Hans SAHL 07-2-405 Die Exterritorialität des Denkens

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Hans SAHL 07-2-405 Die Exterritorialität des Denkens
Hans SAHL
07-2-405
Die Exterritorialität des Denkens : Hans Sahl im Exil / Andrea
Reiter. - Göttingen : Wallstein-Verlag, 2007. - 398 S. : Ill. ; 23
cm. - S. 363 - 386 Bibliographie. - ISBN 978-3-8353-0223-5 :
EUR 38.00
[9544]
Der Lyriker, Romancier, Übersetzer, Essayist und Autobiograph Hans Sahl
(1902 - 1993) ist einer breiteren Öffentlichkeit vor allem als Repräsentant
des literarischen und politischen Exils aus dem nationalsozialistischen
Deutschland im Gedächtnis: Mit den Gedichtzeilen „Wir sind die Letzten. /
Fragt uns aus. / Wir sind zuständig.“1 hatte er als Betroffener und Augenzeuge 1976 Erinnerung und Mahnung an die aus politischen und rassischen
Gründen vertriebenen Deutschen ebenso dramatisch wie flehentlich beschworen und der nachwachsenden „Generation der Enkel“ angeboten.
„Wir, die wir unsere Zeit vertrödelten, / aus begreiflichen Gründen, / sind zu
Trödlern des Unbegreiflichen geworden. / Unser Schicksal steht unter
Denkmalschutz. / Unser bester Kunde ist das schlechte Gewissen der
Nachwelt. / Greift zu, bedient euch“ (ebd.).
Sahl, aus wohlhabendem, jüdischen Elternhaus stammend, war schon in
den zwanziger Jahren als linksintellektueller Film- und Literaturkritiker verschiedener Berliner Zeitungen bekanntgeworden, bis er 1933 aus Deutschland fliehen mußte; Prag, Zürich und Paris waren die Stationen seines europäischen Exils, 1940/41 half er als Mitarbeiter von Varian Fry in dessen
Emergency Rescue Committee2 in Marseille bei der Evakuierung deutscher
Flüchtlinge und reiste selber nach New York aus. Geprägt war sein Leben
äußerlich durch bittere Armut in nahezu völliger Mittellosigkeit, politisch
1937/39 durch den Bruch mit der Kommunistischen Partei, der den Verlust
1
Wir sind die Letzten : Gedichte / Hans Sahl. - Heidelberg : Lambert Schneider,
1976. - 87 S. (Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt ; 50), S. 7, hier S. 162. Laut Reiter schrieb Sahl das Gedicht anläßlich eines Gesprächs mit deutschen Gymnasiasten (S. 160, Anm. 129).
2
Vgl. Flüchtlingspolitik und Flüchtlingshilfe 1940 - 1942 : Varian Fry und die
Komitees zur Rettung politisch Verfolgter in New York und Marseille / Anne Klein. Berlin : Metropol-Verlag, 2007. - 542 S. : Ill. ; 24 cm. - (Reihe Dokumente, Texte,
Materialien / Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität
Berlin ; 61). - Zugl.: Berlin, Freie Univ., veränd. Diss., 2004 u.d.T.: Klein, Anne:
Flüchtlingshilfe 1940 - 1942. - ISBN 978-3-938690-17-8 : EUR 24.00 [9516]. - Vgl.
die vorstehende Rezension in IFB 07-2-385. - Ohne zu zögern : Varian Fry: Berlin
- Marseille - New York ; [ein Projekt des Aktiven Museums Faschismus und Widerstand in Berlin e.V. in Kooperation mit der Akademie der Künste Berlin ; Ausstellung: Akademie der Künste, Pariser Platz 4, Berlin, 18. November - 30. Dezember 2007] / Aktives Museum. [Red.: Angelika Meyer und Marion Neumann]. Berlin : Aktives Museum, 2007. - 493 S. : Ill. ; 24 cm. - Biographien S. 401 - 467. ISBN 978-3-00-022946-6 : EUR 20.00 zzgl. Porto [9450]. - Vgl. die vorstehende
Rezension in IFB 07-2-384.
letzter materieller Unterstützung und statt dessen zusätzliche Gefährdung
als „Renegat“ und vor allem selbst gewählte Isolation bedeutete. Literarisch
wurde er 1938 durch das Chorwerk Jemand für den Schweizer Arbeitersängerverband bekannt und schon vorher durch Texte und Chansons für
die Zürcher Kabaretts Die Pfeffermühle und Cornichon, in Paris veröffentlichte er im Neuen Tage-Buch von Leopold Schwarzschild, in den USA publizierte er 1941 auf Subskriptionsbasis einen ersten Gedichtband. 1947
und von 1953 bis 1958 lebte er in der Schweiz und in der Bundesrepublik,
ging danach aber wieder in die USA, deren Staatsbürger er 1952 geworden
war. Er schrieb seit 1946 Film- und Kulturkritiken für die Neue Zürcher Zeitung, nach 1957 auch für Die Welt und die Süddeutsche Zeitung, einen
Namen machte er sich nach 1958 als Übersetzer zeitgenössischer amerikanischer Literatur, vor allem der Dramen von Thornton Wilder, Tennessee
Williams, John Osborne und Arthur Miller. 1959 erschien sein autobiographischer Roman Die Wenigen und die Vielen, 1983 die Memoiren eines
Moralisten und 1990 Das Exil im Exil : Memoiren eines Moralisten 2, in
denen er sich wiederholt und in wechselnden Nuancen mit seinem Leben im
Exil befaßte und es literarisch deutete. In den 1960er Jahren wurde er in der
Bundesrepublik als Repräsentant des Exils bekannt, erfuhr Anerkennung
und Ehrungen. Seit 1977 nahezu vollständig erblindet und von Betreuung
abhängig, zog Sahl sich in die Privatsphäre zurück, arbeitete aber literarisch
mit Hilfe von Diktiergeräten weiter; die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er von 1989 bis 1993 in Tübingen.3 Schon 1973/74 hatte er Teile
seines Privatarchivs dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach vermacht,
sein dort archiviertes Tagebuch von 1933 bis 1978 ist jetzt erstmals zur
Grundlage einer detailreichen Studie geworden,4 – alle vorherige biographische Literatur über ihn fußt auf den veröffentlichten Texten oder auf persönlichen Informationen.5
3
Die gültige subjektive Personalbibliographie ist: Hans Sahl : eine Bibliographie
seiner Schriften / Gregor Ackermann und Momme Brodersen. Mit einem Vorw. von
Edzard Reuter. - Marbach am Neckar : Deutsche Schillergesellschaft, 1995. - VIII,
319 S. : Ill. ; 21 cm. - (Verzeichnisse, Berichte, Informationen / Deutsches Literaturarchiv ; 18). - ISBN 3-929146-40-1 : DM 50.00 [3764]. - Rez.: IFB 97-1/2-144.
4
Reiter beschreibt den Umfang des Nachlasses in Marbach als 62 Kästen, das
Tagebuch von 1933 bis 1978 umfaßt 18 handgeschriebene Bände (S. 9), weitere
Briefe und Texte sind im Exil-Archiv der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt
und in einem Privatarchiv überliefert, auch sie werden von Reiter ausgewertet.
5
Die Literatur über Hans Sahl findet sich in zeitlicher Folge bis 2002 übersichtlich
zusammengestellt im Beitrag von Michael Rohrwasser in: Das KLG auf CD-ROM
[Elektronische Ressource] : kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur / hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München : Edition Text + Kritik. CD-ROM. - Druck-Ausg. u.d.T.: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur [5746]. - Stand: 87. Lfg. 2008. - Daß Rohrwassers Bibliographie lediglich 12 Titel aus der Zeit vor 1972 verzeichnet, hat nicht zuletzt damit zu tun,
daß die systematische Dokumentation von Sahls Rezeption in Publizistik und Wissenschaft noch in den Anfängen steckt.
Allein schon dieser Umstand macht das Buch von Andrea Reiter6 zu einer
unentbehrlichen Publikation. Waren bisher viele biographische Details und
Angaben wegen der durchaus variierenden Darstellungen in den autobiographischen Schriften nicht eindeutig zu klären oder beruhten in scheinbarer Eindeutigkeit auf dem ausschließlichen Rekurs auf gezielte, persönliche
Mitteilungen aus immer größer werdendem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen,7 so steht jetzt eine erste Quelle zur Verfügung, die sich gelegentlich bis in Formulierungen hinein als Ausgangspunkt der späteren Verarbeitungen und Varianten zu erkennen gibt. Daß das Tagebuch kaum datiert ist,
mag für Historiker ein Mangel sein, doch hat die Autorin durch penible Abgleichungen mit datierten Briefen das Tagebuch genau strukturieren können, - die Briefe zeigen gelegentlich bereits erste Varianten der Tagebucheintragungen. Doch ist das Buch von Andrea Reiter keine bloße biographische Studie geworden, sondern bietet eine geistesgeschichtlich orientierte,
aber auch politisch und psychologisch argumentierende Auseinandersetzung mit zentralen Motiven des Werks von Hans Sahl, wie sie im Tagebuch,
in Briefen, in Roman, Gedichten und anderen literarischen Texten, in seiner
literarisierten Autobiographie und anderen Äußerungen dargeboten werden.
In vier großen Kapiteln und einem kurzen Epilog befaßt sich die Autorin zunächst mit der Figur des Intellektuellen und des Renegaten im Exil, geht auf
das Verhältnis von Intellektuellen und Politik, auf Zweifel, Wahrheit, Verrat
und Freiheit ein und expliziert es am später äußerst kritischen Verhältnis
von Sahl zu Brecht (als einem Nicht-Renegaten) und an Sahls Chorwerk
Jemand (nach dem Holzschnittzyklus von Frans Masareel), in dem Sahl die
sozialkritische Vorlage gegen Schluß in Kapitalismuskritik wendet. Im Kapitel Identität und Privatmythos geht die Autorin dem zentralen Motiv der Abwendung vom stalinistischen Kommunismus in Werk und Leben von Sahl
nach, die er unterschiedlich datiert, vor sich selbst dramatisch auf ein bestimmtes Ereignis, seinem Austritt aus dem Schutzverband Deutscher
Schriftsteller 1939, zuspitzt, andererseits aber in verschiedene politische
Zusammenhänge stellt: In der lebenslangen Auseinandersetzung mit der
Konstruktion der eigenen Identität wird ein bestimmtes Ereignis zum Privatmythos umgesetzt, der sich durchaus verselbständigt. Im Kapitel Der Exilant
als Mittler bezieht sich die Autorin auf Sahls Leben und Wirken in den USA,
6
Andrea Reiter (geb. 1957) hat sich mehrfach mit der Literatur der Shoah und des
Exils befaßt, seit 1991 auch speziell mit dem Werk von Hans Sahl; sie ist „Senior
Lecturer“ und „Parkes Fellow“ an der Universität von Southampton in England.
7
So z.B. die Biographie Hans Sahl / Sigrid Kellenter. // In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. - Bern ; München : Saur. - 24 cm. - Bd. 1. u.d.T.: Deutsche Exilliteratur seit 1933. - ISBN 3-907820-43-6 [2382]. - Bd. 2. New York / hrsg. von
John M. Spalek … - Teil 1 (1989), S. 803 - 825. - Andrea Reiter vergleicht dagegen noch verschiedene Varianten in ihrem Sammelbeitrag über Ruth Fischer,
Hans Sahl und Willi Schlamm: Doppelte Verbannung : politisches Renegatentum
im Exil / Andrea Reiter. // In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. - Bern ;
München : Saur. - 24 cm. - Bd. 1. u.d.T.: Deutsche Exilliteratur seit 1933. - ISBN 3907820-43-6 [2382]. - Bd. 3. USA / hrsg. von John M. Spalek ... - Teil 4 (2003), S.
469 - 499.
zunächst isoliert in engstem, antikommunistisch agierendem Kreis und ohne
jeden wirtschaftlich meßbaren Erfolg (trotz der Auftragsarbeiten für deutschsprachige Zeitungen), später auch in stärkerem Kontakt zu amerikanischen
Intellektuellen, nach der zwischenzeitlichen, ihn enttäuschenden Rückkehr
nach Deutschland ab 1958 dann erfolgreich als Übersetzer und Vermittler
prominenter amerikanischer Dramatiker. Erst jetzt wendet sich das Bewußtsein von Exterritorialität und Dazwischensein von intendierter Heimatlosigkeit zur Intention des Vermittelns zwischen Sprachen, Kulturen und Kontinenten. Im Kapitel Der Privatmythos und das literarische Werk geht Reiter
auf die literarische Umsetzung seiner Biographie im Roman Die Wenigen
und die Vielen ein, der sich durch seinen metafiktionalen Charakter, durch
die Mischung verschiedener Textsorten und Intertextualität, zum Zeitpunkt
seiner Entstehung in den 1940er Jahren und seiner Veröffentlichung 1959
jeder einfachen Kategorisierung entzog. Sie stellt den Roman den späteren
autobiographischen Texten gegenüber, die nicht mehr literarisch verschlüsselt, aber mit literarischen Einfügungen nun aus größerem zeitlichen Abstand und in deutlicherer Selbsterklärungsabsicht Leben und Ereignisse objektivieren und kommentieren, und nutzt zur Interpretation des Werkes
erstmals sein Tagebuch, das ihm nicht nur als profanes Tagebuch, sondern
auch als Skizzenbuch und als Ersatz des verhinderten Werkes diente, sowie
seine Briefe, die er in Auszügen fast routinemäßig im Tagebuch kopierte.
Die Autorin schreibt über die ablehnend-zögerliche Edition und verständnislos-kritische Rezeption des Romans in Deutschland und interpretiert ihn intensiv als pikaresken Roman mit Abschnitten zu seiner episodischen Struktur, zur Doppelung durch Einschübe und zum skurrilen Humor. In einem
kurzen Epilog faßt Andrea Reiter noch einmal Grundlinien von Werk und
Leben Hans Sahls zusammen, indem sie seinen moralischen Rigorismus
hervorhebt, der ihn zum Renegaten und Rebell werden und im gelebten
Prinzip der Verantwortung ihn für andere Exilanten und das Schicksal des
Exils eintreten ließ.
Die Studie von Andrea Reiter setzt durch die erstmalige Berücksichtigung
von Tagebuch, Briefen und weiteren ungedruckten Quellen neue Maßstäbe
für die Beschäftigung mit Hans Sahl. Um so unverständlicher ist es, daß die
Autorin auf eine Aufführung oder auch nur grobe Übersicht über die von ihr
benutzten ungedruckten Quellen verzichtet. Dadurch enthält sie uns nicht
nur diese Übersicht vor, sondern zwingt sich selber ständig zu umständlichen, aber letztlich doch nur pauschalen Belegen für die ausführlichen Zitate, während sie die Belege aus den gedruckten Werken Sahls in so kurz
gefaßter Abkürzung wie nur irgend möglich, aber exakt anführt.8 Solche
Einwände mögen beckmesserisch klingen, sie sollen hier auch vor allem
darauf hinweisen, daß zur weiteren Beschäftigung mit Hans Sahl nicht nur
8
Andrea Reiter beschränkt ihre Werkzitate und Belege auf 15 selbständige und 19
unselbständige Veröffentlichungen von Sahl, kann aber auf die Personalbibliographie von Ackermann/Mommsen (s. Anm. 2) verweisen. Reiters über 300 Titelangaben von Sekundärliteratur stammen aus dem großen Umkreis von Exil und Moderne. Dankbar greift man bei der Lektüre ihrer Studie aber auf das Kreuzregister
mit über 550 Lemmata von Personen, Orten, Titeln und Sachbegriffen zurück.
die Erstellung eines Findbuchs für die Archivalien dringend notwendig ist:
Eine kritische Edition von Tagebuch und Briefen würde nicht nur Licht in die
biographischen Widersprüche und Details von Leben und Werk bringen und
noch unpublizierte literarische Texte aufdecken, sondern die Literatur-, Kultur- und politische Geschichte des Exils um unbekannte Details und Einsichten bereichern. Daß Person und Werk der Mühe solcher Editionsarbeit wert
sind, hat Andrea Reiter in ihrer Studie durch die Einbeziehung der ungedruckten Quellen bereits bewiesen, diese editorisch aufzuarbeiten und zu
präsentieren, sollte zur dringendsten Aufgabe der an Hans Sahl und am
deutschen Exil interessierten Forschung werden.
Wilbert Ubbens
QUELLE
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Wissenschaft
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