die stimme meiner schwester
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die stimme meiner schwester
Therese Walsh DIE STIMME MEINER SCHWESTER Roman _ Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp KNAUR Die amerikanische Originalausgabe dieses Buchs erschien 2009 unter dem Titel The Last Will of Moira Leahy bei Shaye Areheart Books, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Random House, Inc., New York. Besuchen Sie uns im Internet: www.knaur.de Deutsche Erstausgabe April 2011 Copyright © 2009 by Therese Walsh This translation published by arrangement with Shaye Areheart Books, an imprint of Harmony Books, a division of Random House, Inc. Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe bei Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Redaktion: Sabine Thiele Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: © Harry Vorsteher/Corbis Satz: Adobe InDesign im Verlag Druck und Bindung: C. H. Beck, Nördlingen Printed in Germany ISBN 978-3-426-65218-3 2 4 5 3 1 Für meine Amelia. Flieg, mein lieblicher Vogel, flieg. _ Und für Sean, der meine Flügel gestärkt hat. DER ERSTE WILLE Der keris _ Für die Javaner … ist das Ziel der Weisheit (kaweruh) Liebe, nicht Ehrgeiz oder Klugheit. Weisheit entsteht aus dem Vermögen, bedacht genug zu sein, um zu leiden und zu lernen. Pawartos Jawi KAPITEL EINS Wunderkind _ I ch verlor meinen Zwilling an eine rauhe Novembernacht vor neun Jahren. Seitdem habe ich diesen Monat so intensiv empfunden wie keinen anderen, als hätte sich jedes der dreißig makellosen kleinen Quadrate auf dem Kalenderblatt verdoppelt. Ich wünschte, sie würden einfach verschwinden, der Winter würde beginnen. Ich hatte Säcke voll Steinsalz, eine Schaufel und einen starken Rücken. Eis und Schnee machten mir keine Angst. Doch der November zog sich hin, raschelte unter den Schritten meiner Erinnerung wie tote Blätter. Es war daher kein Wunder, dass ich eines Novemberabends dem Impuls nachgab, den Papierstapel auf meinem Schreibtisch liegen zu lassen und dorthin zu gehen, wo ich mich mit einem Freund in der Vergangenheit verirrt hatte: Ich dachte, im Auktionshaus könnte ich der Erinnerung für eine Weile entkommen, doch stattdessen lief ich ihr geradewegs in die Arme. Es war eben November. Doch dieses Mal brachte dieser Monat eine Überraschung mit sich. Ich musste ihn haben. Der gewellte Dolch war etwas über dreißig Zentimeter lang, sah alt aus und als wäre er aus Eisenerz geschmiedet. Die geriffelte Basis der Klinge war asymmetrisch gearbeitet; eine 9 Seite endete in einer hervorstechenden Zacke, die andere war gerundet wie ein kleiner, schutzheischender Schweif oder der Kamm einer Welle. Die Klinge und der gebogene Holzgriff waren durch einen mit Edelsteinen besetzten Metallring verbunden; die Scheide bestand aus Silber und wies kunstvolle Gravuren auf. Hätte er nicht das kleine Loch in der Mitte der Klinge gehabt, wäre er makellos gewesen. Ich beugte mich vor, um ihn zu berühren, doch ein Stoß gegen meinen Oberschenkel riss mich aus meiner Betrachtung. Das kleine Mädchen, das mich angestoßen hatte, hätte mich beinahe umgeworfen, und das nicht nur im eigentlichen Sinne des Wortes. Würde ich an die Existenz von Geistern glauben, hätte ich jetzt meine Schwester vor mir gesehen. Meine Schwester, ein Kind. Augen wie das Meer. Langes rotes Haar – wie meins, bevor ich es gebleicht und zur Schere gegriffen hatte. Ich starrte sie an, und meine Vision verblasste ein wenig. Sie mochte vielleicht sieben oder acht sein – ein paar Jahre jünger als Moira und ich, als wir einen Dolch wie den, den ich nun haben wollte, geklaut und in der Bucht verloren hatten. Gut, ich hatte ihn verloren, als ich so tat, als wäre ich Alvilda, die Piratenkönigin. Das Mädchen stieß mich erneut an. »Kann ich dir helfen, Kleine?«, fragte ich. »Hast du dich verlaufen?« Sie gab keine Antwort und zeigte stattdessen auf das entgegengesetzte Ende des Ausstellungstisches. Dort war nicht viel zu sehen: eine Büste von JFK, eine Perlmutt-Bonbonniere und eine indigoblaue Flasche, die vermutlich aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise stammte. Noel hätte es mit Sicherheit gewusst. »Möchtest du das haben?« Ich deutete auf die Bonbonniere. Vielleicht war ein geheimer Schokoladenvorrat darin versteckt, wer konnte das schon sagen? Aber sie schüttelte den Kopf. Schließlich entdeckte ich eine kleine schwarze Dose 10 mit rosa Rosen, deren Blüten aussahen, als wären sie aus Zuckerguss. Natürlich. »Die Dose?« Sie nickte. Ich hielt sie ihr hin, und sie streckte eine kindlich-pummelige Hand aus. »Sei vorsichtig«, ermahnte ich sie. Ich blickte mich nach ihren Eltern um, entdeckte jedoch niemanden, der panisch nach einem verlorengegangenen Kind zu suchen schien, und auch niemanden mit der richtigen Haarfarbe. Das Mädchen ließ die Dose in meinen Händen und öffnete den Deckel. Musik ertönte, »The Entertainer«. Die Kleine kicherte. »Magst du …« Meine Stimme klang heiser. »Magst du Musik?« »Ich liebe es, zu Musik zu tanzen.« Ihre Stimme klang lieblich und war so schüchtern wie ihr Lächeln. Sie ähnelte Moira so sehr, doch sie war unversehrt und konnte laufen und lachen. Ich vermisste das Lachen meiner Schwester – vielleicht mehr als alles andere. »Spielst du ein Instru…« »Jillian! Da bist du ja!« Eine Frau mit dunklem Haar kam auf uns zu, ihr Gesicht zeigte eine Mischung aus Ärger und Erleichterung. »Ich habe mir die Spieldose angeschaut, Mommy«, sagte das Mädchen. »Sieh mal, wie schön sie ist!« Die Mutter beugte sich zu ihrer Tochter hinunter. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Das nächste Mal, wenn du dir etwas anschauen möchtest, gehen wir zusammen.« Das Mädchen nickte ernst, gerade als das Licht gedämpft wurde. »Lass uns einen Platz suchen.« Die Frau zog ihre Tochter hinter sich her, die mir zum Abschied winkte. Auf Wiedersehen. Sie verschwanden in der Menge. Ich schüttelte meine melancholischen Gedanken ab und wandte mich wieder dem Dolch zu. Es juckte mich in den Fingern, ihn anzufassen, doch gerade als ich die Hand danach ausstreckte, nahm ihn eine Auktionsmitarbeiterin vom Tisch, steckte ihn in die Scheide und verstaute ihn in 11 einer Pappschachtel. »Die Besichtigungszeit ist um«, sagte sie. »Aber …« »Sie haben sich verliebt, stimmt’s?« Ich hatte noch nie einen Dolch gesehen, der dem, den ich ans Meer verloren hatte, so ähnelte, und das Verlangen danach zerrte an mir, als wäre ich ein Pferd mit einer Trense im Maul. »Ich muss ihn haben.« Die Frau legte weitere Gegenstände in die Schachtel: die blaue Flasche, die Bonbonniere, die Spieldose. »Dann zücken Sie mal besser Ihr Scheckheft. Der alte George glaubt, der Dolch bringt Hunderte.« Nun gut. Ich besaß ein Scheckheft. Nach ein paar Minuten Ellbogen- und Geldbörsengerangel hatte ich mich registrieren lassen und hielt die Bietertafel mit der Nummer 51 in Händen. Gesprächsfetzen tanzten um mich herum, als ich mich zwischen breitschultrigen Männern und Frauen hindurch nach vorn zwängte und einen Schwenk Richtung Bühne machte. Die Bühne und der alte Fußboden – voller Löcher dort, wo ehedem abgewetzte Samtsitze gestanden hatten – waren alles, was an das Theater erinnerte, das einst ein geschätztes Wahrzeichen von Betheny, New York, gewesen war. Zumindest Noels Worten nach. Ich war erst zum Studium hergezogen. Gerade als ich vorne ankam, betrat George Lansing, der Besitzer von Lansing’s Block, die Bühne. Es herrschte rege Geschäftigkeit – eine Briefmarkensammlung wurde versteigert, eine abgestoßene Gruppe von Stühlen, ein Geschirrschrank aus Mahagoni, der seinen neuen Besitzern beim Transport den Rücken brechen würde. Ich sah die blaue Flasche in der Schachtel zu Georges Füßen und wusste, dass der Dolch ebenfalls darin lag. Die Flasche wechselte den Besitzer, und George griff nach der Spieldose. »Zum Ersten!«, sagte er nach anfänglichem Feilschen mit 12 der Menge. Eine Frau mittleren Alters mit einem mürrischen Gesichtsausdruck hielt ihre Bietertafel hoch und machte ein Angebot über fünf Dollar. Wo war das Mädchen? Würde seine Mutter nicht sechs Dollar für die Dose bieten? Ich blickte mich um, konnte die beiden aber nicht entdecken. »Zum Zweiten!« Mein Arm hob sich, als hätte er einen eigenen Willen. »Zehn Dollar!« George würdigte mich keines Blickes, vermutlich hielt er den Bieter für einen Schwachkopf. Es kamen keine weiteren Angebote. Ich brauchte keine Spieldose. Ich wollte keine Spieldose. Im Grunde würde ich dieses Ding verabscheuen. Aber das Kind, das meiner Schwester so ähnlich gesehen hatte, sollte sie haben. Ich konnte es jedoch nicht ausfindig machen, denn genau in dem Moment hielt George den Dolch in seiner Scheide hoch, und die lärmende Menge verstummte. Ich beugte mich vor, genau wie alle anderen. »Hier habe ich etwas, das Sie nicht alle Tage zu sehen bekommen«, sagte George Lansing mit einer Stimme, die so abgenutzt war wie seine Auktionsstücke. »Das hier ist ein keris. Er sieht ein wenig mitgenommen aus und hat ein Loch in der Mitte der Klinge, doch ansonsten ist er in keinem schlechten Zustand, wenn man bedenkt, dass er vor schätzungsweise zwei Jahrhunderten irgendwo in Indonesien gefertigt wurde.« Irgendwo in Indonesien. Vor schätzungsweise zwei Jahrhunderten. Ich lächelte. Lansing hatte nie viel mit Fakten am Hut gehabt – etwas, woraus Noel in der Vergangenheit einen profitablen Vorteil gezogen hatte. Lansings Stimme hob sich, und die Leier begann: »Wer bietet zweihundert, zweihundert, zweihundert?« Die Hälfte der Anwesenden schien die Tafeln in die Höhe zu recken, und der Preis stieg auf zweihundertfünfundzwanzig Dollar, dann auf zweihundertfünfzig, zweihundertfünfund13 siebzig. Mit feuchten Handflächen hielt ich meine Tafel umklammert. Noel hatte mir beigebracht, mit einem Gesicht, so unbewegt wie das Wasser in einer windstillen Bucht, den rechten Augenblick abzuwarten; schon das geringste Kräuseln würde Lansings Aufmerksamkeit auf sich ziehen. »Dieser Dolch ist mindestens das Doppelte des letzten Gebotes wert, und ich gebe ihn für nicht weniger als dreihundertfünfzig Dollar her.« Er hämmerte auf sein Auktionatorpult – etwas, das vermutlich nicht im Auktionsleitfaden von Christie’s vorgesehen war, aber es funktionierte. Als ich über die Schulter blickte, sah ich, wie Nummer 36 murrend ein Angebot über dreihundertfünfzig Dollar abgab. Wie viel war ich bereit, einer Erinnerung wegen zu bezahlen? »Dreihundertfünfzig zum Ersten, zum Zweiten …« Ich hob meine Bietertafel und brüllte: »Vierhundert!« Endlich blickte George mich an, und seine dunkel gesprenkelten Augen weiteten sich. »Noel Ryans Freundin, das kleine Albinomädchen«, sagte er mit einem Grinsen. Er spähte in den Raum, aber Noel würde er heute Abend nicht dort finden. »Hat er Sie geschickt, damit Sie das hier ersteigern?« »Nein«, entgegnete ich, »hat er nicht.« Kleines Albinomädchen. In Augenblicken wie diesem hätte ich am liebsten geschrien, dass ich, Maeve Leahy, Professorin war und mich in mehr Sprachen auskannte, als George Lansing würde aufzählen können. Aber ich sagte nichts und bemühte mich stattdessen, ihn mit meinem tödlichsten Blick zu durchbohren. Die Leute drehten sich um, um mich und mein farbloses Haar zu betrachten. George lächelte und zuckte nicht mit der Wimper: Er hatte den Köder ausgeworfen – Noel besaß einen einwandfreien Ruf und in den Augen der Menge einen scharfen Blick –, und die Leute bissen an; das Bieten ging weiter. Als nur noch ich und eine weitere hartnäckige Seele im Rennen waren – jemand, der vom hinteren Teil des Raumes 14 aus bot –, machte sich mein irisches Blut bemerkbar. Ich musste den Dolch haben, also würde ich ihn bekommen. Ich hob meine Tafel und versuchte, nicht an den Preis zu denken. Aber der andere Bieter blieb ebenfalls dran. »Sie?«, fragte George Lansing ungläubig, als die Nummer 12 zum ersten Mal ausgerufen wurde, und bedachte den Bieter, der mich und mein Scheckheft in einen solchen Aufruhr versetzte, mit einem finsteren Blick, was irgendwie merkwürdig war. Ich reckte den Hals, um meinen Konkurrenten mit Blicken zu durchbohren und ihm zu verstehen zu geben, dass er aufgeben sollte, weil der Dolch mir gehörte, aber ich war nicht groß genug, um ein Gesicht ausmachen zu können, nur eine Bietertafel und eine seltsame schwarze Kopfbedeckung auf einem gedrungenen Körper. Ich war gewiss kein Modefan, aber das hier sah aus wie eine Pillbox mit Schal. Am Ende war das egal. Als der Preis auf siebenhundert Dollar geschnellt war, konnte nicht einmal Lansing noch mehr herausschinden, also gewann ich. Die Anspannung in meiner Brust löste sich, als ich zum Bezahlen und Abholen der von mir ersteigerten Stücke ging. Ich hätte die Spieldose womöglich vergessen, aber die Frau am Schalter stellte mir siebenhundertzehn Dollar in Rechnung und händigte sie mir aus, gleich nachdem ich den Scheck ausgeschrieben hatte. »Das andere – dieser Dolch – ist noch nicht hier«, sagte sie. Ich nahm die Spieldose und kehrte in den überfüllten Raum zurück, wo ich augenblicklich die junge Mutter in der Schlange vor dem Hotdog-Stand erspähte. »Entschuldigen Sie.« Ich hielt ihr die Dose hin. »Ihre Tochter hat das hier vorhin bewundert, und ich würde mich sehr freuen, wenn sie die Spieldose bekommt.« »Oh, nein.« Die gemalten Augenbrauen der Frau zogen sich zusammen. »Das geht doch nicht. Danke, aber nein«, wie15 derholte sie trotz meiner Einwände. »Das können wir nicht annehmen, nicht wahr, Jillian?« Ihre Tochter erschien an ihrer Seite – vielleicht war sie auch die ganze Zeit schon da gewesen, und ich hatte sie nur nicht bemerkt, denn ihr Haar war gar nicht rot, sondern so dunkel wie das ihrer Mutter. »Sie ist schön«, bemerkte das Mädchen mit einem Schulterzucken. »Behalten Sie sie doch.« »Sie müssen noch eine Tochter haben«, sagte ich zu der Mutter. »Ihr hat die Spieldose gefallen.« Der Gesichtsausdruck der Frau wurde argwöhnisch. »Nein, ich habe nur eine.« Dann lachte sie. »Eine ist genug!« »Nein«, murmelte ich, »eine ist bei weitem nicht genug.« Ich blickte das Mädchen ein letztes Mal an, dann wandte ich mich ab. Vor dem Abholschalter blieb ich stehen und wartete im diffusen Licht der Papierkugellampen auf meinen Dolch. Ich konnte es kaum abwarten, ihn zu berühren, aber als es so weit war, verspürte ich einen Anflug von Enttäuschung. Da war kein inneres Zittern, kein Funke. Stattdessen wurde mir vor lauter Gefühlen die Brust eng. Ich hielt den Dolch und flüsterte in jeder Sprache, die ich kannte: »Bienvenue. Boa vinda. Saludos. Mihi placet. Saluto di benvenuto. Willkommen.« Das Erste, was mir auffiel, als ich meine Wohnung betrat – abgesehen von der ohrenbetäubenden Stille, die darauf hinwies, dass Kit wieder einmal nicht zu Hause war –, war das leuchtend grüne Display meines Handys, das mich vom Eingangstischchen aus anstarrte. Ich hatte es wieder vergessen. Und ich hatte eine Nachricht verpasst. Meine Gedanken sprangen zu Noel. Ich schleuderte die Spieldose und den Dolch auf die Couch neben meinen schlafenden Kater Sam und hörte meine Nachrichten ab. »Mayfly.« Daddy. Mein Herz stockte. 16 »Wir schaffen es dieses Jahr Thanksgiving nicht«, sagte er. »Tut mir leid, Schätzchen. Ich wünschte, du wärst hier. Lass uns bald telefonieren.« Eine Minute lang blieb ich reglos stehen, dann rief ich Kit an. Es überraschte mich, dass sie antwortete. »Vermisst du deine tägliche Dosis Stress?« Wenigstens kannte sie sich selbst. »Ja, mein Leben ist fad, wenn du es nicht mit deinem typischen Generve pfefferst.« Sie lachte. »Ich wollte dich gerade anrufen. Ich komme später nach Hause, flipp also nicht aus, wenn du die Tür aufgehen hörst.« »Lassen sie dich wegen guten Benehmens raus?« Ich ging zum Fenster hinüber und starrte in den Abend hinaus. »Haben sie dir eine von diesen elektronischen Fußfesseln angelegt – du weißt schon, wie sie es bei unter Hausarrest stehenden Straffälligen machen?« »Ja. Sie nennen es Piepser.« Kit, die im ersten Jahr als Assistenzärztin war, arbeitete mehr, als das Gesetz erlaubte, wenngleich das dem ewig rudernden Lehrkrankenhaus von Betheny sehr gelegen kam. Ich hauchte aufs Glas, dann malte ich ein Drei-gewinnt-Feld auf die von meinem Atem beschlagene Fläche. »Mein Dad hat angerufen. Meine Eltern können an Thanksgiving nicht zu Besuch kommen.« »Dann fahr doch zu ihnen«, schlug sie ohne zu zögern vor. »Es ist schließlich keine besonders lange Fahrt, und du bist seit Jahren nicht mehr in Castine gewesen.« »Ich war beschäftigt.« Ich malte ein X in die Mitte des Felds, dann ein O unten rechts. »Aber es könnte doch sein …« »Nein.« Eine Sekunde lang stellte ich mir vor, meine Eltern wiederzusehen und das alte Zimmer, das ich mit Moira geteilt hatte, über die felsigen Strände von Maine zu gehen und in der Penobscot Bay zu segeln. Doch sosehr ich das Meer auch vermisste, Castine war für mich zu Treibsand ge17 worden. »Nein«, wiederholte ich. »Ich werde hierbleiben, was nur du und ich und die Katze bedeutet.« »Dann feiern wir eben unser eigenes Thanksgiving. Truthahn mit allem Drum und Dran.« »Sie lassen dich in der Notaufnahme Kartoffeln mit Knoblauch stampfen?« »Sehr komisch.« Sie zögerte. »Wir müssen noch den Termin für deine Kernspin festlegen.« Ich wünschte, sie würde das Thema fallenlassen, aber es war wohl meine Schuld, dass ich so einen großen Wirbel darum gemacht hatte, als das mit den Geräuschen anfing – zusammenhanglose Fetzen, ein bisschen wie die Laute, wenn man versucht, einen weit entfernten Radiosender einzustellen. Wir hatten bei einer unserer seltenen gemeinsamen Mahlzeiten gesessen, als ich mir plötzlich die Ohren zuhielt und »Schluss damit!« knurrte. Sie hörte auf, Pasta um die Gabel zu drehen, und starrte mich an. »Womit, zum Teufel?« »Nichts. Nur meine ganz private Lärmfabrik.« »Du hörst Geräusche?« Ihre Katzenaugen verengten sich, dann listete sie ein enzyklopädisches Verzeichnis sämtlicher verrückter Dinge auf, die einen Menschen dazu bringen konnten, sich Geräusche einzubilden. »Ich glaube nicht, dass es sich um Schizophrenie handelt.« »Danke schön.« »Aber was ist mit einem Gehirntumor oder …« Sie schnappte nach Luft. »Es könnte eine posttraumatische Stresserkrankung sein! Du bist zerstreut, du schläfst schlecht, du hast keine Lust auf Sex …« »Das reicht! Ich war nicht im Krieg, Kit.« »Warst du wohl, gewissermaßen. Es könnte ganz einfach Stress dahinterstecken, eine posttraumatische Belastungsstörung, nur nicht ganz so schlimm.« Ich konnte den Reiz nachvollziehen, ein Geheimnis lüften und mit einer Theorie aufwarten zu wollen, aber Kit lag daneben; ich wusste mehr über das, was ich da hörte, als ich 18 zugeben wollte. Diese kleinen, zusammenhanglosen Laute, die meinen Schädel zum Platzen bringen wollten, waren die Überreste eines vergangenen Lebens, die Teile, aus denen sich mein Dasein zusammengesetzt hatte. Ich war weitergezogen, und ich wünschte, sie wären es auch. »Nun, wenn ich eine dieser Krankheiten hätte«, sagte ich, »könntest du mir dann etwas verschreiben, das die Geräusche zum Verstummen bringt? Gibt es ein solches Medikament?« Vielleicht nicht gerade mein bester Einfall, aber wozu sonst hatte man eine beste Freundin, die Ärztin war, wenn sie nicht ihren Rezeptblock zücken konnte, um einem das Leben zu erleichtern? Doch Kit schüttelte lediglich den Kopf und sagte: »Du solltest einen Neurologen aufsuchen«, was ich nicht vorhatte. Danach bemühte ich mich umso mehr, diese innere Kakophonie zu unterdrücken, doch das raubte mir meine Energie, und bald schon sagte Kit, ich wäre zu blass, meine Körpertemperatur zu niedrig, und vielleicht litte ich an chronischem Müdigkeitssyndrom oder einer Schlafstörung, vielleicht müsse ich auch auf Lupus erythematodes und verschiedene andere Dinge untersucht werden. Meiner Meinung nach war sie diejenige mit der eindeutigen Diagnose: medizinische Fachidiotin. »He, bist du noch dran?«, fragte Kit jetzt. Ich hatte soeben mein drittes Drei-gewinnt-Feld ausgefüllt und kein einziges Mal gewonnen. »Nur wenn du mir versprichst, mir jetzt nicht damit zu kommen.« »Halluzinationen können etwas Ernstes sein, Maeve.« »Willkürliche Geräusche fallen nicht unter Halluzinationen, nur veränderte Wahrnehmungen.« Mein Gott, wenn ich ihr von dem kleinen Mädchen erzählte, dessen Haare gar nicht rot gewesen waren, würde sie mich mit Sicherheit in die Psychiatrie einweisen. »Trotzdem bin ich der Meinung, du solltest einen Spezialisten aufsuchen«, beharrte sie. 19 »Das weiß ich.« »Ich liebe dich, weißt du das?« »Ich weiß. Ich lasse das Licht für dich an.« Ich klappte mein Handy zu und machte mich auf die Suche nach dem Glasreiniger, dann besprühte ich meine Fenstermalereien und wischte sie weg – nur für den Fall, dass es als Hinweis auf Unzurechnungsfähigkeit gedeutet werden könnte, wenn man Drei gewinnt gegen sich selber spielte. Und wenn da irgendwelche anderen Geräusche waren als die der quietschenden Scheibe, so gab ich vor, sie nicht zu hören. An jenem Abend musste ich mich dazu zwingen, die Hälfte der Aufsätze auf meinem Schreibtisch zu lesen und zu benoten. Hätte es Jim Shays »C’è un’orrenda creatura nel mio brodo« (Da ist ein grauenhaftes Etwas in meiner Suppe) nicht gegeben, wäre das Ganze völlig unbefriedigend gewesen – was merkwürdig war, denn ich liebte, es zu unterrichten, liebte meine Studenten, liebte es, ihre Fortschritte zu beobachten und selbst die einschläferndsten Aufsätze zu benoten. Außerdem liebte ich Sprache – all diese Wörter mit ihrer individuellen Dynamik, mit ihrem ganz eigenen Zungenschlag: ebullición, bellissimo, kyrielle, obcecação, labialização, babucha, l’absolu, d’aria. Ich ließ die Arbeit liegen, setzte mich auf die Couch und zog den Dolch aus der Scheide. Mein Finger fuhr über das Metall und brachte mich in die Vergangenheit. Vor langer Zeit hatten uns meine Eltern Gutenachtgeschichten erzählt. Meine Mutter mochte die Parabel von den fünf Chinesenbrüdern, die einander ebenso ähnelten wie Moira und ich, deren unterschiedliche Fähigkeiten sie jedoch aus jeder erdenklichen Katastrophensituation retteten. Einer der Jungen konnte ein ganzes Meer in seinen Mund aufnehmen, die anderen kamen ohne Luft aus oder überstanden unbeschadet Brände, hatten ein eisernes Genick oder Beine, die sich zu Stelzen auswachsen konnten. 20 Mein Vater dagegen erzählte gern das Märchen der Piratenkönigin Alvilda. Sie war einem Prinzen entflohen, der sie heiraten wollte, um Piratin und Herrscherin der Meere zu werden. Merkwürdig, dass ebenjener Prinz sie später in einer Schlacht bezwang und sie dazu brachte, sich in ihn zu verlieben und sesshaft zu werden. Alvilda wurde Königin von Dänemark. Dennoch war die Geschichte weitaus befriedigender als die Nullachtfünfzehn-Aschenputtel-Romanzen. Im beängstigend angstfreien Alter von zehn Jahren beschloss ich, die nächste Alvilda zu werden. Alles, was ich dazu brauchte, waren ein Boot, ein Schwert und das Meer. Unter meinem Kommando standen eine ganze Menge Boote, da mein Vater mit dem Bootsbau seinen Lebensunterhalt bestritt, und Meer gab es überall rund um Castine. Blieb also das Schwert. Eines Tages legte ich meine beste Alvilda-Kleidung an: einen roten Mantel, schwarze Stiefel und eine Augenklappe, die ich aus schwarzem Bastelpapier und einem Schnürsenkel gefertigt hatte, und schmiedete einen Plan, wie ich den gewellten Dolch aus der Vitrine entwenden könnte. In dieser Vitrine waren alle möglichen Dinge ausgestellt, die mein Großvater, ein Anthropologe, von überall auf der Welt zusammengetragen hatte. Der Dolch mit den konkaven Bögen aber war mein Lieblingsstück und gleichzeitig die perfekte Ausrüstung für mein Abenteuer. Moira war aufgeregt – »Wir werden Ärger bekommen!« »Schsch, Moira, wenn Daddy jetzt kommt, erzähle ich ihm, es wäre deine Idee gewesen« –, aber am Ende machte sie trotzdem mit. Ich fand den Schlüssel, öffnete die Vitrine, schnappte mir den Dolch und stürzte davon, gefolgt von meinem widerstrebenden Schatten. Wir rannten, bis wir die Docks erreichten, und kaum war Moira ins Boot gesprungen, startete ich auch schon den Motor. Wir fuhren ziemlich weit raus, dann stellte ich mich auf die Bank im Bug und spielte meine Rolle als mächtige Alvilda. »Versuch’s doch mal, Freundchen!«, krähte ich triumphie21 rend und schwenkte den Dolch, bis Moira zu kreischen begann. »Hai, Hai!« Es gab nicht viele Wörter, die meinen Wagemut bremsen konnten, aber »Hai« war eines davon, zumal wir in einem winzigen Boot hockten und Daddys Hilfe fern war. Der Dolch war mitsamt Scheide im Wasser verschwunden. Ich weiß nicht, ob ich ihn fallen ließ oder ob er von der wackeligen Bank rutschte, als ich mich über meine Zwillingsschwester beugte. Letztendlich war es auch gleich, denn als ich feststellte, dass die Flosse einem Wal gehörte, der nun seinen harmlosen schwarzen Kopf aus dem Wasser streckte, war er bereits untergegangen. Zu wissen, dass der schöne Dolch durch mein Verschulden auf dem Grund des Ozeans lag, hatte mehr geschmerzt als meine wunde Kehrseite, doch jetzt besaß ich einen neuen. Schatten strichen über die Zimmerdecke wie Zauberfinger. Schließlich wurden meine Augenlider schwer, und ich überließ mich dem Schlaf. Doch mit dem Schlaf kam der Alptraum. Wasser sickerte unter der geschlossenen Tür hindurch, wie immer. Öffne die Tür!, befahl die Stimme, als der anschwellende Strom meine Schuhe und Socken durchnässte. Es pochte. Öffne die Tür! Dann änderte sich der Verlauf: Blecherne Musik, »The Entertainer«, begann auf der anderen Seite zu spielen. Ich fuhr aus dem Traum hoch. Meine Haut prickelte, ein Frösteln, das ich verabscheute. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Die Spieldose lag offen auf dem Fußboden, der Tonkamm fuhr über die Stifte und Zinken und spielte seine Melodie. Ich musste die Dose im Schlaf von der Couch gestoßen haben. Ich schloss den Deckel. Das Lied verstummte, doch ein Klang blieb, wurde intensiver, veränderte sich. Mein Geist füllte sich mit seiner eigenen Musik: Liszts »Ungarische Rhapsodie Nummer 12«, jede angeschlagene Saite ein Tropfen in meiner Erinnerung wie bei einer Wasserfol22 ter. Alles in meinem Kopf, ja, aber weit entfernt von einer Halluzination. Ich machte mir meine alte Fähigkeit zunutze, die Töne zurückzudrängen, bis sie zu halben, Viertel- und Achtelnoten wurden und schließlich zu einem schwachen statischen Rauschen verebbten. Warum war es bloß immer ein Klavier, das messerscharf an meinen Nervenenden schabte? Eine Eule schrie vor meinem Fenster, und mit einer Mischung aus Erschöpfung und Ironie dachte ich, dass ich zwar möglicherweise Antworten erhielt, doch in einer Sprache, die ich nie verstehen würde. 23