Karhuvaara und Iltalehti gg. Finnland

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Karhuvaara und Iltalehti gg. Finnland
Karhuvaara und Iltalehti gg. Finnland
NL 2004, S. 289 (NL 04/6/08)
KARHUVAARA & ILTALEHTI gegen Finnland
Urteil vom 16. November 2004, Kammer IV
Parlamentarische Immunität und Freiheit der Meinungsäußerung
Art. 10 EMRK
Sachverhalt:
Die Tageszeitung Iltalehti berichtete zwischen Oktober und Dezember 1996 in drei Artikeln über ein
Strafverfahren gegen einen Anwalt namens A., der zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, weil
er in einem Lokal randaliert und einen Polizisten angegriffen hatte. In den Berichten wurde wiederholt darauf
hingewiesen, dass der Verurteilte mit einer Abgeordneten des finnischen Parlaments verheiratet war. Das
Strafverfahren war Gegenstand ausführlicher Medienberichterstattung und öffentlicher Diskussionen und die Rolle
der Ehefrau des Angeklagten – die an dem Vorfall in keiner Weise beteiligt war – war ua. Gegenstand einer im
wichtigsten Fernsehsender gezeigten politischen Satiresendung.
Die Abgeordnete A., die den Wahrheitsgehalt der Berichte nicht in Abrede stellte, strengte ein Verfahren gegen
die Gesellschaft, welche die Tageszeitung Iltalehti herausgibt (die ZweitBf.), deren Chefredakteur (den ErstBf.)
und zwei Journalisten an. Sie forderte deren Bestrafung wegen Verletzung ihrer Privatsphäre und Verleumdung
und eine Entschädigung für den ihr durch die Berichte entstandenen Schaden. Sie berief sich dabei auch auf
§ 15 des Parlamentsgesetzes (riksdagsordningen), der Mitglieder des Parlaments in Ausübung ihres Amtes und
während der Tagungen des Parlaments unter besonderen Schutz stellt. Demnach gelten Straftaten gegen Abgeordnete als unter besonders erschwerenden Umständen begangen.
Am 27.3.1998 verurteilte das Bezirksgericht Vantaa den Chefredakteur und die beiden Journalisten wegen
Verletzung der Privatsphäre unter besonders erschwerenden Umständen iSv. § 15 des Parlamentsgesetzes. Dem
Chefredakteur wurde eine Geldstrafe in der Höhe von FIM 47.360,-- (ca. EUR 7.965,--), den beiden Journalisten
eine Geldstrafe von je ca. EUR 840,-- auferlegt. Außerdem wurden sie zur Zahlung einer Entschädigung in der
Höhe von ca. EUR 29.400,-- an die Abgeordnete A. und zum Ersatz ihrer Verfahrenskosten verurteilt. Die Verleumdungsklage wurde abgewiesen.
Das Hofgericht (hovioikeus) in Helsinki bestätigte dieses Urteil und wies die Berufung der Verurteilten ab. Auch
ein Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof (korkein oikeus) blieb ohne Erfolg.
Rechtsausführungen:
q Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie
Meinungsäußerung) durch ihre Verurteilung. Die Berichte hätten eine Angelegenheit von
öffentlichem Interesse betroffen und keine Informationen über das Privatleben von A.
enthalten, die nicht ohnehin allgemein bekannt gewesen seien. Außerdem habe sich der
Vorfall im Wahlkreis der Abgeordneten ereignet und sei Gegenstand einer breiten öffentlichen
Debatte gewesen.
q Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:
Es steht außer Streit, dass die Verurteilung der Bf. einen Eingriff in ihr Recht auf freie
Meinungsäußerung begründet, dieser gesetzlich vorgesehen war und ein legitimes Ziel,
nämlich den Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, verfolgte. Die strittige Frage
ist, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.
Die Bf. behaupteten in den Berichten weder eine Beteiligung der Abgeordneten A. an den
Vorfällen, die zur Verurteilung ihres Ehemannes führten, noch erhoben sie sonstige Vorwürfe
gegen sie. Es wurden auch – abgesehen von der bereits allgemein bekannten Tatsache ihrer
Ehe mit A. – keine Details über ihr Privatleben preisgegeben. Unter diesen Umständen, und
insbesondere angesichts der Tatsache, dass Frau A. sich als Politikerin von der Presse mehr
gefallen lassen muss als ein Durchschnittsbürger, war der Eingriff in ihr Privatleben, sofern
überhaupt von einem Eingriff iSv. Art. 8 EMRK gesprochen werden kann, jedenfalls ein
beschränkter.
Andererseits bezogen sich die Berichte weder auf politische Angelegenheiten noch direkt
auf die Person der Abgeordneten A. als Politikerin. Sie betrafen daher keine Angelegenheit
von allgemeinem öffentlichen Interesse. Dennoch hat die Öffentlichkeit ein Recht auf
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Information, das sich unter Umständen sogar auf Aspekte des Privatlebens von Personen des
öffentlichen Lebens erstrecken kann, vor allem wenn Politiker betroffen sind. Wie das
Bezirksgericht festgestellt hat, ist die Verurteilung des Ehemannes einer Politikerin geeignet,
die Entscheidung der Wähler zu beeinflussen. Dies weist nach Ansicht des GH darauf hin,
dass zumindest bis zu einem bestimmten Grad über eine Angelegenheit von öffentlichem
Interesse berichtet wurde.
Da über die Vorfälle bereits in anderen Medien berichtet worden war, wurde die Identität der
Abgeordneten A. nicht erst durch die Bf. enthüllt. Dennoch akzeptiert der GH die Ansicht der
innerstaatlichen Gerichte, wonach die Veröffentlichung in der in ganz Finnland erscheinenden
Zeitung Iltalehti geeignet war, die Privatsphäre von Frau A. stärker zu beeinträchtigen als die
vorhergehende Veröffentlichung derselben Fakten in einer Lokalzeitung mit geringerer
Verbreitung. Diese Interpretation entspricht der innerstaatlichen Rechtsprechung und kann
daher nicht als willkürlich angesehen werden. Dennoch reicht sie nicht aus, um die
Verurteilung der Bf. zu rechtfertigen.
Ein weiterer zu berücksichtigender Faktor ist § 15 des Parlamentsgesetzes, der
Abgeordneten in Ausübung ihres Amtes besonderen Schutz gewährte. Es entspricht einer
lange geübten staatlichen Praxis, Mitgliedern des Parlaments Immunität zu gewähren, um die
freie Meinungsäußerung der Volksvertreter zu ermöglichen und die Störung der
parlamentarischen Arbeit durch parteiische Klagen zu verhindern. Der vorliegende Fall betrifft
zwar nicht direkt die parlamentarische Immunität, da er keine Frage der Immunität der
Abgeordneten A. gegenüber einer zivilrechtlichen Klage oder einer strafrechtlichen Anklage
aufwirft. Ihre Immunität spielt aber insofern eine Rolle, als ihr Status als Mitglied des
Parlaments gemäß § 15 des Parlamentsgesetzes zu einer strengeren Bestrafung der Bf.
führte. Dieser der Abgeordneten gewährte indirekte Schutz spielt sowohl hinsichtlich der
Rechtfertigung als auch der Angemessenheit der Verurteilungen eine Rolle.
Die Straftaten der Bf. standen in keinem Zusammenhang mit der Ausübung des Amtes als
Abgeordnete durch Frau A. Es wurde nicht vorgebracht, dass die Bf. Kritik an der
Abgeordneten geübt hätten und nicht einmal behauptet, dass die Veröffentlichung ihres
Namens und Fotos im Zusammenhang mit dem Bericht über das Strafverfahren gegen ihren
Ehemann in irgendeiner Weise die freie Meinungsäußerung der Abgeordneten A. oder die
freie Parlamentsdebatte eingeschränkt hätte. Angesichts des Fehlens jeglichen
Zusammenhangs mit den Zielen der parlamentarischen Immunität erscheint die Heranziehung
des Status von Frau A. als erschwerender Umstand bei der Verurteilung der Bf.
problematisch. Durch die automatische und unbedingte Anwendung des § 15
Parlamentsgesetz wurden im Ergebnis die durch Art. 10 EMRK garantierten widerstreitenden
Interessen außer Acht gelassen.
Schließlich muss der GH die Schwere der über die Bf. verhängten Strafen berücksichtigen.
Der ErstBf. wurde zur Zahlung einer Strafe in der Höhe von ca. EUR 7.965,-- verurteilt.
Daneben wurde den Verurteilten gemeinsam die Zahlung einer Entschädigung von ca.
EUR 29.400,-- auferlegt. So schwerwiegende Bußzahlungen begründen vor dem Hintergrund
des nur beschränkten Eingriffs in das Privatleben der Abgeordneten A. ein krasses
Missverhältnis zwischen den widerstreitenden Interessen des Schutzes des Privatlebens und
der Freiheit der Meinungsäußerung.
Nach Ansicht des GH waren die Gründe, auf die sich die innerstaatlichen Gerichte beriefen,
zwar relevant, aber nicht ausreichend um zu zeigen, dass der Eingriff notwendig in einer
demokratischen Gesellschaft war. Außerdem waren die verhängten Geldstrafen
unverhältnismäßig. Die innerstaatlichen Gerichte haben es demnach verabsäumt, einen fairen
Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu treffen. Verletzung von Art. 10 EMRK
(einstimmig).
q Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich alleine eine ausreichend gerechte
Entschädigung für den immateriellen Schaden dar. EUR 22.155,-- für den materiellen
Schaden des ErstBf.; EUR 14.190,-- für den materiellen Schaden der ZweitBf.; EUR 29.000,--
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für Kosten und Auslagen der beiden Bf. (einstimmig).
Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Urteile Tammer/EST v. 6.2.2001 (= NL 2001, 29); A./GB v.
17.12.2002 (= NL 2003, 11 = ÖJZ 2004, 352); Cordova/I (Nr. 1 & Nr. 2) v. 30.1.2003 (= NL
2003, 22); Von Hannover/D v. 24.6.2004 (= NL 2004, 144 = EuGRZ 2004, 404).
P.C.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format).
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