Spuren im Sand. Die Kinderfilmtradition der DEFA und die heutige

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Spuren im Sand. Die Kinderfilmtradition der DEFA und die heutige
Spuren im Sand. Die Kinderfilmtradition der DEFA und die heutige Medienrealität
Klaus-Dieter Felsmann (film-dienst Sonderheft 10/2006)
Fast wie auf das Amen in der Kirche kann man bei Foren zum Thema Kinderfilm darauf
warten, dass irgendwann jemand auf die guten diesbezüglichen Erfahrungen und Ergebnisse
der DEFA verweist. Solcherlei Replik findet ihre materielle Bestätigung, wenn man sich das
Angebot der Dritten Programme der östlichen ARD-Anstalten, des Kinderkanals KIKA oder
das umfangreiche DVD-Œuvre der Firma Icestorm ansieht. Hier wird gern, in letzterem Fall
fast ausschließlich, auf den Filmstock des Babelsberger Studios aus den Jahren 1946 bis 1990
zurückgegriffen, wo u.a. fast 200 Filme für Kinder und Jugendliche entstanden. Der Progress
Film-Verleih lebt ebenfalls im Wesentlichen von diesem Bestand, wenn sich die
entsprechenden Besucherzahlen im Kino auch nicht mit jenen der Fernsehauswertungen
messen können.
Soweit zum unmittelbaren Gebrauch des DEFA-Erbes. Darüber hinaus gilt es aber zu fragen,
ob und inwiefern ästhetische Handschriften, ideelle Ansätze und filmkünstlerische Ansprüche
der DEFA-Schule in der gegenwärtigen Kinematografie, insbesondere der für Kinder, zu
spüren sind.
Spukgeschichten
Personell lassen sich solche Spuren kaum festmachen. Mit der Schließung der DEFA-Studios
Anfang der 1990er-Jahre wurden die dort beschäftigten Regisseure auf den freien Markt
entlassen, wo entgegen manch trügerischer Hoffnung mit Ausnahme der Serienfabriken des
Fernsehens niemand auf sie wartete. Einzig Günter Meyer, der sich mit seinen beim DDRFernsehen produzierten Arbeiten wie „Spuk unterm Riesenrad“ (1979), „Spuk im Hochhaus“
(1983) oder „Kai aus der Kiste“ (1989) sehr erfolgreich um das Element der Unterhaltung im
Kinderfilm bemüht hatte, ist bis hin zu „Der Dolch des Batu Khan“ (2004) kontinuierlich mit
seinen Geschichten auf den Kinoleinwänden vertreten.
Das Personal ist es also nicht, was die Traditionen des DEFA-Kinderfilms in die heutige
Kinolandschaft trägt. Dennoch ist das Erbe durchaus lebendig, denn es stand bereits Pate, als
Anfang der 1970er-Jahre engagierte Regisseure damit begannen, eine für die alte
Bundesrepublik völlig neue Ästhetik mit Blick auf den Kinderfilm zu entwickeln. Hark Bohm
drehte 1972 „Tschetan, der Indianerjunge“ und Wolfgang Becker 1977 „Die
Vorstadtkrokodile“. Während zuvor in den Kinderfilmen der BRD die Flucht aus der Realität
in eine märchenhafte unverbindliche Idylle bestimmend war, kennzeichneten diese beiden
Filme eine Hinwendung zur Lebenswirklichkeit der Kinder. Damit zogen sie mit jenen
Ansprüchen gleich, die sich den DEFA-Filmen für Kinder schon wesentlich früher gestellt
hatten. Aus der Handlungsperspektive von Heranwachsenden sollten soziale Beziehungen
durchschaubar gemacht und produktive Impulse für das eigene Leben gesetzt werden. Das
entspricht genau jener Haltung, die Egon Schlegel beispielhaft für seine Babelsberger
Kollegen formulierte, als er im Zusammenhang mit seinem Film „Das Pferdemädchen“
(1978) in der Zeitschrift „Film und Fernsehen“ (2/1981) sagte: „Die Berechtigung für Kinder
zu arbeiten, leite ich eben daraus ab, dass ihre Probleme auch die meinen sind und umgekehrt.
Ich kann ihnen vielleicht über das Filmerlebnis noch ein paar Denkanstöße geben.“
Denkanstöße aus Babelsberg wurden seit den späten 1970er-Jahren trotz äußerer
ideologischer Abgrenzung für die Kinderfilmproduktion in beiden deutschen Staaten immer
wichtiger. Für das Kinderfilmfest der Berliner Filmfestspiele zählten DEFA-Filme zum harten
Kern. Zwischen 1978 und 1990 liefen 17 DDR-Produktionen im Kinderfilmprogramm. Dabei
waren alle Ausrichtungen innerhalb des Angebots, neben den Gegenwartsstoffen auch
Märchen und historische Sujets, vertreten. Viele der Filme wurden, wenn auch meist nur im
damals allerdings weit verbreiteten nichtgewerblichen Bereich in den bundesdeutschen
Verleih genommen. Die recht massive Präsenz der DEFA-Kinderfilme prägte nicht nur
Sehgewohnheiten, sie wurde auch zum Ausgangspunkt ästhetischer Auseinandersetzungen,
was sich nicht zuletzt in der Formulierung von Maßstäben für Filmemacher westlich der Elbe
niederschlug. Hinzu kamen persönliche Begegnungen, die beiderseits als höchst anregend
empfunden wurden. Beispielhaft waren hierfür etwa die „Ludwigshafener Filmgespräche“. In
einer hierzu erschienenen Publikation aus dem Jahr 1979 ist von der DEFA-Autorin Christa
Kozik nachzulesen, was ihr im Zusammenhang mit dem Film „Sieben Sommersprossen“
(1978) wichtig war, und was bis heute nichts an Gültigkeit verloren hat. „In unserer betont
rationalen Zeit scheint Sprache immer weniger Ausdruck seelischer Befindlichkeit zu sein.
(…) Es scheint, als ob die Heranwachsenden sich eine eigene Sprachwelt schaffen wollen, um
sich von den Erwachsenen abzugrenzen. (…) Aber wenn man genauer hinhört und -sieht, ahnt
man, wie viel Unsicherheit, Verdrängung und Hemmung dahinterstehen. (…) Deshalb muss
man ihnen (dabei) helfen, denn das Feld der Gefühle ist ein weites Feld, und
Gefühlserziehung ist kein Unterrichtsfach in der Schule.“ (Ludwigshafener Hefte 80, 1979)
Solcherlei Ansprüche deckten sich durchaus mit dem Erziehungsauftrag, der in der DDR auch
an die Kinderfilmproduktion herangetragen wurde. Er hatte aber nichts mehr mit den engen
ideologischen Intentionen zu tun, der diesem ursprünglich zu Grunde lag. Man kann es als
ideelles DEFA-Erbe werten, wenn auch nach 1990 weiterhin zahlreiche Kinderfilme
entstanden, die sich explizit der Lebenswirklichkeit der Kinder zuwandten: „Die Distel“
(1991) von Gernot Krää, „Die Lok“ (1991) von Gerd Haag oder „Flussfahrt mit Huhn“ (1992)
von Arend Agthe, um nur einige zu nennen. 1995 tauchte beim Deutschen Kinder-Film &
Fernseh-Festival „Goldener Spatz“ im Wettbewerbsprogramm Peter Timms „Rennschwein
Rudi Rüssel“ auf. Dies bedeutete eine Zäsur, die manchen Kinderfilmenthusiasten doch
einigermaßen verunsicherte. Heute weiß man, dass sich damit in gewisser Weise eine
Wendung des deutschen Kinderfilms hin zur ganzen Familie nicht ohne beträchtliche Erfolge
beim Publikum und damit auch an der Kinokasse symbolisierte. Als „Family Entertainment“
angelegte Filme wie „Bibi Blocksberg“ (2002) von Hermine Huntgeburth oder Thilo
Rothkirchs „Der kleine Eisbär“ (2001) erreichten etwas mehr als zwei Millionen Besucher.
Ausdrucksstarke Bildsprache
Bedeutet diese Entwicklung nun, dass eine Kinderfilmästhetik, die wesentlich durch DEFAArbeiten mitbestimmt wurde, nur noch für die Archive taugt? Die Wirklichkeit sieht anders
aus. Natürlich haben sich die Rahmenbedingungen nicht nur im Hinblick auf den Wegfall der
DDR geändert. Demografische Statistiken weisen einen einschneidenden Rückgang der
Zielgruppe auf, die Kultur von Kindheit und Jugend lässt sich weniger klar abgrenzen und die
Ökonomisierung des Gemeinwesens schreitet unaufhörlich voran. Dennoch, gerade die
jüngsten Debatten um die deutschen Schulen und um die Notwendigkeit von Werteerziehung
lassen es dringend geraten sein, dass auch der Film als ein sehr ansprechendes Medium
weiterhin Orientierungsangebote hinsichtlich des realen Lebens der Heranwachsenden macht
und sich mit deren Problemen auseinander setzt. „Pauls Reise (1998) von René Heise erfüllt
solcherlei Ansprüche genauso wie „Der Mistkerl“ (2000) von Andrea Katzenberger oder „Der
zehnte Sommer“ (2002) von Jörg Grünler. Nicht zuletzt gilt das aber in besonderem Maße für
den mit dem Deutschen Filmpreis 2004 ausgezeichneten Film „Die Blindgänger“ von Bernd
Sahling mit seiner ruhigen und ausdrucksstarken Bildsprache, der sich genauso dem
gegenwärtigen Kinderalltag stellt wie die auf vielen Festivals ausgezeichnete
Fernsehproduktion „Wer küsst schon einen Leguan?“ in der Regie von Karola Hattop. Wenn
man den Altmeister des ostdeutschen Kinderfilms, Helmut Dziuba, als Co-Autor bei „Die
Blindgänger“ hinzunimmt, hat man bei den zuletzt genannten nicht nur den ideellen Bezug
auf die DEFA-Schule als eine Facette deutscher Filmgeschichte, sondern in diesen Fällen ist
sie dann auch wieder personell präsent.