperativer Kurse aufgezeigt. Am Beispiel des Übergangs
vom individuellem zum kooperativem Lernen durch das Zusammenstellen von Lerngruppen wird die Nutzung der vorgestellten Modellierungen zur Realisierung der kontextuellen Kooperation durch das System detailliert betrachtet (Abschnitt 5.5).
Die wichtigsten Ergebnisse des Kapitels werden in Abschnitt 5.6 zusammengefasst.
5.1 Systemunterstützung
In Abschnitt 2.4.3 wurde das Spektrum der Systemunterstützung von passiver Unterstützung (im Sinne der Ermöglichung) bis hin zu aktiver Unterstützung skizziert.
Während die passive Unterstützung der Kooperation z.B. durch Bereitstellen von
Awareness-Informationen über andere Online-Teilnehmer besteht, bezeichnet die
aktive Unterstützung das Anleiten und Strukturieren eines Kooperationsprozesses.
Aktive Unterstützung basiert auf der Nutzung von dem System bekannten Kontextinformationen, etwa Informationen zur Gruppenzugehörigkeit oder zur intendierten
Kooperationsmethode. Ziel dieser Arbeit ist die möglichst aktive Unterstützung der
Kooperation.
Jermann und Kollegen (2001) beschreiben das Spektrum der Unterstützung für das
computerunterstützte kooperative Lernen (CSCL) mit den Begriffen Mirroring, Monitoring und Guiding. Sie stellen fest: „The concept of supporting (as opposed to
enabling) peer-to-peer interaction in computer-supported collaborative learning
systems is still in its infancy“ (Jermann et al. 2001; Hervorhebung im Original).
Die zu entwickelnden Lösungskonzepte sollen innerhalb dieses Spektrums dem
Guiding, der aktiven Unterstützung entsprechen. Die Basis für diese aktive Unterstützung ist die Kenntnis des Systems über den Kontext des kooperativen Lernens in
der virtuellen Lernumgebung.
In Bezug auf die Frage, welche Aspekte die Unterstützung abdecken kann, kann auf
McGrath und Hollingshead (1994) zurückgegriffen werden. Sie unterscheiden für das
computerunterstützte kooperative Arbeiten (CSCW) vier verschiedene Unterstützungsfunktionen eines CSCW-Systems:
‚
die Unterstützung der Kommunikation mit der Informationsbasis,
‚
die Unterstützung der Kommunikation mit Personen außerhalb der Gruppe,
‚
die Unterstützung der Kommunikation innerhalb der Gruppe sowie
‚
die Unterstützung der Gruppenarbeit.
5.2 Modellierung einer kooperativen Episode
85
Übertragen auf die Kooperation in virtuellen Lernumgebungen ergibt sich für den
Lernenden (analog auch für den Tutor) ein Bedarf an Unterstützung für das Suchen
von Lernmaterialien, für die Kommunikation mit beliebigen anderen Personen im
System, für die Kommunikation innerhalb der Lerngruppe sowie für das gemeinsame
Bearbeiten kooperativer Aufgaben. Die letztgenannte Funktion betrifft die Strukturierung der Form, in der Aufgaben der Gruppe präsentiert werden, sowie die Strukturierung der Aufgabenbearbeitung und der Gruppenergebnisse. Der Fokus dieser
Arbeit liegt auf der Unterstützung der Gruppenarbeit. Auch auf die Kommunikation
mit Personen innerhalb und außerhalb der Gruppe wird eingegangen.
5.2 Modellierung einer kooperativen Episode
Wie kann nun eine kooperative Episode (vgl. Abschnitt 2.3.2) innerhalb eines Lernprozesses beschrieben werden? Zur Modellierung werden im Folgenden die relevanten Parameter bestimmt. Dazu werden zwei, sich ergänzende Ansätze zur
Gewinnung der Parameter verfolgt:
‚
Über welchen Entscheidungsspielraum verfügt ein Lehrender beim kooperativen Lernen? (Abschnitt 5.2.1)
‚
Welche didaktischen Modelle werden für die kooperative Episode genutzt?
(Abschnitt 5.2.2)
In Abschnitt 5.2.3 werden die Ergebnisse der beiden Analysen zusammengefasst
und ein Modell für kooperative Episoden vorgestellt. Schließlich werden einige Beispiele für Instantiierungen des Modells in Abschnitt 5.2.4 angegeben.
5.2.1 Entscheidungsraum des Lehrenden
Eine kooperative Episode in formalen und informellen kooperativen Gruppen (vgl.
Abschnitt 2.3.3) wird wesentlich durch Entscheidungen des Lehrenden geprägt.
Diese Entscheidungen sind (vgl. Johnson et al. 1991):
‚
das Festlegen des Ziels der Kooperation,
‚
das Festlegen der Gruppengröße,
‚
die Zuordnung der Lernenden zu Gruppen,
‚
das Festlegen und Bereitstellen des benötigten Materials,
‚
das Festlegen der räumlichen Anordnung der Gruppen,
‚
das Erklären der Aufgabenstellung,
86
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
‚
das Erklären der positiven wechselseitigen Abhängigkeit der Lernenden innerhalb ihrer Gruppe,
‚
das Beobachten der Interaktionen,
‚
das Intervenieren, um bei der Aufgabe, bei der Anwendung der Kooperationsmethode oder bei der Anwendung von Sozialkompetenzen zu helfen,
‚
die Evaluation der Lernprozesse sowie
‚
das Sicherstellen der Reflektion des Lernprozesses innerhalb der Gruppe.
Diese Auflistung der Aufgaben bzw. Entscheidungen des Lehrenden liefert erste
Parameter, die zur Beschreibung kooperativer Episoden relevant sind. Die räumliche
Anordnung der Gruppen ist lediglich für das kooperative Lernen vor Ort in einem
physikalischen Raum relevant, alle anderen durch die Aufgaben des Lehrenden implizierten Parameter sind für kooperatives Lernen sowohl ohne Computerunterstützung vor Ort, als auch für kooperatives Lernen in virtuellen Lernumgebungen relevant.
Die Aufgabe des Lehrenden „Erklären der Aufgabenstellung“ ist mit mehreren Parametern zur Beschreibung der Aufgabe verbunden. Dies kann beispielsweise die zu
verwendende Kooperationsmethode, Angaben zur Dauer der Bearbeitung der Aufgabe bzw. zur Dauer einzelner Phasen beinhalten. Im folgenden Abschnitt werden
geeignete Aufgabenformen aus einem Katalog didaktischer Modelle identifiziert.
5.2.2 Göttinger Katalog didaktischer Modelle
Im „Göttinger Katalog didaktischer Modelle (GKDM)“ (Flechsig 1996) werden alle bekannten Formen organisierten Lehrens und Lernens beschrieben und in 20 Modelle
geordnet. Diese Modelle werden in diesem Abschnitt auf ihre Relevanz in Bezug auf
ihre Eignung für kooperative Episoden überprüft. Ergebnis dieses Abschnittes ist
eine Liste der relevanten Modelle, die in den folgenden Abschnitten weiter verarbeitet
wird, um zu den relevanten Parametern für die Modellierung kooperativer Episoden
zu gelangen.
Es folgte eine kurze Beschreibung der 20 im GKDM enthaltenen Grundformen didaktischen Handelns (alphabetisch geordnet; vgl. Flechsig 1996):
‚
Beim Arbeitsunterricht bearbeiten die Lernenden individuell oder in kleinen
Gruppen meist schriftlich formulierte Aufgaben. Angestrebt ist, handwerkliche,
intellektuelle und soziale Aspekte zu integrieren, um Kenntnisse und Fertigkeiten zu üben und anzuwenden.
5.2 Modellierung einer kooperativen Episode
87
‚
Bei der Disputation eignen sich Lerner in öffentlicher und geordneter Rede
und Gegenrede vor allem Argumentations- und Urteilsfähigkeit an.
‚
Bei der Erkundung beobachten die Lernenden in natürlichen Umwelten oder
Institutionen mit dem Ziel, Zusammenhänge zu erfassen und Standpunkte
herauszubilden.
‚
Bei der Fallmethode bearbeiten Lerner einzeln oder in Gruppen in Akten
rekonstruierte Praxisfälle, um sich Wissen über die betreffende Praxis anzueignen und ihre Urteils- und Entscheidungsfähigkeit auszubilden.
‚
Bei der Famulatur helfen jüngere Praktiker einem „Meister“ ihres Faches, um
seltenes oder spezielles Wissen zu erwerben.
‚
Der Fernunterricht besteht darin, dass Lernende sich überwiegend theoretisches Wissen durch das Bearbeiten schriftlicher Lernmaterialien und schriftlicher Aufgaben aneignen.
‚
Beim Frontalunterricht soll durch das lehrergesteuerte Gespräch in Kombination mit Anschauungsmitteln fachspezifisches Orientierungswissen vermittelt
werden.
‚
Beim Individualisierten Programmierten Unterricht bearbeiten die Lernenden
in kleinen Schritten selbständig programmierte Lehrtexte und erwerben genau
definierte Kenntnisse oder Fertigkeiten.
‚
Am Individuellen Lernplatz erarbeiten sich die Lernenden selbständig mit Hilfe
von aufbereiteten Texten und audiovisuellen Medien Begriffs- und Faktenwissen im Kontext einer vorher erarbeiteten Fragestellung.
‚
Beim Kleingruppen-Lerngespräch eignen sich Lerner durch strukturierten
Informations- und Meinungsaustausch vorwiegend Wissen über persönliche
Erfahrungen, Bewertungen und Einstellung an.
‚
Bei der Lernausstellung wird durch das angeleitete Betrachten und Handhaben von Objekten an offenen Lernorten (z.B. Museum) Wissen angeeignet.
‚
Beim Lerndialog führen Lerner mit anderen Personen ausführliche und geordnete Zwiegespräche, um Erkenntnisse über sich selbst und ihre Beziehungen
zur Umwelt zu erlangen.
‚
Im Lernkabinett erarbeiten sich die Lernenden in speziell aufbereiteten Lernumwelten durch reale Tätigkeit theoretisches und praktisches Wissen.
88
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
‚
Bei der Lernkonferenz treffen sich die Lernenden für einen oder mehrere
Tage, um sich gegenseitig Deutungs- oder Problemlösungswissen zu vermitteln.
‚
Beim Lernnetzwerk erzeugen Lerner neues Wissen, insbesondere über innovative Praxisbereiche, und vermitteln es sich wechselseitig mit Hilfe von zumeist schriftlichen Mitteilungen.
‚
Beim Lernprojekt wirken die Lernenden an innovativer Praxis mit, um die
Anwendung von Wissen zu erlernen.
‚
Bei der Simulation übernehmen Lerner - oft spielerisch - Rollen und/oder
betätigen sich in simulierten Umwelten, um vor allem Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit in lebensnahen, jedoch entlasteten Situationen zu entwickeln und zu trainieren.
‚
Beim Tutorium eignen sich Lernende Wissen an und vermitteln es anderen
Lernenden, die sich im Wesentlichen auf dem gleichen Wissensniveau befinden.
‚
Bei der Vorlesung eignen sich die Lernenden als Zuhörer bei Vorträgen
Wissen und Wertvorstellungen an.
‚
Das Werkstattseminar steht für eine meist mehrtägige Kompaktveranstaltung,
in der sich Praktiker, Theoretiker oder Künstler Wissen erarbeiten oder vermitteln.
Um die für diese Arbeit relevanten Modelle auszuwählen, werden folgende Kriterien
angelegt:
‚
Kriterium 1: Ist es möglich, dieses Modell in einer virtuellen Lernumgebung zu
realisieren?
‚
Kriterium 2: Beinhaltet dieses Modell kooperative Anteile?
‚
Kriterium 3: Ist dieses Modell nicht durch ein vorhandenes Werkzeug unmittelbar realisierbar?
Relevant sind also nur diejenigen didaktischen Modelle, die kooperatives Lernen beinhalten, sich in einer virtuellen Lernumgebung realisieren lassen und über existierende Werkzeuge hinausgehende Anforderungen stellen.
Die Modelle Famulatur, Lernkonferenz, Lernprojekt und Werkstattseminar sind an die
Zusammenarbeit mit Experten oder anderen Lernenden vor Ort gebunden und erfolgen über einen längeren Zeitraum hinweg. Aufgrund ihres Bezugs zur Kooperation
5.2 Modellierung einer kooperativen Episode
89
vor Ort lassen sich diese Modelle nicht geeignet in einer virtuellen Lernumgebung
realisieren. Sie verletzen Kriterium 1 und werden daher im Folgenden nicht weiter
betrachtet.
Die Modelle Arbeitsunterricht, Erkundung, Lernausstellung und Lernkabinett setzen
die (gemeinsame) Nutzung realer Gegenstände voraus. Eine gemeinsame Nutzung
realer Gegenstände lässt sich beim aktuellen Stand der Technik in virtuellen Lernumgebungen nicht mit vertretbarem Aufwand realisieren. Diese Modelle verletzen
Kriterium 1 und werden daher im Folgenden nicht weiter betrachtet.
Die Modelle Fernunterricht, Individueller Programmierter Unterricht, Individueller
Lernplatz, Lernausstellung und Tutorium bezeichnen individuelles Lernen bzw. tutoriell betreutes individuelles Lernen. Sie verletzen Kriterium 2 und sind somit für die
weitere Betrachtung nicht relevant.
Die Modelle Frontalunterricht und Vorlesung realisieren zwar gemeinsames Lernen,
sind aber keine kooperativen Lernformen, da hier im Wesentlichen die Vermittlung
von Lerninhalten durch den Lehrenden erfolgt. Sie verletzen Kriterium 2 und werden
daher nicht weiter betrachtet.
Auch sollen an dieser Stelle die Modelle unberücksichtigt bleiben, die durch existierende Werkzeuge einfach realisiert werden können (Kriterium 3). Durch kooperative
Navigation (beispielsweise kooperative Webbrowser) können die Modelle Erkundung
und Lernausstellung umgesetzt werden.
Damit bleiben als im Rahmen dieser Arbeit interessante didaktische Grundmodelle
folgende Modelle übrig: Disputation, Fallmethode, Kleingruppen-Lerngespräch, Lerndialog, Lernnetzwerk und Simulation. Tabelle 5.2 fasst die Auswahl der didaktischen
Modelle zusammen. Dabei bezeichnet ein „+“, dass ein Kriterium erfüllt wird, ein „-“
dass ein Kriterium nicht erfüllt wird. Erfüllt ein Modell ein Kriterium nicht, so erübrigt
sich die Betrachtung der anderen Kriterien für dieses Modell, da alle drei Kriterien
erfüllt sein müssen, um ein Modell als relevant zu bestimmen.
Folgende didaktische Modelle wurden als relevant identifiziert: Disputation, Fallmethode, Kleingruppen-Lerngespräch, Lerndialog, Lernnetzwerk und Simulation. Im
Folgenden werden Parameter zur Beschreibung dieser Formen ermittelt. Zu jedem
Parameter stehen in Klammern Fragmente aus der Beschreibung, die auf diesen
Parameter hinweisen.
90
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
Didaktisches
Modell
Kriterium 2:
Kooperatives
Lernen?
Kriterium 3:
Nicht durch Standardwerkzeuge
unmittelbar realisierbar?
Arbeitsunterricht
Kriterium 1:
In einer
virtuellen
Lernumgebung
realisierbar?
-
Disputation
+
+
+
Erkundung
-
Fallmethode
+
Famulatur
-
+
Fernunterricht
-
Frontalunterricht
-
Individualisierter Programmierter Unterricht
Individueller Lernplatz
-
+
-
Kleingruppen-Lerngespräch
Lernausstellung
+
+
-
-
Lerndialog
+
+
+
Lernkabinett
-
Lernkonferenz
-
Lernnetzwerk
+
+
+
Lernprojekt
-
Simulation
+
+
+
Tutorium
-
Vorlesung
-
Werkstattseminar
+
Tabelle 5.2: Auswahl der didaktischen Modelle
‚
Disputation: Gruppe (öffentliche Rede), Strukturierung (Rede und Gegenrede,
geordnete Rede), Ziel (Argumentations- und Urteilsfähigkeit).
‚
Fallmethode: Lernmaterialien (Praxisfälle), Gruppen (einzeln oder in Gruppen), Ziel (Wissen über die betreffende Praxis aneignen, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit ausbilden).
5.2 Modellierung einer kooperativen Episode
91
‚
Kleingruppen-Lerngespräch: Strukturierung (strukturierter Informations- und
Meinungsaustausch), Lernmaterial (persönliche Erfahrungen, Bewertungen
und Einstellung).
‚
Lerndialog: Gruppe (Zwiegespräche), Strukturierung (geordnetes Gespräch),
Ziel (Erkenntnisse über sich selbst und die Beziehungen zur Umwelt).
‚
Lernnetzwerk: Ziel (neues Wissen), Strukturierung (gegenseitiges Vermitteln).
‚
Simulation: Strukturierung (Rollen), Ziel (Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit in lebensnahen, jedoch entlasteten Situationen zu entwickeln und zu trainieren).
Damit sind folgende Parameter zur Beschreibung eines für virtuelle Lernumgebungen geeigneten kooperativen didaktischen Modells identifiziert:
‚
Kooperationstyp: Name des didaktischen Modells
‚
Gruppe: Größe der Gruppe (minimale und maximale Anzahl von Lernenden in
einer Gruppe), Anforderungen an die Mitglieder (Praktiker), Anforderungen an
die Gruppenzusammensetzung (Meister und jüngerer Praktiker)
‚
Kooperative Lernmethode (auch Strukturierung oder Rollenverteilung), die von
der Gruppe benutzt wird. Dazu können so genannte Lernprotokolle (Wessner
et al. 1999), die auf den Ansätzen der scripted cooperation (Dansereau 1988)
basieren, eingesetzt werden.
‚
Ziel: Ziel der kooperativen Episode
‚
(Eingangs-)Materialien: Daten, Hintergrundmaterial
‚
Ergebnis: Protokoll (schriftliche Mitteilungen)
5.2.3 Modellierung einer kooperativen Episode
Die in den vorangehenden Abschnitten identifizierten Parameter zur Beschreibung
kooperativer Episoden sind:
‚
Kooperationsform/didaktisches Modell
‚
Ziel
‚
Angaben zur Gruppe
‚
Verfahren zur Zuordnung von Lernenden zu Gruppen
‚
Eingangsmaterial
92
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
‚
Instruktionen/Anleitung
‚
Verfahren zur Evaluation
‚
Strukturierung der Kooperation
Weitere Parameter werden nicht explizit erwähnt, können aber aus dem Bisherigen
abgeleitet werden. Diese sind:
‚
Label: Bezeichnung für die Aufgabe.
‚
Zeit: empfohlene Mindest- und Maximaldauer für die Gruppenarbeit an dieser
Aufgabe.
‚
Synchronizität: Angabe, ob die Ausführung synchron oder asynchron erfolgen
soll.
‚
Werkzeug/Medium: Dies ist in den obigen Modellen entweder die direkte (u.a.
über Sprache, Mimik, Gestik) oder die schriftliche Kommunikation. Angabe der
Kommunikations-/Kooperationswerkzeuge, die von der Gruppe benutzt werden sollen.
‚
Tutor: Angabe, ob ein Lehrender/Tutor als Mitglied der Gruppe notwendig, erlaubt oder nicht erlaubt ist.
‚
Beobachter: Angabe, ob Beobachter als (passive) Mitglieder der Gruppe notwendig, erlaubt oder nicht erlaubt sind.
‚
Instruktionen: Anweisungen zur Durchführung der Aufgabe.
Eine kooperative Episode kann nun folgendermaßen beschrieben werden: (Die Darstellung der Modellierung erfolgt in Pseudo-Notation, um die Lesbarkeit zu gewährleisten und die Implementierung nicht zu beeinträchtigen.)
Allgemein/General
Label: <text>
Kooperationsziel: <text>
Kooperationstyp: {BRAINSTORM, PROCONTRA, DISCUSSION, …}
Bevorzugtes Werkzeug: <toolname>
Bevorzugte Synchronizität: {SYNCHRONOUS, ASYNCHRONOUS}
Lerngruppe/Group
Beobachter: {NOT ALLOWED, ALLOWED, REQUIRED}
Tutor: {NOT ALLOWED, ALLOWED, REQUIRED}
5.2 Modellierung einer kooperativen Episode
93
Gruppengröße:
Minimal: <integer>
Maximal: <integer>
Gruppenbildung: <formation method>
Ausführung/Execution
Instruktionen: <text>
Lernprotokoll: <script name>
Dauer:
Minimal : <time>
Maximal : <time>
Evaluation: {NONE, BY LEARNER, BY GROUP, INDIVIDUALLY BY TUTOR, GROUP
BY TUTOR}
Datenfluss/Dataflow
Input-Material:
Daten zur Aufgabe: <data>
Hintergrundmaterial: <text>
Die Beschreibung der Aufgabe gliedert sich in die vier Bereiche Allgemein, Lerngruppe, Ausführung und Datenfluss:
‚
Der Bereich Allgemein/General umfasst alle Attribute, die die kooperative Aktivität
im Allgemeinen beschreiben und betreffen, wie die Bezeichnung, das Ziel, den
Typ der kooperativen Aktivität (Diskussion, Brainstorming, etc.) und Angaben zu
vorgesehenen Werkzeugen und der Synchronizität, also ob synchrone oder
asynchrone Kooperation bevorzugt wird. Eine kooperative Aktivität kann mit Hilfe
verschiedener Werkzeuge durchgeführt werden. Beispielsweise bezeichnet ein
IPoC "Gruppendiskussion" eine Aktivität, die an einer bestimmten Stelle im Kurs
von spezifischen Teilnehmern zu einem bestimmten Thema durchgeführt werden
soll. Die tatsächliche Diskussion kann nun etwa als Chat oder Audiokonferenz
realisiert werden.
‚
Die Attribute im Bereich Lerngruppe/Group beschreiben die Größe und Zusammensetzung der für die Durchführung dieser Aktivität vorgesehenen Lerngruppe.
Es werden eine untere und eine obere Grenze für die Teilnehmerzahl angegeben
und festgelegt, ob der Tutor und ob Beobachter bei dieser Aktivität zwingend,
möglich oder nicht zulässig sind. Die Verfahren zur Gruppenbildung werden in
Abschnitt 5.5 weiter detailliert.
‚
Im Bereich Ausführung/Execution sind alle Attribute enthalten, die die Ausführung
der kooperativen Aktivität betreffen, wie z.B. Instruktionen, Empfehlungen für die
94
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
Dauer der Kooperation, Strukturierungen für den Kooperationsprozess in Form
von Lernprotokollen sowie die Evaluationsmethode.
‚
Attribute, die in die Aktivität einfließende (Input) Daten beschreiben, sind im
Bereich Datenfluss/Dataflow gruppiert. Die Input-Daten umfassen primäre Daten
(z.B. Assoziationsanker für ein Brainstorming) und Hintergrundinformationen für
diese Aktivität (z.B. ein Einführungstext).
5.2.4 Beispiele: Instantiierungen der Modellierung kooperativer Episoden
Aufgrund der Ableitung der Modellierung kooperativer Episoden aus dem Katalog der
didaktischen Modelle (vgl. vorhergehende Abschnitte 5.2.2 und 5.2.3) sind alle
(bekannten) relevanten Aufgabenformen (vgl. zur Auswahl Abschnitt 5.2.2) durch die
vorgeschlagene Modellierung erfassbar. Im Folgenden werden exemplarisch drei
Typen kooperativer Aktivitäten vorgestellt und gemäß des oben vorgestellten Modells
beschrieben. Es handelt sich um je ein Beispiel für Antwort an den Tutor, Brainstorming und Pro-Kontra-Gespräch. Für jede dieser kooperativen Aktivitätstypen
werden die didaktische Zielstellung, die Beschreibung gemäß Modell sowie die Phasen der Durchführung skizziert.
Antwort an den Tutor
Bei dem Typ Antwort an den Tutor handelt es sich um eine Kooperation zwischen
einem Lernenden und einem Tutor und damit um eine eher untypische Aktivität im
engeren Sinne des kooperativen Lernens. An einer bestimmten Stelle im Kurs wird
dem Lernenden eine bestimmte Frage gestellt oder er wird aufgefordert eine
bestimmte Aufgabenstellung zu bearbeiten und danach die Antwort bzw. das
Ergebnis der Aufgabenbearbeitung zu dem entsprechenden Tutor dieses Kurses zu
senden. Das didaktische Ziel ist, das Wissen des Lernenden in Bezug auf diese
Frage bzw. Aufgabe zu überprüfen.
Aus Sicht des Lernenden wird nach dem Starten der kooperativen Episode ein
Dialogfenster geöffnet, in dem die Frage bzw. Aufgabenstellung angezeigt wird. Der
Lernende gibt seine Antwort ein und sendet sie zum Tutor. Basierend auf den Informationen in den Lerner- und Klassenmodellen identifiziert die CSCL Umgebung
einen geeigneten Tutor und sendet diese Antwort mit weiteren Informationen zum
Kurs, zur Klasse und einer Kurzbezeichnung der Frage angereichert an den Tutor.
Eine beispielhafte kooperative Episode vom Typ Antwort an Tutor:
Allgemein/General
Label: Frage283
Kooperationsziel: „Kenntnis der Einflussfaktoren der Preisbildung“
Kooperationstyp: Answer-to-tutor
5.2 Modellierung einer kooperativen Episode
95
Bevorzugtes Werkzeug: AnswerToTutor-Werkzeug
Bevorzugte Synchronizität: ASYNCHRONOUS
Lerngruppe/Group
Beobachter: NOT ALLOWED
Tutor: REQUIRED
Gruppengröße:
Minimal: 2
Maximal: 2
Gruppenbildung: <formation method> (siehe Abschnitt 5.5)
Ausführung/Execution
Instruktionen: „Überlegen Sie zunächst ...“
Lernprotokoll: Dauer:
Minimal : 10 min
Maximal : 30 min
Evaluation: INDIVIDUALLY BY TUTOR
Datenfluss/Dataflow
Input-Material:
Daten zur Aufgabe: „Nennen Sie die Einflussfaktoren auf die Preisbildung“Hintergrundmaterial: „Entwicklung des Marktes für Klingeltöne in Europa“
Brainstorming
Ziel des Brainstorming ist es, themenrelevantes Wissen der Lernenden in einer
Gruppe zu sammeln, zu aktivieren und in der Gruppe zu teilen. Als ein Ergebnis
haben die Lerner ihr relevantes Wissen aktiviert und haben einen Überblick über das
relevante Wissen der Mitlerner. Das Brainstorming kann vom Kursautor z.B. eingesetzt werden, um Lernenden die Wissensaufnahme zu erleichtern, indem vorhandenes Vorwissen aktiviert und als individuelle Ankerpunkte bereitgestellt wird. Ein
anderer Einsatzzweck ist das Erhöhen der Übertragbarkeit von Wissen, indem verschiedene Perspektiven in den Lernprozess einbezogen werden: Durch das Brainstorming in einer Gruppe lernt jeder einzelne Teilnehmer im Allgemeinen ein Problem
oder einen Sachverhalt aus für ihn jeweils neuen Blickwinkeln zu betrachten. Zur
Adressierung der bekannten Probleme des Brainstorming, die in der wechselseitigen
kognitiven Behinderung und im festen sozialen Gefüge der Gruppe begründet sind
(Diehl & Stroebe 1987), wurde ein drei-phasiges Brainstorming entwickelt: In der
ersten Phase produziert jeder Lernende individuell Ideen angeregt durch eine Reihe
von vom Kursautor vorgegebenen Schlüsselwörtern. In der zweiten Phase assoziieren alle Lernenden kooperativ, zusätzlich durch die Ergebnisse der ersten Phase sti-
96
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
muliert. In der letzten Phase werden alle bislang erzeugten Ideen gemeinsam geordnet und konsolidiert. In den kooperativen Phasen sind die Ideen nicht einzelnen
Lernenden zugeordnet, sondern der Gruppe. In der dritten Phase stellt das System
einen synchronen Kommunikationskanal zur Diskussion und Koordination der kooperativen Konsolidierung der erzeugten Ideen bereit. Für jede Phase ist ein Zeitlimit angegeben. Jeder Lernende kann die aktuelle Phase aber auch vorzeitig beenden. Das
System synchronisiert alle Teilnehmer in der nächsten Phase entweder nach Erreichen der Zeitgrenze einer Phase oder nachdem alle Lernenden die aktuelle Phase
beendet haben.
Ein Beispiel für eine Episode vom Typ Brainstorming:
Allgemein/General
Label: BS_Lösungsansätze
Kooperationsziel: „Sammeln von Lösungsansätzen für ...“
Kooperationstyp: BRAINSTORM
Bevorzugtes Werkzeug: Brainstorming-Werkzeug
Bevorzugte Synchronizität: SYNCHRONOUS
Lerngruppe/Group
Beobachter: ALLOWED
Tutor: ALLOWED
Gruppengröße:
Minimal: 3
Maximal: 5
Gruppenbildung: <formation method> (siehe Abschnitt 5.5)
Ausführung/Execution
Instruktionen: „Denken Sie an die Regeln für Brainstorming“
Lernprotokoll: Guided-Brainstorming
Dauer:
Minimal : 15 min
Maximal : 45 min
Pro Phase: 15 min
Evaluation: BY GROUP
Datenfluss/Dataflow
Input-Material:
Daten zur Aufgabe: „Startidee: Regenerative Energie“
Hintergrundmaterial: -
5.2 Modellierung einer kooperativen Episode
97
Pro-Kontra-Gespräch
Beim Pro-Kontra-Gespräch diskutieren zwei Teilnehmer ein strittiges Thema. Jeder
Teilnehmer übernimmt entweder die Pro-Rolle und äußert Argumente, die eine
bestimmte Position stützen, oder die Kontra-Rolle und äußert Argumente, die die
erste Position schwächen. Zusätzlich können weitere Lernende als Zuschauer fungieren und den Disput kommentieren. Das didaktische Ziel des Pro-KontraGesprächs ist es, eine tiefere Verarbeitung durch das Betrachten eines Themas aus
unterschiedlichen Perspektiven zu erreichen. Ein spezifisches Lernprotokoll kann zur
Strukturierung des Pro-Kontra-Gesprächs eingesetzt werden, um z.B. die Rollen
zuzuweisen (Pro, Kontra, Beobachter) und den Diskurs zu steuern (per floor control,
durch Beschränkung der von den Teilnehmern zu äußernden Beitragstypen, etc.).
Ein Beispiel für eine Pro/Kontra-Episode:
Allgemein/General
Label: Pro-Con-001
Kooperationsziel: „Positionen zu ... kennenlernen“
Kooperationstyp: PROCONTRA
Bevorzugtes Werkzeug: Pro/Con-Werkzeug
Bevorzugte Synchronizität: SYNCHRONOUS
Lerngruppe/Group
Beobachter: NOT ALLOWED
Tutor: NOT ALLOWED
Gruppengröße:
Minimal: 2
Maximal: 2
Gruppenbildung: <formation method> (siehe Abschnitt 5.5)
Ausführung/Execution
Instruktionen: Lernprotokoll: Pro-Con-alternating
Dauer:
Minimal : 30 min
Maximal : 40 min
Evaluation: NONE
Datenfluss/Dataflow
Input-Material:
Daten zur Aufgabe: „Material-Pro“, „Material-Contra“
Hintergrundmaterial: „Einführungstext“
98
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
5.2.5 Lebenszyklus einer kooperativen Episode
Während bei der Formulierung einer kooperativen Episode durch den Kursautor erst
wenige Parameter festliegen, werden im Zuge der Bearbeitung und des Beendens
der Episode weitere Parameter bestimmt. Tabelle 5.3 stellt einen Lebenszyklus einer
kooperativen Episode aus acht Stufen vor. Hier wächst die Menge der Informationen
von Stufe zu Stufen: Auf Stufe 1 wird eine kooperative Episode losgelöst von einem
Kontext definiert. In Stufe 2 ist die Episode in einen Kurs integriert. Auf Stufe 3 gehört
die Episode zu einem bestimmten Kurs und einer bestimmten Klasse. Sobald der
Lernende die Episode erreicht und in seine Aufgabenliste aufgenommen hat (Stufe
4), kommen weitere Informationen wie der Zeitpunkt des Erreichens der Episode
hinzu. Wird die Episode einer Gruppe zugeordnet bzw. für die Durchführung der Episode eine konkrete Gruppe gebildet (Stufe 5), sind die Informationen über die
Gruppenmitglieder bekannt. Auf Stufe 6, bei der Bearbeitung fallen weitere Informationen wie Zwischenergebnisse oder Kooperationszustände an. Nach Beenden der
Episodenbearbeitung (Stufe 7) liegt ein Ergebnis vor. Optional kommt in Stufe 8 noch
eine Rückmeldung des Tutors hinzu.
Stufe
1
2
3
4
5
6
7
8
Informationen zur Charakterisierung der kooperativen Episode
Aufgabenstellung
Einordnung der Aufgabenstellung in einen Kurs 7
Aufgabenstellung zugehörig zu einer Klasse 8
Personalisierte Aufgabenstellung (z.B. Wann hat der Lernende
die Aufgabe erhalten?)
Instantiierte Aufgabenstellung (Es gibt eine definierte Menge
von Lernenden und Tutoren)
Kooperative Episode während der Durchführung (Die Aufgabe
wird in der Gruppe bearbeitet)
Abgeschlossene kooperative Episode (Die Aufgabenbearbeitung in der Gruppe ist beendet)
Abgeschlossene Episode mit Rückmeldung des Tutors
Tabelle 5.3: Zunehmende Information im Laufe des Lebens einer kooperativen Episode
7
Kurs bezeichnet hier zum Beispiel ein Lehrbuch, ein web-basiertes Training oder die Menge des in
einem Fach in einer bestimmten Zeitdauer vermittelten Lernstoffes.
5.2 Modellierung einer kooperativen Episode
99
Das im Laufe des Lebens einer kooperativen Episode zunehmende Wissen über die
Episode stellt den sich erweiternden Kontext der Kooperation dar. Diese Erweiterung
geht mit einem zunehmenden Potenzial zur Unterstützung der Kooperation einher.
Diese Informationen können in einem gegenüber dem oben vorgestellten Modell
kooperativer Episoden um die entsprechenden Kontextinformationen erweiterten Modell erfasst werden (die neu hinzu gekommenen Elemente sind fett gedruckt):
Allgemein/General
Label: <text>
Kooperationsziel: <text>
Kooperationstyp: {BRAINSTORM, PROCONTRA, DISCUSSION, …}
Bevorzugtes Werkzeug: <toolname>
Bevorzugte Synchronizität: {SYNCHRONOUS, ASYNCHRONOUS}
Klasse: <class id>
Kurs: <course id>
Erreicht: <time>
Lerngruppe/Group
Beobachter: {NOT ALLOWED, ALLOWED, REQUIRED}
Tutor: {NOT ALLOWED, ALLOWED, REQUIRED}
Gruppengröße:
Minimal: <integer>
Maximal: <integer>
Gruppenbildung: <formation method>
Gruppenmitglieder: <list of names>
Ausführung/Execution
Instruktionen: <text>
Lernprotokoll: <script name>
Dauer:
Minimal : <time>
Maximal : <time>
Start: <time>
Ende: <time>
Evaluation: {NONE, BY LEARNER, BY GROUP, INDIVIDUALLY BY TUTOR, GROUP
BY TUTOR}
8
Klasse steht für eine Menge von Lernenden und Tutoren, die in irgendeiner Art zusammen einen
Kurs bearbeiten. Alternative Bezeichnungen: Lehrgang, Kurs.
100
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
Datenfluss/Dataflow
Input-Material:
Daten zur Aufgabe: <data>
Hintergrundmaterial: <text>
Output-Material:
(Zwischen-)Ergebnis: <data>
Feedback: <data>
5.3 Modellierung kooperativer Kurse
5.3.1 Points of Cooperation (PoC)
In den vorhergehenden Abschnitten wurde die Modellierung einer kooperativen Episode entwickelt. Da in Abschnitt 2.1.1 die Kombination von Phasen individuellen und
kooperativen Lernens eine Voraussetzung für effektive und motivierende Lernprozesse gefordert wurde, soll nun diese Kombination betrachtet werden. Um diese
Kombination zu erreichen, gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten:
‚
Wird kooperatives Lernen als Ausgangspunkt eines Lernprozesses genommen, gilt es Phasen des individuellen Lernens in kooperatives Lernen einzubetten.
‚
Nimmt man individuelles Lernen als Ausgangspunkt des Lernprozesses, so
müssen Phasen des kooperativen Lernens in das individuelle Lernen integriert
werden.
Wie in Kapitel 2 dargestellt, ist individuelles Lernen gegenwärtig die gängige Form
des Lernens in virtuellen Lernumgebungen. Existierende webbasierte Kurse sind auf
den einzelnen Lernenden ausgerichtet und sehen keine kooperativen Aufgaben vor.
Um diese Kurse einfach wieder verwenden zu können und den Lernenden zunächst
die ihnen vertraute Lernform zu bieten, soll hier die zweite Möglichkeit, die Integration kooperativer Phasen in individuelle Lernprozesse, weiterverfolgt werden.
Die Art der Integration ist davon abhängig, wie stark eine kooperative Phase mit dem
Rest des Kurses verbunden ist (siehe auch Wessner & Pfister 2000). Der Grad der
Verankerung soll als Kontextualität einer kooperativen Episode bezeichnet werden.
Eine niedrige Kontextualität bedeutet, dass eine kooperative Episode z.B. hinsichtlich
der Durchführungszeit, der Teilnehmer, des Gegenstands und Ziels wenig festgelegt
ist, dass eine Verankerung in einem Kurs nicht notwendig ist. Eine hohe Kontextualität bedeutet, dass eine kooperative Episode ein notwendiger und didaktisch begründeter Bestandteil des Lernprozesses ist und eng in einem Kurs verankert ist.
5.3 Modellierung kooperativer Kurse
101
Definition: Point of Cooperation (PoC)
Ein Point of Cooperation (PoC) bezeichnet die Einbindung einer kooperativen Episode in einem bestimmten Lernkontext. Aus Sicht eines Kursautors bezeichnet ein
PoC einen logischen Ort z.B. innerhalb der Struktur eines Kurses, der durch eine
bestimmte kooperative Episode definiert ist.
Wir unterscheiden qualitativ drei Typen kooperativer Episoden im Hinblick auf ihre
Kontextualität.
‚
Generische Kooperation
‚
Spontane Kooperation
‚
Intendierte Kooperation
Definition: Generische Kooperation, GPoC
Eine kooperative Aktivität ist eine generische Kooperation, wenn sie nicht in dem
Kurs, den der Lernende gerade bearbeitet, eingebunden ist. Eine virtuelle Lernumgebung kann ein weites Spektrum von Kooperationsmöglichkeiten anbieten, die zur
Kooperation mit anderen Systemnutzern benutzt werden können. Beispielsweise
bietet ein Mail- oder News-Werkzeug die Möglichkeit mit nahezu beliebigen Personen zu kommunizieren. Wir nennen ein Element der virtuellen Lernumgebung, das
die Funktionalität zur Initiierung einer generischen Kooperation bietet Generic Point
of Cooperation (GPoC). Je nach technischer Umsetzung kann dabei ein GPoC nach
Auswahl eines Kooperationspartners angeboten werden ("starte Audiokonferenz mit",
"schicke E-Mail an") oder der Benutzer wählt zunächst ein spezielles Kooperationswerkzeug aus ("Newsgroup", "Application Sharing") und wählt erst dann einen oder
mehrere Kooperationspartner.
Definition: Spontane Kooperation, SPoC
Eine kooperative Aktivität ist eine spontane kursbezogene Kooperation (kurz: spontane Kooperation), wenn sie zwar an einen bestimmten Kurs, nicht jedoch an ein
spezifisches Element dieses Kurses gebunden ist. Ein Element der Lernumgebung,
das Funktionalität zur Initiierung spontaner Kooperation bietet, nennen wir Spontaneous Point of Cooperation (SPoC). SPoCs werden für kooperative Aktivitäten genutzt, die nicht auf genau ein Inhaltselement des Kurses gebunden sind, aber einen
Bezug zum Kurs als Ganzes haben. Beispiele sind, einen Tutor dieses Kurses um
Hilfe zu bitten oder einen anderen Lernenden aus diesem Kurs zu kontaktieren, um
102
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
ein Problem mit dem Kurs zu erörtern. Im Vergleich zu GPoCs wird zur Unterstützung von SPoCs ein gewisses Maß an Kontextinformation benötigt. Beispielsweise ist es für die Ausführung eines SPoC “schicke Nachricht an den Tutor” oder
“kontaktiere einen anderen Lernenden dieses Kurses”) notwendig, dass das System
über organisatorische Informationen verfügt, um passende Tutoren bzw. andere
Lernende zu identifizieren.
Definition: Intendierte Kooperation, IPoC
Eine kooperative Aktivität ist eine intendierte kursbezogene Kooperation (kurz: intendierte Kooperation), wenn sie aus logischen und didaktischen Überlegungen heraus
fest an einer speziellen Position im Kurs verankert ist. Eine Komponente der Lernumgebung, die die Funktionalität zur Initiierung einer intendierten Kooperation bietet,
nennen wir Intended Point of Cooperation (IPoC). IPoCs sind mit anderen Elementen
eines Kurses durch bestimmte Relationen verbunden. Beispielsweise kann ein IPoC
erfordern, dass als Voraussetzung für seine Durchführung ein anderer Teil des
Kurses bereits bearbeitet wurde, oder es kann ausgedrückt werden, dass ein IPoC
bearbeitet sein muss, ehe der Lernende mit dem nächsten Teil des Kurses fortfahren
kann. Mit Hilfe eines IPoC kann ein Kursautor definieren, wann, d.h. an welcher
Stelle in der Kursstruktur, welche kooperative Aktivität durchgeführt werden soll.
Ein IPoC ist dabei ein Element innerhalb eines Kurses, das durch verschiedene
Werkzeuge umgesetzt werden kann. Beispielweise bezeichnet ein IPoC “Gruppendiskussion” eine Aktivität, die an einer bestimmten Stelle eines Kurses mit bestimmten Teilnehmern zu einem bestimmten Thema durchgeführt werden soll. Die tatsächliche Durchführung kann mit Hilfe eines Chat-Werkzeuges, eines Audio-/Videokonferenz-Werkzeuges oder eines anderen Kommunikationswerkzeuges erfolgen. Aus
Sicht der Werkzeuge kann eine bestimmte Strukturierung, etwa durch ein Lernprotokoll benutzt werden, um einen spezifischen IPoC zu unterstützen. Für eine ProKontra-Diskussion mit drei Teilnehmern kann beispielsweise ein Chat-Werkzeug mit
einem Lernprotokoll benutzt werden, das die Rollen Pro, Kontra und Beobachter den
Teilnehmern zuweist und den Diskurs durch die Vergabe von Rederechten oder
durch Festlegung der möglichen Typen von Kommunikationsbeiträgen strukturiert.
Da eine generische Kooperation per definitionem nicht in einen Kurs integriert ist und
damit weniger Nutzungspotentiale aufweist, beziehen sich die folgenden Überlegungen beziehen sich auf die intendierte und teilweise auf die spontane Kooperation.
5.3 Modellierung kooperativer Kurse
103
5.3.2 Kombination von individuellen und kooperativen Episoden
Materialien zum individuellen Lernen liegen in webbasierten Kursen in Form von
Lernobjekten, im einfachsten Fall in Form von Webseiten vor. Die Verknüpfung der
Lernobjekte oder Webseiten kann je nach Lernplattform durch untypisierte Links oder
aber durch typisierte Relationen wie beispielsweise „setzt voraus“ oder „ist ein Beispiel für“ erfolgen (vgl. Meder 2003, Seeberg 2002).
Um kooperative Episoden mit dem gleichen Mechanismus in einen webbasierten
Kurs einbauen zu können, soll jeder kooperativen Episode eine URL zugeordnet
sein.
5.3.3 Kombination kooperativer Episoden
Die in den vorangegangenen Abschnitten skizzierten Typen kooperativer Episoden
eignen sich für die Beschreibung einfacher kooperativer Aktivitäten. Sollen komplexere kooperative Aktivitäten wie z.B. das Gruppenpuzzle (vgl. Abschnitt 2.3.7) realisiert werden, gibt es zwei Möglichkeiten:
‚
Definition neuer (komplexerer) Typen kooperativer Episoden
‚
Kombination vorhandener Typen kooperativer Episoden zu komplexen Episoden
Im Folgenden stellen wir die Möglichkeiten zur Kombination von kooperativen Episoden zu komplexen kooperativen Episoden dar.
Beispielsweise bestehe eine komplexe Episode aus zwei Pro-Kontra-Gesprächen.
Zur Kombination der beiden Episoden zu einer komplexen Episode können Beziehungen wie die folgenden zwischen diesen beiden Pro-Kontra-Gesprächen ausgedrückt werden:
‚
Jeder Lernende führt die zweite Episode mit demselben Mitlerner durch, mit
dem er auch die erste Episode durchgeführt hat.
‚
Lernende, die in der ersten Episode die Pro-Rolle hatten, übernehmen bei der
zweiten Episode die Kontra-Rolle und umgekehrt.
‚
Die Lernenden sehen in der zweiten Episode das Gesprächsprotokoll der
ersten Episode als Ausgangs- bzw. Hintergrundmaterial.
‚
Die zweite Episode kann erst durchgeführt werden, wenn die erste Episode
abgeschlossen ist.
104
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
Allgemein können folgende Arten von Beziehungen zwischen Episoden differenziert
werden:
‚
Gruppenbeziehung: Es gibt eine Beziehung zwischen der Gruppe der Lernenden, die Episode 1 durchführt und der Gruppe, die Episode 2 durchführt.
‚
Rollenbeziehung: Es gibt eine Beziehung zwischen der Rolle eines bestimmten Lerners in Episode 1 und Episode 2.
‚
Datenbeziehung: Episode 2 setzt auf (Lehr-)Material auf, das in Episode 1 erzeugt wurde.
‚
Zeitbeziehung: Episode 2 wird eine bestimmte Zeitdauer nach Episode 1
durchgeführt (z.B. beim Vokabellernen)
Zur Verdeutlichung dieser Beziehungen folgt ein Ausschnitt aus einem Episodenmodell (Gruppen-, Daten- und Zeitbeziehung sind in Fettdruck markiert):
...
Lerngruppe/Group
Beobachter: {NOT ALLOWED, ALLOWED, REQUIRED}
Tutor: {NOT ALLOWED, ALLOWED, REQUIRED}
Gruppengröße:
Minimal: <integer>
Maximal: <integer>
Gruppenbildung: <formation method>
Gruppenmitglieder: =BS-123.Gruppenmitglieder
Ausführung/Execution
Instruktionen: <text>
Lernprotokoll: <script name>
Dauer:
Minimal : <time>
Maximal : <time>
Start: =BS-123.Ende
Ende: <time>
Evaluation: {NONE, BY LEARNER, BY GROUP, INDIVIDUALLY BY TUTOR, GROUP
BY TUTOR}
Datenfluss/Dataflow
Input-Material:
Daten zur Aufgabe: <data>
Hintergrundmaterial: =BS-123.Ergebnis
Output-Material:
Ergebnis: <data>
Feedback: <data>
5.4 Werkzeuge für die kontextuelle Kooperation
105
5.3.4 Zeitliche Entkopplung von Qualifizierung und Durchführung
Die Anwesenheit anderer Lernender, evtl. auch von Tutoren ist je nach Nutzungsszenario nicht vorhersehbar. Andererseits ist die Durchführung kooperativer Episoden davon abhängig, dass geeignete Kooperationspartner in ausreichender Anzahl
vorhanden sind. Dies trifft im engeren Sinne nur für synchrone Episoden zu. Aber
auch asynchrone Episoden erfordern, dass (irgendwann) andere, geeignete Lernende in der Lernumgebung angemeldet sind und die Episode bearbeiten.
Um zu verhindern, dass der Lernprozess eines Lernenden blockiert wird, da er auf
andere Lernende oder Tutoren warten muss, wird eine zeitliche Entkopplung zwischen der Qualifizierung für eine kooperative Episode und der Durchführung dieser
Episode vorgenommen. Erreicht ein Lernender eine Stelle im Kurs, an der eine
kooperative Episode vorgesehen ist, qualifiziert er sich für die Teilnahme an einer
Kooperation, wie sie durch die Beschreibung der Episode charakterisiert ist.
Will der Lernende die Kooperation durchführen, aktiviert er den PoC. Daraufhin versucht das System geeignete Kooperationspartner zu finden. Werden keine Kooperationspartner gefunden oder wird der PoC nicht vom Lernenden aktiviert, so kann der
Lernende weiterhin individuell mit der Kursbearbeitung fortfahren.
5.3.5 Generische und spontane Kooperation
Die generische Kooperation ist – wie in Abschnitt 5.3.1 definiert - vollkommen unabhängig vom gerade bearbeiteten Kurs. Infolgedessen sind generische Kooperationen
auch kein Bestandteil einer Kursmodellierung, sondern Bestandteil der Lernumgebung. Die spontane Kooperation, die in Abschnitt 5.3.1 als zum Kurs gehörig, aber
unabhängig von einer konkreten Stelle im Kurs definiert wurde, kann ebenfalls als
Bestandteil der Lernumgebung realisiert werden. Im Weiteren wird die intendierte
Kooperation betrachtet.
5.4 Werkzeuge für die kontextuelle Kooperation
5.4.1 Phasen des kooperativen Lernens
Kooperatives Lernen kann in die drei Phasen Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung gegliedert werden (Dansereau & Johnson 1994). Diesen Phasen werden
im Folgenden jeweils die Aufgaben des Lehrenden (vgl. Abschnitt 5.2.1) zugeordnet.
Während beim kooperativen Lernen ohne Computerunterstützung im Wesentlichen
ein Lehrender und eine Menge von Lernenden beteiligt sind, spielt im kursbasierten
(computerunterstützten) Lernen auch der Kursautor eine wichtige Rolle. Der Kursautor übernimmt teilweise Aufgaben des Lehrenden (siehe Abschnitt 5.2.1), bei-
106
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
spielsweise das Festlegen und Bereitstellen des Lernmaterials. Der Lehrende spielt
eine etwas geringere Rolle, seine Aufgaben sind im Wesentlichen auf die Begleitung
des Lernprozesses sowie auf die Beurteilung des Lernprozesses bzw. –ergebnisses
beschränkt. Im Folgenden werden für jede der drei Phasen die Aufgaben der beteiligten Rollen (Kursautor, Tutor und Lernender) vorgestellt. Für jede Phase werden
die Anreicherung des Kontextes sowie die Möglichkeiten der Unterstützung durch die
virtuelle Lernumgebung auf Basis der vorgestellten Modellierungen kooperativer Episoden und kooperativer Kurse aufgezeigt.
5.4.2 Werkzeuge für die Vorbereitung
Die Vorbereitung umfasst die Erstellung kooperativer Episoden und die Integration
der Episoden in den Kurs durch den Kursautor sowie das Schaffen notwendiger
Kooperationsvoraussetzungen auf Seiten des Tutors und der Lernenden. Der Übergang vom individuellen zum kooperativen Lernen wird in der Lernumgebung durch
Methoden zur Zusammenstellung von Lerngruppen unterstützt (vgl. Abschnitt 5.5).
Die Aufgaben zur Vorbereitung des kooperativen Lernens umfassen:
‚
V1: das Festlegen des Ziels der Kooperation,
‚
V2: das Festlegen der Gruppengröße,
‚
V3: die Zuordnung der Lernenden zu Gruppen,
‚
V4: das Festlegen und Bereitstellen des benötigten Materials,
‚
V5: das Erklären der Aufgabenstellung sowie
‚
V6: das Erklären der positiven wechselseitigen Abhängigkeit der Lernenden
innerhalb ihrer Gruppe.
V1, V2, V4, V5 und V6 können im Vorhinein bei der Erstellung des Kurses durch den
Kursautor erledigt werden. Diese Aufgaben können durch das System mit Hilfe eines
Autorenwerkzeugs unterstützt werden. Das Autorenwerkzeug ermöglicht dem Kursautor zum einen die Definition der kooperativen Episoden, zum anderen die Integration kooperativer Episoden in den Kurs.
Zur Definition einer kooperativen Episode ist ein Autorenwerkzeug nötig, das es
erlaubt die Parameter gemäß der vorgestellten Modellierung kooperativer Episoden
(vgl. Abschnitt 5.2.3) einzugeben. Zur Integration einer kooperativen Episode in
einen Kurs (IPoC) wird – sofern vorhanden – ein Autorenwerkzeug der Lernplattform
genutzt, die erstellte Episodendefinition wird als URL in den Kurs integriert.
5.4 Werkzeuge für die kontextuelle Kooperation
107
Voraussetzung für die Durchführung einer kooperativen Episode durch die Lernenden ist, dass sie diese kooperative Episode im Kurs erreicht haben. Die Lernenden
sollten in der Lage sein, sich Informationen über diese Episode zu verschaffen, um
zu entscheiden, ob bzw. wann sie diese Episode durchführen.
Dazu muss die Lernumgebung ein Werkzeug bereitstellen, das alle bisher erreichten
kooperativen Episoden darstellt und den Abruf von Informationen zu diesen Episoden ermöglicht.
V3 kann nur in Kenntnis der Anzahl und Eigenschaften der Lernenden bearbeitet
werden, bleibt also dem Lehrenden bzw. den Lernenden vorbehalten. Allerdings
kann der Kursautor eine für diese Episode geeignete Methode der Lerngruppenbildung vorgeben. Die Zusammenstellung der Lerngruppen (V3) wird in Abschnitt 5.5
detailliert behandelt.
5.4.3 Werkzeuge für die Durchführung
Zur Durchführung des kooperativen Lernens benötigen die beteiligten Lernenden und
Tutoren zu der gegebenen kooperativen Episode passende Kooperationswerkzeuge.
Diese müssen für die Gruppenmitglieder aktiviert und mit den Parametern der Modellierung der kooperativen Episode initialisiert werden.
Die Kooperationswerkzeuge können den Kooperationsprozess in Abhängigkeit von
der Art der kooperativen Episode und den Parametern der Episode durch verschiedene Maßnahmen unterstützen, beispielsweise durch die Aktivierung eines Lernprotokolls/Skripts, wie es in der Modellierung angegeben ist. Ein solches Skript kann
etwa die Benutzungsschnittstelle entsprechend konfigurieren, den Austausch von
Kommunikationsbeiträgen oder deren Art und Reihenfolge regeln.
Die Aufgaben bei der Durchführung des kooperativen Lernens umfassen:
‚
D1: das Bearbeiten der Aufgabe gemäß der vorgegebenen Instruktionen,
‚
D2: das Beobachten der Interaktionen,
‚
D3: das Intervenieren, um bei der Aufgabe, bei der Anwendung der Kooperationsmethode oder bei der Anwendung von Sozialkompetenzen zu helfen,
sowie
‚
D4: das Ablegen bzw. Weiterleiten der Ergebnisse der Kooperation.
D1 und D4 werden von den Lernenden erledigt, evtl. unter Mitwirkung des Tutors.
Die Aufgaben D2 und D3 fallen in die Zuständigkeit des Tutors.
108
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
Als Kooperationswerkzeuge kommen spezialisierte sowie entsprechend angepasste
generische Kooperationswerkzeuge in Betracht. Spezialisierte Kooperationswerkzeuge sind für eines oder mehrere kooperative Lernszenarien optimiert. Beispielsweise kann ein Werkzeug für ein Pro-Kontra-Gespräch die Aufgabenstellung sowie
die Rollen Pro und Kontra explizit in der Benutzungsschnittstelle ausweisen. Generische Kooperationswerkzeuge weisen keine lernspezifische Kooperationsunterstützung auf, können aber vom System geeignet initialisiert werden. Beispielsweise kann
ein (generischer) Chat die Aufgabenstellung als Systemmeldung im Chat ausgeben
und die Benutzerkennung mit dem Benutzernamen und einem vorangestellten „Pro: “
bzw. „Kontra: “ initialisieren.
Die Unterstützung für das Ablegen bzw. Weiterleiten der Kooperationsergebnisse erfolgt durch eine (gemeinsame) Ablage bzw. durch Versenden (z.B. per Email).
5.4.4 Werkzeuge für die Nachbereitung
Die Nachbereitung des kooperativen Lernens kann am Ende der Durchführung mit
Hilfe des für die Durchführung verwendeten Kooperationswerkzeugs oder zu einem
späteren Zeitpunkt erfolgen. Dazu müssen die (Zwischen-)Ergebnisse der Kooperation und die jeweiligen Aktivitäten der Beteiligten – soweit sie zur Nachbereitung
benötigt werden – im System abgelegt (siehe vorherigen Abschnitt) und eingesehen
werden können.
Die Aufgaben bei der Nachbereitung des kooperativen Lernens umfassen:
‚
N1: die Evaluation der Lernprozesse und
‚
N2: das Reflektieren bzw. das Sicherstellen der Reflektion des Lernprozesses
innerhalb der Gruppe.
Je nach Definition der Episode können N1 und N2 von den Lernenden oder von den
Lernenden gemeinsam mit dem Tutor erledigt werden. N1 kann auch alleine durch
den Tutor durchgeführt werden.
Die Systemunterstützung umfasst die Verwaltung der im Zuge der Kooperation
anfallenden (Zwischen-)Ergebnisse und die für die Nachbereitung relevanten Aktivitäten der Beteiligten. Diese Nachbereitung kann in der Gruppe, individuell oder
gemeinsam mit dem Tutor erfolgen. Die Bewertung des kooperativen Lernens kann
mehrere Einzelwertungen, etwa für das Gesamtergebnis und Teilergebnisse, für die
Gruppe und die einzelnen Mitglieder, für das Ergebnis und den Prozess enthalten.
Soll die Bewertung als Kontext für die weitere Systemunterstützung herangezogen
werden, ist sie in den Profilen der Beteiligten abzulegen (vgl. Abschnitt 5.5.3).
5.5 Unterstützung für das Zusammenstellen von Lerngruppen
109
5.5 Unterstützung für das Zusammenstellen von Lerngruppen
In diesem Abschnitt wird am Beispiel der Unterstützung für die Bildung von Lerngruppen detailliert das Potential der vorgestellten Modellierung kooperativer Episoden
und Kurse vorgestellt.
In Abschnitt 2.3.3 wurden zwei relevante Arten von Lerngruppen identifiziert: Informelle kooperative Lerngruppen und formale kooperative Lerngruppen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Lebensdauer und der Art bzw. Komplexität der zu bearbeitenden Aufgabe. Sie sind in einen nicht-kooperativen Lernprozess eingebettet,
im Sinne dieser Arbeit in das individuelle kursbasierte Lernen. Für die erfolgreiche
Bearbeitung einer kooperativen Episode wurden die für die Aufgabe geeignete
Größe und Zusammensetzung der Lerngruppe identifiziert.
In Kapitel 3 wurde die Anforderung „Unterstützung der Lerngruppenbildung“ (A5)
gestellt. Dabei sollen verschiedene Strategien der Gruppenbildung durch Lehrende
oder Lernende sowie die automatische Lerngruppenbildung durch das System
berücksichtigt werden. Die Eignung einer Gruppenbildungsstrategie steht in einem
engen Zusammenhang mit Eigenschaften der Aufgabe. Die Strategien der Gruppenbildung unterscheiden sich im Hinblick auf den benötigten Aufwand. Eine in Bezug
auf die Homo- bzw. Heterogenität der Gruppe zur Aufgabe passende Zusammenstellung von Lerngruppen ist bislang nur durch den Lehrenden möglich, aber mit
großem Aufwand verbunden. Ordnen sich die Lernenden selbst den Gruppen zu, ist
der Aufwand geringer, es entstehen aber meist sehr homogene Gruppen.
Um eine sinnvolle Gruppe zu bilden, sollen Kontextinformationen z.B. über Vorwissen und Präferenzen der Benutzer und die Art der geplanten Kooperation berücksichtigt werden. Aufgrund der Kontextabhängigkeit der Verfahren zur Bildung von
Lerngruppen (vgl. z.B. Haake et al. 2004) sollen verschiedene Verfahren und deren
kontextabhängige Auswahl bzw. Anpassung in der Lernumgebung möglich sein.
Schließlich sollen auch Ausnahmesituationen berücksichtigt werden, beispielsweise,
wenn kein geeigneter Lernpartner verfügbar ist.
5.5.1 Varianten und Methoden der Gruppenbildung
Eine nicht aktive Unterstützung der Bildung von Lerngruppen kann auf Zufall basieren oder durch die aktuellen Aktivitäten der Benutzer bestimmt erfolgen, wenn beispielsweise alle Benutzer, die gleichzeitig eine bestimmte Webseite betrachten, ein
gemeinsames Kommunikationsmedium (etwa ein Chatfenster) benutzen. Eine nicht
zufällige Gruppenbildung kann durch explizites Zuordnen eines Lernenden zu einer
Gruppe durch den Lernenden, einen Tutor, einen Administrator oder automatisch
durch das System erfolgen (Wessner & Pfister 2001).
110
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
Die eigentliche Bildung einer Lerngruppe, d.h. das Festlegen, welche Lernenden zu
einer bestimmten Lerngruppe gehören, kann außerhalb und innerhalb des CSCLSystems erfolgen: Werden Lerngruppen außerhalb des Systems gebildet, so müssen
die Benutzer eingeben, wer zu welcher Lerngruppe gehört. Wenn das System die
Benutzer im Prozess des Identifizierens der Lernenden, die zu jeweils einer Lerngruppe gehören, unterstützt, erfolgt die Gruppenbildung innerhalb des Systems. Im
Weiteren betrachten wir nur die Lerngruppenbildung innerhalb des Systems im Sinne
der aktiven Unterstützung.
Mit Ausnahme des Kursautors, der zum Erstellungszeitpunkt einer Episode kein Wissen über die tatsächlichen Teilnehmer haben kann, kann die Gruppenbildung von
allen Akteuren (Tutor, Lernender) sowie automatisch durch das System vorgenommen werden. Aufgrund der Analyse in Abschnitt 2.3.3 wird an dieser Stelle von
einer Gruppenbildung durch die Lernenden abgesehen, da hieraus in der Regel (zu)
homogene Gruppen resultieren.
5.5.2 Phasen der Lerngruppenbildung
Aus der gewünschten Entkopplung des Zeitpunktes des Erreichens einer kooperativen Episode und des Zeitpunktes der Durchführung dieser Episode (vgl. Abschnitt
5.3.4) folgt, dass die Initiative zur Bildung einer Lerngruppe zur Durchführung einer
kooperativen Episode von einem Lernenden (bzw. vom System für einen Lernenden
handelnd) ausgeht. Für diesen Lernenden und die von ihm ausgewählte kooperative
Episode gilt es nun, aus der Grundgesamtheit von Personen eine Menge von geeigneten Kooperationspartnern zu finden.
Wie wird die Güte eines Kooperationspartners in Bezug auf den Initiator und die vorliegende Episode bewertet? Wie wird die Menge sortiert?
Allgemein besteht das Zusammenstellen von Lerngruppen aus den folgenden Schritten (vgl. auch Wessner & Pfister 2001), die nicht notwendigerweise in der hier gewählten Reihenfolge ablaufen müssen:
‚
Initiieren der Gruppenbildung: Eine kooperative Situation kann von einem
Lernenden oder Tutor direkt initiiert werden, z.B. um ein akutes Problem zu
lösen. (Die Situation kann auch durch die Lernumgebung dem Lernenden vorgeschlagen werden. Im letzteren Fall initiiert der Lernende die Gruppenbildung
durch das Akzeptieren des Systemvorschlags.)
‚
Festlegen der gewünschten Gruppengröße: Für die gewünschte Gruppe werden ein minimaler und ein maximaler Wert für die Anzahl der Teilnehmer auf
Basis der gegebenen Rahmenbedingungen festgelegt.
5.5 Unterstützung für das Zusammenstellen von Lerngruppen
111
‚
Identifikation potentieller Kooperationspartner: Es wird eine Liste von Lernenden (und Tutoren) erstellt, die die Voraussetzungen für die Teilnahme an einer
Kooperation mit dem Initiator erfüllen.
‚
Priorisierung der Menge potentieller Kooperationspartner: Nach bestimmten
Kriterien wird für die potentiellen Kooperationspartner die „Güte“ in Anbetracht
der gegebenen Rahmenbedingungen bestimmt.
‚
Aushandlung der Teilnehmer: In dieser Phase interagieren potentielle Kooperationspartner (oder ihre Agenten), um die Zusammensetzung der Lerngruppe
zu bestimmen. Die potentiellen Mitlerner werden entweder vom System der
Lerngruppe zugewiesen oder sie werden gefragt, ob sie an dieser Kooperation
teilnehmen wollen. Sofern nicht ausreichend viele Mitlerner teilnehmen möchten, müssen neue potentielle Mitlerner identifiziert werden oder aber die Gruppenbildung wird abgebrochen.
Eine virtuelle Lernumgebung kann alle genannten Phasen der Gruppenbildung auf
der Basis des Wissens über die Lernenden und den Kurs unterstützen:
‚
Die Initiierung kann durch das System erfolgen, beispielsweise aufgrund des
Wissens über die aktuelle Position des Lernenden im Kurs und über die Verfügbarkeit von Mitlernern.
‚
Das Festlegen der Gruppengröße kann durch das System z.B. so optimiert
werden, dass auch nach der Bildung einer Gruppe auch aus den verbleibenden Teilnehmern noch eine zu den Rahmenbedingungen passende Gruppe
gebildet werden kann.
‚
Das Identifizieren potentieller Mitlerner kann unterstützt werden, indem das
System eine Menge aller Lerner, die die Voraussetzungen erfüllen (beispielsweise alle Lerner, die den gleichen Kurs bearbeiten und in diesem Kurs an
einer ähnlichen Stelle wie der Initiator sind), bereitstellt.
‚
Die Priorisierung der Menge potentieller Kooperationspartner kann auf Basis
der Informationen über die kooperative Episode und die Teilnehmerprofile
vom System übernommen werden.
‚
Die Aushandlung der Teilnehmer ist ein komplexer Prozess der Abwägung der
Ziele und Präferenzen der Lernenden und der Lerngruppe. Dieses Abwägen
kann zumindest teilweise durch das System erfolgen.
Das benötigte Wissen über die kooperative Episode ist dem System über die Modellierung des kooperativen Kurses bzw. der kooperativen Episode bekannt. Im folgen-
112
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
den Abschnitt werden relevante Parameter zur Charakterisierung der Lernenden erfasst.
5.5.3 Lernermodell
Die Gruppe muss hinsichtlich ihrer Größe und Zusammensetzung einerseits zur
kooperativen Episode passen, andererseits werden Informationen über die verfügbaren Lernenden und Tutoren benötigt, um beispielsweise Anforderungen an die
Homo- bzw. Heterogenität der Gruppe erfüllen zu können.
In auf Techniken der künstlichen Intelligenz basierenden Systemen werden häufig
sehr elaborierte Lernermodelle verwendet. Inhalte eines derartigen Lernermodells
sind nach (Harrer 2000, S. 96 und 109):
‚
kognitive Aspekte
‚
motivationale Aspekte
‚
soziale Aspekte
‚
physische Aspekte
Aufgrund der Probleme mit der Erstellung und Pflege derartiger Modelle soll hier ein
anderer Weg verfolgt werden. Zunächst einmal muss das Lernermodell über den
Namen des Lernenden und die von ihm gebuchten Kurse im System verfügen, um
den Lernenden identifizieren und Kooperationspartner nur im selben Kurs suchen zu
können. Sucht man nur Kooperationspartner aus der gleichen Klasse, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass die Lernenden sich bereits kennen, z.B. aus einer früheren
Kooperation.
Für elaboriertere Verfahren zur Gruppenbildung müssen weitere Aspekte berücksichtigt werden.
5.5.4 Gruppenbildungsalgorithmen
Wie in Abschnitten 2.3.3 erarbeitet gibt es keinen für alle Situationen passenden
optimalen Algorithmus zur Zusammenstellung von Lerngruppen. Vielmehr wird in
Kapitel 3 in Anforderung A.5 gefordert, verschiedene Gruppenbildungsstrategien zu
unterstützen. Es existiert eine Reihe von Einflussfaktoren für die Lerngruppenbildung, das Verfahren ist unter Umständen von folgenden Charakteristika der
kooperativen Episode abhängig:
‚
Vorgesehene Dauer der Kooperation: Handelt es sich um eine längerfristige
Kooperation, so haben persönliche/soziale Faktoren und die Homogenität der
Gruppenmitglieder eine höhere Bedeutung. Eine Kooperation über wenige
5.5 Unterstützung für das Zusammenstellen von Lerngruppen
113
Minuten stellt dagegen geringere Anforderungen an die Gruppe in Bezug auf
persönliche/soziale Faktoren und die Homogenität.
‚
Art der Kooperation: Handelt es sich um eine relativ unabhängige Kooperation, ist kein großes Vertrauen zwischen den Beteiligten vorauszusetzen
bzw. zu schaffen.
‚
Größe der Gruppe: Je größer die Gruppe ist, desto schwieriger ist es in der
Regel, entsprechend viele geeignete Gruppenmitglieder zu finden. Dies gilt
insbesondere für synchrone Episoden.
‚
Lern- und Kooperationskompetenz der Teilnehmer: Je mehr Lern- und Kooperationskompetenz die Teilnehmer aufweisen, desto leichter können auch unbekannte Teilnehmer integriert werden.
‚
Absichten des Kursautors: Präferiert er heterogene oder homogene Gruppen?
Sollen die Teilnehmer in den Gruppen einander bereits kennen?
Aufgrund dieser Vielzahl von Einflussfaktoren müssen verschiedene Verfahren zur
Bildung von Lerngruppen vom System unterstützt werden.
Auf Basis der Modellierung kooperativer Episoden und Kurse (Abschnitte 5.2 und
5.3) sowie des Lernermodells (Abschnitt 5.5.3) werden hier exemplarisch drei Algorithmen zur automatischen Gruppenbildung skizziert. Es handelt sich um einen primitiven Algorithmus, die wartezeitoptimierende Lerngruppenbildung und die erfahrungsbasierte Lerngruppenbildung. (Die manuelle Gruppenbildung wird in Anhang
A.2 dargestellt.)
Primitive Lerngruppenbildung
;bilde eine Liste mit einer Lerngruppe für IPoC IP und Lerner Learn
Gruppengröße= (IP.getMinParticipants() + IP.getMaxParticipants()) div 2;
Liste={};
for alle Lerner L
if (L.hasIPoC(IP)) and
(L.getIPoC(IP).getState = new) and
(L.getClass() = Lern.getClass()) and
(L.getCourse() = Learn.getCourse()) and
(not(IP.isSynchronous()) or L.isOnline())
then füge L der Gruppe hinzu;
if Liste.getSize = Gruppengröße
then exit;
114
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
Es werden alle Lerner ausgewählt, die ebenfalls diesen IPoC erreicht, aber noch
nicht bearbeitet haben, in der gleichen Klasse und im gleichen Kurs sind und –
sofern es ein synchroner IPoC ist – online sind. Die Gruppengröße wird als Mittelwert
zwischen der minimalen und maximalen Gruppengröße für diesen IPoC bestimmt.
Wartezeitminimierende Lerngruppenbildung
Als Verbesserung zum primitiven Algorithmus wird die Liste nach der Wartezeit
sortiert. Die Wartezeit für einen Lerner ergibt sich aus der Differenz der aktuellen Zeit
und des Zeitpunkt, zu dem der Lerner den IPoC im Kurs erreicht hat.
;bilde eine Liste mit einer Lerngruppe für IPoC IP und Lerner Learn
;bevorzuge Lerner, die schon länger auf die Durchführung warten
Gruppengröße= (IP.getMinParticipants()+IP.getMaxParticipants()) div 2;
Liste=[];
for alle Lerner L
if (L.hasIPoC(IP)) and
(L.getIPoC(IP).getState = new) and
(L.getClass() = Lern.getClass()) and
(L.getCourse() = Learn.getCourse()) and
(not(IP.isSynchronous()) or L.isOnline())
then füge L der Gruppe hinzu;
Liste.sortiereNachWartezeit();
Liste = Liste.copy(1,Gruppengröße);
Erfahrungsbasierte Lerngruppenbildung
In dieser Strategie werden bevorzugt solche Lerner ausgewählt, mit denen der
Lerner schon einmal kooperiert hat und beide Beteiligten die Kooperation positiv
bewertet haben. Nach jeder Kooperation, an der Li und Lj beteiligt waren wird der
Kooperationsindex K(Li,Lj), wobei i<j, um eins inkrementiert, sofern Li und Lj kooperiert haben und beide die Kooperation positiv bewertet haben. Hier wird die Liste
nach dem Kooperationsindex sortiert.
;bilde eine Liste mit einer Lerngruppe für IPoC IP und Lerner Learn
;bevorzuge Lerner, die schon einmal erfolgreich kooperiert haben
Gruppengröße= (IP.getMinParticipants()+IP.getMaxParticipants()) div 2;
Liste=[];
for alle Lerner L
if (L.hasIPoC(IP)) and
(L.getIPoC(IP).getState = new) and
(L.getClass() = Lern.getClass()) and
5.5 Unterstützung für das Zusammenstellen von Lerngruppen
115
(L.getCourse() = Learn.getCourse()) and
(not(IP.isSynchronous()) or L.isOnline())
then füge L der Gruppe hinzu;
Liste.sortiereNachKooperationsindex ();
Liste = Liste.copy(1,Gruppengröße);
Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden hier drei einfache Beispiele aufgeführt.
Die Gruppenbildung im realisierten System (siehe Kapitel 6) gestaltet sich komplexer, da
‚
garantiert werden soll, dass die Aufteilung in Gruppen so aufgeht, dass alle
Lerner eine Chance auf die Durchführung des IPoC haben
‚
während der Kursbearbeitung Lerner den Kurs verlassen oder neue Lerner
hinzukommen
‚
auch klassen- und kursübergreifende Kooperationen in Betracht gezogen werden, falls andernfalls keine Kooperation möglich ist
‚
auch ein Tutor als Ersatz für einen Kooperationspartner eingeteilt wird, falls
andernfalls keine Kooperation möglich ist
Ein weiteres Beispiel für eine Strategie ist die lerndistanzoptimierende Lerngruppenbildung, bei der Lerner bevorzugt werden, die gerade an einer ähnlichen Position im
Kurs arbeiten.
5.5.5 Verwandte Ansätze zur Gruppenbildung
In diesem Abschnitt wird die entwickelte Systemunterstützung für das Zusammenstellen von Lerngruppen auf Basis der Modellierung kooperativer Episoden und
Kurse mit verwandten Arbeiten verglichen. Verwandte Arbeiten lassen sich hauptsächlich im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) finden. KI-basierte Ansätze unterstützen das Finden von Lernpartnern auf der Basis von explizit modellierten Interessen bzw. Lernaktivitäten in dömanenspezifischen Benutzermodellen.
Das Lernermodell in CASSIEL (Ayala 2003) enthält Interessen und Annahmen über
den Lerner, die aus seinem Navigations- und Kommunikationsverhalten abgeleitet
werden können. Ein ähnliches Verfahren für Communities stellen Yang und Kollegen
vor (Yang et al. 2003). Das Konzept der Opportunistic Group Formation (Inaba et al.
2000, Ikeda et al. 1997, Supnithi et al. 1999) nutzt domänenspezifische Benutzermodelle zur automatischen Bildung von Lerngruppen. Das System entscheidet auf
der Basis der Benutzermodelle über günstige Zeitpunkte für eine Kooperation und
legt die individuellen und gemeinsamen Ziele in einer Kooperation fest. GRACILE
116
5. Kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
(Ayala & Yano 1996) ist ein System, das das kooperative Erlernen der japanischen
Sprache unter Nutzung eines domänenspezifischen Benutzermodells fördert. Harrer
(2000) erweitert Intelligente Lehrsysteme (ILS) derart, dass auch kooperatives
Lernen unterstützt wird. Benötigt wird – wie für alle ILS – u.a. die Domänenkompetenz des Systems. Weitere KI-basierte Ansätze finden sich z.B. bei Furugori
und Kollegen (2002), Hoppe (1995) und Ogata (1998).
In Abgrenzung zu den KI-basierten Ansätzen soll mit den in dieser Arbeit vorgestellten Konzepten die Anforderung Offenheit des Systems (A7) erfüllt werden. Das vorgestellte Verfahren der Gruppenbildung kommt ohne domänenspezifische Benutzermodelle aus und kann für alle kooperativen Kurse ohne Änderung oder Anpassung
verwendet werden.
Es existieren nur wenige nicht KI-basierte Ansätze zur Unterstützung der Gruppenbildung. CURE (Haake et al. 2004b) unterstützt die manuelle Gruppenbildung durch
Tutoren oder die Lernenden mit Hilfe virtueller Schlüssel, die als Symbole der
Zugriffsrechte dienen. CURE bietet Möglichkeiten manche Parameter der Gruppenbildung festzulegen, beispielsweise die maximale Mitgliederzahl der Gruppe oder die
befristete Zugehörigkeit zur Gruppe. Gaudioso und Kollegen (2003) erweitern die
Lernumgebung aLF um Gruppenbildungsunterstützung. Sie nutzen domänenunabhängige quantitative Daten wie die Breite und Länge von Kommunikationssträngen,
die Anzahl von Beiträgen oder von Antworten auf Beiträge, um Indikatoren für die
Bildung guter Lerngruppen zu gewinnen. Der vorgestellte Ansatz der Lerngruppenbildung unterstützt im Vergleich zu CURE mehr Parameter der Lerngruppenbildung,
beispielsweise die Mindestgruppengröße oder Angaben zur Erforderlichkeit der
Teilnahme eines Tutors an der Gruppenarbeit. Während aLF auf eine vorgegebene,
asynchrone Kooperationsmethode und die automatische Gruppenbildung begrenzt
ist, unterstützt der in dieser Arbeit vorgestellte Ansatz die manuelle und automatische
Bildung von Lerngruppen für beliebige Kooperationsmethoden.
5.6 Zusammenfassung
In diesem Kapitel wurden die Lösungskonzepte zur Realisierung der kontextuellen
Kooperation in virtuellen Lernumgebungen entwickelt.
Zunächst wurden mit einer Analyse des Entscheidungsspielraums des Lehrenden
beim kooperativen Lernen und eines Katalogs didaktischer Modelle relevante Parameter zur Beschreibung kooperativer Episoden ermittelt. Daraus wurde eine Modellierung kooperativer Episoden mit vier Gruppen von Parametern entwickelt und die
Mächtigkeit des Modells an Hand von drei Instantiierungen gezeigt. Außerdem wurde
5.6 Zusammenfassung
117
gezeigt, wie der Kontext des kooperativen Lernens im Laufe dieser Phasen durch
zusätzliche Parameter und Informationen stetig erweitert wird.
Für eine kooperative Episode, die in einem Kurskontext verankert ist, wurde der
Begriff des Point of Cooperation eingeführt. Je nach dem Grad der Verankerung
einer kooperativen Episode in einem Kurs bzw. Kurskontext wurde dann zwischen
Generic, Spontaneous und Intended Points of Cooperation differenziert. Mit Hilfe der
Points of Cooperation (PoC) ist es möglich, kooperative Kurse zu modellieren. Die
Einbettung einer kooperativen Episode in die Struktur eines Kurses (IPoC) erfordert
Möglichkeiten, den IPoC zu anderen Lernmaterialien sowie zu anderen IPoCs in
Relation zu setzen. Dazu wurden verschiedene Relationstypen identifiziert.
Der Ansatz der Einbettung von PoCs in Kurse erlaubt die zeitliche Entkopplung der
Qualifizierung für eine kooperative Episode und der tatsächlichen Durchführung.
Damit können in Abhängigkeit von den gerade im System angemeldeten Teilnehmern individuelle und kooperative Lernprozesse flexibel kombiniert werden.
Für eine kooperative Episode wurden die drei Phasen Vorbereitung, Durchführung
und Nachbereitung identifiziert. Für jede Phase wurde geklärt, welche Rolle (Kursautor, Tutor, Lernender) welche Aufgaben in der jeweiligen Phase hat. Aufbauend
auf der Modellierung wurde untersucht, wie diese Phasen des kooperativen Lernens
durch das System unterstützt werden können. Am Beispiel der Unterstützung für das
Zusammenstellen von Lerngruppen gemäß der Anforderungen der kooperativen
Episode, der Lernerprofile und der aktuellen Verfügbarkeit anderer Teilnehmer in der
Lernumgebung wurden die Möglichkeiten der kontextuellen Kooperation detailliert
aufgezeigt. Die verschiedenen Arten der Gruppenbildung, die Phasen im Gruppenbildungsprozess, das dazu benötigte Lernermodell und verschiedene Algorithmen
zur Gruppenbildung wurden vorgestellt. Ein Vergleich mit anderen Ansätzen zur
Zusammenstellung von Lerngruppen zeigt die Neuartigkeit des gewählten Ansatzes.
Kapitel 6
Realisierung
Dieses Kapitel beschreibt die exemplarische Umsetzung der in Kapitel 5 dargestellten Lösungskonzepte. Diese Umsetzung erfolgte überwiegend im Rahmen des
BMBF-Leitprojektes L³. Das Projekt L³ wird in Abschnitt 6.1 skizziert. Abschnitt 6.2
geht auf die verwendeten Programmiersprachen, Plattformen und Standards ein. Die
System-/Softwarearchitektur wird in Abschnitt 6.4 in zwei Ausprägungen vorgestellt.
Die Umsetzung der Definition kooperativer Kurse ist Gegenstand von Abschnitt 6.5.
Die Umsetzung der Durchführung wird in den Abschnitten 6.6 bis 6.8 dargestellt. Die
Darstellung geht für ausgewählte Werkzeuge jeweils auf die Implementierung und
das Design der Benutzungsschnittstellen in Entsprechung der im vorangegangenen
Kapitel dargestellten Konzepte ein.
6.1 Implementierung im Rahmen des Projektes L³
Das Projekt L³ - Lebenslanges Lernen wurde von vom 1.1.1999 – 31.12.2002 als
Verbund von 18 Teilvorhaben durchgeführt (Ehlers et al. 2003). Insgesamt waren 20
Partner unter der Konsortialführung der SAP AG an diesem vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt beteiligt. Das
Konsortium setzte sich aus öffentlichen und privatwirtschaftlichen Weiterbildungseinrichtungen, Inhalteanbietern und Technologieentwicklern sowie Forschungseinrichtungen und Universitäten zusammen.
Ziel des Projektes war die Entwicklung und Erprobung einer bundesweiten technischen und organisatorischen Service-Infrastruktur zur webbasierten beruflichen
Weiterbildung sowie die Entwicklung und Erprobung von dazugehörigen Geschäftsund Qualitätssicherungsmodellen.
Die Service-Infrastruktur besteht aus Service- und Lernzentren und ermöglicht auch
den Zugriff von Benutzern beispielsweise von zu Hause oder vom Arbeitsplatz. Aufgabe der Servicezentren ist u.a. die Bereitstellung von Weiterbildungsangeboten und
-kursen, die Koordination von Tutoren und die Bereitstellung der technischen Infra119
120
6. Realisierung
struktur zur Ankopplung der Lernzentren an das Servicezentrum. Die Lernzentren
dienen als Anlaufstellen für die Lernenden. Sie vermitteln den Zugang zu den Weiterbildungsangeboten und bieten die organisatorische und technische Infrastruktur zur
Nutzung des Weiterbildungsangebots sowie zur Beratung und Betreuung der Lernenden. Die Lernzentren sind mit dem Servicezentrum über Internet-Technologie verbunden.
Auf der Serviceinfrastruktur aufbauend bietet die L³-Lernplattform Unterstützung für
Kursautoren, Tutoren und die Lernenden. (Die ebenfalls gegebene Unterstützung der
Administratoren ist für die weiteren Betrachtungen nicht von Bedeutung und unterbleibt deshalb in dieser Arbeit.)
‚
Die Kursautoren erstellen mit Hilfe der L³-Lernplattform – auch unter Nutzung
vorhandener Inhalte und gängiger Werkzeuge zur Inhaltserzeugung – strukturierte Weiterbildungskurse. Dabei kann der Kursautor verschiedene Metadaten für Kursteile und einzelne Inhalte vergeben und inhaltliche, didaktische
und organisatorische Beziehungen zwischen ihnen definieren.
‚
Die Tutoren betreuen die Lernenden unter Nutzung der von der Lernplattform
angebotenen Kommunikationskanäle und Lernerfolgskontrollen. Die Betreuung kann lernzentrumsübergreifend erfolgen, so dass nicht jedes Lernzentrum
für jedes Weiterbildungsangebot einen qualifizierten Tutor vor Ort benötigt.
‚
Die Lernenden nutzen die L³-Lernplattform zum Bearbeiten der multimedialen
Lernmaterialien sowie zur Kommunikation und Kooperation mit Tutoren und
anderen Lernenden.
Im Rahmen dieses Projekts wurden die im vorangegangenen Kapitel entwickelten
Lösungskonzepte in eine Kooperationsplattform als Teil der L³-Lernplattform umgesetzt, um innerhalb der in L³ entwickelten und eingesetzten Kurse auch kooperatives
Lernen zu ermöglichen. Dabei stellt insbesondere die Unterstützung örtlich verteilter
Lerngruppen, also von Lerngruppen deren Mitglieder von unterschiedlichen Lernzentren oder sonstigen Standorten aus kooperieren, besondere Herausforderungen
an die Gestaltung der Kommunikations- und Kooperationswerkzeuge.
Weitere Herausforderungen bestanden in der großen Anzahl beteiligter Projektpartner und in der Zielsetzung, eine möglichst integrierte Infrastruktur zu schaffen.
Dies führte zu einem hohen Bedarf an Abstimmung unter den Partnern und zur Notwendigkeit der konzeptuellen sowie technischen Integration der Infrastrukturkomponenten und Werkzeuge.
Auf Basis der in Kapitel 5 vorgestellten Konzepte zur kontextuellen Kooperation
wurde eine Kooperationsplattform bestehend aus einem Kooperationsserver und
6.2 Programmiersprachen, Plattformen, Standards
121
insgesamt 14 Kooperationswerkzeugen entwickelt. Im Einzelnen handelt es sich um
zehn Werkzeuge zur spontanen oder geplanten Kooperation, zwei Werkzeuge zur
manuellen bzw. automatischen Gruppenbildung, ein Autorenwerkzeug zur Definition
kooperativer Aufgaben sowie ein Client-Werkzeug, das für den Benutzer den Zugang
zu allen Kooperationswerkzeugen realisierte. In dieser Arbeit liegt der Schwerpunkt
auf der Modellierung der kooperativen Aufgaben und ihres Kontextes sowie auf der
Nutzung dieser Informationen am Beispiel der Bildung von Lerngruppen. Daher (und
auch aus Platzgründen) werden in diesem Kapitel nur wenige, für die Zielsetzung
dieser Arbeit relevante Werkzeuge skizziert (siehe auch Anhang A.1 und A.2). Eine
ausführliche Darstellung findet man in Wessner und Holmer (2003) sowie Holmer
und Wessner (2003).
6.2 Programmiersprachen, Plattformen, Standards
Aufgrund der plattformübergreifenden Einsetzbarkeit und aus Gründen der leichteren
Integration der Kooperationsplattform mit den Komponenten anderer Projektpartner
wurde Java als Implementierungssprache für die Umsetzung der Konzepte gewählt.
Als Basis für die Entwicklung diente das Groupware Framework DyCE (Tietze 2001).
DyCE erleichtert als komponentenbasiertes Groupware Framework die Entwicklung
und Integration neuer Kooperationswerkzeuge, die zur Laufzeit ohne Unterbrechung
des Serverbetriebs in die Plattform aufgenommen werden können.
Als Datenformat zur Speicherung kooperativer Aufgaben wurde gegen Beginn der
Projektlaufzeit XML gewählt. Eine neue Version der Kooperationsplattform sollte die
sich erst während der Projektlaufzeit sich herausbildenden Standards bzw. Standardisierungsbemühungen z.B. der IEEE (IEEE LTSC 2004) berücksichtigen (vgl. auch
Abschnitt 7.6.1). Generell wurde bei der Realisierung besonderer Wert auf die Verwendung standardisierter Schnittstellen gelegt, um die Offenheit des Systems zu
gewährleisten.
6.3 System-/Softwarearchitektur
Die im Projekt realisierte webbasierte, kooperative Lernplattform setzt sich aus
folgenden Subsystemen zusammen:
‚
Das Lernmaterialrepository speichert das von Autoren erstellte Lernmaterial
und die Ergebnisse individueller oder kooperativer Lernprozesse.
‚
Das Content Management System (CMS) wird zur Verwaltung und Aufbereitung des Lernmaterials für die Benutzer benötigt. Das CMS kann das Lern-
122
6. Realisierung
material anhand des Lernerprofils (z.B. entsprechend der Medienpräferenzen
oder des Vorwissens) individuell aufbereiten.
‚
Als Lern-Client dient ein Webbrowser. Dieser hat die Aufgabe, das Lernmaterial am Rechner des Lerners darzustellen.
‚
Der Kooperations-Server stellt eine Menge von Kooperationsdiensten für alle
Benutzer zur Verfügung.
‚
Der Lerner nutzt die Kooperationsdienste über einen Kooperations-Client. Dieser Client startet alle weiteren Kooperationswerkzeuge, die zur Durchführung
einer Kooperation benötigt werden.
‚
Die Komponente Benutzerverwaltung verwaltet alle organisatorischen Informationen über Benutzer und Klassen 9. Die Benutzerdaten werden u.a. zur
Adaptierung des Lernmaterials an den einzelnen Lernenden (z.B. je nach
Medienpräferenzen und Vorwissen), zur Unterstützung von Abrechnungsprozessen (z.B. Menge der übertragenen Daten, Bankverbindung, Nutzungsdauer der Lernumgebung) und zur Unterstützung von Kooperation (z.B. Informationen über Hard- und Softwareausstattung der Lernstation, Bandbreite des
Netzzugangs, Präferenzen in Bezug auf Kooperationskanäle, E-Mail- und IPAdresse) benötigt. Zu den Klasseninformationen zählen u.a. Angaben zu den
Lernenden und Tutoren dieser Klasse.
‚
Weiterhin wurde im System als zusätzliches Kommunikationswerkzeug eine
Audio-/Videokonferenzlösung der TU Dresden integriert.
Die Repräsentation des Lernmaterials und die Kommunikation zwischen den verschiedenen Komponenten erfolgt unter Nutzung gängiger Internet-Standards:
9
‚
Die Beschreibungssprachen Hypertext Markup Language (HTML) und Extensible Markup Language (XML) werden zur Repräsentation des Lernmaterials
sowohl für individuelle als auch für kooperative Lernsituationen verwendet.
‚
Das Kommunikationsprotokoll Hypertext Transfer Protocol (HTTP) wird für die
Kommunikation zwischen dem CMS und dem Lernclient, zwischen dem CMS
und dem Lernmaterialrepository wie auch zwischen dem Kooperationsserver
und dem Kooperationsclient benutzt. (Zusätzlich kommunizieren Koopera-
Die Bezeichnung für eine Menge von Lernenden, die parallel ein Weiterbildungsangebot wahrnehmen, unterscheidet sich von Bildungseinrichtung zu Bildungseinrichtung, Beispiele sind Lehrgang, Klasse und Kurs. Für diese Arbeit wird die aus dem schulischen Bereich geläufige Bezeichnung Klasse benutzt.
6.3 System-/Softwarearchitektur
123
tionsserver und Kooperationsclient über andere Protokolle (siehe Tietze
(2001) für weitere Details).
‚
Das Kommunikationsprotokoll Lightweight Directory Access Protocol (LDAP)
wird benutzt, um Informationen über Klassen, Lerner und Tutoren von der Benutzerverwaltung abzurufen.
Die Repräsentation des Lernmaterials im Dokumentenrepository und im CMS benutzt den Learning Object Metadata (LOM) Standard (IEEE LTSC 2004) und den
Standardisierungsvorschlag Sharable Content Object Reference Model (SCORM;
ADL 2004). Während der Projektlaufzeit verfügbare Standards wie LOM noch andere
Standardisierungsbemühungen im Bereich des technologieunterstützten Lernens wie
SCORM oder AICC (Aviation Industry CBT Committee; AICC 2004) boten jedoch
keine Unterstützung für kooperatives Lernen.
Eine Umgebung für kooperatives Lernen kann – je nach den Anforderungen des
Einsatzszenarios – aus den oben vorgestellten Komponenten als kleine oder große
Lösung realisiert werden (vgl. Wessner et al. 2002).
Abbildung 6.1: Architektur der großen Lösung zur Unterstützung der kontextuellen Kooperation.
124
6. Realisierung
In der großen Lösung (siehe Abbildung 6.1) sind Kooperationsserver, ContentManagement-System, Benutzerverwaltung und Dokumentenrepository als separate
Komponenten realisiert, die optional auf verschiedene Servern verteilt betrieben
werden. Auf der Seite des Lernenden bietet ein Webbrowser den Zugang zum Lernmaterial, ein Kooperationsclient fungiert als Schnittstelle zu den Diensten des Kooperationsservers. Aufgrund der starken Interdependenz von Kooperationsserver und
Kooperationsclient benutzen diese Komponenten auch proprietäre Protokolle ohne
den modularen Aufbau dieser Architektur zu beeinträchtigen (vgl. Tietze 2001).
In Abhängigkeit von den Anforderungen des Einsatzszenarios kann diese Architektur
auch mit weniger Komponenten realisiert werden. In der kleinen Lösung (siehe
Abbildung 6.2) integriert ein einziger Server die Funktionalität der Benutzerverwaltung, des Content-Management-Systems und des Kooperationsservers. Auch in
der kleinen Lösung werden auf Seiten des Lerners ein Webbrowser als Schnittstelle
zum Lernmaterial sowie ein Kooperationsclient als Schnittstelle zu den Kooperationsdiensten benötigt.
Abbildung 6.2: Architektur der kleinen Lösung zur Unterstützung kontextueller Kooperation.
6.4 Umsetzung der Modellierung
In diesem Abschnitt wird die Umsetzung der Modellierung kooperativer Aufgaben als
Points of Cooperation (PoC) vorgestellt. Diese Modellierung wird im Folgenden für
die Erstellung und Durchführung kooperativer Kurse und Episoden benutzt.
Das Klassendiagramm in Abbildung 6.3 gibt einen Überblick über die Umsetzung der
Modellierung. Die Klasse IPoCDescription beinhaltet die vom Lernmaterial-Repository eingelesene Beschreibung der kooperativen Aufgabe. Mittels der Klasse IPoCFactory wird daraus ein IPoCModel erzeugt. Für jeden Typ kooperativer Aufgaben
6.4 Umsetzung der Modellierung
125
existiert eine spezielle von IPoCModel abgeleitete Klasse. Abbildung 6.3 zeigt exemplarisch das BrainstormingModel, das ProConModel sowie das AsynchDiscModel für
kooperative Aufgaben vom Typ Brainstorming, ProContra-Gespräch bzw. asynchrone Diskussion.
IPoCDescription
-instructionURL : String
-materialURL : String
-version : Integer
-topic : String
-name : String
-minParticipants : Integer
-maxParticipants : Integer
-minTime : Integer
-maxTime : Integer
-groupFormation : GroupFormation
-withTutor : Boolean
«interface»
User
+getName() : String
+setName() : String
+getEmail() : String
+setEmail(in email : String)
IPoCFactory
+parseIPoCDescription(in url : String) : IPoCDescription
+createIPoCModel(in ipoc : IPoCDescription) : IPoCModel
ActivePoC
-[tutor] : Tutor
-ipocModel : IPoCModel
+getResultURL() : String
+addLearner(in learner : Learner)
+getLearners() : Learner[]
Tutor
Learner
+getCourseIDs() : String[]
+getClassIDs() : String[]
+getMyPoCs() : MyPoC[]
IPoCModel
MyPoC
+getID() : String
+getName() : String
+getTopic() : String
+getGroupFormation() : GroupFormation
PoCState
+NEW
+ACTIVE
+COMPLETED
-courseID : String
-classID : String
-resultURL : String
-state : PoCState
-collectionTime : Date
+getLearner() : Learner
+getActivePoC() : ActivePoC
+getIPoCModel() : IPoCModel
Course
BrainstormingModel
ProContraModel
-id : String
-title : String
AsynchDiscModel
...
Class
-id : String
+getTitle() : String
+getTutors() : Tutor[]
+addTutor(in tutor : Tutor)
+getLearners() : Learner[]
+addLearner(in learner : Learner)
Abbildung 6.3: Klassendiagramm Points of Cooperation.
126
6. Realisierung
Erreicht der Lerner bei der Kursbearbeitung eine kooperative Aufgabe, so wird ein
MyPoC für ihn erzeugt (zum Prozess der Durchführung siehe Abschnitt 6.6). Dieser
enthält das IPoCModel sowie weitere Kontextinformationen wie den Zeitpunkt des
Erreichens, den Kurs und die Klasse, innerhalb deren die Aufgabe erreicht wurde,
den aktuellen Bearbeitungsstatus der Aufgabe, eine URL zur Rückmeldung von
Statusänderungen an das Lernmanagementsystem (siehe die Klasse PoCState)
sowie weitere Informationen. Die Klasse Course repräsentiert einen webbasierten
Kurs, die Klasse Class eine Klasse (im Sinne einer Schulklasse), also eine Kombination von Lernenden und Tutoren für einen Kurs. Startet der Lerner die Bearbeitung
der kooperativen Aufgabe, so wird ein ActivePoC erzeugt, der wiederum zusätzliche
Kontextinformationen enthält. So ist einem ActivePoC u.a. eine Menge von Lernenden und je nach Aufgabe evtl. ein Tutor bzw. eine Menge von Tutoren zugeordnet.
6.5 Erstellen kooperativer Kurse
Zur Erstellung kooperativer Kurse wurde vom Projektpartner SAP AG eine Autorenumgebung entwickelt, die die Erstellung modularisierter Kurse erlaubt (Gerteis &
Altenhofen 2003). Zur Definition kooperativer Episoden wurde auf der Basis der vom
Autor dieser Arbeit erstellten Modellierung ein IPoC-Editor entwickelt und in das L³Autorenwerkzeug integriert (siehe Abbildung 6.4).
Abbildung: 6.4: Definition und Integration kooperativer Episoden in L³-Kurse (links: L³Autorenwerkzeug; rechts: Editor zur Definition einer kooperativen Episode).
6.6 Durchführen kooperativer Kurse und Bilden von Lerngruppen
127
Es folgt eine Darstellung der Prozessschritte zur Einbettung einer kooperativen Episode in einen Kurs:
Der Kursautor fügt ein neues Modul in den Kurs ein, bestimmt es als kooperative
Episode und legt den Typ der Kooperation fest. Der IPoC-Editor legt die Parameter
der kooperativen Episode - soweit aus dem Kontext ableitbar – automatisch fest und
lässt den Kursautor die fehlenden, für diesen Kooperationstyp benötigten Parameter
in ein Formular eingeben. Daraus erstellt das System eine Beschreibung der kooperativen Episode in Form einer XML-Datei und legt sie im Lernmaterialrepository ab.
Schließlich verknüpft das System die Beschreibung der kooperativen Episode mit
dem Kurs über die Angabe der URL.
Abbildung 6.5 zeigt schematisch den Prozess der Definition einer kooperativen Episode und der Integration in einen Kurs.
Autor: PoC erstellen
IPoC-Editor
XML-Datei
Verknüpfung mit Lehrmaterial (URL)
Abbildung 6.5: Prozess der Definition einer kooperativen Aufgabe und der Integration in einen Kurs.
6.6 Durchführen kooperativer Kurse und Bilden von Lerngruppen
Der Lernende benutzt einen Webbrowser zur Anmelden in der L³-Lernplattform, zur
Auswahl des gewünschten Kurses und zur Bearbeitung des Kursmaterials. Zur
Kommunikation und Kooperation mit anderen Lernenden oder Tutoren benutzt er –
ebenso wie die Tutoren – den Kooperationsclient, den so genannten L³ Communicator (siehe Abbildung 6.6). Der L³ Communicator zeigt an, welche Lerner und
Tutoren gerade online sind, und stellt Werkzeuge zur generischen und spontanen
Kooperation wie E-Mail, Chat, Audio-/Videokonferenz und Shared Whiteboard bereit.
Zusätzlich dient der L³ Communicator zur Verwaltung der kooperativen Episoden
eines Lernenden. Abbildung 6.7 zeigt den so genannten PoC-Pool, in dem alle aktuellen kooperativen Episoden für einen Lerner dargestellt werden. Zu sehen sind drei
abgeschlossene, ein laufender und zwei noch nicht gestartete kooperative Episode.
128
6. Realisierung
Abbildung 6.6: Screenshot des L³ Communicator. Dargestellt sind Kommunikationswerkzeuge und
Teilnehmerliste.
Abbildung 6.7: Screenshot des L³ Communicator mit der Verwaltung der kooperativen Episoden.
6.6 Durchführen kooperativer Kurse und Bilden von Lerngruppen
129
Für jeden Eintrag können über ein Popupmenü unter dem Menüpunkt „Info“ Kontextinformationen zur Episode, zur Lerngruppe sowie zum Lernergebnis abgerufen werden (siehe Abbildung 6.8).
Abbildung 6.8: Abruf der Kontextinformationen zu einer kooperativen Episode.
Die schematische Darstellung in Abbildung 6.9 zeigt den Prozess des „Einsammelns“
einer kooperativen Episode bei der Bearbeitung eines Kurses. Erreicht der Lernende
im Kurs die Stelle, an der eine kooperative Episode vorgesehen ist, veranlasst der
Webbrowser (Lernerclient) den im Kooperationsserver enthaltenen Webserver dazu,
die XML-Beschreibung der kooperativen Episode einzulesen (IPoCFactory.parseIPoCDescription(url)).
Der dafür benutzte Aufruf des Kooperationsservers hat die Form:
http://<collaboration server>/poc-notify? class=<class-id>&
course=<course-id>& desc=<poc-url>& user=<name>&
poc=<poc-label>& statusurl=<status-url>
130
6. Realisierung
Hierbei ist <collaboration server> die URL des Kooperationsservers, <class-id> eine
eindeutige Bezeichnung der Klasse, <course-id> eine eindeutige Bezeichnung des
Kurses, <poc url> die URL der Beschreibung der kooperativen Episode, <name> ein
eindeutiger Benutzername, <poc-label> eine Bezeichnung der kooperativen Episode
und <status-url> die URL, an das der Kooperationsserver bei Veränderung des
Status der kooperativen Episode das LMS notifiziert. Der Aufruf liefert an den Webbrowser eine Beschreibung der kooperativen Episode.
Die IPoCFactory liefert ein IPoCModel. Damit wird ein MyPoC mit den Informationen
zum Kontext des Einsammelns der Episode erzeugt und diese Episode im PoC-Pool
des Lerners abgelegt.
Lerner/Tutor: PoC einsammeln
Webserver
Web-Browser
IPoCFactory.parseIPoCDescription(url)
IPoCFactory.createIPoCModel()
createMyPoC()
Learner.addPoC()
Abbildung 6.9: Prozess des „Einsammelns“ einer kooperativen Episode.
Nachdem ein Lernender die kooperative Episode erreicht („eingesammelt“) hat, kann
er über den Menüpunkt „Start“ die Gruppenbildungskomponente starten, um eine
Gruppe für die Durchführung der Episode zusammenstellen zu lassen. Mit Hilfe des
Menüpunktes „Löschen“ kann eine kooperative Episode aus dem PoC-Pool entfernt
werden. Der Menüpunkt „Zurücksetzen“ löscht eventuell vorhandene Kooperationsergebnisse und sonstige Durchführungsinformationen und setzt den Status der
kooperativen Episode auf „Neu“.
Abbildung 6.10 zeigt die Komponente zur automatischen Bildung von Lerngruppen.
Das System schlägt eine Lerngruppe bestehend aus zwei Lernenden („wessner,
holmer“) für die kooperative Episode vor. Der Initiator kann nun mit der Durchführung
6.6 Durchführen kooperativer Kurse und Bilden von Lerngruppen
131
der Episode beginnen oder sich andere Kooperationspartner vorschlagen lassen.
Aus dem Screenshot nicht ersichtlich ist der dazu ablaufende Gruppenbildungsalgorithmus gemäß der vorgesehenen Gruppenbildungsstrategie.
Abbildung 6.10: Screenshot der Komponente zur automatischen Lerngruppenbildung
Das Klassendiagramm in Abbildung 6.11 zeigt die wichtigsten an der Zusammenstellung von Lerngruppen beteiligten Klassen. Wird die Bildung einer Lerngruppe für eine
kooperative Episode angestoßen, d.h. die Gruppenbildungskomponente für einen
IPoC gestartet, wird ausgehend von den Kontextinformationen im ActivePoC, IPoCModel und MyPoC sowie den Informationen über die anderen Lerner und Tutoren im
System versucht, gemäß der im IPoCModel enthaltenen Gruppenbildungsstrategie
eine geeignete Gruppe zu bilden. Weitere Informationen zur manuellen Gruppenbildung sowie den realisierten Gruppenbildungsstrategien sind in Anhang A.2 zu finden.
132
6. Realisierung
GroupBuilderComponent
+groupFormation(in poc : ActivePoC) : Group
+startCooperation(in group : Group)
ActivePoC
-[tutor] : Tutor
-ipocModel : IPoCModel
+getResultURL() : String
+addLearner(in learner : Learner)
+getLearners() : Learner[]
MyPoC
IPoCModel
+getID() : String
+getName() : String
+getTopic() : String
+getGroupFormation() : GroupFormation
«interface»
GroupFormation
+formation() : Group
ShortestWaitingTimeFormation
DefaultFormation
-courseID : String
-classID : String
-resultURL : String
-state : PoCState
-collectionTime : Date
+getLearner() : Learner
+getActivePoC() : ActivePoC
+getIPoCModel() : IPoCModel
Group
-[tutor] : Tutor
-learners : Learner[]
HistoryFormation
Abbildung 6.11: Klassendiagramm zur Gruppenbildung
6.7 Durchführen kooperativer Episoden
Nachdem eine geeignete Gruppe gebildet wurde, kann die kooperative Episode
durchgeführt werden. Dazu startet die Kooperationsplattform im Falle synchroner
Kooperation bei allen Gruppenmitgliedern das zu dieser Episode gehörige Kooperationswerkzeug. Sobald die Gruppe die Bearbeitung der Episode abgeschlossen hat,
wird das Ergebnis der kooperativen Episode im Lernmaterialrepository abgelegt und
mit dem IPoC über seine URL verknüpft. Weiterhin wird die abgeschlossene Bearbeitung dem Lernmanagementsystem kommuniziert, damit das Lernerprofil für die
beteiligten Lernenden aktualisiert werden kann. Der Status des IPoC wird auf
„Beendet“ gesetzt. Wird die Episodenbearbeitung dagegen abgebrochen, wird der
Status auf „Neu“ zurückgesetzt und kein Ergebnis abgelegt. Zur Beschreibung der
6.7 Durchführen kooperativer Episoden
133
Durchführung einer kooperativen Episode innerhalb eines Kooperationswerkzeugs
siehe Anhang A.1.
In L³ wurden folgende Werkzeuge zur Durchführung kooperativer Episoden konzipiert, implementiert und in die Kooperationsplattform integriert (vgl. Holmer &
Wessner 2003 sowie das Klassendiagramm der Datenmodelle in Abbildung 6.12; die
Namen der zugehörigen Datenmodelle stehen jeweils in Klammern hinter den Werkzeug-Namen):
‚
Pro-/Kontra (ProContraDispute) zur Durchführung von Pro-Kontra-Gesprächen
‚
Brainstorming (Brainstorming) zur kooperativen Sammlung und Strukturierung
von Ideen
‚
Antwort an Tutor (AnswerToTutor) zur asynchronen Bearbeitung von Aufgaben, Kommunikation mit dem Tutor und Bewertung der Aufgabenlösung
durch den Tutor
‚
Chat bzw. ThreadChat (AsynchDiscussion bzw. SynchDiscussion) zur Durchführung von asynchronen und synchronen Diskussionen
‚
Erklärungsdiskurs (ExplanationChat) zur Durchführung virtueller Sprechstunden
‚
Kooperative Texterarbeitung (CoText; nicht im Klassendiagramm dargestellt)
zum abschnittsweisen Bearbeiten/Zusammenfassen vorgegebener Texte
IPoCDescription
-instructionURL : String
-materialURL : String
-version : Integer
-topic : String
-name : String
-minParticipants : Integer
-maxParticipants : Integer
-minTime : Integer
-maxTime : Integer
-groupFormation : GroupFormation
-withTutor : Boolean
ProContraDispute
Brainstorming
-positionPro : String
-proMaterialURL : String
-positionContra : String
-contraMaterialURL : String
-seedwords : String[]
AnswerToTutor
-feedbackText : String
-ccAddress : String
-isAnswer : Boolean
AsynchDiscussion
ExplanationChat
-timeLimit : Date
-goalURL : String
Abbildung 6.12: Klassendiagramm der Datenmodelle für geplante Kooperation
SynchDiscussion
134
6. Realisierung
Als ein Beispiel dieser Werkzeuge wird das Pro/Kontra-Werkzeug in Anhang A.1 beschrieben.
Diese Werkzeuge sind teilweise nicht auf die Unterstützung einer einzigen Kooperationsform beschränkt, sondern können zur Realisierung verschiedener Kooperationsformen eingesetzt werden. Auch kann eine Kooperationsform durch unterschiedliche Werkzeuge unterstützt werden. Tabelle 6.1 zeigt die Einsetzbarkeit der Werkzeuge für die in Abschnitt 5.2.1 identifizierten relevanten didaktischen Modelle.
Didaktisches DispuModell tation
Fallmethode
Werkzeug
Pro-/Contra
Brainstorming
Antwort an
Tutor
Chat/Thread
Chat
Erklärungsdiskurs
Kooperative
Texterarbeitung
KleingruppenLerngespräch
Lerndialog
Lernnetzwerk
Simulation
+
-
(+)
-
+
-
(+)
-
+
-
(+)
-
+
-
+
+
+
(+)
+
(+)
+
+
(+)
-
-
+
-
-
-
-
Tabelle 6.1: Eignung der Kooperationswerkzeuge für relevante didaktische Modelle
Aus der Tabelle geht auch hervor, dass das Werkzeug Antwort an Tutor keines der
aufgeführten didaktischen Modelle unterstützt. Der Göttinger Katalog didaktischer
Modelle ist auf synchrone Präsenzlernszenarien ausgerichtet, in denen die Funktionalität Antwort an Tutor ein (kleiner) Teil verschiedener Modelle ist.
6.8 Generische und spontane Kooperation
Für die generische und spontane Kooperation wurden die Werkzeuge Chat, ThreadChat, L³-Mail, L³-News und ein Shared Whiteboard (Multimedia-Notebook) entwickelt
sowie eine Audio-Videokonferenzlösung eines Projektpartners in die Plattform integriert. Die Datenmodelle für die generische und spontane Kooperation wurden analog
zu den Datenmodellen für die geplante Kooperation umgesetzt. Eine generische
bzw. spontane Kooperation kann auf zwei Arten in L³ initiiert werden:
6.8 Generische und spontane Kooperation
135
‚
Der L³ Communicator bietet den Zugriff auf die oben genannten Werkzeuge.
Der Benutzer wählt aus der Anzeige der L³-Teilnehmer (siehe Abbildung 6.6
rechts) einen oder mehrere zu kontaktierende Benutzer aus und aktiviert dann
das gewünschte Kooperationswerkzeug. Die Anzeige der L³-Teilnehmer kann
auf verschiedene Arten gefiltert werden. So kann sich der Benutzer nur Tutoren, nur Online-Teilnehmer, nur Teilnehmer aus von diesem Benutzer gebuchten Kursen sowie nur Teilnehmer, deren Benutzername eine bestimmte Zeichenfolge enthält, anzeigen lassen. Damit ist auch eine kontextabhängige
Auswahl (z.B. spontane Kooperation mit einem zugehörigen Tutor oder
anderen Lernenden im gleichen Kurs) durch Filterung der Teilnehmerliste
möglich. Wird ein Werkzeug zur synchronen Kooperation ausgewählt wird
dieses – nach Bestätigung – bei allen Kooperationspartnern geöffnet. Für die
asynchronen Werkzeuge L³-Mail und L³-News wird nur bei dem initiierenden
Benutzer das entsprechende Werkzeug zum Verfassen der Nachricht bzw.
des Forumeintrags geöffnet.
‚
Eine zweite Möglichkeit zur Initiierung einer spontanen Kooperation besteht
via Webbrowser. In der L³-Lernplattform wurden die Schaltflächen „Kontaktiere Tutor“ und „Kontaktiere Mitlerner“ implementiert. Damit wird ein zum aktuellen Kurs zugehöriger Tutor bzw. Mitlerner kontaktiert. Ist mindestens ein Tutor
bzw. Mitlerner online, wird eine synchrone Kooperation gestartet, ansonsten
öffnet sich das L³-Mail-Werkzeug, mit dem eine Nachricht an einen zugehörigen Tutor oder Mitlerner gesendet werden kann.
Im folgenden Kapitel 7 werden die mit dem Einsatz der Kooperationsplattform
(sowohl mit der großen als auch mit der kleinen Lösung – siehe Abschnitt 6.3)
gesammelten Erfahrungen berichtet sowie Gestaltungsempfehlungen für virtuelle
Lernumgebungen zur Unterstützung kontextueller Kooperation abgeleitet.
Kapitel 7
Erfahrungen und Gestaltungsempfehlungen
In diesem Kapitel wird von den Erfahrungen berichtet, die mit den Lösungskonzepten
und der exemplarischen Umsetzung der Lösungskonzepte in eine virtuelle Lernumgebung sowie bei deren Erprobung gesammelt wurden. Daraus werden weitere
Gestaltungsempfehlungen für die kontextuelle Kooperation in virtuellen Lernumgebungen abgeleitet. Die exemplarische Umsetzung der Lösungskonzepte und Erprobung der virtuellen Lernumgebung erfolgte im Rahmen des Projektes „L³: Lebenslanges Lernen - Weiterbildung als Grundbedürfnis“ (L³).
Zunächst werden prinzipielle Schwierigkeiten der Evaluation kooperativen Lernens in
virtuellen Lernumgebungen erörtert (7.1). Danach werden Erfahrungen mit der Umsetzung der Lösungskonzepte und der Erprobung im Rahmen des Projektes L³ berichtet (7.2). Eine Beurteilung der Lösungskonzepte und der Umsetzung erfolgte
weiterhin im Rahmen eines internationalen Expertenworkshops (7.3). Dies wird ergänzt durch Erfahrungen mit einer für interne Tests entwickelten, weniger komplexen, Version des Systems (7.4). Im Anschluss daran werden weitere Studien skizziert, in denen Teilaspekte des Lösungskonzeptes empirisch untersucht wurden
(7.5). Schließlich werden aus den gesammelten Erfahrungen Empfehlungen für die
funktionale Gestaltung der kontextuellen Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
abgeleitet (7.6).
Die Erfahrungen mit der Umsetzung und Erprobung der in dieser Arbeit entwickelten
Konzepte werden unter zweifacher Zielsetzung betrachtet: Zum einen gilt es zu überprüfen, inwieweit die vorgestellten Konzepte und das realisierte System in seiner
konkreten technischen Umsetzung die gestellten Anforderungen erfüllt und von Vertretern der verschiedenen Nutzergruppen akzeptiert werden. Zum anderen zielt die
Betrachtung auf die Entwicklung von allgemeinen, über diese konkrete Realisierung
hinausgehenden Gestaltungsempfehlungen für die Realisierung kontextueller Kooperation in virtuellen Lernumgebungen.
137
138
7. Erfahrungen und Gestaltungsempfehlungen
7.1 Zur Evaluation kooperativer Lernumgebungen
Die Evaluation einer kooperativen Lernumgebung ist mit zahlreichen Problemen verbunden. Vielfach handelt es sich hierbei um Probleme, die aus der CSCW-Forschung bekannt sind (siehe z.B. Grudin 1994):
‚
Betrachtet man den Kooperationsprozess und das Kooperationsergebnis aus
Sicht eines Einzelnen, so sind sowohl der Prozess als auch das Ergebnis der
Kooperation von Variablen abhängig, die von anderen Benutzern mitbestimmt
werden.
‚
Die Evaluation von Groupware sollte über Wochen oder besser Monate hinweg
erfolgen, da sich das zu beobachtende Verhalten (insbesondere bei asynchroner
Kooperation) meist über einen längeren Zeitraum erstreckt.
‚
Für Groupware geeignete Evaluationsmethoden sind komplexer als Evaluationsmethoden für Einzelbenutzersysteme, da viele sich gegenseitig beeinflussende
Faktoren beobachtet werden müssen.
‚
Aufgrund der hohen Komplexität und Situiertheit authentischer Untersuchungsszenarien lassen sich gesammelte Erfahrungen nicht ohne weiteres auf andere
Kontexte, Systeme und Nutzer übertragen oder verallgemeinern.
Zu diesen Problemen der Evaluation von Groupware gesellen sich noch spezifische
Probleme des computerunterstützten kooperativen Lernens (Pfister & Wessner 2000;
siehe auch Holst 2000):
‚
Effekte des kooperativen Lernens lassen sich häufig nur indirekt und erst nach
einer längeren, vorher nicht bekannten Zeitspanne beobachten.
‚
Die Evaluation kooperativen Lernens ist schwieriger als die Evaluation individuellen Lernens. Während beim individuellen Lernen Effekte meist durch Prä- und
Posttests untersucht werden, steht beim kooperativen Lernen der komplexe
kooperative Lernprozess im Zentrum der Untersuchungen. Um diesen Prozess zu
erfassen, sind technische, psychologische, pädagogisch-didaktische und organisatorisch-kulturelle Variablen zu kontrollieren.
‚
Kooperatives Lernen hat primäre Effekte, z.B. den Aufbau themenbezogener
Kompetenzen, und sekundäre Effekte, z.B. den Aufbau methoden- oder medienbezogener Kompetenzen. Primäre und sekundäre Effekte treten nicht isoliert,
sondern miteinander vermischt auf.
Es gibt eine Vielzahl von Methoden, die für die Evaluation des computerunterstützten
kooperativen Lernens geeignet sind (Pfister 2004). Die Auswahl der Evaluations-
7.1 Zur Evaluation kooperativer Lernumgebungen
139
methode muss in Abhängigkeit der zu treffenden Entscheidung, d.h. in Abhängigkeit
von Gegenstand und Ziel der Evaluation erfolgen (Holst 2000, Pfister & Wessner
2000).
Im Hinblick auf das Ziel der Evaluation wird zwischen formativer und summativer
Evaluation unterschieden (vgl. z.B. Gage & Berliner 1996, 601f.). Bei der formativen
Evaluation steht als Ziel die Gestaltung z.B. von Systemen im Mittelpunkt. Fragestellungen, unter denen der Evaluationsgegenstand untersucht wird, lauten beispielsweise: „Muss der Gegenstand verändert werden? Wie kann der Gegenstand noch
verbessert werden?“ Bei der summativen Evaluation geht es um die Entscheidung
über den Einsatz z.B. eines Systems. Dazu wird der Evaluationsgegenstand meist
mit alternativen Lösungen verglichen.
Für die Evaluation können sowohl Methoden der qualitativen Forschung als auch
Methoden der quantitativen Forschung angewandt werden (Gage & Berliner 1996, S.
11). Bei der qualitativen Forschung geht es um das Beschreiben und Interpretieren
von Ereignissen, bei der quantitativen Forschung um das Messen von Ereignismerkmalen (vgl. Gage & Berliner 1996, S. 22f., Lamnek 1995). In Bezug auf die
wissenschaftliche Orientierung werden qualitative Verfahren eher als Instrument der
Theoriebildung verstanden und stehen der formativen Evaluation nahe. Dagegen
zielen quantitative Verfahren eher auf die Überprüfung von Hypothesen oder Theorien und werden häufig für die summative Evaluation eingesetzt.
Unabhängig vom Evaluationsziel legen bestimmte Fragestellungen quantitative
Methoden nahe bzw. können nur mit quantitativen Methoden beantwortet werden
(beispielsweise die durchschnittliche Bearbeitungszeit eines Lernmoduls), andere
Fragestellungen eignen sich vor allem oder ausschließlich für den Einsatz qualitativer
Verfahren. Qualitative Verfahren sind besonders für die Untersuchung komplexer
sozialer Sachverhalte, zu welchen CSCL gerechnet werden muss, geeignet.
Das im letzten Kapitel vorgestellte System zur Unterstützung der kontextuellen
Kooperation in virtuellen Lernumgebungen baut zwar auf bekannten Methoden auf,
jedoch konnte die Funktionalität nicht erschöpfend vor der Umsetzung spezifiziert
werden. Vielmehr ändern sich im Zuge der Entwicklung und des Einsatzes des
Systems im Anwendungskontext häufig auch Anforderungen an das System. Dies ist
darin begründet, dass bei den beteiligten Kursautoren, Tutoren und Lernenden mehrere Veränderungsprozesse parallel abliefen. Viele der Beteiligten befassten sich im
Rahmen des L³-Projektes zum ersten Mal mit technologieunterstütztem Lernen, mit
kooperativem Lernen bzw. mit örtlich verteiltem Lernen. Derartige Systeme mit multiplen Veränderungsprozessen erfordern eine evolutionäre und kooperative Systementwicklung (Dahme & Hesse 1997). Die Evaluation eines solchen Systems muss
damit zumindest in den ersten Entwicklungszyklen formativ orientiert sein. Aufgrund
140
7. Erfahrungen und Gestaltungsempfehlungen
der meist geringen Fallzahlen in diesen ersten Entwicklungszyklen bietet sich dafür
ein qualitatives Vorgehen an. Quantitative und summative Evaluation sind dann aussichtsreich, wenn der Entwicklungszyklus bereits mehrfach durchlaufen wurde. Aufgrund der hohen Entwicklungsdynamik stellt Gaiser für den Bereich des telematischen Lernens generell die Anwendbarkeit quantitativer Methoden in Frage, für sie
„ist der Bereich für einen quantitativen Ansatz theoretisch nicht hinreichend erschlossen“ (Gaiser 2002, S. 102).
In der Forschung setzt sich zunehmend ein Neben- bzw. Miteinander der verschiedenen Vorgehensweisen durch (Gage & Berliner 1996, S. 23, Kleining 1995). Es
lässt sich mit Kromrey (1995) feststellen, dass Evaluation „für ein ganzes Bündel von
Ansätzen, Methoden und Instrumenten [steht], aus denen je nach spezifischer Aufgabenstellung ein geeignetes Design ‚maßzuschneidern’ ist“ (Kromrey 1995, S. 315).
Speziell innerhalb des Forschungsgebietes CSCL bilden sich in den letzten Jahren
pragmatische, mehrdimensionale Ansätze heraus (vgl. z.B. Holst & Holmer 2002,
Neale & Caroll 1999).
7.2 Einsatz im Projekt L³
Das entwickelte System ist zentraler Bestandteil der im vorherigen Kapitel vorgestellten L³-Lernumgebung. Im L³-Projekt waren alle wesentlichen Interessensgruppen
des E-Learning repräsentiert, es waren Kursautoren und Inhalteanbieter, Weiterbildungsanbieter und -berater, Technologieanbieter sowie Forschungseinrichtungen
aus den Bereichen Didaktik und Technik vertreten. Durch diese Konstellation ergaben sich eine Reihe von Schnittstellen und Berührungspunkten der kooperativen
Lernumgebung mit den Komponenten anderer Projektpartner und den Geschäftsprozessen der verschiedenen Interessensgruppen. Im Folgenden werden die Erfahrungen mit der Einführung des Konzeptes und des Systems bei verschiedenen Zielgruppen, nämlich den Kursautoren sowie den Lernenden und den Tutoren dargestellt.
7.2.1 Workshops mit Kursautoren
Kursautoren wurden zu verschiedenen Zeitpunkten in den Prozess der Konzept- und
Systementwicklung einbezogen. Dies erfolgte zum einen durch mehrere Workshops,
zum anderen fortlaufend durch den Austausch und die Diskussion des aktuellen
Standes der Entwicklung. Die Workshops dienten zu Projektbeginn der Erhebung
von (initialen) Anforderungen, später der Vorstellung und Diskussion der Lösungskonzepte, danach der Vorstellung und Diskussion der Implementierung sowie dem
Training der Kursautoren.
7.2 Einsatz im Projekt L³
141
Die leitenden Fragen der Workshops lauteten: Wie können die Kursautoren kooperative Lernmethoden in ihren Kursen einsetzen? Welche kooperativen Lernmethoden
sind in welcher Situation geeignet? Wie können bestimmte kooperative Lernmethoden im System realisiert werden?
Die Workshops fanden als halb- bzw. ganztägige Veranstaltungen mit jeweils ca. 10
– 15 Teilnehmern statt. Als Erhebungsmethoden wurden das Mitprotokollieren der
Diskussion durch einen Beobachter sowie punktuelle weiterführende Interviews am
Rande der Workshops durch den Autor dieser Arbeit eingesetzt.
Es wurde schnell deutlich, dass die Kursautoren in ihrer bisherigen beruflichen Praxis
weder einen Anlass noch die Möglichkeiten hatten, kooperative Lernmethoden in
ihren (auf individuelles Lernen ausgerichteten) Kursen einzusetzen. Die Beschäftigung der Kursautoren mit kooperativen Lernmethoden brauchte daher eine gewisse
Anlaufzeit, so dass die Kursautoren entsprechende didaktische Konzeptionen für ihre
Wissensgebiete und Kurse erarbeiten konnten. Ähnliche Erfahrungen wurden beispielsweise auch im CASTLE-Projekt gesammelt (vgl. Böhmann et al. 1999). Dabei
wurde von den Kursautoren eine einfach handhabbare Entscheidungsunterstützung
zur Eignung bestimmter kooperativer Lernmethoden für bestimmte Szenarien vermisst.
Es zeigte sich, dass die Kursautoren je nach ihrer inhaltlichen Domäne teilweise sehr
unterschiedliche kooperative Lernmethoden einsetzen wollten. Beispielsweise bestand Interesse an der Integration von Application Sharing für Kurse zum SoftwareTraining, während diese Funktionalität für andere Kursinhalte nicht gefordert wurde.
Andererseits kristallisierte sich eine Menge von kooperativen Lernmethoden heraus,
die von allen Kursautoren als sinnvoll und wünschenswert erachtet wurde.
Um die Kooperationsfunktionalitäten der Plattform in verschiedenen Domänen und
Institutionen mit der jeweils passenden Bezeichnung (z.B. „Kontaktiere Tutor“, „Kontaktiere Betreuer“, „Kontaktiere Lehrkraft“) verwenden zu können, forderten die Kursautoren die Möglichkeit, die Bezeichnungen von und in Kooperationswerkzeugen anpassen zu können. Allgemein zeigte sich in der Analyse der Kurse, dass die Kursautoren die vorgesehenen Typen kooperativer Aufgaben sehr frei und kreativ für
ihren jeweiligen Lerngegenstand nutzten. So wurde beispielsweise die Aufgabenform
„kooperative Texterarbeitung“ zur Bildbeschreibung in technischen Kursen und zur
Übersetzung in Fremdsprachenkursen eingesetzt.
Das Werkzeug zur Definition kooperativer Aufgaben sowie zur Einbettung kooperativer Aufgaben in einen Kurs erfuhr eine hohe Akzeptanz durch die Kursautoren.
Damit die Autoren bereits während der Kurserstellung einen Eindruck der Darstellung
kooperativer Aufgaben aus Sicht des Lernenden oder Tutoren erhalten konnten,
142
7. Erfahrungen und Gestaltungsempfehlungen
wurde die Erweiterung des Systems um eine Funktion zur Simulation kooperativer
Aufgabendurchführung bzw. zur Vorschau auf die Darstellung einer kooperativen
Aufgabe (aus der Perspektive eines Lernenden) angeregt.
Aufgrund der benötigten Anlaufzeit wurden von den Kursautoren nur wenige kooperative Aufgaben direkt in die Kurse eingebaut. Für Evaluationszwecke wurde ein
Demonstrationskurs mit zahlreichen kooperativen Aufgaben erstellt und eingesetzt.
Insgesamt zeigte sich, dass Kursautoren nicht a priori für die Erstellung kooperativer
Kurse qualifiziert sind und entsprechende Qualifizierungsangebote bereitgestellt werden müssen. Die zum Teil sehr verschiedenen Anforderungen hinsichtlich der
Kooperationsmethoden führten zu einer modularen und erweiterbaren Gestaltung
des Systems.
Die Realisierung der kontextuellen Kooperation, also das Bereitstellen von Informationen zur Aufgabe und zum Ziel der Kooperation sowie die Strukturierung der
Kooperation durch kooperative Lernmethoden und die damit verbundene Unterstützung durch das System wurden als sehr hilfreich für die Lernenden erachtet. Die
modulare und erweiterbare Gestaltung des Systems erlaubt das Hinzufügen weiterer
Kooperationsmethoden, ohne dass bestehende Kurse verändert werden müssen.
Dies wurde von den Kursautoren sehr positiv bewertet.
7.2.2 Erfahrungen im Rahmen der Erprobung in L³-Lernzentren
Die Kooperationsplattform wurde als Teil der L³-Lernumgebung im L³-Servicezentrum
und in acht L³-Lernzentren sowie drei weiteren Test-Lernzentren installiert. Im Folgenden werden die Erfahrungen der Lernenden und Tutoren mit der Kooperationsplattform überblicksartig dargestellt. Dabei steht die Nutzung und Akzeptanz der
Kooperationsplattform durch die Lernenden und Tutoren in den Lernzentren im
Mittelpunkt der Betrachtungen.
Die Nutzung der L³-Lernumgebung in den Lernzentren erfolgte sehr unterschiedlich
je nach der Organisationsform der Lernzentren. Die Bandbreite reichte von überwiegender unbetreuter Nutzung durch einzelne Lernende über betreutes Lernen
durch einen Lehrenden vor Ort bis zum synchronen Einsatz im Klassenraum.
Die Erfahrungen wurden durch Einzelinterviews durch den Autor und die Auswertung
der Projektberichte der Lernzentren sowie der von der L³-Software aufgezeichneten
Benutzungsstatistiken gewonnen.
Am häufigsten wurde nach Meinung der Lernenden und der Tutoren sowie laut
Benutzungsstatistik die spontane Kooperation genutzt. Weiter wechselten die Lernenden häufig zwischen individuellem und spontanem kooperativem Lernen hin und
her. Demgegenüber wurden die (wenigen) geplanten kooperativen Aufgaben, wie sie
7.3 Expertenworkshop
143
in einzelne Kurse integriert waren, weniger genutzt. Unabhängig davon wurde die
nahtlose Integration der verschiedenen Lernmodi von den Tutoren und Lernenden
positiv beurteilt. Besonders hervorgehoben wurden die Funktionalität zur Bildung von
Lerngruppen, die Vermittlung von Informationen über die Aufgabe und das Ziel der
Kooperation sowie das Strukturieren und Anleiten der Kooperation durch die Lernumgebung.
Aufgrund verschiedener Verzögerungen im Projektfortschritt von L³ lag sowohl die
Anzahl der Kurse mit kooperativen Aufgaben als auch die Zahl der Lernenden unterhalb der geplanten Werte. So konnte für die Durchführung kooperativer Aufgaben
häufig keine geeignete Lerngruppe gebildet werden, da nicht ausreichend viele geeignete Lerner verfügbar waren. Dies war insbesondere problematisch für synchron
zu bearbeitende Aufgaben. Ist die Verfügbarkeit einer kritischen Masse an Lernenden nicht durch eine hohe Gesamtzahl an Benutzern gegeben, müssen geeignete
Maßnahmen entwickelt werden, mit denen eine solche kritische Masse erreicht
werden kann, beispielsweise durch das Vorgeben bestimmter Zeitfenster für die Benutzung.
Sowohl von Lernenden als auch von Tutoren kam die Forderung, bei den Bezeichnungen für Kooperationsformen und -werkzeuge in der Kooperationsplattform den
Sprachgebrauch der Zielgruppe und der das Lernzentrum betreibenden Weiterbildungseinrichtung zu berücksichtigen. Aufgrund der Heterogenität der Zielgruppen
und Einrichtungen sollte den Lernzentren bzw. den Tutoren selbst die Möglichkeit
gegeben werden, die Bezeichnungen ihrem jeweiligen Bedarf anzupassen. Diese
Anforderung deckt sich mit den Wünschen der Kursautoren (vgl. Abschnitt 7.2.1).
Da die Lernzentren teilweise über keine permanente Internetverbindung verfügen,
wurde von den Lernzentren ein zusätzlicher Offline-Betriebsmodus angeregt, in dem
nur die Kooperation innerhalb des Lernzentrums bzw. das Erstellen von Beiträgen für
lernzentrumsübergreifende asynchrone Kooperation möglich ist.
7.3 Expertenworkshop
Die virtuelle Lernumgebung wurde in einem Workshop im Rahmen der internationalen Konferenz Computer Support for Collaborative Learning (CSCL 2002) in
Boulder, Colorado, USA vorgestellt, eingesetzt und diskutiert. Ziel dieses Workshops
war es, den Lösungsansatz und die exemplarische Umsetzung der Fachöffentlichkeit
vorzustellen sowie von den teilnehmenden internationalen CSCL-Experten Rückmeldung zum Lösungsansatz und zur konkreten technischen Umsetzung zu erhalten.
Dadurch sollte die Allgemeinheit und die Übertragbarkeit des Ansatzes der kontextuellen Kooperation geprüft bzw. sichergestellt werden.
144
7. Erfahrungen und Gestaltungsempfehlungen
Der Workshop fand am 9. Januar 2002 in Boulder, Colorado, USA statt und dauerte
zwei Stunden. Für den Workshop wurde ein Netzwerk aus zehn Desktop-PCs aufgebaut, von denen einer als Kooperations- und Lernmaterialserver sowie als Tutorenarbeitsplatz, die restlichen neun als Lernerstationen eingerichtet wurden. Im Vorfeld
des Workshops wurde ein kooperativer Kurs zum Thema „CSCL“ so modifiziert, dass
zum einen den (hohen) Vorkenntnissen der Teilnehmer, zum anderen der eingeschränkten Lernzeit im Rahmen des Workshops Rechnung getragen wurde. Insgesamt nahmen zwölf Personen aktiv am Workshop teil, davon neun in der Rolle des
Lernenden, drei Personen agierten als Tutoren.
Im Workshop wurde zunächst das Konzept und die Umsetzung in einem Vortrag kurz
vorgestellt. Danach benutzten die Teilnehmer die virtuelle Lernumgebung und bearbeiteten den Kurs zum Thema „CSCL“. Nach zwei Lernmaterialseiten gelangten
die Teilnehmer zu einer ersten kooperativen Aufgabe. Wiederum zwei Seiten weiter
erreichten sie eine zweite kooperative Aufgabe. Es handelte sich um einen Erklärungsdiskurs und eine kooperative Texterarbeitungsaufgabe. Nach der Initiierung der
Kooperation durch die Teilnehmer wurden sie vom System in drei Gruppen eingeteilt,
in denen die kooperativen Aufgaben bearbeitet wurden. Danach wurden das Konzept
und die Umsetzung zunächst in den einzelnen Gruppen diskutiert. Schließlich wurden die Gruppenergebnisse im Plenum vorgestellt und weiter diskutiert.
Zur Datenerhebung wurden die Diskussionen in den Gruppen und im Plenum von
den Tutoren stichpunktartig mitprotokolliert. Das Feedback der Teilnehmer bezog
sich zum einen auf das Lösungskonzept, zum anderen auf die konkrete technische
Realisierung in der virtuellen Lernumgebung. Im Folgenden werden die von den
Experten angesprochenen Aspekte zusammengefasst.
Aufgrund der Neuartigkeit des Ansatzes wurde eine Einführung für Kursautoren,
Lernende und Tutoren in das System als unbedingt notwendig erachtet. Diese Einführung muss nach Ansicht der Experten sowohl die Vorteile des kooperativen Lernens vermitteln („cooperation is NOT a value in its own“) als auch den praktischen
Umgang mit den Werkzeugen erklären.
Ebenso wurde die Verfügbarkeit eines Betreuers für technische und methodische
Fragen nach Expertenmeinung zumindest in der Zeit der anfänglichen Nutzung als
unbedingt notwendig erachtet.
Für die Nutzergruppe der Autoren wurde der Prozess und die Werkzeugunterstützung zur Erstellung kooperativer Aufgaben sowie zu deren Integration in Kurse
als zweckmäßig erachtet. Es wurde als Forschungsdefizit festgestellt, dass zur Zeit
noch keine klaren Kriterien vorliegen, die einem Kursautor anzeigen, in welcher Situation welche Kooperationsmethoden sinnvoll sind, und unter welchen Bedingungen
7.3 Expertenworkshop
145
eine synchrone, eine asynchrone oder eine Mischung aus beiden Kooperationsmodi
vorzuziehen ist. Hier sind weitere Forschungsarbeiten nötig, um zunächst einmal die
Kriterien zu identifizieren, die auf den Einsatz bestimmter Kooperationsmethoden
und –modi hinweisen. Als möglicherweise sinnvolle Kriterien wurden die Eigenschaften der Zielgruppe (z.B. die technische Ausstattung und die erwartete zeitliche
Verfügbarkeit der Teilnehmer), der zu bearbeitenden Materialien (z.B. Art und
Umfang) oder auch des Lernzieles genannt.
Für die Nutzergruppe der Lernenden und der Tutoren wurde die reibungslose Unterstützung in allen Phasen der Kooperation, nämlich bei der Gruppenbildung, der
Strukturierung und Anleitung des kooperativen Lernprozesses sowie bei der Weiterverwendung der Ergebnisse positiv beurteilt. Gleichzeitig wurde bei der automatischen Bildung von Lerngruppen bemerkt, dass für die Beteiligten nicht transparent
ist, nach welcher Methode die Lerngruppen gebildet werden. Während die Größe der
resultierenden Lerngruppen als nachvollziehbar beurteilt wurde, war nicht klar,
welche Kriterien die Auswahl der einzelnen Mitglieder der Lerngruppe beeinflussen.
Die Transparenz des Gruppenbildungsverfahrens wurde je nach Zielgruppe und Art
der kooperativen Aufgaben als ein wichtiger Faktor für die Akzeptanz des Konzepts
und des Systems durch die Lernenden betrachtet.
In Situationen, in denen Teilnehmer phasenweise individuelle parallele Aktivitäten
durchführen und sich in Abhängigkeit des Fortschritts einzelner oder aller Teilnehmer
nach der individuellen Aktivität wieder für eine zeitgleiche kooperative Aktivität synchronisieren, wurde eine bessere Awareness für die Aktivitäten der anderen Teilnehmer gefordert. Dies ist beispielsweise dann ein Problem, wenn bei einer kooperativen Texterarbeitungsaufgabe die Kommentatoren auf das Fertigstellen der Zusammenfassung des aktuellen Textabschnittes durch den Zusammenfasser warten.
Hier fehlt den Mitgliedern der Lerngruppe die Awareness, wie weit die anderen Teilnehmer sind und wann es voraussichtlich weitergehen wird. Es wurde empfohlen zu
prüfen, inwieweit länger andauernde Kooperationen unterbrechbar gestaltet werden
können, so dass der erreichte Kooperationszustand in einer späteren Sitzung wiederhergestellt werden kann.
Ein wichtiger Diskussionspunkt betraf das Thema der Strukturierung der kooperativen Prozesse durch die Gestaltung der Benutzerschnittstelle und durch Lernprotokolle. Während nach Ansicht einiger Teilnehmer vor allem für kooperationsunerfahrene Lernende mehr Führung durch die Kooperationsplattform übernommen werden
sollte, wünschten sich andere Teilnehmer mehr Flexibilität bei der Gestaltung der
Kooperation. Es wurden umfangreiche Konfigurationsmöglichkeiten für den Kursautor oder Tutor gefordert, so dass diese je nach Zielgruppe und Lernsituation bestimmen können, wie straff die Strukturierung durch das System erfolgen soll.
146
7. Erfahrungen und Gestaltungsempfehlungen
Es wurde ferner angeregt, die Integration kooperativer Spielepisoden in den Kurs
vorzusehen. Als Begründung wurde auf die potentiell motivierende bzw. belohnende
Wirkung derartiger Episoden im Lernprozess verwiesen.
Insgesamt wurde die kontextuelle Kooperation in der virtuellen Lernumgebung von
allen Experten positiv aufgenommen. Die aufgetretenen Divergenzen im Hinblick auf
die konkrete Umsetzung der Idee wurden in der Diskussion auf die unterschiedlichen
Anwendungsszenarien zurückgeführt, die die Teilnehmer jeweils implizit zugrunde
legten.
7.4 Tests am Fraunhofer IPSI
Nach dem Projektplan des Projektes L³ starteten die verschiedenen Entwicklungsstränge (Entwicklung der technischen Infrastruktur, Entwicklung einer Didaktik des
internetbasierten (individuellen und kooperativen) Lernens, Entwicklung von Kursen
unter Berücksichtigung der innovativen technischen und didaktischen Möglichkeiten
sowie Entwicklung von Betriebskonzepten für Lernzentren) nahezu gleichzeitig. Da
diese Entwicklungsstränge aber nicht unabhängig voneinander bearbeitet werden
konnten, kam es zu zeitlichen Verzögerungen in der Projektdurchführung. Daher
konnten manche Entwicklungs- und Evaluationsschritte nicht oder nicht in der
gewünschten Art im Rahmen des Projektes durchgeführt werden. Rückblickend wäre
eine Staffelung der Entwicklungsstränge, z.B. dass Konzeption und Aufnahme des
Lernzentrumsbetriebs erst nach Vorliegen der stabilen technischen Lösung und einer
entsprechenden Anzahl kompatibler Kurse erfolgen, sinnvoll gewesen (Ehlers 2003,
S. 364).
In Ergänzung zum Einsatz der Kooperationsplattform als Teil der virtuellen Lernumgebung in den L³-Lernzentren wurde die Kooperationsplattform deshalb auch in
weiteren Studien am Fraunhofer IPSI eingesetzt. Diese Studien fokussierten auf
solche Fragestellungen, die im L³-Kontext aufgrund der oben genannten Einschränkungen durch die Projektkonstruktion und die zeitlichen Abhängigkeiten nicht
oder erst mit größerer Verzögerung behandelt werden konnten. Ziel der Erprobung
war die technische Evaluation hinsichtlich Stabilität und Erfüllen der funktionalen
Anforderungen. Fragen der Akzeptanz durch die unterschiedlichen Zielgruppen,
Fragen der Lerneffizienz etc. waren nicht Gegenstand dieser Studien.
Dazu wurde aus der Kooperationsplattform und weiteren Komponenten eine virtuelle
Lernumgebung realisiert (im Folgenden: „kleine Lösung“; zur Architektur und Implementierung siehe Kapitel 6 sowie Wessner et al. 2002). Im Gegensatz zur im L³Projektes realisierten Lernumgebung (im Folgenden: „große Lösung“, vgl. Kapitel 6)
konnten etliche Schnittstellen eingespart bzw. vereinfacht werden, da die Funktionen
7.4 Tests am Fraunhofer IPSI
147
auf weniger Komponenten verteilt waren und einige Anforderungen (z.B. bezüglich
der verschlüsselten Kommunikation) wegfallen konnten. In der kleinen Lösung übernimmt der Kooperationsserver zusätzlich die Funktionalität des Benutzermanagements (Benutzer- und Klasseninformationen) und Contentmanagements (Kursmaterial). Die Nutzung erfolgte am Fraunhofer IPSI über ein lokales Netz mit hoher Bandbreite. Für die Akzeptanz und Durchführung kooperativer Aufgaben war sicherlich
von Vorteil, dass sich alle Benutzer bereits aus der täglichen Arbeit kannten. Die
Tests erfolgten jeweils mit bis zu fünf Benutzern, eingesetzt wurden mehrere Varianten eines kooperativen Testkurses zum Thema „CSCL“.
Die Testläufe mit dem System konnten sehr erfolgreich unter den genannten
(idealen) Bedingungen durchgeführt werden. Es zeigte sich, dass für größere Nutzerzahlen und mehr Kurse die Funktionen zum Benutzer- und Kursmanagement verbessert und erweitert werden müssten. Je größer die Anzahl der zu verwaltenden
Benutzer und Kurse wird, desto sinnvoller erscheint es, die Aufgaben zwischen dem
Kooperationsserver und weiteren Komponenten zu verteilen, so wie dies auch bei
der großen Lösung erfolgt.
Während in L³-Lernzentren die Lernenden explizit nur mit Lernprozessen beschäftigt
sind, erfolgte die Nutzung in den internen Tests vom Arbeitsplatz aus und in eine
Arbeitssituation integriert. Dadurch wurden zusätzliche Anforderungen an die virtuelle
Lernumgebung im Kontext des Lernens am Arbeitsplatz deutlich, von deren Berücksichtigung auch der Lernende im Lernzentrum profitieren kann:
‚
Für die einzelnen Kooperationswerkzeuge ist eine Import- und Exportfunktionalität sinnvoll, um vorbereitetes Material in eine Kooperation, z.B. mit dem Tutor,
einbringen zu können oder um Kooperationsergebnisse weiterverarbeiten zu
können, beispielsweise das Ergebnis einer Brainstorming-Aufgabe.
‚
Selbstgesteuerte Lernende, z.B. am Arbeitsplatz oder in Lernzentren, akzeptieren
in manchen Situationen keine Unterbrechung durch Kooperationsanfragen, z.B.
während eines konzentrierten individuellen Lernprozesses oder während einer
Kommunikation mit Dritten. Zur Adressierung dieser Anforderung sollte eine
Funktionalität analog zum Türschild „Bitte nicht stören!“ zur Verfügung gestellt
werden.
‚
Je nach zeitlicher Verfügbarkeit der Lernenden können insbesondere kooperative
Aufgaben, die eine über wenige Minuten hinausgehende Bearbeitungszeit erfordern, häufig nicht ad-hoc bearbeitet werden. Um die Lernenden in der Vereinbarung von Terminen für die Aufgabenbearbeitung zu unterstützen, ist es sinnvoll, eine Terminkalenderfunktionalität im System bereitzustellen.
148
7. Erfahrungen und Gestaltungsempfehlungen
7.5 Weitere Studien
Wie unter 7.1 begründet, war in den ersten Entwicklungszyklen der virtuellen Lernumgebung der Einsatz vor allem qualitativer Evaluationsverfahren für die weitere
Beeinflussung der Systementwicklung sinnvoll. Gegen Ende bzw. nach Abschluss
des L³-Projektes waren die Voraussetzungen gegeben, einzelne Aspekte der Lernumgebung in fokussierteren, quantitativ angelegten empirischen Studien zu untersuchen.
Die Steuerung kooperativer Lernprozesse durch Lernprotokolle wurde in dem von
der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt „Unterstützung
des kooperativen Lernens durch Lernprotokolle“ empirisch untersucht, wobei Protokollsteuerung, Gruppengröße und Lerngegenstand variiert werden (Pfister &
Mühlpfordt 2002, Pfister et al. 2003). Es zeigte sich, dass die Strukturierung der
Kooperation zu höherem Lernerfolg im Vergleich zur unstrukturierten Kooperation
führt. Ähnlich positive Ergebnisse wurden auch in mehreren Studien im Rahmen des
vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projektes
ALBA erzielt (Linder & Rochon 2003, Münzer 2003, Münzer & Linder 2004). In
diesem Projekt wurde ferner deutlich, dass die Planung, Vorbereitung, Betreuung
und Reflektion kooperativer Lernprozesse ein wichtiges Erfolgskriterium für örtlich
verteilte Lerngruppen darstellen.
7.6 Gestaltungsempfehlungen
Bei der Umsetzung und Einführung der virtuellen Lernumgebung konnte einerseits
eine große Akzeptanz und kreative Nutzung der Lösung beobachtet werden, andererseits sind auch einige Probleme deutlich geworden, mit denen größtenteils zu
Beginn nicht gerechnet wurde bzw. nicht gerechnet werden konnte (vgl. Abschnitt
7.1). Nach einer kurzen Betrachtung von existierenden oder in der Entwicklung
befindlichen Standards für kooperatives Lernen werden im Folgenden die positiven
und negativen Erfahrungen auf der Kursebene und der Kooperationsebene dargestellt. Daraus werden jeweils Empfehlungen für die funktionale Gestaltung der kontextuellen Kooperation in virtuellen Lernumgebungen abgeleitet.
7.6.1 Standards für kooperatives Lernen
Sowohl auf der Kurs- als auch auf der Kooperationsebene spielen existierende bzw.
sich herausbildende Standards eine wichtige Rolle. Neben allgemeinen Standards
für Dokumentenformate und Kommunikationsprotokolle sind hier vor allem Standards
auf dem Gebiet Lerntechnologie zu berücksichtigen. Parallel zur Entwicklung der in
dieser Arbeit vorgestellten Lösungskonzepte und des darauf aufbauenden Systems
7.6 Gestaltungsempfehlungen
149
wurden u.a. Standards für die Beschreibung von Lernobjekten (Learning Object
Metadata; LOM) sowie für die Beschreibung von Kursen und Laufzeitumgebungen
(Sharable Content Object Reference Model; SCORM) (weiter-)entwickelt (IEEE
LTSC 2004). Diese Ansätze beziehen sich auf individuelles Lernen und betreffen
somit nur die Systemkomponenten, die auf individuelles Lernen ausgerichtet sind.
Nach Abschluss der konzeptionellen Phase dieser Arbeit wurden auch weitergehende Standards vorbereitet, die kooperatives Lernen berücksichtigen. So legte
das IMS Global Learning Consortium (IMS 2004) auf Basis der Vorarbeiten durch
Mitarbeiter der Open University der Niederlande zu einer Educational Modeling
Language (EML) im Februar 2003 die Version 1.0 der Spezifikation „IMS-Learning
Design“ (IMS-LD) vor. IMS-LD erlaubt die Beschreibung individueller und kooperativer Lernszenarien. Eine Laufzeitumgebung, die diese Spezifikation voll unterstützt,
ist aktuell noch nicht verfügbar (Stand: Ende 2004). Aus Gründen der Kompatibilität,
der Investitionssicherung und der Minimierung des Entwicklungs- und Wartungsaufwandes sollte ein System zur Unterstützung kontextueller Kooperation in virtuellen
Lernumgebungen diese Standards berücksichtigen. Die in dieser Arbeit gewählte
Modellierung kann aufgrund der generischen Erweiterbarkeit von IMS-LD vollständig
in IMS-LD abgebildet werden.
7.6.2 Kursebene
Die Möglichkeit, die Bearbeitung kooperativer Aufgaben zeitlich zu planen, ist –
außer in Situationen, in denen die Plattform in synchronen face-to-face Situationen
mit der Möglichkeit der Koordination außerhalb des Systems eingesetzt wird –
wichtig für das Zustandekommen von Gruppensitzungen zur Bearbeitung kooperativer Aufgaben. Dies gilt insbesondere für länger als wenige Minuten dauernde
Kooperationen. Damit Benutzer signalisieren können, ob und für welche Kooperationen sie zur Verfügung stehen, müssen Systeme zur kontextuellen Kooperation
Funktionen zur Kommunikation der gestuften Präsenz und Verfügbarkeit (z.B. in den
Stufen offline, online - aber nicht am Rechner, online – bitte nicht stören, online –
kontaktierbar; analog zu Instant-Messaging-Systemen) anbieten. Um über ad-hoc
Kooperationen hinausgehend auch geplante Kooperationen zu unterstützen, ist das
Bereitstellen von Aushandlungsmechanismen und Kalenderfunktionalität wichtig.
Hierbei müssen die Erfahrungen mit der Akzeptanz von Gruppenkalendern bezüglich
Privatheit/Öffentlichkeit, Verteilung von Aufwand und Nutzen sowie Erreichen einer
kritischen Masse von Benutzern berücksichtigt werden (Ehrlich 1987, Grudin 1988).
Die Wahrscheinlichkeit für das Zustandekommen einer Kooperation kann durch
weitere Maßnahmen unterstützt werden, etwa indem die Zeiten der Benutzung eingeschränkt werden (Nutzung im Klassenverband, Festlegung von Zeitfenstern für die
Erreichbarkeit von Tutoren) oder indem Übergänge zwischen synchroner und asyn-
150
7. Erfahrungen und Gestaltungsempfehlungen
chroner Bearbeitung kooperativer Aufgaben vorgesehen werden. Sofern die Beteiligten nicht durchgehend online sind, muss das System Möglichkeiten vorsehen, wie
diese auch offline auf bisherige Kooperations(zwischen)ergebnisse zurückgreifen
sowie eigene Beiträge vorbereiten können.
7.6.3 Kooperationsebene
Aufgrund der Heterogenität der Zielgruppen und der Wissensdomänen wurden die
zur Verfügung gestellten Kommunikations- und Kooperationswerkzeuge von den
Autoren, Tutoren und Lernenden für verschiedenste Kooperationsformen und Episodentypen eingesetzt. Das Einsatzspektrum der Werkzeuge zeigte sich damit als
wesentlich breiter, als dies von den Entwicklern beabsichtigt und erhofft war. Für die
Gestaltung nicht domänenspezifischer kontextueller Kooperation folgt daraus die
Forderung nach großer Flexibilität der Werkzeuge. Sowohl die für und in Kooperationswerkzeugen verwendeten Bezeichnungen als auch die kooperativen Prozesse
selbst müssen sich an den jeweiligen Kontext anpassen lassen, um neuartige
Nutzungsweisen noch besser zu unterstützen. Darüber hinaus wurde deutlich, dass
Kursautoren sehr an den neuartigen kooperativen Möglichkeiten interessiert waren
und sich gerne und erfolgreich an der konzeptionellen Weiterentwicklung beteiligten.
Mehrere Kursautoren mussten sich allerdings erst im Laufe des Einsatzes die zur
Definition kooperativer Episoden und Kurse benötigten Kompetenzen aneignen. Um
dies noch besser zu unterstützen, sind geeignete Qualifizierungsmaßnahmen zu
entwickeln und umzusetzen.
Ein wichtiger Punkt bei der Unterstützung der Kooperation ist die Strukturierung
durch die Gestaltung der Benutzerschnittstelle oder durch Lernprotokolle: Die Akzeptanz dieser Strukturierung hängt stark vom jeweiligen Kontext ab. Beispielsweise ist
zu vermuten, dass Gruppen mit fortschreitender Kooperationsdauer zunehmend
soziale Protokolle zur Koordination herausbilden und die vom System vorgenommene Strukturierung dadurch immer weniger benötigt und akzeptiert wird. Kontextuelle Kooperation erfordert daher Möglichkeiten, die Strukturierungsfunktionalität dem
Kontext anzupassen (beispielsweise durch das Wechseln zwischen verschiedenen
Ausprägungen eines Lernprotokolls; vgl. Miao et al. 2000). Eine andere Möglichkeit
besteht darin, strukturierte Kooperation durch offene Kommunikationskanäle (z.B.
einen nicht moderierten Chat oder ein nicht moderiertes Forum) zu ergänzen.
Kapitel 8
Zusammenfassung und Ausblick
In diesem Kapitel werden die wichtigsten Aspekte dieser Arbeit zusammengefasst
(Abschnitt 8.1) und der gezeigte Ansatz im Hinblick auf die in Kapitel 3 identifizierten
Anforderungen überprüft (Abschnitt 8.2). Abschnitt 8.3 zeigt die wesentlichen Beiträge dieser Arbeit zum Stand der Technik. Schließlich wird in Abschnitt 8.4 weitergehender Forschungsbedarf identifiziert und skizziert, wie die Ergebnisse dieser Arbeit
auf andere Anwendungsbereiche übertragen werden können.
8.1 Zusammenfassung der Arbeit
Das in dieser Arbeit gewählte Vorgehen lässt sich in folgenden Fragestellungen zusammenfassen:
‚
Modellierung kooperativer Lernsituationen: Welche Parameter bestimmen den
Kontext der Kooperation in virtuellen Lernumgebungen?
‚
Modellierung kooperativer Kurse: Wie kann individuelles und kooperatives Lernen
in einer kursbasierten virtuellen Lernumgebung kombiniert werden?
‚
Realisierung kontextueller Kooperation: Wie kann eine virtuelle Lernumgebung
das in den Modellierungen enthaltene Wissen über den Kontext nutzen, um die
kontextuelle Kooperation in einer kooperativen Episode und in einem kooperativen Kurs aktiv zu unterstützen?
‚
Implementierung und Test: Wie lassen sich die Modellierungen und Unterstützungsfunktionen in eine virtuelle Lernumgebung umsetzen?
Zur Unterstützung der Kooperation benötigt eine virtuelle Lernumgebung Wissen
über den Kontext der Kooperation. Die Hauptanforderung besteht darin, den dazu
benötigten Kontext zu identifizieren und für die Systemunterstützung nutzbar zu erfassen. Das Ziel der vorliegenden Arbeit war die Entwicklung einer Gesamtkonzeption zur Gestaltung von virtuellen Lernumgebungen, die kontextuelle Kooperation
151
152
8. Zusammenfassung und Ausblick
ermöglichen, d.h. kooperatives Lernen auf Basis des Wissens über den Kontext der
Kooperation unterstützen.
Dafür wurden Potentiale und Problembereiche virtueller Lernumgebungen und des
kooperativen Lernens analysiert und Konzepte zur Beschreibung kooperativer Kurse
und kooperativer Episoden entwickelt. Dabei wurden auf Basis einer didaktischen
Analyse die relevanten Parameter zur Repräsentation des Kontextes der Kooperation identifiziert und geeignet modelliert. Es wurde gezeigt, wie diese Modellierungen
zur Realisierung der kontextuellen Kooperation in den verschiedenen Phasen der
Kooperation genutzt werden können. Am Beispiel der Unterstützung für die Zusammenstellung von Lerngruppen wurden die Unterstützungsmöglichkeiten exemplarisch
vertieft. Zur Evaluation der Konzepte wurde eine kooperative Lernumgebung entworfen und implementiert. Die mit der Konzeption und der Lernumgebung in verschiedenen Nutzungsszenarien gesammelten Erfahrungen zeigen, dass die Konzepte
umsetzbar sind, eine darauf basierende Lernumgebung Akzeptanz bei Fachexperten
und den verschiedenen beteiligten Nutzergruppen erfährt. Aus den im Zuge der
formativen Evaluation gewonnenen Stärken und Schwächen wurden Gestaltungsempfehlungen für virtuelle Lernumgebungen zur kontextuelle Kooperation abgeleitet.
8.2 Vergleich mit den Anforderungen
Dieser Abschnitt zeigt überblicksartig, wie die in Kapitel 3 identifizierten Anforderungen durch die entwickelten Konzepte bzw. die exemplarische Implementierung erfüllt werden.
A1: Unterstützung für individuelles kursbasiertes Lernen
Die Modellierung kooperativer Kurse beinhaltet explizit auch individuelle Lernphasen.
In der L³-Umgebung ist die Kooperationsplattform mit einem (nicht-kooperativen)
Lernmanagementsystem (LMS) kombiniert worden. Das verwendete LMS legt für
jeden Lernenden ein Lernerprofil an und schreibt dies im Zuge des Lernens jeweils
fort. Die Lernerprofile werden von der Lernplattform beispielsweise zur Unterstützung
der Navigation im Kurs herangezogen.
A2: Spontane Kooperation
Die für die spontane Kooperation benötigte Wahrnehmung anderer Benutzer und
ihres Online-Status’ liefert in der L³-Umgebung die Teilnehmerliste des L³ Communicator. Hier kann nach Rollen und Kurszugehörigkeit gefiltert werden, so dass auch
kontextbezogene spontane Kooperation unterstützt wird. Vom L³ Communicator ausgehend können verschiedene Werkzeuge für die synchrone und asynchrone Koope-
8.2 Vergleich mit den Anforderungen
153
ration aktiviert werden. Eine weitere Möglichkeit der spontanen Kooperation wird im
Webbrowser angeboten.
A3: Flexible Übergänge zwischen verschiedenen Lernmodi
In der entwickelten Konzeption und der Implementierung sind verschiedene Lernmodi konzeptuell und technisch integriert. Dies ermöglicht den Übergang vom individuellen zum intendierten kooperativen Lernen durch Starten der kooperativen Episode und die Gruppenbildung. Nach Abschluss der Kooperation kehrt der Lernende
zum individuellen Lernen zurück. Durch die zeitliche Entkopplung des Erreichens und
des Durchführens einer kooperativen Episode im Kurs kann der Lernende den Übergang selbst bestimmen. Der Übergang zur spontanen Kooperation ist sowohl während des individuellen Lernens als auch während einer intendierten Kooperation
möglich. Je nach gewähltem oder vorgesehenem Kooperationswerkzeug wird eine
synchrone oder asynchrone Kooperation durchgeführt.
A4: Intendierte Kooperation
Die Modellierung kooperativer Kurse erlaubt die Integration kooperativer Episoden
als Bestandteile des Kurses. Die Modellierung kooperativer Episoden erlaubt die
Beschreibung der Aufgabe inklusive Gruppengröße, Werkzeug und weiterer Parameter. Die L³-Autorenumgebung unterstützt die Erstellung und Integration kooperativer Episoden in einen Kurs. Es wurden Werkzeuge zur Definition verschiedener
Kooperationsformen entwickelt. Die L³-Kooperationsplattform reichert das Wissen
über die Episode mit weiteren Kontextinformationen an und unterstützt auf Basis des
Kontextes alle Phasen der Kooperation. Es wurden Werkzeuge entwickelt, um
kooperative Episoden und ihren Kontext im Lernprozess zu verwalten, d.h. zum Einsammeln von kooperativer Episoden, zur Bildung geeigneter Lerngruppen und zum
Starten der Durchführung. Weiterhin sind verschiedene Werkzeuge spezifiziert und
entwickelt worden, die jeweils die Durchführung einer bestimmten Kooperationsform
ermöglichen.
A5: Unterstützung für die Bildung von Lerngruppen
Die entwickelte Konzeption zeigt, wie auf Basis der Kontextinformationen die Zusammenstellung der Lerngruppen unterstützt werden kann. Für die spontane Kooperation
kann jeder Nutzer der L³-Kooperationsplattform die Lerngruppe bilden, in dem die gewünschten Partner im L³-Communicator ausgewählt werden. Für intendierte Kooperationen wurden eine manuelle Gruppenbildung durch einen Tutor sowie eine automatische Gruppenbildung durch das System entwickelt. Bei der Definition der kooperativen Episode kann eine bevorzugte Gruppenbildungsstrategie angegeben werden.
154
8. Zusammenfassung und Ausblick
Die Unterstützung erfolgt u.a. auf der Basis der Informationen über die kooperative
Episode und die verfügbaren Lernenden und Tutoren.
A6
Methodische Unterstützung der Lerngruppe:
In der L³-Kooperationplattform sind generische und methodenspezifische Werkzeuge
für die verschiedenen Kooperationsmethoden spezifiziert, entwickelt und in die Plattform integriert worden. Diese Werkzeuge sehen teilweise auch die Strukturierung
des Kooperationsprozesses und den Umgang mit rollenspezifischen Ressourcen vor.
A7
Offenheit des Systems:
Die Schnittstellen der entwickelten Lösung beruhen im Wesentlichen auf allgemein
akzeptierten Standards. Dies erlaubt die Wiederverwendung vorhandener webbasierter Kurse. Zur Anreicherung von Kursen mit kooperativen Episoden ist im Vergleich
zu domänenmodellbasierten Ansätzen kein Domänenwissen erforderlich, um die
Kooperation zu unterstützen. Existierende Kooperationswerkzeuge können in die
Kooperationsplattform integriert werden. Weitere Kooperationswerkzeuge lassen sich
auf Basis des gewählten komponentenbasierten Groupware Frameworks erstellen
und integrieren. Die Kopplung zwischen Kooperationsserver und Lernmanagementsystem zeigt die Möglichkeiten, die Kooperationsplattform in bestehende Infrastrukturen technisch zu integrieren.
Insgesamt ist das Ziel dieser Arbeit, die Entwicklung einer Gesamtkonzeption zur
Gestaltung von virtuellen Lernumgebungen, die die kontextuelle Kooperation ermöglichen, erreicht worden. Die zu Beginn dieser Arbeit aufgestellte These, dass eine
virtuelle Lernumgebung auf Basis des Kontextes das kooperative Lernen aktiv unterstützen kann, konnte anhand der entwickelten Konzepte, ihrer Umsetzung und der
damit gesammelten Erfahrungen bestätigt werden.
8.3 Wesentliche Beiträge zum Stand der Technik
In dieser Arbeit wurden eine Konzeption für die Unterstützung der kontextuellen
Kooperation in virtuellen Lernumgebungen entwickelt, ihre Umsetzbarkeit in ein
System und die Akzeptanz des Ansatzes durch die Nutzergruppen gezeigt.
Die Analyse der verwandten Arbeiten in Kapitel 4 lieferte als Hauptdefizite die mangelnde Unterstützung für intendierte Kooperation sowie für die Bildung von Lerngruppen. Im Unterschied zu den vorgestellten dokument-, konferenz-, raum-, kontextund prozessbasierten Ansätzen werden diese Anforderungen nur von domänenmodellbasierten Ansätzen wie FITS/CL sehr gut unterstützt. Diese Stärke wird durch
fehlende Unterstützung für die spontane Kooperation, geringe Flexibilität beim Über-
8.3 Wesentliche Beiträge zum Stand der Technik
155
gang zwischen verschiedenen Lernmodi sowie vor allem durch mangelnde Offenheit
des Systems erkauft. Für die geeignete Modellierung der Lernmaterialien ist zudem
ein erheblicher Aufwand notwendig.
Vor diesem Hintergrund wurde in dieser Arbeit der Stand der Technik in mehrfacher
Hinsicht weiterentwickelt:
‚
Ausgehend von den Begriffen virtuelle Lernumgebung, kooperatives Lernen
und Kontext wurde der Begriff der kontextuellen Kooperation in virtuellen Lernumgebungen entwickelt.
‚
Zur Realisierung der kontextuellen Kooperation wurde ausgehend von einem
konkreten Szenario aus der Weiterbildungspraxis eine Anforderungsanalyse
an virtuelle Lernumgebungen erarbeitet.
‚
Die für die Unterstützung kooperativen Lernens relevanten Parameter wurden
identifiziert und in eine Modellierung kooperativer Episoden eingearbeitet. Das
Konzept der Points of Cooperation (PoC) erlaubt die Differenzierung kooperativer Episoden in Abhängigkeit vom Grad ihrer Einbindung in einen Kurs.
‚
Die Modellierung kooperativer Kurse ermöglicht die Kombination und konzeptionell durchgängige Unterstützung individueller und kooperativer Lernphasen. Am Beispiel der Bildung von Lerngruppen wurde gezeigt, wie das
System auf Basis der Kontextinformationen sinnvolle Lerngruppen zusammenstellen kann bzw. die Zusammenstellung durch einen Tutor unterstützen
kann, ohne dass der Lerngegenstand im Sinne eines domänenspezifischen
Modells aufbereitet werden muss.
‚
Die entwickelte Architektur für virtuelle Lernumgebungen ermöglicht die technisch durchgängige Unterstützung der kontextuellen Kooperation. Es wurde
gezeigt, wie sich generische und methodenspezifische Kooperationswerkzeuge in die Lernumgebung integrieren lassen.
Die Ergebnisse stehen im Einklang mit anderen aktuellen Entwicklungen der CSCLForschung. Es können zwei Herangehensweisen unterschieden werden: domänenmodellbasierte Ansätze ermöglichen eine sehr gute Unterstützung des Lernprozesses, sind aber in der Systemerstellung und -wartung mit hohem Aufwand verbunden.
Ansätze, die auf eine Modellierung der Lerndomäne verzichten, erkaufen sich die
leichtere Systemerstellung und -wartung durch geringe Unterstützungsmöglichkeiten
des Lernprozesses. Nach dem geringen Erfolg intelligenter tutorieller Systeme ist es
wenig aussichtsreich, zu fordern, kooperatives Lernen solle komplett durch die virtuelle Lernumgebung erfasst und gesteuert werden. „Yet, a certain degree of ‚insight’
on the part of the system environment into the structure and dynamics of the group
156
8. Zusammenfassung und Ausblick
learning process should lead to new ways of supporting and scaffolding the learning
group“ (Hoppe 2001). In dieser Arbeit wurde ein Mittelweg entwickelt, der auf Basis
des „certain degree of insight“ eine weitreichende Unterstützung des kooperativen
Lernens ermöglicht.
8.4 Zukünftige Forschungsarbeiten und Verallgemeinerung der
Ergebnisse
Aus pädagogischer Sicht ist die Erweiterung des Spektrums einsetzbarer Formen
kooperativer Aufgaben nötig: Dies umfasst die Konzeption, Entwicklung oder Anpassung kooperativer Werkzeuge. Dabei sollten die Gestaltungsempfehlungen (siehe
Abschnitt 7.6) sowie die Ergebnisse neuerer empirischer Studien zum kooperativen
Lernen mit solchen Werkzeugen (Holst & Holmer 2002, Münzer & Linder 2004) berücksichtigt werden. Aufgrund der Neuartigkeit des Ansatzes liegen erst wenige Erfahrungen mit dem didaktischen Design kooperativer Kurse vor. Hier sind Pädagogen gefordert, um die Übertragbarkeit herkömmlichen didaktischen Designs auf virtuelle Lernumgebungen zu überprüfen bzw. neue Ansätze zu entwickeln. Analog gilt
dies für die Entwicklung effizienter und lernförderlicher Strategien der Zusammenstellung von Lerngruppen. In der Praxis werden zudem Handlungsempfehlungen zur
Auswahl geeigneter Kooperationsmethoden und Gruppenbildungsstrategien benötigt.
Generell können auf Basis dieser Arbeit nun quantitative empirische Studien zu Lernerfolg und Akzeptanz der kontextuellen Kooperation in virtuellen Lernumgebungen
durchgeführt werden.
Aus informatischer Sicht sind zur Vereinfachung des Designs und der Entwicklung
von Werkzeugen zur kontextuellen Kooperation entsprechende Design- und Entwicklungsframeworks wünschenswert.
Zu prüfen ist, wie sich das Konzept der kontextuellen Kooperation auf andere Lernszenarien übertragen lässt. Beispielsweise scheint es angesichts der zunehmenden
Verwendung mobiler und heterogener Endgeräte (z.B. von Personal Digital Assistants (PDAs) oder Mobiltelefonen) sinnvoll zu prüfen, wie die vorgestellten Konzepte,
Aufgabenformen und Werkzeuge an die sich ändernden Anforderungen (z.B. Bandbreite, Bildschirmgrößen und Eingabemodalitäten) angepasst werden können. Hier
ergeben sich neue Nutzungsszenarien, z.B. ortsbasierte Gruppenbildung, d.h. die
bevorzugte Berücksichtigung von Mitlernern, die sich in der gleichen Gegend befinden, oder die Benutzung der mobilen Endgeräte, um Lerngruppen physikalisch zusammen zu bringen (beim Einsatz in der Präsenzlehre).
Jenseits des Anwendungsgebietes kooperatives Lernen besteht Forschungsbedarf in
der Frage, inwieweit das Konzept der kontextuellen Kooperation auf andere Anwen-
8.4 Zukünftige Forschungsarbeiten und Verallgemeinerung der Ergebnisse
157
dungsgebiete übertragen werden kann. Möglicherweise lassen sich solche Points of
Cooperation in weitere Arten von Software integrieren, beispielsweise in Workflowoder Wissensmanagementsysteme. Dies könnte ein Weg sein, Artefakte, Organisationsstrukturen und Kooperation konzeptuell und technisch zu integrieren, ohne dass
aufwändige domänenspezifische Modellierungen benötigt werden.
Anhang
A.1
Pro-Kontra-Gespräch als Beispiel einer kooperativen Episode
Wie in Abschnitt 5.2.1 dargestellt, ist das Streitgespräch eine der Grundformen
didaktischen Handelns. In diesem Abschnitt wird der Episodentyp Pro-Kontra-Gespräch aus Sicht der Modellierung zusammen mit dem dazugehörigen Werkzeug als
Beispiel für eine kooperative Episode vorgestellt.
Am Pro-Kontra-Gespräch nehmen zwei Lernende, je einer in der Pro-Rolle und einer
in der Kontra-Rolle teil. Zur Episode gehören Instruktionen und Basismaterial, das
beiden Beteiligten als Grundlage des Streitgesprächs zur Verfügung steht. Weiterhin
gibt es rollenspezifisches Material, d.h. für den Lerner in der Pro-Rolle gibt es Material, das speziell auf die Pro-Rolle ausgerichtet ist, der Lerner in der Kontra-Rolle
erhält stattdessen das für seine Rolle gedachte Material. Abbildung A.1 zeigt die
XML-Darstellung einer Pro-Kontra-Episode. Diese Episode mit der Bezeichnung
„Pro-Kontra-Gespräch #37“ hat das Thema „Kernenergie“. Es wird sowohl allgemeines als auch rollenspezifisches Material auf zusätzlichen HTML-Seiten zur Verfügung gestellt. Außerdem wird für beide Rollen ein Eingangsstatement festgelegt.
Die Teilnahme des Tutors ist bei dieser konkreten Aufgabe nicht vorgesehen. Als
empfohlene Dauer der Aufgabenbearbeitung werden 10 bis 15 Minuten angegeben.
Die beiden Rollen werden den Lernenden zufällig vom System zugeordnet.
Am Anfang der Durchführung legt nun das System fest, wer welche Rolle im ProKontra-Gespräch (Pro, Kontra, Beobachter) übernehmen wird; danach wird der Disput gestartet. Der komplette Prozess wird durch das Pro-Kontra-Lernprotokoll gesteuert, das strikt alternierende Beiträge der Pro- und der Kontra-Rolle anfordert.
Beide Lerner können den Dialog beenden. Beide können den Dialog speichern und
später individuell oder kooperativ bearbeiten.
159
160
Anhang
<?xml version="1.0" encoding="UTF-8"?>
<ipoc_procontra>
<type>PROCONTRA</type>
<name>Pro-Kontra-Gespräch #37</name>
<version>0.04</version>
<topic>Kernenergie</topic>
<location>
<material>procontra/kernenergie_allg.html</material>
<pro_material>procontra/kernenergie_pro.html</pro_material>
<contra_material>procontra/kernenergie_kontra.html</contra_material>
<instruction>procontra/instruction-pro-contra.html</instruction>
</location>
<pro_position>Sie befürworten den Einsatz der Kernkraft</pro_position>
<contra_position>Sie halten den Einsatz der Kernkraft für unverantwortlich</contra_position>
<with_tutor>no</with_tutor>
<time_min>10</time_min>
<time_max>15</time_max>
<role_assign>auto</role_assign>
</ipoc_procontra>
Abbildung A.1: XML-Darstellung einer Pro-Kontra-Episode
Abbildung A.2: Das Pro-Kontra-Werkzeug
A.1 Pro-Kontra-Gespräch als Beispiel einer kooperativen Episode
161
Abbildung A.2 zeigt das Pro-Kontra-Werkzeug. Am rechten Bildrand sieht man die
Repräsentation der Benutzer und ihrer Rolle (rote Farbe und „C:“ kennzeichnet die
Kontra-Rolle, grüne Farbe und „P:“ kennzeichnet die Pro-Rolle), außerdem wird mit
„berechtigt“ und „nicht berechtigt“ visualisiert, wer gerade zur Eingabe eines Arguments aufgefordert wird. Links oben sieht man allgemeine Informationen für diese
kooperative Episode. Links unten wird das rollenspezifische Material angezeigt. Über
das Menü können zusätzliche Instruktionen abgerufen werden.
162
A.2
Anhang
Die manuelle Gruppenbildung
Der Prozess der Gruppenbildung ist von großer Bedeutung für die erfolgreiche Bearbeitung kooperativer Aufgaben. Zum einen macht nur eine geeignet zusammengestellte Gruppe den Erfolg wahrscheinlich (vgl. Abschnitt 2.3.3), zum anderen wirkt
sich die Gruppenzusammensetzung auf die Akzeptanz des kooperativen Lernens
insgesamt aus. In diesem Abschnitt wird die Umsetzung des in Abschnitt 5.4 erarbeiteten Konzepts zur manuellen Gruppenbildung etwas detaillierter dargestellt. Aber
auch hier sollen nur die wichtigsten Fälle skizziert werden. Zahlreiche Spezialfälle
und zusätzliche Bedingungen können an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden.
L³-Kurse finden in einem der folgenden beiden Lernmodi statt: Im Klassenmodus
fangen alle Lerner einen Kurs zur selben Zeit und synchronisieren ihre Lernprozesse
in bestimmten Zeitintervallen (z.B. nach einer Stunde oder einmal die Woche) oder
nach Bearbeitung einer bestimmten Anzahl von Lerneinheiten, je nach vorgegebenem Lernplan bzw. den Anweisungen eines Tutors.
Im individuellen Modus arbeiten dagegen alle Lerner stärker selbstgesteuert. Es gibt
weder gemeinsame Start- oder Endzeiten noch ist eine Synchronisation der Lernprozesse vorgesehen. D.h. im individuellen Modus bearbeiten die Lernenden eines
Kurses zu einem bestimmten Zeitpunkt üblicherweise verschiedene Stellen des
Kurses. Um pädagogisch sinnvolle Lerngruppen zu bilden, in denen alle Beteiligten
von der Kooperation profitieren, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein,
z.B. ein Mindestmaß an Ähnlichkeit der Lernerpräferenzen. Außerdem sollten die
Lernenden an einer ähnlichen Stelle im Kurs sein. Dies kann durch die Lerndistanz
zwischen Lernern ausgedrückt werden. Die Lerndistanz kann auf verschiedene Weisen definiert werden, etwa durch die minimale Anzahl von Navigationsschritten, die
nötig ist, um von der Position eines Lerners zur Position des anderen Lerners zu
gelangen. Andere Distanzmaße können auch Zeitinformationen miteinbeziehen, z.B.
kann die Lerndistanz umso geringer sein, je geringer der zeitliche Abstand des Bearbeitens einer Seite durch zwei Lernende ist.
In Bezug auf den Kooperationsmodus soll zwischen synchroner und asynchroner
Kooperation unterschieden werden. Zur Bearbeitung synchroner kooperativer Aufgaben müssen alle Teilnehmer einer Lerngruppe gleichzeitig im System angemeldet
sein. Die Bearbeitung asynchroner kooperativer Aufgaben erlaubt mehr Spielraum in
der Frage, wann ein Lerner aktiv zur Kooperation beiträgt.
Jede Kombination von Lernmodus und Kooperationsmodus stellt bestimmte Anforderungen an den Prozess der Lerngruppenbildung:
A.2 Die manuelle Gruppenbildung
163
Kooperationsmodus
Synchron
Asynchron
Klassenmodus
Online
-
Individueller
Modus
Online
Lernabstand
Weitere
Anforderungen
Lernabstand
Weitere
Anforderungen
Lernmodus
Abbildung A.3: Kriterien zur Gruppenbildung in verschiedenen Moduskombinationen
Die L³-Lernumgebung wird in einer Reihe unterschiedlicher Weiterbildungseinrichtungen eingesetzt. Die Anforderungsanalyse hat ergeben, dass diese Einrichtungen
je nach ihrer pädagogischen Zielstellung bzw. ihrem Geschäftsmodell unterschiedliche Bedürfnisse in Bezug auf die Unterstützung der Lerngruppenbildung haben. Auf
der Basis dieser Anforderungen werden in L³ zwei Arten der Lerngruppenbildung
unterstützt: Die Gruppenbildung kann automatisch oder manuell erfolgen.
Manuelle Gruppenbildung bedeutet, dass ein Tutor mit Hilfe geeigneter Werkzeuge
jede Gruppe für jede kooperative Aufgabe bildet, d.h. Lerner zu Gruppen zuordnet.
Er muss sich lediglich an die Vorgaben des Kursautors für die kooperative Aufgabe
halten, etwa in Bezug auf die Mindest- und Maximalgröße der Lerngruppen.
Automatische Gruppenbildung bedeutet, dass die Lernumgebung auf Basis der Vorgaben des Autors, der aktuellen Situation (z.B. wer ist online?), der Lernerpräferenzen eine Lerngruppe bildet. Wir werden unten noch sehen, dass es zwischen diesen
beiden Arten der Gruppenbildung Übergänge geben kann.
Im Folgenden wird die manuelle Gruppenbildung im Klassenmodus beschrieben.
Abbildung A.4 zeigt ein Werkzeug zur manuellen Gruppenbildung (Köhlhoff 2001),
das alle kooperativen Aufgaben (IPoCs) und alle Lernenden für eine bestimmte
Klasse darstellt. Es wird ebenfalls jeweils der Status eines IPoCs für einen Lerner
visualisiert, z.B. ob und, wenn ja, wie oft ein Lerner einen IPoC bereits durchgeführt
hat. Mit Hilfe des Werkzeugs kann der Tutor Lerngruppen einrichten und die Lernenden (und Tutoren) beliebig den Lerngruppen zuordnen.
164
Anhang
Abbildung A.4: Screenshot des Werkzeugs zur manuellen Gruppenbildung
Sobald ein Lerner die Durchführung eines IPoC initiiert, sucht die Lernumgebung die
Informationen über zugeordnete Mitlerner, wie sie im Gruppenbildungswerkzeug definiert wurden. Wurde der Lerner für diesen IPoC noch keiner Lerngruppe zugeordnet,
wird der Tutor benachrichtigt, um diese Zuteilung nachzuholen.
Zu jeder Zeit kann der Tutor Unterstützung durch die Lernumgebung anfordern: Auf
der Basis des Wissens über den Kurs und die Klasse kann das System für einen
IPoC z.B. eine Segmentierung der restlichen Lerner vorschlagen und aus diesen Lernenden dann geeignete Gruppen bilden. Dazu wird die standardmäßige automatische Gruppenbildungsstrategie benutzt.
Die manuelle Gruppenbildung kann am sinnvollsten im Klassenmodus eingesetzt
werden. Im Klassenmodus synchronisieren die Beteiligten regelmäßig ihren Lernfortschritt, kennen sich gegenseitig und insbesondere kennt der Tutor die Lernenden. So
kann sich der Tutor bei der Zusammenstellung von Lerngruppen auf Heuristiken und
Wissen stützen, das nicht notwendigerweise auch Eingang in das Lernerprofil gefunden hat. Je nach Art des Kurses oder falls ein Tutor nicht oder nicht immer verfügbar
ist, können Lerngruppen im Klassenmodus auch automatisch gebildet werden.
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