Die Handicap-Gesellschaft

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Die Handicap-Gesellschaft
7
ABSTRACT
Wir befinden uns auf dem Weg zu einer behinderten Gesellschaft.
Zerbrechende Familien, steigende Gewaltbereitschaft und eine auffällige Zunahme von psychischen Störungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kennzeichnen die Situation unserer Gesellschaft. Möglicherweise unterscheiden sich die Individuen nur durch
den Grad ihres Handicaps.
Mögliche Ursachen im Sinne von synergistisch wirkenden Faktoren
werden vom Verfasser aufgezeigt. Die Daten, Überlegungen und
Fragmente liefern die Grundlage zur Entwicklung eigener Sichtweisen, ohne den Anspruch auf endgültige Antworten zu erheben. Die
vielfältigen Informationen sind nicht nur für Menschen in sozialen
Berufen sondern auch für jeden interessierten Laien zur Überprüfung
„wissenschaftlicher“ Erkenntnisse eine Bereicherung.
8
9
Vorwort
Die ursprüngliche Fragestellung dieser Arbeit lautete: „Hat sich der
Zustand unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch negativ verändert – oder ist diese Sichtweise eine nur sehr
persönliche des Verfassers?“
Um diese selbstgestellte Frage zu beantworten, habe ich versucht,
Daten und Fakten zu sammeln, die Auskünfte über Ursachen von
gesellschaftlichen und persönlichen Störungen geben könnten. Es
war mir dabei wichtig aufzuzeigen, dass die Gründe für eine mögliche Verschlimmerung des gesellschaftlichen Zustandes sehr komplex und miteinander verflochten sind und ihre Ursprünge auch bei
den vorausgehenden Generationen und ihrer Lebensweise zu suchen
sind.
Niemand weiß, wie sich die seit Jahrzehnten zunehmende Medikalisierung der Gesellschaft, unser Umgang mit den Medien oder die
zunehmende Technisierung langfristig gesellschaftlich auswirken
wird.
Bei genauer Betrachtung ist mir jedoch der Eindruck entstanden,
dass wir aufgrund einer meist selektiven Betrachtungsweise nicht
mehr in der Lage sein können, die auf uns einwirkenden, unzähligen
und unüberschaubaren Faktoren in ihrer Wirkung und in ihren
Wechselwirkungen zu beurteilen. Daten, in Form von Zahlen als
Produkt des menschlichen Geistes, sind nicht mehr „Gegebenes“ in
ursprünglicher Form; sie werden durch den menschlichen Geist bei
ihrer Erfassung, Interpretation und Präsentation zu „capta“; Denkergebnisse präsentieren sich somit als Gefangene des menschlichen
Geistes.
Menschliches Leid, in Zahlen ausgedrückt, bedeutet zugleich immer
auch „Entmenschlichung“. Dennoch ist dieses Vorgehen, diese Gefangennahme des Menschlichen nötig, um eine Vorstellung von
bestimmten Vorgängen in unserer Gesellschaft zu erhalten.
Welche Faktoren können dazu führen, dass Menschen Schaden erleiden und wie können mögliche Reaktionen des Individuums und
auch der Gesellschaft auf diese schädlichen Einflüsse aussehen?
Mit Sicherheit sind unendlich viele Kombinationsmöglichkeiten
denkbar und möglich.
Ähnliche Gedanken und Empfindungen beschäftigten vielleicht zu
allen Zeiten immer wieder den menschlichen Geist.
10
Das Wissen in unserer Gesellschaft nimmt schnell zu. Informationen
sind schnell erhältlich, können aber nur selten überprüft werden.
Mit der vorliegenden Wissenssammlung soll der interessierte Laie –
als solcher sieht sich der Verfasser selbst – einerseits Zugang zu
einem Fachwissen aus verschiedenen Bereichen erhalten, andererseits soll mit diesem Wissen die Möglichkeit genutzt werden, zu
beobachten und zu hinterfragen, ob die aufgezeigten Fakten, Daten
und Zahlen mit unseren eigenen Beobachtungen und Nachforschungen in Einklang zu bringen sind.
Sehr bewusst wurde diese Sammlung mit dem Beiwort „fragmentarisch“ versehen. Dem Verfasser ist vollkommen klar, dass jedes
Wissen immer nur fragmentarisch sein kann. Neues Wissen wirft
neue Fragen auf und vergrößert gleichzeitig die Umgebung des
„Nicht-Wissens“.
Kritische Überprüfungen unter neuen Fragestellungen ergeben neue
Antworten auf eine gleiche Frage. Wirtschaftliche, politische und
persönliche Interessen beeinflussen in großem Maße Forschung und
wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.
Aufgrund der vielen aufgeführten Zahlen und Fakten besteht die
Möglichkeit von Irrtümern, obwohl ich mir große Mühe gegeben
habe, die Quellen genau anzugeben. Die ausgewählten Berichte
wurden von mir oftmals gekürzt. Dabei können sich „Verfremdungen“ oder „Entstellungen“ ergeben. Ich erhebe auch nicht den Anspruch, alles Gelesene immer vollständig im Sinne der jeweiligen
Autoren verstanden zu haben. Bei der Zusammenfassung der unzähligen Informationen kann es zur Übertragung von Fehlern gekommen sein.
Kein Mensch kann alles bisher Erforschte wissen. Es ist ein Anliegen dieser Sammlung, Wissen zugänglich zu machen, das wichtig
ist, um auch in Zukunft gesund leben zu können oder um andere
Sichtweisen zu ermöglichen.
Vielleicht können die einzelnen Beiträge Stoff zu Diskussionen
liefern, persönliche Hilfestellungen bei Entscheidungen oder aber
Anreiz zu Überprüfungen und persönlichen Nachforschungen sein.
Unsere Kultur wird untergehen, ebenso wie andere Kulturen untergegangen sind. Zugleich werden neue Generationen neue Werte
pflegen oder anders bewerten. Entscheidend ist für mich jedoch,
11
woran wir uns orientieren und wie wir die vorhandenen Erkenntnisse
umsetzen. Dabei scheint mir die Orientierung an politischen Vorbildern sehr fragwürdig. Zu offensichtlich sind die Bestrebungen der
tonangebenden Führungsschichten in allen Staaten, immer mehr
Macht zu gewinnen und den Begriff „Demokratie“ zu missbrauchen.
In jedem Fall wünsche ich mir nach den vielen Jahren des Sammelns, dass durch die vielen Informationen Erklärungen und Verständnis möglich werden für die tiefgreifenden Veränderungen, die
sich vollziehen.
Die fettgedruckten Textstellen sind nicht im Original vorzufinden;
sie wurden jeweils durch mich im Text hervorgehoben.
Zitierte Textstellen wurden der neuen Rechtschreibung angepasst.
Es ist mir auch noch wichtig, zu betonen, dass ich Verallgemeinerungen wie „die Deutschen“, „die Amerikaner“ oder „die Ärzte“
u.s.w. nicht gut heiße. Die entsprechenden Angaben beziehen sich
meist nur auf die jeweiligen, geschilderten Tatsachen.
Die am Ende des Buches angehängten „Fragmente“ sollen als aktuellste Informationen Vergleiche und Ergänzungen ermöglichen.
Immer wieder habe ich Zeitungsartikel als Informations- und Arbeitsgrundlage verwendet. Den Verfassern bin ich für ihre Arbeit
ebenso dankbar, wie den Autoren, auf deren Wissen und Erfahrungen ich zurückgreifen konnte.
Mein besonderer Dank gilt meinem Freund Heiner Meier für seine
große Geduld bei den Korrekturarbeiten, bei der Beratung und der
Gestaltung des Einbandes; ohne seine wertvolle Hilfe hätte ich dieses Buch nicht vollenden können.
Schwabsoien, den 1. Mai 2002
Jörg Walter
12
13
Die synergistische Wirkung verschiedener Faktoren bei der
Entstehung von Behinderungen
Bei allen derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist zu berücksichtigen, dass sie dem momentanen Forschungsstand entsprechen.
Schon morgen kann sich herausstellen, dass das Wissen von heute
nicht mehr aktuell ist, da es durch neue Untersuchungen unter veränderter Fragestellung, anders angeordnete Versuchsreihen, durch
andere Auftraggeber und somit durch andere Interessen und Finanzierung widerlegt wurde.
Auch die angenommene synergistische Wirkung vieler möglicher
Faktoren verändert sich somit ständig.
Nur die eigene Beobachtung, die eigenen Fragestellungen und der
ständige Versuch, das Beobachtete mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen in eine Beziehung zu bringen und uns mit anderen über
die Beobachtungen und eigenen Konstrukte auszutauschen, kann uns
der Wahrheit ein Stück näher bringen.
Wissenschaft ist somit nichts Statisches, Festes, – sondern im Gegenteil abhängig von der jeweiligen Perspektive und zugleich das
Ergebnis ständig wechselnder Sichtweisen; Wissenschaftler sollten
sich und ihre Ergebnisse immer wieder bewusst der Kritik aussetzen,
um Fehler zu entdecken und Forschungsergebnisse zu hinterfragen
und zu verbessern.
14
Ein Überblich über die Möglichkeiten des Zusammenwirkens
verschiedener Faktoren
Ernährung
Genmanipulationen
Gifte
Chemikalien
Farbstoffe
Konservierungsstoffe
Mikrowellengeräte
Schwangerschaft
praktizierte
Verhütung
Pille
Alter
Bedingungen
Hormone
Strahlung
Globale
Elektrifizierung
Röntgenstrahlung
Fernsehen
Handys
Medikamente
fragwürdige
Behandlungsmethoden
Medien
Bewusstseinsbildung
Schulsystem
Faktoren
verstärken
sich
gegenseitig
Vererbung
Wissen um die
Krankheiten der
Vorfahren
Iatrogene Faktoren
Fehler bei der Geburtshilfe
Krankenhausinfektionen
Impfinfektionen
Zerstörung des Immunsystems
Impfungen:
eine
fragwürdige
Vorbeugung
Lebensweise
Bewegung
Drogen
Rauchen
Alkohol
Sexualität
Schlaf
Umgang mit
Krankheiten
Bewusstsein
Zeit für
Krankheiten
Reisen
Lärmquellen
Umgang mit
psychischen
Problemen
persönliche
und
industrielle
Profitgier
Steuerrecht
Gesellschaftliche Vorbilder
Arbeitsbedingungen
Missbrauch in der Familie
Erziehungsfehler
Ethik
Lebensstil
Amerikanisierung
15
Das menschliche Gehirn:
Ausgangspunkt unserer Wirklichkeitsauffassung
„Hirn als Subjekt studiert Hirn als Objekt.“1
Die Erforschung des Gehirns durch das menschliche Gehirn selbst
wird von WATZLAWICK durch die sich ergebende Rückbezüglichkeit und die daraus resultierenden logischen Probleme als fragwürdig
angesehen. Subjekt und Objekt sind somit nicht mehr auseinander zu
halten.
Aggressivität – Beherrschung – Gewalttäter – Kontrollsysteme
im Gehirn
Teile des frontalen Cortex (Stirnhirn) sind für die Impulskontrolle
und somit für die Beherrschung von Aggressivität von entscheidender Bedeutung. DAMASIO2 beobachtete an zwei jungen Erwachsenen, deren Stirnhirn in frühester Kindheit verletzt worden war, unangepasstes Verhalten und explosionsartige Wutausbrüche. Auch
RAINE3 konnte bereits 1998 bei der Untersuchung der Gehirnaktivität von 41 Mördern mit Hilfe der Positronen-EmissionsTomographie feststellen, dass Teile des Präfrontalcortex bei den
Tätern, die im Affekt getötet hatten, eine auffallend geringe Aktivität
aufwiesen. Im Gegensatz dazu war ein Teil des Mandelkerns
(Amygdala), der für die Verarbeitung negativer Erfahrungen wie
Furcht und Angst zuständig ist, besonders aktiv.
Die Aktivitäten des Stirnhirns gleichen einer Notbremse, bevor aggressive Handlungen ausgeführt werden. Bei impulsiven Gewaltverbrechern scheint diese Notbremse nicht funktionsfähig zu sein. Auch
das Hirnvolumen scheint dabei eine wichtige Rolle zu spielen. So
besteht offensichtlich ein Zusammenhang zwischen einer reduzierten
Menge an grauer Substanz des Stirnhirns und der Neigung zu unkon-
1
WATZLAWICK/KREUZER, 2001, S. 42, in: Die Unsicherheit
unserer Wirklichkeit
2
Nature Neuroscience, 1999, Bd. 2, S. 1032, in SZ, 187, 2000, V2 /9
3
New Scientist, 2000, Nr. 2238, S. 42
16
trollierten Gewaltausbrüchen.4 Bei Gewalttätern war das Volumen
durchschnittlich um 11% geringer.
Auch dem Serotonin-Stoffwechsel im Stirnhirn wird eine bedeutende
Rolle bei aggressivem Verhalten zugeschrieben. Eingriffe in den
Serotonin-Herstellungsprozess im menschlichen Organismus bestätigen diese Vermutung. Sonst unauffällige Männer zeigten eine erhöhte Bereitschaft, aggressiv auf Provokationen zu reagieren.5
Störungen des Systems Stirnhirn, Serotoninbahnen, Mandelkern und
einigen anderen Hirnregionen können nach DAVIDSON genetisch
bedingt sein, sind aber auch auf Hirnschäden bei der Geburt, Umwelteinflüsse oder eine gestörte Beziehung zur Mutter zurückzuführen.
Angst – eine Spurensuche im Gehirn
Neuere Vermutungen gehen davon aus, dass bei der Empfindung von
Angst oder Panik hormonell-elektrophysiologische und neurochemische Reaktionen tief im Inneren des Gehirns im Bereich der
Mandelkerne (Amygdalae) stattfinden. Eine „vernünftige“ Angst ist
für jeden Menschen lebensnotwendig. „Entgleiste“ Angst führt zu
erlebtem Dauerstress.
THOMÄ: „Die Angst sitzt nicht im Mandelkern. Soweit neurophysiologische Veränderungen in der Amygdala bei Angstsyndromen zu
finden sind, handelt es sich nicht um deren Ursache, sondern um die
Folge einer Anpassung an die ständige subliminale (unterschwellige)
Wahrnehmung von Gefahren.“6
Psychosoziale Bedingungen sind nach heutiger Lehrmeinung für die
Entstehung neurotischer Ängste verantwortlich. „Sie entstehen vom
ersten Lebenstag an in zwischenmenschlichen Interaktionen und
Konflikten. . . . “
Nach ROTH muss in Zukunft die duale Einheit von Gehirn und
Seele (Bewusstsein) darauf hin befragt werden, wie ihre Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Kultur stattfindet. Eine kognitive
4
Archieves of General Psychiatry, 2000, Bd. 57, S. 119
DAVIDSON in Psychopharmacology, 1999, Bd. 142, S. 124
6
THOMÄ ist Professor für Psychotherapie an der Universität Ulm;
Eröffnungsvortrag bei einer Tagung im Hanse-Wissenschaftskolleg
zu Delmenhorst; ROTH ist Direktor des Wissenschaftskolleges.
5
17
Verhaltenstherapie, nötigenfalls gekoppelt an eine medikamentöse
Therapie, zeigt zurzeit die besten Erfolge bei der Behandlung von
Angststörungen.
Bei menschlichen Angsterkrankungen spielen auch Veränderungen
im Serotonin-Stoffwechsel eine Rolle. Versuche an Mäusen weisen
auf eine wichtige Rolle der Serotonin-Rezeptoren hin. LESCH7 geht
davon aus, dass es beim Menschen eine besonders empfindliche
Phase für die Entwicklung von Ängstlichkeit gibt.
Bildung neuer Nervenzellen – Aufgabe der Neurotransmitter
Neue Nervenzellen im Gehirn entstehen nicht nur wie bisher angenommen während der frühkindlichen Entwicklung. In den mit Flüssigkeit gefüllten Räumen des Hirns bilden sich neue, undifferenzierte
Zellen an den Wänden, die sich nach weiterer Entwicklung in die
Hirn-Schaltkreise integrieren. Zudem gelingt es den Nervenzellen,
einen Weg in die Hirnrinde zu finden, obwohl die Leitstrukturen, die
während der frühen Entwicklung wegweisend waren, im Erwachsenenalter nicht mehr existieren. In den betroffenen Bereichen der
Hirnrinde finden Lernvorgänge statt. Es wird vermutet, dass die
neuen Zellen bereits an diesen Lernvorgängen beteiligt sind.
Bisher ging man davon aus, dass nur eine Vernetzung unter den
vorhandenen, bereits ausgebildeten Zellen erfolge.8
Bisher galt die Lehrmeinung, dass Nervenstrukturen ohne das Vorhandensein von chemischen Botenstoffen während der Embryonalentwicklung nicht gezielt wachsen können. Jetzt wurde aufgezeigt,
dass Nervenzellen und Axone ihren Platz im Gehirn auch ohne Neurotransmitter finden. Auch die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen entwickeln sich zunächst normal.9
Die Nervenzellen in den Gehirnen genetisch manipulierter Mäuse
gingen jedoch nach dem Aufbau des neuronalen Netzes kurzfristig
zugrunde. Offensichtlich besteht die Aufgabe der Neurotransmitter
darin, die Verbindungen aufrechtzuerhalten.
7
SZ, 76, 2002, V2 /7; LESCH ist Psychobiologe in Würzburg.
Nature Medicine, 1998, Bd. 4, S. 1313, und Nature Biotechnology,
1999, Bd.17, S. 653 in SZ, 242, 1999, V2 /13
9
Science, Bd. 287, 2000, S. 864 und in SZ 43, 2000, V2 /11
8
18
Blinde hören um die Ecke
Die Hirnbereiche sind bei ihnen anders organisiert. Sie können Geräusche nur von der Seite besser orten, als Sehende mit verbundenen
Augen. Bei vielen Blinden sind im Gehirn Areale zerstört, die für
das Sehen zuständig sind. Noch vorhandene Nervenzellen können
jedoch vom Gehörsystem „angelernt“ werden.10
Charakter-Zentrum – Entwicklung
Das Vorderhirn wird nach dem heutigen Wissensstand als Sitz der
Persönlichkeit angenommen. Durch die Rekonstruktion des Gehirns
eines Unfallopfers mit Hilfe von Computerprogrammen ließen sich
unter Verwendung des Original-Schädels die verletzten Hirnareale
präzise feststellen.
Im Vorderhirn wird das menschliche Erleben verarbeitet. Verletzungen in dieser Region – auch Tumorerkrankungen oder andere Erkrankungen zeigen auffällige Folgeerscheinungen.
FÖRSTL: „Der Patient wirkt verhaltensgestört, distanzlos oder
sexuell enthemmt. Höhere geistige Leistungen wie Urteilen und
Planen sind beeinträchtigt oder Antriebslosigkeit fällt auf.“11
Auch die „Picksche Erkrankung“ – eine Form der Demenz – kann in
den vorderen Abschnitten des Großhirns entstehen.
Die Diagnose wird unter anderem durch bildgebende Verfahren wie
Kernspin- oder Computertomographie und das PET (PositronenEmmissions-Eomographie) abgesichert.
Für betroffene Familien ist eine entsprechende Unterstützung wichtig, um mit diesen Erkrankungen umgehen zu können.
Unsere Charakterentwicklung ist stark durch die Entwicklung unseres limbischen Systems geprägt (siehe auch: Emotionen und Vernunft/Lernbehinderungen). Im Alter bis zum vierten Lebensjahr sind
wesentliche Merkmale stark ausgeprägt. Mit zunehmendem Alter
wird der Aufwand zu einer Änderung immer größer. Für Persönlichkeitsänderungen im Erwachsenenalter zeichnen oftmals Lebenskrisen, eine stark fordernde Partnerschaft oder „emotionale Revolutionen“ verantwortlich.
10
Nature, 1999, Bd. 400, S. 162, in SZ, 158, 1999, V2 /9
MM, 65, 2000, S. 4; FÖRSTL (Professor für Psychiatrie am Klinikum rechts der Isar in München) auf einem Symposium in München.
11
19
Denkvermögen – durch Verliebtheit beeinträchtigt
BARTELS12 stellte fest, dass die für Gedächtnis und Konzentration
zuständigen Gehirnregionen im Zustand der Verliebtheit – ähnlich
wie bei der Einnahme von Drogen – träge werden. Wird der/die
Verliebte gesehen, werden vier kleine Hirnareale – genau wie bei
dem Konsum von Drogen – heftiger durchblutet und somit stimuliert. Zusätzlich sind bei den Verliebten auch die für Depressionen
und Ängste zuständigen Bereiche weniger aktiv als im Normalzustand.
Depressive Selbstmordopfer
Bei der Untersuchung und dem Vergleich der Gehirne mit denen von
psychisch Gesunden wurde festgestellt, dass bei den Selbstmordopfern bestimmte Serotonin-„Autorezeptoren“ verstärkt Signalmoleküle an sich gebunden hatten. Durch diesen Vorgang wird verhindert,
dass die Botenstoffe, von denen sie selbst aktiviert werden (in diesem Fall Serotonin), weiter produziert werden. Dies bewirkt möglicherweise, dass der Serotoninspiegel absinkt und im Gehirn ein
Mangel auftritt.
Damit verbunden sind in der Folge Depressionen. Medikamente,
die den Serotoninspiegel im Gehirn erhöhen sollen, werden
durch die Autorezeptoren in ihrer Wirkungsweise verzögert.
Möglicherweise ist es durch das Verabreichen von Substanzen, die
die Autorezeptoren der Serotonin-Nervenzellen blockieren, neben
der Einnahme von Antidepressiva möglich, die erwünschte Wirkung
zu erzielen.13
12
13
MM, 87, 2001, S. 10; BARTELS ist Schweizer Wissenschaftler.
Journal of Neuroscience, Bd. 18, 1998, S. 7394
20
Emotionen und Vernunft14
Hirnregion
Amygdala (Mandelkern)
Vermutete Zuständigkeit
Negatives in unserem Leben, das mit
Furcht und Angst in engem Zusammenhang steht
Ventrales tegmentales Areal u. Positive, beglückende und lustvolle
nucleus accumbens
Erlebnisse; Ort der Wirkung von
Drogen
Hippocampus-Formation
Episodisches Gedächtnis
(was,-wann,-wo, und wie geschah)
Entorhinaler, parahippocamBloßes Faktenwissen und dessen
paler u. perirhinaler Cortex
Organisation
(= Rinde, die den Hippocampus umgibt)
Limbisches System
Das Limbische System beginnt seine
Arbeit bereits im Mutterleib und
setzt sie in den ersten Lebensjahren
fort, noch bevor sich das „Ich“ zu
entwickeln beginnt. Der Charakter
oder die Persönlichkeit wird somit
vorbewusst mit Hilfe dieses Systems
geformt. Gegen spätere Erfahrungen
wird eine zunehmende Resistenz
aufgebaut.
Dieses System wird abgefragt, ob
bereits Vorerfahrungen mit ähnlichen oder denselben Situationen
gemacht wurden und welcher Art
diese Erfahrungen waren.
Es sorgt dafür, dass wir dasjenige
tun, was sich in unserer Erfahrung
bewährt hat, oder das unterlassen,
was sich nicht als nützlich erwiesen
hat.
Das „Ich“ beginnt sich erst ab dem
dritten oder vierten Lebensjahr in
14
SZ, 85, 2000, V2 /17; nach einem Vortrag von ROTH (Neurologe
an der Universität Bremen) anlässlich der Psychotherapiewoche in
Lindau
21
seinen typischen menschlichen Erscheinungsformen zu entwickeln
und wird in diese „limbische“
Persönlichkeit hineingestellt und von
ihr getragen.
Bewusstseinsfähige Großhirn- Wird dann zugeschaltet, wenn
rinde /Cortex
Ereignisse in zahlreichen Details
wahrgenommen und gespeichert
(leid- oder lustvolles Geschehen)
oder aber verschiedenartige Gedächtnisinhalte verknüpft werden
sollen. Auch die komplexe Handlungsplanung in neuen Situationen
wird durch den Cortex gesteuert.
Entwicklungsschübe im Gehirn
Sie wurden durch Hirnaufnahmen bei Kindern und Jugendlichen im
Kernspintomographen erstmals nachgewiesen. Im Alter von sechs
bis 15 Jahren finden im Gehirn des Menschen offenbar dramatische
Veränderungen statt: In einigen Hirnarealen kommt es zu starken
Wachstumsschüben, andere werden umgebaut und verkleinert. Der
Balken, der beide Hirnhälften verbindet, wächst bei Kindern zwischen sieben und elf Jahren um 22%, jedoch nur im hinteren Bereich
des Balkens, der offenbar mit dem verfeinerten Spracherwerb zu tun
hat.15
Entwicklung des Gehirns – Handlungskontrolle: drei Theorien
1.
2.
3.
15
Weil die Reifung bestimmter Nervenzellen bereits vor der Geburt stattgefunden hat, können Babys bereits früh schon Gesichter erkennen.
Neues Verhalten entsteht nach JOHNSON aber auch durch
veränderte Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Hirnregionen.
Kinder erlernen neue Verhaltensweisen ähnlich wie Erwachsene.
MM, 71, 2000, J 4
22
Entscheidend ist offensichtlich die Stärke der Eigenaktivität des
Säuglings bezüglich der Entwicklung seiner Auffassungsgabe. Das
Kind selbst spielt also möglicherweise eine entscheidende, aktive
Rolle bei der Ausbildung bestimmter Hirnfunktionen.
JOHNSON: „Bei der Entwicklung der Hirnfunktionen nach der
Geburt folgen nicht passive Reifungs-Schritte aufeinander. Es ist
vielmehr ein Prozess, der von der Aktivität des Kindes abhängt.“16
Wichtig ist jedoch, darauf zu achten, dass Babys nicht bewusst mit
Reizen überflutet werden oder dass Eltern ständig versuchen, deren
Aufmerksamkeit zu bekommen. In solchen Fällen wird oft genau das
Gegenteil erreicht. Die Kleinen schotten sich gegen die Reize ab und
scheinen nicht zu reagieren. 17
Epilepsie
Mit Hilfe der Chaosforschung sollen Frühwarnsysteme zur Vorhersage von Epilepsieanfällen entwickelt werden. ELGER weist darauf
hin, dass es in Deutschland etwa 600 000 an Epilepsie erkrankte
Menschen gibt. Bei 30% dieser Personengruppe sprechen Medikamente nicht an.
Auch bei gesunden Menschen gibt es ständig sogenannte „Bursts“
(ständige elektrische Entladungen von Nervenzellen). Bis jetzt noch
unbekannte Mechanismen sorgen dafür, dass diese Entladungen
nicht simultan bei benachbarten Nervenzellen ablaufen.
Durch die Anwendung der „nichtlinearen Zeitreihenanalyse“ von
Hirnströmen ist die Vorhersage von Anfällen bei Epileptikern möglich. Dieses Verfahren ist ein Ableger der Chaosforschung. Chaotische Zustände liegen zwischen klar zuzuordnenden Ursachen und
dem blinden Zufall. Mit dem neuartigen Messverfahren lassen sich
die Anfälle bis zu einer halben Stunde vorher erkennen.18
16
SZ, 296, 2001,V2 /8; JOHNSON arbeitet an der University of
London.
17
PAPOUSEK & PAPOUSEK auf dem Kongress „Wahrnehmen
Verstehen Handeln“, Universität München, 2000
18
European Journal of Neuroscience, 1998, Bd. 10, S. 786, und in
SZ, 68, 1999, V2 /15
23
Erinnerung
FERNANDEZ und Kollegen implantierten operierten EpilepsiePatienten Elektroden in den mittleren Schläfenlappen. Die Aktivitäten des Gehirns wurden aufgezeichnet, während sich die Probanden
gehörte Wörter einzuprägen versuchten. Die Patienten sollten sich
nach zwischengeschalteten „Störaufgaben“ an die Wörter erinnern.
Dabei wurde durch die gesendeten Signale untersucht, inwieweit
sich die Hirnaktivität beim Lesen eines Wortes unterschied – je
nachdem es in Erinnerung geblieben oder vergessen worden war.19
Gedächtnis
Das Ergebnis von 50 000 Tests in Arizona ergab, dass das Gehirn
von Frauen sowohl leistungsfähiger als auch aktiver als das von
Männern ist, und dass es im Alter nicht so schnell wie das der Männer schrumpfe.20 Ereignisse, die mit Gefühlen verbunden sind, werden am besten erinnert. Die rechte Hirnhälfte ist für die Verarbeitung
von Gefühlen zuständig.
Sie wird von Frauen nach Angaben der Forscher intensiver genutzt.
Damit wird auch die bessere Leistungsfähigkeit des Gehirns bei den
Frauen erklärt.
Gefühlsprobleme bei Männern – durch einen Defekt im Gehirn?
SNELL21 geht davon aus, dass nur im weiblichen Gehirn unmittelbare neuronale Verbindungen zwischen Gefühls- und Sprachzentrum
bestehen. Dem Mann falle es schwer, seine Gefühle auszudrücken,
weil Denken und Sprache eng miteinander verbunden seien.
„Er weiß, er fühlt etwas. Nur was genau er fühlt, das weiß er
nicht.“ Im Gegensatz zu Frauen seien Männer oft der Meinung, sie
hätten keine Beziehungs-Probleme. Aus diesem Grund müssten sie
auch nicht darüber sprechen.
JAMMES zu den Beziehungsproblemen der Männer: „Männer
haben nach eigener Einschätzung Probleme mit der Installation
19
MM, 203, 1999, S. 1
Das Beste, Juni 1999 (?), MM 124, 1999, S. 1
21
MM, 87, 2000, S. 11; SNELL ist Medizin-Nobelpreisträger von
1980; JAMMES ist belgischer Forscher und führte eine europaweite
Umfrage durch; GRÜNDLER ist Soziologe in Berlin.
20
24
neuer Software. Mit der Achillessehne. Mit dem Zündklappenventil eines Sechszylinders. Aber nicht mit der Beziehung.“
GRÜNDLER dazu: „So denken Männer nun einmal. Und es ist
nicht einmal Selbstbetrug.“
Eine schlechte Beziehung belaste einen Mann weitaus weniger als
seine Partnerin. Erst bei einem drohenden Bruch der Partnerschaft
vertrauten sich Männer – wenn auch ungern – einem Freund an.
Dieses Verhalten erkläre sich dadurch, dass der Mann gestehen müsse, keine Lösung für das Problem vorweisen zu können, und das sei
in seiner Sicht ein Zeichen des Versagens.
Gegenwart – Dauer
PÖPPEL weist darauf hin, dass die Gegenwart etwa drei Sekunden
dauert. So lange braucht das Gehirn für die willentliche Vorstellung
eines Sachverhaltes. Länger als drei Sekunden lasse sich ein intensiver Reiz nicht festhalten. Nach dieser Zeit dränge ein neuer Reiz
nach.
Die Umwandlung akustischer Reize erfolge schneller als die der
optischen.22
Geist
ECCLES wies darauf hin, dass „die Einheit der bewussten Erfahrung
durch den selbstbewussten Geist vermittelt wird und nicht durch die
neurale Maschinerie der Liaison-Zentrale der Großhirnhemisphäre.“23
Gehirnregionen und ihre Aufgabe
Aktivitätsmessungen im Gehirn können bis auf etwa drei Millimeter
genau durchgeführt werden. Was im Gehirn über einige zehntel
Millimeter passiert ist ebenso von entscheidender Bedeutung, kann
jedoch heute noch nicht mit Maschinen gemessen werden.
22
MM, 52, 1999, S. 1
Zitiert von BECHER in SZ 138, 1999, S. 21; ECCLES erhielt
1963 den Nobelpreis für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Nervenzellen.
23
25
„Um interpretieren zu können, was im Gehirn passiert, müsste man
die komplette Geschichte des Menschen kennen, alle seine Erlebnisse.“ 24
Die Regionen und ihre vermuteten Aufgaben:



Sehzentrum: Hinterkopf
Stirn- und Scheitellappen: Denken an das Tempo bei der Beobachtung bewegter Punkte
Hippocampus: speichert Erinnerungen im Langzeitgedächtnis
Gehirnreaktionen bei Angst und Erregung
Die Sehbahn leitet normalerweise in 200 Millisekunden eine Information vom Auge durch das Gehirn. Bei drohender Gefahr dauert
die Übermittlung sogar nur 172 Millisekunden. Emotional erregende
Bilder werden über das Zwischenhirn weiterverarbeitet. Es signalisiert der Sehrinde, was vor den Augen passiert. Von dort wird der
Mandelkern, ein wichtiges Zentrum für Emotionen, informiert. Von
hier aus erfolgt eine weitere Verschaltung verschiedener Hirnareale,
die Reaktionen wie Schweißausbruch, Erstarrung oder Errötung
auslösen. Auch die visuellen Gedächtnisfelder liegen im Sehzentrum
des Gehirns. Sie sind für die Assoziation einmal gesehener Bilder
mit bestimmten Gefühlen verantwortlich.25
Neurobiologische Untersuchungen der letzten Jahre erbrachten Hinweise darauf, dass durch Dauerstress Nervenverbindungen im Gehirn
getrennt oder zerstört werden können. Bei Versuchen mit Ratten
zeigte sich, dass Stresshormone die Bildung neuer Nervenzellen im
Gehirn verhindern.26 HÜTHER versucht mit seinem Denkmodell,
psychische Phänomene und die Erkenntnisse der Hirnforschung zu
verbinden. Die wiederholte Bewältigung von Angstsituationen bei
kleinen Kindern führe zu dem Empfinden von Lust, Freude, Neugier
und Sicherheit. Durch Misserfolg dagegen werden psychische Störungen bis hin zum Autismus erzeugt. Die erfolgreiche Bewältigung
24
Neuroforscher Prof. TURNER in SZ, 216, 2000, V2 /10; Biophysik-Kongress in Müchen von 11. bis 16. September 2000
25
HAMM/STEMMLER in SZ, 50, 1999, V2 /20
26
Nature Neuroscience, 1999, Bd. 2, S. 894
26
von Stress führe zu Selbstvertrauen und dem Aufbau von Vertrauen
zu Bezugspersonen, die bei der Bewältigung von Stresserlebnissen
hilfreich waren.27
Gehirnstrukturen bei Einsteins Gehirn
Unterschiede zu anderen Gehirnen ließen sich vor allem in der Parietal- Region der Großhirnrinde finden. Das Gehirn Einsteins zeigte
hier eine besondere Ausprägung in einem bestimmten Bereich. Das
besonders stark ausgebildete Areal gilt als der Ort, welchem das
mathematische Denken, die optische Erkennung und die Vorstellung
von Bewegungen zugeordnet werden, und erzeugte eine um 15%
breitere Gehirnform im Vergleich zu 35 Männern und 50 Frauen mit
normaler Intelligenz. Außerdem fehlte bei Einstein eine Furche in
der besagten Gehirnregion. Es wird vermutet, dass sich dadurch in
dieser Region mehr Nervenverbindungen bilden konnten.
Einstein sagte selbst über seine Art zu denken, dass Worte dabei
keine Rolle spielten. Sein Denken gleiche eher einem assoziativen
Spiel mit mehr oder weniger klaren Bildern.28
Gehirnschäden durch Drogen (Ecstasy)
Durch das Rauschmittel werden Nervenfortsätze zerstört, die den
wichtigen Botenstoff Serotonin produzieren. Dieser endgültige Verlust wird als mögliche Ursache für Persönlichkeitsveränderungen,
Depressionen und Angstzustände angesehen.29
Speed (Metamphetamin)
Auch nach längerer Abstinenz finden sich im Gehirn ehemaliger
Drogenabhängiger noch Spuren der Sucht. In mehreren Hirnarealen
wird durch die Einnahme dieses Aufputschmittels die Konzentration
bestimmter Stoffwechselprodukte vermindert. Der entsprechende
Nachweis gelingt mit Hilfe der Magnetresonanz-Spektroskopie.30 In
der Studie wurden 26 ehemalige Metamphetaminsüchtige untersucht,
27
SZ, 224, 1999, V2 /13
SZ, 138, 1999, S. 16
29
Ärztliche Praxis, 12, 1999, und MM, 280, 1999, S. 1
30
Neurology, 2000, Bd. 54, S. 1344
28
27
die zwischen zwei Wochen und 21 Monaten clean waren. Die Untersuchungsergebnisse wurden mit denen von 24 Probanden verglichen,
die niemals Drogen eingenommen hatten.
Bei den ehemals Abhängigen war die Konzentration von NAcetylaspartat (Nervenzell-Marker) und von anderen Substanzen in
der vorderen Hirnrinde deutlich vermindert, während andere Stoffwechselprodukte vermehrt nachgewiesen wurden. Die niedrigeren
Werte belegen deutlich, dass bei den ehemaligen Usern Schäden
durch das Absterben von Nervenzellen entstanden waren. Auch nach
längerer Abstinenz sind diese noch zu erkennen.
Gehirnschäden durch Mangel an Zuwendung31
Mit Hilfe der Positronen-Emissionstomographie erzeugte Bilder des
Neurologen CHUGANI zeigen deutlich die geschädigten Hirnregionen von stark vernachlässigten rumänischen Kleinkindern. Die
Schläfenlappen des Gehirns sind nach heutigen Erkenntnissen an der
Steuerung des Gefühlslebens beteiligt. Schädigungen in dieser Region zeigen ihre Auswirkungen darin, dass diese Kinder erhebliche
Schwierigkeiten haben, emotionale, feste Bindungen aufzubauen.
Gehirnschäden durch Pestizide32
Landwirte und Gärtner, die häufig mit Pestiziden arbeiten, schädigen
offenbar durch diese Giftstoffe ihr Gehirn.
Von 800 Probanden schnitt ein Drittel der „Pestizid-Gruppe“ im
Vergleich zu einer Kontrollgruppe bei der Wiederholung eines vor
drei Jahren absolvierten Tests schlechter ab.
Der Test umfasste folgende Aufgabenstellungen:



31
Schnelligkeit, Buchstaben zu kombinieren
Redeflüssigkeit
Schnelligkeit des Erlernens von Wörtern und das Vergessen des
Gelernten.
Die entsprechende Darstellung findet sich in dem GEO-Heft
Wissen, 1/99, Seite 44.
32
Lancet, 2000, Bd. 356, S. 912
28
Nur bei jedem zehnten Versuchsteilnehmer, der nie oder nur selten
Pflanzenschutzmitteln ausgesetzt war, sanken die Leistungen.
Gehirnerschütterungen bei Sportlern können zu eingeschränkter
Leistungsfähigkeit des Gehirns führen
Je häufiger ein Fußballer in seiner Laufbahn eine Gehirnerschütterung – und damit eine Verletzung erleidet, desto schlechter ist seine
Gedächtnisleistung und seine Fähigkeit vorauszudenken.33
Eine einzige Erschütterung hinterlässt offensichtlich keine langfristigen Folgen, während sich die Folgen bei mehreren Erschütterungen
offenbar summieren.
Dennoch sind die geistigen Fähigkeiten bis zu 24 Stunden nach der
ersten Erschütterung deutlich eingeschränkt. Selbst fünf Tage nach
diesem Ereignis waren noch leichte Beeinträchtigungen feststellbar.
„Gottesmodul“ – Meditation – Visionen durch Magnetfelder
Während der Meditation, der religiösen Versenkung oder während
des Gebetes lassen sich vermehrt Aktivitäten im Bereich des Stirnhirns nachweisen. Zugleich arbeitet das Limbische System, das Erlebnisse emotional bewertet, vermehrt. Während der Einkehr innerer
Ruhe durch verschiedene Versenkungstechniken reduziert sich
gleichzeitig die Aktivität im Scheitellappen (Hinterkopf). Dieser
Bereich ist dafür zuständig, alle eingehenden Sinneseindrücke zu
sortieren. Die Trennung der Welt vom „Selbst“ wird hier vollzogen.
Durch diese gleichzeitig veränderten Aktivitäten wird es dem Menschen möglich, das Gefühl zu erzeugen, in eine höhere Realität einzutauchen.
Durch das wechselseitige Einwirken komplexer magnetischer
Schwingungen auf die Schläfenlappen des menschlichen Gehirns
lässt sich nach PERSINGER (durch Versuche im Labor) die Wahrnehmung der Präsenz eines höheren Wesens erzeugen.34 Nach PERSINGER liegt die Vermutung nahe, dass durch die Stimulation die
Orte des Selbstempfindens auf beiden Seiten angeregt werden. Die
33
JAMA, 1999, Bd. 282, S. 964
SZ, 296, 2001, V2 /7; PERSINGER arbeitet als Psychologe an der
Laurentian University in Kanada; NEWBERG ist Radiologe an der
University of Pennsylvania in Philadelphia.
34
29
linke Hälfte, Sitz des sprachlich-analytischen Bewusstseins und
normalerweise vorherrschend tätig, empfängt während der Stimulation auch Impulse von der rechten Seite. Die linke Hirnhälfte registriert diese Impulse als vertraut und zugleich merkwürdig fremd und
ordnet ihnen eine hohe Bedeutung zu. Die erlebte mystische Präsenz
sei somit eine Form der Selbsterkenntnis.
Verletzungen des Gehirns – Zahlenangaben zu den USA
BURKE 35 geht davon aus, dass allein in den USA über zwei Millionen Menschen mit traumatischen Verletzungen des Gehirns leben.
Ursachen dafür waren Stürze, Autounfälle oder Gewaltanwendung.
Diese Patienten können zwar laufen, sind aber nicht in der Lage, ihre
Zeitpläne zu organisieren oder sich daran zu erinnern, wann bestimmte Dinge zu tun sind.
Kleinhirnerkrankungen
„Purkinje-Zellen“ (bestimmte Zellgruppen im Kleinhirn) dienen als
Zeitmesser für Hirnfunktionen. Ähnlich einer Stoppuhr messen sie
Nervenimpulse, indem sie Wellen auf Parallelfasern abgreifen.
Motorik, Wahrnehmung, Handeln und Denken verlieren an Genauigkeit, wenn eine Schädigung dieser Zellgruppen eingetreten ist.36
Krebs durch ein bestimmtes, im Gehirn vorkommendes Protein
Das sogenannte EAG-Protein kommt nur im Gehirn vor. Bei fehlerhafter Funktionsweise wird vermutet, dass es für die Entstehung von
Krebs verantwortlich sein könnte. Tritt es nämlich ausserhalb des
Gehirns auf, löst es eine unkontrollierte Vermehrung von Zellen aus.
Das EAG-Protein funktioniert im Gehirn wie ein Kanal, der den
Fluss von Kalium-Teilchen durch die Hülle der Nervenzellen steuert.
Dort, wo das Protein nachzuweisen ist, werden auch Krebszellen
vermutet. Normalerweise ist das Gehirn und auch das EAG-Protein
35
SZ, 244, 2001, V2 /14; BURKE arbeitet an der Harvad Medical
School.
36
Forschungsergebnisse der Neurologischen Uniklinik Tübingen und
des Weizmann-Instituts in Rehovot (Israel)
30
durch die Blut-Hirn-Schranke geschützt, die das zentrale Nervensystem vor Fremdstoffen abschottet.37
Leistungssteigerung durch Kaugummikauen
LEHRL fordert ein Umdenken bei Lehrern und Eltern. „Kaugummikauen ist eine tolle Möglichkeit, Schüler aufnahmefähiger zu machen. . . Insgesamt liegt das Denkvermögen in Bewegung um 20%
höher als in Ruhe . . . am intensivsten wirkt sich Bewegung im Kiefer- und Kehlkopfbereich aus.“38
Der wahrscheinliche Grund dafür liegt in der Tatsache, dass Denken
und Sprechen in enger Beziehung zueinander stehen, aber auch deshalb, weil durch das ständige Kauen das Gehirn besser mit Sauerstoff versorgt wird. Studenten bekommen laut Untersuchungen bis
zu 40% mehr vom Vorlesungsstoff mit, wenn sie Kaugummi kauen.39
Lernaktivitätsphasen sind zeitlich individuell verschieden
THELEN dazu: „Das einfache Bild vom Kind, das wartet, bis sein
Gehirn gereift ist und dann wie eine Marionette dessen Befehle ausführt, ist unhaltbar.“40
Die einzelnen dazu notwendigen Faktoren reifen bei den Kindern in
einem individuellen Tempo.
Alter in Monaten bei Beginn der einzelnen Phasen:
In der letzten Spalte sind Durchschnitt/maximale Differenz errechnet.
37
MM, 243, 1999, Weltspiegel
MM, 55, 1999, S. 1; LEHRL ist Medizinpsychologe an der
Universität Erlangen; er steht der Deutschen Gesellschaft für
Gehirntraining vor.
39
SZ, 55, 1999, S. 12
40
GEO-WISSEN, 1 / 99, S. 45; Esther THELEN ist Psychologin an
der Universität Bloomington in Indiana/USA;die Tabelle wurde
entsprechend der grafischen Darstellung in derselben Ausgabe auf
S. 46 umgerechnet.
38
31
Stefan
5,1
5,7
7
Larsen
7,2
8,0
8,9
Manuel
7,0
7,5
9,8
Nils
7,5
8,1
9,3
Pamela
5,7
6,6
8,5
Christian
7,1
8,0
8,8
10,1
10,8
10,2
11,4
11,7
11,5
Christina
Sitzen
7,8
Krabbeln 8,8
Sarah
7,1
9,8
Verena
6,4
7,0
Jan
7,8
-
Sonja
6,9
7,3
Durchschnitt
6,87 / 2,1
7,68 / 4,1
Freies
Stehen
Freies
Gehen
10,8
10,5
9,0
10,0
11,1
9,43 / 4,1
11,5
11,8
13,3
14,0
14,2
11,86 / 4,1
Sitzen
Krabbeln
Freies
Stehen
Freies
Gehen
Die Tabelle verdeutlicht, dass z. B. der Beginn der verschiedenen
Fähigkeiten bei elf untersuchten und beobachteten Kindern zeitlich
stark variieren kann.
Entwicklung der Sprach- und Lesefähigkeit
Die entwicklungshemmende Rolle der elektronischen Medien
WITTGENSTEIN wies darauf hin, dass die Grenzen der Sprache
zugleich als Grenzen der erfahrbaren und verstehbaren Welt anzusehen sind. Der Sprache und der Möglichkeit ihres Erlernens wird
somit eine besondere Bedeutung bei der Entwicklung des Bewusstseins und des Begreifens der Welt zugewiesen. Eltern und Gesellschaft gleichermaßen müssen sich diesbezüglich ihrer besonderen
Verantwortung bewusst sein.
Jede der mehr als 100 Milliarden Nervenzellen des menschlichen
Gehirns sendet Informationen an etwa 10 000 andere, räumlich nahe-
32
liegende Nervenzellen. PÖPPEL41 zu der Frage, was an der menschlichen Wissenskompetenz angeboren und was durch Erfahrung erworben ist:
„Wenn wir in die Welt eintreten, dann sind wir mit einem breiten
genetischen Repertoire von Möglichkeiten ausgestattet. Zwischen
den vielen Milliarden Nervenzellen im Gehirn besteht ein Übermaß
von Kontakten. Diese potenziellen Kontakte werden erst endgültig
festgelegt, wenn sie durch Informationsverarbeitung genutzt und
bestätigt werden. Diese Prägung des Gehirns erfolgt in frühen Phasen der Biografie. Was nicht genutzt wird, wird abgeschaltet.
In dem Augenblick, in dem Kontakte zwischen Nervenzellen bestätigt worden sind, macht es keinen Sinn mehr, zwischen angeborenen
und erworbenen Wissenskompetenzen zu unterscheiden.“
Kinder erlernen Sprache immer ausschließlich mit anderen Menschen. Es gibt keinen Ersatz für die persönliche Zuwendung während
der Sprachentwicklung, da diese auch an eine individualisierte Förderung gekoppelt ist und kein elektronisches Medium aus sich heraus in der Lage ist, eine Kultur mündlicher Verständigung zu vermitteln. Durch die Überschwemmung des kindlichen Gehirns mit
„fremden“ Bildern (Fernsehen, Kino, Computer) wird das Kind
gerade in der Zeit mental geschwächt, in der es selbst sprachliche
Gebilde entwickeln sollte.
1. Es gilt eine wichtige biologische Grundregel:
Der Mensch entwickelt seine grundlegenden Wahrnehmungsschemata durch Reden, Sprechen und Lesen. Aus diesen Tätigkeiten entwickelt sich auch das menschliche Bewusstsein. Durch das – auch
zuerst unvollkommene – Sprechen bilden sich neuronale Netze mit
den dazugehörigen Verbindungsstellen, den Synapsen. Durch deren
Dichte wird auch die Leistungsfähigkeit mitbestimmt.
2. Es gibt bestimmte „Entwicklungsfenster“:
Nach der heutigen Lehrmeinung schließt sich das Entwicklungsfenster für die Sprache zwischen dem fünften und achten Lebensjahr.
Innerhalb dieser Zeit erfolgt die sprachliche Prägung. Außerdem
wird der spätere Grad der sprachlichen Leistungsfähigkeit festgelegt.
41
PÖPPEL ist Hirnforscher und versuchte diese Frage in seinem
Aufsatz „Drei Welten des Wissens“ (in SZ, 80, 2002, Beilage) zu
beantworten.
33
Nach dem Schließen des Entwicklungsfensters ist eine Verbesserung
der Qualität kaum oder nur mit großem Aufwand möglich.
3. Medizinisch relevante Sprachentwicklungsstörungen:
Etwa 20 bis 22% der sechs- bis siebenjährigen Kinder weisen solche
Störungen nach neueren Untersuchungen auf.
Die Zahl der sprachauffälligen Kinder stieg innerhalb der letzten
zehn Jahre von etwa 4 auf 24%. Den betroffenen Kindern fehlt



ihre eigene Sprache
die Grundlage für das Erlernen von Lesen und Schreiben
ein entsprechendes Sozialverhalten.
Zu Beginn des „Kommunikationszeitalters“ ist ein hoher und noch
ständig wachsender Anteil der Kinder während einer kritischen Entwicklungsphase regelrecht „kommunikationsgestört“. Der zusätzlich
zunehmende, unreflektierte Medien-Konsum von Gewalt führt in der
Folge zu einem Anwachsen des funktionalen Analphabetentums. In
Deutschland wird die Zahl der betroffenen Menschen auf derzeit 4
Millionen geschätzt. Diese Menschen haben zwar das Lesen und
Schreiben gelernt, sind aber nicht in der Lage, den Inhalt eines einfachen Textes aufzunehmen und wiederzugeben. Vielen Kindern fehlen die für den Spracherwerb notwendigen Partner.
Jährlich verlassen etwa 100 000 junge Menschen deutsche Schulen
ohne einen Abschluss. Mindestens 10 000 von ihnen zählt man als
Analphabeten. Die Gründe für diese Entwicklung scheinen in der
Zeit der Sprachentwicklungsphase vor der Einschulung zu liegen.
SANDERS:42 „Die Pistole ist das Schreibwerkzeug des Analphabeten.“
4. Entwicklung der Lesekompetenz:
Das „Entwicklungsfenster“ ist nur während der ersten 13 bis 15
Lebensjahre geöffnet. Ständige Anregung und Übung sind zur Entwicklung notwendig, da nur dadurch die erforderlichen Gehirnstrukturen ausgebildet werden.
42
Barry SANDERS Untertitel zu seinem Buch über den Verlust der
Sprachkultur
34
Umfragen unter Jugendlichen ergaben:
1992: etwa 46%
2000: etwa 25%
„Das Elternhaus animiert zum Lesen.“
„Das Elternhaus animiert zum Lesen.“
OPASCHOWSKI: „Das heutige Tempo der Medien „überschüttet
Kinder und Jugendliche mit einer immer schnelleren Abfolge von
Bildern und Informationen.“ Unsere Kultur bringt somit eine neue
Generation hervor: die „Kurzzeit-Konzentrations-Kinder (KKK)“.
SLOTERDIJK spricht vom neuen Typ des „Users“ und einer Kultur
der Ungeduld.
NOELLE-NEUMANN: „Wir sind auf dem Weg, unsere Illusionen
zu vermehren, etwas zu wissen: Man schaut hin, aber man erkennt
nicht. Man weiß, wie man etwas findet, aber man weiß eigentlich
nicht, was man finden möchte.
WEIZENBAUM: „Medienkompetenz bedeutet die Fähigkeit, kritisch zu denken; kritisch denken, lernt man allein durch kritisches,
verarbeitendes Lesen, und Voraussetzung hierfür ist eine hohe
Sprachkompetenz.“43
Lernbehinderungen durch Gehirnschädigungen
DAMASIO/LeDOUX weisen darauf hin, dass Schädigungen im
Stirnlappen sowie in Zentren des „Limbischen Systems“ einerseits
Gefühlskälte als auch unvernünftiges Verhalten zur Folge haben.
Menschen mit Schädigungen in diesen Bereichen des Gehirns neigen
dazu, bekannte Gefahren nicht mehr zu meiden, gehen vermehrt
hohe Risiken ein, fallen durch rücksichtsloses Betragen auf und
besitzen nicht mehr die Fähigkeit, aus den Konsequenzen des eigenen Verhaltens zu lernen. Wurden die entsprechenden Patienten
befragt, so waren sie zum Teil in der Lage, ihr Fehlverhalten mit
vernünftigen Worten zu beschreiben. Ihnen fehlte nicht die Einsicht,
wohl aber das Vermögen, ihre Einsicht in die Tat umzusetzen.
43
Die Zitate und vorausgehenden Fakten sind einem Artikel von
WECHSLER in SZ, 80, 2002, Wochenende, entnommen
35
Mathematische Fähigkeiten bei Säuglingen und Kindern
WYNN konnte durch ihre Versuchsreihen nachweisen, dass bereits
Säuglinge in der Lage sind, eins und eins zusammenzuzählen.
Den Säuglingen wurden in ihrem Blickfeld eine einzige Mickymaus
präsentiert, die anschließend wieder vor den Blicken abgeschirmt
wurde. Im nächsten Durchgang erschien eine zweite Maus. Auch sie
verschwand hinter der Abschirmung. Als der Schirm entfernt wurde,
kamen entweder eine, zwei oder drei Mickymäuse zum Vorschein.
Am längsten und entgegen aller Logik blickten die Babys auf die
Figuren, wenn eine einzige oder drei Mäuse zu sehen waren. Bei
zwei Mäusen war die beobachtete Aufmerksamkeit geringer.44
Kinder haben nach Ansicht von DEHAENE im Normalfall bereits
vor dem Eintritt in die Schule eine auf den Zahlenvergleich spezialisierte Hirnregion entwickelt. Er vertritt die Ansicht, dass das Zahlenverständnis abhängig von der Motivation ist. So handeln Zweijährige nur selten zu ihrem Nachteil, wenn statt der von PIAGET verwendeten blauen und roten Spielmünzen Süßigkeiten verwendet
werden.45
Mathematische Fähigkeiten bei Hirnschädigungen
Durch Untersuchungen von TEMPLE/POSNER wurde belegt, dass
die mathematischen Fähigkeiten im Gehirn in getrennten Modulen
untergebracht sind. Beobachtungen bei Schlaganfall-Patienten ergaben folgende Unterschiede:
 Verwechslungen von Ziffern
 Verlust der Fähigkeit, zwischen Einern, Zehnern und Hundertern zu unterscheiden
 Möglichkeit der Addition – nicht der Subtraktion.
Müdigkeit und Gehirnaktivität
Der präfrontale Cortex – eine Hirnregion im Stirnbereich – beheimatet das Arbeitsgedächtnis.
Diese Region wird im wachen Zustand am meisten beansprucht.
Entgegen der bisherigen Annahme, dass sich die Aktivität in diesem
44
45
SZ, 253, 1998, V2 /18
SZ, 253, 1998, V2 /18
36
Bereich bei großer Müdigkeit verringert, wurde festgestellt, dass die
Aktivität im Stirnlappen umso heftiger ist, je müder sich die Versuchspersonen zeigten. Gleichzeitig wurde von DRUMMOND und
Kollegen46 beobachtet, dass andere Bereiche wie z. B. Temporallappen bei großer Ermüdung keine messbare Aktivität mehr zeigten.
Andere Hirnzellen im Scheitellappen, die sonst nicht bei derartigen
Gedächtnisleistungen beteiligt sind, wurden stellvertretend bei der
Informationsverarbeitung aktiv.
Bestimmte Zellen im Vorderhirn wachen über eine ungestörte Nachtruhe. Sie sind von Natur aus leicht reizbar und werden tagsüber
durch Hormone und Botenstoffe des Nervensystems ruhiggestellt.
Die den Schlaf fördernden Neuronen werden durch Noradrenalin,
Serotonin und Acetylcholin – allesamt Gegenspieler der Müdigkeit –
gehemmt.
Diese Hirnzellen nehmen ihre Arbeit erst auf, wenn die innere Uhr
die Zeit zum Bettgehen signalisiert. Während einer Tiefschlafphase
zeigen sie besondere Aktivität. Diese sogenannten REM-Phasen sind
durch schnelle Augenbewegungen hinter den Lidern gekennzeichnet.
Die Produktion der wach haltenden Botenstoffe wird jetzt blockiert.
Ein sich selbst verstärkender Prozess setzt ein. In ihn werden immer
mehr schläfrig machende Zellen einbezogen.47
Musikalität
KÖLSCH48 vertritt aufgrund ausgedehnter Untersuchungen an 200
Versuchspersonen die Auffassung, dass jeder Mensch offenbar ein
musikalisches Grundverständnis besitzt, das vom Gehirn automatisch angewendet wird. Musik und Sprache werden im Gehirn ähnlich verarbeitet. Durch Musik wird das Sprachzentrum im Gehirn
angeregt. Ursprünglich sei die Musik ein Kommunikationsmittel
gewesen und sie sei es auch geblieben. „Wir sprechen mit Rhyth46
Nature, Bd. 403, 2000, S. 655; DRUMMOND ist Neurowissenschaftler an der Universität von Kalifornien.
47
Nature, Bd. 404, 2000, S. 992, in SZ, 100, 2000, V2 /9;
MÜHLETHALER von der Universität Genf untersuchte die Tätigkeit dieser Zellen zusammen mit Kollegen aus Frankreich und der
Schweiz.
48
MM, 179, 2000, S. 3; KÖLSCH arbeitet am Leipziger
Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung.
37
men, mit Melodien, mit einem bestimmten Timbre, alles das sind
musikalische Begriffe.“
Bei Sprachstörungen oder bei Koma-Patienten könne die Musik
sinnvoll therapeutisch genutzt werden.
Musik und ihre Auswirkungen auf das Gehirn49
RAUSCHER wies in einer Studie von 1993 nach, dass sich das
räumliche Denken durch das Hören von Mozart-Kompositionen
verbessert. Auch SEIGEL wies den oben angeführten Effekt nach.
CHABRIS fand bei seinen 1998 durchgeführten Studien heraus, dass
die Musik generell keinen nennenswerten Einfluss auf den Intelligenzquotienten hat.
HUGHES untersuchte mit Hilfe einer aufgestellten Skala, wie häufig
Musik berühmter Komponisten in einem Zeitrahmen von mindestens
zehn Sekunden lauter und leiser wird.
Dabei stellte er fest, dass Mozart unter der gesamten analysierten
Musik die meisten Lautstärken-Höhepunkte in einem 30-SekundenTakt aufwies. Auch viele Funktionen im Zentralnervensystem arbeiten in diesem Zeit-Rhythmus. Dies liefert möglicherweise eine Erklärung für die Auswirkungen von Mozarts Musik auf das menschliche Gehirn.
JOHNSON testete den Effekt erfolgreich an Alzheimer-Patienten.
Bei Versuchen mit Pop-Musik wurden keine positiven Ergebnisse
erzielt.
Die Ergebnisse von Schulversuchen mit erweitertem Musikunterricht
aus den Jahren 1972 bis 1979 in Deutschland, Österreich und der
Schweiz wurden vom Deutschen Forschungsdienst kommentiert:
„Kinder, die von der ersten Klasse an eine intensive Musikerziehung geniessen, haben bei sonst gleichen Voraussetzungen ihren
Altersgenossen bald einiges voraus:
Sie haben nicht nur gelernt, sich aktiv mit Musik zu beschäftigen, sie sind allgemein schöpferischer, intelligenter und stabiler
in ihrer Gefühlswelt.“50
49
50
MM, 269, 1999, J 4, und in New Scientist, Bd. 164, Nr. 2212
WEBER, 1991, S. 8
38
BASTIAN kommt nach der Auswertung einer sechsjährigen Studie51
zu den Wirkungen eines musikbetonten Unterrichts zu folgenden
Ergebnissen :
„Musik hat stets mit Ratio zu tun, ist Tektonik, Struktur, Architektur. Es steckt Raum- und Zeitdenken in jeder Komposition.
Es wird eine Fülle von abstrakten, komplexen Denkprozessen
angestoßen. Wenn ein Kind zum Beispiel vom Blatt spielt, muss
es schnell und gleichzeitig Informationen in extremer Fülle und
Dichte speichern und verarbeiten.“







Die soziale Kompetenz ist ausgeprägter.
In den entsprechenden Klassen gibt es weniger ausgegrenzte
Schüler.
Fördert ein emotional positiv aufgeladenes Klassenklima.
Schulvandalismus und Aggressionspotenziale gehen zurück.
Die Kinder gehen in der Pause anders miteinander um.
Ein deutlicher Zugewinn beim Intelligenzquotienten ist nach
vier Jahren erweiterter Musikerziehung festzustellen (gerade bei
Kindern mit eher schwachem IQ).
Neueste hirnphysiologische Untersuchungen zeigen, dass Kinder Musik figural lernen im Tanz, im Bewegen, im Singen, im
Spiel.
Nach den Statistiken des Verbandes deutscher Schulmusiker fallen in
Nordrhein-Westfalen oder Hessen 80% des Musikunterrichtes aus.
Auch in Bayern und Baden-Württemberg werden die Musikstunden
reduziert.
Musik – vorgeburtliche Kinderlieder
Hören Ungeborene ein von der Mutter gesungenes Kinderlied, zeigt
sich bei ihnen eine deutlich messbare Hirnaktivität im Temporallappen. Hier werden akustische Reize verarbeitet. Die Antwort des
Gehirns Ungeborener wurde erstmals mit Hilfe der Kernspintomographie direkt gemessen, wobei WEILLER dazu meint:
„Man kann nicht vollständig ausschließen, dass die Technik nicht
doch Schäden für das Ungeborene mit sich bringt.“
51
DIE ZEIT, 15, 2000, S. 47; BASTIAN ist Pädagogikprofessor in
Frankfurt.
39
Musiktherapie bei verhaltensschwierigen Kindern und Patienten
im Wachkoma
STEINBACH achtet auf den Atem der Patientin, nimmt diesen
Atemrhythmus auf und singt in diesem Rhythmus in Anwesenheit
der Menschen, die im Wachkoma liegen. Es kann dabei passieren,
dass der Atemrhythmus der Kranken schneller wird, sich der Kopf in
die Richtung wendet, aus der der Gesang zu vernehmen ist, und dass
sich dabei das Gesicht verzieht oder erfolgreich versucht wird, die
Lippen und Augen zu bewegen.
Bei einem schwerbehinderten Jungen im Alter von viereinhalb Jahren, der noch gewickelt und gefüttert werden muss und der häufig
laut schreit und weint, wird das Schreien des Kindes von der Therapeutin aufgegriffen und am Klavier mit Gesang begleitet. Im Laufe
von zehn Wochen entwickeln die vokalen Äußerungen des Kindes
einen gesangähnlichen Klang. Zudem ist der Junge ruhiger geworden, weint weniger und beginnt nach Löffeln zu greifen und damit zu
essen. Erste Wörter und Sätze werden gesprochen.
Die NORDOFF-ROBBINS Methode:
Der amerikanische Pianist beobachtete zusammen mit seinem
Freund (Robbins), einem Sozialpädagogen, während einer Probe in
einem Heim für behinderte Kinder ein auffällig verändertes, positives Verhalten, obwohl die Musik nicht an die Kinder gerichtet war.
Aus diesen Beobachtungen heraus entstand eine schöpferische Musiktherapie. Sie wird heute sowohl bei psychosomatischen Störungen, in der Psychiatrie und Neurologie, aber auch bei autistischen
und schwerbehinderten Kindern und auf Intensivstationen angewandt. Erfolgreich wurde bereits mit Alzheimer-, Demenz-, Schlaganfall-, und Tinnitus- sowie mit MS-Patienten und unheilbar Kranken gearbeitet. Selbst bei Gehörlosen und Gehörgeschädigten, aber
auch bei Folteropfern wurde diese Methode erfolgreich angewandt.
52
Zum Einsatz kommen fast immer Instrumente, die auch ohne
Schulung gespielt werden können. Die entstehende Musik ist immer
improvisiert und individuell zugleich.
52
SZ, 271, 2001, II; Esther STEINBACH arbeitet in einem Zentrum
für Geriatrie; das einzige europäische Institut für Musiktherapie ist
an der Privatuniversität Witten-Herdecke in die medizinische Fakultät eingebettet; Dagmar GUSTORFF und NEUGEBAUER sind dort
tätige Therapeuten.
40
JOURDAIN 53 betont, dass durch die Musik dem Gehirn komplexe
und komplizierte Informationen in Form von Melodie, Harmonie
und Rhythmus geliefert werden. Dabei wird während der Verarbeitung oft die Leistungsgrenze ausgeschöpft. Musik führt zum Denken
und somit zu Intelligenz.
Moralische Defizite nach Hirnverletzungen
Bestimmte Regionen des Vorderhirns sind offenbar für die Bildung
von Moralbegriffen und das Erlernen sozialen Verhaltens verantwortlich. Werden sie verletzt, verliert das Individuum die oben erwähnten Fähigkeiten. Je früher eine Schädigung eintritt, desto gestörter ist das Benehmen und die persönliche Entwicklung des betroffenen Menschen. Lügen, Stehlen und Schlagen ohne erkennbare
Anzeichen von Reue über die Ausfälle sind für solche Verletzungen
oder Schädigungen charakteristisch. Die Intelligenz ist durch diese
Verletzungen nicht messbar beeinträchtigt.54 Ein moralisches und
emotionales Vakuum sowie eine intellektuelle Fragmentierung sind
auch Anzeichen für das Vorhandensein eines postenzephalitischen
Syndroms, das sich bei impfgeschädigten Kindern beobachten lässt.
Es bestehen große Schwierigkeiten, begrifflich zu denken und die
einzelnen Wahrnehmungen zu synthetisieren. Dazu gesellt sich noch
eine fragmentarische Vorstellung vom eigenen Körper.
Notenergebnisse in der Rechtschreibung sind nicht vom Pauken
abhängig
Manche Gesetzmäßigkeit der Orthografie lernen Kinder auch, ohne
dass sie ihnen in besonderer Weise beigebracht wird. Offensichtlich
kommt dem Abspeichern der Rechtschreibweise ganzer Wörter in
„einem Lexikon des Gehirns“ eine größere Bedeutung zu als bisher
angenommen.55
53
JOURDAIN, in: Das wohltemperierte Gehirn – wie Musik im
Kopf entsteht und wirkt.
54
Nature Neurosience, 9/99, und in MM, 243, 1999, S. 1
55
Nature, 2000, Bd. 403, S. 157
41
Orientierungssinn
RIEPKE belegt durch neurologische Untersuchungen (Aufzeichnung
der Gehirnaktivität), dass bei Männern die Hirnareale für die Verarbeitung geometrischer Eindrücke stärker genutzt werden. So benötigten Frauen durchschnittlich 196 Sekunden (Männer 141 Sekunden),
um aus einem computersimulierten Labyrinth herauszufinden.56
„Partyeffekt“ in der Hirnforschung
Der Kernspin-Apparat misst Änderungen im Blutfluss, aber keine
Nervensignale. Eine Änderung des Flusses des sauerstoffbeladenen
Blutes ist zugleich ein direktes Abbild der Nervenaktivität.57
Bei der Interpretation des Tomogramms ist nach KRUGGEL jedoch
mit dem „Partyeffekt“ zu rechnen, da das Gehirn ebenso wie ein
Mikrofon bei einer Aufnahme auf einer Party nicht nur die gesuchte
Stimme, sondern auch alle Begleitgeräusche aufnehme. Nach
DANEK ist zudem eine hochkomplizierte Statistik notwendig, um
ein Signal aus dem Rauschen herauszufiltern.
Die momentan zur Verfügung stehende Karte des Frontalcortex
entspricht einer Landkarte aus der Zeit vor Chritstoph Kolumbus.
CRAMON: „Es sind bei allen Aufgaben des Frontalcortex immer
subcortikale Bereiche beteiligt, und von dort empfängt das Stirnhirn
mindestens genauso viele Befehle, wie es selbst aussendet.“
PET (Positronen-Emissions-Tomographie)
Mit dieser Methode können die Funktionen der Nervenzellen im
Gehirn sichtbar gemacht werden. Die Bereiche, in denen der Stoffwechsel aufgrund starker Nervenaktivität erhöht ist, leuchten auf.
Jedes Gefühl, jede Absicht oder Erinnerung lässt sich auf biochemische und elektrische Impulse zurückführen. Damit wird die traditionelle Trennung von Leib und Seele in Frage gestellt.
56
MM, 69, 2000, S. 1; RIEPKE ist Neurologe an der Universität
Ulm; Nature, 2001, Bd. 412, S.150
57
SZ, 250, 2001, V2 /11; nachgewiesen durch LOGOTHETIS, Hirnforscher in Tübingen; CRAMON ist Direktor des Leipziger MaxPlanck-Institutes; KRUGGEL ist Mitarbeiter von CRAMON;
DANEK ist Neurologe am Klinikum Großhadern in München.
42
Die PET verhalf auch zu der Erkenntnis, dass die linke Hirnhälfte für
die intellektuellen Fähigkeiten (Denken und Planen) zuständig ist.
Der ebenso wichtige Einfluss der rechten, emotionalen Hirnhälfte
rückt immer mehr in das Zentrum der Forschungen.
Rauchen schadet der Intelligenz
Bei der Untersuchung von 650 britischen Senioren über 65 Jahren im
Hinblick auf ihre Rauch- und Trinkgewohnheiten wurde durch einen
Intelligenztest, der nach einem Jahr bei 417 Probanden wiederholt
wurde, festgestellt, dass bei Rauchern ein viermal so häufiger „deutlicher Rückgang“ der geistigen Fähigkeiten zu beobachten war.
Erklärt wird diese Tatsache durch aufgrund des Rauchens verursachte Gefäßkrankheiten und Arterienverkalkung, die den Blutfluss im
Gehirn behindert.58
Reproduktion von Gehirnzellen im Alter
Schuld an dem Abbau von Gehirnzellen im Alter sind die als Stresshormone bekannten Corticosteroide. Im Tierversuch wurde erstmals
durch eine Reduktion der Corticosteroidwerte die Produktion neuer
Nervenzellen beobachtet.
Nach Ansicht der Forscher59 wird damit gezeigt, dass die Fähigkeit
zum Lernen und Erinnern im Alter nicht unwiderruflich abhanden
kommt, sondern in erster Linie lediglich durch zu hohe Stresshormonwerte bedingt sei.
Eine seepferdchenähnliche Struktur im Gehirn, der Hippocampus,
spielt eine tragende Rolle beim Erlernen und Erinnern von Fakten,
die mit persönlichen Erfahrungen verknüpft sind. Mit zunehmendem
Alter leiden die dort vorhandenen Zellen jedoch unter den von der
Nebenniere produzierten Corticosteroiden. CAMERON und
McKAY fanden jetzt heraus, dass in einem bestimten Bereich des
Hippocampus, der Region Gyrus dentatus, auch bei Erwachsenen
die Nervenzellen noch ständig erneuert werden.
58
MM, 92, 2000, S. 1; Untersuchung des Institute of Psychiatry in
London
59
Nature Neuroscience, Bd. 2, Nr. 10, S. 894
43
Schäden im rechten Stirnlappen: Erkennen von Schalk und
Ironie
Menschen, die einen Schaden im rechten Stirnlappen erlitten haben,
können Ironie nicht erkennen und deshalb auch nicht darüber lachen.
Von ihnen wird höchstens einfache Komik bevorzugt. Das Verstehen
von Ironie erfordert als Gehirnleistung die Koordination von Erkenntnis, Erinnerung und abstraktem Denken. Dem rechten Stirnlappen wird deshalb Bedeutung für die Ausprägung der Persönlichkeit
zugewiesen.60
Schizophrenie
Nach LINDEN und Kollegen ist die „Heschlsche Querwindung“,
eine Hirnregion im Schläfenlappen des Großhirns, dann besonders
aktiv, wenn schizophrene Patienten Halluzinationen als real erleben.
Hier befindet sich die nur wenige Millimeter große „primäre Hörrinde“.61
Die angewandten Verfahren waren sowohl moderne bildgebende als
auch die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Durch
diese Methode ist es möglich, das Gehirn in Felder von ein bis drei
Millimeter Durchmesser zu zerlegen. Außerdem ist eine Veränderung von Durchblutung in Sekundenschnelle möglich. Die Durchblutung der primären Hörrinde war bei Halluzinationen ebenso wie
beim richtigen Hören erhöht.
Schlaganfälle: Vorhersage und Bestimmung des Ausmaßes der
Schädigung
Etwa 20 000 Menschen erleiden jährlich in Deutschland einen
Schlaganfall.
Durch einen Bluttest lassen sich im Gehirn zwei Substanzen (das
Protein „S100B“ und die Neurospezifische Enolase „NSE“) nachweisen, die beim plötzlichen Auftreten eines Schlaganfalls im Gehirn freigesetzt werden. So können Hirnschäden frühzeitig erkannt
und behandelt werden.
60
61
Brain, April 1999 und in MM, 77, 1999, S. 1
Neuron, 22,1999, 615 in SZ 128, 1999, V2 /16
44
HERRMANN62 erwartet durch die Bestimmung dieser zwei Substanzen sogar Aussagen zu bisher kaum erkennbaren neuropsychologischen Schäden wie Aufmerksamkeitsstörungen oder die verminderte Fähigkeit zum Planen und Handeln.
Nach HERRMANN ist es dank chemischer Marker möglich, eine
detailliertere Karte der Zerstörung nach einem Schlaganfall zu erstellen als mit den herkömmlichen, bildgebenden Verfahren.
Sehen
Das menschliche Auge sieht mehr, als das Gehirn zu verarbeiten
imstande ist. Neueste Forschungen lassen den Rückschluss zu, dass
bei der optischen Wahrnehmung die Eindrücke nicht parallel, sondern in Serie verarbeitet werden.63
Selbstbewusstsein – Selbsterkenntnis – Lokalisation im Gehirn
Ein entscheidender Schritt in der Entwicklung vom Tier zum Menschen ist die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel oder auf einem Bild
wiederzuerkennen. Auch das „Ich“-Denken gehört zu dieser menschlichen Qualität. Nur einige Menschenaffen besitzen noch die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel zu erkennen.
Nach KIRCHNER und BARTELS64 wird beim Betrachten des eigenen Bildes der linke Frontallappen des Hirns zusammen mit der
rechten Hälfte des Limbischen Systems, das für Gefühle zuständig
ist, aktiv. Wurde das Bild des jeweiligen Liebespartners betrachtet,
zeigte sich nur ein kleines Areal der rechten Hirnhälfte aktiv.
KEENAN65 vermutet die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis ausschließlich in der rechten Hirnhälfte. Er hatte die linke oder rechte Hälfte
seiner Patienten während einer Epilepsie-Untersuchung betäubt. In
diesem Zustand wurden den Probanden das „gemischte“ Gesicht
gezeigt, das sich aus dem eigenen Bild und dem eines Prominenten
zusammensetzte. War nur die linke Hirnhälfte wach, wurde nur der
62
SZ, 188, 1999, V2 /11; HERRMANN ist Neurologe an der
Neurologischen Klinik in Magdeburg.
63
Nature, 1999, Bd. 400, S. 867, und in SZ 200, 1999, V2 /12
64
SZ, 30, 2001, V2 /13; Cognition, Bd. 78, S. B1, 2001
65
Nature, 2001, Bd. 409, S. 305
45
Star erkannt, war nur die rechte Hälfte wach, wurde nur das eigene
Gesicht erkannt.
Selbsteinschätzung – warum sich Dumme für gescheit halten
DUNNING/KRUGER66 stellten fest, dass die Fähigkeiten, die Kompetenz ausmachen, dieselben sind, die auch die Grenzen der eigenen
Fähigkeiten erkennen lassen.
Probanden mit den schlechtesten Sprachkenntnissen und den geringsten Erfolgen bei logischen Aufgabenstellungen zeigten das
größte Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Die Testpersonen
mit den besten Ergebnissen schätzten die eigenen Fähigkeiten im
Allgemeinen am niedrigsten ein.
Möglicherweise ist ihnen bewusst, dass mit zunehmendem Wissen
auch der Grenzbereich zu dem Bereich, den wir nicht wissen, zunehmend größer wird.
Speicherung von Informationen
Wie werden Informationen nach der Übermittlung in den Nervenzellen gespeichert?
Bisher war die Frage nicht geklärt, ob der Sender ein verstärktes
Signal aussendet oder ob die Empfindlichkeit des Empfängers steigt.
Bei der Reizeinwirkung auf die Nervenzellen wurde im Versuch von
DODT und Mitarbeitern am Max-Planck-Institut der Wirkstoff Glutamat durch UV-Strahlen freigesetzt; dieser löst die chemische Reizübertragung zwischen den Nervenzellen aus. Da die Menge des
freigesetzten Glutamats jedoch unerheblich ist, ist nach Ansicht der
Forscher nicht die Signalstärke, sondern die Veränderung am Glutamatrezeptor, dem Empfänger, dafür verantwortlich, dass Modifikationen an der Oberfläche der Nervenzellen beim Speichern von Informationen stattfinden. Auf Fleckchen von einem hundertstel bis zu
einem tausendstel Millimeter Größe werden Veränderungen des
Hirnstromes festgestellt, wenn Informationen gespeichert oder verarbeitet werden.
66
Journal of Personality and Social Psychology, Bd. 77, 1999,
S.1121, und in SZ, 25, 2000, V2 /11
46
Vereinfacht beschrieben vollzieht sich der Speicherungsvorgang im
Gehirn wie bei einem CD-Brenner Punkt für Punkt – allerdings auf
einem biologischen Datenträger.67
Radiotherapie (Strahlenbehandlung) und ihre Folgen68
In den ersten Jahren nach einer Behandlung treten bei manchen Kindern Schwerhörigkeit auf, wenn sie einer Strahlendosis von mehr als
30 Gray ausgesetzt sind. Die übliche Dosis bei der Behandlung von
Hirntumoren beträgt 54 Gray. Auch neurologische Störungen wie
Konzentrationsschwächen und Verhaltensauffälligkeiten werden
immer wieder beobachtet. Wachstumsstörungen sind ebenfalls nicht
auszuschließen, da die Hirnanhangdrüse im Schussfeld der Strahlen
liegt. Sie ist für die Produktion von Wachstumshormonen zuständig
und fällt häufig aus.
Stress
Stress zerstört die Gehirnzellen. Dadurch entsteht eine Gedächtnisschwäche. Bis heute sind davon in Deutschland 1,6 Millionen Menschen betroffen. Blackouts in Stress-Situationen sind auf eine Überschwemmung des Gehirns mit zu vielen Daten zurückzuführen.
Auch Bluthochdruck, Schlafstörungen oder Herzbeschwerden tragen
zu einem Abbau der Gehirnzellen bei. 69
Bei Spannungszuständen und Angst werden bestimmte Stresshormone z. B. CRF, vermehrt ausgeschüttet.
Heute ist es nach SPIESS70 möglich, die Wirkweise des Hormons
CRF (Corticotropin-Freisetzungshormon) zu beeinflussen.
67
SZ, 261, 1999, L 7
SZ, 67, 2000, V2 /12
69
MM, 245, 1999, S. 1; HEINRICH, Deutsche Krankenversicherung
70
Proceedings of the National Academy of Sciences, 2001, Bd. 98,
Nr. 20; SPIESS arbeitet am Max-Planck-Institut für Experimentelle
Medizin.
68
47
Das Muster für Stressreaktionen im Gehirn:




Empfindung von Stress oder Angst: Freisetzung des Hormons
CRF
Ausschüttung von weiteren Stoffen, die zur Bewältigung der
Stress-Situation hilfreich sind.
CRF bindet sich jetzt in den Regionen des Gehirns, die eine
Bedeutung für die Entwicklung von Angst und für das menschliche Gedächtnis besitzen.
An dem Hormon CRF wurde jetzt eine Schaltstelle ausfindig
gemacht, welche für die Bindung an bestimmte Gehirnrezeptoren oder an ein Eiweiß, das als CRF-Speicher fungiert, eine entscheidende Bedeutung besitzt. Über diese Schaltstelle ist jetzt
eine Beeinflussung der Ausschüttung von Stresshormonen möglich.
Traumatische Erlebnisse und deren Verarbeitung
Schlimme psychische und/oder körperliche Erlebnisse brennen sich
geradezu in das Gehirn ein und hinterlassen bleibende Spuren.
Wachstum von Gehirnzellen
Aufgrund der Analyse der Sprachzentren in den Gehirnen von 20
verstorbenen Menschen wurde von US-Forschern festgestellt, dass
die Dendriten, die feinverzweigten Ausläufer der Nervenzellen, sich
stark in ihrer Länge unterschieden. Über die Dendriten werden die
Impulse anderer Nervenzellen empfangen.
Bei Menschen mit einem ausgeprägt intellektuellen Lebenslauf waren sie deutlich länger als bei solchen Menschen, die, durch Ausbildung und Beruf bedingt, ihr Sprachzentrum nicht so sehr gefordert
hatten.
Versuche mit Ratten sprechen gegen das Argument, dass Menschen
mit längeren Dendriten möglicherweise einfach zu höheren Leistungen fähig sein könnten, da Tiere mit einem interessanten Leben im
Versuch ebenfalls reicher strukturierte Gehirne entwickelt hatten.71
71
New Scientist, Nr. 1858
48
Zeitempfinden72
Das Zeitempfinden des Menschen ist sehr individuell ausgeprägt.
Die innere Uhr wird durch Krankheit, Schichtarbeit oder durch den
Alterungsprozess beeinflusst. Die Zeit wird nach neueren Erkenntnissen im Gehirn „gemacht“. Die dem Gehirn zufließenden Informationen über die Dynamik in der Natur werden ständig gesammelt und
verarbeitet. Geschehnisse und Abläufe werden als „gleichzeitig“,
„ungleichzeitig“, „aufeinander folgend“ und somit unterschiedlich
lange empfunden. Die Sinne des Menschen brauchen unterschiedlich
lange, um registrierte Informationen in Nervenimpulse umzuwandeln. Dadurch gestaltet sich eine zeitliche Kontrolle durch das Gehirn als schwierig. Um dieses Problem zu lösen, schafft sich das
Gehirn ein Zeitraster, das durch Erkrankungen gestört wird. Die
innere Dynamik des Gehirns, die durch neue bildgebende Verfahren
belegt werden konnte, sorgt für die ständige – alle drei Sekunden
wiederholte Frage: „Gibt es etwas Neues in der Welt?“, dass das
gerade Erlebte wieder durch neuere Informationen aktualisiert wird.
Die „Chronobiologie“ kam zu der Erkenntnis, dass ein kleiner Neuronenkern im Gehirn mit der Bezeichnung SCN für die Strukturierung unseres Tagesablaufes verantwortlich ist. Auch in den meisten
anderen Zellen des Körpers tickt eine innere Uhr.
Es gelang inzwischen, viele solcher „Uhr“-Gene zu identifizieren.
Sie sind jedoch nicht als Teile eines Uhrwerks zu verstehen, die z. B.
den Tag-Nacht-Rhythmus bestimmen. Dieser wird vielmehr durch
den Zellstoffwechsel beeinflusst. Eine Störung dieses „zirkadianen“
Stoffwechsels wird neuerdings auch als Ursache für die Entstehung
von Krebs oder Psychosen in Betracht gezogen.
Zeitwahrnehmung (Chronostasis) 73
Nach schnellen Augenbewegungen nehmen wir ein neues Bild länger wahr, als wir es tatsächlich sehen. Die Länge der Wahrnehmung
hängt von der Dauer der zuvor erfolgten Augenbewegung ab. Eine
längere Augenbewegung führt zu einer längeren Wahrnehmung.
DEUBEL: „Drei- bis viermal pro Sekunde bewegen wir blitzartig
72
73
MM, 256, 1999, S. 3
Nature, 2001, Bd. 414, S. 302
49
unsere Augen – für das Gehirn viel zu schnell, um die Umwelt klar
abzubilden.“74
Dadurch entstehen visuelle Lücken im Gehirn. Durch das längere
Sehen der Objekte danach werden diese Lücken gefüllt. Wäre das
nicht so, würden wir bei jeder Augenbewegung die Welt als wild
umherspringend empfinden.
Zeitumstellung – innerer Rhythmus
Nach ZULLEY75 folgen die innere Uhr des Menschen und die von
ihr gesteuerten Funktionen von Natur aus einem 25-Stunden-Takt.
Hier findet sich auch die Erklärung, warum die Umstellung auf die
Winterzeit im Herbst den meisten Menschen keine Probleme bereitet. Durch das Zurückstellen der Uhr entsteht eine Anpassung an den
natürlichen 25-Stunden-Rhythmus.
Um einen Ausgleich zu ermöglichen, muss die innere Uhr ständig
nachjustiert werden. Dazu orientiert sich der menschliche Organismus am Tageslicht. Ein etwa reiskorngroßes Nervenbündel im Gehirn, der „Suprachiasmatische Nucleus“ (SCN), liegt etwa auf der
Höhe der Nasenwurzel an der Stelle, an der sich die Sehnerven des
rechten und linken Auges kreuzen und ist durch Nerven mit der
Netzhaut des Auges verbunden. Er steuert den Tagesablauf der meisten Körperfunktionen.
Sind keine Lichtreize von außen vorhanden, pulsiert der SCN im 25Stunden-Takt. Wurde im Tierversuch der SCN entfernt, verlor das
Tier seinen natürlichen Rhythmus von Schlafen und Wachen.
Bei einer Lichtstärke von mindestens 2500 Lux stellt die Zirbeldrüse
die Produktion von Melatonin aufgrund übertragener Informationen
des SCN ein. Dieses Hormon wirkt einschläfernd und drückt die
Stimmung.
Der Körper orientiert sich beim Aufwachen an der Sonne. Deshalb
sollte das Schlafzimmer am Tag der Zeitumstellung nicht verdunkelt
werden. Auch das tageweise frühere Aufstehen um jeweils 20 Minuten erleichtert die Anpassung an die Zeitumstellung.
74
SZ, 267, 2001, V2 /11; DEUBEL ist Physiker an der Universität
München.
75
ZULLEY ist Schlafforscher an der Universität Regensburg; in SZ,
71, 2000, S. 2
50
Zusammenarbeit der Nervenzellen
Anders als bisher vermutet arbeitet unser Gehirn mit ständig wechselnden Zellgruppen, die für eine kurze Zeit zusammenarbeiten.
Durch diese freie Kombinierbarkeit eklärt sich sowohl die große
Leistungsfähigkeit als auch die unendliche Vielfalt des menschlichen
Gehirns.
Durch sogenannte „synchronisierte Gammaoszillationen“ (Schwingungen im Bereich um 40 Hertz) sind Hirnzellen sind in der Lage,
ihre Schwingungen im Bereich zwischen zwei und 60 Hertz zu variieren. Die Forschungsergebnisse von SINGER deuten darauf hin,
dass „Nervenzellen aus verschiedenen Arealen über Synchronisation
zusammenarbeiten können“.76
Die Hirnfunktionen sind extrem weit verteilt. Offensichtlich gibt es
kein übergeordnetes Zentrum, das mit der Sammlung und der einheitlichen Interpretation aller Informationen beschäftigt ist.
76
MM, 110, 1999, J 4
51
Die gläubige Wissenschaftsgesellschaft
Zuverlässigkeit von Laboruntersuchungen, Statistiken und wissenschaftlichen Forschungsergebnissen
Nietzsche behauptet sicherlich nicht zu Unrecht:
„Einer hat immer Unrecht: aber mit Zweien beginnt die Wahrheit.“77
Wir leben in einem Zeitalter der statistischen Konstruktion von
Wirklichkeit. Misstrauen ist absolut angebracht.
Wissenschaftliche Beweise sind immer nur gleichzusetzen mit Wirklichkeitsausschnitten, welche überhaupt erst durch den Ausschluss
von Störfaktoren geführt werden konnten. Alles Veränderliche ist –
genau betrachtet – nicht reproduzierbar. JUNG sagt dazu:
„Alles feste oder bestimmte ist nur verhältnismäßig. Nur das
dem wandel unterworfene ist fest und bestimmt.“78
Die Wissenschaft dreht sich im Kreise. Durch neue Erkenntnisse
werden neue Fragen aufgeworfen. Trotz dieser Einsicht wird der
Wissenschaft vor allem im medizinischen Bereich zugestanden, über
„richtig“ und „falsch“ zu urteilen; sie beeinflusst sowohl das
menschliche Denken und Handeln als auch wirtschaftliche Entwicklungen, die wichtiger geworden sind als Menschlichkeit und Wahrheit.
„Das undankbare Geschäft, unheilbare Krankheiten zu verwalten,
überließen wir demütig der hohen Polizei, deren einziges Medikament die Einsperrung war. Davon hat sie in so hohen Dosierungen
Gebrauch gemacht, dass die modernen Übel es mit der Angst zu tun
bekamen. Seither sind sie erst richtig raffiniert geworden. Ich versuche mir vorzustellen, was die ohnehin ausgekochten Übel anstellen
werden, wenn sie einer Ärzteschaft gegenüberstehen, die ihnen allen
Ernstes die Heilung androhen. Vermutlich werden ein paar altbekannte Leiden tatsächlich vom Erdboden verschwinden. Aber im
Verborgenen formieren sich neue Übel, vor denen sich die Ärzte
77
NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft, Werke, Klassikerausgabe, 5. Bd., S. 203
78
JUNG, 1987, S. 389
52
genauso blamieren werden wie die Priester vor den venerischen
Seuchen oder vor den Blasensteinen.“79
Kein Wissenschaftler der Erde ist in der Lage, den unendlichen Bereich der Tatsachen zu überblicken oder dessen Zusammenhänge zu
sehen und zu verstehen.
Wir müssen deshalb immer „unseren Interessen entsprechend“80 eine
Auswahl treffen.
Die Beschreibung wissenschaftlicher Tatsachen „ . . . wird immer
unvollständig bleiben, sie wird eine bloße Auswahl (und noch dazu
eine dürftige Auswahl) der Tatsachen sein, die sich uns zur Beschreibung bieten . . . “ (S. 306)
Fragwürdige Laboruntersuchungen
Die Zuverlässigkeit von Laborkontrollen und Laborergebnissen
bildet bei medizinischen Entscheidungen einen schwerwiegenden
Unsicherheitsfaktor.
MENDELSOHN berichtet im Jahre 1975 über eine Nachprüfung von
25 000 Laboranalysen aus 225 Labors im Staat New Jersey durch
das Center for Disease Control. Sie ergab, dass nur „25% der Labors
bei einer Fehlerquote bis 10% lagen.“81 Auch neuere Erkenntnisse in
der Bundesrepublik Deutschland bestätigen solche Ergebnisse. So
hat der deutsche Pathologe KEMNITZ Hunderte von Frauen durch
falsche Untersuchungsergebnisse über Jahre hinweg schwer geschä79
SLOTERDIJK, 1985, S. 207; Abbé Galiani in: Das Kolloqium
der Salpetrière
80
POPPER, 1992, II, S. 317 und S. 306
81
MENDELSOHN, 1988, S. 8; MENDELSOHN war amerikanischer Arzt mit mehr als 30 Jahren medizinischer Praxis; er bekleidete
zudem mehrere hohe Ämter: National Director of Project Head
Start`s Medical Consultation Service, Chairmam of the Medical
Licensing Committee for the State oft Illinois und Associate Professor of Preventive Medicine and Community Health in the School of
Medicine of the University of Illinois; er erhielt zudem zahlreiche
Auszeichnungen für hervorragende Leistungen auf medizinischem
Gebiet.
53
digt. Laut einer Studie wurde über mehrere Jahre hinweg fast jede
vierte histologische Diagnose von Zweitgutachtern richtiggestellt,
das heißt korrigiert.82 Bei positiven Befunden erhöht sich der Verdienst der Pathologen. Möglicherweise ist die unvoreingenommene
Wahrnehmung dadurch erheblich beeinflusst.
Ein neues Gutachten der Gesellschaft für Senologie stimmt nachdenklich:
Im Fall KEMNITZ haben offenbar alle Fachärzte versagt, denen sich
die Frauen anvertraut hatten. Obwohl die Ärzte zu penibler Dokumentation verpflichtet sind, fanden die Gutachter bei „vielen
Krankheitsverläufen eine ständige Wiederholung von Unklarheiten, Widersprüchen und Informationsdefiziten, die durch ihre
Konstanz beeindrucken.“83
Überprüfungen durch unabhängige Gutachter ergaben in 39 von 51
Fällen keine Auffälligkeiten bei den Röntgenaufnahmen. Die Gynäkologen in den Krankenhäusern wunderten sich zwar über die Befunde, entfernten aber dennoch in 300 Fällen eine Brust bei den
betroffenen Frauen. Das Fatale war, dass der Pathologe den Operateuren durch seine Befunde sogar den Eindruck gegeben hat, dass
der Eingriff berechtigt gewesen wäre. Durch das Gutachten wurde
„eine defekte apparative und operative Diagnosekette“ bescheinigt. Fehldiagnosen sind nur durch die originalen Gewebeproben zu
beweisen. Diese wurden durch einen Brand jedoch vernichtet.
SCHREER: „Offenbar haben sich auf fatale Weise persönliche
Fehler mit grundlegenden Mängeln des deutschen Systems der
Brustkrebsfrüherkennung verknüpft. . . . Ärzte mit genügend
Erfahrung in der Früherkennung von Brustkrebs sind in der
Minderzahl.“
In Deutschland ist es jedem Radiologen, unabhängig von seiner
Erfahrung und dem Standard der Geräte, möglich, Mammographien
anzubieten. Ein Beweis für diesen Missstand ist die Rate der „falschpositiven Befunde“.
Sie liegt in Deutschland durchschnittlich bei eins zu zehn. Wurden
bei elf Frauen wegen des Verdachts auf Brustkrebs Gewebeproben
entnommen, so waren bei zehn von ihnen sowohl der Eingriff als
auch alle damit verbundenen psychischen Belastungen überflüssig.
82
STERN, 25, 96, S. 60
SZ, 43, 2000, V2 /12; Ingrid SCHREER ist Radiologin an der
Universität Kiel.
83
54
Die Brustkrebs-Früherkennung schade unter solchen Bedingungen
mehr als sie nutze, vor allem dann, wenn die Qualität des Arztes
nicht sichergestellt sei. Auch unzureichende Untersuchungen von
Blutspenden gefährden die Sicherheit von Patienten. So wurden in
der privaten Süd-Klinik in Straubing im Zeitraum zwischen 1996
und 1999 unzureichend geprüfte Blutspenden mit Wissen des Chefarztes als Frischblut an Patienten verabreicht.84
SEUFFER gibt bei der Arbeitsweise von Großlabors Folgendes zu
bedenken:
„Laboratoriumsmedizin ist häufig ein Wettlauf mit der Zeit. Lange
Wege über Hunderte von Kilometern sind absolut kontraproduktiv.
Proben sind bis dahin oft unbrauchbar, Ergebnisse kommen zu spät:
Hirnhautentzündung, Vergiftungen, Diphterie, offene Tuberkulose.
Wenn zum Beispiel im Urin eines Gesunden anfangs nur wenige
hundert Bakterien als Verunreinigung enthalten sind, vermehren sie
sich auf dem langen Transport millionenfach. Dann trifft in der Laborfabrik eine Harnprobe ein, bei der man meint, der Patient liege
auf der Intensivstation . . . Gerinnungsproben sind statt zulässige
zwei mehr als acht Stunden unterwegs. Da viele Ergebnisse dieser
Fabriken falsch oder wertlos sind, sind sie eben doch teurer als die
Arbeit kleiner Labors . . . Großlabors konnten nur in der Illegalität
wachsen, weil sie mit Laborgemeinschaften, Koppelgeschäften,
Rückvergütungen und Rabatten illegale Marktstrategien nutzten –
unter den Augen der gesamten deutschen Ärzteschaft . . . Viele ehemals in eigener Praxis niedergelassene Laborärzte sind mittlerweile
von den Großen aufgekauft worden und damit weisungsgebunden.
Auch diese Leute muss man aus meiner Sicht als Strohmänner bezeichnen . . . Vorsichtig geschätzt ist über ein Drittel der LaborErgebnisse der Laborfabriken falsch oder wertlos. Die Kassen wissen es, und es ist ihnen egal. Wenn es nur endlich auch die Patienten
wüssten. Aber denen sagt`s keiner . . .“85
Für negative Schlagzeilen sorgte der inzwischen festgenommene
Augsburger Laborarzt SCHOTTDORF, dem vorgeworfen wird, in
84
SZ, 211, 1999, L 6
SEUFFER in SZ, 264, L 8; SEUFFER ist Laborarzt und Biochemiker in Reutlingen; er gab 1994 seine Kassenzulassung zurück.
85
55
den Jahren zwischen 1993 und 1997 knapp 17 Millionen Mark zu
viel Honorar kassiert zu haben. GASSNER äußerte die Vermutung,
dass es eine ganze Reihe von betrügerisch abrechnenden Laborpraxen und -kartellen gab oder noch gibt. Mitglieder des Sozialausschusses des Bayerischen Landtages sind sich bezüglich der Diskussion um SCHOTTDORF sicher: „Das was wir hier diskutieren, ist
nur die Spitze des Eisbergs.“ 86
Nicht nur Betrügereien erschweren die Wahrheitsfindung, sondern
auch hochwertige Messgeräte, die unter angeblich gleichen Bedingungen unterschiedliche Messergebnisse liefern.
Überall dort, wo mit modernsten Mess-Systemen elektrische Strahlungen oder Felder gemessen werden, können im besten Fall Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden. So wurden z. B. beim
Vergleich von drei absolut hochwertigen, mit gültigem, nur wenige
Monate altem Eichsiegel und CE-Zertifikation versehenen MessSystemen an einem Arbeitsplatz in einem Industriebetrieb Abweichungen von über 100 % festgestellt.87
So vertritt EISENMENGER88 die Meinung, dass der Gesetzgeber
mit der Zulassung der Atemluftmessung als gerichtliches Beweismittel eine „politische Gasblase“ produziert habe. Zwar sei das entsprechende Gerät „das beste der Welt“, den exakten Erfordernissen der
deutschen Rechtsprechung aber noch nicht gewachsen. Die wissenschaftlichen Grundlagen seien noch unvollkommen und das Gerät
technisch verbesserungsbedürftig.
Neueste Forschungen geben Grund zu der Annahme, dass alle biochemischen und biophysikalischen Funktionen des menschlichen
Organismus komplexe elektromagnetische Muster sind, welche ständig in kürzester Zeit starken Veränderungen unterworfen sind. Die
Unmöglichkeit der von der Wissenschaft geforderten Reproduzier-
86
SZ, 52, 2000, L 7; GASSNER ist Ministerialdirigent im Sozialministerium in München.
87
JOSSNER in CO-med 7/8, 1999, S. 19
88
SZ, 5, 2000, S. 53; EISENMENGER ist Professor für Rechtsmedizin in München und „hoch anerkannter Sachverständiger“.
56
barkeit von Versuchen oder Messergebnissen ist somit nicht zu erfüllen.89
Im Zusammenhang mit ermittelten Messergebnissen steht auch der
Begriff „Normalwert“. DAHLKE weist darauf hin, dass der Begriff
der „Normalität“ erst im Jahr 1840 Eingang in den medizinischen
Sprachgebrauch fand.90 Damit wurde zugleich die Grundlage für
viele Arbeitsplätze und somit für Verdienstmöglichkeiten geschaffen, vor allem im Bereich der Gynäkologie.
Über 50% der Frauen zeigen laut DAHLKE keine Normwerte beim
Zyklusgeschehen und werden somit bei Arztbesuchen zu Patientinnen. Normalität hat immer etwas mit der Zeit, dem Ort und der Gesellschaft zu tun. Werden der komplexe Aufbau und der stetige
Wandlungsprozess gesellschaftlicher Strukturen beobachtet, so zeigt
sich der Begriff der Normalität nicht mehr als klar definierbar. Sowohl in der Psychiatrie als auch im gesellschaftlichen Leben und in
der Medizin ist aus der Feststellung, nicht der Norm zu entsprechen,
viel Leid hervorgegangen. Nach DAHLKE ist es eine Tatsache, dass
es in der Medizin üblich ist, je nach Zweckmäßigkeit entsprechende
„Normalwerte“ einer Korrektur zu unterwerfen. Dies gilt auch ganz
besonders für die Labormedizin.
LONGOSTREVI und Mitarbeiter (etwa 700 Hausärzte in Mailand),
die ein angesehenes Institut für Nuklearmedizin in Mailand leiteten,
wurden im Jahr1997 beschuldigt, die Krankenkassen um ca. 7 bis 8
Millionen DM pro Jahr betrogen zu haben. So wurden für einen
einzigen Patienten pro Tag bis zu 20 Behandlungen mit radioaktiven
Substanzen abgerechnet.91
Wissenschaftler der kalifornischen Gesundheitsbehörde beanstandeten die in sechs amerikanischen Labors durchgeführten Haaranalysen
als geradezu haarsträubend. Als Erklärung der unterschiedlichen
Analyse-Ergebnisse wird angeführt, dass drei der getesteten Labors
die Muster vor der Veraschung waschen und die gleichen spektralanalytischen Instrumente benutzten, während ein anderes Labor eine
89
WARNKE in Co-med 7/8, 1999, S. 16
co-med , 1 / 2, 1999, S. 42
91
SZ, 1997, Nr. 134, S. 14
90
57
veraltete Methode nutze. 92 Die abweichenden Laborergebnisse können also folgende Ursachen haben:





unterschiedliche Behandlung der zu untersuchenden Materialien
unterschiedliche Lagerung oder Transportwege
unterschiedliche Untersuchungs- und Analysemethoden
unterschiedliche Instrumente (Geräte)
unterschiedliche Interpretation der Werte.
BLAUROCK-BUSCH: „Dieser statistische Mischmasch kann nur
statistischen Unsinn erzeugen!“
Der Blickwinkel ist für die Beurteilung ausschlaggebend
MENDELSOHN berichtet darüber, dass im Rahmen einer großangelegten Rasterfahndung mit Hilfe von Mammographieuntersuchungen
in den Jahren 1973 bis 1976 bei 280 000 in regelmäßigen Abständen
untersuchten Frauen 1800 Krebsfälle entdeckt wurden. Bei kritischen
Kontrollen der Ergebnisse wurden 84 Fehldiagnosen festgestellt,
wobei in 37 Fällen bereits Brüste ohne Grund entfernt wurden.93
Diese tragischen Tatsachen lassen sich auch ganz anders formulieren:
Die oben angeführte Rasterfahndung war sehr erfolgreich, da nur
0,013% Fehldiagnosen mit allerdings schwerwiegenden Folgen gestellt wurden. Dass hinter diesem Prozentsatz 37 tragische Einzelschicksale stehen, wird oft vergessen.
Ärzte, die das Röntgen befürworten, pflegen einen anderen Blickwinkel:
Jede fünfte an Brustkrebs gestorbene Frau könnte noch leben, wenn
sie eine regelmäßige Kontrolluntersuchung mit Mammographie hätte
92
SZ, 42, 2001, S. 12; Eleonore BLAUROCK-BUSCH ist Labordirektorin eines der untersuchten Labors.
93
MENDELSOHN, Männermacht Medizin, 1989, S. 123
58
durchführen lassen. Dazu SAUER: „Überall sinkt die Sterblichkeitsrate bei Brustkrebs, nur in Deutschland steigt sie weiter.“94
Jährlich erkranken etwa 60 000 Frauen in Deutschland an Brustkrebs, 19 000 Frauen starben im Jahr 1998 an dem bösartigen Tumor. Ein anderer Bericht spricht von 46 000 Frauen, die in Deutschland jährlich an Brustkrebs erkranken, und von 18 000 Fällen mit
Todesfolge. KARSA vermutet bei zwei von fünf Millionen durch die
Krankenkassen jährlich abgerechneten Mammographien ein „wildes
Screening“(Reihenuntersuchungen auf eigene Faust).95
Dabei entstehe mehr Schaden als Nutzen, weil keinerlei Qualitätssicherung existiere. In der Folge werde den betroffenen Frauen durch
zweifelhafte Befunde unnötig Angst eingejagt. Bei der oftmals unnötigen Gewebeentnahme erfahren sie dann, dass es ein Fehlalarm war.
Eine dänische Studie zur Überprüfung der Behauptung, dass durch
ein flächendeckendes Screening die Mortalität um 30% gesenkt
werden könnte, bezeichnete nur zwei von acht diesbezüglichen Studien als verlässlich.96 MÜHLHAUSER/HÖLDKE weisen nach, dass
die Aussicht einer einzelnen Frau, von dem Screening zu profitieren,
bei 1:1000 liegt. Zwölf bis 100 von 1000 Frauen müssen mit unnötigen Operationen oder Gewebeentnahmen rechnen. MÜHLHAUSER
fordert eine genaue Erläuterung der Fehlerquoten des angewandten
Verfahrens, wobei die Patientinnen selbst Entscheidungen treffen
müssen:
„Ob Nutzen und Risiken in einem angemessenen Verhältnis
stehen, kann letztlich nur jede Frau für sich entscheiden.“
Die „wissenschaftliche“ Früherkennung entpuppt sich somit als ein
gefährliches Lotteriespiel. Untersuchungen aus den Niederlanden
belegen, dass von 1000 Frauen, die zehn Jahre regelmäßig an einem
Mammographie-Früherkennungsprogramm teilnahmen, nur drei
davon ausgehen können, einen Brustkrebs zu überleben, der durch
dieses Diagnosemittel erkannt wurde. Voraussetzung für einen solch
fragwürdigen Erfolg sind unter anderem ein funktionierendes Krebs94
MM, 259, 1999, S. 3; SAUER ist Professor am Uniklinikum
Großhadern in München.
95
SZ, 55, 2000, V2 /14; KARSA ist Leiter der kassenärztlichen
Bundesvereinigung; Friedericke PERL ist Frauenärztin in Stuttgart;
MÜHLHAUSER/HÖLDKE arbeiten an der Universität Hamburg.
96
Lancet, Bd. 355, 2000 , S. 129 und S. 747
59
register, speziell ausgebildete Ärzte und eine perfekte Teamarbeit
der beteiligten Spezialisten. In Deutschland ist nichts davon die
Regel. „Der Qualitätsstandard ist oft so schlecht, dass man einer
gesunden Frau vorerst nur empfehlen kann, lieber keine Mammographie machen zu lassen, als sich auf das Angebot eines Arztes einzulassen, über den sie nicht viel weiß.“97
Fachleute schätzen, dass 50 bis 90% der heute mammographierenden
Fachärzte nicht ausreichend qualifiziert sind.98
OLSEN/GÖTZSCHE zum Wert dieser Untersuchungen nach ihrem
Kenntnisstand:
„Es gibt keine verlässliche Grundlage, dass Früherkennung
durch Mammographie das Risiko einer Frau verringert, an
Brustkrebs zu sterben.“99
Studien an fast 500 000 Frauen in den siebziger und achtziger Jahren, bei denen die Mammographie zur Früherkennung erprobt worden war, haben nach Auffassung der beiden Wissenschaftler so
schwere Mängel, dass man den Berechnungen nicht trauen könne,
dass 3500 von 17 000 Brustkrebsopfern durch solche Untersuchungen hätten gerettet werden könnten.
KESSLER: „Der Stand der Mammadiagnostik in Deutschland entspricht dem der USA im Jahr 1984.“100
Sie führt ein Großteil der Fehldiagnosen auch auf die mangelhafte
Ausbildung der Medizinisch-Technischen Assistenten zurück. Während in den USA eine Fortbildung von einem Jahr für deren Ausbildung angesetzt werde, könne diese in Deutschland häufig in einer
Woche absolviert werden.
Eine von PERL durchgeführte Analyse bestätigte die oben angeführten Ergebnisse der dänischen Wissenschaftler.
Die Erkenntnis aus allen Studien kann so zusammengefasst werden:
Es wird zu einer Frage des Glaubens, wer recht hat! Diese Haltung
97
SZ, 133, 2001, V2 /14
SZ, 164, 2001, S. 49, BAYERN
99
SZ, 241, 2001, S. 8; OLSEN/GÖTZSCHE sind dänische Wissenschaftler; auch veröffentlicht in: The Lancet
100
SZ, 170, 2001, S. 43; Mareike KESSLER ist Ärztin am Klinikum
Großhadern in München.
98
60
und Erkenntnis zugleich kann auf viele medizinische Bereiche übertragen werden (Operationen, Impfungen, medikamentöse Behandlungen . . . ).
Neuere Studien lassen die Vermutung zu, dass die Todesursachen
und die Anzahl der Todesfälle in einem Land in einem sehr engen
Zusammenhang mit dem dort herrschenden politischen und sozialen
System stehen. Zusammenbrüche solcher Systeme spiegeln sich im
Gesundheitszustand der Menschen wider (Monica-Daten zur Infarktsterblichkeit).
Chemotherapie
Bezüglich der Wirksamkeit einer Chemotherapie kann nach wenigen
Monaten eine Aussage getroffen werden, wenn sie vor einer Operation durchgeführt wurde, während bei einer Chemotherapie nach
einer Operation erst nach mehreren Jahren Aussagen bezüglich ihrer
Wirksamkeit gemacht werden können.
Die Hochdosis-Chemotherapie in der Krebsmedizin, die vor allem
bei Patientinnen mit nur wenig Aussicht auf Heilung angewandt
wird, ist „wissenschaftlich“ gesehen äußerst fragwürdig. So hatte
BEZWODA im Mai 1999 auf einer Tagung der ASCO (Amerikanische Gesellschaft für Klinische Onkologie) von einer klaren Überlegenheit der aggressiven Therapie bei 154 Brustkrebs-Patientinnen
berichtet. Seine Studie erregte internationales Aufsehen. Der Arzt
hatte nach Kritik von Kollegen, die die Studie überprüften, vor einer
Untersuchungskommission „einen schweren Verstoß gegen wissenschaftliche Redlichkeit und Integrität“ zugegeben.101 Auch
hier bleibt wie so oft in der wissenschaftlichen Forschung die Frage
unbeantwortet, welche Interessen der Arzt vertreten wollte.
Die Patientinnen der Kontrollgruppe hatten nicht die angegebene
Therapie erhalten. Außerdem konnte der Arzt nur 50 von angeblich
154 erstellten Krankenakten vorlegen. Der Wert der experimentellen
Therapie ist seit Jahren in Fachkreisen heftig umstritten. Inzwischen
wurde der Betrug „wissenschaftlich“ bestätigt. Wegen der Dringlichkeit wurde jetzt ein Bericht über das Internet zugänglich gemacht, aus dem hervorgeht, dass die umstrittene Therapie dieser
101
SZ, 37, 2000, V2 /11; BEZWODA ist Onkologe und führte seine
Studie an der Universität in Johannesburg durch.
61
Studie die Überlebenschancen schwerkranker Patientinnen nicht
steigerte.102
Auch die deutschen in der Krebsforschung tätigen Ärzte KANZ und
BRUGGER müssen sich den Vorwurf des wissenschaftlichen Fehlverhaltens gefallen lassen, weil sie bei der Erprobung und der anschließenden Veröffentlichung einer Hochdosis-Chemotherapie bei
Krebspatienten vorhandene Patientendaten einfach wegließen. Trotz
dieses Verhaltens will KANZ dennoch an den Schlussfolgerungen
der fragwürdigen Arbeit festhalten.103
Dass dennoch auch in Deutschland unseriöse Geschäfte und Betrügereien mit schwer krebskranken Patienten an der Tagesordnung sind,
lassen inzwischen aufgedeckte Fälle vermuten.
Ein Netz von betrügerischen Pharmafirmen, Ärzten und Apothekern,
die mit durchorganisierten Strukturen ihre Betrügereien ausführten,
macht nach ALTMANN deutlich, dass „der Markt für hochpreisige Medikamente im Bereich Zytostatika und künstliche Ernährung fast komplett in der Hand weniger Apotheken, Ärzte und
Vermittlerfirmen ist.“104
Die Medizinische Hochschule Hannover ist nach einem Bericht des
Focus die „Keimzelle des Klüngels“. Schwer kranken Patienten
wurden zwar teuere Medikamente verschrieben, aber nicht ausgehändigt, sondern an bestimmte Apotheken mit Hilfe der Zwischenschaltung von Service-Unternehmen weitergeleitet, die zwischen 60
und 70% des Verordnungswertes „als Vergütung für irgendwelche
Dienstleistungen“ erhielten. Auch die Pharmafirma eines Arztes
wurde an diesen „Verdiensten“ beteiligt.
Grundsätzliche Fehlermöglichkeiten bei dem Versuch objektiver
Feststellungen
102
Der Bericht findet sich auf der Internetseite des New England
Journal of Medicine (Stand März 2000).
103
SZ, 133, 2001,V2 /13
104
SZ, 48, 2000, S. 16; ALTMANN ist Sprecher der AOK in Niedersachsen.
62
1. Hof- oder Halo-Effekt
Lässt sich ein Beobachter vom Gesamteindruck oder von einer speziellen Eigenschaft leiten, so ist eine objektive Beurteilung nicht
möglich. (Jemand ist sehr arm, also muss er faul und dumm sein!)
2. Fehler des ersten Eindrucks
Die selektive Verarbeitung und Wahrnehmung von Informationen
führt oft dazu, dass der erste Eindruck nicht mehr hinterfragt wird.
3. Projektionsfehler (Freud)
Der Beobachtende/Behandelnde projiziert eigene Persönlichkeitszüge in den Beobachteten.
4. Primacy-Recency-Effekt
Die Informationen und Eindrücke, die zuerst bzw. zuletzt gewonnen
wurden, bleiben besonders im Gedächtnis haften.
5. Ähnlichkeitsfehler (Guilford) – Kontrastfehler (Murray) oder:
Sympathie- bzw. Antipathiefehler
Beurteiler schreiben dem Beobachteten ähnliche oder gegenteilige
Eigenschaften zu wie sich selbst.
6. Erwartungsfehler (Rosenthal)
Bestimmte Verhaltensweisen werden aufgrund von ungesicherten
Vorinformationen erwartet.
7. Mildefehler, Fehler der zentralen Tendenz oder Fehler der
Strenge
Das Verhalten oder Ergebnisse werden unter Vermeidung extremer
Urteile im Mittelbereich beobachtet oder aber generell zu milde oder
zu streng beurteilt.
8. Medley & Mitzel , 1965
Der schlimmste Feind objektiver Beobachtungen ist die persönliche
Voreingenommenheit.
9. Hawthorne-Effekt
Die Beobachtung führt zur Veränderung des Verhaltens des Beobachteten.
10. Der „Zeno-Effekt“ bzw. „Anti-Zeno-Effekt“
Beim Erfassen eines Atoms wird zwangsläufig Energie ausgetauscht
und so dessen Zustand gestört. Vorgänge auf atomarer Ebene – und
wir bestehen aus Atomen – können alleine dadurch beschleunigt
oder verzögert werden, dass man wiederholt beobachtet.105
Sichtweisen der klassischen Physik wurden mit diesem Versuch in
Frage gestellt.
105
Physical Review Letters, 2001, Bd. 87, Nr. 040402
63
Fälschungen im wissenschaftlichen Medizinbetrieb
Umfangreiche Fälschungen wissenschaftlicher Daten sind auch im
Bereich der Molekularbiologie in Deutschland bekannt geworden.
Hier sei nur auf die Affäre HERRMANN verwiesen, einen Krebsforscher, der weltweit über 398 wissenschaftliche Arbeiten publiziert
hat.106 Die Daten wurden offensichtlich in 47 Fällen gefälscht, um
Forschungsmittel in Millionenhöhe bewilligt zu bekommen. Dieser
Forschungsskandal gilt als der schwerwiegendste der deutschen
Nachkriegsgeschichte.
Eine an der Universität Würzburg eingerichtete Arbeitsgruppe mit
dem bezeichnenden Namen „Task Force zur Aufklärung von Fälschungsvorwürfen bei wissenschaftlichen Publikationen“ fand heraus, dass Literaturangaben in den wissenschaftlichen Werken
HERRMANS frei erfunden waren, also nicht existierten. Auch die
Manipulation von Fotos mit biochemischen Reaktionen wurde in
großem Ausmaß gepflegt. Allein in der Habilitationsschrift von
BRACH wurden mehr als 30 von 50 Abbildungen „überarbeitet“. In
einer wissenschaftlichen Veröffentlichung wurde sogar dreimal
dieselbe Abbildung mit einer anderen Unterschrift entdeckt. Dazu
RAPP, Leiter der Task Force: „Sie haben geradezu eine Aversion
entwickelt, echte Daten zu verwenden.“107
Der exakte Umgang mit Daten ist aber gerade eines der obersten
Gebote in der wissenschaftlichen Arbeit. Diese Arbeitsweise blieb
nach Aussage von HOUBEN 15 Jahre lang unentdeckt.
Das Verfahren gegen die beiden Professoren HERRMANN/BRACH
wurde gegen Zahlung einer Gelbuße in unbekannter Höhe inzwischen eingestellt, da „ein finanziell messbarer Schaden nicht entstanden ist“ und die Beschuldigten inzwischen aus dem öffentlichen
Dienst ausgeschieden sind.108
Auch MERTELSMANN, ein führender Gentherapeut Deutschlands,
ist als Mitautor auf jeder zweiten Arbeit Mitunterzeichner. Er stand
als möglicher Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur
Diskussion. Ihm werden gravierende Mängel bei der Erhebung,
Dokumentation und Publikation von Forschungsdaten vorgeworfen.
106
SZ,115, 1997, S. 24
SZ, 203, 1999, S. 11
108
SZ, 92, 2000, S. 16
107
64
So wurden bei zwei Studien mit Krebspatienten von Gutachtern der
Deutschen Forschungsgemeinschaft „schwerwiegende Mängel“
entdeckt. ESER betont, dass „wissentlich bestimmte Daten nicht
wiedergegeben wurden“ und somit ein „grober Verstoß“ gegen die
Regeln der Forschung festzustellen sei.109 Zudem seien die an der
Studie teilnehmenden Krebs-Patienten zum Teil nicht in der üblichen
Form aufgeklärt worden. Die Untersuchungskommission geht davon
aus, dass MERTELSMANN von den aktiven Fälschungen in den
etwa 100 beanstandeten HERRMANN-Arbeiten wusste.
Der Wert der Selbstkontrolle der Wissenschaft ist nach Aussagen
von RAPP und Mitarbeitern sehr gering. Sie fordern daher eine unabhängige Kontrolle statt Selbstkontrolle in der wissenschaftlichen
Forschung. Sie weisen auch darauf hin, dass Manipulationen in wissenschaftlichen Arbeiten nicht immer strafbar sind. Alle Mitarbeiter
der Würzburger Task Force sind indessen davon überzeugt, dass
Fälschungen in der Forschung nicht nur als Einzelfälle auftreten. Ein
Zitat eines Mitarbeiters zeigt die Situation deutlich:
Wissenschaft, „das ist ein Sumpf, da würde ich auf Dauer nicht
bestehen.“110
Die Fragwürdigkeit von Vorsorgeprogrammen im Zusammenhang
mit Brustkrebs bei Frauen wird durch eine Meldung aus dem Jahre
1994 bestätigt. Einerseits sind die Programme zur Vorsorge nicht auf
dem neuesten Stand, andererseits sind falsche Diagnosen durch veraltete Geräte bedingt. Dadurch kommt es bei Brustkrebs zur falschen
Diagnosestellung in jedem zweiten Fall.111
ECKERT, der ein Kontrolllabor für Blutkonserven leitete, wurde
wegen Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz in 129 Fällen und
wegen der unzureichenden HIV- und Hepatitiskontrolle von mehr als
100 000 Blutkonserven, mit welchen Krankenhäuser beliefert wurden, zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Bei 14 Personen konnte
eine Infektion mit HIV nachgewiesen werden, 13 Personen sind
inzwischen verstorben. Für den Beschuldigten ergab sich eine Ersparnis von 440 000 DM.112
109
SZ, 51, 2001, S. 1; ESER ist Direktor des Freiburger Max-Planck
Institutes.
110
o. a.
111
Münchner Merkur, 3. Juni 1994
112
SZ, 24. Juni 1997
65
SEEBURG wurde von der Max-Planck-Gesellschaft wegen „wissenschaftlichen Fehlverhaltens“ gerügt.
Er hatte gentechnisches Material von seinem damaligen Arbeitgeber,
der Universität Kalifornien, mitgenommen und ein Wachstumshormon daraus entwickelt. In der Fachzeitschrift „Nature“ wurde die
Herstellung des Hormons durch den Forscher zudem nicht korrekt
beschrieben. Durch sein Fehlverhalten ist der Forscher reich geworden. Er erhält als Mitinhaber eines Universitätspatents 17 Millionen
Dollar.113
MAYNTZ hält „nachgewiesene Fälle bewusster Fälschung für ausgesprochen selten“, während LAMERS davon ausgeht, dass etwa 5%
aller Publikationen in Fachzeitschriften aktiv gefälscht seien.114
Nach MAYNTZ sind Verfälschungen ungleich häufiger als Fälschungen.
Unter Verfälschung versteht sie :
Interpretationen im Sinne von eigenen Erwartungen des Wissenschaftlers oder seiner Auftraggeber, wobei nicht ins Bild passende Erkenntnisse unberücksichtigt bleiben.
Bei weitem am häufigsten seien in der Wissenschaft „gewöhnliche
Schlampereien“.
Nach BEISIEGEL sind es die autoritären Strukturen an den Kliniken, die zu wissenschaftlichem Fehlverhalten führen.
Auf einer internationalen Konferenz mit dem Titel „Ethos der Forschung“ wurde allgemein beklagt, dass die Ärzte in Deutschland
während ihrer Ausbildung nicht lernen, wissenschaftlich korrekt zu
arbeiten.
Was ist deren Arbeit aber dann?
Vermutungskunst, Pseudowissenschaft oder Experimentierkunst?
113
SZ, 289, 1999, S. 16
SZ, 248, 1999, V2 /17; Renate MAYNTZ arbeitet am MaxPlanck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln; LAMERS ist am
Max-Planck-Institut für Immunbiologie in Freiburg tätig; Ulrike
BEISIEGEL ist Biochemikerin an einer Universitätsklinik in Hamburg.
114
66
Es ist offenkundig, dass auch im Forschungsbereich „Impfungen“
Unregelmäßigkeiten beobachtet werden können; Nutzen und Schaden sind schwer zu trennen, eine Effektivität nur schwer nachzuweisen. Die Einkünfte der Pharmaindustrie steigen dennoch kontinuierlich durch konsequente Werbung und die Überzeugungskraft ihrer
Vertreter.
Ein Überblick über die Umsätze der Pharmabranche im Jahr 1996
soll verdeutlichen, um welche Summen es hier geht:
Umsätze in Milliarden DM – Verordnete Arzneimittel115
1. Galaxo Wellcome (USA)
18,6
2. Merck & Co. (USA)
16,7
3. Novartis (CH)
15,5
4. Hoechst Merion Roussel (D)
12,5
5. Hoffmann-La Roche (CH)
11,8
mit Boehringer Mannheim
6. Bristol-Meyers Squibb (USA)
11,6
7. Pfizer (USA)
10,5
8. American Home Products (USA) 10,4
9. Johnson & Johnson (USA)
10,0
10.SmithKline Beecham (UK)
9,0
Der jährliche Umsatz, der durch die Massenproduktion allein mit
Impfseren erzielt wird, wird auf ca. 10 Milliarden Mark geschätzt.116
Im Jahr 2002 will die Pharmaindustrie weltweit insgesamt 400 Milliarden US-Dollar umsetzen.117
270 Milliarden davon in Europa und den USA, aber nur 5,3 Milliarden in Afrika. Das entspricht 1,3%.
Von den 100 bis 150 neuen Wirkstoffen, die jährlich den Markt
überschwemmen, ist nach SCHÖNHOFER höchstens einer wirklich
neu. Der Rest seien Scheininnovationen. Viele Forschungsausgaben
sind Marketing-Kosten, Geld für Pharmaberater und gesponsorte
Ärztekongresse.
115
SZ, 1997, Nr. 115, S. 21
Focus, 35, 1999, S. 132
117
SZ, 248, 2001, S. 24; SCHÖNHOFER ist Mit-Herausgeber des
unabhängigen Branchendienstes arznei-telegramm.
116
67
Selbst in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten gelingt es den Pharmakonzernen, ihre Umsätze zu steigern. In Deutschland wurden im Jahr
2000 Medikamente im Wert von 35,5 Milliarden Mark verkauft. So
wurde der Umsatz im Vergleich zum Vorjahr nochmals um 5,7%
gesteigert.118
Eine nicht zu leugnende Tatsache sind die Verknüpfungen von Wirtschaftsunternehmen und Medizin. So stiftete GATES, als ihm wettbewerbswidriges Verhalten vorgeworfen wurde, 6 Milliarden Dollar
für die Entwicklung von Impfstoffen gegen Malaria, Tuberkulose
und Aids. Mit einem Kapital von 17 Milliarden Dollar ist damit die
„Bill and Melinda Gates Foundation“ die zweitgrößte Stiftung der
Welt.119
Inzwischen bahnt sich eine britische Pharmafusion an. Im Sommer
des Jahres 2000 könnte es zu einer Fusion zwischen Glaxo Wellcome
und Smith-Kline-Beecham kommen. Zusammen kämen die beiden
Unternehmen rund um den Globus auf ein Forschungs- und Entwicklungsbudget von 7 Milliarden DM pro Jahr. Der jetzige Branchenführer Merck würde seine Spitzenposition – bezüglich des reinen
Medikamentenumsatzes – damit verlieren.120
Es ist bei diesen Summen verständlich, dass wissenschaftliche Forschung, die bekanntlich sehr viel Geld kostet, in erster Linie von
eben diesen Firmen betrieben wird, um die Umsätze zu steigern. Die
Ärzte, die ihr pharmakologisches Wissen sehr oft von den Pharmavertretern erhalten, können über die Wirksamkeit der Arzneimittel
oder der Impfstoffe keine gesicherten Aussagen machen.
Ein Beispiel aus den USA mag verdeutlichen, wie „Wissenschaft“
oftmals von Pharmainteressen geprägt ist:
Im Jahre 1987 erhielt eine Forscherin der Universität von Kalifornien in San Francisco den Auftrag, die Wirksamkeit eines Schilddrüsenpräparates gegen Unterfunktion mit drei Konkurrenzprodukten zu
vergleichen. Als das Ergebnis belegte, dass das getestete Medikament nicht besser als die jeweils billigeren Konkurrenzprodukte war,
118
MM, 232, 2001, S.1; Angaben des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI)
119
SZ, 220, 1999, S. 2
120
SZ, 7, 2000, S. 24
68
wurde eine Veröffentlichung dieses Forschungsergebnisses sieben
Jahre lang verhindert, weil die Autorin der Arbeit der Firma schriftlich ein Vetorecht eingeräumt hatte und in der Zwischenzeit so einen
Gewinn von 3,6 Milliarden Mark ermöglicht hatte.121 Sogenannte
„Knebelverträge“ gelten inzwischen als Verstoß gegen wissenschaftliche Grundprinzipien. Mit Sicherheit werden aber inzwischen andere Möglichkeiten gefunden worden sein, um dennoch unliebsame
Wahrheiten nicht zu einer Veröffentlichung gelangen zu lassen.
Insgesamt bleibt das Resümee:
Die meisten wissenschaftlichen Übersichtsarbeiten „erfüllen nicht
die grundlegenden Kriterien für wissenschaftliche Annehmbarkeit.“
Im Jahre 1992 geriet das Schlafmittel „Halcion“, das den Bestandteil
Triazolam enthält, in die Schlagzeilen. Dem Hersteller wurde vorgeworfen, gefälschte Studien vorgelegt zu haben, um eine Zulassung
für das Medikament zu erreichen. Die Studien wurden von unabhängigen Experten mehrfach als nicht aussagekräftig und methodisch
angreifbar gewertet. Die am häufigsten beobachteten Nebenwirkungen beziehen sich auf das Zentrale Nervensystem: Depressive Verstimmmungen, Erregungszustände, Gedächtnisstörungen, Angst
und Aggressivität. 122
Ein BGA-Sprecher zu diesem Fall:
„Wir sind erschüttert über das Ausmaß des Unwissens.“
Bereits im Jahre 1982 wurde in den USA ein Fall bekannt, in welchem der amerikanische Internist C. Franklin dabei ertappt wurde,
dass er seit Jahren „Gefälligkeitsgutachten“ für Pharmafirmen angefertigt hatte.123
Als Beispiel für ein bewusstes Vertauschen von Informationsmaterial sei hier ein Fall angeführt, auf den BUCHWALD hinweist. Dabei
wurden zwei Fotografien vertauscht, um vorzutäuschen, dass ein
gegen eine Pockenerkrankung geimpftes Kind nicht so schwer erkrankte wie ein ungeimpftes Kind.124 Des Weiteren wird so unter
anderem in einer Werbeanzeige für Pockenimpfstoffe verschwiegen,
121
SZ, Nr. 250, 1997, I
SZ, 27. 2. 1992: Unruhe um Schlafmittel
123
Newsweek, 17. Februar 1992
124
Buchwald, 1995, S. 42
122
69
dass der Koch Ali Moaw Maalin, der 1977 an Pocken erkrankte,
geimpft wurde, als der Pockenausbruch bekannt wurde. Die Impfung
konnte die Krankheit nicht verhindern (Seite 47 und 48). Der Glaube
an die Schulmedizin und die Pharmaindustrie kann durch diese Tatsachen sehr erschüttert werden.
Möglicherweise liegen die bestimmenden Faktoren von Gesundheit
außerhalb des medizinischen Versorgungssystems. Berechtigterweise muss die Frage von McKEOWN gestellt werden:
„Wenn die Medizin uns weder heilt, wenn wir krank sind, noch gut
pflegt, wenn wir behindert sind, worin besteht dann ihre Bedeutung,
in die wir doch so viele Hoffnungen und Ressourcen investiert haben?“125
SCHIFF bemerkt, dass die richtige Einschätzung von Machtverhältnissen bei der soziologischen Analyse der Wissenschaft eine ausschlaggebende Rolle spielt.126 WATZLAWIK betont, dass es zahllose Wirklichkeitsauffassungen gibt, und nicht nur eine. Diese verschiedenen Auffassungen können sich durchaus widersprechen und
sind zwar das Ergebnis von Kommunikation, aber dennoch „ . . .
nicht der Widerschein ewiger, objektiver Wahrheiten.“127 Auch eine
subjektive Beeinflussung ist grundsätzlich in wissenschaftlichen
Arbeiten nicht auszuschließen.
EINSTEIN bemerkt dazu:
„Wissenschaft als etwas Bestehendes und Abgeschlossenes ist die
objektivste Sache, die wir kennen. Aber Wissenschaft, wie sie betrieben wird, Wissenschaft als Ziel, das man verfolgt, ist genauso
subjektiv und psychologisch bedingt, wie jede andere Art menschlichen Strebens, so sehr sogar, dass auch die Frage, >Was ist Sinn und
Zweck der Wissenschaft?<, zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Leuten ganz verschieden beantwortet wird.“128
Alle vorliegenden Ergebnisse, vor allem aus dem Bereich der Physik
und speziell aus der Quantenphysik, deuten darauf hin, dass nicht die
125
McKEOWN, 1982, S. 239
SCHIFF, 1997, S. 108
127
Watzlawik, 1978, S. 7
128
zitiert nach BERNAL, J. D.: Wissenschaft, Bd. 1, Hamburg 1970,
S. 36
126
70
beobachtete Natur verändert werden muss, sondern dass der Mensch
ständig seinen Realitätsbegriff korrigieren muss.
Auch der Mensch ist eine „Quantenkonstruktion“, denn er besteht
wie alle Materie aus Elektronen und Atomkernen. Wir sind somit in
unserer Eigenschaft als materielle Wesen den Gesetzen der Quantenphysik unterworfen.
Die Räume zwischen diesen Elementarteilchen sind leer und besitzen
gleichzeitig „alle energetischen Möglichkeiten im Zustand der
Wahrscheinlichkeit“.129
Selbstgeschmiedete wissenschaftliche Berichte, Erkenntnisse und
Schlagzeilen werden immer mehr zum Alltag und zum modernen
Wissenschaftssystem gehören, welches unser Leben entscheidend in
vielen Bereichen, vor allem in dem der Gesundheit und der Bildung
mitprägt.
Die Qualität deutschsprachiger Medizinpublikationen kann den geforderten Standards offenbar nicht standhalten. So ergab eine Untersuchung von 132 Arbeiten, dass die Anforderungen an methodisch
hochwertige, kontrollierte Studien „nicht oder nicht befriedigend“
waren.130
Wird also eine bestimmte wissenschaftliche These über Jahrzehnte
hinweg mit Beharrlichkeit vertreten, so ist sie nach Ansicht des Verfassers – wie z. B. im Bereich Impfschutz – besonders kritisch zu
betrachten, vor allem deshalb, weil durch verschiedenste Publikationen das Vertrauen auf einen nahezu perfekten Schutz suggeriert
wird.131
KÖBERLING fordert bei wissenschaftlichen Arbeiten:
„Selbstkritik und Offenheit sind nun einmal Kriterien, denen sich
jeder Wissenschaftler stellen muss.“132
„Wissenschaft muss weise sein“, fordert SUCCOW. Er vertritt zudem die These, dass luxurierende Gesellschaften – und dazu zählen
129
WARNKE in co-med 7/8, 1999, S. 14
SZ, 26, 1999, V2 /14
131
FOCUS, 35, 1999, Titelseite
132
SZ, 26, 1999, V2 /14
130
71
die amerikanische und die deutsche Gesellschaft – an ihrem eigenen
Wachstumsdrang zu Grunde gehen, weil sie nicht gelernt haben zu
haushalten.133 Diese Erkenntnis ist auch auf das medizinische System
in den beiden Ländern übertragbar.
In diesem Sinne soll auch die vorliegende Arbeit verstanden und
gesehen werden. Immer dann, wenn wissenschaftliche Arbeiten auf
der Grundlage menschlicher Kommunikation entstehen, ist mit
Missverständnissen, Nicht-Verstehen und falschen Interpretationen
zu rechnen.
Ob diese Arbeit im eigentlichen Sinne wissenschaftlich genannt
werden kann, bleibt fragwürdig, sofern das folgende Zitat JASPERS
als Kriterium dient:
„Die Tatsache der Verwandlung der freien Forschung Einzelner in
den Betrieb der Wissenschaft hat zur Folge, dass jedermann sich
mitzuwirken für befähigt hält, wenn er nur Verstand hat und fleißig
ist. Es kommt ein wissenschaftliches Plebejertum auf, man macht
leere Analogiearbeiten, um sich als Forscher auszuweisen, macht
beliebige Feststellungen, Zählungen, Beschreibungen, gibt sie für
empirische Wissenschaft aus. Die Endlosigkeit eingenommener
Standpunkte, so dass man in häufiger werdenden Fällen sich nicht
mehr versteht, ist allein die Folge davon, dass ein jeder unverantwortlich seine Meinung zu sagen wagt, die er sich erquält, um auch
etwas zu bedeuten.“134
SHELDRAKE weist darauf hin, dass die häufigste Form wissenschaftlicher Täuschung – und damit auch von Selbsttäuschung – mit
dem selektiven Gebrauch von Daten zusammenhängt. Es ist wissenschaftlich durchaus üblich, einen großen Prozentsatz von erhobenen
Daten (bis zu 90%) vor der Veröffentlichung zu elimimineren.135
Wie genau die Restinformationen einzuschätzen sind, das mag der
Leser selbst beurteilen. Selbstverständlich gilt das auch für die vorliegende Arbeit. Nach meinem Verständnis ist jedoch die selektive
Datenauswahl auch in der Hinsicht von Vorteil, dass sogenannte
133
SUCCOW in Schulfunk und Fernsehen, 4, 1999, S. 22
JASPERS, K.: Die geistige Situation der Zeit (1931), 6. Abdruck
der im Sommer 1932 bearbeiteten 5. Auflage, Berlin 1965, S. 136
135
Sheldrake, 1997, 1777, S. 178
134
72
wissenschaftliche Fakten von einer anderen Perspektive aus beurteilt
werden können. Außerdem ist es wohl niemals möglich, alle gesammelten Informationen wahrheitsgemäß zu veröffentlichen, da der
Beobachter in einem System immer Spuren hinterlässt.
Ein Beispiel dafür sind die Arbeiten des deutschen Zoologen HAECKEL. Wie ein Team von Forschern nachgewiesen hat, ist das noch
heute gültige „biogenetische Grundgesetz“ aus dem Jahre 1866
durch wissenschaftliche Daten entstanden, die so abgeändert wurden,
dass sie mit den theoretischen Grundlagen des Forschers besser in
Einklang zu bringen waren.136 Auch das Auslassen bestimmter
Teilerkenntnisse, die nicht zu bestimmten theoretischen Annahmen
passen, trägt dazu bei, Wahrheitserkenntnis zu verhindern.
Dass auch Forscher oft gezwungen waren, beim Zustandekommen
von erwarteten Ergebnisssen etwas nachzuhelfen, beweisen die
Nacharbeiten bestimmter Experimente aus dem Bereich der Physik.
Durch das Herausstreichen wichtiger Passagen aus Protokollen von
Experimenten durch Gutachter wurden so oftmals Ergebnisse, aber
keine Erklärungen an die Nachwelt übermittelt. Forschung ist nach
der Meinung des Berliner Mitarbeiters des Max-Planck-Institutes,
RHEINBERGER, somit ein Wechselspiel von Präzision und Bastelei. „Die Wissenschaft benötigt Freiräume für Improvisation und
wildes Denken“, so der Forscher.137
Es entspricht durchaus auch wissenschaftlichen Gepflogenheiten,
sich durch Umwege Zugang zu angesehenen und in wissenschaftlichen Kreisen anerkannten Fachzeitschriften zu verschaffen. So ist es
unzweifelhaft als übliche Praxis zu bezeichnen, dass Wissenschaftler
Leserbriefe an bestimmte Fachzeitschriften schreiben und an bestimmten Veröffentlichungen im Auftrag bestimmter Industriezweige Kritik üben. Offenkundig wurde dieses Vorgehen in letzter Zeit
durch die Kritik an den gesundheitsschädigenden Wirkungen des
Passivrauchens. Honorare bis zu 10 000 Dollar sind keine Seltenheit.138
136
RICHARDSON, Anatomy and Embryologie, 1997, Bd. 196, S.
91 in SZ Nr. 186, 1997, S. 34
137
SZ, Nr. 244, 1997, S. 24, Ein Plädoyer für wildes Denken
138
Sciene, 1998, Bd. 281, S. 895 in SZ Nr. 200, 1998, V2 /7
73
Oftmals werden die Leserbriefe, die zugleich eine Diskussionsmöglichkeit bieten sollen, nicht von den verantwortlichen Herausgebern
der Journale geprüft. Hinweise auf die wahren Interessenten von
solchen rein interessenabhängigen Gegendarstellungen werden nur
selten öffentlich. Auch in der BRD erscheinen natürlich solche Beiträge in Fachzeitschriften.
So hat der Münchner Epidemiologe ÜBERLA ebenfalls Studien in
Frage gestellt, die die Schädlichkeit des Passivrauchens bestätigen.
Diese Sonderveröffentlichung in einer Beilage der Münchner Medizinischen Wochenschrift wurde vom Peutinger-Collegium bezahlt,
welches in enger Beziehung zur Tabakindustrie stehen soll.
In einer Antwort in Form eines Leserbriefes an die SZ fordert der
Redaktionsleiter der MMW anstatt Polemik und Verdächtigungen
eine wissenschaftlich fundierte Kritik.139
Es ist eine Tatsache, dass jede Studie, jede Statistik oder Untersuchung unter anderer Fragestellung und anderer Zielsetzung zu anderen Ergebnissen gelangt.
Dass wissenschaftlicher Betrug viel häufiger, als normalerweise
vermutet, stattfindet, zeigen Veröffentlichungen des COPE (Committee on Publication Ethics) in Großbritannien. Diese Vereinigung
setzt sich aus den Herausgebern von ca. 20 medizinischen Fachzeitschriften zusammen und hat sich als Aufgabe gesetzt, fälschenden
Forschern auf die Spur zu kommen. Im COPE-Report 1998 ist von
einem „stetigen Strom von Beispielen für Betrug, Datenfälschung,
geistigen Diebstahl“ und von anderen „Unregelmäßigkeiten“ zu
lesen. Dabei nehmen Mehrfachveröffentlichungen einen großen
Raum ein. Durch dieses Vorgehen werden Metastudien, die Ergebnisse bereits durchgeführter Studien zusammenfassen, verfälscht. In
der BRD gibt es keine ähnliche öffentliche Einrichtung.
Oftmals geht es bei der Veröffentlichung wissenschaftlicher Studien
nur um die Veröffentlichung von Werbeeffekten. Selbst sehr angesehenen Instituten wie dem Max-Planck-Institut wurden in jüngster
Vergangenheit in einem anderen Zusammenhang (TIMSSVergleichsstudie: weltweiter Vergleichs-Mathematik-Test) Vorwürfe
wegen der Vertuschung von Statistik-Fehlern gemacht. Ob ein Verhaltenscodex – so wie an der Universität Freiburg jetzt vorgelegt –
an den Forschungsinstituten die Betrügereien schmälern kann, sei
dahingestellt, solange Geldgeber und eindeutige Interessen über die
139
SZ, Nr. 207, 1998, S. 18, Mängel der Studien über Passivrauchen
74
Art der Studien entscheiden. Ein Merkmal wirklicher Wissenschaft
sollte „Dialogfähigkeit“ und die Bereitschaft, eigene Begriffe und
Methoden immer wieder kritisch in Frage zu stellen, sein, so wie
POPPER es immer wieder forderte. Möglicherweise sind wir auf
diese Art und Weise fähig, eine annähernd möglichst genaue Auffassung der Wirklichkeit zu erhalten. Interessant ist, dass Wissenschaftler einerseits Fälschungen zugeben, andererseits aber die Auswirkung von Fälschungen auf den Medizinbetrieb minimalisieren oder
gar abstreiten. So hätten nach ESER vor allem Molekularbiologen
einen geschärften Blick für Fälschungen, könnten jedoch die klinische Relevanz nicht beurteilen.140
Durch aggressives Marketing der Pharmafirmen besteht zudem die
Gefahr, dass Patientenrechte eingeschränkt werden. Dies lässt sich
am Beispiel Erbkrankheiten belegen: Hier stellen die Firmen Erbkrankheiten nachweislich schlimmer dar, als sie tatsächlich sind.141
Eine Forschergruppe, welche die Berichterstattung der unabhängigen
Presse zu Produkten der Pharmaindustrie untersuchte, stellte fest,
dass diese nur äußerst selten objektiv über Medikamente aufklärten.142 Fast nie wurde der gepriesene Nutzen der Arzneimittel in
Zahlen ausgedrückt. Geschah dies dennoch, wurden die Zahlen häufig gezielt zur Desinformation eingesetzt. Fast die Hälfte der Autoren
vergaß, die Nebenwirkungen zu erwähnen, nur 33% gingen auf den
Preis der Medikamente ein. Weiterhin ermittelten die Forscher, dass
die Hälfte der in der Presse zu Wort kommenden Experten finanzielle Beziehungen zu dem Pharmahersteller unterhielt.
An einem Beispiel wird die Vorgehensweise deutlich:
Behauptung in den Abendnachrichten der drei großen USFernsehsender:
„Alendronat senkt die Häufigkeit von Hüftgelenksfrakturen auf die
Hälfte.“
In Wirklichkeit half die Tablette aber nur einem Prozent derer, die
sie schluckten, gegen einen Knochenbruch. Diese Meldung war
jedoch nicht wirklich falsch.
140
SZ, Nr. 115, 1998, I, Langsame Selbstreinigung der Wissenschaft
SZ, 73, 2000, V2 /11
142
New England Journal of Medicine, Bd. 342, 2000, S. 1645; in SZ
134, 2000, V2 /14
141
75
Erklärung:
Zwei von insgesamt 100 Teilnehmern an einer Studie, die nicht mit
der Substanz behandelt wurden, zogen sich eine Fraktur zu. Bei
denen, die das Mittel einnahmen, war es einer.
Statistische Aussagen
Erfassung von Einwohnern
Ein weiteres Beispiel zur „unperfekten“ Abbildung der Wirklichkeit
liefert das Vorgehen zur Erfassung von Einwohnern in München.
Der stellvertretende Leiter des Ausländeramtes, FUCHS, schreibt
dazu: „Diese Statistiken sind deshalb mit Vorsicht zu genießen. Sie
sind kein perfektes Abbild der Wirklichkeit, und also unwahr – obwohl sie nicht lügen.“143
Medizinische Statistik – Interpretationen durch die Politik
Zufällige Häufungen aller möglichen Ereignisse beeinflussen die
Erstellung von Statistiken.
Es bleibt außerdem noch die Tatsache, dass in der Biomedizin ein
regelrechter Publikationsdruck herrscht, da die Öffentlichkeit durch
eine starke Erwartungshaltung in Bezug auf Therapie und Diagnostik
geprägt ist. Solange man sich auf die Ehrlichkeit von Wissenschaftlern – die ja auch nur fehlbare Menschen sind – verlassen muss, sind
Betrug und Fälschungen nicht auszuschließen. Die Behauptung, dass
es sich bei Fälschungen nur noch um Einzelfälle handele, lässt sich
inzwischen nicht mehr aufrecht erhalten, so SMITH, der Herausgeber des British Medical Journal und des Lancet.144
Der Umgang mit einer Untersuchung des Münchner Statistikers
SCHERB und seiner Mitarbeiterinnen BRÜSKE-HOHLFELD/
WEIGELT über die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
in Bezug zu einer erhöhten Säuglingssterblichkeit in Deutschland
zeigt, wie mit wissenschaftlichen Ergebnissen, die nicht in den ge143
SZ, 80, 1998, S. 38: Die Statistik ist unwahr – obwohl sie nicht
lügt
144
SZ, 81, 1998, S. 9, Dokumentation
76
läufigen Rahmen passen, verfahren wird. Die GSF-Geschäftsführung
(Münchner Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit) will
den Forschern nicht die Erlaubnis zur privaten Veröffentlichung
erteilen. Es soll auch verschwiegen werden, dass die Arbeit an der
GSF entstanden ist.145
Inzwischen wurde durch Presseberichte offiziell bestätigt, dass in
drei Regionen Bayerns die Rate der Totgeburten ein Jahr nach der
Katatstrophe von Tschernobyl um rund 8,5% höher lag, als nach den
Statistiken hätte erwartet werden dürfen. In Augsburg, den Landkreisen Berchtesgaden und Garmisch-Partenkirchen war die Steigerung
sogar mehr als doppelt so hoch. Die Ergebnisse der Wissenschaftler
sind ein deutliches Indiz für die schädliche Wirkung radioaktiver
Niedrigstrahlung.146
Zugleich stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob die
bei Röntgenaufnahmen freigesetzte Strahlung so unbedenklich ist,
wie es oft behauptet wird.
Es ist de facto unmöglich, die sehr komplexe Wirklichkeit durch
statistische Momentaufnahmen auch nur annähernd wiederzugeben.
Dabei werden häufig durch statistische Angaben mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben werden. So kommt der Betrachter
einer Statistik mitunter zu völlig entgegengesetzten Aussagen, wenn
der Gesamtzeitraum, auf den sich eine Statistik bezieht, in verschiedene Zeitphasen unterteilt wird. Bei der Analyse dieser Einzelphasen
können entgegengesetzte Aussagen und Erkenntnisse gewonnen
werden.
Die moderne Medizin ist bestenfalls in der Lage, eine statistische
Sicherheit – jedoch niemals absolute Gewissheit – zu bieten.
Die Meinungen darüber, ob ein Wohnort, der nicht weiter als fünf
Kilometer von einem Kernkraftwerk entfernt liegt, für gehäuft auftretende Missbildungen verantwortlich sein kann, gehen weit auseinander. So hat eine Befragung von sechs Ärzten in den Orten Gochsheim und Sennfeld in der Nähe des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld
bei Schweinfurt durch BAUMANN ergeben, dass seit dem Jahr 1990
insgesamt 25 Fälle von Leukämie und Lymphdrüsenkrebs nur in
diesen beiden Dörfern auftraten. Andere Krebserkrankungen oder
Fehlbildungen wurden nicht erfragt. In den Dörfern selbst wird jedoch über erhöhte Raten von Hirntumoren, Frühgeburten und Down145
146
SZ, 158, 1998, S. 3, Ein Sprung außer der Reihe
SZ, 53, 2000, S. 63
77
Syndrom geredet. Eine Studie des bayerischen Umweltministeriums
aus dem Jahr 1995 spricht von einer signifikanten Erhöhung über
bösartige Neuerkrankungen und Fehlbildungen bei Kindern in der
Nähe von Kernkraftwerken.
Diese Ergebnisse reichen jedoch wissenschaftlich nicht aus; zur
Klärung wird eine Fallkontrollstudie empfohlen. In solchen Studien
werden individuell alle möglichen Entstehungsursachen (Ort und
Umstände der Zeugung, Fehlgeburten, Schwangerschaftsabbrüche,
Ernährungsgewohnheiten, Erbanlagen . . . ) einzeln untersucht. Wegen der Unmöglichkeit alle wichtigen Faktoren zugleich zu erfassen,
können solche Studien jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass
auch sie jeweils nur Ergebnisse liefern können, die auf einer entsprechenden Fragestellung basieren oder die unter bestimmten Gesichtspunkten bewertet und ausgewertet wurden. Irrtümer sind möglich,
klare Erkenntnisse auch hier nicht zu erwarten.
Fachleute streiten sich darüber, wann Fehlbildungen entstehen können. Oftmals vertreten Mitglieder von Strahlenschutzkommissionen
– die zudem die Grenzwerte festlegen – die Meinung, dass keine
plausible Erklärung dafür vorhanden sei, dass geringe Mengen von
Strahlung zu einer Schädigung des Organismus führen könnten.
KÖRBLEIN hingegen ist der Ansicht, dass die Ergebnisse der offiziellen Studien nicht nachvollziehbar seien. Für ihn stellt sich das
Risiko für Kleinkinder in der Umgebung von Kernkraftwerken als
„gering, aber dennoch deutlich“ (signifikant: das heißt ein Zufall ist
ausgeschlossen) dar. Die unterschiedlichen Ergebnisse lassen sich
wissenschaftlich mit einer unterschiedlichen Bewertung der Daten
erklären. Durch Tricks sollen nach Ansicht KÖRBLEINS die Signifikanz der Ergebnisse der Strahlenforscher undeutlicher werden.
So wurden bei Grafenrheinfeld zwischen 1984 und 1991 anstatt der
„normalerweise“ zu erwartenden Zahl von 54 Fällen im Gegensatz
dazu 71 behinderte Babys geboren. Im Umkreis von fünf Kilometern
seien anstatt der sieben zu erwartenden Fälle 18 Fälle aufgetreten.
Vom Bundesamt für Strahlenschutz wird diese Zahl von GROSCHE
folgendermaßen kommentiert:
„Wir können nicht ausschließen, dass Strahlung die Ursache ist . . .
aber das ist nicht plausibel.“147
147
SZ, 247, 1998, S. 3, Was höhere Werte bedeuten; KÖRBLEIN ist
Physiker in München, BAUMANN ist Rechtsanwalt.
78
Die bayerische Staatsregierung hält eine Fallkontrollstudie in diesem
Fall für überflüssig.
Obwohl eine Häufung der Krebsfälle bei Kindern inzwischen auch
von der Staatsregierung zugegeben wird, wirft sie KÖRBLEIN verantwortungslose und unzulässige Verarbeitung statistischer Zahlen
vor und stellt eine eigene Rechnung auf.
Ein Vergleich der Feststellungen und Behauptungen:
 KÖRBLEIN
In der Nähe von bayerischen Atomkraftwerken ist die Krebshäufigkeit bei Kindern um mehr als 20% erhöht.148
Im Zeitraum zwischen 1983 und 1998 wurden neun Landkreise im
Umkreis der bayerischen Atomkraftwerke untersucht. KÖRBLEIN:
„Wir haben 362 Krebsfälle bei Kindern unter 15 Jahren entdeckt.“
Dabei häuften sich Nierenkrebsfälle und Tumoren des Zentralnervensystems. Die Zahl der Leukämiefälle sei nur leicht erhöht.
Nach CLAUSSEN gibt es in der Nähe einiger deutscher Atomkraftwerke wie Grundremmingen in Bayern und Krümmel bei Hamburg
besonders hohe Krebsfallzahlen bei Kindern. So gebe es eine um
53% gegenüber dem Durchschnittswert erhöhte Krebsrate bei Kindern unter fünf Jahren, welche innerhalb eines Radius von fünf Kilometern um das Kernkraftwerk wohnen.
 Die Bayerische Staatsregierung
Die Staatsregierung hält diese Studie für unseriös. Sie beruft sich
dabei auf das Krebsregister in Heidelberg (eine Einrichtung des
Bundes), das einen Verstoß gegen anerkanntes wissenschaftliches
Vorgehen festgestellt habe. Auf Jahr und Landkreis heruntergerechnet seien es 0,35% mehr Krebsfälle als erwartet.
Auch in anderen Gebieten kämen entsprechende Schwankungen vor.
In Günzburg (in der Nähe von Grundremmingen) gebe es 16% mehr
Fälle als erwartet (47 statt 40,55 Fälle), in Schwabach 64,8% mehr
148
MM, 159, 2001, S. 2; Ergebnisse des Umweltinstitus München
und des Vereins Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW); die erhöhten
Zahlen wurden auch durch das Bundesamt für Strahlenschutz bestätigt; Angelika CLAUSSEN ist Vorsitzende des IPPNW.
79
(17 statt 10,3 Fälle) und in Kulmbach 19,2 weniger (17 statt 23,7
Fälle).
CLAUSSEN: „Es gibt zwar ernst zu nehmende Hinweise, dass die
Atomkraftwerke für die Krebshäufigkeit bei Kindern verantwortlich
sind. Einen eindeutigen Beweis gibt es jedoch nicht . . . Die Befunde
sind sehr Besorgnis erregend . . . Die besonders belastenden Kernkraftwerke müssten vorübergehend abgeschaltet werden.“
In der Umgebung des umstrittenen Atomreaktors Krümmel in Norddeutschland häuften sich auf unerklärliche Weise die Leukämiefälle.
Immer neue Hypothesen werden für die Entstehung von Leukämie
verantwortlich gemacht. So wird neuerdings im Zusammenhang mit
dem Kostmann-Syndrom (eine seltenen Erbkrankheit, von der meistens Kleinkinder im Säuglingsalter betroffen sind und bei der schwere bakterielle, oftmals tödlich endende Infektionen ausgelöst werden;
diese Kinder erkranken 100-mal häufiger an Leukämie) die Frage
diskutiert, ob nicht ein mutiertes Gen für den Ausbruch der Krankheit verantwortlich gemacht werden kann. Die Frage nach den Genen
rückt aus wissenschaftlicher Sicht zunehmend mehr in den Vordergrund, wirft aber zugleich schwer zu beantwortende ethische Fragestellungen auf.
Krebsstatistik – ein Beispiel149
Für die von Bürgern beobachtete Häufung von Krebsfällen in Heidmühlen sind aus ihrer Sicht die Strahlen eines nahe gelegenen Radarturmes verantwortlich. In diesem Dorf gibt es nach Angaben des
Bürgermeisters, der zugleich Rechtsanwalt ist, sechs bis sieben
Krebsarten. In letzter Zeit sind die Krebsfälle offenbar mehr geworden wobei das Alter der Toten abnahm. Alleine drei der 680 Dorfbewohner seien an Schilddrüsenkrebs erkrankt.
Ein solcher Fall würde von Krebsexperten des Krebsregisters als
„überzufällig“ bezeichnet werden. Häufungen, die als nicht mehr
„zufällig“ eingeordnet werden, sind mit dem Begriff „Cluster“ gekennzeichnet. Statistiker erwarten zwei bis vier neue Krebsfälle in
149
SZ, 88, 2001, S. 3; KATALINIC ist Leiter des Krebsregisters in
Schleswig-Holstein.
80
einem Ort dieser Größe. Die tatsächlich gemeldeten Fälle liegen in
den Jahren 1998, 1999 und 2000 nach Aussagen des Kieler Gesundheitsministeriums in diesem Bereich. Es bleibt mit KATALINIC
festzustellen: „Die Daten spiegeln die Situation im Dorf nicht
wider.“
Offensichtlich ist dieses Register höchst unzuverlässig. Gesundheitsexperten des Landes vertreten die Ansicht, dass die Ärzte im Kreis
Bad Segeberg, in dem Heidmühlen liegt, der Meldepflicht höchstens
in 70% der Fälle nachgekommen sind. Die drei an Schilddrüsenkrebs
leidenden Bürger sind im Register nicht aufgeführt. Es gibt also
eindeutige und unübersehbare Kommunikationsprobleme zwischen
Bürgern und Behörden.
Ein weiteres Beispiel zu den Tücken der Statistik150
Neueste Zahlen belegen angeblich, dass die Sterblichkeit bei Brustkrebs im Jahr 1999 so niedrig war wie seit 20 Jahren nicht mehr. Erst
kurz zuvor war von Fachleuten kritisiert worden, dass in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern immer noch
eine erhöhte Brustkrebssterblichkeit herrsche. Ein Vergleich ist deshalb nur schwer möglich, weil in Deutschland ab 1998 die Todesfälle anders erfasst wurden, da die Verschlüsselung der Todesursachen
umgestellt wurde. Bis 1997 wurde der ICD-9 dafür verwendet, bevor
1998 die Version 10 eingeführt wurde. Problematisch ist die Erfassung der Todesursache bei der Erkrankung eines Patienten an zwei
Tumoren. Mit dem ICD-Wechsel ergab sich noch ein anderer sehr
bemerkenswerter Effekt:
Bei den Männern stieg die Zahl der an Brustkrebs verstorbenen Patienten schlagartig von 112 auf 211. Das RKI (Robert-Koch-Institut)
gibt eine mögliche Erklärung für statistische Fehler an:
„Offenbar sind dabei eine Reihe von Frauen irrtümlich als Männer in
die Statistik eingegangen.“
Wissenschaftliche Arbeiten berufen sich auf die Statistik
So stellt sich hier erneut die Frage, was denn nun Wissenschaft wirklich ist, wozu sie dient und wem sie nützt. Auch neue Definitionen
150
SZ, 144, 2001,V2 /9
81
helfen nicht, den Wert der Wissenschaft an sich zu steigern. So gibt
PARK auf die Frage, was also Wissenschaft sei, folgende Antwort:
„Das systematische Vorhaben, Wissen über die Welt zu sammeln
und die Fakten in überprüfbare Theorien zu kondensieren. Wenn
man etwas nicht überprüfen kann, ist es nicht wissenschaftlich. Zusätzlich gibt es zwei wichtige Regeln für Forscher: Sie müssen ihre
Ideen offenlegen und testen lassen . . . Forscher müssen selbst akzeptierte Schlussfolgerungen aufgeben, wenn sie mit neuen Experimenten oder besseren Erklärungen konfrontiert werden. Das ist genau,
was Wissenschaften von anderen Dingen unterscheidet: Wenn es
eine bessere Erklärung für ein Phänomen gibt, schreiben wir die
Lehrbücher um und schauen nicht zurück . . .“ 151
Wie wissenschaftlich ist dann jedoch Wissenschaft, wenn weitere
Untersuchungen nicht finanziell gefördert, geduldet, erwünscht oder
unterdrückt werden? Der Gedanke der Nachvollziehbarkeit, der
Überprüfung ist nicht neu. POPPER hat sich mit dem Wissenschaftsbegriff eingehend auseinandergesetzt. Dennoch ist es unumstritten, dass Wissenschaft finanziert werden muss. Wer das Geld
hat, bestimmt die Richtung.
„Häufig wird angenommen, dass wissenschaftliche Forschung eine
sehr ernsthafte Angelegenheit sei, dass sie stets „theoriegeleitet“ sei,
dass man anhand des vorhandenen Wissens hochfliegende Annahmen entwickele und dann spezielle Experimente plane, um diese
Annahmen zu überprüfen. Tatsächlich ähnelt die wirkliche Forschung mehr einem Angelausflug, was die meisten meiner Kollegen
wohl kaum zugeben würden. (Auch ich würde das natürlich niemals
sagen, wenn es um einen Antrag auf Forschungsmittel der National
Institutes of Health NIH ginge, weil die meisten Institutionen, die
solche Gelder vergeben, noch immer an der naiven Vorstellung festhalten, in der wissenschaftlichen Forschung gehe es nur darum, Hypothesen zu testen und die Ergebnisse in die vorgesehenen Spalten
151
SZ, Nr. 247, 1998, V2 /18; Nachgefragt: Interview mit Prof. Dr.
Robert Park, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der physikalischen
Gesellschaft der USA
82
einzutragen. Wehe Ihnen, wenn sie zugeben würden, dass Sie einer
bloßen Ahnung folgen und etwas vollkommen Neues versuchen!)“152
SHELDRAKE weist auf die Problematik bei der Bestimmung der
Grundkonstanten und die Theorien der Konstantenveränderung in
der Physik hin.153 Also selbst als konstant angenommene Werte sind
offensichtlich bei genauerer Betrachtung nicht konstant. So wird
vom Verfasser bezweifelt, ob sich im Bereich des Lebendigen, Individuellen und Einmaligen Werte überhaupt exakt reproduzieren und
somit überprüfen lassen.
Statistische Aussagen in der Rechtsmedizin
Unter Rechtsmedizinern ist es z. B. ein offenes Geheimnis, dass zwei
von drei nicht natürlichen Todesfällen nie entdeckt werden, weil der
Hausarzt einen falschen Totenschein ausgestellt hat. Es bleibt die
Frage unbeantwortet, wie in diesem Zusammenhang Statistiken über
Todesursachen bewertet und als wissenschaftlich angesehen werden
können.
Statistik und Labormedizin
In den USA wurden Inspektoren, die zur Überprüfung von Testresultaten in die Labors geschickt wurden, immer wieder mit verfälschten
Resultaten konfrontiert. Dies bezieht sich vor allem auf die Feststellung der Unbedenklichkeit neuer Substanzen im Bereich Nahrungsmittel, Pestizide und Pharmazeutika. Betrugsfälle gelangen nur selten an die Öffentlichkeit.
Das Beunruhigende im Bereich der medizinischen Forschung und
Experimente – und als solche sind auch die Massenimpfungen anzusehen – ist jedoch der große Unsicherheitsfaktor hinsichtlich der
Langzeitwirkungen, da die Wirkung von Impfungen auf das Immunsystem sich bis heute wissenschaftlich nicht exakt belegen lässt,
wohl aber eine Modulierung des Immunsystems mit Bestimmtheit
erwiesen ist.
152
RAMACHANDRAN, 2001, S. 161 bis 162 RAMACHANDRAN
ist Direktor des Center for Brain and Cognition an der University of
California in San Diego sowie Professor am Salk Institute for Biological Studies in La Jolla, Kalifornien.
153
SHELDRAKE, 1997, 193 ff.
83
Ohne Zweifel macht sich im Wissenschaftsbetrieb die Tendenz breit,
nur noch solche Ergebnisse zu sehen, die am besten mit den eigenen
Hypothesen übereinstimmen.
Es ist kein Geheimnis, dass die Eingriffe, Ratschläge und Verschreibungen von schulmedizinisch arbeitenden Ärzten zum großen Teil
nicht wissenschaftlich fundiert sind. Nur 20 bis 40% des ärztlichen
Handelns beruht auf einer verlässlichen Wissensgrundlage.154 Die
Aussage, dass wir lediglich „eine beobachtende Wissenschaft“ sind,
leuchtet ein.
Mitarbeiter – Ärzte und Statistiker – des Deutschen „Cochrane Zentrums“, das sich bemüht, vorhandenes medizinisches Wissen in eine
für Ärzte brauchbare Form zu bringen, weisen darauf hin, dass etwa
die Hälfte aller Studien wegen Unbrauchbarkeit aussortiert werden
muss. Weitere Vorgehensweisen von Wissenschaftlern erschweren
das Auffinden von möglichst objektiven „Wahrheiten“:
 Negative Studien werden oftmals erst Jahre später als positive
veröffentlicht.
 Ergebnisse werden oft so lange zurückgehalten, bis Patentanträge
positiv beschieden sind.
 Ergebnisse werden zurückgehalten, um die Veröffentlichung
unerwünschter Ergebnisse zu vermeiden.
Selbst Studien, die unter Forschern als erstklassig eingestuft werden,
halten bestimmten kritischen Analysen in ca. 14% der Fälle nicht
mehr stand.
Der französische Mathematiker und Theoretiker der Wahrscheinlichkeitsrechnung, LAPLACE, wies bereits darauf hin, dass die
Menschen statistische Ergebnisse nach ihren eigenen Interessen
völlig unterschiedlich auslegen. Dennoch:
„Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit. Das sind die ewigen Gesetze sozialer Ordnung.“
Der bekannte Physiker SCHRÖDINGER schrieb bereits vor über 30
Jahren zum Entsetzen vieler „wissenschaftlich“ arbeitender Kollegen
154
SZ, 250, 1997, I, Schläfrige Wächter am Tor zur Wahrheit
84
„ . . . es gibt eine Neigung zu vergessen, dass die gesamte Wissenschaft an die menschliche Kultur überhaupt gebunden ist und dass
wissenschaftliche Entdeckungen, mögen sie im Augenblick auch
überaus fortschrittlich und esoterisch und unfasslich erscheinen außerhalb ihres kulturellen Rahmens sinnlos sind. Eine theoretische
Wissenschaft, die sich nicht dessen bewusst ist, dass die Begriffe, die
sie für relevant und wichtig hält, letztlich dazu bestimmt sind, in
Begriffe und Worte gefasst zu werden, die für die Gebildeten verständlich sind, und zu einem Bestandteil des allgemeinen Weltbildes
zu werden – eine theoretische Wissenschaft, sage ich, in der dies
vergessen wird und in der die Eingeweihten fortfahren, einander
Ausdrücke zuzuraunen, die bestenfalls von einer kleinen Gruppe von
Partnern verstanden werden, wird zwangsläufig von der übrigen
Kulturgemeinschaft abgeschnitten sein; auf lange Sicht wird sie
verkümmern und erstarren, so lebhaft das esoterische Geschwätz
innerhalb ihrer fröhlich isolierten Expertenzirkel auch weitergehen
mag.“155
Immer mehr etablieren sich sogenannte „Doppelwissenschaften“ wie
die „Biophysik“ – auch unter der Bezeichnung „Quantenbiologie“
geläufig – oder wie die „Psychosomatik“, die sich aus den Einzelwissenschaften Biologie – Physiologie – Medizin einerseits und der
Psychologie andererseits zusammensetzt. Neben SCHRÖDINGER
gilt auch JORDAN als ein bedeutender Vertreter der Biophysik. Er
stellt mit Recht die Frage:
„Könnte es nicht so sein, dass die letzten, entscheidendsten steuernden Vorgänge (im organischen Leben) so fein sind, dass sie schon
nicht mehr im Bereiche kausal-mechanischer Gebundenheit liegen,
sondern im Bereiche des freien Geschehens, des Geschehens, welches Entscheidungen zu treffen hat? Das ist eine Denkmöglichkeit,
wenn auch auf den ersten Blick eine fantastische Denkmöglichkeit.
Man kann sich nicht wundern, dass, als diese Denkmöglichkeit zum
ersten Male erörtert wurde, die Stellungnahme der meisten Biologen
entschieden ablehnend war. Aber die Erfahrungen, die Experimente,
haben seitdem in den letzten zehn bis 20 Jahren doch eine Fülle von
Tatsachen zu Tage gefördert, die uns heute diese Frage nicht mehr
155
SCHRÖDINGER: Are there Quantum Jumps? In: The British
Journal for the Philosophy of Science, Vol. III , S. 109 und 110
85
als hypothetisch, sondern als eine entschiedene, eine sichtbar und
zuverlässig entschiedene Frage ansehen lassen: Was ich eben angedeutet habe, ist nicht nur eine logische Möglichkeit, nicht nur denkbare Diskutiermöglichkeit, sondern schlechthin eine Tatsache. Das
organische Leben ist wirklich so. Wir müssen es als eine Tatsache
ansehen, dass es gesteuert ist – in seinen wesentlichsten, entscheidenden Akten – von Vorgängen, die im Bereich der atomphysikalischen, der molekularphysischen Akausalität liegen, die in einem
Bereiche liegen, wo nicht mechanische Vorausberechenbarkeit
herrscht, wo es sich nicht mehr um das Abschnurren eines Uhrwerks
handelt, in dessen Verlauf kein unberechenbares Etwas, kein unvorhergesehener Vorgang eingreift. Sondern die letzten steuernden Akte
im organischen Leben vollziehen sich in der Zone derjenigen Naturvorgänge, in denen unvorhersehbare Entscheidungen zu überraschender Wirkung kommen.“156
Sind also die biologischen Steuerungsvorgänge nicht vorausberechenbar, so wird an dieser Stelle noch einmal die Frage gestellt, wie
dann überhaupt Eingriffe in solche Steuerungs- und Regulationsvorgänge berechenbar sein können und die „wissenschaftliche“ Medizin
den Anspruch erheben kann, dass Präventionsmaßnahmen – wie z.B.
die Impfungen – mit dem Anspruch der Wirksamkeit und des zuverlässigen Schutzes propagiert werden können. Die letzten, entscheidendsten Vorgänge sind nach JORDAN so fein, dass sie nicht mehr
mechanisch kausal gebunden, sondern frei sind.
Mit Recht weist WEIZSÄCKER zudem darauf hin, dass zwar die
Entstehung von Symptomen mit einiger Sicherheit erklärt werden
kann, jedoch nicht das Entstehen von Krankheit.
„Bei der Krankheit gibt es keine Möglichkeit zu beobachten, ob die
psychische oder die physische Erscheinung die Ursache, also auch
der frühere Vorgang gewesen sei; sie wirken simultan.“ 157
156
JORDAN, Das Schöpferische in der Natur; in: „Mensch und
Kosmos“, S. 81 in GEBSER, 1992, Kommentar, S. 136
157
WEIZSÄCKER, 1946, 23 ff in GEBSER, 1992, Kommentar,
S. 136
86
Sowohl die Wirksamkeit als auch die Bedrohung durch die Medizin
sind lediglich durch statistische Methoden darstellbar. Der Erfolg
medizinischer Maßnahmen ist für den einzelnen Menschen niemals
sicher, sondern lediglich wahrscheinlich.
Statistik in der Kriminalität – die unbekannte Dunkelziffer
PICKERT158 betont das Ergebnis wissenschaftlicher Studien, welche
besagen, dass die tatsächliche Verbrechenszahl bis zum zehnfachen
die nachgewiesenen Delikte übersteige.
Dem Verfasser ist an dieser Stelle deutlich bewusst, dass er sich auf
wissenschaftliche Studien zur Stützung seiner Thesen beruft, die
Wissenschaft insgesamt jedoch gleichzeitig in Frage stellt. Unsere
Erkenntnisse sind grundsätzlich fragmentarische Konstrukte mit
mehr oder weniger hohem Gehalt an Wahrscheinlichkeit und somit
von Wahrheit.
Statistik in den Sozialwissenschaften – Armut und Reichtum in
Deutschland
Dazu HUSTER: „ . . . Armut ist leichter erforschbar als Reichtum.
Man ist auf Selbstauskünfte angewiesen, die Statistiken sind unvollständig; Kunstbesitz oder Vermögen im Ausland sind kaum erfasst.“159
Statistische Tricks bei Wirtschaftswachstum und Anmeldung
von Patenten
Zahlen des bayerischen Wirtschaftsministeriums belegen, dass Bayern in Bezug auf seine Wirtschaft fast immer etwas schneller wächst
als der Konkurrent Baden-Württemberg. Dort wird jedoch behauptet,
die Bayern wiederum um 0,4% zu übertreffen. LAGALLE: „Eigent-
158
MM, 95, 2001, Lokales München; PICKERT ist Kriminalrat vom
Jugenddezernat München.
159
SZ, 95, 2001, S. 5; HUTER ist Professor für Sozialwissenschaften
in Bochum.
87
lich müssten die dieselben Zahlen haben wie wir.“160 KLEIN dazu in
Stuttgart: „Ich habe mich auch gewundert, als ich das gesehen habe.
Ich weiß nicht, was die Kollegen da gerechnet haben.“ Die Bayern
haben Recht.
KLEIN weiß, wo die Bayern schummeln: Natürlich sind bei zwölf
Millionen Einwohnern mehr Patentanmeldungen zu erwarten als bei
zehn Millionen Einwohnern in Baden Württemberg. Entscheidend ist
jedoch, wie viele Patente zehn Millionen Bayern anmelden würden.
Die Unterschiede in der Statisitik seien inzwischen so gering, dass
sie auch auf statistischen Fehlern beruhen können. KLEIN: „Ich
muss ehrlich sagen, ich halte diese Vergleiche für lächerlich.“
Wirklichkeit wird immer erfunden
Darauf weist die philosophische Denkrichtung des Konstruktivismus, die etwa um 1980 in den USA bekannt wurde, hin. Forscher
aus sehr verschiedenen Disziplinen wie Physik, Psychiatrie, Biologie, Mathematik oder der Literaturwissenschaft vereinigen sich in
dieser Denkrichtung.
Die Realität wird demnach vom Bewusstsein des Einzelnen konstruiert und ist somit zugleich eine Folge vergangener Weltanschauungen. So ändert sich mit dem Fortschritt der Forschung zugleich auch
der Begriff der Wissenschaft. Die folgerichtige Definition lautet
dann:
Wissenschaft ist das, was eine bestimmte Gruppe von Forschern
dafür hält.
Die ersten Konstruktivisten betonten die Auffassung, dass der Intellekt des Menschen im Dienste des Organismus steht und deshalb in
erster Linie jene Erscheinungen bevorzugt, die ihm Nutzen versprechen. Dazu der Konstruktivist FOERSTER:
Jeder Mensch konstruiert seine Wirklichkeit selber. Sie ist deshalb
„autopoietisch“ zu nennen und letzten Endes nichts anderes als eine
Wahnvorstellung. Das Subjekt lebt so in einer subjektiv konstruier160
SZ,111, 2001, S. 55 BAYERN; Astrid LAGALLE arbeitet im
Münchner, KLEIN im Stuttgarter Wirtschaftsministerium.
88
ten Realität (autopoietische Realität). Nach FOERSTER ist somit
Objektivität „nichts weiter als die Wahnvorstellung eines Subjekts, dass es beobachten könne ohne sich selbst.“161
Dahinter steht die Aussage, dass wir niemals imstande sind, die
Wirklichkeit zu erkennen, so wie sie ist. Dazu LIBET, Neurophysiologe am Medical Center der University of California:
„Es gibt unbewusste Veränderer im Hirn, die versuchen, das
Wahrgenommene in Übereinstimmung zu bringen mit dem, was
wir gelernt haben.“162
RAMACHANDRAN formuliert als wichtigstes Prinzip der Wahrnehmung, „dass die Wahrnehmungsmechanismen in erster Linie
damit beschäftigt sind, der Welt statistische Korrelationen zu
entnehmen, mit deren Hilfe sie ein Modell von zweiteiligem Nutzen konstruieren.“163
Die neuere psychologische Lehrmeinung tendiert zunehmend zu der
Annahme, dass die Vorstellung des Menschen, einen freien Willen
zu besitzen, illusionär ist. Zumindest sind ernsthafte Zweifel an der
Willsenfreiheit des Menschen angebracht.
Unser Verhalten wird neben genetischen, neuronalen, emotionalen
und kognitiven auch von sozialen Faktoren bestimmt. WEGNER164
stellt die Frage, warum wir unser eigenes Handeln in vielen Fällen
als ein bewusstes und eigenes Wollen wahrnehmen, und sieht subjektive Erfahrung in erster Linie als eine Interpretation unserer Gedanken, die zugleich Auslöser unserer Handlungen sind, an. Der
Grund dafür ist in dem Bedürfnis der Menschen zu sehen, Zusammenhänge in voneinander unabhängige Beobachtungen hineinzudenken und zu deuten. Aufgrund der immerwährend gleichen Reihenfolge – Denken – Handeln – Kausalität suchen und erkennen –
und aufgrund der ständig gesuchten und gefundenen Übereinstimmung von Denken und Handeln wähnen wir uns in der Sicherheit,
161
SZ, 104, 1995, S. 11
DIE ZEIT, 51, 1996, S. 34, Der Wille als Vorstellung
163
RAMACHANDRAN ist Direktor des Center for Brain and Cognition an der University of California in San Diego sowie Professor
am Salk Institute for Biological Studies in La Jolla, Kalifornien; Die
blinde Frau, die sehen kann , 2001, S. 116
164
SZ, 122, 2001,V2 /11; WEGENER ist Psychologe an der Harvard
University in Cambridge, USA.
162
89
kausale Zusammenhänge zu erkennen. Durch die jedem Menschen
inne wohnenden Bedürfnisse nach Akzeptanz und Zugehörigkeit
imitieren Menschen automatisch Fremdverhalten; ein freier Wille ist
dabei nicht zu erkennen.
WATZLAWICK165 weist darauf hin, dass unsere sogenannte Wirklichkeit letzten Endes das Ergebnis von Kommunikation und der
damit verbundenen Information ist. Da aber die Art und Weise, wie
wir uns informieren und wie wir kommunizieren, und auch die Möglichkeiten der Manipulationen unendlich vielfältig sind, besteht meines Erachtens nach keine Hoffnung, zu einer gemeinsamen Wirklichkeitsauffassung zu gelangen. Wir können uns nur annähern,
nichts jedoch bestimmt mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit
oder Wirklichkeit behaupten. Jeder Mensch lebt in seiner von den
eigenen Interessen und Erfahrungen geprägten Wirklichkeit.
Erleben zwei Menschen eine bestimmte Situation, so unterscheiden
sich dennoch ihre Erinnerungen. HANNIGAN/REINITZ166 wiesen
in ihren Untersuchungen an über 300 Studenten einen „UrsachenFolgerungsprozess“ im Gehirn nach, der selbst Zeugenaussagen in
ein neues Licht rückt. Menschen konstruieren nach Ansicht der Forscher von selbst die mögliche Ursache eines Geschehens, obwohl nur
Vermutungen als Grundlage dienen. Je nach der Länge des Zeitraumes zwischen ursprünglichem Erleben oder Beobachten und der
dazugehörigen Aussage ist eine zunehmende Vermischung und
Verwischung zwischen Vermutung und Tatsache zu beobachten.
Arzneimittelstudien
Eine nicht zu leugnende Tatsache ist, dass auch Arzneimittelstudien
oftmals nicht so durchgeführt werden oder durchgeführt werden
können, wie es erforderlich wäre, um Ergebnisse zu erhalten, die den
heute gültigen Standards (CONSORT-Statement) Genüge leisten.
Dies gilt sowohl für die Produkte der Naturmedizin als auch für
pharmakologische schulmedizinische Arzneimittel oder auch homöopathische Arzneimittelpüfungen. In allen Bereichen gibt es Berichte
165
WATZLAWICK, 1979
Journal of Experimental Psychology, 2001, Bd. 27, Nr. 4; Sharon
HANNIGAN und REINITZ sind Psychologen in den USA.
166
90
über Studien, denen die Missachtung wissenschaftlicher Standards
vorgeworfen wird.
SEEBER167 weist auf den inzwischen üblichen Off-Label-Gebrauch
von Medikamenten hin, die versuchsweise bei vielen Erkrankungen
eingesetzt werden. „Zu uns kommen häufig Patienten, die mit Mitteln behandelt werden, die ihre Wirkung längst verloren haben und
nur noch toxisch sind. Diese überflüssige Therapie belastet nicht nur
die Patienten, sondern auch die Kassen. Genauso wichtig wie ein
kontrollierter Off-Label-Gebrauch ist deshalb eine kontrollierte
Verwendung der zugelassenen Medikamente. Für beides braucht
man Spezialisten.“
Die zunehmende Spezialisierung wirft einerseits Fragen der Kontrolle auf und zeigt andererseits, dass genau diese Spezialisten bei
schweren Erkrankungen lediglich Experimente am Menschen durchführen. Sie entpuppen sich somit als spezialisierte Experimentatoren.
In jedem Falle stehen die Studien, Veröffentlichungen und Gegenveröffentlichungen im Zusammenhang mit enormen Geldmengen, da sie oft langandauernd und sehr aufwendig sind und von wissenschaftlich qualifiziertem Personal durchgeführt werden.
In dieser Hinsicht erregte eine in einer angesehenen Fachzeitschrift
veröffentlichte Studie Aufsehen, die bezüglich der gefäßschützenden
Wirkung von Knoblauchdragees in Auftrag gegeben worden war.
Diese Studie wurde über vier Jahre mit 280 Probanden durchgeführt.
Unübliche Auswertungsmethoden oder fehlende gründliche Erläuterungen oder die Unterschlagung relevanter Daten (Aussteiger bei den
Arzneimittelprüfungen) werden von Gegnern bestimmter Ergebnisse
immer wieder ins Feld geführt. KIESEWETER, Fachmann für Arteriosklerose und Professor an der Charité in Berlin, war Leiter der
Studie.
Auf einer Pressekonfernz antwortete er auf die Frage, ob die Ergebnisse zu den Statin-Studien (chemische „Lipidsenker“) nicht erfolgversprechender seien: „Ich kenne keine Statin-Studie, die über vier
Jahre gegangen ist“, obwohl er in seiner Studie über die Wirkung
von Knoblauch eine von mehreren Studien über fünf Jahre selbst
zitiert.168 Dieser Vorfall bestätigt die selektive Blickweise selbst von
hochqualifizierten Wissenschaftlern.
167
SZ, 66, 2002, V2 /14; SEEBER ist Professor bei der Deutschen
Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie.
168
SZ, 112, 1999, V2 /15
91
Es ist ein offenes Geheimnis, dass bei vielen der als „wissenschaftlich“ deklarierten Studien fundamentale Grundregeln des Wissenschaftsbetriebes außer Acht gelassen und dennoch aus Werbezwecken veröffentlicht werden. Wie auch schon von BUCHWALD
festgestellt (Vertauschen von Fotografien bei der Werbung für
Impfstoffe) und aus dem Fall HERRMANN/BRACH bekannt,
scheuen die Autoren wissenschaftlicher Arbeiten bisweilen auch
nicht vor der Fälschung von Bildmaterial zurück.
So liegt der Verdacht auch bei der Studie zur gefäßschützenden
Wirkung von Knoblauch nahe. Hier wurden zwei einander sehr ähnliche, im Bildausschnitt sogar absolut identische Ultraschallbilder
der Halsschlagader eines Patienten als Beweismaterial für die schützende Wirkung veröffentlicht. Dazu ARNING:
„Wenn Ultraschallbilder der gleichen Körperregion zu verschiedenen Zeitpunkten aufgenommen werden, ist eine so vollkommen identische Schnittführung bei freigehaltener Sonde praktisch nicht möglich.“169
Der Mensch sieht und findet was er gerne sehen und finden möchte.
Oftmals wird die entsprechende Wirklichkeit auch konstruiert. Wir
halten für wahr, was wir glauben wollen oder wofür wir bezahlt
werden und womit wir unser Brot – oder mehr – verdienen.
Immer mehr Wissenschaftler machen sich zu „Hilfsarbeitern der
Industrie“.170 So wurde eine von DONG im Auftrag der amerikanischen Firma Boots durchgeführte Studie für fehlerhaft erklärt, als
sich herausstellte, dass das teuerste, von dieser Firma vertriebene
Medikament für Schilddrüsenerkrankungen ebenso gut wirkte als
billigere Medikamente anderer Firmen. Hätte die Forscherin ihre
Ergebnisse früher veröffentlichen dürfen, wären von Patienten und
Versicherungen 365 Millionen Dollar jährlich gespart worden. Auch
dieses Beispiel zeigt die ungeheuerlichen Summen, um die es im
Medizingeschäft geht.
Ein weiteres Beispiel soll verdeutlichen wie „unwissenschaftlich“ in
der modernen Medizin oftmals therapiert wird. Eine Studie von
169
170
zitiert in SZ, 224, 1999, V2 /11
SZ, 84, 1999, V2 /11
92
MÜNSTEDT und Kollegen machte deutlich, dass vier von fünf
niedergelassenen Ärzten, im Gegensatz dazu aber nur zwei von fünf
Klinikern unkonventionelle Heilmethoden der Behandlung anwenden. Speziell die bei Krebserkrankungen gerne aufgrund von Patientenforderungen oder deren Angehörigen verordneten Mistelpräparate
stehen bei den unkonventionellen und bis jetzt nicht wissenschaftlich
gesicherten Verfahren an erster Stelle. Mehr als die Hälfte der Ärzte,
die diese Verfahren anwenden, verschreiben Mistelpräparate. Auch
Selen-Medikamente, Vitamine, Homöopathie und Akupunktur sind
alternative Verfahren, die noch in 20 bis 25% von der Ärzteschaft
angewandt werden. Es soll jetzt auch untersucht werden, ob ökonomische Interessen hinter den einzelnen alternativen Therapien stehen.171
Die uns über die Medien zugänglichen Informationen sind äußerst
gegensätzlich, werden uns aber dennoch auf wissenschaftlicher
Grundlage präsentiert. Niemand ist in der Lage, die Ergebnisse auf
ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. GABIUS stellt fest, dass die Anregung der körpereigenen Abwehr durch Mistelextrakte einem „russischen Roulette“ gleiche. Er hatte im Jahr 1990 den immunstimulierenden Wirkstoff Mistellektin nachgewiesen, später jedoch seine
Meinung revidiert und festgestellt, dass eine Behandlung mit diesem
Wirkstoff lebensgefährlich werden kann.172
„Deshalb ist im Einzelfall nicht vorherzusehen, ob das Lektin
das Immunsystem oder den Tumor stimuliert.“
BÜSSING entgegnet dieser Aussage mit folgenden Worten:
„Der Beitrag über die Mistel ist ärgerlich, schlecht recherchiert und
tendenziös . . . Die von GABIUS beschriebenen tumorfördernden
Wirkungen wurden in einem wirklichkeitsfernen Experiment mit
künstlich isolierten Inhaltsstoffen aus der Mistel, den Mistellektinen,
hervorgerufen. Diese wurden von Gabius selber Jahre zuvor als
einzig relevanter Inhaltsstoff propagiert . . . diese Form der künstlichen Inhaltsstofftherapie, wird nur von wenigen Arbeitsgruppen
171
SZ, 224, 1999, V2 /11
SZ, 49, 2000; GABIUS ist Professor für Physiologische Chemie
in München.
172
93
überhaupt getragen und ausdrücklich nicht von den von ihm gescholtenen anthropsosphischen Mistelextraktherstellern . . . “ 173
Es bleibt erneut die Frage zu stellen, ob es im medizinischen und
damit biologischen Bereich jemals möglich sein wird, Ergebnisse im
wissenschaftlichen Sinne exakt zu reproduzieren. Dazu KOESTLER:
„Wiederholbarkeit und Vorhersagbarkeit sind gültige Kriterien in
den Naturwissenschaften, aber schon nicht mehr so sehr an den
Grenzen der Medizin und noch weniger in jenen der Psychologie, die
sich mit den Vorgängen im Unbewussten und mit dem autonomen
Nervensystem befassen.“174
Werden bestimmte Medikamente langfristig eingenommen, so besteht der Verdacht, dass die Giftwirkung auf lange Sicht hin gegenüber dem Nutzen überwiegt. In medizinischen Extremsituationen
sind positive Wirkungen durchaus denkbar.
Das AIDS-Medikament Retrovir ist ebenfalls ein Beispiel, wie manipulationsanfällig Arzneitmittelstudien sind, die mit großem finanziellen Aufwand erstellt werden. Die Überprüfung einer vom Retrovir-Hersteller Wellcome finanzierten Studie ergab, dass Patienten,
die Nebenwirkungen des Mittels AZT zeigten, stärker von den Ärzten betreut wurden als ihre Leidensgenossen aus der Placebogruppe.
Hier bekamen fünf Patienten lebensverlängernde Bluttransfusionen,
in der AZT-Gruppe hingegen 30 der betroffenen Patienten. Eine
Mitarbeiterin bei dieser Studie sagte aus, dass sie jetzt noch unter
ihrem schlechten Gewissen leide, weil die Ärzte ihr damals gefälschte Werte diktiert hätten, die sie in den Computer eingab175.
Interessanterweise ist der gleiche Hersteller auch einer der einflussreichsten bei der Produktion von Impfstoffen.
173
SZ, 53, 2000, S. 13; BÜSSING ist Arzt in Herdecke; dort befindet
sich auch eine Projektgruppe „Unkonventionelle Medizinische Richtungen“ (UMR), die in einer eigenen Schriftenreihe auch eine „Bestandsaufnahme zur Forschungssituation“ veröffentlicht hat (0471/
460 93-95).
174
KOESTLER, 1974, S. 27
175
Co-med, Nr.1, 2001, S. 88/89
94
Der Placebo-Effekt als unbekannter Faktor der
(modernen) Medizin176
Allein der Glaube an die Wirkung eines Medikaments soll dem Patienten helfen. Es existieren jedoch keine wirklichen Belege für die
Heilkraft von Scheinmedikamenten. Nach weit verbreiteter medizinischer Meinung ist bei einem von drei Patienten mit einer positiven
Reaktion auf Scheinmedikamente zu rechnen. HROBJARTSSON/GÖTZSCHE analysierten 114 Studien zur Placebotherapie und
kamen zu dem Ergebnis, dass bei einer Reihe von Krankheiten Placebos kaum eine nachweisbare Wirkung zeigten. Nur bei Schmerzbeschwerden konnte nachgewiesen werden, dass Scheinmedikamente eine bessere Wirkung zeigten, als wenn kein Wirkstoff verabreicht
wurde.
„Außerhalb von Studien gibt es keine Rechtfertigung für den Einsatz
von Placebos.“177
Auch die Ergebnisse neuer Doppelblindstudien zur Überprüfung des
Placebo-Effektes rücken den oft überstrapazierten Wissenschaftsbegriff in ein fragwürdiges Licht.
Sowohl die Firma Genentech (Kalifornien) als auch die Firma Merck
(USA) stoppte wegen eines Placebo-Effektes die Weiterentwicklung
und Produktion bestimmter Medikamente.
Bei den Probanden, die eine wirkstofffreie Pille geschluckt hatten,
wurde im Vergleich zum „echten“ Herz-Medikament ein um 25%
höherer Erfolg diagnostiziert. Eine „Antidepressionsarznei“ der
Firma Merck (MK-869) zeigte im klinischen Test mit 75% Erfolgsquote die gleiche Wirkung wie verabreichte Placebos. Durch weitere
elf Studien wird belegt, dass auch bei 50% der Patienten eine Dickdarmentzündung (Colitis) mit Hilfe von verabreichten Placebos
nachweisbar nach einiger Zeit verschwand. So stellen Impfstoffe
ohne Wirkstoffe, die Verabreichung von Placebos und vorgetäuschte
Operationen die Ärzte und Psychologen vor immer neue Rätsel.
Insgesamt wird den Medikamenten ohne chemischen Wirkstoff –
nicht zu verwechseln mit den nach homöopathischen Vorschriften
176
in MM, 47, 2000, J 4; KIRSCH ist Psychologe an der Universität
Connecticut.
177
SZ, 127, 2001, V2 /13 und New England Journal of Medicine,
2001, Bd. 344, S. 1594
95
hergestellten und geprüften Arzneien – eine Heilkraft zwischen 35
und 75% zugeschrieben, in Ausnahmefällen sogar mehr.
Auch die vorgetäuschten chirurgischen Experimente des Kardiologen COBB vor 40 Jahren zeigten 90%ige Erfolge.
Er hatte einen damals populären Eingriff am Herzen vorgetäuscht.
Die Narben wurden ohne die dazugehörige Behandlung gesetzt.
MOSELEY führte 1994 an zehn Patienten (alle Soldaten) unterschiedliche Behandlungen durch, ohne dass sie über die Art des
Eingriffs informiert wurden.
Anzahl
Patienten
2
3
5
Beschwerde
Arthritis im
Knie
Arthritis im
Knie
Arthritis im
Knie
Art des
Eingriffs
Übliche Operation
Gelenkspülung
Hautschnitt
Erfolg
zufrieden; lange
schmerzfrei
zufrieden; lange
schmerzfrei
zufrieden; lange
schmerzfrei
Diese Ergebnisse lassen auch den Schluss zu, dass jede Krankheit
einen spezifischen Verlauf besitzt und ohne Zuhilfenahme von Medikamenten bei entsprechender Lebenskraft, dem Wunsch, gesund zu
werden, unter „normalen“ hygienischen Verhältnissen und bei guter
Ernährung und Pflege von alleine ausheilen oder sich stark bessern
kann.
Möglicherweise spielen auch die heilwirksame Ausstrahlung, das
Mitgefühl und die menschliche Beziehung zueinander eine wesentliche Rolle im Heilungsprozess.
HAHNEMANN selbst hat sehr informative Ratschläge gegeben,
worauf man bei der Wahl eines Hausarztes achten sollte.178 Vor
allem die letzten Sätze dieses ironisch geschriebenen Kapitels besitzen meines Erachtens nach auch heute noch Gültigkeit:
„Erkundigen Sie sich nach einem schlichten Manne mit gesundem
Menschenverstande . . . vorzüglich aber wählen Sie einen Mann, der
nie auffahrend und hitzig wird . . . der den Nothklagenden ausreden
lässt, und nicht eher Bescheid gibt, als er mit Überlegen fertig ist . . .
der die guten Seiten der Kollegen nicht verschweigt, ohne sich selber
178
HAHNEMANN, Kleine medizinische Schriften, 1829, Über die
Wahl eines Hausarztes, S. 233 bis 238
96
zu rühmen; einen Freund der Ordnung, der Stille, des Wohltuns . . .
Belauschen Sie ihn doch, ehe sie ihn wählen, wie er mit den armen
Kranken umgeht, und ob er zu Hause, ungesehen, sich mit etwas
Würdigem beschäftigt.“
Das Wissen um die Wirksamkeit von Placebos wirft zugleich die
Frage auf, ob die Wirkung von „echten“ Medikamenten wirkungslos
bleibt, wenn der Glaube daran nicht vorhanden ist. Mit der Durchführung von Doppelblindstudien soll diese Frage jetzt unter Leitung
von KIRSCH beantwortet werden.
Nach der heutigen Lehrmeinung gib es zwei Erklärungsversuche für
den Placebo-Effekt:


Die Patienten sind durch frühere Erfolge der Therapie für die
Wirkung ähnlich aussehender Mittel „klassisch konditioniert“.
Bei der Einnahme von Scheinpräparaten werden körpereigene
Endorphine, Nervenbotenstoffe und Hormone freigesetzt. Dies
ist durch Studien nachgewiesen worden.
HORGAN zitiert Studien, die belegen, dass unterschiedliche Methoden zu gleichen Ergebnissen führen. So wird durch die Behandlung
durch eines Analytikers der gleiche Erfolg erzielt wie durch die
Unterhaltung mit einem beliebigen Universitätsprofessor, der vortäuscht, Psychologe zu sein. Auch eine Placebo-Therapie mit der
vielsagenden Bezeichnung „reflektierendes Zuhören“ führt zu gleichen Ergebnissen. Diese Erkenntisse können auch auf die Psychopharmakologie übertragen werden.179
Bis heute ist trotz des immer wieder propagierten hohen wissenschaftlichen Standards die Frage nicht eindeutig zu beantworten, was
denn heilt, was wirklich vor Krankheit schützt. Aus diesem Grunde
wird im Kapitel „Impfungen – eine unendliche Geschichte“ aufgezeigt, wie Forschungen ohne klare Erkenntnisse weitergeführt werden und Menschen unter der Vortäuschung, sie sicher zu schützen,
mit immer mehr Fremdstoffen belastet werden, ohne dass eine eindeutige Schutzwirkung nachgewiesen ist. Gleichzeitig verändern
sich die Krankheitserreger und sind im Ernstfall immer weniger
unter Kontrolle zu bringen.
179
HORGAN, 2000
97
Es wird heute von Fachleuten angenommen, dass bereits Spuren
einer Substanz imstande sind, Allergien auszulösen. Diese Substanzen müssen nicht einmal toxisch sein, um entsprechende Symptome
zu erzeugen. Auch Scheinpräparate, von denen man nur glaubt, sie
enthielten einen Wirkstoff, wirken – auch allergisch. Psychiater
gehen heute davon aus, dass nur in einem Prozent der Fälle ein kausaler Zusammenhang zwischen Krankheitsbild und Umweltgiften
nachweisbar sei.
Es wurden Anzeichen dafür gefunden, „dass Symptome Antworten
des Körpers auf ungelöste Konflikte sind.“180
Placebo-Effekt und die Persönlichkeit des Arztes
Die Persönlichkeit des Arztes spielt zusammen mit seiner Fähigkeit,
Patienten zu informieren und emotional zu unterstützen eine weitere
Rolle, ob ein Therapieerfolg erzielt werden kann. Auch die folgenden Persönlichkeitsfaktoren tragen wesentlich zu besseren Resultaten
bei:


Wärme und Freundlichkeit, gepaart mit sicherem Auftreten
möglichst eindeutige Aussagen.
Nach LEVENTHAL181 lösen Krankheitssymptome bei den Patienten
zugleich gedankliche Reaktionen, Sorgen, Ängste und Gefühle über
die möglichen Auslöser der Krankheit aus. Durch die Zuwendung
des Arztes erfolgt eine günstige Beeinflussung der Selbstheilungskräfte der Patienten.
KLEIJNEN fordert die Abgrenzung des Placebo-Effektes vom
„Kontext-Effekt“. Gemeint ist damit „ die Situation und die Atmosphäre, die ein Arzt durch die Art und Weise schafft, wie er mit
seinem Patienten umgeht: Nimmt er sich Zeit? Geht er auf ihn ein?
Wie gut erklärt er die Krankheit?“182
180
Psychiatrie-Kongress in Aachen in der Woche
vom 18. September 2000
181
SZ, 66, 2001,V2 /19; Lancet, 2001, Bd. 357, S. 757
182
SZ,127, 2001,V2 /13; KLEIJNEN beschäftigt sich an der Universität New York seit neun Jahren mit dem Placeboeffekt.
98
Diese Faktoren bestimmen den Umgang des Patienten mit seiner
Krankheit stärker als die Hoffnung auf die Wirksamkeit bestimmter
Therapien.
Gibt ein Arzt mit emotionalem Einfühlungsvermögen seinem Patienten verständliche Informationen und Erklärungen, so sind gute Therapiergebnisse zu erwarten. Im Gegensatz dazu erzielen unbeteiligte
und verschlossene Ärzte weniger erfolgreiche Behandlungserfolge.183
Der Placebo-Effekt bei Parkinson-Patienten
Die auch unter dem Namen „Schüttellähmung“ bekannte Erkrankung
wird durch einen Mangel an Dopamin in der Substantia Nigra ausgelöst. Betroffene Menschen verlieren bei dieser Erkrankung die Kontrolle über ihre Bewegungen. Scheinmedikamente sind in der Lage,
genau in dieser Region bei Parkinson-Patienten größere DopaminMengen freizusetzen. Diese Wirkung wird dem psychologischen
Effekt der Behandlung zugeschrieben.184
Bei Patienten, denen anstatt eines chemischen Wirkstoffs eine harmlose Kochsalzlösung injiziert wurde, war ein deutlicher DopaminAusstoß festzustellen, der mit dem wirksamen Medikament vergleichbar war. Die Patienten wurden allerdings in dem Glauben
gelassen, ein wirksames Präparat erhalten zu haben; sie waren über
das Scheinmedikament nicht informiert.
Wird von Patienten eine medikamentöse Wirkung erwartet, so wird
diese Erwartung im Gehirn möglicherweise als Belohnung interpretiert und damit ein Prozess ausgelöst, welcher die Freisetzung von
Dopamin einleitet. Bewegungssteuerung, Verhalten, Erkenntnisvorgänge und Reaktionen auf Belohnung sind mit der Ausschüttung von
Dopamin verbunden.
Hat Recht, wer heilt ?
Voreilige Sensationsmeldungen gehören inzwischen zum medizinischen Alltag. STRAUER behandelte einen Herzinfarktpatienten mit
erwachsenen Stammzellen aus dessen Knochenmark.
183
184
KLEIJNEN in Lancet, 2001, Bd. 357, S. 757
Science, 2001, Bd. 293, S. 1164
99
Aufgrund des guten „Heilungsverlaufes“ wurde die Krankheitsgeschichte sofort in einer medizinischen Fachzeitschrift veröffentlicht.185 Auf einer Pressekonferenz äußerte sich der Mediziner:
„Dem Mann geht es überraschend gut, . . . wahrscheinlich haben die
Stammzellen dazu beigetragen.“ 186
Inzwischen wurden Zweifel laut, ob die mit STRAUER zusammenarbeitenden Ärzte das Herz des Patienten überhaupt genau untersucht
hatten. Kann ein einziger Therapieversuch Beweis für die erfolgreiche Anwendung einer neuen Methode sein?
JONITZ: „Persönliche Erfahrungen beeindrucken Patienten und
Ärzte stärker als wissenschaftliche Studien.“ Routinemäßige Anwendungen bestimmter Therapien beruhen nach KÖBERLING oft
auf einzelnen Fallbeispielen und Überlieferungen.
Zufriedene Patienten erzeugen zufriedene Ärzte.
KÖBERLING: „Diese Rückkopplung setzt einen Prozess in Gang,
durch den sich der Glaube an Therapien ausbreiten kann . . . Selbst
wenn die überwältigende Mehrheit der Ärzte und Patienten zufrieden
ist, muss das nicht heißen, dass eine Therapie tatsächlich eine Wirkung hat, die über Placebo-Effekte, also Effekte von Scheinmedikamenten, hinausgeht . . . Ärzte neigen dazu, die Selbstheilungskräfte
der Natur ihrem Tun zuzuschreiben.“
Zeitliche Zusammenhänge beeindrucken Patienten besonders, genauso wie das Vertrauen in einen Arzt und das Wunschdenken der Patienten den Zweifel im Keim erstickt.
185
Deutsche Medizinische Wochenschrift; Oktober 2001
STRAUER ist Kardiologe und arbeitet an der Universität Düsseldorf.
186
SZ, 203, 2001,V2 /7; JONITZ ist Präsident der Berliner Ärztekammer; KÖBERLING ist ehemaliger Präsident der Deutschen
Gesellschaft für Innere Medizin.
100
Arzneimittelverabreichungen bei Kindern
Bis zum heutigen Tage ist kaum ein Arzneimittel für Kinder geprüft
und zugelassen. Aus diesem Grund treten bei Kindern, Früh- und
Neugeborenen und bei Säuglingen auch die meisten ernsthaften
Schädigungen auf. Die Frage der Dosierung ist oftmals Glückssache,
da Kinder, Säuglinge oder Schüler jeweils andere Dosierungen benötigen und die Medikamente in der Kinderheilkunde weder hinsichtlich ihrer Wirkung oder ihrer Nebenwirkungen gezielt untersucht
und freigegeben wurden.187
Die bei Kindern gegen Fieber und Schmerzen, aber auch gegen
Asthma verabreichten Medikamente üben eine fragwürdige Wirkung
aus. Es ist einleuchtend, dass aus diesem Grunde auch die meisten
Arzneimittelschäden von den Ärzten bei ungeborenen Kindern,
Frühchen und Säuglingen gemeldet werden. Immer dann, wenn
Ärzte Kindern Medikamente verabreichen die nur an Erwachsenen
getestet wurden, müssen sie mit schwerwiegenden gesundheitlichen
Schäden rechnen.
Mehr als 90% aller auf Frühgeborenen-Stationen verabreichten Arzneimittel sind nicht für die kleinen Patienten zugelassen.
SEYBERTH: „Falsche Dosierung bei Kindern und Säuglingen kann
zu Nierenversagen, Blutdruckabfall und Atemlähmung führen.“
Eine Zunahme von Kindern, die eine Sonderbeschulung benötigen,
ist die Folge. Die Frage, ob mit der Verabreichung eines Medikamentes oder aber durch das Unterlassen einer medikamentösen Behandlung mehr Schaden angerichtet wird, ist schwer zu beantworten.
Auch Röntgenaufnahmen, Blut- und Gewebeproben bei Frühchen,
Säuglingen und Kindern sind riskant, denn niemand vermag die
Frage zu beantworten, was dem kleinen Menschen zugemutet werden kann.
Dass nach SEYBERTH zwei Drittel der in Kliniken behandelten
Kinder mit nicht für sie zugelassenen Arzneimitteln behandelt werden, ist ein Armutszeugnis für die unter dem Prädikat der Wissenschaftlichkeit arbeitenden Medizin- und Pharmabranche. Kinderkliniken in Deutschland, Italien, Schweden, Großbritannien und den
Niederlanden therapieren Kinder mit Medikamenten, denen Dosierungshinweise fehlen oder denen die Warnung vor Nebenwirkungen
fehlt.
187
MM, 14, 2001, S. 3
101
„Für Kinder ist dies aus medizinischer und für die Ärzte aus
juristischer Sicht eine Gratwanderung“.188
Der Körper von Kindern unterscheidet sich sowohl in Aufbau als
auch in der Funktion wesentlich von dem der Erwachsenen. Gerade
bei Säuglingen wird ein großer Teil der medikamentösen Wirkstoffe
durch verhältnismäßig große Organe wie die Leber ausgeschieden,
bevor die heilende Wirkung eintritt. So tritt nicht selten der Fall ein,
dass Säuglinge bei Beta-Blockern erst auf die vierfache Erwachsenen-Dosis schulmedizinisch positiv reagieren. Schon seit geraumer
Zeit weisen die 11 000 deutschen Kinderärzte darauf hin, dass 80%
der Arzneianwendungen gefährlich sind.
Die Hersteller ließen die Medikamente jedoch bei den Behörden
nicht für Kinder registrieren, um bei möglichen Komplikationen
nicht haftbar zu sein.
Geheimhaltung von Studien
Es ist bekannt und durch eine Studie des Kieler Instituts für Therapie
und Gesundheitsforschung bestätigt, dass besonders Jugendliche
durch Werbung für Zigaretten dazu verführt werden, mit dem Rauchen zu beginnen. Jugendliche sind besonders in der Phase der Identitätsbildung für die Symbole der Erwachsenenwelt und suggerierte
Unabhängigkeit empfänglich.
Eine internationale Studie bestätigt ebenso wie die des Kieler Instituts die Abnahme des Tabakkonsums durch das Aussprechen von
Werbeverboten. In Frankreich, Finnland, Norwegen und Neuseeland
ist die Werbung für Tabakprodukte seit Jahren verboten. Hier sank
der Tabakkonsum wesentlich stärker als in Deutschland.
Die seit Ende Dezember 1997 vorliegenden Ergebnisse der erstellten
Expertise wurden nach HANEWINKEL von Gesundheitsminister
SEEHOFER und der damaligen Regierung „über Monate unter der
Decke gehalten“.189
Sie erhob sogar beim Europäischen Gerichtshof Klage gegen ein
geplantes Tabakwerbeverbot.
Dieses Vorgehen zeigt deutlich, dass bei finanziellen Gewinnaussichten durch den Staat Maßnahmen zur Gesunderhaltung der Be188
MM, 5, 2000, S. 1; SEYBERTH ist Kinderarzt und Leiter der
Marburger Universitätskinderklinik.
189
SZ, 265, 1998, V2 /13
102
völkerung offensichtlich keine Rolle spielen. Dies ist um so verständlicher, wenn wir uns die Höhe der Summen verdeutlichen, um
die es hier geht:
Der Fiskus kassierte im Jahr 1999 22,8 Milliarden Mark Tabaksteuer
und 5,7 Milliarden Mark Mehrwertsteuer auf Tabakwaren.190
Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse in die Therapie –
Irrelevanz der Studien
Mehr als 500 Therapie-Studien sind derzeit etwa zum Thema
Lymphdrüsenkrebs veröffentlicht. Fachleute haben nach HASENCLEVER191 höchstens 40 davon im Kopf. Durch mehrere Untersuchungen wurde belegt, dass durch Studien belegte Therapien in der
Praxis oftmals ein deutlich schlechteres Ergebnis zeigten. Die Erklärung dafür ist einerseits in der Veränderung der Dosierung durch die
Ärzte, andererseits in der Einnahmepraxis der Medikamente durch
die Patienten zu suchen.
Nur ein intensives Studium der Studien und eine Zusammenfassung der besten Erkenntnisse verspricht einen Ausweg aus diesem Dilemma.
Fehldiagnosen von Ärzten – Gesundheitszustand der Frauen
Frauen sind nach neueren Erkenntnissen anders krank als Männer.
Eine frauenspezifische Gesundheitsversorgung gebe es aber in
Deutschland dennoch nicht. Etwa neun von zehn Gebärmutterentfernungen bei gutartigen Erkrankungen, für die es alternative Behandlungsmethoden gäbe, werden unnötig vorgenommen. Eine Studie des
Gesundheitsministeriums weist 25% der Gebärmutterentfernungen
als unnötig aus.
Der Herzinfarkt führt bei Frauen doppelt so häufig zum Tod wie bei
Männern. Als Ursache wird die Fehlwahrnehmung der Ärzte vermutet, denen wegen des geringeren Infarktrisikos bei Frauen Diagnosefehler unterlaufen. Oftmals erfolgt dann zu spät eine Intervention.
Bei gleichem Krankheitsbild werden Frauen doppelt so häufig Beruhigungsmittel verordnet wie Männern.
190
MM, 32, 2000, S. 8
SZ, 25, 2000, V2 /12; HASENCLEVER ist Mitarbeiter an der
Universität Leipzig.
191
103
Ein Zusammenhang besteht möglicherweise auch damit, dass von
den 13 900 Ärzten in leitender Funktion in Deutschland nur 1,2%
Frauen sind.192
Mehr als 40% der Patienten, die an einer schwer behandelbaren
Epilepsie leiden, laborieren in Wahrheit an Herz-KreislaufProblemen.193 Epileptiker, deren Anfälle nur schwer durch Medikamente zu beeinflussen sind, sollten sich deshalb einer HerzUntersuchung unterziehen.
Ein Erklärungsmodell zum Gesundheitszustand deutscher
Männer
Eine repräsentative bundesweite Befragung194 entlarvt Männer als
Gesundheitsmuffel.
Der Grund für die Vermeidung von Arztbesuchen sind die Angst vor
langen Wartezeiten, vor schlechten Nachrichten oder vor schmerzhaften Untersuchungen. Ärztliche Ratschläge werden von 42% nicht
befolgt, weil sie die Auffassung vertreten, „es wird schon von alleine
wieder besser“.
Für eine gesunde Ernährung
interessieren sich nur 39% der Männer
Im Mittelpunkt stehen
schöne Frauen und Musik mit 44%
Autos: 39%
Blutdruck und Sehkraft sind
50% der Befragten bekannt
Blutzuckerwerte: 21%
Medizinische Fragen sind
wichtig für nur 25%
Sport: 43%
Sex: 35%
Cholesterinwerte: 31%
Nutzung medizinischer
Vorsorgeuntersuchungen:
25% (bei Frauen 50%)
Nichtbefolgen von ärztlichen
Ratschlägen: 42%
192
SZ, 179, 2000, S. 7
Ärztliche Praxis, 2000, S. 54
194
Institut für Demoskopie in Allensbach im Auftag der Männermagazine „Men`s Health“ und „ Men`s Health Best Life“ an 1071
Männern ab 18 Jahren, in MM, 253, 2001, Journal MedizinForschung; die Zahlen der Urologen stehen direkt neben dem o. a.
Artikel.
193
104
Der Berufsverband der Deutschen Urologen wartet mit folgenden
Zahlen auf:



Behandlung wegen gutartiger Prostatavergrößerung: 2,2 Millionen Männer
Häufigster Männerkrebs in Deutschland: Prostatakrebs (15%,
zurzeit 770 000 Fälle)
Nur 15% der Männer gehen zur Krebsvorsorge. Frauen: mehr
als 30%
Voraussagen von Ärzten bei Krebspatienten195
Das Endstadium von Krebserkrankungen ist meist kürzer, als die
Ärzte voraussagen.
VIGANO: „Diese Vorhersagen der Überlebenszeit trafen nur bei
einem von vier Patienten zu.“
Er befürchtet eine Verschlimmerung der Leiden bei vielen Patienten,
da die starken Mittel zu spät verordnet würden und fordert dazu auf,
das Empfinden des Patienten mehr zu berücksichtigen.
Ein exemplarischer „Krebs“-Leidensweg
Die Krebserkrankung (Kehlkopfkrebs) von George Harrison wurde
1997 erstmals diagnostiziert.
Es folgten
 eine „erfolgreiche“ Operation
 eine Strahlentherapie
 im April 2001 eine zweite „erfolgreiche“ Operation
 Behandlung bei einem Schweizer Krebsspezialisten
in Bellinzona
 Anfang November 2001: Bericht der Ärzte in New York: „Harrison sei in sehr schlechtem Zustand“.196
Ex-Beatle George Harrison erkrankte an Kehlkopfkrebs, Lungenkrebs und einem Hirntumor. In der Universitätsklinik von State Is195
Cancer, 1999, Bd. 86, S. 170; VIGANO ist Arzt am Grey Nuns
Hospital in Edmonton, Canada.
196
SZ, 277, 2001, S. 12
105
land bietet der Direktor der Strahlungsonkologie eine besonders
starke Strahlentherapie an, die nur für Patienten mit großen und weit
fortgeschrittenen Tumoren geeignet sei. LEDERMANN äußerte sich
im vergangenen Jahr zu dieser Therapie:
„Es gibt keine Garantie. Es ist ein Lotteriespiel. Aber wir glauben, dass wir die Überlebensrate verdoppeln können.“197
Auf reinem Glauben basierende, fragwürdige Therapien mit großem
finanziellem und technischem Aufwand, entsprechenden Gewinnen
für die Gerätehersteller und die mit ihnen zusammenarbeitenden
Ärzten charakterisieren dieses Lotteriespiel.
Es gibt keinerlei Wissen über zu erwartende Erfolge – sondern nur
Patientenversuche mit ungewissem Ausgang, um das Leben oft unter
Qualen zu verlängern. Unabhängig von den Erfolgen werden ungeheuere Summen mit diesem Geschäft umgesetzt.
Realitätsflucht oder: „Ein Mangel an Information“ 198
Weil schwer kranke Patienten der Wirklichkeit nicht ins Gesicht
blicken wollten, würden sie auch von ihren Ärzten nur unzureichend
aufgeklärt. In der Folge entsteht häufig ein „medizinischer Aktionismus“.
THE/HAK: „Es liegt im Interesse des Patienten, von Anfang an die
volle Wahrheit über das Ausmaß seiner Krankheit zu wissen.“
Die letzten Wochen können so intensiv genutzt werden, um persönliche und familiäre Angelegenheiten zu regeln.
Wissenschaftliche Gutachten sind möglicherweise
„Schlechtachten“
Sie stehen oftmals im krassen Gegensatz zur Wahrnehmung der
Menschen, die von bestimmten Ereignissen betroffen sind.
So sieht ein Gutachten, das sich im Auftrag des Umweltministeriums
mit der Krebs-Sterberate in Oberlaindern befasst, in der unmittelba-
197
MM, 257, 2001, Weltspiegel; LEDERMANN ist Direktor der
Strahlenonkologie.
198
SZ, 6, 2001, V2 /11; ein Zitat des Dramaturgen Heiner
MÜLLER, der an einer Krebserkrankung verstarb; Anne Mei THE
und HAK arbeiten an der Freien Universität Amsterdam.
106
ren Umgebung des Sendegebietes des umstrittenen US-Senders International Broadcasting Bureau (IBB) kein erhöhtes Krebsrisiko.
Es wird zwar zugestanden, dass der Anstieg der Krebs-Sterberate in
diesem Gebiet in den letzten fünf Jahren zwar eine Ausnahme bilden
würde. Da die Fallzahlen zu klein seien, werde dieses Ergebnis von
HÄRTEL aus statistischer Sicht als „Zufall oder natürliche Schwankung“ eingeordnet.199 Betroffene Bürger sprechen bei diesen Aussagen von reinem Zahlenspiel.
Wird von wissenschaftlicher Seite der Begriff „Zufall“ ins Spiel
gebracht, so gibt HEISENBERG zu bedenken, dass durch den neu
geprägten Begriff der Komplementarität die Möglichkeit zum Ausdruck gebracht wird, ein und dasselbe Geschehen mit zwei verschiedenen Betrachtungsweisen zu erfassen:
„Diese beiden Betrachtungsweisen schließen sich zwar gegenseitig
aus, aber sie ergänzen sich auch, und erst durch das Nebeneinander
der beiden widersprechenden Betrachtungsweisen wird der anschauliche Gehalt des Phänomens voll ausgeschöpft.“200
WEAVER bemerkt dazu:
„Eine der erstaunlichsten und wichtigsten Eigenschaften der Wahrscheinlichkeitstheorie ist, dass sie die Tatsache zu erklären vermag,
dass Ereignisse, die im Einzelnen sprunghaft und unvorhersehbar
sind, ein sehr stabiles Durchschnittsverhalten zeigen, wenn sie in
großen Mengen betrachtet werden.“201
Auch psychiatrische Gutachten können zu völlig entgegengesetzten
Ergebnissen kommen.
BENDER betont, dass kein Gutachter mit absoluter Sicherheit voraussagen kann, ob zum Beispiel ein Sexualstraftäter wieder rückfällig wird.202 Auch die Ergebnisse weiterer Gutachten können sich
widersprechen. Es ist mit Sicherheit unumstritten, dass die Ergebnisse von Gutachten in einem Zusammenhang mit öffentlicher Meinung
und öffentlich ausgeübtem Druck stehen könnnen. Damit besteht die
Gefahr, dass Probleme der Justiz psychiatrisiert werden.
199
SZ, 226, 1999, L 9
HEISENBERG, 1969, 63, S. 115
201
WEAVER, 1964, S. 280
202
SZ, 191, 1998, L 3
200
107
NEDOPIL vertritt die Ansicht, dass mit psychiatrischen Kurzzeitprognosen eine höhere Trefferquote erzielt werden kann. „Prognosen
für ein halbes Jahr können wir Psychiater mit über 70%iger Sicherheit abgeben.“203 Sie sollten die Langzeitprognosen in Zukunft ersetzen.
Die Rückfallhäufigkeit wird wie folgt angegeben:
 Sexualverbrechen (Vergewaltigung) über 20% (in den ersten
sechs Jahren; Rückfälle sind noch 15 Jahre nach der Haftentlassung möglich)
 Totschlag oder Mord: 3%
 Eigentumsdelikte: 60 bis 70%
In einem Interview gibt NEDOPIL folgende Prognose zur Wahrscheinlichkeit der Rückfälligkeit von Sexualstraftätern an:
„Ein Restrisiko zwischen 1:100 und 1:1000 kann man eigentlich
nicht unterschreiten. Das heißt, wenn ich 100 Leute rauslasse, wird
wohl einer rückfällig werden. Das ist das Restrisiko, das selbst der
sorgfältigste Gutachter eingehen muss. Und wenn er genügend viele
Gutachten macht, wird es ihn irgendwann treffen.“204
Erneut stellt sich die Frage: Wie sicher sind sogenannte „wissenschaftliche“ Erkenntnisse, Behauptungen und Ansprüche? Bewegen
wir uns letztendlich nicht nur in den Räumen von Wahrscheinlichkeiten? Was nützt die prognostische Aussage zu 80% heilbar? Wer
sind die 20%, die nicht geheilt werden? Was hilft es den Betroffenen, wenn sie zu den 20% zählen?
KRAUSE: „Gutachter, die einsitzende Täter einzuschätzen haben,
geben genaue, allerdings variierende Zahlen an. So werden einmal
16% der als nach menschlichem Ermessen erfolgreich therapierten
Täter rückfällig, nach anderen Angaben sind es „nur 24% “ und auch
mal 33%. Um eine solche genaue Angabe machen zu können, müssten Tausende von Kindern Opfer von Wiederholungstätern geworden
sein. (Das spricht für die Seriosität der Täterentschuldiger.)205
203
MM, 239, 3; NEDOPIL ist Professor an der Psychiatrischen Klinik der LMU in München.
204
SZ, 182, 2001, S. 41, München
205
SZ, 173, 2001, Lesebriefe; KRAUSE ist ein Leser der SZ, den ich
einem Fachmann gleichstelle.
108
LEYGRAF vergleicht den forensischen Gutachter mit einem Meteorologen und meint zur Trefferquote von psychiatrischen Gutachten:
„Wie das Wetter morgen wird, ist ziemlich sicher. Ob es in vier
Wochen regnet, ist ungewiss.“206
Gefälschte Umweltgutachten
In den Niederlanden ist es offensichtlich leicht möglich, gefälschte
Umweltgutachten zu kaufen.
Durch eine im Auftrag der Staatsanwaltschaft durchgeführte zweijährige Untersuchung wurde festgestellt, dass trotz aller Gesetze die
Umwelt auf der Strecke bleibe, wenn es um wirtschaftliche Interessen gehe. Jede erdenkliche und theoretisch durchgespielte Wirtschaftskriminalität wird auch in der Wirklichkeit praktiziert.207
So würden z. B.




bei Stichproben so lange Muster genommen, bis ein positives
Resultat erzielt werde
Bodenuntersuchungen manipuliert
wohlmeinende Umweltstudien gekauft
giftige Abfallstoffe auf dem Papier zu einem anderen Produkt
verwandelt.
Die Gutachten und kriminellen Praktiken werden oftmals nach dem
Motto: „Wer zahlt, bestimmt“, ausgeführt.
So machte GATES dadurch auf sich aufmerksam, dass er Experten,
die in dem gegen ihn wegen seines wettbewerbswidrigen Verhaltens
geführten Prozess aussagten, für ihre Gutachten üppiger als üblich
bezahlte.208
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass viele „wissenschaftliche“ Gutachten sich später als völlig unbrauchbar erwiesen. So im „Wormser“ Prozess, im Montessori-Prozess oder im Nordhorner Prozess.
206
SZ, 187, 1998, L 1; LEYGRAF ist Lehrstuhlinhaber
der Forensischen Psychiatrie in Essen.
207
SZ, 246, 1999, S. 16
208
SZ, 220, 1999, S. 2
109
Auch die Gutachten des „Missbrauchsexperten“ Dr. Jakob per Ferndiagnose anhand von Kinderzeichnungen, oder aber die Gutachten
im Flachslanden-Prozess oder im Ansbacher Fall von 1998 zeigen,
auf welch wackeligen Füßen wissenschaftliches Material oder fehlerhafte Glaubwürdigkeitsgutachten präsentiert werden.
Anfragen an den bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber,
was er zu tun gedenke, um die nachweisbaren Fehler der Ansbacher
Justiz und insbesondere der Staatsanwaltschaft Ansbach in Zukunft
zu vermeiden, blieben in der Sache ohne Antwort.209
Auch in der Geschichtsschreibung sind Fälschungen nicht ausgeschlossen. Es erscheint sehr fraglich, ob die Vermittlung eines objektiven Bildes überhaupt möglich ist. So ergaben sorgfältige qualitative
und quantitative Analysen des gesamten Bildmaterials einer in
Deutschland seit mehreren Jahren heftig umstrittenen Wehrmachtsausstellung, dass viele Bilder zeitlich, räumlich und inhaltlich falsch
zugeordnet waren.210
Wissenschaftliche Fachbeiträge in wissenschaftlichen
Fachzeitschriften211
Artikel, die von den besten Experten geprüft wurden, sollten mit
Vorsicht für wahr gehalten werden. Allein der Name einer Fachzeitschrift suggeriert oftmals besondere Gaubwürdigkeit oder Qualität
einer Veröffentlichung. Sie ist kein Garant dafür, dass man sich auf
sie verlassen kann.
HORTON: „Das System übersieht zu viele Fehler.“
Sowohl die bekannt häufige Unfähigkeit der Gutachter-Systeme,
Fehler zu erkennen, als auch die unbeabsichtigten Verzerrungen mit
anschließenden Fehlinterpretationen und versteckte Interessen der
Gutachter können in der Folge zu einer falschen Behandlung der
Patienten führen.
209
SZ, 186, 1999, S. 11; Leserbriefe: Seriöse Gutachter sind selten
SZ, 246, 1999, S. 21
211
SZ, 221, 2001, V2 /14; HORTON ist Chefredakteur des Medizinjournals The Lancet; RENNIE ist Redakteur des Medizinjournals
JAMA.
210
110
Sowohl der Missbrauch der eigenen Position als Gutachter als auch
das Übersehen grober Mängel führt nach RENNIE zu einer paradoxen Situation:
„Wir glauben fest an das System, doch wir haben keine Belege,
dass es wirklich tut, was wir erhoffen.“
Die statistische Auswertung und Analyse Peer-Review soll die Ergebnisse von Studien bezüglich ihrer Zufälligkeit beurteilen. Dennoch gelangt man auch hier durch die Wahl falscher statistischer
Methoden zu falschen Ergebnissen.
HORTON: „Lesen Sie wissenschaftliche Zeitschriften mit derselben
Skepsis, mit der sie Ihre Tageszeitung lesen.“
Vermischung von Wissenschaft, Glauben und Interessen
in der Gentherapie
Der 18-jährige Jesse Gelsinger starb während einer experimentellen
Gentherapiebehandlung, obwohl ihn seine Leberkrankheit kaum
beeinträchtigt hatte. Die University of Pennsylvania gab indessen zu,
dass ihr Forschungsprogramm offenbar „Schwächen“ habe. Sie
„glaubt aber weiterhin, dass diese Schwächen nicht zu Jesses
Tod beigetragen haben.“212
COHEN, der mehr als ein Dutzend Kinder mit einer neuen Reproduktionsmethode erzeugt hat, versicherte, dass alle Kinder völlig
gesund seien. Inzwischen wurde bekannt, dass er Negativergebnisse
verschwiegen hat und zwei „seiner“ Föten einen genetischen Defekt
(Turner-Syndrom) aufwiesen. Bei dieser Krankheit fehlt das XChromosom oder bestimmte Teile desselben. Unfruchtbarkeit und
Kleinwuchs sind die Auswirkungen eines solchen Defekts.
MURKEN: „Bei Fehlgeburten ist das die häufigste Chromosomenstörung . . . Wenn zwei von 18 Föten das Syndrom haben, ist das
sehr viel, aber noch nicht unbedingt ungewöhnlich.“
Einer der betroffenen Föten wurde nach der Diagnose abgetrieben,
der andere starb.213
212
SZ, 222, 2000,V2 /11
SZ, 127, 2001,V2 /13; COHEN arbeitet als Reproduktionsmediziner am St. Barnabas-Instiut in New Jersey; MURKEN ist Genetiker an der Universität München.
213
111
Wissenschaft = Studie contra Studie: „Die ideale Studie
ist das nicht mehr“
Nach Ansicht von Experten sprengt die Höhe der entdeckten PCBWerte im Blut von Nürnberger Schülern die Dimension aller bisher
bekannten Fälle. STIEFVATER: „Bayern hat zu hohe PCBRaumluft-Grenzwerte festgelegt.“214
Zum ersten Mal konnte hier ein Zusammenhang zwischen PCBRaumluftbelastung und Blutwerten hergestellt werden. Daran zweifelt DREXLER der nun im Auftrag des bayerischen Gesundheitsministers ebenfalls eine Studie zur PCB-Belastung der Schule erstellt.
Sein Gegenargument:
Werden solch niedrige Konzentrationen gemessen, so unterliegen die Werte einer sehr subjektiven Bewertung des Analytikers.
Nur durch eine neue Untersuchung kann Klarheit gewonnen werden.
Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass die bisherigen
Messungen eines Nürnberger Labors alle falsch seien. Ob sich in den
neuen Proben noch PCB nachweisen lässt, sei jedoch fraglich. Deshalb hält DREXLER nicht viel von der Untersuchung durch den
Freistaat: „Die ideale Studie ist das nicht mehr.“
Versuch einer Zusammenfassung:






214
Jede Studie ist interessenbestimmt.
Die Ergebnisse werden durch die Interessen beeinflusst.
Jede Studie kann angezweifelt werden.
Jede Studie kann unter anderer Fragestellung und anderen Bedingungen widerlegt werden.
Biologische Vorgänge lassen sich wegen ihrer Komplexheit
nicht unter exakt gleichen Bedingungen wiederholen.
Unbequeme, die Bevölkerung beunruhigende oder wirtschaftsgefährdende Ergebnisse werden nicht immer veröffentlicht.
MM, 181, 2001, Bayern; STIEFVATER ist betroffener Elternbeiratsvorsitzender der Nürnberger Georg-Ledebour-Schule;
DREXLER ist Umweltmediziner aus Erlangen.
112
Ausblick
OKEN weist mit Recht auf das elende Individuum hin, „das zu
Grunde geht, wie die eigennützig wuchernde Wissenschaft.“215
Phrasen zur Widerlegung „wissenschaftlicher“ Erkenntnisse
und Studien

„Wir können auf Arbeiten anderer Forscher zurückgreifen, die
sich mit den gleichen Daten beschäftigt haben und die zu ganz
anderen Schlussfolgerungen kommen. Ich gehe nicht davon aus,
dass durch diese neue Arbeit eine Umbewertung der Sachlage
erfolgen wird . . . “

„Die Studie wirft zur Zeit noch inhaltliche und methodische
Fragen auf. “

„Aufgrund des derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes
besteht momentan kein Handlungsbedarf.“
215
OKEN, 1809 in der Einleitung zu seiner Zoologie-Vorlesung.
113
Das Individuum als Spiegel der Gesellschaft
Was bedeutet der Begriff „Gesellschaft“ ?
Mit dieser Bezeichnung verbinden wir oftmals die Homogenität
breiter Bevölkerungsschichten, da wir häufig nur mit Menschen
Kontakte pflegen, die unserer eigenen „Schicht“ angehören. Es entspricht aber einer zunehmend mehr zu beobachtenden Tatsache, dass
„Gesellschaft“ „ . . . zugleich auch Ungeselligkeit, gegenseitige Abstoßung der Individuen“216 bedeutet. GASSET weist mit Recht darauf hin, dass auch Asoziale, Mörder, Diebe, Verräter, Gewaltverbrecher und Rechtsverdreher zur Gesellschaft gehören.
Unsere Welt befindet sich seit Jahren in einer schweren Krise, verbunden mit einem Umwandlungsprozess ungeheueren Ausmaßes.
Die Zunahme der technischen Möglichkeiten steht nach GEBSER in
einem „exakten Verhältnis zu der Abnahme des menschlichen Verantwortungsbewusstseins“.217
Wie sich dieses Verhältnis in unserem Erfahrungs- und Beobachtungsbereich ausdrückt, mögen die folgenden Punkte verdeutlichen.
Wenn die These stimmt, dass wir in einer spontan sich selbst organisierenden Welt leben, und sich diese Auffassung auf den Menschen,
die Gesellschaft und die gesamte Erde übertragen lässt, so sind die
Zusammenhänge zwischen Makrokosmos, Individuum und Mikrokosmos nicht mehr zu leugnen.
Bevor eine Bestandsaufnahme des heutigen Zustandes und der momentanen Entwicklung erfolgt, soll ein kurzer Rückblick auf die
Ansichten des französischen Nobelpreisträgers CARREL die Möglichkeit zu einem Vergleich mit früheren gesellschaftlichen Zuständen ermöglichen.
Der medizinische Nobelpreisträger schrieb die folgenden Worte im
Jahre 1949:
216
217
GASSET, 1961, S. 226
GEBSER, Ursprung und Gegenwart, 1992, S. 15
114
Die Krankheit der Zivilisation. Wie das Individuum von ihr
befallen wird.
„ . . . Die Symptome dieser Krankheit sind vielfältig verwickelt. Sie
äußern sich nacheinander im Individuum, in der Gesellschaft und in
der Rasse. Der Mensch fügte sich schlecht in die Bedingungen der
modernen Demokratie ein. Der geistige Bildungsstand entwickelte
sich nicht parallel mit den Fortschritten der Medizin, der Hygiene
und der Pädagogik. Die nervöse Widerstandskraft, die Fähigkeit zur
Anstrengung, sogar die Intelligenz haben sich irgendwie vermindert,
seitdem Unmäßigkeit, Unverantwortung und Sucht nach Komfort
üblich geworden sind. Die ungeheuren Summen, die in den Vereinigten Staaten für die öffentliche Erziehung verwendet wurden,
haben nicht das erhoffte Resultat gezeitigt. Wie das Nationale Komitee der geistigen Hygiene bekannt gibt, sind ungefähr 400 000 Kinder zu wenig intelligent, um dem Unterricht zu folgen. Die Analphabeten sind noch sehr zahlreich. Die berühmte, durch HERKES erfolgte Untersuchung im Jahre 1917, ergab, dass von den Offizieren
und Soldaten der amerikanischen Armee 46 Prozent geistig unter der
Stufe von Dreizehnjährigen standen.
. . . In . . . sind eine große Zahl von Arbeitslosen zu wenig intelligent, unwissend oder krank, um arbeitsfähig zu sein; ein Viertel von
ihnen ist völlig arbeitsunfähig . . . Die Verminderung der Intelligenz
und des Menschenverstandes scheint durch den Alkoholismus, die
Ausschweifungen in jeder Hinsicht und die Sittenlosigkeit verursacht
zu sein. Es gibt bestimmt eine Beziehung zwischen dem Alkoholismus einer Gesellschaft und deren intellektuellem Herabsinken . . .
Die widersinnige Zusammensetzung der Schulprogramme, Kino und
Radio tragen bestimmt ebenfalls zu dieser geistigen Krise in . . . bei
...
Zur selben Zeit kamen tiefe Störungen und eine Verminderung in
nicht intellektuellen, geistigen Tätigkeiten zum Vorschein. Das Gefühl wurde durch die Sucht nach Profit, Befriedigung der Bedürfnisse, Vergnügen ebenso tief beeinflusst wie die Intelligenz. Das Fehlen
jeder Moral, die Lüge, die Feigheit und die Unmäßigkeit bringen
nacheinander die Verwirrung der affektiven, intellektuellen und
organischen Funktionen mit sich . . . Aber kann die intellektuelle und
moralische Entwicklung der Minderheit die Dummheit und Verdorbenheit der Mehrheit aufwiegen? . . .
115
Der Optimismus ist eine verführerische Haltung. Es ist verlockend,
das Übel zu verneinen; denn das Übel verneinen, heißt dem Kampf
ausweichen. Durch den Optimismus entledigen wir uns der Anstrengung. Die Erkenntnis des Fehlers hingegen führt zur Handlung. Man
erhebt sich erst, wenn man bewusst ist, gefallen zu sein. Wir müssen
zugeben, dass wir uns nicht zu leiten verstanden . . . Diese Krankheit
kommt nicht zum ersten Mal in der Weltgeschichte vor. Sie zeigte
sich schon zu gewissen Zeiten bei allen großen Völkern des Altertums. Wie es der Dekan INGE ausdrückte, ist die Zivilisation unweigerlich eine verhängnisvolle Krankheit . . .“218
Der vorliegende Text bezieht sich zwar auf die Situation in Frankreich, kann jedoch ohne Weiteres auf die heutigen Verhältnisse in
vielen Ländern Europas und so auch auf Deutschland übertragen
werden.
Die moderne Demokratie ermöglicht ein großes Maß an Freiheit und
zugleich die Möglichkeit deren Missbrauchs. Beklagt wird eine verminderte Fähigkeit zur Anstrengung, abnehmende Intelligenz, Unverantwortung und Sucht nach Komfort, Analphabetentum, Alkoholismus und Sittenlosigkeit. Nur durch Anstrengung und Anerkennung von Tugenden können wir der „Zivilisationskrankheit“ entrinnen die unsere Gesellschaft heute zu zerstören droht.
Wir kommen nicht umhin, die Frage zu stellen, was heute vonnöten
ist, um dieser Krankheit der Zivilisation entgegenzuwirken. Die
Antworten ergeben sich zwangsläufig dem nachdenkenden Menschen, wenn er Schlüsse aus dem Zustand der heutigen Gesellschaft
zieht.
Nur eine radikale, kritische Rückbesinnung auf die wesentlichen
Tugenden könnte den Prozess des Untergangs – der allerdings schon
immer gesehen wurde – stoppen.219
Nur immense staatliche Investitionen in Bildung, Sport, Behinderteneinrichtungen, Erziehung und Resozialisierungsmaßnahmen können eine Entwicklung stoppen, die sonst zu einem gesellschaftlichen
Beben führen wird. Der Staat muss dies als seine Verpflichtung
betrachten, denn viele Familien sind aus unterschiedlichsten Grün218
Carrel, 1949, Geist und Psyche im Verlag Kindler erschienen
unter: Betrachtungen zur Lebensführung, S. 37 bis 39
219
Vgl. dazu: DREWERMANN, 2001
116
den nicht mehr in der Lage, grundsätzliche Erziehungspflichten
wahrzunehmen.
Das Geld zu solchen Maßnahmen fehlt jedoch. Offensichtlich wurden über einen langen Zeitraum falsche Schwerpunkte gesetzt.
LUTTWAK220 vertritt die Ansicht, dass der neue TurboKapitalismus gleich dem Sowjet-Kommunismus nur ein einziges
Modell anbietet. Unterschiedliche Gesellschaftsstrukturen, Kulturen
und Mentalitäten werden jedoch ignoriert. Eine Rückkehr der Armut
ist festzustellen. In den USA wuchs jedes fünfte Kind im Jahr 1996
in Armut auf. Den meisten Familien geht es schlechter als in den
70ger Jahren. Eine gute Ausbildung ist immer mehr von den finanziellen Verhältnissen der Eltern abhängig.
Immer mehr Wachstum spaltet die Bevölkerung in arm und reich
und erzeugt sozialen Sprengstoff, vor allem dann, wenn Jugendliche
und sozial ins Abseits geratene Eltern beginnen, Verantwortliche zu
suchen. Bei sich selbst werden sie zuletzt beginnen. Die zunehmende
Armut trägt zu einer Steigerung der Kriminalität bei. Die Gefängnisse in Amerika sind überfüllt. In Deutschland wurden Hunderte
von psychisch kranken Straftätern wegen Platzmangels aus den Gefängnissen entlassen.
Zugleich wurden 2,5 Milliarden Mark in den Bau für 10 000 neue
Haftplätze investiert.221 Wir sind auf dem besten Weg, den USA
auch in dieser Hinsicht zu folgen. Die „Amerikanisierung“ unserer
Gesellschaft nimmt schnell zu.
PFEFFER erklärt diesen Trend mit einer „veränderten Justizpraxis“
und nicht mit einer veränderten Kriminalitätslage. Ein zweiter Grund
sei die Tatsache, dass immer mehr Menschen eine Haftstrafe antreten
müssen, weil sie Geldstrafen nicht mehr bezahlen können.
Diese Tatsache belegt, dass Armut, die Arbeitslosigkeit und Orientierungslosigkeit zunehmen.
Weniger qualifizierte Jugendliche haben immer größere Probleme,
eine befriedigende Arbeit und Ausbildung zu finden. Inzwischen
fehlt jedem achten Jugendlichen ein Berufsabschluss; bei ausländischen Jugendlichen ist es jeder dritte.
220
Luttwak, 1999
SZ, 102, 2000, S. 1; PFEFFER ist Leiter des Kriminologischen
Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN).
221
117
Die Jugendlichen sind als Konsumenten gefragt und stehen unter
Konsumzwang, oftmals ohne gelernt zu haben, mit Geld umzugehen.
Es wird geschätzt, dass sie ca. 35 Milliarden Mark im Jahr zur Verfügung haben.
Die Heranwachsenden gehen länger zur Schule. Förderschulabschluss, Hauptschulabschluss oder mittlere Reife verlieren dadurch
an Wert. Waren 1960 noch 8,8% der Schulabgänger Gymnasiasten,
so sind es heute knapp 30%.
Der Staat besitzt eine Verpflichtung, für die Jugend zu sorgen, gerade deshalb, weil immer mehr Familienstrukturen zerbrechen.
Es bleibt nur die Hoffnung auf einen deutlichen „Werteruck“,
wodurch auch immer ausgelöst.
118
Die Gesellschaft der Unverbindlichkeit
Ehescheidungen
Alle im Folgenden geschilderten Fakten sind schwerwiegende Faktoren im Zusammenhang mit der gesunden Entwicklungsmöglichkeit
von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen und damit auch Faktoren,
die das Lernen schwerwiegend beeinträchtigen.
Im Jahre 1996 wurde bereits eine Steigerung der Ehescheidungen um
2% auf 169 400 in Deutschland gemeldet. Somit zerbrachen neun
von 1000 Ehen. In Westdeutschland wird inzwischen fast jede dritte
Ehe geschieden. In den neuen Bundesländern zeigten sich die Ehen
weitaus stabiler. 21 500 Scheidungen im Osten stehen 148 000
Scheidungen im Westen gegenüber. Interessanterweise ist die Zahl
der Scheidungen im Osten jedoch im Vergleich zum Zeitraum Mitte
der 70er bis Ende der 80er Jahre um die Hälfte gesunken.222
Die Zahl der Ehescheidungen befindet sich weiterhin ständig im
Steigen. So wurden im Jahre 1997 laut Angaben des Statistischen
Bundesamtes 187 802 Ehen geschieden. Gegenüber 1996 waren es
somit 12 252 (7%) mehr Ehescheidungen. Anders ausgedrückt zerbricht etwa statistisch gesehen jede 10. Ehe. Insgesamt waren nach
diesen Erhebungen 163 112 minderjährige Kinder von der Scheidung der Eltern betroffen. Im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung
von 10%. Auffällig ist die Tatsache, dass die Ehehscheidungen bei
Paaren mit minderjährigen Kindern im Vergleich zu Paaren ohne
Kinder um 8,7% zugenommen haben. In erster Linie stellen Ehefrauen den Antrag auf die Ehescheidung. Länger als neun Jahre hätten 52,9% der Ehen bestanden.223
Dass die Scheidungszahlen so stark zunehmen, wird von BIERHOFF
damit erklärt, dass heute im Vergleich zu früher aus unglücklichen
Beziehungen Konsequenzen gezogen werden. Er vertritt die Meinung, dass es Unglück in Beziehungen früher ebenso häufig gab wie
heutzutage.224
Ein relativ neues Phänomen ist die Tatsache, dass immer mehr langjährige Ehen in Deutschland geschieden werden.
222
SZ, 1996, Nr. 198, S. 10
SZ, 1998, Nr. 226, S. 14
224
BIERHOFF, Ruhr-Unversität Bochum in Münchner Merkur,
1998, Nr. 226, Weltspiegel
223
119
Das Scheidungsrisiko ist zwischen dem 20. und 30. Ehejahr mehr als
doppelt so hoch wie in den 70er Jahren.
Von Soziologen wird dies einerseits damit erklärt, dass Frauen zunehmend mehr im Berufsleben stehen und somit unabhängiger geworden sind, andererseits bildet auch die höhere Lebenserwartung
einen Faktor. Frauen wollen ihren Dienst in der Familie nur noch
zeitlich begrenzt leisten. WILLUTZKI stellt fest, dass bei den späten
Trennungen zu mehr als 80% die Scheidung von den Ehefrauen
eingereicht wird.225
Späte Scheidungen finden oft erst statt, wenn die Eltern der Ehepartner verstorben sind; vor allem dann, wenn sie vor dem Ehepartner
gewarnt hatten.
Die USA nehmen bezüglich der gesellschaftlichen, sozialen und
persönlichen Entwicklungen nur eine Vorreiterrolle ein. Alle derartigen Veränderungen zeigen sich auch bei uns mit einer Verzögerung
von etwa zehn Jahren. Ein Grund für die hohe Anzahl der Trennungen sei auch in der zunehmenden Berufsmobilität zu sehen, die sich
sehr nachteilig auf viele Beziehungen auswirke. Einen weiteren
Faktor stellten die berufstätigen, meist akademisch ausgebildeten
Frauen mit einer anspruchsvollen Tätigkeit dar. Zudem spielt die
Erwartungshaltung der Menschen eine immer bedeutendere Rolle.
Träten erwartete positive Gefühle in einer Partnerschaft nicht ein,
würde dies als schlechte Beziehung gewertet.
Im internationalen Vergleich liegen die deutschen Zahlen im Mittelfeld. Die USA nehmen die Spitzenposition in dieser Hinsicht ein;
dort wird inzwischen fast jede zweite Ehe geschieden.
KEUPP weist darauf hin, dass die Kleinfamilie als Keimzelle der
Gesellschaft dramatisch an Bedeutung verliert.226 Familien mit Vater, Mutter und zwei Kindern seien nur noch eine gesellschaftliche
Schrumpfgröße.
„Mit dem Ende der Arbeitsgesellschaft stiften Arbeitsverhältnisse
nicht mehr berufliche Identität . . . traditionelle geschlossene Lebensbedingungen werden zunehmend aufgebrochen . . . Wer bin ich
– darauf gibt es immer weniger eine Antwort“.
225
in SZ , 235, 1999, S. 2; WILLUTZKI ist Vorsitzender des
Deutschen Familiengerichtstages.
226
MM, 47, 2000, S. 1; KEUPP auf dem 13. Kongress für Klinische
Psychologie; er ist Psychologie-Professor in München.
120
Diese Entwicklung ist eine Erklärung für die weitgehende Entfremdung in unserer Gesellschaft.
Woran scheitern Ehen in Deutschland?227
Scheidungsgrund
Angaben
in %
Fehlende gemeinsame Zukunftsperspektiven
33
Wir haben uns auseinandergelebt
29
Wir hatten zu unterschiedliche Lebenseinstellungen 29
Fehlendes Vertrauen oder Einfühlungsvermögen
25
Wir konnten nicht miteinander reden
23
Er/sie hatte Gewohnheiten, die mich aufgeregt
22
haben
Unsere Beziehung war zu langweilig und zur
19
Routine geworden
Ich fühlte mich bevormundet oder eingeengt
18
Er/sie hatte jemand anderen kennen gelernt
18
Ich hatte Gewohnheiten, die sie/ihn aufgeregt haben 16
Eifersucht
15
Untreue
15
Probleme bei der Verbindung Beruf/Familie
13
Alkohol oder Drogen
12
Ich hatte einen neuen Partner kennen gelernt
11
Sexuelle Probleme
10
Finanzielle Probleme
7
Ich habe sie/ihn zu stark eingeengt
6
Körperliche Gewalt
3
Die Situation in Bayern stellt sich folgendermaßen dar:
Alleine in Bayern scheitern täglich etwa 70 Ehen. Im vergangenen
Jahr (1998) wurden insgesamt 26 533 Ehen geschieden. Damit ist im
Vergleich zum Jahr 1997 ein Zuwachs von 1,9% zu verzeichnen. In
227
Tabelle nach Vorlage in SZ Magazin Nr. 53, 1998, S. 26
121
53% der Scheidungsverfahren des Jahres 1998 waren insgesamt 21
880 minderjährige Kinder betroffen.228
Auch hier nimmt die Zahl der Scheidungen zu. So wurden 1997
insgesamt 26 126 Ehen getrennt. Im Jahr zuvor waren es 1770
(7,3%) weniger. Die Hälfte der geschiedenen Ehen wurde etwa nach
einem Jahr des Zusammenlebens geschieden. In 59% der Fälle reichten die Frauen den Antrag zur Scheidung ein.229
Im Jahr 1998 wurde ein neuer Höchststand bei den Ehescheidungen
erreicht. Das Statistische Bundesamt registrierte 192 438 Ehescheidungen und somit 4636 oder 2,5 % mehr als im Vorjahr. Von jeweils
1000 Ehen wurden zehn geschieden. Die Zahl der von Scheidungen
betroffenen Kinder sank hingegen um 2,3%. Ein besonderer Anstieg
der Scheidungen wurde in den neuen Ländern registriert.230
Das Statistikamt der Niederlande stellt fest, dass Scheidungskinder –
und hier in erster Linie die Buben – schlechtere Noten als der Durchschnitt der Schüler haben. Eine Studie stellte fest, dass 36% der
Scheidungskinder einen niedrigeren Schulabschluss erreicht haben
als Kinder, deren Eltern sich nicht getrennt hatten.231
In meiner Klasse (Schule zur individuellen Lernförderung) befinden
sich in diesem Schuljahr (1998/1999) aktuell in einer „Spezialklasse“
(Kinder, die in anderen Klassen nicht mehr tragbar waren) vier ausländische Buben und drei deutsche Buben. Die Eltern der vier ausländischen Kinder sind nicht geschieden. Zwei der deutschen Buben
leben entweder bei den Großeltern oder bei der Mutter.
Im Schuljahr 1999/2000 befinden sich momentan 15 Schüler/innen
in meiner Klasse. Von den zehn Buben lebt einer im Heim und vier
weitere zusammen mit einem Elternteil oder zum Teil häufig wechselnden neuen Partnern zusammen. Zwei Mädchen leben bei einer
allein erziehenden Mutter. Zwei weitere Schüler stammen aus äußerst schwierigen Familienverhältnissen (sieben Geschwister in einer
228
in SZ, 281, 1999, S. 62 laut Statisitschem Jahrbuch für Bayern
1999
229
Münchner Merkur, 1998, Nr. 80, S. 1
230
MM, 177, 1999, S. 1
231
Münchner Merkur, 1997, Nr. 8, 1
122
sehr kleinen Wohnung; Eltern Alkoholiker, drohende Verwahrlosung).
Kinder und somit auch die Lehrer – haben mit den Folgen einer
Scheidung ein soziales Problem:
FOOKEN232 weist darauf hin, dass durch Scheidungen und Wiederheirat die Familienbeziehungen immer komplexer werden. Bei den
neu entstehenden Verwandtschaftsverhältnissen existieren oftmals
weder „Namen noch Umgangsnormen“.
Der Kontakt zu Kindern und Enkelkindern geht verloren. So wachsen immer mehr Kinder ohne Großeltern auf. Durch die Zunahme
der späten Trennungen vergrößert sich das Heer der Scheidungswaisen. Diese beenden später die eigene Ehe ebenfalls wieder schneller
als Kinder aus Ehen, die länger gehalten haben.
Die Rolle der Väter
Zwischen 15 und 50% (je nach Studie) aller deutschen Väter haben
aus den verschiedensten Gründen ein Jahr nach einer Scheidung
keinen Kontakt mehr zu den Kindern. Einerseits liegen die Ursachen
dafür am Verhalten der Männer selbst (Hilflosigkeit, Verzweiflung
oder Desinteresse). Andererseits benachteiligt das deutsche Recht
Väter „systematisch“.233
Kinder haben bis zu ihrem 18. Lebensjahr Anspruch auf Unterhalt.
Werden Zahlungen durch den Vater verweigert, tritt das Jugendamt
dafür ein. So musste alleine in München im Jahr 1998 in 7678 Fällen
ein Unterhaltsvorschuss in Höhe von 17,2 Millionen Mark geleistet
werden. Bund und Freistaat müssen für diesen Betrag aufkommen.
Die Chance, das Geld wieder einzutreiben, liegt derzeit bei 19%.234
Immer mehr Jugendliche landen im Heim
In der Stadt Landsberg am Lech muss alleine für die Heimunterbringung von verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen eine
Summe von über 6 Millionen DM ausgegeben werden. Dazu addie232
in SZ, 235, 1999, S. 2; FOOKEN ist Professorin für Psychologie
in Gießen.
233
GEO, 1, 2001: Die Väter, S. 161
234
SZ, 235, 1999, L 2
123
ren sich 2,2 Millionen DM für teilstationäre Hilfen, Kosten für ambulante Angebote und Personalaufwendungen. Auch im benachbarten Landkreis Weilheim-Schongau befindet sich mindestens ein
derartiges Heim. Mit diesen Ausgaben liegt Landsberg unter den 71
bayerischen Landkreisen an sechster Stelle.235 Es ist unübersehbar,
dass die Zahlen in ganz Oberbayern in die Höhe schnellen. HARTL
führt folgende Gründe für die stark zunehmende Zahl überforderter
Eltern und verhaltensauffälliger Kinder an:




Die Konsumgesellschaft – Verschuldung von Jugendlichen
aufgrund ihrer Handysucht (teilweise fünfstellige Beträge)
Berufstätige Alleinerziehende, die mit den Erziehungsaufgaben
häufig überfordert sind. Die Folge:
Jungen sind häufig aggressiv und kriminell, haben Leistungsprobleme und Anpassungsschwierigkeiten.
Mädchen: Magersucht, Psychosen und ebenfalls aggressives
Verhalten.
Eltern, die ebenfalls im Heim aufgewachsen sind.
Erlebnisgesellschaft und Gesellschaft der „Konfetti-Generation“
(Opaschowski)
Wir leben in einem Zeitalter der Sensationen, das geprägt ist durch
die Oberflächlichkeit einer hemmungslosen Spaßkultur. Das für die
meisten Menschen Interessante spielt sich nur noch im Bereich der
Emotionen ab. Gerade auch viele Jugendliche sind ständig auf der
Lauer, ja nichts zu verpassen. Die Jagd nach Sensationen verschont
niemand. Im Jahre 1996 verbrachte ein/e deutsche/r Büger/in durchschnittlich 183 Minuten am Tag vor dem Fernseher. Bald jeder deutsche Haushalt kann im Durchschnitt 33 Fernsehprogramme empfangen. Kinder zwischen drei und 13 Jahren haben im Schnitt täglich 99
Minuten ferngesehen. Der Fernsehkonsum in Ostdeutschland liegt
mit sieben Minuten mehr pro Tag und Person deutlich höher als in
Westdeutschland. Für Deutschland ist eine sehr hohe Wettbewerbsdichte kennzeichnend.236
235
236
SZ, 8, 2001, L 8
SZ, 1997, Nr. 59, S. 26
124
Die Folge dieser Entwicklung ist das oftmals nur noch bruchstückhafte Wahrnehmen der umgebenden Wirklichkeit und das schnelle
Weiterspringen zum nächsten Ereignis.
WISEMAN untersuchte die Möglichkeit der Beurteilung des Wahrheitsgehaltes bei 41471 Rundfunkhörern, Zeitungslesern und Fernsehzuschauern. Durch die starken optischen Reize konnten die Zuschauer besonders gut irregeleitet werden. Zwei Interviews mit einem politischen Kommentator über dessen Lieblingsfilme sollten bei
der Studie beurteilt werden. Im ersten Interview wurde die Wahrheit
gesagt, im zweiten wurde bewusst mehrfach gelogen.
51,8% der Fernsehzuschauer, 64,2% der Zeitungsleser und 73,4%
der Radiohörer erkannten die Irreführungen. Durch die starke Inanspruchnahme des Zuschauers durch die optischen Reize ist dieser
weniger als die angeführten Vergleichsgruppen in der Lage, den
Wahrheitsgehalt des zu den Bildern gesprochenen Textes korrekt zu
beurteilen.237
OPASCHOWSKI weist darauf hin, dass die sozialen Auswirkungen
dieses Verhaltens erst Generationen später zum Tragen kommen.
Diese „Häppchenkultur“ ist Ursache dafür,
„ . . . dass sich diese Generation immer weniger konzentrieren
kann, immer nervöser und aggressiver wird . . . “238
Für 40% der 900 befragten Lehrer ist eine Zunahme von Gewaltbereitschaft und Verhaltensstörungen bei den Schülern auffällig. Dabei
wächst das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber diesen Auffälligkeiten. 68% der Befragten erklärten, dass die Schüler eine ausgesprochen materialistische Einstellung zeigten. 45% bemängelten das
fehlende politische Bewusstsein und das fehlende soziale Engagement. Religiosität sei nicht mehr bemerkbar.239
Gleichzeitig nimmt der Kult um Schönheit, Intelligenz und Erfolg
zu. Der zunehmenden Leistungsorienterung kann der „homo effizienz“ oftmals in seiner Funktion als „homo consumens“ nicht mehr
folgen.
237
In der Zeitschrift NATURE
SZ, 1997, Nr. 174, S. 44
239
Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, in SZ 1996,
Nr. 218, S. 5
238
125
Gerade die Kinder, die sich durch unser selektives Schulsystem in
einer Außenseiterrolle befinden, werden immer chancenloser, wenn
sie mit Erfolg am gesellschaftlichen Leben teilhaben wollen.
Nicht mehr Werte, ethische Grundsätze oder Moralvorstellungen
sind Leitbilder für die Mehrheit der Jugendlichen. Hollywood lässt
grüßen. Der unentwegte Wettbewerb unter Kindern nimmt ständig
zu. Es ist chic, „cool“ zu sein. Nicht nur in höheren Schichten, sondern auch im Getto von South Central oder in dem einer beliebigen
deutschen Kleinstadt. Cool bist du aber erst, wenn du etwas getan
hast, was keiner deiner Freunde getan hat. Die Schilderungen
GREENFIELDS sind inzwischen auch in Deutschland Wirklichkeit
geworden.240
DEVLIN und Mitarbeiter wiesen darauf hin, dass sowohl Umwelteinflüsse in der frühen Kindheit als auch das Erbgut die spätere Intelligenz des Kindes prägen. Die Umwelteinflüsse sind bereits vor der
Geburt im Mutterleib von entscheidender Bedeutung. Durch die
Untersuchungen wird die These gestützt, dass Umwelteinflüsse bei
der Entwicklung der Intelligenz eine bedeutende Rolle spielen.241
Die Möglichkeit der Kommunikation nimmt mit zunehmendem
Fernsehkonsum ab. Die Möglichkeit und die Zeit zum ungestörten
Lernen sind oftmals nicht mehr vorhanden.
Vielleicht hängt damit auch zum Teil das erschreckende Ausmaß des
Analphabetentums in Deutschland zusammen. So können ca. 15%
der Erwachsenen (4 Millionen Deutsche) in den alten Bundesländern
weder mehr lesen als einfache Überschriften noch mehr als ihre
Unterschrift schreiben. Dazu addiert sich noch eine unbekannte Zahl
vollständiger Analphabeten. 242
Die Möglichkeit der Erkenntnis wird durch die Jagd nach immer
kurzlebigeren Informationen zunehmend mehr verdrängt.
Die Jugendlichen sind mit Sicherheit ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Das jahrzehntelange Desinteresse für den eigenen Nachwuchs, die dringend notwendige, jedoch unbequeme und über lange
Zeit fehlende Auseinandersetzung mit Kindern und Jugendlichen,
das Abschaffen der Krankheit als notwendige Voraussetzung zur
240
Vgl. dazu: GREENFIELD, „Fast Forward: Growing Up in the
Shadow of Hollywood“, Verlag Alfred A. Knopf, New York
241
Nature, 1997, Bd. 388, S. 468, in SZ Nr. 180, S. 35
242
SZ, 1996, Nr. 136, S. 16
126
Akzeptanz natürlicher Grenzen, verbunden mit einer zunehmend
passiven Haltung haben dazu geführt, dass oberflächliche Betrachtungsweisen und Schuldzuschiebungen an der Tagesordnung sind.
Das in weiten Kreisen unserer Gesellschaft gepflegte „blame game“
(Schuld wird durch Tricks und Spielchen bei anderen gesucht, ohne
sich selbst dabei in Frage zu stellen) und die Leidenschaft, nur für
sich selbst zu leben, wird sich auf das Zusammenleben unserer
Nachkommen extrem negativ auswirken.
Dazu LASCH: „Für den Augenblick zu leben ist eine weit verbreitete Leidenschaft – für sich selbst zu leben, nicht für die Ahnen oder
die Nachkommen. Wir verlieren immer schneller das Gefühl für
geschichtliche Kontinuität, das Gefühl zu einer Folge von Generationen zu gehören, die ihren Ursprung in der Vergangenheit haben und
sich in die Zukunft erstrecken.“ 243
In der heutigen „Spaßgesellschaft“ – durch die Medien und den
Konsum ständig propagiert und gepflegt – haben nicht nur Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft, sondern auch „wichtige soziale
Motive wie Nächstenliebe und gesellschaftliche Verantwortung in
den letzten Jahren deutlich an Attraktivität verloren“.244 Es hat sich
in der heutigen Gesellschaft ein deutlicher Wertewandel vollzogen.
OPASCHOWSKI fordert: „Schafft die Spaßgesellschaft ab! Sonst
geht die soziale Lebensqualität in Deutschland verloren.“ Die Spaßgesellschaft ist nach Ansicht des Freizeitforschers als Reaktion auf
die Stressgesellschaft der vergangenen Jahre zu sehen. Bereits jetzt
zeichne sich aber wieder ein Rückgang der egoistischen Lust auf
Fun ab.



243
244
77% der insgesamt 2000 der 14- bis 29-jährigen befragten Jugendlichen sind der Ansicht, es mache keinen Spaß, sich gegenseitig zu helfen.
55% der Menschen ab 29 Jahren denkt beim Spaß erst einmal an
das eigene Vergnügen.
44% sind der Ansicht, dass das Zusammensein mit anderen mit
Spaß verbunden ist.
LASCH, 1978, S. 5
OPASCHOWSKI in MM, 85, 2001, S. 1 und 9 (Weltspiegel)
127
128
Ein geschichtlicher Rückblick
1. Die Jugend in Babylonien
Die etwa 3000 Jahre alte Inschrift auf einer babylonischen Tontafel
lautet:
„Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist
böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein, wie die
Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere
Kultur zu erhalten.“245
2. Platons Gedanken zur Jugend
Es ist mir bekannt und tröstet mich in gewisser Weise, dass bereits
Platon (427 bis 347 v. Chr.) vor über 2000 Jahren über Zustände des
menschlichen Zusammenlebens berichtet, die ebenso in der heutigen
Zeit gültig sein könnten:
„ . . . dass der Vater sich daran gewöhnt, seinem Kind ähnlich zu
werden und seine Söhne zu fürchten, der Sohn dem Vater gleichgestellt wird, dass man vor den Eltern weder Ehrfurcht noch Furcht
zeigt, damit man ja frei ist (563 A), dass der Zugereiste dem Stadtbürger gleichgestellt wird und ebenso der Ausländer . . . Der Lehrer
fürchtet bei solchen Verhältnisssen die Schüler und redet ihnen nach
dem Munde, die Schüler aber schauen auf die Lehrer herab wie auch
auf ihre Erzieher; und überhaupt spielen die Jungen sich als Erwachsene auf und rivalisieren mit ihnen in Worten und Taten; die Alten
lassen sich mit den Jungen ein, sprühen von Scherz und Liebenswürdigkeit, äffen die Jugendlichen nach, damit sie ja nicht griesgrämig
und autoritär wirken . . . “246
Also auch bereits vor so langer Zeit gab es Zustände, die Anlass zur
Beunruhigung gaben, Einstellungen und Arbeitshaltungen, die kritisiert und nicht verstanden wurden, weil sie den eigenen fremd waren.
245
WATZLAWIK/WEAKLAND/FISCH, 1997, S. 53
PLATON, Der Staat, in einer Übersetzung von SPANNAGEL,
Weilheim /Obb.
246
129
3. Melanchtons Gedanken zum Lernverhalten und
zur Arbeitshaltung der Jugendlichen
Auch Melanchton (1497 bis 1560), der als „Der Lehrer Deutschlands“ bezeichnet wird, beklagt die Bedingungen, mit denen er als
Lehrer zu leben hat. In seiner Schrift „De miseriis paedagogorum
oratio“ – Rede von den Leiden der Lehrer – beklagt er Zustände, die
auch in die heutige Zeit passen könnten.
„Sobald dem Lehrer der Knabe zum Unterricht und zur Aneignung
humanistischer Bildung und Tüchtigkeit übergeben wird, übernimmt
er ein hartes Geschäft, voll unglückseliger Mühe und Gefahr. Denn
für literarischen Unterricht scheint dieser eher nicht reif zu sein, da
ihn häusliche Schwäche verdorben und er das Böse nicht nur verstehen gelernt, sondern auch gekostet hat. Da bringt er denn nicht nur
keine Liebe zum Studium mit, sondern eher grimmigen Hass, Missachtung der Lehrer und die schlimmsten Gewohnheiten. Und mit
einem solchen Ungeheuer soll sich der Lehrer herumplagen. Während des Unterrichts gehen die Gedanken des Knaben spazieren, . . .
(153) . . . und wenn es gut geht, muss man das Gleiche sechshundertmal eindrillen, bis es in den widerwilligen Köpfen haftet. Man
braucht aber nur wegzusehen, und sogleich ist das auch noch so oft
Hergesagte verflogen. Soll das Gelernte wiedergegeben werden,
dann wird der Lehrer völlig zum Narren gehalten. Denn es macht
den Knaben in ihrem Ungehorsam besonders Spaß, sich etwas zu
erlauben, was den Lehrer in Aufregung versetzt und ihm zu schaffen
macht. Sollte jemand ein Kamel tanzen oder einen Esel geigen lehren, sicher würde man es für ein ganz besonderes Unglück halten,
eine so große Arbeit vergeblich leisten zu müssen. Und doch wäre
das noch erträglicher, als unsere heutige Jugend zu unterrichten.
Denn wenn man auch bei einem Kamel oder Esel nichts ausrichtet,
sie vermehren doch nicht die Mühsal durch Ungezogenheit. Aber
wenn uns diese artigen Buben müde gehetzt haben, wie frech benehmen sie sich gegen uns! Da gibt es welche, die sich nicht scheuen, den Lehrer öffentlich zu beschimpfen und ihn durch Gebärden zu
verhöhnen. Und solches Benehmen bringt man von zu Hause in die
Schule. Denn sie haben vorher die Eltern wenig respektvoller behandelt als jetzt die Lehrer.
Nach und nach werden solche üblen Gewohnheiten zur zweiten
Natur und lassen sich nie mehr ausrotten. Was heißt aber überhaupt
130
noch Unglück, wenn nicht das, in beständiger Sorge und Arbeit
vergeblich sich aufzureiben? Und dann noch zum Lohn dafür den
Buben zum Spaß und Spiel zu dienen? In der Unterwelt stellt man
den Sisyphus dar, wie er einen ungeheueren Stein den Berg hinaufwälzt, der, kaum droben, immer wieder herabstürzt und ins Meer
rollt, und man sagt, das bedeute, dass viele Menschen sich in vergeblicher Arbeit verzehren. Ich wäre der Meinung, ein leeres SichAbmühen könnte viel deutlicher ausgedrückt werden, wenn man
einen Lehrer mit einem Knaben darstellte, wie ich ihn eben geschildert habe. Weit größer ist die Arbeit des Lehrers als die des Sisyphus, aber höher bewertet wird sie nicht. Wenn jener seinen Stein
wälzt, so hat er eine einfache Arbeit, aber keine Sorgen, während die
Aufgabe des Lehrers viel lästiger ist.
Nie nimmt der Knabe ein Buch zur Hand, es sei denn, dass ihn der
Lehrer dazu nötigt. Und wenn er es nimmt, dann schweifen Augen
und Sinne in die Weite. Da bedarf es denn der Sporen, um an die
Pflicht zu erinnern. Der Lehrer trägt etwas vor, da beschleicht den
Weichling der Schlaf, und ungescheut schläft er auf beiden Ohren,
während sich der Lehrer müde spricht. So erhält der (154) Lehrer die
neue Aufgabe, den Schüler wach zu halten: Da wird das Diktierte
repetiert und der wach gemachte Jüngling soll aufpassen auf das,
was vorkommt, aber Hippoklides kümmert sich um nichts, seine
Gedanken sind fort in einer ganz andern Welt, in der Kneipe, beim
Würfelspiel, beim Treiben einer liederlichen Gesellschaft . . .
Fragst du daher am nächsten Tag nach dem, was durchgenommen
wurde, so ist es zu dem einen Ohr hinein- und zum andern hinausgegangen, nichts hat er behalten. Die Arbeit beginnt von vorne. Der
Lehrer hebt die alte Leier an, und nicht einmal nur hat er zu wiederholen, bis endlich in dem Klotz das eine oder andere Wort haften
bleibt. Wer hat wohl eine so harte Haut, sich über die Verschwendung so vieler Mühe nicht zu ärgern, zumal auch noch die Gesundheit dabei verlorengeht? Denn die Körperkräfte werden angegriffen
und schwinden nicht nur durch das fortwährende Reden, sondern
auch durch Sorgen, Aufregungen und Unwillen darüber, dass die
Fortschritte der Knaben so gar nicht der aufgewandten Mühe entsprechen. So bringt man über den Anfangsgründen Jahre hin. Aber
der Lehrer bilde sich nicht etwa ein, dass wir damit am Ende seien;
das war nur die Einleitung zum Trauerspiel, es kommt noch viel
schlimmer.
131
. . . (157) Doppelte Mühe kostet es, wenn man sie mit aller Gewalt
zum Arbeiten zwingen muß . . .(158) Dagegen sind nun unsere Schüler beim Lernen von einer schimpflichen Kälte, sie werden auf keine
Weise warm, sie wollen getrieben sein wie das liebe Vieh.
Lob oder Scham können ihnen nichts anhaben, während doch die
Scham der menschlichen Natur eingepflanzt ist. Was soll man von
unseren Knaben sagen, die sich so gar nicht der Unwissenheit schämen? . . .“247
247
SCHWAB,1997, S. 152 bis 158
132
Die Gewaltgesellschaft
Jährlich werden nach BERGMANN248 etwa 150 000 Kinder unter 15
Jahren jährlich von ihren Eltern körperlich misshandelt.
Umfragen ergaben folgendes Bild:
 80% der Kinder gaben an, von ihren Eltern geohrfeigt zu werden.
 30% bekommen von Zeit zu Zeit eine Tracht Prügel.
 60% der befragten Eltern gaben an, gelegentlich Gewalt gegen
ihre Kinder anzuwenden.
Untersuchungen ergaben, dass Kinder, die geschlagen werden, dreimal häufiger zu Gewaltanwendung neigen als Altersgenossen, die
ohne körperliche Strafen erzogen werden. In Schweden ist jede Körperstrafe in der Erziehung seit 1979 verboten.
GRITZ: „80% aller misshandelten Kinder werden später ihre
eigenen Kinder wieder misshandeln.“249
Neueste Schätzungen gehen davon aus, dass 5 bis 10 % der Kinder
in Deutschland misshandelt oder missbraucht werden, wobei mehr
als 20% der misshandelten Kinder unter bleibenden Schäden zu
leiden haben. Andere Berichte gehen davon aus, dass 1,3 Millionen
Kinder und Jugendliche körperlich misshandelt werden.
Etwa 420 000 dieser Gruppe hätten bereits als Säuglinge oder Kleinkinder Gewalt häufiger erlebt. In der gleichen Größenordnung tritt
noch psychische Gewalt in Form von elterlicher Ablehnung oder
Vernachlässigung. 250
Gewalterfahrung ist keine Frage des Ortes oder der Zeit mehr. Gewalt ist alltäglich und allnächtlich, Gewalt ist überall zu beobachten
und allgegenwärtig.
So ist in Kanada laut einer Befragung von etwa 10 000 zufällig ausgewählten Einwohnern der Provinz Ontario im Alter zwischen 15
und 65 Jahren jedes dritte Kind sexueller oder körperlicher Gewalt
248
SZ, 217, 2000, S. 6; Christine BERGMANN ist Familienministerin der BRD.
249
MM, 69, 2000, S. 1; GRITZ ist Präsident des Berufsverbandes der
Kinder- und Jugendärzte e.V. Deutschlands.
250
SZ, 68, 2000, S. 16; Veröffentlichung des Bundesfamilienministeriums
133
ausgesetzt. Die aus einer Studie von Selbstauskünften gewonnenen
Ergebnisse beruhen nicht auf einer Kriminalstatistik.
Männer scheinen sich mehr als Frauen (31% zu 21%) an die Erfahrung körperlicher Gewalt in ihrer Kindheit zu erinnern. Etwa jede/r
Zehnte der Befragten mussten, unabhängig vom Geschlecht, schwere
Misshandlungen ertragen. Die Eltern waren dabei in den meisten
Fällen die Täter.
Sexueller Missbrauch wurde bei Frauen dreimal so häufig ausgeübt
wie bei Männern (13% zu 4%). Hier waren nicht die Eltern, sondern
oft Verwandte oder andere Erwachsenen die Täter.
Die Untersuchung stellte noch folgende Zusammenhänge zwischen
Häufigkeit von Kindesmisshandlungen und dem Einkommen sowie
dem Bildungsstand und Wohnort fest:
Die Männer, die in ihrer Kindheit misshandelt worden waren, lebten
häufiger in Familien mit niedrigem sozialen Status, während bei
Frauen Misshandlungen in allen Schichten vorkamen. In kleinen
Ortschaften mit weniger als 3000 Einwohnern wurden häufiger
Frauen missbraucht als Männer. 251
Auch in Bayern ist inzwischen jedes zehnte Opfer von Gewalttaten
ein Kind. Im Jahre 1997 wurden 883 Jungen und 394 Mädchen Opfer von Gewalttaten. Mehr als ein Drittel aller Delikte fallen den
Rubriken Misshandlung und sexueller Missbrauch zu.
Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass in Bayern etwa 300 000
Kinder am Rande des Existenzminimums leben.252
Obwohl immer mehr Kinder straffällig werden, sehen Wissenschaftler des Deutschen Jugendinstitutes wie HOLTHUSEN253 keinen
Grund zur Panik, da Eigentumsdelikte unter Jugendlichen weit verbreitet seien.
REGENSBURGER stellte eine Statistik zu diesem Thema vor:
Jeder vierte Strafverdächtige ist in Bayern jünger als 21 Jahre. Im 1.
Halbjahr 1999 wurden 6,3% mehr Kinder polizeilich registriert als
251
SZ, 197, 1997, S. 20
Münchner Merkur, 216, 1998, S. 1
253
SZ, 185, 1999, L 8; HOLTHUSEN ist Mitarbeiter des Deutschen
Jugendinstitutes im Bereich der Kinder- und kriminalitätsprävention;
REGENSBURGER ist Staatssekretär im Innenministerium;
KREIENBAUM ist Chef der Polizeidirektion Fürstenfeldbruck bei
München.
252
134
im Vorjahreszeitraum. Insgesamt erhielten in Bayern 9030 Kinder
bis zu 14 Jahren eine Anzeige.
Delikt
Körperverletzungen
Diebstähle
Zunahme
6,7%
3,7% bis 5,7%
je nach Alter
Abnahme
---
KREIENBAUM zum Problem jugendlicher Gewalttaten im Bereich
Fürstenfeldbruck, Starnberg, Dachau und Landsberg:
„Jede zweite bis dritte Gewalttat wird von Jugendlichen verübt, . . .
wir müssen endlich offen darüber reden.“ zudem beklagt er, dass aus
dem schulischen Bereich fast keine Taten zur Anzeige gebracht
werden. Die Polizei habe ohne Mithilfe der gesellschaftlichen Gruppen kaum Chancen, das Problem zu lösen.
Ich selbst weiß aus meiner schulischen Erfahrung in den letzten
Jahren, dass sehr häufig auf eine Anzeige verzichtet wird, weil die
Schüler noch nicht strafmündig, also unter 14 Jahren alt sind. Wird
die Polizei dennoch eingeschaltet, so ist sie oftmals selbst nicht in
der Lage, die Wahrheit herauszufinden, obwohl mit sehr großem
Zeitaufwand die Vernehmungen vorgenommen werden. Ein Richter
bezeichnete die entsprechenden Vorfälle an den Schulen als „pädagogisches Problem“. Auch die Angst mancher Schulleiter um den
Ruf der Schule, ist ein Hindernis, die Polizei einzuschalten.
Die besondere Problematik besteht darin, dass viele Schüler Gewalt
oftmals über lange Zeit „gelernt“ und erfahren haben. Sie wurden
selbst misshandelt und geschlagen, sie haben erlebt, dass damit Probleme vordergründig gelöst wurden.
Wie soll ein Lehrer handeln, der weiß, dass ein Schüler, der auf
Ermahnungen, Gespräche und Strafen nicht reagiert, zu Hause misshandelt wird, wenn eine Schulstrafe ausgesprochen wird?
Das Einschalten des Jugendamtes oder eine Heimeinweisung dauern
oft zu lange; Schulverbote zeigen nur geringe Wirkung. Wenige
Schüler terrorisieren oft diejenigen in der Klasse, die lernen wollen
und denen sich durch eine entsprechende Förderung Chancen eröffnen könnten.
Es kristallisiert sich in unserer Gesellschaft immer mehr heraus, dass
eine oftmals kriminelle und asoziale Minderheit durch ihr Verhalten
die redliche Mehrheit nahezu handlungsunfähig macht.
135
Nach meiner Erfahrung besteht die einzige Möglichkeit darin, konsequent mit Polizei, Kinderhort, Psychologen, Neurologen, Kinderärzten und Jugendamt zusammenzuarbeiten. Dabei ist es notwendig,
nach kooperativen „Mitstreitern“ zu suchen. Durch eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen ist es möglich, die
Kinder aus ihrer oftmals kriminellen Anonymität herauszuholen. Sie
bekommen dadurch die Chance zu erkennen, dass es viele Menschen
gibt, die ihnen zum jetzigen Zeitpunkt noch helfen wollen, wenn sie
selbst dazu bereit sind.
Andernfalls muss ihnen die Wirksamkeit des Gesetzes klar vor Augen geführt werden. Die Jugendlichen verlangen nach dieser Klarheit
und erwarten sie.
Ich selbst habe nach über 20 Dienstjahren an bayerischen Grund-,
Haupt- und Sonderschulen zum ersten Mal einen 16-jährigen Schüler
wegen Beleidigung angezeigt. Unmittelbar nach dieser Anzeige hatte
ich mehrere erfolgreiche und konstruktive Gespräche mit diesem
Jungen. Seitdem befolgt er meine Anweisungen.
In München wurden folgende Daten zu Gewaltdelikten für das erste
Halbjahr 1999 vorgelegt254:
Delikt
Straftaten, allgemein
Gewaltkriminalität
Gewalt bei Minderjährigen
Gewalt bei 18- bis
21-Jährigen
Schwere Körperverletzung
Jugenddtypische
Gewaltdelikte (Gruppen)
Vergewaltigung
Sexuelle Nötigung
Gewalt in der Ehe
Straßenkriminalität
Drogendelikte
254
Zunahme
Abnahme
3,9%
6,9%
7,5%
10,1%
29,9%
15,3
55,3%
74,2%
Von 9
auf 26
Fälle
13,6%
46,8%
SZ, 186, 1999, S. 34; KOLLER ist Polizeipräsident in München.
136
Zu den jugendtypischen Gewaltdelikten, verübt von mehreren Tätern, zählen unter anderem: Raubüberfall, Sachbeschädigung, Vandalismus und Graffiti. Vor allem bei der Gewaltkriminalität sind
Ausländer mit 48,9% (nach KOLLER) „stark überrepräsentiert“.
Nach einem vorübergehenden Rückgang der Gewaltkriminalität in
den vergangenen Jahren ist nun ein deutlicher Anstieg um 9,4% auf
1729 Fälle zu verzeichnen. Drei Gründe werden dafür von der Polizei genannt:
 Der „Mehmet“-Effekt sei verpufft (nach der Abschiebung des
türkischen Serienstraftäters verübten ausländische Jugendliche
bemerkbar weniger Straftaten)
 die gestiegene Sensibilisierung der Opfer
 die wachsende Anzahl der Mobiltelefone.
Nach Ansicht der Polizei hat sich das Dunkelfeld aufgehellt. Bei der
Gewaltkriminalität stieg der Anteil der Kinder um ca. 25%.255 Mobiltelefone entwickeln sich immer mehr wegen ihrer „Statussymbolfunktion“ zu begehrten Raubobjekten. Statistisch gesehen werden in
München jeden Tag etwa 290 Straftaten begangen.
Die Familie als ein Ort der Gewalt ist nach Ansicht von Kriminologen als Hauptursache dafür anzusehen, dass sich jugendliche Gewalt- und Straftäter so rasch ausbreiten. Das ergab eine Befragung
von 9700 Schüler/innen. Für die meisten Kinder ist die Familie „der
wirkliche Ort der Gewalt“.256 So wurden 15,9% der in den neunten
Klassen befragten Schüler in den Städten Hamburg, Hannover,
Leipzig und Stuttgart von ihren Eltern „massivst geprügelt oder
misshandelt . . . Die schlimmsten Raten von innerfamiliärer Gewalt
sind bei jungen Türken festzustellen. 18,8% wurden im letzten Jahr
misshandelt und etwa 31% haben beobachtet, dass ihre Eltern sich
prügeln.“
Im Gegensatz dazu liege die Misshandlungsrate bei deutschen Familien bei 5,8%.
255
SZ, 179, 2000, M 53
Äußerungen von Christian Pfeiffer, 24. Deutscher
Jugendgerichtstag
256
137
Gewalt gegen Frauen und in den Familien
Jede vierte Frau in Deutschland wir mindestens einmal im Leben
Opfer physischer oder sexueller Gewalt durch den Partner. In 25 bis
30% aller Partnerschaften werde Gewalt gegen Frauen ausgeübt.
Abende, Wochenenden und Feiertage sind die gefährlichsten Zeiten
für Frauen.257
BERGMANN vertritt die Ansicht, dass jede dritte Frau in Deutschland zu Hause von Gewalt betroffen ist; jede siebte Frau ist bereits
einmal in ihrem Leben ein Opfer sexueller Gewalt geworden.258
In Deutschland werden jährlich 16 000 Fälle von Kindesmissbrauch
registriert, wobei die Dunkelziffer von Experten weitaus höher eingeschätzt wird.259
Von 1991 bis 1994 verzeichnete der ASD bei Gewalthandlungen
einen Anstieg um 34%, bei grober Vernachlässigung lebenswichtiger
Bedürfnisse eine Zunahm von 54% und bei sexuellem Missbrauch
um 39%. Im Jahr 1994 waren von diesen Formen der Gewalt insgesamt 2074 Kinder und 932 Erwachsene betroffen.260
Im Jahr 1996 wird darüber berichtet, dass sich die Anzahl der misshandelten Kinder in München verdoppelt hat. So erfuhr der Allgemeine Sozialdienst (ASD) im Jahr 1995 von 2000 Kindern und Jugendlichen, die vernachlässigt oder misshandelt wurden.
Die betroffenen Mädchen spielen nach Erfahrungen des ASD häufig
eine heile Welt vor, um die Eltern vor den Folgen zu schützen, während die Buben öfter zur Aggressivität tendieren.
334 Kinder und Jugendliche wurden vom ASD in München in Obhut
genommen.
Es gilt inzwischen als bewiesen, dass Gewalt gegen Kinder gewalttätige Jugendliche und Erwachsene hervorbringt.
Im ersten Halbjahr 1996 war bereits mehr als jeder dritte Verdächtige bei einer Gewalttat unter 21 Jahren alt. Damit war innerhalb eines
Jahres ein Anstieg von 30 auf 36% zu verzeichnen.
257
MM, 252, 1998, Oberbayern
MM, 279, S. 1, Bundesfamilienministerin Christine Bergmann in
Berlin
259
Schongauer Nachrichten , 213, 1998, Jugendseite
260
SZ, 162, 1996, S. 33
258
138
Bei den jugenddtypischen Gewaltdelikten wurde ein Anstieg um
44% verzeichnet.261
WIDOM beobachtete 908 misshandelte Kinder über einen Zeitraum
von 20 Jahren. Dabei wurde festgestellt, dass die am häufigsten
verprügelten Kinder zugleich die gewalttätigsten Jugendlichen wurden. Mangelnde Fürsorge in der frühen Kindheit hatte im Vergleich
zu anderen Gleichaltrigen 50% mehr Gewalttaten zur Folge. Bei
körperlicher Misshandlung verdoppelte sich die Zahl.
Auch TREMBLAY beobachtete die Entwicklung von 1037 Kindern
über einen Zeitraum von 10 Jahren hinweg und bestätigte diese Zusammenhänge. FERRIS leitete folgende Erkenntnisse aus seinen
Tierversuchen zur Aggression ab: Im Gehirn der Tiere (Hamster)
wurden in den Schaltkreisen für zwei nervenleitende Substanzen –
Vasopressin und Serotonin – auffallende Störungen festgestellt.
Vasopressin gilt als der Stoff, der bei Hamstern aggressive Impulse
erzeugt, Serotonin wird die Fähigkeit zugeschrieben, diese zu unterdrücken.
Die geringe Reaktion auf Serotonin scheint nach COCCARO auch
typisch für leicht gewalttätige Menschen zu sein. Frühe Misshandlungen hinterlassen nach Meinung der Forscher somit chemische
Spuren im Gehirn, die offenbar dafür verantwortlich sind, dass Aggressionen und Gewaltausbrüche in gehäuftem Maße auftreten.262
Bestätigt wird diese These durch psychologische Untersuchungen
des wegen 140-fachen Kindesmordes festgenommenen Kolumbianers Garavito Cubillos. Hier wurde festgestellt, dass er in Folge der
Misshandlungen in seiner eigenen Kindheit ernstlich geistesgestört
ist.263
Die wachsende Gewalt in Familien zeigt sich auch in Deutschland.
So wird in jeder dritten Lebensgemeinschaft geprügelt, wobei die
Opfer vor allem Frauen und Kinder sind. Als Folgen zeigen sich
zusätzlich körperliche und seelische Verletzungen, langfristige
Angstzustände und teils panische Angst vor AIDS und unerwünschten Schwangerschaften. Häufige Ursache für diese Gewaltausbrüche
261
Münchner Merkur, 184, 1996, S. 1
Diese Thesen wurden auf der Konferenz der New Yorker Akademie der Wissenschaften im Jahre 1995(?) geäüßert.
263
SZ, 253, 1999, S. 15
262
139
seine die Arbeitslosigkeit, „ungleiche Ressourcenverteilung von
Lebenschancen und asymmetrische Machtverhältnisse“ in der Gesellschaft.264
264
MEIER, Familienwissenschaftlerin, Vorsitzende des Pro-FamiliaBundesverbandes, Mai 1997, auf einer Fachtagung in Potsdam
140
Ergebnisse der deutschen Kriminalstatistik 265
Jahr
Art der Gewalt
Anzahl der beFolgen
troffenen Kinder /
Frauen
Alter
Kindesmisshandlungen
(geschätzt von der unabhängigen Regierungskommission zur Ver40% der Kinder hinderung und Bekämpjünger als 6 Jahre fung von Gewalt)
1995
Körperliche Gewalt
229
Todesfolge
unter 14
1995
Gefährliche und schwe6165
re Körperverletzung
1995
Vorsätzliche Körperver16637
letzung leichterer Art
unter 14
1995
Sexueller Missbrauch
5053 Jungen
15 612 Mädchen Das Ausmaß lässt sich
auch dadurch erklären,
dass jede dritte bis
vierte Frau in ihrer
Kindheit wenigstens
einmal sexuell missbraucht wurde.
Zu 95% waren Männer
aus der engsten Familie
und dem sozialen Nahbereich die Täter.
Erläuterungen
1989
20 000 bis
40 000
265
Auch wenn die
Aktivitäten nicht
ausdrücklich gegen
den Willen des
Kindes und ohne
Anwendung von
Gewalt ausgeübt
wurden
Report Naturheilkunde, 1bis 2, 2000; Triltsch Verlag Düsseldorf;
48 ff.; Quelle: Gesundheitsbericht für Deutschland 1998
141
1993
In 80% aller
Familien
Körperliche Gewalt
Demütigungen, psychische Erniedrigungen,
körperliche MisshandFrauen und Kin- lungen, sexuelle Überder
griffe mit Missbrauch,
Nötigung, Vergewaltigung
Jahrelange Störung des
Lebensvollzuges
Ältere Menschen Gewalt gegen ältere
Menschen
1991
340 000
230 000
50 000
90 000
Keine Angabe
75% aller Befragten
Zwischen 16 und
59
44% der Jugendlichen
31% der Jugendlichen
10% der Jugendlichen
Gewalt durch nahestehende
Personen
Vernachlässigung oder
Medikamentenmissbrauch
Ständige Beschimpfungen
Diebstahl, Unterschlagung oder erzwungene
Eigentumsübertragung
Physische Gewaltanwendung durch die
Eltern in der Kindheit
Gewalterfahrungen
werden von den
betroffenen Frauen
oft als individuelles und selbstverschuldetes Leid
gewertet
Das Ausmaß ist
sehr schwer abzuschätzen
Erhebung des
Kriminologischen
Forschungsinstitutes
Niedersachsen
Deftige Ohrfeigen
Eine Tracht Prügel
Schläge mit Stock oder
Gürtel
Schläge sind nach
bundesdeutscher
Rechtsprechung
nicht grundsätzlich
verboten
142
Zu den Täterprofilen:
Die Täterschaft setzt sich vorwiegend aus erwachsenen Männern
zusammen. Zu einem Drittel sind Frauen beteiligt. Die Gewalt gegen
Kinder ist vorwiegend in Familien mit belastenden sozioökonomischen Lebensumständen zu beobachten.
Ein großer Teil der misshandelnden Eltern leiden unter Alkoholismus oder wurden als Kinder selbst misshandelt. Wurden Mädchen
selbst früher mit Gewalt konfrontiert, so besteht für sie ein größeres
Risiko, als Frau selbst misshandelt zu werden.
Eine Untersuchung266 von 50 Gewalttätern über die Zusammenhänge
– Psyche der Täter, ihre Beziehung zu den Opfern (frühere weibliche
Intimpartner) und das Ausmaß der angewendeten Gewalt – lieferte
folgende Erkenntnisse:
20 waren frühere Intimpartner der Opfer
50
einer von fünf Verhafteten war geistesgestört
70% der ehemaligen
Liebhaber wurden wegen Mord/ Mordversuchs oder Körperverletzung angeklagt
18 waren Bekannte der Opfer
73% litten unter
psychischen Störungen
12 völlig Fremde
Ihre Annäherungen führten in 8 Fällen (27%)zu
schwerer körperlicher
Gewalt
Besonders misshandlungsgefährdet sind auch:



266
ehemalige Frühgeborene und untergewichtige Neugeborene
behinderte Kinder
Kinder mit abweichendem Aussehen.
Lancet, Bd. 355, 2000, S. 119
143
SCHULZ untersuchte die psychozozialen Begleitumstände bei 99
jugendlichen Tätern, die schwere Gewalttaten begangen hatten. Jeder
zweite jugendliche Gewalttäter wuchs der Studie nach in einer „disharmonischen“ Familie auf. In fast jedem dritten Fall war die elterliche Kontrolle unzureichend. In jeder vierten Familie war mindestens
ein Familienmitglied von einer psychischen Störung betroffen.
Für nur 17% der Täter waren psychische Belastungen außerhalb der
Familie negativ belastend. Kinder, die vor dem zehnten Lebensjahr
auffällig werden (durch gestörte Beziehungen zu Gleichaltrigen,
besondere Trotzigkeit und Aggressivität), entwickeln oftmals eine
antisoziale und gewaltbereite Persönlichkeit und sind außerdem
extrem alkohol- und suchtgefährdet.267
Die Zahl der gewaltsamen Todesfälle von Kindern liegt in den USA
besonders hoch. So hat sich die Mordrate bei amerikanischen Kindern unter 15 Jahren zwischen 1950 und 1993 verdreifacht. Der
Schusswaffengebrauch spielt dabei eine überragende Rolle. Auch die
Selbstmordrate stieg in dieser Zeit um das Vierfache. Als Ursachen
für diese Entwicklung werden eingeschränkte Sozialprogramme,
hohe Scheidungsraten, ökonomische Härtefälle bei gleichzeitiger
Akzeptanz von Gewalt angegeben.268
GRATZER bestätigt, dass an Grund- und Hauptschulen bis zu 40%
der Unterrichtsenergie der Lehrkräfte durch störende Schüleraktivitäten und Ermahnungen verlorengeht. Verantwortlich sind dafür seiner
Meinung nach zerbrochene Familien, beengte Wohnverhältnisse, der
erlebte Gegensatz von Überflussgesellschaft und Arbeitslosigkeit
oder aber Überforderungen in der Schule.269
Es ist auch eine Tatsache, dass immer mehr Kinder ihre Eltern schlagen. Ursache dafür ist nach Meinung von DUBOIS die soziale Isolation der Erwachsenen und die damit einhergehende enge Bindung an
das Kind, parallel zur Arbeitslosigkeit der Eltern. Von Japan ausge267
SCHULZ, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
der Universität Marburg auf dem 4. bundesweiten Kongress für
Jugendmedizin des Kinder- und Jugendärzteverbandes (BVKJD) in
Weimar, April 1998
268
Morbidity and Mortalitiy Weekly Report, 1997, Bd. 46, S. 101 in
SZ 48, 1997, S. 19
269
GRATZER, Schulleiter und Lehrbeauftragter der Universität
Regensburg, 1996, Vortrag in der Hardtschule Weilheim /Obb
144
hend sei dieses Problem Mitte der 80er Jahre auch in Deutschland
aufgetreten. Schwere Störungen entstehen oftmals im Säuglingsalter,
betont SCHMIDT.270
Erziehung zur Gewaltausübung
GROSSMAN271 prägte den Begriff „Killology“. Gemeint ist damit
die Wissenschaft der Ausbildungsmethoden bei Armeerekruten zur
Überwindung der natürlichen Hemmungen, ihre Artgenossen zu
töten und deren Auswirkungen auf die Psyche. Er nennt beunruhigende Beweise dafür, dass die gleichen Taktiken, die zur Ausbildung
von Soldaten benutzt werden, auch in unseren Medien und Videospielen zum Tragen kommen.
Brutalisierung, Desensibilisierung und klassische Konditionierung
werden in den Medien gezielt eingesetzt, um die natürliche Hemmschwelle der Menschen, und vor allem der Kinder systematisch zu
zerstören.
Konsequenzen für die Lehrkräfte
Nach ENZMANN272 belegen die jüngsten Ergebnisse einer groß
angelegten Studie (9700 Jugendliche aus ganz Deutschland wurden
dabei über ihre Gewalterfahrungen, Lebensstile, Ängste und Perspektiven befragt), dass die Jugendkriminalität in Deutschland weiter
zunimmt. Zwischen 1984 und 1997 sei demnach die Zahl der Straftaten Jugendlicher um mehr als 240% gestiegen.
„Dabei sind gut 6% der kriminellen Jugendlichen für fast drei Viertel
aller Straftaten verantwortlich.“
270
DUBOIS, Chefarzt der Klinik für Kinder u. Jugendpsychiatrie in
Stuttgart; SCHMIDT, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit,
Mannheim, Münchner Merkur, 115, 1997, S. 1
271
GROSSMAN ist Militärpsychologe; die folgenden Informationen
sind einem Script mit dem Titel: „Jugend und Gewalt“ entnommen;
Herausgeber: Jugend für Christus Deutschland e.V., Postfach 1180,
64355 Mühltal
272
MM, 202, 1999, S. 1; ENZMANN arbeitet am Kriminologischen
Forschungsinstitut Niedersachsen in Hannover.
145
Seit 1990 hat die Kinderkriminalität etwa um ein Drittel bundesweit
auf insgesamt 125 000 Delikte zugenommen. Kinder bis 14 Jahre
fielen jeweils zu 41% durch Diebstähle und Sachbeschädigung auf,
zu 18% durch Körperverletzung.
KRÜGER dazu: „Dies zeigt, dass die Kinderkriminalität ganz wesentlich eine Folge von Armut in der Gesellschaft ist.“ Durch massive Einsparungsmaßnahmen werde die Prävention in Form von Unterstützung kinderreicher Familien durch kulturelle Projekte und in
Form von Hilfen durch Sozialarbeiter auch an den Schulen verhindert. Die zunehmende Kriminalität an den Schulen sei auch bedingt
durch eine zu einseitig ausgerichtete Wissensvermittlung. Eine Verschärfung der Strafen und eine Herabsetzung der Strafmündigkeit bei
Jugendlichen biete keine Lösung für diese Problematik.273
Äußerungen zur Androhung oder Anwendung von Gewalt sollten
keinesfalls in irgendeiner Art befürwortet oder „überhört“ werden,
sondern klar verurteilt und im Wiederholungsfall durch Gespräche
mit den Eltern oder entsprechende, individuelle und wohlüberlegte
Schulstrafen geahndet werden. Ironische Gegenreaktionen auf Gewalt sind völlig fehl am Platz, da diese von den Kindern häufig
missverstanden oder aber wörtlich genommen werden. Auch „Wenndann“-Sätze sollten vermieden werden, denn sie beinhalten meist
eine Drohung und führen zur Niederlage des Kindes ebenso wie
Beleidigungen und Bloßstellungen. Hierbei werden Lehrer oftmals
auf eine harte Belastungsprobe gestellt. Wenn möglich sollte Wiedergutmachung statt einer Strafe möglich sein. Die Kinder haben auf
diese Weise die Möglichkeit, sich zu bessern. Der Weg der kleine
Schritte zeigt oft die meisten Erfolge.
Aus der Sicht des Lehrers ist es auch pädagogisch sinnvoll, sich zu
entschuldigen, wenn von seiner Seite Fehler gemacht wurden, oder
aber Strafen zurückzunehmen, wenn sich eine andere Situation nach
eingehender Untersuchung darstellt. Alte Vorfälle sollten nicht mit
neuen vermischt werden. Eine klare Trennung ist hier immer vonnöten. Das sorgfältige Führen eines Beobachtungsbogens für jeden
einzelnen Schüler ist auch zur Sicherheit des Lehrers unverzichtbar.
Wenn Gewalt an einer Schule vertuscht wird, um den Ruf der Schule
nicht zu schädigen, sind dieser Tür und Tor zur Weiterverbreitung
273
KRÜGER, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes, in: Neue
Osnabrücker Zeitung, März 1996
146
geöffnet. Der Autor selbst hat erlebt, dass an „seiner“ Schule der
Schulleiter von einem Schüler ins Gesicht geschlagen wurde, ohne
dass die Polizei eingeschaltet wurde. Nur durch eine konsequente
Zusammenarbeit der Schulen untereinander und auch mit der Polizei
kann die Situation entschärft werden.
Die Zusammenarbeit mit der Polizei ist inzwischen oft die einzige
Möglichkeit, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Zusätzlich
müssen besonders junge Kolleginnen und Kollegen dabei in ihrer
Arbeit durch ältere Kollegen, Schulleitung und Schulamt unterstützt
werden.
Das Gespräch mit Eltern ist von großer Wichtigkeit, um herauszufinden, ob etwa Profilneurosen der Eltern auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden und in der Folge Gewalt entsteht.
Gewaltmittel in der Schulkleidung sollten unter keinen Umständen
geduldet und grundsätzlich eingezogen werden.
BALSER/SCHREWE/WEGRICHT/SCHARF fanden bei einer Befragung von Lehrkräften heraus, dass 85% der Lehrkräfte der Meinung waren, dass sie alleine nicht mehr mit ihren Schülern zurecht
kommen. Das Auftreten von Gewalt in Schulen sei neben familiären
Problemen auch durch die mangelnde Kooperation der einzelnen
Beratungsstellen zu erklären. So waren viele Hilfsmaßnahmen aufgrund einer fehlenden Vernetzung zum Scheitern verurteilt. Im sogenannten LAHN-DILL-MODELL greifen verschiedene Instanzen –
sowohl schulintern als auch schulübergreifend – ineinander, um
„Reparaturarbeiten“ zu ermöglichen, bevor es zu schwerwiegenden
Schäden kommt. Dabei kommen eine intensive Lehrerfortbildung,
Konfliktlösungsangebote und auch Möglichkeiten zur Steigerung des
Selbstwertgefühls im Rahmen der schulischen Möglichkeiten, Elternfortbildungen und auch Studentenpatenschaften zur Anwendung.
Schulcafé oder Schul-Fahrradwerkstatt bieten gute Möglichkeiten für
gewaltfreie Begegnungen und die Möglichkeit, sich zu helfen und
sein Können unter Beweis zu stellen. Das Hauptrezept heißt: durch
Bewegung Gewalt vermeiden. Auch die gute Beziehung zur Polizei
gehört zum Programm. Besonders deutlich ist die Auffassung der
Autoren zu spüren, dass Gewaltprävention nicht unbedingt nur eine
147
Aufgabe des Staates ist. Gewaltprävention ist nur möglich in Zusammenarbeit aller Menschen, die mit Jugendlichen arbeiten.274
Auch Schüler/innen, die als Streitschlichter ausgebildet wurden,
können einen wichtigen Beitrag leisten, schulinterne Streitereien zu
bearbeiten. An der Hauptschule in Weiler/Allgäu wird nach folgendem Modell gearbeitet:275





Beide streitenden Parteien schildern den Vorfall aus ihrer Sicht.
Die jeweils andere Partei muss diese Version wiederholen – als
Zeichen, dass sie zugehört hat.
Innerhalb von 30 Sekunden muss dann eine Lösung für das
Problem aufgeschrieben werden.
Nach einer Einigung wird ein Vertrag aufgesetzt und unterschrieben.
Die Einhaltung wird in regelmäßigen Abständen überprüft.
Weitere Maßnahmen, die durch Lehrer gefördert werden sollten:






In Gesprächen die Eltern darauf hinweisen, wie wichtig das
„Nein-Sagen“ in der Erziehung ist
Zusammenarbeit mit Kinderhort, Mobilen Sonderpädagogischen Diensten und Schulpsychologen
Einheitliche Reaktionen der Lehrer bei der Pausenaufsicht
Unmittelbare Reaktionen bei Verstößen
Zusammenarbeit von Eltern, Lehrern, Polizei und Justiz
Eine feste Unterrichtsstunde zur Konfliktlösung täglich einplanen.
In einer achten Klasse der Führich-Hauptschule in München wurde
ein Projekt in Zusammenarbeit von Polizei, Jugendamt und Schule
erfolgreich abgeschlossen..276 Hierbei wurden Rollenspiele mit ho274
BALSER, SCHAAF, SCHREWE, WEGRICHT, 1997, Regionale
Gewaltprävention, Strategien und Erfahrungen und Schulprogramm
Gewaltprävention
275
Allgäuer Zeitung, 27, 2000, S. 12; RIED ist Beamter der Kemptener Polizeiinspektion.
276
SZ, 51, 2000, L 2
148
hem Konfliktpotenzial mit Beteiligung der Erwachsenen durchgeführt, wobei die Schüler in verschiedene Rollen schlüpften (Täter,
Opfer Außenstehende). Dabei wurden verschiedene Handlungsmöglichkeiten durchgespielt, um zu erfahren, wie in der konkreten Situation das Handeln für den Einzelnen richtig sein kann. Auch ein zweitägiger Besuch bei der Bereitschaftspolizei in Dachau war Bestandteil des Projektes. Die Schüler konnten hier wiederum in Rollenspielen etwas vom Leben, Denken und Handeln der Polizisten erfahren.
Selbst eine Bürgermeisterin spielte als Ladendiebin mit und wurde
von „Schülerpolizisten“ in Handschellen abgeführt.
Peer-Mediatoren (Streitschlichter) benötigen eine spezielle Ausbildung und wachsen mit der Ausübung ihrer Tätigkeit. Es geht immer
darum, einen von beiden Streitparteien akzeptierten Kompromiss zu
erzielen. Fundamentale Kenntnisse in der Gesprächsführung sind
ebenso Voraussetzung zur Lösung von Konflikten wie die Fähigkeit
zum genauen Zuhören. Auch die Stimmung des Gegenübers und
seine Körpersprache müssen verstanden oder intuitiv erfasst werden.
Peer-Mediatoren vermitteln den Jugendlichen vor allem das Gefühl
und die Erfahrung, dass sie selbst in der Lage sind, verantwortlich
mit Problemen umzugehen.
Bei ausländischen Jugendlichen ist zu beachten, dass in der alten
Heimat oftmals das Dorf die soziale Kontrollfunktion übernommen
hatte und sehr autoritäre Erziehungsstile vorherrschten. Eine relativ
kleine Gruppe von „Intensivtätern“ aus sehr desolaten Familienverhältnissen ist nach Ansicht von RIED das Hauptproblem. Der Anteil
tatverdächtiger Jugendlicher hat sich nach einer Statistik der Poizeidirektion Kempten von 1991 bis 1998 verfünffacht.
Inwieweit das selektive Schulwesen in Deutschland zur steigenden
Gewaltbereitschaft beiträgt, ist noch nicht endgültig geklärt. JUUL
dazu: „Sonderpädagogik ist unethisch.“277 Er fordert eine intensive
Supervision für Lehrer und vertritt zugleich die Auffassung, dass
Spezialisten als Forscher zwar wichtig seien, sich aber als Praktiker
hilflos erwiesen. „Die Überweisung von Menschen mit Problemen
an Spezialisten ist Zeit- und Geldverschwendung.“278 Gelingt es den
277
JUUL, 1992, Ein Apfel für den Lehrer und 1997, Das kompetente
Kind
278
JUUL in SZ, 222, 1998, VI
149
Lehrer/innen ihre starren Rollenmuster zu überwinden, dann erübrigt
sich in vielen Fällen die Sonderbehandlung von Schulkindern.
Eine Lösung vieler Probleme sei nur durch eine respektvolle, authentische und persönliche Kommunikation möglich. Eine Demokratie
kann es nicht dort geben, wo Abhängigkeitsstrukturen vorliegen, also
auch nicht innerhalb der Familie – und nicht in der Schule. Es gibt
für ihn somit keine Gleichheit, wohl aber eine gleiche Würde. Seine
Einrichtung demonstriert diese Haltung konkret. Die Mitarbeiter
können ihn als Direktor jederzeit loswerden, wenn sie sich einig
sind.
Die Gewaltbereitschaft ausländischer Jungen wird von TOPRAK
durch folgende Erkenntnisse besser verständlich:
Viele dieser Jugendlichen:







279
können den Zwiespalt zwischen Herkunft/Familie und Außenwelt nicht ausbalancieren. Dadurch entstehen psychische Probleme.
Sie haben diskriminierende Erfahrungen bei der Jobsuche oder
auch bei der Ausländerbehörde gemacht.
Ausländische Jungen werden oftmals anders erzogen und sozialisiert als die Mädchen; in der Familie sollen sie stark sein, nicht
nachgeben, Stärke zeigen.
Die Mädchen sollen nachgiebig, gehorsam, schweigsam und
ehrenhaft, also jungfräulich sein.
Die extrem männlich geprägte Identität ist bei ausländischen
Jungen stärker ausgeprägt als bei deutschen Jungen.
Ausländische Jungen wollen zwar gerne mit deutschen Mädchen
befreundet sein, es kommt jedoch selten zur Heirat, weil die
deutschen Mädchen durch wechselnde Freundschaften gleichsam als unehrenhaft angesehen werden.
90% der gewaltbereiten ausländischen Jungen, die bei TOPRAK
in München Anti-Aggressionskurse besuchen, haben weder eine
Schul- noch eine Berufsausbildung; bei der reichlich vorhandenen Freizeit sind Kontakte zu Drogenkreisen oder in der kriminellen Szene wahrscheinlich.279
SZ, 241, 1999, L 3; TOPRAK leitet Anti-Aggressionskurse für
türkische Jungen in München.
150
In den Kursen sind ausschließlich Jugendliche, die bereits einschlägige Erfahrungen mit der Justiz gemacht haben. Alle sind auf richterliche Anordnung da (§10/JGG). Das Konzept richtet sich nach den
Grundsätzen von WEIDNER und den Erfahrungen an der „GlenMills-Schools“ für gewalttätige Gang-Jugendliche in den USA.280
Ein Konzept gegen die Gewalt:281
Das Ziel der angebotenen Anti-Agressionskurse:




Die Sinnlosigkeit und die Manipulierbarkeit „übereilter“ Kämpfe soll begreiflich gemacht werden
Inszenierung von provozierenden Situationen durch sog. „Provokationstests“
Vermittlung der Grenzen von Selbstkontrolle, Erregbarkeit und
Aggressivität durch unangekündigte Provokationen während der
Gruppensitzungen
Ständige Wiederholungen der Provokationen, bis die Teilnehmer in der Lage sind, in angespannten Situationen mit Humor,
Abwiegeln oder Ironisieren zu reagieren und diese so zu entschärfen.
Beispiele:
Wenn jemand ein Käppi aufhat, wird es abgenommen und in die
Ecke geschmissen.
Wenn die Jungs sich weigern, irgendeines der vielen Rollenspiele
mitzumachen, werden sie „Memme“ genannt. Auch Äußerungen
wie: „Du bist ja kein richtiger Mann, du hast ja Angst!“ oder „Ihr
seid ja lauter Hosenscheißer“ gehören zum Repertoire.
Die Jugendlichen werden erst einmal „heruntergeholt“ und dann
wieder aufgebaut. Die zu Beginn starken Provokationen durch den
Kursleiter lassen allmählich nach, um zunehmend mehr eine normale
Kommunikation anzubahnen.
280
SZ, 151, 1999, L 3; WEIDNER ist Professor für Kriminologie in
Hamburg.
281
SZ, 151, 1999, L 3
151
Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen in Ostdeutschland
PFEIFFER sieht als wichtigste Ursache dafür und auch für die
Fremdenfeindlichkeit das Erziehungssystem der ehemaligen DDR
mit dem „Unterdrücken von Individualität, dem im Gleichschritt
denken und im Gleichschritt marschieren.“282.
Im Osten besteht eine 25mal höhere Wahrscheinlichkeit, dass Ausländer auf der Straße angefallen werden. Jugendarbeitslosigkeit und
Perspektivenmangel bieten alleine keine ausreichenden Erklärungen
für dieses Phänomen.
Eine Schülerbefragung in Stuttgart und Leipzig brachte die Erkenntnis, dass in Stuttgart 20% der jugendlichen Gewalttäter – im Gegensatz zu 50% in Leipzig – ihre Taten in Gruppen verübt haben.
Gewalt an Schulen
BÖTTGER/TILLMANN283 kommen 1996 unabhängig voneinander
zu dem Schluss, dass Gewalthandlungen nicht in dem Ausmaß vorkommen, wie sie oftmals dramatisiert in den Medien dargestellt
werden.
Immerhin werden 28% der an einer Studie beteiligten Schüler
mehrmals im Monat Zeugen einer ernsthaften Prügelei. Ca. 80% von
befragten Lehrkräften äußerten die subjektive Meinung, dass zwischen 1989 und 1993 die körperliche Gewalt angestiegen sei. Das
Klima an vielen Schulen wird als zunehmend aggressiver beschrieben.
In der1995 veröffentlichten Bochumer Studie „Gewalt in der Schule“
sahen knapp 60% der Eltern die Ursachen dafür in der „unzureichenden pädagogischen Lehrerausbildung“. Anfangs der 90er Jahre wurde noch der Autoritätsverzicht der 68er Generation für dieses Problem verantwortlich gemacht.
FUNK (Soziologe an der Universität Erlangen-Nürnberg) weist auf
den Erziehungsstil der Eltern als wesentliche Ursache für die Gewaltbereitschaft der Kinder hin. Autoritäres und aggressives Verhalten erzeuge diese wiederum zwangsläufig. Wissenschaftler der Universität Greifswald kommen aufgrund einer Studie zu dem Ergebnis,
282
SZ, 56, 1999, S. 2; PFEIFFER ist Direktor des Kriminologischen
Institus in Hannover.
283
SZ, 118, 1996, Beilage Aus- und Weiterbildung
152
dass hart strafende Eltern die Kinder aggressiv mache.284 Die Eltern
der 33 als aggressiv eingestuften Jugendlichen hätten


härter auch für kleine Sünden gestraft
sich emotional ablehnender verhalten
als die Eltern nicht aggressiver Heranwachsender. Der Anteil der
körperlich misshandelten Kinder war in der aggressiven Gruppe
doppelt so hoch wie in der Kontrollgruppe mit nicht aggressiven
Jugendlichen. Knapp 80% der aggressiven Teenager stammten aus
Trennungsfamilien. In der Kontrollgruppe waren es nur 40% der
Jugendlichen.
Erst nach dem Mord an einer Lehrerin in Meißen während des Unterrichts häufen sich die Berichte über Gewalt an Schulen. Die
Angst, mit diesem Thema an die Öffentlichkeit zu treten, nimmt ab.
SCHILLINGER285 weist darauf hin, dass keine Statistik darüber
geführt wird, wie oft Lehrer bedroht oder geschlagen werden. So
wurden im Dezember 1999 der Polizei drei Fälle alleine in München
mitgeteilt. Fälle von Gewalt gegen Lehrer/innen waren der Öffentlichkeit meist nur aus der Presse oder aus Amerika bekannt. Lehrer
sollten sich immer dann, wenn ein Schüler handgreiflich geworden
ist, an die Polizei wenden, da die Schule kaum Sanktionsmöglichkeiten besitzt.
„Sie kann Einzelgespräche führen oder ein Schulverbot für ein, zwei
Wochen verhängen. Das ist in den Augen der Betroffenen ja nicht
die ganz große Strafe. Schlimmstenfalls wird der Jugendliche zur
nächsten Schule weitergeschoben . . . Wenn die Polizei kommt, dann
macht das in der Regel schon Eindruck auf Jugendliche. Vor allem,
wenn wir schnell hinzugezogen werden und nicht erst ein halbes Jahr
später zufällig darauf stoßen, dass da etwas vorgefallen ist. Meine
Erfahrung ist, dass die Strafverfolgung auch präventiven Charakter
hat . . . Es wäre schon hilfreich, wenn zunächst einmal die Waffengesetze verschärft würden . . . Und Messer sind erst ab einer Klin284
in Psychologie Heute, Weinheim; SZ, 135, 2000, S. 16
SZ, 15, 2000, L 1; SCHILLINGER ist Experte für Jugendgewalt
und stellvertretender Leiter des Komissariats für jugendtypische
Gewaltdelikte in München.
285
153
genlänge von 8,5 Zentimeter verboten. Die Industrie hat sich darauf
eingestellt. Sie produziert eben Klingen, die 8,4 Zentimeter lang
sind.“
Das vielschichtige Phänomen der Gewalt an Schulen überfordert
Einzelne. Nur durch eine Vernetzung von Stadtviertel und Schule
und eine entsprechende Schulsozialarbeit (Organisation von Mediatorenkursen) zusammen mit den Jugendbeamten der Polizeiinspektionen kann der Gewalt wirkungsvoll begegnet werden.
Im Jahr 1999 wurden in München knapp 900 Straftaten an Schulen
registriert. Es waren damit 80 Fälle mehr als im Vorjahr. So wurden
161 Roheitsdelikte gemeldet. Gestiegen ist die Anzahl der Körperverletzungen und Sachbeschädigungen. Raub-, Drogen- und Sexualdelikte bewegen sich laut Statistik auf niedrigerem Niveau, seit
Jahren immer im gleichen Rahmen.
Eine starke Zunahme sei vor allem im Bereich des „sozialen Mobbings“ zu verzeichnen.286
Besonders Mädchen drangsalieren nach Aussagen von Polizeibeamten und Lehrkräften an Münchens Schulen ihre Mitschüler. Die
Mädchen prügeln weniger, dafür tragen sie Psychokämpfe aus, unter
denen vor allem die jüngsten Schüler leiden. Fachleute betonten,
dass die psychische und verbale Gewalt besonders die seelische
Entwicklung der Schulanfänger bedrohe.287
Das aufrichtige Interesse und die aufrichtige Anteilnahme der Erwachsenen sind die wichtigsten Bedingungen zur Lösung vieler
Gewaltprobleme und vieler Verhaltensstörungen. Diese Haltung
erinnert auch die Axiome von TZI. Gerade in der Schule, speziell in
Förderschulen ist es außerordentlich wichtig, die Potenziale der
Gruppe zur Gewaltprävention zu nutzen. Die Humanistische Psychologie sollte bereits in der Lehrerbildung wesentlich stärker berücksichtigt werden.
Das Setzen von klaren Grenzen ist eine weitere Bedingung zur Verhinderung von Gewalt. Doch hier muss sich das Kollegium einig
sein, da sonst schnell eine Aufspaltung in die bösen und die guten
Lehrer erfolgt. Vor allem erfahrenere Lehrer haben hier die Pflicht,
jüngere Kollegen klar zu unterstützen! Es muss auch sehr jungen
286
287
SZ, 132, 2000, L 2
MM, 132, 2000, S. 1
154
Schüler/innen sehr deutlich klar gemacht werden, dass für Gewalt
kein Platz in der Schule ist. Kraftlosen, unerfahrenen, desinteressierten, entmutigten und ausgebrannten Lehrkräften fällt dies sehr
schwer.
Hilfsmaßnahmen nach LEUBEN288:










Familienstress möglichst früh erkennen.
Gespräche und entlastende Hilfen anbieten (Vermittlung einer
Familienhelferin, Vermittlung kostenloser Beratungsgespräche
bei z. B. kirchlichen Beratungsstellen oder dem Jugendamt).
Die Gesprächsangebote einfühlsam vorbringen, nicht mit dem
erhobenen Zeigefinger, sondern mit dem Signal, dass man die
Probleme der Familie versteht.
Aufgedrängte Angebote führen zu einer Erhöhung des sozialen
Stresses.
Zwangsweises Eingreifen, zum Beispiel durch das Jugendamt,
wenn die Angebote nicht angenommen werden und dennoch
massive Störungen auffallen.
Wirksame Hilfe ist nur dann möglich, wenn Kindergärten, Schulen, Jugendämter, Beratungsstellen, Ärzte Polizei und
Justiz künftig eng zusammenarbeiten; dabei müssen die ver
schiedenen Helfer ihre Unsicherheit und ihre Vorurteile im
Umgang miteinander überwinden lernen.
Hilfe statt Strafe im Jugendstrafrecht.
Forderung nach einem gesetzlich verankerten Recht der Kinder
auf eine Erziehung ohne psychische und physische Gewalt.
Information der Hauptmasse der Eltern, die meinen, gelegentliche Schläge seien nützlich.
Konflikte im Gespräch lösen – nicht mit Gewalt.
Alle oben angeführten Maßnahmen sind nach LEUBEN als langfristiges Projekt anzusehen; die Umsetzung wird ein bis zwei Generationen dauern.
288
SZ, 72, 2000, L 8; LEUBEN ist Familientherapeut und Vorsitzender des bayerischen Kinderschutzbundes.
155
Filmpädagogik
Das Konzept beruht darauf, den Schülern Filme zu zeigen, die Gewalt thematisieren, um die Jugendlichen davon abzuhalten, selbst
Gewalt auszuüben. Der Vorteil dieser Pädagogik ermöglicht es den
Jugendlichen, über eigene Probleme zu sprechen, ohne gleich von
sich selbst reden zu müssen. Im Anschluss an einen gezeigten Film
wird eine Analyse durchgeführt. Durch eine Diskussion wird gemeinsam nach Lösungs- und Präventionsmöglichkeiten gesucht.
Durch eine Zusammenarbeit mit den Jugendsachbearbeitern der
Polizei und die anschließende Nachbearbeitung im Unterricht sollen
die Erkenntnisse vertieft werden.
Filme wie „Das Baumhaus“ (über 12 Jahre), „Der Taschendieb“ (7
bis 11), „Trainspotting“ (ab 16) ermöglichen sicherlich eine interessante Art des Unterrichts. Kinobesitzer zeigen sich in der Regel
gerne bereit, Sondervorstellungen mit Preisermäßigung anzubieten.
Resümee:
Gewalt ist inzwischen ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Eine
gewaltfreie Schule und eine gewaltfreie Gesellschaft werden immer
illusionär sein. Nur durch das Miteinander- und Voneinander-Lernen
– welches niemals langweilig sein wird, wenn es Konflikte aufgreift
und als Lernstoff versteht, kann die Gewalt an Schulen reduziert
werden. Traditioneller Lernstoff muss immer mehr in den Hintergrund treten, da das Wissen sich immer schneller ändert. Es sollte
miteinander gelernt werden, sich Informationen zu beschaffen und
diese gemeinsam zu nutzen. Wenn die Schule nicht stellvertretend
für das Elternhaus diese Aufgabe übernimmt, wird die Gewalt zunehmen. Der Lehrer übernimmt dabei eine neue Rolle. Er wird zum
Moderator, muss aber gleichzeitig auch bereit sein, mit harten disziplinarischen Maßnahmen die Schwächeren zu schützen. „Üben“ muss
wieder geübt, „Lernen“ wieder gelernt werden.
Schulverbot und Entfernung aus der Schule kann eines von vielen
Mitteln sein, die helfen können, einen möglichst störungsfreien Unterricht zu gewährleisten. Das „Schulmilieu“ muss gesund sein.
Aktive Auseinandersetzung mit Gewalttätern ist eine Möglichkeit
des sozialen Lernens; eine andere ist diejenige, zu zeigen, dass wir in
einem Rechtstaat leben, der sich auch mit Gewalt (Macht) zur Wehr
setzen kann, wenn Menschen geschlagen, erniedrigt und bedroht
werden, einem Rechtstaat, der auch bereit ist, die Schwachen zu
156
schützen und zu fördern, wenn pädagogische Konzepte und Bemühungen wiederholt gescheitert sind.
(M)Eine Vision
Auch ein neues gesellschaftliches Leitbild von Erziehung mit der
Ausrichtung auf Förderung, Fürsorge und Respekt ist dringend erforderlich. Dies kann nur durch couragierte und gut ausgebildete
Lehrer verwirklicht werden. Bereits deren Ausbildung müsste „vernetzt“ erfolgen (Praktika bei Polizei, Juristen, Ärzten, in Gefängnissen und bei Psychologen und Jugendämtern).
Nur wenn wir die Menschen kennen, die in den verschiedenen Institutionen leben und arbeiten, können wir die Gesellschaft besser verstehen lernen und aus unserer eigenen Welt heraustreten. Das Wissen, das wir vermitteln müssen, wird weniger; Lerntechniken müssen
intensiver vermittelt werden, die Stätten des ruhigen Arbeitens vermehrt angeboten werden und eine Zusammenarbeit der Schulen
untereinander sollte gefördert werden (Gymnasiasten, Realschüler
oder Hauptschüler zeigen zum Beispiel an einigen Tagen im Jahr
ihre Projekte den Förderschülern, lassen sie Fragen stellen und an
ihrem Wissen teilhaben).
„Störenfriede“ sollten keine Chance erhalten, Lernwillige vom Lernen abzuhalten. Beide Gruppen müssen ihren Begabungen gemäß
gefördert werden.
Warum sollte es nicht möglich sein, dass besonders künstlerisch oder
sportlich begabte, hyperaktive Kinder von Förderschulen in Gymnasien zumindest zeitweise im Fachunterricht ganztägig „mitlaufen“
und sich so weiterentwickeln? Die schwierigen einzelnen Kinder
könnten in entsprechenden leistungswilligen „normalen“ Gruppen
möglicherweise eine „Gleichrichtung“ erfahren.
157
158
Die kranke Armutsgesellschaft
Der Maßstab für die Armut wird von der EG-Kommission wie folgt
definiert:
Als arm gilt, wer über weniger als 50% des durchschnittlichen nationalen Nettoeinkommens pro Kopf der Bevölkerung verfügt. Dabei
beträgt der Schwellenwert für Mehrpersonenhaushalte 669 Mark pro
Kopf, während bei Alleinstehenden ein Nettoeinkommen unterhalb
von 1117 Mark mit Armut gleichgesetzt wird.
Offiziell wird zwischen
absoluter und objektiver (nur bei akutem Nahrungsmangel und
nicht vorhandener Behausung) und
relativer Armut (deutlich schlechter gestellt sein als der Durchschnitt der Altersgenossen) unterschieden.
Arme Kinder in Deutschland (2000)
Von 100 Kindern aus armen Familien
können Ausflüge nicht
bezahlen
leben in beengten
Verhältnissen
kommen hungrig in die
Einrichtung
sind ungepflegt,
vernachlässigt
sind häufig krank
haben eine chronische
Erkrankung
sind in der körperlichen
Entwicklung zurück
haben nicht die
notwendige Kleidung
44
27
16
15
15
11
10
4
Im Jahr 1980 gehörten noch etwa 81 000 Kinder unter sieben Jahren
einem Sozialhilfe-Haushalt an.289
289
SZ, 84, 2001, S. 11
159
1,07 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren erhielten
Ende 1997 Sozialhilfe. 220 000 dieser Kinder waren jünger als drei
Jahre, 259 000 zwischen drei und sechs Jahren alt.290 Im Jahr1999
lebten allein in westdeutschen Ländern fast 382 000 Kinder in Haushalten die Sozialhilfe empfingen. In ganz Deutschland stieg die Zahl
inzwischen auf mehr als eine Million betroffener Kinder.
Gerade die relative Armut kann zu deutlich schwerwiegenden Problemen in der Entwicklung führen. Nach einer neuen Studie des ISS
aus dem vierten Quartal 2000291 ist mehr als jedes dritte relativ arme
Kind in mehreren lebenswichtigen Bereichen, z. B. in der
 materiellen Versorgung
 dem Gesundheitszustand
 der kognitiven Entwicklung
 den sozialen Fähigkeiten
stark eingeschränkt. Bei den materiell besser gestellten Altersgenossen waren entsprechende Lebensbereiche nur bei jedem siebten Kind
eingeschränkt. Vor allem bei der Beurteilung der Schulreife im Alter
von sechs Jahren wurden große Differenzen deutlich.
In Bayern gelten ca. 300 000 Kinder als arm. Besonders betroffen
sind vor allem Kinder, deren Eltern von Arbeitslosigkeit betroffen
sind. Damit verbunden sind oftmals eingeschränkte Entwicklungschancen, Resignation, schlechte Gesundheitsvorsorge und eine Zunahme der Verarmung.
Alleine in München wurden im „Münchner Armutsbericht 95“ die
Zahl von 15 000 Kindern genannt, welche in Armut leben müssen.
Viele ältere Menschen, die den Gang zum Sozialamt scheuen, wurden dabei nicht mit berücksichtigt.
Zwischen 1986 und 1995 stieg die Zahl der in Armut lebenden
Münchner von 83 500 auf 145 700 an. Damit hat sich die Zahl der
Armen pro 1000 Einwohner um knapp 71% von 65 auf jetzt 111
erhöht. Im vorigen Jahrzehnt waren oftmals unzureichende Versorgungsansprüche und Krankheit Ursache für die Armut, jetzt steht die
Arbeitslosigkeit an erster Stelle.
290
MM, 180, 1999, S. 1; Antwort der Bundesregierung auf eine
parlamentarische Anfrage
291
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik im Auftrag
der Arbeiterwohlfahrt
160
Die Entwicklung der Situation bei Kindern ist besonders alarmierend:
Im Jahr 1985 waren 56 von 1000 Kindern auf Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen, während die Zahlen für das Jahr 1995 diesen
Zustand bei 98 von 1000 Kindern angeben.
Ausländische Arbeitnehmer (64 von 1000) sind häufiger von Armut
betroffen als deutsche (48 von 1000).
Dabei bleibt zu berücksichtigen, dass ausländische Arbeitnehmer ein
um 26% niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen als Deutsche haben.
Auch die hohe Mieterbelastung in München spiele eine große Rolle
bei der Zunahme der Armut.292
Dass der Gesundheitszustand bei Schülern offenbar in Zusammenhang mit dem Typ der besuchten Schule steht, bestätigt eine Studie
des Heildelberger Krebsforschungszentrums.
Befragt wurden 3828 Kinder in 128 Klassen von 73 verschiedenen
Schulen. 5,04% der männlichen und 4,42% der weiblichen befragten
Hauptschüler/innen fühlten sich nicht gesund. Bei den Gymnasiasten
waren es vergleichsweise 1,9% der Buben und 2,03% der Mädchen.
Unter Müdigkeit litt jeder sechste Jugendliche. Die am häufigsten
aufgetretenen Beschwerden innerhalb der letzten vier Wochen waren
Husten oder Heiserkeit bei 12% der weiblichen und 10% der männlichen Hauptschüler/innen.
Bei den Gymnasiasten lauten die Vergleichszahlen 6% bei den Mädchen und 9% bei den Jungen. Des Weiteren klagten Hauptschüler
doppelt so oft wie Gymnasiasten über Bauchschmerzen.293
Nach Angaben von Medizinern raucht inzwischen jeder vierte Jugendliche im Alter von 15 Jahren, wobei hier die Haupt- und Förderschüler sicher einen Spitzenplatz einnehmen.
In einer 9. Jahrgangsstufe unterrichtete ich 16 Schüler/innen. Davon
waren zehn regelmäßige Raucherinnen, das bedeutet 62,5%. Auch in
den Klassenstufen 3/4/5 ist das Rauchen keine Seltenheit. So rauchen
in meiner jetzigen Klasse fünf von acht Schülern regelmäßig.
Im ersten Schulhalbjahr 2001/2002 wurden 100 Fehltage von Schülern allein in meiner Jahrgangsstufe 7/8 (15 Schüler/innen) festgestellt.
292
293
GRAFFE, Münchner Sozialreferent, in SZ, 276, 1996, S. 45
Münchner Merkur, 227, 1998, S. 4, Medizin-Forschung
161
Untersuchungen des GSF-Forschungsinstitutes für Umwelt und
Gesundheit zeigen auf, dass bereits in der ersten Klasse 10,4% der
befragten Schüler/innen angaben, bereits einmal geraucht zu haben.294
In Deutschland leiden zudem etwa 266 000 Kinder unter 16 Jahren
an Epilepsie.
SANS vermutet, dass in Deutschland auf vier Sozialhilfeempfänger
drei „verdeckte Arme“ kommen, welche ihren Anspruch auf Sozialhilfe gar nicht erst geltend machen.295
WIEGEMANN stellt in einer Fersehreportage des ZDF fest: „Armut
hat inzwischen einen intimeren Charakter als Sexualität. Die meisten
schämen sich, kein Geld zu haben, und das in einem reichen
Land.“296 Durch die soziale Not steigen auch gleichzeitig die ernährungsbedingten Krankheiten wie Allergien, Mangel- und Infektionskrankheiten an, die besonders in sozial schwachen Regionen gehäuft
auftreten.
Neueste Untersuchungen in Hannover bestätigen, dass Kinder aus
ärmlichen Verhältnissen überproportional an gesundheitlichen Defiziten leiden.
Dem Datenreport aus dem Jahre 1997 ist zu entnehmen, dass im
Jahre 1990 in Westdeutschland 3,9% der Bevölkerung in strenger
Armut lebten. Bis zum Jahr 1995 stieg der Prozentsatz auf 6,1%. In
den neuen Ländern stieg der Anteil der Bevölkerung, der nur über
40% eines durchschnittlichen Einkommens verfügt, zwischen 1990
und 1995 von 0,8 auf 3,1%.
Im Jahre 1965 musste jedes 25. Kind von Sozialhilfe leben, heute ist
es jedes zwölfte.297
Verarmte Kinder schämen sich für ihre Eltern und ihre eigene schäbige Kleidung. Durch den Geldmangel entsteht häufig Streit in den
Familien, was für die Kinder wiederum vermehrten Stress bedeute.
294
Münchner Merkur, 233, 1998, 4, Medizin-Forschung, Spektrum
SANS, Sozilarechtler und Experte im Sozialhilferecht beim Deutschen Caritasverband (DCV) in SZ, 8, 1997, S. 10
296
ZDF, 24. Mai, 1997: Macht Armut krank? Immer mehr Kinder
armer Familien leiden an Krankheiten.
297
HILGERS, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes am
23.5.1997 in Hannover vor dem Beginn der „Kinderschutztage“
zitiert in Münchner Merkur, 117, 1997, S. 1
295
162
HILGERS: „Die Eltern haben so viele eigene Sorgen und sind so
demoralisiert, dass sie die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht mehr
wahrnehmen und befriedigen können.“
Auch ECKARDT beschäftigt sich mit dem Thema Armut in
Deutschland. Er weist darauf hin, dass es der deutschen Gesellschaft
immer noch recht gut gelingt, Armut und Armsein in Deutschland
gut zu verstecken.298
WILKEN zum Thema Armut und Gesundheit: „Je ärmer die Kinder
sind, desto schlechter ist ihr Gesundheitszustand.“299
HURRLEMANN kommt bei seinen Untersuchungen zu folgendem
Ergebnis:
Während sich in der oberen Schicht 47% der Kinder als „rundherum
gesund“ einschätzen, sind es in der untersten Schicht nur 21%. Die
letztgenannten Kinder klagen zu 22% über „häufige Kopfschmerzen“ im Vergleich zu den bessergestellten Kindern (9%).
Eine Mangelernährung bei Kindern bis zu zehn Jahren wirke
sich „unglaublich auf Wachstum und Entwicklung der Kinder“
aus. 300
Neuere Untersuchungen bestätigen die Wichtigkeit eines Frühstücks
im Hinblick auf gute schulische Leistungen und die emotionale Stabilität bei Kindern. Neben besseren Schulleistungen in Mathematik
wurden auch eine geringere Depressivität, Ängstlichkeit und Hyperaktivität festgestellt, im Vergleich zu Kindern, die morgens nicht
gefrühstückt hatten.301
Dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland immer mehr
wächst, wird auch durch eine Studie des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW) bestätigt. So verfügten die reichsten
6% der westdeutschen Haushalte über fast ein Drittel des Geldvermögens.302
298
ECKARDT, 1996, Arm in Deutschland. Eine sozialpolitische
Bestandsaufnahme
299
WILKEN, Bundes-Geschäftsführer des Kinderschutzbundes,
1997
300
HURRLEMANN, Soziologe aus Bielefeld in SZ, 254, 1997, S. 16
301
MURPHY in Archives of Pediatric and Adolescent Medicine,
1998, Bd. 152, S. 899, in SZ, 235, 1998, V2 /9, UWT
302
in SZ, 255, 1997, S. 2
163
Die UNICEF weist mit Recht darauf hin, dass auch in Europa für die
Kinder neue Gefahren auftauchen: Umweltverschmutzung, Aids,
Armut, Drogen und Gewalt. Etwa 6000 Kinder werden gegenwärtig
als vermisst gemeldet.
Nach einem anderen Bericht gelten in Deutschland 2,2 Millionen
Kinder als arm. In unserem Staat leben inzwischen 2,8 Millionen
Sozialhilfeempfänger, wobei jeder dritte jünger als 18 Jahre ist. Eine
Studie des nordrhein-westfälischen Sozialministeriums gibt zu bedenken, dass es inzwischen etwa 25 Millionen Menschen in Deutschland gibt, die unter dem Strich am Ende des Monats zu wenig Geld
zum Leben haben – meist Familien mit Kindern.303
42% der Familien mit drei oder mehr Kindern sind in Ostdeutschland
auf Sozialhilfe angewiesen. Auf dem Berliner Kongress „Medizin
und Armut“ wurde betont, dass arme Menschen zwei- bis dreimal
häufiger krank werden als alle übrigen Bürger. Neben der ungesunden Ernährung wird über folgende Begleiterscheinungen berichtet:
Bettnässen, Stottern, Schlafstörungen, Asthma, Bronchitis,
Traurigkeit, Aggressivität, Gewaltbereitschaft.
Kinder, die in sehr beengten Wohnverhältnissen leben müssen, sind
auf vielfältige Weise benachteiligt. Vor allem albanische und türkische Familien leben oft bis zu acht in zwei Zimmern. Diese Kinder
haben weder einen ruhigen Platz, an dem sie ihre schulischen Arbeiten verrichten können, noch genügend Gelegenheit, so mit Gleichaltrigen zu spielen, dass ihre Entwicklung kindgerecht verlaufen kann.
Zudem lernen sie aufgrund der finanziellen Situation nicht, mit Geld
umzugehen. Die meisten der Kinder müssen tagtäglich schauen, wie
sie durch Tricks, schnelles Zugreifen und durch Mogeleien zu ihrem
Vorteil und Recht kommen.
In einer anderen Reportage wird von 3 Millionen Kindern in
Deutschland gesprochen, welche in Armut leben.304 Es ist keine
Seltenheit, dass Familien mit vier Kindern nur 1200 DM monatlich
zum Leben übrig haben. Die Armut bringt viele demütigende Begleitumstände mit sich, die als dauerhafte Kränkungen bezeichnet
werden können. Diese dauerhaften Kränkungen wiederum führen zu
Krankheit.
303
in SZ, 297, 1997, VI, Gesellschaft: Arme Kinder sind
vernachlässigte Kinder
304
in SZ, 233, 1998, VI, Armut lässt sich nicht einfach wegstecken
164
Dazu WANNICKE: „Schämen, das hat was mit Kränkungen zu tun,
ein gesunder Körper kann eine Kränkung besser wegstecken. Wenn
man eine Fünf schreibt, mal kein Taschengeld bekommt, das geht in
Ordnung. Aber die demütigenden Seiten der Armut stellen oft eine
dauerhafte Kränkung dar. Und zu viele Kränkungen führen zu
Krankheit. Es gilt dann herauszufinden, wo die Schwachstelle des
Kindes ist. Manche werden zu dick. Wenn schon kein Selbstwertgefühl, dann wenigstens Eigengewicht. Manche werden fahrig, andere
gewalttätig, um ihren Kränkungen etwas entgegenzusetzen." 305
Im Schulalltag zeigt sich die Armut auf vielfältige Weise: Ein ungepflegtes Äußeres, die Schulsachen sind oft das ganze Jahr hindurch
nicht vollständig, für ein Pausenbrot reicht das Geld nicht mehr. An
Schullandheimaufenthalte, die oftmals bis zu 300 DM kosten, ist
nicht zu denken. Der Verfasser musste schon Beträgen, die vom
Jugendamt an die Bedürftigen bereits überwiesen waren, über ein
Jahr lang „nachrennen“, da falsche Angaben gemacht wurden. Die
ständige Scham führt auch zu einer Verunsicherung der Kinder,
verbunden mit zunehmendem Zweifel am eigenen Zuhause. Abwehrhaltungen, Aggressionen, charakterliche Labilität und damit
erhöhte Anfälligkeit für kriminelle Handlungen einerseits, als auch
Selbstzweifel andererseits resultieren aus der Armutssituation. Die
oftmals depressive Struktur im Elternhaus überträgt sich auf die
Kinder. Apathie macht sich breit, die Wertschätzung gegenüber den
Dingen und Menschen nimmt ab. Sündenböcke werden gesucht und
gefunden.
Eltern entwickeln in vielen Fällen auf Dauer ein schlechtes Gewissen, da Versprechungen – vielleicht unter Alkoholeinfluss gegeben
– nicht eingehalten werden. Wagen es die Kinder, auf Versprechungen aufmerksam zu machen, werden Schläge oder böse Worte ausgeteilt. Verhaltensstörungen sind die Folge bei vielen von ihnen.
Nach WIBUSCH zeigen sich Entwicklungsstörungen in aller Deutlichkeit: Ängste, Schulprobleme, Bettnässen, Konzentrationsschwächen, Bauch- und Kopfschmerzen.
Er spricht von 5 Millionen Sozialhilfeempfängern in der Bundesrepublik. 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche sind direkt betroffen.
Jugendliche unter 18 Jahren sind mit einem Anteil von 37,5% vertreten.
305
WANNICKE ist Gesundheitspädagoge in Berlin.
165
1,7 Millionen Kinder leben in Haushalten, die unter der Arbeitslosigkeit leiden.
„Und das führt zu einem nachweislich hohen Anstieg der Kinderkriminalität. Die Zukunftsängste werden größer, auch der Hang, sich
durch Drogen oder Alkohol zu betäuben. Eines der reichsten Länder
zeigt sich besonders armselig, wenn es diese Entwicklung zulässt.“306
„Gute Eltern“ werden in solchen Situationen selten.
In Deutschland leben schätzungsweise 5000 bis 20 000 Kinder auf
der Straße und überleben nur durch Betteln, Drogenhandel, Prostitution oder Hehlerei. Diese Situation betrifft nicht mehr allein die
Großstädte.
GÜTHOFF geht davon aus, dass in unserem Land ca. 7000 Mädchen
und Buben im Alter zwischen 15 und 17 Jahren auf der Straße leben.307 Weitere 50 000 Jugendliche sind ebenfalls der Gefahr ausgesetzt, ihr Leben auf der Straße verbringen zu müssen. Dieses Ergebnis beruht auf Umfragen, die hochgerechnet wurden. In Berlin,
Frankfurt/Main, Dresden und im Ruhrgebiet gebe es inzwischen
feste Straßenkinder-Szenen.
Schulversäumnisse – wenn die Schule überhaupt besucht wird –
resultieren aus dieser Lebenssituation. Im Schuljahr 1997/98 fehlten
die 16 Schüler/innen meiner Klasse zusammen 48 ganze Schultage –
zumeist entschuldigt – wegen Krankheit oder Tätigkeiten, die sie zu
Hause übernehmen mussten. Die Eltern sind oftmals gezwungen
Schicht zu arbeiten; die Ältesten übernehmen dann die Beaufsichtigung der jüngeren Geschwister und erledigen den Haushalt. Sie
fragen die Jüngeren nicht, wie der Tag war, sie haben kein Ohr für
die Begeisterung oder die Sorgen der kleineren Geschwister, werden
aber verantwortlich gemacht, wenn Kleidungsstücke fehlen. Geschwister als unfreiwillige „mothers little helper“.
Die meisten dieser Schüler/innen haben keine konkreten Berufspläne
und erleben die Kindheit trostlos und ohne Fantasien.
306
Rainer WIBUSCH ist beim Kinderhilfswerk tätig.
MM, 30, 2000, S. 1; GÜTHOFF ist Experte für Straßenkinder;
Deutscher Kinderschutzbund in Nordrhein-Westfalen
307
166
Etwa 10 bis 20% Prozent der Kinder Deutschlands verlassen die
Schule ohne Schulabschluss. Der weitere Weg zeichnet sich relativ
klar ab: ungelernter Arbeiter, häufiger Jobwechsel, Haltlosigkeit,
Alkoholismus, Schulden, Kriminalität und zunehmende Perspektivenlosigkeit.
Als besonders bedrohlich dabei zeigt sich die andere Wahrnehmung
der Realität. Die Schuld für eigene Fehler wird – nicht ganz zu Unrecht – immer bei den anderen gesucht. Der Staat scheint die Konvention über die elementaren Rechte der Kinder vergessen zu haben.
Das Wohl des Kindes hat in Deutschland seit langem in den Gesetzen, der Fürsorge oder in den Institutionen keine Vorrang mehr.
Auch wenn die finanzielle Situation des Staates nicht zum Besten
bestellt ist, darf er sich dieser Verpflichtungen nicht entledigen.
Aus einer Studie des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen geht
hervor, dass in Deutschland jedes zehnte Kind in Armut lebt.308 Mitte der neunziger Jahre bezifferte sie die UN-Organisation auf 10,7%.
Andere Untersuchungen gehen von 15% und mehr aus. Der Kinderschutzbund geht von über drei Millionen armen Kindern in der Bundesrepublik aus. Diese Zahl entspricht etwa 20%. Die unterschiedlichen Zahlen lassen sich durch die Umrechnung nationaler Statistiken
auf internationale Vergleiche erklären. Der finanzielle Bedarf einzelner Familienmitglieder werde international niedriger gewichtet als in
Deutschland. Die Kinderarmut wird in anderen Staaten mit folgenden Zahlen angegeben:
Schweden
USA
2,6%
22,4%
Die Benachteiligung der Kinder aus armen Familien zeigt sich
durch:
 beengte Wohnverhältnisse
 schlechte Schulen in vernachlässigten Stadtteilen
 häufiges Auftreten von Lernproblemen
 Überdurchschnittliche Verbreitung von Drogenkonsum und
Kriminalität
 durch die unzureichende Ausbildung, dadurch schlechte Berufschancen, häufigere Schwangerschaften.
308
SZ, 135, 2000, S. 5
167
Durch die oben angeführten Faktoren verfestige sich eine „Armutsfalle“, aus der es für die meisten kein Entrinnen gibt.
Unter den momentanen Bedingungen ist eine Förderung dieser Kinder an den Förderschulen und Grund- und Hauptschulen nicht so
möglich wie von Regierungsseite propagiert.
Die zweiklassige Selbstbedienungsgesellschaft
Im Gegensatz zur sich ausbreitenden Armut wirkt die „Selbstversorgungspraxis“ vieler politisch Verantwortlicher besonders unglaubwürdig. Diese Menschen haben es geschafft, für ihr persönliches
Wohlergehen Vorsorge zu treffen oder treffen zu lassen.
So wurden zum Abschied der zu dieser Zeit amtierenden Bundesregierung vor dem Regierungswechsel (1998) ca. 70 „korrekte“ Beförderungen mit „Gehaltssprüngen“ bis zu 10 000 Mark vorgenommen.309 Die ständige Erhöhung der Diäten in einer Zeit, in welcher
der Bevölkerung immer neue Sparmaßnahmen erklärt werden, passt
nicht zu dem Motto einer „moralischen Erneuerung“.
Die Altersversorgung ehemaliger Minister oder für andere PolitPensionäre läuft auf Hochtouren.
Neben Amtsgehältern zwischen 15 000 und 23 000 DM monatlich
steigern sich zusätzliche Versorgungsbeträge in erheblichem Maße
mit den entsprechenden Jahren der Regierungszugehörigkeit. So hat
sich z. B. Familienministerin NOLTE nach vier Jahren bereits 7000
DM monatliche Ministerpension gesichert. Ein normaler Angestellter müsste 144 Jahre lang in die Rentenkasse einzahlen, um für solch
eine Summe empfangsberechtigt zu sein.
Offensichtlich führt eine solch leichtfertige Versorgungspraxis zu
einem krassen Realitätsverlust – vor allem dann, wenn die Familienministerin behauptet:
 „Armut ist, wo Leute ihren Problemen nicht gewachsen
sind.“
 „Kindheit in Deutschland ist eine gute Kindheit.“310
Im Gegensatz dazu fällt mir auf, dass es Kinder an „meiner“ Schule
gibt, die mich immer wieder fragen, ob ich Brot oder einen Apfel
dabeihabe, oder die sich noch echt über einen billigen Kugelschreiber freuen können.
309
310
Münchner Merkur, 228, 1998, S. 12 „Abschiedsgeschenke“
Zitiert in SZ, 195, 1998, S. 6 : NOLTE bestreitet große Armut.
168
Die ständige Zunahme der Ungleichheit muss früher oder später zu
einem gewaltsamen Umsturz der Gesellschaft führen. Das deutsche
Bruttoinlandsprodukt – ein Indikator für den Gesamtwohlstand eines
Landes – wuchs seit dem Jahr 1994 um etwa 2% pro Jahr. Schätzungen für die Jahre 1998/1999 prognostizieren ein Wachstum von
2,5%. Es müsste somit den Bürger/innen immer besser gehen, jedoch
nur um den Preis einer ständig weiter auseinanderklaffenden Schere
zwischen Arm und Reich.
Bei den Jugendlichen, die später auch Garanten unserer Rente sein
sollen, wird weiter gespart. Sie müssen weiterhin auf Ausbildungsplätze, Jugendclubs, Betreuungsstellen, Ganztagesschulen mit
Sportmöglichkeiten, auf Krippen, Horte und andere Einrichtungen
verzichten. Die Anzahl der gefährdeten Kinder steigt ständig, ebenso
die Jugendkriminalität.
Die rücksichtslose und kriminelle Gesellschaft
„An dem Tag, an dem das Verbrechen sich mit dem Bann der Unschuld umgibt, wird durch eine seltsame Verkehrung, die für unsere
Zeit typisch ist, die Unschuld gezwungen sein, sich zu rechtfertigen.“
(Albert Camus)
Rücksichtslosigkeit und Unrechtsbewusstsein
Ein ausschlaggebender Grund für die Zunahme der Verbrechen liegt
im fehlenden Unrechtsbewusstsein der Kinder, Jugendlichen und
Erwachsenen. Die Umfrage eines Autoversicherers ergab, dass es bei
70% der Autofahrer als völlig normal gilt, gegen Verkehrsregeln zu
verstoßen.311 Vor allem jüngere Autofahrer hätten kaum ein Unrechtsbewusstsein. Als völlig in Ordnung gelte es zum Beispiel, vor
einer gelben Ampel kräftig zu beschleunigen, um noch über die
Kreuzung zu kommen. Aggressive Manöver (Drängeln, Lichthupe
und Rechtsüberholen auf der Autobahn) gehören für jeden dritten
311
Umfrage des Autoversicherers „Sicher direct“; MM, 130, 2000,
S. 1
169
Fahrer dazu, um sich gegen andere Autofahrer durchzusetzen. Die
Befragten bekennen sich ganz offen zu den Regelverstößen.
Regelverstöße sind auch in der Schule an der Tagesordnung. Hier
kann ein nahezu identisches Verhalten beobachtet werden. Auch im
politischen Bereich lassen sich ohne große Anstrengung genügend
Beispiele für mangelndes Unrechtsbewusstsein finden.
Die Korruption wird nach Aussagen des Bundesverbandes Deutscher
Psychologen (BDP) in Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr zur
Alltagspraxis. Nach SMETTAN laufe ohne Tricksereien und Mauscheleien nichts mehr im Geschäftsalltag.312
Nach GEBERT313 werden in Deutschland „gekonnte Schwarzgeldgeschäfte sogar vielfach als intellektuelle Leistung bewundert“. Das
Schuldbewusstsein der Täter sei in einer Gesellschaft, die Ehrlichkeit
nicht als Tugend ansehe, entsprechend gering. Mit derlei Manipulationen hätten besonders die Mächtigen keine Gewissensprobleme.
Diese Einstellung deute auf einen gewissen Größenwahn hin, der
bereits auch schon auf kommunaler Ebene anzutreffen sei.
„Wird den Drahtziehern das Handwerk gelegt, klagen sie regelmäßig über Undank und fühlen sich ungerecht behandelt.“
Wie der Herr, so `s Gscherr
ALBERTS: „Die Norm zu befolgen, hat schon fast Ausnahmecharakter. Ja, es kann einem passieren, dass einer gemobbt wird, wenn
er innerdienstlich darauf besteht, dass Normen eingehalten werden.
In der Analyse verschiedener Mobbing-Fälle hat sich herausgestellt,
dass ein Typ gemobbter Polizisten der korrekte ist, der übliche
Rechtswidrigkeiten nicht mitmacht. So verkehrt ist die Rechtstaatswelt mittlerweile. Und es wirken daran kräftig die da oben mit. Sie
machen die Anomie (Gesetzeslosigkeit) vor, die da unten machen es
nach . . . “314
312
SZ, 81, 2000, S. 26; SMETTAN ist im BDP zuständig für Marktund Organisationspsychologie.
313
MM, 59, 2002, S. 1; GEBERT ist Professor für Wirtschaftspsychologie in Münster.
314
ALBERTS ist Berufsethiker; in SZ, 23, 2000, II
170
Die gewaltbereite Gesellschaft
Zeitungsüberschriften wie „Gewalt macht Schule“ bestätigen die
jahrelangen Beobachtungen des Verfassers. Es ist offensichtlich,
dass immer mehr Kinder und Jugendliche schwere Gewalttaten begehen.
SCHILLING stellt fest, daß die Brutalität zunimmt:
„Bei einer Schlägerei hat man vor 20 Jahren aufgehört zu
schlagen, wenn einer am Boden lag. Heute wird einfach weitergedroschen.“315
Die Situation in München
Unter 47 314 Tatverdächtigen, die 1998 in München ermittelt wurden, befinden sich 1713 Kinder und 4525 Jugendliche. Das sind 7,1
respektive 1,8% mehr als im Jahr zuvor.316 Weniger Jugendgewaltdelikte, ja sogar von einem deutlichen Rückgang wurde von der
Münchner Polizei gemeldet, ohne jedoch Zahlen zu nennen.317
Die Kriminalitätsbilanz für München zeigt für das Jahr 1999 die
Tendenz: „Mehr Sicherheit, aber auch mehr Brutalität“, bei steigender Zahl der Vergewaltigungen und der Körperverletzungen.318
Auffallend ist, dass auch die Mädchen gewaltbereiter werden. Allein
an Münchner Schulen wurden der Polizei 826 Fälle von Gewalt
gemeldet, davon waren zwei Drittel Diebstähle, ein Achtel Körperverletzungen. Die Rauschgiftdelikte verdoppelten sich von 11 auf 20,
schwere Sexualdelikte von drei auf sechs. Opfer sind nicht nur Mitschüler, sondern auch Lehrer.
Dabei muss insgesamt berücksichtigt werden, dass oftmals versucht
wird, kriminelle Vorfälle schulintern zu regeln, ohne die Polizei zu
informieren. Die mehrfache Erpressung von Ruhpoldinger Hauptschülern und Ingolstädter Berufsschülern geriet in diesem Zusammenhang in die Schlagzeilen der Presse.319 Solche Mitteilungen
315
Zitiert in SZ, 221, 1997, S. 43
SZ 94, 1999, S. 57
317
SZ, 75, 1999, L 2
318
SZ, 77, 2000, S. 57
319
SZ 101, 1999, L 8
316
171
werden oftmals von der Schulleitung vermieden, um den Ruf der
Schule nicht zu schädigen.
Der Zusammenhang zwischen unterentwickeltem Selbstwertgefühl
und dem Hang zur Gewaltbereitschaft ist offensichtlich.
Für die Schulen empfiehlt DEMMER, den Jugendlichen mehr Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen, sie ernst zu nehmen und eine
Schülerselbsthilfe einzurichten. Die Gewaltbereitschaft von Schülern
müsse durch sie selbst thematisiert werden.320
WIENHOLTZ plädiert für eine Verschärfung des Waffenrechts und
für strengere Kontrollen in den Schulen. Dies bedeute in der Praxis
die Einführung eines „kleineren Waffenscheines“ und die Einführung
von Zuverlässigkeitsnachweisen, die beim Verkauf von Schreckschuss- oder Reizstoffwaffen verlangt werden sollten. Der Handel
mit Faustmessern und Wurfsternen solle verboten werden. Eine
Entwicklung zu amerikanischen Verhältnissen hin ist unübersehbar.
In Bayern stieg die Zahl der verurteilten jugendlichen Straftäter nach
Angaben SAUTERS auf 16 147 im Altersbereich zwischen 14 und
17 Jahren. Dies bedeutet gegenüber 1996 eine Steigerung um 12,5%.
Unter den den 18- bis 21-Jährigen wurden 9875 (1997) verurteilt.
1996 waren es noch 8337. Er fordert einen „Einstiegsarrest“ für
Jugendliche, um diese Entwicklung zu stoppen.321
Die bayerische Kriminalstatistik für das Jahr 1996 zeigt die folgende Entwicklung:
Gefährliche und schwere Körperverletzung: von 1995 auf 1996
Anstieg um 7,5%; werden nur jugendliche Täter (14 bis 18 Jahre)
betrachtet, so liegt der Anstieg bei 39%.
Raub und räuberische Erpressung: Anstieg um 9,1%
Werden nur jugendliche Täter (14 bis 18 Jahre) betrachtet, so liegt
der Anstieg bei 37,8%.
Opfer von Gewaltverbrechen: Anstieg um 8,4%
Bei Kindern bis 14 Jahre Anstieg um 30,3% und bei Jugendlichen
um 17,5%
PFEIFFER sieht diese Entwicklung als eine europäische an.322
320
SZ, 97, 1999, S. 16
MM, 282, 1998, S. 1
322
SZ, 89,1997, S. 1
321
172
Ladendiebstähle: Anstieg um 20%
Dies entspricht einem Schaden von 150 Millionen Mark.323
Andere Schätzungen gehen von einem durch Ladendiebe verursachten Schaden in Höhe von 5 Milliarden DM aus.324 Auffallend ist,
dass die Langfinger immer jünger werden. So ist bereits jeder Dritte
unter 18 Jahre alt. Das Stehlen hat sich laut FRANZEN zu einem
Sport unter Jugendlichen entwickelt.
Ein nachahmenswertes Projekt
In Hagen haben Polizeibeamte und Einzelhändler Schulen besucht,
um die Jugendlichen über die Problematik aufzuklären – offenbar
mit Erfolg:
FRANZEN: „Die Polizei hat dort 8% weniger Ladendiebstähle registriert.“
Auch bundesweit steigt die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen.
Bei den unter 14-Jährigen erhöhte sich allein der Anteil der tatverdächtigen Kinder um 5,9%. Im Münchner Merkur wurde dieser Prozentsatz am gleichen Tag auf der Titelseite mit 152 774 Personen
angegeben. In diesem Zusammenhang wandte sich SCHILY jedoch
gegen die Absenkung des Strafmündigkeitsalters sowie die Ausweitung von Jugendstrafen.325 Bei der Gruppe der unter 14-Jährigen
besteht die Mehrzahl der Delikte vor allem aus Ladendiebstählen. Im
Alter zwischen 14 und 18 Jahren sei die hohe Zahl an Körperverletzungen und Rauschgiftdelikten auffällig. Im Bereich der Rauschgiftdelikte sei ein Anstieg von 27,9% zu verzeichnen.
Fast jeder dritte Straftäter in Deutschland (29,2%) ist laut Polizeistatistik unter 21 Jahre alt.
1997 wurden insgesamt ca. 2,3 Millionen Tatverdächtige registriert,
darunter 140 000 Kinder unter 14 Jahren, 290 000 Jugendliche und
230 000 Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren. Bei Autoaufbrechern ist sogar schon mehr als jeder zweite Tatverdächtige unter
21 Jahre alt ( 57,3% und 58,8%).326
323
MM, 100, 1997, S. 1
MM, 215, 1999, S. 1; FRANZEN ist Präsident des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels (HDE).
325
SZ, 118, 1999, S. 1
326
MM, 31, 1999, S. 1
324
173
Wie gegensätzlich und verwirrend die einzelnen Zeitungsmeldungen
sind, auf die wir uns bei unserer Meinungsbildung verlassen, macht
der folgende Artikel deutlich. Bielefelder Wissenschaftler konnten
nach ihrer Einschätzung keine zunehmende Gewalt an hessischen
Schulen beobachten. „Das öffentliche Bild einer massiven und weit
verbreiteten Gewaltbelastung an den Schulen stimmt nicht und muss
erheblich differenziert werden.“327
Im Vergleich zum Jahr 1973 sei die Gewalt zwar gestiegen, jedoch
nicht in erheblichem Maße. Die Gewalt sei in den unterschiedlichen
Schultypen sehr ausgeprägt.
Die Kriminalstatistik des Bundesinnenministeriums für das Jahr
1996:328
Immer mehr Kinder werden straffällig.
Kinderkriminalität: Anstieg um 12,3%
Rauschgiftdelikte: Anstieg um 18%
Wirtschaftsstraftaten:
23,8%
131 000 Kinder wurden 1996 als Tatverdächtige ermittelt. 57,3%
wurden beim Ladendiebstahl erwischt. In den neuen Ländern sanken
die Delikte vergleichsweise um 3%.
Über eine starke Zunahme von Jugendkriminalität und Gewalt wird
auch im folgenden Zeitungsartikel berichtet.329 Die Strafverfolgungsstatistik zeigt 1998 eine Erhöhung der Zahl der verurteilten
Jugendlichen um 11,3% im Vergleich zum Vorjahr auf 45 600. Das
Statistische Bundesamt meldet:
Raub und Erpressung: Anstieg um 11,0% auf 10 388 Fälle.
Die Gesamtzahl der rechtskräftig Verurteilten stieg 1997 im früheren
Bundesgebiet einschließlich Ostberlin um 2,2% auf 780 500. Somit
wurde die bisherige Höchstzahl der Verurteilungen von 782 100 aus
dem Jahre 1994 fast erreicht.
327
MM, 24, 1999, S. 1
SZ, 107, 1997, S. 5
329
SZ, 265, 1998, S. 2
328
174
Für die neuen Länder lag keine Statistik vor.
Körperverletzung:
9,7% mehr Täter ( 40 547 )
als 1996
Diebstahl und
Unterschlagungen:
Zunahme um 2,5% auf 170 258
Drogendelikte:
überdurchchnittlicher Anstieg um
11,6% auf 41 332
Betrugsfälle:
Anstieg um 2,6% auf ca. 59 000
Sexueller Missbrauch
von Kindern:
Zunahme um 8,3% auf 2207
Fälle
Die Zahl der Verurteilten spiegle die Kriminalitätsentwicklung jedoch nicht hinreichend wider, da einerseits nur ein Teil der Straftaten
bekannt wurde, andererseits nicht jeder ermittelte Tatverdächtige
auch verurteilt wurde.
Die über die Jugendkriminalität geführten Diskussionen zeigen, wie
verschieden von den einzelnen Beteiligten die Statistiken interpretiert werden.330 Während für die Politiker Justiz und Jugendhilfe
versagt haben, sehen Kriminologen die Situation so:
Die Auswertung der Zahlen für das Jahr 1997 zwingen zu der Erkenntnis, dass die Delikte von Jugendlichen und Kindern nicht gravierender geworden seien. Die Zahl der Raubdelikte sei zwar von
6% auf 27% , im Bereich des Schadens bis zu 25 Mark, gestiegen,
aber die Zahl, wo Jugendliche teuere Gegenstände erbeutet hätten,
habe sich halbiert.
Eine Befragung von fast 10 000 Hauptschülern durch das KFN
(Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen) ergab, dass
Kinder von arbeitslosen oder bedürftigen Eltern öfter Gewalt ausüben als ihre Altersgenossen aus materiell gesicherten Verhältnissen.
Diese Zahl erhöht sich noch einmal stark, wenn die Kinder von ihren
Eltern misshandelt wurden.
1997 erlebten mehr Kinder Gewalt innerhalb der Familie als außerhalb.
330
SZ, 217, 1998, S. 2
175
In den Niederlanden erwägt die Regierung für kriminelle Jugendliche Arbeitslager einzurichten. Dort sollen vor allem Jugendliche
untergebracht werden, die schon mehrmals gestohlen haben oder
wiederholt durch Gewalttätigkeiten aufgefallen sind. Diese Umerziehung in Arbeitslagern findet nach amerikanischem Vorbild
statt.331
In Frankreich sieht sich die Regierung mit ähnlichen Problemen
konfrontiert. Der wachsenden Jugendkriminalität soll dadurch begegnet werden, dass auch Kinder mit der Autorität des Staates konfrontiert werden sollen. Zudem sollen sich die straffälligen Jugendlichen in geschlossenen Anstalten mit zusätzlichen pädagogischen
Bemühungen konfrontiert sehen. Minderjährige Straftäter sollen in
50 Zentren noch vor dem endgültigen Urteil der Richter eingewiesen
werden. Dazu JOSPIN: Selbst wenn die Türen geschlossen seien,
lebten die Kinder dennoch in einem Milieu, in dem der Erziehungsgedanke im Vordergrund stünde.332 Zusätzlich sollen noch 10 000
ehrenamtliche Erziehungshelfer dazu beitragen, die Probleme in den
besonders gefährdeten Stadtvierteln besser zu bewältigen. Gleichzeitig betonte der Regierungschef, dass die Rolle, die Vater und Mutter
spielten, durch nichts zu ersetzen seien und dass es kein Leben innerhalb der Gemeinschaft und auch keine persönliche Entwicklung
ohne Respekt und ohne Regeln gäbe. Dies müssten die jungen Leute
begreifen.
Diebstähle
Nach Einschätzung der Einzelhändler klauen die Kinder und Jugendlichen in Deutschland wie die Raben. Alle Schüler meiner Klasse
gaben im Schuljahr 1998/99 an, schon mindestens einmal geklaut zu
haben. Das Erschreckende ist nicht diese Tatsache selbst, sondern
dass viele der Jugendlichen der Meinung sind, sie hätten kein Unrecht begangen, wie ich in vielen Gesprächen in Erfahrung bringen
konnte. Laut DIHT (Deutscher Industrie- und Handelstag) wird
durch die Diebstähle – auch der Erwachsenen – ein jährlicher Schaden von 4 bis 7 Milliarden Mark angerichtet.333
331
MM, 214, 1998, S. 1
SZ, 23, 1999, S. 8
333
MM, 257, 1997, S. 3
332
176
Im Jahr 1998 stieg die Anzahl der tatverdächtigen Kinder unter 14
Jahren um 6,8% auf über 86 000. Jeder dritte Ladendieb ist nach
LORENZEN unter 18 Jahre alt.334 Im Jahre 1993 wurden noch 8,7%
Kinder als Ladendiebe registriert. Im Jahr 1998 stieg der Anteil auf
15,7%. Im gleichen Zeitraum war eine Zunahme von 5,5% bei den
Jugendlichen zu beobachten. Die Kriminalstatistik weist Magdeburg,
Halle und Schwerin als Spitzenreiter aus. Die Dunkelziffer liege
allgemein bei über 90%, so ein Sprecher des HDE (Hauptverband
des Deutschen Einzelhandels), Köln.
In einer anderen Zeitungsmeldung steht zu lesen, dass die Kriminalität von Kindern sich laut des Deutschen Kinderhilfswerkes im Vergleich zu 1997 um 3% erhöhte. So seien 1998 ca. 148 000 Verdächtige gezählt worden. In mehr als 54% dieser Fälle seien Kinder wegen Ladendiebstahls aufgefallen. Die Stadtstaaten Berlin und Bremen wurden als einzige genannt, bei denen ein Rückgang der Kriminalität in dieser Altersgruppe zu verzeichnen war. Die deutlichste
Zunahme sei in Rheinland-Pfalz (plus 17%) und in Bayern (plus
14%) festzustellen. KRÜGER sieht als beste Handlungsweise von
Seiten der Erzieher auf diese Entwicklung unmittelbar folgende
Sanktionen an, die die Kinder mit der Tat in Verbindung bringen
könnten.335
Nur durch ein absolut konsequentes Verhalten der Lehrkräfte, die
Zusammenarbeit verschiedener Institutionen und durch Schulleiter,
die nicht um den Ruf ihrer Schule besorgt sind, kann dieser Entwicklung sinnvoll begegnet werden.
Vor allem Grund-, Haupt- und Förderschulen müssen mit großem
Zeitaufwand und starkem menschlichem Einsatz ethische und moralische Erziehung betreiben, vor allem deshalb, weil viele Kinder aus
sozial schwachen Familien kommen, in denen es häufig unlösbare
Probleme gibt. In der Folge entwickeln sich die Kinder zu Einzelkämpfern ohne moralische Vorstellungen.
Die Arbeitswelt zeigt sich anders. Arbeitgeber dürfen ihre Mitarbeiter ohne Zustimmung des Betriebsrates heimlich auf ihre Ehrlichkeit
hin testen (Az: 2 AZR 743/98). Wird diese Ehrlichkeit als Haltung
nicht eingehend geübt, haben die uns anvertrauten Kinder nichts von
ihrem Leben zu erwarten.
334
335
SZ, 136, 1999, S. 25
SZ, 77, 1999, S. 6
177
Dazu Vergleichszahlen aus dem Landkreis Weilheim-Schongau, in
welchem sich auch die Schule befindet, an welcher ich unterrichte:
Knapp 30% der Tatverdächtigen bei Rohheitsdelikten war unter 21
Jahre alt. Bei den Diebstählen war eine Zunahme um 9% auf 2240 zu
verzeichnen. 336
Solange Diebstahl, Beleidigung, Sachbeschädigung, Nötigung und
Erpressung in den Schulen nicht konsequent als Straftat geahndet
wird, sind wir Lehrer in entscheidendem Maß mit dafür verantwortlich, wie sich die Jugendlichen entwickeln. Wenn die Eltern oftmals
nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen – und dafür gibt
es ernstzunehmende Gründe (Erkrankungen, Armut, Gewalt) – müssen die Lehrer hier einspringen. Den Lehrstoff bietet das Leben.
Einige mögliche Gründe für diese Entwicklung
Als einen Hauptgrund für diese Entwicklung sind möglicherweise
krasse soziale Gegensätze verantwortlich. WALTER nennt außerdem Angst vor sozialem Abstieg und zunehmende Armut und
Arbeitslosigkeit als Ursachen. Auch Desorientierung, Normenund Wertewandel, Ellenbogendenken anstelle von Solidarität
zählen dazu.337 Durch die Werbung geschürte und ständig wachsende Konsumwünsche tragen ebenfalls zu dieser Entwicklung bei.
Folgen einer übersteigerten Leistungsgesellschaft
Auffällige Kinder werden häufig zu kriminellen Jugendlichen. Viele
der Jugendlichen leiden auch unter Verletzungen, die ihnen zu Beginn ihres Lebens und während der ersten drei Lebensjahre zugefügt
wurden. WINKLER338 betont, dass in diesen ersten drei Jahren das
seelische Gefüge festgelegt wird. Die Zunahme der vernachlässigten
336
MM, 48, 1999, SOG 1
SZ, 221, 1997, S. 43
338
SZ, 297, 2000, L 11; WINKLER ist Chefarzt der Jugendpsychiatrie am Augsburger Josefinum. Seit 1985 hat sich die Zahl der Fälle,
in denen „Störungen der Geistestätigkeit“ vorliegen, annähernd verzehnfacht. Bei den stationären Behandlungen ist ein Anstieg von 250
pro Jahr auf 650 zu verzeichnen. Zur Zeit klopfen jährlich etwa
4000 junge Menschen an.
337
178
Kinder ist auffällig. Es sind Kinder, die „nicht fähig sind, die normalen Triebbedürfnisse mit den Notwendigkeiten des sozialen Zusammenlebens zu vereinbaren“.
Die Lücken in ihrem Seelenleben versuchen die jungen Menschen
dann dadurch zu füllen, indem sie sich Drogen oder Sekten zuwenden oder indem sie die Raffsucht ihrer Eltern nachahmen.
WINKLER: „Der dritte Weltkrieg war der Kalte Krieg, der vierte
Weltkrieg ist der des Kapitals gegen den Menschen, im nächsten
Weltkrieg wird der Mensch gegen sich selber kämpfen.“
Da oftmals beide Eltern berufstätig sind, um den Lebensunterhalt zu
sichern oder aber um durch Luxusgüter ihren Wert zu demonstrieren,
fehlt den Kindern die notwendige Geborgenheit. Um sie zu erhalten,
müssen Eltern genügend Zeit für ihre Kinder haben. Die Lehrpläne
der Schulen sind an diesen Wahnsinn der übertourten Leistungsgesellschaft gekoppelt. Den Erwachsenen fehlt das Selbstverständnis,
während sie Geld und Gut nachjagen. In der Freizeit stehen viele
Eltern ihren Kindern ebenfalls nicht zur Verfügung. Die Kinder
verstehen dieses Verhalten ihrer Eltern nicht und nehmen in der
Folge die Realität nicht mehr wahr. Werden in den ersten drei Jahren
nicht die Grundlagen für eine gesunde seelische, körperliche und
geistige Entwicklung bereitgestellt, erfolgt eine andere Programmierung, deren Folgen erst später sichtbar werden:







Intelligenzstörungen
Mängel in der Feinmotorik
Hyperaktivität
Konzentrationsmängel
Legasthenie
Unfähigkeit zum sozialen Miteinander
Unfähigkeit zum Aufschieben von Triebimpulsen.
Menschen mit einer solch schwierigen Persönlichkeit sind in unserer
Gesellschaft nicht beliebt, und ihr Weg in die Kriminalität ist oft
vorgezeichnet. Elterliche Geschenke als Ausgleich für eine reduzierte Beziehung und für nicht gut zu machende Versäumnisse können
nicht die erwünschten Hoffnungen erfüllen, zumal die neuen Medien
die Bereitschaft zur Gewalt enorm fördern.
179
Dazu kommt das Phänomen der „Globalisierung der Patientenströme.“ Das sind die
 behandlungsbedürftigen Kinder Asyl suchender Mütter
 Kinder aus Kasachstan, die ihre Großfamilien vermissen
 die in bosnischen Lagern vergewaltigten jungen Frauen
 Adoptivkinder aus Kambodscha
 Mischlingskinder
 Kinder arbeitsloser Eltern – auch aus Ostdeutschland
 Kinder, die in kleinen Förderschulklassen unterrichtet wurden
und in eine andere Förderschule mit 22 Kindern pro Klasse
wechseln mussten. (Alles war kaputt, was bis dahin erreicht
worden war.)
180
Weitere gesellschaftliche Aspekte
Eine Gesellschaft der schlechten Vorbilder und der Verdrängung – Programme, die diese Entwicklung stoppen sollen
Pro Jahr verlassen mehr als 1000 Jugendliche, die als „ausbildungsunfähig“ gelten, die Schule.
In München bemühen sich Schulsozialarbeiter in 28 Projekten um
Hilfe. Gespräche mit Lehrern, überforderten Eltern und Hausbesuche
bei den überforderten Eltern gehören in die Liste der Hilfsmaßnahmen. Zusätzlich sollen 1,5 Millionen Mark bereitgestellt werden, um
verhaltensauffällige Buben und Mädchen im Kindergartenalter besser zu erkennen und zu betreuen.339 Wenige Monate nach dieser
Zeitungsmeldung erscheint ein Bericht, wonach die Stadt die Hilfe
für Problemkinder kürzen will. Von den 850 Plätzen für sechs- bis
15-jährige Kinder und Jugendliche in München sollen 10% gestrichen werden, „obwohl nachweislich nicht genügend Plätze vorhanden sind und die Störungen der Kinder an Häufigkeit und Schweregrad zunehmen.“340
Diese Beobachtung kann ich nach jahrelanger Erfahrung an unserer
Schule absolut bestätigen. Die Klassen werden größer, neue Klassen
dürfen nicht gebildet werden, das Geld für den Aufbau einer
Schulsozialarbeit fehlt.
Die wehrlose und abwehrgeschwächte Gesellschaft
Es ist in Fachkreisen unbestritten, dass bei jugendlichen Straftätern
Sanktionen so schnell wie möglich folgen müssen, wenn eine größtmögliche und zugleich präventive Wirkung erwartet werden soll.
Obwohl die Straftaten Jugendlicher dramatisch zunehmen, werden
durch den Staat Stellen im Jugendgerichtsbereich abgebaut. Das
Münchner Jugendgericht verfügte im Jahr 1994 noch über 15,25
Planstellen für Richter; 1998 waren es 13,7 und im Jahr 2000 12,7
Stellen.
339
340
SZ, 290, 1998, L 1
SZ, 16, 1999, L 1
181
Diese Tendenz ist umso bedenklicher, da die Zahl der Verfahren mit
mehreren Tätern im Ansteigen begriffen ist und so einer erhebliche
Mehrbelastung mit einem größeren Arbeitsaufwand für die betroffenen Richter erfordert.
Standen im Jahr 1993 noch 211 Richter-Planstellen im Bereich des
Jugendgerichts zur Verfügung, so sind es im Jahr 2000 nur noch
etwa 203 Stellen. Jugendgerichtshelfer wissen in der Regel nicht
mehr, was in der Familie der jugendlichen Straftäter los ist.
Unsere Gesellschaft kann sich nicht mehr genügend schützen. Ein
Beispiel dafür findet sich in Nordrhein-Westfalen. Hier wurden 70
Verbrecher vorübergehend freigelassen, weil es an Plätzen im Maßregelvollzug (Unterbringung von psychisch kranken Tätern) mangelt. Unter den Freigelassenen waren auch Täter, die schwerwiegende Straftaten begangen haben.
MORON: „Das Angebot an hochgesicherten Einrichtungen ist zu
gering, um die immer problematischer werdende Klientel sicher
unterbringen zu können.“341
Eine Reihe von Patienten, die aus Sicherheitsgründen in der forensischen Psychiatrie besser aufgehoben wären, befindet sich inzwischen
zur Behandlung in der Allgemeinpsychiatrie. Bisher sei auch kaum
untersucht, welche therapeutischen Konzepte in welchem Zeitraum
zu nachweisbaren Behandlungserfolgen und zu geringen Rückfallquoten führten.
Auch gewalttätige oder kriminelle Schüler in Förderschulen können
oftmals nicht einer Therapie zugeführt werden. Um die lernwilligen
Schüler zu schützen, müssen sie vom Unterricht ausgeschlossen und
ihre Straftaten konsequent angezeigt werden.
Eine Gesellschaft der Alleinerziehenden
In Deutschland gibt es im Jahr 2000 ca. 1,6 Millionen allein erziehende Mütter.
Sie leben mit einem Risiko von 17%, bald auf Sozialhilfe angewiesen zu sein.
341
SZ, 70, 2000, S. 2; MORON ist Vorsitzender eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses.
182
Die Senioren-Gesellschaft
Immer mehr Deutsche leben von Rente, Pensionen und Arbeitslosengeld. Das monatliche Gehalt ist nur noch bei vier von zehn Menschen die Lebensgrundlage. Von den 82 Millionen in Deutschland
lebenden Menschen bestritten im April 1999 nur noch 40,9% der
Gesamtbevölkerung ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit. (1991: 44,5%) 21,6% der Deutschen lebten 1999 vorwiegend
von Renten und Pensionen.342
Die kinderfeindliche Gesellschaft
In deutschen Familien leben immer weniger Mädchen und Jungen
unter sechs Jahren. Im April 1999 gab es im Vergleich zu 1991 etwa
4,5 Millionen (13%) weniger kleine Kinder. Im Ostteil Berlins und
in den neuen Ländern war ein besonders drastischer Rückgang zu
beobachten.343
Die Bereicherungsgesellschaft
Es gilt vor allem in den Industrienationen als „chic“, wenig zu arbeiten, viel Geld zu haben und sich viel leisten zu können. Oftmals
gelingt dies nur, wenn kriminelle Machenschaften im Spiel sind.
Dies ist vor allem aus den Bereichen der Politik, der Medizin und
auch der freien Wirtschaft bekannt.
Sechs Zahnärzte und drei Betreiber von Dentallabors wurden wegen
Steuerhinterziehung und Betrugs angeklagt. Zwischen 1987 und
1992 sollen Steuern in Millionenhöhe hinterzogen worden sein. In
2300 Fällen sollen Patienten und Krankenkassen betrogen worden
sein. So wurden z. B. billige Prothesen, Kronen und Brücken als
hochwertiger Zahnersatz deklariert.344 Mühelos ließen sich weitere
Beispiele aufzählen – auch aus dem Bereich des Beamtentums.
Die „Seitensprung-Gesellschaft“
Jeder vierte Deutsche zwischen 20 und 40 Jahren fühlt sich machtlos
gegen Seitensprünge.345
342
MM, 83, 2000, S. 1; Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes
SZ, 93, 2000, S. 16; Mitteilung des Statistischen Bundesamtes.
344
SZ, 249, 1999, S. 16
345
SZ, 92, 2000, S. 16; Repräsentative Umfrage des Männermagazins GQ
343
183
Aussage
Gegen Fremdgehen kann
man nichts unternehmen
Sexuelle Treue ist „eine
Verhöhnung der
menschlichen Natur“
Ein Seitensprung bringt
uns nicht auseinander
Ich verzeihe einen
Seitensprung
Angaben in Prozent
(M=Männer / F=Frauen)
24
12
12 M/14 F
12,5
Die Spar-am-falschen-Platz-Gesellschaft
Nur fünf von 30 Schülern schafften es in einer fünften Klasse einer
Münchner Schule, mehr als drei Klimmzüge zu machen. Ein Drittel
aller Kinder schaffte keinen einzigen Klimmzug.
Zunehmende Aggressivität, abnehmende soziale Kompetenz und die
große Anzahl von Einzelkindern bei gleichzeitiger Kürzung der
Sportstunden bereiten den Pädagogen zunehmende Schwierigkeiten.
FICHTNER betont, „dass durch die Kürzung des Sportunterrichts mittelfristig gewaltige Probleme und finanzielle Belastungen auf uns zukommen. Schon jetzt warnen die Beteiligten –
Ärzte, Krankenkassen, Pädagogen – vor einer Verschärfung der
Situation . . . Durch Kürzungen ist Bayern auf einen der letzten
Plätze abgerutscht . . . “346 Nach HESSE wurde der Schulsport in
Bayern durch Sparmaßnahmen fast bis zur Bedeutungslosigkeit
heruntergestutzt.347 VOSS zur Situation in Bayern: „Statt 90 Minuten werden an Gymnasien gerade noch 24 Minuten Differenzierter Sport gehalten, gerade sechs sind es an Realschulen, 17 an
346
SZ, 84, 2000, L 12; FICHTNER ist Lehrer am Gymnasium Unterhaching und bayerischer und oberbayerischer Landesschulobmann für Leichtathletik.
347
MM, 93, 2000, Jugendsport; HESSE ist Sportlehrer und Vorsitzender des TSV München-Ost.
184
Hauptschulen.“348 Die Minutenzahl verringert sich an den Förderschulen aus eigener Erfahrung nochmals erheblich.
Trotz der vielen Argumente für den Schulsport (Gesundheit, Sozialerziehung, Gewalt-, Drogen- und Suchtprävention) ist der Schulsport
für die Staatsregierung zur Manövriermasse geworden. GROFFIK
zur Wichtigkeit des Schulsports:
„Körperkontrolle ermöglicht selbstständiges Handeln, gibt
Selbstsicherheit, stärkt Selbstvertrauen. Bewegung, Spiel, Sport,
Integration in eine Gruppe fördert das Wohlbefinden.“
6 bis 7% der Schulanfänger leiden an Übergewicht, sogar 30 bis 40%
der Neuntklässler, darunter sind einige, die mehr als 100 Kilo auf die
Waage bringen und damit Gelenke, Hüften und Kreislauf über Gebühr strapazieren. 20 bis 24% der Kinder haben Störungen in der
Koordination, die Zahl der Legastheniker nimmt zu. Abhilfe „könnte eine Sporttherapie mit gezieltem Bewegungstraining schaffen .
. . durch Bewegung wird auch die geistige Potenz gefördert“.
Die müde Gesellschaft
Eine Befragung von mehr als 10 000 Jugendlichen ergab, dass jeder
dritte Jugendliche zwischen 14 und 25 Jahren über schnell eintretende Müdigkeit klagt. Mädchen sind mit 36% deutlich stärker betroffen
als männliche Jugendliche (27%). Über Rückenschmerzen klagten
19%, über Nervosität 20% der Befragten. Insgesamt waren besonders bei Kopfschmerzen die Befindlichkeitsstörungen bei jungen
Frauen höher als bei den Männern.349
Die „Verschwendergesellschaft“
Durch die Verschwendung öffentlicher Mittel werden nach DÄKE
jährlich Schäden in Höhe bis zu 60 Milliarden Mark verursacht.
Nach Ansicht des Bundes der Steuerzahler (BdST) bleiben die
Staatskassen ein „Selbstbedienungsladen“.
Die Staatsverschuldung in Deutschland betrug (am 19. 9. 2000)
348
MM, 93, 2000, Jugendsport; VOSS ist Präsidiumsmitglied des
bayerischen Landes-Sportverbandes und Vertreter des „ Aktionsbündnis für den Schulsport“; GROFFIK ist leitender Münchner
Schularzt.
349
MM, 93, 2000, S. 1; die Befragung wurde von der Gmündener
Ersatzkasse (GEK) durchgeführt.
185
2 381 275 312 736 DM (=2,381 Billionen DM). Pro Sekunde ist ein
Schuldenzuwachs von 2544 DM zu verzeichnen. Die Pro-KopfVerschuldung beträgt 29 104 DM.350
350
SZ, 217,2000, S. 25; DÄKE ist Vorsitzender des BdST.
186
Die verhaltensauffällige und psychisch auffällige
Gesellschaft
Psychische Auffälligkeiten bei Jugendlichen und Erwachsenen
Ein Vorwort zu den „Psychischen Auffälligkeiten“
Dieser Beitrag soll bereits vorhandene Lehrbücher zu diesem Thema
nicht ersetzen, wohl aber durch aktuelle, persönliche Informationen
und Perspektiven ergänzen. Alle Gesellschaften in den modernen
Industrienationen zeigen nicht nur starke Auflösungserscheinungen
sondern sind auch durch den Bruch zur Vergangenheit und die fehlende Verbindung zur Zukunft gekennzeichnet. Zerbrechende Familienstrukturen und die kulturellen Verschiedenheiten innerhalb der
einzelnen Nationen, gepaart mit einem unfassbaren technischen
Fortschritt und einer Wirklichkeitsauffassung, die in erster Linie
durch die Medien geprägt ist, führen zu einer Zunahme von psychischen Störungen und Auffälligkeiten.
LAMNEK351 belegte in einer Studie zu Beginn der neunziger Jahre
die Unwissenheit in der Münchner Bevölkerung in Bezug auf das
Wissen, was eine psychische Störung ist. 53% der Befragten hatten
kaum eine Vorstellung davon, was eine psychische Störung ist. Bezüglich der gängigen Therapieformen glaubten viele der Befragten
noch an Gummizellen, Zwangsjacken, Einheitskleidung und die
Verabreichung von Elektroschocks. Das Unwissen wurde mit „steinzeitmäßigen Vorurteilen“ und „bornierter Uniformiertheit“ kommentiert.
Die Zunahme psychischer Erkrankungen und Auffälligkeiten wird
vielleicht nur von den Berufsgruppen bemerkt, die über einen längeren Zeitraum mit Betroffenen zu tun haben. Es ist jedoch unabdingbar, eigene Einstellungen zu überprüfen und notfalls zu verändern,
wenn man mit diesen Menschen Kontakt halten und immer wieder
aufnehmen will.
Dieses Kapitel soll helfen, mehr Wissen zu erlangen und einen Beitrag leisten, interessierte Laien zu sensibilisieren, um psychisch
kranke Menschen besser zu verstehen. Auch schwer behinderte
351
LAMNEK, „Psychische Krankheit und Psychiatrie im Meinungsbild der Münchner“ in SZ, 192, 1999, VI
187
Menschen sind durchaus lernfähig. Es kommt nur darauf an, ob wir
bereit sind, den Dialog zu wagen.
Eine Gesellschaft, in der die Erwachsenen selbst unter so vielfältigen
psychischen Störungen leiden und die immer weniger imstande ist,
sinnvoll miteinander zu kommunizieren, muss zwangsläufig für das
Zustandekommen von psychischen Störungen bei Kindern verantwortlich gemacht werden. Nicht nur Lehrer oder Lehrerinnen, Eltern,
Kriminelle, Mediengestalter, sondern auch Politiker, Ärzte und
Pharmaproduzenten tragen eine Mitschuld an der Zunahme der Störungen. Die gesamte Gesellschaft – auch die Menschen, die diese
Auffälligkeiten ignorieren – ist für die ständige Zunahme dieser
Störungen verantwortlich.
Eine repräsentative Umfrage ergab nach HÄFNER352, dass jeder
vierte Deutsche behandlungsbedürftig sei und entweder Beratungsgespräche oder aber eine weitergehende Behandlung in Anspruch
nehmen sollte. Von psychischen Problemen besonders betroffen
seien Angestellte im Schichtdienst sowie Pendler. Es gibt – wie in
der Wissenschaft üblich – auch andere Ansichten, die durch Untersuchungen belegt werden. BULMAHN353 kommt aufgrund seiner
Studien zu folgenden Erkenntnissen:
Die Deutschen sind seelisch gesünder geworden. Die seelische Gesundheit hat sich in den vergangenen Jahren stark verbessert. Immer
weniger Bundesbürger litten unter mentalen Belastungen; Klagen
über Einsamkeit, Depressionen und Nervosität würden seltener. Die
Selbstmordrate sei so niedrig wie nie zuvor. Die Unterschiede im
Wohlbefinden zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen werden
jedoch größer.
Symptom
Unglücklich, niedergeschlagen
Wiederkehrende Ängste und Sorgen
Ständig aufgeregt oder nervös
Öfter erschöpft oder erschlagen
Frei von all diesen Symptomen
(altes Bundesgebiet)
352
Prozent
10
17
9
34
60 (1978: 41%)
MM, 220, 1999, S. 3; HÄFNER ist Mitarbeiter bei der Forschungsstelle für Psychotherapie in Stuttgart.
353
SZ, 131, 2000, S. 14; BULMAHN ist Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
188
Auch in den neuen Ländern hat sich die Situation nach dieser Studie
verbessert. 1990 waren nur 37% der Ostdeutschen frei von mentalen
Belastungen, heute sind es 52%.
Glück und Unglück sind in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen
ungleich verteilt. Die Jüngeren genießen vor allem die neuen Freiheiten, ältere Menschen leiden unter der Auflösung der familiären Bindungen. Vor allem bei den über 75-Jährigen ist ein dramatischer
Anstieg der Suizidrate zu verzeichnen.
ZEHETMAIR weist 1997 darauf hin, dass die Zahl der verhaltensgestörten Schüler an deutschen Schulen weiterhin zunimmt. So seien
25% der Schüler Scheidungswaisen. Weitere 30% der Schüler werden von Alleinerziehenden betreut. Die Familie als die Keimzelle der
Demokratie sei brüchig geworden. So könnten Schulen keinesfalls
das nicht Vorhandensein von Elternhäusern oder aber eine falsche
Erziehung kompensieren.354
Anlässlich der 12. Bundeskonferenz für Schulpsychologie in Münster wurde von Experten jedes fünfte Schulkind in Deutschland als
psychisch gestört eingeschätzt. Für mehr als 10 000 Schüler gebe es
im Schnitt nur einen Schulpsychologen.355
Nach Berichten von MAGIC ist jedes vierte Kind psychisch gestört.
Bei einem europaweiten Kongress über Kinder- und Jugendkriminalität in Paris bestätigten Mediziner, Sportpädagogen, Kriminologen
und Psychologen einhellig, dass der physische und psychische Zustand der Kinder sich enorm verschlechtert hat und Störungen erschreckend zunehmen.356
Die Mitarbeiter der Universitätskinderklinik Köln befragten in einer
ersten deutsche Studie über psychische Auffälligkeiten von Kindern
und Jugendlichen 2900 vier- bis 18-jährige Kinder und Jugendliche.
Dabei stellte sich heraus, dass sich mehr als sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland wegen ihrer Depressivität, ihrer
Ängstlichkeit oder ihren Zwängen schon einmal in psychotherapeutischer Behandlung befanden.357 Ein wesentliches Ergebnis der Studie
war die Erkenntnis, dass die Eltern nicht in alle Lebensbereiche ihres
Nachwuchses Einblick haben und dass die Kinder sich selber anders
354
MM, 9/3, 1997, S. 1
MM, 232/41, 1996, S. 1
356
MM, 41, 2000, J 5
357
MM, 138, 2000, S. 1
355
189
einschätzen, als dies ihre Eltern tun. Vielen Eltern entgehe so der
Alkohol- und Drogenkonsum ihrer Kinder.
BÜSCHING sieht eine Gefährdung der Jugendlichen nicht in erster
Linie durch Infektionen oder Erkrankungen, sondern vor allem durch
Risikoverhalten wie unersättlichen Erlebnishunger, Risikobereitschaft und Reizüberflutung in allen Lebensbereichen.358
Nach einem Bericht, der auf einem Internistenkongress vorgestellt
wurde, erkranken in Deutschland immer mehr Menschen an psychischen Störungen.359
Im Jahr 2000 gab es wegen solcher Leiden im Schnitt 1,32 Fehltage
pro Versicherungsnehmer. Damit ergibt sich eine Zunahme von
einem halben Tag im Vergleich zum Jahr 1991. Bei den Männern
wurden Klinikeinweisungen in erster Linie wegen Alkoholmissbrauchs vorgenommen, während bei den Frauen Depressionen die
häufigste Ursache waren. In den vergangenen zehn Jahren stieg der
Anteil psychischer Störungen bei allen Krankheitsfehltagen um 62,5
%. Bei psychisch bedingten Klinikaufenthalten war im gleichen
Zeitraum eine Steigerung von 40,3% zu verzeichnen.
„Die Gesellschaft im übrigen tut ihr Äußerstes, jede Art von Sucht
zu fördern, nicht allein aus wirtschaftlichen Gründen, um an den
umgesetzten Suchmitteln über die Steuern Anteil zu gewinnen, sondern um die Schwäche von Menschen in jeder Form auszubeuten.“360
Bei dem Versuch der Beschreibung und Klassifizierung psychischer
Störungen sollte nach SCHULZ stets die folgende Tatsache berücksichtigt werden: „Beinahe die ganze deutsche Psychologie stammt
aus Amerika. Wir übernehmen kritiklos die amerikanischen Störungsbilder und Therapieprogramme. . . . Die Frage nach unserem
eigenen kulturellen Umgang und darauf basierenden Therapien in
der Psychologie wird gerade erst gestellt. “361
Zum Teil oftmals erhebliche kulturelle Unterschiede werden nicht
oder in zu geringem Maße berücksichtigt.
358
BÜSCHING ist Arzt; auf einem Medizin-Kongress in Weimar; in
SZ, 59, 2000, S. 16
359
MM, 94, 2001, S. 1
360
DREWERMANN, 2001, S. 171
361
SZ, 94, 2002, V2 /15; SCHULZ arbeitet als Psychologe an der
Universität Braunschweig.
190
ROSENHAHN weist auf die Schwierigkeiten hin, die sich ergeben,
wenn Diagnosen im psychiatrischen Bereich gestellt werden:
„Wann immer das Verhältnis von dem, was wir wissen, zu dem was
wir wissen sollten, sich dem Punkt Null nähert, neigen wir dazu,
»Wissen« zu erfinden und anzunehmen, dass wir mehr davon besitzen als tatsächlich der Fall ist. Wir scheinen nicht anerkennen zu
können, dass wir etwas schlicht nicht wissen. . . . In Wirklichkeit
wissen wir seit langem, dass Diagnosen häufig weder sinnvoll noch
zuverlässig sind. . . . Wir wissen jetzt, dass wir Geisteskrankheit
nicht von Normalität unterscheiden können.“362
WATZLAWICK: „Da wird die Pathologie als bekannt angenommen,
die Normalität dagegen als schwer, wenn überhaupt definierbar. Dies
öffnet sich selbst erfüllenden Diagnosen Tür und Tor.“363
Die folgenden Versuche einer Zusammenfassung und eines fragmentarischen Überblicks sind somit nur als „Mosaiksteine“ zu verstehen,
die der Leser selbst überdenken muss, um sich ein Bild vom Zustand
unserer Gesellschaft zu verschaffen.
362
ROSENHAHN in: „Gesund in kranker Umgebung“ in WATZLAWICK, 2001, S. 132 und 133
363
WATZLAWICK/KREUZER, 2001, S. 64
191
192
Ein Überblick über (häufig) beobachtete Störungen
und Auffälligkeiten
Aggressivität
Eine Umfrage unter 3011 Familien ergab, dass Jungen doppelt so
häufig betroffen seien wie Mädchen. 6% der männlichen Kinder und
Jugendlichen zwischen vier und 18 Jahren verhalten sich nach Beschreibung ihrer Eltern bösartig. Bei den Mädchen sind es 3%.
In Deutschland gelten 600 000 Kinder als „ausgeprägt aggressiv“.
Stadtkinder zeigten nur leicht höhere Werte von Aggressivität. Es
wurde kein Unterschied zwischen armen und reichen Familien festgestellt. Im Verhalten der Kinder von alleinerziehenden Eltern wurde
bei den Mädchen eine offenbar deutlichere Aggressivität festgestellt
als bei den Mädchen, die beide Elternteile hatten. Bei den Jungen
war dies nicht der Fall.364
Nach einer im Raum Heidelberg durchgeführten Studie an Grundschulen zeigen bereits 15% der Schulkinder aggressives Verhalten.
2% dieser Schüler wiederum gelten als „hoch risikobelastet“. Diese
Kinder werden von Gleichaltrigen und Lehrkräften wegen ihres
impulsiven und aggressiven Verhaltens zurückgewiesen und überfordern Lehrer und Erzieher.365
Analphabetismus – Problemkinder
Laut UNESCO gibt es in Deutschland rund 1 Million funktionale
Analphabeten, allein in München Zehntausende. Zu ihnen gehören in
erster Linie die Jugendlichen, die ohne Abschluss von der Schule
gehen; das sind ca. 11% nach Schätzungen des Stadtschulamtes in
München. Diese jungen Menschen sind die Langzeitarbeitslosen von
morgen, da sie keine Chance auf eine Berufsausbildung besitzen.
Das Projekt „Gilgamesch“ in München, das unter Mitarbeit von
BERTAU366 in Zusammenarbeit mit der LMU München und der
364
SZ, 261, 1996, S. 12
Maximilianeum, 6 / 99, S. 85
366
SZ, 187, 1999, L 2; Marie-Cecile BERTAU ist Psycholinguistin
am Institut für Phonetik und sprachliche Kommunikation an der
Ludwig-Maximilians-Universität München; der Unterricht findet in
der Oettingerstraße 67 in München statt.
365
193
Volkshochschule geleitet wird, versucht, durch Darbietung der
„Sprache in allen Formen“ den betroffenen Menschen zu helfen.
Neben dem Ziel, Spaß am Lernen zu vermitteln, wird vor allem auch
durch regelmäßige rhythmische Übungen bei Rhythmik-Spezialisten
versucht, die Lernvorgänge zu intensivieren und effektiv zu gestalten, da Lese- und Schreibstörungen oft mit Wahrnehmungsschwächen gekoppelt sind. Als hauptsächliche Ursache für den funktionalen Analphabetismus bei Mädchen und jungen Frauen sieht BERTAU besonders den Zwang zur Mithilfe zu Hause.
„Im Grunde ist das eine Form von Missbrauch“.
Anorexia nervosa (siehe auch Essstörungen)
Diese Erkrankung gilt als eine der gefährlichsten psychosomatischen
Erkrankungen. Zwei von 100 jungen Menschen in den modernen
Industriestaaten leiden daran, einer von zehn Patienten stirbt.367
Amokläufe
Amokläufe sind Panikreaktionen, bei denen alle Hemmvorgänge
aussetzen.
FREISLEDER368 nennt als Ursachen von Amokläufen folgende
Gründe:







ein chronisch schwelender, psychischer Konflikt
Charaktere, die primär aggressiv gehemmt sind, also alles in
sich hineinschlucken
Zustände enormer innerer Anspannung
Einzelgängertum (vor allem bei Erwachsenen); Kontaktprobleme
fehlender Rückhalt im persönlichen Umfeld
Verfügbarkeit gefährlicher Waffen
Amokläufer fühlen sich immer ungerecht behandelt, senden
dabei keine Alarmzeichen aus.
Auslöser von Amokläufen sind meist kränkende Provokationen.
367
SZ, 289, 2001, VII
SZ, 254, 1999, L 10; FREISLEDER ist Leiter der HeckscherKlinik für Jugendpsychiatrie in München.
368
194
Angststörungen
Etwa jeder zehnte Mensch in Deutschland leidet an krankhaften
Angstanfällen, Panikstörungen oder Angstattacken.369
10% der Jugendlichen und Kinder in Deutschland leiden unter
schweren seelischen, meist chronischen Angstzuständen. Mädchen
sind viermal häufiger betroffen als Buben.
Als am häufigsten auftretende Störung wird von den Experten eine
Phobie angegeben. Die davon betroffenen Kinder fürchten sich vor
einer Situation oder einem Ort. Auch Ängste vor bestimmten Objekten, vor Leistung, Blamage oder Trennung kommen häufig vor.
Unbestimmte Panikattacken, Zwangshandlungen und Angstzustände
als Folge von extremen traumatischen Erlebnissen, z. B. Misshandlungen, sollten fachärztlich behandelt werden. Angst tritt oft im
Zusammenhang mit Depressionen oder Hyperaktivität auf.
Besonders die jugendlichen Patienten haben oftmals Probleme in der
Schule, mit der Familie und mit dem Aufbau von Freundschaften.370
Die größte Angst von Kindern ist die vor einem Unglück in der Familie.
Im Auftrag der „R+V Versicherung“ wurde vom Institut für Jugendforschung eine Untersuchung an 1000 Kindern im Alter zwischen
sechs und 14 Jahren durchgeführt.
Danach folgen Ängste vor einem Krieg, und davor, dass es immer
mehr Verbrecher gibt, die Kindern Böses antun.
Von den Mädchen wurden größere Ängste als von den Jungen geäußert – besonders bei den Themen Sittlichkeitsverbrechen und Krieg.
Außerdem wurden von den ostdeutschen Kindern zum ersten Mal
mehr Ängste geäußert als von den westdeutschen. Die Ängste vor
schlechten Noten in der Schule, vor Arbeitslosigkeit und Geldnot
waren hier mehr vorhanden. An letzter Stelle rangierte bundesweit
die Angst vor Problemen mit Ausländern.371
GLANZMANN 372 weist darauf hin, dass durch den frühen Weihnachtskommerz starker Stress ausgelöst werden kann. Diese wochenlange Zusatzbelastung kann dazu führen, dass manche Menschen
369
MM, 258, 2001, S. 1; Angaben von Psychiatern und Psychotherapeuten auf einem Kongress an der Universität Münster
370
Münchner Medizinische Wochenschrift
371
SZ, 137, 1999, S. 16
372
MM, 260, 2001, S. 1; GLANZMANN ist Psychologie-Professor
in Mainz.
195
regelrechte Angstsymptome entwickeln, an Übelkeit leiden oder in
ihrer Arbeitsfähigkeit nachlassen.
„Sie haben einfach das Gefühl, nicht mehr zurechtzukommen.“
Behandlung von Angststörungen
a) Expositionstherapie373
Bei dieser in speziellen Kliniken praktizierten Therapie sollen die
Patienten die Erfahrung machen, dass sie nicht von der Angst beherrscht werden, sondern die Angst in den Griff bekommen können.
In Situationen, die erfahrungsgemäß Angst auslösen, wird gelernt,
diese selbst so zu verstärken, dass sie weiter zunimmt. Durch die
aufkommende Erschöpfung wird der Angstzustand „von selbst“
beendet.
Durch das Einsperren in eine Dunkelkammer wird dann Angst erzeugt.
b) Spieltherapie
Kinder, die depressiv sind, unter Angststörungen oder Zwangszuständen leiden, können mit einer Spieltherapie, die zwischen 25 und
50 Sitzungen mit jeweils 50 Minuten umfasst, therapiert werden.
Elterngespräche ergänzen die Behandlung. Auch Gruppensitzungen
eignen sich gut zur Behandlungen dieser Störungen, weil sich nach
HOCKEL die Kinder hier „in ihren unterschiedlichen Fähigkeiten
ergänzen“.374
Das Kind macht bei der Spieltherapie mit einem entsprechend großen Angebot die Erfahrung, „ . . . dass es hier in eine Welt kommt,
die für Kinder gemacht ist“. Das Spielen wird „in unserer Welt total
unterbewertet“.
Obwohl gerade die Industrie Spielzeug in Massen herstellt, müssen
Kinder immer häufiger in Lebenswelten aufwachsen, in denen für sie
eigentlich kein Platz und keine Zeit vorhanden ist.
373
SZ, 160, 2001, VI
MM, 271, 2001, S. 4; HOCKEL ist Kinderpsychotherapeut und
Leiter des Münchner Instituts für Kinder- und JugendlichenPsychotherapie.
374
196
Arzneimittel – regelmäßige Einnahme
30% der Jugendlichen zwischen 13 und 17 Jahren nehmen laut
HURRELMANN nach dem Vorbild der Erwachsenen regelmäßig
Arzneimittel ein.
Die Eltern prägten durch ihr Verhalten die Einstellung der Heranwachsenden zu Pillen, Kapseln und Tropfen. 10% der Jugendlichen
seien Konsumenten von Schlaf- und Beruhigungsmitteln, 6% hätten
Erfahrungen mit Aufputschmitteln.375
Autismus
Nach internationalen Untersuchungen sind vier bis fünf von 10 000
Kindern autistisch.
Buben sind drei bis viermal häufiger von dieser Störung betroffen als
Mädchen.
Die Anzahl der Autisten in Europa wird auf etwa 1 000 000, die
Anzahl in Deutschland auf 60 000 geschätzt. Die Ursachen für diese
Erkrankung sind noch nicht erforscht, neuere Forschungen deuten
jedoch darauf hin, dass ein genetischer Defekt bei der Beteiligung
mehrerer Gene charakteristisch bei Autisten ist. POUSTKA gelang
es zusammen mit anderen europäischen und amerikanischen Forschern, zwei Regionen im menschlichen Erbgut zu identifizieren, die
an der Entstehung des Autismus beteiligt sind. Bei der Analyse des
Erbgutes wurde der lange Arm von Chromosom 7 und der kurze
Arm von Chromosom 16 als mitbeteiligt entdeckt.376 Jetzt beginnt
die Suche nach den entscheidenden Genen.
Autismus ist eine schwere Beziehungs- und Kommunikationsstörung, die als angeboren gilt.
Von dieser Störung betroffene Kinder können keine Beziehung zu
den eigenen Eltern oder anderen Kindern herstellen. Gesten, Worte
oder Lächeln werden zunächst nicht verstanden.
Bei der intellektuellen Begabung sind viele Varianten zu beobachten.
Sowohl eine geistige Behinderung als auch das Vorhandensein einer
normalen Intelligenz (soweit Intelligenz überhaupt gemessen werden
375
SZ, 279, 1999, S. 16; HURRELMANN bei der Tagung des Instituts für Lehrerfortbildung und der Techniker Krankenkasse (TK)
376
MM, 81, 1998, S. 3; POUSTKA ist Professorin in der Abteilung
für molekulare Genomanalyse an der Universität Heidelberg und
zugleich am Deutschen Krebsforschungszentrum.
197
kann) sind möglich. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Menschen
mit autistischen Störungen oftmals zu erstaunlichen Teilleistungen in
der Musik, im Rechnen, im technischen Bereich oder auf anderen
Gebieten fähig sind. Spielzeug wird oftmals in zweckentfremdender
oder in immer gleicher Weise benutzt. Häufig werden auch Stereotypien entwickelt wie das Drehen und Kreiseln von Rädern oder das
Wedeln mit Fäden oder Papier.377 Ungewohntes irritiert autistische
Menschen auf das Äußerste.
Die genauen Ursachen des Autismus sind unklar. Geschwister von
autistischen Kindern sind von diesem Leiden etwa 75mal so häufig
betroffen wie der Durchschnitt der Bevölkerung (zwei bis vier von
10 000 Geburten). Bei einer Untersuchung von 99 Familien mit
mindestens zwei autistischen Kindern wurden Blutproben analysiert.
Dabei wurden sechs Bereiche auf verschiedenen Chromosomen
gefunden, in denen mit größter Wahrscheinlichkeit Autismusgene
vermutet werden. Das funktionelle Zusammenspiel im Gehirn wird
offenbar durch mehrere Gene beeinträchtigt.378
Nach neuesten Forschungsergebnissen sind zwei Gen-Defekte –
Varianten auf den Genen 15 und 7 – für Autismus verantwortlich.
Dies wurde bei einem Gen-Vergleich von über 100 Familien mit
mindestens zwei autistischen Kindern festgestellt.379 Die Diagnose
soll durch einen Fragenkatalog mit 117 Fragen erleichtert werden.
Weitere Beobachtungen:




377
Jedes zweite autistische Kind schneidet bei einem Intelligenztest
mit einem IQ unter 70 ab.
40% der autistischen Kinder unter 16 Jahren haben einen größeren Kopfumfang als ihre Altersgenossen.
An den Nervenzellen wurden Veränderungen festgestellt.
Etwa jedes dritte Kind produziert den Nervenbotenstoff Serotonin im Überschuss.
MM, 8, 1997, J 6
Human Molecular Genetics, März 1998
379
MM, 53, 2000, S. 4; Duke Universität in Durham, North Carolina,
USA
378
198
Nach SINGER ist Autismus auch darauf zurückzuführen, dass es den
Kleinkindern nicht gelingt, aus Gestik und Mimik der Bezugspersonen die emotionalen Signale zu dechiffrieren.380
Berufliche Probleme – Risiko der Entstehung von Depressionen
durch mangelnde Bereitschaft zum Zuhören
Männer wollen sich nach einer Studie von CROSSFIELD381 abends
nicht die Probleme ihrer Partnerinnen anhören. Viele Männer fühlen
sich belastet, wenn zu ihrem eigenen Berufsstress noch die Auseinandersetzungen mit dem Erzählten ihrer Partnerin dazukommt.
Bei den Männern bestehe im Vergleich mit den Frauen ein doppelt
so hohes Risiko, dadurch depressiv zu werden.
Diese Tatsache wird dadurch erklärt, dass Männer außerhalb der
Partnerschaft geringere emotionale Unterstützung erfahren. Frauen
seien dagegen nicht so ausschließlich auf ihren Partner angewiesen
wie Männer. Für viele Männer sei die Partnerin der einzige Mensch,
von dem sie emotionale Unterstützung bekämen.
Bettnässen
GONTARD nimmt als Ursache für das nächtliche Bettnässen ( Enuresis nocturna) eine vorübergehende Reifungsstörung des Gehirns
an. Etwa 10% der Siebenjährigen haben mit diesem Symptom Probleme. Bei den Erwachsenen wird das Vorkommen auf 1:100 geschätzt.
Wurden bisher eine Blasenschwäche oder aber Erziehungsfehler der
Mütter als Ursachen vermutet, so gehen neuere Forschungsansätze
von einer Störung des Hormon- und Nervensystems der Kinder aus.
Sowohl der feste Schlaf der Kinder als auch die erhöhte Urinproduktion und das Versagen des Wecksystems tragen zu dem Problem bei.
Die Aufwachstörung wird nun auf eine von den Eltern geerbte genetische Veranlagung zurückgeführt, da in 60 bis 70% der Familien
auch andere Mitglieder betroffen seien. Untersuchungen des Erbgutes von 42 betroffenen Kindern brachten den Hinweis darauf, dass
380
www.mpih-frankfurt.mpg.de/global/np/mckinsey.htm; SINGER
ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung.
381
SZ, 4, 2000, S. 12; Sophie CROSSFIELD ist Psychologin an der
Universität Hertfordshire.
199
die Anfälligkeit nicht auf ein einziges Gen zurückgeführt werden
kann, sondern dass in verschiedenen Familien unterschiedliche Gene
für dieses Symptom verantwortlich sind.
10 bis 20% der Kinder nässen nachts allein dadurch nicht mehr ein,
dass sie einen Kalender führen, in welchen nasse und trockene Nächte eingetragen werden. Auch eine apparative Verhaltenstherapie
kann bei 50 bis 70% der Kinder das Problem lösen.
Eine sekundäre Enuresis kann durch einschneidende Lebensereignisse wie Scheidung der Eltern, Geburt eines Geschwisters oder den
Tod eines Familienmitgliedes erneut auftreten.
Ein Fehlverhalten von Eltern wird nicht mehr als Ursache angenommen.382
Binge-Eating-Disorder (BED)
In Deutschland leiden 400 000 Menschen an Essanfällen ohne anschließendes Erbrechen. Etwa 83 000 Männer haben ein krankhaft
gestörtes Verhältnis zum Essen. FICHTER: „Bei Männern dürfte
BED prozentual gesehen etwas häufiger als bei Frauen vorkommen,
Magersucht dagegen etwas weniger oft.“383
Männer besitzen ein intensiver ausgeprägtes Verlangen nach einem
Traumkörper mit perfekt ausgeprägten Muskeln. Essgestörte Männer
finden sich in allen Berufsgruppen und Gesellschaftsschichten. In
vielen Fällen steht die Einstellung zur Sexualität in engem Zusammenhang mit den Esstörungen bei Männern. So stellte sich bei 95%
von 42 magersüchtigen Männern heraus, dass durch das Hungern
versucht wurde, den Sexualtrieb zu unterdrücken. Das Thema Sexualität war bei 80% dieser Männer innerhalb der Familie ein Tabu. Die
Identifikation mit dem Vater sei oftmals gestört gewesen. Dies zeige
Auswirkungen in der Annahme von männlichen Attributen und Rollen. Ein Drittel der untersuchten Männer beschrieb sich als homosexuell. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass nur Homosexuelle gefährdet sind.
Der Krankheitsverlauf zeigt sich bei Männern vielfältiger als bei
Frauen. Bei Männern treten Essstörungen in vielen Fällen im Zusammenhang mit Alkoholismus, Angsterkrankungen, Depressionen
382
GONTARD, Universitätsklinik Köln in SZ, 235, 1998, V 2 /9
SZ, 55, 2000, V 2 /14; FICHTER ist Neurologe und Psychiater; er
leitet die Psychosomatische Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee.
383
200
und Persönlichkeitsstörungen auf, wurde durch die bisher größte
europäische Studie an über 100 Männern ermittelt. Eine andere Studie aus den USA stellte ein erhöhtes Risiko für psychiatrische
Krankheiten fest.384 Die Krankheit wird in der Regel bei Männern
später erkannt als bei Frauen. Die Ursache liegt darin begründet, dass
die Männer sich selbst nicht eingestehen wollen, dass sie an einer
„Frauenkrankheit“ leiden.
„blame game“
Die Schuld für bestimmte Entwicklungen (familiär, wirtschaftlich,
staatlich) wird durch Tricks und Spielchen bei anderen gesucht, ohne
sich selbst dabei in Frage zu stellen.
Beim „blame game“ geht es nicht um die Suche nach konstruktiven
Lösungen zum Wohle aller Beteiligten, sondern in erster Linie darum, andere auch unter Zuhilfenahme unfairer Methoden aus dem
Spiel zu werfen. Die Ausbreitung dieses „Gesellschaftsspiels“ trägt
zur Entstehung psychischer Störungen bei. Es wird gefördert durch
entsprechende Medien-Events wie Big Brother; hier werden Mitspieler, die sich nicht entsprechend behaupten können, durch Zuschauer
aus dem Spiel geworfen, ohne sich rechtfertigen zu können.
Borderline-Gesellschaft
KREISMAN/STRAUS weisen darauf hin, dass wir in einer Borderline-Gesellschaft leben. Wie häufig bei psychischen Erkrankungen
werden mehrere Faktoren in wechselseitiger Abhängigkeit für die
Entstehung dieser Krankheiten verantwortlich gemacht:





das biochemische Ungleichgewicht
neurologische Faktoren
genetische Faktoren
Aufwuchsbedingungen/Erziehung
Medikamente.
Interessanterweise wird die Borderline-Persönlichkeitsstörung mit
folgenden neurologischen „Unterfaktoren“ in Verbindung gebracht:
384
Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, Bd. 38, 1999, S. 829
201
Lernschwächen, Hyperaktivität, Epilepsie, Kopftrauma und Gehirnhautentzündung.385
Besonders bei Gehirnhautentzündungen ist wiederum die Frage zu
stellen, ob diese nicht in vielen Fällen durch Impfungen verursacht
wurden. STEINHAUSEN weist ebenfalls auf die Möglichkeit der
Entstehung organischer Psychosyndrome durch Impfungen hin.386
Diese Meinung wird auch von BUCHWALD, DELARUE, COULTER und COURNOYER vertreten.387
Bruxismus
Unverarbeiteter Stress ist nach FRANZ388 die Ursache für das bei
vielen Kindern und Erwachsenen vorkommende nächtliche Zähneknirschen. Etwa 30% der Zahnarztbesuche sind auf Schäden des
nächtlichen Knirschens zurückzuführen. Zahnmediziner und Psychologen befassen sich derzeit mit der Entwicklung eines verhaltensmedizinischen Gruppentherapieprogrammes.
Down-Syndrom389
Durch jahrzehntelange Vorurteile galten Kinder mit diesem Syndrom
als geistig behindert, körperlich schwach und kaum entwicklungsfähig. Dadurch wurden viele mögliche Entwicklungen verhindert.
Kinder mit Down-Syndrom weisen eine erbbedingte Chromosomenverschiebung auf. Etwa jedes 600. Kind wird mit einem DownSyndrom geboren. Kinder mit Down-Syndrom sind überdurchschnittlich häufig von Herzkrankheiten betroffen und dadurch körperlich weniger robust; sie lernen langsamer als andere Kinder. Am
leichtesten lernen sie, indem sie die Mitmenschen nachahmen. Sie
385
KREISMAN/STRAUS, 1997, S. 91
STEINHAUSEN, 1996, S. 95
387
BUCHWALD, 1995, COULTER, 1995, DELARUE, 1995,
Cynthia COURNOYER, 1996
388
MM, 41, 2000, J 5; FRANZ ist Professor für psychophysiologische Affektforschung der Westdeutschen Kieferklinik in
Düsseldorf.
389
SZ, 190, 1998, L 6
386
202
befinden sich oft in einer besonders heiteren Stimmung und sie sehen
auch anders aus :
Die Augen liegen nicht so tief im Gesicht und das Kinn ist oft nicht
so stark ausgeprägt.
Manche Kinder mit Down-Syndrom fallen durch besondere Begabungen auf. Entweder sind sie musikalisch besonders begabt oder sie
lesen gerne und viel, andere wiederum haben ein besonderes Talent
im Umgang mit Farben.
Der Umgang mit Zahlen und Mathematik bereitet im Gegensatz zum
Erlernen des Lesens und Schreibens wesentlich mehr Schwierigkeiten.
Im Umgang mit diesen Kindern gilt als oberste Regel:
Es ist wichtig, sie zuallererst als Kinder wie andere zu behandeln und
auch zu verstehen und sie nicht als Behinderte auszugrenzen.
Drogen
Vererbung – Erziehung . . . oder . . . ? Eine neuere Studie
Die Gene spielen offenbar doch eine erhebliche Rolle bei der Entstehung von Suchtkrankheiten (Nikotin, Medikamente, Heroin). Durch
Familien-, Adoptions- und Zwillingsstudien wurde die Veranlagung
zur Sucht deutlich belegt. Bei vielen Patienten zeigte sich, dass der
genetische Faktor weitaus stärker beteiligt war als soziale oder familiäre Probleme.
GOLDMANN: „Adoptivkinder beispielsweise, die einen Alkoholiker als Elternteil hatten, haben auch in ihren neuen Familien, in denen kein Alkoholmissbrauch betrieben wird, ein drei- bis viermal
höheres Risiko, abhängig zu werden, als andere adoptierte oder in
Pflege gegebene Kinder.“390
Die vorhandenen Daten der durchgeführten Studien lassen den
Schluss für die westlichen Industriestaaten zu, dass die hier besonders verbreitete Alkoholabhängigkeit zu 50 bis 60% genetisch bedingt sei. Besonders den Genen, die für die Ausbildung der Rezeptoren an den Nervenzellen verantwortlich seien, könnte bei der Entstehung von Sucht eine besondere Rolle zufallen. Sie sorgen auch für
390
MM, 161, 2001, S. 3; 7. Weltkongress für Biologische Psychiatrie; GOLDMANN ist Professor am Nationalen Institut für Alkoholmissbrauch in Bethesda, USA.
203
das Andocken der Nervenbotenstoffe Serotonin und Dopamin oder
die Verstoffwechslung von Opioiden.
204
Versuch einer Bestandsaufnahme
Rauschgift
Die Zahl der Drogentoten ist in den ersten acht Monaten des Jahres
1999 laut Rauschgiftstatistik des Bundesinnenministeriums gestiegen. 1004 Menschen starben an ihrer Sucht. Das waren 44 mehr als
im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor. Die Anzahl der Erstkonsumenten reduzierte sich von 11 813 auf 11 622.
Der Anteil an Kokain- und Amphetaminkonsumenten ist jedoch
gestiegen. In den ersten acht Monaten des Jahres 1997 koksten laut
dieser Statistik 2803 Menschen (1998: 3152). Zu Amphetaminen
griffen in diesem Jahr 3569 Personen, im Vorjahr waren es 3047.
Der Konsum von Ecstasy und LSD wird als rückläufig bezeichnet.391
Die Zahl der Drogentoten in Bayern stieg im Jahr 1998 sprunghaft
an. Gegenüber dem Jahr 1997 war mit 312 Todesfällen eine Steigerung von 42% zu verzeichnen. In München war eine Steigerung von
14% (von 57 auf 66) zu beobachten; dies bedeutet 5,8% mehr als im
Bundesdurchschnitt. Suchthilfe-Experten vermuten, dass der vom
Gesetzgeber erzwungene Codein-Ausstieg für die zusätzlichen Opfer
mit verantwortlich ist.392
Im Jahr 1999 stieg die Zahl der Drogentoten auf den höchsten Stand
seit 1993. Mindestens 1723 Menschen starben 1999 am Rauschgiftkonsum.393 Im Jahr 1993 waren 1738 Todesfälle (1998: 1674) zu
verzeichnen.
In Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg war der stärkste
Anstieg zu beobachten.
Im Jahr 2000 starben bundesweit 2023 Menschen an Drogen. Dies
bedeutet eine Steigerung um 12% im Vergleich zum Vorjahr.394
Im Jahr 2000 starben
 40 000 Menschen nach Alkoholmissbrauch
 100 000 an den Folgen des Rauchens.
391
MM, 222, 1998, S. 1
SZ, 11, 1999, L 3
393
SZ, 2, 2000, S. 13; Länderumfrage der Nachrichtenagentur AP
394
SZ, 50, 2001, S. 2; eine Information der Drogenbeauftragten der
Bundesregierung, Marion Casper-Merk
392
205
Auffällig sei ein steigender Anteil junger Aussiedler unter den Drogentoten.
Bei den Zwölf- bis 17-Jährigen hat sich die Drogenerfahrung erhöht,
so eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
Cannabis, Ecstasy und Amphetamine würden häufiger konsumiert.
Mädchen und junge Frauen sind für illegale Drogen anfälliger als
früher.
In Ostdeutschland hat sich die Drogenerfahrung der Zwölf- bis 25Jährigen verdreifacht (von 6% auf 17%).395
Die DHS spricht von 250 000 bis 300 000 Menschen, die harte Drogen nehmen, davon 100 000 bis 150 000 mit riskantem Konsumverhalten.396
Drogen spielen auch eine zunehmende Rolle bei dem Zustandekommen von Verkehrsunfällen mit Personenschaden. Waren es im Jahr
1997 noch 109 bekannt gewordene Fälle, so stieg die Anzahl im Jahr
1998 auf 157.397
In Bayern sind 1998 knapp 42% mehr Menschen ihrer Drogensucht
zum Opfer gefallen als ein Jahr zuvor. So waren 312 Drogentote zu
beklagen, im Vorjahr vergleichsweise 220. Bundesweit gab es einen
Anstieg um 7,9% schon bis Ende November. 1997 waren 1501 Menschen an Drogen gestorben.398
Einer weiteren Meldung nach hat die Zahl der Drogentoten in Bayerns Ballungszentren im laufenden Jahr (2000) dramatisch zugenommen. STAMM teilte mit, dass die Zahl der Todesfälle in München um 50%, in Nürnberg sogar um 65% im Vergleich zum Vorjahr
gestiegen sei. Bayernweit sei ein Zunahme um 7% zu verzeichnen.
Die genauen Ursachen des Anstiegs seien unklar.399
395
MM, 291, 1998, S. 2
SZ, 292, 1998, S. 12
397
MM, 115, 1999, S. 1
398
MM, 3, 1999, S. 1
399
MM, 136, 2000, S. 1
396
206
Als Drogentote werden statistisch folgende Gruppen erfasst:




Tod durch eine Überdosis durch ein oder mehrere Rauschmittel
Tod durch Langzeitkonsum
Tod durch Unfälle, die auf den Einfluss von Drogen zurückzuführen sind
Selbstmorde wegen existenzieller Not, die sehr häufig mit der
Abhängigkeit einhergeht.
Altersdurchschnitt der Drogentoten in München: 32,7 Jahre
Alter
Prozent
über 50%
30 bis 40
älter als 40
12,5
unter 20
1
Obduktionen ergaben, dass nur zehn der Opfer (25%) Konsumenten
einzelner Drogenarten waren.
Der Anteil unter den Tatverdächtigen erhöhte sich bei den Minderjährigen um mehr als 6%. Jünger als 18 Jahre war jeder dritte (1742
von 4884).400
In München ist die Zahl der Drogentoten im Jahr 1999 im Vergleich
zum Vorjahr (1998: 72 und 1997: 60) gesunken. In den vergangenen
zwölf Monaten starben 61 Männer und Frauen an den Folgen des
Drogenkonsums. Eine Erklärung für diese statistischen Schwankungen gibt es nicht.401
Ein besonderes Problem stellen die drogenabhängigen Frauen mit
ihren Kindern dar. In München leben wenigstens 2000 weibliche
Junkies mit etwa 1800 Kindern, die zumeist süchtig auf die Welt
gekommen sind.
Dazu SOLTAU: „Schon allein der Konsum einzelner Substanzen
und der dazu gehörende Lebensstil hat stark schädigende Auswirkungen in der Schwangerschaft und auf die weitere Entwicklung der
400
401
SZ, 135, 2000, L 1
SZ, 2, 2000, L 1
207
Kinder – durch den Mischkonsum verschärfen sich die Komplikationen.“402
Sie zeigen sich bei polytoxikomanen Müttern und ihren Kindern in
Form von:








Früh- und Krisengeburten
Babys mit Entzugssyndromen
Entwicklungsstörungen im Embryonalstadium
Wachstumsstörungen bei den Säuglingen
Die Säuglinge erhalten zu wenig fürsorgliche Zuwendung
Ein kindgerechter Lebensrhythmus wird nicht wahrgenommen
Fehlen einer ruhevollen Atmosphäre
Fehldeutungen einzelner einfacher Bedürfnisse des Kindes
(trinken, essen, schlafen).
Nach LEUNE konsumiert jeder sechste bayerische Schüler außerhalb der Großstädte regelmäßig Drogen.
Diese sei das Ergebnis einer Studie mit 3020 Schülern aus München
und Umgebung. 40% der Schüler nahmen danach ab und zu
Rauschmittel. LOBINSKY geht davon aus, dass es statistisch gesehen beim Drogenkonsum keinen großen Unterschied zwischen Stadt
und Land gebe.403
Noch nie starben in München so viele Menschen an den Folgen ihrer
Drogensucht wie im Jahr 2000.404 Es wurde der bisherige Höchstwert von 1993 erreicht. München steht mit diesem Trend allein.
Selbst in Drogen-Metropolen wie Frankfurt sinken die Zahlen. Experten bemängeln fehlende Hilfsangebote.
402
SZ, 129, 2000, L 2; Roswitha SOLTAU ist Diplom-Psychologin
und Leiterin der Beratungsstelle „extra“ in München.
403
MM, 112, 2000, S. 1; LEUNE ist Geschäftsführer des Fachverbandes Drogen und Rauschmittel; LOBINSKY ist Suchthilfekoordinator der Stadt München.
404
MM, 288, 2000, S. 1
208
In Berlin starben nach JOHN405 225 Menschen im Jahr 2000 an ihrer
Drogensucht. Diese Zahl ist die höchste seit 1992 (217 Drogentote).
Das durchschnittliche Alter der Toten betrug 33,1 Jahre. Der Trend
gehe zum risikoreichen Mischkonsum. HABERKORN: „Je mehr
Mischkonsum betrieben wird, desto unkalkulierbarer sind die Folgen
für den Körper.“ Insgesamt gebe es eine hohe Dunkelziffer bezüglich
der Drogentoten, da es fraglich sei, ob statistisch auch Drogenabhängige erfasst werden, die beispielsweise an Infektionen sterben. Erklärungen für den Anstieg sind nur schwer zu finden:
Einerseits wüssten viele Drogenabhängige in Notsituationen nicht,
was zu tun sei. Aus Angst vor Strafverfolgung würde oftmals keine
qualifizierte Hilfe gesucht. Auch die wechselnde Qualität des Stoffes
könne eine Rolle bei dem Anstieg spielen.
Im Landkreis Weilheim-Schongau (Oberbayern)406 wird die Zahl der
jungen Leute, die Erfahrungen mit der „Modedroge“ Ecstasy gemacht haben, von Mitarbeitern des Gesundheitsamtes auf knapp
unter 7000 geschätzt. Ecstasy wirkt direkt auf das Gehirn.
Der Wirkstoff 3,4-Methylendioxymethamphetamin verhindert die
Wiederaufnahme des Botenstoffes Serotonin in die Nervenzellen.
Die Droge verursacht eine Verengung der Blutgefäße und führt in
der Folge zu Sauerstoff- und Glukose-Engpässen. Dadurch sterben
die Nervenenden vermehrt ab. Dies wurde durch die PositronenEmissions-Tomographie belegt. Ehemalige Ecstasy-Konsumenten
besitzen weniger „Serotonin-Transporter“ (sie befinden sich an den
Enden der Nervenzellen) im Vergleich zu Menschen, die diese Droge nie eingenommen haben. Das Ausmaß der Zerstörung der Nervenenden war unabhängig von der Länge der Abstinenz und steht
offenbar in einem Zusammenhang mit einer individuellen Anfälligkeit. Auch energieverbrauchende Aktivitäten (Hitze und Bewegung)
beschleunigen das Absterben der Nervenenden.407
405
SZ, 32, 2001, S. 10; JOHN ist Sprecher der Senatsjugendverwaltung in Berlin; HABERKORN ist Suchtreferent bei der Landesstelle
Berlin gegen Suchtgefahren e.V.
406
MM, 236, 1999, WM-SOG, SOG 1 ; Die Informationen zu dieser
Droge stammen von BREU, Leiter des Gesundheitsamtes WeilheimSchongau.
407
Lancet, 1998, Bd. 352, S. 1433
209
Bei dieser Droge ist es schwierig, direkte auffällige körperliche
Symptome festzustellen. Weit geöffnete Pupillen, die auch durch
Lichteinwirkung nicht kleiner werden, werden in den wenigsten
Fällen bemerkt. Konsumenten sind in der Regel wach, angeregt,
fühlen sich weniger gehemmt und offener. Dabei besteht das Gefühl,
alles intensiver zu erleben. Bei Personen, die psychisch labil sind,
kann die Droge auch depressive Wirkung erzeugen. Die Wirkungsdauer wird mit zwei bis sechs Stunden angegeben. Schwäche und
Müdigkeit werde danach nur in einzelnen Fällen gespürt. Bei Jugendlichen besteht häufig die Tendenz, mehrere Pillen hintereinander einzunehmen, um die Wirkungsdauer zu verlängern. Eine Gewöhnung und das Verlangen nach immer höheren Dosen ist die
Folge.
Ecstasy hemmt auch die Produktion des Nerven-Botenstoffes Dopamin. Ein Dopamin-Mangel wird unter anderem als Auslöser der
Parkinson-Krankheit angesehen.408 Untersuchungen an Affen, denen
Ecstasy verabreicht wurde, zeigten eine um 90% verminderte Aktivität der serotoningesteuerten Zellen. Es gibt bei dieser Droge nach
heutigem Wissensstand keine sichere Dosis.409
Als Langzeitschäden können sich Depressionen, Schlafstörungen
und Nieren- oder/und Leberschädigungen einstellen. Die Herstellungskosten pro Tablette liegen bei etwa 20 Pfennigen, der Verkaufspreis etwa um 25 DM.
Die Produktionsstätte Nr.1 – Holland
Holland gilt inzwischen als die Nummer eins der Produktionsstätten
von Ecstasy. Die Zahl der – auch mobilen – Laboratorien wird dort
auf 100 geschätzt. Allein im Jahr 2000 wurden in den Niederlanden
37 Produktionsstätten für synthetische Drogen entdeckt. Etwa ein
Drittel aller Pillen wird durch Kuriere mit dem Flugzeug verschickt,
13% auf dem Postweg. Im Jahr 1999 wurden 9,7 Millionen Tabletten, im Jahr 2000 bereits 16,2 Millionen Tabletten beschlagnahmt.
Mehr als 40% der beschlagnahmten Drogen war für die USA bestimmt. Die Empfänger sitzen in etwa 45 Ländern.
408
RICAURTE auf dem Weltkongress für Medizin in Hannover;
MM, 179, 2000, S. 3
409
Ärzte-Zeitung, August 2000
210
Die Zahl der in den letzten Jahren auf dem Flughafen AmsterdamSchiphol verhafteten Drogenkuriere beläuft sich auf 5000.
In Holland sind Drogen ebenso leicht zu kaufen wie eine Schachtel
Zigaretten. Neben Ecstasy (Herstellungskosten etwa 1 €, Verkaufspreis für eine Tablete 15 €) wird zunehmend mehr das Narkosemittel
„ghb“ eingenommen. Mit Alkohol kombiniert führt es in vielen
Fällen zum Tod.
Allein in England werden jährlich etwa 35 Tonnen Ecstasy geschluckt. Diese Menge verspricht einen Gewinn von einigen Milliarden € pro Jahr.410 MÖLLING sieht diese Pille als einen Teil unser
Kultur. Bei uns wird schnell etwas gegen Zahnschmerzen oder Migräne geschluckt. Der Handel mit diesen Drogen wird von Zuwanderern ohne Aussicht auf legale Jobs bestimmt. Herstellung und Vertrieb von Ecstasy erfolgen in erster Linie durch israelische und einheimische Banden. Laut Angaben von EUROPOL werde trotz der
täglichen Verurteilung von Drogenhändlern keine Pille weniger
gedreht.
Seit dem Jahr 1988, als die UNO-Mitglieder sich in Wien zur WeltDrogen-Konferenz getroffen hatten, stieg die Zahl der Süchtigen von
damals 20 bis 50 Millionen weltweit auf heute rund 190 Millionen.
Etwa 30 Millionen nehmen zur Zeit Amphetamine.411
Der Caritas-Verband schätzt die Anzahl der Heroinabhängigen in
Deutschland auf 120 000 bis 150 000 Menschen.412
Jugendliche neigen heute eher zu Essstörungen, Drogenmissbrauch
und Depressionen als vor 10 bis 15 Jahren. Immer häufiger greifen
auch schon Acht- bis Zehnjährige regelmäßig zur Flasche. 3000
Jugendliche im Alter von 14 bis 21 Jahren wurden im Rahmen einer
Untersuchung des Max-Planck-Institutes befragt und untersucht.413
Jugendliche greifen immer früher und immer häufiger zu Alkohol,
Zigaretten oder illegalen Drogen. WITTCHEN (Max-Planck-Institut
410
SZ, 284, 2001, S. 12; MÖLLING arbeitet bei Europol.
SZ, 77, 1999, V 1/28
412
SZ, 38, 1999, S. 2
413
MM, 51, 1999, S. 1
411
211
für Psychiatrie, München) zu diesem Problem aufgrund einer repräsentativen Studie des Instituts:
„Ihre ersten Züge nehmen Kinder schon mit neun Jahren, Alkohol
konsumieren sie ab dem zwölften Lebensjahr, Hasch oder Ecstasy
zwei Jahre später.“414
Etwa zwei Drittel aller Erwachsenen würden regelmäßig trinken und
rauchen, ein Drittel greife zu illegalen Drogen.
SOLTAU geht davon aus, dass ca. ein Viertel der etwa 5000 Drogensüchtigen in München selbst Kinder hat. Es sind vermutlich wenigstens 1500 Kinder. Es kommt immer wieder vor, dass Eltern, die
wegen ihrer Sucht substituiert werden, auch ihren Kindern gelegentlich oder regelmäßig Suchtersatzstoffe geben. Kinder von Drogenabhängigen sind immer wieder den affektvollen Zuständen ihrer Eltern
hilflos ausgeliefert. Schreiende oder quengelnde Kinder von Drogenabhängigen würden oftmals mit Methadon ruhiggestellt. Die Eltern
machen das in der Annahme, ihren Kindern etwas Gutes zu tun – sie
machen mit ihnen, was sie mit sich selbst machen.415
Synthetische Drogen – so die neue Modedroge „Crystal“ (ein Amphetaminderivat „das stärker und gefährlicher ist als alles was es
bisher auf dem Rauschgiftmarkt gegeben habe“ 416), die in tschechischen Labors in Nordböhmen hergestellt wird – sind bei Jugendlichen nach Ansicht von Experten mittlerweile fast so verbreitet wie
Haschisch. „Crystal-Speed“ (das Aussehen erinnert von der äußeren
Form her an Kandiszucker oder Bergkristalle) führt bereits bei der
ersten Einnahme zur Abhängigkeit und ist durch eine lang andauernde Rauschwirkung (bis zu 70 Stunden) besonders gefährlich. Auch
die bei der Einnahme auftretende hohe Aggressivität der Konsumenten gibt Anlass zu großer Sorge. „Crystal“ wird entweder in einer
Glaspfeife geraucht oder auf andere Art inhaliert.
Die neue Droge „Yaba“ wirkt wie ein Aufputschmittel.
414
zitiert in MM, 151, 1999, S. 1
SZ, 254, 1999, L 2; SOLTAU ist Diplom-Psychologin des Beratungszentrums „extra“ für drogenabhängige Frauen und Mädchen in
München.
416
SZ, 93, 2000, S. 16; HOFER, LKA-Sprecher in Dresden
415
212
PORZUCEK417 zu den Wirkungen: Bereits eine einmalige Einnahme
macht süchtig. Das chemische Rauschgift wird geschnupft, geraucht
oder geschluckt. Zudem macht diese Droge extrem gewalttätig. Auch
Handlungen, die mit Selbstmord enden, wurden beobachtet. Die
Konsumenten litten außerdem an Schlafstörungen und Verfolgungswahn. Die Droge stammt aus dem asiatischen Raum und wird vor
allem in Thailand, Japan und China konsumiert. Auch in Tschechien
werde der Stoff bereits in größeren Mengen hergestellt und eingenommen.
Drogentote und Drogenkonsum in der EU – ein Vergleich 418
Italien:
Auf 1000 Erwachsene kommen etwa acht Konsumenten von harten Drogen.
Großbritannien: vergleichbar mit Italien
Deutschland:
Etwa zwei von 1000 Deutschen injiziieren sich
Suchtstoffe oder nehmen regelmäßig Opiate,
Kokain oder Amphetamine ein.
Niederlande:
vergleichbar mit Deutschland
In der EU sterben, so wie in den Jahren zuvor jedes Jahr mehr als
7000 Drogensüchtige.
Rauschgifttote in Deutschland 1989 bis 2001419
(bis 1990 nur alte Bundesländer / 2001 bis November)
Jahr
Anzahl
Jahr
Anzahl
1989
991
1996
1712
1990
1491
1997
1501
1991
2125
1998
1647
1992
2099
1999
1812
1993
1738
2000
2030
1994
1642
2001
1552
1995
1565
Von 1989 bis 2001 zusammen 21 905 Rauschgifttote.
417
Jutta PORZUCEK ist am Rauschgiftreferat des Landekriminalamtes tätig.
418
SZ, 268, 2001, S. 9; Jahresbericht der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD)
419
SZ, 292, 2001, S. 6 ; Quelle: AP/ Drogenbeauftragte der Bundesregierung; Bundeskriminalamt
213
Neuere Zahlen zur Drogeneinnahme420
 27% der Zwölf- bis 25-Jährigen haben schon einmal eine illegale Droge eingenommen.
 21,8% der 18- bis 59-Jährigen haben in den alten, 11% in den
neuen Bundesländern mindestens einmal illegale Drogen eingenommen.
 Die Zahl der drogenerfahrenen jungen Menschen ist in den vergangenen acht Jahren um mehr als die Hälfte gestiegen.
 4% der Befragten hatten Erfahrung mit Ecstasy.
 3% der Befragten konsumiere bereits Aufputschmittel.
 30% der Zwölf- bis 25-Jährigen trinken mindestens einmal in
der Woche Alkohol.
 Seit 1980 deutlicher Rückgang des Zigarettenkonsums.
 Seit 1995 nimmt der Anteil der Raucherinnen zu, während die
Zahl der männlichen Raucher weiter abnimmt.
 17% der Frauen und 12% der befragten Männer (hochgerechnet
7 Millionen Menschen) nehmen mindestens einmal pro Woche
psychisch beeinflussende Medikamente (Schlafmittel, Antidepressiva, Appetitzügler). Frauen erhalten die entsprechenden
Rezepte doppelt so häufig wie Männer.
Nikotin
Neuere Erkenntnisse zur Nikotin-Sucht
Nach PERKINS421 liegt die Erklärung dafür, warum bereits abstinente Raucher wieder rückfällig werden, in ihrer Toleranz gegenüber
Nikotin. Während des Anfangsstadiums einer Sucht sinkt die Empfindlichkeit gegenüber Nikotin. Sie bleibt auf niedrigem Niveau,
auch wenn mit dem Rauchen aufgehört wird.
Die bisherige Ansicht war, dass nach dem Aufhören mit dem Rauchen die Nikotintoleranz abnimmt. Offensichtlich finden nach dem
Beginn mit dem Zigarettenrauchen im Körper beständige Veränderungen in der Reaktion auf das Nikotin statt, die dazu beitragen, dass
sich alte Verhaltensmuster wegen der niedrigen Nikotin420
SZ, 141, 2001, S. 7; Vorstellung zweier Studien durch die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marion CAPERS-MERK
421
Journals Psychopharmacology, 11, 2001; PERKINS arbeitet an
der University of Pittsburgh School of Medicine, USA.
214
Empfindlichkeit schneller als bei Neu-Rauchern entwickeln. Sowohl
bei aktiven Rauchern, die das Rauchen aufgeben wollten, als auch
bei Ex-Rauchern, die zwischen einem und 19 Jahren nicht mehr
geraucht hatten, wurde die gleiche Nikotin-Toleranz festgestellt.
Insgesamt rauchen nach NICKELS in Deutschland derzeit etwa 17
Millionen Menschen, mehr als 40% der erwachsenen Männer und
30% der Frauen. Unter den rauchenden Männern konsumiert fast die
Hälfte und unter den Frauen ca. ein Drittel täglich mehr als 20 Zigaretten. Jährlich sterben ca. 100 000 Menschen an den Folgen ihrer
Nikotinsucht. In Westdeutschland rauchen inzwischen 26% der Jugendlichen (1993 waren es 21%). In Ostdeutschland sind es 34%
(1993: 19%). Unter jungen Frauen ist derzeit der stärkste Anstieg zu
verzeichnen.422
Mehr als ein Drittel der Erwachsenen sei nikotinabhängig. 7% der
Jugendlichen im Alter von 14 Jahren seien bereits abhängig von
Zigaretten. So seien alleine in München etwa 7000 Jugendliche
dieser Gruppe als abhängig zu bezeichnen.
Zwischen 1993 und 1997 stieg in Deutschland der Anteil der Raucher unter Jugendlichen zwischen zwölf und 17 Jahren von 21% auf
26%.423
BOSS (DHS) erklärt, dass im vergangenen Jahr 1,4 Millionen mehr
Zigaretten geraucht worden seien als im Vorjahr. In der Altersgruppe
der 14- bis 24-Jährigen sei ein Zuwachs von 18% im Vergleich zu
12% im Jahr 1993 zu verzeichnen. Laut DHS gab es 111 000 Todesfälle im Jahr 1997, die auf Tabakkonsum zurückzuführen seien.
Nach PÖTSCHKE-LANGER greift bereits jeder zweite Jugendliche
zu Zigaretten. „Hinter diesen Zahlen steckt eine ungeheuere Dramatik.“424 Für das Jahr 2020 wird Lungenkrebs als die häufigste Krebsart bei Frauen erwartet. Der Konsum von Light-Zigaretten trägt dazu
bei, denn diese werden tiefer inhaliert. Das meist stärker zusammen-
422
SZ, 289, 1999, S. 6; Christa NICKELS, Drogenbeauftragte der
Bundesregierung auf einem internationalen Kongress der WHO in
Bonn
423
SZ, 33, 2000, S. 14
424
MM, 65, 2000, S. 4; Martina PÖTSCHKE-LANGER arbeitet im
Krebsforschungszentrum Heidelberg.
215
gepresste Filterstück hält deutlich weniger Abfallstoffe zurück. Die
krebserzeugenden Substanzen gelangen so tiefer in die Lunge.
Junge Raucher tragen dabei ein höheres Lungenkrebsrisiko. Das
Alter, in dem die erste Zigarette geraucht wurde, steht in einem direkten Zusammenhang mit der Anzahl der Veränderungen bestimmter Gene. WIENCKE vertritt die Ansicht, dass jüngere Menschen
offenbar sensibler auf die krebsauslösenden Bestandteile des Tabaks
reagieren könnten.425
Eine inaktive Form des Biokatalysators „CYP2A6“, welche Nikotin
im Körper abbaut und damit einen gestörten Nikotinstoffwechsel
verursacht, ist nach Ansicht kanadischer Wissenschaftler dafür verantwortlich, dass bestimmte Raucher nicht nikotinabhängig werden.
Eine Untersuchung brachte folgende Ergebnisse426 :
164 Raucher
12,2% tragen ein inaktives
CYP2A6
184 Nichtraucher die das Rauchen zwar versucht hatten, aber
nie abhängig wurden
80 Alkohol- und Nikotinabhängige
19,6 % der untersuchten tragen
mindestens ein inaktives
CYP2A6
Raucher mit dem inaktiven Enzym brauchen weniger Zigaretten, um
ihren Nikotinspiegel im Körper konstant zu halten. Auch das Krebsrisiko könnte bei dieser Gruppe geringer sein, da die aktive Form
zusätzlich Nitrosamine aus dem Tabakqualm in krebserregende Stoffe umwandelt.
Warum die Blutgefäße von Rauchern schneller verkalken und sie
deshalb anfälliger für Herzinfarkte und Durchblutungsstörungen
sind, ist dadurch zu erklären, dass das Enzym NO-Synthase durch
den Tabakrauch beeinflusst wird. In der Gefäßwand wird durch
dieses Enzym bei gesunden Menschen Stickstoffmonoxid hergestellt.
425
SZ, 80, 1999, S. 15; Studie des nationalen Krebsinstitutes der
USA; WIENCKE ist an der Universität San Francisco tätig.
426
Nature, 1998, Bd. 393, S. 750 und in SZ, 147, 1998, V 2 /9
216
Durch diese Substanz wird eine Gefäßerweiterung sichergestellt.
NO-Synthase besitzt auch präventive Wirkung hinsichtlich des Verschlusses von Gefäßen. Die im Zigarettenrauch enthaltenen Stoffe
bewirken bei der Arbeit des Enzyms eine Umstellung der Produktion
auf freie Radikale. Dadurch verengen und verkalken die Gefäße
schneller.
Durch Gaben von Tetrahydrobiopterin können Fehlfunktionen des
Enzyms rückgängig gemacht werden. Dieser Wirkstoff ist für eine
reibungslose Funktion des Enzyms von entscheidender Bedeutung.427
Passivrauchen428
Der Wert der koronaren Fließgeschwindigkeitsreserve (CFVR) fällt
bei Passivrauchern nach 30 Minuten drastisch ab, während sich die
Werte bei den aktiven Rauchern im gleichen Zeitraum unverändert
zeigen. Damit gelang japanischen Experten der direkte Nachweis,
dass durch das Passivrauchen die koronare Blutzirkulation von
Nichtrauchern geschädigt wird. Der CFVR-Wert lässt Rückschlüsse
über den Zustand der Zellen zu, die die Herzkammern und die Blutgefäße auskleiden. Diese Endothelzellen sind wichtig für die Blutzirkulation und die Weitung der Gefäße.
Vom wirtschaftlichen Nutzen des Rauchens429
Eine Studie von Wirtschaftswissenschaftlern des Tabakkonzerns
Philip Morris, der in Tschechien, aber auch in anderen, ehemals
kommunistischen Staaten, die absolute Vormachtsstellung hält, soll
belegen, dass Zigaretten der Staatskasse nutzen, weil sie den Menschen schaden.
So soll in Tschechien der frühzeitige Tod von Rauchern im Jahr
1999 Einsparungen (Behandlungskosten, Renten, Wohnraumentgelte) in Höhe von etwa 71 Millionen Mark ermöglicht haben. Bei Berücksichtigung der Tabaksteuern und nach dem Abzug der Allgemeinkosten der Nikotinsucht ergibt sich nach dieser Studie ein Reingewinn von 345 Millionen Mark für die tschechische Staatskasse.
427
Circulation Research, 2000, Bd. 86, S. 36
JAMA, 2001, Bd. 286, Nr. 4
429
SZ, 163, 2001, S. 12
428
217
Entwöhnung
Eine Entwöhnung der Raucher ist nur in 25% der Fälle erfolgreich.
Nikotinersatz per Pflaster, Nasenspray, Akupunktur und InhalationsAerosol, oder aber Bupropionhydrochlorid können Hilfen zur Entwöhnung sein.
Am wichtigsten ist jedoch neben den vielen unterschiedlichen Methoden ein gutes Arbeitsbündnis zwischen dem Patienten und einem
verständnisvollen und motivationsfähigen Arzt.
Alkohol
Durch das Robert-Koch-Institut wurde 1995 eine Wiederholungsstudie (erste Durchführung 1983 bis1985) mit der Bezeichnung „Gesundheit im Kindesalter“ durchgeführt. Dabei wurde der Alkoholkonsum der siebten bis zehnten Klassen untersucht. Obwohl der
Anteil der abstinenten Jugendlichen insgesamt gestiegen ist, war
dennoch eine Steigerung des Gesamtverbrauchs an Alkohol um 32%
zu beobachten. Diese Angabe bezieht sich jedoch nur auf Schüler im
Westteil Berlins. Im Jahre 1985 wurden Schüler in Westberlin und in
Bremen befragt. Besorgnis erregend ist die Tatsache, dass der Mehrverbrauch von einer Gruppe von Vieltrinkern verursacht wird. „5 bis
6% Prozent aller untersuchten Schüler trinken täglich und sind damit
in Gefahr, eine Suchtkarriere zu beginnen.“430
Bei zwei der untersuchten Gruppen nahm der Gesamtverbrauch an
Alkohol und die durchschnittlichen Trinktage zu: Bei männlichen
Hauptschülern und weiblichen Gymnasiastinnen. Dazu KAHL:
„9,9% der von uns Untersuchten trinken fünf und mehr Gläser Alkohol pro Gelegenheit. Bei 15% der Schüler muss ein problematisches
Trinkverhalten angenommen werden.“
Das Einstiegsalter für den Alkohol- und Tabakkonsum ist in
Deutschland inzwischen auf zehn Jahre gesunken. So trinken 65%
aller 14- bis 24-Jährigen bereits regelmäßig Alkohol. HÜLLINGHORST betont, dass diese Entwicklung die Zukunft einer ganzen
Generation gefährde.431 Mehr als 35% aller 14- bis 24-Jährigen sind
430
pluspunkt, 2, 1999, S. 14
MM, 65, 2000, Weltspiegel und Zeitschrift „Sucht“; HÜLLINGHORST ist Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren (DHS).
431
218
Raucher; jeder sechste konsumiert Cannabis. Dabei bestehe kein
Unterschied zwischen Jungen und Mädchen.
Nach dem jüngsten Suchtbericht trinkt ein Drittel aller Jugendlichen
zwischen zwölf und 25 Jahren regelmäßig Alkohol.432 Andere Studien aus München ergaben, dass mehr als sechs Prozent der 14- bis
25-Jährigen alkoholabhängig sind.
Die meisten der Jugendlichen und Kinder stellen sich einen Cocktail
aus Drogen zusammen. Alkohol ist aber immer noch der Herrscher
im Reich der Drogen. LEHNERT weist darauf hin, dass 90% der
Süchtigen mit Alkohol einsteigen. Süchtige Jugendliche haben oftmals Koordinationsprobleme und reagieren langsamer; sie ziehen
sich daher auch leichter Sportverletzungen zu. Durch eine Spieltherapie werden wieder viele Instinkte wach, die durch die Sucht unterdrückt wurden. In vielen Familien gibt es schon seit Generationen
Alkoholprobleme, die in der Klinik durch einen Stammbaum verdeutlicht werden können. Für viele Kinder ist es erleichternd, das zu
erfahren.
Eine sinnvolle Therapie ist nur mit strengen Regeln durchzuführen.
Der Tagesablauf in der Klinik Ahlhorn ist mit seinem verpflichtenden Stundenplan streng geregelt:





Um 7 Uhr morgens: Wiegen
Frühsport
Arbeitstherapie (Saubermachen , Wäscherei, Gärtnerei,
Küchendienst)
Arztbesuch
Autogenes Training
Disco ist in der Klinik verboten, da die Musik erfahrungsgemäß zu
viele Erinnerungen bei den Jugendlichen wachrief.
Ein Verstoß gegen die Regeln wird mit einem Punktesystem beobachtet. Immer wieder wird versucht, die Erzieher auszutricksen.
Wird das Punktelimit überschritten, wird eine Telefon- oder Aus432
SZ, 43, 2001, S. 3; Bericht der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Frühjahr 2001; Max-Planck-Institut für Psychiatrie,
München; Barbara LEHNERT ist Leiterin der Dietrich-BonhoefferKlinik in Ahlhorn; SCHLIECKAU ist pädagogischer Leiter der
Klinik, REINERS arbeitet als Therapeut in Ahlhorn.
219
gangssperre verhängt. Durch die Arbeitstherapie wird Personal gespart und den Jugendlichen zugleich der normale Alltag nahegebracht. Für Gewalt ist keinerlei Platz. Jugendliche, die Gewalt ausüben, werden sofort auf die Straße gesetzt.
Die Erfolge der Alkoholtherapie bei den Jugendlichen werden so
beurteilt:
Aussagekräftige Statistiken für die Zeit nach der Entlassung gibt es
nicht.
LEHNERT: „Die Therapie müsste unbedingt ambulant weitergehen,
die Jugendlichen bräuchten eigentlich sieben Jahre intensive Betreuung.“
SCHLIEKAU: „Vielleicht schafft es die Hälfte unserer Patienten,
auf Dauer trocken zu bleiben.“
Ein paar haben Glück, und die Sucht „wächst sich aus“. Die allermeisten bleiben aber ein Leben lang abhängig. REINERS: „Viele
sind zu jung, um ihre Sucht zu verstehen . . . Die versprechen beim
Abschied, trocken zu bleiben, und sagen mir dann, dass sie sich
wahnsinnig auf das Mon cheri zu Hause freuen.“
Kurze Zeit später wird bezüglich des Suchtverhaltens der Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren der Prozentsatz von 7,5 veröffentlicht.433
Behandlung von Alkoholikern mit Hilfe der Akupunktur 434
Suchttherapeuten akupunktierten in einem Modellversuch 228 Klienten, von denen 182 alkoholsüchtig waren, über einen Zeitraum von
zwei bis drei Wochen täglich 45 Minuten. Es folgte im Anschluss
daran noch eine weitere zweimonatige regelmäßige Behandlung.
Patienten, die zur Entwöhnung an dieser Studie teilnahmen, konnten
in besonderem Maße von dieser Behandlung profitieren. Die Akupunktur erwies sich als weniger effizient hinsichtlich der Rückfallprophylaxe.
Aus einer Befragung der Patienten wurden folgende Erkenntnisse
gewonnen:
433
SZ, 58, 2001, S. 55
SZ, 150, 2001, V 2 /9; auch in Suchttherapie, Heft1, 2001, S. 35;
die Studie wurde am Universitätsklinikum Eppendorf und in Hamburg in der Suchtberatungsstelle „Die Hummel“ durchgeführt.
434
220


Verbesserung des körperlichen und seelischen Allgemeinzustandes
Abnahme der Depressionen, Entzugssymptome und der Ängste.
Bei einer Nachbefragung von etwa 60 Personen gab über die Hälfte
an, keinen Alkohol mehr zu konsumieren. Der Erfolg kann auch
dadurch erklärt werden, dass die Patienten überhaupt den Willen
aufbrachten, sich helfen zu lassen, denn die meisten der alkoholkranken Menschen suchen keine Hilfsangebote, sondern lehnen diese
eher ab.
In Deutschland sind 3,5 Millionen Menschen alkoholkrank.435 Nach
WITTCHEN sind knapp 15% aller Erwachsenen alkohol- und 7%
drogenabhängig.
Nach Erklärungen der Bundesregierung leiden 11 Millionen Deutsche unter Alkoholproblemen. Davon tränken rund 8 Millionen Bürgern übermäßig, weitere 3,2 Millionen seien abhängig zu nennen.
Jährlich sterben etwa 42 000 Menschen an den direkten oder indirekten Folgen des Alkoholkonsums.436
Nach anderen Schätzungen437 sind in Deutschland 1,6 Millionen
Menschen im Alter zwischen 18 und 69 Jahren alkoholabhängig.
Weitere 12 Millionen Menschen trinken mehr, als gut für sie ist.
Alkohol ist inzwischen eine Familienkrankheit, da die meisten Alkoholkranken zwei, drei Angehörige mit in den Teufelskreis hineinziehen. Die Mitmenschen von Alkoholikern sind nach Angaben einer
Sucht-Spezialistin selbst suchtkrank:
„Was für den Alkoholiker die Flasche ist, das ist für den Angehörigen der Alkoholiker selbst.“
Oftmals geben sich die Lebenspartner von Alkoholikern selbst die
Schuld für die Krankheit ihrer Partner.
Männer seien in der Regel gefährdeter, doch verringere sich der
Vorsprung. Bei dem Konsum von Zigaretten bestehe kein Unterschied mehr. Nach LEUNE hat jeder zweite deutsche Mann mittleren
435
MM, 180, 1999, J 4
MM, 31, 2000, S. 1
437
MM, 183, 2001, Weltspiegel; Schätzungen der Hauptstelle gegen
Suchtgefahren
436
221
Alters soziale und gesundheitliche Probleme wegen zu hohen Alkoholkonsums.438 Der Alkoholverbrauch bleibe auf hohem Niveau in
der BRD konstant, während der Zigarettenkonsum steige. Von den
jährlich rund 800 000 Verstorbenen in der Bundesrepublik haben
150 000 ihr Leben wegen alkohol- und tabakbedingten Krankheiten
verkürzt. Diese Menschen sterben 20 Jahre früher als der Durchschnitt.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung teilt mit, dass in
Deutschland etwa vier Millionen Erwachsene durch Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit gefährdet sind.439
Die Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren (DHS) sieht 4,4
Millionen Menschen zwischen 18 und 69 Jahren vom Alkohol abhängig. Fast jeder 18. Bundesbürger hat sich bereits krank getrunken.440
Jede vierte suchtkranke Frau ist nach BEUTEL als Kind sexuell
missbraucht worden. Die Täter waren der eigene Vater oder aber
Bekannte und Verwandte. Missbrauch erhöht das Risiko einer
Suchterkrankung erheblich.441
Alkoholkonsum der Jugendlichen in Europa
Immer früher und immer öfter betrinken sich Jugendliche in Europa.442
Unter den 15- bis 29-Jährigen sterben in der Europäischen Union
mehrere Tausende an den Folgen des Alkoholkonsums. Besonders
der Bierkonsum ist nach einer Studie der WHO (1998) sehr hoch.
438
LEUNE (DHS); „ Jahrbuch Sucht 2001“ und in
SZ 293, 2000, S. 14
439
MM, 291, 1998, S. 2
440
SZ, 292, 1998, S. 12
441
MM, 191, 1999, S. 1; BEUTEL ist leitender Arzt des Therapiezentrums Münzesheim und der Fachklinik Haus Kraichtalblick; er
führte die bisher größte Studie über den Zusammenhang zwischen
Suchtabhänigkeit von Frauen und sexuellem Missbrauch in der
Kindheit durch.
442
SZ,128, 2001, S. 7; Ergebnis von Studien, die beim Treffen der
EU-Gesundheitsminister vorgestellt wurden.
222
Wales:
50% aller 15-jährigen Jugendlichen trinken
regelmäßig Bier
Dänemark:
43%
Griechenland: 42%
England:
40%
In Schottland, England und Wales werden von den 15-jährigen Mädchen mehr Wein und Spirituosen getrunken als von den Jungen.
Einen Vollrausch haben nach den Studien mehr als 50% dieser Altersgruppe in Finnland, Dänemark, England, Schottland und Wales
erlebt.
Weitere Daten zum Alkoholkonsum in Deutschland
nach EISENBURG:443
Konsum an reinem
Alkohohl
Menge in l/pro Kopf
und Jahr
3,3 Liter
10,9 Liter
Im
Jahr
1950
1997
Kritische Mengen sind für Frauen und Männer unterschiedlich:
Frauen
Höchstmenge reiner
Alkohol pro Tag
20g
entspricht
1 l Bier, oder 0,5 l
Wein oder sechs klare
Schnäpse in
2-cl-Gläschen
Männer 40g
Die Werte sind jedoch individuell verschieden; grundsätzlich vertragen Frauen weniger Alkohol, weil er in ihrem Körper aufgrund des
geringeren Vorhandenseins von Alkohol-Dehydrogenase in der Magenschleimhaut langsamer abgebaut wird.
443
EISENBURG, 2001; Professor und Spezialist für Lebererkrankungen
223
Die Kosten für die Behandlung alkoholbedingter Erkrankungen
werden auf jährlich 40 Milliarden Mark geschätzt.444 Besonders
häufig sind Erkrankungen der Leber, der Bauchspeicheldrüse, des
Herzens, der Muskulatur und des Nervensystems.
Langfristige Folgen des Alkoholkonsums für das Gehirn:





Persönlichkeitsveränderungen
Epileptische Anfälle
Wahnvorstellungen
Depressionen bis hin zu einer Demenz (allmählicher Verlust der
Hirnfunktionen)
Korsakow-Syndrom (meist im Anschluss an ein Entzugsdelirium oder aufgrund des für Alkoholiker typischen Vitamin-B1Mangels; durch das Absterben von Hirnstrukturen wird ein unumkehrbarer Verlust von Gedächtnis und Orientierung ausgelöst. Betroffen sind vor allem Merkfähigkeit und Kurzzeitgedächtnis.
Die Patienten füllen die entstandenen Gedächtnislücken nur
noch mit Inhalten, die ihnen spontan einfallen.)
Depressionen
Weltweit wurde die Anzahl der Menschen, die unter Depressionen
leiden, im Jahr 1996 auf 50,8 Millionen Menschen geschätzt.445
Depressionen sind vor allem in den Industrienationen weiter verbreitet als der Alkoholismus.
Etwa 8 Millionen Menschen leiden in der BRD an einer depressiven
Störung. MÖLLER weist darauf hin, dass viele der auftretenden
Symptome, wie Interessenverlust, Freudlosigkeit oder Schlafstörungen von den Kranken nicht richtig eingeordnet werden. Hausärzte
würden nur jede zweite Depression erkennen. Nach HOLSBOER ist
eine Depression eine potenziell tödliche Erkrankung. Von den 15bis 35-Jährigen sterben die meisten durch Unfälle.
Die zweithäufigste Todesursache in dieser Altersgruppe ist jedoch
der Selbstmord. 15% der Erkrankten nehmen sich jährlich das Le444
445
MM, 286, 2001, S. 3
SZ, 192, 1999, VI
224
ben; 1998 waren das 12 000 Menschen. Aufgrund der hohen Dunkelziffer müsse mit der doppelten Anzahl gerechnet werden.446
Bei depressiven Menschen sinkt mit der Zeit das Selbstwertgefühl.
Sie leiden unter einer ständigen Unruhe und sind nicht in der Lage,
sich selbst aus diesem Zustand zu befreien. Konzentrationsstörungen
und Erschöpfungszustände sind die Folge.
Zwischen September und April ist etwa jeder zehnte Europäer von
einer saisonal abhängigen Depression betroffen. („SAD“). Sie wurde
von Forschern erst 1980 in den USA entdeckt. Diese Winterdepressionen sind durch spezielles Kunstlicht, das ein bis zwei Stunden
über die Augen wirkt, heilbar. Die Therapie dauert in der Regel zwei
bis drei Wochen.447
Jeder siebte Deutsche hat in seinem Leben eine oder mehrere Depressionen zu bewältigen, stellte die Gmünder Ersatzkasse (GEK) in
München fest. In nur der Hälfte der Fälle werde die Krankheit erkannt. 11 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage fallen wegen Depressionen jährlich aus.448
Depressionen sind nach den Erkenntnissen der WHO derzeit die
zweithäufigste Erkrankung nach den Herz-Kreislauferkrankungen.
40% aller Depressionen in Deutschland werden nicht erkannt. Frauen sind doppelt sooft betroffen wie Männer. Der Beginn der Erkrankung beginnt immer früher. Depressionen, die sich meistens in einem Symptomenkomplex von trauriger Verstimmung, Gedrücktheit
und Niedergeschlagenheit äußern, sind nach den bisherigen Erkenntnissen auf das bisher noch nicht aufgeklärte Zusammenspiel von
Stoffwechselstörungen im Gehirn, psychischen Ursachen und sozialen Faktoren – neuerdings verstärkt auch auf Stress – zurückzuführen. RAHE geht von einem 44-prozentigen Zuwachs an Stress aufgrund eigener Umfragen über positive und negative Lebensveränderungen seit 1960 aus. Seiner Erklärung nach entsteht durch die zunehmend komplexer und unübersichtlich werdenden Lebensbedingungen, an die sich die Menschen immer schneller anpassen müssen,
immer mehr Stress.449
446
MM, 159, 1999, J 3
MM, 222, 1998, S. 1
448
MM, 43, 1999, J 3
449
MM, 44, 1999, J 3
447
225
Durch eine Untersuchung des Karlsruher Instituts für Arbeits- und
Sozialhygiene an 6000 Führungskräften wurde festgestellt, dass 85%
von ihnen an Beschwerden ohne erkennbare organische Ursache
litten. Übermäßiger Stress war nach Einschätzung der Experten der
Auslöser der Beschwerden. Der durch Stress entstehende jährliche
wirtschaftliche Schaden wird auf 100 Millionen DM geschätzt.450
Der geschätzte Umsatz für Antidepressiva wird sich von 1994 bis
zum Jahre 2004 auf dem europäischen Markt auf mehr als 3,57 Milliarden DM verdoppeln.
Auch Kinder können bereits an Depressionen erkranken. Erhobene
Stichproben geben Anlass zu der Vermutung, dass etwa 4% unter
depressiven Verstimmungen leiden. Verminderte Konzentrationsfähigkeit, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit, aber auch Schuldgefühle, Selbstverletzungen und Selbstmordhandlungen gehören zu den
auftretenden Symptomen.451
Jeder neunte Jugendliche leidet unter ernsthaften depressiven Erkrankungen. Mädchen und junge Frauen sind viermal so häufig davon betroffen wie männliche Jugendliche.452 Viele der Jugendlichen
tragen sich mit Selbstmordgedanken oder haben bereits einen Suizidversuch hinter sich. Weitere psychiatrische Symptome wie Essstörungen, Schulängste oder Störungen des Sozialverhaltens wie
etwa beim Drogenmissbrauch stünden oftmals im Vordergrund und
verdeckten die depressive Grunderkrankung. In der Folge werde die
Depression häufig gar nicht erkannt.
Beinahe jeder depressive Mensch kennt Angst als ein Symptom
dieser Erkrankung. Am Zustandekommen von Gefühlen sind nach
HOLSBOER453 etwa 1000 verschiedene Stoffe beteiligt, von denen
erst ca. 100 identifiziert sind. Für Hochgefühle sind in unserem Hirn
Endorphine verantwortlich. Sie haben eine Halbwertszeit von nur
fünf Minuten. Das ist auch der Grund dafür, dass Trauer, Angst oder
Freude zeitlich meist eng begrenzt sind. Die Aktivitäten des Gehirns
450
Psychologie heute, 1999 und HOLSBOER im Magazin der SZ,
vom 8. 10. 1999, S. 20
451
MM, 18, 1999, J 3
452
Angaben des Zentrums für Psychiatrie des Universitätsklinikums
Frankfurt am Main in MM, 162, 1999, J 4
453
HOLSBOER im Magazin der SZ, vom 8.10.99, S. 20 ff.
226
sind so programmiert, dass eine Rückkehr zum „normalen“ Zustand
möglichst bald erfolgt.
Bei depressiven Patienten ist unter anderem die Ausschüttung des
Botenstoffes Serotonin gestört.
RUJESCU: „Bei eineiigen Zwillingen erkrankt der Zwillingspartner
des depressiven Patienten in 40% der Fälle ebenfalls.“454 Nach dem
bisherigen Wissensstand wird vermutet, dass sowohl bei den
Angsterkrankungen als auch bei den depressiven Erkrankungen
ungefähr 40 Gene zusammenwirken, von denen jedoch die wenigsten bereits identifiziert sind.
Weit unterhalb der Hirnrinde, im limbischen System, wird die Region vermutet, die das Gefühlsleben entscheidend mitprägt. Appetit,
Schlaf, Libido und Gedächtnisleistungen werden hier organisiert.
Sowohl der Hypothalamus als auch Zwischenhirn, Hirnanhangdrüse
und Nebennierenrinde, die sogenannte Stressachse (in der Cortisol –
ein Stoff, der den Körper in Alarmbereitschaft versetzt –, ausgeschüttet wird) sind für die Ausschüttung von Stresshormonen zuständig.
Depressionen bei Männern durch die Schwangerschaft der
Frauen
Nicht nur angehende Mütter, sondern auch deren Männer leiden
ebenso häufig während der Schwangerschaft unter Depressionen. In
erster Linie sind davon jüngere Männer betroffen, die in einer
schlecht funktionierenden Partnerschaft leben.455
Neuere Behandlungsmöglichkeiten
Im Jahr 1981 wurde ein aus 41 Aminosäuren bestehendes Molekül
gefunden, das den Namen CRH erhielt (corticotropin releasing hormone) und das ab 1983 synthetisch hergestellt werden kann. Ein
neues Medikament, das diese Substanz enthält und das am MaxPlanck-Institut in München entwickelt wurde, soll in der Lage sein,
454
MM, 161, 2001, S. 3; RUJESCU arbeitet an der Münchner UniKlinik für Psychiatrie und Psychotherapie.
455
SZ, 56, 1999, V 2 /15; die Studie wurde auf einem Gynäkologenkongress in Adelaide vorgestellt.
227
ohne Nebenwirkungen die Aufnahme von CRH an den Rezeptoren
zu blockieren. So wird die Stressachse unterbrochen und damit
Angst- und Stressgefühle ausgeschaltet.
Eine neue schmerzlose neuropsychiatrische Methode zur Behandlung von Depressionen ist die „Transkranielle Magnetstimulation“.
(TMS) Hier werden durch ein Magnetfeld elektrische Impulse in den
entsprechenden Bereichen des Gehirns oder des Rückenmarks ausgelöst. Durch die dosierten Magnetimpulse können länger anhaltende
plastische Veränderungen im Gewebe erzeugt werden. Eine Schwierigkeit besteht nach TERGAU darin, die Intensität, Frequenz, Dauer
und die Wiederholungsraten der Stimulation festzulegen.456
Personen, die an einer Depression erkrankt sind, können in einem
neuen „Kompetenznetz Depression“457 Hilfe finden. Die Internetseite
der Psychiatrischen Klinik der Universität München soll Erkrankten
den Weg zum Therapeuten erleichtern. Ein Selbsttest ermöglicht
eine Einschätzung des eigenen Zustandes.
Diogenes-Syndrom (= Vermüllungssyndrom)
Erst seit etwa zehn Jahren beschäftigt sich die Wissenschaft mit
dieser Erscheinung.
MAVROGIORGOU458 sieht aufgrund ihrer Erfahrung mit etwa 40
Patienten eine psychische Erkrankung, etwa eine Depression, als die
häufigste Ursache. Auch Alkoholsucht, Schizophrenie oder Unfälle
mit Schädel/Hirn-Trauma ziehen diesen Effekt häufig mit sich.
Bundesweit gibt es etwa 40 sogenannte „Anonyme Messies“
(Selbsthilfegruppen) mit ca. 7000 Mitgliedern.
Nach MAVROGIORGOU ist „Messie“ ist ein Modewort für Personen, die häufig an Neurosen oder Persönlichkeitsstörungen litten
oder die als „bizarre Vögel“ bezeichnet werden können.
456
SZ, 5, 1998, S. 23; TERGAU, Universitätsklinik Göttingen
http://www.kompetenz-netz-depression.de
458
MM, 151, 1999, S. 3; Paraskevi Mavrogiorgou ist Assistenzärztin an der Psychiatrischen Klinik an der Münchner Nußbaumstraße;
in München existiert ein Selbsthilfezentrum an der Bayerstraße;
jeden Dienstag abend ist Treffpunkt.
457
228
Messies erhalten im Gegensatz zu Menschen mit dem „Vermüllungssyndrom“ die äußere Fassade noch aufrecht, etwa in der Kleidung.
Diese Menschen leiden häufig unter der Zwangsvorstellung, alles
noch einmal gebrauchen zu können; sie sammeln deshalb alles, werfen nichts weg, können den Alltag meist nicht organisieren und pflegen die totale Unordnung. Der Begriff „Messies“ kommt aus dem
englischen Sprachgebrauch; „mess“ bedeutet soviel wie „totale Unordnung“.
Entwicklungsverzögerungen aufgrund von
Kommunikationsdefiziten
Die Entwicklung der Sprache beginnt schon vor – spätestens aber
mit der Geburt, denn die Kommunikation und die akustische Wahrnehmung setzen bereits vor der Geburt ein.
MARTINIUS: „Die Kommunikation in den ersten Lebensjahren ist
dialogisch und emotional, und die Verbindung von Emotion und
Dialog ist der beste Boden, auf dem Kulturtechniken angebahnt
werden . . . Kinder fragen mehr als Eltern antworten können. Man
weiß, dass solche Dialoge schichtabhängig geführt werden, Eltern,
die geduldig die Fragen ihres Kindes beantworten oder aber, vor
allem in unteren Schichten, sie kurz abfertigen . . . Man hat bei Kindern, die weniger Dialog erlebt haben, festgestellt, dass später ihre
schulischen Leistungen schwächer waren . . . Wenn in einer Institution genügend Menschen sind, die wissen, worum es geht, dann
können sich auch dort Denken, Gefühle und Sprache entwickeln. Ob
das so gut gelingt wie in der Familie, das bezweifle ich . . . Wenn die
Denk- und Sprachentwicklung in den ersten Lebensmonaten extrem
vernachlässigt wurde, dann bleiben Schwächen zurück. Die frühe
Entwicklung von Sprache und Denken ist eng miteinander verknüpft
und sie ist ein komplizierter Prozess. Bei vernachlässigten Kindern
ist die emotionale Seite nicht gut entwickelt, dazu kommen kognitive
Defizite. Und das ist die Tücke, solche Kinder haben nicht so gute
Chancen wie die anderen. Die Defizite setzen sich fort . . . Abstraktionsfähigkeit, die man für das Rechnen braucht, kann sich mit dem
frühen Dialog besser entwickeln. Kinder, die viel fragen dürfen und
viele Antworten bekommen, verstehen viel mehr, als sie es nach der
entwicklungspsychologischen Hierarchie dürften, etwa den hintergründigen Witz einer Geschichte. Kleinkinder entwickeln ihr Welt-
229
wissen im Dialog mit anderen und mit sich selbst, beflügelt von der
in diesem Alter lebhaften Fantasie . . . Notwendig ist der Dialog, den
man spielerisch macht, mit dem man die Fantasie anregt . . . Nicht
nur die kognitive Reife ist entscheidend, mindestens so wichtig sind
Integrationsfähigkeit und emotionale Belastbarkeit . . .“459
Ess-Störungen
Eine Erhebung unter 650 Münchner Schülern ergab, dass sich die
Risikofaktoren für schwerwiegende Essstörungen wie Magersucht
und Bulimie häufiger und vor allem immer früher zeigen. 30% der
befragten Buben und 36% der Mädchen hatten bereits versucht abzunehmen. Noch weiter verbreitet war der Wunsch, dünner zu sein.
In einer spezialisierten Tagesklinik und Abteilung des Max-PlanckInstitutes existiert ein neues Präventionsprojekt des TherapieCentrums für Essstörungen. (TCE).
In einer dreijährigen, vom Sozialministerium geförderten Phase
werden Eltern und Schüler in Seminaren zur Selbsthilfe ausgebildet.460
Von über 3000 befragten Jugendlichen im Alter von 14 bis 21 Jahren
leiden über 5% der jungen Frauen und fast 1% der Männer an Magersucht oder Bulimie.461
In Deutschland sind bis zu 3 Millionen Menschen an einer Bulimie
erkrankt. Als magersüchtig werden 60 000 zumeist junge Frauen und
Mädchen bezeichnet.462
Jeder zwölfte Mann in Deutschland leidet unter schweren Essstörungen. Besonders betroffen sind Männer im Alter zwischen 15 und 35
Jahren. 463 Begleitet wird das Krankheitsbild bei jungen Männern –
im Gegensatz zu Frauen – häufig von Depressionen, Alkoholproblemen oder Persönlichkeitsstörungen.
459
SZ, 295, 2001, S. 10; MARTINIUS ist Kinder- und
Jugendpsychiater in München.
460
SZ, 160, 1999, L 2
461
MM, 51, 1999, S. 1
462
SZ, 29, 2000, S. 16
463
MM, 284, 2000, S. 1; Angaben des Instituts für Ernährungsmedizin und Diätetik in Aachen
230
GERLINGHOFF sieht Ess-Störungen als die häufigste psychiatrische Erkrankung bei Frauen zwischen zwölf und 24 Jahren. 0,5 bis
1% gelten als magersüchtig, 2 bis 5% als bulimisch.
„Und dann muss sofort der Zusatz kommen: bei einer riesigen Dunkelziffer, auch bei Männern.“464
Eine Studie am Therapie-Centrum ergab, dass schon 40% knapp
elfjähriger Mädchen mit ihrer Figur unzufrieden sind. Eine Untersuchung in England brachte Erkenntnisse über die Wahrnehmung von
Dreijährigen: „Dünn ist lieb, dick ist böse.“
Jede zweite Frau in Deutschland möchte gerne schlanker sein. Jede
vierte Frau hätte gerne einen größeren Busen oder längere Beine,
jede fünfte Frau mag ihren Körper gar nicht und jede sechste Frau
meint, dass sie zu viele Falten habe. WIENAND-KRANZ dazu aus
psychologischer Sicht: Wer mit seinem Körper nicht viel anfangen
kann, habe ein zu geringes Selbstwertgefühl.465
Schwierige, emotional belastende Situationen stehen oftmals am
Anfang von Ess-Störungen.
Häufig kommen Magersüchtige aus Familien, in denen sie ihre Bedürfnisse nicht ausleben durften. Konflikte wurden nicht offen ausgetragen und bearbeitet, die Kinder wurden vielfach zum Angepasstsein erzogen und vor allen Gefahren beschützt. Die Entwicklung
eines eigenen Selbstwertgefühls wurde dadurch erschwert.
Bei bulimischen Patienten wurde vermehrt sexueller Missbrauch als
Ursache festgestellt. Auch die starke Leistungsorientierung und der
Hunger nach Liebe und Zuwendung ist häufig zu beobachten.
„Pathways“ ist ein Modellprojekt mit betreutem Wohnen, in welchem die Frauen mit Ess-Störungen sechs bis 12 Monate zusammenleben und während dieser Zeit von einem pädagogischen Team und
464
SZ, 263, 1999, S. 51; Monika GERLINGHOFF ist Ärztin am
Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München und Leiterin des
Therapie-Centrums für Ess-Störungen, der ersten Tagesklinik in
Europa.
465
MM, 259, 2001, S. 1; WIENAND-KRANZ ist Psychologin in
Hamburg; nach einem Bericht des Magazins „Wellfit“, November
2001
231
einem Psychiater betreut werden. Dadurch soll ein Klinikaufenthalt
vermieden werden.466
Alles, was in der begleitenden Therapie gelernt wird, kann im Alltag
sofort umgesetzt werden, denn die Patienten arbeiten tagsüber, studieren oder gehen in die Schule.
Ess-Störungen sind ein gesellschaftliches Problem, ganz besonders
unter Sportlern, Models und Tänzerinnen. Durch eine Studie des
Bundesinstituts für Sportwissenschaft aus dem Jahr 1996 wurde
herausgefunden, dass 25% dieser Frauen essgestört sind. Bei Sportlern, die Wettkampfsportarten mit vom Gewicht abhängigen Wettkampfklassen betreiben liegt die Zahl der von Ess-Störungen betroffenen Sportler laut KUGELMANN bei geschätzten 25 bis
50%.467
LEBENSTEDT zu den Auswirkungen gewollter Gewichtsreduzierungen vor Wettkämpfen:
„Hungern erhöht die Stressreaktion, die durch den Wettkampf schon
gegeben ist, und das führt zu Leistungseinbrüchen.“468
Dazu kommen noch noch körperliche Reaktionen wie Zyklusstörungen, mangelndes Knochenwachstum, depressive Verstimmungen
und Osteoporose. Sogenannte Stressfrakturen sind die Folge einer zu
geringen Knochendichte. Etwa 60% der Magersüchtigen werden
bulimisch und entwickeln infolge der veränderten Nahrungsaufnahme eine Magenerweiterung, Verätzungen durch Magensäure oder
466
MM, 257, 1998, Journal; SCHNEBEL ist Psychotherapeut, Leiter
des Münchner Arbeitskreises für Ess-Störungen und Ansprechpartner für dieses Projekt; München, Seitzstraße 8, Tel: 0 89/24 23 99 60
.
Weitere Hilfsangebote in der Region München: „Cinderella“ Fachambulanz für Ess-Störungen; Fachambulanz im Klinikum rechts der
Isar; Ambulanz im Schwabinger Krankenhaus mit familientherapeutischer Betreuung; im Krankenhaus in Harlaching gibt es eine psychoanalytisch ausgerichtete Abteilung; am Chiemsee die psychosomatische Klinik Roseneck; in Simbach am Inn die Inntalklinik.
467
Claudia KUGELMANN ist Professorin am Institut für Sportwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg.
468
LEBENSTEDT ist Biologin.
232
Nierenversagen. Der im Jahr 1996 eingeführte Begriff Anorexia
athletica ist lediglich die Umschreibung eines Suchtverhaltens.
Das Essverhalten wird nach REMSCHMIDT469 durch kulturelle
Wertvorstellungen erheblich beeinflusst.
So gelten rundliche Frauen im Tschad als schön, während Mädchen
in Ländern mit extremen Schlankheitsidealen besonders häufig an
Ess-Störungen litten.
Durch eine Studie wurde festgestellt, dass die Vermittlung dieser
Normen über ultradünne Models in Modezeitschriften nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Mädchen im Alter zwischen 13 und 17 Jahren lasen über einen Zeitraum von 15 Monaten regelmäßig ein solches Magazin. Danach
waren die jungen Damen im Vergleich mit einer Kontrollgruppe
ohne eine derartige Lektüre mit ihrem Aussehen nicht unzufriedener
als zuvor. Bereits bestehende Unzufriedenheiten mit der Figur wurden durch die Modezeitschriften allerdings noch bestärkt.
Heilungschancen:
Eine Langzeitstudie der Harvard Medical School470 an 246 Frauen
kam nach 7,5 Jahren zu folgenden Ergebnissen:
Diagnose
Anorexia
nervosa
Bulimie
Vollständige
Heilung
33%
Rückfälle „geheilter“
Patienten
33%
74%
33%
Nach UPHOFF471 stirbt in Deutschland jede sechste schwer erkrankte Magersüchtige an den Folgen ihres Leidens, während nur bei jeder
zweiten eine vollständige Heilung gelingt und jede zehnte noch unter
starken Symptomen litt.
469
SZ, 218, 1999, V 2 /11; REMSCHMIDT ist Kinderpsychiater; die
Studie wurde im August 1999 auf der Jahrestagung der American
Psychological Association vorgestellt.
470
Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, Bd. 38, 1999, S. 829
471
MM, 199, 2000, S. 3
233
Dies ergab eine Untersuchung der Lebenswege von 84 Magersüchtigen, die bereits einen Klinikaufenthalt hinter sich hatten, nach 21
Jahren.
Nach FICHTER liegt die Problematik bei Ess-Störungen darin, dass
bei Männern und Frauen sehr schwer zu erkennen ist, welche psychischen Probleme sich durch die Krankheit manifestieren. Nach außen
zeigen sich die Patientinnen und Patienten „glänzend und stabil“.472
BRUCH sieht als Ursache für Ess-Störungen „ein alles durchdringendes Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit“.473
Die Zahl der in Deutschland an einer Ess-Störung leidenden Frauen
wird auf ca. eine Million geschätzt. 400 000 Frauen sind an einer
Bulimie (Ess-Anfälle mit Erbrechen oder Missbrauch von Abführmitteln folgen auf Hungerphasen) erkrankt. Mehr als 130 000 Frauen
leiden an Anorexia nervosa. Diese Form gilt als schwerste Form der
Ess-Störungen, da hier systematisch gehungert wird.474
Fluchtverhalten – vor Leistung, Schule und Lehrern475
Etwa 70 000 Kinder und Jugendliche verweigern in Deutschland den
Schulbesuch.
Das sind 1,5% aller Haupt-, Real-, Gesamt- und Berufsschüler.
In Großstädten bleiben bis zu einem Drittel der Schüler dem Unterricht fern.
Nach drei Fehltagen ohne Attest schaltet sich das Schulamt ein. Bei
einer Schulsäumnisklage können bis zu 2000 DM Bußgeld oder in
schweren Fällen Jugendarrest verhängt werden.
Ein vom Bundesfamilienministerium gefördertes Modellprojekt soll
dieser Entwicklung gerecht werden. So wurde eine Fernschule für
Schulverweigerer im Schwarzwalddorf Oberrimsingen gegründet.
Als Ursachen nennt OPPERMANN die Tatsache, dass Kinder in den
Familien nicht mehr die Stabilität vorfinden, die sie brauchen. Da die
472
SZ, 55, 2000, V 2 /14; weitere Informationen zu Essstörungen:
http://www.uni-leipzig.de/~anorexia/index1.htm
473
Hilde BRUCH, Der goldene Käfig
474
SZ, 55, 2000,V 2 /14
475
SZ, 273, 1999, S. 6; Untersuchung des Christlichen Jugenddorfwerks / Sprecher: DIETER OPPERMANN
234
Schule weitgehend zum „Leistungsort“ verkommen sei, könne sie
diesem Phänomen nichts entgegensetzen.
Frühe Warnzeichen psychischer Störungen (Kleinkindalter,
Grundschule)
Jugendliche Straftäter fallen oft schon im Kleinkindalter durch
Wein- und Schreikrämpfe, die über das übliche Maß hinausgehen,
auf. In der Grundschule sind häufig Schwänzen, Stehlen, Tierquälerei oder Brandstiftung zu beobachten. Fälle aus dieser Gruppe werden von Fachleuten unter dem Begriff „Psychiatrische Störungen des
Sozialverhaltens“ oder „aggressive Form des hyperkinetischen Syndroms“ zusammengefasst.476
TROTT: „Bei Zweijährigen kommt es zu Beißen und Wutausbrüchen, und im Kindergarten reagieren die Kleinen – vorwiegend Jungen – schon bei geringen Anlässen extrem aggressiv.“477
Um Gewalt und Kriminalität vorzubeugen, müssen den Kindern und
Jugendlichen nach Ansicht von MORITZ klare Grenzen gesetzt
werden. Durch das Setzen von klaren Grenzen und das Anbieten von
alternativen Beschäftigungsprogrammen wird den Jugendlichen eine
Orientierung ermöglicht.478
Frühgeburten – Psychische Störungen bei betroffenen Müttern
Mütter von Kindern, die mit einem Geburtsgewicht von weniger als
1500 Gramm zur Welt kamen und länger als vier Wochen beatmet
werden mussten, litten über einen Zeitraum bis zu drei Jahren vermehrt unter psychischen Störungen.479
476
Journal of Child Psychology and Psychiatry, 1999, Bd. 40, S. 347
TROTT, Uni Würzburg, in SZ, 176, 1999, V 2 /9
478
MM, 230, 1999, S. 1; MORITZ ist Geschäftsführerin des Landespräventionsrates in Niedersachsen.
479
Journal of the American Medical Association,
1999, Bd. 281, S. 799
477
235
Geistig behinderte (Seelenpflegebedürftige 480) Menschen –
Gedanken zu ihrer Sexualität
Dieses Thema wurde lange Zeit stigmatisiert. Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Teil der Menschenwürde – auch bei behinderten
Menschen. Seit 1992 regelt das Betreuungsgesetz, dass nur mit der
Einwilligung der Behinderten bei ihnen eine Sterilisation vorgenommen werden darf. Sind die betroffenen Menschen nicht zu einem
eigenen Urteil fähig, muss durch einen Betreuer, der vom Vormundschaftsgericht ernannt wurde, und durch zwei Fachärzte bestätigt
werden, dass der Eingriff „dem natürlichen Willen“ des Betroffenen
entspricht.









480
Vor allem die Eltern der behinderten Menschen können sich oft
nur schwer eine selbstbestimmte Sexualität ihrer Kinder vorstellen.
Die geistig behinderten Kinder werden lebenslang als Kinder
angesehen – Sexualität findet in dieser Vorstellung nur schwer
einen Platz.
Während der Pubertät werden die erwachenden sexuellen Bedürfnisse weniger als bei nicht behinderten Menschen vom Verstand kontrolliert und unvermittelt zum Ausdruck gebracht.
Es bestehen weit verbreitete Vorurteile: Die Sexualität geistig
behinderter Menschen sei triebhaft und primitiv.
DAHLHAUS geht davon aus, dass die Wahrnehmung der Bedürfnisse des Partners bei behinderten Menschen nicht so ausgeprägt ist und z. B. durch Massageübungen erlernt werden
muss.
Durch die weitaus emotionalere Lebensbetrachtung und einstellung ergeben sich mehr Konflikte.
„Gutes Aussehen oder Kleidung spielen einfach keine Rolle,
selbst wenn einer ein schiefes Gesicht hat und sabbert, wird er
nicht weniger geliebt.“
Partner verzeihen nach einem Streit leichter einander.
Bei einer eher schwachen Behinderung entstehen höhere Ansprüche an den Partner.
Begriff nach DAHLHAUS, Heimleiter der Lebensgemeinschaft
Höhenberg ; in SZ, 267, 2001, V 2 /13; FEGERT ist Leiter eines
Modellprojektes, das vom Bundesfamilienministerium gefördert
wird.
236








Möglicherweise entstehen vor allem dann Probleme, wenn die
Sexualität unterdrückt wird.
FEGERT weist darauf hin, dass geistig behinderte Menschen
aufgrund ihrer extremen Abhängigkeit überproportional häufig
Opfer von Missbrauch werden, sowohl durch andere Behinderte
als auch durch Betreuer.
Gesunde Vergewaltiger reden sich oft daraus hinaus, den Widerspruch des Opfers nicht erkannt zu haben.
Fehlende Einzelzimmer in Behindertenheimen bilden oft ein
großes Hindernis für sexuelle Beziehungen.
Die zuverlässige Verhütung durch Pille und Präservativ gestaltet
sich schwierig.
Wenn Seelenpflegebedürftigen die verantwortliche Betreuung
von Kindern übertragen wird, entsteht bei ihnen oft die Einsicht,
selbst nicht fähig zu sein, Kinder großzuziehen.
Die Kinder von geistig behinderten Menschen sind bei weitem
nicht so häufig selbst behindert, wie allgemein angenommen
wird; sie wurden früher oft gleich zur Adoption freigegeben.
Heute werden die Eltern massiv bei der Betreuung unterstützt.
Mit dem Eintritt in das Schulalter ergeben sich vielfach Schwierigkeiten, vor allem dann, wenn die Kinder eine höhere geistige
Entwicklungsstufe erreichen als ihre Eltern.
FEGERT: „ . . . einem schwer alkoholabhängigen Mann wird auch
nicht automatisch verboten, ein Kind zu zeugen. Dabei steht diesem
manchmal ein weitaus schlechteres Leben bevor als mit geistig behinderten Eltern.“
Hyperaktivität
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Experten schätzen, dass mittlerweile allein in Nordrhein-Westfalen
etwa 10 000 Schüler Medikamente gegen Konzentrationsstörungen
einnehmen. Der Anteil in anderen Bundesländern scheint ähnlich
hoch zu liegen. CASPERS-MERK weist darauf hin, dass der Verkauf der verschreibungspflichtigen Substanzen Ritalin und Medikinet
237
sprunghaft gestiegen ist.481 DÖPFNER/LEHMKUHL gehen davon
aus, dass die Krankheit vermutlich vererbbar ist und auf leichten
Funktionsstörungen des Gehirns beruht. Die ADHS-Häufigkeit habe
objektiv betrachtet zugenommen. Mangelnde Bewegung und TVKonsum gelten als „Verstärker“. Lehrern und Eltern wird eine Teilschuld zugesprochen, da sie oftmals keine Kontrolle ausübten oder
keine Grenzen setzten.
CASPERS-MERK: „Ein großer Teil der MethylphenidatVerordnungen wird nicht von Kinderärzten oder Kinderpsychiatern
vorgenommen, sondern vor allem von Hausärzten, Laborärzten,
HNO-Ärzten, Frauenärzten, Radiologen und sogar von Zahnärzten.“
Im Jahr 2000 nahmen fast 14-mal so viele Kinder die beiden oben
angeführten Medikamente ein wie im Jahr 1993. Im Jahr 2001 ist mit
einer weiteren Verdoppelung der Verordnungen durch Ärzte zu
rechnen.482
Der Pharmakonzern Novartis verkauft 90% seiner Ritalinchargen in
den USA. Amerikanische Wissenschaftler schätzen, dass 4 bis 11%
der Schulkinder hyperaktiv und aufmerksamkeitsgestört sind. Als
Spätfolgen treten ungünstige soziale und berufliche Entwicklungen
auf. Jungen sind neunmal häufiger als Mädchen von dieser Störung
betroffen.
Der Wirkstoff Methylphenidat ist eigentlich ein Psychostimulans,
entfaltet jedoch im Gehirn eine entgegengesetzte Wirkung.
In Deutschland wurden laut MARTINIUS strenge Kriterien für die
Diagnosestellung formuliert. Die Ärzte verordnen in der BRD jährlich 10 000 bis 13 000 Kindern Ritalin.
Seiner Schätzung nach sind höchstens 2% der Schüler – ca. 150 000
sechs- bis 16-jährige – von einer mit Hyperaktivität verbundenen
Aufmerksamkeitsstörung betroffen.
Wird die Diagnose nach den internationalen Richtlinien gestellt, liegt
sie in Deutschland bei 2 bis 4%. Die häufig höher genannten Werte
(bis zu 12%) sind seiner Meinung nach auf ungenaue Diagnosen und
Bezeichnungen wie etwa „ADS“ (Aufmerksamkeitsdefizit-Störung)
481
SZ, 298, 2001, S. 6; Marion CASPERS-MERK ist Drogenbeauftragte der Bundesregierung; DÖPFNER/LEHMKUHL arbeiten an
der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Köln.
482
SZ, 285, 2001,V 2 /9; Angabe der Bundesopiumstelle
238
zurückzuführen. Dieses Kürzel ist jedoch in keiner Klassifikation als
Diagnose enthalten. 483
Hyperkinetischen Kindern fehlt nach MARTINIUS kein Neurotransmitter. Nachgewiesen sind Ungleichgewichte zwischen Neurotransmittern und Genen, die für deren Regulationsmechanismus
zuständig sind. Noch nicht vollständig aufgeklärt ist die zugrunde
liegende Hirnfunktionsstörung. Bezüglich der Diagnostik wird es in
der derzeit wissenschaftlich gültigen Lehrmeinung als Fehler angesehen, nachträglich aus der Wirksamkeit einer medikamentösen
Behandlung auf das Vorhandensein der Krankheit zu schließen. So
wirke das meistens angewendete Mehtylphenidat auch bei Gesunden,
wenn sie unaufmerksam sind.
Bis jetzt gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, warum das Problem
so häufig auftritt. Es wird jedoch ein nicht geringer Anteil seelischer
und erzieherischer Ursachen vermutet. Die Vererbungstheorie als
alleinige Ursache genügt nicht zur Erklärung dieses Phänomens.
In den USA werden etwa 8% der Schulkinder mit Methylphenidat
behandelt. Seit einigen Jahren werden durch die Gesundheitsbehörde
der USA Schritte eingeleitet, dieser Tendenz entgegenzuwirken.
Wichtige Maßnahmen zum Umgang mit dieser Störung sind Therapien zur Kontrolle der Impulsivität und Gespräche mit Lehrern und
Eltern, um angemessene Reaktionen zu ermöglichen.
Im DSM-IV wird das Syndrom als Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung (ADHD: Attention Deficit/Hyperactivity Disorder)
bezeichnet.
Bei Buben tritt dieses Krankheitsbild doppelt so häufig auf, wie bei
Mädchen. Körperliche Unruhe, Aufmerksamkeitsschwäche, starke
Impulsivität und in Folge davon auch Aggressivität sind häufig zu
beobachtende Symptome. Auch Sprachstörungen und ein gestörtes
Essverhalten werden in diesem Zusammenhang beobachtet.
Ursachen sind oftmals stark belastende Lebensumstände wie die
Scheidung der Eltern. Auch der Verlust von Werten und Traditionen
in Schule, Umwelt oder Familie können Auslöser für diese psychische Störung sein.
483
SZ, 85, 2001, S. 49; die genauen diagnostischen Leitlinien finden
sich im ICD-10, 1995, S. 294 ff.
239
Alkoholmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft, Rauchen oder die Überempfindlichkeit gegen bestimmte Nahrungsmittel
können ebenso zu einer Entwicklung dieser Störung beitragen.
MURPHY-WITT484 geht davon aus, dass etwa 8% aller Kinder in
Deutschland unter der mittlerweile anerkannten Krankheit ADS
(Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom) leiden. Jungen sind fünfmal
häufiger betroffen als Mädchen. Nach gegenwärtigem Forschungsstand ist ADS angeboren, aber keine Erbkrankheit. Eine intensive
Beschäftigung mit dem Kind ist notwendig, wenn keine Spätschäden
zurückbleiben sollen. Der immer hektischer werdende Alltag trägt
möglicherweise zum Auftreten von ADS bei.
Nach KROWATSCHECK485 sind etwa 10 bis 20% aller Schulkinder
in Deutschland hyperaktiv. Ca. 20 bis 30% aller Schulkinder litten
unter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. Etwa jedes
zehnte Kind falle durch aggressives Verhalten gegenüber Lehrern,
Eltern oder anderen Kindern auf.
Oft sind kindliche Entwicklungsstörungen oder -verzögerungen
Begleit- oder Folgeerscheinungen vorherrschender Familienverhältnisse. Neben den Dauersitzungen am Computer oder vor dem Fernseher sind auch die rasch zunehmenden veränderten Familienstrukturen wie Scheidung oder Alleinerziehung, Arbeitslosigkeit der Eltern und große Schulklassen mit überforderten Lehrern für Verhaltensauffälligkeiten verantwortlich.
„70% der Kinder, die wir betreuen, kommen aus einer allein
erziehenden oder geschiedenen Familie.“
In den letzten zwanzig Jahren gab es verschiedene Versuche,
dieses Syndrom zu erklären:
Seit Ende der 70er Jahre überlebten mehr Frühgeborene. In späteren
Tests wurden kleinere Wahrnehmungs- und Verhaltensdefizite aufgedeckt. Hirnschäden wurden als Ursache vermutet.
484
Monika MURPHY-WITT ist Politologin und PsychologieJournalistin, in: Wie Zappelkinder ruhig werden; (ein Ratgeber)
485
MM, 206, 2000, S. 12; KROWATSCHECK ist Leiter des Schulpsychologischen Dienstes in Marburg.
240
Ab etwa 1980 wurden Zucker und Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln
als Auslöser betrachtet. Gestützt wurde diese Theorie durch das bei
hyperaktiven Kindern im Vergleich zu gesunden abweichende
Stoffwechselmuster in manchen Hirnregionen.
Heute besteht die Lehrmeinung, dass die Datenverarbeitung im Gehirn gestört ist.
Die Arbeitsweise der Botenstoffe Noradrenalin, Serotonin und Dopamin funktioniert offenbar nicht einwandfrei.
Erklärt wird das durch die Erhöhung der Menge von Noradrenalin an
den Verknüpfungspunkten von Nervenzellen, wenn Ritalin zugeführt
wird.
Im Gehirn ist Dopamin an Nervenprozessen beteiligt, welche die
Bewegungssteuerung, das Verhalten und Erkenntnisprozesse steuern
und regulieren. Auch die Reaktion auf eine Belohnung steht mit
diesen Prozessen in Verbindung. Die bisher am meisten vertretene
Hypothese besagt, dass hyperaktive Kinder unter einem Dopaminmangel leiden. Im Bereich des Frontalhirns finden sich bei solchen
Kindern ungewöhnlich viele „Transporter“. Das freigesetzte Dopamin wird dadurch möglicherweise zu schnell wieder gebunden. Die
Konzentration im Gehirn sinkt in der Folge unter den normalen
Stand. Durch den Wirkstoff Methylphenidat wird eine erneute Freisetzung stimuliert.
241
Die Funktion von Dopamin bei Hyperaktivität
Im Kreislauf der Botenstoffe wird eine Störung vermutet. Das Dopamin wird nach bestehender Lehrmeinung zu schnell wieder von
der abgebenden Zelle aufgenommen. Dieser wichtige Neurotransmitter fehlt dann im Gehirn. Bei willkürlichen Bewegungen, Lern- und
Gedächtnisvorgängen sowie bei emotionaler Erregung spielt Dopamin eine Rolle.
Diese Nervenzelle
produziert Dopamin
Die Dopaminbläschen
enthalten Dopamin
Das ist die Synapse, der
Kontaktraum zwischen
den Nervenfortsätzen
Dopamin
Durch einen Transporter wird das
Dopamin wieder
aufgenommen
Der Dopaminrezeptor an
der Empfängerzelle
242
Eine weitere – der Dopaminmangel-Theorie entgegengesetzte
Hypothese nach HÜTHER486
„Eine verstärkte Dichte von Transportern kann ebenso gut Ausdruck
eines stärker entwickelten dopaminergen Systems sein.“
Bis zur Pubertät steigt die Dichte der Nervenfortsätze an. Äußere
Reize beeinflussen nach TEUCHERT-NOODT offenbar diese Entwicklung. Das dopaminerge System von besonders wachen und
aufgeweckten Babys und Kindern ist durch Reize wesentlich leichter
zu stimulieren. Eine verstärkte Axon-Bildung wird somit immer
wieder angeregt. Der Grad der Wachheit und der Unruhe nimmt zu.
Nach dieser Theorie herrscht bei hyperaktiven Kindern kein Dopaminmangel, sondern ein Überschuss an Dopamin vor.487
Mit Hilfe der entsprechenden Medikamente würden die Dopaminspeicher geleert. Das Antriebssystem der Kinder wird somit außer
Kraft gesetzt, bis die Speicher wieder aufgefüllt sind.
BARKLEY konnte mit Hilfe von bildgebenden Verfahren zeigen,
dass bei hyperaktiven Patienten im Gegensatz zur Kontrollgruppe
drei Hirnbereiche, welche mit Hilfe von Dopamin Aufmerksamkeit
und Bewegungen steuern, kleiner erscheinen. Das gestörte, komplexe Zusammenspiel der Botenstoffe Serotonin und Dopamin ist eine
mögliche Erklärung für das Auftreten von Hyperaktivität.
SKRODZKI hält in Deutschland etwa 100 000 Kinder für „dringend
behandlungsbedürftig“.
Er sieht die bewegungsfeindliche Umwelt als ausschlaggebend dafür
an, dass angeborene oder erworbene Unterschiede im Bewegungsdrang auffällig werden.
Die heute häufig benutzten Video- und Gameboy-Spiele, aber auch
das Fernsehen können Bewegungsspiele in keiner Weise ersetzen.
Augen und Finger werden ohne den übrigen Körper zu einseitig
eingesetzt. Dazu komme eine zu wenig eingeübte Selbstkontrolle.
486
SZ, 285, 2001, V 2/9; HÜTHER ist Neurobiologe an der
Psychiatrischen Universitätsklinik in Göttingen; Gertraud TEUCHERT-NOODT führte entsprechende Studien an der Universität
Bielefeld durch.
487
Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, 2001, Bd.
112, S. 471
243
Folgende Therapiehinweise können hilfreich sein:
 Unterstützung des kindlichen Bewegungsdranges
 dabei Unterschiede tolerieren
 zu üben, genau hinzuschauen und zuzuhören
 Ziele stecken und lernen mit Ablenkungen umzugehen
 Hausaufgaben in einem reizarmen Raum machen
 ein regelmäßiger Tagesablauf
 Unnachgiebigkeit der Eltern und Lehrer, wenn es darum geht,
etwas Begonnenes zu beenden
 Einnahme von Medikamenten nach sorgfältiger Abwägung.
DOLL-TEPPER berichtet über eine Besserung des hyperaktiven
Verhaltens durch psychomotorisches Training, das über ein halbes
Jahr hinaus stattgefunden hatte.488
Die Ritalin-Verordnungen haben sich in den letzten zehn Jahren
verzehnfacht.
LEHMKUHL vertritt die Ansicht, dass die Erkrankung wahrscheinlich nicht häufiger geworden ist, sondern häufiger diagnostiziert
wird. Möglicherweise sind 2 bis 4% aller Kinder im Alter zwischen
sechs und zwölf Jahren vom „Aufmerksamkeits-DefizitHyperaktivitäts-Syndrom“ betroffen.
„Bei den betroffenen Kindern macht sich das unaufmerksame, impulsive und hyperaktive Verhalten im Alltag mehrfach bemerkbar.
Zum Beispiel sind die Schulnoten so schlecht, dass die Sonderschule
droht; das Kind streitet sich ständig mit Eltern oder Geschwistern;
es findet keine Freunde.“489
Die Therapie:
 Beratung der Eltern
 Verhaltenstherapie
 Behandlung mit Medikamenten
 Einbeziehung der Lehrer
488
SZ, 20, 1999, V 2 /9
SZ, 186, 2001, V 2 /8; LEHMUHL ist Professor für Kinder- und
Jugendpsychiatrie an der Universität Köln.
489
244
Durch diese Kombination werden kurzfristig gute Erfolge erzielt.
„Viele Kinder werden trotz Behandlung irgendwann sozial auffällig, bekommen Schulschwierigkeiten. Aber die Prognose ist mit
Behandlung wesentlich besser als ohne.“
Bei 10% der Kinder treten bei der Einnahme von Ritalin (ein dem
Coffein ähnliches Psycho-Stimulans, das den gestörten DopaminStoffwechsel verändert) kurzfristige Nebenwirkungen auf:




Ess- und Schlafstörungen
leichte Kreislaufstörungen
Stimmungswechsel
verstärkte Tics
Ursachen für die Entstehung dieser Symptomatik nach LEHMKUHL:
 biologische Faktoren
 psychosoziale Faktoren: Elternhaus und Schule
„Kindern etwa, die unter chaotischen Umständen aufwachsen, fällt
es schwer, eine Orientierung zu finden.“
 Erblichkeit bestimmter Eigenschaften des Temperaments
 Die genetische Disposition führt zu Besonderheiten im zentralen
Nervensystem.
„Es gibt aber keine Belege dafür, dass Kinder, die sehr viel fernsehen oder viele PC-Spiele machen, besonders gefährdet sind.“
Im Vorschulalter sollte Ritalin wegen der verstärkten Nebenwirkungen nicht verordnet werden.
SIMONSOHN490 bezeichnet die Ritalin-Therapie als eine völlig
verfehlte Schein-Therapie, da bis heute nicht eindeutig belegt ist,
dass die Erkrankung auf biologische Ursachen (Störungen der Neurotransmitter) zurückzuführen ist. Bisher ist kein Test verfügbar, um
ADS auf der körperlichen Ebene nachzuweisen. Somit kann ADS
auch nicht offiziell diagnostiziert werden. Ritalin gerät zunehmend
in den Verdacht, eine Droge mit einem bedeutenden Suchtpotenzial
zu sein.
490
Barbara SIMONSOHN ist Sozialwissenschaftlerin, 2001:
Hyperaktivität – Warum Ritalin keine Lösung ist
245
Als Nebenwirkungen werden aufgeführt:
 Appetitverlust
 Seh- und Schlafstörungen
 Blutgerinnungsstörungen
 Blutdruck- und Pulsveränderungen
 Haarausfall
 Tourette-Syndrom
 Benommenheit
 Kopfschmerz
 Erhöhte Krampfbereitschaft
 EEG-Veränderungen
 Epileptische Anfälle
 Angina-pectoris-Anfälle
 Gehirnblutungen mit Dauerschäden oder tödlichem Ausgang
Durch die Somatisierung der Hyperaktivität und die damit häufig
verbundene medikamentöse Behandlung werden die eigentlichen
Ursachen in den Hintergrund gedrängt. Nur durch eine ganzheitliche
Behandlungsmethode sei die Symptomatik zu verbessern. Dazu
zählen:
 spezielle Ernährungsprogramme
 Klassische Homöopathie
 Entspannungstechniken – Meditation
 Familientherapie (Betrachtung und Analyse der Kinder „als Teil
einer größeren Struktur“)
 ein ausgewogenes Erziehungskonzept
(Beschränkung von Fernseh- und Computerspielen, Aufbau sozialer Kompetenz und des kindlichen Selbstwertgefühles)
FREISLEDER491 über die Ursachen einer ADHS, deren Behandlungsmöglichkeit und die Risiken bei der Einnahme von Ritalin:
Ursachen:
 leichte Funktionsstörungen im Gehirn
 genetische Disposition
 wenig stabiles Umfeld des Kindes (Verstärkung)
491
SZ, 270, 2001, S. 55, Bayern; FREISLEDER ist ärztlicher Direktor der Heckscher-Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie in München.
246
Behandlungsmöglichkeiten:
1.
2.
3.
genaue Beratung der Eltern einschließlich genauer Tipps für den
Umgang mit dem Kind
psychotherapeutische Behandlung – vorrangig mit Mitteln der
Verhaltenstherapie
entsprechende Medikation
Ritalin als abhängig machende „chemische Keule“?
„Das kann man so nicht stehen lassen. Es ist kein einziger Fall dokumentiert, bei dem Ritalin unter angemessener ärztlicher Überwachung zur Abhängigkeit führte. Bei vielen Kindern ist Medikation
notwendig, um sie erst erreichbar für weiterführende Therapien zu
machen. Richtig ist aber, dass eine Medikation niemals einzige
Maßnahme sein darf, ärztlich indiziert und streng überwacht werden
muss. Zusätzlich sollte Verhaltenstherapie erfolgen. Natürlich darf
kein Arzt akzeptieren, dass da Eltern nur schnell ein Medikament
wollen, weil ihr Kind so unruhig oder unaufmerksam ist.“
Angemessenes Lehrerverhalten und daraus resultierende Unterrichts-Prinzipien: 492






492
„grenzenlose“ Geduld (der Lehrer)
„Auszeiten“ für Schüler oder Lehrer
Ignorieren einer „Schuldfrage“ (die Schüler können nicht anders)
Die Schüler sollten gefordert – nicht überfordert werden
„Verstärkung“ als wichtiges verhaltenstherapeutisches Prinzip
(Plus-Punkte; Minus-Punkte gibt es nicht)
Vernetzung von Eltern, Kinderhort, Erziehern, Lehrern, Heilpädagogen, Therapeuten, Jugendamt und Arzt
Weitere Infos: www.ads-hyperaktivitaet.de und www.mww.de/krankheiten/kinderkrankheiten/ads.html
247
Neuere „wissenschaftliche“ Erkenntnisse und Vermutungen
zu Nebenwirkungen oder Spätfolgen der Medikamente
Ritalin/Medikinet:493
Der enthaltene Wirkstoff Methylphenidat kann schwerwiegende
Spätschäden bis hin zur Schüttellähmung verursachen. BAIZER:
„Ärzte dachten bislang, dass Ritalin nur kurze Zeit wirkt.“ Der
Forscher stellte fest, dass Ritalin sowohl in der Funktion als auch in
der Struktur der Gehirns langanhaltende Veränderungen erzeugen
kann.
Prognose für den Behandlungserfolg nach DU BOIS:
„Ein entscheidender Faktor ist ist das soziale Umfeld . . . ADHSKinder aus intakten Elternhäusern haben meist eine gute Prognose –
mit und ohne Ritalin.“
Bei schwierigen häuslichen Verhältnissen seien die Aussichten auch
mit Medikament und Psychotherapie langfristig deutlich schlechter.
Ein Blick über die Grenzen nach Schweden
Dort muss das Medikament durch jeden Arzt und bei jedem Behandlungsfall schriftlich beantragt werden. Die gleichzeitige Vorlage
eines Therapieplanes und die Dokumentation sowohl der Nebenwirkungen als auch des Behandlungsverlaufes sind zwingend vorgeschrieben, um einem Missbrauch vorzubeugen.
Hypochondrie
Diese Erkrankung gehört zur Gruppe der somatoformen Depressionen und Angststörungen und ist in erster Linie gekennzeichnet durch
die „beharrliche Beschäftigung mit der Möglichkeit, an einer
oder mehreren schweren und fortschreitenden körperlichen
Krankheiten zu leiden“.494 Die Patienten beschäftigen sich ständig
mit ihrem körperlichen Zustand, den sie durch ständiges „DoctorShopping“ (ein Sprechstundentermin zieht automatisch den nächsten
493
SZ, 285, 2001,V 2 /9; BAIZER arbeitet an der University of
Buffalo; DU BOIS arbeitet als Kinder- und Jugendpsychiater in
Stuttgart.
494
ICD-10, 1993, S. 186
248
nach sich) zu erleichtern suchen. Zwischen den einzelnen Arztbesuchen sind die Patienten mehr oder weniger von dem Vorhandensein
ihrer „eingebildeten“ Krankheiten, für die sich kein Nachweis finden
lässt, überzeugt. Der Rat und die Versicherung der Ärzte, dass keine
Erkrankung vorliegt, werden ignoriert. Wahnvorstellungen über die
eigene Körperform oder über Körperfunktionen zählen nicht zur
Symptomatik. Hypochonder haben das Grundvertrauen in ihren
Körper verloren und verzerren registrierte körperliche Empfindungen
zu Vorstellungen ernsthafter Erkrankungen. Sie können ohne Hilfe
dem Teufelskreis der Angst nicht entrinnen
Über die Verbreitung dieser Erkrankung gibt es in Deutschland keine
gesicherten statistischen Erkenntnisse. NUTZINGER495 geht in einer
Schätzung davon aus, dass etwa 3 bis 5% der sich in ärztlicher oder
physiotherapeutischer Behandlung befindlichen Patienten Hypochonder sind.
Eine in den 80er Jahren in den USA veröffentlichte Studie geht davon aus, dass Patienten mit eingebildeten Störungen 10% der Kosten
im Gesundheitswesen verursachen. Nach NUTZINGER ist diese
Studie auf Deutschland übertragbar. Damit würden sich Kosten von
etwa 50 Milliarden Mark für die Behandlung von Hypochondern und
ähnlichen Angstkranken ergeben.
Ziel einer Behandlung ist, die Patienten nach sechs- bis achtwöchigem Klinikaufenthalt dazu zu befähigen, ihr Leiden zu kontrollieren.
Arzttermine werden nur in festgelegten Rhythmen vergeben.
BACH zur Diagnose von Hypochondrie:
„Die Diagnose ist eine heikle Sache. Konfrontiert man einen Hypochonder damit, seine Krankheit habe eine psychische Ursache, fühlt
er sich missverstanden. Wenn man die Hypochondrie aber als besonders intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Krankheit interpretiert, können die meisten Betroffenen damit besser umgehen.“
495
SZ Magazin , 20, 2001, S. 31ff. NUTZINGER ist Professor und
ärztlicher Direktor der einzigen Klinik in Deutschland (Bad
Bramstedt) in welcher die Krankheit behandelt wird; BACH ist ein
auf Angsterkrankungen spezialisierter Psychiater in Wien.
249
Psychosomatische Erkrankungen durch elterlichen Druck
Eine Untersuchung der Universität Bielefeld an rund 100 Grund- und
weiterführenden Schulen ergab, dass ca. 30% der Jugendlichen im
Alter zwischen 12 und 16 Jahren in Deutschland unter psychosomatischen Beschwerden leiden. Vor allem Mädchen seien von Allergien, Asthma, Bronchitis, Hautausschlägen oder von Neurodermitis
besonders betroffen.
Diese „erschreckende Entwicklung“ werde neben anderen Faktoren
auch durch den „von den Eltern ausgeübten Druck“ ausgelöst, so
HURRELMANN.496
So leide jeder zehnte Schüler in Deutschland unter psychosomatischen Beschwerden.497
SCHLEU498 weist darauf hin, dass wissenschaftlichen Studien zufolge ca. 3% der Bevölkerung psychotherapeutisch behandlungsbedürftig sind. Die Versorgungssituation liegt jedoch bei 0,4%, bei
Kindern noch schlechter. Wartezeiten von einem Jahr sind keine
Seltenheit. 3% der Zwölf- bis 17-Jährigen unternehmen einen
Selbstmordversuch; 30% dieser Altersgruppe leidet an psychosomatischen Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen. Jedes fünfte
Schulkind ist verhaltensauffällig.
„Psychisch kranke Kinder haben keine Lobby.“
Familiengeheimnisse und ihre zerstörerische Macht499
BRADSHAW in seinem Buch „Familiengeheimnisse“:
„Viele dunkle Geheimnisse resultieren aus einer Perversion des
Privaten und haben ihren Ursprung in der Verletzung von Anstand
und natürlicher Scham. Sie kreisen um Themen wie Geburt und Tod
und den Bereich des Heiligen mit seinen Normen von Gut und Böse,
Sünde und Erlösung.“
Die Geschichte der Familie wird über Generationen hinweg durch
solche Geheimnisse negativ belastet. Es gibt viele Formen dieser
Schuld:
496
MM, 282, 1998, J 3
MM, 288, S. 1
498
SZ, 12, 2000, L 1; Andrea SCHLEU ist Vorsitzende
des Verbands der bayerischen Vertragspsychotherapeuten.
499
SZ, 110, 1999, VI
497
250
Kinder, die verlassen, abgetrieben oder missbraucht wurden. Verstorbene Kinder, die keine Erwähnung finden, aber auch Inzest,
Sucht, Perversion, verbotene Liebesbeziehungen oder Geisteskrankheiten gehören zu solchen Familiengeheimnissen. Die über Generationen hinweg mögliche „Vererbung“ und die damit verknüpften
dunklen Ahnungen, Belastungen und Empfindungen werden von
FREUD als „archaisches Erbe“ bezeichnet. SHELDRAKE nennt
morphogenetische Energiefelder als mögliche Ursache für die Weitergabe an nachfolgende Generationen. Die Erkenntnisse HELLINGERS500 zu diesem Thema decken sich mit denen von BRADSHAW.
Menschen, die ein Familiengeheimnis unbewusst in sich herumtragen, beschreiben ihre Lebenssituation wie
 „in einem Nebel lebend“
 „einen klebrigen Schleier“
 „ein sanftes, luftdurchlässiges Tuch, das über mir liegt“
Als Folge ziehen sich Kinder oftmals in sich selbst zurück, erzeugen
paradoxe Symptome oder haben große Schwierigkeiten, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Dabei wird von führenden
Familientherapeuten vermutet, dass eine zunehmende Verleugnung
mit einem noch größeren Rückzug oder einem noch größeren Ausleben korrespondiert.
HELLINGER begreift die Familie als ein soziales System. Hier
wirken alle Bestandteile zusammen und erzeugen so ein unverwechselbares Individuum mit einer unverwechselbaren Identität. Ein
vergessenes, ausgestoßenes oder ausgeklammertes Familienmitglied
vorausgehender oder jetziger Generationen wird später von Stellvertretern repräsentiert, da es in der Seele keine Zeit gibt.
Dazu HELLINGER: „Veränderung gibt es nur, wenn man der Wirklichkeit ins Auge schaut.“
Koro
Diese Störung war bisher nur im asiatischen Kulturraum zu beobachten. Die betroffenen Patienten erleiden einen Panikanfall. Dabei
befürchten sie, dass sich ihr Penis sich in den Unterleib zurückziehen
500
HELLINGER, 1993, 1996, 1997
251
könne. Bei dem Versuch, den Penis aufzuhalten, entstehen oft erhebliche Verletzungen. Die bei dieser Störung angewandte „Therapie“
zeigt kulturspezifische Eigenheiten. So sind mehrere Fälle bekannt,
bei denen der Penis mit Essstäbchen abgeklemmt wurde.
Die weltweite Migration trägt dazu bei, dass diese Störung auch auf
westliche Kulturkreise übergreift. Sie wurde vor kurzem erstmals bei
weißen Amerikanern beschrieben.501
Das vorwiegende Auftreten dieser Störung in asiatischen Kulturen
wird mit der dort wichtigeren Bedeutung der männlichen Potenz
erklärt.
„Kriegskinder“
Im Jahr 2000 befinden sich weltweit etwa 10 Millionen Kinder auf
der Flucht vor dem Krieg. In 25 Ländern der Erde kämpfen Kinder
unter 15 Jahren mit der Waffe.
„Kriegskindern“ fehlt oftmals jedes Gefühl von Sicherheit. Sie sind
die wirklichen Verlierer, durch ihre Erlebnisse oft stark geprägt und
müssen aufgrund ihrer oftmals ungeklärten Asylsituation ständig mit
Überraschungen und Unvorhersehbarem rechnen. Dazu gehört die
ständige Angst vor der Abschiebung, Angst, als Schmarotzer angesehen zu werden, und die Angst, anders zu sein als die Menschen im
Gastgeberland. Neben den sprachlichen Problemen bereiten die
materiellen Sorgen zusätzliche Schwierigkeiten. Kinder, die unter
solchen psychischen Belastungen leiden, sind hochgradig selbstmordgefährdet.
Allein in Berlin halten sich ca. 1500 Flüchtlingskinder ohne Begleitung auf.502 Sie leiden zudem unter der Angst, wie es ihren Angehörigen wohl gehen mag.
Therapie- und Hilfsmöglichkeiten:
 Gesprächstherapie; viel Zeit, Geduld, Zuhören, Offenheit und
Verständnis sind Voraussetzungen
 Möglichkeit, das Erlebte zu malen (Träume, Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte)
 Katatymes Bilderleben
 Tanzen
501
502
SZ, 94, 2002, V2 /15; auch in Addiction, 2001, Bd. 96, S. 1663
SZ, 17, 2000, VI
252


Schreiben
Theaterspielen
Die Chance, wieder heil zu werden, besteht nach einer entsprechenden Therapie erst dann, wenn sie so weit gekommen sind, dass sie
schreien können. Der Ausdruck des Schreiens durch den Mund,
durch Farben oder Bewegung ermöglicht die Verarbeitung des unermesslichen Grauens, das sie oft erlebt haben.
Legasthenie und LRS
Es wird zwischen einer angeborenen, genetisch bedingten Lese- und
Rechtschreibschwäche (Legasthenie) im Zusammenhang mit einer
hirnorganischen Störung und einer Lese-Rechtschreibschwäche
(LRS) unterschieden, die meist nach der Geburt erworben wurde.
Besondere Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen müssen nichts mit der Intelligenzentwicklung zu tun haben.
An einer angeborenen Legasthenie leiden rund 4% aller Menschen.
Sie ist meist gar nicht oder nur sehr schwer zu therapieren. Von der
LRS sind ca. 7 bis 10% aller Kinder im Einschulungsalter betroffen.
Hier wird eine Hilfe durch Fördermaßnahmen erwartet und angeboten.
Eine Richtlinie des Kultusministeriums legt erstmals Folgendes
verbindlich fest:
Legasthenische Kinder müssen während ihrer gesamten Schulzeit
keine Diktate mehr schreiben.
Außerdem darf ihre Rechtschreibleistung bei allen schriftlichen
Arbeiten in allen Unterrichtsfächern keinen Einfluss mehr auf die
Noten haben.
Lese- und rechtschreibgestörte Kinder bekommen bei Schulaufgaben
mehr Zeit als ihre Mitschüler . . . Auch in Fremdsprachen werden
Rechtschreibfehler nicht mehr für die Note gewertet . . . Alle diese
Maßnahmen sind für lese- und rechtschreibgestörte Kinder zwingend
vorgeschrieben, für lese- und rechtschreibschwache Schüler/innen
dagegen weiter ins Ermessen der Lehrer gestellt . . . Die Anerkennung als Legastheniker erfolgt durch ein Gutachten eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Zusammenarbeit mit dem
Schulpsychologen.
253
Die Feststellung der Lese- und Rechtschreibschwäche allein erfolgt
in der Regel durch einen Schulpsychologen.
Die neuen Richtlinien sollen keine therapeutischen Maßnahmen
ersetzen; sie werden in der Zuständigkeit der Jugendämter durchgeführt.503
Lese- und Rechtschreibschwäche an Schulen zeigt sich nicht mehr
als ein Randproblem. In Bayern besuchen rund 41 000 Grundschüler
und ca. 8000 Hauptschüler im Schuljahr 1999/2000 einen von insgesamt 6113 Förderkursen.
In der BRD leidet jeder 17. Schüler unter Legasthenie.
Bisher konnte dieses Phänomen medizinisch nicht nachgewiesen
werden. SHAYWITZ fand nun mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie (fMRI) eine frühzeitige Diagnosemöglichkeit. Die
Hirntätigkeit von 32 guten Lesern und 29 Legasthenikern wurde
anhand dieser Aufnahmetechnik verglichen. Während der Aufzeichnungen mussten die Kinder zunehmend schwerere Aufgaben im
Lesen und Schreiben lösen. Die Hirnregion, die für die Verbindung
zwischen dem geschriebenen Wort und der phonetischen Aussprache
zuständig ist, wurde bei Legasthenikern im Vergleich zur Kontrollgruppe kaum aktiviert. Diese reduzierte Aktivität im hinteren Hirnbereich wurde jedoch durch eine Überforderung des Broca-Zentrums
im Vorderhirn kompensiert. Bei Menschen ohne Leseschwäche ist
dieses Zentrum mit anderen Aufgaben betraut.504
Bei Legasthenikern zeigt die aktive seitliche Hirnwindung des Stirnlappens beim Entziffern von Phonemen ein anderes Aktivitätsmuster
als bei Menschen ohne diese Schwäche.
Der Unterschied für das häufigere Auftreten von Legasthenie bei
Männern wird von SHAYWITZ so erklärt:
Während der phonologischen Verarbeitungsphase ist bei Männern
nur die linke Vorderhirnwindung aktiv, während bei Frauen Aktivitäten in beiden Hemisphären zu beobachten sind. Mädchen können
503
SZ, 290, 1999, L 10
Proceedings of the National Academy of Sciences, Band 95 in
MM, 61, 1998, J 4
504
254
also auf die andere Region zurückgreifen und so Defizite eher kompensieren.
Nach der Ansicht von Ärzten, Psychologen und Pädagogen sind
legasthene Kinder weder faul noch dumm. Sie haben auch keine
psychischen oder offensichtlichen neurologischen Schäden, keine
Seh- oder Hörbehinderung, kein problematisches Elternhaus oder
auffällig schlechte Lehrer, obwohl jeder dieser Faktoren zu Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens führen kann.
Durch eine gestörte oder unzureichend trainierte Verarbeitung der
Sprachlaute wird das Auftreten von Legasthenie neuerdings erklärt.
Die deutsche Sprache setzt sich aus 40 verschiedenen Lauten, den
Phonemen, zusammen. Das Wort Haus z. B. enthält drei Phoneme,
nämlich h, au, und s und unterscheidet sich von dem Wort Klaus nur
durch den ersten Laut. Dem aktuellen Forschungsstand entsprechend
werden während des Hörvorganges alle Wörter unbewusst in die
Einzellaute zerlegt. Beim Lesen begegnen wir einem ähnlichen Vorgang. Hier werden die Wörter nicht als Ganzes erfasst, sondern es
erfolgt eine Zuordnung der entsprechenden Phoneme zu den Buchstabenfolgen (Grapheme).
Voraussetzung für das Gelingen der Umwandlung optischer Zeichen
in Laute ist die eindeutige Identifikation und Differenzierung der
einzelnene Laute, Silben und Wörter. Dieser Prozess erzeugt „phonologische Bewusstheit“.
Diese nur unzureichend ausgebildete Fähigkeit ist eng gekoppelt mit
dem Abrufen, der Verarbeitung und dem Speichern von Gedächtnisinhalten.505 MARX und Mitarbeiter entwickelten ein ScreeningVerfahren mit dessen Hilfe im Vorschulalter eine Prognose bezüglich des Auftretens von Legasthenie mit einer 90%igen Sicherheit
erfolgen kann.
SCHNEIDER und Mitarbeiter entwickelten ein Trainingsprogramm
für Vorschulkinder zur Verbesserung des Lautbewusstseins.506 Ein
halbes Jahr lang werden in täglichen Sitzungen von 10 bis15 Minuten Übungen durchgeführt, die Lausch- und Reimspiele enthalten;
505
MARX und Mitarbeiter in einer Studie der Universität Bielefeld
an 200 deutschsprachigen Kindern in SZ, 132, 1997, S. 27
506
SCHNEIDER, Abteilung für Pädagogische Psychologie an der
Universität Würzburg in SZ 132, 1997, S. 27
Auskünfte erteilt auch der Bundesverband für Legasthenie e.V.
Königsstraße 32, 30175 Hannover, Tel: 05 11/31 87 38
255
anschließend werden Sätze in die einzelnen Wörter zerlegt und danach wieder zusammengefügt. Dieses Prinzip der Analyse und Synthese wird dann auch auf Wörter, Silben und einzelne Laute übertragen und geübt.
Wichtig dabei ist die Aktivierung aller Sinne.
Dazu KÜSPERT: „Die Kinder sollen beobachten, wie etwa beim „d“
ihre Zunge herunterschnalzt oder an der Bewegung einer Feder den
unterschiedlich starken Lufthauch sehen, der durch verschiedene
Laute entsteht.“
Seit 1993 unterzogen sich ca. 500 zufällig ausgewählte Kinder diesem Trainingsprogramm.
In einer nicht geförderten Kontrollgruppe traten bei 5% der Kinder
im Gegensatz zu den trainierten Kindern in der ersten Klasse Leseund Rechtschreibprobleme auf.
Nach MOLFESE ist eine Leseschwäche schon bei Säuglingen durch
charakteristische Hinweise bei der Auswertung der aufgezeichneten
Gehirnströme wenige Stunden nach der Geburt zu erkennen.507
Die Gehirnströme wurden aufgezeichnet, während 186 Neugeborene
mit Musik und gesprochenen Texten beschallt wurden. Bis zum 8.
Lebensjahr wurden die Kinder weiter untersucht. Bei 24 stellte sich
eine eindeutige Leseschwäche heraus. Deutliche Unterschiede der
Gehirnstrom-Muster waren bei 22 von ihnen durch einen späteren
Vergleich zu erkennen.
Weitere neuere Forschungsergebnisse zur Lese- und
Rechtschreibschwäche
Durch die Untersuchung der Gehirne verstorbener Legastheniker
entdeckte GALBURDA einige minimale Veränderungen und auch
geringe Fehlbildungen. Nach seinen Erkenntnissen waren sie während der Schwangerschaft etwa im 4. Monat nicht weitergereift oder
der normalen Entwicklung gemäß weitergewandert. Die Sprachzentren der linken Hirnhälfte sind von diesen Störungen betroffen. Die
Befunde GALBURDAS wurden inzwischen durch bildgebende
Verfahren auch an lebenden Gehirnen nachgewiesen (Kernspintomographie und spezielle EEG-Ableitungen).
507
New Scientist, 1999, Nr. 2200 ; MOLFESE ist amerikanischer
Psychologe an der Southern Illinois University.
256
Die Untersuchungen konzentrierten sich auf die Sehwege im Gehirn,
über welche die visuellen Reize verarbeitet werden. Dabei wurde
festgestellt, dass bestimmte große Zellen in einem dieser Verarbeitungskanäle in der „Schaltzentrale“ (eingegangene Laute werden hier
zur Hirnrinde weitergeleitet) nur in verminderter Zahl nachgewiesen
werden konnten. Rasch aufeinander folgende und wenig kontrastreiche Sinneseindrücke werden aber offensichtlich genau von diesen
Zellen verarbeitet. Buchstabenfolgen erfüllen diese Voraussetzungen
(m/n/d/b/p/q). Die ordnungsgemäße Aufnahme und Unterscheidung
ist bei Legasthenikern gestört. Die Buchstaben fließen ineinander
über. Wegen der fehlenden oder geschädigten Zellen gelingt die
richtige Entschlüsselung und Verarbeitung nicht mit ausreichender
Schnelligkeit und Sicherheit.
Die Blickbewegungen der Augen sind nicht angepasst (die Verweildauer der Blickbewegungen passt sich nicht an den Schwierigkeitsgrad und die Wortlänge an) und werden im Gehirn nicht so „abgebremst“, wie es für das richtige Lesen eine Voraussetzung wäre. In
der Folge werden die Buchstaben nicht richtig erkannt und es wird
die Reihenfolge von Buchstaben vertauscht; ebenso verschwinden
ganze Satzteile. HUBER spricht von einem „Blickbewegungsdschungel“.508
Auch das Hören bereitet offensichtlich Probleme; in der oben angeführten „Schaltzentrale“ wurden die entsprechenden Zellen kleiner
und ungeordneter vorgefunden. Bei Legasthenikern erreichen Geräusche das Gehirn über ein Ohr schneller als über das andere. Der
Nachweis dafür gelingt mit dem „Dichotischen Hörtest“. ESSER
fand heraus, dass auch die Geräusche offensichtlich „ungebremst“
verarbeitet werden müssen. Sie werden so zu laut gehört und können
nur schlecht differenziert werden. Das Lesen gelingt den meisten
Legasthenikern nur in einer ruhigen Umgebung.
Beide Gehirnhälften sind durch den sogenannten Balken verbunden,
der wichtige Nervenverbindungen enthält, die zum Austausch der
Informationen zwischen linker und rechter Gehirnhälfte notwendig
sind. Bei legasthenen Kindern wurde beobachtet, dass dieser Balken
an zwei Stellen dünner ist.
Es liegt die Vermutung nahe, dass ähnliche Ursachen auch bei der
Dyskalkulie eine Rolle spielen könnten.
508
in: LRS, BECHER, KINZINGER, SEGER, 2000, S. 74;
ISBN 3-88720-067-5
257
TALCOTT stellte fest, dass Lese- und Rechtschreibschwächen einen
Bezug zu Schwächen beim Erkennen von Punktbewegungen und
vibrierenden Tönen haben.509 Er untersuchte eine Gruppe von 32
Kindern ohne Lernprobleme und stellte dennoch charakteristische
Diskrepanzen fest.: „Unsere Untersuchungen zeigen erstmals,
dass die Lesefähigkeit über die ganze Bandbreite mit der Empfindlichkeit für schnelle Seh- und Hörreize zusammenhängt.“
TALLAL kommentiert seine Ergebnisse: „Sie unterstützen die
Hypothese, dass Lesestörungen wie Legasthenie am ungünstigen
Ende einer Normalverteilung liegen, statt ein eigenständiges
Krankheitssyndrom darzustellen . . . Gezieltes Training der dynamischen Empfindlichkeit der Sinne ist wahrscheinlich die
effektivste Methode, um die Leseleistungen zu verbessern.“
Wichtig scheint dem Verfasser vor allem,
 eine Reizüberflutung in der Kindheit zu verhindern (wenig
Fernsehen)
 für eine möglichst ruhige Umgebung während des Schlafes bei
Kindern zu sorgen
 eine Sinnesschärfung durch Vorlesen und Bildbetrachtungen mit
entsprechenden Erklärungen zu fördern
 dass Eltern darauf beharren, dass ihr Kind an den entsprechenden Schulen alleine oder in Kleingruppen gefördert wird
 dass Eltern erkennen, dass auch sie Verantwortung bei der Erziehung haben (Fernsehzeiten, lautes Musikhören verbieten)
 Sportunterricht und Musikunterricht wichtig nehmen (Angebot
der Musikschulen nutzen, musikalische Früherziehung)
 dass Eltern rechtzeitig die Seh- und Hörfähigkeit ihrer Kinder
beobachten und überprüfen lassen
 dass die Erzieherinnen, Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen
Eltern immer wieder auf die Problematik aufmerksam machen.
509
PNAS, 2000, Bd. 97, S. 2952; TALCOTT arbeitet an der Universität Oxford; Paula TALLAL ist Neurowissenschaftlerin an der
Rutgers University in New Jersey; in SZ, 181, 2000,V2 /10; PTOK
ist Arzt an der Medizinischen Hochschule Hannover, Abteilung
Kommunikationsstörungen; ARO Abstracts, 2000, Bd. 23, S. 94
258
PTOK weist darauf hin, dass viele, jedoch nicht alle Legastheniker
Seh- und Hörprobleme haben.
„Und umgekehrt ist eine gestörte schnelle Wahrnehmung keine
hinreichende Bedingung für Legasthenie.“ Er verweist mit Recht auf
den Wirtschaftszweig der Lernprogramme in den USA, der auch von
TALLAL mitbegründet wurde.
Eine Untersuchung von über 400 Kindern durch PTOK/FISCHER
im Alter zwischen sechs und 17 Jahren ergab:
Angabe in Jungen und
%
Mädchen
50
JuM
40
JuM
Beobachtungen
Schulprobleme, Schwierigkeiten mit
der Blicksteuerung der Augen
Schwierigkeiten mit dem genauen
Hören
Die Lese- und Rechtschreibleistungen bleiben bei vielen Legasthenikern etwa zwei bis drei Jahre hinter denen ihrer Klassenkameraden
zurück.
Für Förderschulen würde sich aus diesem Grund ein „Kurssystem“
anbieten, um hier effektive Förderarbeit zu leisten, denn ohne ein
spezielles Training ist der Rückstand nur schwer aufzuholen.
PTOK entwickelte ein spezielles Hörtraining für Kinder, die Geräusche schwer differenzieren können. Dadurch soll „phonologische
Bewusstheit“ (Verständnis dafür, wie die gesprochene Sprache aus
einzelnen Lauten aufgebaut ist) entwickelt werden. „Denn um sich
klar zu machen, aus welchen Lauten ein Wort besteht, muss man
erst einmal in der Lage sein, diese auch getrennt voneinander zu
hören.“
Dies scheint häufig die Ursache der Lese- und Rechtschreibprobleme
von Legasthenikern zu sein.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen:
Ein achtjähriger Junge soll das Wort „Kreide“ aufschreiben. Es gelingt ihm nicht. Zuerst zögert er, dann beginnt er gar nicht zu schreiben. Auf die Frage nach seinen Schwierigkeiten antwortet er:
„Den Buchstaben für „kr“ kenne ich nicht.“
259
Lügengeschichten
Nach WIESSE 510sorgen immer mehr Kinder mit Sensationsstorys
für Schlagzeilen.
Diese Geschichten sind Hilfeschreie nach mehr Aufmerksamkeit.
Die Ursache für die Zunahme der Kinder, die häufig lügen und sich
fantastische Geschichten ausdenken, sei Einsamkeit, die Suche nach
Zuneigung und Unterstützung. Lehrer, Eltern und Polizei werden mit
solchen Geschichten mehr und mehr konfrontiert. In manchen Fällen
werde unbewusst Rache für eine als ungerecht empfundene Behandlung oder für zu wenig geschenkte Beachtung ausgeübt. Dies erkläre
auch die oftmals sehr genaue Täterbeschreibung.
Eine Bestrafung sei der schlechteste Weg, damit umzugehen. Das
Aufsuchen einer Beratungsstelle wirke meist Wunder.
Nach Angaben von Psychologen lügt jeder Mensch mindestens 160
Mal am Tag. Durch diese Unehrlichkeiten wollten Menschen sich
oder andere schützen. Nach Ansicht von Experten sind Lügen
manchmal weniger verletzend als die Wahrheit.511
Eine Befragung512 von 2031 Kindern und Jugendlichen zum Tema
„Lügen“ ergab, dass



91% Höflichkeitslügen akzeptabel finden
mehr als 80% lassen auch Not-Fantasie- und Spaßlügen „durchgehen“
13% der Befragten finden „Ausredelügen“ in Ordnung.
Medikamenten- und Alkoholabhängigkeit von Frauen513
Ewa 1,4 Millionen Frauen in Deutschland sind nach Einschätzung
der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren medikamentenoder alkoholabhängig. Die meisten der betroffenen Frauen seien sich
aber ihrer Suchtprobleme nicht bewusst oder verdrängten sie.
510
MM, 241, 1997, S. 5; WIESSE ist Chefarzt der Nürnberger Klinik
für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
511
MM, 85, 2001, S. 1
512
Umfrage der Zeitschrift „Eltern“, 10 / 2001
513
MM, 243, 2001, S. 1; Claudia Sussmann ist im Frauentherapiezentrum in München beschäftigt.
260
SUSSMANN: „Eine Behandlung dieser Frauen ist sehr schwierig,
weil die meisten sich gar nicht bei uns melden.“
Mobbing unter Kindern
Unter Mobbing verstehen SCHÄFER/KULIS die „systematische
Ausgrenzung einer schwächeren Person für einen längeren Zeitraum, verbunden mit Aggressionen und Schikanen.“514 Diese Art
von Schikane stellt ein Problem der ganzen Klasse dar, da sowohl
diejenigen, die den Aggressor anstacheln, als auch die Schüler, die
sich als Mitläufer zeigen oder aber so tun, als wüssten sie nichts von
dem Problem, die überwiegende Mehrheit der Klasse darstellen und
den Vorgang erst möglich machen.
In der sechsten bis neunten Klasse wurden innerhalb eines Jahres
41% der Jungen und 28% der Mädchen mindestens einmal Opfer
verbaler oder psychischer Gewalt.515
ETZEL bezeichnet Mobbing als „Psychoterror“ und als Verhaltensweisen, „wie sie in totalitären Staaten zielgerichtet gegen
missliebige Personen eingesetzt werden.“516
Die Reaktion der Lehrer erfolgte meist in Form von Bestrafung oder
Androhung von Sanktionen.
SCHÄFER:517 „In jeder Klasse werden mindestens ein bis zwei
Schüler gemobbt.“ Dies geschieht sowohl durch die Klassenkameraden, aber auch durch Lehrer. Die Täter haben gelernt, dass man mit
aggressiven, durchsetzungsstarken Strategien weiter komme. Sie
seien impulsiv und wüssten instinktiv, auf wessen Kosten sie sich
aufwerten könnten. Bei den Opfern zeigen sich folgende Symptome:
 sie werden oft krank
 morgens Bauchschmerzen oder Übelkeit
514
SCHÄFER/KULIS sind Mitarbeiter der LMU München; sie betreuen das Internetprojekt Mobbingzirkel für Lehrer
(http://mobbingzirkel.emp.paed.uni-muenchen.de) und
www.kidsmobbing.de
515
Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes in Niedersachsen, 1998
516
ETZEL ist Mobbing-Anwalt in München; er wurde wegen dieser
Definition von der Stadt München wegen Beleidigung angezeigt,
aber freigesprochen; MM, 195, 2000, München
517
MM, 168, 2000, München
261


panische Reaktionen auf die Schule
Nachlassen der Schulleistungen.
Eltern sollten das Problem gelassen bei den Lehrkräften ansprechen
und sich die Bösewichte nicht wutentbrannt selbst vorknöpfen.
Lehrer sollten nach Meinung von SCHÄFER/KULIS zur Lösung des
Problems
 möglichst ruhig und sachlich mit allen Schülern reden
 niemanden persönlich ansprechen
 das Sozialverhalten der Klasse während des Unterrichts zur
Diskussion stellen
 über Videos, die eine Mobbing-Problematik zeigen, in der Klasse diskutieren und nach Lösungsstrategien in der eigenen Klasse
suchen
 gemeinsam mit der Klasse ein Regelwerk entwickeln, in dem
die Umgangsformen und entsprechende Sanktionen bei einer
Verletzung festgelegt werden sollen
 Anti-Mobbing-Konzepte entwickeln, die sowohl für die Klasse
als auch für die gesamte Schule gültig sind.
Mobbing zeigt sich auch in der Form von Gewalt und wird nicht
gestoppt, wenn der andere schon unten liegt. Nach ZWENGERBALINK gibt es in jeder Klasse inzwischen eine Handvoll auffälliger Kinder.518 Die Lehrer sind angesichts der immer größeren Klassen auf Unterstützung angewiesen, um mit diesem Problem besser
umgehen zu können.
In der Klasse sind folgende Beobachtungen wichtig:



Wie gehen die Buben mit den Mädchen um?
Wer zählt zu den Außenseitern, wer zu den beliebtesten Kindern?
Wie verhalten sich die Kinder im Pausenhof?
Im Laufe des Jahres sollen die Kinder für folgende Fragen sensibilisiert werden:
518
SZ, 151, 1999, L 3; ZWINGER-BALINK ist Pädagogin und
Kindertherapeutin und am Kinderschutzzentrum in München tätig.
262


Sind wir eine Gemeinschaft?
Wann geht es mir gut, wann geht es mir schlecht?
Am Anfang steht oftmals ein schlechtes Gefühl, das sich später in
Gewalt umwandelt, weil die Kinder viel zu viel alleine gelassen
werden.
Mobbing an Kindern durch Erwachsene
DEEGENER519 vertritt die die Ansicht, dass Erwachsene oft ein
Erziehungs-Mobbing an den Tag legen. Jugendliche und Kinder
werden demnach zu häufig und zu krass diszipliniert, bestraft oder
gezüchtigt. Die so erlebte Gewalt kann sich bei den Betroffenen in
der Folge durch Selbstverletzungen, Magersucht oder motorische
Unruhe ausdrücken.
Mobbing in Betrieben
ZAHN 520schätzt den bundesweiten volkswirtschaftlichen Schaden
durch Mobbing in Form von Arbeits- und Produktionsausfall einschließlich der Krankheitskosten auf ca. 40 Milliarden Mark.
Nach Schätzungen von ZAPF521 werden zwischen 1,2 und 4% der
Beschäftigten in deutschen Betrieben gemobbt. Es wird davon ausgegangen, dass ein Vorgesetzter in 70% der Fälle beteiligt ist.
Von Mobbing kann gesprochen werden, wenn Personen über einen
längeren Zeitraum (im Durchschnitt drei Jahre)




519
häufig und regelmäßig schikaniert oder ausgegrenzt werden
mit sinnlosen oder kränkenden Arbeitsaufgaben betraut werden
die Gemobbten ihren Widersachern unterlegen sind
das Gefühl bei den Gemobbten besteht, den vorhandenen Konflikt auf keine Weise lösen zu können.
MM, 206, 2000, S. 12; DEEGENER ist Professor für Kinder- und
Jugendpsychiatrie an der Uni-Nervenklinik Homburg /Saar.
520
Barbara ZAHN ist Soziologin; in MM 197, 2000, S. 1
521
MM, 68, 2000, S. 9; ZAPF ist Professor für Psychologie in Frankfurt; seine Annahmen basieren auf Untersuchungen von 400 Betroffenen und der Lektüre der Fachliteratur, die sich auf 30 000
Mobbing-Opfer bezieht.
263
Ursachen:
 Missmanagement
 Persönlichkeitsstrukturen von Tätern und Opfern
 Chefs, die hypersensibel, feindselig, ängstlich oder cholerisch
sind
 Opfer, die sich selbst sozial isolieren, bieten sich oftmals als
Opfer an
 Zunehmende Arbeitsverdichtung – es muss immer mehr in immer weniger Zeit geleistet werden
 Dadurch ist es nicht mehr möglich, Meinungsverschiedenheiten
auf den Grund zu gehen.
Prävention:
ZAPF: „Wer mit den Kollegen ein starkes soziales Netz geknüpft
hat, ist schwer zu mobben.“
Auswege:
Trennung der Konfliktparteien, da sich das Arbeitsumfeld leichter
ändern lässt als die Einstellung der Beteiligten.
MOS (Medienopfersyndrom)522
Medienopfer weisen oftmals eine ähnliche Symptomatik wie Opfer
von Geiselnahmen auf. Folgende Beobachtungen wurden bisher
gemacht:
Medienopfer kämpfen oftmals mit der „sozialen Todesangst“, oder
anders ausgedrückt mit der „Existenzvernichtungsangst“. Sie fürchten sich nach GMÜR vor allem „vor einer Fortsetzung des Dramas in
der Realität durch Medienkampagnen mit Ausweitung zur Lynchjustiz“. Nur wenige Leute können aus der kurzen Zeit ihrer Berühmtheit
einen narzistischen Gewinn für das ganze Leben ziehen. Sie leiden
vor allem unter
 dauerndem Rechtfertigungsdruck
 Überangepasstheit
 zwanghaften Verhaltensweisen.
522
Der Begriff wurde von dem Schweizer Psychiater Mario GMÜR
geprägt; SZ, 132, 2000, S. 3
264
Die gesellschaftlichen Bedingungen – die perfekte Ergänzung von
Voyeurismus und Exhibitionismus – sind die Vorraussetzungen, die
Menschen zu Medienopfern werden lassen. Berühmtheit wird nicht
durch Leistung, durch Training und Übung ohne Ende – sondern
einfach nur durch das Dasein in all seiner Schlichtheit – erzielt. Die
innere Legitimierung für die Berühmtheit fehlt und erzeugt ein psychisches Vakuum.
Mukopolysaccharidose MPS (Galaktosämie)
Diese Erkrankung ist eine seltene Erbkrankheit, die nur ausbricht,
wenn zwei kranke Gene aufeinander treffen. Von dieser Krankheit
betroffene Kinder können dadurch auffallen, dass sie sich z. B im
Kindergarten aus der Gruppe zurückziehen. Gleichzeitig kann eine
motorische Ungeschicklichkeit beobachtet werden. So ist es für
betroffene Kinder oft nur unter großer Anstrengung möglich, mit
einer Schere richtig zu schneiden. Buschige Augenbrauen, struppige
Haare und eine „Steckkontakt-Nase“ sowie knubbelige Hände können weitere Anzeichen dieser Erkrankung sein.
Durch das Fehlen eines Enzyms ist der von dieser Krankheit betroffene Körper nicht in der Lage, Ketten von Zuckermolekülen
abzubauen. Aus diesem Grund wird alles Erlernte mit der Zeit wieder vergessen, auch elementare Dinge wie Laufen, Schlucken und
Sprechen. Die Lebenserwartung geht oftmals nicht über die Pubertät
hinaus.
Betroffene Familien benötigen eine intensive Unterstützung und
Begleitung.
Online-Sucht (Net-Addiction oder Internet-AbhängigkeitsSyndrom – IAS)523
Der Begriff Online-Sucht wird in Fachkreisen kontrovers diskutiert.
Auch der Begriff „Zwangsneurose“ steht zur Diskussion.
523
SZ, 69, 1999, L 10; SEEMANN ist Psychiater und führt in
München an der Universitätsklinik die erste „Online-Ambulanz“;
www.med.uni-muenchen.de/psywifo; Test von Chris Löwer(?) ergänzt durch den Autor
265
SEEMANN wehrt sich gegen den Begriff der Sucht, weil dieser
Begriff Selbstzerstörung und Siechtum impliziere. Jeder wisse, dass
das Arbeiten am Computer keine reine Zwangshandlung sei.
„Da werden neue Heime und Städte gebaut. Das heißt doch nicht
zufällig homepage.“
Noch sieht SEEMANN das ganze nicht als Massenphänomen, „aber
wenn die Bildschirmoberflächen authentischer, die Computer schöner und die Spracherkennung perfekter wird, wenn der Computer
also Gesprächspartner ist, dann ist auch die Vision vom globalen
Dorf gefährlich“.
Im Zeitalter des Nihilismus sei da jeder gefährdet. Heimat- und
Machtgefühl, alles zu haben am Schreibtisch.524
Weltweit gibt es derzeit 42 Millionen Netznutzer. Im Jahr 2000 sollen es 400 Millionen sein.
Sie ist bis jetzt noch eher als ein Phänomen denn als eine anerkannte
Krankheit zu bezeichnen.
Telefonrechnungen in Höhe von 1000 DM sind bei Online-Süchtigen
keine Seltenheit.
Vor allem alleinstehende Menschen benutzen die Möglichkeit, Partner „online“ kennen zu lernen zunehmend mehr.
Eine Frau berichtet:
„Ich liebe das schnelle Kennenlernen, zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Gleich ist man per Du und sehr vertraut . . . Früher oder später wollen die meisten sich zum Sex verabreden, aber das ist nicht meins“ . .
. Das Internet ist „meine zweite Welt“.
Bei Süchtigen werden folgende Phänomene beobachtet:
 Partnerschaftsprobleme
 Leistungsabfall in der Schule oder bei der Arbeit
 teilweise Vereinsamung oder sogar autistische Tendenzen
 Verlieren des Zeitgefühls
 Entzugserscheinungen beim Ausschalten des Monitors
 zwanghaftes Schauen, ob ein neues e-Mail eingetroffen ist
 Unruhe, Schlafstörungen, Alpträume, innere Leere, Vereinsamung und Abdriften in eine Fantasiewelt
524
SEEMANN auch in SZ, 216, 1999, VII
266
Selbsttest zur Überprüfung der eigenen Suchtgefährdung:
Wenn drei oder mehr Kriterien zusammen mindestens einen Monat
lang zutreffend sind oder innerhalb eines Jahres vorgelegen haben,
sind Sie suchtgefährdet:








Sie verspüren den Zwang, das Internet zu nutzen, um ein
Glücksgefühl zu erzeugen.
Sie verlieren beim Surfen das Zeitgefühl. Sie bleiben länger im
Netz, als Sie wollen.
Sie wollen weniger Zeit im Netz verbringen, schaffen es aber
nicht.
Wenn Sie nicht „online“ sind, stellen sich Entzugserscheinungen
ein. Sie denken zwanghaft darüber nach, was gerade im Netz
passiert.
Sie vernachlässigen Freunde, Hobbys oder Beruf und sonstige
Verpflichtungen (siehe auch im Kapitel: Internet).
Sie wissen sowohl über die finanziellen Belastungen, die persönlichen Schwierigkeiten und die beruflichen Auswirkungen
Bescheid, die Ihr Internet-Verhalten zur Folge hat, und verbringen dennoch weiterhin viel Zeit im Netz, ohne beruflich oder
privat dazu zwingende Gründe zu haben.
Sie suchen hauptsächlich Seiten mit sexuellen Inhalten auf.
Im Netz geht es Ihnen am besten.
Nach dreijähriger Behandlungserfahrung mit 40 Internetsüchtigen
weist SEEMANN525 darauf hin, dass die meisten der Süchtigen zudem an einer klassischen psychiatrischen Erkrankung litten, wobei
die Internetsucht nur als „Epi-Phänomen“ zu bewerten sei. Die eigentlichen Leiden bei vielen Süchtigen seien Beziehungsprobleme
oder Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben.
SEEMANN: „Online-Beziehungen bieten ihnen ein Gefühl der Autonomie ohne Risiko.“
In einer Studie der Berliner Humboldt-Universität wurden 7000
Internetnutzer nach ihrem Onlineverhalten befragt. Die Psychologen
kamen zu dem Schluss, dass 3% aller User süchtig sind. Bei mehr als
16 Millionen Onlinenutzern in Deutschland wären das somit ca. 500
525
MM, 82, 2001, S. 3
267
000 Betroffene. Die unter 18-Jährigen sind mit 8% besonders stark
betroffen.526 PLATZ spricht nur dann von Sucht, wenn das Internet
so sehr im Mittelpunkt steht, dass alles andere bedeutungslos wird.
Suchtkriterien:




80 bis 90% der Tageszeit wird für das Internet genutzt, wobei
neben der Onlinezeit auch das Kaufen von Computerzubehör
oder das Einrichten von Software eine bedeutende Rolle spielen.
Die tägliche Dosis wird ständig erhöht.
Es gelingt den Süchtigen nicht, ein selbstgesetztes Limit einzuhalten.
Der Offline-Status verursacht Entzugserscheinungen, z. B.
Schlaflosigkeit.
HAHN527 geht davon aus, dass derzeit mit rund 300 000 ChatSüchtigen zu rechnen ist. Knapp 5 Millionen aller deutschen Internet-Nutzer pflegen eine regelmäßige Online-Unterhaltung mit Partnern in aller Welt.
Die Onlinezeit dient meist als Flucht vor wenig Anerkennung im
realen Leben. Die Behandlung durch eine Verhaltenstherapie ist nur
dann sinnvoll, wenn die Gründe für diese Flucht bekannt sind. Auch
Selbsthilfegruppen bieten unter der unten genannten Adresse Hilfe
an.
Pädophile Neigungen
NEDOPIL528 führt dazu aus:
„Zum Teil ist das anlagebedingt, zum Teil ist die frühe Entwicklung
eines Menschen entscheidend, in der solche Menschen oft selbst
missbraucht worden sind. Das Opfer wird dann zum Täter. Das ist
526
MM, 89, 2000, J 4; PLATZ ist Psychiater an der Berliner
Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik; eine Selbsthilfegruppe im Internet:
www.onlinesucht.de
527
HAHN ist Psychologe an der Humboldt-Universität in Berlin; in
MM, 197, 2000, S. 1
528
SZ,182, 2001, S. 41, München; NEDOPIL ist Gerichtsgutachter
am Universitätsklinikum Innenstadt; ein Interview über seine Arbeit
mit Sexualstraftätern; PICKERT ist Kriminalrat in München.
268
häufig. Organische Erkrankungen (Gehirnhautentzündung) können
eine Mitursache sein. Die alleinige Ursache sind sie wohl in den
seltensten Fällen. Pädophilie entsteht nicht von heute auf morgen.
Das bahnt sich langsam an und wird dann fixiert. Die ersten Grundlagen werden in der frühen Kindheit gelegt, und dann entwickelt sich
die Neigung in der Pubertät im Lauf von Jahren.
Pädophile zeigen zwei Altersgipfel: In der Postpubertät – zwischen
17 und 22 – und dann so ab 50. Doch jugendliche Täter sind weitaus
häufiger. Normalerweise vergehen sich Pädophile an vorpubertären
Kindern zwischen acht und zwölf Jahren. Je jünger die Opfer sind,
desto schwerwiegender ist die Störung des Täters. Die stationäre
Therapie dauert mehrere Jahre. Dann muss noch mehrere Jahre ambulant behandelt werden. 50% Prozent werden rückfällig. Ohne
Therapie sind es 80% . . . Wenn die ursprüngliche Straftat nicht
besonders gravierend war, dann kann das Gericht den Täter nicht
ewig festhalten. Für ein Gutachten brauche ich 40 bis 60 Stunden.
Zuerst schaue ich alle Akten durch. Anschließend untersuche ich den
Betroffenen bis zu 20 Stunden. Das mache ich zusammen mit einem
Psychologen und einer Sozialpädagogin. Dann diskutieren wir, aber
die letzte Empfehlung muss ich dann selber geben.“
Jedes Jahr werden 250 bis 260 Fälle von Kindesmissbrauch bei der
Münchner Polizei angezeigt.
PICKERT geht davon aus, dass bundesweit etwa 15 000 Fälle vorliegen, weist jedoch auf eine extrem hohe Dunkelziffer hin. In den
meisten Fällen stamme der Täter aus dem unmittelbaren sozialen
Umfeld des Opfers, vor allem aus der Familie. Etwa 10% der Delikte
werden von Fremden begangen (siehe auch: Spiegel der Gesellschaft).
Ein Täterprofil:
 Vor vier Tagen Entlassung aus dem Bezirkskrankenhaus Haar
bei München, dann
 Entführung und Missbrauch eines dreijährigen Mädchens.
 Nach ca. drei Stunden Festnahme und Geständnis; der Täter war
sich jedoch wegen seiner psychischen Störung nicht bewusst,
ein Kind verletzt und Unrecht begangen zu haben.
269
Kindheit und Jugend
 In München geboren und in schwierigen Familienverhältnissen
aufgewachsen.
 Im schulischen und sozialen Bereich bis zum elften Lebensjahr
völlig unauffällig.
 Im Alter von elf Jahren Gehirnhautentzündung mit bleibenden
Schäden. Der Sexualtrieb stand von jetzt an im Vordergrund.
 1982 Banküberfall in Günzburg; Geiselnahme aus sexuellen
Motiven.
 Für acht Jahre Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung in Straubing und Haar.
 1990 Verlegung in die Einrichtung Herzogsägemühle in Peiting
bei Schongau/Oberbayern.
 1990 wurde von ihm ein zweijähriger Bub in sein Zimmer gelockt.
 Erneute Unterbringung in Haar; auch dort gelang es nicht, seinen Sexualtrieb zu bändigen.
 Der Täter wurde selbst von zwei Männern vor mehreren Jahren
am Hauptbahnhof vergewaltigt.
 Intervention des Rechtsanwaltes wegen der Unterbringung in
Haar mit dem Ergebnis:
1. Von den Psychologen in Haar wurde Täter weiterhin als
hochgefährlich eingestuft; eine offene Therapie mit Freigang
wurde strikt abgelehnt.
2. Ein Gutachter des Landgerichts München war der Meinung,
eine Wiederholungsgefahr könne generell nicht ausgeschlossen
werden, sei aber als gering einzuschätzen.
 Das Gericht folgte der Einschätzung des Gutachters.
 30. Juli Verlegung in das Piusheim nach Glonn bei Ebersberg.
 4. August Entführung und Missbrauch eines dreijährigen Mädchens.
COULTER betont, dass kriminelle Menschen mit einem Minimalhirnschaden (häufig verursacht durch Hirnhautentzündungen, die
durch Krankheit oder Impfungen hervorgerufen werden können)
oftmals nicht in der Lage sind, Gedanken und Begriffe und damit ihr
Leben richtig zu organisieren (siehe dazu im Kapitel: Impfungen –
eine unendliche Geschichte).
270
„Zusammen mit ihrer Gedächtnisschwäche hindert sie das daran, die
Gegenwart mit den Erfahrungen der Vergangenheit zu verknüpfen,
was die Voraussetzung für >ein urteilendes Denken oder für die
reflexive Pause< wäre, die einer wohl überlegten Handlung vorausgehen muss.“529
Es kann in diesem Zusammenhang nicht genügend darauf hingewiesen werden, dass immer mehr Kinder und Jugendliche mit diesen
Schwierigkeiten zu kämpfen haben, dass gerade für diese Menschen
große Geldsummen aufgebracht werden müssten, um ihnen eine
hervorragende Erziehung, Betreuung und Pflege angedeihen zu lassen, da das Elternhaus aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen
diese Aufgabe in vielen Fällen nicht mehr erfüllen kann. Das eigentliche Phänomen sehe ich auch im Verschwinden des Unrechtsbewußtseins vieler hirngeschädigter Menschen, wenn sie keine Erziehung genossen haben (Anm. d.Verf.).
Pibloktoq
Diese Störung ist auf den Kulturkreis der Eskimos beschränkt.
Die Betroffenen zeigen kurze, extrem aggressive Anfälle und fallen
danach in ein mehrstündiges Koma.
Schulische Leistungen und deren Beeinträchtigungen
durch Umweltgifte
Schulische Leistungen können nach Ansicht von Alternativmedizinern durch Umweltgifte, z. B. Blei, beeinträchtigt werden. Dieses
Umweltgift wird vor allem in ausländischen Keramikglasuren, die
das Schwermetall enthalten, vermutet; es reichert sich in den Nervenzellen an und verhindert deren Kommunikation. BONNET,530 der
ca. 150 Fälle umweltbedingter Erkrankungen pro Jahr in seiner Praxis behandelt, berichtet von einem Mädchen mit überdurchschnittlicher Intelligenz, aber mit großen Schwierigkeiten beim Lesen und
Schreiben. Erst die Untersuchung des Blutes und des Urins auf
Schadstoffe erbrachte den Hinweis auf eine Bleivergiftung. Als er-
529
530
COULTER, 1993, S. 211
SZ, 107, 1999, V 2 /15; BONNET ist Kinderarzt in Reutlingen.
271
folgreiche Therapie wurde eine Entgiftung mit Hilfe von Komplexbildnern und Spurenelementen durchgeführt.
Auch Vergiftungen mit High-Tech-Chemikalien nehmen nach Ansicht von KAISER531 zu.
Nitro-Moschus-Verbindungen, die als Duftstoffe tonnenweise in
Waschmitteln und Kosmetika eingesetzt werden, zählen zu diesen
Chemikalien. Die größte Belastung für Kinder stellt aber immer noch
das Passivrauchen dar.
Bereits in den 70er Jahren wurde bei männlichen Säuglingen in einer
sich langsam aufbauenden und erst Anfang der 80er Jahre wieder
abflauenden Welle die Zunahme von Schäden an den Genitalien
beobachtet.
„Erst hinterher haben wir begriffen, daß das die Folge des massiven
Einsatzes von DDT in Haushalt, Garten und Landwirtschaft war.“
(Bonnet)
Häufig sind trotz des frühen Erkennens der schädigenden Wirkung
bestimmter Substanzen wegen der wirtschaftlichen Interessen Verbote nicht möglich. So auch bei den polychlorierten Biphenylen (PCB),
die als Weichmacher in Kunststoffen verwendet werden. Trotz der
Einhaltung von Grenzwerten ist es möglich, dass erst die Summe
aller Belastungen die Kinder erkranken lässt. BONNET ist überzeugt
davon, dass Umweltbelastungen als Ursache für viele Lernschwächen anzusehen sind. So kann PCB die Konzentrationsfähigkeit von
Schülern beeinträchtigen.
ASHFORD rät dazu, bereits einzugreifen, wenn nur der Verdacht
besteht, dass ein Stoff die Gesundheit gefährdet, da in den vergangenen 25 Jahren wissenschaftlicher Fortschritt immer mit einem bloßen
Verdacht begonnen hätte. In den meisten Fällen hätte sich dieser
dann bestätigt.532
531
SZ, 107, 1999, V 2 /15; KAISER ist Umweltmediziner an der
Dokumentationsstelle für Umweltfragen (DISU) in Osnabrück.
532
s. o., ASHFORD ist Professor für Recht und Technologie am
Massachusetts Institute of Technology.
272
Schädel-Hirn-Trauma533
Mehr als 20 000 Menschen werden jährlich mit einem schweren
Schädel-Hirn-Trauma und lang anhaltender Bewusstlosigkeit (STH)
in deutsche Krankenhäuser eingeliefert. Ursache sind meistens Verkehrsunfälle. Werden noch schwere Stürze aus großer Höhe und die
Folgen von Selbstmordversuchen dazugerechnet, so erhöht sich die
Zahl auf nahezu 40 000 Patienten.
Jedes Jahr werden etwa 4250 Menschen durch diese Verletzungen
pflegebedürftig. Das STH ist die häufigste Todesursache bei den
unter 45-Jährigen.
Mit zunehmender Dauer der Bewusstlosigkeit sinken die Chancen
auf eine dauerhafte Heilung. In Ausnahmenfällen ist bei Erwachsenen auch nach sechs Monaten und bei Kindern auch noch nach zwölf
Monaten eine Heilung möglich. Ist eine Kontaktfähigkeit nach diesen Zeiträumen nicht erlangt, so stehen die Chancen für eine Besserung nur noch bei 1:5.
Die häufigsten zurückbleibenden Schäden sind neuropsychologische
Störungen wie: verlangsamte Reaktion, Gedächtnisstörungen, Beeinträchtigung des Problemlösungsdenkens oder aber Verhaltensänderungen.
Eine US-Studie stellte fest, dass 16% der Langzeitbewusstlosen
später unter epileptischen Anfällen leiden.534
Weitere Spätfolgen können krampfhafte Gelenkversteifungen und
Muskelverkürzungen infolge von psychischen Einflüssen wie Erschrecken, Angst oder Schmerz sein, die während des Komazustandes eintreten. In den meisten Fällen werden durch das Trauma Nervenfasern zerstört. Sie können jedoch zum größten Teil vom Körper
neu gebildet werden.
„Sekundärschäden“ bilden die weitaus größere Gefahr, da bei diesen
Schäden, die aufgrund einer mangelhaften Durchblutung des Gehirns
entstehen, Nervenzellen dauerhaft zugrunde gehen. Vielen Patienten
gelingt es nach der Entlassung nicht, zu Hause wieder Kontakte zu
knüpfen. Andere werden in der Folge depressiv. Ein „Zentrum für
ambulante und mobile Rehabilitation bei erworbenen Hirnschädigungen“ (ZAMOR) in Ingolstadt bietet Beratung und Hilfe an.
533
SZ, 77, 1998, S. 27; diesem Artikel sind alle nachfolgenden Informationen entommen.
534
New England Journal of Medicine, 1998, Bd. 338, S. 20
273
Schizophrenie – Behandlungskosten
KISSLING535 geht davon aus, dass ein überwiegend ambulant behandelter Patient Kosten in Höhe von ca. 33 000 DM jährlich verursacht, während für einen stationär betreuten Patienten etwa 126 000
DM jährlich aufgewendet werden müsse.
Allein in München gebe es rund 13 000 Menschen, die an Schizophrenie litten.536
Nach neueren Schätzungen leidet jeder vierte Patient, der bei einem
Hausarzt behandelt wird, an einer psychischen Erkrankung. Somit
avancieren psychische Krankheiten zu den häufigsten in unserer
Gesellschaft. Zu den 300 000 schizophrenen Patienten, die momentan in Deutschland durch eine Anamnese erfasst sind, gesellen sich
jährlich etwa 9000 Erstaufnahmen. Bei jedem vierten von 4000 jährlich behandelten Patienten einer Fachklinik in Rottenmünster wird
bereits eine Schizophrenie diagnostiziert.
Die Behandlungskosten für diese „kostenintensivste psychiatrische
Störung“ liegen bei 7 Milliarden Mark pro Jahr.537
Das Ergebnis einer Studie aus der Schweiz besagt, dass bei männlichen Schizophreniepatienten ein viermal so hohes Gewaltrisiko im
Gegensatz zu gesunden Menschen besteht. Entsprechende Erkenntnisse aus Finnland gehen davon aus, dass entsprechende Patienten
siebenmal häufiger Mord und Totschlag begehen als Gesunde. Bei
alkoholkranken Menschen ist dieses Risiko um das Elffache erhöht.
ANGERMEYER/SCHULZE gehen davon aus, „dass zwischen
psychischer Erkrankung und Gewalttätigkeit ein moderater,
aber zuverlässiger Zusammenhang besteht.“
Alkohol und Drogen stehen jedoch noch vor den psychischen Erkrankungen als Auslöser für Gewalttätigkeiten. „Das mit psychischer Krankheit verbundene Gewaltrisiko ist in seinem Ausmaß
vergleichbar mit der von jungem Alter, niedrigem Bildungsstand
und männlichem Geschlecht.“
Ein viel versprechender Ansatz von ANGERMEYER/SCHULZE ist
der Versuch, Informationen über psychische Erkrankungen in die
535
in SZ, 192, 1999, VI; KISSLING ist Oberarzt der Psychiatrischen
Abteilung der TU in München.
536
MM, 92, 2001, S. 10; MÖLLER, LMU München
537
SZ, 41, 2000, VI; ANGERMEYER/SCHULZE sind als Psychiater in Leipzig tätig.
274
Lehrpläne der Schulen aufzunehmen und so ein Verständnis für die
Betroffenen anzubahnen.
Gerade an Schulen für erziehungsschwierige und lernbehinderte
Kinder wäre dies eine effektive Möglichkeit, Präventionsarbeit zu
leisten. Viele Elternteile dieser Kinder leiden nach meiner Erfahrung
unter psychischen Erkrankungen; auch Alkoholprobleme der Eltern
tragen dazu bei, dass die Kinder entsprechende Schulen besuchen. In
meiner jetzigen Klasse weiß ich bei einem Drittel der Schüler von
einer entsprechenden Problematik.
MURRAY538 geht davon aus, dass Faktoren wie Frühgeburt, eine
Vireninfektion im Mutterleib oder sogar die Geburt im Winter das
Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, zu erhöhen scheinen.
Erst die Kombination von Eigenschaften, die jede für sich genommen in der Bevölkerung nicht ungewöhnlich sind, kann gefährlich
werden. Begünstigende Faktoren zur Entstehung einer Schizophrenie:
 eine verzögerte Entwicklung
 leichte geistige Probleme oder Angststörungen
 soziale Außenseiterrollen
 Drogen und soziale Not.
Schlafstörungen
Beinahe jeder dritte Deutsche leidet nach Angaben des Schlafmedizinischen Zentrums der TU München unter Schlafstörungen. Die
gesundheitlichen Folgen zeigen sich in Form von Tagesmüdigkeit,
Erschöpfung, Leistungseinbußen, depressiven
Verstimmungen,
Konzentrationsstörungen und erhöhter Reizbarkeit.539
Eine krankhafte Schlafstörung liegt nach Ansicht von Ärzten dann
vor, wenn ein Mensch über ein Vierteljahr hinweg an drei bis fünf
Tagen pro Woche Probleme hat. Bei Personen, die regelmäßig weni-
538
SZ, 216, 2000,V2 /10; MURRAY ist Psychiater am Institute of
Psychiatry in London.
539
MM, 137, 2000, S. 1
275
ger als sechs Stunden schlafen, erhöht sich nach ZULLEY das Sterblichkeitsrisiko um 30%.540
In der modernen Gesellschaft werde ein ungestörter und erholsamer
Nachtschlaf oftmals als vergeudete Zeit angesehen.
Beim gesunden, erwachsenen Menschen tritt eine Phase des Tiefschlafes nach etwa einer halben Stunde ein. Beginnt die Einschlafphase um 23.00 Uhr, so ist nach einer Einschlafphase (SEM Schlaf =
Slow Eye Movement) und einer Leichtschlafphase, in der das Gewecktwerden leicht möglich ist, gegen 23.30 die Tiefschlafphase
erreicht. Sie dauert etwa bis 2.00 Uhr nachts. Danach folgen Leichtschlafphasen unterschiedlicher Tiefe.
Schlafstörungen durch hochfrequente Strahlungen
(900 bis 1800 Megahertz – Handystrahlung)
Versuche im Schlaflabor zeigen, dass die Traumphasen des Schlafes
kürzer sind, sobald der Mensch hochfrequenten Strahlungen ausgesetzt ist. Dies ist aus dem Grund bedenklich, weil das Gedächtnis in
diesen Zeiträumen Erinnerungen fixiert.541
Schlafstörungen durch Lärmbelästigung542
JANSEN/GRIEFHAHN erforschten in den 60er und 70er Jahren die
Reaktionen von Schlafenden auf Lärm. Nach ihren Erkenntnissen
sind Gesundheitsbeeinträchtigungen erst zu erwarten, wenn Geräusche mit mehr als 75 Dezibel mehr als sechsmal pro Nacht auf Schlafende einwirken. GUSKI geht nach neueren Untersuchungen von
einem Wert aus, der bei 65 Dezibel liegt. Das „Aufwachkriterium“
von JANSEN gilt inzwischen als überholt. ISING: „Unser Körper
540
MM, 139, 2000, A 1; ZULLEY ist Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums der Psychiatrischen Klinik der Universität Regensburg.
541
SZ, 118, 2000, V2 /12
542
SZ, 144, 2001, V2 /9; JANSEN/ Barbara GRIEFHAHN arbeiten
an der Universität Düsseldorf; GUSKI arbeitet als Psychologe an der
Universität Bochum; ISING ist Direktor des Instituts für Wasser-,
Boden- und Lufthygiene im Umweltbundesamt; SPRENG arbeitet an
der Universität Erlangen; BABISCH ist Mitarbeiter im Umweltbundesamt.
276
reagiert auf Lärm schon lang bevor wir aufwachen.“ Bei lauten Geräuschen steigen die Werte des Stresshormons Cortisol auch dann,
wenn man nicht durch die Geräusche erwacht.
Ein Nebeneffekt der Lärmeinwirkung während des Schlafs sind die
sogenannten „Arousals“. Darunter versteht man unbewusste Wachperioden, die eine Dauer von einer bis zu 30 Sekunden haben. Der
normale Schlaf-Rhythmus wird gestört, wenn zu viele dieser Wachperioden auftreten. In der Folge leidet der Betroffene am nächsten
Tag häufig unter Müdigkeit und der Unfähigkeit, die gewohnte Leistung zu erbringen. SPRENG weist darauf hin, dass der Mensch während des Schlafes viel mehr Reize unterbewusst verarbeitet als allgemein angenommen.
„Unser Gehör schläft nie.“ Es weckt den Schläfer jedoch selektiv.
BABISCH weist darauf hin, dass das Herzinfarktrisiko bei den Menschen, die an verkehrsreichen Straßen (Tagespegel von 60 bis 75
Dezibel) wohnen, um 20% erhöht sei. Eine statistische Signifikanz
gebe es zu diesen Erkenntnissen nicht.
Schlafstörungen durch das RLS-Syndrom
(Restless-Legs-Syndrom /unruhige Beine)
RLS wird inzwischen als Krankheit angesehen. KARLBAUER
schätzt, dass bei etwa 2 bis 5% der Bevölkerung charakteristische
Symptome zu finden seien, ohne dass alle davon Betroffenen behandlungsbedürftig wären. Eine Diagnose erfolgt durch eine parallele Messung der Gehirnströme und der Aktivität der Beinmuskulatur
in einem Schlaflabor.
Zur Behandlung eignen sich Medikamente, die den Botenstoff Dopamin im Gehirn ersetzen und auch bei der Parkinson-Krankheit
eingesetzt werden. In schweren Fällen werden auch Opiate verordnet. Die Medikamente kosten pro Monat etwa 300 bis 400 Mark.
DZAJA zu den Ursachen der Krankheit: „Es besteht der Verdacht,
dass Hormone einen gewissen Einfluss haben.“543 Bei Frauen tritt
RLS häufiger auf als bei Männern, und zwar hauptsächlich nach
543
SZ, 161, 2001, S. 42; KARLBAUER ist Facharzt für Neurologie
in München; Andrea DZAJA ist Ärztin am Max-Planck-Institut in
München; Informationsmaterial zu RLS bei: RLS e.V., Schillerstraße
3a, 80336 München, Frau Lilo HABERSACK
277
einer Hormoneinnahme nach den Wechseljahren und während der
Schwangerschaft.
Schlafbezogene Atmungsstörungen
(OSAS: Obstruktives Schlafapnoe-Syndrom)
Ein OSAS kann nur in einem Schlaflabor diagnostiziert werden.
Extremschnarcher bekommen schätzungsweise mehrere hundert Mal
pro Nacht keine Luft, da Zunge Gaumensegel und Zäpfchen zeitweise die Atemwege verschließen. Begleitend treten dabei folgende
Symptome auf:
 kurzfristige Blutdrucksteigerung und Ansteigen von Muskelspannung und Herzfrequenz  erhebliche Gefäßbelastung
 Abfall des Blutsauerstoffgehalts
 Atempausen erhöhen nach GROTE544 anhaltend den Spiegel
von Stresshormonen
 starke Übermüdung am Tage mit erheblichen Konzentrationsschwierigkeiten
 verstärkte Neigung zu: Depressionen, Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen und/oder Impotenz
 verringerte Lebenserwartung durch ein erhöhtes Risiko für
Herzinfarkt oder Schlaganfall.
Vermutete Auslöser für das Schnarchen:
 Übergewicht
 Alkoholkonsum
Möglichkeiten der Hilfe:
 mehr Sport und Bewegung
 Umstellung der Ernährung
 Reduzierung des Übergewichtes
 weniger Nikotin
 Überprüfung und Reduzierung der Einnahme von schlaffördernden Medikamenten
 Beatmungsmasken
544
SZ, 221, 2001,V2 /15; GROTE arbeitet an der Universität Göteborg.
278


Zahnspangen, die den Unterkiefer während der Nacht nach vorne verlagern
Operationen mit Lasern oder Radiowellen, vor denen jedoch
gewarnt wird, beseitigen zwar häufig die Schnarchgeräusche,
aber nicht die Atemstillstände.
Vorsichtige Schätzungen gehen von etwa 800 000 betroffenen Menschen in Deutschland aus.
Faktoren, die das Einschlafen fördern:
ZULLEY545 weist in einer neuen Studie darauf hin, dass entgegen
den bisherigen Erkenntnissen aktiver Sport am Abend das Einschlafen fördere. Auch sexuelle Aktivität (in dieser Studie nicht berücksichtigt) habe den gleichen Effekt.
Rund 7% der Deutschen sind mit ihrem Schlaf unzufrieden. An erster Stelle stehen dabei Personen, die mehr als 25 Zigaretten täglich
rauchen.
Schulversagen
Nach den Erfahrungen des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) in
München werden jedes Jahr Hunderte von verwahrlosten Kindern in
München registriert, die in vermüllten Wohnungen bei meist Älteren
und psychisch Kranken anzutreffen seien. Grobe Vernachlässigung
äußere sich in Schulversagen.
Im Jahr 1998 war der ASD in 661 Haushalten mit Gewalthandlungen
an Minderjährigen und in 311 Haushalten mit sexuellem Missbrauch
konfrontiert.546
Seelische Erkrankungen
Bereits Zehnjährige leiden immer häufiger unter Ess-Störungen,
Angstneurosen und Schulphobien. WINKLER547 sieht die Ursache
dafür in der Gesellschaft.
545
MM, 255, 2001, S. 1; ZULLEY ist Professor an der Universität
Regensburg.
546
SZ,153, 1999, L 1
547
SZ, 266, 1996, S. 38; WINKLER ist Chefarzt am Augsburger
Josefinum.
279
Die Anzahl der ambulant behandelten Patienten stieg von Null im
Jahre 1985 auf eine Anzahl von 1200 pro Jahr. Die Situation in Familie, Schule und Ausbildung bedeute eine zunehmende Überforderung für die Kinder. Patienten mit Psychosen und Angstsymptomen
werden immer jünger. Im Alter von zehn Jahren flüchteten Kinder
bereits in Scheinwelten, litten an Ess-Störungen oder griffen zu Drogen. Viele Kinder möchten auch nicht zur Schule gehen, weil sie
Angst hätten, dass die Eltern sich trennen würden.
Das Scheitern der Ehen ist eine wesentliche Ursache für die Zunahme der Störungen und Erkrankungen. Die Kinder erleben so die
Eltern nicht mehr als Leitfiguren und Vorbilder.
Jugendliche sind zudem gezwungen, sich heute viel stärker als früher
anzupassen. Viele Kinder begegnen dieser Situation dadurch, indem
sie sich zurückziehen. Andere versuchen, sich diesem seelischen
Druck durch aggressives und zerstörerisches Verhalten zu entledigen.
Auch die Arbeitslosigkeit der Eltern trägt zu dieser Problematik bei.
WINKLER: „Die psychischen Probleme eines arbeitslosen Familienvaters hinterlassen auch in der Kinderseele ihre Spuren.“
Durch rauchende Eltern seien die Kinder besonders stark gefährdet.
„Die Hemmschwelle von Erwachsenen, vor ihren Kindern zum
Glimmstengel zu greifen, ist stark gesunken.“
So würden Zehnjährige von ihren Eltern zum Entgiften gebracht.
Viele Störungen werden nach Ansicht der Ärzte zu spät erkannt.
Eltern sollten sich gegenseitig auffällige Beobachtungen mitteilen
und rechtzeitig eine Erziehungsberatungsstelle oder einen Arzt der
Kinder- oder Jugendpsychiatrie aufsuchen.
Seelische Störungen bei Schülern/innen
Sie werden häufig gar nicht oder zu spät erkannt. Eine Studie der
Universität Bremen, bei der 1035 Jugendliche aus 36 Schulen befragt
wurden, belegt, dass ca. 18% der Zwölf- bis 17-Jährigen bereits
einmal eine Depression durchgemacht haben. Nur 3% davon wurden
jedoch behandelt.
Häufige Symptome:
Verminderte Denk- oder Konzentrationsfähigkeit, niedergedrückte
Stimmung, Schlaflosigkeit oder vermehrtes Schlafbedürfnis, aber
auch Gefühle der Wertlosigkeit oder das Hegen von Selbstmordgedanken können Anzeichen einer Depression sein. Mädchen leiden im
280
Alter von 16 oder 17 Jahren mehr als Jungen unter depressiven
Stimmungen. Auslöser sind häufig belastende Lebensbedingungen.
Bei knapp der Hälfte der befragten Schüler/innen zeigten sich zusätzlich noch Angststörungen. Der Missbrauch von Cannabis, Opiaten und Amphetaminen ist bei diesen Jugendlichen häufiger zu beobachten als bei gesunden Jugendlichen.
Die depressiven Phasen können oftmals Wochen andauern, wobei
die Jugendlichen in ihren sozialen Aktivitäten schwer beeinträchtigt
sind.548
Selbstdestruktives Verhalten
Darunter versteht man alle absichtlichen Selbstverletzungen von
Kindern und Jugendlichen. In den vergangenen Jahren hat das
selbstdestruktive Verhalten nach Beobachtungen von Experten deutlich zugenommen. Mädchen sind deutlich anfälliger als Jungen. Die
Betroffenen fügen sich immer wieder Schnittwunden an den Handgelenken zu. KLOSINSKI: „In der Pubertät ist die Zahl der Mädchen, die sich selbst verletzen, drei Mal so hoch wie die der Buben. .
. . Wir wissen inzwischen, dass selbstdestruktives Verhalten auf
organische, psychische und psychosoziale Störungen zurückzuführen
sein kann.“549
Selbstverletzungen sind oft als Hilferuf der Jugendlichen nach mehr
Nähe und Verständnis zu verstehen. Auch zwischen Selbsttötungen
und Selbstverletzungen besteht ein möglicher Zusammenhang. Im
Alter von 16 Jahren haben etwa 30 bis 40% aller Jugendlichen nach
eigenen Angaben schon einmal mit dem Gedanken gespielt, sich
umzubringen.
Bei den Mädchen ist auch diese Neigung in der Zeit des Erwachsenwerdens stärker ausgeprägt als bei den Jungen.
548
MM, 294, Medizin & Gesundheit
MM, 97, 2002, Bayern; KLOSINSKI ist Direktor der Tübinger
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Kinder- und Jugendalter.
549
281
Suizid – Selbsttötung
(weitere Informationen dazu im Kapitel „Fragmente“)
Die Zahl der Menschen, die sich jährlich das Leben nehmen, wurde
1996 von der WHO mit 820 000 angegeben.550 Eine neuere Studie
der WHO551 geht davon aus, dass 4 bis 5% der Menschen an krankhaften Depressionen leiden. Bei rund 15% führt die Erkrankung zum
Selbsttötungsversuch.
In Nürnberg ist die Suizidrate auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren gesunken. Ein bundesweites Pilotprojekt („Nürnberger Bündnis
gegen Depression und Suizid“) wird mit dafür verantwortlich gemacht, dass es 40% weniger Selbstmorde in dieser Stadt gibt.
Ärzte, Lehrer, Pfarrer und Altenpfleger werden im Rahmen dieses
Projektes intensiv geschult. Wegen des kurzen Untersuchungszeitraumes muss die Bewertung dieser Zahlen jedoch sehr vorsichtig
erfolgen.
Monat
Januar –September 2000
Januar –September 2001
Anzahlzahl der registrierten/ versuchten Selbsttötungen
79 / 255
47 / 181
Im Alter zwischen zwölf und 17 Jahren sind Jugendliche in alarmierend hoher Zahl zum Selbstmord bereit.
In einer von der Universität Bremen veröffentlichten Studie haben
30 von 1035 (an 36 im Land Bremen befindlichen Schulen) befragten Jugendlichen versucht, sich das Leben zu nehmen. Fast jeder
zehnte Schüler hat zumindest an Selbstmord gedacht.552
Die Selbstmordzahlen in Deutschland gehen seit den 80er Jahren
insgesamt zurück, während sich die Suizidversuche bei Jugendlichen
seit Beginn der 90er Jahre verdreifacht haben. Im Zeitraum zwischen
1990 und 1993 war eine Zunahme der registrierten Selbstmordfälle
und Selbstmordversuche bei Jugendlichen von 300 auf 900 von
jeweils 100 000 zu verzeichnen. Nach den Autounfällen sterben die
meisten unter 20 Jahre alten Menschen durch Selbstmord. Nach
550
SZ, 192, 1999, VI
SZ, 235, 2001, S. 57
552
MM, 79, 1999, S. 10
551
282
Schätzung von Psychologen sitzt in jeder Klasse durchschnittlich ein
Schüler, der sich mit Selbstmordgedanken trägt. Von 294 Menschen,
die sich 1995 in München das Leben nahmen, waren 21 zwischen
zwölf und 25 Jahren alt. Darunter befanden sich sechs Mädchen und
15 junge Männer.553
Neuerdings existiert eine Software mit typischen Klangerkennungsmustern selbstmordgefährdeter Menschen, das die spektographischen
Sprachanalysen von ca. 1000 Suizidpatienten enthält. Damit soll für
unerfahrene Psychiater die Erkennung von Risikopatienten erleichtert werden.554
In Sachsen und Thüringen ist die Selbstmordrate am höchsten, und
damit doppelt so hoch wie im Saarland. Am Ende der Skala rangiert
Hessen. Bayern liegt mit einer Selbstmordhäufigkeit von 16,6 auf
100 000 Einwohner an der Spitze der westdeutschen Flächenstaaten.
Die Selbstmordhäufigkeit nimmt mit steigendem Alter stetig zu.555
Im Jahr 1997 haben sich in Deutschland 12 256 Menschen das Leben
genommen. Die Zahl der missglückten Selbsttötungen wird auf über
120 000 pro Jahr geschätzt. Durch die Suizide entstehen direkte
Folgekosten von 57 bis 200 Millionen Mark pro Jahr.
Für das Bruttosozialprodukt entsteht ein Verlust von ca. 366 Millionen Mark, wenn ein Durchschnittsverdienst von 60 000 DM im Jahr
zugrunde gelegt wird. Jede zweite Frau, die sich heute das Leben
nimmt, ist über 60 Jahre alt. Der Anteil der alten Männer über 60
Jahre beträgt etwa 17%, der Anteil der Suizidquote liegt dagegen bei
32%.556
Psychische Störungen sind der Hauptgrund für Suizid. Wer Selbstmorde verhindern will, muss sich vor allem um Menschen mit seelischen Störungen kümmern, stellte ein Team von dänischen Wissenschaftlern fest.557 In einer Studie wurden die Lebensbedingungen von
811 Selbstmördern mit denen von etwa 80 000 Kontrollpersonen
verglichen. Dabei wurden Faktoren wie niedriges Einkommen, Arbeitslosigkeit oder ein Leben als Single mit berücksichtigt. Ca. 45%
553
SZ, 102, 1996, S. 37
SZ, 74, 1999, V2 /13
555
Statistik der Deutschen Gesellschaft für Suizid-Prävention für
1997 in MM, 234, 1999, S. 1
556
SZ, 242, 1999, V2 /13; WOLFERSDORF, Geschäftsführer der
Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS)
557
Lancet, 2000, Bd. 355, S. 9
554
283
der Selbstmorde konnte eine psychische Störung zugeordnet werden.
Nur 3% der Selbstmorde war auf die Situation der Arbeitslosigkeit
zurückzuführen.
Personen mit Affekt-Störungen oder Menschen die manischdepressiv waren, erwiesen sich als besonders gefährdet.
TAKAHASHI558 betont, dass „Mobbing“ unter Schulkindern als
Ursache für den Selbstmord von Jugendlichen durch die Medien
inzwischen als Klischee-Erklärung herangezogen wird. Er sieht als
wesentliche Gründe für die Selbstmorde die wirtschaftliche Rezession in Industrienationen, verbunden mit Arbeitslosigkeit, düsteren
Zukunftsaussichten und schlechten Nachrichten in den Medien. Was
die Eltern bedrückt, bedrückt auch die Kinder.
Die steigende Anzahl der Selbstmorde ist sowohl ein Indikator für
starke und plötzliche gesellschaftliche Veränderungen als auch auf
den immer wieder beobachteten „Werther-Effekt“ zurückzuführen.
Sensationelle Berichte über Freitode veranlassten ebenso wie Goethes Roman immer wieder viele Menschen zum Suizid. Nachdem
sich 1986 eine berühmte Popsängerin in Japan in den Tod gestürzt
hatte, folgten mehr als 30 Teenager ihrem Vorbild in den Tod. Allein
im Jahr 1998 wurden in Japan mehr als 30 000 Selbstmorde registriert.
Sexsucht – Nymphomanisches Syndrom
In den USA sind nach Schätzungen führender Therapeuten zwischen
3 und 8% der 275 Millionen Einwohner von diesem Leiden betroffen. Bei der Annahme eines Mittelwertes ergibt sich ein Durchschnitt
von 11 Millionen behandlungsbedürftiger Menschen.
Der Begriff „Sexsucht“ geht auf den amerikanischen Arzt und
Therapeuten CARNES zurück.559
Der Begriff „Sexsucht“ weckt Assoziationen zu den zwanghaften
Gewohnheiten von Alkoholikern und Drogensüchtigen. Das Verhalten, das zu einem persönlichen Ruin führte, ist von den entsprechenden Patienten nicht in den Griff zu bekommen.
558
SZ, 53, 2000, S. 8; TAKAHASHI ist Suizidexperte am Tokyo
Institute of Psychiatry.
559
Magazin der SZ, Nr.10 vom 10. 3. 2000, S. 34 bis 39; CARNES
leitet die Abteilung für Sexualstörungen der privaten Suchtklinik
„The Meadows“ in Wickenburg/Arizona, USA.
284
Als Ursache sieht CARNES die lustfeindliche Erziehung in den
USA.
„Viele Probleme haben wir uns mit unserer Rigidität selbst geschaffen. Unser wichtigster Kampf ist der gegen die negative Einstellung
zur Sexualität. Die USA sind wie ein 13-jähriger Teenager: besessen
von Sex und gleichzeitig voller Angst, darüber zu reden.“
Bis zum heutigen Tag wurde dieser Begriff nicht in die weltweit
anerkannte Klassifikation psychischer Störungen aufgenommen.
Nach CARNES ist es unzweifelhaft, „dass zwanghaftes Sexualverhalten fast immer mit anderen Süchten kombiniert ist, meist Alkohol,
Drogen, Magersucht oder Bulimie.
50 bis 70% der Kokainabhängigen, je nach Studie, haben auch ein
Problem mit Sexsucht. Das heißt, wir dürfen Süchte nicht mehr isoliert betrachten. Die zweite grundlegende Erkenntnis ist, dass die
Mehrzahl der sexsüchtigen Patienten als Kinder missbraucht wurde.“
Der Zustand der betroffenen Patienten ist durch furchtbares Leiden
und unerträgliche Scham gekennzeichnet.
Die Gefährdung von Mitmenschen ist deshalb sehr groß, weil Geschlechtsverkehr oftmals ohne Kondom ausgeübt wird, und zwar
deshalb, da die Süchtigen gerade kein Kondom bei sich haben, weil
es ja eigentlich gar nicht so weit kommen sollte. Die meisten seiner
Patienten sind leitende Manager, Anwälte, Ärzte und Priester.
Drei Fragen an sich selbst können helfen, das Ausmaß der Sucht bei
sich selbst zu beurteilen:



Leidet die Arbeit unter meiner sexuellen Aktivität?
Bin ich aus sexuellen Gründen mit Leuten zusammen, deren
Gesellschaft ich sonst nicht suchen würde?
Möchte ich nach dem Sex oft davonlaufen?
Werden alle drei Fragen mit „ja“ beantwortet, muss noch zwischen
vorübergehender Phase, Sucht, Schwäche oder Natur differenziert
werden. Eine Beeinträchtigung des Sexuallebens ist in jedem Fall
daraus abzuleiten. Bisexualität und Homosexualität wird ebenfalls
häufig in Verbindung mit Sexsucht beobachtet. COULTER weist auf
einen möglichen Zusammenhang zwischen dem postenzephalitischen Syndrom (durch Impfungen verursacht) und einem exzessiven
Sexualleben hin.560
560
COULTER, 1995, S. 217
285
Sexueller Missbrauch von Jungen und Mädchen
Sexuelle Gewalt wird dann ausgeübt, wenn eine Person ihre physische oder geistige Überlegenheit oder aber die Abhängigkeit oder
das Vertrauen eines Mitmenschen zur Befriedigung seiner eigenen
sexuellen Bedürfnisse ausnutzt.
Besonders gefährdet sind nach einer Literaturstudie von HOLMES
und Mitarbeitern561 in Nordamerika farbige Buben unter 13 Jahren,
die ohne Vater in einem sozial schwachen Umfeld leben. Die Mehrzahl der Täter ist mit dem Opfer bekannt, jedoch nicht verwandt.
Der Begriff Missbrauch wurde in dieser Studie verschieden definiert
und erklärt somit die Schwankungsbreite der Ergebnisse. 6 bis 47%
sind weiblich, und zur Hälfte jugendliche Babysitterinnen. Sind die
missbrauchten Jungen älter, steigt der Anteil der Täterinnen auf 27
bis 78%. 17 bis 53% der Opfer berichten über fortgesetzten Missbrauch bis zu vier Jahren Dauer.
Nur 15 bis 39% empfinden ihre Opferrolle als negativ und werden
dementsprechend auch nicht behandelt. Entgegen dieser persönlichen Wahrnehmung zeigen missbrauchte Jungen verstärkt aggressives Verhalten, laufen öfter von zu Hause weg und geraten häufiger
mit dem Gesetz in Konflikt. Zudem leiden sie in erhöhtem Maße
unter Depressionen, Angstzuständen, Paranoia und Ess-Sucht. In
ihrem weiteren Leben tendieren die Opfer zu Prostitution und risikoreichem Sexualverhalten.
Bayerische Studien gehen nach Angaben von STAMM davon aus,
dass jedes sechste Mädchen und jeder 13. Bub Opfer eines sexuellen
Missbrauchs wird. Im Jahr 1999 wurden laut Kriminalstatistik in
Bayern 2441 Kinder Opfer eines Missbrauchs.562
Sexueller Kindesmissbrauch in Familien
Neuere Erhebungen in Großbritannien belegen, dass sexuelle Gewalt
vor allem in der Familie stattfindet. Etwa 10 bis 20% der Täter sind
weiblich, 80 bis 90% sind Männer. Kinder aller sozialen Schichten
und aller Altersgruppen sind betroffen. Selbst Säuglinge und Klein561
JAMA, 1998, Bd. 280, S. 1855 und in SZ, 289, 1998, V2 /9
MM, 51, 2000, S. 1; Barbara STAMM, bayerische
Sozialministerin.
562
286
kinder zählen zu den Opfern. Nicht nur körperliche, sondern vor
allem seelische Beeinträchtigungen der Betroffenen sind die Folge.563
Sexueller Kindesmissbrauch erfolgt in vielen verschiedenen Formen,
ausgehend von verbalen Belästigungen bis hin zu Vergewaltigungen,
die in keiner Statistik Deutschlands erfasst werden.
HOFER: „Täter sind nur selten anonyme „böse Männer“, die den
Kindern im Gebüsch auflauern; Täter sind in den meisten Fällen die
nächsten männlichen Verwandten der Kinder, mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft lebend, also Väter, Großväter, Onkel, Brüder.
Diese Täter sind nur zu einem kleinen Teil psychisch gestörte, Nachsicht verdienende Menschen, die eigene Missbrauchs- und Gewalterfahrung unverarbeitet an ihre Kinder weitergeben; es sind hauptsächlich beruflich erfolgreiche Familienväter, im Freundeskreis anerkannt, mit Ehrenämtern geschmückt, in Parteien engagiert, die im
Schutze der Familie sich ungestört und ebenso ungestraft an ihren
Kindern vergehen.
Die von Frau Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin in der Talkshow von Sabine Christiansen am 15. 7. 2001 genannte Zahl von 20
000 Kindern im Jahr, die in den Familien sexuelle Gewalt erleiden,
erscheint . . . als zu niedrig und mindestens um den Faktor zehn zu
erhöhen.
Die schwer psychisch kranken Frauen, die zu uns kommen, berichten
– manchmal erst nach zwei, drei Jahren, in denen Vertrauen zur
Beraterin entstand – von jahrelang andauernden sexuellen Belästigungen und Vergewaltigungen in der Kindheit durch nächste Familienangehörige. Allen diesen Geschichten ist gemeinsam, dass die
Mädchen damals sich niemandem anvertrauen konnten oder dass
ihre vorsichtigen Versuche, jemanden von dem Missbrauch zu erzählen, mit schweren Sanktionen beantwortet wurden (Schläge, Stigmatisierung als „verrückt“, Abgabe in ein Heim u. v. m.).
Später wiederholen sich diese Erfahrung im Kontakt mit Ärzten und
Psychotherapeuten; die Sanktion ist dann die Diagnose „Hysterie“ . .
. und wieder herrscht die gleiche Dynamik wie in der innerfamiliären
Traumasituation: Das Opfer ist vom Täter abhängig, der Täter hat
die stärkere gesellschaftliche Position, dem Opfer wird aufgrund
563
SZ, 160, 2001, S. 53, München
287
bestimmter Eigenschaften (Kind, psychisch krank) wenig Glauben
geschenkt. Der Prozess der psychischen Heilung kann erst dann
beginnen, wenn die Gesellschaft sich auf Seiten des Opfers stellt und
den Täter verurteilt. Die Realität sieht leider ganz anders aus“564
(vgl. dazu auch das Kapitel: Die Gewaltgesellschaft).
Vor allem im Familienkreis werden Täter oft deshalb gedeckt, weil
die Mitwisser diese Taten einfach nicht wahrhaben wollen.
Die Situation in Bayern: 565
Sexueller Missbrauch von Kindern – Die Situation in Bayern
§§ 176 – 176 b StGB (Die Angaben sind gerundet)
Jahr
Opfer insgesamt
männlich
vollendete Tat
weiblich
vollendete Tat
männlich Versuch
weiblich Versuch
1991 1993 1995 1997 1999 2000
2400 2300 2250 2850 2400 2750
500 500 500 750 500 700
1650 1600 1590 2000 1750 2000
50
100
50
90
80 80
90 110
50
90
50
80
Prävention
ENDERS:
„Kein Täter wird sich durch eine Gendatenbank davon abhalten
lassen zu missbrauchen. Genauso wie auch drakonische Freiheitsstrafen Täter nicht davon abhalten zu missbrauchen. Was Täter abhält, ist frühe therapeutische Hilfe am Anfang ihrer Täterentwicklung . . . Viele Täter fangen schon als Kinder oder als Jugendliche an
zu missbrauchen.“
564
SZ, 173, 2001, S. 10, Leserbriefe; Klara HOFER arbeitet als Psychologin und Psychotherapeutin in München. und besitzt langjährige
Erfahrungen im Sozialpsychiatrischen Dienst.
565
Die Tabelle wurde entnommen: MM, 9, 2002, S. 3; Zum Thema
„Sexueller Missbrauch von Kindern“ gibt es den Film „Trau dich“
von Filmemacher Hans-Peter Meier; Schulen können diesen Film als
Medienpaket zur Missbrauchsprävention über die Filmbildstellen
beziehen.
288
Resultate aus Beratungen und Forschung deuten mittlerweile darauf
hin, dass ein Drittel aller Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Jungen und Mädchen sowohl durch jugendliche Täter als
auch Täterinnen verübt wird. Selbst kindliche Täter treten in Erscheinung.
Kinder und Jugendliche müssen lernen, klar „nein“ zu sagen.
Sexualmorde
Eltern schätzen in der Regel, dass in Deutschland im Jahr zwischen
100 und 1000 Sexualmorde verübt werden.566 Die wirkliche Zahl
wird mit drei bis sieben pro Jahr angegeben. Durch die Berichterstattung der Medien wird der Eindruck erweckt, als nähme die Zahl
ständig zu. Sie ist aber tatsächlich deutlich zurückgegangen. Im
Fernsehen, durch das unsere Wahrnehmung der Realität entscheidend strukturiert wird, dagegen nimmt die Präsenz dieses Themas
zu.
WETZELS: „Vor 30 Jahren gab es mehr Fälle von sexuellem Missbrauch.“
Sexualmorde in Niedersachsen
Jahr
1973 – 1977
1978 – 1982
1985 – 1989
1995 – 1999
Anzahl
43
37
22
11
Die sexuelle Gewalt gegen Jungen und Mädchen nimmt ab. Gründe
dafür nach WETZELS:
 Abnahme der körperlichen Züchtigung von Kindern
 Bessere Sexualaufklärung der Kinder und somit ein besseres
Verhältnis zur eigenen Sexualität
566
SZ, 271, 2001, VI; WETZELS ist Direktor des Kriminologischen
Forschungsinstitutes Niedersachsen in Hannover; Ursula ENDERS
ist Leiterin der Beratungsstelle „Zartbitter“ in Köln.
289


Allgemeiner Abbau des Machtgefälles zwischen Erwachsenen
und Kindern
Ergebnis der Beratungs- und Aufklärungsarbeit
Sexueller Missbrauch – weltweit 567
Minderjährige Prostituierte
im Staat
Brasilien
Thailand
Indien
USA
Philippinen
Sri Lanka
Anzahl
geschätzt
500 000 – 2 000 000
800 000
400 000
100 000 – 300 000
100 000
30 000
Weiter wird geschätzt, dass zwischen Ost- und Westeuropa etwa
jährlich 200 000 Menschen gehandelt werden. Die Anzahl der deutschen Sex-Touristen, die jährlich in das Ausland reisen, beträgt zwischen 4000 und 20 000. Allein in Asien werden nach Schätzungen
von UNICEF jährlich eine Million Kinder neu zur Prostitution gezwungen.
Sisi-Syndrom
Von dieser nach der österreichischen Kaiserin Elisabeth von Österreich benannten Form der Depression sind nach Schätzungen von
Experten ca. 2,5 Millionen Menschen betroffen.
Menschen mit diesem Syndrom bewältigen diesen seelischen Zustand nicht mit Resignation, Traurigkeit oder Weinerlichkeit, sondern versuchen dem depressiven Zustand mit Aktivität und Sport zu
begegnen.
Als eine mitauslösende Ursache wird eine Störung des Serotoninstoffwechsels im Gehirn angenommen. Durch Medikamente wie
Seroxat, die den Wirkstoff Paroxetinhydrochlorid, der die Wiederaufnahme von Serotonin hemmt, enthalten, kann dieses Syndrom
günstig beeinflusst werden.568
567
SZ, 291, 2001, S. 12; Quelle: ddp/unicef ; Tabelle laut
Schätzungen der UNICEF
568
in Naturheilkunde 5 /99 und in MM, 210, 1999, J 4
290
Spielsucht
Die weit auseinander gehenden Schätzungen der Fachleute sprechen
von 90 000 bis 150 000 pathologischen Glücksspielern. Andere
Schätzungen gehen von 25 000 bis 130 000 Spielsüchtigen in
Deutschland aus. In fünf deutschen Spezialkliniken werden jährlich
240 Zocker stationär behandelt. 90% dieser Patienten sind von einfachen Münzspielgeräten abhängig, die in jeder Kneipe zu finden sind.
Etwa ein Fünftel besucht Spielbanken. Für jedes dieser Spielgeräte
wurde ein statistischer Dauerverlust von 46,40 DM pro Stunde ermittelt. Die durchschnittliche Verschuldung von pathologischen Spielern lag bei 30 000 DM. Der Gesamtumsatz in dieser Branche beträgt
etwa 11 Milliarden Mark, davon erhält der Staat jährlich 1,4 Milliarden Mark an Steuereinnahmen.569
Laut Statistischem Bundesamt in Wiesbaden sind die staatlichen
Einnahmen beim Glücksspiel im vergangenen Jahr auf 7,5 Milliarden Mark gestiegen.
Nach HERFORD570 sind knapp 40% der Glücksspieler mit Beträgen
zwischen 10 000 und 50 000 DM verschuldet. Vor allem in den
neuen Ländern hat sich die Spielsucht nach der Alkoholsucht zur
Droge Nummer zwei entwickelt.
MEYER vertritt die Ansicht, die Spielsucht habe sich zu einem
„wahren Massenphänomen entwickelt, dem alle Beteiligten ratlos
gegenüberstehen“.571
Die innere Unruhe und Reizbarkeit vieler Zocker lege sich erst,
wenn die erste Münze im Spielautomaten steckt.
Ein bisher einzigartiger Fall hinsichtlich der Folgen von Spielsucht:572
Ein 16-jähriger Junge aus Turin musste in eine psychiatrische Klinik
gebracht werden, nachdem er fünf Nächte lang mit einem Videospiel
zugebracht und sich schließlich mit dem Helden identifiziert hatte.
Bei seiner Einweisung in die Klinik sagte der Junge: „Ich heiße Ken,
ich führe eine Schlacht aus, ich muss viele Frauen vom Tod retten.“
569
SZ, 156, 1999, VI
MM, 274, 1999, S. 11; HERFORD ist Mitglied des Fachverbandes Glücksspielsucht.
571
MEYER ist Professor für Psychologie an der Universität in Bremen.
572
SZ, 266, 1999, S. 16
570
291
Die Spieler bei Computerspielen schlüpfen nicht nur in die Rollen
von Helden oder Dämonen, sie werden so wie bei „Black & White“
sogar in die Situation eines Gottes oder einer Göttin versetzt, der/die
sich gegenüber anderen Göttern behaupten muss.
Spielsucht existiert auch nach Ansicht von HANKEL in Form des
Börsenfiebers auf der Bühne der globalen Spielhalle, den Börsen und
Aktienmärkten. Die weltweit zunehmende krankhafte Spielsucht
wird zum ersten Mal auch in ihren ökonomischen Bezügen begriffen.
HAND weist auf ein gemeinsames Merkmal der Spielsüchtigen hin:
Es sind alles Patienten mit „kleinen magischen Philosophien“, die
glauben, dass ihr Spielsystem „perfekt ist und sie es nur noch nicht
perfekt genug beherrschen“.573 Sorge bereitet vor allem die „abnorme Entwicklung“ des Aktienmarktes, etwa durch Spekulanten. Deren Vorgehensweise und Aktivitäten haben nichts mehr mit wirtschaftlichen Werten oder Bezügen zu tun. Sie arbeiten mit risikoreichen psychologischen Vorhersagen bezüglich des „Mitspielerverhaltens“. HAND sieht Börsenplätze als „ideales Spielfeld für Emotionalität“. Davon ist zum Teil die gesamte Volkswirtschaft abhängig. In
der Folge sinkt der Wert realer Arbeit, und das Glück bestimmt, wer
in unserer Gesellschaft zu den Gewinnern oder den Verlierern zählt.
„Extreme Zukunftsängste und in ihrer Folge gefährliche Aggressionen“ sieht HAND als mögliche Auswirkungen.
Jüngste Berichte aus den USA über Amokläufe von gescheiterten
Börsenspekulanten bestätigen diese Visionen.
In Japan hat die Spielsucht ganze Familien ergriffen und ist inzwischen zu einem gesellschaftlichen Problem geworden. Die Entwicklung zur Sucht hat vor allem mit psychischen und sozialen Bedingungen zu tun, auch mit Erziehung, Kindheitserfahrungen, Persönlichkeit und Veranlagung. Jeder Mensch trägt im Grunde süchtige
Anteile in sich.
THIELEN: „Persönliche Probleme sind oft der Auslöser solcher
Suchtverhalten, und die müssen dem Betroffenen nicht einmal bewusst sein . . . der Suchtstoff steht für eine Lücke im Leben der
Süchtigen, was aber genau dahinter steckt, muss man in einem Ge573
SZ, 184, 1999, S. 3; HANKEL ist Wirtschaftswissenschaftler;
HAND ist Leiter der Verhaltenstherapieambulanz der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf; HAND auf dem XI. Weltkongress für
Psychiatrie in Hamburg.
292
spräch herausfinden.“ 574 Der erste Schritt zurück zur Normalität
besteht darin, sich die Sucht einzugestehen. Obwohl Suchtkranke in
psychosomatischen Kliniken behandelt werden müssten und eine
intensive Nachsorge von bis zu einem Jahr benötigen würden, werden in der Regel nur für sechs Wochen Therapieplätze vergeben.
Wichtige Adressen für Beratungsstellen:






Beratungsstelle in München: Beratungs- und Therapiezentrum
für Suchtgefährdete und -abhängige, Im Tal 19,
Telefon 0 89/ 24 20 80 -11
Fachklinik Nordfriesland GmbH: www.spielsucht-therapie.de
Hilfe über Caritas Nordrhein-Westfalen:
www.caritas-neuss.de/3/gluecksspiel.htm
Selbsthilfe (München): Selbsthilfezentrum München, Bayerstraße 77a ; Telefon 0 89/ 53 29 56 11, und
E-Mail: [email protected]
Suchthilfe online (Diakonisches Werk der Evangelischen
Kirche in Kassel): www.sucht.org
Sprachstörungen
Jedes vierte Kind in Deutschland gilt inzwischen als sprachgestört.
Die Sprachentwicklung der Kinder wird nach Aussagen von
HEINEMANN575 durch folgende Faktoren gehemmt:
 häufiges Fernsehen
 „Schweigende Familien“
 Spiele mit Gameboy und Computer.
Das stundenlange Schweigen wirke sich negativ auf die Sprachentwicklung aus.
Ein Viertel aller Kinder im Alter von dreieinhalb bis vier Jahren sind
in ihrer Sprachentwicklung zurückgeblieben.
574
MM, 271, 2001, J 4; Annelie THIELEN ist Diplom-Psychologin
und therapeutische Leiterin des Münchner Beratungs- und Therapiezentrums für Suchtgefährdete und Abhängige „Tal 19“.
575
MM, 122 / 22, 1997, S. 1; HEINEMANN ist Direktor der Klinik
für Kommunikationsstörungen in Mainz.
293
Experten sind sich bezüglich der Unterscheidung von normalen
Phasen und behandlungsbedürftigen Störungen beim Spracherwerb
uneinig, da der Spracherwerb individuell sehr unterschiedlich verläuft. Eine Therapie, die zu früh beginne und zu lange andauere, wird
nach derzeitigem Kenntnisstand (Berufsverband der Kinder- und
Jugendärzte) eher als schädlich beurteilt. Nach Auffassung der deutschen Gesundheitsämter müssten inzwischen bei 25% aller Kinder
Sprachstörungen behandelt werden. HOPPE geht davon aus, dass
jedes vierte Vorschulkind sprachauffällig sei. 8 bis 10% seien therapiebedürftig.576
In Ländern wie den USA und Großbritannien geht man statistisch
davon aus, dass 6 bis 7% Prozent der Kinder einer Therapie erhalten
sollten. Die Verständlichkeit eines Kindes ist auch deshalb von großer Bedeutung, weil ein Kind, das sich nicht mit Gleichaltrigen austauschen und verständigen kann, eher dazu neigt, Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln.
Über die Rolle des Fernsehens bezüglich der Entstehung von
Sprachschwierigkeiten gibt es ebenfalls geteilte Meinungen. Fernsehen kann die Sprachentwicklung dann entscheidend behindern, wenn
die Kinder sonst keinen Ansprechpartner haben. SINGER betont mit
Recht die außerordentliche Wichtigkeit von kommunikativen Prozessen bei der Hirnentwicklung.577
Die Kommunikationsmöglichkeiten und -fähigkeiten bestimmen in
entscheidendem Ausmaß die Möglichkeit der differenzierten Entwicklung kognitiver Funktionen.
Nach SCHREY-DERN ist es nicht möglich, genaue Angaben darüber zu machen, ob heute Sprachstörungen bei Kindern häufiger
vorkommen als vor einigen Jahrzehnten. Sie vermutet, dass Sprachstörungen früher möglicherweise nicht die Beachtung geschenkt
wurde, wie es jetzt der Fall sei.
576
SZ, 150, 2001, V2 /10; HOPPE ist Präsident der Bundesärztekammer; Dietlinde SCHREY-DERN ist Präsidentin des Deutschen
Bundesverbandes für Logopädie (DBL).
577
www.mpih-frankfurt.mpg.de/global/np/mckinsey.htm; SINGER
ist Direktor des Max-Planck-Institutes für Hirnforschung.
294
Sprachverlust
Für die Therapie ist wichtig, dass die Behandlung möglichst schnell
beginne.
Viele Mediziner sehen solche Symptome als Randerscheinungen
eines Schlaganfalls. Eine Aphasie ist die Folge einer Hirnschädigung
nach einem Schlaganfall, Unfall oder einer Hirnentzündung. Betroffen sind in Deutschland nach WENDT etwa 300 000 Menschen.578
Selektiver Mutismus 579– das Kind spricht nicht mit jedem
Einige der Kinder bleiben z. B. in der Schule stumm, obwohl sie zu
Hause bei den Eltern oder aber auch mit sich selbst völlig normal
reden. Das Krankheitsbild zeigt sich in vielen Schattierungen:
Manche Kinder sprechen
 mit dem einen Lehrer, mit dem anderen aber nicht
 mit der Mutter, aber nicht mit dem Vater
 mit allen Familienmitgliedern, jedoch nur in Einzelgesprächen
 nur mit Fremden, jedoch nicht mit den Eltern
 können lange Telefongespräche, jedoch keine Gespräche vis à
vis, keine Gespräche mit derselben Person führen.
Zur Entstehung dieser Sprachstörung gibt es viele Vermutungen,
jedoch keine konkreten, beweisbaren Ursachen:
 eine zu enge Mutterbindung
 andauernde innerfamiliäre Spannungen; neurotische Familienstruktur
 Folge einer Hirnschädigung während der Geburt
 ein Trauma in frühester Kindheit
 sexueller Missbrauch
 kulturelle und sprachliche Unterschiede
 Vererbung.
Die letztgenannte Vermutung wird durch die Beobachtung erhärtet,
dass die Eltern der betroffenen Kinder selbst oftmals sehr wortkarg
578
MM, 151, 1999, S. 3; Eleonore WENDT ist Vorsitzende des
Bayerischen Landesverbandes für die Rehabilitation der Aphasiker.
579
SZ, 123, 1998, V
295
sind, wenig soziale Kontakte pflegen und gerne zurückgezogen leben.
Neuere Ansätze sehen im selektiven Mutismus immer mehr eine
Angstkrankheit.
Die Behandlung ist heute in erster Linie verhaltenstherapeutisch
orientiert. „Aversive Stimuli“ wie



Untertauchen im Swimmingpool, bis sie Wasser schlucken und
„nein“ schreien
Kürzung der Essensration
Beginn der Übungen ohne die Möglichkeit der vorherigen Nahrungsaufnahme; diese wird dann zusammen mit entsprechendem
Lob gewährt
zeigen aber auch nicht immer die gewünschte Wirkung.
Das Medikament Fluoxetin, eine Antidepressivum ohne beobachtete
Nebenwirkungen soll erfolgreich zur Behandlung eingesetzt worden
sein. Beobachtungen der letzten Jahre zeigten die Zunahme dieser
Fälle in der Schule, vor allem bei ausländischen Kindern.
Fremde Erwachsene werden nach Aussagen von Sprachwissenschaftlern oft wie Fremdsprachige erlebt. Damit müssen ähnliche
Anforderungen wie beim Erlernen einer ganz neuen Sprache bewältigt werden.
Stoffwechselstörung – Phenylketonurie PKU
Diese Störung beruht auf einem Enzymdefekt. Von 16 000 Neugeborenen ist eines von dieser Erkrankung betroffen. Der von dieser Erkrankung betroffene Organismus ist nicht in der Lage, Phenylalanin
(ein spezifisches Eiweiß, das in den meisten eiweißhaltigen Nahrungsmitteln enthalten ist) zu verarbeiten. Bei dieser Erkrankung ist
das Enzym Phenylalaninhydroxylase defekt. Befinden sich die mutierten Gene auf einem Autosom, so sind die Träger klinisch gesund.
Sind beide Eltern Träger dieses Gens, so ist eine Erkrankung der
Nachkommen zu 25% wahrscheinlich.580
580
STEINHAUSEN, 1996, 60
296
Säuglinge müssen deshalb mit einem besonderen Milchersatzstoff
ernährt werden.
Wird die Krankheit nicht erkannt, können sich folgende Symptome
zeigen :
Kinder sind mit vier Jahren noch nicht sauber, können sich oftmals
nicht alleine anziehen und auch nicht richtig essen. Aggressivität,
Angst-, Krampf- und Wutanfälle mit Automutilation können auftreten. Nachts wachen die Kinder oftmals schreiend auf. Die Erkrankung wird auch von Fachärzten oftmals mit der Form eines schweren
Autismus verwechselt.
Durch die Aminosäurenstoffwechselstörung tritt eine schwere Schädigung des Gehirns als Folge einer Vergiftung ein.
Als Therapie wurden Erfolge mit einer speziellen PKU-Diät erzielt.
Eine Bewegungs-, Ess- oder eine Musiktherapie kann eine sinnvolle
Ergänzung sein. Oftmals werden auch schwere Psychopharmaka bei
unklarer Diagnosestellung verordnet.581
Stottern
Nach Erkenntnissen des ISV in Darmstadt (Interdisziplinäre Vereinigung Stottertherapie) gibt es in der BRD etwa 800 000 Stotterer.
Das Stottern wird vor allem bei den betroffenen Kindern oftmals
durch die elterlichen Schamgefühle verstärkt. Nachteilig auf die
Sprachentwicklung wirken sich auch der falsche Ehrgeiz von Vätern
oder Müttern und ständige Ermahnungen aus.
Am förderlichsten sei es, dem Stottern mit Gelassenheit zu begegnen. Das Problem solle aber auch nicht tabuisiert werden.582
Stottern betrifft vor allem Männer und kann vererbt werden. EULER
fand heraus, daß Söhne von Stotterern mit einer drei- bis viermal so
hohen Wahrscheinlichkeit ebenfalls stottern.583
Stottern wird heute zu den häufigsten Sprachstörungen gezählt. Etwa
eines von zwanzig Kindern ist davon betroffen. SCHNEIDER: „Es
581
MM, 293, 1999, Weihnachtsaktion
MM, 49, 1999, S. 1
583
SZ, 120, 1997, Vermischtes; EULER ist Psychologie-Professor
in Kassel.
582
297
gibt fast keine Informationen darüber, wie wirksam die einzelnen
Therapieverfahren tatsächlich sind.“584
In der deutschen Literatur zeigt sich nach FOX bezüglich der
Sprechstörungen eine große Unstimmigkeit hinsichtlich der Diagnose, der Therapie und der Einteilung von Sprachstörungen.
Susto
Diese Störung ist vor allem in Lateinamerika weit verbreitet.
Die Betroffenen empfinden dabei eine Mischung aus körperlichen
Schmerzsymptomen, Depressionen und Traumata bei der gleichzeitigen Vorstellung, dass Körper und Geist getrennt seien.585
Umweltpanik durch Schulstress – Psychogene
Massenerkrankung
Bereits seit Sigmund Freud ist der Begriff „Massenhysterie“ bekannt. Er ging davon aus, dass die körperlichen Störungen nur eingebildet sind. Aus den USA kommt der neue Begriff „Psychogene
Massenerkrankung“.586 Dieses Phänomen ist dadurch gekennzeichnet, dass durch einen „Leitpatienten“ ein „Panik-Virus“ eingeschleppt wird, der oftmals mit einem konkreten Auslöser in engem
Zusammenhang steht. Auch soziale Strukturen spielen bei dem Ausbruch einer solchen Epidemie eine Rolle. Die Ausbreitung erfolgt
unter Frauen und Mädchen schneller als bei Buben und Männern.
Gemeinschaften, die unter Stress stehen und eine Ventilfunktion
brauchen, begünstigen das Entstehen von „Panikepidemien“. Ein
gemeinsames „Feindbild“ (z. B. Umweltgifte) ist ebenfalls eine
Voraussetzung zur Entstehung einer Umweltpanik. Der Umgang mit
solchen Vorkommnissen erfordert besonderes Fingerspitzengefühl,
da mögliche psychologische Ursachen schnell zu Diffamierungen
führen können.
Eine Gruppentherapie ist in solchen Fällen das erste Mittel der Wahl.
584
SZ, 150, 2001,V2 /10; SCHNEIDER ist Logopäde an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen ; Annette
FOX ist Logopädin in Hamburg.
585
SZ, 94, 2002, V2 /15
586
New England Journal of Medicine, Bd, 342, 2000, 96 in SZ 31,
2000, V2 /13
298
Beispiel:
Im November 1998 nahm eine Lehrerin in einer Schule im USBundesstaat Tennessee einen benzinartigen Geruch im Klassenzimmer wahr. Übelkeit, Atemnot und Schwindelgefühle traten auf. Diese Symptome breiteten sich schlagartig in der ganzen Schule aus.
Eine Evakuierung des Gebäudes erfolgte; 170 Lehrer und Schüler
wurden in Krankenhäuser eingeliefert. Blut- und Urinproben gaben
keine Hinweise auf mögliche Ursachen. Die Lehrer und Schüler
hatten jedoch vorher einen wissenschaftlichen Fragebogen ausgefüllt.
Auch WATZLAWICK berichtet von solchen Phänomenen.587
Auch die angebliche Vergiftung mehrerer Dutzend belgischer Schüler durch Coca-Cola-Getränke wird nach Untersuchungen der belgischen Regierung als Massenpsychose gewertet.
38 Schüler wurden wegen Übelkeit, Kopfschmerzen und Fieber nach
dem Genuss dieser Getränke in Krankenhäuser gebracht.
Die Getränke hätten zwar durch einen Produktionsfehler Schwefelgeruch und -geschmack aufgewiesen, es habe jedoch zu keinem
Zeitpunkt eine Gesundheitsgefährdung bestanden. Es wird angenommen, dass sich verschiedene Krisen wie Rinderwahnsinn und
Dioxinskandal sowie die Examenszeit auf die Psyche der Schüler
ausgewirkt hätten.588
Verhaltensstörungen
Immer mehr Kinder sind bereits im Grundschulalter verhaltensauffällig. Nach Schätzungen von Lehrern sind bereits bis zu 10% eines
Jahrgangs von Verhaltensauffälligkeiten betroffen.589
Gleichzeitig ist eine ausreichende Versorgung und Vorsorge dieser
Kinder wegen der schlechten Honorarsituation der Psychotherapeuten nicht gewährleistet.
Die angebotenen verschiedenen Therapie- und Behandlungsansätze
können inzwischen vielfach nicht mehr finanziert werden.
587
WATZLAWICK, 1979, S. 84 ff.
SZ, 78, 2000, S. 16
589
SZ, 80, 2000, L 1
588
299
Zukunftssorgen machen Jugendliche krank
Eine von der Universität Bremen durchgeführte Befragung von 9300
Jugendlichen im Alter von 14 bis 25 Jahren kam zu dem Ergebnis,
dass fehlende Zukunftsperspektiven Jugendliche krank machen können. Die Angst vor Lehrstellenmangel und Arbeitslosigkeit erzeuge
bei vielen Jugendlichen Schlafstörungen, Kopf- und Rückenschmerzen sowie Nervosität. Außerdem fühlten sie sich schnell müde und
gingen öfter zum Arzt, fanden die Wissenschaftler bei der Auswertung heraus. MÜLLER betont, dass Jugendliche aus unteren sozialen
Schichten mit geringer Bildung besonders betroffen seien.590
Eine vollständige Heilung sei bisher unmöglich; oftmals würden nur
psychische Auslöser genannt, nach aktuellem Forschungsstand spreche aber auch manches für körperliche Auslöser.
Zwänge
Jüngste Studien ergaben, dass etwa 2 Millionen Deutsche an
Zwangserkrankungen leiden. Dazu zählen Zwänge wie Waschzwang, Haareausreißen oder Sammelwut. CIUPKA geht davon aus,
dass höchstens 10% der Erkrankungen erkannt seien, da bei den
Betroffenen oftmals durch schauspielerische Leistungen die Erkrankung nicht bemerkt werde oder sie aus Scham nicht darüber sprechen
würden. Die Krankheit werde im Schnitt erst nach zehn Jahren entdeckt.591
590
MM, 115, 1999, S. 1
MM, 230, 1999, 1;CIUPKA ist Psychologe von der Deutschen
Gesellschaft für Zwangserkrankungen (DGZ).
591
300
Neuere Erkenntnisse zur Zeit vor der
Schwangerschaft
Erklärungen der Abkürzungen: MM bedeutet: Münchner Merkur, SZ
Süddeutsche Zeitung; es folgen die Nummer der Ausgabe, das Erscheinungsjahr und anschließend die Seite. J steht für die den entsprechenden Ausgaben beigelegten Journale.
AIDS – Immunität
Es gibt Menschen, die unempfindlich gegen eine Infektion mit dem
Erreger HIV-1 sind. Ihnen fehlt ein Stück des CCR-5-Gens, welches
den Bauplan für einen Eiweißstoff, über den sich das Aids-Virus
Zutritt zu seinen Opferzellen schafft, enthält. Bei einer Analyse des
Erbgutes von 209 gesunden Blutspendern wurden drei Probanden
mit einem veränderten CCR-5-Gen gefunden.592
Alkoholgenuss
Die Chancen auf eine Schwangerschaft vermindern sich bei Frauen,
die täglich fünf Gläser Wein, Bier oder kleine Schnäpse zu sich
nehmen, um 40%.593 Frauen, die sich zehn und mehr Drinks pro
Woche genehmigten, hätten eine 65% geringere Wahrscheinlichkeit
einer Empfängnis. Untersucht wurden 430 dänische Paare. Bei Männern fand sich kein entsprechender Zusammenhang.
Alkoholismus
Jedes Jahr werden in Deutschland weit mehr als 2000 Kinder mit
einer Alkoholschädigung (Alkoholembryopathie) geboren.594
Beeinflussung des Geschlechts der Nachkommen
Verschiedene Studien,595 die jedoch zum Teil kritisiert wurden,
kommen zu folgenden Ergebnissen:
592
Lancet, 1998, Bd. 351, S. 14
Studie des National University Hospital Kopenhagen in „Ärztliche Praxis“ in MM, 245, 1999, J 4
594
Münchner Merkur, Nr. 67, 1998, Medizin-Forschung, J 4, Prof.
Helmut LÖSER, Uni Münster
595
British Medical Journal, 1999, Bd. 319, S. 548; Human Reproduction, 1998, Bd. 13, S. 2321; Nature, 1999, Bd. 399, S. 459 in SZ
593
301
Beeinflussende
Faktoren
Dramatische
StressSituationen
Mädchen
Mütter ohne dramatische StressSituationen
Kriege (1. Weltkrieg)
Jungen
Erklärung
49,0%
Stress könnte ein Auslöser für
Hormonschwankungen sein
und für steigende männliche
Fehlgeburten verantwortlich
gemacht werden; auch ein
verändertes Sexualverhalten in
Krisenzeiten steht zur Diskussion
51,2%
51,9%
Eisprung
2 Tage vor dem
Eisprung
Naturkatastrophen
(Kobe)
Eher
LERCHL dazu: Wenn Soldaten
Heimaturlaub bekamen, „hatten
sie innerhalb eines kurzen
Zeitraumes vermutlich häufiger
Geschlechtsverkehr. Statistisch
gesehen fand dieser also öfter
am Termin des Eisprungs
statt“. Samenzellen mit YChromosom bestimmen das
männliche Geschlecht. Sie
bewegen sich schneller zur
Eizelle als solche mit XChromosomen. Am Tag des
Eisprungs steigt somit die
Möglichkeit, einen Sohn zu
zeugen.
„Y-Samen“ sind zwar schneller, sie überleben aber vor einer
Befruchtung nicht so lange wie
die „X-Samen“.
- 1,5%
218, 1999, V2 /12; LERCHL ist Reproduktionsmediziner an der
Universität Münster; Valerie GRANT ist Verhaltensforscherin an
der Universität Auckland.
302
Friedenszeiten
Hitze
51,3%
Eher
Charakter der
Mutter
Eher
Ziemlich konstant
LERCHL: Möglicherweise
sind die Y-tragenden Spermien
nicht nur schneller, sondern
auch hitzebeständiger als ihre
Konkurrenten; bei steigenden
Außentemperaturen findet auch
eine Erwärmung im Hoden
statt; dann werden mehr männliche Babys gezeugt.
GRANT: Durch Befragungen
stellte sie fest, dass dominante
Mütter eher Jungen bekommen
als Frauen, die weniger bestimmt sind.
Ernährung
Junge Frauen zwischen 19 und 35 Jahren sind in Deutschland nach
Angaben von HAMM596 „am schlechtesten“ ernährt . . . Sie sind
kalorien-, aber nicht ernährungsbewusst.“
Bereits jedes zweite 14-jährige Mädchen habe Diäterfahrung. Junge
Frauen neigen dazu, von einer Zeitschriften-Diät in die andere zu
fallen und nur 1500 oder weniger Kalorien zu sich zu nehmen.
„Schlankheitsdiäten sind Mangeldiäten.“ Solchen Frauen fehle mit
Sicherheit Kalzium, Zink, Eisen und Vitamine des B-Komplexes.
Ein Mangel an Folsäure und Vitamin B6 bei schwangeren Frauen
erhöht das Risiko für embryonale Missbildungen. Eine Ernährung,
die diese beiden Bestandteile in ausreichendem Maß enthält, (Blattgemüse, Obst und Vollkornprodukte) schützt auch vor einem Herzinfarkt (50% weniger im Vergleich zu einer Kontrollgruppe mit Mangel).597
596
597
MM, 214, 1999, S. 1; HAMM ist Ernährungswissenschaftler.
JAMA, 1998, Bd. 279, S. 359
303
Fehlbildungen bei Müttern – trotzdem überwiegend gesunder
Nachwuchs
Nur eines von 25 Kindern, deren Mütter an einer Fehlbildung litten,
kam mit einem Geburtsfehler zur Welt. Das Risiko ist im Vergleich
zu Müttern ohne Fehlbildungen erhöht, jedoch nur für den Geburtsfehler, den die Mutter selbst aufweist.
Bei Mädchen mit Fehlbildungen wurde in einer norwegischen Studie598 eine höhere Sterblichkeit beobachtet. Nur vier von fünf Mädchen erreichten das 15. Lebensjahr. Im fortpflanzungsfähigen Alter
gebaren sie selbst weniger Kinder. Auch das Erbgut der Väter spielt
bei Fehlgeburten eine erhebliche Rolle.
Fehlbildungen – erhöhtes Risiko bei Vegetarierinnen
Das Risiko, Söhne mit missgebildeten Geschlechtsteilen zur Welt zu
bringen, ist nach einer Studie der Universität Bristol um ein Fünffaches erhöht, wenn Mütter sich ausschließlich vegetarisch ernähren.
7900 Mütter und ihre Kinder wurden untersucht. 51 Buben waren
mit einer Hypospadie (Fehlmündung der Harnröhre an der Unterseite
des Gliedes) geboren worden.599
Fruchtbarkeit der Männer
Die Behauptung, dass Stress, Alkohol oder zu enge Hosen für die
drastische Abnahme der Spermienzahl in den letzten Jahrzehnten
verantwortlich sei, wird von SOKOL mit einer neuen Untersuchung
widerlegt.600 Um einen Vergleich der Spermienproben zu ermöglichen, war es den Männern untersagt, zwei bis fünf Tage vor der
Abgabe der Proben mit ihren Frauen zu schlafen.
Mindestens eine Spermienanomalie wurde in 52% der Proben nachgewiesen. Bei 18% der Proben wurde eine geringere Spermienzahl
als die Norm (20 Millionen Spermien pro Milliliter Samenflüssigkeit) nachgewiesen. Eine Studie aus den 50er Jahren kam zu ähnli598
New England Journal of Medicine, 1999, Bd. 340, S. 1057
MM, 49, 1999, S. 3
600
Fertility and Sterility, Bd. 73, 2000, S. 595 in SZ, 91, 2000,
V2 /13; NIESCHLAG arbeitet an der Universität Münster; veröffentlicht in Fertilität, Bd. 13, 1998, S. 2
599
304
chen Ergebnissen. Die Männer scheinen heute also genauso fruchtbar zu sein wie vor mehreren Jahrzehnten. NIESCHLAG führt die
Ergebnisse von Studien, die zu gegenteiligen Ergebnissen kamen,
darauf zurück, dass bis jetzt keine einheitlichen Messmethoden angewandt wurden.
Die Anzahl der produzierten Spermien scheint auch durch die geografische Lage bedingt zu sein. Dieses Phänomen ist jedoch noch
nicht genauer erforscht.
Gesprächsbereitschaft – Gefahr von Scheidungen
GOTTMAN601 stellt die These auf, dass sich die Stabilität einer
Beziehung von Neuvermählten nach den ersten drei Minuten Ehestreit voraussagen lässt. Das Diskussionsverhalten von 124 Ehepaaren, die kürzer als neun Monate verheiratet waren, wurde auf Video
aufgezeichnet.
Bei Paaren, die sich sechs Jahre nach den Aufzeichnungen scheiden
ließen, wurde bei Beginn der Diskussionen eine negativere Grundhaltung festgestellt. Besonders die Männer der gescheiterten Beziehungen äußerten sich im Gesprächsverlauf nur negativ.
Bei den stabileren Beziehungen wurden von den Männern auch positive Botschaften an ihre Frauen versandt.
Frauen sollten deshalb besonders darauf achten, Diskussionen nicht
mit einem allgemeinen Vorwurf zu beginnen; Männer sollten dagegen mehr Akzeptanz zeigen.
Geruchssinn – Einschränkung bei Einnahme der Pille
Frauen, die nicht die Pille zur Verhütung einnahmen, zeigten im
Gegensatz zu der Gruppe, die mit Hilfe der Pille verhüteten, einen
besonders feinen Geruchssinn. Möglicherweise wird durch die Einnahme der Pille sogar das sexuelle Verlangen während der fruchtbaren Tage verringert. Gerade in der Zeit kurz vor, während und nach
dem Eisprung ist der Geruchssinn ohne Medikamenteneinnahme
besonders empfindlich. Wie und in welchem Maße der Geruchssinn
das sexuelle Verlangen beeinflusst, ist noch nicht geklärt. 602
601
Herbstausgabe von Family Process, USA und SZ, 230, 1999,
V2/14
602
SZ, 250, 2001,V2 /11; Human Reproduction 2001,
305
Herzinfarkt: Verhütung durch die Pille
Die Pille als Verhütungsmittel ist nach KRONE ein eindeutiger Risikofaktor für einen Herzinfarkt bei Frauen.603
Kinderlosigkeit
In der BRD sind zwei Millionen Paare ungewollt kinderlos.604
Einigen Bestandteilen von Pestiziden, Weichmachern und Reinigungsmitteln schreiben Forscher hormonähnliche Wirkungen zu.
Niederländische Forscher kommen nach ihren Untersuchungen zu
dem Schluss, dass bei Männern, die beruflich mit Pflanzenschutzmitteln zu tun haben, die Fruchtbarkeit vermindert ist. In der Studie605
wurden 836 Paare, die sich wegen Kinderlosigkeit in medizinische
Behandlung begeben hatten, hinsichtlich ihrer Berührung mit Umweltgiften befragt. Anschließend wurden diese Daten mit dem Erfolg
bei einer künstlichen Befruchtung bei diesen Paaren in Relation
gesetzt. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe wurde bei allen 20
Männern, die häufig Pestiziden ausgesetzt waren, eine „deutlich
verminderte“ Zeugungsfähigkeit festgestellt. Ein Rückschluss darauf, welche Pflanzenschutzmittel besonders schädlich sind, konnte
aufgrund der verschiedenen zur Anwendung gekommenen Präparate
nicht festgestellt werden.
Grundsätzlich sind genetische Bedingungen mitentscheidend für die
Störanfälligkeit bei der Spermienproduktion, die Forscher befürchten
jedoch, dass der Einfluss von Umwelthormonen auf die Spermien
und somit auf die Fortpflanzungsmöglichkeit unterschätzt wird.
Psychische Aspekte der Kinderlosigkeit
Frauen fühlen sich häufig nicht vollwertig, wenn sie keine Kinder
bekommen können. Eine erfolglose medizinische Behandlung verstärkt in vielen Fällen noch den psychischen Druck. Betroffene FrauBd.16, S. 2288
603
SZ, 105, 1998, S. 11; KRONE ist Ärztlicher Direktor der Klinik
II und der Poliklinik der Universität Köln.
604
Angaben der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe in MM, 165, 1998, S. 3
605
Lancet, 1999, Bd. 354, S. 485
306
en erleben diesen Vorgang nach WISCHMANN606 oft als „emotionale Achterbahn“. Oftmals fühlten sich die Frauen laut einer Studie
(1) mit 570 Teilnehmerinnen deprimiert, unattraktiv und unkonzentriert.
Eine weitere, noch unveröffentlichte Studie (2), in die 281 Paare
eingebunden waren, bestätigt das erhöhte Auftreten von Depressionen bei Frauen mit drei oder mehr Behandlungsversuchen.
Bei Frauen, die mit aller Macht ein Kind erzwingen wollen, bahnt
sich nach KENTENICH oftmals ein Teufelskreis aus Erwartung,
Enttäuschung und der Hoffnung, dass es bei einem weiteren Versuch
bestimmt klappen werde, an.
Erfolg künstlicher Befruchtungen
Weltweit werden jedes Jahr durch künstliche Zeugung im Laborglas
über 30 000 Kinder und somit etwa 3 bis 4% aller Babys geboren. In
Deutschland werden jährlich etwa 5000 bis 6000 Retortenbabys
geboren. Das Risiko von Fehlbildungen ist nach vorliegenden Studien nicht erhöht.607
Die künstliche Zeugung erscheint vielen Paaren als der letzte Ausweg. Durch das deutsche IVF-Register werden die künstlichen Befruchtungen dokumentiert.
 Nur in 18% der Behandlungszyklen tritt eine erfolgreiche
Schwangerschaft ein.
 Jedes zweite Paar bleibt auch nach drei Versuchen kinderlos.
Eine japanische Studie608 bestätigt einen anderen Effekt einer erfolgreichen künstlichen Befruchtung:
606
SZ, 56, 1999, V2 /15; WISCHMANN ist Psychologe an der Universitätsklinik in Heidelberg; (1) Human Reproduction, 1999, Bd.
14, S. 255; (2) KENTENICH ist Mitarbeiter an einem bundesweiten
Forschungsnetzwerk; BRÄHLER ist Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie an der Universität
Leipzig.
607
Angaben der „Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Endokrinologie“ München; MM, 22, 2000, J 4
608
Fertility and Sterility, 1999, Bd.71, S. 35; Veröffentlichung einer
japanischen Studie
307
Fast jede fünfte Frau wurde nach der Geburt eines „Retortenbabys“
wieder auf natürlichem Wege – und das in den meisten Fällen innerhalb von zwei Jahren – schwanger.
Soziale Aspekte
BRÄHLER: „Eigentlich behandelt die Reproduktionsmedizin ein
gesellschaftliches Problem.“
Aus biografisch-materiellen Gründen verzögern viele Frauen den
Kinderwunsch zeitlich stark. Werden die Frauen älter, kämpfen sie
oft mit dem Gefühl, die Zeit laufe ihnen davon.
Der Verfasser sieht aufgrund eigener Beobachtungen und Nachfragen auch die Möglichkeit, dass Frauen, die über lange Zeit Medikamente zur Verhütung einer Schwangerschaft eingenommen haben, in
vielen Fällen nicht mehr in der Lage sind, auf natürlichem Wege
Kinder zu bekommen oder aber Fehlgeburten erleiden müssen.
Durch erneute, ärztliche Hormongaben wird dann versucht, Abhilfe
zu schaffen.
Ökonomische Aspekte
Nach KENTENICH wird bei vielen jungen Frauen vorschnell zu
einer künstlichen Befruchtung geraten, da sich hier viel Geld verdienen lässt.
Reproduktionsmediziner schätzen, dass inzwischen jedes hundertste
Neugeborene in Deutschland außerhalb des mütterlichen Körpers
befruchtet wurde. In der Regel übernehmen die Krankenkassen vier
Befruchtungen in der Petrischale für jeweils 5000 DM. Viele Patientinnen versuchen ihr Glück jedoch auf eigene Kosten bis zu zwanzig
Mal. Sie befinden sich nach den jahrelangen Enttäuschungen oftmals
in einem schlechteren Gesundheitszustand als jemals zuvor.
Methoden:
 IVF: Eine Eizelle der Frau wird im Reagenzglas mit dem Samen des Mannes zusammengebracht.
 ICSI: Ein Samenfaden wird direkt in die Eizelle injiziiert. (Kosten: zwischen 7000 und 10 000 DM; wird von den Krankenkassen nicht übernommen. Bei dieser Methode ist eine genetische
Schädigung des Fötus nicht ausgeschlossen.)
308
BERG: Die künstliche Befruchtung ist in etwa jedem fünften Fall
erfolgreich, „wenn die Frau unter 40 ist, wenn sie schöne Embryonen
hat und wenn sie vier oder fünf Versuche macht, dann hat sie gute
Chancen“.609 Im Alter über 40 sinken die Chancen rapide.
Künstliche Befruchtung – statistisch erhöhte Chancen durch die
betende Begleitung fremder Menschen 610
Eine Gruppe von 200 Patientinnen wurde für eine Studie aufgeteilt.
Während bei der einen Hälfte eine herkömmliche Labor-Befruchtung
vorgenommen wurde, beteten für die andere Gruppe ohne deren
Wissen Christen in Nordamerika und Australien, nachdem sie Fotos
von den Menschen erhalten hatten, für die sie beten sollten. Die
durch das Gebet begleitete Gruppe wurde doppelt so häufig schwanger. LOBO zu dem Ergebnis: „Trotzdem bin ich noch nicht gewillt
zu sagen, dass es einen definitiven Zusammenhang gibt.“
Nach seiner Ansicht könnten eher biologische Faktoren für den Unterschied verantwortlich sein.
Zwei Jahre zuvor löste eine Studie heftige Debatten aus, die gezeigt
hatte, dass der Krankheitsverlauf von Herzpatienten durch Fürbitten
entscheidend beeinflusst worden war. Die statistische Aussagekraft
der Studie wurde damals angezweifelt und die möglichen theologischen Konsequenzen kritisch beurteilt.
Kinderreichtum und Kindersterblichkeit – Abhängigkeit vom
Bildungsstand
Das Bevölkerungswachstum steht in engem Zusammenhang mit der
Bildung der Menschen. In Entwicklungsländern bekommen Frauen,
die zur Schule gegangen sind, weniger Kinder. Zudem wurde festgestellt, dass die Kindersterblichkeit mit zunehmendem Bildungsgrad
der Mütter abnimmt.
Im südindischen Bundesstaat Kerala wird die niedrigste Kindersterblichkeitsrate in der gesamten Dritten Welt verzeichnet. Dies wird
609
SZ, 172, 2000, S. 3; BERG ist Frauenarzt und Fruchtbarkeitsspezialist in München.
610
SZ, 244, 2001, V2 /11; Journal of Reproductive Medicine, 2001,
Bd. 46, S. 781; LOBO ist Reproduktionsmediziner in New York.
309
auch damit begründet, dass hier 90% der Menschen lesen und
schreiben können.611
Weltweit gibt es immer noch eine Milliarde Analphabeten.
Raucher/innen und ihre Nachkommen – eine Krebsstudie
In einer Statistik in Großbritannien sind alle Daten der Kinder aufgelistet, die seit 1953 an Krebs starben. 14% aller Fälle von Kinderkrebs standen nach BRINKWORTH612 eindeutig im Zusammenhang
mit dem Tabakkonsum des Vaters vor der Zeugung. Die Ergebnisse
von neueren Arbeiten bestätigen, dass Raucher weniger Spermien
bilden und dass deren Erbsubstanz angegriffen ist.
Es wird versucht, die molekularen Zusammenhänge durch zwei
Theorien zu erklären:
1. Wenn Vorläuferzellen der Spermien bestimmten Umweltgiften
ausgesetzt waren, verlieren sie die Fähigkeit, in den Hoden den programmierten Zelltod zu sterben. Rauchen kann dazu beitragen. Die
geschädigten Spermien können aber dennoch an der Fortpflanzung
teilnehmen.
2. Durch bestimmte Substanzen wird das Erbgut (Genom) negativ
beeinflusst. Dadurch wird eine Instabilität erzeugt. Die veränderten
Zellen sind jetzt offen für mehr Mutationen. Eine Weitergabe an die
Tochterzellen ist wahrscheinlich. Möglicherweise werden die Reparaturmechanismen durch das Rauchen geschädigt. Beim Hinzukommen von weiteren schädigenden Einflüssen ist das Auftreten von
Krebs bei den Nachkommen sehr wahrscheinlich.
Frauen, die während der Schwangerschaft rauchen, tragen ein erhöhtes Risiko zu Früh-, Fehl- oder Missgeburten. Erstaunlicherweise
gibt es jedoch kein erhöhtes Krebsrisiko bei den Kindern rauchender
Mütter. Es wird vermutet, dass die Eizellen besser gegen Umweltgifte geschützt sind. Die Eizellen teilen sich im Gegensatz zu den
Spermien später nicht mehr, sondern verharren. Damit bietet sich
611
SZ, 287, 1998, S. 10
SZ, 218, 1999, V2 /12; BRINKWORTH ist Reproduktionsmediziner an der Universität Münster.
612
310
möglicherweise weniger Angriffsfläche für Veränderungen der
Erbsubstanz.
Ein weiterer Schutzmechanismus wird in der Gebärmutter wirksam:
Das Enzym Cytochrom P-450 baut hier ebenso wie in der Leber
Gifte ab. Eine Schädigung des Ungeborenen wird so im Normalfall
verhindert.
Nach Meinung von Andrologen sollten Paare mit Kinderwunsch
mindestens zwei bis drei Jahre vor der Zeugung auf Zigaretten verzichten.
Rauchen erhöht die Missbildungsrate drastisch613
Durch die Auswertung der Daten von 3,9 Millionen Babys, die im
Jahre 1996 zur Welt kamen, konnte der direkte Zusammenhang
zwischen Missbildungen und Tabakkonsum nachgewiesen werden.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Babys mit gespaltenen Lippen oder
gespaltenem Gaumen auf die Welt kommen, erhöht sich um 55%,
wenn die Mütter während der Schwangerschaft rauchen. Konsumieren schwangere Frauen mehr als ein Päckchen Zigaretten pro Tag,
erhöht sich das Risiko auf 78%.
Rauchen als eine mögliche Ursache für Unfruchtbarkeit bei
Frauen
Nur jede fünfte amerikanische Frau weiß etwas über diese Tatsache.
Amerikanischen Forschern gelang jetzt der biochemische Nachweis,
dass die im Zigarettenrauch enthaltenen polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe (PAK) zum Tod von Eizellen führen,
indem sie die sogenannten Bax-Gene aktivieren, die wiederum den
programmierten Zelltod auslösen. Auch in Autoabgasen sind PAK
enthalten. Nicht nur die Zahl der Eizellen verringert sich durch diese
Schadstoffe, sondern damit auch die Chance einer Schwangerschaft.614
Es wird zudem vermutet, dass die Wechseljahre bei Raucherinnen
früher beginnen.
613
Jöurnal of Plastic an Reconstructive Surgery, Bd.105, 2000,
S. 485 in SZ, 106, 2000, V2 /13
614
SZ, 168, 2001, V2 /7; Nature Genetics, 2001, Bd. 28, S. 355
311
Weichmacher (Phthalate)
Kunststoffe enthalten Phthalate, welche die Zellen im menschlichen
Körper schädigen.
KLEINSASSER dazu: „Wir haben herausgefunden, dass sie die
Erbsubstanz der Zelle verändern. Es ist somit wahrscheinlich, dass
sie an der Tumorbildung mitwirken.“615
Viele Farben, Lacke, Baby-Beißringe, Kosmetika und auch Lebensmittelverpackungen enthalten Phthalate. Diese Salze stehen unter
dem starken Verdacht, eine krebserregende Wirkung im Bereich der
Nasen-, Hals- und der Mundschleimhäute zu besitzen.
615
MM, 241, 1999, S.1; KLEINSASSER ist an der LudwigMaximilians-Universität in München tätig.
312
Neuere Erkenntnisse zur Schwangerschaft
Abtreibungen
In Deutschland wurden 1999 insgesamt 130 471 Schwangerschaftsabbrüche registriert. Dies entspricht einem Rückgang von 1% gegenüber 1998. Bei Minderjährigen nahmen die Abtreibungen um 3%
zu. In 97% der Fälle hatte zuvor eine Konfliktberatung stattgefunden.616
Im Jahr 2000 wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes
134 600 Schwangerschaften in Deutschland abgebrochen. 83% der
Abbrüche wurden durch Absaugen vorgenommen, 11% durch Ausschaben und 3% durch die Abtreibungspille Mifegyne. Nach Angaben des „Abtreibungsspezialisten“ STAPF, der auf eine 20-jährige
Erfahrung verweisen kann, werden etwa 80% der Abtreibungen
unter Vollnarkose durchgeführt.
„Bei Frauen, die noch keine Geburt hatten – und das sind etwa die
Hälfte – kann man erst ab der 7. Woche guten Gewissens chirurgisch
abbrechen.“
Grund dafür ist die relativ feste Gebärmutter dieser Frauen. Das
Medikament kann von Beginn der Schwangerschaft bis zur 7. Woche
eingesetzt werden.
Bisher (seit 1988 in Frankreich) beobachtete Nebenwirkungen von
Mifegyne:






616
43% der Patientinnen leiden an Erbrechen.
60% haben starke Gebärmutterkrämpfe.
Jede fünfte Frau benötigt Schmerzmittel.
Immer treten acht bis zwölf Tage andauernde schwere Blutungen auf.
Bei 5% der Frauen gelingt die Abtreibung mit diesem Medikament nicht; die betroffenen Frauen müssen sich zusätzlich noch
einen chirurgischen Eingriff über sich ergehen lassen.
22% der Schwangeren in Deutschland leiden vor dem Abbruch
unter Depressionen und Ängsten, während es vier Wochen nach
dem Abbruch nur noch 3% sind.
SZ, 87, 2000, S. 2
313

Etwa zwei Drittel der Patientinnen gelten als finanziell bedürftig; die Kosten werden in diesem Fall vom Staat übernommen.
Die Kosten für eine Abtreibung mit der Tablette liegen bei 320 DM.
Ein chirurgischer Eingriff schlägt bei Teilnarkose mit ca. 500 DM
und bei Vollnarkose mit 750 DM zu Buche. Die Abtreibungen haben
bei einem Mittelwert von 450 DM im Jahr 2000 danach Kosten in
Höhe von etwa 60,5 Millionen DM verursacht, wobei dieser Wert
sehr tief gegriffen scheint, da Nachbehandlungen in dieser Summe
nicht enthalten sind.
Der Einsatz dieses Medikaments kann als massiver Eingriff in den
weiblichen Hormonhaushalt bewertet werden. STAPF sieht als besten Weg eine Kombination aus Tablette und chirurgischem Eingriff:
„Zwei Tage vor dem Eingriff gebe ich ein Drittel der MifegyneDosis. Dadurch löst sich der Fruchtsack, der Gebärmutterhals wird
weiter und das Absaugen wird sanfter.“617
Aids – Schutz der Kinder durch Kaiserschnitt
Ungeborene Kinder sind durch neue Medikamente und eine Kaiserschnittentbindung zwei Wochen vor dem Geburtstermin besser vor
einer Aids-Infektion geschützt. Das Risiko vermindert sich nach
GRUBERT dadurch von 25 auf 1,5%.618
Alkohol in der Schwangerschaft – Wirkungsweise
In Tierversuchen619 wurde der Einfluss von Alkohol auf Hirnzellen
untersucht. Dabei wurden den Tieren Mengen verabreicht, die denen
entsprechen, die Mütter zu sich nehmen, wenn sie über mehrere
Stunden hinweg alkoholische Getränke zu sich nehmen. Das Stadium der Hirnentwicklung bei den Tieren entsprach dem menschlicher
Föten im letzten Drittel der Schwangerschaft. Zwei verschiedene
617
SZ, 180, 2001, V2 /7; STAPF leitet Kliniken in München und
Stuttgart.
618
GRUBERT in SZ, 89, 1999, S. 14
619
Science, Bd. 287, 2000, S. 1056 in SZ, 37, 2000, V2 /11; die
Versuche wurden von Forschern der Abteilung für Kinderneurologie
der Berliner Charité durchgeführt.
314
Moleküle, die offenbar als Antennen in den Hirnzellen tätig sind,
werden durch den Alkohol zu einem Selbstmordprogramm aktiviert.
Einerseits blockiert Alkohol den NMDA-Rezptor, der zugleich der
Empfängertyp ist, andererseits wird der GABA-Rezeptor aktiviert
und löst damit das programmierte Absterben von Hirnzellen aus.
Während durch natürliche Prozesse nur etwa 1,5% der Zellen absterben, werden durch Alkohol etwa 30% vernichtet.
Das Gehirn von Neugeborenen, deren Mütter während der Schwangerschaft Alkohol tranken, ist in der Regel kleiner als das von Babys,
deren Mütter keinen Alkohol zu sich nahmen.
Als weitere mögliche Folgen sind Verhaltensstörungen und geistige
Behinderungen bekannt.
Arzneimittel in der Schwangerschaft
Diazepam (Valium) und Schlafmittel (Barbiturate) wirken ähnlich
wie Alkohol auf die Rezeptoren der Hirnzellen.
Asthma bei Schwangeren – Verschlimmerung
Bei Schwangeren, die einen männlichen Fetus in sich tragen, bessert
sich das Asthma während der Schwangerschaft häufiger als bei der
Schwangeren, die ein Mädchen erwarten.
Down-Syndrom – Neuer Test – Anwendung des „Triple Tests“
Ein Fehler in der Erbsubstanz ist für dieses Syndrom verantwortlich.
Ein überzähliges Chromosom Nummer 21 hat sich in den Zellkernen
gebildet. Die Erkrankung (auch unter dem Namen „Mongolismus“
bekannt) ist mit einer eingeschränkten Entwicklung und einer geringeren Lebenserwartung verbunden. Eine neue Diagnosemethode,620
die sich im Versuch an 2000 Frauen als sicher erwiesen hat, soll es
ermöglichen, diese schwere Störung schneller und preisgünstiger zu
diagnostizieren.
Wie bei dem herkömmlichen Verfahren wird auch bei dem neuen
Test Fruchtwasser entnommen. Darin befinden sich Zellen des Föten. Bei der alten Methode musste auf die Auswertung durch einen
Spezialisten zwei Wochen gewartet werden; erst dann hatte sich die
DNS zu einzelnen Chromosomen verdichtet.
Das bereits nach einem Tag vorliegende Ergebnis des neuen Tests
funktioniert mit einer „Polymerase-Kettenreaktion“ (PCR). Damit
620
Lancet, 1998, Bd. 352, S. 9; in SZ, 159, 1998, V2 /9
315
werden bestimmte DNS-Bereiche auf dem Chromosom 21 vervielfältigt. Abhängig von der Anzahl der Chromosomen liegen so von
jedem Bereich zwei oder drei unterschiedliche Kopien vor.
Bei einer Befragung von 9000 Schwangeren und 170 niedergelassenen Frauenärzten beobachtete BRAND, dass bei jeder dritten
Schwangeren zwischen 30 und 35 Jahren ein Triple-Test zur Anwendung kam. Mit diesem Bluttest fahnden Gynäkologen nach einem Down-Syndrom. In der Hälfte der Fälle wurden die Patientinnen
nicht über den Zweck des Tests aufgeklärt.621
Auch bei einem positiven Triple-Test liegt die Wahrscheinlichkeit
eines Down-Syndroms nach NEITZEL in der Regel unter 1%.
Duftstoffe
Starke Düfte werden von Schwangeren und von Säuglingen schlecht
vertragen.
Durch eine britische Studie an 14 000 werdenden Müttern wurde
belegt, dass bei starker Anwendung von Haar-, Deo- oder Raumsprays öfters Kopfschmerzen und Depressionen nach der Geburt
auftraten. Die Babys litten bei häufigem Kontakt mit diesen Duftstoffen vermehrt unter Durchfällen.622
Ecstasy – Missbildungen bei Konsum
Herzfehler und Missbildungen an den Gliedmaßen von Neugeborenen werden offensichtlich durch den Konsum von Ecstasy während
der Schwangerschaft ausgelöst. Eine britische Studie berichtet über
ein fünfmal häufigeres Auftreten der Herzfehler und ein 38mal höheres Risiko von Missbildungen durch den Ecstasy-Genuss. 623
136 Schwangere, die Ecstasy konsumierten, wurden beobachtet.
15,4% ihrer Neugeborenen hatten Fehlbildungen. Das normale Risiko beträgt 2 bis 3%.624
621
SZ, 73, 2000, V2 /11; Angela Brand ist Gesundheitswissenschaftlerin in Bielefeld; Heidemarie Neitzel ist Humangenetikerin an der
Berliner Charité.
622
MM, 239, 1999, S. 3; die Studie wurde an der Universität Bristol
durchgeführt.
623
SZ, 246, 1999, S. 16
624
MM, 257, 1999, S. 3 und „Ärztliche Praxis“
316
Entlassungen an der Arbeitsstelle
Schwangere Frauen dürfen 280 Tage vor dem errechneten Geburtstermin nicht mehr entlassen werden. Wurde die Kündigung durch
den Arbeitgeber bereits ausgesprochen, weil die Schwangerschaft
noch nicht bekannt war, ist die Kündigung unwirksam.625
Erlebniswelt des Kindes im Mutterleib – sie prägt
die Entwicklung und das Schicksal des Kindes
Bereits die Erlebniswelt vor der Geburt beeinflusst zusammen mit
den Genen und den sie steuernden Proteinen das Leben und das
Schicksal des Kindes. NATHIELSZ: „Sie können das schönste Genom der Welt haben – wenn die Einflüsse im Mutterleib negativ
sind, kann ein ziemlich schlechtes Endprodukt dabei herauskommen.“626
Die Organe bleiben bei mangelhafter Ernährung zu klein. Weitere
Folgen können auch Fehlbildungen wie Gesichtsspalten oder ein
offener Rücken sein. Nikotin schädigt die Entwicklung des Gehirns,
Alkohol die Entwicklung der Augen. DOWLING wies einen Zusammenhang zwischen einem Todesfall während der Schwangerschaft und einer später auftretenden Magersucht oder Depression bei
den Kindern nach.
Ernährung – Infektionsabwehr der Kinder
Unzureichende Ernährung bei Schwangeren zeigt noch Jahrzehnte
später Konsequenzen bei den Kindern. Sie zeigten eine geschwächte
Infektionsabwehr und eine geringere Lebenserwartung.627 Dies ist
das Ergebnis von Studien in Gambia, die seit 1949 durchgeführt
wurden.
Besonders abzuraten ist von dem Genuss von Fischkonserven während der Schwangerschaft. Das Gift TBT (Tributylzinn) greift bereits
in geringsten Dosen in das Hormonsystem von Schwangeren, Ungeborenen und Kleinkindern ein. Dabei kann es zu schweren Entwicklungsstörungen des Wachstums, des Zentralen Nervensystems und
625
Urteil des Bundesarbeitsgerichtes Kassel (Az: 2 AZR417/97)
GEO, 7 / 2001; NATHIELSZ ist Reproduktionsmediziner in New
York; DOWLING arbeitet als Psychologe in Heidelberg.
627
Nature, 1997, Bd. 338, S. 434 in SZ 191, 1997, S. 32
626
317
damit des späteren Verhaltens und
kommen.
der Fortpflanzungsfähigkeit
Hormon-Umstellungen
Nicht nur schwangere Frauen, sondern auch deren Männer unterliegen während der Zeit der Schwangerschaft starken Hormonschwankungen. STOREY628 und Mitarbeiter stellten durch Blutuntersuchungen deutliche Hormonveränderungen bei den Männern fest. Die
Menge der Hormone Prolactin und Cortisol ändere sich bei Frauen
und Männern erheblich. Obwohl die Veränderungen bei den werdenden Müttern deutlicher sei, erfolge sie nach einem sehr ähnlichen
Schema.
Typische, den hormonellen Umstellungen entsprechende Schwangerschafts-Erscheinungen wie Appetit-Veränderungen und Müdigkeit wurden auch bei den Männern festgestellt.
Hypothyreose der Schwangeren (leichte Schilddrüsenunterfunktion) und Intelligenzentwicklung des Kindes
HADDOW und Mitarbeiter stellten bei Kindern, deren Mütter in der
Schwangerschaft eine leichte, meist symptomfreie und nicht behandelte Hypothyreose hatten, einen im Durchschnitt um sieben Punkte
geringeren IQ fest als bei Kindern gesunder Mütter.629
Bei neun von 48 betroffenen und untersuchten Kindern wurde viermal häufiger als in der Kontrollgruppe ein niedrigerer IQ als 85
festgestellt. Bei den 14 wegen ihrer Schilddrüsenunterfunktion behandelten Müttern konnten keine Intelligenzunterschiede im Vergleich zur Kontrollgruppe festgestellt werden.
Immunsystem der Mutter
Da der Embryo auch Erbgut des Vaters in sich trägt, wird er vom
Immunsystem der Mutter als Fremdling betrachtet. Ein Molekül (das
aus dem Eiweiß Crry besteht) verhindert nach Ansicht von Forschern, dass die sogenannten C-3-Proteine die als fremd erkannten
Eiweiße des Embryos besetzen und zerstören. Möglicherweise spielt
628
629
in New Scientist und in SZ, 4, 2000, S. 12
New England Journal of Medicine, 1999, Bd. 341
318
das Zusammenwirken von Crry und C3 auch bei Fehlgeburten eine
Rolle.630
Intelligenz aus der Spritze
Forscher arbeiten daran, den Intelligenzquotienten von Babys zukünftig durch gezielte Gen- Injektionen erhöhen zu können. Erste
erfolgreiche Tierversuche wurden bereits mit Mäusen abgeschlossen.
Das Protein NR2B ist offensichtlich entscheidend für die Gehirnfunktionen.
Die Forscher injizierten ein Gen mit den Erbanlagen zur Bildung von
NR2B in eine befruchtete Mäusezelle und implantierten den Embryo
in die Gebärmutter einer Maus.
Von der erfolgreichen Umsetzung der Ergebnisse auf den Menschen
erwarten die Forscher auch die Entwicklung von Medikamenten
gegen Alzheimer.631
Kaffeegenuss während der Schwangerschaft
Der Koffein-Konsum (Kaffee, Tee, Cola) sollte auf einen Wert unter
300 Milligramm pro Tag beschränkt werden. Höhere Dosen können
zu einem niedrigeren Geburtgewicht der Neugeborenen oder – vereinzelt – zu Fehlgeburten führen. Schwangere, die am Tag fünf und
mehr Tassen Kaffee zu sich nehmen, verdoppeln ihr Risiko bezüglich einer plötzlichen Fehlgeburt, da die vermehrte KoffeinAufnahme offenbar eine Senkung des Östrogenspiegels bewirkt.
Bei Vorhandensein der schwangerschaftstypischen Übelkeit erhöht
sich das Risiko nochmals bei starkem Kaffeekonsum.632
Missbildungen durch Stress
Eine dänische Studie633 (1980 bis 1992) belegt, dass starke emotionale Belastungen (Tod oder eine ernste Erkrankung des Partners oder
630
SZ, 19, 2000, V2/11 und Science, 2000, Bd. 287, S. 498
MM, 202, 1999, S. 1 und in „Nature“
632
SZ, 279, 2001, V2/13; auch unter:
www.foodstandards.gov.uk/committees/cot/caffeine.pfd und: New
England Journal of Medicine, 2000, Bd. 343, S. 1839; auch eine
Untersuchung des Karolinska-Instituts in Stockholm, 2000
631
319
eines bereits vorhandenen Kindes) während der Schwangerschaft
häufiger zu Missbildungen bei den Babys führen als bei Müttern, die
eine unbelastete Schwangerschaft erlebt hatten. Der Risikofaktor war
um 1,5 erhöht.
Die häufigsten Fehlbildungen bei den Babys der gestressten Mütter:
27% mit einer Lippen- oder Gaumenspalte oder einem angeborenen
Herzfehler.
Der Tod eines vorhandenen Kindes während der Schwangerschaft ist
mit einem fünfmal größeren Risiko verbunden, ein Kind mit Missbildungen (Gesichts- oder Herzanomalien) zur Welt zu bringen.
Pränataldiagnostik – Beratung und Entscheidungsfreiheit
Männliche Genetiker drängen ihre Klientinnen doppelt so häufig zu
einer Pränataldiagnostik wie ihre weiblichen Kolleginnen. Psychologische Studien bestätigen, dass Genetiker in Beratungsgesprächen
nicht selten Ratschläge geben und mitunter sogar die Einwände ihrer
Klienten ignorieren.
HARTOG unterzog mehr als 30 Abschriften von Beratungsgesprächen einer detaillierten Analyse. In allen Fällen ließ sich erkennen,
dass die Mediziner die Situation des Klienten bewerteten und für
sich selbst Entscheidungen fällten.634
Eine britische Studie kommt zu der Erkenntnis, dass „XXY“-Männer
(Klinefelter-Syndrom) in der überwiegenden Zahl der Fälle ihr Leben entgegen der verbreiteten Lehrmeinung ohne Probleme meistern.
NIPPERT und Kollegen weisen in einer Studie trotzdem bei dieser
Diagnose eine Abtreibungsrate von 70% nach, wenn die Schwangeren von Ärzten ohne genetische Zusatzausbildung beraten wurden.
Wurden die Schwangeren von Humangenetikern beraten, wurde
noch in 30% der Fälle abgetrieben.
633
Lancet, Bd. 356, 2000, S. 875
SZ, 73, 2000, V2 /11; Jennifer HARTOG ist Sprachwissenschaftlerin an der Universität Hamburg; Irmgard NIPPERT ist
Medizinsoziologin an der Universität Münster.
634
320
Schwangerschaft – Ernährung – Fisch
Da Quecksilber im Fischgewebe teilweise als Methylquecksilber
vorliegt, sollten Schwangere folgende Fischsorten meiden, die besonders damit belastet sind:
Hai, Bonito, Thunfisch, Schwertfisch, Barsch, Stör, Aal, Heilbutt,
Hecht, Rochen und Seeteufel.635
Vitamingaben (C/E) und Auftreten von Prä-Eklampsien636
Prä-Eklampsien sind die häufigste Form der Schwangerschaftskomplikationen. Durch Wassereinlagerungen im Gewebe der Mutter
während des letzten Drittels der Schwangerschaft tritt eine starke
Gewichtszunahme auf. Dadurch arbeiten die Nieren ineffektiver, oft
verbunden mit einem Ansteigen des Blutdrucks. Die Ursachen sind
bis heute unklar, eine Therapie gibt es nicht.
Eine Theorie besagt, dass durch den Mutterkuchen entzündungsauslösende Substanzen freigesetzt werden, die ihren Angriffspunkt an
den Gefäßwänden finden. Dadurch wird die Blutversorgung vermindert. Dies wiederum führt zu Frühgeburten. So wird jede zweite
Frühgeburt auf eine Prä-Eklampsie zurückgeführt. Betroffen ist etwa
eine von 10 bis 20 Müttern.
Bei einer britischen Studie wurden durch Ultraschalluntersuchungen
der Gebärmutter von 1500 schwangeren Frauen 283 herausgefiltert,
die für das Auftreten einer Prä-Eklampsie prädestiniert schienen.
Vom fünften Monat an wurde 142 der Frauen ein Placebo verabreicht. 141 erhielten eine Kombination aus täglich einem Gramm
Vitamin C und ca. 400 mg Vitamin E. Beiden Vitaminen wird eine
antioxidative, sich gegenseitig ergänzende Wirkung zugeschrieben.
Vitamintherapie
Frauen ohne
Frauen mit
635
Entwicklung einer Prä-Eklampsie
17 von 100
8 von 100
Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und
Veterinärmedizin in SZ, 117, 1999, V2 /7
636
Lancet, 1999, Bd. 354, S. 810
321
Die Babys der Frauen, die eine Prä-Eklampsie entwickelt hatten,
kamen im Durchschnitt etwa zwei bis drei Wochen früher zur Welt
und waren ca. 600 g leichter.
Kritische Stimmen weisen auf mögliche Schädigungen des Säuglings
bei zu hoher Dosierung von Vitamingaben während der Schwangerschaft hin.
Vorhersage von Frühgeburten
Eine Erhöhung der Konzentration des CHR (CorticotropinReleasing-Hormon) zwischen der 16. und der 20. Schwangerschaftswoche deutet ein erhöhtes Risiko auf eine Frühgeburt an.637
Auch Infektionen und Magnesiummangel führen zu Frühgeburten.
Frühgeburten durch Bakterien-Infektion
Ca. 6% der Kinder werden zu früh geboren. Bakterielle Scheidenerkrankungen der Mütter sind nach neueren Erkenntnissen häufige
Auslöser. SAILING empfiehlt Schwangeren, bis zur 34. Schwangerschaftswoche wöchentlich zweimal selbst den Säuregehalt der
Scheide zu testen. Die Behandlung von Frühchen verursache Kosten
in Milliardenhöhe.638 HOYME weist auf eine Studie mit 2300 Frauen hin, bei denen durch die regelmäßige pH-Kontrolle das Risiko
einer Frühgeburt um das Elffache gesunken sei.
Die Wahrscheinlichkeit, dass das Baby an der Infektion der Mutter
leidet, steigt, je früher ein Baby geboren wird. Aufsteigende Infektionen können neben der Unreife der Lungen auch zu Hirnblutungen
und Hirnschäden führen. Beim Geschlechtsverkehr in der Schwangerschaft sollte unbedingt ein Kondom verwendet werden.
Frühgeburten – Allergien
SILTANEN zeigte in einer Studie mit 137 inzwischen zehnjährigen
Kindern, dass ehemalige Frühchen seltener (Allergierate: 15%) unter
Allergien leiden als termingerecht Geborene (Allergierate: 31%).
637
SMITH, Spektrum der Wissenschaft, 1999, Bd. 6, 47 in SZ 128,
1999, V2 /13
638
MM, 136, 2000, S. 3; SAILING ist Professor am Institut für Perinatalmedizin in Berlin. HOYME ist Professor für Frauenheilkunde in
Erfurt
322
Der IgE-Spiegel (er ist ein Indikator dafür, wie heftig ein Körper auf
Allergene reagiert) lag bei den Frühchen wesentlich niedriger als bei
der Vergleichsgruppe.
Gehör – Entwicklung des Innenohrs – Musikempfindung
Schon sehr früh, am 20./21. Tag der Schwangerschaft, wird im Mutterleib das Innenohr angelegt. Das Hören entwickelt sich von der
zehnten Woche an. Von Zigeunervätern ist bekannt, dass sie ihren
Kopf auf den Bauch der Schwangeren legen und dabei Lieder singen. Nach JOURDAIN 639 ist es nicht gleichgültig, welche Musik
gehört wird. Es liegt nahe, dass Versuchspersonen, die häufig Musik
von Mozart gehört haben, bei bestimmten Denkaufgaben besser
abschneiden als Personen, die keine oder „nur anspruchslose“ Unterhaltungsmusik gehört hatten.
Verhinderung von Frühgeburten durch Nitroglycerin-Pflaster
Bei einer drohenden Fehlgeburt wirken Nitroglycerin-Pflaster mindestens ebenso gut wie Infusionen mit dem Wehenhemmer Fenoterol. Neben dem günstigeren Preis sind sie zudem leichter anzuwenden.
SCHLEUSSNER640 behandelte in der weltweit zweiten Studie dieser
Art 27 Frauen, die wegen vorzeitiger Muttermund-Eröffnung und
regelmäßigen Wehen im Abstand von fünf Minuten im sechsten
Schwangerschaftsmonat stationär aufgenommen wurden, mit dem
Pflaster. 21 Frauen bekamen die Infusion. Während das Pflaster bei
21 Frauen eine Frühgeburt verhinderte, waren bei der Infusion nur
sieben verhinderte Frühgeburten zu verzeichnen.
Die Babys aus der Nitro-Gruppe waren durchschnittlich ein Pfund
schwerer, weil sie 270 statt 252 Tage im Mutterleib verblieben.
Hauptnebenwirkungen bei dieser Gruppe waren Kopfschmerzen (sie
sind typisch für Nitro-Pflaster und entstehen durch die intensive
Durchblutung der Hirngefäße) bei den Müttern, die durch andere
639
JOURDAIN: Das wohltemperierte Gehirn – wie Musik im Gehirn
entsteht und wirkt
640
MM, 143, 2000, J 4; SCHLEUSSNER arbeitet an der Universitätsfrauenklinik in Jena.
323
Medikamente, die in der Schwangerschaft unbedenklich eingenommen werden können, gelindert wurden.
Passivrauchen
Eine britische Studie weist darauf hin, dass Schwangere auf Passivrauchen verzichten sollten.641
Bei 85 Frauen, die zwischen der siebten und der 17. Schwangerschaftswoche abgetrieben hatten, wurden die giftigen Inhaltsstoffe
des Tabaks im Fruchtwasser aufgespürt. Sie wurden nicht nur über
den mütterlichen Blutkreislauf aufgenommen. Auch im Urin und im
Blut der Frauen sowie im Blut der Föten und im Fruchtwasser wurde
beinahe halb soviel an Cotinin, einem Spaltprodukt von Nikotin, wie
bei aktiven Raucherinnen entdeckt.
Rauchen in der Schwangerschaft
Mehr als 12% aller werdenden Mütter rauchen in der Schwangerschaft. Die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Kinder werde
dadurch über lange Zeit hinweg beeinträchtigt.
In einer Mitteilung des Ärzteverbandes heißt es: „Sie liegen selbst
noch im Alter von 16 Jahren beim Sprechen, Rechnen und Lesen
hinter ihren Altersgenossen zurück.“642
Aggressives Verhalten und Starrköpfigkeit seien weitere häufig
auffallende Merkmale. Eine erhöhte Anfälligkeit für Allergien,
Asthma und Neurodermitis käme noch hinzu. Die ca. 3800 Abbauprodukte einer Zigarette – auch Schwermetalle und krebserregende
Stoffe – gelangen aus dem Blut der Mutter ungefiltert zum Baby.
Folgen für die Kinder rauchender Mütter nach KRIES:643
Rauchende Mütter prägen das Leben ihres Kindes entscheidend:
 Überproportional häufig Übergewicht im Alter von sechs Jahren
 Der Tabakgenuss werdender Mütter führt offenbar zu Veränderungen bei den Botenstoffen des Gehirns. Die Kinder können
später ihren Appetit offenbar nicht mehr richtig kontrollieren.
641
Obstetrics and Gynecology, 1999, Bd. 93, 25 in SZ 44, 1999,
V2 /11
642
Mitteilung des Ärzteverbandes, 1999 in MM, 75, 1999, S. 3
643
SZ, 122, 2001, S. 49; KRIES/ KOLETZKO sind Professoren für
Sozialpädiatrie an der Universität München.
324



Häufiger Asthma oder schmerzhafte Mittelohrergüsse
Risiko für Früh- und Fehlgeburten
Geringeres Geburtsgewicht der Säuglinge
Wissenschaftler aus Magdeburg ergänzen nach KOLETZKO:
 Erhöhtes Risiko für den plötzlichen Kindstod
„In Deutschland sterben 300 Kinder im ersten Lebensjahr an den
vermeidbaren Folgen des Rauchens in der Schwangerschaft.“
40% aller Frauen im gebärfähigen Alter sind Raucherinnen. Mehr als
60% der Kinder unter sechs Jahren wachsen in Raucherfamilien auf.
Dennoch greifen Jugendliche immer früher und immer häufiger zur
Zigarette.
Die Prognose ist nach einer englischen Hochrechnung schlecht:
Einer von 1000 heute 20 Jahre alten Rauchern wird an Gewalteinwirkung sterben. Sechs von ihnen werden durch Unfälle ums Leben
kommen. 500 dagegen werden durch die Folgen des Rauchens sterben.
Schwangerschaftstests
Eine Schwangerschaft lässt sich bei jeder zehnten Frau noch nicht
am ersten Tag nach dem Ausbleiben der Regelblutung nachweisen.
Die Urinproben von 136 Frauen mit Kinderwunsch wurden eingefroren und später auf das Vorhandensein des Schwangerschaftshormons
hCG untersucht. Nur bei 90% der Schwangeren wurde das Hormon
bereits am ersten Tag nach dem Ausbleiben der Periode nachgewiesen. Eine Woche später waren es 97%.
Der Grund für diese Tatsache wird in der individuell unterschiedlichen Zeitspanne (zwischen sechs und zwölf Tage) zwischen Eisprung und dem Einnisten der befruchteten Eizelle im Uterus vermutet.
Die im Handel befindlichen und nicht so sensibel reagierenden hCGTests liefern noch unsichere Ergebnisse. Sie zeigen eine Schwangerschaft oft erst drei bis vier Tage nach der Einnistung der Eizelle an.
Ist das Testergebnis fälschlicherweise negativ, so kann der Embryo
im Falle einer Medikamenteneinnahme oder bei der Exposition von
Giftstoffen am Arbeitsplatz geschädigt werden.644
644
SZ, 238, 2001, V2/9 und JAMA, Bd. 286, 2001, S. 1759
325
Auch unkontrollierter Alkoholkonsum oder Drogen könnten bereits
hier großen Schaden anrichten. (Anm. d. Verf.)
Sorgen in der Schwangerschaft – Einfluss auf das Ungeborene
Der Gesundheitszustand des Babys kann dadurch negativ beeinflusst
werden, dass Schwangere sich während ihrer Schwangerschaft zu
viele Sorgen machen.645
Per Ultraschall wurden bei 100 Schwangeren die Arterien, die den
Mutterkuchen mit Nährstoffen versorgen, untersucht. Außerdem
wurden die Probandinnen nach ihren Ängsten befragt. Bei den Frauen, die sich am meisten Sorgen machten, war das Risiko für eine
verminderte Blutversorgung um das Siebenfache erhöht. Diese
Bobachtung wird mit der vermehrten Produktion von Noradrenalin
erklärt, einem Hormon, das die Arterien im Mutterleib verengt.
Stress und psychische Belastungen bei Schwangeren:
Mögliche Beeinträchtigung der Gehirnentwicklung
des Ungeborenen
HÜTHER: Viele Befunde zeigen inzwischen, dass die psychische
Entwicklung lange vor der Geburt beginnt.“646 Nach bestehender
Lehrmeinung können einschneidende Belastungen während der
Schwangerschaft bleibende Spuren im Gehirn des Ungeborenen
hinterlassen.
NATHANIELSZ: „Die Lebenszeit im Mutterleib ist der Ursprung
von Gesundheit und Krankheit.“
WELBERG/SECKL weisen darauf hin, dass pränataler Stress die
Stressregulation des Körpers dauerhaft beeinträchtigen kann. Der
Stoffwechsel verschiedener Gehirnbotenstoffe kann in Unordnung
geraten; dabei können auch Verbindungen zwischen Nervenzellen
verloren gehen. Ermüdende Arbeitsbedingungen oder einschneiden645
British Medical Journal, 1999, Bd. 318 in MM, 42, 1999, J 4
SZ, 110. 2002, V2 /14; HÜTHER ist ein Neuropsychiater aus
Göttingen. NATHANIELSZ ist ein Physiologe aus den USA.
WELBERG/SECKL arbeiten an der Universität in Edinburgh; auch
in: Journal of Neuroendocrinology, 2001, Bd. 13, S. 113
646
326
de Lebensereignisse während der Schwangerschaft können dazu
führen, dass Kinder zu klein oder zu früh geboren werden.
HUIZINK geht nach ihren Studien davon aus, dass Schwangerschafts-Stress die motorische und geistige Entwicklung der Kinder
verzögert.647 Auch Gynäkologen können dazu beitragen, Stress bei
Frauen zu vermeiden, indem sie ihnen versichern, dass die allermeisten Schwangerschaften ohne jegliche Komplikationen verlaufen. Die
Angst vor der Geburt und die Angst vor einem behinderten Baby
wirken sich nach ihren Erkenntnissen nachteilig auf die spätere Entwicklung des Kindes aus.
HÜTHER vertritt die Ansicht, dass die Hormon-Hypothese allein
nicht ausreicht, um die Stresseffekte zu erklären. „Wahrscheinlich
nimmt ein Fötus schon vieles über seine sich entwickelnden Sinnesorgane wahr.“ Das Ungeborene kann bereits emotional auf einfachem Niveau reagieren und legt damit sein psychisches Erbe an.
Spätere Bindungsstörungen zwischen Mutter und Kind könnten auf
Stress-belastete Schwangerschaften zurückzuführen sein.
WADHWA konnte nachweisen, dass sich der Stress der werdenden
Mutter minimiert, wenn sie von der Familie und ihren Bekannten
Unterstützung erhält.648
Trinkerinnen
Eine Studie im Zeitraum von 1974 bis 1999 an 27 Frauen und 25
Männern, deren Mütter alkoholkrank waren, ergab, dass die Kinder
in 40% der Fälle kleinwüchsig und untergewichtig bei der Geburt
waren und später Lernstörungen und Intelligenzdefizite zeigten.
Keines der Kinder machte Abitur, 56% besuchten eine Sonderschule. 649
647
Anja HUIZINK forscht an der Universität in Amsterdam; auch
unter: www.library.uu.nl./digiarchief/dip/diss/1933819/inhoud.htm
648
WADHWA ist Arzt und Verhaltensforscher.
Siehe auch: Progress in Brain Research, 2001, Bd. 133, S. 131
649
in: Ärztliche Praxis, Gräfelfing, in MM, 106, 1999, S. 3
327
Ultraschalluntersuchungen während der Schwangerschaft – eine
Lärmquelle für Ungeborene650
Der Fötus kann dabei Lärm empfinden, der mit dem eines einfahrenden U-Bahn Zuges vergleichbar ist, obwohl die benutzten Frequenzen nicht im Bereich der menschlichen Hörfähigkeit liegen.
Heute wird vermutet, dass durch das Pulsieren der Schallwellen
Vibrationen in der Gebärmutter ausgelöst werden. Über Mikrofone
wurden Geräusche bis zu 100 Dezibel registriert. Über den Schädel
können diese Schwingungen auf den Gehörgang des Ungeborenen
übertragen werden. Dabei entsteht ein lautes Klopfen. Auf Untersuchungen des Kopfbereiches reagieren Feten mit heftigem Strampeln
und einer erhöhten Herzfrequenz. Ultraschallgeräte sollten auf keinen Fall auf das Hörorgan des Ungeborenen gerichtet werden.
Ungewollte Schwangerschaft
Ca. 1800 Mädchen in Deutschland im Alter zwischen 13 und 18
Jahren werden jährlich ungewollt schwanger.651
Zuckerkrankheit in der Schwangerschaft (Gestationsdiabetes)
Die Auswertung einer Studie (Schwangerenscreening in SchleswigHolstein) aus dem Jahr 1998 zeigt, dass 13,3% von 1950 untersuchten Frauen zuckerkrank waren. Bisherige Schätzungen gingen von
0,5% aus. Wird diese Erkrankung nicht behandelt, können sich bei
dem Kind eine Lungen- oder Herzschwäche entwickeln. Zudem
erhöht sich das Risiko für einen späteren Diabetes. Im schlimmsten
Fall können Neugeborene sterben und die Mutter an Dauer-Diabetes
erkranken.652
Faktoren, die eine Zwillingsgeburt/Drillingsgeburt begünstigen
Jahr: 1980
1999
650
ca. 8 000 Zwillingsgeburten
ca. 12 000
SZ, 291, 2001, V2 /9
CHRISTINE WOLFRUM, 1999, Ich und ein Baby? Gefühle,
Gedanken, Erfahrungen
652
MM, 234, 1999, J 4
651
328
Die Drillingsgeburten verfünffachten sich im gleichen Zeitraum von
94 auf 486.
Ursachen für die starke Zunahme von Mehrlingsgeburten nach
WÜRFEL653:
 Behandlungen von Unfruchtbarkeit
Normalerweise ist bei 87 Geburten mit einer Zwillingsgeburt zu
rechnen. Nach einer Unfruchtbarkeitsbehandlung ist die Möglichkeit
sechsmal höher. Bei einer künstlichen Befruchtung entscheiden sich
viele Frauen dafür, zwei oder drei Embryonen in die Gebärmutter
einpflanzen zu lassen, da durch dieses Verfahren die Chance auf eine
Schwangerschaft erhöht wird. Auch die Möglichkeit einer Drillingsschwangerschaft erhöht sich somit. Für Mutter und Kinder bringt das
eine Zunahme der Risikofaktoren mit sich.
 Hormonbehandlungen wegen ungewollter Kinderlosigkeit
Die Eierstöcke zeigen in vielen Fällen anfangs keine Reaktion, im
weiteren Verlauf werden dann jedoch viele Eizellen freigesetzt.
Vierlinge, Fünflinge und noch mehr Kinder können die Folge sein.
 Einnahme von Vitamin-B (Folsäure)
Das Risiko einer Zwillingsgeburt verdoppelt sich dabei nach schwedischen Forschungsergebnissen.654
Die Einnahme wird in den ersten Wochen der Schwangerschaft zur
Verhütung eines Neuralrohrdefektes (Missbildung von Wirbelsäule
und Rückenmark; in der Folge können eine Querschnittslähmung
oder ein Wasserkopf entstehen) empfohlen. Das Wachstum des
Embryos ist nach HASBARGEN „von einem Enzym abhängig, das
eine Schlüsselrolle im Folsäurestoffwechsel spielt“. Jeder zweite
Mensch in Deutschland lebt jedoch mit einer schlechter arbeitenden
Variante dieses Enzyms. Wird aus der Nahrung nicht genügend
Folsäure aufgenommen oder arbeitet das Enzym mit verminderter
653
SZ, 186, 2001, V2 /8; WÜRFEL ist Mitglied der Deutschen
Gesellschaft für Gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin.
654
Twin Research, 2001, Bd. 4, S. 63
329
Leistung, ist die Möglichkeit einer Fehlgeburt erhöht. Gleichzeitig
bekommen diese Frauen nur selten Zwillinge.655
HASBARGEN: „Mit dieser Bremse schützt sich die Natur, denn am
sichersten für die menschliche Fortpflanzung ist die Einlingsschwangerschaft.“
Durch die Einnahme von Folsäure verliert dieser natürliche Schutzmechanismus an Wirkung. Mehrlingsgeburten sind die Folge.
Statistisch gesehen kommen auf jedes Kind, das so vor einem Schaden bewahrt wird, 50 Zwillingspaare. Die schwedischen Forscher
vermuten ein Überwiegen der Nachteile bei der Einnahme von Folsäure, da Mehrlingsschwangerschaften oftmals von Komplikationen
begleitet sind. Es treten häufiger Frühgeburten ein oder die Kinder
müssen durch einen Kaiserschnitt zur Welt gebracht werden.
Neuere Erkenntnisse zur Geburt
Alter der Mütter
In der BRD werden jährlich etwa 10 000 minderjährige Mädchen
schwanger. Als bestes Verhütungsmittel werden Aufklärung und
Vorbeugung vor sexuellen Übergriffen empfohlen.
Viele Eltern verlassen sich dabei auf die Schule, weil sie es als
schwierig finden, die sexuelle Entwicklung ihrer Kinder zu begleiten.656
Frühgeburt durch mangelnde Zahnpflege
Frauen mit Zahn- oder Zahnfleischproblemen haben ein bis zu siebenmal größeres Risiko von Frühgeburten. Das Risiko für Frauen,
bei denen mehr als jeder dritte Zahn an Karies oder sonstigen Problemen leidet, ist noch höher.657
655
Human Reproduction, 2000, Bd.15, S. 2659; HASBARGEN
arbeitet an der Frauenklinik der Universität München.
656
Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, Köln, 1999, in MM,
108, 1999, S. 3
657
SZ, 107, 2000, S. 16; Studie der zahnmedizinischen Fakultät der
US-Universität Birmingham
330
Komplizierte Geburt – Diagnose von Hirnschäden
Der Urin des Säuglings zeigt in den ersten Stunden nach der Geburt
durch das Verhältnis der Stoffwechselprodukte Laktat und Kreatinin
mögliche Hinweise auf spätere Hirnschäden. Das 88mal größere
Verhältnis von Laktat zu Kreatinin ist ein Warnhinweis.658
Geburtsort
FEIGE vertritt die Meinung, dass viele Kinder „zur falschen Zeit und
am falschen Ort geboren werden“.659 Aufgrund der fehlenden Beratung bei der Wahl der geeigneten Klinik gebe es in Deutschland
mehr kranke Neugeborene als in anderen Industrieländern. Betroffen
seien vor allem Schwangere mit Risikofaktoren wie Diabetes, Hochdruck, Mehrlingsschwangerschaften oder Beckenendlage.
Geburtsdatum und Schizophrenierisiko
Schwedische Forscher untersuchten den Verlauf von Schwangerschaft und Geburt von ca. 170 Schizophrenen und 850 gesunden
Kontrollpersonen.660 In erster Linie wurden Kranke untersucht, deren
Krankheit vor dem 21. Lebensjahr ausgebrochen war. 24 Faktoren
wurden bei der Untersuchung berücksichtigt, z. B. das Alter der
Mutter oder auch die Anzahl der Kaiserschnitte. Drei Faktoren zeigten sich bei der schizophrenen Gruppe gehäuft:



658
Die Mütter hatten mehr als drei Entbindungen hinter sich.
Während der Schwangerschaft waren häufiger Blutungen aufgetreten.
Das Geburtsgewicht der betroffenen Kinder war leichter.
New England Journal of Medicine, 1999, Bd. 341, S. 364 auch in
SZ, 200, 1999, V2/10
659
auf dem 7. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Pränatal- und
Geburtsmedizin in Nürnberg, 1999 in MM, 108, 1999, S. 3
660
British Medical Journal, 1999, Bd. 318, S. 421, in SZ, 50, 1999,
V2 /17
331
Dänische Wissenschaftler sehen einen Zusammenhang zwischen Ort
und Datum der Geburt und dem Auftreten von Schizophrenie.661
Untersucht wurden in Kopenhagen geborene Kinder. Sie litten zweibis dreimal häufiger an der Krankheit als Altersgenossen, die auf
dem Land zur Welt kamen. Nach Ansicht der Forscher wurden ältere
Studien bestätigt, wonach eine Geburt in den Monaten Februar und
März ein erhöhtes Risiko bedeutet. Tieferliegende Faktoren seien
jedoch auch biologische Einflüsse wie Infektionen in der Schwangerschaft, welche sich subtil auf die Entwicklung des Gehirns auswirken.
YOLKEN weist darauf hin, dass Kinder, die unmittelbar nach der
Geburt Mumps oder auch nur Schnupfen bekommen, ein siebenmal
höheres Risiko haben, zwei bis drei Jahrzehnte später an Schizophrenie zu erkranken.662 Die Erkenntnisse wurden aufgrund der
Untersuchung der Krankheitsgeschichten von mehreren tausend
Kindern in Italien und den USA, die bis heute verfolgt wurden, gewonnen. Bei der Untersuchung der Gehirne schizophrener Patienten,
die in einer „Gehirnbank“ gesammelt sind, wurden Bestandteile von
Virus-Erbgut gefunden.
POLLMÄCHER erklärt dazu: „Möglicherweise schädigt eine frühe
Virusinfektion das Gehirn minimal in den Bereichen, die an Wahrnehmung oder Denken beteiligt sind.“663
Die Entwicklung des Gehirns könnte dadurch geschädigt werden.
Erst bei einem späteren Entwicklungsschub des Gehirns könnte sich
dieser Schaden bemerkbar machen. Andere Experten sind der Meinung, dass auch spätere Infektionen Schizophrenie auslösen könnten.
Sich störend auswirkende Antworten des Immunsystems auf das
Nervensystem werden als Ursache ebenso in Betracht gezogen. Molekularbiologen weisen dagegen auf die Bedeutung einiger Gene des
menschlichen Erbgutes hin, deren Aufgabe jedoch noch nicht entschlüsselt ist; diese kommen gehäuft in den Familien vor, die von
Schizophrenie betroffen seien.
Eine Geburt zur Winterzeit bedeutet laut Statistik ebenfalls ein erhöhtes Risiko.
661
New England Journal of Medicine, 1999, Bd. 340, S. 603, in SZ,
50, 1999, V2 /17
662
Symposium am Max-Planck-Institut in München, 1997, SZ, 267,
1997, II
663
in SZ, 267, 1997, II
332
Der Verfasser möchte bezüglich der Virustheorie an dieser Stelle
noch einmal ausdrücklich auf die mögliche Einschleusung von Viren
in den kindlichen Organismus durch Impfstoffe hinweisen.
Geburtsfehler durch Gynäkologen und Geburtshelfer
Eine Untersuchung664 der Anträge auf Pflegeleistungen für behinderte Kinder kam zu folgendem Ergebnis:
In 60 von 500 Fällen besteht der „ernsthafte Verdacht“, dass Ärzte
oder Geburtshelfer versagt haben.
Schwere gesundheitliche Schäden bei den Neugeborenen seien die
Folgen der ärztlichen Behandlungsfehler. BERG äußert den Verdacht, bleibende Behinderungen eines Kindes, z. B. Taubheit, Blindheit oder Lähmungen, seien zu 10% um die Zeit der Geburt herum
entstanden.
Nur ein sehr geringer Prozentsatz von diesen 10% sei auf ärztlich zu
verantwortende Fehler zurückzuführen. Er verweist auf eine Studie,
die 180 000 Geburten berücksichtigt. Hierbei wurde ein Schaden
während der Geburt bei 15 000 Kindern registriert.
Ärztliche Fehler sind nach Ansicht von BERG nur in seltenen Fällen
auf einzelne Fehlverhalten zurückzuführen.
In der Mehrzahl der Fälle (60%) sei die fehlende Organisationsstruktur im Gesundheitsbereich für die Schäden mit ausschlaggebend.
Geburtsgewicht – Häufigkeit zukünftiger Krankheiten und
Lebenserwartung
BARKER weist in seinen Studien darauf hin, dass die neun Schwangerschaftsmonate offenbar einen prägenden Einfluss auf die zukünftige Gesundheitssituation des Menschen haben.665
Durch 50 internationale Studien in den vergangenen Jahren (Schweden, USA und England) wurden seine Thesen bestätigt.
664
SZ, 4, 1998, S. 10; die Untersuchung wurde von der DAK durchgeführt und auch im Nachrichtenmagazin Der Spiegel veröffentlicht;
BERG ist Professor und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für
Gynäkologie.
665
British Medical Journal, 1999, Bd. 318, 427, in SZ, 50, 1999,
V2 /17
333
Ein niedriges Geburtsgewicht zeigte sich nicht als Nachteil, wenn die
Ursache eine zu frühe Geburt war. Nach seiner Ansicht spiegeln die
Geburtsmaße die Versorgung des Neugeborenen im Körper der Mutter wider. Ein ungünstiges Verhältnis von Gewicht und Größe ist als
Indiz zu deuten, dass das Ungeborene im Mutterleib nicht optimal
mit Nährstoffen versorgt wurde.
Das Wachstum des Kindes im Mutterleib wird sowohl durch die
Ernährung als auch durch das Rauchen stark beeinflusst. Folsäuremangel in der Nahrung ist eine mögliche Ursache für das Entstehen
eines offenen Rückens (Spina bifida) oder eines Wasserkopfes (Hydrozephalus). Frühgeborene Kinder mit starkem Untergewicht sind in
ihrer späteren Entwicklung mehrfach gefährdet. Sie tragen im Vergleich zu den reifen Kindern ein erhöhtes Risiko für leichte oder
schwere Behinderungen und Leistungsdefizite in der Schule.
KRÄGELOH-MANN666 belegt durch eine Studie dass 20 bis 30%
der Frühgeborenen später unter Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten leiden. Weitere 2 bis 10% haben durch einen Hirnschaden
spastische Lähmungen, Bewegungs- oder Sehstörungen und etwa 8%
sind geistig behindert.
Tod im Kindbett667
Weltweit: 1000 Frauen täglich; ca. 500 000 jährlich
Indien: eine von 34 Frauen
Nordeuropa: eine von 10 000
Vitamin K-Gaben – Neugeborene als Patienten
Neugeborene werden in den meisten Fällen routinemäßig mit Vitamin K behandelt, um innere Blutungen zu verhindern, die bei sieben
von 100 000 Neugeborenen auftreten sollen. Das Vitamin wird dabei
intramuskulär bzw. subkutan gespritzt oder aber tröpfchenweise
verabreicht. Bei den Injektionen wird der neugeborene Organismus
zugleich mit dem in den Ampullen enthaltenen Arzneihilfsstoff Cremophor EL konfrontiert. Zusätzlich kann durch die Injektion bei
einem gefährdeten Säugling eine damit verbundene Blutung ausge666
MM, 210, 1999, S. 3; KRÄGELOH-MANN auf dem Kinderärztekongress in München
667
MM, etwa im Mai 1994
334
löst werden. Diese Vorsorge ist jedoch sehr umstritten, da nicht
bekannt ist, ob durch diese Vitamingaben Allergien oder andere
Langzeitfolgen auftreten können. Bei Erwachsenen steht das Auftreten von Allergien mit dem Arzneihilfsstoff in engem Zusammenhang
und ist seit langem bekannt.
Allergien wurden nach der Aussage von Experten deshalb bei Neugeborenen nicht beobachtet, da vor dem Auftreten eine Sensibilisierung stattfindet. Erst der nächste Kontakt mit dem Allergen führt
zum Ausbruch der Allergie.
Die Ärzte versprechen sich durch diese Vitaminstöße zusätzliche
Zeit, um etwa versteckte Erkrankungen diagnostizieren zu können.
Es ist unbestritten, dass Tausende von Neugeborenen behandelt
werden müssen, um einen Säugling zweifelhaft zu schützen. In ca.
80% der deutschen Krankenhäuser ist dieses Vorgehen üblich, obwohl ein niedriger Vitamin-K-Spiegel bei Neugeborenen aus biologischer Sichtweise normal ist. So wurde zumindest statistisch ein
Zusammenhang zwischen Vitamin-K-Gaben und Krebs errechnet.668
GRAF warnt vor Vitamin-K-Gaben mit der Begründung, dass sie bis
zu 1000fach überdosiert sind.669
Zeitabstand zwischen zwei Schwangerschaften
Frühgeburten werden oftmals durch einen zu geringen oder einen zu
großen Zeitabstand zwischen den Schwangerschaften begünstigt.
Ein Zeitraum von 18 bis 23 Monaten zwischen Niederkunft und
erneuter Schwangerschaft wurde durch eine Studie670 als günstig
bestätigt. Gleichzeitig wird jedoch aber vor einem dilettantisch eingehaltenen „Schwangerschaftsfahrplan“ abgeraten.
Zerebralparesen
Spastische Bewegungsstörungen zählen zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen im Kindesalter. Bisher war in erster Linie
Krankengymnastik das erste Mittel der Wahl.
668
KRIES, Experte für Vitamin-K-Prophylaxe der Kinderklinik der
Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität
669
GRAF, Kritik der Arzneiroutine bei Schwangeren und Kindern,
S. 34
670
New England Journal of Medicine, 1999, Bd. 340, S. 589
335
Die ständigen, verkrampften Bewegungen werden meist mit einer
Schädigung des Gehirns vor, während oder kurz nach der Geburt in
Verbindung gebracht. Ein gemeinsames Auftreten mit einer geistigen
Behinderung oder mit epileptischen Anfällen ist häufig zu beobachten.
HEINEN berichtet von guten Erfahrungen mit Botulinum-Toxin A.
(Dies ist ein Giftprodukt von Bakterien, das z. B. in unsauber verarbeiteten Fleischkonserven erzeugt wird.)
Bei der Behandlung von 120 Kindern in Freiburg671 hat sich das
motorische Lernen deutlich verbessert. Die Komplikationen (bei
einer spastischen Bewegungsstörung treten häufige, schmerzhafte
Verrenkungen der Hüfte auf; durch eine Verkürzung der Beinsehnen
zeigen die Fußspitzen dauerhaft nach unten) waren seltener, die
Schmerzen geringer. HEINEN zur medikamentösen Wirkung dieses
Giftes:
„Die Erkrankung lindern, begleitend verbessern: Das ist vorläufig
alles.“
Eine Injektion, in einer Dosierung, die erst in 15-fach erhöhter Konzentration schädliche Auswirkungen zeigen würde, schafft Erleichterung für drei bis sechs Monate. Der Alltag und das motorische Lernen werden wesentlich erleichtert.
Neuere Erkenntnisse zur Stillphase
Gewicht abnehmen durch eine Diät – Auswirkungen auf die
Babys
Vier Wochen nach der Geburt eines Kindes wurden 40 übergewichtige Frauen die ihr Körpergewicht gezielt reduzieren wollten, in zwei
Gruppen eingeteilt.
Gruppe1
Auswirkungen auf die Babys
Regelmäßige sportliche Betätigung
Täglich 500 Kalorien weniger als Die Babys beider Gruppen nahmen
671
in SZ, 218, 1999, V2 /13; HEINEN ist Arzt an der Freiburger
Universitäts-Kinderklinik.
336
zuvor
Gruppe 2
Einmal pro Woche Sport
Unveränderte Essgewohnheiten
im gleichen Ausmaß zu
und wuchsen auch gleich schnell.
Die Mütter der ersten Gruppe konnten ihr Gewicht im Vergleich zur
zweiten Gruppe deutlich reduzieren, ohne dass dadurch die Kinder
gefährdet wurden. Eine Reduzierung des Gewichtes um mehr als 500
g pro Woche ist jedoch nicht ratsam.
Arzneimittel
Das kindliche Gehirn ist auch noch mehrere Jahre nach der Geburt
hochgradig gefährdet, wenn stillende Mütter Alkohol zu sich nehmen oder Diazepam (Valium) und Schlafmittel (Barbiturate) konsumieren. Während der Schwangerschaft und in den ersten Jahren nach
der Geburt entwickelt sich das Gehirn durch die ständige Verknüpfung von Nervenzellen.
Der Konsum von Alkohol und die Einnahme von Medikamenten
sind maßgeblich an der Entstehung von Verhaltensstörungen, Lernbehinderungen und geistigen Behinderungen bei Kindern beteiligt.672
Aufwachsen ohne Vater und Zusammenhang mit psychischen
Erkrankungen
FRANZ kommt als Leiter einer Forschungsgruppe nach einer Langzeitstudie an 301 repräsentativ ausgewählten Menschen über einen
Zeitraum von elf Jahren zu folgendem Ergebnis:
Kinder lernen das Funktionieren von Beziehungen am Beispiel von
Vater und Mutter. Destruktive Partnerschaften wirken sich destruktiv
auf die Kinder aus.
Sind Väter während der ersten sechs Lebensjahre länger abwesend,
besteht ein höheres Risiko, an Angsterkrankungen, Selbst- und Beziehungsstörungen und Depressionen zu erkranken.673
672
673
SZ, 37, 2000, V2 /11
Focus, September 1999, und in SZ, 211, 1999, L 2
337
Babynahrung
Amerikas größter Hersteller für Babynahrung, die Firma Gerber,
versprach, künftig auf gentechnisch veränderte Zutaten in der Babynahrung zu verzichten. 674
Beißringe
Die oftmals in den Beißringen und Schnullern enthaltenen Phtalate
(Weichmacher für Kunststoffe) können schwere Leber- und Nierenschäden sowie Krebs auslösen. Ein Expertenausschuss der EUKomission hat einstimmig empfohlen, dass Beißringe, Schnuller und
sonstiges Spielzeug aus diesem Grund keine Phtalate enthalten dürfe. 675
Eine Gefahr besteht nach Ansicht von Experten dann, wenn Kleinkinder täglich mehr als drei Stunden an den Plastikgegenständen
lutschen.676
Phtalate besitzen nach Angaben von Fachleuten erbgutschädigende
Eigenschaften. Auch Schädigungen des zentralen Nervensystems
können auftreten, wenn diese Stoffe in zu großer Menge in den kindlichen Körper gelangen.
Berufstätigkeit der Mütter – Entwicklung der Kinder
HARVEY und Kollegen befragten 12 000 berufstätige Frauen beinahe 20 Jahre lang jährlich, um die erfragten Daten in Zusammenhang
mit der Entwicklung der Kinder (Verhalten und geistige Entwicklung) auch über die ersten drei Lebensjahre hinaus zu bringen.677
Ergebnis der Studie:
Die Erwerbstätigkeit der Mütter zeigte bezüglich der Folgsamkeit
der Sprösslinge in den ersten drei Jahren, dass sie weniger folgsam
waren als die von den „Vollzeit-Müttern“ betreuten Kinder. Ein
Zusammenhang zwischen dem väterlichen Arbeitseifer und der Entwicklung der Kinder konnte nicht festgestellt werden.
Kritikpunkt an dieser Studie: Die Qualität der Kinderbetreuung der
berufstätigen Mütter wurde außer Acht gelassen.
674
SZ, 204, 1999, S. 2
SZ, 290, 1999, S. 14
676
SZ, 279, 1999, S. 16
677
Developmental Psychology, 1999, Bd. 35, Nr. 2; SZ, 68, 1999,
V2 /13
675
338
In Deutschland sind etwa zwei Drittel der Mütter berufstätig.678 Im
Vergleich zu 1991 erfolgte eine Steigerung um 3%. Im Osten liegt
der Anteil mit 73,3% berufstätiger Mütter deutlich höher.
Bindungsforschung – neuere Ergebnisse
In den 60er Jahren wurde die Bindungsforschung durch den englischen Psychoanalytiker BOWLBY begründet. Gegenstand der Bindungsforschung sind die menschlichen Beziehungsmuster. Sie werden von der Geburt an bis ins Erwachsenenalter beobachtet und
ausgewertet. Dem Kontakt der Einjährigen zu ihren Müttern gilt
besonderes Interesse. Aus dem Verhalten der Kinder werden Rückschlüsse darüber gezogen, wie sicher sich das Kind in seiner Welt
fühlt.
Es gilt inzwischen als unbestritten, dass diese Sicherheit des Kindes
nur durch eine feste und verlässliche Bindung zu seiner engsten
Vertrauensperson gewonnen werden kann. In der Regel ist dies die
Mutter. Nur zwei Drittel aller Kinder zeigen ein sicheres Bindungsverhalten. Bei allen anderen Kindern liegt eine mehr oder weniger
ausgeprägte Bindungsstörung vor.
BRISCH679 nennt folgende Gründe für das Entstehen einer Bindungsstörung – meist in den ersten zwei bis drei Lebensjahren:
 Um eine möglichst schnelle Selbstständigkeit der Kinder zu
erreichen, fordern Mütter häufig von Anfang an Distanz.
 Soziale Probleme in der Familie
 Gesundheitliche Störungen der Mutter (Depressionen,
Alkoholabhängigkeit)
BEEBE/JAFFE konnten die fehlende Bindungsfähigkeit zwischen
depressiven Müttern und deren Kindern durch Videoaufnahmen
nachweisen. Es war zu beobachten, dass sich die Sprösslinge häufig
von ihren Müttern abwendeten.
Die Rolle des Vaters:
678
SZ, 109, 2000, S. 16
SZ, 163, 2000, V2 /9; BRISCH ist Leiter der Abteilung für Kinderpsychosomatik am Haunerschen Kinderspital in München;
BEEBE/JAFFE sind Psychiater in New York.
679
339
Auch er spielt eine wichtige Rolle. Seiner Feinfühligkeit beim Spiel
mit dem Kind wird eine wichtige Rolle zugeschrieben.
Grundsätzlich ist es möglich, dass auch andere Menschen die Rollen
von Mutter und Vater übernehmen. Voraussetzung ist das Vorhandensein des notwendigen Feingefühls für den engen Kontakt mit
dem Kleinkind.
Wird das Bindungsbedürfnis der Kinder nicht erwidert, geben sich
die Kleinen äußerlich ruhig oder es entwickeln sich die kleinen
„Coolen“, die besonders pflegeleichten Kinder. In Trennungssituationen schütten diese Kinder extrem hohe Mengen an Stresshormonen
aus.
Wird den Kleinkindern nicht der notwendige stützende Halt durch
feste Bezugspersonen gegeben, so können sich verstärkt aggressive
Charaktere oder extreme Draufgänger entwickeln. Besonders gefährdet sind auch die Frühgeborenen, da die Eltern hier oft nicht in
der Lage sind, die nötige Sicherheit zu bieten.
Chemikalien – Belastung der Babys
Der aktuelle Wissensstand lässt vermuten, dass Umweltchemikalien
mit der Zunahme von Allergien, Asthma, Autismus, Depressionen
und anderen neurologischen Problemen bei Kindern in Zusammenhang gebracht werden können. Die Krankheitsbilder treten nicht in
Form von akuten Vergiftungserscheinungen, sondern vielmehr als
schleichende Vergiftungen durch niedrig dosierte Substanzen von
Umweltgiften auf.
Ein unmittelbarer zeitlicher Bezug zwischen Ursache und Wirkung
ist im Erkrankungsfall meist nicht nachzuweisen. Nicht nur Chemikalien gegen Ungeziefer, die chemisch behandelte Oberfläche von
Möbeln und Textilien, sondern auch Arzneistoffe und Pestizide können im Urin von Kindern nachgewiesen werden. Wasser, in welchem
Kinder vorher ihre Hände gewaschen hatten, wurde von FREEMAN
680
analysiert. Dabei stieß sie auf folgende Schadstoffe:
verschiedene Pestizide, darunter Organchlorverbindungen wie DDT,
Organophosphate wie Chlorpyriphos und Pyrethroide, z. B. Permethrin.
680
SZ, 232, 2001, V2 /10
340
Auswirkungen auf den menschlichen Organismus:
 Vor allem die in Insektenvernichtungsmitteln enthaltenen Chemikalien wirken auch auf das Nervensystem der Menschen ein,
indem sie die Erregungsleitung zwischen den Nervenzellen verändern. So wird bei den Organophosphaten das Enzym blockiert, das für den Abbau des Botenstoffes Acetylcholin verantwortlich ist. In der Folge können ein erhöhter Blutdruck, Herzrasen, Atemnot oder Muskellähmungen auftreten.
 Die Pyrethroide sind dafür verantwortlich, dass die Natriumkanäle in den Nervenzellmembranen nicht geschlossen werden.
Eine Übererregung ist die Folge.
 Arzneistoffe reichern sich im Organismus von Säuglingen durch
den langsamer arbeitenden Stoffwechsel eher an, während ältere
Kinder bestimmte Schadstoffe schneller ausscheiden. Junge
Menschen haben eine dünnere Haut als Erwachsene und eine
größere Oberfläche im Vergleich zur Körpermasse. Dadurch
ergibt sich eine vergrößerte Kontaktfläche. Da die Lungenoberfläche bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen riesig und die
Atmung zugleich beschleunigt ist, werden Fremdstoffe ebenfalls
leichter aus der Luft aufgenommen. Das Gehirn ist relativ betrachtet größer und stärker durchblutet als das von Erwachsenen.
Zugleich wächst es schneller und verändert sich rasant, wodurch
es empfänglicher für Schadtsoffe wird.
Die Abbauprodukte von Pestiziden, die speziell in der Landwirtschaft verwendet werden, lassen sich im Urin von Kindern nachweisen. Sie werden durch die Kleidung der Eltern auf die Kinder übertragen. Die Übertragungsgefahr der Pestizide kann verringert werden, indem die Erwachsenen sich öfter die Hände waschen.
Auch Holzschutzmittel, die in Innenräumen völlig überflüssig sind,
dünsten oft jahrelang aus Möbeln, Balken und Treppen aus.
Eine Substanz, die in einer bestimmten Dosis für ein Insekt tödlich
ist, kann in größeren Mengen bei längerer Einwirkzeit unter bestimmten Umständen auch für höher entwickelte Lebewesen gefährlich sein.
Darmprobleme durch Kuhmilch
Verstopfung bei Kleinkindern kann ein Anzeichen dafür sein, dass
sie Kuhmilch nicht vertragen.
341
Bei eine Untersuchung von 65 Kleinkindern mit Verstopfung wurde
bei 42 Kindern Kuhmilch als Ursache für die Verstopfung identifiziert, obwohl sie eher dafür bekannt ist, Durchfälle und Allergien
auszulösen. Auch Wunden und Rötungen am Po können durch den
Verzehr von Kuhmilch ausgelöst werden. Durch eine Umstellung auf
„Sojamilch“ trat bei zwei Dritteln der betroffenen Kinder eine Besserung ein. „Kuhmilch-Hydrolysat“ kommt für das letzte Drittel als
weitere Alternative in Frage.681
Diabetes
GAEDICKE682 ermittelte in einer Studie die stetige Zunahme von
zuckerkranken Kindern. In den letzten zehn Jahren lässt sich eine
Verdoppelung der Erkrankungen beobachten. Als Ursachen für die
Entstehung eines Diabetes vom Typ-I sieht er folgende Faktoren:



eine entgleiste Immunabwehr
übertriebene Sauberkeit – dadurch ein mangelhaft trainiertes
Immunsystem
falsche Ernährung – Kuhmilch (Kinder, die genetisch für Diabetes anfällig sind und mit Kuhmilch ernährt werden, erkranken
um 50% häufiger an Diabetes)
Finnische Wissenschaftler stellten dazu folgende Theorie auf:683
Durch das Kuh-Insulin werden die Immunstoffe im kindlichen Organismus falsch programmiert. Dadurch kann der Unterschied zwischen fremdem und körpereigenem Insulin nicht mehr erkannt werden. In Tierversuchen wurden diese Vermutungen bestätigt.
Es soll an dieser Stelle noch einmal darauf aufmerksam gemacht
werden, dass auch in Bezug auf die Impfungen sehr unterschiedliche
Meinungen bestehen. Ob sie ein „Training“ für das Immunsystem
bedeuten oder ob sie das Immunsystem auf Dauer schwächen und
die Erkennung und Abwehr veränderter Krankheitserreger erschweren, ist noch nicht geklärt.
681
New England Journal of Medicine, 1998, Bd. 339, S. 1100
SZ, 182, 1999, V2/9; GAEDICKE ist Professor für Pädiatrie am
Berliner Universitätsklinikum Charité.
683
Diabetes, 1999, Bd. 48, S. 1389
682
342
Ernährung – Trans-Fettsäuren – Entwicklung des Gehirns
Trans-Fettsäuren kommen in der Natur nur in geringen Mengen vor.
Sie entstehen bei der Härtung von pflanzlichen Ölen. Durch eine
Teilhärtung wird eine Streichfestigkeit und somit auch höhere Stabilität erreicht. Sie wirken sich bei Föten, Neugeborenen und Kleinkindern, aber auch bei stillenden und werdenen Müttern ungünstig
auf den Cholesterinstoffwechsel aus.
KOLETZKO: „Außerdem kann bei Säuglingen und Kindern ein
hoher Trans-Fettsäureanteil der Kost die Entwicklung des Gehirns
und das Wachstum hemmen.“684
Eine Ernährung der Kinder mit Nuss-Nougat-Cremes, Margerine und
Pommes frites bedeutet in vielen Fällen eine Aufnahme von 3,1
Gramm pro Tag. Sie nähmen damit ebenso viele trans-Fettsäuren auf
wie erwachsene Frauen.
Trans-Fettsäuren sind plazentagängig, das heißt sie gehen in den
Mutterkuchen über. Sie sind auch in der Muttermilch nachzuweisen.
Das schnell wachsende Gehirn benötigt ebenso wie die Augen bei
ihrer Entwicklung mehrfach ungesättigte Fettsäuren zum Einbau in
die Membranlipide.
Familiäres Umfeld
Sowohl bei den Kindern, die in der Pubertät eine kriminelle Energie
entwickeln, als auch bei psychiatrisch kranken Straftätern spielt das
familiäre Umfeld der ersten Lebensjahre eine beherrschende Rolle.
Die Risiken für psychiatrische Störungen bei den Kindern sind bei
den folgenden Faktoren besonders groß:
 psychische Probleme der Eltern
 unerwünschte Kinder bei bestehenden psychischen Problemen
der Eltern
 Fehlen von emotionaler Wärme
 ständiger Streit der Eltern
 Wohnungsprobleme
 finanzielle Schwierigkeiten.685
684
SZ, 257, 1996, S. 30; KOLETZKO ist Oberarzt an der Kinderpoliklinik in München.
343
Kinder, die eine einfühlsame Mutter haben, sind weitaus weniger
gefährdet. Sie vermittelt den Kindern emotionale Sicherheit und
damit die Grundlage des gesunden Selbstvertrauens.
Für die Arbeit an den deutschen Schulen könnte das holländische
Modell der Klinik Vosseveld ein Vorbild sein. Hier lernen Grundschüler seit 1996 in Gruppentherapien, Probleme und soziale Konflikte friedlich zu lösen. Die Eltern trainieren zusätzlich den Umgang
mit ihren Kindern.
Lehrkräfte, die in Schulen für Lernbehinderte tätig sind, müssen
nach Erfahrung des Verfassers täglich bis zu zwei Unterrichtsstunden für Konfliktlösungen einplanen, damit Lernen überhaupt erst
möglich wird.
Fieber – verschiedene Sichtweisen
Es sollte selbstverständlich sein, den Arzt aufzusuchen, wenn bei
Neugeborenen Fieber auftritt.
MENDELSOHN686 weist darauf hin, dass Babys auch dann Fieber
bekommen können, wenn sie zu warm angezogen sind. Beim Auftreten von Fieber ist eine regelmäßige Flüssigkeitszufuhr und eine entsprechende Überwachung durch die Eltern sehr wichtig.
Auch wenn das Fieber bei Kleinkindern über 40 Grad ansteigt, sollte
das Kind erst genau beobachtet werden. „Es gibt keinen konsistenten Zusammenhang zwischen der Höhe der Temperatur eines
Kindes und der Schwere einer Krankheit.“ Meist wird die Temperatur von 40,5 Grad durch einen körpereigenen Schutzmechanismus
685
Journal of Child Psychology and Psychiatry, 40, 1999, S. 129,
und Gutachten der Uni Köln für das Bundesfamilienministerium
(BMFSFJ) in SZ, 176, 1999, V2 /9
686
MENDELSOHN, 1990, S. 83; MENDELSOHN war amerikanischer Arzt mit mehr als 30 Jahren medizinischer Praxis; er bekleidete
zudem mehrere hohe Ämter: National Director of Project Head
Start`s Medical Consultation Service, Chairmam of the Medical
Licensing Committee for the State oft Illinois und Associate Professor of Preventive Medicine and Community Health in the School of
Medicine of the University of Illinois; er erhielt zudem zahlreiche
Auszeichnungen für hervorragende Leistungen auf medizinischem
Gebiet.
344
nicht überschritten. Hitzschlag, Vergiftungen oder andere äußere
Einflüsse bilden dabei eine Ausnahme. Maßnahmen zur Fiebersenkung sollten sehr gut überlegt werden.
Eltern, die einen Arzt per Telefon über das hohe Fieber (40,5 Grad)
ihres 14 Tage alten Kindes informiert und um Hilfe gebeten hatten,
erhielten den Ratschlag, Wadenwickel zu machen und Zäpfchen zu
geben. Wegen unterlassener Hilfeleistung wurde der Mediziner
durch das Gericht zu 6000 DM Geldstrafe verurteilt. „Das Baby hat
das Fieber ohne Folgen überstanden.“687
In den meisten Fällen ist die Angst der Eltern und der Ärzte vor
Fieber völlig unsinnig, vor allem dann, wenn sich Kinder trotz hohen
Fiebers normal verhalten.
Fieberkrämpfe – Epilepsierisiko
Halten Fieberkrämpfe, wie sie ca. bei jedem 20. Kleinkind auftreten,
länger als 15 Minuten an, und leiden auch Verwandte an der „Fallsucht“ oder treten noch andere neurologische Probleme hinzu, erhöht sich das Risiko für die Entwicklung von Epilepsie laut
FERNANDEZ um das Sechsfache. Etwa 15% aller an Epilepsie
leidenden Kinder hatten zuvor Fieberkrämpfe. Ob die Krämpfe Auslöser für die Epilepsie sind oder ob beide eine gemeinsame Ursache
haben, bleibt weiterhin umstritten.
CHEN weist darauf hin, dass Krämpfe langfristig Spuren im Gehirn
hinterlassen.688
Wie unterschiedlich die Erkenntnisse und Erfahrungen, die Studien
und die Forschungsergebnisse sein können, zeigen die Erfahrungen
von MENDELSOHN.
Seiner Meinung nach treten Fieberkrämpfe durch das zu schnelle
Ansteigen der Temperatur hervor. Bei einer Untersuchung an 1706
Kindern, die von Fieberkrämpfen geplagt waren, wurde weder ein
Todesfall noch ein motorischer Folgeschaden beobachtet.
„Es gibt keinen schlagenden Beweis dafür, dass Fieberkrämpfe in
der Kindheit die Anfälligkeit für Epilepsie im späteren Leben erhöhen.“689
687
MM, 285, 2001, Oberbayern
SZ,188, 1999, V2 /11, und in Nature Medicine, 1999, Bd.5,
S. 888
689
MENDELSOHN, 1990, S. 89
688
345
In der Forschung stellt sich immer wieder die Frage, ob spätere Erkenntnisse frühere Erkenntnisse ungültig machen, widerlegen oder
gar aufheben. Letzten Endes werden Menschen aufgrund des selektiven Prinzips immer dazu neigen, den Erkenntnissen Glauben zu
schenken, die mit ihrer durch verschiedenste Einflüsse geprägten
Meinung am meisten übereinstimmen und die ihr Gewissen am
meisten beruhigen oder ihren Interessen am wenigsten schaden.
Fluoridierung von Zähnen
Fluoridtabletten werden häufig zusammen mit einer Vitamin-DProphylaxe von Kinderärzten bis zum zweiten Lebensjahr empfohlen. Der dabei beabsichtigte medizinische Effekt soll den Aufbau
von Knochen und Zahnschmelz unterstützen. Die Zähne sollen
widerstandsfähiger gegen Karies gemacht werden.
Neueste Erkenntnisse gehen davon aus, dass die Maßnahme der
Fluoridierung vor dem Durchbruch der Zähne ohne Bedeutung sei.
Auch gesundheitliche Gefahren sind nicht auszuschließen. So sind
nach KOCH690 bereits Fälle von Zahnschmelzstörungen bekannt
geworden. Diese sind bei Kindern beobachtet worden, die von Geburt an Fluoridtabletten in der empfohlenen Dosierung erhalten hatten.
Es kann deshalb leicht zu Überdosierungen kommen, weil auch
Lebensmittel Fluoride enthalten; eine bedenkliche Menge ist schnell
erreicht (siehe auch: Versiegelung von Zähnen).
Gaumenspalten – Ursachen691
Etwa eines von 1500 Neugeborenen kommt mit einer Gaumenspalte
zur Welt. Innerhalb einer Familie konnten keine Häufungen festge-
690
Co-med, 9/99, S. 24; KOCH ist Zahnarzt, Mediziner und Philosoph; er ist außerdem Gründungs-und Vorstandsmitglied der internationalen Gesellschaft für Ganzheitliche Zahnmedizin. Seit 1995 leitet
er das Fortbildungskolleg Naturheilverfahren der GZM und ist Vorstandsmitglied des internationalen Arbeitskreises für biokompatiblen
Zahnersatz (AbZ).
691
Nature Genetics Online, 17. 9. 2001, und in SZ, 221, 2001,
V2 /13; BARTRAM ist Humangenetiker in Heidelberg.
346
stellt werden. Diese Tatsache galt bisher als Indiz dafür, dass für
diesen Geburtsfehler keine genetische Ursache verantwortlich ist.
Neuere Forschungsergebnisse belegen, dass Gene bei einigen Betroffenen eine dominante Rolle spielen. Die Mutation eines bestimmten Gens wird von US-Forschern als Ursache für das Auftreten von
Gaumenspalten bei einem Teil der Bevölkerung Venezuelas angesehen, während britische Forscher einem anderen Gen bei der Entstehung des Gaumens im Embryo eine bedeutende Rolle zuschreiben.
Offensichtlich kann diese Behinderung zufällig auftreten oder aber
vererbt werden.
Nach BARTRAM ist nur ein kleiner Teil aller Fälle auf die entdeckten Gene zurückzuführen.
Kinderkrippen – eine Katastrophe?
In den kommenden Jahren sollen in Bayern mehrere hundert Millionen Mark für eine Ganztagsbetreuung der Kinder berufstätiger Eltern
ausgegeben werden. Dazu HELLBRÜGGE:
„Ich sehe das äußerst kritisch, viele Untersuchungen unterstützen
diese Sichtweise, dass Kinder gerade in den ersten, prägenden Lebensjahren eine feste Bezugsperson, im Idealfall natürlich die Mutter, brauchen . . . Kinderkrippen halte ich für eine Katastrophe, denn
hier fehlt jede Mütterlichkeit. Ganz abgesehen von dem gesundheitlichen Risiko, in Krippen besteht gehäufte Infektionsgefahr. Es treten
dort verstärkt Aggressionen auf. Die Kinder müssen sich um die
Liebe der Betreuungsperson streiten, sich gegen die anderen Kinder
behaupten . . . Die Tschechen gaben, nachdem sie die Auswirkungen
der Kinderkrippen auf ihre Sprösslinge erkannt hatten, das Geld, das
der Krippenplatz kostete, direkt an die Mütter weiter, damit sie nicht
arbeiten gehen mussten. Immerhin kostet ein Krippenplatz die öffentliche Hand zwischen 2000 und 3000 Mark im Monat . . . Die
Frauen bekommen ihre Kinder heutzutage viel zu spät, würden sie
zwischen 19 und 29 gebären, hätten sie noch viele Jahre Zeit für ihre
Berufstätigkeit. Und das Problem, nach drei Jahren Babypause nicht
wieder in eine qualifizierte Tätigkeit einsteigen zu können, halte ich
für konstruiert . . . Keine Krippen, lieber Betreuung durch eine Ein-
347
zelperson oder Betriebskrippen, damit die Mutter zumindest die
Möglichkeit hat, ihr Kind zu sehen, zu stillen, zu trösten . . . “692
Kindheitserfahrungen
Frühe Kindheitserfahrungen sind nach Auffassung von Psychoanalytikern und Individualpsycholgen prägend für den Rest des Lebens.
Nach KAGAN693 wird in den ersten zwei Jahren jedoch keineswegs
die Entwicklung eines Kindes festgelegt. Die Wandlung des Charakters kann durch weitere Einflüsse noch erfolgen. Das Milieu ist seiner Ansicht nach wichtiger als das Erziehungsverhalten der Mütter.
Kindstötung
Wenn junge Mütter immer den Gedanken in sich tragen, dass auf
dieser Welt kein Patz für ihr Kind sei, dann werden sie es irgendwie
loswerden wollen. Viele Frauen verdrängen die Schwangerschaft aus
sozialer Not oder kulturellen Zwängen so sehr, dass sie das Kind
nicht als ihr eigenes wahrnehmen. Wenn es dann zur Welt kommt,
vernichten sie es wie ein Beweisstück. Gerade nach der Geburt sind
Mütter so alleine wie selten zuvor.
Mütter, die selbst in der Kindheit gedemütigt, misshandelt oder vernachlässigt wurden, sind besonders gefährdet, das eigene Kind selbst
so auf den Müll zu werfen, so wie sich selbst auf den Müll geworfen
fühlen.694
Jedes Jahr werden in Deutschland aus Gründen der Überforderung
der Eltern oder aus ohnmächtiger Wut etwa 240 kleine Kinder im
Alter bis zu sechs Jahren getötet. 20 bis 30 davon sind uneheliche
Kinder, die gleich nach der Geburt getötet werden.
692
MM, 180, 2001, S. 3; HELLBRÜGGE ist Professor am Münchner Kinderzentrum und Spezialist auf dem Gebiet der Entwicklungsphysiologie und Entwicklungspathologie sowie der Sozialpädiatrie.
693
KAGAN, Die drei Grundirrtümer der Psychologie
694
BLUM-MAURICE und PAPOUSEK in SZ, 156, 1999, S. 14
348
Kleinkindzeit – Krabbeln – lese- und rechtschreibschwache
Kinder
BIRATH und Kolleginnen695 fanden heraus, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem Auslassen der Krabbelphase und dem Auftreten von Problemen in der Entwicklung (Lernstörungen, Koordinationsprobleme) aufgrund einer Gehirnhälftendominanz besteht.
Ein spezielles Trainingsprogramm für lese- und schreibschwache
Kinder, bei welchem eine Mitarbeit von den Eltern gefordert ist, ist
wie folgt aufgebaut:
 Beginn des Unterrichts mit klassischer Musik
 „Hook ups“ (Jede Person denkt an etwas, was sie besonders gut
kann.)
 verschiedene Gedächtnisübungen (Bilder, Worte, Assoziationen)
 zehn Minuten leises Lesen (wenn nötig mit Unterstützung eines
Kassettenrecorders)
 Rechtschreibübungen (lautes Vorlesen durch den Lehrer;
Schreiben in den Computer) je 5 bis 10 Minuten im Wechsel mit
Brain-Gym-Übungen
 Jeden Tag Vorlesen durch die Lehrkraft (15 bis 20 Minuten).
Gefahr durch Kupfer im Trinkwasser
Weist das Wasser einen niedrigen ph-Wert auf, so wird vor der Verwendung von Kupferrohren als Trinkwasserleitungen gewarnt, da
der Kupfergehalt des Wassers in einem solchen Fall stark erhöht sein
und zu schweren Leberschäden bei Säuglingen führen kann. Eine
mittlere Belastung von zwei Milligramm Kupfer pro Liter Wasser
gilt derzeit als gesundheitlich unbedenklich.696
Im Jahr 1988 starben in Deutschland acht Kinder an einer Leberzirrhose einer bis dahin nur in Indien bekannten und aufgetretenen
Säuglingskrankheit. Verursacht werden kann diese tödliche Erkrankung durch eine chronische Vergiftung mit dem Schwermetall Kupfer.
695
696
BIRATH in :co`med 9/1999, S. 52 und 53
SZ, Nr. 65, 1998, S. I
349
EIFE entdeckte die Ursachen für die Erkrankungen und das Sterben
der Säuglinge: saueres Trinkwasser mit einem ph-Wert zwischen 4
und 6,5, das durch Kupferrohre in die Haushalte geflossen war. Die
erkrankten Babys hatten allesamt mit kupferbelastetem Wasser angerührte Fertignahrung bekommen. Dass nicht nur Lebererkrankungen,
sondern auch Erkrankungen im Magen-Darm-Bereich durch zu stark
kupferhaltiges Wasser ausgelöst werden können, ist eine neue Erkenntnis durch EIFE697 elf Jahre später.
Wie so oft in der Wissenschaft werden unangenehme Erkenntnisse
sofort mit Gegenstudien und anderen Erklärungsversuchen zu entkräften versucht. Entgegengesetzte Positionen werden in diesem Fall
durch das Umweltbundesamt und durch Vertreter der Industrie eingenommen.
Damit soll eine Senkung der Grenzwerte für Kupfer im Leitungswasser vermieden werden.
Die Frage, warum nur wenige Kinder bei einem derart belasteten
Trinkwasser erkranken, beantwortet EIFE mit dem Hinweis darauf,
dass sich Schädigungen erst dann bemerkbar machen könnten, wenn
die bereits geschädigte Leber noch zusätzlich mit einer Virusinfektion konfrontiert wird.
Eine gesunde Leber und ein intaktes Immunsystem könnten eine
solche Erkrankung – im Gegensatz zu einem vorgeschädigten –
bewältigen. Bis jetzt wurden etwa 100 Personen (ältere Kinder und
Erwachsene) in Deutschland aufgespürt, die eine Vergiftung oder
andere Belastungen erlitten haben.
Die Untersuchung von 29 Patienten ergab folgende Befunde:
Symptomatik bei „Kupfergeschädigten“


697
Erbrechen, Magenschmerzen, Durchfall und Darmkoliken
Säuglinge fielen vor allem durch eine ständige Unruhe auf.
SZ, 7, 2000, V2 /13; auch in European Journal of Medical
Research, 1999, Bd. 4, S. 211; EIFE ist Pädiater am Haunerschen
Kinderspital der Universität München; DIETER ist beim Umweltbundesamt tätig; ARENS ist am Deutschen Kupferinstitut, dem
Forschungsinstitut der Industrie, tätig.
350
Es wird von einem Baby berichtet, das nach der Umstellung auf
Flaschennahrung trotz ausreichender Flüssigkeitszufuhr bei den
Eltern zu Hause ständig schrie.
Dazu EIFE: „Bei der Oma dagegen, die keine Kupferleitungen im
Haushalt hatte, war der Säugling stets ruhig und zufrieden.“
Erst eine Untersuchung der Kupferwerte machte die bedenkliche
Erhöhung deutlich. Etwa 60% aller deutschen Haushalte sind mit
Kupferleitungen ausgestattet. Vor dem Einfluss in die Rohre enthält
das Wasser fast kein Kupfer.
Normalerweise wird dieses wichtige Spurenelement in ausreichender
Menge über die Nahrung aufgenommen. Durch die Leber werden
überflüssige Kupfermengen ausgeschieden. Pro Kilogramm Körpergewicht kann die Leber ca. 50 Millionstel Gramm Kupfer pro Kilogramm Körpergewicht ausscheiden.
Ein Erwachsener mit einem Körpergewicht von 70 Kilogramm kann
so täglich einen Liter Wasser mit bis zu 6 Tausendstel Gramm Kupfer trinken. Die Trinkwasserleitlinien der WHO legen die Hälfte als
erlaubt fest.
Babys nehmen jedoch dreimal soviel Flüssigkeit pro Kilogramm
Körpergewicht auf wie Erwachsene. Allerdings ist deren Leber nicht
in der Lage, dem Erwachsenen entsprechende Mengen zu verarbeiten.
Die Grenze, ab welcher die Kupferkonzentration gefährlich ist, ist
nicht bekannt. EIFE sieht jedoch Werte ab 0,3 Milligramm pro
Liter für Säuglinge als bedenklich an.
Es gibt in Deutschland Gegenden (Bayerischer Wald, Emsland, Eifel
oder südlicher Schwarzwald), in denen beim Vorhandensein von
Kupferrohren die Werte oftmals höher sind.
DIETER geht von einem Gesundheitsrisiko erst ab 8 bis 10 Milligramm pro Liter aus.
Innerhallb der nächsten zwei Jahre (bis zum Jahr 2002) soll der
Grenzwert auf zwei Milligramm pro Liter europaweit gesenkt werden.
ARENS vermutet nur Schädigungen, wenn zu einem erhöhten Kupfergehalt im Wasser ein defektes Gen hinzukommt. Er stützt seine
Meinung auf eine dazu veröffentlichte Studie österreichischer Mediziner.698
698
Journal of Pediatrics, 1999, Bd.135, S. 189
351
Seit 1997 werden immer weniger reine Kupferrohre ausgeliefert. Die
Leitungen sind innen seitdem meistens mit einer Schutzschicht aus
Zinn versehen.
Hautleiden an belebten Verkehrsstraßen 699
Eine Studie an 3700 Schulanfängern ergab, dass Kinder, die an stark
befahrenen Straßen leben, einer erheblich höheren Stickstoffbelastung ausgesetzt sind als Landkinder. Sie erkranken deshalb häufiger
an der stark juckenden Hautkrankheit Neurodermitis. Zudem wurde
festgestellt, dass Mädchen häufiger erkranken als Buben. Von den in
verschiedenen Stadt- und Landgebieten untersuchten Kindern waren
12% der Mädchen und 8% der Buben zumindest leicht erkrankt.
Kurzsichtigkeit durch Schlafen bei nächtlicher
Zimmerbeleuchtung
Nach einer in den USA an 479 Kindern durchgeführten Studie steht
das Schlafen von Kindern (besonders in den ersten zwei Lebensjahren) bei brennender Nachtleuchte in engem Zusammenhang mit der
Entstehung von Kurzsichtigkeit.
So wurde jedes dritte Kind kurzsichtig, wenn während der Nachtstunden eine Nachttischlampe brannte. Bei hellem Licht entwickelte
sich bei jedem zweiten Kind eine Kurzsichtigkeit. Wurde im völligen
Dunkel geschlafen, war die Entstehung von Kurzsichtigkeit nur bei
jedem zehnten Kind zu beobachten.700
SCHAEFFEL zu dieser Studie: Es sei denkbar, dass Eltern, die
nachts das Licht anlassen, nicht nur sehr ängstlich sind, sondern auch
ein familiäres genetisches Fehlsichtigkeitsrisiko haben. Kurzsichtig
werden Kinder erst im Schulalter, und da sollten sie nie bei schwachem Licht lesen.701
699
MM, 235, 2001, S. 1; die Studie wurde in München auf dem 10.
Kongress der Europäischen Akademie für Dermatologie vorgestellt.
700
MM, 270, 1999, S. 3, und „Ärztliche Praxis“ 51/90
701
MM, 263, 1999, J 4; SCHAEFFEL ist Pathophysiologe an der
Universität Tübingen.
352
Leseschwäche – Erkennung bei Säuglingen
MOLFESE zeichnete die Gehirn-Muster von 186 Neugeborenen auf
und versuchte acht Jahre später Zusammenhänge zwischen der bei
24 Kindern eindeutig diagnostizierten Legasthenie und den wenige
Stunden nach der Geburt gemessenen Hirnströmen herzustellen. Bei
22 Kindern war dies aufgrund charakteristischer Merkmale möglich.
Nun wird in einer weiteren Studie erforscht, ob ein Screening zur
Früherfassung sinnvoll sein könnte.702
Manager-Babys
Besonders berufstätige Eltern neigen dazu, sich abends intensiv mit
ihren Kindern zu beschäftigen. Dabei überfordern sie oftmals die
Kleinen und schaden ihnen. Es besteht die Gefahr, dass sich durch
diese Überforderung die Entwicklung der Kinder verlangsamt. Solche Kinder hätten später oft Konzentrationsschwierigkeiten und
Probleme damit, Freunde zu finden.703
MELMED warnt vor einer Überforderung, da sich Kinder, deren
Eltern sich übertrieben um sie kümmerten, damit sie besonders aufgeweckt würden, auf der Verstandes- und Gefühlsebene zurückentwickelten. Vor allem in den ersten Jahren bräuchten die Kinder Zeit,
um die Welt für sich selbst zu entdecken.
Misshandlungen
Frühgeborene Kinder, untergewichtige Neugeborene, Säuglinge und
Kleinkinder mit abweichendem Aussehen oder behinderte Kinder
sind besonders misshandlungsgefährdet 704 (siehe auch das Kapitel
„Die Gewaltgesellschaft“).
Muttermilch – Belastung mit Schadstoffen
In der Milch stillender britischer Mütter wurden mehr als 350 Schadstoffe nachgewiesen. Darunter befanden sich chemisch Substanzen
702
New Scientist, Nr. 2200, und in MM, 222, 1999, J 4
MM, 88, 2000, S. 9; Warnung von Kinderpsychologen auf einer
Konferenz in London; MELMED ist amerikanischer Erziehungswissenschaftler; in SZ, 89, 2000, S. 16
704
Gesundheitsbericht für Deutschland, 1998
703
353
aus Parfüms, Insektengiften und Sonnenmilch. Die Dioxinmenge, die
britische Säuglinge über die Muttermilch zu sich nehmen, ist nach
der Studie des WWF bis zu 42mal höher als der zugelassene Grenzwert.705
Dazu die britische Regierung: „Die Gesamtmenge, über die wir
hier reden, liegt deutlich über dem Wert, den man abkriegen
darf.“
WEISS empfiehlt den Müttern in Deutschland: „Wir raten zum
Vollstillen bis zu einem halben Jahr oder auch länger.“
Nach Auskunft des BgVV ist die Konzentration von PCB und Dioxin in der Muttermilch in den letzten zehn Jahren um mehr als 50%
zurückgegangen.
Psychosen im Wochenbett
M. PAPOUSEK: „Jede vierte Mutter ist hoch belastet und überfordert mit dem Anspruch, sofort eine enge Beziehung zu ihrem Kind
aufzubauen.“706
Die Psychosen dauern bei Wöchnerinnen, die durch eine Partnerkrise, Arbeitslosigkeit oder Armut belastet sind, Wochen, Monate oder
Jahre. Diese Mütter leiden unter Wahnvorstellungen, unkontrollierten Wutausbrüchen oder auch unter tiefen Depressionen. Ohne entsprechende Hilfe besteht die Gefahr, dass sie ihr Kind vernachlässigen oder auch misshandeln.
Die Babys von solch psychisch kranken Müttern werden später häufig schwierige Kinder.
Die Entwicklung von Beziehungsstörungen ist oftmals vorprogrammiert.
PAPOUSEK verweist auf eine Studie aus den USA, wonach sich nur
ein Drittel der Kinder von Müttern mit einer manisch-depressiven
Störung unauffällig entwickelte. Dieses eine Drittel hatte aber zumindest eine stabile Bezugsperson. Ein weiteres Drittel litt an einer
schweren seelischen Störung, die jedoch durch eine Behandlung
verschwand. Beim letzten Drittel entwickelten sich bleibende psychische Störungen.
705
MM, 162, 1999, J 4; Studie des World Wide Fund For Nature;
Magdalene WEISS ist Präsidentin des Bundes Deutscher Hebammen; BgVV (Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz
und Veterinärmedizin in Berlin)
706
MM, 281, Weihnachtsaktion
354
Schmerzempfinden
Führende deutsche Anästhesisten berichten, dass das Schmerzempfinden bereits ab der zwölften Schwangerschaftswoche entwickelt
sei.
Die bisherigen Vorstellungen über ein vermindertes Schmerzempfinden bei Babys gelten als veraltet. So kann bereits ein kleiner
„Pieks“ beim Einstich einer Nadel Traumata im späteren Leben zur
Folge haben.707
Besonders auf Impfungen sollte nach Ansicht des Verfassers deshalb
möglicherweise in der ersten Zeit verzichtet werden.
Schmerzmittel – Einnahme während der Schwangerschaft –
Risiko einer Fehlgeburt708
Ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Fehlgeburt besteht für Schwangere, wenn sie zu Beginn ihrer Schwangerschaft bestimmte
Schmerzmittel einnehmen. Besonders die Arzneien aus der Gruppe
der nicht-steroidalen antientzündlichen Mittel (NSAID) stellen ein
Risiko für Schwangere dar. Mittel wie „Brufen“ (deutscher Wirkstoffname:Ibuprofen), „Naprosyn“ (deutscher Wirkstoffname: Naproxen), aber auch Arzneitmittel wie Aspirin zählen zu der untersuchten Gruppe. Frauenärzte raten werdenden Müttern vorsorglich
zu einem Verzicht auf derartige Mittel während der gesamten
Schwangerschaft.
Schreikinder
Zur Zeit werden jährlich etwa 1500 „Schreikinder“ aus ganz Bayern
im Kinderzentrum München vorgestellt.709
PAPOUSEK weist darauf hin, dass die Mütter von Schreikindern
oftmals selbst eine psychische Behandlung benötigen, da sie das
ständige Gebrüll der Kleinen als „dauernde Bescheinigung, dass sie
es nicht schaffen, empfinden.“710
Schreien und übermäßige Unruhe sind nicht immer ein Zeichen
dafür, dass einem Baby etwas fehlt, oder dafür, dass die Eltern etwas
falsch machen. Besonders bei Frühgeborenen wird das Schreien als
707
MM, 15, 1999, S. 1
MM, 28, 2001, S. 1, und im British Medical Journal
709
MM, 23, 2000
710
SZ, 156, 1999, S. 14
708
355
Ausdruck einer verzögerten Reifung des Nervensystems angenommen. Das Schreien kann auch schlicht als Anzeichen für ein schwieriges Temperament oder als individuell unterschiedliche Reaktion
auf Missempfindungen gedeutet werden. Diese Reaktionen sind
angeboren.
Eine weitere Erklärungsmöglichkeit kann ein unausgesprochener
Beziehungskonflikt der Eltern sein, der von den Babys, die mit feinen Sensoren zur Erfassung des emotionalen Klimas der Umwelt
ausgestattet sind, erfasst werden. Kinder, die eine von den Eltern
aufgebürdete Last tragen, entwickeln sich in vielen Fällen zu schwierigen Kindern.
Schreikinder schlafen grundsätzlich viel zu wenig. Fütter- und Essstörungen treten oftmals im Zusammenhang mit dem exzessiven
Schreien auf. Junge Mütter entwickeln in diesem Zusammenhang
häufig Schuldgefühle die durch eine übertriebene Zuwendung zu
dem Baby kompensiert werden. Nach M. PAPOUSEK wirkt sich
diese Situation ganz besonders auf psychisch oder sozial bereits
schwer belastete Mütter aus. Deren Kinder entwickeln in hohem
Maße Angststörungen oder sie verhalten sich ablehnend gegen ihre
soziale Umwelt. Auch die Reaktion mit Hyperaktivität ist häufig zu
beobachten.
Kinderärzte diagnostizieren bei echten Schreikindern immer wieder
sogenannte „Dreimonatskoliken.“ Dagegen wird das Schreien durch
eine Störung der Schlaf-Wach-Regulation verursacht.711
Schütteltrauma
Oftmals versuchen genervte Eltern, ihre Säuglinge durch heftiges
Schütteln zur Ruhe zu bringen. Dadurch kann den Säuglingen ein
lebensbedrohliches Hirntrauma zugefügt werden.
Äußerlich ist das Trauma an einer Schädelschwellung zu erkennen.
Sonnenbrand – Hautkrebs712
Besonders bei kleinen Kindern kann ein Sonnenbrand zur späteren
Entstehung von Hautkrebs führen.
711
712
MM, 281, Weihnachtsaktion
Nature, 2001, Bd. 413, S. 271, und in SZ, 221, 2001, V2 /13
356
Tierversuche mit wenige Tage alten Ratten zeigten, dass die Bestrahlung mit UV-Licht in der Folge zu Hautkrebs führten. Ratten besitzen jedoch im Vergleich zum Menschen mehr Tumorvorläuferzellen.
Unter Stress – dazu zählt auch UV-Licht teilen diese sich vermehrt.
Auch wenn die Ergebnisse der Tierversuche nicht direkt auf den
Menschen übertragen werden können, so lassen sich dennoch aus
älteren epidemiologischen Studien Erkenntnisse ableiten, die auf
einen Zusammenhang zwischen starker Sonnenbestrahlung der Haut
und der Entstehung von Hautkrebs hinweisen.
Tödliches Schütteln
Durch das heftige Schütteln der Säuglinge können Nervenfasern im
Genick reißen, die für die Kontrolle der Atmung zuständig sind, da
der Kopf verhältnismäßig groß und die Nackenmuskeln noch sehr
schwach sind. Die Obduktion von 53 Säuglingen ergab, dass drei
Viertel der Babys nicht an einem akuten Gehirntrauma, sondern
wegen eines Atemstillstandes gestorben waren. GEDDES: „Wir
fanden die Ursache genau dort, wo das Gehirn mit dem Rückenmark
verbunden ist.“713
Besonders sehr junge und sozial schwache Väter neigen dazu, Kinder durch starkes Schütteln zum Schweigen oder zum Schlafen zu
bringen. So berichtet eine Teenager-Mutter:
„Wenn er wollte, dass Marie schläft, hat er sie geschüttelt, bis sie
still war.“714
Silikonschnuller
Schnuller, die Silikon enthalten, geben Stoffe ab, die Allergien auslösen können, da sie in vielen Fällen Spuren von Verbindungen mit
dem Schwermetall Platin enthalten. Dieses Metall lagert sich bei
Kleinkindern in Nieren und Leber ein und steht im Verdacht, ein
möglicher Auslöser für Asthma zu sein. Warnhinweise auf den entsprechenden Produkten fehlen häufig, ebenso der Hinweis, dass
durch das dauernde Nuckeln die Entstehung von Karies begünstigt
wird.
713
SZ, 144, 2001, V2 /12; GEDDES arbeitete am Royal London
Hospital.
714
SZ, 180, 2001, S. 3
357
Stillen – Übergewicht – Allergien – Infektionsschutz – HIV
Ein Risiko für Übergewicht im Schulalter wird nach einer Studie an
9357 Kindern, die durch die Stiftung Kindergesundheit und das
Land Bayern gefördert wurde, durch ausschließliches Stillen vermindert. Eine Gruppe von drei bis fünf Monate nach der Geburt
gestillter Kinder zeigte im Vergleich zur Kontrollgruppe 35% seltener Übergewicht.715
In den sechziger und siebziger Jahren wurde von vielen Medizinern
vom Stillen abgeraten, da angeblich die Muttermilch mit zu vielen
Schadstoffen belastet sei.
Muttermilch senkt das Infektionsrisiko in den ersten zwei Lebensmonaten um ein Sechstel.716 Es besteht weiterhin jedoch Unklarheit
darüber, ob HIV-infizierten Müttern zum Stillen geraten werden
sollte.
Stillen – Intelligenz
Eine neuseeländische Untersuchung zeigt einen „geringen, aber doch
feststellbaren Zusammenhang“ auf zwischen dem IQ lang gestillter
Kinder und solcher, die in den ersten Lebensmonaten nur die Flasche
bekommen hatten.717
Kinder, die mehr als acht Monate gestillt worden waren, erreichten
im Alter von acht und neun Jahren einen höheren IQ als die Nichtgestillten. Zwischen zehn und 13 Jahren können sie besser lesen und
rechnen. Auch der bessere Abschluss der Studien wurde festgestellt.
BERDEL718 empfiehlt: „Mütter sollten die ersten vier bis sechs Monate selbst stillen“. Eine gesunde Ernährung sei sehr wichtig, da
Allergien immer mehr zunehmen. „Alle zehn Jahre verdoppeln sie
sich.“
715
MM, 163, 1999, S. 3
Lancet, Bd. 355, 2000, S. 451
717
Pediatrics,1, 1999 in SZ, 5, 1999, S. 12
718
MM, 216, 1999, S. 4; BERDEL ist Professor in München und
leitet dort ein Institut für die spezielle Diät bei Neugeborenen.
716
358
Mütter, die nicht selbst stillen können, sollten unbedingt wärmebehandelte Milch verwenden, da durch diese Methode Proteine gespalten werden können und somit verträglicher werden.
Die so behandelte Milch löse nach dem Ergebnis von Studien seltener Allergien aus.
Stillen beugt Allergien vor
BAUER: „Allergien sind nicht angeboren, sondern erworben.“719
Bisher galten Stillen und die sogenannte hypoallergene (allergenarme) Ernährung als Mittel, die Kinder möglichst gesund zu halten.
Allergologen übeprüften diese These Mitte der Neunziger in der
sogenannten „GINI“-Studie. Im Zeitraum zwischen 1995 und 1998
wurden 2252 Neugeborene aus Wesel und München beobachtet. Alle
Kinder stammten aus allergievorbelasteten Familien. Die Kinder
wurden in zwei Gruppen aufgeteilt:
Gruppe 1 (900 Säuglinge) wurde in den ersten sechs Lebensmonaten
ausschließlich gestillt.
Gruppe 2 wurde zusätzlich mit unterschiedlich behandelten hypoallergenen Milchprodukten oder reiner Kuhmilch ernährt.
Das Ergebnis: Stillen und die Ernährung von Säuglingen mit hypoallergenen Produkten verringerten die Allergiewahrscheinlichkeit um
50%. Nach BAUER werden die Weichen schon früh gestellt. Besonders in vorbelasteten Familien kann Stillen oder eine besondere Ernährung schon in den ersten Lebensmonaten einem Kind das spätere
Allergikerleben vielleicht ersparen.
TBT (Tributylzinn, ein Hormongift) in Babywindeln720
Dieser hochgiftige Stoff ist laut Greenpeace bei sechs Windelsorten
von drei Herstellern nachgewiesen worden.
719
MM, 248, 2001, S. 3; BAUER ist Professor und Leiter des
Bereichs Kinderrehabilitation an der Kinder- und Poliklinik der
Technischen Universität in München.
720
SZ, 110, 2000, S. 16; Andrea FISCHER ist Gesundheitsministerin
in Deutschland.
359



„PampersBaby Dry“ von Procter&Gamble
Fixies UltraDry von der Paul Hartmann AG
United Colors of Benetton Junior unisex von Ledysan
Alle drei Firmen wiesen den Vorwurf zurück, bei der Herstellung
TBT zu verwenden. FISCHER betonte, von den Windeln gehe „keine akute Bedrohung“ aus.
Der gefährliche Stoff (er gilt als der giftigste, der je hergestellt wurde) werde über die Haut aufgenommen und vergifte Mensch und
Umwelt. Bereits in geringen Konzentrationen kann das Immunsystem des Menschen geschädigt und das Hormonsystem beeinträchtigt
werden. Zudem besitze es einen vermännlichenden Effekt und begünstige das Entstehen von Tumoren.
Vitamin-D-Gaben und deren vermuteter medizinischer Effekt
Möglicherweise trägt nach einer Studie721 an sieben europäischen
Forschungszentren eine ausreichende Versorgung mit Vitamin D im
Kindesalter dazu bei, dass Kinder weniger häufig an Diabetes vom
Typ 1 erkranken. Diese Form manifestiert sich bereits im Kindesund Jugendalter. Die Eltern von gesunden und zuckerkranken Kindern wurden befragt ob sie ihren Kindern Vitamin D zur Vorbeugung gegen Knochenschäden wie Rachitis gegeben hatten.
Eine Veränderung der Abwehrkräfte durch Vitamin D wird nun
angenommen, da ein Defekt im Immunsystem als eine mögliche
Ursache für die Entstehung von Diabetes angesehen wird.
GRAF722 weist darauf hin, dass die Unterscheidung von wasserlöslichen (B-, C-) und fettlöslichen (A-, E-, D-, K-) Vitaminen beachtet
werden muss. Er betont:
„Für die ungewöhnlich hohe Zufuhr an fettlöslichen Vitaminen gibt
es im menschlichen Organismus keine schützende Regulation.“
Überdosierungen und lange Anwendungen stellen so immer ein
hohes Risiko dar.
721
in MM, 216, 1999, J 4;
GRAF,1996, Kritik der Arzneiroutine bei Schwangeren und
Kindern; GRAF ist ein nach klassisch homöopathischen Prinzipien
arbeitender Frauenarzt mit Praxis in Plön.
722
360
Durch Überdosierungen von Vitamin D entsteht ein zu hoher Blutcalciumspiegel und damit die Gefahr der Entstehung von Arteriosklerose.
Vitamin D ist natürlicherweise in verschiedenen Nahrungsmitteln
enthalten:
Fisch, Lebertran, Eier, Milch, Pilze. Der menschliche Organismus ist
nur in der Lage, Vorstufen von Vitamin D herzustellen. Sonnenstrahlen und weitere Umbauvorgänge in Leber und Niere tragen zum
Beginn der Hormonaktivität bei. Auch das Stillen ist ein wichtiger
Faktor zu einer gesunden Vitamin-D-Versorgung.
Die schädigende Wirkung von Vitamin-D-Stößen wurde erst durch
LINDEN in ihrem ganzen Ausmaß der Öffentlichkeit zugänglich
gemacht. Erst jetzt werden die Dosierungen so weit reduziert, dass
möglicherweise keine Nebenwirkungen zu erwarten sind.
LINDEN723 bemerkt zur staatlich geförderten Verabreichung von
Vitamin D in Form von sogenannten Vigantolstößen in den 20ger
Jahren und noch Jahrzehnte danach:
„Meist erhielten und erhalten die Säuglinge auch heute noch in einem Vigantolstoß zwei oder drei Tabletten, also 400 000 bis 600 000
Einheiten, und zwar dreimal im Lauf des ersten Lebensjahres, zum
ersten Mal oft schon in der Gebärklinik. Auf diese Weise wird der
Kalk in die kindlichen Knochen und Gewebe geradezu hineingepresst, und die Wirkung ist oft erstaunlich: Es tritt eine rasche Verhärtung der Knochen und des Bindegewebes ein. Die Lösung des
Rachitisproblems schien gesichert zu sein; leider war das ein Irrtum .
. . Meine ablehnende Haltung gegenüber der Anwendung von Vigantolstößen basiert auf folgendem Erlebnis:
1923/24 wurde mir als jungem Assistenzarzt die Sektion eines
zehnmonatigen Säuglings übertragen, der aus zunächst völlig ungeklärter Ursache gestorben war . . . Bei der histologischen Untersuchung der Organe des Kindes ergab sich eine Arterienverkalkung der
Lungenarterien, die so stark war, dass das Kind langsam daran ersticken musste. Dies war ein geradezu sensationeller Befund: der erste
bekannt gewordene Fall, dass ein Säugling an Adernverkalkung, also
an einer Alterserkrankung gestorben war . . . Später im Koreakrieg
wurde allerdings bei den neunzehnjährigen gefallenen Amerikanern
723
LINDEN, 1982, S. 419 bis 421; LINDEN war ein anthroposophisch orientierter und arbeitender Kinderarzt.
361
in großem Umfang Verkalkung, besonders der Kranzarterien des
Herzens, gefunden, und 1953 beschrieb die Pathologin Frau Professor SCHMIDTMANN Gefäßverkalkungen, die sie mehr als zufällig
bei 240 kleinen Kindern beobachtet hatte, darunter auch bei einem
im Alter von sechs Monaten plötzlich an Herztod gestorbenen Säugling. Die Sektion ergab eine Herzschlagaderverkalkung mit Narben
der Herzmuskulatur und einer frischen ausgedehnten Durchblutungsstörung. Alle diese Kinder hatten die üblichen Vigantolstöße erhalten; . . . “
Vielleicht sind hier auch Zusammenhänge zum SIDS (Sudden Infant
Death Sndrome) zu sehen. Die Vielfalt der verschiedenen Faktoren
in der heutigen Zeit könnten für das Phänomen des plötzlichen
Kindstodes verantwortlich sein:
Die Kombination von verschiedenen Impfstoffen mit gefährlichen
Konservierungsstoffen, die vorbeugende Vitaminverabreichung und
der frühzeitige Gebrauch von Medikamenten.
Auch nach 1961 wurde immer wieder über Zusammenhänge von
Herz- und Gefäßerkrankungen und einem zu hohem Kalkgehalt im
Blut berichtet, der von Vitamin-D-Gaben abhängig ist.
LINDEN/WOLFF dazu: „Die Folge einer derartig starken und vorzeitigen Mineralisierung des kindlichen Körpers ist – neben anderen
Schäden – eine Bewusstseinsveränderung, die sich zunächst allerdings in zu großer Wachheit äußern kann, dann aber im Verlaufe von
Jahren zu einer Einschränkung des Denkvermögens und der geistigen Entwicklung führt.“724
Auch hier ist es nach Ansicht des Verfassers wichtig, nicht nur den
einen Faktor, sondern das synergistische Zusammenwirken aller
Faktoren für das Auftreten einer belastenden Symptomatik verantwortlich zu machen.
Eine gesunde Lebensweise und Ernährung ist wesentliche Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung des Menschen. Sie muss bereits lange vor der Geburt des Kindes beginnen. Medikamente und
Vorbeugemaßnahmen sind in den meisten Fällen unnötig, werden
aber aus Mangel an Verantwortungsbewusstsein und aus dem Grund,
724
Kinderkrankheiten und Entwicklungsstörungen, 1989, 48, S. 49
362
den Kindern Krankheiten ersparen zu wollen, in großem Ausmaß in
Anspruch genommen. Auch der unreflektierte Einsatz von Impfungen gehört zu diesen Maßnahmen.
Baby und Partnerschaft
FTHENAKIS weit darauf hin, dass die Geburt so drastisch wie kein
anderes Ereignis das Leben verändere. In der Folge dieses Ereignisses seien die jungen Eltern gezwungen, ihren Alltag neu zu organisieren und die Rollen neu zu bestimmen. Depressionen seien bei
Frauen, die aus dem Beruf ausstiegen, besonders häufig. Zusätzlicher
Frust werde durch die sexuelle Lustlosigkeit der jungen Mütter ausgelöst. Eine Untersuchung des GALLUP-INSTITUTS weist darauf
hin, dass jede fünfte Partnerschaft an den ungewohnten Problemen
zu zerbrechen droht.725
725
MM, 106, 1999, S. 1
363
Neuere Erkenntnisse zur Kinder- und Jugendphase
Kindergartenzeit -Schulzeit
Aggressionen
Die Grundlage für spätere Gewalt wird nach der Ansicht von Experten meist in der Kindheit gelegt726.
Name
LÖSEL
Funktion
Psychologe, Erlangen
MÖCKEL
Sonderpädagoge,
Würzburg
726
MM, 72, 2000, S. 3
Rat
Eltern sollten bei Anzeichen von
Gewalt bei ihren Kindern rechtzeitig Rat suchen.
(Hyperaktivität, Attacken gegen
Eltern und andere Kinder, Tierquälerei) Etwa 5% aller männlichen
Jugendlichen neigen deutlich zu
Gewalt; der Nachahmungseffekt spielt eine wesentliche Rolle
bei dem Zustandekommen von
Gewalttaten gegen Lehrer.
Kinder müssen frühzeitig die
Grenzen aufgezeigt bekommen.
„Gewaltanmaßung zur falschen
Zeit, am falschen Ort“ muss verhindert werden; Konfliktsituationen müssen grundsätzlich geklärt
364
SCHNELL Medienpädagoge,
München,
Institut:
Jugend –Film –
Fernsehen
STRENG
Kriminologe,
Erlangen
werden.
Soziale Faktoren aus dem Umfeld
der Kinder sind meist die Hauptursachen. Durch das Fernsehen
können diese Faktoren verstärkt
werden. Kinder achten darauf, wie
im Fernsehen Konflikte gelöst
werden. Verhaltensweisen können
daher übernommen werden, der
Vorsatz dafür müsse aber schon
vorher vorhanden sein.
Spricht sich gegen schärfere Gesetze aus. „Wegsperren ist keine
Lösung.“ Ein erzieherisches Vorgehen ist nötig. In Extremfällen ist
auch eine zwangsweise Unterbringung in intensivpädagogischen
Einrichtungen nötig.
Allein erziehen macht arm und krank727
Bei allein erziehenden Frauen liegt nach einer schwedischen Studie
das Risiko eines frühen Todes um 70% höher als bei Frauen, die ihre
Kinder zusammen mit einem festen Partner erziehen.
Allein erziehende Frauen leiden zudem stärker an Depressionen,
unter Stress und Überarbeitung. Außerdem sind sie sechs Mal so
häufig auf Sozialhilfe angewiesen.
Allergien
ZIMMERMANN728 vertritt die Ansicht, dass übertriebene Sauberkeit Kinder krank macht. Sowohl Infektionen als auch eine „gesunde“ Portion Schmutz trainieren auf Dauer das Immunsystem, während zu viel Hygiene möglicherweise eine spätere Allergiebereit727
SZ, 83, 2000, S. 16, und im britischen Gesundheitsmagazin
„Lancet“
728
SZ, 174, 2000, S. 12; ZIMMERMANN ist Leiter der Kinder- und
Poliklinik der Universität Erlangen-Nürnberg.
365
schaft fördere. Diese Erkenntnisse gehen auf Untersuchungen von
ostdeutschen, polnischen und schwedischen Kindern zurück. Kinder
aus Ostdeutschland und Polen litten trotz des geringeren hygienischen Standards deutlich weniger an allergischem Asthma als die
westdeutschen oder schwedischen.
Das brauchen Kinder wirklich:729
 Viele (tägliche) Gespräche mit Familienangehörigen
 Erklärungen auf ihre Fragen zur Welt
 Maßstäbe und Begrenzungen
 Körperliche Nähe und Augenkontakt bei Gesprächen – sonst
reduziert sich ihre Sprechfähigkeit und damit auch das Denkvermögen
 Mütter, Väter, Geschwister und Großeltern (das Altwerden beobachten, Krankheit, Verlangsamung, Sterben)
 Ziele (entsprechende Anregungen müssen vorausgehen)
 Die Möglichkeit, Wurzeln zu schlagen (Familie, Vereine,
Freunde)
 Rituale und Tiefe – auch zu Hause
 Sonne, Sand und Strand, am besten immer am gleichen Ort, wo
sie sich auskennen und Freunde treffen
Diabetes
In Europa erkranken immer mehr Kinder am Diabetes Typ 1. Diese
Erkrankung macht ein lebenslanges Spritzen von Insulin nötig.
Pro Jahr stieg im Zeitraum zwischen 1989 und 1994 die Zahl der neu
erkrankten Kinder unter 15 Jahren um 3,4%. Bei den unter Fünfjährigen war der Anstieg mit 6,3% besonders hoch. Regionale Unterschiede geben zu der Vermutung Anlass, dass Umweltfaktoren oder
aber Infektionen kurz vor oder nach der Geburt eine Rolle bei diesem Prozess spielen.730
729
730
SZ, 99, 2000, VI; nach Astrid von FRIESEN
SZ, 67, 2000, V2 /11;
366
Möglicherweise sind auch Impfungen als Auslöser für Diabetes und
Hypoglykämie in Betracht zu ziehen. Dazu COURNOYER: „Kleinkinder, bei denen schwere Komplikationen auftreten, leiden
möglicherweise an einer Störung des Glucosegleichgewichts.“731
MENDELSOHN zu einem möglichen Zusammenhang zwischen der
Masern-Impfung und dem Auftreten von juvenilem Diabetes: „Andere neurologische und manchmal tödliche Störungen, die mit
dem Masernimpfstoff in Zusammenhang gebracht wurden, sind
Ataxie (Störung in der Koordination von Muskelbewegungen),
geistige Retardierung . . . juveniler Diabetes . . . und Krebs.“732
Hörschäden
Eine Hörbehinderung bleibt bei vielen Kleinkindern unbemerkt. Nur
etwa 50% aller Fälle von frühkindlicher Schwerhörigkeit werden
durch die Untersuchungen von Risikokindern (Fehlbildungen an
Kopf oder Hals sowie Kinder aus Familien, in denen es bereits
Schwerhörige gibt) erkannt.
Schwerhörigkeit kann auch durch eine Röteln-Erkrankung der Mutter während der Schwangerschaft oder durch die Einnahme von
Medikamenten in der Schwangerschaft verursacht werden.
Werden die Hörschäden erst nach Jahren entdeckt, so sind bereits
schwere Verzögerungen in der Sprachentwicklung eingetreten. Spätestens mit acht Monaten benötigen schwerhörige Kinder ein Hörgerät, da andernfalls ein uneingeschränktes Sprechenlernen nicht möglich ist.
Auch durch Knalleffekte von Spielzeugpistolen können Hörschäden
ausgelöst werden. Diese „Knall-Traumata“ sind vor allem bei Kindern zu beobachten. Mit üblichen Audiometrie-Geräten (bis 8 kHz)
sind sie nach Ansicht von FLEISCHER733 nicht richtig zu erfassen.
Für solche Fälle wird eine erweiterte Hochton-Hörmessung (bis 16
kHz) empfohlen. In Gießen allein wurden 23 Fälle von Hörschäden
dokumentiert, die durch Spielzeugpistolen verursacht wurden. Meist
wurden die Pistolen direkt am Gehörgang abgefeuert. Dabei wird ein
731
Cynthia COURNOYER, 1996, S. 85
MENDELSOHN, 1990, S. 238
733
FLEISCHER in „Ärzte-Zeitung“, 1999, 24/18; FLEISCHER ist
Hörforscher an der Universität Gießen.
732
367
Lärm von mehr als 135 Dezibel verursacht. Über 84 Dezibel gelten
bereits als Risiko für Schwerhörigkeit. Der beim Abfeuern erzeugte
Spitzenschalldruck am Ohr ist höher als der beim Schießen mit Bundeswehrgewehren.
Nach ZENNER734 haben alleine durch die Millenniumsfeiern etwa
3000 Menschen Hörschäden erlitten.
Eine weitere Ursache für die Zunahme von Hörschäden sind auch in
den Gewohnheiten der Eltern begründet.
Mehr als 25% der Kindergartenkinder in Deutschland leiden nach
PLATH inzwischen an Störungen der Sprachentwicklung. Vier
hauptsächliche Faktoren seien dafür ausschlaggebend:




chronische Entzündungen des Mittelohres im Kindes- und Jugendalter
immer weniger Eltern führen mit ihren Kindern noch direkte
Gespräche
die stundenlange, informationslose Berieselung mit Musik
ein ständig laufendes Fernsehgerät
Durch diese beiden kontinuierlichen Schallquellen (Musik und Fernsehgerät) wird die notwendige Ausbildung des Gehirns, die für ein
differenziertes Hören Voraussetzung ist, verhindert.
Intelligenzmindernde Faktoren 735
Schwitzen in der Sauna vermindert nach LEHRL selbst nach ausgiebigem Trinken den Intelligenzquotienten. Erst nach mehr als einem
Tag liege dieser wieder auf dem gewohnten Niveau.
Auch mangelnde Bewegung, zu wenig Kohlenhydrate in der Nahrung und fehlendes Licht kann den Intelligenzquotienten um bis zu
zehn Punkte „nicht unerheblich“ senken.
Im Gegensatz dazu regen körperliche Ertüchtigung und Denksportaufgaben das Gehirn an und machen den Weg für dauerhaft höhere
Leistungen frei.
734
MM, 9, 2000, S. 12; ZENNER ist Direktor der Universitätsklinik
für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde in Tübingen; PLATH ist Arzt
in Recklinghausen.
735
MM, 231, 2001, S. 1; LEHRL ist Medizin-Psychologe an der
Psychiatrischen Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg.
368
Lärm schadet der Seele und dem Herzen
BABISCH weist auf Studien hin, die seelische und körperliche
Schäden als Folgen dauerhafter Lärmbelästigung bestätigen. Ständige Geräuschpegel erzeugen nicht nur eine erhöhte Reizbarkeit bei
den Betroffenen, sondern erhöhen neben dem Blutdruck auch das
Herzinfarktrisiko um ca. 20%.736
Messungen des Schallpegels in Kindergärten ergaben einen gemittelten Schallpegel von 89,1 Dezibel. Der Lärm, der von einem Presslufthammer in sieben Metern Entfernung wahrgenommen wird, ist
damit vergleichbar. Bei Erwachsenen treten Gehörschäden wie bleibende Schwerhörigkeit auf, wenn sie einem dauernden Schallpegel
über 85 Dezibel ausgesetzt sind. Kinderohren reagieren jedoch noch
empfindlicher auf solche Belastungen.
Der Lärmpegel in Montessori-Einrichtungen und WaldorfKindergärten lag signifikant niedriger. Verantwortlich für diese
Tatsache ist laut der Untersuchungsauswertungen der unterschiedliche Umgang des Personals mit den Kindern.737
Ich gebe an dieser Stelle zu bedenken, dass bei dieser Erklärung die
Frage zu stellen ist, ob die Montessori- und Waldorf-Kinder zu Hause nicht auch zusätzlich an andere Verhaltens- und Kommunikationsweisen gewöhnt wurden.
Pubertät – Beginn bei Mädchen abhängig von Depressionen der
Mütter
Leiden Mütter unter Depressionen, so beginnt die Pubertät bei ihren
Töchtern früh. Depressionskranke berichten häufig über Disharmonien in der Partner- und der Eltern-Kind-Beziehung.
Das Einsetzen der frühen Pubertät wird durch die Evolution erklärt.
In der Vorzeit steigerte sich bei Frauen mit unsicherer Zukunft der
Fortpflanzungserfolg durch schnellere körperliche Reife und frühen
Sex.738
736
MM, 267, 1999, S. 1
SZ, 37, 2000, V2 /12
738
MM, 83, 2000, J 4; die Studie wurde im US-Fachblatt „Child
Development“ veröffentlicht (März-Ausgabe);
737
369
Schlaf(-probleme) bei Kindern (und Erwachsenen)
Eine Studie weist nach, dass Schlafprobleme bei Kindern im Vorschul- und Schulalter wesentlich häufiger als bisher vermutet auftreten. Die Kinder fielen Lehrern und Erziehern auf, weil sie häufig
während des Unterrichts ein Nickerchen hielten. Auf Befragung
berichteten die Kinder, dass sie nachts oft aufwachten. OWENS739
weist darauf hin, dass ein Kind unter zehn Jahren für eine normale
Entwicklung täglich zehn bis zwölf Stunden Schlaf benötige.
(Siehe dazu auch im Kapitel: die Mediengesellschaft. – Schlafprobleme durch zu langes und zu spätes Fersehen)
MAQUET740 konnte durch Versuche am Menschen nachweisen, dass
neu Erlerntes im Schlaf wiederholt wird. Diese Tatsache wurde bisher nur durch Versuche an Ratten experimentell bestätigt. In der
Tiefschlaf-Phase waren dieselben Regionen des Gehirns aktiv, wie
bei den vorausgegangenen Reaktionstests. Dies wurde durch eine
Analyse des Blutflusses im Gehirn bestätigt. Es wird vermutet, dass
das Gehirn während des Schlafes das Gelernte wiederholt, um es im
Gedächtnis zu stabilisieren.
Schlechter Schlaf führt nach HAJAK zu weniger Erfolg im Beruf.
Danach bleiben „schlechte Schläfer doppelt so häufig in den unteren
Gehaltsstufen hängen, während gute Schläfer Karriere machen, mehr
verdienen und weiterkommen.“741 Den kurzen Mittagsschlaf sieht er
als „eine der wesentlichen Zukunftsstrategien“ im Beruf.
MAAS: „Das absolute Schlaf-Minimum sind acht Stunden, ideal
zehn Stunden.“742
Der Bundesdeutsche schläft nur durchschnittlich 6,7 Stunden pro
Nacht. Durch eine Steigerung der Schlafdauer von acht auf neun
Stunden erhöht nicht nur das Wohlbefinden, sondern kann gleichzeitig auch die Leistungsfähigkeit am nächsten Tag um 20% gesteigert
werden.
739
Leiterin der Studie: Judith OWENS, Brown Universität, US-Staat
Rhode Island, in Spektrum, MM, 65, 2000, S. 4
740
Nature Neuroscience, 2000, Bd. 3, S. 831
741
SZ, 181, 2000, S. 12; HAJAK ist Vorsitzender der Deutschen
Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin.
742
Naturheilkunde Report, 7 bis 8, 2001, S. 49; MAAS ist Professor
für Schlafforschung in den USA.
370
Schulprobleme
Schule macht Druck auf Schüler, Eltern, Lehrer. Jeder sucht die
Schuld bei seinem Gegenüber.
Wie kann der Druck vermindert werden?
Kinder
 brauchen Freiräume außerhalb der Schule, die sich der Kontrolle
und den Erwartungen der Erwachsenen entziehen
 brauchen die Möglichkeit, die Welt aktiv zu entdecken, körperlich aktiv zu sein
 brauchen Entlastung vom Bewertungsdruck in der Schule
 sollen sich selbst überlassen werden, ohne sie aus den Augen zu
verlieren
 brauchen das Gefühl, von Lehrern nicht nur nach ihrer Leistung
beurteilt zu werden
 schätzen es, wenn Eltern und Lehrer Interesse an ihrer Person
bekunden
 müssen ihre fundamentalen Lebensbedürfnisse befriedigen können (Nahrung, Kleidung, Schlaf, Geborgenheit)
 suchen Grenzen und schätzen sie.
Lehrer
 sollten vor Beginn der Arbeit für die „soziale Hygiene“ im Klassenverband sorgen
 sollten erkennen, dass „Lernen“ im sozialen Bereich eine Voraussetzung für eine effiziente Lernhaltung ist
 sollten zeigen, wie man lernt und darauf aufmerksam machen,
dass Lernen ein Akt geistiger Anstrengung ist, der durch nichts
ersetzt werden kann
 sollten versuchen, den Unterricht abwechslungsreich nach den
Bedürfnissen der Schüler zu gestalten, und dabei keine Angst
haben, sich über bestehende Lehrpläne hinwegzusetzen.
Eltern
 sollten Zeit für ihre Kinder haben
 sollten Grenzen setzen und „nein“ sagen können
371




sollten darauf achten, dass Konflikte in der Familie gemeinsam
besprochen und gelöst werden können
sollten rechtzeitig Hilfe suchen, wenn für sie unlösbare Probleme auftauchen
sollten wissen, dass eine Partnerproblematik sich immer auf das
Lernverhalten der Kinder auswirkt
sollten sich ihrer Vorbildfunktion sehr bewusst sein.
Spielen – und Spielzeuge
RESNIK 743geht davon aus, dass das Ignorieren und Übertreten von
Regeln beim Spiel von Kindern und Jugendlichen nicht aus Vergnügen geschieht. Sie lernen dabei intensiv und bauen so ihr Wissen
über die Welt auf.
„Die Gesetze der Schwerkraft begreifen Kinder nur, wenn sie sie
brechen und einen Turm aus Bauklötzen einstürzen lassen . . . Nicht
alle Gesetze haben ewige Gültigkeit, auch deshalb ist die kindliche
Missachtung für Vorschriften so wichtig. Regeln zu brechen bedeutet auch, Raum für Wandel zu schaffen . . . Die Kinder müssen
schließlich in einer komplexen Welt zurechtkommen, auf die sie die
Schule und Spielzeug bislang nicht halb so gut vorbereiten wie das
Leben selbst . . . “
Über die elektronischen Spielzeugprodukte:
„Von plappernden Robot-Puppen bis zu nichtsaugenden Kinderstaubsaugern – zu viele Spielzeuge sind so sinnlos wie ein singender
Teppich . . . man nimmt sie aus der Box, sie tun, worauf sie programmiert sind, und das war`s dann. Kinder lernen Bedienen, nicht
Entdecken und Entwickeln. Die Kreativität bleibt auf der Strecke.“
TURKLE zum Präsentationsprogramm Powerpoint:
„Kinder lernen das Abrufen von Funktionen, sonst nichts.“
743
SZ, 267, 2001, V2 /11; RESNIK ist Professor am Massachussetts
Institute of Technology (MIT) in Boston; Sherry TURKLE ist
Soziologin am MIT.
372
Vorbildwirkung der Eltern – Autofahren 744
Eltern, die viele Autounfälle verursachen, geben diese Neigung an
ihre Kinder weiter. Das ist das Ergebnis einer Studie mit 140 000
amerikanischen Familien, in der die Unfallzahlen der Eltern mit
denen ihrer 18- bis 21-jährigen Kinder verglichen wurden. Die jungen Erwachsenen, deren Eltern in den vergangenen fünf Jahren in
mindestens drei Verkehrsunfälle verwickelt waren, bauten um 22%
mehr Unfälle als solche, deren Eltern in diesem Zeitraum keinen
Unfall hatten.
Noch größer ist der Zusammenhang zwischen Kindern und Eltern
bei verbotswidrigem Verhalten (zu schnelles Fahren, Missachten von
Rotlicht). Waren Eltern mit drei oder mehr Übertretungen bei der
Polizei aufgefallen, so gerieten die Kinder mit einer um 38% erhöhten Wahrscheinlichkeit ebenfalls mit dem Straßenverkehrsgesetz in
Konflikt.
Das Fahrverhalten wird von FERGUSON auf Nachahmung zurückgeführt. Bei den jungen Männern sei die Neigung zum gefährlichen
Fahren doppelt so groß gewesen wie bei Frauen.
Sexualverhalten von Jugendlichen
Eine Studie, in der 4200 Jugendliche im Alter von 16 bis 21 Jahren
befragt wurden, bestätigte die Vermutung, dass die ersten sexuellen
Erfahrungen immer früher gemacht werden.
BAUR zur Ursache dafür: „Der wachsende Stress wirkt sich auf die
Hormone aus.“745
Weitere Ergebisse der Studie: Global Sex Survey 1999
Einstiegsalter für sexuelle
Erfahrungen in Deutschland
744
Alter in
Jahren
15,6
Angaben in %
oder Zahlen
MM, 231, 2001, S. 6, und Psychologie heute, 11/01; Susan
FERGUSON ist Leiterin der Studie für das Insurance Institute of
Highway Safety in Arlington (Virginia). Die Original-Studie in
„Accident Analysis and Prevention“, Bd. 33, 2001, S. 229
745
SZ, 219, 1999, L 5; Gesine BAUR ist Psychologin und Buchautorin in München.
373
Verhütungsmittel werden
nicht verwendet
Information über
Schwangerschaften
Information über
Geschlechtskrankheiten
Informationen über den Schutz
mit Kondomen
Benutzung von Präservativen
Verzicht auf jeden Schutz
Sexuelle Untreue bei den fest
gebundenen Befragten
Sehen keinen Grund, ihr
Sexualverhalten wegen Aids zu
verändern
Durchschnittliche Anzahl der
Sexualpartner bis zum Alter von
21 Jahren
Durchschnittliches Alter der
ersten Aufklärung
25%
99%
99%
92%
57%
15%
36%
36%
5%
rapide
ansteigende
Tendenz
11,3
Die Aufklärung durch die eigenen Eltern wird von den Jugendlichen
als wenig informativ eingeschätzt; sie erhalten die ersten sexuellen
Informationen von Jugendlichen und Freunden.
Was die Art und Weise sich von Partnern zu trennen betrifft, so
zeigen die Jugendlichen einen immer größeren Einfallsreichtum. Der
Flirt mit anderen, oder aber das Ignorieren von Anrufen stehen an
erster Stelle.
Dieses Verhalten muss in Zukunft zu noch erheblich mehr gescheiterten Ehen führen als jetzt.
Die Jugendlichen werden bei diesem Verhalten in naher Zukunft bis
zu ihrem 21. Lebensjahr durchschnittlich mit etwa zwölf Partnern
Erfahrungen gemacht haben.
Das bei Unterrichtsbesuchen von Lehrern gezeigte Verhalten wird
von BAUR so beschrieben:
„Wenn die das Wort vögeln benutzen müssten, würde ihnen die
Rübe runterfallen.“
374
Erste sexuelle Erfahrungen – Intelligenz
Das Ergebnis einer amerikanischen Untersuchung belegt, dass intelligente Jugendliche die ersten sexuellen Erfahrungen später als
durchschnittlich kluge Altersgenossen machen. Die Wissenschaftler
verglichen die Intelligenz von 300 Teenagern im Alter zwischen 13
und 15 Jahren mit deren Sexualleben. Sie stellten fest, dass mit dem
Anstieg des Intelligenzwertes um einen Punkt die Bereitschaft zum
Geschlechtsverkehr bei Mädchen um 1,7% und bei den Jungen um
2,7% abnahm. Die Forscher begründen dieses Ergebnis mit der
Angst vor möglichen Folgen.746
Stressresistenz von Frauen
Männer neigen im Gegensatz zu den Frauen dazu, gegen den Stress
und andere Herausforderungen anzukämpfen oder zu flüchten.
Frauen dagegen setzen eher auf Hilfe und Gespräche, eine Taktik,
die auch als „Schützen und Kontakt aufnehmen“ bezeichnet werden
kann. Im Gegensatz zu den Männern kümmern sie sich in Stresssituationen um ihre Kinder und tauschten sich mit ihnen aus.
TAYLOR747 macht dafür die beruhigende Wirkung des Hormons
Oxytocin verantwortlich, das Angst nimmt und zugleich die Kontaktaufnahme fördere. Bei Männern wird die Wirkung dieses Hormons durch die männlichen Sexualhormone offenbar abgeschwächt.
Daher ihre spezielle Stressreaktion: „Kampf oder Flucht.“
Übergewicht (siehe dazu auch im Kapitel Ernährung)
Die Schulkinder werden zunehmend dicker und unsportlicher.
BÖS748 kommt zu der Erkenntnis, dass bei unseren Kindern eine
Zeitbombe ticke. Bereits die Grundschulkinder bewegen sich weniger als eine Stunde am Tag. Sie schlafen etwa neun Stunden täglich
und sitzen die gleiche Zeit in der Schule, bei Hausaufgaben und vor
dem Fernseher oder Computer. Die meisten Kinder verbringen täg-
746
Studie der Universitiy of North Carolina; in Focus Nr.10, 4. März
2000
747
Shelley TAYLOR arbeitet an der Universität von Los Angeles.
748
MM, 235, 1999, S. 1; BÖS ist Professor für Sportwissenschaft in
Karlsruhe.
375
lich fünf Stunden mit dem Gehen. Eine Stunde bleibt somit für den
Sport übrig.
„Unsere Kinder sind nicht mehr so fit, dass sie dauerlaufen, klettern
und balancieren können. Was da in einigen Jahren an Gesundheitsproblemen und Folgekosten auf uns zukommt, wird dramatisch.
Einerseits seien die Möglichkeiten im Schulsport nicht ausgeschöpft,
andererseits tragen für diese Entwicklung auch die Eltern eine große
Verantwortung, auch wenn nach neueren Erkenntnissen die Mitschuld an der Fettleibigkeit einem Ur-Gen angelastet wird, das etwa
150 000 Jahre alt ist. SIFFERT hat nach eigenen Aussagen direkt
nachgewiesen, dass dieses ehemals nützliche Gen den raschen Abbau von Körperfett im Körper verhindere, das Bluthochdruck-Risiko
steigere und zugleich für die Stärkung der Körperabwehr gegenüber
Krankheitserregern zuständig sei. Sowohl Bewegungsmangel als
auch Nahrungsüberfluss tragen ihren Teil beim Auftreten von Fettleibigkeit bei.749
Trotz all dieser Erkenntnisse wurden Sportstunden an den Schulen
reduziert und trotz unseres Wissens achtet der Großteil der Menschen in Deutschland zu wenig auf eine gesunde Ernährung. Auch in
Schulen werden immer noch zu viele zuckerhaltige Getränke angeboten und verlangt.
Schüler-Untersuchungen in München haben drastische Zahlen geliefert:750


6% der Kinder sind schon bei der Einschulung zu dick.
15% der Jugendlichen haben Übergewicht und viele von ihnen
Bluthochdruck und zu hohe Blutfettwerte.
Unfälle von Kindern
Jährlich verunglücken in Deutschland ca. 2 Millionen Kinder bei
Sport und Spiel und im häuslichen Bereich. Etwa 200 000 Kinder
müssen aufgrund ihrer Verletzungen stationär behandelt werden. Bei
3000 Kindern bleibe eine dauerhafte Behinderung zurück.
749
MM, 238, 1999, S. 1; SIFFERT ist Professor am Uniklinikum in
Essen.
750
MM, 262, 1999, München
376
Im vergangenen Jahr wurden bundesweit etwa 700 Kinder bei Unfällen getötet.
Neben dem menschlichen Leid entsteht ein volkswirtschaftlicher
Schaden in Höhe von 2,4 Milliarden Mark.751
Verhütung von Schwangerschaften
Hausärztinnen können durch klärende Gespräche um 9% mehr
Schwangerschaften verhindern als ihre männlichen Kollegen. Bei
Ärztinnen unter 36 Jahren waren 25% weniger Schwangerschaften
bei den Teenies eingetreten. Als Ursache dafür wird die größere
Gesprächsbereitschaft und Geduld der Frauen vermutet.
„Ärztinnen haben weniger Schwierigkeiten, sexuelle Probleme mit
den Mädchen zu besprechen, und informieren sie ausführlicher über
Sexualkrankheiten und den Gebrauch von Kondomen.“752
In Großbritannien gibt es jährlich 8000 mehr TeenieSchwangerschaften pro Jahr als im übrigen Westeuropa.
Jugendliche als Mütter – wenn Teenager Kinder bekommen
Etwa 5000 Mädchen unter 18 Jahren bekommen in Deutschland
jährlich Kinder. Trotz eingehender Sexualaufklärung an den Schulen, und obwohl Frauenärzten immer jüngeren Mädchen die Pille
verschreiben, nimmt die Zahl der in den meisten Fällen stark überforderten „Kindermütter“ nicht ab, da die Geschlechtsreife der Mädchen immer früher einsetzt und junge Mädchen seltener abtreiben als
ältere Frauen.
Nach den Beobachtungen von Sozialarbeitern sind mangelnde Perspektiven der häufigste Grund dafür, dass sich Mädchen in ein verfrühtes Leben mit einem Kind stürzen. Durch ein Kind verschaffen
sich die Mädchen einen sozialen Status und ein eigenes Einkommen.
KLUGE: „Die Kinder dieser Mädchen sind zwar ungeplant, aber
nicht ungewollt.“753
751
MM, 262, 1999, S. 1
British Medical Journal, 2000 und in SZ 71, 2000, S. 16
753
SZ, 180, 2001, S. 3; KLUGE ist Sexualwissenschaftler an der
Universität Koblenz-Landau; Monika FRIEDRICH arbeitet als Soziologin an der Universität Münster; Anneke GARST arbeitet im Mutter-Kind-Heim Casa Luna in Bremen; Eva ZATTLER ist Schwan752
377
In wenigen Jahren können bereits Zehnjährige Kinder bekommen.
In England kommen jährlich etwa 50 000 und in den USA etwa
35 000 Teenager-Babys auf die Welt.
Durch eine computergesteuerte „Think it over Baby“-Puppe, die
stündlich schreit und wie ein richtiges Baby versorgt sein will, sollen
Jugendliche und Kinder lernen, welche Folgen Sex ohne Verhütung
nach sich zieht.
Ursachen für eine Teenager-Schwangerschaft:
 FRIEDRICH: „Sexuelle Gewalt war in einem Viertel der Gespräche Thema.“
 GARST: „In unserer Einrichtung spielen Faktoren wie Alkoholismus, Vernachlässigung, körperliche Misshandlung, sexueller
Missbrauch oder die Trennung der Eltern im Lebenslauf der
Mädchen eine Rolle.“
 ZATTLER: „Mädchen, die nie eine intakte Familie erlebt haben,
haben einen starken Familienwunsch. Wenn sie dann aber Kinder kriegen, ist es für sie besonders schwierig – gerade weil sie
keine positive Familienerfahrung haben.“
 RADENBERG: „In meinem Bezirk gibt es eine hohe Anzahl
junger Frauen, die aus sozial schwachen Familien kommen, keine Ausbildung haben und die den Boden unter den Füßen verlieren. Sie bekommen Kinder, die ihnen scheinbar eine gewisse
Stabilität bieten, und hoffen darauf, dass auch ihre Partnerschaften stabil bleiben. Das Gegenteil ist der Fall, und die Mädchen
gleiten in die Sozialhilfe ab.“
Zu den Vätern der Teenie-Kinder:
Die Vaterschaft wird häufig (etwa 90% der Fälle in Casa Luna)
abgestritten, die notwendigen Zahlungen verweigert. In den meisten
Fällen wird durch das Jugendamt ein Vaterschaftsprozess angestrebt.
Auch die Versuche von werdenden Vätern, die Schwangerschaft
durch physische Gewaltanwendung zu beenden, dürften häufig vorkommen. Vom Sozialamt kann eine ledige junge Mutter monatlich
etwa 1500 DM erhalten, wenn sie nicht vergisst, die notwendigen
Formulare auszufüllen und abzugeben.
gerschaftsberaterin bei Pro Familia in München; RADENBERG
arbeitet als Sozialpädagoge in der Nürnberger Südstadt.
378
Versiegelung von Zähnen
Diese Maßnahme wird von Zahnärzten ebenfalls zur Vorbeugung
von Zahnkrankheiten empfohlen.
Die „Grübchen“ auf der Kaufläche werden oft von Karies befallen.
Diese Fissuren sollen deshalb nach Ansicht von Zahnärzten durch
eine Versiegelung geschützt werden. Bei diesem Vorgang wird der
Schmelz, der die Fissuren umgibt, zuerst mit Phosphorsäure aufgerauht. Anschließend wird er mit einem dünnen Kunststoff überzogen.
Dazu KOCH: „So wird ein gesunder Zahn zum permanenten zahnärztlichen Pflegefall. Außerdem sind mögliche Gesundheitsschäden
durch Kunststoffe bislang noch nicht geklärt.“754
KOCH empfiehlt folgende Möglichkeiten der Prophylaxe:

Häufig werden Kinder, die an Karies leiden, von ihren Eltern
angesteckt. Dies geschieht durch die Übertragung von sogenannten Mutan-Streptokokken, die Karies auslösen. Da die
Mundflora des Neugeborenen noch nicht zu einer Abwehr fähig
ist, sollte unbedingt vermieden werden, dass Mutter und Kind
vom selben Breilöffel essen.

Die Mutter sollte zu Beginn der Schwangerschaft feststellen
lassen, ob sie an Karies leidet und notfalls eine professionelle
Reinigung in einer Individualprophylaxe durchführen lassen.

Die beste Vorbeugung gegen Karies, Zahnfehlstellungen und
Kieferanomalien ist das Stillen.
754
Co-med, 9/99, S. 24; KOCH ist Zahnarzt, Mediziner und Philosoph; er ist außerdem Gründungs- und Vorstandsmitglied der internationalen Gesellschaft für Ganzheitliche Zahnmedizin. Seit 1995
leitet er das Fortbildungskolleg Naturheilverfahren der GZM und ist
Vorstandsmitglied des internationalen Arbeitskreises für biokompatiblen Zahnersatz (AbZ).
379

Eine vollwertige Ernährung bietet einen zusätzlichen Schutz.
Die richtige Verwertung des Essens setzt sowohl Ruhe und eine
entspannte Atmosphäre als auch gutes Kauen voraus.

Zahn- und Mundpflege mit Präparaten, die mineralischpflanzliche Inhaltsstoffe enthalten.

Durch eine vernünftige Lebensweise (Bewegung, Atmung, Ernährung) wird Krankheitserregern die Grundlage entzogen.
KOCH:
„Eine echte Vorbeugung besteht also nicht in einer Therapie,
sondern macht Therapie überflüssig.“
380
Der Beitrag der Medizin zur Entstehung von
Lernbehinderungen und Entwicklungsverzögerungen
Frühchen
Die rasante Entwicklung (der Verfasser verzichtete bewusst auf den
Begriff „Fortschritt“) im medizinischen Bereich leistet ebenfalls
einen erheblichen Beitrag dazu, dass immer mehr Kinder unter lang
anhaltenden Entwicklungsstörungen und Entwicklungsverzögerungen leiden.
Es ist inzwischen möglich, Frühchen immer häufiger am Leben zu
erhalten. Babys mit einem Gewicht zwischen 300 und 800 Gramm,
die zwischen der 22. und der 28. Schwangerschaftswoche zur Welt
kommen, können am Leben erhalten werden. Ein Drittel jedoch
muss mit einem Handicap leben. Durch entsprechende Pressemeldungen wird der Eindruck erweckt, als sei medizinisch alles machbar.
Gründe für Frühgeburten:
 Probleme im sozialen Umfeld
 Überbelastung vieler Frauen und der gesellschaftliche Umgang
mit dieser Überbelastung
 eine hohe Anzahl von Schwangerschaften
 suchtgefährdete Frauen
 lange Einnahme von Medikamenten zur Verhütung und in Form
von Wehenhemmern
 zu hohes Alter
 zu junges Alter
 Hormonpräparate
381
Eine im Jahr 1985 begonnene Studie755 in Südbayern (7500 beobachtete Kinder) und Finnland (1500 beobachtete Kinder) über die Entwicklung von Frühchen, die eine gefährdete Schwangerschaft und
Geburt hinter sich hatten, brachte folgende Ergebnisse:
Beobachtungszeitraum bis zum fünften, bzw. achten Lebensjahr:
Südbayern
Finnland
Anzahl der
Frühgeburten
weniger
Gestörte
Entwicklung
Normale
Entwicklung
Leichtere und
schwerere
Störungen
weniger
48%
keine
Angaben
Ca. 50% keine
Angaben
Erläuterung
Regelmäßige Betreuung
der Schwangeren durch
ärztliche und nichtärztliche Mitarbeiter; rechtzeitige Verlegung in die
Kliniken der Hauptstadt
siehe oben
keine Angaben
keine Angaben
Heute weiß man, dass ab der 18. Woche schon alle Sinne eines Kindes funktionieren, selbst wenn sie noch nicht voll ausgebildet sind.
Das Wahrnehmungssystem ist nach bestehender Lehrmeinung überempfindlich, da das Gehirn möglicherweise zu überempfindlich ist,
um unwichtige Signale auszusondern.
Jegliche Störung des labilen Gleichgewichtes ruft in dem winzigen
Organismus extreme Reaktionen hervor.
VERSMOLD756 erklärt: „Bei Frühchen sind die Gefäße im nicht
ausgewachsenen Hirn so lose, dass sie bei Blutdrucksenkungen zerreißen können.“ Hirnblutungen können auch durch Blutverluste
aufgrund von Kreislaufstörungen und ebenso durch Sauerstoffmangel eintreten. Dies kann bleibende Schäden nach sich ziehen und im
755
In SZ, 216, 1998, VI;
SZ 196, 1998, S. 12; VERSMOLD ist Direktor der Kinderklinik
an der Freien Universität Berlin.
756
382
schlimmsten Fall zum Tod führen. Bei Babys unter 1000 Gramm ist
die Häufigkeit solcher Blutungen inzwischen von 60% auf heute
15% aller Frühgeborenen gesunken. Durch das Präparat Surfactant –
eine aus Tierlungen gewonnene Substanz – wird heute das Zusammenfallen der Lungenbläschen in vielen Fällen verhindert.
Im Jahr 1996 kamen 49 000 Kinder (6,1%) mit einem Gewicht von
unter 2500 Gramm zur Welt. Etwa 1% habe sogar ein Geburtsgewicht von weniger als 1500 Gramm. Etwa jedes siebte Kind unter
1500 Gramm müsse mit schweren Behinderungen rechnen. Bei
Frühchen mit sehr schweren Hirnstörungen besteht Übereinstimmung darin, künstliche lebensverlängernde Maßnahmen einzustellen.
Die Rettung eines zu früh geborenen Babys ist jedesmal ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Es ist für Neonatalogen nicht möglich, Aussagen bezüglich der erfolgten Schädigungen zu machen.
Im Jahr 1994 überlebten bereits über zwei Drittel der Frühchen unter
1000 Gramm. Bei etwa 10% der Entbindungen kam es zu Komplikationen. EIERMANN757 wies darauf hin, dass die Zahl der Neugeborenen mit Fehlbildungen zunehme.
Durch die ärztliche Verordnung und die Einnahme von Hormonpräparaten kommt es immer wieder zur Geburt von Sechslingen. Oftmals können mehrere Kinder die Geburt nicht überleben oder sie
sterben kurz danach. Die überlebenden Kinder werden aufgrund der
„medizinischen Daten“ zu einem Großteil behindert sein.
So starben zwei von sechs Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht zwischen 800 und 1000 Gramm in Perugia, obwohl sie sofort
in einen Brutkasten kamen.758 In Lissabon sind im Februar 2002 drei
der zu früh geborenen Sechslinge gestorben.
Die überlebenden Babys liegen auf der Intensivstation und werden
dort künstlich beatmet.
NASCIMENTO: „Wir können jetzt keine Vorhersagen über ihre
Überlebenschancen machen.“
Die Sechslinge waren in der 23. Schwangerschaftswoche und damit
rund dreieinhalb Monate früher als normal zur Welt gekommen. Sie
wogen zwischen 408 und 563 Gramm. Die 31-jährige Mutter hatte
757
MM, 29. 3. 1994, Bayern; EIERMANN ist Gynäkologe und
Chefarzt der Frauenklinik vom Roten Kreuz in München.
758
MM, 15, 2000, S. 10
383
sich hormonell behandeln lassen. Sie hatte den Rat der Ärzte, vier
der sechs Föten abtreiben zu lassen, nicht befolgt.759
Für 1998 gelten in Deutschland folgende Zahlen:
 80% der Babys unter 1500 Gramm überleben (vor 15 Jahren
waren es nur 25%).
 15% der Frühchen sind leicht behindert.
 10% werden ihr Leben mit schweren Behinderungen meistern
müssen.
Oftmals zerbrechen Ehen an dieser belastenden Situation.
MARCOVICH760 gelang zu Beginn der 90er Jahre eine sensationelle
Entdeckung:
Frühgeborene Kinder sind unter bestimmten Bedingungen fähig,
selbst zu atmen. Die Ärztin gab den Eltern ihre Kompetenz zurück
und setzte ihre Hoffnung und Vertrauen ganz auf den Überlebenswillen der Kinder. Der Erfolg ihrer „sanften Methode“:



Knapp 13% der von ihre betreuten Frühchen mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm starben.
4% der Babys blieben nach ihren Angaben behindert.
Kein Kind war an den Augen oder der Lunge verletzt.
Dieses Vorgehen warf ethische und juristische Probleme auf: Der
Ärztin wurden von Kollegen und Gutachtern Unwissenheit und Fanatismus vorgeworfen, sie musste sich für den Tod von 15 Babys vor
Gericht verantworten. Ohne den „Schutz“ der Technik wird der Tod
zu einem juristischen Kriminalfall. Die Neonatologin wurde freigesprochen, verlor jedoch ihre Arbeitsstelle.
LINDERKAMP fordert eine intensive Nachbetreuung der zu früh
geborenen Kinder:
759
SZ, 36, 2002, S. 14; Odilia NASCIMENTO ist leitende Ärztin der
Neugeborenen-Station der Alfredo-da-Costa-Klinik in Lissabon.
760
MARCOVICH ist Neonatologin in Wien; LINDERKAMP ist
Professor für Neonatologie in Heidelberg.
384
„Eine Ambulanz bis zum Schulalter wäre dringend notwendig, da
man viele Behinderungen erst später erkennen kann. Die Neonatologen sollten das Kind weiterbetreuen . . . Wenn man schon 100 000
Mark ausgibt, um ein Kind durchzubringen, sollte es einem die rund
20 000 Mark für die Nachbetreuung wirklich wert sein!“
Der größte Teil der verfügbaren Gelder wird jedoch auch in Zukunft
für die technische Weiterentwicklung der Medizin ausgegeben.
OHRT berichtet, dass zwei Drittel der Babys, die mehr als acht Wochen zu früh geboren wurden, nicht gesund überleben könnten. Bei
diesen Kindern muss also mit bleibenden Schäden gerechnet werden.
Dieses Ergebnis einer Langzeit-Entwicklungsstudie im Auftrag des
Bundesministeriums für Forschung und Technologie am Hauner’schen Kinderspital in München stimmt mit den Ergebnissen
international durchgeführter, vergleichbarer Studien überein.761 Alle
der 7505 Kinder, die zwischen 1985 und 1986 geboren wurden und
während der ersten zehn Lebenstage in eine der 17 südbayerischen
Kinderkliniken verlegt wurden, waren Teilnehmer/innen dieser Studie. Bis zur 32. Schwangerschaftswoche wurden 560 von ihnen geboren. Diese und auch 915 nach der Geburt als gesund eingestufte
Kinder wurden achteinhalb Jahre lang im Hinblick auf ihre geistige,
emotionale, körperliche, motorische und soziale Entwicklung hin
untersucht.
Während im Jahre 1984 nur 34% der Kinder überleben konnten, die
vor der 28. Woche geboren wurden, ist das heute bereits für 73% der
Babys möglich.
ORTH dazu: „Das Problem für diese Gruppe von Kindern wird nicht
kleiner werden.“
Das bedeutet, dass aus der Zunahme der überlebenden Kinder eine
Zunahme von „Andersseienden“ resultiere. Sie seien nicht unbedingt
behindert, aber in ihrer Entwicklung doch stark eingeschränkt.
„Der medizinische Fortschritt geht mit einem Ansteigen der Zahl
von entwicklungsgestörten Kindern einher.“
Der Verfasser beobachtet diese Tendenz seit Jahren. Die finanziellen
Mittel zur Betreuung der betroffenen Kinder und Familien werden
761
In SZ, 168, 1999, S. 14; Barbara ORTH ist Entwicklungsneurologin in München.
385
nicht erhöht, sondern gekürzt. Der Staat, aber auch die Pharmaindustrie, welche die medizinische Forschung mit erheblichen finanziellen Mitteln unterstützen, kommen hier nicht ihrer Verpflichtung
nach, für die ständig steigende Anzahl von behinderten Menschen
und deren Angehörige weitaus mehr und konstant Sorge zu tragen.
Als konkrete Forderungen ergeben sich:




Ausbau und Errichtung neuer Möglichkeiten der Frühförderung
und entsprechender Schulen
eine rechtzeitige und intensivere Aufklärung der Menschen, die
Kinder bekommen wollen, durch Ärzte, Medien und Arbeit an
den Schulen
Schaffung von mehr Arbeitsplätzen mit gerechter Bezahlung in
allen Einrichtungen für behinderte Menschen
das Bewusstsein der Bevölkerung für diese Entwicklung zu
wecken, auch wenn das unpopulär ist.
Bei den in der Studie beobachteten Kindern zeigten sich folgende
Ergebnisse:
Entwicklung ohne
Schwierigkeiten :
Schwere Störungen:
Leichtere geistige, motorische
oder Sinnesfunktionsstörungen:
ca 33%
31% (IQ unter 70), cerebral
bedingte Bewegungsstörungen,
Epilepsie, Blindheit oder Taubheit und Hydrocephalus.
ca. 33%
Dazu ORTH weiter: „Sehr viele Kinder sind normal intelligent und
haben trotzdem Probleme . . . Am häufigsten sind Aufmerksamkeitsstörungen. Diese Kinder sind besonders langsam bei der Lösung von
Problemen, die simultane Verarbeitung mehrerer Informationen fällt
ihnen schwer.“762 Bei den Frühgeborenen wird daher eine strukturelle Hirnstörung vermutet. Es besteht unter medizinischen Fachkreisen
762
o. a.
386
keine einheitliche Auffassung darüber, ob diese durch die Geburt
bedingt sei. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Reifung des
Gehirns extrautinär auf eine andere Art erfolge.
Die von ORTH bezeichnete Gruppe sind Kinder, die zum großen
Teil heilpädagogische Tagesstätten besuchen werden oder bereits
besucht haben und oftmals in Schulen zur individuellen Lernförderung, Schulen zur Sprachförderung, Schulen zur Erziehungshilfe
oder in Schulen zur Lebensbewältigung (Sonderschulen) beschult
werden.
Eine weitere Möglichkeit der Schädigung des Gehirns, die jedoch
nicht aufgeführt wurde, besteht durch Impfungen. Hier kann sich
dann eine besonders dramatische Entwicklung ergeben, wenn bei
diesen Kindern häufige Impfungen durchgeführt werden. Der Verfasser hat stichprobenartig bei einer Befragung von Eltern in einer
HPT (heilpädagogischen Tagesstätte) festgestellt, dass die stark
überwiegende Mehrheit aller Kinder gegen alles geimpft worden
war. Wird das Problem der Myelinisationsstörungen durch Impfstoffe ernst genommen, so ist diese Vorgehensweise sehr in Frage zu
stellen.
Weitere Probleme von Frühchen werden aufgeführt:



Schwierigkeiten mit dem Sozialverhalten
Weniger Selbstvertrauen
Weniger Freundschaften und Kontakte
Diese Defizite zeigen sich am deutlichsten in der Schule. Von den
untersuchten Kindern besuchten 40,1% eine altersadäquate Schulklasse, 22% besuchten eine Sonderschule. Die übrigen Kinder seien
auf besondere Hilfen angewiesen.
Wie immer im wissenschaftlichen Bereich lassen sich natürlich auch
Einwände gegen durchgeführte Studien finden. Einer der Einwände
besteht darin, den Beobachtungszeitraum als zu kurz anzusehen und
somit die Möglichkeit auszuschließen, dass die Entwicklungsrückstände mit mehr Zeit aufgeholt werden könnten.
387
Dazu ORTH: „Leider sind diese Probleme sehr stabil . . . Wenn
Kinder so unreif überleben können, dann muss die Gesellschaft auch
bereit sein, dafür zu sorgen.“
Frühgeborene Kinder müssten zunehmend Therapien im Laufe ihres
Lebens in Anspruch nehmen.
Eine Studie von HOY763 kommt zu folgendem Ergebnis bezüglich
der Entwicklung zu früh geborener Kinder:





spätere Abschottung gegen die Umwelt
schlechteres Lernen
weniger Freunde
zeigen weniger Gefühle
Die betroffenen Jungen schätzen sich im Vergleich zu ihren
Kameraden selbst als trauriger ein.
Untersucht wurden 183 Schulkinder mit einem Geburtsgewicht von
weniger als 1500 Gramm. Die Ergebnisse wurden durch eine Befragung der Lehrer und der Klassenkameraden der Kinder selbst erzielt.
Ursache für diese Entwicklung ist nach Ansicht von HOY die belastende Krankenhaussituation bei der Geburt und die spätere Überängstlichkeit der Eltern.
FRÖHLICH764 weist darauf hin, dass die medizinisch notwendige
Situation des Kindes in den entsprechenden Krankenhäusern eine
völlig unangemessene für eine gesunde Entwicklung sei. Er zählt
folgende, schädigende Faktoren auf:



763
Isolation
Inkubator
Unzählige Geräusche:
Die Vielzahl der Alarme mit Piepsgeräuschen und unterschiedlichen Frequenzen mit der Möglichkeit eines negativen
Biofeedbacks; das organisch messbare, schlechte Befinden des
Kindes wird akustisch rückgemeldet; somit findet eine negative
Rückkoppelung statt. Zu vielen Geräuschen kann das Frühgeborene keinerlei Beziehung herstellen.
HOY, auf einem Kongress der British Psychological Society, in
SZ, 101, 1999, V2 /15
764
FRÖHLICH in Zeitschrift für Heilpädagogik, 5 / 97, S. 180
388



hektische Betriebsamkeit auf der Station
Dauernde Helligkeit verhindert die Entstehung eines eigenen
biologischen Rhythmus.
Die Unzahl pflegerischer und technischer Maßnahmen irritieren
und stören das Kind.
All die notwendigen Aktivitäten, die gesunde Kinder nach der Geburt als Akteure entwickeln, sind den Frühchen bei dieser Art von
medizinischer Betreuung nicht möglich. Alle entwicklungspsychologischen Erkenntnisse deuten jedoch darauf hin, dass unnötige Erfahrungen zu keinem Zeitpunkt der menschlichen Entwicklung gemacht
werden. Das Ehepaar PAPOUSEK konnte aufzeigen, dass das Kind
entgegen früherer Annahmen der eigentliche Akteur im Interaktionsgeschehen zwischen Eltern und Kind ist.765
FRÖHLICH fordert „förderliche Ausgangsbedingungen“ bei der
Intensivpflege und weist auf GEBEL766 hin, der folgenden Maßnahmenkatalog entwickelt hat:
Pflegemaßnahmen zur basalen Stimulation:767
 Alle Pflegemaßnahmen sollen außerhalb des Inkubators vorbereitet werden, so dass die Arbeit nicht unterbrochen werden
muss
 Eine Bezugspflege sollte vornehmlich stattfinden (eine Pflegekraft als Hauptperson)
 Ritualisierte Verabschiedungen
 Lagerung des Kindes, die ein gutes Spüren des eigenen Körpers
ermöglicht
 Vor Beginn der Pflegemaßnahmen „informative“ Berührungen
des Kindes
 Beachtung des Zusammenhanges von Waschen und Körperschema des Kindes
 Lageveränderungen im Inkubator sollten langsam und ruhig
erfolgen, jedoch deutlichen Widerstand bieten
 Drehungen des Kindes zusammen mit der Unterlage
765
PAPOUSEK, Bern, 1995
GEBEL-SCHÜRENBERG, in Pflege aktuell, 7/8, 1995
767
MM, März 1994
766
389


Vermeidung von flüchtigen, streifenden und oberflächlich streichelnden Berührungen (sie gelten als irritierend)
Ruhige Elemente des Pflegeablaufes sollen am Ende stehen.
Grenzen der Medizin
KÜSTER768 zu den Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin
bei frühgeborenen Kindern:
„Man kann als Leitlinie ungefähr sagen, dass von den Frühchen, die
um die 25. Schwangerschaftswoche geboren werden, ein Drittel
stirbt, ein Drittel überlebt, aber mit Schäden, und ein Drittel gesund
überlebt.
Mit 26 Wochen sind die Chancen schon viel besser, und bei 28 Wochen überleben über 90% gesund. Dazu kommen individuelle Unterschiede: Mädchen sind eine Woche reifer, Schwarze sind eine Woche reifer.“
Die Frage, wie weit das noch gehen wird und ob bald Kinder in der
20. Woche gerettet werden können, wurde sinngemäß so beantwortet:
Vor 20 Jahren hatte ein Kind von zwei Kilogramm schlechte Chancen; vor zehn Jahren war dies bei Kindern mit einem Kilogramm der
Fall; jetzt sind wir bei 500 Gramm.
„Entscheidend ist weniger die Größe als die Schwangerschaftswoche
und damit die Reife. Wenn ein Kind in der 27. Schwangerschaftswoche nur etwa 370 Gramm wiegt (normal wären gut 800 Gramm), ist
es was wir small for gestational age nennen. Das heißt „zu klein für
sein Alter“, weil es im Mutterleib nicht ausreichend versorgt wurde.
Wir haben hier einerseits ein Kind, das mit 25 Schwangerschaftswochen (statt normal 40) und einem Geburtsgewicht von 405 Gramm
geboren wurde, nach wenigen Tagen ohne Sauerstoff, Atemhilfe und
Infusion auskam und jetzt täglich bei den Eltern mehrere Stunden auf
der Brust liegt. Andererseits liegt hier auch ein Kind, das mit immerhin 660 Gramm, aber schon mit 22 Schwangerschaftswochen geboren wurde – also unter dem, was als Grenze der Lebensfähigkeit gilt.
Mit ihm haben wir erhebliche Probleme.“
768
in SZ 208, 1998, L 5; KÜSTER ist Kinderarzt an der Kinderpoliklinik im Klinikum Innenstadt in München.
390
Der Zusammenhang zwischen den Grenzen der Medizin, den Wünschen der Eltern und den sozialen Anforderungen der heutigen Gesellschaft, die auch an die frühgeborenen Kinder gestellt werden,
wird von ORTH sehr klar beschrieben:
„Was möglich ist, wird gemacht. Den wissenschaftlichen Ehrgeiz,
aber auch den Wunsch der Eltern, den kann man nicht an irgendeiner
Stelle stoppen.
Es ist für die Kinder nicht gut so.
In unserer normierten Gesellschaft, in der zunehmend nur noch Leute eine Arbeit finden werden, die völlig normiert sind und alles richtig machen – da Kinder am Leben zu erhalten, die zum großen Teil
Schwierigkeiten haben werden, das finde ich problematisch. In meinen Augen kann sich eine Gesellschaft so etwas nur leisten,
wenn sie reif genug ist, auch die Verantwortung für diese besonderen Kinder genauso zu übernehmen.“769
Die Situation in Bayern
Im Jahr 1999 wurden 21 588 Kinder und ihre Familien durch die
Frühförderung betreut. Das sind doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Durch die Frühförderung, die vor 25 Jahren in Bayern gegründet
wurde, sollen Entwicklungsrückstände von Kindern, die Auffälligkeiten in ihrer Entwicklung zeigen, aufgefangen werden. Die Idee,
dass Sozialpädagogen, Kinderärzte und Therapeuten gemeinsam ein
Förderprogramm ausarbeiten, um eine drohende Behinderung abzuwenden, bröckelt durch Sparpakete, Einschnitte im sozialen Netz
und aufgrund der unüberschaubaren und fragwürdigen therapeutischen Angebote zusehends auseinander. Auch der an der Wirtschaft
orientierte Verdrängungswettbewerb im sozialen Bereich trägt zum
Zerfall der Frühförderung bei.
Etwa 40% der betreuten Kinder sind sprachbehindert. Alle Kinder
aus verarmten Familien sollten nach SPECK grundsätzlich durch die
Frühfördermaßnahmen betreut werden, da eine Verarmung der kindlichen Umwelt und eine Vernachlässigung der Kinder häufig zu
Störungen führt.770 Viele Kinder sind nicht in der Lage, ihre Sinne
769
in SZ, 216, 1998, VI
MM, 82, 2000, S. 3; SPECK war Professor für Sonderpädagogik
in München.
770
391
voll zu entfalten, da sie nicht die Gelegenheit haben, sich in der
Natur austoben zu können.
Im Jahr 2000 gab es 115 Beratungs- und Therapiestellen in Bayern,
die eine Frühförderung anboten. „Mobile sonderpädagogische Hilfen“ und „Heilpädagogischer Fachdienst“ sollen die gefährdeten
Kinder zusätzlich betreuen. Die Gesellschaft darf jedoch nach
SPECK keine Therapiewunder erwarten und muss auch Kinder akzeptieren, die nicht so leistungsfähig sind.
Von dieser letzten Forderung entfernen wir uns nach der Wahrnehmung des Verfassers immer mehr. Die betroffenen Kinder werden
zwar in den für sie geschaffenen Einrichtungen akzeptiert; mit dem
Eintritt in die Arbeitswelt beginnen jedoch erst die größten Probleme. Entsprechende Daten des Arbeitsamtes bestätigen dies.
Pränatale (fetale) Chirurgie
Ärzte sind heute in der Lage, wesentlich mehr Krankheiten diagnostizieren als heilen zu können.
So lassen sich heute etwa einige hundert Krankheiten beim Ungeborenen feststellen, während nur etwa 30 im Mutterleib behandelt werden können.
Zwischen der 20. und 30. Schwangerschaftswoche sind in den USA
bisher etwa 160 Kinder im Mutterleib operiert worden. Die meisten
operierten Ungeborenen müssen nach ihrer Geburt beatmet werden.
Viele kommen zudem zu früh auf die Welt. Als Folge der Beatmung
treten oftmals Hirn- und Augenschäden auf. Da die Eingriffe an den
Ungeborenen durch ein Loch in der Gebärmutter ausgeführt werden,
entsteht hier zwangsläufig Narbengewebe. An diesen Stellen können
sich Risse bilden und dabei könnte das Fruchtwasser versickern. In
einem solchen Fall muss die Schwangerschaft frühzeitig beendet
werden.
HANSMANN: „Wir haben die Neigung, technische Hochleistungen zu feiern, aber es steht nicht fest, ob man der Mehrheit der
Patienten damit tatsächlich Gutes tut.“771
771
SZ, 291, 2001, V2 /8; HANSMANN arbeitet an der Universität
Bonn.
392
Heute zeigt es sich als erwiesen, dass die Überlebenschancen von
Feten mit komplizierten Fehlbildungen sich durch pränatale chirurgische Eingriffe nicht verbessern ließen.
In den USA wurden bisher 121 Kinder mit Spina bifida bereits im
Mutterleib operiert. Langzeitstudien zeigten, dass diese Kinder nach
ihrer Geburt kaum weniger unter den damit verbundenen Behinderungen litten als nicht behandelte Kinder oder solche, die erst nach
ihrer Geburt behandelt wurden.
Erfolgreich scheinen im Gegensatz dazu Bluttransfusionen bei Ungeborenen zu sein, die einen anderen Rhesusfaktor als die Mutter
haben. Erfolgt keine Transfusion, werden die Blutzellen des Kindes
vom Immunsystem der Mutter zerstört. Im Laufe der Schwangerschaft spritzen Ärzte bis zu 20 Mal jeweils wenige Milliliter der
Blutspende über die Nabelschnur in das Gefäßsystem des Ungeborenen. Alleine an der Universitätsklinik in Köln werden jährlich etwa
400 solcher Transfusionen vorgenommen.
Es ist heute möglich, einem Fetus durch die Nabelschnur ein Narkosemittel zu verabreichen, dessen Wirkung etwa 20 Minuten lang
anhält. Während dieser Phase kann Leben gerettet oder vernichtet
werden.
393
Überlegungen und Erkenntnisse zum plötzlichen Kindstod
Jeden Tag sterben im Jahr 1997 in Deutschland drei Babys am plötzlichen Kindstod. Mit 40% ist dies damit die häufigste Todesursache
bei Kindern unter einem Jahr.
Auf ein Jahr hochgerechnet ergibt das fast 1100 Todesfälle bei Säuglingen. Fünf Jahre zuvor waren es laut Angabe der GEPS (Gesellschaft zur Erforschung des plötzlichen Säuglingstodes in Hessen)
noch knapp fünf Babys täglich, wobei der Anteil von Jungen fast
doppelt so hoch war wie der von Mädchen.772 In einer Meldung vom
September 1992 wird ebenfalls der Prozentsatz von 40% für SIDS
(Sudden Infant Death Syndrome) angegeben. Zwei von 1000 Neugeborenen waren demnach im Jahr 1992 betroffen. Bei 85% der Kinder
handelte es sich laut Bericht um „vollkommen gesund wirkende
Kinder.“773 Im Jahre 1991 wurde die Bevölkerungsentwicklung für
Lebendgeborene mit 88 289 in den neuen Bundesländern und mit
720 794 in den alten Bundesländern angegeben. Das ergibt zusammen 809 083 Lebendgeborene.774 Wenn man auch hier mit zwei
SIDS-Fällen auf 1000 Kinder neugeborene Kinder hochrechnet,
ergibt sich nach Berechnungen des Verfassers – die übrigens sehr
wahrscheinlich genauso unsicher sind wie die insgesamt veröffent772
Münchner Merkur, Medizin aktuell, Nr. 224, 1997, S. 3
SZ vom 10. 9. 1992, Aktuelles Lexikon, S. 2
774
ROHLFS, SCHÄFER, Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland,
1996, S. 4
773
394
lichten – die Zahl von 1618 SIDS-Fällen für das Jahr 1991. Mit Zahlen lässt es sich leicht jonglieren.
CHURCHILL bemerkte dazu treffend: „Glaube keiner Statistik, die
du nicht selber gefälscht hast.“
In München sterben pro Jahr nach neuesten Angaben zehn Babys an
SIDS; 80 Babys sterben jährlich in Bayern am plötzlichen Kindstod.
In Deutschland sollen es jedes Jahr 700 Säuglinge sein.
85% der Fälle treten zwischen dem zweiten und sechsten Monat auf.
Die Mediziner rätseln über die Ursachen. So wie erst in jüngster Zeit
die These, dass das AIDS-Virus über die Polio-Impfung verbreitet
wurde, in wissenschaftlichen Kreisen heftige Diskussionen ausgelöst
hat, sollte endlich darüber nachgedacht werden, ob die Impfungen
nicht ebenfalls eine tragende Rolle bei SIDS spielen. Diese Behauptung wurde von denselben Wissenschaftlern geäußert, die schon vor
Jahren die AIDS-Theorie vertreten haben.
(Vergleiche dazu: Impfungen – eine unendliche Geschichte)
Es ist nicht auszuschließen, dass das offenkundige Nachlassen der
Impfneigung775 mit dem Rückgang des plötzlichen Kindstodes korreliert, wenn zwischen beiden Faktoren ein Zusammenhang besteht,
wie von DELARUE behauptet wird.
Interessanterweise wird auch in wissenschaftlichen Kreisen die Frage diskutiert, ob möglicherweise Bakterien zum Plötzlichen Kindstod führen können. So fand eine britische Forschergruppe bei 14 von
100 Kindern, die durch SIDS verstorben waren, die zwei Bakterienstämme Staphylokokken und Enterokokken in der Nasenschleimhaut.
Versuche mit Hühnerembryos ergaben, dass durch die von den beiden Bakterienarten produzierten Toxine die Embryos abgetötet wurden, wenn die Gifte kombiniert vorlagen.776
Von einer zunehmenden Impfmüdigkeit wird übrigens bereits im
Jahre 1992 berichtet.777
Nach bestehender Lehrmeinung tragen folgende Faktoren zur Verhinderung von SIDS bei:
 Stillen
775
SZ, Nr. 297, 1997, S. 2, Schutzimpfung, die vergessene Vorsorge
Journal of Clinical Pathology, 1995, Bd. 48, S. 929
777
Münchner Merkur, 3. 12. 1992
776
395



Nicht-Rauchen
Vermeidung der Bauchlage
Schlafbedingungen:778 keine Bettdecke, kein Nestchen, kein
Lammfell, kein Kopfkissen im Bettchen
Der Verfasser empfiehlt allen Eltern, selbst Nachforschungen anzustellen und den Mut zu finden, mit betroffenen Eltern das Gespräch
zu suchen. Fragen Sie nach, ob und wann das verstorbene Kind zuletzt gegen welche Krankheit geimpft wurde.
Sollten Sie feststellen, dass SIDS in acht von zehn Fällen bei geimpften Kindern aufgetreten ist, dann überdenken Sie bitte das Thema
Impfungen.
Von 103 Opfern des Plötzlichen Kindstods starben 70% in den ersten
drei Wochen nach der Impfung, 13% sogar innerhalb eines Tages.779
Seit dem 1. Januar 1999 wird auch in Deutschland unter dem Namen
GEPS (Gesellschaft zur Erforschung des Plötzlichen Säuglingstodes)
zu diesem Thema geforscht. Betroffene Eltern sind über das Vorgehen der „Wissenschaftler“ empört. So wurden gegen den Willen der
Eltern Gewebeproben bei den verstorbenen Kindern entnommen.
Um die Eltern zu schonen, wurde in vielen Fällen verschwiegen,
dass das Gehirn entommen worden war und die Leichen ohne Gehirn
beerdigt wurden.
Von vielen Eltern wird besonders beklagt, dass sie aufgrund der
Ermittlungen und der damit verbundenen Beschlagnahmung des
Leichnams keine Zeit für das Abschiednehmen fanden.
Folgende Fragen werden den betroffenen Eltern häufig gestellt:
 Was für eine Nahrung haben Sie ihrem Kind gegeben?
 Sind sie Alkoholiker?
 Nehmen Sie Drogen?
778
SZ, 18, 2000, L 3; durch solche Schlafbedingungen, die in einer
Studie beachtet wurden, sank die SIDS-Rate in den Niederlanden
von 1997 bis 1998 von 250 auf 28 Babys pro Jahr.
779
W.C. TORCH, „Diphteria-pertussis-tetanus (DPT) immunization:
A potential cause of the sudden infant death syndrome (SIDS),“ in
American Academy of Neurology, 34th Annual Meeting, 25. April
bis 1. Mai, 1982, Neurology 32(4), pt. 2.
Siehe dazu auch im Internet: Forum „Impfen“
396

Wurde das Kind geschlagen?
Bei SCHÄR-MANZOLI780 finden sich folgende Feststellungen zum
Plötzlichen Kindstod:
(Die Zahlen in Klammern geben die entsprechenden Seitenzahlen zu
ihrem Buch an)
KALOKERINOS/DETTMANN konnten einen offensichtlichen
Zusammenhang zwischen den von den Impfungen hervorgerufenen
Immunitätsschwächen und SIDS feststellen.
„Nach einigen Lebensjahren starben viele Kinder auf unerklärliche
Weise, genau nach einer Impfung.“(18)
Ein Zusammenhang zwischen Impfungen und SIDS wird auch von
BARAFF gesehen:
53 von 145 Opfern des SIDS Anfang 1987 hatten zuvor eine DTPImpfung erhalten; 27 dieser Kinder waren innerhalb von 28 Tagen
vor ihrem Tod geimpft worden; sechs starben 24 Stunden nach der
Impfung und 16 eine Woche danach. (18)
MENDELSOHN:
„ . . . Die Impfungen in Frage zu stellen, wird in vielen Fällen als
paranoischer Akt angesehen, und ein Kinderarzt, der die Impfpraxis
angreift (diesen Stützpfeiler der Pädiatrie), ist wie ein Priester, der
die Unfehlbarkeit des Papstes anzweifelt . . .Es besteht keinerlei
überzeugende wissenschaftliche Abhandlung, die beweist, dass Kinderkrankheiten dank der Impfungen nicht mehr auftreten . . . Die
wahre Ursache dafür sind die Lebensbedingungen.“(22)
RADTKE/BUCHWALD stellten fest, dass nur 34 von 58 geimpften
Kindern am Tage der Untersuchung ein normales EEG hatten; bei 24
Kindern zeigten sich Spuren von Veränderungen, die belegen, dass
das Gehirn negativ auf Impfungen reagieren kann. (86)
In den USA wies GERAGHTY auf die Rolle der Impfungen bei
SIDS hin und meldete zusammen mit THOMAS, dass die Reaktionen auf die DTK-Impfungen immer zahlreicher würden. Einigen
780
SCHÄR-MANZOLI, 1998
397
Laboratorien warf er vor, Impfstoffe mit ganzen Zellen zu verwenden.781
Ernst zu nehmende Berichte gehen davon aus, dass in den USA
jährlich zwischen 6 000 und 15 000 Kleinkinder am plötzlichen
Kindstod sterben. Es wurde festgestellt, dass in 17 der 23 untersuchten Fälle der Tod innerhalb einer Woche nach einer DTP-Impfung
eintrat.782
Die schlecht ernährte Gesellschaft
Zivilisationskrankheiten und veränderte Ernährungsgewohnheiten
Während die alten Krankheitsursachen schwinden, wird eine neue
Form der Fehlernährung zu der am schnellsten um sich greifenden
Epidemie.783
Sowohl Ernährung als auch medizinische Versorgung gehören zu
den sozialen Lebensbedingungen der Menschen. Sie sind grundlegend für unser Leben.
In Deutschland gelten etwa 40 Millionen Bundesbürger als übergewichtig. Weitere 16 Millionen leiden an krankhafter Fettleibigkeit.
Etwa 25% aller Jugendlichen und Kinder sind bereits zu schwergewichtig.784
Ein weiterer Grund für Lernbehinderungen im weiteren Sinne ist
also auch in der Veränderung der Ernährungsgewohnheiten zu suchen. Dazu die folgenden Worte:
„Der Pädagoge Klaus Dieter Müller von der Universität Hannover
stellte in einer Untersuchung fest, dass Kinder, die vollwertig ernährt
werden, einen besseren Notendurchschnitt aufweisen als Kinder, die
781
DELARUE, 1990, S. 110
Cynthia COURNOYER, S. 79 und 80; auch in New England
Journal of Medicine, 1988, Bd. 319, Nr. 10, S. 618 bis 622
783
ALDINE, 1972 in ILLICH, 1995, S. 20
784
Deutsche Adipositas Gesellschaft in MM, 228, 1998, S. 3
782
398
sich ›überwiegend von hellem Brot, kaum Frischobst, vielen Süßigkeiten ernähren.‹
In Jacksonville Beach, Florida wurde eine Studie über fünf Jahre
gemacht mit zwei Gruppen von Kindern, die Verhaltensstörungen
und Lernprobleme im ersten Schuljahr zeigten und die Sonderschule
besuchten. Zwei Schulen wurden verglichen. In der ersten Schule
erhielten die Kinder eine ausgewogene gute Ernährung. Auch die
Eltern bekamen eine Schulung in gesunder Ernährung. Die Kinder
der zweiten Schule erhielten die normale Schulkost, und weder sie
noch die Eltern wurden in gesunder Ernährung geschult.
Nach fünf Jahren verglichen die Forscher die Ergebnisse. Die Kinder
der ersten Schule arbeiteten ihrem Alter entsprechend und konnten
eine normale Schule besuchen. Die Kinder der zweiten Schule, an
der nicht auf die Ernährung geachtet wurde, waren um zwei oder
mehr Klassen hinter ihren Altersgenossen zurück und immer noch in
der Sonderschule.“2
Acrylamid
Erhebliche Mengen des Krebs erregenden Giftstoffs Acrylamid wurden mit Hilfe einer neuen Analysemethode in Kartoffelchips, Pommes frites und Knäckebrot sowie anderen, unter großer Hitze hergestellten, stärkehaltigen Produkten von schwedischen Forschern785
gefunden.
Acrylamid ist als Nervengift bekannt und wird in verschiedenen
Kunststoffprodukten, zum Beispiel in Dichtungsmitteln, verwendet.
Seit 1990 gehört es außerdem zur Kategorie der Krebs erzeugenden
und Erbgut verändernden Arbeits-Chemikalien.
ADLER: „Ich weiß, dass es ihr bereits leid tut, dass ihre Forschungsarbeit in die Öffentlichkeit gelangt ist. . . . Ich habe aber großen
2
RECHT, UTE: Verhaltensstörungen durch Fehlernährung, Schaffhausen, 1993, S. 46
785
MM, 97, 2002, S. 3; Forschungen der Arbeitsgruppe um Margareta TÖRNQVIST an der Universität Stockholm. Ilse-Dore ADLER
ist Genetikerin am GSF-Forschungszentrum für Umwelt und
Gesundheit in Neuherberg. Die Studie ist von der schwedischen
Lebensmittelbehörde unter: http://www2.slv.se in das Internet gestellt worden.
399
Zweifel, dass freies Acrylamid in der Nahrungskette auftritt, weil es
bei Hitze nicht stabil bleibt.“
Die zulässige Höchstmenge wird von der WHO mit 1 Mikrogramm
pro Tag angegeben.
Antibiotika in Fleischprodukten
Rohwürste enthalten häufig Bakterien, die ihre Resistenz auch auf
menschliche Krankheitserreger übertragen. So wurde von Schweizer
Forschern786 aus Bündner Rohwurst ein gewöhnliches Darmbakterium isoliert, das Resistenzgene gegen zwölf Antibiotika enthielt. Zu
den Rohwürtsen zählen auch Salami, Landjäger und Mettwürste.
Antibiotika in Garnelen
Von 20 untersuchten Proben im deutschen Handel enthielten sieben
die Arznei Chloramphenicol. Dieses Antibiotikum kann das Knochenmark schädigen. Auch anderes, „was in Lebensmittel nicht
gehört“, fanden die Tester.787
Alkoholismus – Coca-Cola und Gummibärchen
Jedes Jahr werden in Deutschland weit mehr als 2000 Kinder mit
einer Alkoholschädigung (Alkoholembryopathie) geboren.788
Alkohol, Coca-Cola und Gummibärchen, die in großen Mengen
verzehrt werden, tragen außerdem zur Entstehung von Osteoporose
(brüchigen Knochen) bei. MANN: „Viel Cola frisst die Knochen.“789
In den USA gilt jeder sechste erwachsene Amerikaner offiziell als
alkoholabhängig. Alkohol ist in den USA die Todesursache Nummer
eins noch vor dem Herzinfarkt und den Krebserkrankungen. Jedes
Jahr werden knapp 200 Millionen Dollar für den Kampf gegen den
786
MM, 118, 2001, S. 1; Eidgenössische Technische Hochschule
Zürich
787
MM, 291, 2001, S. 21
788
Münchner Merkur, Nr. 67, 1998, Medizin-Forschung, J 4,
Prof. Helmut LÖSER, Uni Münster
789
MM, 115, 2001, S. 1; MANN ist Hormonwissenschaftler.
400
Alkoholismus ausgegeben. Im Straßenverkehr ist jeder dritte Verkehrstote Opfer eines betrunkenen Fahrers.790
Ernährungsgewohnheiten der Kinder
Kinder wollen beim Essen vor allem Spaß und legen trotz der Informationen durch ihre Eltern kaum Wert auf Nährstoffe oder Vitamine.
In einer Studie wurden 850 Kinder im Alter zwischen sechs und 13
Jahren befragt. Für 59% der Kinder spielte es keine Rolle, sich gesund zu ernähren. Nur etwa 25% der Kinder essen einmal bis zweimal pro Woche Obst. Ca. 37% essen innerhalb dieses Zeitraumes
Gemüse.791
Eine Studie belegt, dass alleinessende Teenager im Gegensatz zu
Jugendlichen, die zusammen mit den Eltern essen, mehr auf Fertiggerichte zurückgreifen und so deutlich weniger Vitamine, Obst und
Gemüse, Calcium und Eisen zu sich nehmen.792
Fast Food – Zahlen und Fakten
Ausgaben für Fast-Food in Amerika:
1970: 6 Milliarden Dollar für Hamburger
2000: mehr als 110 Milliarden Dollar*
(*Dieser Betrag ist höher als alle Ausgaben zusammen für Zeitschriften, Video, Bücher, Cds und Kino.)
Ein McDonald`s-Restaurant wird von mehr als 90% der zwischen
drei und sechs Jahre alten Kinder besucht. Bei den Erwachsenen
besucht mehr als ein Viertel täglich ein Fast-Food-Restaurant.
McDonald`s gilt inzwischen als der größte Fleischkäufer in den
USA. Die Struktur der amerikanischen Landwirtschaft wurde
dadurch entscheidend verändert. Heute ist die „Fleischproduktion“
auf wenige Großbetriebe konzentriert. Durch die Einführung von
Chicken McNuggets im Jahr 1983 wurden massenweise kleine Farmer und Rancher in den Ruin oder den Selbtmord getrieben.
790
SZ, 295, 2001, S. 3
Studie des Meinungsforschungsinstituts iconkids&youth, München; veröffentlicht im MM, 102, 1999, S. 3;
792
Archieves of Family Medicine, 2000, S. 235
791
401
Als Angestellte der Fast-Food- Ketten wurden in erster Linie sozial
Schwache (Behinderte, Immigranten oder Teenager) bevorzugt, um
die „Einhandgriffarbeit“ zu bewältigen. Mindestlöhne wurden umgangen, Arbeitsrechte verweigert, dennoch staatliche Gelder für
nicht stattgefundene Schulungen abkassiert. Mit Hilfe von Spielplätzen (McDonald`s ist mit 8000 Spielplätzen der größte private amerikanische Spielplatzbetreiber) und betriebsspezifischem Spielzeug
werden die Kinder schon bald auf diese Essenskultur programmiert.
SCHLOSSER793 kommt zu der Einsicht, dass der Profit der FastFood-Produzenten zu Lasten der Gesellschaft gehe:



Missbrauch von Steuergeldern
Lebensmittelvergiftungen
Übergewicht
Geleebonbons aus Asien 794
Die Berliner Senatsverwaltung warnte vor dem Verzehr asiatischer
Geleebonbons.
Ein pflanzlicher Zusatzstoff mit der Bezeichnung E 425 kann zu
erheblichen gesundheitlichen Problemen und sogar zu Todesfällen
(USA, Japan, Kanada) führen, wenn die Bonbons unzerkaut heruntergeschluckt werden.
Gesunde Ernährung – Lebenserwartung
Eine Studie an 42 254 Frauen über den Zeitraum von fünf Jahren
untersuchte den Zusammenhang zwischen Ernährung und Sterblichkeit. Frauen, die sich in ihrem Speiseplan an die offiziellen Empfehlungen hielten (viele Ballaststoffe und damit viel Obst, Gemüse und
Vollkornprodukte), trugen ein um 30% vermindertes Todesrisiko
gegenüber den wenig ernährungsbewussten Probandinnnen.795
793
SZ, 163, 2001, S. 9; Eric SCHLOSSER, 2001, USA
SZ, 295, 2001, S. 12
795
Journal of the Medical Association, Bd. 283, 2000, S. 2109, und in
SZ, 106, 2000, V2 /12
794
402
Hohe Kalorienzufuhr im Kindesalter – spätere
Krebserkrankungen
Eine britische Studie stellt einen signifikanten Zusammenhang zwischen einer hohen Kalorienzufuhr im Kindesalter und dem Auftreten
einer späteren Krebserkrankung her. Wird die täglich empfohlene
Energiemenge um rund 240 Kalorien überschritten, so ergibt sich ein
um 20% höheres Krebsrisiko hinsichtlich der Erkrankung an einem
bösartigen Tumor im Erwachsenenalter. Erklärt wird diese Tatsache
damit, dass bei hoher Kalorienzufuhr das Zellwachstum verstärkt
und damit auch krebsauslösende Zellveränderungen beschleunigt
werden.796
Hühnereier – Cholesterinspiegel 797
Ein in den Eiern enthaltenes Lezithin sorgt offenbar dafür, dass der
größte Teil des enthaltenen Cholesterins beim Verzehr eines Hühnereies den Cholesterinspiegel im Blut nicht anheben kann.
Nach der Zugabe von Lezithin beobachteten Ernährungswissenschaftler bei Ratten beobachtet, dass der Cholesterinspiegel bei dem
Verdauungsvorgang (vom Darm in das Blut) gesenkt wurde.
Falls kein erhöhter Cholesterinspiegel oder eine Herzerkrankung
vorliegt, können bedenkenlos ein bis zwei Hühnereier pro Tag verzehrt werden. In den USA wurde bereits ein Patent auf ein Medikament angemeldet, das Hühnerei-Lezithin als Cholesterinsenker beinhaltet.
Polyzyklische Kohlenwasserstoffe
Das besonders im Sommer beliebte Grillen von Steaks ist dann besonders gesundheitsschädlich, wenn Fett in die Glut tropft, da bei
diesem Vorgang polyzyklische, aromatische, krebserregende Kohlenwasserstoffe (PAK) entstehen. So wurden auf der Oberfläche von
gegrillten Steaks Benzypren-Konzentrationen festgestellt, die dem
Gehalt des Rauches von 600 Zigaretten entsprachen.
796
Studie der Universität Bristol in Münchner Merkur, Nr. 246,
1998, S. 3
797
SZ, 255, 2001, V2 /11
403
64% aller Todesfälle in Deutschland sind auf die Folgen falscher
Ernährung zurückzuführen; außerdem entstehen jährlich dadurch
Kosten von mindestens 150 Milliarden Mark.798
Infektionen durch Lebensmittel
Die Infektionen, die durch Lebensmittel ausgelöst werden und sich
in der Form von Vergiftungserscheinungen manifestieren, sind ebenfalls im Ansteigen begriffen.
Die Zahl der meldepflichtigen infektiösen Darmerkrankungen hat
sich zwischen 1989 und 1997 mit 211 084 Erkrankungen mehr als
verdoppelt. Nicht nur Salmonellen, sondern auch unbekanntere Erreger wie Campylobacter, Yersinien oder Listerien sind für die Zunahme verantwortlich.799
Dioxine in Lebensmitteln
Erst in jüngster Zeit wurde über erhöhte Dioxin-Gehalte in Schinken
berichtet. So kann Räucherschinken unter Umständen stark mit giftigen Dioxinen und den verwandten Furanen belastet sein. So können
sich beim Vorgang des Räucherns große Mengen an polychlorierten
Dibenzodioxinen und Dibenzofuranen (PCDD/F) bilden und mit
dem Nahrungsmittel verbinden. Das Auftreten dieser hochgiftigen
Verbindungen wird nach derzeitigem Wissensstand auf veraltete
Räucheranlagen zurückgeführt. In Schweinefleisch wurden zum Teil
bis zu 70 Mikrogramm PAK (polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoff ) pro Kilogramm Fleisch nachgewiesen und somit der
Grenzwert um das 70fache überschritten.800
Inzwischen gilt es als anerkannt, dass Dioxine hormonähnliche Wirkungen besitzen und somit in kleinsten Mengen eine Gefahr darstellen können. Sie sind auch der Lage, Hautveränderungen hervorzurufen und wirken im Tierversuch krebsfördernd. Schon einige tausendstel Milligramm gelten als gesundheitsschädlich. Generell
kommen 90% der Dioxinbelastung in Deutschland aus der Nahrung.
Zwei Drittel davon nehmen wir mit Milchprodukten und Fleisch auf.
798
Münchner Merkur, Nr. 95, 1998, S. 3
Münchner Merkur, Nr. 130, 1998, S.3
800
SZ, Nr. 200, 1998, V2 /9
799
404
Gentechnisch veränderte Nahrung
Häufig essen Verbraucher gentechnisch veränderte Lebensmittel,
ohne es zu wissen. Eine stichprobenartige Untersuchung ergab, dass
mehr als ein Drittel der 82 überprüften Produkte manipulierte Gene
enthielt.801 Besonders Tiefkühlpizzas, Chips, aber auch Knabberkekse oder Produkte aus Mais und Soja enthalten gentechnisch veränderte Inhaltsstoffe, Emulgatoren, Stärkearten sowie Füll- und Bindemittel. Entsprechende Hinweise auf den Verpackungen fehlen
meist. Auch das Futter der für die Fast-Food-Kette McDonald`s
gemästeten Hähnchen soll angeblich veränderte Soja enthalten. In
drei Lebensmitteln wurden bis zu 20% manipulierte Mais- oder Sojaanteile gefunden. Die Herkunftsländer waren die USA, England
und die Niederlande.
Der Mensch nimmt täglich etwa ein Gramm Gene mit der Nahrung
auf, wobei einige in das eigene Erbgut eingebaut werden. Besonders
für Allergiker kann gentechnisch manipulierte Nahrung zu einem
Problem werden. Weil die veränderten Gene vor der Verpflanzung
zur besseren Erkennung meist mit einem Marker-Gen gekoppelt
werden, sind sie selten alleine nachzuweisen. Marker-Gene sind
meist Erbanlagen, die eine Unempfindlichkeit der Bakterien gegen
Antibiotika bewirken sollen.
Krankheitserreger stehen in regem Gentausch mit den Darmbakterien des Menschen. Durch die manipulierten Gene können auch sie
in der Folge resistent gegen Antibiotika werden. Fremde Gene aus
der „High-Tech-Nahrung“ finden sich vor allem in der Milz und in
der Leber wieder. Da hier auch eine wichtige Sorte weißer Blutkörperchen vermehrt vorkommt, ist eine langfristige Schädigung des
menschlichen Immunsystems nicht auszuschließen. TAPPESER:
„Im Prinzip ist die Verbreitung von Genfood ein globaler Feldversuch.“
Eine Sorte von insgesamt drei gentechnisch veränderten Rapssorten
wurde zusätzlich noch mit einer Antibiotikaresistenz ausgerüstet. Bei
einem Feldversuch wurden aus Versehen anstatt einer alle drei Sor-
801
Untersuchung der Stiftung Warentest in SZ, 172, 2000, S. 2;
Beatrix TAPPESER ist Gentechnik-Expertin am Freiburger
Öko-Institut.
405
ten freigesetzt. Es gibt keine Garantie dafür, dass Menschen in Zukunft durch gentechnisch veränderte Nahrung nicht gefährdet sind.802
Trotz der ernstzunehmenden Warnungen werden in zunehmendem
Maße Experimente mit genmanipulierter Nahrung fortgeführt. Es ist
möglich, dass durch die Pharmafirma Novartis gentechnisch veränderter Mais, der in Frankreich angebaut wurde, auch in Deutschland
auf den Markt gelangen könnte, da er nicht entsprechend gekennzeichnet wurde. Die Pflanzen wurden antibiotikaresistent gemacht.
Eine Übertragung dieser Unempfindlichkeit auf den Menschen wird
ernsthaft in Erwägung gezogen.803 Das entsprechende Gen könnte
von Bakterien entweder auf dem Anbauplatz oder aber im menschlichen Magen-Darm-Trakt aufgenommen werden. Diese Bakterien
könnten somit eine Resistenz gegenüber den Antibiotika aufbauen.
Entsprechende Warnungen der Berliner Ärztekammer und der Umweltschutzorganisation Greenpeace wurden von der Firma Novartis
„als glatte Desinformation“ zurückgewiesen. Die beiden Organisationen warnten davor, dass ein dem Mais im Labor eingebautes Gen
für Antibiotika-Resistenz im Magen-Darm-Trakt von Bakterien
aufgenommen werden könnte; in der Folge ist dann eine Bekämpfung dieser Bakterien durch Antibiotika nicht mehr möglich. Der
angebaute Mais enthalte ein Gen gegen allein in Deutschland im Jahr
1996 zwölf Millionen Mal verschriebene, verschiedene Penicilline.804
Der Einsatz von Antibiotika in der Tiermedizin und die damit verbundenen Folgen für den Menschen nehmen ebenfalls zu und werden immer wieder kritisiert.
Die tonnenweise Beimischung in das Futter der Tiere ist in großem
Stil üblich, um die Leistung der Tiere zu fördern. So wurde im Jahre
1997 die Substanz Avoparcin in der EU wegen der Ähnlichkeit mit
dem in der Humanmedizin verwendeten Medikament Vancomyin
verboten.
Bei acht von 100 Patienten, die sich im Krankenhaus eine Infektion
zuziehen, wird ein MRSA-Bakterienstamm (multiresistent gegen
Antibiotika ) gefunden, gegen den nur noch Vancomycin hilft. Nach
Meinung von Experten ist zu vermuten, dass die Resistenz der Bakterien auch gegen zukünftige Antibiotika weiter zunehmen wird.
802
SZ, Nr. 87, 1998, S. 55
SZ, Nr. 63, 1998, S. 7
804
SZ, 207, 1998, S. 12
803
406
In einigen Kliniken der USA sind bereits etwa bis zu 14% aller
Enterokokken auf Intensivstationen Vancomycin-resistent geworden.
Es wird angenommen, dass die Vancomycinresistenz von Enterokokken über Fleischprodukte in den Gastrointestinaltrakt des Menschen eingeschleust wurde.805 Es wird zugegeben, dass es in einem
deutschen Krankenhaus bereits zu einer „kleinen Epidemie“ gekommen ist, wobei darauf hingewiesen wird, dass die Seuche wahrscheinlich aber nicht das Ausmaß von AIDS erreichen wird.
Als Ursache für dieses Phänomen wird die Verschreibungspraktik
von Ärzten angesehen, die in 60 bis 70% der Fälle Antibiotika bei
akuten Infekten der Atemwege verschreiben, obwohl sie fast immer
durch Viren verursacht werden. Zurückhaltung bei der Antibiotikatherapie und Antibiotikaprophylaxe, gekoppelt mit einem Verbot des
Einsatzes von Antibiotika in der Landwirtschaft, sind daher wichtigste Maßnahmen zur Vermeidung solcher Vorfälle.
In Dänemark wurden 1994 von den Tierzüchtern alleine 24000 kg
Avoparcin dem Futter beigemischt. Von Ärzten wurden im Vergleich dazu 24 kg verbraucht.806
Die Entstehung von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Arteriosklerose, Gicht und Bluthochdruck werden durch kohlenhydratarme
und fettreiche Nahrung stark begünstigt.
Hormonbehandeltes Fleisch
Obwohl Hormonpräparate bei der Aufzucht von Tieren in Europa
nicht zugelassen sind, werden wir dennoch durch die vielfältigen und
verschlungenen Importwege mit diesem Problem konfrontiert. Neben einem in Europa illegal bestehenden Markt werden außerdem in
den Ländern, in denen der Einsatz von Hormonen verboten ist, ebenfalls Hormonpräparate eingesetzt.
In den USA sind Hormonpräparate zur Masttierzucht zugelassen.
Dort werden die entsprechenden Hormondepots in Körperteile abgesetzt, die vor der Schlachtung abgetrennt werden, in der Hoffnung,
dass dadurch der Verbraucher vor biologisch wirksamen Mengen im
805
DASCHNER, 1995 in Deutsche Apotheker Zeitung,
135. Jahrgang, Nr. 28, vom 13. 7. 1995
806
SZ, Nr. 59, 1998, S. 23, und Science, 1998, Bd. 279, S. 996
407
Milligramm-Bereich geschützt ist. Ein Implantat enthält so viel
Hormon wie 10000 Schlachtkörper.
Bei der Verwurstung von einer Tonne Fleisch mit Implantat ist immer noch eine mehrfache Dosis der zugelassenen wissenschaftlich
akzeptierten Tagesdosis von Hormonen enthalten.
Bei illegaler Anwendung ist nach europäischen Erfahrungen die
intramuskuläre Hormonspritze mit gesundheitsschädlichem Risiko
weit verbreitet. Zum Einsatz kommen folgende Hormone807:
Hormonbehandeltes Fleisch
Name des
Hormons
Clenbuterol
Präparate,
die
Östradiol
Testosteron
Progesteron
enthalten
Zeranol,
eine von
einem PilzÖstrogen
abgeleitete
Verbindung
Trenbolon,
körperfremde Substanz;
das stärkste,
bekannte
Anabolikum
807
Einsatz in
Folgen für den
Verbraucher
Europa, dort wo keine unbekannt
Kontrollen stattfanden
Mittelmeerländern
gesundheitliche Schäden
besonders für herzkranke
Verbraucher
Unterscheiden sich nicht von
den Hormonen der Tiere,
daher keine qualitative Veränderung, aber auch keine
Kontrollmöglichkeiten
Ausland; Fleisch
gelangt aber durch
Import auch nach
Deutschland
das Fleisch verliert seine
Naturidentität; bei weiblichen
Muttertieren wird eine
Maskulinisierung bewirkt;
ein Steak enthält Eiweißmoleküle mit veränderten
Strukturen
Interview mit Prof. Dr. Dr. Karg in SZ, Nr. 197, 1997, S. 21
408
Die oben angeführte Tabelle fasst die Aussagen von KARG zusammen.
Weitere Möglichkeiten der menschlichen Schädigung durch Futterzusätze anstelle von Hormonspritzen:808
Zusatz
NachweismöglichFolgen für den Menschen
keit
Mixtur aus
nur sehr schwer, da
schwere Kreislaufstörungen
dem Asthma- bei einer Analyse das
mittel
verbotene DexameClenbuterol
thason durch das
und dem
Cortison verdeckt
Cortisonwird
präparat
Dexamethason
synthetisches gut
Krebs erzeugend
Östrogen
Diethylstilböstrol (DES)
erlaubte
Zusätze:
Ionophore
Makrolide
Tysolin
Virginiamycin
Antibiotika
zunehmende Resistenz
ChlorampheVerdacht auf Schädigung des
nicol (Cap)
menschlichen Erbgutes und
Auftreten von Knochenmarksschädigungen
808
Grundlage für diese Tabelle : SZ, Nr. 191, 1998, S. 2, Doping aus
dem Futtertrog
409
Bereits geringe Veränderungen der Molekülstruktur verbotener Substanzen machen bisher erfolgreich angewandte Analysemethoden
unbrauchbar.
Ein Liter Milch in Deutschland enthält im Vergleich zu einem USRindersteak ein Mehrfaches an Östrogenen, da der Milch, die den
Verbraucher erreicht, immer auch Milchmengen von trächtigen Tieren in der Molkerei beigemengt wird.
Aus Italien ist bekannt, dass die Zuführung von synthetischen Sexualhormonen in sehr hoher Konzentration zu Entwicklungsstörungen
bei Kindern und Jugendlichen führt.809
Auch ein Zusammenhang mit Übergewichtigkeit wird vermutet.
Nach GLICKSMANN ernähren sich nur 12% der Amerikaner richtig.810 Neueste Untersuchungen belegen, dass ca. 52% der US-Bürger
übergewichtig und damit besonders anfällig für Herzprobleme,
Schlaganfall und Diabetes sind. Im Jahre 1991 wurde der Prozentsatz
noch mit 33% angegeben. Schwer fettleibige Menschen, die sich nur
noch unförmig bewegen können, machen inzwischen ca. 18% der
Erwachsenen aus (19991:12%). Bei Kindern und Jugendlichen stieg
der Anteil der Übergewichtigen im gleichen Zeitraum von 5 auf 10
bis 15%. Weitere 25% gelten als gefährdet.
Die Lage ist so ernst, dass Experten von einer Epidemie reden.
FOERSTER: „Wir haben eine Kultur, die sagt: Sitz nicht einfach da,
iss was.“
Mit Verzögerung greift die Tendenz zum Fast-Food auch auf Europa
über. Sowohl die hektischen Aktivitäten des Geschäftslebens, unnatürliche, dem Menschen aufgezwungene Lebensrhythmen, geringe
körperliche Aktivitäten als auch die moderne Bequemlichkeit tragen
ihren Teil dazu bei, dass immer mehr Menschen bewegungsbehindert werden.
809
SZ, 112, 1999, S. 1
SZ, 139, 2000, S. 3; GLICKSMANN: Landwirtschaftsminister
der USA; Susan FOERSTER: Ernährungsexpertin bei der kalifornischen Gesundheitsbehörde
810
410
Zwei von drei Amerikanern sind fett 811
In Amerika leiden nach einer Auswertung neuester Statistiken immer
mehr Menschen unter Fettleibigkeit. In den USA sterben jedes Jahr
300 000 Menschen an den Folgen der Fettleibigkeit. Hinter den nikotinbedingten Todesfällen steht die Fettleibigkeit an zweiter Stelle.
Unter den Jugendlichen gelten 13% als übergewichtig. Als Gegenmaßnahmen sollen eine gesündere Ernährung in den Schulkantinen
und mehr Sport in den Schulen bald Wirkung zeigen.
Keime in Fleischprodukten 812
Eine US-Untersuchung zeigte, dass etwa 20% des zufällig ausgewählten und in Kühltruhen gelagerten Fleisches von Schweinen,
Hühnern und Rindern Salmonellenkeime enthielten. Zudem waren
84% dieser Bakterienfunde gegen mindestens ein Antibiotikum resistent. Die Hälfte der isolierten Salmonellen zeigte eine Resistenz
gegen drei oder mehr Antibiotika. Einige der Erreger zeigten sich
auch gegen „Ceftriaxon“ – ein Medikament, das zur Behandlung von
Salmonellenerkrankungen bei Kindern angewandt wird – widerstandsfähig.
In amerikanischen Hühnerfleischproben wurden Enterokokken
nachgewiesen, die bereits resistent gegen zwei neuere Präparate der
Humanmedizin sind; sie sollten die besonders hartnäckigen Keime
des Enterococcus faecium erfolgreich in Schach halten.
Ketchup
Eine Untersuchung der Universität Düsseldorf813 ergab, dass
Ketchup freie Radikale im Körper unschädlich mache. Gleichzeitig
werde damit Herzinfarkt, Prostatakrebs und vorzeitiger Alterung
besser als durch den Verzehr großer Mengen von Tomaten vorgebeugt.
811
SZ, 289, 2001, S.14
SZ, 261, 2001, V2 /12; New England Journal of Medicine, 2001,
Bd. 345, S. 1147
813
MM, 241, 2001, S. 1
812
411
Listerien im Lachs –Salmonellen in der Schokolade
In verschiedenen Räucherlachsprodukten wurden Listerie-Bakterien
nachgewiesen.814 Sie finden sich vor allem auch im Kot von Mensch
und Tieren, Abwässern und im Kompost.
Aus verschiedenen Bundesländern wurden inzwischen über 270
seltene Salmonella-Oranienburg-Infektionen gemeldet. Der Erreger
wurde in der Schokolade nachgewiesen.
Chemikalien als Umweltgifte
PBDE – PBB – DDT – PCB
Immer wieder tauchen Berichte über Chemikalien auf, deren Auswirkungen auf den Menschen noch nicht hinreichend erforscht sind.
Dennoch gibt es erste Anzeichen dafür, dass auch sie kleine Bausteine für das Zustandekommen von Erkrankungen, Intelligenzdefekten
oder Lernbehinderungen sind.
Bereits im Jahr 1993 wurde darauf hingewiesen, dass Flammschutzmittel aus der Gruppe der polybromierten Diphenylether (PBDE)
durch Ausdünstungen aus Kunststofferzeugnissen gesundheitsschädliche Wirkungen haben. Auch eine andere Gruppe von Flammschutzmiteln (PBB) die weiterhin im Gebrauch ist, steht im Verdacht, krebsauslösend zu sein. Das Gefährliche dieser Mittel ist, dass
sie alleine dadurch, dass sie in die Umwelt ausströmen, sich in Lebewesen anreichern können. So wurde PBDE von schwedischen
Forschern auch in der Muttermilch entdeckt. Seit dem Jahr 1972
wird eine jeweilige Verdoppelung dieses Schadstoffes in fünfjährigem Zeitintervall beobachtet. Die Möglichkeit der Entstehung von
Hirnschäden durch Flammschutzmittel wurde durch Tierversuche
nachgewiesen. An der Universität von Uppsala zeigten Ratten, denen
während der Phase des Hirnwachstums PBDE verabreicht wurde,
später Verhaltensstörungen. Die Tiere waren unruhiger, zeigten
Gedächtnisstörungen und schlechtere Leistungen bei Lerntests.
Auch im Gewebe von Meerestieren wurden Flammschutzmittel
entdeckt. So enthielt ein Kilogramm Fettgewebe eines untersuchten
Pottwals 100 Mikrogramm der bromhaltigen Flammschutzmittel.
Diese Substanzen sind in ihrer Schädlichkeit den Pestiziden DDT
814
SZ, 293, 2001, 14
412
oder den polychlorierten Biphenylen gleichzusetzen, die sich ebenfalls im Organismus anreichern.
Viele Schadstoffe wirken wie Hormone und beeinflussen damit
wesentliche Lebensfunktionen.
Gefühle, Sexualität und Immunsystem werden im Zusammenwirken
von Nervensystem und Hormonen und hormonähnlich wirkenden
Substanzen gesteuert. Eine zu hohe oder zu niedrige Konzentration,
eine Ausschüttung oder eine Anreicherung zum falschen Zeitpunkt
kann zu fatalen Folgen führen: Verhaltensstörungen, Missbildungen oder Stoffwechselstörungen.
Da der lebende Organismus zu einem Abbau dieser Substanzen nicht
oder kaum fähig ist, sind auch zukünftige Generationen gefährdet, da
diese Stoffe über die Muttermilch oder die Plazenta den unreifen, in
der Entstehung begriffenen Organismus direkt schädigen.
Alleine die polychlorierten Biphenyle (PCB) umfassen inzwischen
mehr als hundert Substanzen. Kunststoffbeschichtungen in Konservendosen und Weichmacher in Platikbehältern wird ebenfalls eine
pseudohormonähnliche Wirkung zugeschrieben. In Tierversuchen
wirkten diese Stoffe entweder wie Östrogene oder wie Hormonblocker. Natürliche Stoffwechselvorgänge wurden außer Kraft gesetzt. Durch die ähnliche Beschaffenheit der Hormonsysteme von
Wirbeltieren und Menschen lassen sich die Ergebnisse aus Tierversuchen auf den Menschen übertragen.
Im Jahre 1991 wurde in den USA eine Untersuchung an mehreren
hundert Babys und Kleinkindern durchgeführt, deren Mütter verschiedene Mengen Ontario-Fisch aßen. In diesem See ist die Belastung mit Umwelthormonen besonders hoch. Bei dieser Langzeitstudie wurden durch eine genaue Erhebung der Lebensumstände andere
Parameter ausgeschlossen.
Als Ergebnis der Studie kristallisierte sich heraus, dass die Kinder
der Mütter, die mehr als 20 Kilo Lachs oder andere Fische aus dem
Ontario-See gegessen hatten, sich während der fünfjährigen Beobachtungszeit schlechter konzentrieren konnten, hyperaktiver
und ungeduldiger als die Kinder der Vergleichsgruppe (Fischabstinenzler) waren.
Eine andere Studie von JACOBSON aus den 80er Jahren untersuchte
den Zusammenhang zwischen PCB-Gehalt im Blut der Mutter und
der Intelligenzentwicklung ihrer Kinder.
Auch hier zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang: Die Kinder der
Frauen mit hohem PCB-Gehalt im Blut zeigten nach vier Jahren mit
413
Abstand die schlechtesten Ergebnisse bei Sprach- und Gedächtnisprüfungen. COLBORN vom WWF bezeichnet es als „die alarmierendste Erkenntnis unserer Zeit“815, dass durch hormonähnliche
Umweltgifte mit hoher Wahrscheinlichkeit Intelligenz und Verhalten beeinflusst werden.
Neuere Erkenntnisse weisen darauf hin, dass diese Umweltgifte auch
noch die krebserzeugende Wirkung anderer Chemikalien verstärken
könnten.816 Weltweit werden zur Zeit etwa 150 000 Tonnen der vier
am meisten verwendeten bromhaltigen Flammschutzmittel produziert.
Eine Langzeitstudie an 600 Kindern des US-Instituts für Umweltund Gesundheitsforschung in North Carolina belegt, dass Kinder,
deren Mütter während der Schwangerschaft hohen giftigen Dosen
der Chemikalien PCB und DDE – einem Abbauprodukt des Insektenvernichtungsmittels DDT – ausgesetzt waren, früher pubertieren,
da diese Substanzen östrogenähnlich wirken.817
SCHLUMPF weist auf die Möglichkeit hin, dass Chemikalien, die
eine hormonähnliche Wirksamkeit besitzen, das Wachstum (z. B. das
Wachstum von Brüsten junger Frauen) erheblich beschleunigen
könnten. Diese Chemikalien seien vor allem in der Antibaby-Pille
enthalten, aber auch in Putzmitteln und Dosen-Beschichtungen.
Selbst in bestimmten Zahnfüllungen und in KunststoffWeichmachern sind diese wachstumsfördernden Chemikalien offenbar enthalten. Die Verabreichung von Östrogen bei der Kälbermast
und der Hang zu fettreicherer Ernährung stelle eine zusätzliche Belastung in dieser Hinsicht dar.818
Es steht auch zur Diskussion, dass die Fruchtbarkeit der Männer
durch diese Stoffe beeinträchtigt wird. Die steigende Anzahl von
Brust-Hoden-Tumoren wird von Medizinern mit diesen Substanzen
in Zusammenhang gebracht.
Einzelne Inhaltsstoffe von Pestiziden, z. B. Dieldrin und Toxaphen,
werden besonders bei einem gemeinsamen Auftreten als besonders
815
SZ Magazin, No. 32, 9. 8. 1996, S. 23
Nature, Bd. 394, S. 28, 1998
817
Münchner Merkur, Nr. 175, 1997, S. 3, Wissenschaft und
Medizin
818
SCHLUMPF, Pharmakologin der Universität Zürich in SZ, 1998,
Nr. 242, S. 16
816
414
schädlich eingestuft. Allerdings gibt es auch entgegengesetzte Studien.819
PCB in der Nahrungskette (Polychlorbiphenyle)
Killerwale zählen heute zu den am höchsten mit PCB verseuchten
Gruppen von Meeressäugetieren.
Die PCB-Konzentration im Körper eines in der Nähe der Stadt Vancouver verendeten Wales war 90-mal höher, als sie bisher im Menschen nachgewiesen wurde. Die giftigen Verbindungen lagern sich
im Fett der Tiere ab.820
PCB im Blut von Schulkindern und Lehrkräften
Bei mehr als der Hälfte der Schüler (217) wurden nach einer zweiten
Untersuchung erhöhte PCB-Werte im Blut festgestellt. Nur bei 160
von 377 untersuchten Schülern konnten Werte im Normbereich
gemessen werden. Der höchste gemessene Wert lag bei 1,3
Mikrogramm niederchlorierter polychlorierter Biphenyle pro Liter
Blut. Als „Orientierungswert“ für einen auffälligen Befund gelten
0,1 Mikrogramm. FROMMER: „Wir wissen noch nicht, in welchem
Umfang sich diese Werte auf die gesamte PCB-Belastung des
menschlichen Körpers auswirken könnten.“821
In den zwischen 1960 und 1980 erbauten Schulen wurden häufig
Materialien (Verfugungsstoffe, Kleber, Kunststoffböden) verwendet,
die im Verdacht stehen, PCB abzusondern.
Bundesweit sind nach SCHOOFS etwa ein Drittel aller 45 000 Schulen mit PCB belastet.822 Ein großer Teil ist jedoch noch nicht einmal
getestet.
Zum ersten Mal konnte ein Zusammenhang zwischen PCBRaumluftbelastung und Blutwerten hergestellt werden. Inzwischen
wird die Messung jedoch durch das bayerische Gesundheitsministerium angezweifelt und eine neue Studie zur Belastung der Schule in
Auftrag gegeben.
819
Endocrinology, 1997, Bd. 188, S. 1520
SZ,162, 2001, V2 /8
821
MM, 178, Bayern, S. 6
822
MM, 181, 2001, Bayern; SCHOOFS ist Sprecher der nordrheinwestfälischen Initiative „Schulen ohne Gift“.
820
415
Quecksilber in Nahrungsmitteln
Die zunehmende globale Belastung durch Quecksilber, vor allem im
Seefisch, stellt eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Verantwortlich
für die Zunahme ist der Goldabbau in Afrika, Südamerika und Asien,
da dort Quecksilber zur Goldauswaschung verwendet wird. Über die
Luft und die regionalen Flüsse gelangt es in das Grundwasser und in
die Meere. Am höchsten belastet sind nach DRASCH „vor allem
die großen Raubfische am Ende der Nahrungskette . . . dazu
gehören unter anderem alle Haifischarten, Thunfisch, Aal oder
Schwertfisch.“823
Menschen reagieren extrem unterschiedlich mit individueller Empfindlichkeit auf die Quecksilberbelastungen im Körper. So können
die Vergiftungsbilder trotz gleich hoher Quecksilberkonzentration im
Blut völlig unterschiedlich sein. Diese Feststellung gilt auch bezüglich der Amalgam-Füllungen.
Quecksilber kommt in unterschiedlichsten Verbindungen vor und
wird im Gegensatz zu Blei im Körper ständig weiter transportiert.
Aus diesem Grund erweist es sich als sehr schwierig, feste Richtund Grenzwerte für Minimalbelastungen aufzustellen.
Lebensmittel –Zusatzstoffe (E-Nummern)
In der EU sind momentan 305 Zusatzstoffe zugelassen und somit
auch in den Lebensmitteln zu finden.
Auf die gefährlichsten soll in der folgenden Tabelle hingewiesen
werden:824
E-Nummer Bezeichnung
Vorkommen
Mögliche Auswirkungen
E 127
Erythrosin
Cocktailkirschen
E 230
E 231
E 232
Biphenyl,
Diphenyl
Orthophenylphenol
Obstschalen
Krebsartige Veränderungen der Schilddrüse
in Tierversuchen
In hohen Konzentrationen bei Tierversuchen
innere Blutungen und
Organveränderungen
823
MM, 117, 2001, S. 3; DRASCH ist Professor für Toxikologie am
Institut für Rechtsmedizin in München.
824
„Was bedeuten die E-Nummern?“; ISBN-Nr. 3-922940-15-3
416
E 284
E 285
E 385
Natriumorthophenylphenol
Borsäure
Natriumtetraborat
Calciumdinatrium-EDTA
E 912
Montansäureester
E 999
Quillajaextrakt
MM/194/ Natrium1999,
glutamat
S. 1
Störrogen,
Kaviar
Durchfälle, innere
Organschäden
Dosen und
Glaskonserven
Hülsenfrüchte, Pilze,
Fische
Pflanzenwachse; Zitrusfrüchte
Cidre, Ginger
Ale
Chinarestaurants, Gewürzmischungen
Deutliche Stoffwechselbeeinträchtigungen;
Vorsicht bei Kindern
unter 2 Jahren
Im Tierversuch gesundheitsschädliche
Auswirkungen
Enthält Blutgifte
(Saponine)
Kopfschmerzen
Ein Drittel der Bevölkerung reagiere empfindlich auf diese Substanz
Medikamente – ihre Wirkung in Verbindung mit
bestimmten Lebensmitteln 825
Medikament in
Verbindung mit
Lebensmittel
mögliche Wirkung
Aspirin
Grapefruitsaft
Antibiotika
Milch
Durch die enthaltenen Flavonide in
Zitrusfrüchten kann in Verbindung
mit Schmerzmitteln Herzrasen
verursacht werden
wirkungslos
825
MM, 260, 2001, S. 1; auch: Magazin „Wellfit“, November 2001
417
Blutverdünnende Mittel
Brokkoli
Durch den Vitamin-K-Gehalt wird
das Blut verdickt; die Wirkung des
Medikaments kann dadurch abgeschwächt werden. Durch diese
Wechselwirkung kann im schlimmsten Fall ein Schlaganfall ausgelöst
werden.
Nahrungsmittel werden zur Medizin
Es wird vielfach vergessen, dass Gewürze wie Knoblauch, Zwiebeln,
Piment oder Oregano in der Lage sind, bakterielle Erkrankungen zu
verhüten. Auch die Zitrone wirkt gering antibiotisch.826
Der Vitamin-C-Gehalt von Äpfeln hat sich aufgrund der oftmals
langen Transportwege und der zunehmend mehr ausgelaugten Böden
um ca. 80% verringert.827
Im Jahr 1998 wurden in den USA zwölf Milliarden Dollar für „Functional Food“ und nahrungsergänzende Pillen ausgegeben. Die Kontrollen für umgestaltete Lebensmittel werden von kritischen Fachleuten als ungenügend bewertet. 828
Nitrofen in Öko-Produkten
Nitrofen ist ein Stoff aus der Gruppe der Herbizide. Er ist seit Jahren
verboten und gilt als Krebs erregend, aber auch als Auslöser von
Lungenmissbildungen. Diese Erkenntnisse stammen aus Tierversuchen. Nitrofen wurde in Geflügelfleisch und im Öko-Weizen nachgewiesen. SCHRENK: „Womöglich kommt man mit NitrofenBelastungen aus dem Geflügelfleisch an die Grenze des toxikologisch Duldbaren.“829
In Putenfleisch wurden zwischen 0,08 und 0,8 Milligramm Nitrofen
pro Kilogramm nachgewiesen. In Tierversuchen traten Missbildungen auf, wenn trächtige Muttertiere mehrmals 20 Milligramm verabreicht bekamen. Da Rückschlüsse von Tierversuchen auf den Men826
Münchner Merkur, Nr. 106, 1998, S. 3
SZ-Magazin, No. 35, 1998
828
Science, 1999, Bd. 285, S. 1855
829
SZ, 121, 2002, S. 2; SCHRENK ist Lebensmittelchemiker und
Umwelttoxikologe an der Universität Kaiserslautern.
827
418
schen schwierig sind, gehen Toxikologen sicherheitshalber davon
aus, dass schon eine tausendfach geringere Menge als im Tierversuch eine Wirkung auf den Menschen haben könnte.
Bei Routine-Untersuchungen von Lebensmitteln wurde wegen des
Verbots seit Jahren nicht mehr nach Nitrofen gesucht.
Pilzgifte in Nahrungsmitteln
Fäulnispilze der Gattung Fusarium belasteten im Jahr 1998 in ungewöhnlich hohem Maße Mehl, Brot und andere Getreideprodukte des
Weizens. Ein derartig starker Befall wurde zum letzen Mal im Jahr
1987 beobachtet. Die von den Mikroorganismen ausgeschiedenen
Fusarien-Toxine gelten für den Menschen als gesundheitsbedenklich.
Desoxynivalenol (DON) ist das wichtigste Toxin dieser Gruppe.
Wurden geringe Mengen dieses Giftes über längere Zeiträume an
Tiere verfüttert, war Nierenversagen die Folge.
Die derzeit tolerierte Tagesaufnahmemenge liegt bei drei
Mikrogramm DON pro Kilogramm Körpergewicht. Die Proben aus
dem Anbaujahr 1998 enthielten sieben Milligramm DON pro Kilogramm bei über 100 Sorten des untersuchten Weizens.
Fumonisine – eine andere Fusarien-Toxin-Gruppe – stehen unter
dem Verdacht, Speiseröhren- und Leberkrebs auszulösen. Sie sind in
Maismehl, Polenta, Flips und Cornflakes nachzuweisen.
Bisher werden die Nahrungs- und Lebensmittel nicht routinemäßig
auf Pilzgifte untersucht.
Pflanzenschutzmittel
In den Entwicklungsländern werden noch immer hochgiftige Pflanzenschutzmittel verwendet, die bei uns längst wegen der oftmals
tödlichen Auswirkungen für den Anwender verboten sind. Eine neuere Schätzung durch die Vereinten Nationen geht davon aus, dass
jährlich etwa 40000 Landarbeiter durch den Umgang mit diesen
Giften sterben. Obwohl nur 20% der verbrauchten Mittel in Entwicklungsländern genutzt werden, ereignen sich dort 99% aller damit in
Zusammenhang gebrachten Todesfälle. Welche Wirkungen diese
Mittel durch den Import und damit verbundenen Verzehr noch hier
beim Endverbraucher anrichten können, lässt sich nur erahnen. Viele
hochgiftige Stoffe wie Paraquat, Camphechlor oder Endrin sind noch
419
längst nicht in die Listen mit den als gefährlich geltenden Giften
aufgenommen.830
Pestizide und hormonähnliche Stoffe in Erdbeeren
Bei Untersuchungen von Erdbeeren auf Pestizide wurde festgestellt,
dass 85% der Proben mit hormonähnlichen Stoffen belastet waren.
831
Süßigkeiten und Kaffe bei psychischen Problemen
In einer Studie an 550 Freiwilligen, die unter Schizophrenie, Ängsten, Phobien und Essstörungen litten, wurde die Wirkung von Kaffe
oder Schokolade festgestellt, die aus Frust konsumiert wurde. In
einem Tagebuch wurde das Befinden nach dem Konsum festgehalten. Die Einnahme von Süßigkeiten und Kaffee führten zu einem
deutlich schlechteren Befinden bei diesem Personenkreis.832
Schokolade
Wird sie nach Ansicht von Schweizer Forschern833 fünf bis 30 Minuten vor einer Mahlzeit verzehrt, so hebt sie den Blutzuckerspiegel an;
dadurch wird dem Gehirn Sättigung signalisiert. In der Folge wird
weniger gegessen.
Todesfälle durch Umweltgifte, Umweltverschmutzung und
schlechte Wasserversorgung
Ein 400-seitiger Untersuchungsbericht internationaler und amerikanischer Institutionen weist darauf hin, dass ein Viertel aller Todesfälle durch Umweltgifte, Umweltverschmutzung und schlechte Wasserversorgung verursacht sind. So stirbt in den ärmsten Ländern der
830
SZ, Nr. 206, 1998, S. V2 /10
Sabine HÄBERLEIN, Ernährungswissenschaftlerin, in MM, 156,
2001, Schongauer Nachrichten , S. 1
832
SZ, 112, 2000, S. 16; eine Untersuchung der gemeinnützigen
Stiftung „Mind“, veröffentlicht in der Times und im Daily Telegraph
833
MM, 241, 2001, S. 1
831
420
Welt jedes fünfte Kind vor dem Erreichen des sechsten Lebensjahres
an umweltbedingten Krankheiten.
4 Millionen Kinder sterben alleine an akuten Infektionen der
Atmungsorgane, welche durch Luftverschmutzung bedingt sind.834
Trans-Fettsäuren
Die bei Kindern besonders beliebten Nahrunsmittel (Pommes frites,
Nuss-Nougat-Creme) sind durch einen hohen Anteil an „teilgehärteten Fetten“ und somit durch einen hohen Gehalt an Trans-Fettsäuren
gekennzeichnet. Diese Substanzen, die in der Natur nur in sehr kleinen Mengen vorkommen, entstehen durch die Härtung von pflanzlichen Ölen. Durch diesen Vorgang wird eine größere Stabilität und
Streichfestigkeit erreicht. Der Cholesterinstoffwechsel, vor allem
von Kleinkindern, kann dadurch nachteilig beeinflusst werden.
Die Entwicklung des Gehirns, aber auch das Wachstum kann
durch Trans-Fettsäuren gehemmt werden. Trans-Fettsäuren sind
plazentagängig, das heißt sie besitzen die Fähigkeit, sich im Mutterkuchen einzulagern.835 Während der Schwangerschaft, speziell kurz
vor und nach der Geburt, sollte besonders auf die ausreichende Zufuhr von Linol- und Linolensäure geachtet werden, da während dieser Zeit der heranwachsende Organismus die mehrfach ungesättigten
Fettsäuren dringend zum Einbau in Membranlipide verschiedener
sich schnell entwickelnder Organe (Gehirn, Augen) benötigt.
Tributylzinn (TBT)
Diese Gift wird häufig in Fischkonserven gefunden. Eine Analyse
von 16 Fischfilets ergab eine Belastung aller Proben (mit bis zu 27
Mikrogramm pro Kilogramm) mit diesem Gift. Auch in Flundern,
Muscheln und T-Shirts wurde dieses Gift nachgewiesen. Die Bundesbehörden gehen von keiner konkreten Gefahr für die Gesundheit
bei Menschen aus.
Beim Verzehr einer 200-g-Packung von Fischkonserven werden
etwa 36% der von der WHO angegebenen duldbaren täglichen Men-
834
SZ, Nr. 100, 1998, S. 12
Zeitschrift für Ernährungswissenschaft, 1996, Bd. 35, S. 235, in
SZ Nr. 257, 1998, S. 30
835
421
ge an TBT eingenommen. Auch in Trikots des Sportartikelherstellers Nike wurde TBT nachgewiesen.
Die Hauptquelle von TBT sind sogenannte Antifouling-Farben die
bei Schiffsanstrichen zur Anwendung kommen und so in den Nahrungsmittelkreislauf gelangen.
Tributylzinn ist sehr häufig auch in größeren Mengen in PVCFußbodenbelägen enthalten.836 So wurden bei einer Untersuchung in
15 von 16 untersuchten PVC-Böden „gewaltige“ Mengen von TBT
entdeckt. Die Experten rieten dringend, PVC-Böden, vor allem im
Wohnbereich, umgehend zu entsorgen. TBT schadet dem Immunund Hormonsystem schon in winzigen Konzentrationen. Ein derart
belasteter Hafenschlick müsste als Sondermüll versorgt werden.
Selbst die Hersteller dieser Bodenbeläge seien entsetzt. Alle untersuchten Böden enthielten zusätzlich gesundheitsschädliche Weichmacher im Prozentbereich. Während TBT über den Abrieb in die
Raumluft gelange, gasen die Weichmacher kontinuierlich aus.
Trinkwasser – Schadstoffe – eine Ursache chronischer
Vergiftungen 837
(siehe auch Erkenntnisse zur Schwangerschaft/Geburt/Kindheit)
Bekannte Wasserschadstoffe:
1. Blei
Schon bei einer kurzen Verweildauer des Wassers in Bleirohren wird
die zulässige Bleikonzentration für Trinkwasser überschritten. Ein
Gesundheitsrisiko besteht regelmäßig in Häusern mit Bleirohren
durch die ständige Aufnahme kleiner Bleimengen.
In Deutschland liegen durchschnittlich 5% der Wasserproben über
dem Grenzwert von 40g/l. In einigen Regionen sind es sogar 35%.
Folgende Wirkungen sind zu erwarten:
Minderung der Intelligenz, hyperkinetisches Syndrom, Kopfschmerzen, Bauchkrämpfe, Bluthochdruck, Blutbildungsstörungen, Störungen des Immunsystems, Leber- und Nierenschäden.
836
Eine Untersuchung des Verbrauchermagazins Ökotest in SZ, 95,
2000, S. 16
837
BLASIG-JÄGER in Hpaktuell, 3, 1999, S. 13 bis 16; D. Münks
Verlag für Medizin; Tel: 0 21 50 / 32 12
422
Für Säuglinge, Ungeborene und Kinder bis zum sechsten Lebensjahr besteht jedoch die größte Gefährdung. Hier werden
Entwicklungsstörungen des sich ausbildenden Gehirns festgestellt, da oral aufgenommenes Blei vermehrt im Darm resorbiert
wird und die Blut-Hirn-Schranke noch nicht voll ausgebildet ist.
2. Kupfer
Bei saurem Wasser kann die Kupferkonzentration bis zu 17 400 g
betragen. Wird Säuglingsnahrung mit einem derart belasteten Wasser
zubereitet, wird damit die Ausscheidungskapazität des Säuglings
überschritten. Die Folge bei lang anhaltender Exposition ist eine
Leberzirrhose.
Weitere beobachtete Auswirkungen: chronische Durchfälle, Epilepsie, Migräne, diffuse Bauchschmerzen und Schmerzen.
3. Asbestfasern
Im Jahr 1992 gab es bundesweit noch ein Netz in der Länge von
31 126 km mit Asbestzementrohren, in welchen Trinkwasser transportiert wurde. Durch eine Reihe von durchgeführten Studien wird
vermutet, dass damit eine erhöhte Krebshäufigkeit verbunden ist, die
jedoch aufgrund der langen Latenzzeit von 37 Jahren schwierig abzuschätzen ist. In Haushalten, die ihre Wasserversorgung aus Asbestzementrohren beziehen, ist eine 300fache Raumluftbelastung mit
Asbestfasern festzustellen.
4. Hormonähnlich wirkende Substanzen
Viele im Trinkwasser vorkommende Substanzen (Hormone, Phtalate, Pestizide, PCB) besitzen eine hormonähnliche Wirkung. Das ist
auch eine Ursache dafür, dass in vielen Flüssen zunehmend mehr
weibliche Fische geboren werden. In der Berliner Havel sind es
bereits etwa 70%. Auch mit großem technischen Aufwand gelingt es
nicht, diese Substanzen in Kläranlagen oder Wasserwerken herauszufiltern.
5. Arzneimittel
Viele Arzneimittel können biologisch nicht vollständig abgebaut
werden. Durch Kläranlagen können z. B. Arzneimittel zur Senkung
des Cholesterinspiegels nur ungenügend oder gar nicht herausgefiltert werden. In Deutschland ist eine Untersuchung des Trinkwassers
423
auf Arzneimittelrückstände nicht vorgeschrieben. Untersuchungen
in den USA ergaben eine Belastung des Trinkwassers mit folgenden
Werten:
Name der
Arzneibestandteile
Enthalten in
Salicylsäure
Colfibrinsäure
Schmerzmitteln
100
Cholesterin senkenden 10
Medikamenten
Menge in g pro Liter
In deutschem Trinkwasser (Berlin) wurden durch die Berliner
Wasserwerke folgende Rückstände gemessen:
Name der
Arzneibestandteile
Enthalten in
Menge in g pro Liter
Colfibrinsäure
Cholesterin senkenden
Medikamenten
Psychopharmaka
Zytostatika
Antiepileptika
0,18
Diazepam
Bleomycin
Carbamazepin
0,4
0,009
1,6
6. Trihalomethane und Chlor
Das dem Wasser zur Desinfektion zugesetzte Chlor bildet zusammen
mit organischen Substanzen krebserregende Trihalomethane. Amerikanische epidemiologische Studien verweisen in einer Metaanalyse
auf das gehäufte Risiko hin, durch Chlor an Blasen- und Rektumkarzinomen zu erkranken. Auch weitere Schadstoffe können noch im
Trinkwasser nachgewiesen werden, wobei immer nur ein kleiner Teil
der in Wirklichkeit enthaltenen Stoffe erfasst wird: Pestizide, Hundekotbakterien, Arsen, Nitrat/ Nitrit, Legionellen u. a.
7. Möglichkeiten der Abhilfe
Es ist in jedem Fall sinnvoll, bei Verdacht auf eine Verunreinigung
das Trinkwasser analysieren zu lassen.
MultiPure Kohleblockfilter haben in Verbindung mit einem Filtertyp
wie dem MP-SSCT nach Untersuchungen der Freien Universität
Berlin ihre hervorragende Wirkung bei den oben aangeführten
Schadstoffen unter Beweis gestellt.
424
Einige Fakten und Zahlen zur globalen Wasserversorgung:838
Nur etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung ist mit ihren Haushalten
an Wasser- und Abwasserleitungen angeschlossen. Etwa 2 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Sie
müssen das Wasser aus Seen, Flüssen oder Tümpeln für den Gebrauch zubereiten.
Ca. 436 Millionen Menschen leben in Ländern, in denen Wasserknappheit herrscht. Ein europäischer Haushalt verbraucht etwa 150
Liter Wasser täglich. Davon nur drei Liter für Essen und Trinken. Im
Vergleich dazu verbraucht ein indischer Haushalt ca. 25 Liter pro
Tag. In Entwicklungsländern müssen arme Familien im Durchschnitt
ein Fünftel ihres Einkommens für den Kauf von Wasser aufwenden.
Mindestens die Hälfte aller Krankheiten (Amöbenruhr, Cholera,
Hepatitis A, Poliomyelitis) in den Entwicklungsländern sind auf
verschmutztes Wasser zurückzuführen.
Männer, die täglich zwei Liter Wasser trinken, haben ein um 50%
geringeres Risiko, an Krebs zu erkranken. Der Effekt ist noch deutlicher bei Rauchern im Zusammenhang mit Blasenkrebs.
Schwangerschaftsprophylaxe
Zu viel Kaffe kann wegen des hohen Coffeingehaltes bei mehr als
300 mg pro Tag Wachstumsstörungen beim Kind verursachen.
Vor Vitamingaben in konzentrierter Form sollte Abstand genommen
werden. Die Wirkung konzentrierter Vitamin-A-Gaben für das ungeborene Kind ist mit der Schädlichkeit von Thalidomid (Contergan)
vergleichbar. Die Verordnung von Jodgaben in der Schwangerschaft
ist umstrtitten. BERGMANN weist darauf hin, dass jede vierte Frau
ihre Schwangerschaft mit einer Jodmangelstruma beginne. Dies sei
eine Ursache zur Entstehung einer geistigen Behinderung des Kindes. Im Gegensatz dazu weist GRAF auf die möglichen Zusammenhänge zwischen Hashimoto-Thyreoiditis oder Morbus Basedow bei
zu starker Jodbelastung hin. Seiner Meinung nach gibt es heute kaum
mehr echte Jodmangel-Bedingungen.839
Der Mangel an Folsäure, die zum Vitamin-B-Komplex zählt, kann
Entwicklungsschäden auslösen. Dazu zählen u. a. Neuralrohrdefekte
(offener Rücken).
838
MM, 116, 1999, J 7
GRAF, Kritik der Arzneiroutine bei Schwangeren und Kindern,
24306 Plön, Tel. 0 45 22 / 17 77
839
425
Veränderte Lebensmittel
Ausgelaugte Böden, lange Transportwege und chemische Maßnahmen führen dazu, dass z. B. der Vitamin-C-Gehalt von Äpfeln in den
letzten zehn Jahren um 80% gesunken ist.840
Nach JANY ist es sehr schwierig, Lebensmittel mit dem Vermerk
„Gentechnikfrei“ zu kennzeichnen.
„60 bis 70 Prozent der im Laufe des Produktionsprozesses verarbeiteten Lebensmittel sind in irgendeiner Weise mit Gentechnik in Berührung gekommen.“841
Vitamin-Schock nach Überdosis von Getränken842
Hochdosierte Vitamingetränke (ACE-Getränke) können vor allem
bei Rauchern und Schwangeren gesundheitliche Schäden verursachen, wenn sie überdosiert eingenommen werden. Bereits ein Glas
decke den täglichen Bedarf an Vitaminen zu 60 bis 150% ab. Durch
das Trinken einer ganzen Flasche werde der Vitamin-A-Tagesbedarf
bis zu 375% überschritten. Da den ACE-Getränken Beta-Carotin
zugesetzt werde, können bei übermäßiger Aufnahme gesundheitliche
Schäden auftreten.
Wassertrinken 843
Die empfohlene alkohol- und koffeinfreie Flüssigkeitsmenge, die
täglich konsumiert werden sollte, liegt – abhängig vom jeweiligen
Körpergewicht – bei zweieinhalb Litern. Eine entsprechende Flüssigkeitszufuhr kann
 die Bildung von Nierensteinen verhindern
840
SZ, Magazin, 35, 1998
SZ, 204, 1999, S. 2; JANY ist Mitarbeiter an der Bundesforschungsanstalt in Karlsruhe.
842
MM, 111, 2001, S. 1; Hinweise der Staatlichen Ernährungsberatung in Bayern
843
SZ, 250, 2001, V2 /13; MANZ arbeitet am Forschungsinstitut
für Kinderernährung in Dortmund; Margaret WILSON arbeitet an
der St. Louis University, USA; LEHRL arbeitet an der Universität
Erlangen-Nürnberg.
841
426
 die körperliche Leistungsfähigkeit steigern.
Weitere Arbeitshypothesen, die dem momentanen Wissensstand
entsprechen (MANZ):
Zu wenig Flüssigkeit könnte


die Entstehung von Asthma begünstigen
das Risiko von Dickdarm- oder Blasenkrebs erhöhen.
Selbst kleinere Wasserdefizite können den Stoffwechsel der Nervenbotenstoffe beeinflussen (WILSON). Reichliches Trinken erhöht die
Aufmerksamkeit (LEHRL).
Versuche mit Studenten, die in die Sauna geschickt wurden und 24
Stunden lang dursteten, zeigten, dass




über Schlaffsein geklagt wurde
Albträume auftraten
Zahlenreihen nur schwer gemerkt wurden
der Inhalt von Videos nur schwer begriffen wurde.
Selbst wenn ausreichend nach dem Saunabesuch getrunken wurde,
war das Kurzzeitgedächtnis noch einen Tag später geschwächt.
Kinder dürfen auf keinen Fall gezwungen werden, in kurzer Zeit
mehrere Liter Wasser zu trinken. Große Wassermengen überfluten
die Nervenzellen im Gehirn und können ein tödliches Koma verursachen.
Manipulation von Schadstoffgrenzwerten durch die WHO
OETKEN weist darauf hin, Grenzwerte zu manipulieren, wenn sich
bei der täglichen Aufnahme eines Pestizids zu hohe Werte ergeben.
Dies geschah zum Beispiel 1999 bei Chlorpyrifosmethyl. Diese
Substanz wird gegen beißende Insekten im Stall und auf Obstplantagen eingesetzt. Als eine Überschreitung des ADI-Wertes (acceptable
daily intake) festgestellt wurde, wurde einfach die täglich verzehrte
Menge an Vollkornmehl durch die WHO geringer angesetzt.844
844
SZ, 247, 1998, V2 /19; Gudrun OETKEN ist Mitarbeiterin im
Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) in Hamburg.
427
Tipps zu einer gesunden Ernährung
Das Übergewicht bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in
Deutschland nimmt seit 1985 stark zu. Jedes dritte Mädchen und
jeder vierte Bub gilt inzwischen als zu schwergewichtig.845
So hätten 26% der Jungen und 33% der Mädchen ein zu hohes Gewicht. Als Hauptursache wird eine Zunahme des Verzehrs von fettreicher Kost und Bewegungsarmut genannt.
Der Anteil der Gemusterten mit einem Körpergewicht von über 90
kg stieg zwischen den Jahren 1957 und 1997 von 2 auf 13% und hat
sich damit versechsfacht.
Kinder und Jugendliche wissen oft viel über eine gesunde Ernährung, aber sie setzen dieses Wissen nicht um. Am besten lernen die
Kinder durch die Vorbildwirkung ihrer Eltern.







Fettreiche Kost vermeiden
Alkohol in geringen Mengen
Täglich 2 Liter Wasser trinken
Drei bis fünfmal Gemüse und Obst essen
Wenig Fleisch und Eier essen
Wenig zusätzlich salzen
Fisch, Olivenöl und Gemüse, Reis, Brot
Science kommt neuerdings zu dem Schluss, dass Vorurteile einzelner
Forscher, aber auch die Einflussnahme von Beamten und Politikern
in Schlüsselpositionen während der 60er und 70er Jahre die unbewiesene Hypothese „zu viel Fett sei ungesund für das Herz“ zum
Dogma werden ließen. Auch die weltweit gültige Formel gesunder
Ernährung „30% der Kalorien als Fett“ ist wissenschaftlich nicht
belegt.846 So sind die Wirkungen einer fett-reduzierten Ernährung auf
völlig gesunde Menschen bisher noch nie in einer wirklich aussagekräftigen Studie erprobt und belegt worden. Der Grund dafür liegt in
den immensen Kosten für eine solche Studie, denn Zehntausende
müssten über mindestens zehn Jahre hinweg beobachtet werden.
Eine britische Arbeitsgruppe untersuchte 17 000 Fett-Studien der
845
MM, 290, 2000, S. 1; Untersuchungen des Gesundheitsamtes
Halle und der Universität Jena
846
SZ, 84, 2001, V2 /9
428
letzten 35 Jahre. Ergebnis: Die Lebenserwartung steht offensichtlich
in keinem Zusammenhang mit einer fettreduzierten Ernährung.847
In den USA wurde laut Science ein 1988 begonnener Versuch des
Gesundheitsministers, das Wissen über Fette zusammenzufassen,
nach elf Jahren abgebrochen, weil die Aufgabenstellung zu kompliziert war.
Etwa 10% der sechs- bis zehnjährigen Jungen und 7% der gleichaltrigen Mädchen leiden unter einem Übergewicht. Gründe dafür, dass
viele Erwachsene in Deutschland zu dick und trotzdem schlecht
ernährt sind: 848
 zu hoher Alkoholkonsum
 zu wenig Bewegung
 Defizite in der Zufuhr einzelner Nährstoffe :
Kalzium: ist ein wichtiger Knochenbaustein; Kinder und Jugendliche nehmen meist nur 60 bis 80% der notwendigen Tagesdosis zu
sich; besonders in der Pubertät ist dies wegen des schnellen Knochenwachstums besonders kritisch; Milch und Milchprodukte enthalten Kalzium.
Jod: ist ein Spurenelement; Deutschland ist ein Jodmangelgebiet;
Abhilfe bei einem Jodmangel kann durch jodiertes Salz erfolgen.
Vitamin E und Beta-Carotin (Folsäure): Beinahe alle Deutschen
nehmen zu wenig davon auf. Das Vitamin ist reichlich enthalten in
Blattsalaten, Blattgemüse, Spargel, Hülsenfrüchten, Nüssen und
Vollkornbackwaren und ist wichtig zum Schutz der Föten in den
ersten Monaten der Schwangerschaft. Es schützt vor Missbildungen
wie Neuralrohrdefekten und kann zu hohe Homocysteinwerte im
Blut senken (Schutz vor Koronarsklerose und Arteriosklerose).
Zucker
Bei Kindern im Alter zwischen zwei und 13 Jahren erhöhte sich der
Verbrauch von Zucker in Lebensmitteln, die mit Vitaminen aufgepeppt wurden, innerhalb von zehn Jahren fast um das Doppelte (von
847
British Medical Journal, 2000, Bd. 322, S. 757
SZ, 297, 2000, V2/10; Bilanz der DGE (Deutsche Gesellschaft für
Ernährung)
848
429
10 auf 19%). SICHERT-HELLERT zu dem zweifelhaften Nutzen
dieses von der Zuckerindustrie forcierten Vorgehens: „Einerseits
werden Substanzen überreichlich zugesetzt, an denen kein Mangel
besteht; andererseits fehlen oft Stoffe, deren Anreicherung sinnvoll
sein könnte, wie Eisen oder Folsäure . . . Es geht hier wohl eher
darum, bestimmte Produkte attraktiv zu machen.“849
In einem neuen „wissenschaftlichen“ Buch mit dem Titel „Süßwaren in der modernen Ernährung“ behaupten KLUTHE/KASPER,
dass der Rat, wenig Süßes zu verzehren, nicht mehr dem Stand der
Wissenschaft entspreche. Die einseitigen Beiträge in diesem Buch
sind Beiträge einer Tagung, „durchgeführt mit freundlicher Unterstützung des Lebensmittelchemischen Instituts der Zuckerindustrie“.
Bericht eines Arztes zum eigenen Konsum von Zucker: 850
„Auch ich habe lange geglaubt, man könne Süßigkeiten ungestraft in
großen Mengen zu sich nehmen, wenn man nicht zuckerkrank ist
und sein Gewicht in Grenzen halten kann. Ich habe Zucker in jeder
Form zu mir genommen, vor allem aber in einer süßen ZitronenOrangen-Limonade, die ich literweise in mich hineingeschüttet habe.
Es begann mit vorübergehender Pelzigkeit an den Füßen, die sich
allmählich zu einer peripheren Neuropathie auswuchs . . . Ich habe
nie geraucht . . .Meine Mutter wurde 100 Jahre, ohne zu verkalken,
mein Vater ist allerdings früh an Krebs gestorben, sodass eine familiäre Belastung von Vaterseite nicht ausgeschlossen ist . . . Der anhaltend hohe Blutzucker löst offensichtlich die Symptome des Diabetes aus. Zucker war zwar ein angenehm schmeckendes Nahrungsmittel, aber anscheinend auch der Auslöser meiner Krankheiten. . .
Die Wirkung des Zuckers im Organismus ist vergleichbar einem
Strohfeuer. Akut wird eine große Menge Energie frei, ohne verwendet werden zu können . . . “
849
SZ, 91, 2000, V2/11; SICHERT-HELLERT ist Mitarbeiter am
Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung;
KLUTHE/KASPER sind Mitarbeiter an der Deutschen Akademie für
Ernährungsmedizin.
850
SZ, 275, 2001, S. 22, Leserbriefe; Dr. Wolfgang Popp, Gräfelfing
bei München
430
Kosmetika – Lipp-Gloss851
13 von 21 untersuchten derartigen Produkten wurden als mangelhaft
bewertet. Fast alle Produkte enthielten einen zu hohen Anteil von
Erdölprodukten und Silikonen. Einige dieser Stoffe könnten sich in
Leber, Nieren oder Lymphknoten anreichern. Auch halogenorganische Verbindungen wurden zusätzlich beanstandet. Sie stehen im
Verdacht, trotz ihres geringen Anteiles Allergien oder Krebs auszulösen. Auf den Packungen sind sie an folgenden Bezeichnungen zu
erkennen:
 „Bromo“ – „Jodo“ – „Chloro“.
Weitere beanstandete Inhaltsstoffe:
 hormonell wirkende UV-Filter
 leberschädigende, polyzyklische Moschusverbindungen
 Polyethylenglykole – sie machen die Haut für Schadstoffe
durchlässig.
Erdölprodukte und Silikone sind an folgenden Begriffen zu erkennen:
 Paraffin, Microcrystalline, Wax, Petrolatum, Mineral Oil, Ceresin und Dimethicone.
Testsieger mit der Bewertung „sehr gut“ wurde der „LaveraLippgloss“ aus dem Bioladen.
851
Öko-Test, November 2001 und in MM, 246, 2001, Weltspiegel
431
Die mediengeschädigte Gesellschaft
Die Mediengesellschaft
Die Menschen in den USA, Japan und Westeuropa leben in einer
Informationsgesellschaft, die sich immer neuer Techniken bedient.
Angaben in Prozent852
Medium
Mobiltelefon
PC
Internetzugang
USA
41
65
63
Japan
47
32
35
Deutschland
59
34
39
Medien in Kinderzimmern
Eine Untersuchung853 aus dem Jahr 1999 an 1000 Kindern und deren
Eltern belegt, dass die Kinderzimmer immer stärker mit Medien
besetzt sind. Das Fernsehen hat sich zur häufigsten Freizeitbeschäftigung bei den sechs- bis 13-jährigen Kindern entwickelt.
Abnahme des Realitätsbezuges
SÜSSMEIER854 weist darauf hin, dass bereits die Kinder Unterhaltungselektronik im Überfluss besitzen. Bei fast einem Viertel der
Schulanfänger steht der eigene Fernseher und/oder der Computer im
Kinderzimmer. „Der Realitätsbezug der Kinder nimmt ab.“
Beim Versteckpiel mit Fünftklässlern schafften es einige nicht, einen
richtigen Unterschlupf zu finden. Sie krochen deshalb hinter ein
Gitter, in der Annahme, dort nicht gesehen zu werden. In einigen
Kindergärten werde schon über eine Verlängerung der morgendlichen Bringzeit nachgedacht, da das Frühstücksfernsehen offenbar
mehr fessele als Basteln und Spielen.
Als ich mit einer neunten Klasse im Sozialkundeunterricht eine Gerichtsverhandlung besuchte, wurde ich während der Verhandlung
von einem Schüler gefragt: „Ist das echt oder spielen die das nur?“
852
SZ, 236, 2001, V1 /22
MM, 2, 2000, Tele-Merkur
854
SZ, 120, 2001, S. 54 München; SÜSSMEIER ist Mitglied der
„Münchner Aktionswerkstatt G`sundheit“.
853
432
Fernseher – Videogeräte – Computer in Deutschland
Jahr
Kinder mit
eigenen Fernsehgeräten
im Kinderzimmer (%)
Westen
insgesamt Osten
17%
25%
1990
1999
1990
1999
1999
eigenen Fernsehgeräten jedes
im Kinderzimmer (%)
vierte
Kind
eigenen Videogeräten
3%
eigenen Videogeräten
eigene Computer
9%
jedes
zweite
Kind
28%
20%
Über zwei Millionen Deutsche leben ohne ein Fernsehgerät. Laut
Statistik hat sich ihre Zahl in den vergangenen drei Jahren verdoppelt. In Deutschland schauen etwa 58 Millionen Menschen täglich
etwa 190 Minuten fern.855
Informationskollaps durch Medienflut
Seit 1960 hat sich das Informationsangebot der Medien um etwa
4000% erweitert. Es stellt sich die berechtigte Frage, ob bei diesem
immensen Angebot eine problemlose Auswahl und Verarbeitung
einschließlich einer kritischen Bewertung noch möglich ist. Im gleichen Zeitraum wuchs die Kapazität des Menschen, Informationen zu
verarbeiten bestenfalls nur um 4%. Kritiker warnen vor einem kollektiven Informationskollaps.
Durch die ständig anwachsende Informationsflut entsteht eine damit
verbundene Unübersichtlichkeit. Dies wird von Teilen der Gesellschaft als Mangel an Information erlebt. MERTEN weist darauf hin,
dass die zunehmende Vernetzung und Vervielfältigung der Medienangebote zwar in der Folge zu einer informierten Gesellschaft, nicht
aber zu einem informierten Bürger führe. Insgesamt werde sich die
Schnittmenge gemeinsam geteilten Wissens verändern. Daran gekoppelt seien Auswirkungen wie Verständigungsprobleme und eine
Spaltung der Gesellschaft. 856
855
SZ, 1, 2002, S. 35
MM, 72, 1999, S. 4; MERTEN ist Professor für Kommunikationsforschung in Münster; GATES ist Chef von Microsoft;
856
433
GATES stellt die Frage, ob der Mensch sich in Zukunft „zu Tode
konsumiert und informiert“, da im allgemeinen unzureichende Einrichtungen zur Informationsfilterung vorhanden seien. Er sieht eine
Informationsgesellschaft nur dann als gelungen, „wenn jeder Anwender lediglich die Daten bekommt, die seinen Interessen und
Bedürfnissen entsprechen.“
SCHMIDT vertritt die Meinung, dass jeder Mensch die angebotene
Information nach seiner Neigung und seinen kognitiven Fähigkeiten
nutze.
WINTERHOFF-SPURK appelliert an die „Mediennutzungsmoral“
der Konsumenten.
Untersuchungen mit Kindern haben gezeigt, dass die neue Genration
der Mediennutzer – junge Computerbesitzer – häufiger Bücher lesen
als Kinder ohne PC-Zugang, wobei die Frage offen bleibt, ob nicht
andere Faktoren ebenfalls in starkem Maße beeinflussend sind.
Ich denke, dass viele Menschen sich keinen PC leisten können und
habe dabei meine Schüler vor Augen. Sie sind von Geburt an oft mit
Handicaps belastet und haben keinerlei Interesse, freiwillig ein Buch
zu lesen. Ich bezweifle, ob das Vorhandensein eines PCs diese Einstellung ändern würde.
Schlagworte wie „Medienkompetenz“ werden häufig gebraucht.
„Kompetenz“ zu erwerben ist jedoch ein langer Prozess und setzt
sowohl die Möglichkeit der Bildung, der Erziehung als auch Interesse einschließlich der Möglichkeit des Austauschs von Erfahrungen
voraus. Um Kompetenz zu erreichen, müssen vor allem Kinder und
Jugendliche wieder lernen, mit gesetzten Grenzen zu leben, und für
ihre Erfahrungen Ansprechpartner haben. Eine sinnvolle Selektion
erfordert ein gewisses geistiges Niveau und den Mut, Inhalte, die
sozial fragwürdig sind, gemeinsam anzusehen, anzuhören und zu
besprechen. Hier ist die Schule besonders gefordert. Das Lernen des
Lernens sollte hier in erster Linie stattfinden.
Krankmachende Wirkung des Fernsehens
Nach Ansicht von Kinderärzten besteht die Gefahr, dass die Kinder
durch das lange Fernsehen mit Sauerstoff unterversorgt werden. Im
SCHMIDT ist Leiter des Instituts für Medienforschung an der Universität Siegen; WINTERHOFF-SPURK ist Professor für Medienpsychologie in Saarbrücken.
434
Durchschnitt verbringen drei- bis fünfjährige Kinder täglich etwa 80
Minuten vor dem Bildschirm. Ein Drittel der Neun- bis Zehnjährigen
hätte sogar einen eigenen Fernseher. STIER weist darauf hin, dass
das Fernsehen der Faktor sei, der nach der Familie die Jugend am
meisten beeinflusse.
„Es ist heimlicher Miterzieher in 99% der Haushalte.“857
Folgen des Dauer-Fernsehkonsums:







Immer häufiger sind die Kinder überreizt.
Sie können sich kaum konzentrieren und seien hyperaktiv.
Sie zeigen Verhaltensstörungen und Aggressivität.
Sprach- und Wahrnehmungsstörungen nehmen dramatisch zu.
Die Unterscheidung von virtuellen und echten Szenen ist für
viele Kinder nicht mehr möglich.
Beeinflussung des Sexualverhaltens.
Jugendliche erleben den ersten Sex immer früher
(ca. 12 000 bis 18 000 Teenager werden nach WEISSENRIEDER im Jahr schwanger; es entsteht der Eindruck, dass alle
möglichen Spielarten der Sexualität leicht verfügbar seien).
Das lange Sitzen vor dem Fernseher und dem Computer ist nach
Ansicht von Kinderärzten zusammen mit dem Konsum kalorienreicher Süßigkeiten für die zunehmenden Schwierigkeiten der Kinder
im Vorschulalter mit ihrer Körperkoordination verantwortlich. Immer mehr Kinder verletzen sich durch Bewegungsunsicherheiten wie
Stolpern, Ausrutschen oder Umknicken.858
 Die Verbreitung der Spaßkultur
Die Gestalter der Fernsehprogramme sind nach OPASCHOWSKI
schuld an der Verbreitung der Spaßkultur.
857
MM, 60, 1999, Weltspiegel; STIER ist Kinderarzt und Beauftragter für Jugendmedizin in Hessen; WEISSENRIEDER ist der Beauftragte für Jugendmedizin in Bayern.
858
MM, 47, 2000, S. 1; Information der Landeszentrale für Gesundheit in Bayern.
435
„Immer mehr Zuschauer steigen auf flachere Programme um und
arrangieren sich mit dem Niveauverlust, während Nachrichten und
politische Programme auf der Strecke zu bleiben drohen.“859
Ein tiefgreifender Wertewandel zeichnet sich quer durch durch alle
Altersgruppen ab.
Werden Schüler unserer Schule (Förderschule/Lernförderung) wegen
verübter Gewalttätigkeiten gegenüber Mitschülern zur Rede gestellt,
so ist immer wieder die gleiche rechtfertigende Äußerung zu hören:
„Es war doch nur Spaß!“
Emotionale Abstumpfung von Fernseh-„Vielsehern“
Eine aufwendige Studie von MYRTEK/SCHARFF860 belegt die
Folgen eines übermäßigen Fernsehkonsums bei Schülern. Sie belegten, dass Fernseh-Vielseher (bis zu knapp drei Stunden täglich)
 einsamer und abgestumpfter sind
 die Schulnoten von Vielsehern schlechter sind
 dass Vielseher viel mehr Stress im wirklichen Leben empfinden
als Wenigseher (unter einer Stunde)
 weniger Sport treiben
 sich weniger häufig mit Freunden treffen
 weniger mit anderen sprechen
 einen abnehmenden Bewegungsdrang zeigen
 seltener ein Musikinstrument spielen
 längere Zeit sitzend verbringen
859
MM, 85, 2001, S. 9 ;OPASCHOWSKI ist Leiter des BAT Freizeit-Forschungsinstitutes in Hamburg.
860
SZ, 107, 2001, S. 24; MYRTEK/SCHARFF sind Professoren und
arbeiten in der „Forschungsgruppe Psychophysiologie“ an der Universität Freiburg. Untersucht wurden einen Tag und eine Nacht lang
je 100 Schüler im Alter von elf und 15 Jahren; es wurden Herzfrequenz und Bewegungsaktivität gemessen; außerdem mussten die
Jugendlichen alle 15 Minuten per Knopfdruck angeben, wie sie sich
gerade fühlen. Durch den ständigen Vergleich von Herzfrequenz und
Bewegungsaktivität konnten die Aufregung und die emotionale Belastung ermittelt werden.
436

ältere Jugendliche, die viel fernsehen, reagierten dabei mit den
höchsten Stress-Werten auf die Schule. Ihre Noten sind am
schlechtesten, vor allem in Deutsch.
So kann eindeutig belegt werden, dass sich mit zunehmendem Fernsehkonsum die Schere zwischen virtueller Welt und Realität immer
weiter öffnet. Die häufig angeführte „Nachahmungstheorie“ vereinfacht die komplexen Zusammenhänge zu sehr. Die Erklärung für
Gewalttätigkeiten von Vielsehern können damit begründet werden,
dass sie das wirkliche Leben nicht mehr meistern können, da sie es
als komplizierter, anstrengender und bedrohender empfinden als die
im Fernsehen gezeigten Pseudorealitäten.
Jüngere Kinder zeigten sich emotional wesentlich stärker durch das
Fernsehen belastet als ältere. Insgesamt zeichnet sich ein verhängnisvoller Kreislauf ab:
Vielseher haben weniger Zeit zum Musizieren, Sporttreiben, Lesen,
Reden und Schreiben. Die entsprechenden Fertigkeiten verkümmern;
die Schulleistungen verschlechtern sich. In der Folge wird wieder
Zuflucht beim Fernseher gesucht.
MYRTEK: „Wir waren tatsächlich erstaunt, belegen zu können,
welch starken Einfluss der Fernseh-Konsum auf die Emotionen hat.
Aber ich würde mich darauf beschränken, zu sagen: Ältere Vielseher
bekommen Schwierigkeiten in der Schule, kommen nicht mehr mit.
Das empfinden sie als belastend, und das wiederum kann die Aggressivität fördern.“
Computerspiele – Medienwirkungsforschung
Das Geschäft mit elektronischen Spielen hat sich in den letzten 20
Jahren zu dem am schnellsten wachsenden der Unterhaltungsbranche
entwickelt. Für viele Kinder und Jugendliche dienen diese Spiele als
Möglichkeit der Abgrenzung gegenüber der Welt der Erwachsenen.
Die Sprache der „User“ wird geprägt durch die Geisteshaltung des
amerikanisch-japanischen Marktes und der dort vorherrschenden
Konsumkultur.
Der Versuch einer Antwort auf die Frage, ob gewaltorientierte Computerspiele die Entwicklung von Aggressionen fördern und welche
Rolle sie bei der Zunahme kindlicher und jugendlicher Gewalt spielen, kann nur mit Hilfe der Kombination verschiedener Denkansätze
der Medienwirkungsforschung erfolgen.
437
Stimulationstheorie
Sie geht davon aus, dass gewalttätige Bildinhalte Aggressionen fördern.
Habitualisierungstheorie
Die Vertreter dieser Theorie behaupten, dass mediale Gewalt die
Konsumenten an die Gewalt gewöhnt und zugleich abstumpfende
Wirkung ausübt.
Inhibitionstheorie
Sie besagt, dass gewalttätige Bilder eher gewalthemmend wirken,
weil sie Angst einflößen.
Katharsistheorie
Danach wird durch das Betrachten von Gewalt Spannung abgebaut
und in der Folge die reale Gewaltbereitschaft eingeschränkt.
Neuere Untersuchungen zur Computerspielforschung gehen davon
aus, dass diese Spiele kurz- und langfristige Effekte in Bezug auf das
kindliche Verhalten zeigen. Einerseits wird das Anwachsen der passiven Akzeptanz von Gewalt, andererseits das Ansteigen des Aggressionsniveaus – jedoch abhängig von der Geborgenheit, die die
Kinder im Elternhaus spüren – betont.
STECKEL/TRUDEWIND861 konnten durch eine Studie mit 167
Mädchen und Jungen zwischen sieben und 14 Jahren nachweisen,
dass die emotionale Sensibilität bei Kindern, die mit einem Gewaltspiel konfrontiert worden waren, im Gegensatz zu einer Gruppe, die
mit einem aggressionsfreien Spiel gespielt hatte, herabgesetzt war.
Nach Ablauf der Spielzeit betrachteten die Kinder emotional belastende und neutrale Bilder.
Die Jugendlichen, die mit dem Gewaltspiel spielten, verweilten wesentlich länger bei den belastenden Bildern. Die Aufzeichnung der
Mimik, die Kontrolle der Herzschlagfrequenz beim Betrachten der
Bilder, aber auch durch Befragungen und das Erzählenlassen kurzer
Geschichten bestätigten das Ergebnis. Auffällig war jedoch, dass
Kinder, die sicher gebunden und emotional geborgen waren, einen
sicheren Schutz gegen die Wirkung gewalttätiger Spiele zeigten und
zudem emotional geringer abgestumpft waren. Der Schutz gegen
861
SZ, 120, 2001, VI; Rita STECKEL arbeitet an der Universität
Bochum zusammen mit TRUDEWIND seit Beginn der 80er Jahre
im Bereich der Medienwirkungsforschung.
438
destruktive Einflüsse der Außenwelt ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass sich ein Kind geborgen und geliebt fühlt. Dies ist
auch die Grundlage für die Entwicklung von Empathie.
Unter dem Deckmantel des mythischen Kampfes des Guten gegen
das Böse werden durch die gewaltorientierten Computerspiele wichtige Normen und Werte regelrecht „entwertet“. Schuldgefühle, Reue,
Angst vor Strafe, Rücksichtnahme, Scham, das Herstellen von Gerechtigkeit oder aber das Aufrechterhalten einer bestimmten Ordnung werden durch diese Spiele „regel(ge)recht“ verlernt. Brutalität
wird durch Gewinn legitimiert und als einziges Mittel zur Ausübung
von Macht und Kontrolle verinnerlicht. Betrachtet man die Problemlösungsstrategien bestimmter Staaten, so bleibt die Frage, ob
durch diese Spiele nicht auch die Wirklichkeit gespiegelt wird. Allmachtfantasien werden genährt. Die Chance, König in einer virtuellen Welt zu sein, befreit Kinder häufig von dem Druck, sich den
Leistungsanforderungen in der realen Welt zu stellen, und treibt sie
in eine emotionale und körperliche Isolation.
Besonders gefährdet sind die Vielspieler-Jungen im Alter von acht
bis zwölf Jahren. Sie neigen zu besonders hoher Aggressivität. Gewaltorientierte Spiele setzen durch die nach „anderen“ Gesetzen
ablaufenden, ständig simulierten Handlungen Lerneffekte in Gang
und können so zu einem Probelauf für die Realität werden.
Die Kontrolle darüber, in welchem Ausmaß Kinder mit dem Computer spielen – aber auch Verbote – sind wichtig. Kinder, deren Eltern
in diesem Sinne aktiv sind, zeigten eine hohe Empathiefähigkeit.
Schadlos mit dem Computer spielen
Eine britische Studie belegt, dass Eltern, die ihre Kinder dazu anhalten, mit dem Computer nicht nur zu spielen, sondern ihn auch zu
nützlichen Dingen einzusetzen, genau das Gegenteil erreichen.
Zugleich wird belegt, dass Computerspiele Koordination und Konzentration fördern. Bei der Untersuchung von 100 englischen Computerspielern, die ca. 18 Stunden wöchentlich vor dem Monitor verbrachten, wurde das Bild vom abgeschotteten Computer-Kind ohne
feste Bindungen zu Freunden, ohne Spaß am Lesen und ohne Freude
am Sport widerlegt. Computer-Kids verbrachten genauso viel Zeit
439
mit diesen Beschäftigungen wie ihre nicht Computer spielenden
Kameraden.862
Eine zweite Studie kam zu dem Ergebnis, dass die „regelmäßigen“
Computerspieler durchschnittlich mehr Sport treiben, mehr lesen,
ausgeglichener sind und auch mehr Freunde haben als die Vergleichsgruppe.
Die Möglichkeit, beim Übertreiben des Spielens süchtig zu werden,
wurde durch diese Studien bestätigt.
Computer: lieber spielen statt lernen
CROOK/KERAWALLA fanden durch ihre Studie eine mögliche
Antwort auf die Frage, warum Kinder lieber am Computer spielen,
anstatt ihn zum Lernen zu benutzen. Über einen Zeitraum von zehn
Monaten wurden alle PC-Aktivitäten bei 33 Familien aufgezeichnet.
Den Kindern standen sechs verschiedene Lernsoftware-Pakete zur
freien Verfügung.
Die Kinder fanden das Spielen jedoch wesentlich interessanter als
das Lernen. Als Erklärung dafür wird die fehlende gruppendynamische Motivation durch Lehrer und Mitschüler angegeben. Während
sich in der Schule alle mit einem Problem auseinandersetzen, sitzt
der Schüler zu Hause allein vor dem Monitor.863
Manipulierte Inhalte
Unzählig viele Kinder sitzen ohne Kontrolle täglich stundenlang vor
dem Fernseher. Dies ist äußerst bedenklich, weil es inzwischen ein
offenes Geheimnis ist, dass mit korrekten Botschaften heimliche
Geschäfte in vielen Staaten gemacht werden. So sind Regierungen
oftmals nicht unbeteiligt, wenn es um den Inhalt von Fernsehsendungen geht. Die Verbindung von Fernsehsendungen, in denen soziale Verantwortung deutlich gemacht wird, ist mit großen Geldspenden verbunden. So bezahlte der Kongress dem ODDCP 1997 eine
Milliarde Dollar in Form einer Spende für eine fünfjährige Anti862
SZ, 174, 2001, V2 /10; Studie der Abteilung für Sozialforschung
an der Universität Manchester; die zweite Studie wurde an der Nottingham Trent University an 800 Kindern durchgeführt.
863
SZ, 156, 2001, V2 /12; CROOK/ Lucinda KERAWALLA arbeiten an der Loughborough University in Leicestershire, England.
440
Drogenkampagne. Diese finanzielle Transaktion wurde unter Ausschluss der Produzenten und der Autoren allein über die Verkaufsabteilung abgewickelt.
Die Gefahr solcher Vorgehensweisen ist offensichtlich:
„Wenn die Öffentlichkeit zu glauben beginnt, dass eine Botschaft
nur deswegen hineingebracht wird, weil es dafür eine finanzielle
Entlohnung gibt, dann ist es gut möglich, dass der Wert aller unserer
Botschaften untergraben wird.“864
Es ist durchaus vorstellbar, dass Filmproduzenten auch durch die
Auswahl von Kleidern, Getränken und anderen Dingen das Verhalten der Jugendlichen entscheidend mitbestimmen und für heimliche
Werbekampagnen leicht zu kaufen sind. Die Macht der Medien wird
meines Erachtens nach absolut unterschätzt.
Der Rundfunkstaatsvertrag
Nach ihm werden Sendungen als unzulässig bezeichnet, die „geeignet sind, Kinder oder Jugendliche sittlich schwer zu gefährden.“
Ähnliche Formulierungen finden sich auch in
 den Jugendschutzkriterien von ARD und ZDF
 dem Bewertungsleitfaden, den die Kontrolleure der Privaten, die
Landesmedienanstalten, entworfen haben
 den Prüfgrundsätzen, nach denen die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) verfährt
 den Richtlinien der FSF (Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen,
ein von Privatsendern gegründeter, gemeinnütziger Verein)
 den „Verhaltensgrundsätzen“ der Privaten für Talkshows.
Wie verschieden die Interpretationen darüber sind, was es bedeutet,
einen „Wert“ zu vermitteln oder welche Inhalte als jugendgefährdend einzustufen sind, erregt immer wieder die Gemüter. So kann
das Thema: „Ich gehe in den Puff – na und?“ aus der Sicht von Privatsendern, die Talkshows anbieten, als Versuch dargestellt werden,
einen Wert zu vermitteln.
Das Vorgehen, fragwürdige Themen und Inhalte zum Zwecke der
Aufklärung und Abschreckung zu senden und zu zeigen, ist weit
864
SZ, 11, 2000, S. 22; WELLS, Produzent der preisgekrönten OPSerie Emergency Room in den USA
441
verbreitet. Voyeurismus und Aufklärung liegen dicht beieinander
und sind oft nicht mehr zu unterscheiden.
Grundsätzlich ergeben sich folgende Forderungen, um eine sozialethische Desorientierung vor allem bei Kindern und Jugendlichen zu
vermeiden, indem die Erziehenden zusammen mit den Kindern oder
Jugendlichen Sendungen anschauen und unter folgenden Aspekten
darüber sprechen:
Werden durch diese Sendung/diesen Film
 Werte vermittelt, wenn ja – welche?
 Wird Gewalt verharmlost? In welcher Form
 Bin ich als Erwachsener Vorbild? Finden sich Verhaltensweisen, die ich gut/schlecht finde und wage ich, darüber zu sprechen?
 Wie steht es mit der Darstellung der Gleichberechtigung? Welches Frauenbild/Männerbild vermittelt der Film?
 Wird die Menschenwürde geachtet?
 Wird Pornographie dargestellt oder verbreitet?
 Wird die Privatsphäre durch Darstellungen oder Interviews
verletzt?
 Wird das Prinzip der Ausgewogenheit genügend beachtet?
Die größte Gefahr besteht dann, wenn Eltern die Kontrolle darüber
verlieren, was ihre Kinder sich im Fernsehen, auf Video oder im
Kino ansehen. Die Erziehungsberechtigten, die ihre Kinder vor den
Fernseher setzen, damit deren Langeweile nicht lästig wird, produzieren selbst spätere Gewalttäter.
Die Handy-Gesellschaft
Abgesehen von der noch nicht endgültig geklärten Gesundheitsgefährdung durch von Handys und die für ihre Funktion notwendigen
Sendeantennen ausgehende Strahlung sind die Handykosten und
somit unbezahlte Telefonrechnungen nach RÜGER865 bei 15% aller
Beratungsgespräche in Schuldnerberatungsstellen mitverantwortlich
für die Verschuldungen. Vor allem junge Menschen haben erhebliche Probleme mit der Transparenz der Tarife.
865
MM, 23, 2000, S. 1 und 2; RÜGER arbeitet bei einer Schuldnerberatungsstelle in München.
442
Werbebriefe – SMS und Servicenummern – das große Geschäft
Unaufgeforderte Werbung per Fax oder Handy kommen häufig einem Psychoterror nahe. Besonders die „Sonder-Rufnummern“ sind
oft an kriminelle Machenschaften gekoppelt. Seitenlange nutzlose
Informationen treiben nicht nur die Papier- oder Druckkosten in die
Höhe, sondern sorgen auch für hohe Telefonrechunungen. Unternehmen in Deutschland können im Gegensatz zu ausländischen
Unternehmen durch eine Abmahnung und eine einstweilige Verfügung zu einem Werbeverbot gezwungen werden. Durch eine an das
Fax gekoppelte Zeitschaltuhr lässt sich die unerwünschte Werbung
meist erfolgreich verhindern.
Vorgetäuschte wichtige SMS-Handy-Mitteilungen mit der gleichzeitigen Aufforderung, doch schnell unter der Nummer 0190 . . . zurückzurufen, führen ebenfalls zu hohen Telefonrechnungen.
Auch die nach unerwünschten telefonischen Werbekampagnen
zugeschickten ungültigen Auftragsbestätigungen der Telekom zu
ihrem „AktivPlus“-Tarif sind rechtlich äußerst fragwürdig.866
Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes 867 darf das Begleichen
der Telefonrechnung nicht mit der Begründung verweigert werden,
dass Sextelefonate sittenwidrig seien.
Ein Mobilfunkbetreiber hatte eine Kundin auf Bezahlung der HandyGebühren in Höhe von 20 000 DM verklagt. Die Frau hatte die Bezahlung mit der Begründung verweigert, ihr Vater habe über ihr
Mobiltelefon die Sondernummern mit der Vorwahl 0190 angewählt.
Besitzer einer Telefonanlage – es muss nicht ISDN sein – können
bestimmte Nummern automatisch bei der Installation sperren, um
einem Missbrauch vorzubeugen.
866
867
SZ, 96, 2001, S. 50, München; die Tabelle ebda.
MM, 270, 2001, S. 1; (Az: XI ZR 192/97-NJW 1998, 2895)
443
Der Beitrag der Medien zur Ausbreitung der Gewalt
Wrestling Shows im Fernsehen
Fast die Hälfte aller amerikanischen Wrestling-Fans ist 17 Jahre alt
oder jünger. Jeder zehnte ist unter zwölf Jahre alt. Die zunehmende
Verrohung der amerikanischen Jugend wird nicht nur durch die Zunahme von Amokläufen und Schießereien an Schulen belegt, sondern auch durch Studien dokumentiert. Nicht nur an amerikanischen
Schulen regieren Body Slam und der gestreckte Mittelfinger. Auch
auf deutschen Pausenhöfen ist der Nachahmungseifer täglich zu
beobachten. Das Massaker an der Columbine High School wurde
von Jugendlichen ausgeübt, die glühende Verehrer von Wrestlemania und entsprechenden Videospielen waren. SPIVAK betont:
„Wrestlingshows haben eine völlig ungeeignete Vorbildfunktion
für Kids, weil sie Realität und Show nicht unterscheiden können.“868
Die Kommentare aktiver Wrestler zu ihrem Tun:


„Ich habe ein Haus, zwei Autos, drei Fernseher. Wer hat das
schon in Europa? Ihr da drüben müsst erst einmal euren Mist in
den Griff kriegen.“ (Ed)
„Geld ist nicht wirklich wichtig, ich will in den Ring, ich liebe
Wrestling, weil man seine wahre Identität eintauscht gegen die
eines unbezwingbaren Kriegers. Die Menschen haben Krieger
immer verehrt.“ (Joe)
Gibt es zu viel Gewalt im Fernsehen? 869
Derrick – eine Fernsehserie
281 Folgen Derrick : 344 vollendete Morde
„Harry hol schon mal den Leichenwagen!“
868
SZ, 76, 2001, VII; SPIVAK ist Mitglied der American Academy
of Pediatrics.
869
SZ Magazin, Nr. 53, S. 4 vom 31. 12. 98
444
Art der Morde Todesursache
Vollendete Morde
Natürliche Todesursachen
Versuchte Morde
Selbstmorde
Erschossen
Erwürgt
Erschlagen
Überfahren
Vergiftet
Erstickt
In den Tod gestossen
Ertränkt
Erhängt
Sonstige und unbekannte
Ursachen
Anzahl
344
3
37
44
167
38
25
17
14
10
7
5
2
20
Die Rolle der Sexualität in den Medien und ihre Auswirkungen
GERSTENDÖRFER bezeichnet Eltern und Lehrer als „gnadenlos
naiv“.870
Gerade durch den leichten Zugang zur Pornographie sind Kinder und
Jugendliche in hohem Maße gefährdet. Durch sie wird das Bild der
perfekt funktionierenden und ständig zum Sexualakt bereiten Frau in
die Köpfe der Heranwachsenden eingepflanzt.
Spezielle Medientechniken wie z. B. das „Morphing“ ermöglichen
die virtuelle Vergewaltigung von Frauen durch bekannte und unbe870
SZ, 44, 1997, VI; alle folgenden Informationen sind dem Artikel
von FRIESEN entnommen; sie ist Autorin und auch als Gestalttherapeutin in Hamburg tätig; GERSTENDÖRFER ist Medienexpertin
und Psychologin in Tübingen; STARKE ist Leiter der Leipziger
Forschungsstelle für „Partner- und Sexualforschung“; BOHRER ist
Psychologin an der Universität Regensburg; SCARBATH ist
Erziehungswissenschaftler an der Universität Hamburg; WOLF
ist eine amerikanische Autorin; LEMPERT ist Psychologe an der
Beratungsstelle „ Männer gegen Männergewalt“ in Hamburg.
445
kannte Männer. Menschen können durch diese Technik so verändert
werden, dass niemand es bemerkt. Köpfe werden auf andere Körpern
„montiert“. Ermordungen, Vergewaltigungen und Folterungen werden so sichtbar gemacht.
STARKE stellte 1991 fest, dass 83% der gesamtdeutschen 17jährigen Jungen und 43% der Mädchen Pornoerfahrungen hatten. Bei
den zwölf- bis 15-jährigen Jungen hatte jeder dritte Junge und jedes
vierte Mädchen mindestens einen Pornofilm gesehen. Das Ausleihen
von Filmen durch Eltern und ältere Geschwister und der Bezug von
Pornoheften durch den Versandhandel eröffnete die Möglichkeiten
des Konsums.
BOHRER befragte 103 männliche Berufsschüler zu ihrem Pornokonsum. 23,6% der Befragten schauen sehr oft oder oft Porno- und
Sexzeitschriften an. Dabei wurde der folgende Zusammenhang festgestellt:
„Je häufiger die Jugendlichen indizierte oder konfiszierte Filme, also
die der schlimmsten Sorte anschauen, umso stärker lehnen sie Petting ab.“
Die Phase des tastenden Erforschens und des Kennenlernens der
Partnerin werde übergangen, die sofortige Triebbefriedigung steht an
erster Stelle.
Zu den wichtigsten Pornomedien zählen mittlerweile Computer,
Fernsehen und Videofilme.
Durch entsprechende Suchmaschinen kann innerhalb kürzeseter Zeit
auf bis zu über 100 000 web-Seiten jeder nur erdenkliche pornographische Inhalt ohne eine Sicherung auf den Bildschirm abgerufen
werden. Sinkende Online-Gebühren und ein gnadenloser Wettbewerb führen zu unvorstellbaren Bildern. Sodomie, Folterungen und
alle erdenklichen Möglichkeiten der Sexualität werden zur Schau
gestellt.
Die veränderten Fernsehgewohnheiten der Kinder und Jugendlichen
tragen ebenfalls zur Verrohung bei. So besaßen zu Beginn der 90er
Jahre 34% der neun- bis zehnjährigen Kinder einen eigenen Fernsehapparat im Kinderzimmer. Bereits im Alter von zwei Jahren beginnt
der regelmäßige Fernsehkonsum. Er steigert sich auf bis zu sechs
Stunden täglich bei Pubertierenden.
Im Jahr 1992 wurde an Samstagen zwischen 22.00 und 23.00 Uhr
von 720 000 Kindern zwischen sechs und 13 Jahren Fernsehen geschaut. 140 000 Kinder und Jugendliche schauten bis 1.00 Uhr
446
nachts die entsprechenden Sendungen an. Die Verantwortung dafür
tragen die Eltern.
SCARBATH stellte fest, dass zu dieser Zeit insgesamt noch 430 000
Kinder und Heranwachsende vor dem Fernseher sitzen. Durch verdeckte, nebenbei eingeschmuggelte Botschaften bezüglich Sexualität
und Geschlechterrollen wird ein realitätsfremdes Bild der menschlichen Sexualität geschaffen.
„Die menschliche Sexualität wird vielfach reduziert auf die bloß
maschinenartige Aktion, den Techno-Sex, und entspricht dem männlichen Blick auf die sexuell bedeutsamen Körperregionen der Frau.
Sexualität und Nacktheit – besonders der Frau – wird zum Zuschauerköder. Oft sind die sexuellen Einsprengsel für die Story völlig
unnötig . . . Die Verknüpfung von Sexualität und Gewalt geschieht
entweder direkt oder zum Beispiel durch reale oder phantasierte
Vergewaltigung oder durch assoziierte Verknüpfungen. Weiterhin
werden – bis in die Kindersendungen und die Kinderwerbung hinein
– die Klischees vom starken, aggressiven Mann und der eher passiven, gefühlsbetonten Frau ständig wiederholt.“
Der Umsatz der Videoindustrie wurde 1993 auf jährlich 100 Millionen Mark geschätzt. Die 820 Sexshops setzten 210 Millionen Mark
und die 6000 Videotheken 380 Millionen Mark um. Ca. 35% der
angebotenen 17 Millionen Videofilme zählen zu den Erotika und den
Pornofilmen.
Auch durch die im Internet dargebotenen Bilder, Filme und ChatMöglichkeiten wird der „Vergewaltigungsmythos“ stark forciert. Er
vermittelt die Vorstellung, dass Frauen eine Vergewaltigung genössen und dass diese nie gegen ihren Willen vollzogen werden könne.
Immer mehr Menschen und vor allem Kinder können sich der Pornographie nicht mehr entziehen. Auch die Sprache verroht dadurch
zusehends. Dieser Trend hat sich in den letzten Jahren erheblich
verschärft.
WOLF bezeichnet die jetzigen jungen Erwachsenen als „Pornographie-Generation“. Die Kinder wachsen zunehmend mehr ohne eine
sexuelle Prägung durch ein menschliches Wesen auf. Auch der eigenen Fantasie wird der Spielraum entzogen. Das entspricht einem
Aufbau der kindlichen Sexualität durch Fantome.
447
INHÜLSEN beschreibt folgende Auswirkungen des Pornokonsums:







Die sexuelle Schamgrenze in Familien und Umwelt sinkt immer
mehr – parallel zu dem Angebot der Medien.
Es ist immer schwerer zu unterscheiden, ob das kindliche Verhalten auf „Realpornos“ durch die Eltern oder auf Missbrauch
zurückzuführen ist.
Das Schutzdenken gegenüber den Kindern nimmt rapide ab.
Kinder müssen bereits darüber entscheiden, was ihnen gut tut
und was nicht.
Psychische Probleme bei Jugendlichen durch die Diskrepanz
zwischen den brutalen, stressmachenden und perversen Praktiken und Bildern und der unerfüllten Sehnsucht nach Zärtlichkeit.
„Coolness“ wird als Schutzmechanismus zur Schau gestellt.
Der eigene Körper mit all seinen Begrenzungen und die Begrenzungen durch die Natur werden missachtet und missbraucht.
ROGE stellt eine Tendenz zu immer extremeren und sadistischeren
sexuellen Praktiken fest:
„Sowohl in den Pornos wie in den Horrorfilmen und bei allen Mischformen fallen die Zuschauer auf die orale und anale Phase ihrer
frühkindlichen Entwicklung zurück. Sie setzen sich Bildern aus, die
dieser Phase und der damaligen Fantasie des Kleinkindes entsprechen. Weil sie offensichtlich darin steckengeblieben sind, müssen sie
die Bilder zwanghaft wiederholen und die Wirkung steigern.“
Fehlt dann noch eine altersgemäße moralische Entwicklung, sind
Probleme vorprogrammiert.
„Generell aber lässt sich sagen: Je gefestigter eine Persönlichkeitsstruktur, desto wirkungsloser sind Pornos und Gewaltdarstellungen.
Je ungefestigter das Kind oder der Jugendliche, umso verheerendere
Auswirkungen wird es haben.“
Die durch Filme, Internet und Zeitschriften verbreitete Pornographie
hat auch einen besonderen Bezug zur Zeit.
Sexualität ist jederzeit abrufbar und zu beenden oder zu unterbrechen
– im Gegensatz zur Wirklichkeit; hier sind Zeit, Ruhe, Geborgenheit
448
und Sicherheit zu Entfaltung einer zwangfreien Sexualität notwendig.
LEMPERT weist auf die Funktionalisierung des männlichen Körpers
hin, die bei gewalttätigen Männern immer zu beobachten ist. Bei
ihnen wird Sex von den Empfindungen des eigenen Körpers abgespalten.
„. . . . denn sie haben nie gelernt, ihren Körper als empfindsam zu
erleben. Weswegen die Vergewaltigung einer Frau auch immer
heißt: Der Mann vergewaltigt seinen eigenen Körper, indem er ihn
als Werkzeug benutzt.“
Das ist somit eine der fatalsten Wirkungen von Pornographie.
GLOGAUER zieht aus seinen eineinhalbjährigen Untersuchungen
von 18 jungen, schwer kriminellen Sexualtätern den Schluss, dass
jeder zweite jugendliche Sexualtäter bei seinen Verbrechen massiv
durch den Konsum von Sexmedien und Pornos beeinflusst worden
ist.871 Häufig erfolge eine Identifikation der Jugendlichen mit den
Darstellern in Sexfilmen. Sie wollten deren Praktiken in der Realität
wiederholen. Oftmals sinkt die Gewaltschwelle unaufhaltsam über
Jahre hinweg durch den Konsum von Horror- und Actionfilmen.
Die Eltern, aber oftmals auch die erwachsenen Geschwister tragen
eine Mitschuld, indem sie den unkontrollierten Zugang zu Pornos
und Actionfilmen ermöglichen.
„Es handelt sich in der Regel um vernachlässigte Kinder, um die
sich die Eltern nicht kümmern.“
Der Fall des elfjährigen Raoul (USA), dem schwerer Inzest an seiner
fünfjährigen Halbschwester vorgeworfen wird und der im Jahr 1999
die Zeitungen füllte, bestätigt die oben angeführten Beobachtungen.
Es wird berichtet, dass die Mutter wegen Vernachlässigung von
Kindern angeklagt war und offenbar über das Internet auch PornoAngebote verbreitete.872
Durch die unterschiedliche Rechtsauffassung in den USA und in
Deutschland ist die Verhaftung des Elfjährigen hier schwer verständlich.
871
SZ, 256, 1998, Bayern, 15; GLOGAUER ist Professor für Schulpädagogik in Augsburg.
872
SZ, 246, 1999, S. 16
449
Nach Auskunft des Nationalen Zentrums für Jugendgerichtsbarkeit
wurden in den USA im Jahr 1997 2,8 Millionen Jugendliche und
Kinder vorübergehend festgenommen. 106 000 saßen im Gefängnis.
Allein im Bezirk Golden in Colorado, USA, waren 88 von 1883
wegen sexueller Delikte Angeklagte unter 18 Jahre alt.873
In ganz Deutschland werden derzeit jährlich etwa 17 000 Verfahren
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verhandelt.874
Auch ein Vergleich der im Internet angebotenen Inhalte im Zeitraum
der letzten vier Jahre (1995 bis 1999) bestätigt dies. Zehntausende
von Web-Seiten sind gegenseitig verknüpft und führen immer wieder
zu den gleichen Inhalten. Es ist inzwischen fast unmöglich, nicht mit
Angeboten aus dem sexuellen Bereich konfrontiert zu werden. Die
meisten Inhalte finden sich im englischsprachigen Raum und kommen aus den USA zu uns.
Internetseiten mit sexuellem Inhalt sind oftmals mit Pharmawerbung
(Viagra) und medizinischen Angeboten aus dem Bereich der Chirurgie gekoppelt.
Bürgernetze werden zu 80% von Anwendern benutzt, die in erster
Linie Sex-Seiten im Internet aufsuchen.
Werden zu einem Suchbegriff Web-Pages in einer bestimmten Zahl
genannt, so sind zu ca. 60% immer wieder die gleichen Anbieter
hinter den einzelnen Adressen versteckt.
Auch bei uns wird in wenigen Jahren die Nachfrage nach dem Angebot von Pay-TV-Sendern stark ansteigen. Die amerikanische Firma Vivid Video ist mit ihrem Angebot an Sex- und Pornofilmen
weltweit führend. Hier werden jährlich 25 Millionen Dollar Jahresumsatz erzielt.
150 Mitarbeiter fertigen Produkte, die in mehr als 18 Länder exportiert werden. Auch der deutsche Sender Premiere sendet die dort
hergestellten Filme. Wichtig ist bei der Herstellung solcher Filme,
dass genügend Handlung ersichtlich ist, da nur in einem solchen Fall
durch die Medienaufsicht wenig beanstandet werden kann.
Wicked Pictures, eine andere amerikanische Firma, verkaufte die
Rechte für den Film „Flashpoint“, dessen Herstellung 180 000 Dollar
gekostet hat, für 20 000 Dollar an Premiere.
873
874
SZ, 244, 1999, S. 3
SZ, 174, 1999, S. 10
450
Während üblicherweise etwa zwei Tage Dreharbeiten für einen Billigfilm veranschlagt werden, wurde bei diesem Film über eine Woche gedreht. Die Kosten waren deshalb so hoch, weil bei diesem
Film ein Auto expoldiert, ein Mann beerdigt wird und weil es einen
Faustkampf gibt. Der Produzent dazu:
„Der Film zeigt eine Menge gute Gründe, Sex zu haben.“875
Schauspielerische Leistungen sind wenig gefragt; wichtig ist, dass
die Sex-Szenen nicht einfach aneinander gereiht sind. Der Firmeninhaber von Vivid Video bezeichnet Pornographie als das falsche Wort
für solche Filme. Er nennt als richtige Bezeichnung „Unterhaltung
für Erwachsene“. Jährlich werden allein in Fernando Valley im Norden von Los Angeles 8000 Titel auf den Markt geworfen. In Hollywood werden im gleichen Zeitraum etwa 300 Filme produziert. Im
Jahr 1996 wurden in den USA allein durch die Kabelanbieter 150
Millionen Dollar an Pay-per-view-Gebühren (das heißt es wird nur
für den einzelnen, angeschauten Film bezahlt) für Sexfilme eingenommen. Hotels haben zusätzlich noch einmal 175 Millionen Dollar
eingenommen. Diese Summen machen verständlich, warum auch in
Deutschland bestimmte Mediengruppen großes Interesse an der PayTV-Einführung zeigen und zugleich auf einer neuen Definition von
Pornografie bestehen.
Der weltgrößte Medienkonzern Time Warner hat im Kabelnetz von
New York mehrere Kanäle für Sexfilme reserviert. Damit verdient er
allein ca. 6 Millionen Dollar jährlich.
Es stellt sich die Frage, wer die Konsumenten sind, die für diese
unvorstellbaren Umsätze sorgen. Können es die vielen Obdachlosen
und armen Menschen sein oder sind die Konsumenten eher in der
Mittelschicht oder in der Oberschicht mit akademischer Bildung zu
suchen?
Resümee:
Durch die Medien, in erster Linie durch Zeitschriften, Fernsehen und
das Internet werden in immer stärkerem Ausmaß sexuelle und gewalttätige Darstellungen verbreitet. Auf Menschen mit einer schwachen Charakterentwicklung, auf Menschen, deren Entwicklung stark
verzögert ist, oder auf Menschen aus sozial schwachen Schichten,
deren Verhalten nur selten kontrolliert wird, können diese Darstel875
zitiert in SZ, 232, 1998, S. 20
451
lungen eine unvorstellbar schlechte Wirkung haben. Es werden Fantasien geschürt, die in einer „normalen“ Beziehung nicht denkbar
sind bzw. große Probleme aufwerfen können.
Da das Erlernen und Üben von körperlicher und geistiger Selbstbeherrschung nur noch einen geringen Platz in der häuslichen und
schulischen Erziehung einnimmt, wird es immer mehr üblich, Wünsche und Triebe sofort zu befriedigen. Alles muss schnell gehen. Das
Gespräch über persönliche Empfindungen, Wünsche und Fantasien
wird als nicht mehr notwendig abgetan. Alles ist jederzeit verfügbar
ohne einen direkten zwischenmenschlichen Kontakt. Kommt dann zu
irgendeinem Zeitpunkt der Wunsch nach einer zwischenmenschlichen sexuellen Begegnung auf, ist es sehr wahrscheinlich, dass das
immer wieder eingeprägte Gedankengut sich seinen Weg bahnt.
Die sprachliche, seelische und geistige Bewältigung zwischenmenschlicher Probleme tritt in den Hintergrund. Die unmittelbare
Triebbefriedigung wird als Norm zur Schau gestellt.
FREISLEDER zum Konsum von Gewaltvideos bei Jugendlichen:
„Rund 95 % der jungen Menschen, die Gewaltvideos konsumieren,
kommen davon ganz gut wieder weg. Aber bei 5%, die eben gefährdet sind, richtet so ein Video etwas an. Und das kann zusammen mit
einem weiteren Co-Faktor einmal zu einer Katastrophe führen.“876
Das Alter und der Entwicklungsstand als entscheidende
Faktoren für die Verarbeitung von Gewaltdarstellungen
Bezüglich der Differenzierung von Emotionen und der Übernahme
von Perspektiven ist die Zeit vom dritten bis sechsten Lebensjahr
von entscheidender Bedeutung. So bereitet es Achtjährigen noch
erhebliche Schwierigkeiten, die komplexe Gefühlswelt von Erwachsenen zu verstehen.877
Neuere Befunde der sich schnell entwickelnden Hirnforschung gehen davon aus, dass die „Software“ der Hirntätigkeit die Hardware
bis zur Bildung neuer Zellen beeinflussen kann.
876
SZ, 254, 1999, L 10; FREISLEDER ist Leiter der Heckscher
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in München.
877
Rothenberg, 1970 in OERTER / MONTADA, 1995, S. 834
452
LINKE führt dazu aus: „Doch mit welcher Software arbeitet das
Gehirn beim Computerspiel? Steht vielleicht auch beim Aggressionsspiel die Orientierung an Regeln im Vordergrund? Einfache Theorien der Abfuhr von Aggressionen reichen offenbar nicht mehr aus.
Denn die Aggressivität kann sich auch bei Benutzung nicht aggressiver Spiele erhöhen. Wichtig ist die Frage nach der Bahnung längerfristiger Verhaltensmuster. Dabei ist nicht nur an das Extrem der
Generalisierung von Aggressionen zu denken, sondern auch an die
Vereinzelung in die ständige Spielwiederholung hinein. Die Belohnung durch den Transmitter Dopamin kann den süchtigen Spieler in
einen Mensch-Gerät-Regelkreis gefangen nehmen, bei dem die Frage
nach dem Herrn des Spiels nicht mehr beantwortet werden kann.“878
Gewaltspiele und -darbietungen sind besonders gefährlich für Kinder
unter sechs Jahren, da sie nicht nur mit vorgespielten, sondern auch
mit neuen Realitäten konfrontiert werden.
Dazu zählt nach LINKE z. B. das „reale relative Nichts“. Es wird
von Kindern erlebt, wenn sich ein Spielgegner in einem Kugelhagel
in Nichts auflöst.
„Wollte man Aggressionshandlungen eine ich-konstituierende Funktion zusprechen, so wäre die bereits wegen der einheitlichen Sichtweise des Kindes fragwürdig. Das Zerplatzen des Gegners würde die
Selbststrukturen des Kindes gefährden, schon lange bevor so viel
Identität erreicht ist, dass eine Identifikation mit dem Opfer erfolgen
kann. Die Aggressionshandlung würde nicht der Abgrenzung dienen
können, sondern mit der Möglichkeit des Zerspringens des eigenen
Selbst auf emotional überwältigende Weise konfrontieren, auch
dann, wenn das Spielprogramm die Sterblichkeit des eigenen Avatars ausdrücklich nicht vorsehen würde.“
Besonders problematisch wird es in der Entwicklung von Kindern,
wenn die erlebte virtuelle Welt ähnlich strukturiert ist, wie die real
erlebte Welt im Elternhaus in der Schule oder wie die Welt, die in
den Nachrichtensendungen erlebt wird.
Wir müssen uns die berechtigte Frage stellen, inwieweit sich die
virtuelle Computerwelt mit all ihrer Gewalt noch von der Realität
878
LINKE in SZ, 246, 2001, S. 21; LINKE ist Neurophysiologe an
der Universität Bonn.
453
unterscheidet, wenn wir die Äußerungen des jetzigen amerikanischen
Präsidenten BUSH genauer anhören. Mit den international geächteten Streubomben werden nicht nur gegnerische Soldaten, sondern
auch unschuldige Zivilisten „ausgelöscht“, ebenso wie Tausende von
Menschenleben durch den terroristischen Angriff auf das World
Trade Center pulverisiert wurden.
Die „moderne“ Kriegsführung, mit chirurgischem Vokabular belegt,
suggeriert das Bild eines sauberen, sinnvollen chirurgischen Eingriffes; zivile Opfer werden nur selten oder nicht gezeigt. Schlimmste
Gewalthandlungen werden als notwendiger „job“ euphemistisch
dargestellt, der im Dienste des Vaterlandes getan werden muss. Die
Ausführenden sind hochspezialisierte Helden mit der Lizenz zum
Töten. Gewalt wird so notwendig und gut, um die eigenen Werte zu
retten. Dieses Vorgehen leistet der Verherrlichung von Gewalt Vorschub.
Für Kinder im Alter bis zu sechs Jahren ist diese Ansicht von Gewalt
sehr gefährlich, denn sie sind alleine ohne entsprechenden sozialen
Hintergrund nicht in der Lage, ihr Verhalten nach ethischen Gesichtspunkten auszurichten.
Erziehung zur Gewaltausübung
GROSSMANN 879 prägte den Begriff „Killology“. Gemeint ist damit die Wissenschaft der Ausbildungsmethoden bei Armeerekruten
zur Überwindung der natürlichen Hemmungen, ihre Artgenossen zu
töten und deren Auswirkungen auf die Psyche. Er nennt beunruhigende Beweise dafür, dass die gleichen Taktiken, die zur Ausbildung
bei Soldaten benutzt werden, auch in unseren Medien und Videospielen zur Verwendung kommen.
Brutalisierung, Desensibilisierung und klassische Konditionierung werden in den Medien gezielt eingesetzt, um die natürliche
Hemmschwelle der Menschen und vor allem der Kinder systematisch zu zerstören.
Morphogenetische Resonanzfelder nach SHELDRAKE
879
GROSSMAN ist Militärpsychologe; die folgenden Informationen
sind einem Script mit dem Titel: „Jugend und Gewalt“ entnommen.
Herausgeber: Jugend für Christus Deutschland e.V., Postfach 1180,
64355 Mühltal
454
Möglicherweise tragen auch morphogenetische (= morphische) Felder, denen ein Gedächtnis innewohnt, dazu bei, dass sich extremes,
gewalttätiges menschliches Verhalten entwickeln kann. Durch diese
Felder wird nach SHELDRAKE
„. . . . tierisches und menschliches Verhalten, soziale und kulturelle
Systeme, aber auch mentale Aktivität . . . “880 organisiert.
Über Generationen anhaltende Ungerechtigkeiten und daraus resultierender Hass kann solche Felder möglicherweise ebenfalls erzeugen. Sie formen Organismen und vielleicht auch deren Denkstrukturen.
BANIS: „Ich bin deshalb der festen Überzeugung, dass Filme voller
Destruktivität und Zerstörungslust (und davon wurden unzählige vor
allem in Amerika produziert, Anm. d. Verf.), die im Betrachter eine
hypnotisierende Faszination am Schrecken hervorrufen, weitaus
schädlicher sind als wir das uns gemeinhin vorstellen. Es entsteht ein
psychoenergetisches Feld, das im Sinne der Synchronizität C. G.
JUNGS genau die Ereignisse erleichtert, die von den meisten Menschen am meisten gefürchtet werden.“ 881
Gewalt in der Sexualität
Missbrauch (Siehe dazu auch die Ausführungen im Kapitel
„Psychische Auffälligkeiten“)
Auswirkungen auf das Sexualverhalten
Nach einer Studie des Gesundheitsministeriums schwankt die Zahl
der Prostituierten in Deutschland zwischen 60 000 und 600 000, je
nachdem, mit welchen Methoden und auf welcher Grundlage die
Zahl gemessen wird. Nach Angaben der Prostituiertenbetreuungsstelle Hydra in Berlin wird angenommen, dass 75% der deutschen
Männer Bordelle besuchen oder mindestens einmal dort waren.882
Der Verdienst einer Prostituierten wird für eine halbe Stunde mit 150
880
SHELDRAKE, 1996, 148 bis 149; SHELDRAKE ist Studiendirektor für Biochemie und Zellbiologie am Clare College in Großbritannien.
881
co-med, Fachmagazin für Complementär-Medizin, 2001, Nr. 9,
S. 8; BANIS ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren.
882
SZ, 229, 1998, V2 /16
455
DM, für eine ganze Stunde mit 250 DM angegeben. Zunehmend
mehr Studentinnen verdienen sich durch Prostitution ihren Lebensunterhalt.
Auch in der politischen Szene finden sich immer wieder „Vorbilder“,
die ein Sexualverhalten zeigen, das moralisch sehr fragwürdig ist.
CLINTON, der amerikanische Präsident, geriet so über lange Zeit in
die Schlagzeilen. Auch US-Präsident JEFFERSON hatte mindestens
einen gemeinsamen Sohn mit seiner Sklavin Sally HEMINGS.883
Der Präsident hatte die Beziehung geleugnet, Gentests mit den
Nachkommen der beiden haben jedoch mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit diese Erkenntnis abgesichert.
ELLIS/LANDER schreiben zu diesen Tatsachen: „Unsere Helden –
und besonders unsere Präsidenten – sind keine Götter oder Heilige,
sie sind Menschen aus Fleisch und Blut.“
Sexualstraftäter
Sie sind häufig in ihrem bisherigen Leben strafrechtlich nicht in
Erscheinung getreten und führten ein ordentliches, arbeitsames Leben. Mütter berichten oft, dass sie keinerlei Schwierigkeiten mit den
Buben gehabt hätten. Die Männer kommen aus allen Gesellschaftsund Berufsschichten.
Auch Pädagogen geraten immer wieder in die Schlagzeilen. So wurde ein Kollege in einer benachbarten Stadt wegen sexueller Übergriffe 1996 rechtskräftig verurteilt. Auch der Fall eines Gymnasiallehrers aus Augsburg, der eine Videokamera in der Toilette installiert
hatte, um Schülerinnen zu filmen, erregte 1999 Aufsehen.
Was veranlasst diese Menschen zu ihren Taten? Verschiedene Erklärungsmöglichkeiten bieten sich nach MASCHWITZ 884an:
Sexualtäter
 sind psychisch krank
 bewältigen Konfliktsituationen mit „Triebdurchbrüchen“
883
Wissenschaftsmagazin Nature, 11/98; auch zitiert in SZ, 253,
1998, S. 16
884
SZ, 44, 1997, VI; MASCHWITZ ist Autorin und Gruppentherapeutin in München.
456




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


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

haben ihre Verhaltensweisen über lange Zeit hinweg durch sexuelles Konsumverhalten „gelernt“
waren selbst Opfer und zeigen jetzt dieselben Verhaltensweisen
wie die Täter
können aufgrund einer genetischen Disposition nicht anders
handeln
sind ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse
unterliegen dem Zwang, einer gelernten männlichen Rolle gerecht zu werden
haben nie gelernt, Gefühle zu spüren, zu zeigen und auszutauschen
wurden zu Tätern, weil Trauer, Angst und Unsicherheit nie
gezeigt wurden, aber jetzt erlebt werden möchten
verleugneten die eigene Verbundenheit mit dem anderen Geschlecht über lange Zeit hinweg
werten Frauen dadurch ab, weil sie sich nicht auf andere Weise
von ihren Müttern lösen können
sind keine Triebtäter, sondern Konflikttäter
berauben Frauen ihrer Freiheit, nein zu sagen, und respektieren
sie nicht als eigenständiges Gegenüber
stellen im Augenblick des Delikts ihr psychisches Gleichgewicht her und befreien sich somit von intra- und interpsychischen Konflikten.
Ein Ausweg kann nur darin bestehen, dass Männer wieder lernen,
ihren Teil an Verantwortung für die Gestaltung von Beziehungen zu
übernehmen, dass sie bereit sind, ihre Rollenmuster zu überprüfen
und ihre Vorstellung von der grenzenlosen Verfügbarkeit der Frauen
ablegen. Dies ist nur durch den Zugang zu den eigenen Gefühlen
möglich.
WILLE885 vertritt die Ansicht, dass 20% der Sexualstraftäter nicht
therapierbar sind. Durch entsprechende Behandlung konnte die
Rückfallquote der von der Forschung erfassten Täter von 60 auf 30%
reduziert werden. Durch den Einsatz von Medikamenten sei der
Prozentsatz noch einmal um 10% gesunken. Seiner Ansicht nach
müssen die Jugendämter mehr mit Ärzten und Gerichten zusammen885
MM, 276, 1998, S. 3; WILLE ist Sexualmediziner in Kiel.
457
arbeiten. Um besser therapieren zu können, sei eine Einsicht in die
Unterlagen der Betroffenen notwendig. Dabei müsse die Privatsphäre gewahrt werden.
BULLENS verweist auf Forschungsergebnisse, nach denen nur 20%
der Sexualdelinquenten an einer Persönlichkeitsstörung leiden.
10 bis 15% wurden als Kind selbst missbraucht. Zählt man Geschehen ohne Körperkontakt hinzu, sind es 10 bis 30%.886
Eine Therapie ist seiner Ansicht nach nur erfolgreich, wenn der Täter
sein eigenes Denk- und Verhaltensmuster erkennt und zugleich Kontrollmechanismen aufbaut.
Kindesmissbraucher sind Meister darin, ihre Umgebung zu manipulieren. Der Missbrauch wird oft hundertfach in der Phantasie durchlebt, bevor er begangen wird. Durch die Konfrontation mit protokollierten Aussagen wird das Selbstbild des „netten Menschen“ im
Sexualtäter allmählich zerstört.
Gerade hier sind die Sozialarbeiter, Pädagogen und Erzieher in großem Maße herausgefordert, für das Elternhaus diese Aufgabe zu
übernehmen. Wenn wir eine Besserung der Verhältnisse erreichen
wollen, ist dies der einzige Weg.
Das Erfüllen des Lehrplanes muss somit in den Haupt- und Sonderschulen in den Hintergrund treten, vor allem deshalb, weil Kinder,
denen es psychisch schlecht geht, sehr anfällig für die Zuwendung
von falscher Seite und deshalb besonders gefährdet sind, was einen
möglichen Missbrauch betrifft. In den oben angeführten Schulen
befinden sich besonders viele gefährdete und vernachlässigte Kinder.
Werden hier nicht rechtzeitig Zusammenhänge erklärt und fühlbar
gemacht, so sind auch diese zukünftigen Erwachsenen stark gefährdet.
Vernachlässigung wird von FRANK887 so beschrieben:
886
SZ, 174, 1999, VI; BULLENS ist Entwicklungspsychologe und
Familientherapeut und Leiter des Ambulanten Büros für Jugendwohlfahrt im niederländischen Leiden; seit April Professor für forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Freien Universität in
Amsterdam.
887
SZ, 244, 1998, L 10; FRANK ist Psychiater am Institut für
Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität München.
458
„Wenn ein Kind emotional zu kurz kommt, also nicht stabil ist, wenn
ein Kind kein Selbstbewusstsein aufbauen kann, wenn es sich allein
gelassen fühlt, dann ist es vernachlässigt. Das hängt nicht mit den
materiellen oder sozialen Bedingungen, also dem sozialen Standard
der Familie zusammen. Ein Kind, das ein Vertrauensverhältnis zu
seinen Eltern hat, kann leichter nein sagen, oder reagiert überhaupt
nicht.“
Diese Erkenntnis gilt auch, wenn der Missbrauch im engsten Familienkreis stattfindet.
„Es geht immer auch um die Frage, welche Grenzen zwischen den
Generationen eingehalten werden. Sexueller Missbrauch beginnt
schon damit, dass Eltern oder Erwachsene ihre Macht ausspielen.
Diese Eltern sehen nur ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse und
fügen dabei den Kindern körperliche und seelische Verletzungen
bei.“
Die Heilung zeigt sich oftmals sehr schwierig und ist davon abhängig, wie lange Kinder nach Menschen suchen mussten, die ihnen
Glauben schenkten. Mütter neigen oft dazu wegzuschauen, weil sie
den Missbrauch durch den Vater nicht sehen wollen. Massive psychische Probleme über Jahrzehnte hinweg sind häufig der Fall, da
die Opfer große Schwierigkeiten haben, normale soziale Beziehungen aufzubauen.
Die Internetgesellschaft
Gedanken und Informationen rund um das Internet
Der Zeitfaktor im Internet
459
Eingeschränkte andere Tätigkeiten888
Täglich nehmen etwa 1600 Deutsche erstmals Kontakt mit dem
Internet auf.889
Zur Zeit nutzt fast die Hälfte aller Deutschen über 14 Jahre das Internet.
Von 6000 befragten Bundesbürgern hatte jeder vierte angegeben, im
vergangenen Jahr das Internet genutzt zu haben.
Bei einer Befragung von 500 Internet –Nutzern wurde festgestellt,
dass Surfer rund 40 Minuten pro Sitzung im Internet verbringen und
dabei durchschnittlich knapp acht Seiten besuchen.
Folgende Bereiche im täglichen Leben werden dadurch eingeschränkt:
Briefeschreiben
Telefonieren
Schlafen
Fernsehen
Zeitschriften /Zeitungen lesen
Versandhandel / Katalogbestellungen
Von zu Hause aus arbeiten
Radio hören
Autofahren / Reisen
Freunde treffen, ausgehen, Gastgeber spielen
Sport treiben
Beim Sport zuschauen
32%
20%
16%
15%
13%
8%
6%
4%
4%
4%
4%
3%
Die im Internet vorhandenen Informationen - vor allem in den SexChannels, in welchen abgedrehte Gespräche unter falschem Namen
und falscher Identität geführt werden, - führen zur Entstehung einer
„Kunstwelt“, aus der es für viele nur mit professioneller Hilfe einen
Ausweg gibt. Ob dabei etwas vorgespielt wird oder nicht, ist bedeutungslos.
888
889
SZ, 230, 1999, V2 /15
SZ, 227, 2001, V2 /12
460
Die Sucht trägt inzwischen viele Namen:
Cyber-Addicts, Onlineholics, Internet-Junkies oder IAS (InternetAbhängigkeitssyndrom).
GOLDBERG spricht von IAD (Internet-Addiction-Disorder). Er hat
die gängigen Suchtkriterien auf das Internet übertragen. YOUNG
entwickelte als erste diagnostische Kriterien, die sich am Glücksspiel
orientierten. Von ihr wurden mit Hilfe von Fragebögen 496 Fälle
untersucht. Dabei wurde in 396 Fällen die Diagnose „Abhängigkeit“
gestellt.890
Inernet-Sucht kann somit als eine Störung der „Impulskontrolle“
verstanden werden.
Der Studie wird jedoch vorgeworfen, dass sie unsicher sei, da sie
„online“ durchgeführt wurde und somit auf „ungesicherten diagnostischen Voraussetzungen“ beruhe.
Die Ansicht, dass jede Epoche ihre Krankheiten erfinde, scheint sich
zu bestätigen.
Computersüchtige verbringen bis zu 60 Stunden pro Woche im Netz.
Für viele der Süchtigen wird die Verschmelzung von Wirklichkeit
und Spiel zum Problem, denn die inzwischen dreidimensionalen
Spiel-Fantasiewelten prägen dem menschlichen Gehirn ihre Spuren
auf.
Dieses Phänomen ist auch bei Schülern zunehmend mehr zu beobachten.
Veränderte TV-Gewohnheiten durch das Internet 891
Amerikaner mit Internetanschluss sehen wöchentlich etwa viereinhalb Stunden weniger fern. Zugleich setzen Eltern (37%) ein Internetverbot immer öfter als Erziehungsmittel ein. Fernsehverbote werden von etwa 48% der befragten Eltern (2 000 Haushalte) ausgesprochen.
890
SZ, 216, 1999, VII; GOLDBERG ist Psychiater, Kimberly S.
YOUNG ist Psychologin.
891
SZ, 296, 2001,V2 /10; Internet-Report 2001 der University of
California
461
Surfgewohheiten
Mädchen nutzen das Internet anders als Jungen indem sie eher die
kommunikativen Möglichkeiten des Netzes bevorzugen. Jungen
betrachten das Netz eher als virtuellen Abenteuerspielplatz. Bei
Kindern unter 14 Jahren spielen Suchmaschinen laut einer Studie
keine wesentliche Rolle. Das weltweite Netz wird in erster Linie
durch spontane Suche erschlossen. Markennamen und aufgeschnappte Adressen spielen dabei die größte Rolle.892
Während zu Beginn des Jahres 2000 in Deutschland 1,3, Millionen
Kinder online waren, surfen jetzt rund 2,3 Millionen Kinder im Internet. 37% der mehr als 6 Millionen Kinder im Alter von sechs bis
zwölf Jahren können inzwischen das Internet nutzen.893 Das Internet
ist Topthema auf den Schulhöfen.
Rechtliche Rahmenbedingungen im Internet - Jugendschutz
Technische Eigenheiten des Internets, wohlmeinende Absichten und
geschäftliche Interessen kollidieren immer wieder miteinander, wenn
es darum geht, juristische Zuständigkeiten zu klären. Selbst Experten
über- und durchblicken die Lage kaum noch ; RICKERT spricht in
diesem Zusammenhang von einem „Normenwirrwarr“ bei den Providern. 894
Seit eineinhalb Jahren wird in Deutschland ein JugendmedienschutzStaatsvertrag angestrebt. (JMStV) Die im Rundfunk geltenden Beschränkungen sollen innerhalb Deutschland Grenzen auch für das
Internet gelten. Dass in erster Linie eine Sendezeitbeschrämkung für
nicht jugendfreie Inhalte diskutiert wird, lässt die abstruse Frage
aufkommen, wie das weltweite Datennetz deutschen Sendezeiten
angepasst werden kann.
Ein anderes System mit dem Namen „ICRA“ verspricht mehr Erfolg. Hierbei soll die staatliche Kontrolle entfallen und die Anbieter
von Web-Seiten ihre Inhalte selbst bewerten. Am Computer wird
892
SZ, 28, 2000, S. 16; die Studie wurde im Auftrag des Fernsehsenders Super RTL und des Münchner Transferzentrums durchgeführt.
893
MM, 10, 2001, S. 1; Umfrage des Marktforschungsinstituts IconKids&Youth in München
894
SZ, 277, 2001, S. 1; RICKERT ist Rechtsanwalt und zuständiger
Projektleiter beim Verband der Deutschen Internetwirtschaft eco
e.V.; ICRA: www.icra.org
462
dann der Härtgegrad durch die Erziehungsberechtigten oder durch
Aufsichtspersonen eingestellt. Das Erstellen entsprechender Listen
ermöglicht zudem die Ausblendung oder den leichten Zugang zu
bestimmten Seiten. Nicht kategorisierte Seiten können so von Anfang an gesperrt werden.
Jugendgefährdung durch das Internet?
Im Jahr 1996 wurde die amerikanische Öffentlichkeit mit einem
Artikel im Time Magazine geschockt, wobei 83,5% des Internet
sexuelle Inhalte trage. Im Nachhinein wurde allerdings festgestellt,
dass bei den Recherchen unsauber gearbeitet wurde. Betreiber eines
Bürgernetzes gehen davon aus, dass etwa 80% der Netznutzer derzeit
Seiten mit sexuellem Inhalt aufsuchen.
Das ist nicht erstaunlich, denn verschiedene Suchservice-Agenturen
zeigen auf bestimmte Schlagworte, z. B. Porno 580 270 Meldungen
an. Zum Begriff Sex waren es bis vor kurzer Zeit 2 391 352 Eintragungen. Mit großer Wahrscheinlichkeit darf vermutet werden, dass
dieses riesige Angebot in Wirklichkeit nur auf wenige große Anbieter zurückgeht.
Alleine in den USA wurde im Jahr 1998 durch Sexklientel eine Milliarde Dollar bewegt, wobei die jährlichen Wachstumsraten bei bis
zu 300% liegen. GUCCIONE zur Situation in Amerika, die sich mit
Sicherheit auch auf Deutschland übertragen läßt:
„Wir leben in einem Land von scheinheiligen Voyeuren, und
gerade das kreiert eine großartige kommerzielle Atmosphäre für
die Ware Sex.“895
Ein Kommentar in der amerikanischen Zeitung Boston Globe zur
Entwicklung des Internet verdeutlicht die Situation:
„Das Internet ist längst ein virtueller Rotlichtbezirk geworden –
schneller, privater und umfassender als jedes andere Medium.“
Verantwortliche wie TIARRA äußern sich zu dem Einwand, Leute
wie er opferten Ethik und Verantwortungsbewußtsein zugunsten von
Profitgier, werden so zurückgewiesen:
895
zitiert in SZ, 216, 1999, S. 22; GUCCIONE ist Herausgeber des
Erotikmagazins Penthouse; TIARRA ist Inhaber der Firma TiarraCorp, die als einzige Firma weltweit aus Internet-Laien CyberspaceUnternehmer macht.
463
„Kids interessieren uns nicht. Die blockieren bloß die Leitungen
und haben keine Kreditkarten.“ Auf seinen eigenen Sohn angesprochen: „Ich will nur nicht, dass er dort landet, bevor er den
Unterschied zwischen Liebe und Sex kennt.“
Die Angebote der Firma reichen von einfachen Paketen ab 3000
Dollar bis zu 32 000 Dollar. Die nötigen Materialien bezieht er von
Geschäftspartnern und Datenbanken, die den Überschuß von Sexmagazinen auf den Markt werfen. Auch gelegentliche Shootings mit
Pornostars werden arrangiert. Zu seiner Geschäftstaktik:
„Die Leute haben keine Ahnung, wie man eine attraktive Seite baut,
sie flüssig gestaltet, die Kunden dazu bringt, ihre Kreditkartennummer rauszurücken und sie, wenn sie einmal abonniert haben, bei
Laune zu halten.“
Ohne jede Frage sind auch in Deutschland alleine die Eltern dafür
verantwortlich, ob ihre Kinder Sex-oder Pornoinhalte jeglicher Couleur im Netz aufsuchen. Dies ist ohne großen Aufwand und in Sekundenschnelle möglich, da die Kinder meist wesentlich besser mit
Computern umgehen können als ihre Eltern.
Gerade weil dies in den meisten Fällen ohne Kontrolle möglich ist,
ist das Internet eindeutig eine Gefährdung für die Jugend, zumal man
auch bei sexfremden Suchbegriffen meist irgendwann auf eine
Sexseite hingewiesen wird.
Solange ein gesellschaftliches Interesse daran besteht, die Jugend zu
schützen, dürften Kinder und Jugendliche nicht ohne Kontrolle „online“ gehen.
Unterschiedliche Meinungen bestehen darüber, ob Gewaltspiele, die
über das Internet für Kinder zugänglich sind, eine Aggressionssteigerung bewirken. Spiele die bei uns verboten sind, können über das
Ausland bezogen werden oder direkt aus dem Internet heruntergeladen werden. (siehe Medien)
Pornographie und Internet896
Besucher von Pornoseiten im Juni 2001:
896
Stichprobenartige Befragung von 5 000 Internetnutzern durch die
Internetgesellschaft Net-Value in: MM, 185, 2001, Weltspiegel
464
Nationalität
Deutsche
Briten
Franzosen
Italiener
Anzahl in Millionen
5,3
3,8
2,7
2,3
Im Jahr 2000 wurden mit Pornographie im world-wide-web 1 Milliarde US-Dollar umgesetzt.897
Kinderpornographie im Internet
In den Statistiken wird nur mangelhaft die Kinderpornographie per
Internet berücksichtigt. Im Jahr 2000 wurden davon in Deutschland
1587 Fälle aufgedeckt. Im Internet werden jeden Tag schätzungsweise 100 neue Seiten mit Kinderpornographie eröffnet.898
Belästigung von Jugendlichen im Internet 899
Bei einer telefonischen Befragung von 1501 Teenagern zwischen 10
und 17 Jahren und deren Eltern wurde festegestellt, dass jedes fünfte
Kind bereits während seiner online-Zeit sexuell belästigt wurde.
25% dieser betroffenen Kinder reagierten mit Verängstigung oder
Aufregung. Den meisten Belästigungen waren Jugendliche im Alter
zwischen 14 und 17 Jahren ausgesetzt. Besonders gefährdet waren
die Jugendlichen, die
 regelmäßig im Internet surfte
 Chaträume besuchte
 leichtgläubig persönliche Informationen preisgab
 mit Unbekannten über sexuelle Themen redete
 private Probleme (Arbeitslosigkeit und Todesfälle in der Familie) haben und darüber redeten
897
Meldung im Bayerischen Rundfunk, 2. Programm am 19.9.01 um
17.58 Uhr
898
SZ, 291, 2001, S. 12; Zahlenangaben von Christa DAMMERMANN von Terre des Hommes
899
SZ, 150, 2001, V2 /12; auch in : Journal of the American Medical
Association, 2001, Bd. 285, S. 3011
465
Um die Kinder besser kontrollieren zu können, sollten die Computer
deutlich sichtbar im Wohnzimmer stehen.
Sexuelle Belästigung von Frauen in „chatrooms“ 900
Bei einer Befragung von 10 000 jugendlichen Intenet-Nutzer in 16
Ländern wurde festgestellt, dass die meisten schlechte Erfahrungen
in asiatischen „chatrooms“ gemacht hatten. In Deutschland habe
nicht einmal jeder zehnte schlechte Erfahrungen gemacht. Während
in den USA lediglich etwa 25% der Surfer inkognito bleiben, sind es
in Deutschland 50%.
65 % der weiblichen und etwa 40% der männlichen Chatter gaben
an, schon einmal belästigt worden zu sein. Manchmal eingeschüchtert oder unbehaglich fühlen sich ein Viertel der Frauen und nur ein
Zehntel der Männer.
Suizid-Foren im Internet
Im Jahr 2000 wurden nach Angaben von Münchner Psychiatern ein
Dutzend Internet-Suizide bekannt.
Es wird geschätzt, dass es in Deutschland etwa 30 solcher Foren
gibt. Dort wird aber nicht nur Mut gespendet, sondern es werden
auch Möglichkeiten zur Selbsttötung ausgetauscht. Außerdem wurden auf diesen Foren auch Suizide angekündigt und Abschiedsbriefe
veröffentlicht.901
Weltweit sollen mehrere 1000 Foren existieren.
Voyeurismus oder Aufklärung?
Die Internetfirma Entertainment Network Incorporated (ENI) sowie
auch die deutsche Firma absolutfilm.de beantragte, die Hinrichtung
des amerikanischen Attentäters McVeigh im Internet übertragen zu
dürfen. Unterschiede zwischen Augenzeugenberichten der Reporter
am Ort und der Veröffentlichung von Videos und Bildern sind nach
amerikanischer Auffassung unzulässig, während das deutsche Unter900
SZ, 297, 2000, V2 /12; Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes IPSOS
901
MM, 98, 2002, S. 1; die Angaben stammen von HEGERL, Universität München.
466
nehmen vorgibt, aus „Protest gegen die Todesstrafe diese nicht zu
verheimlichen, sondern provokativ für jeden Erwachsenen zugänglich ins Internet zu stellen.“902
Die ethischen oder rechtlichen Grundlagen beginnen dann fragwürdig zu werden, wenn sich herausstellt, dass derselbe amerikanische
Unternehmer (ENI) die Webseiten VoyeurDorm.com und DudeDorm.com betreibt. Junge Nackte räkeln sich hier vor Webkameras.
Auch Hinrichtungen werden in Zukunft möglicherweise „live“ unter
der Rubrik „Reality-Unterhaltung“ zu bewundern sein, während die
Zuschauer nebenbei ihr coke oder ihre Chips vertilgen und sich
selbst dabei vormachen, sich ein Urteil über die Todesstrafe bilden
zu wollen und ihren Kindern dabei den Ratschlag geben, ja ein gutes
Leben zu führen, da sie sonst das gleiche Schicksal ereilen könne.
Wir sind von den Gepflogenehiten des Mittelalters und der Antike in
dieser Hinsicht nicht mehr weit entfernt.
Internet und Schreibgewohnheiten – Auswirkungen auf die
Sprache
HEUSINGER903 stellt fest, dass durch das Internet ein regelrechter
Schreibboom bei jüngeren Menschen ausgelöst wurde. Vor allem EMail-Nutzer schreiben, durch das neue Medium angeregt, fast täglich. Linguisten bewerten es als eine Bereicherung der Sprache, dass
im Netz ständig neue Wörter erfunden werden.
Literatur- online – direkt zum Leser 904
Lektoren und Verlage müssen nicht mehr vor einer Veröffentlichung
zuerst überzeugt werden.
Der kontrollierte Internet-Nutzer
Die Rolle der Cookies – der kontrollierte Netznutzer
Bei jedem Internet-Besuch werden sogenannte „Cookies“ von den
Anbietern verschickt. Beim ersten Besuch einer Web-Seite nistet
902
SZ, 94, 2001, S. 21
SZ, 50, 1999, V2 /21; HEUSINGER (Sprachwissenschaftler)auf
einer Fachtagung in Konstanz.
904
unter: www.berlinerzimmer.de ; das Projekt wird von den beiden
Literaturfachleuten Sabrina ORTMANN und PETER organisiert
und betrieben; in SZ, 109, 2001, II.
903
467
sich auf dem Nutzer-PC ein Identifikationscode ein. Dieser lässt sich
bei jedem weiteren Besuch durch die Betreiber einer Web-Seite
wieder abfragen.
Durch eine Änderung in der Systemeinstellung unter: Internet, erweitert, Deaktivierung der Verwendung von Cookies kann dies unterbunden werden. Dabei muß diese Einstellung jedoch jedesmal neu
überprüft werden, da sich sonst automatisch eine Standardeinstellung
ohne diese Funktion erneut von selbst installiert.
Jeder Nutzer sollte sich auf seinem Rechner über die erhaltenen
Cookies einen Überblick verschaffen. Jede im Netz vollzogene
Bewegung ist so nachprüfbar und kontrollierbar. Es ist denkbar, daß
die großen Firmen auch über Möglichkeiten und Spezialisten verfügen, auf die Speicherinhalte der Anwender-Computer zuzugreifen.
So ist es denkbar, dass eine ungeahnte „Überprüfung“ von registrierten oder nicht registrierten Programmen erfolgen kann. Es ist auch
denkbar, dass durch Hacker Erpressungsversuche durch illegale
Erkenntnisse versucht werden. Die ungewollte Veröffentlichung
entsprechender Namenslisten erfolgte nicht erst einmal.
Dem anonymen Nutzer des Internets kann durch die CookieFunktion automatisch alle für ihn relevanten Bereiche zugeordnet
werden.
In einer Studie aus den USA wird berichtet, dass 94% der WebNutzer gegenüber Anbietern im Internet anonym bleiben wollen.
Auch das falsche Ausfüllen von Formularen schützt nicht davor,
unerkannt zu bleiben. Um an wichtige Daten der Web-Nutzer zu
gelangen, setzen die Entwickler von Internet-Programmen alle nur
erdenklichen Tricks ein. Die Programme können z.B. mit geheimen
Seriennummern versehen werden, die sich durch das Internet wieder
abfragen lassen. So statte RealAudio einige Programme mit derartigen Identifikatoren aus. Das erklärte Ziel war, die musikalischen
Vorlieben der Benutzer zu erfahren. Ein ähnlich funktionierender
Mechanismus wurde auch bei der Software einer Firma für programmierbare Mauszeiger entdeckt. Auf diese Weise konnten Daten
von über 15 Millionen Nutzern gesammelt werden.
Das neue Betriebssystem Windows 2000 geriet durch ein Zusatzprogramm mit der Bezeichnung „Diskeeper“ in die Schlagzeilen. Durch
dieses Programm soll eine optimale Nutzung des Platzes auf der
Festplatte garantiert werden. Der Chef der dafür zuständigen Ent-
468
wicklungsfirma „Executive Software“ ist bekennender Scientologe.905
Das neueste System XP von Microsoft ist in seiner Funktion eng an
das Internet gekoppelt. Tritt ein Fehler im System auf, und wird
dieser (nach 906) per Internet an Microsoft gemeldet – so wird damit
zugleich auch das soeben bearbeitete Dokument mitübertragen.
Die US-Firma Verisign besitzt bisher mit einem Anteil von 95% eine
Monopolstellung als Verifizierungsstelle für codierte Web-Inhalte.
Zudem übernahm die Firma am 7. März auch noch die NetworkSolutions, die für die Zentralverwaltung des Internets und aller WebAdressen mit den Endungen .com, .net, .org, .de zuständig ist. Bisher wurde Network Solutions von der „Science Applications International Corporation“ kontrolliert. Letztgenannter Firma werden enge
Verbindungen zu US-Nachrichtendiensten nachgesagt, vor allem
deshalb, weil unter anderem der US-Admiral INMAN zu den Aufsichtsräten der Firma gehört.907
Auf zwei von drei Internetseiten werden private Daten der Anwender
gesammelt.908 Eine Überprüfung von 751 Webseiten ergab, dass bei
über zwei Drittel der untersuchten Seiten persönliche Daten abgefragt wurden, anhand derer die Person leicht ausfindig gemacht werden kann. Die weitaus meisten Anbieter lassen den Usern auch keine
Wahl, wenn es um die Weitergabe der Daten an Dritte geht.Die europäischen Internetseiten sind trotz der als streng geltenden EURegeln nicht sicherer als amerikanische Seiten. Lediglich zehn Prozent der geprüften Seiten forderten vor der Eingabe persönlicher
Daten die Kinder dazu auf, vorher ihre Eltern um Erlaubnis zu fragen.
905
SZ, 45, 2000, S. 2
Warnung auf der Startseite von t-online am 30.10.01
907
SZ, 61, 2000, V2 /14; INMAN war von 1977 bis 1981 Chef des
für Datenspionage zuständigen
US-Geheimdienstes NSA (National Security Agency).
908
Studie der Organisation Consumers International, einer weltweiten Vereinigung von 263 Verbraucherschutzorganisationen
(http://www.consumersinternational.org); in SZ, 30, 2001, V2 /16
906
469
Preisgabe persönlicher Daten durch die Akzeptanz von Lizenzbedingungen 909
Moderne Software, z.B. der neue „MediaPlayer“ in Windows XP
oder der „RealPlayer“ stehen in ständigem Kontakt zu vielen Servern. Von ihnen beziehen sie Verzeichnisse über empfangbare Radiostationen im Internet, Spiellisten der beliebtesten Songs und Sonderangebote für das Herunterladen von Musik oder Videos aus dem
Netz. Wird eine Mediendatei aus dem Internet geholt, so sendet der
Computer gleichzeitig über die Abspielsoftware eine Meldung zu
einem Server, die den Titel, oder den Speicherort oder den GUID
(Global Unique Identifier; dies ist eine weltweit einzigartige Kennnummer, die einem bestimmten Computer zugeordnet ist) enthält.
Was ist ICANN ?
Hinter diesem Begriff verbergen sich 19 Computer –Experten, die
auf mysteriösem Weg von der amerikanischen Regierung eingesetzt
wurden,- ein merkwürdiges Gremium mit dem Namen „Internet
Corporation for Assigned Names and Numbers“, - bei dem nicht
bekannt ist, wer welchen Einfluß worüber ausübt. Befürworter sehen
darin eine kosmopolitische Internet-Regierung, Gegner eine Bedrohung für das Internet in Form von Regulation und Dominanz ökonomischer Interessen.





909
ICANN ist ein privatrechtliches Unternehmen, das nicht gewinnorientiert arbeitet.
Es ist keine amerikanische Behörde, hat jedoch seinen sitz in
Kalifornien.
ICANN steht unter Aufsicht des US-Wirtschaftsministeriums
und besitzt internationale Kompetenzen.
Die Direktoren sollen von der Netz-Gemeinde demokratisch
gewählt werden.
Die Mitglieder entscheiden, wo sich Unternehmen anmelden
müssen, die im Internet agieren.
SZ, 250, 2001, V2 /15; Mehr Informationen im Netz unter:
www.bigbrotherawards.de und privacyinternational.org; auch unter:
www.real.com
470

Es kontrolliert die technischen Parameter, die für eine reibungslose Kommunikation aller Rechner von ausschlaggebender Bedeutung sind.
Carnivore – das amerikanische Überwachungssystem für
E-Mails
Wird ein Carnivore-Computer mit dem eines Internetanbieters verbunden, ist es möglich,, in Sekundenschnelle Millionen von e-Mails
auf verdächtige Inhalte hin zu überprüfen. Nicht nur amerikanische,
sondern auch deutsche elektronische Post kann über den Umweg
eines amerikanischen Servers so überprüft werden. Kostenlose EMail-Dienste wie Hotmail von Microsoft finanzieren sich dadurch,
dass sie durch eine Werbefirma Werbung in die eingehende elektronische Post einblenden, die dadurch in den Besitz unzähliger e-Mail
–Adressen der Nutzer gelangt.
Auf dem Bildschirm zappelnde Werbelogos stehen seit längerem im
Verdacht, dem Ausspionieren von Computern zu dienen. Der amerikanische Anbieter von Computerspielen,- eGames, schickte zusammen mit den Spielen Werbeprogramme auf die PC`s.
Über die englische Version des Spezialprogrammes Smartdownland
von Netscape wußte der Hersteller nach einer Registrierung genau,
wer sich welche Programme aus dem Internet geladen hatte.
„Echelon“- das anglo-amerikanische Lauschsystem
SCHMID910 ist fest davon überzeugt, dass die USA mithilfe dieses
Systems in großem Ausmaß Wirtschaftsspionage betreiben. Insider
gehen davon aus, dass sowohl Telfonate als auch E-Mails in großem
Stil weltweit überwacht werden. Spezialisten sind sich darüber einig,
wichtige E-Mails gut zu verschlüsseln. Das KryptographieProgramm „Pretty Good Privacy“ ist hierzu besonders gut geeignet,
910
SZ, 95, 2001, VP2 / 3; SCHMID ist führendes Mitglied im
Echelon Ausschuss des Europaparlaments; WELSCH ist Referent
für IT-Sicherheit im Branchenverband Bitkom. Internet-Adressen zu
Echelon: www.heise.de/tp/deutsch/special/ech/default.html;
www.echelonwatch.org; cryptome.org/cryptout.htm#echelon;
www.pgp.com
471
da es mit einer Verschlüsselung von über 256 Bit nach WELSCH
auch für die NASA nur schwierig zu knacken ist.
Die NSA (National Security Agency/ USA) überwacht und verarbeitet heute global mehr als drei Millionen E-Mails, Telefonate und
Faxe pro Tag mit Hilfe des Echelon-Netzwerkes. 911
Partnersuche über das Internet – ein besonders hohes AIDSRisiko912
Eine Befragung von 856 Besuchern einer AIDS-Beratungsstelle
brachte folgende Ergebnisse:
 Jeder Sechste hatte das Internet zur Partnersuche genutzt.
 Jeder Zehnte hatte mit seiner Suche Erfolg.
 Im Durchschnitt waren die Internet-Sucher häufiger homosexuell und hatten häufiger wechselnde Sexualkontakte, als jene, die
das Netz nie zur Partnersuche nutzten.
 Die Befragten hatten sich häufiger bereits einmal mit einer sexuell übertragbaren Krankheit infiziert.
 Doppelt so viele Sucher wie Nicht-Sucher hatten wissentlich
Sex mit einem HIV-Positiven.
Seuchenmedizinern bereitet die Anonymität in Verbindung mit der
praktizierten Sexualität besonders Kopfzerbrechen. Eine USForschergruppe berichtet über einen Syphilis-Ausbruch, der über die
Kontakte in einem Chatroom ausgelöst wurde. Es gelang ihnen
schließlich über dieses Medium die Betroffenen zu warnen und dazu
zu bewegen, einen Arzt aufzusuchen.
Die Ärzte zur Lage des Gesundheitswesens:
„Das öffentliche Gesundheitswesen steht fest im vorigen Jahrhundert und ist nicht darauf vorbereitet, die unvermeidlichen Antworten
auf die neue Technologie zu geben.“
Seriennummern - eine mögliche Grundlage für Spionage
Verschickte e-mails werden als HTML-Dateien angeliefert. Diese
Codierung wird auch bei der Erstellung von Webseiten verwendet.
911
912
SZ, 163, 2001, S. 9
JAMA, 2000, Bd. 284, S. 443 in SZ, 175, 2000, V2 /10
472
Normalerweise wird die HTML-Codierung von den gebräuchlichsten
Programmen verstanden und richtig erkannt.
Die Absender von e-mails können jedoch zusätzlich zu ihrem Text
noch einen Hinweis auf eine Grafik beifügen. Diese ist jedoch nicht
Bestandteil der Mail. Die entsprechende Grafik („Web Bugs“-„Web
Wanzen“) die nur aus einem einzigen transparenten Bildpunkt besteht und vom Empfänger deshalb nicht angeschaut werden kann,
muß auf einem Rechner im Internet abgerufen werden. Die Kontaktaufnahme zwischen Internetrechner und dem Rechner des Empfängers wird über das e-mail Programm des privaten Nutzers automatisch hergestellt, wenn eine Mail den Hinweis auf diese Grafik enthält.
Dem Betreiber des Internetrechners ist es möglich, genau festzustellen, wer seine e-mails angeschaut hat. Durch eine Abfrage der Grafik-Datei kann über den Internetrechner die Internet-Adresse des
Benutzers festgestellt werden. Vor allem für ungebetene Werbezwecke aber auch zur Überwachung der Besucher von Webseiten ohne
einen Zugriff auf deren Rechner wird dieser Trick angewandt. Vor
allem Anbieter aus den USA müssen nicht damit rechnen, wegen
eines Verstoßes gegen das Datenschutzgesetz zur Rechenschaft
gezogen zu werden. Die „Web Bugs“ sind nur durch eine Analyse
der Quellcodes der entsprechenden Webseiten ausfindig zu machen.
Über sogenannte „IGM“-Befehle- vor allem in fremden Internet Adressen enthalten- lassen sich „Web Bugs“ aufspüren.
Die Datensammler sammeln im Sinne des Gesetzes keine Personendaten. Besucher des Internets ohne eine e-mail Adresse, ohne Namensangabe oder andere eindeutige Angaben sind nicht identifizierbar.
Das Löschen von Cookies ohne Spezialprogramme ist mühselig.
Hausaufgabendienste – Fragwürdige Hilfe für Schüler im Internet 913
Durch Experten, - die bei entsprechenden Diensten 108 Fragen aus
verschiedenen schulischen Wissensbereichen gestellt hatten, - werden diese Dienste häufig mit der Note sechs bewertet. Der beste
Anbieter konnte acht von zwölf gestellten Fragen beantworten.
913
MM, 291, 2001, S. 1
473
Sechs der Antworten seien jedoch von „zweifelhafter Qualität“. Die
Gründe für diese Bewertung:
 Antworten auf Schülerfragen kommen erst sehr spät
 Häufig werden sogar falsche Antworten auf Fragen gegeben
Schulen ans Internet?
Computer sind in der Schule nur dann sinnvoll, wenn es den Lehrern
gelingt, die Voraussetzungen für eine sinnvolle Nutzung zu organisieren. Durch eine geeignete Lernsoftware können per Computer
zwar Zusammenhänge deutlich veranschaulicht werden, es liegt
jedoch die Vermutung nahe, dass eine zunehmende Enttextlichung
der Alltagskultur die Folge sein wird. Nach GASCHKE914 leiden ja
gerade die benachteiligten Schüler (Grund-Haupt-und Sonderschüler) unter einem deutlichen Zuviel an Fernseh- und Nintendobildern.
Viele Schüler sind nicht mehr in der Lage, zu abstrahieren, aufmerksam zuzuhören und sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren. Das „Lernen müssen“ muss den Kindern wieder ins Bewußtsein
gerufen werden, zumindest denen die zum Lernen fähig sind. Der
Lernvorgang als Auseinandersetzung mit dem Lernstoff muss in der
Schule geübt werden. Der Computer mag in einzelnen Fällen eine
sinnvolle Vorarbeit oder Ergänzung leisten, der anstrengende geistige Akt des Lernens muss unter nicht unerheblichem Zeitaufwand
und mit Ruhe und Anstrengung geleistet werden.
Die momentane schulische Situation ist an vielen Schulen katastrophal und inakzeptabel. Unterrichtsausfälle, Unterricht in zum Teil
schimmeligen Klassenzimmern, veraltete Lehrbücher, zu wenig
Lehrer, eine vielfach beengte Raumsituation aber auch der immer
größere Zeitrahmen den die Erziehung und Konfliktlösung in den
Schulen fordert, lassen die Zeit für das eigentliche Lernen in erschreckendem Maße abnehmen. Auch die zusätzliche Einstellung
von dringend notwendigen Sozialarbeitern und Heilpädagogen erfolgt seit langem nicht mehr.
Alleine an unserer Schule sind zur Zeit vier Lehrkräfte erkrankt. Der
Sportunterricht für Mädchen entfällt seit ca. sechs Wochen. (Stand
April 01) Ebenso entfällt seit einer Woche der Fachunterricht Hauswirtschaft/Textilarbeit. Die Stunden müssen selbstverständlich in
größeren Klassen aufgefangen werden. Die problematische Situation
914
DIE ZEIT, 14, 2000, S. 7
474
vor allem im Bereich des Sportunterrichts sind im Ministerium bekannt.
Die Anbindung der Schulen an das Internet ist keine geeignete Maßnahme, um die angeführten Probleme zu lösen. Das Internet wird
von SCHRÖDER als neue Lösung für soziale Probleme präsentiert, als ein Medium, das in der Lage ist, Benachteiligungen zwischen den
Menschen aufzuheben.
Dazu GASCHKE: „Die „gespaltene Gesellschaft“, die Schröder
fürchtet, gibt es längst: Sie teilt sich in die Kinder, die morgens vor
der Schule ein Frühstück bekommen, und in solche, die hungrig
losgehen; in die Kinder, denen abends vorgelesen wird, und jene, die
nach stundenlangem Fernsehen am Abend im Unterricht einschlafen;
in die, denen es gelingt, in vier Grundschuljahren lesen und schreiben zu lernen – und die anderen. Diese anderen Kinder können auf
kein bisschen ihres Unterrichts in Lesen, Schreiben und Rechnen
verzichten. Sie könnten im Übrigen jede Menge Zuwendung gebrauchen, zusätzliche Betreuungsstunden und Förderunterricht, Ganztagsschulangebote und sozialarbeiterische Begleitung für ihre Familien.“
Durch ein „Immer noch mehr“ ist unsere Bildungsmisere nicht zu
lösen. Solange grundlegende Kulturtechniken von Schülern nicht
sicher beherrscht werden ist es weder sinnvoll, zusätzliche Fremdsprachen zu früh anzubieten oder aber zu meinen, das fehlende Wissen kann ohne geistige Anstrengung mit Hilfe des Computers Eingang in die Gehirne finden. Es entspricht der Wahrheit, dass die
Lesefähigkeit, das Sprachverständnis und die Ausdrucksfähigkeit
schon in der eigenen Muttersprache in rasantem Tempo abnehmen.
Viele Schüler verstehen die eigene Sprache nicht mehr, grundlegende Begriffe haben die Bedeutung von nie gehörten Fremdwörtern.
Durch dieses lückenhafte Sprachverständnis entstehen häufig Missverständnisse die wiederum nicht selten Aggressionen auslösen.
STOLL vertritt die Ansicht, dass die Forderung, Schulen an das Netz
anzuschließen, als schwachsinnig einzuschätzen ist.915
Das bereits vorhandene und sich hektisch weiter ausbreitende Datenuniversum ist nur in wenigen pädagogisch vertretbaren Projekten –
die im Unterricht alleine nicht bewältigt werden können-geeignet,
915
STOLL ist amerikanischer Datenschutzspezialist; MM vom
19. März 2001, Kulturteil
475
Sinnvolles zu lernen. In den USA ist in letzter Zeit bereits eine Gegenbewegung entstanden, die fordert, die Computer wieder aus den
Klassenzimmern zu verbannen. Viele Erwachsene, die befragt wurden bedauerten, in ihrer Jugend zu wenig Bücher gelesen zu haben,
kein Musikinstrument zu spielen und keine Fremdsprache zu sprechen. Keine der befragten Personen beklagte jedoch, zu lange vor
dem Computer gesessen zu haben.916 Lernen erfordert Ruhe, Aufmerksamkeit und vor allem viel Zeit und Anstrengung.
Um die Massen der ungefilterten Informationen zu erkennen oder
den Umgang mit rechtsextremen Internet-Inhalten zu interpretieren,
müssen die Schüler zuvor etwas über die Schnelllebiggkeit, das
Zustandekommen und die Veränderung der Informationen durch
menschliche Kommunikation erfahren und gelernt haben.
Während in Deutschland einerseits große Summen für den Computereinsatz an Schulen ausgegeben werden, droht andererseits erfolgreichen, lebendigen Projekten gegen den Rechtsradikalismus das
Aus. Im brandenburgischen Milmersdorf z.B. müssen die Sozialarbeiter und alle freien Träger, die Jugendsozialarbeit betreiben, darum
bangen, ob sie die finanziellen Mittel für ihre Projekte, das Personal
und den Unterhalt der Häuser zusammen bekommen.917
Die Systembetreuer an den Schulen klagen zunehmend darüber, daß
sie Dateien mit pornographischem, rassistischem Inhalt oder gewalttätige Spiele von den Festplatten löschen müssen. Durch die Vielfalt
der Internetanschlüsse an den Schulen ist eine ständige Kontrolle
durch die Lehrer nicht mehr möglich. Eine Angabe darüber, wie oft
die Internetanschlüsse der Schulen zum Ansurfen unerlaubter Seiten
benutzt werden, existiert nicht. Während in den USA die Schüler
wesentlich stärker kontrolliert werden, setzt man in Deutschland auf
die Selbstdisziplin der Schüler.
916
917
Hannoversche Allgemeine Zeitung in SZ, 93, 2001, S. 4
SZ, 77, 2000, S. 11
476
Die Beschäftigung mit Internet und Computer sind eine Zeitverschwendung- sie hält uns von wirklich wichtigen Dingen im Leben ab
STOLL spricht sich vehement gegen die Benutzung von Computern
in der Schule aus.
„Ich finde, daß der tägliche Umgang mit Computern unser Wesen
als Mensch untergräbt. Computer entfernen uns vom Umgang mit
Menschen und fördern dafür unseren Umgang mit Maschinen....Mein Problem ist es doch, daß ich meiner Familie näher sein
möchte, - meinen Freunden – und nicht irgendwelchen Leuten, die
zigtausend Kilometer entfernt leben...Was mich beunruhigt, ist die
Computerkultur, die sagt: Wenn du wichtig sein willst, musst du
online sein, musst du eine E-Mail-Adresse haben und am besten
auch eine eigene Web-Seite. Aber die wichtigsten Leute im Leben
trifft man nicht online.
In der Schule sollten wir nicht die leichten Sachen lernen, sondern
die schwierigen:
Fremdsprachen, ein Musikinstrument oder Teamarbeit. Es ist sehr
einfach, ein Malprogramm wie Corel Draw zu lernen, aber es ist viel
schwieriger zu lernen, wie man ein Gesicht malt. . . .Ein guter Lehrer
kann uns viel mehr beibringen als ein Computer. Deshalb ist die
Frage entscheidend: wie bekommen wir bessere Lehrer anstatt mehr
Computer im Klassenzimmer? Computer tun doch nur so, als sei
Lernen ein großer Spaß...aber: lernen hat nichts mit Spaß zu tun.
Richtiges Lernen hat etwas mit Engagement zu tun – mit dem Engagement des Schülers für den Lernstoff, mit dem Engagement des
Lehrers für den Schüler. Richtiges Lernen erfordert Disziplin; man
muß seine Hausaufgaben machen! Es ist harte Arbeit! Man muß sein
Hirn anstrengen! . . .“918
Das Internet bedeutet für viele Wissenschaftler Segen und Fluch
zugleich. Einerseits wird den von der Lehrmeinung abweichenden
Ideen weniger Raum und Zeit zum Reifen eingeräumt, wobei die
schnellere Kommunikation gleichzeitig mehr Zeit zur Diskussion
und zum Nachdenken erforderlich macht. Jüngere Forscher schließen
sich oft wissenschaftlichen Modeerscheinungen an, bevor diese sich
918
SZ-Magazin, Mai 2001; STOLL arbeitete am Vorgänger des
Internets, dem Arpanet, mit.
477
etablieren konnten. ROVELLI: „Und wie wir wissen, stellen sich
modische Ideen manchmal als falsch heraus.“919
Eine Voraussetzung zu einer erfolgreichen Zusammenarbeit auf
Distanz wird nach TEASLEY „eine fundamentale Veränderung auf
sozialem Niveau erfordern,“ da zuerst die Unklarheit darüber, wem
gewisse Daten gehören, beseitigt werden müsste, damit das zur Zusammenarbeit notwendige Vertrauen entstehen kann. Nach Meinung
von führenden Wissenschaftlern sind Stille, mehr Gespräche in kleinen Gruppen und der Dialog der Naturwissenschaftler mit den Philosophen erforderlich, um die Natur besser zu verstehen. Diese Kommunikation ist nicht durch die Verständigung per Bildschirm zu
ersetzen.
Schwangerschaft per Internet –Bestellung
Ein bizarres Angebot mit der Bezeichnung „Fremdbefruchtung auf
natürlichem Wege“ wird durch die „Initiative Pro-Kinderwunsch“
angeboten. Lesben und Singels, aber auch Paare die ungewollt kinderlos sind, werden als potentielle Kunden betrachtet.
2500 Frauen sollen das Angebot bereits in Anspruch genommen
haben. Es befinden sich 122 Männer, im bundesweiten Einsatz. Alle
sind deutsche Akademiker, schlank und unter 35 Jahre alt, gepflegt
und gesund. Strikte Anonymität wird zugesichert; die Erreichbarkeit
der Initiative ist nur über Email möglich.
Der Kontakt zwischen Mann und Frau soll anonym erfolgen, wobei
es nicht möglich ist, dass eine Auswahl durch die Frau mit Kinderwunsch getroffen werden kann. Schriftlich muß sogar auf jede Form
des Unterhaltsanspruches verzichtet werden.
EICHMANN920 zu diesem Angebot:
„Ich bezweifle, dass die Frauen wissen, worauf sie sich da einlassen.“
Neben den rechtlichen Folgen seien vor allem auch die psychischen
Folgen für das Kind zu beachten, das nie seine Herkunft erfahren
könne.
919
SZ, 162, 2001, V2 /7; ROVELLI arbeitet am Centre National de
la Recherche Scientifique in Marseille; Stephanie TEASLEY (Universitiy of Michigan) arbeitete an einem AIDS-Projekt im Internet.
920
MM, 204, 1999, J 3; Ruth EICHMANN ist Frauenärztin bei Pro
Familia in Frankfurt am Main.
478
Spiele im Internet921
Ultima Online
Mehr als 100 000 Spieler nehmen täglich an diesem Rollenspiel teil.
Die Teilnehmer dieses Spieles können komplett in eine Welt eintauchen, in der die Grenzen zwischen Simulation und Wirklichkeit
verwischen. Diese „Parallelwelt“ ist für viele Spieler eine willkommene Flucht aus dem Alltag.
3D-Shooter
Viele Gefahren und gemeine Gegner lauern in diesem Spiel dem
Teilnehmer auf. Die Gegner können durch alle Mittel ausgeschaltet
werden (Kettensäge, Raketenwerfer).
Diablo
Hier erhalten die Helden der Unterwelt magische Fähigkeiten. Hier
werden mehr als eine Million Spiele täglich verzeichnet.
Siedler 3
Die Spieler müssen hier als Herrscher ihre Untertanen geschickt
einsetzen. Wer am geschicktesten mit den Untergebenen giert kann
am ende seine Konkurrenten besiegen.
Ein Großteil der Anbieter verlangt keine zusätzlich Gebühr für das
Spielen im Netz. Trotzdem macht sich jede Minute auf der Telefonrechnung bemerkbar. Hohe Preisgelder (100 000 Dollar) animieren
viele Spieler, sich an dem Turnier für den besten Online-Golfer zu
beteiligen.
Ruhmsucht ist für viele Spieler ein Grund, hemmungslos zu mogeln.
Nicht die begabten Gegner sind die gemeinsten, sondern die, die sich
selbst am besten mit technischen Tricks (cheats) unbesiegbar machen, indem sie das Spiel so umprogrammieren, dass sie höher
springen oder schneller laufen können als die betrogenen Konkurrenten.
Suchmaschinen
Der weitaus größte Teil des Webs ist über Suchmaschinen nicht zu
erreichen. Nur etwa 42% des im Jahr 1999 etwa 800 Millionen Seiten umfassenden WWW konnten durch die 11 populärsten Suchmaschinen gesichtet werden. Viele der Trefferlisten sind sehr einseitig
beeinflußt. Da die Betreiber der Suchmaschinen sich in erster Linie
921
SZ, 129, 2000, V2 /19
479
für den wirtschaftlichen Nutzen interessieren und zudem nur mit
einem enormen technischen Aufwand die gigantischen Datenmengen
bewältigen können, ist es verständlich, daß bestimmte Web-Seiten
gegen Bezahlung ständig auf den vordersten Plätzen der Anbieter zu
finden sind. Dies ist auch auf die gängige Praxis der SuchmaschinenAnbieter zurückzuführen, die oft von den einzelnen Surfern besuchten Seiten ganz oben aufzulisten. Durch diese Praxis ist eine wertfreie Abbildung des Webs von vorneherein ausgeschlossen.
Anbieter, die sich neu im Internet präsentieren wollen, können durch
eine Verknüpfung ihrer Seite mit anderen Angeboten im Web und
durch das Einfügen aussagekräftiger Schlüsselworte in Form von
unsichtbaren Metatags die in ihrem HTML-Code enthalten sind ,
effektiver und damit unabhängiger von den großen Suchmaschinen
auf sich aufmerksam machen. 922
Durch „Spammer“ werden Web-Seiten mit irreführenden Stichworten präpariert, um die Nutzer zu bestimmten Seiten zu führen. Durch
den Verkauf von genau auf die Seiten abgestimmten Werbebannern
finanzieren die Betreiber der Suchmaschinen ihr Geschäft.
Listenplätze bei Suchmaschinen 923
Zur Finanzierung von Suchmaschinen reicht Online-Werbung alleine
nicht aus. Um die finanziellen Lücken zu füllen, werden Suchergebnisse von den Betreibern der Suchmaschinen an die Gesuchten verkauft. Bezahlte Links sind jedoch nur dann sinnvoll, wenn sie sich
jedoch deutlich von anderen Treffern abheben. Je mehr Geld bezahlt
wird, desto weiter oben steht der Treffer auf der präsentierten Liste.
Es wurden bereits Beschwerden bei der US-Handelsaufsicht durch
„Commercial Alert“ (die amerikanische Verbraucherschutzorganisation) eingelegt. Folgende Suchmaschinen stehen in der Kritik:
AltaVista, Netscape, MSN, LookSmart, Hotbot und Lycos.
Den Betreibern wird vorgeworfen, dass die Suchenden nicht mehr
zwischen Werbung und Suchergebnis unterscheiden können. Eine
Täuschung der Verbraucher werde billigend in Kauf genommen.
922
923
SZ, 158, 1999, V2 /12
SZ, 267, 2001, V2 /14
480
Illegale Musik- und Film-Tauschbörsen924
Gratismusik aus dem Netz ist fast nur noch illegal zu haben.
Rund eine Million Filmdateien werden täglich weltweit aus dem
Internet geladen. Allein in den USA beläuft sich der Schaden auf im
Jahr 2002 auf 4 Milliarden Euro. Die Musiksuchmaschine „Napster“
wurde täglich von bis zu 60 Millionen Nutzern aufgesucht.
Elektronische Recherche im Internet925
An deutschen Hochschulen wird dieses Informationsmedium immer
mehr zur Gewinnung von Informationen genutzt. In erster Linie
beschränken sich die Studenten jedoch auf freie Suchmaschinen,
wobei die gewonnenen Informationen häufig als unübersichtlich
eingestuft werden. Soziologen kamen zu der Auffassung, dass die
meisten Studenten nicht die Fähigkeit besitzen, die Qualität und die
Bedeutung der Suchergebnisse zu bewerten. Nur sechs Prozent der
Studenten wissen die Möglichkeiten von fachspezifischen onlineDatenbanken oder aber kostenpflichtige Informationsangebote zu
nutzen. An Einführungsveranstaltungen der Bibliotheken nehmen
nur ca. 15% der Studierenden teil. Den Hochschullehrenden ist zwar
die Bedeutung der Recherche per Computer bewusst, dennoch ist sie
nur bei jedem dritten von ihnen Bestandteil des eigenen Lehrplanes.
Wirtschaftsspionage
MATSCHKE926 stellt fest, daß deutsche Unternehmen die bevorzugten Zielobjekte ausländischer Nachrichtendienste seien. Dabei geht
es um die Ansiedlung neuer Industrien und die damit verbundene
Sicherung von Arbeitsplätzen.
„International tobt derzeit in den zivilisierten Ländern ein Wirtschaftskrieg. Das scheint Spionage und den Diebstahl sogar unter
Freunden zu legalisieren. Jeder wird alles tun, um sich wissenschaftliche und wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen.“
Die weltweite Telekommunikation wird durch globale Überwachungssysteme rund um die Uhr belauscht. Ausländische Nachrich924
MM, 101. 2002, Geld & Markt
www.sfs-dortmund.de im Auftrag des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung und in SZ, 156, 2001, V2 /12
926
SZ, 6, 2000, S. 24; MATSCHKE ist Präsident des Verbands
Deutscher Sicherheitsunternehmensberater.
925
481
tendienste würden zum Teil sogar auf die Bitten von Firmen hin
speziell tätig. Zielobjekte sind vor allem forschungsintensive Branchen. Dazu zählen die Bereiche der Chemie-, Pharma-, Optik-, Auto, Luftfahrt- und Mikroelektronikindustrie.
Einerseits wird die Arbeit der Spione durch mangelndes Sicherheitsbewußtsein erleichtert – andererseits durch das Anzapfen von ISDNund EDV-Anlagen, des Betriebsfunks, der Paging-Systeme und
durch das jederzeit leicht mögliche Abhören von Mobiltelefonen
ausgeführt. Auch die Reproduktion der Abstrahlung von Computermonitoren aus über 100 Meter Entfernung gehöre bereits zu den
Geschäftspraktiken der „Informationsabschöpfung“.
Der Schaden, der durch Industriespionage per Computer und WWW
in Deutschland entsteht, wird auf jährlich 20 Milliarden DM geschätzt.927 Russische, amerikanische und chinesische Geheimdienste
haben es offenbar besonders auf die hoch spezialisierte Wirtschaft in
Süddeutschland abgesehen.
Vor allem die USA setzen auch im militärischen Bereich laut MEYERS zunehmend mehr darauf, Angriffe auf Computernetze durchzuführen. Die Fähigkeit, einen Angriff auf ein Computernetz zu führen,
solle ab Oktober 2000 unter der Leitung des Weltraumkommandos
der US-Streitkräfte entwickelt werden.928 Die aktuelle Entwicklung
erinnert zunehmend mehr an die vor mehr als 20 Jahren fast unglaublich klingenden Thesen des amerikanischen Wirtschaftsjournalisten ALLEN929, der bereits 1971 die Ansicht vertrat, dass inzwischen das höchste Gut der Menschen – die Freiheit – einer organisierten Bedrohung ausgesetzt ist.
Die US-Regierung reagiert auf die Erkenntnis der Anfälligkeit der
Computersysteme für Hacker und zur Verbesserung der Sicherheit
der eigenen Computersysteme mit Milliardeninvestitionen (fast 4
Milliarden Mark).930
Durch das französische Verteidigungsministerium wurde der Verdacht geäußert, dass Mitglieder des militärischen USGeheimdienstes NSA bei Microsoft in den für die Entwicklung von
927
SZ,122, 2000, S. 2
SZ, 4, 2000, S. 8; MEYERS ist General des USWeltraumkommandos.
929
ALLEN, „Die Insider“ und „Die Rockefeller Papiere“
930
SZ, 5, 2000, S. 7
928
482
Software zuständigen Teams sitzen.931 FERNANDEZ hatte die Behauptung aufgestellt, bei der Anwendung des Betriebssystems NT
sei ein Zugriff auf private Computer möglich. Nach seiner aussage
sei er auf einen neuen digitalen Schlüssel mit der Bezeichnung
NSAkey in der Sicherheitssoftware von Windows gestoßen. Seiner
Schlußfolgerung nach ermöglicht dieser Schlüssel der National
Security Agency (NSA) den Zugang zu jedem mit Windows arbeitenden PC. Nach Aussagen eines Sprechers von Microsoft handele es
sich bei der neuen Komponente lediglich um ein Backup für das
Verschlüsselungssystem von Windows. Durch den Begriff NSAkey
sollte nur belegen, dass die von der NSA überwachten Export- und
Sicherheitsvorschriften für die Software gültig sind.
Der Verband der deutschen Internet-Wirtschaft (ECO) warnte vor
der Überspielung von AOL 5.0, da durch das Überspielen der Software die im PC vorhandenen Netzwerk- und Internetprogramme
außer Gefecht gesetzt werden. In den USA wurde deshalb bereits
eine Sammelklage gegen das Programm des weltgrößten OnlineDienstes eingereicht. AOL Deutschland wies die Kritik „in dieser
pauschalen Form“ zurück.932 Online-Verbindungen über andere
Internet-Service-Provider (ISP) ließen sich nur unter großen Schwierigkeiten herstellen. Dies könnte – sollten die Probleme beabsichtigt
programmiert worden sein - als eine moderne Form des Wirtschaftskrieges gewertet werden.
Hacker
VRANESEVICH, 21 Jahre alt, ein Hacker-Jäger der mit dem FBI
zusammenarbeitet, über die Persönlichkeit von Hackern: Die meisten
sind nur selbstverliebt.
„Das ganze ist ein Ego-Ding. Es hat mit Macht zu tun. Und es ist
reine Männerwelt. Wenn überhaupt Frauen in der Szene sind,
dann als Groupies.“933
In der Hacker-Welt gilt nur ein Motto:
931
SZ, 42, 2000, S. 25; FERNANDEZ ist Mathematiker und Unternehmer; er besitzt eine Homepage mit der Bezeichnung: Cryptonym
Corporation.
932
MM, 28, 2000, S. 1
933
SZ, 104, 2000, S. 3; VRANESEVICH besitzt eine Hacker-newsWebsite: AntiOnline (http://antionline.com/).
483
Traue keinem, niemals. Es ist eine Welt der falschen Identitäten und
falschen Freunde. Nur eines haben alle gemeinsam. Sie hassen Vereinfachungen. Die Strukturen der Hackerwelt sind kompliziert, die
Hierarchien enorm.
Einteilung der Hacker
White-hat-Hacker
Black-hat-Hacker
Cracker
Script Bunnies
Pocket Monkeys
Alpha Geeks
Carder
die guten, die in fremde Datensätze nur
eindringen, um den Firmen zu zeigen, wo
ihre Schwachstellen sind
Böse, die in Computersysteme einbrechen,
um diese zu zerstören, oftmals nur, um
Allmachtsphantasien auszuleben oder aus
politischen oder finaziellen Gründen
ihre Dienste sind zu kaufen
Möchte-gern-Hacker
Leute, die ausführen, was ihnen die Alpha
Geeks anschaffen
absolute Profis unter den Hackern
Hacker, die mit geklauten Kreditkartennummern handeln
In der Welt der Hacker wird die Grenze zwischen Gut und Böse oder
zwischen Legalität und Verbrechen ständig überschritten. VASILYEV zur Personengruppe der Hacker:
„In der heutigen Welt beherrschen Rechner Menschen. Hacker sind
Leute, die Computer beherrschen . . . Hacker folgen hohen moralischen und ethischen Ansprüchen . . . Einige Leute werden schon als
Hacker geboren. Da ist etwas in ihnen, das sie zwingt, komplexe
Systeme zu erforschen und zu studieren . . . Wenn sie das nicht täten,
würde sie niemand mit der Verteidigung oder Betreuung von Computersystemen betrauen . . .“934
Der carding channel #cc ist die Kreditkartenbörse im Internet. Hier
werden öffentlich tausendfach Kreditkartennummern verhökert. Laut
VRANESEVICH haben die „Carder“ die Realität aus den Augen
verloren. Für sie sind die Geschädigten keine Menschen sondern
934
VASILYEV hat in Moskau die Hacker-Schule „hscool“ gegründet; SZ, 79, 2000, V2 /19
484
lediglich Kreditkartennummern. Werden geforderte „Schutzbeträge“
für gestohlene Kartennummern von den betroffenen Firmen nicht
gezahlt, wird die Presse eingeschaltet oder die Polizei informiert,
haben die Betroffenen die gesamte Hacker-Szene als Gegner. Auf
diese Weise werden lautlos täglich kleine Firmen zugrunde gerichtet.
Wem nützen oder schaden erfolgreiche „Hacker-Angriffe“ ?
Hacker-Angriffe werden durch Mail-Bombing (Überschwemmung
mit einer Unmenge von gleich lautender elektronischer Post),
Broadcast Storming oder Ping Flooding ( hier werden Spezifika der
Protokolle TCP/IP ausgenutzt) ausgeführt. Durch das Zusammenwirken dieser beiden Protokolle ist das Surfen im Internet erst möglich. Auch durch Informationen ehemaliger Insider oder momentaner
Mitarbeiter von Firmen wird erfolgreich „gehackt“.
Alle Beteiligten ziehen letzten Endes einen Nutzen daraus.
Beteiligte
Angegriffene Firmen
Staatswächter /Sicherheitsdienste
Computerindustrie
Hacker
Versicherungen
Nutzen
Sie werden auf Sicherheitslücken
ihrer Webseiten aufmerksam und
können sie schließen
Existiert kein realer Gegner, so
kann wenigstens ein imaginärer
Gegner benannt werden
Investitionen in umfangreichere
Schutzprogramme Check von
Datensystemen
Im Falle einer Entlarvung locken
lukrative Jobs als Sicherheitsberater bei den attackierten Firmen
Verkauf von Policen gegen Viren- und Hackerschäden
Nur den ganz normalen Internet-Nutzern entsteht bei solchen Angriffen ein Schaden, da sie oftmals das Netz nicht mehr nutzen können.
485
Hacker-Dienste
Zunehmend mehr Hacker sind in der Lage, Streifzüge durch fremde
Rechner zu unternehmen. Gegen Zusicherung von Straffreiheit bieten sie ihre Dienste für entsprechende Bezahlung an.
Nach dem Attentat auf das World-Trade-Center bietet SCHMITZ
seine Hilfe über das Netz an:
„ Mein Team und ich wissen, was zu tun ist. Wir können Bankkonten aufspüren, transaktionen beobachten, Sleeper finden und die
Aufrufe zu Terrorattacken im Netz stoppen.“935
Eine Hacker-Gruppe aus Estland bietet ebenfalls ihre Dienste über
das Internet an:
„Wir wissen, dass (bin Ladens) Gruppe die Verschlüsselungsmethoden Steganographie und PGP benutzt und können nicht nur ihre
Gespräche entschlüsseln, sondern auch den Ort der Telefonate ausfindig machen.“
Für160 000 Dollar seien entsprechende Informationen zu haben.
Fragwürdiger Schutz durch Viren-Software – und Antibiotika
Zurzeit existieren bis zu 60 000 PC-Viren und mehrere hundert für
Apple Macintosh. KASPERSKY: „Viren sind erfolgreich in den
Computer Alltag eingedrungen, und sie werden uns in absehbarer
Zukunft nicht wieder verlassen.“936
In Großbritannien enthält gegenwärtig eine von 300 e-mails einen
Virus. Hochrechnungen bei bestehendem Trend gehen davon aus,
dass im Jahre 2008 jede zehnte Mail und im Jahre 2013 jede zweite
mit einem Virus verseucht sein wird.
Um das Eindringen eines Virus auf den privaten Rechner zu verhindern, sollte sollten Mails nicht im HTML-Format gelesen werden
und diese Option im Programm „Outlook“ abgeschaltet werden.
Nach Meinung von Experten sollte man wirkungsvolle Anti-VirenProgramme zum Schutz vor Virenattacken auf allen Rechnern installieren. Dabei ist jedoch nur die jeweils neueste Version von scheinbarem Nutzen. Die Geschwindigkeit, mit der sich Viren ausbreiten,
935
SZ, 221, 2001, V2 /17; SCHMITZ ist ein wegen Datenklau vorbestrafter US-Hacker und Multimillionär.
936
SZ, 227, 2001,V2 /13; KASPERSKY ist russischer Viren-Guru.
486
nimmt dramatisch zu. Das Dilemma ist, dass Virenprogramme niemals praktisch auf dem aktuellen Stand der Hacker sein können.937
Interessanterweise zeigt sich eine ähnliche Entwicklung auf dem
Sektor der Humanmedizin. Hier sind in den vergangenen zehn Jahren weltweit zahlreiche Bakterienstämme entstanden, gegen die es
kaum noch wirksame Medikamente gibt.
Der Wunsch, sich wirksam, sofort und endgültig durch exogene
Faktoren zu schützen, (Medikamente, Viren-Programme, Impfungen) erzeugt eine Spirale von neuen, immer größeren Gefahren.
Auch eine Nachrüstung der Computersicherheit mit den neuesten
und jeweils intelligentesten technologischen Möglichkeiten wird
niemals eine absolute Sicherheit bieten.
SCHNEIER: „Mit jedem Software-Update steigt die Komplexität
und die Angriffsfläche für entschlossene Hacker . . . Wenn ich jede
erkannte Lücke schließen will, muss ich mein System jeden Tag
nachrüsten.“938
Mehr Sicherheit für das DNS(Domain Name System = Namensverwaltung im Netz unter der Führung von ICANN) kann nicht durch
Technik, sondern nur durch konstante Beobachtung der Systeme,
und zwar „von Hand“ erreicht werden.
Zwischen Virensammlern, Antivirenunternehmen und Virenschreibern wird weltweit per Internet eine enge Zusammenarbeit gepflegt.
Sammler erhalten im Tausch gegen neue Viren Exemplare, die ihnen
selbst noch fehlen. Auch finanzielle Zuwendungen sind keine Seltenheit. Es isz zu befürchten und teilweise bewiesen, dass Auftragskriminalität die Ursache für in Umlauf gebrachte Viren ist.
TROFIMOVA: „Wir haben verschiedene Quellen, von denen wir die
neuen Viren beziehen. Dies sind unter anderem Sammler, aber auch
Virenschreiber, die uns die Viren zuspielen, um sie von uns testen zu
lassen.“939
937
MM, 129, 2000, S. 3
SZ, 273, 2001, V2 /15; Bruce SCHNEIER ist ein bekannter
Computer-Sicherheits-Guru.
939
Svetlana TROFIMOVA ist Pressesprecherin der Kaspersky laboratories; dieses Unternehmen stellt auch den Antivirenkiller Antivirus Pro (AVP) her. SZ, 231, 2001 TECHNIK S. 34; SIEBER ist
938
487
Jeden Monat überschwemmen etwa 700 neue Viren das Netz und
legen tausende von Computern lahm. Die strafrechtliche Verfolgung
erweist sich als sehr schwierig, da nur wenige Fälle aus Angst vor
einem Imageverlust angezeigt werden. In München wurden im Jahr
2000 nur neun dieser Fälle angezeigt. Auch private Nutzer halten
sich mit Anzeigen zurück, da sie oftmals Raubkopien auf ihrem
Rechner installiert haben und dann selbst eine strafrechtliche Verfolgung fürchten müssen.
Die Pressestelle des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden: „ Da das
Virenschreiben derzeit nicht unter Strafe gestellt ist, können sich
folglich auch keine Ermittlungen gegen Virenschreiber richten.“
SIEBER vertritt eine andere Ansicht:
„Wenn die Strafverfolgungsbehörden einen Fall verfolgen wollen, so
können sie dies: Die §§ 303a und 303 b StGB erlauben eine Strafverfolgung nicht nur bei einem Strafantrag des Geschädigten, sondern
auch bei Bestehen eines besonderen öffentlichen Interesses an der
Strafverfolgung.“
Sicherheitslecks in Browsern940
Experten fanden bei Internet-Explorer einen Weg, wie Betreiber von
Websites auf „Cookies“ zugreifen können, die gar nicht für sie auf
dem PC des Benutzers abgelegt waren.
Gelangt ein User an ein Cookie einer anderen Person, so kann er auf
der entsprechenden Website als diese Person auftreten. Auch kostenpflichtige Dienste können unter fremdem Namen genutzt werden,
wenn damit Angaben über Passwörter oder Kreditkarten verbunden
sind.
Im Netscape Navigator wurde entdeckt, dass Warnungen vor nicht
korrekten Zertifikaten umgangen werden können. Die „Zwischenschaltung“ von Betrügern ist dadurch leicht möglich. Ab der Version
4.73 soll dieser Fehler behoben sein.
Professor für Strafrecht, Informationsrecht und Rechtsinformatik an
der Universität München.
940
SZ, 118, 2000, V2 /14
488
Erstellung von Persönlichkeitprofilen der Surfer
Die Schritte durch die digitalen Netze hinterlassen an vielen Stellen
Spuren. Nach KELTER liefern die Daten ein „den Menschen in
seinen Gewohnheiten recht genau beschreibendes Bild.“941
T- Online zum Beispiel speichert die zur Erstellung der Rechnung
wichtigen Daten (Benutzernamen, Einwahlzeit, Surfdauer und Tarifart für etwa 80 Tage. Über die „Cookies“ läßt sich ein virtuelles
Benutzungsprofil erstellen. Sie können jedoch abgeschaltet werden.
So genannte „Web-Bugs“ (Wanzen) sind kleine Bilder, die in eine
Seite eingebettet sind, und die - wie Cookies, nur von bestimmten
Servern ausgesendet werden. Durch Zusatzprogramme könne sie
herausgefiltert werden. Diese Daten alleine reichen noch nicht aus,
um die Identität des Surfers festzustellen. In den USA sind nach
neuen Erkenntnissen Firmen damit beschäftigt, Surfdaten mit Namen
und Adressen zu verbinden. Dabei entstehen beängstigend genaue
Datensätze über Vorlieben und Abneigungen der Surfer. Solche
Daten werden gehandelt. „Privacy policy“ (Hinweise auf den Homepages) erklären, wie die Anbieter mit den Inhalten umgehen.
Online-Banking – Online-Panne
Bei einer der größten bisher bekannt gewordenen Pannen des Internet-Banking bekamen 230 Online-Kunden in Berlin und Niedersachsen Einblick in fremde Konten.
POHL: „Mit einem Angriff auf etwa zehn zentrale Internet-Rechner
kann ein Agressor die gesamte Online-Kommunikation in Deutschland unterbinden.“942
Innerhalb von zehn Tagen sei dies zu schaffen. Das Energieversorgungssystem oder die Arbeit der Banken wäre damit äußerst gefährdet. Das Internet sei gegen Attacken „faktisch ungeschützt.“
941
MM, 14, 2002, S. 21; KELTER vom Bundesamt für Sicherheit in
der Informationstechnik (BSI) in Bonn; siehe auch:
KELTER: Anonymität? Datenspuren in modernen Netzen, MediaVerlag; auch: www.bsi.de/aktuell/index.htm und www.bfd.bund.de
und Chaos Computer Club: www.ccc.de
942
MM, 155, 2001, S. 24; POHL ist Informatik-Professor in Bonn.
489
Online-Shopping- Ein Testbericht943
Von verschiedenen Teams wurden 400 Websites die online-shopping
anboten, getestet. Folgende Erfahrungen wurden aufgezeichnet:










Bestätigung von Bestellungen, obwohl die Waren nicht vorrätig
waren
6% der georderten Produkte kamen nie an, ein Drittel davon
wurde den Testern trotzdem berechnet
die Lieferzeiten wurden nicht immer eingehalten
Nach dem Zurücksenden der Waren war das Geld in einem von
zehn Fällen verloren
Bei den restlichen Fällen dauerte es oft Monate, ehe das Geld
zurückerstattet wurde
Zusätzliche Kosten entstanden durch:
Umrechnungskurse, Zahlungsbedingungen, extra Liefergebühren, zusätzliche Steuern
Bei Hotelbuchungen lagen die Endpreise über denen der onlineAngebote
Reklamationen liefen oft ins Leere
Bei Offerten von Zwischenhändlern (Shopping Portals) war es
schwierig oder unmöglich, die Identität des Geschäftspartners zu
identifizieren
Hinweise auf ein siebentägiges Rücktrittsrecht von dem Einkauf
fehlten in vielen Fällen
Trotz der o.a. Schwierigkeiten kaufen mittlerweile etwa 14 von 24
Millionen Internet-Nutzern „online“ ein.944 Drei von fünf Surfern –
vor allem die Hälfte der weiblichen Online-Teilnehmer - nutzt das
Internet zum Einkaufen. Die Hitliste der nachgefragten Waren führen Bücher, Musik-CD`s und Videos an. Danach folgen Mode,
Computer-Hardware, Spielzeug und Parfümerieartikel. Aktive „Online-Shopper“ setzen vor allem auf die zuverlässige und kostengünstige Lieferung der Waren. Als weitere Vorteile werden angeführt:
 Eine erfolgte Marktbereinigung der Internetportale bei Anbietern und Betreibern
943
944
SZ, 228, 2001, S. 14
SZ, 268, 2001, S. 27; laut einer Umfrage der Deutschen Post
490


Haftung für verlorene oder beschädigte Sendungen
Bequeme Rückgabemöglichkieten mit Geldzurück-Garantie
Die Post wird von der Hälfte aller Befragten als Transporteur bevorzugt.
Medikamente „online
Der Kauf von Medikamenten im Internet kann sich leicht zu einem
„pharmazeutischen Roulette“ entwickeln.945 Vor allem amerikanische Versender bieten auf deutschsprachigen Internetseiten verstärkt
Medikamente an, die nach dem Arzneimittelgesetz ausschließlich
vom Arzt verordnet werden dürfen.
„Hoch wirksame und damit potentiell auch gefährliche Antibiotika, Antidepressiva, Hormonpräparate oder Schmerzmittel mit
sehr starkem Suchtpotential sind sehr leicht zu bekommen.“
Selbst in Deutschland nicht zugelassene Mittel wie das in den USA
in der Werbung als Wunderdroge bezeichnete Melatonin kann im
Internet bestellt werden. Es ist zu beobachten, daß dabei Warnhinweise verschwiegen und Nebenwirkungen bagatellisiert werden.
Auch der unkontrollierte und illegale Handel mit Medikamenten für
Suizidwillige ist über das Internet möglich. So belieferte „Einstein“
aus Freising in Bayern via Internet etwa zehn Suizidkandidaten mit
dem Medikament Phenobarbital. Zehn Gramm wurden jeweils für
800.-DM plus 20.-DM Versandkosten angeboten. Dieses Medikament wurde im dritten Reich von den Nazis in ihrem EuthanasieProgramm eingesetzt.946
Medizinische und psychiatrische Beratung im Internet
Hilfsangebote von Cyberdog, NetDoktor und Interapy bieten aus
jurisitscher Sichtweise fragwürdige Hilfen an. KERN947 weist darauf
hin, dass die Antworten der Experten auf Fragen der hilfesuchenden
Patienten über reine Informationen hinausgehen und als berufsrecht945
MM, 5, 2000, S. 10; Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (AgV) in Bonn
946
SZ, 89, 2001, S. 52, Region München
947
SZ, 88, 2001, V2 /20; KERN ist Jurist an der Universität Leipzig.
491
lich unzulässige Beratungen zu werten sind. Einerseits bietet das
Internet völlig neue positive Möglichkeiten- gerade für interessierte
Laien – andererseits bewegt man sich hier in einer juristischen Grauzone.
Unkontrollierte e-Mails und Viren auf dem eigenen Rechner
Einige Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks erhielten dubiose emails auf ihren Mail-Servern.
Sobald ein betroffener Empfänger eine normale Mail verschickt,
sollen sich die Fotos (Kinder- und Tierpornographie) automatisch
anhängen. Es ist auch möglich, dass sich das Virus
(„W32/NewApt.worm“) selbst Adressen aus dem Verzeichnis des
Empfängers sucht und die Pornos weiterleitet. Es besteht die Vermutung, dass russische oder bulgarische Virenschreiber für die Vorgänge verantwortlich sind.
Eine Abwandlung der „Cookie-Technik“ ermöglicht es den Versendern von „Werbe –e-mails“ die Empfänger der ungewollten Werbesendungen zu kontrollieren. Zudem ist es möglich, deren Adressen
zu identifizieren und zu bereits bestehenden Datenprofilen zuzuordnen. Es ist bereits in der Realität möglich auf diese Weise spezielle
neue Werbekanäle bei einzelnen Anwendern zu erschließen.
Mit sogenannten WAP-Viren experimentieren Spezialisten bereits
im Labor. Wird ein solcher Virus vom Computer im Handy einmal
gespeichert, können Gespräche zum Mithören freigegeben oder
SMS-Nachrichten und Bankkontobefehle an eine zweite Adresse
übermittelt werden.948
Das Internet – ein Podium für Betrügereien
Wissenschaftliche Arbeiten werden immer häufiger unter Zuhilfenahme des Internets angefertigt. Um feststellen zu können, in welchem Ausmaß die Verfasser plagiatorisch gearbeitet haben, arbeitet
der größte Universitätskomplex der USA seit dem vergangenen Jahr
mit der Webseite www. plagiarism.org. Dabei wird eine Datenbank
durchsucht, um Übereinstimmungen von mindestens acht Wörtern in
948
SZ, 106, 2000, V2 /14
492
einer Reihenfolge mit wissenschaftlichen Originaltexten zu suchen.
Mit diesem Programm wurden inzwischen erfolgreich mehrmals
abgekupferte Arbeiten ausfindig gemacht. Die Trefferquote betrug
bisher etwa 15%.
Geschickt gestreute Gerüchte und gezielte Falschmeldungen lassen
sich ebenfalls mit Leichtigkeit über das Internet verbreiten. Für den
Film „The Blair-Witch-Project“ wurde über ein Jahr lang mit einer
speziell dafür eingerichteten Homepage und gefälschten Zeitungsartikeln, TV-Nachrichtenbeiträgen und angeblich echten Vernehmungsvideos gezielt Werbung betrieben.
In kanadischen Pornoprogrammen wurde nach dem Download und
der Installation eines zur Betrachtung der Bilder benötigten speziellen Viewers eine Verselbständigung desselben gemeldet. Die Internetverbindung wurde unterbrochen, die Einstellung der Modemlautsprecher automatisch verändert und unbemerkt eine Nummer in der
osteuropäischen Republik Moldawien angewählt. Der Internetzugang
wurde dort wieder mit Kosten in Höhe von zwei Dollar pro Minute
wieder aufgebaut. Eine Beendigung des Ferngesprächs war nur
durch das Ausschalten des Rechners möglich. Betrogene Anwender
sollen bis zu 3000 Dollar an Telfonrechnungen gezahlt haben.949
Im vergangenen Jahr hat die deutsche Polizei ca. 2800 Fälle von
Intenet-Kriminalität entdeckt.
Ca. 80% aller in Deutschland begangenen Straftaten sind im Bereich
Kinderpornographie anzusiedeln. Mit einem starken Anstieg der
Betrügereien rechnet das Bundeskriminalamt (BKA) in den nächsten
jahren auch in den Bereichen Verstöße gegen Staatsschutzbestimmungen, Betrugsdelikte und Verstöße gegen Urheberrechtsbestimmungen.
Auch eingegangene e-mails mit erfundenen Bestellungen und der
gleichzeitigen Aufforderung, telefonisch Widerspruch einzulegen,
falls eine Zurücknahme der Bestellung gewünscht werde, waren mit
teuren Sex-Hotlines in der Karibik gekoppelt und verursachten hohe
Telefonrechnungen.
Über das Internet können „online“ als Duplikate ausgewiesene
„Markenprodukte“ erworben werden. THOMAS gibt an, dass über
acht Prozent der Homepages, die Luxusgüter anbieten, Falschware
949
SZ, 44, 2000, V2 /12
493
verkauft wird.950 Exclusive Füllfederhalter, Uhren oder Schmuck,
aber auch Textilien werden auf diese Art umgesetzt.
Um gegen die Verbreitung solcher Betrügereien vorzugehen wurden
im Ausland und auch in Deutschland Internet-Schutzvereine gegründet, deren Dienste jedoch nur zahlende Mitglieder in Anspruch nehmen können.
Internetschutzvereine in den USA: (englischsprachig)
Nationale Verbraucherschutzzentrale über Betrug und Schwindeleien bei online-Geschäften die auch Berichte über mögliche Betrugsversuche entgegennimmt:
www. fraud.org und www. fraud.org/info/repoform.htm
Eine andere Seite informiert über die Erlebnisse betrogener WebNutzer:
www.scambusters.org
In Deutschland kann die Hilfe eines Internet-Schutzvereins unter
www.internet-schutzverein.de in Anspruch genommen werden. Hier
sind auch Juristen beschäftigt.
In den USA ist die Anzahl der Kundenbeschwerden zwischen 1997
und 1997 um 23% und im Jahr 1998 noch einmal um etwa 39%
gestiegen. Vor allem vor Versteigerungen oder Verkäufen wird gewarnt, da immer wieder beobachtet wurde, dass die georderten Waren trotz Bezahlung nicht ausgeliefert wurden.
Im Jahr 1999 war nach amerikanischen Untersuchungen951 eine deutliche Steigerung der Angriffe auf Computersysteme von Banken,
Unternehmen und Regierungsorganisationen zu verzeichnen. So
haben sich die nachweisbaren Verluste auf 530 Millionen DM gesteigert. Im Jahr 1998 war es noch die Hälfte dieser Summe. Von
643 befragten Unternehmen gaben 90% an, eine Sicherheitsverletzung in ihren Computersystemen festgestellt zu haben. Es muß mit
einer hohen Dunkelziffer gerechnet werden, da viele Attacken unbemerkt bleiben, da viele firmen solche Angriffe nur ungern zugeben.
950
SZ, 44, 2000, V2 /12; THOMAS ist Chef der US-Firma
Cyveillance.
951
SZ, 69, 2000, S. 25
494
Weitere Möglichkeiten der Kriminalität:
 „Gewöhnliche Bedrohungen“ in Form von Computerviren
 Laptop-Diebstähle
 Internetmissbrauch durch Angestellte
 Schwerwiegende Sicherheitsverletzungen
(Diebstähle patentrechtlich geschützter Informationen, Finanzbetrug
oder Netzwerk-Sabotage)
Im Jahr 2000 stiegen Computer-Betrügereien alleine in Bayern um
51,4% an. Eine so hohe Zuwachsrate ist in keiner anderen Verbrechensart auch nur annähernd zu verzeichnen. Die verschiedenen
Arten der Betrügereien gliedern sich auf in:



Internet Bestellungen unter falschem Namen
Betrügereien mit gebührenpflichtigen Info-Hotlines (Anrufer
werden in kostenpflichtige Warteschleifen geschleust; anschließend erfolgt eine meist nutzlose Beratung ;0190- Nummern)
Datenklau mit Hilfe spezieller Programme (Daten über OnlineBanking oder Kreditkartenbewegungen)
Besonders junge Leute machen sich immer öfter wegen bestimmter
Datenvergehen schuldig. BISCHELTSRIEDER weist darauf hin,
dass viele kriminelle Karrieren am Computer beginnen.
„Wer eine Bank ausraubt, muss das in Person tun und kann
deshalb leichter geschnappt werden. Im Internet dagegen ist
Anonymität fast nie ein Problem.“952
Viele Kriminelle wickeln ihre Machenschaften auch über ausländische Internet-Anbieter ab und sind so noch schwerer zu fassen.
Auch durch die Zusendung erfundener, ungültiger Rechnungen für
.de-Adressen, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit offiziellen Behördenrechnungen aufweisen, versuchen Betrüger, Internet-Nutzer
abzukassieren. Wer den Schwindel nicht rechtzeitig entdeckt und um
seine homepage fürchtet, kann so leicht auf Zahlungsbefehle in Höhe
von 369 DM hereinfallen.953
952
MM, 81, 2001, S. 3; BISCHETSRIEDER ist Fahndungsleiter
beim bayerischen Landeskriminalamt in München.
953
SZ, 95, 2001, S. 16
495
Aktienbetrug im Internet
Die Möglichkeit der Manipulation von Aktienkursen im Internet
durch Betrüger hat sich inzwischen bewahrheitet. So wurden die
Aktien von mehr als 30 Unternehmen im Internet falsch dargestellt
und die Anleger zum Kauf von angeblich zukunftsträchtigen Wertpapieren zu überhöhten Preisen animiert.
Insgesamt wird der durch den Betrüger –Ring verursachte Schaden
auf 50 Millionen Dollar geschätzt.
Der Betrug war durch die „Zusammenarbeit“ von Börsenmaklern,
Anlageberatern, Buchhaltern und Polizeibeamten möglich geworden.954
Auch in Deutschland wurden schon wiederholt die Straftaten der
Kursmanipulation über das Internet festgestellt, obwohl der Nachweis des entsprechenden Vorsatzes der Kursbeeinflussung schwierig
nachzuweisen ist, weil damit verbundene Kursauswirkungen nicht
nachgewiesen werden konnten. Neu- Investoren sollten Mitspekulanten mit den Usernamen „Schlaudax“ oder „Wallpaper“ nicht blindlings vertrauen.955
Kreditkartenbetrug
Die GZS (Gesellschaft für Zahlungssysteme) schätzt, dass etwa ein
Promille aller Kartenumsätze im Internet auf betrügerischen Machenschaften basiert. GERHARDT weist darauf hin, dass inzwischen
Kreditkartennummern „in hohen Mengen“ computergestützt gefälscht werden.956 Weltweit haben sich die Betrügereien in der zweiten Jahreshälfte 1999 um 35-40% gesteigert.
Amerikanischen Hackern ist es gelungen, sich Zugriff auf die Kundendatenbanken des weltgrößten Onlinedienstes AOL zu verschaffen. Es gelang ihnen, Rechnungsdaten und Kreditkarteninformationen auszuspionieren. Durch ein Spionage-Programm, das mit Hilfe
einer E-Mail verschickt wurde, wurde der Zugriff auf die internen
Zugänge der Mitarbeiter zu den AOL-Datenbanken ermöglicht.957
Der „Expert Group of Protection against Hackers“ (kriminelle Internetbetrüger) gelang es im Herbst 2000 unberechtigterweise in den
954
MM, 137, 2000, Wirtschaft
SZ, 179, 2000, S. 30
956
SZ, 137, 2000, S. 30 ; GERHARDT ist GSZ Geschäftsführer.
957
SZ, 139, 2000, S. 2
955
496
Besitz von 15 700 Kreditkartennummern aus den Rechnern der
„Western Union“ zu kommen. Ziel der vom Ausland aus agierenden
Russenmafia sind Schutzgelderpressungen in großem Rahmen. Beamten des FBI gelang es, durch „Social Engineering“ (um an die
Daten der Hacker zu gelangen, werden sie bei Kontakten ständig
umschmeichelt) mehrere Mitglieder dieser Gruppe zu verhaften.
Durch präparierte Rechner des FBI wurden zwei Mitglieder in die
Falle gelockt, als sie von Seattle aus – dorthin waren sie eingeladen
worden, um angeblich einen Job in einer amerikanischen Sicherheitsfirma zu erhalten - einen „Demo-Hack“ starten wollten. Durch
die eingesetzte Spionage-Software bekamen die Beamten den Zugangsnamen und das Passwort zum Hacker-Computer, von dem aus
die Betrügereien ausgegangen waren.958
Telefonbetrug im Internet
Werbebriefe – SMS und Servicenummern – das große Geschäft
Unaufgeforderte Werbung per Fax oder Handy kommen häufig einem Psychoterror nahe. Besonders die „Sonder-Rufnummern“ sind
oft an kriminelle Machenschaften gekoppelt. Seitenlange nutzlose
Informationen treiben nicht nur die Papier- oder Druckkosten in die
Höhe, sondern sorgen auch für hohe Telefonrechunungen. Unternehmen in Deutschland können im Gegensatz zu ausländischen
Unternehmen durch eine Abmahnung und eine einstweilige Verfügung zu einem Werbeverbot gezwungen werden. Durch eine an das
Fax gekoppelte Zeitschaltuhr lässt sich die unerwünschte Werbung
meist erfolgreich verhindern.
Vorgetäuschte wichtige SMS-Handy-Mitteilungen mit der gleichzeitigen Aufforderung, doch schnell unter der Nummer 0190 . . . zurückzurufen, führen ebenfalls zu hohen Telefonrechnungen.
Auch die nach unerwünschten telefonischen Werbekampagnen
zugeschickten ungültigen Auftragsbestätigungen der Telekom zu
ihrem „AktivPlus“-Tarif sind rechtlich äußerst fragwürdig.959
Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes 960 darf das Begleichen
der Telefonrechnung nicht mit der Begründung verweigert werden,
dass Sextelefonate sittenwidrig seien.
958
959
SZ, 99, 2001, S. 13
SZ, 96, 2001, 50, München; die Tabelle ebda.
497
Ein Mobilfunkbetreiber hatte eine Kundin auf Bezahlung der HandyGebühren in Höhe von 20 000 DM verklagt. Die Frau hatte die Bezahlung mit der Begründung verweigert, ihr Vater habe über ihr
Mobiltelefon die Sondernummern mit der Vorwahl 0190 angewählt.
Besitzer einer Telefonanlage – es muss nicht ISDN sein – können
bestimmte Nummern automatisch bei der Installation sperren lassen,
um einem Missbrauch vorzubeugen. Die Einwahl in das Internet
sollte dabei jedoch über ein Modem erfolgen.
Kosten für bestimmte Servicenummern (Stand 2001)
Vorwahl
0130
0800
0180-1
0180-2
0180-3
0180-4
0180-5
0190-1
0190-2
0190-3
0190-4
0190-5
0190-6
0190-7
0190-8
0190-9
Kosten
kostenlos
kostenlos
0,12 DM pro Minute
0,12 DM pro Gespräch
0,18 DM pro Minute
0,48 DM pro Gespräch
0,24 DM pro Minute
1,21 DM pro Minute
1,21 DM pro Minute
1,21 DM pro Minute
0,85 DM pro Minute
1,21 DM pro Minute
0,85 DM pro Minute
2,42 DM pro Minute
3,63 DM pro Minute
2,42 DM pro Minute
Dialer-Programme
Eine gegen den eigenen Willen unbemerkt auf dem Computer installiertes „Dialer-Programm“ kann pro Verbindung Kosten in Höhe von
bis zu 900 Euro verursachen.
ZANDER-HAYAT: „Der höchste Betrag waren 4800 Euro pro Minute.“961
960
MM, 270, 2001, S. 1; (Az: XI ZR 192/97-NJW 1998, 2895)
HÖRZU, 1. Bis 7. April 2002; Helga ZANDER-HAYAT arbeitet
bei der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen.
961
498
Der Surfer stößt auf eine scheinbar interessante Seite. Um sie zu
öffnen, wird er jedoch aufgefordert, zuerst ein Programm herunterzuladen. Damit wählt er häufig einen „Dialer“ ein. Jetzt erfolgt die
Abrechnung automatisch pro Verbindung oder pro Minute. Solche
Programme können auch in E-Mails oder Computerspielen verpackt
sein. Auch als Sicherheitsprogramme getarnte Angebote können
lediglich die Aufgabe erfüllen, ein solches Programm unbemerkt auf
dem heimischen Rechner zu installieren. Falsche Absender mit TOnline sind keine Seltenheit.
Auch über „chats“ empfohlene Seiten sind mit großer Vorsicht zu
genießen. Hunderte solcher Fälle werden derzeit962 bei der Polizei
angezeigt. RICHARD: „Die Dunkelziffer dürfte um das Hundertfache höher liegen.“ Die Deutsche Telekom beteuert, mit diesem Betrug nichts zu tun zu haben. Die Telefongesellschaften sind zwar
gesetzlich verpflichtet, im Inkasso-Verfahren auch die Gebühren
anderer Anbieter einzutreiben, kassieren jedoch dabei auch 8% des
jeweiligen Tarifs als Durchlaufgebühr.
ZANDER-HAYAT: „Der höchste Betrag waren 4800 Euro pro Minute.“
Die Verbraucherschützer raten, die von der Telekom in Rechnung
gestellten Posten nicht zu bezahlen, da in vielen Fällen der Tatbestand des Wuchers erfüllt sei. Die Telekom gebe dann die Forderungen an den Anbieter zurück.
Erkennen von DIALER-Programmen:
 Download-Programme mit der Dateiendung „.exe“.
 Keine, kleine oder unauffällig platzierte Hinweise auf die entsprechenden Kosten
 schwer abbrechbare Downloads (bei einem Eintrag in die DFÜVerbindung); am besten den Computer sofort ausschalten.
 Eine Deinstallation des Dialer-Programms ist nur schwer oder
nicht möglich.
Sollte es trotzdem vorkommen, dass eine solche Installation auf
Ihrem PC gelungen ist, können Sie:
 keinerlei Veränderungen am PC vornehmen
 den PC zur Polizei bringen
962
MM, 52, 2002, S. 3 vom 2./ 3. März; RICHARD ist Leiter der
Münchner Internet-Fahndung.
499






Hinweise auf die Quelle geben, aus der der Dialer möglicherweise geladen wurde
die Verbraucherschutzzentrale informieren und sich dort beraten
lassen
die Telefonrechnung nach Erhalt unverzüglich schriftlich reklamieren und den unrechtmäßig erhobenen Betrag zurückbuchen
lassen; anschließend sollten Sie ständig Ihre DFÜ-Verbindungen
überprüfen
eine Kopie des Dialer-Programms zum Beweis anfertigen
einen „Screenshot“ von der Webseite anfertigen
einen Einzelverbindungsnachweis vom Telefonbetreiber für den
fraglichen Zeitraum anfordern.
Weitere Informationen unter: „www.dialerhilfe.de“
LINK963 empfiehlt den „0190 Warner“, der kostenlos aus dem Internet geladen werden kann: www.wt-rate.com
Die Telekom selbst bietet gegen Entrichtung einer einmaligen
„Schutzgebühr“ die Sperrung der 0190er Nummern an. Der Eindruck
einer chronifizierten doppelbödigen Geschäftspraxis kann leicht
entstehen.
Die Rolle des Internet-Explorers (5.5) von Microsoft
Als gefährlichster Knopf im neuen Internet-Explorer gilt der mit der
Aufschrift „Zurück“.964
Manipulierte, schädliche Java-Scripts können so unbemerkt auf den
eigenen Computer geladen werden, um beliebige Programme auszuführen. Auch persönliche Daten können auf diese Weise ausspioniert
werden. Das Löschen von Dateien kann ebenfalls auf diese Art erfolgen. Wenn beim Surfen eine Adresse nicht gefunden wird, erscheint eine Fehlermeldung, die Windows aus dem Systemordner
lädt. Der Browser soll dabei dann in die Sicherheitsstufe schalten, di
nur für absolut vertrauenswürdige Inhalte gilt. Darunter fallen auch
die Inhalte der eigenen Festplatte. Java-Scripts, die beim normalen
963
LINK ist Experte bei der Zeitschrift „Computerbild“.
SZ, 94, 2002, V2 /19; eine Behauptung des Internet-Portals
Security Focus Online.
964
500
Surfen gestoppt werden, können so ohne weitere Nachfrage aktiv
werden.
Entsprechende Sicherheitsvorkehrungen können durch Deaktivierung von „Active-X“ getroffen werden. (Befehle: Extras, InternetOptionen, Sicherheit, Stufe anpassen, alle Einträge auf „deaktivieren“ setzen.)
Wird die Verbindung mit dem Internet aufgenommen, so werden
meist automatisch die neuesten Versionen auf den Computer geladen. Die vorher getroffenen Sicherheitsmaßnahmen werden somit
ungültig.
Die Konzernzentrale von Microsoft bestreitet ein Sicherheitsproblem
dieser Art.965
Für Nutzer mit standard best practises (Risiken vermeiden) bestehe
keine Bedrohung. Anders ausgedrückt: Der Benutzer des InternetExplorers ist selber schuld, wenn er auf „zurück“ drückt.
Der beste Schutz besteht darin, einen ausgedienten Computer ausschließlich für die Nutzung des Internets einzurichten, auf dem keinerlei wichtige und persönliche Informationen gespeichert sind.
Auch ein anderes Betriebssystem wie LINUX bietet möglicherweise
mehr Sicherheit. Um die Vorgänge besser einzusehen und zu kontrollieren, empfiehlt es sich, nach jeder Nutzung des Internets die
Dateien zu suchen, die an diesem Tag neu erstellt wurden. Der genaue Beobachter entwickelt dabei schnell einen Blick für ungewöhnliche Vorgänge und Ordner, die in das System „eingeschmuggelt“
wurden.
Gefälschte Medikamente
Nach Schätzungen der WHO sind 10% aller Arzneien, die im Netz
angeboten werden, gefälscht. FRIESE: „Im Internet wird Arzneimittelsicherheit mit Füßen getreten.“966 Arzneien, die in Deutschland
nicht zugelassen sind, können problemlos aus dem Ausland im Internet bestellt werden. Die Gefahren seien weit größer als der Nutzen.
965
Veröffentlichung im US-Magazin Wired
MM, 137, 2000, S. 1; FRIESE ist Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände.
966
501
Unaufgeforderte, unfaire und aggressive Werbung im Internet
Im Jahr 1999 wurden allein in Deutschland für rund 150 Millionen
Mark Anzeigen geschaltet. Damit sich dieser Markt weiter etablieren
kann, müssen neue Analyseverfahren über die Surfgewohnheiten
entwickelt werden.
Nach BERNOFF kann es sich kein bedeutendes Unternehmen mehr
leisten, die Online-Welt zu vernachlässigen. 967 Die Befragung und
das Aushorchen von Kindern bezüglich der Kaufgewohnheiten der
Eltern ist Wirklichkeit geworden. Firmen wie Levis und Lego ködern
die Kinder mit Werbegeschenken. SHEA weist darauf hin, dass
Kinder TV-Werbung nebenbei wahrnehmen, während sie dagegen
am Computer 100% konzentriert sind. Im Internet ist Werbung nach
BRODY keine Unterbrechung des Programms, sondern das Programm selbst. Das Zauberwort aller Werbung im Internet heißt
„Microtargeting“. Damit ist der direkte Dialog zwischen Werbern
und Umworbenen gemeint. Kinder sind häufig begeistert von interaktiven Werbebotschaften, sind jedoch unfähig zwischen Programm
und Promotion zu unterscheiden.
CME-Kinderanwälte warfen im Sommer 1997 den Unternehmen
Disney und Warner, McDonalds und Pepsi „besonders unfaire
Werbemethoden“ vor
Bei der Untersuchung von 212 auf Kinder zugeschnittenen WebSites
amerikanischer Firmen wurde festgestellt, dass in 89% persönliche
Daten von Kindern abgefragt wurden.
Der ferngesteuerte Konsument
Wir leben in einem Zeitalter einer bisher noch nie dagewesenen
Medienmacht. Dies wird durch die Fusion von AOL und Time Warner mit einem neuen Börsenwert von 665 Milliarden DM deutlich.
Der größte Internet-Provider der Welt, AOL mit seinen ca. 20 Millionen Kunden, ist über diese Verbindung in der Lage, seine Kunden
direkt zu den Unterhaltungsangeboten von Time Warner zu führen.
Andererseits erhält AOL durch diese Aktion zudem noch die Möglichkeit des Zugangs zu einigen der bedeutendsten Anbietern von
Informationen. Dies sind der Nachrichtenkanal CNN und die bekannte Zeitschrift Time Magazin. Viele prominente Künstler stehen
967
SZ, 239, 1998, VII; BERNOFF ist Analyst beim Medienforscher
Forrester Research; SHEA ist Kreativdirektor der New-Yorker
Agentur Saatchi&Saatchi; BRODY ist Kinderpsychologe.
502
bei diesem Unternehmen unter Vertrag. Es ist zu erwarten, daß ein
vielfältiges Angebot und die Möglichkeit, frei aus verschiedenen
Angeboten auszuwählen durch solche Aktionen immer mehr eingeschränkt werden.
Viren:
 Der Wurm mit dem Namen „Pokey“ 968 kommt in einer e-mail
in den Computer. Wird er einmal aktiviert, löscht er alle
Windows-Systemdateien.
 Die E-Mail mit dem Betreff „Pikachu Pokemon“ und der Nachricht: „Pikachu is your friend“ und dessen Bild als Anhang aktiviert den Schädling.
Sicherheitslücken in E-Mail-Programmen969
Nutzer von Outlook und Outlook-Express (4.0,4.01,5.0 und 5.01
sowie Outlook 97, 98 und 2000 von Microsoft) sind durch einen
Programmierfehler in der Betriebssystem-Familie Windows gefährdet. Dieser Fehler ermöglicht den hackern die entwicklung völlig
neuartiger Viren. Dieser neue Virus muss nicht erst heruntergeladen
und geöffnet werden wie die bisherigen Viren im Anhang an eine EMail, bevor er den Computer übernimmt. Bereits die Öffnung eines
elektronischen Postfaches reicht dazu aus, dass unbemerkt die Kontrolle über den Computer des Nutzers übernommen wird. Der Virus
könnte alle Dateien auf der Festplatte löschen.
E-Mail als Stressfaktor970
E-Mail ist nach Ergebnissen einer australischen Studie zum
schlimmsten Stressfaktor im Berufsleben geworden. E-Mail löst
noch mehr Ärger aus als Produktivitätstests, die Einführung neuer
Technik oder als Besprechungen. Ein Drittel der Befragten erklärte,
dass sie schon einmal bereut hätten, eine e-Mail abgeschickt zu haben. 50% gaben an, dass die Empfänger ihre elektronische Post
missverstanden hätten. Die Mehrheit der Angestellten misstraut den
968
MM, 198, 2000, S. 1
SZ, 165, 2000, S. 12
970
MM, 163, 2000, S. 1
969
503
Informationen auf dem Bildschirm und druckt vorsichtshalber jede
Nachricht aus.
Es ist praktisch möglich, über eine E-Mail Programme auf fremde
Rechner einzuschmuggeln. Auf diese Weise können persönliche
Zugangsdaten, die auf der Festplatte gespeichert sind ausspioniert
und unbefugt weitergegeben werden. Einem Geschäftsmann aus
Straubing entstand auf diese Weise ein Schaden in Höhe von 21 000
DM. Seine persönlichen Codes wurden durch 85 Personen aus dem
ganzen Bundesgebiet benutzt. Fremde gingen 8000 stunden auf seine
Kosten „online“.971
Als Schutz vor einem solchen Angriff empfiehlt die Telekom:
Installation eines Antivirenprogramms auf dem eigenen Computer
Die Sicherheitseinstellungen auf „Maximum“ einstellen
Das Passwort (Zugangscode) nicht auf der Festplatte speichern
DOMAGALLA : „Der Kunde ist für die Sicherheit seiner Zugangsdaten verantwortlich.“
HELLMICH empfiehlt in einem Schadensfall den Geschädigten, die
geforderte Summe nicht zu bezahlen, sondern nur die Internetkosten
in sonst üblicher Höhe, da es Sache des Providers sei, der Sache
nachzugehen, zumal diese oftmals nicht darauf hinweisen, dass Kunden im Schadensfall zu 100% haften, wenn sie das Passwort speichern.
Das Internet als Schummelhilfe – und echtes Diskussionsforum
BOECKMANN : „Nicht derjenige, der sich Wissen eingetrichtert
hat, gilt als schlau. Clever ist, wer sich Wissen just in time verschaffen kann.“ Er kritisiert, dass Schule immer noch „Wissen auf
Vorrat“ in den Schülerhirnen ansammle.972
Einige Adressen für geplagte Schüler:


971
www.biologie4u.de, ein deutschsprachiges Biologie-Forum;
Hausaufgabenseite
www.hausaufgaben.de, ruft Lehrer Studenten und Schüler dazu
auf, Gratis-Beistand zu leisten
MM, 178, 2000, S. 1; DOMAGALLA ist Sprecher der Deutschen
Telekom; Ruth HELLMICH ist Juristin bei der Verbraucherzentrale
Bayern.
972
SZ, 170, 2000, S. 14; BOECKMANN ist Didaktik-Professor in
Klagenfurt.
504



www.fundus.org, hier liegen zum jetzigen Zeitpunkt insgesamt
4517 Referate zum Kopieren bereit
www.referate.net, hier sind sämtliche Adressen sauber aufgelistet- mit genauen Inhaltsangaben
www.cheatweb.de, Schüler verraten 59 verschiedene Schummeltricks und 173 ausreden bei unerledigten Hausaufgaben
Speicherung illegaler Daten auf dem heimischen PC
Computerspiele, Bilder,Texte, Software, Musik oder Videos werden
von vielen Privatpersonen (vier von fünf) illegal auf dem heimischen
Computer genutzt, obwohl dafür Zahlungen geleistet werden müssten.973 Etwa ein Drittel des Speicherplatzes von Festplatten sind mit
Daten belegt, die nicht rechtmäßig erworben wurden.
973
SZ,162,2001,V2/10; eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK); Erhebung der Daten in 2000 Haushalten
505
Die elektrifizierte Gesellschaft
Wir sind inzwischen an jedem Ort der Erde Frequenzbereichen unterschiedlichster Bandbreite ausgesetzt.
Dabei handelt es sich um sehr langsame Frequenzen, aber auch um
Submikrometer-Wellen, die mit elektromagnetischen Feldern verbunden sind.
Drahtlose Kommunikationssysteme, Funkgeräte, Mikrosender in
Autoschlüsseln, aber auch leistungsstarke Sendeanlagen im Gigawatt-Bereich sind Strahlungsquellen.
Für die U-Boot-Kommunikation werden Längstwellen eingesetzt,
Mikrometerwellen werden bei technischen und militärischen Einrichtungen nachgewiesen. Zudem kreisen etwa 2000 Satelliten um
die Erde. Auch sie erzeugen ein breites Spektrum von Strahlungen,
welches von einigen Kilo-Hertz bis hin zur Röntgenstrahlung reicht.
Die dabei erzeugten elektromagnetischen Felder beeinflussen nachweislich alle biologischen Organismen.
Elektrosmog ist sinnlich nicht wahrnehmbar; dennoch spüren manche Menschen seine Wirkung.
JOSSNER974 weist darauf hin, dass auch die Anwendung der verschiedenen, von der Industrie und im Haushalt benötigten Ströme
„ein nicht mehr nachvollziehbar komplexes Gemisch von elektrischen, elektromagnetischen und weiteren energetischen Feldern“
erzeugt.
Die Wissenschaft verliert immer mehr den Überblick über die wechselseitigen Wirkungen. In der Realität werden bedenkliche Wirkungen durch das synergetische Zusammenspiel der einzelnen Felder
hervorgerufen.
Die 50-Hertz-Felder des Netzstromes, die 16,66-Hertz-EisenbahnStromversorgung, das Gemisch aus Gleichstrom und die Mikrowellen von Handys tragen zu einer Häufung von Fehlgeburten, Schlag974
Co-med, 7 und 8, 1999, S. 18 f.; JOSSNER studierte Nachrichtentechnik, Elektronik und Biophysik; VARGA führte die Studie an
der Universität Heidelberg durch; ULMER beschäftigt sich seit 45
Jahren mit Ernährung, Umwelt- und Gesundheitsschutz sowie Ökologie. KLITZING ist Medizinphysiker an der Universität Lübeck;
BLACKMORE ist Physiologe an der Universität Oxford.
506
anfällen und Krebs bei. Die 16,66-Hertz-Frequenz ist identisch mit
der Beta-Frequenz in unserem Gehirn, die auch als „StressFrequenz“ bezeichnet wird. Alle lebenden Organismen sind aus
Atomen und Molekülen zusammengesetzt, die den physikalischen
und chemischen Naturgesetzen unterliegen; all diese Atome und
Moleküle finden wir auch in der unbelebten Welt.
Biologische Moleküle, einschließlich der Zellen, besitzen eine elektrokinetische Kraft, mit deren Hilfe sie Wirkungen auf ihre Umgebung ausüben und mit der sie in einer Wechselbeziehung stehen. Die
Kommunikation der Zellen untereinander erfolgt durch chemische
Reaktionen, die sich als energetische Wechselwirkungen der elektrischen Ladungen der Atome erklären lassen. Durch den Fluss von
winzig geringen Mengen von Strom auf den Nervenbahnen erfolgt
die Kommunikation der Zellen im Körper. JOSSNER weist darauf
hin, dass die DIN-Normen einer technischen und nicht einer biologischen Schutzvorschrift entsprechen.
VARGA belegte in einer wissenschaftlichen Studie, dass bei einer
Bestrahlung von Hühnereiern mit „handyüblichen“ Hochfrequenzen
(1,5mW/cm2) von 180 Küken nur noch drei geschlüpft sind und nach
sechs Wochen keines mehr gelebt hat.
In der unbestrahlten Kontrollgruppe schlüpften 159 Küken. Nach
sechs Wochen lebten noch 156 der Tiere.
Digital getaktete Mikrowellen beeinflussen auch die Produktion von
der extrem wichtigen Antikrebshormone Endorphin und Melatonin
in der Zirbeldrüse (Epiphyse). Diese Drüse bildet das geometrische
Zentrum des Kopfes.
Bei der geringsten elektromagnetischen Belastung wird die Produktion eingestellt und somit die körpereigene Krebsabwehr verhindert.
Melatonin ist ein Neurohormon mit psychoaktiven Substanzen. Ihm
wird ebenso ein synchronisierender Effekt auf die innere Uhr wie
eine Schlüsselposition bei der Regulierung des Immunsystems zugeschrieben. So ist es auch mitverantwortlich für die Bildung von Antikörpern und die Regulation des Kalziumhaushaltes. Melatonin ist
zudem eines der stärksten Antioxiantien, das jemals entdeckt wurde.
Es verhindert allzu aggressive Reaktionen des Immunsystems und
schützt somit vor Allergien. Auch der Schutz der Nervenzellen im
Gehirn wird ebenso durch Melatonin mit gewährleistet wie auch die
507
Regulation der Östrogenwerte. Wird die Produktion und Ausschüttung von Melatonin verhindert (z. B. durch Strahleneinflüsse), so
wird im Gegenzug die Ausschüttung des Stresshormons Serotonin
verstärkt. Besonders gepulste Mikrowellen verändern nachweislich
die Gehirnaktivität.
KLITZING dazu: „Es könnte sein, dass das interzellulare Kommunikationssystem gestört wird. Das Gehirn reagiert auf diesen Reiz erst
nach wenigen Minuten. Die Peaks bleiben erstaunlich lange nachweisbar, einige Stunden bis wenige Tage, auch wenn die Strahlenquelle, in diesem Fall das D- oder E- Netz- Handy, längst ausgeschaltet ist.“
BLACKMORE weist darauf hin, dass Dauerbenutzer mobiler Telefone Gefahr laufen, Gedächtnisstörungen, Konzentrationsmängel,
Müdigkeit oder andere kognitive Mängel zu erleiden.
SEMM, wies in einer Studie 1995 nach, dass 60% der Nervenzellen
bei einer Bestrahlung mit gepulster Hochfrequenz (D-Netz 900
MHz) falsch reagieren. Die Studie wurde wegen der kritischen Ergebnisse vom Auftraggeber nicht veröffentlicht.
Mobilfunkwellen sind elektromagnetische Wellen. Sie werden von
einem Sender (Antenne) abgestrahlt und breiten sich mit Lichtgeschwindigkeit aus. Von einer zweiten Antenne werden diese Strahlen
aufgefangen. Die zwischen den Antennen entstehenden Schwingungen bewegen sich im Bereich zwischen 900 Millionen und 1,8 Milliarden Hertz. Die Gesprächsinformationen werden bei einem Anruf
im Handy komprimiert. In einem Zeitschlitz von 0,57 Millisekunden
werden dann diese Informationen an die Basisstation übermittelt.
Eine Pause von sieben Zeitschlitzen überbrückt den Abstand zur
nächsten Information. Dadurch entsteht ein gepulstes Signal, welches in einer Sekunde 217mal ein- und ausgeschaltet wird. Sendestationen arbeiten mit einer Pulsung zwischen 217- und 1736mal pro
Sekunde. Die gepulsten Hochfrequenzen durchdringen im Bereich
des Mobilfunks auch sehr dicke Betonwände und können nicht abgeschirmt werden. Eine Schädigung oder gar Zerstörung der GehirnBlut-Schranke (eine Zellschutzschicht des Gehirns) durch die entstehende elektromagnetische Strahlung schließen kritische Wissenschaftler nicht aus. Das Eindringen von Giftstoffen in das Gehirn
könnte so erleichtert werden. Auch bei Impfungen (Injektionsmaßnahmen) wird dieser Effekt von Kritikern vermutet.
508
SALFORD: „Unsere Forschungen zeigen, dass die Strahlung von
mobilen Telefonen die Blut-Hirn-Schranke öffnet und es so vielen Giften leichter macht, in das Gehirn zu gelangen. Sezierte
Rattenhirne weisen als Folge der Mobilfunkstrahlung gut sichtbare Spuren auf. Die Hirne sind übersät mit dunklen Flecken
und deutlich geschädigt. Es tritt Flüssigkeit aus, verursacht eben
durch diese elektromagnetische Strahlung." 975
ADEY: „Niederfrequent gepulste Hochfrequenzstrahlung greift
tief in biologische Prozesse ein. Sie schädigt das Immunsystem.“
Die Blut-Hirn-Schranke versagt nach neueren Erkenntnissen schon
bei Strahlungen, die 20 000fach unter denen eines Handys liegen.
(Heimtelefone nach DECT-Standard und Mobilfunkbasisstationen,
auch wenn nicht telefoniert wird)
Eine neue britische Studie warnt vor der uneingeschränkten Nutzung
von Mobiltelefonen durch Kinder und Jugendliche, da „gewisse
Schädigungen“ nicht ausgeschlossen werden können.976
Handystrahlung gilt bei Kritikern deshalb als besonders gefährlich,
weil sie im gleichen Frequenzbereich gepulst ist, in dem auch unsere
Zellen kommunizieren. Gehirn und Nerven könnten durch diese
Strahlung aus dem Takt gebracht werden. Handys des D-Netzes
(Telekom und Vodafone) strahlen doppelt so stark wie die des ENetzes (E plus, Interkom). Auch viele schnurlose Festnetztelefone
senden ähnliche Wellen aus. Bisher sind etwa 20 000 Studien, Forschungsberichte und Fachartikel über biologische Effekte elektromagnetischer Felder erschienen, die aber keinen gesicherten wissenschaftlichen Nachweis erbringen.977
Fadenwürmer wurden von britischen Wissenschaftlern mit Mikrowellen einer Frequenz von 750 Megahertz bestrahlt. Die Tiere produzierten im Gegensatz zu nicht bestrahlten Würmern so genannte
Hitzeschock-Proteine. Gerät ein lebendiger Organismus durch äuße975
Risiko Mobilfunk, Informationsbroschüre der Bürgerwelle e.V.;
Tel: 0 96 31/79 57 36 Fax: 79 57 34; SALFORD ist Professor für
Neurochirgurgie an der schwedischen Universität Lund; SEMM
forschte jahrelang für die Deutsche Telekom; ADEY ist Professor an
der Loma-Linda-Universität in Kalifornien.
976
MM, 109, 2000, S. 1; eine von der britischen Regierung in Auftrag gegebene und von der BBC veröffentlichte Studie
977
MM, 280, 2001, S. 47, München
509
re Einflüsse in Bedrängnis, bilden sich diese Eiweiße. Wegen der
gleichen Körpertemperatur von bestrahlten und unbestrahlten Würmern muss angenommen werden, dass die Strahlen selbst Ursache
für dieses Phänomen sind.
Bei Hitze hindern die entsprechenden Proteine andere Eiweiße daran, auszuflocken. Aufgrund der Beobachtungen wird vermutet, dass
die Wellen möglicherweise direkt Signalwege beeinflussen, die für
die Produktion von Hitzeschockproteinen zuständig sind.978
RAITHEL zu den möglichen Langzeitfolgen elektromagnetischer
Felder, die auf den menschlichen Organismus einwirken:
„Es gibt inzwischen Studien, die konkret auf die Folgen des Mobilfunks hindeuten. Ein definitiver Nachweis, dass die elektromagnetischen Felder beim Menschen Krankheiten verursachen, steht aber
noch aus . . . Es verdichten sich aber auf unangenehme Art und Weise die Verdachtsmomente . . . “979
Thermische Auswirkungen:
 Erhitzung des Körpergewebes
Athermische Auswirkungen:
Sie sind durch Studien belegt und beeinflussen in erster Linie das
Immunsystem und/oder das Nervensystem.
 Orientierungsprobleme (im Tierversuch beobachtet; die Tiere
fanden ihren Futterplatz nicht mehr)
 Veränderungen im Bereich des Hormonhaushalts beim Menschen
 Veränderungen der Hirnströme
 Abweichende Funktionen der Blut-Hirn-Schranke
 Schlafstörungen
 Kopfschmerzen
 Konzentrationsverlust.
KÖNIG: „Eltern sollten ihre Kinder möglichst von dieser Technologie fern halten“, obwohl es „derzeit keine wissenschaftlichen Bewei-
978
Nature, Bd. 405, 2000, S. 417, und in SZ 118, 2000,V2 /12
SZ, 176, 2001, S. 49, Bayern; RAITHEL ist Diplomingenieur am
Umweltinstitut in München.
979
510
se dafür gebe , dass mobiles Telefonieren Gesundheitsgefahren in
sich birgt.“980
Bekannt seien jedoch thermische und biologische Effekte, ( „veränderte Hirnströme“) die Vorsorge angeraten erscheinen ließen. Es
wird zudem „dringend“ empfohlen, im Fahrzeug „ganz auf das Telefonieren“ zu verzichten.
Klagen gegen ordnungsgemäß betriebene Mobilfunkanlagen sind
derzeit chancenlos. Das folgt aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur Bewertung der Gesundheitsgefahren von elektromagnetischen Strahlen (Aktenzeichen: 1 BvR 1676/01).981
Eine in München vorgestellte Studie982 (es wurden zahlreiche Forschungen ausgewertet, um den aktuellen Stand der Wissenschaft zu
ermitteln) belegt nach SILNY, dass die jüngste Forschung davon
ausgeht, dass eine Beziehung zwischen Mobilfunkwellen und Krebserkrankungen unwahrscheinlich sei.
SILNY: „Zu beweisen, dass es keine gesundheitlichen Auswirkungen gibt, ist unmöglich. Dazu bräuchte man unendlich viele Untersuchungen.“ Ein Mobilfunkgegner antwortet in einem Lesebrief von
SCHÄFER:983 „ . . . Was sind das für Studien, die da herangezogen
wurden? Hat man sich die Mühe gemacht, auch nur einen Teil der
ca. 20 000 wissenschaftlichen Publikationen der letzten 20 Jahre
anzuschauen, die die Schäden, z. B. an Nerven- und Gehirnzellen
(unter anderem!), durch gepulste elektromagnetische Strahlung beweisen, von bedeutenden Forschungsinstitutionen in der ganzen Welt
(z. B. auch der Universitäten von Gießen, Lübeck, Zürich)? veröffentlicht . . . Und was ist mit den 2% der elektrosensiblen Personen
unter uns (mit steigender Tendenz aufgrund der Dauerbestrahlung!)?“
980
MM, 174, 2001, S. 1; KÖNIG ist Präsident des Bundesamtes für
Strahlenschutz.
981
SZ, 70, 2002, S. 5
982
MM, 86, 2002, Oberbayern; SILNY stellte diese Studie des
Verbands der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik
(VDE) vor.
983
MM, 89, 2002, Leserbriefe; SCHÄFER ist Biometeorologe aus
Bad Tölz.
511
Versuche im Schlaflabor zeigen, dass die Traumphasen des Schlafes
kürzer sind, sobald der Mensch hochfrequenten Strahlungen ausgesetzt ist. Dies ist aus dem Grund bedenklich, weil das Gedächtnis in
diesen Zeiträumen Erinnerungen fixiert. Vor allem der Schlafplatz
gilt bei jedem zweiten Bundesbürger durch Strahlungen, die von
Radioweckern, Verlängerungskabeln unter dem Bett, von Nachttischlampen oder Mobiltelefonen ausgehen, als bedenklich belastet.
Die zulässigen Strahlungswerte für Computerarbeitsplätze liegen bei
0,2 Mikrotesla. An den Schlafplätzen wurden bis zu 50 Mikrotesla
gemessen.984
Wie unsere Augen, ist die Zirbeldrüse lichtempfindlich. Wellen und
Photonen werden aufgesaugt und in Bioenergie umgewandelt. Diese
Drüse steuert die Aktivitätsvorgänge des Körpers am Tage und ist
für die Regenerationsvorgänge während des Schlafes verantwortlich.
In die Hirnrinde eingelagert sind Magnetkristalle. Sie bestehen aus
dem Eisenerz Magnetit und sind durch ein feines Netz mit der Epiphyse verbunden. In der schützenden Gehirnmembran sind 100
Millionen von ihnen pro Gramm enthalten. Sie regulieren nach ULMER offensichtlich auch den Transport von Substanzen durch die
Zellmembranen.
Durch Blutbildanalysen werden diese Erkenntnisse bestätigt.
Weitere, beobachtete Auswirkungen:
 Verlängerung der Reaktionszeit
 Störung des Kurzzeitgedächtnisses
 Klingeln in den Ohren
 Klicken in den Zahnprothesen
 Entstehung von Spannungen am Brillenbügel (bis zu 600 Volt).
Das menschliche Gehirn arbeitet ständig, es kennt keine Atempausen. Die elektrischen Spannungen in den Nervenbahnen bewegen
sich zwischen 1 und 250 Mikrovolt. Wirken wesentlich höhere
Spannungen von außen auf den menschlichen Körper ein, so können
984
www.das–gesunde–haus.de
512
nach ULMER Störungen, Irritationen, Entgleisungen und Schädigungen nicht ausgeschlossen werden.
Ernstzunehmende Befunde aus Untersuchungen
zur Mobilfunkstrahlung:985









die krebsfördernde Wirkung hochfrequenter, elektromagnetischer Felder
direkte gentoxische Wirkung der Felder: DNS-Brüche und
Schäden an den Chromosomen
Beeinflussung der Zelltransformation, der Zellvermehrung und
der Zellkommunikation
Störungen der Proteinsynthese und der Enzymsteuerung
Beeinflussungen des ZNS (neurochemische Effekte, Veränderungen der Hirnpotentiale und Beeinträchtigungen bestimmter
Hirnfunktionen)
Defizite im Lernvermögen (Tierexperimente)
Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen
Erhöhung der Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke für
Fremd- und Schadstoffe
Hinweise auf eine Beeinflussung des Hormon- und des Immunsystems.
NEITZKE: „ Im Mittelpunkt unserer Untersuchungen standen Wirkungen der elektromagnetischen Felder des Mobilfunks auf Mensch
und Tier, die bei so geringen Intensitäten auftreten, dass ein thermischer Effekt ausgeschlossen werden kann . . . Um den Schutz der
Bevölkerung vor den Auswirkungen der elektromagnetischen Felder
des Mobilfunks zu verbessern, brauchen wir in Deutschland deutlich
niedrigere Vorsorgegrenzen, wie sie bereits in einigen Nachbarländern gelten. Die Erfahrungen dort zeigen, dass die Nutzung der Mobilfunktechnologie und ein vorsorgender Gesundheitsschutz vereinbar sind.“986
985
Studie des Ecolog-Institus in Hannover;
www.Ecolog-institut-institut.de
986
Report Naturheilkunde, 7 bis 8, 2001, S. 36 ; NEITZKE ist
Koordinator der Arbeitsgruppe.
513
KLITZING: „Gepulste Strahlung verändert die Gehirnströme, Erbgutänderungen treten auf.“987
SEMM: „Bei Bestrahlung mit gepulster Hochfrequenz reagieren
60 % der Nervenzellen falsch. Tiefschlaf wird verhindert, das Immunsystem wird geschwächt.“
Das ECOLOG-Institut in Hannover hat für die Telekom-Tochter TMobil die Arbeiten anderer Forscher auf ihre Seriosität überprüft.
Die Studie zeigt, dass schon heute umfangreiche Ergebnisse vorliegen: „Es gibt Hinweise, dass diese Felder ein erhöhtes Krebsrisiko
bedeuten . . . Beeinflussungen von Gehirnfunktionen . . . Einflüsse
auf die Leistungsfähigkeit . . . Einflüsse auf den Schlaf.“
Obwohl die Gefahr der durch den Mobilfunk verursachten Strahlung
bekannt ist, werden die Funk-Netze rasch weiter ausgebaut. Da viele
Verantwortliche mit diesem Wissen von der Industrie und den Telefongesellschaften abhängig sind und zudem immer mehr Menschen
ohne zwingenden Grund, sondern aus Prestigegründen Mobiltelefone
nutzen, erscheint es unwahrscheinlich, dieser Entwicklung Einhalt
gebieten zu können.
Zur Situation in England
Wegen der möglichen Gefahr (ein Zusammenhang zwischen der
Entstehung von Gehirntumoren durch die Freisetzung von Radarwellen beim Telefonieren mit einem Handy wird seit langem von manchen Forschern vermutet, aber bisher wissenschaftlich nicht nachgewiesen) werden in England künftig Handys nur noch mit einem
Merkblatt verkauft, das auf mögliche Gefährdungen hinweist.988
Die Regierung rät:
 Handytelefonate kurz zu halten
 Kinder nur im Notfall mit dem Handy telefonieren zu lassen.
987
MM, 275, 2001, S. 37 (Leserbriefe) KLITZING ist Medizinphysiker an der Universität Lübeck; SEMM arbeitet an der Universität Frankfurt; seine Studie wurde von der deutschen Telekom nicht
veröffentlicht.
988
SZ, 299, 2000, S. 23
514
In Großbritannien besitzen bereits 70% der Teenager ein eigenes
Mobiltelefon.
Seit dem Sommer 2000 müssen die Schulen ihre Schüler über die
Gesundheitsgefahren im Zusammenhang mit Mobilfunkstrahlen
aufklären.
Erhöhte Strahlung durch Freisprech-Einrichtungen?
Messungen989 haben ergeben, dass durch den mit dem Handy verbundenen Ohrlautsprecher dreimal mehr Strahlung das Gehirn erreicht als beim herkömmlichen Telefonieren mit Handys. Offensichtlich tritt die Erhöhung der Strahlung durch die direkte Verbindung
des Kabels mit dem Kopf auf.
Ein deutsches und ein australisches Verbrauchermagazin veröffentlichten einen ähnlichen Test, kamen aber zu anderen Ergebnissen:
Ökotest: Die Strahlung am Ohrstecker beträgt noch etwa 10% des
Wertes an der Antenne.
Choice: Die Strahlung am Ohrstecker werde auf 8% reduziert.
MAEF: „Die drei Untersuchungen bestätigen sich geradezu in
erfreulicher Weise.“
10% der Strahlung im Ohr sind ebenso gefährlich wie die ganze
Strahlung in einiger Entfernung vom Kopf.
PETROWICZ weist darauf hin, dass die Wirkung von Strahlen auf
den menschlichen Körper nicht nur von der Strahlungsdichte abhängt. Bestimmte Wellenlängen bewirken seiner Ansicht nach, dass
der Mensch zum elektromagnetischen Resonanzkörper wird.
CARLO will Beweise gefunden haben, die zeigen, dass Strahlung
von Handys sowohl Gen-Schäden als auch Hirntumore hervorrufen
kann.
„Meine Daten bringen zum Ausdruck, dass es unverantwortlich
wäre, Handys für absolut sicher zu erklären.“
989
Studie des englischen Verbrauchermagazins Which in SZ, 187,
2000, V2 /10; Ökotest/Choice; MAEF ist selbstständiger Sachverständiger; PETROWICZ ist Strahlenexperte an der TU München;
CARLO ist US-Pathologe und Sicherheitsexperte und ehemaliger
Vorsitzender von Wireless Technology Research in Washington; in
der Online-Ausgabe von Medscape werden mehr als 50 zum Teil
unveröffentlichte Arbeiten präsentiert.
515
Die Analyse der Telefoniergewohnheiten von Patienten mit Gehirntumoren in fünf amerikanischen Krankenhäusern ergab einen statistischen Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Mobiltelefons
und dem Auftreten des Tumors.
Kritiker dieser Studien wiederum behaupten, CARLO habe aus einer
großen Anzahl widersprüchlicher Ergebnisse die negativen besonders herausgestrichen.
In einer Mitteilung einer Mobilfunk-Telefongesellschaft ist Folgendes zu lesen:
„Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält Sicherheitsrichtlinien für Mobilfunktelefone vorerst nicht für notwendig. Es
gebe noch keinen Hinweis darauf, dass die Benutzung von Handys gesundheitliche Risiken berge, teilte die WHO laut Nachrichtenagentur ap mit. Die Frage, ob die Strahlung, die beim
Telefonieren vom Handy ausgeht, krebsfördernd sei, könne erst
in drei bis vier Jahren beantwortet werden.“990
Nach SCHLAEFER991 ist noch unklar, wie gefährlich die Strahlung
sei. Es besteht seiner Ansicht nach jedoch die Möglichkeit, dass sich
die bereits bestehenden Hirntumore durch diese Wellen schneller
entwickeln. Besonders das Gewebe junger Menschen sei besonders
gefährdet, da es sich noch stark verändere. Der derzeitige wissenschaftliche Stand gehe jedoch nicht davon aus, dass die elektromagnetischen Felder Krebs auslösen können.
Die Bundesärztekammer fordert ungeachtet der Meinung der WHO
eine Senkung der Grenzwerte für Strahlung von Mobilfunkmasten.
ECKEL: „Es gibt gewichtige Hinweise aus Tierversuchen, dass
die Strahlen auch weit unterhalb der Grenzwerte schädigen.“992
40 Studien gäben inzwischen Hinweise darauf, dass Mobilfunkstrahlung auch weit unterhalb der bestehenden Grenzwerte wirke. Die
Anzeichen reichten von Hirnschäden bei Tieren und Erbgutveränderungen in menschlichen Zellen bis zu Krebs bei Mäusen. Die derzei990
Cellway News, August 2000
MM, 207, 2000, S. 10; Klaus SCHLAEFER ist Krebs-Experte
und arbeitet am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg.
992
MM, 193, 2000, S. 2; ECKEL ist Professor und Vorsitzender des
Ausschusses Gesundheit und Umwelt der Ärztekammer.
991
516
tigen Grenzwerte berücksichtigen vor allem die Wärmeerzeugung im
Körper.
Die oben angeführten Beispiele und Meinungen zeigen erneut, dass
Wissenschaft ein Prozess ist, der zu völlig gegensätzlichen Anschauungen führen und der normalerweise nicht nachvollzogen oder überprüft werden kann. Er führt dazu, dass Laien sich ihre wissenschaftlich fundierten „Glaubensmeinungen“ bilden.
Nicht nur die Unterlassungen, Wissen zu sammeln, sondern auch die
Art und Weise, das gesammelte Wissen auszuwerten, sind eine erschreckende Praxis, bezahlte und interessenorientierte Wissenschaft
in vielen Disziplinen zu betreiben.
Augenkrebs bei starkem Handy-Gebrauch993
Ein statistischer Zusammenhang zwischen Krebs und der Benutzung
von Mobiltelefonen wurde zum ersten Mal durch STANG wissenschaftlich nachgewiesen.
„Wir sehen unter denen, die beruflich täglich mehrere Stunden
lang ein Mobiltelefon benutzen, ein dreifach höheres Risiko, an
einem Augentumor zu erkranken.“
Untersucht wurden 118 Patienten mit Augenmelanomen, die extrem
selten im inneren Auge auftreten. Im statistischen Durchschnitt entwickelt nur einer von 200 000 Menschen diese Tumorart. Verglichen
mit einer Gruppe von 475 gesunden Patienten hatten die Erkrankten
häufiger angegeben, Handys oder Funkgeräte am Arbeitsplatz zu
benutzen.
Forscher des Fraunhofer-Institutes machten darauf aufmerksam, dass
es zurzeit nicht möglich sei, die Unschädlichkeit von Handy-Strahlen
zu belegen. Dazu BRINKMANN:
„Es gibt keine Gefährdung durch elektromagnetische Felder,
wenn die vorgeschriebenen Grenzwerte eingehalten werden.“ 994
Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass die Epidemiologen
bereits jetzt etwas bemerken, was erst in späterer Zeit durch Experimente bestätigt werden kann.
993
SZ, 12, 2001, S. 14; STANG ist Biostatistiker an der Universität
Essen; diese Studie wurde auch in der Fachzeitschrift Epidemiology
veröffentlicht.
994
SZ, 13, 2001, S. 14; BRINKMANN arbeitet an der TU Braunschweig.
517
Handys als Instrument zur Wirtschaftsspionage995 und
zur lückenlosen Überwachung
Handys können im ausgeschalteten Zustand als Mikrofon arbeiten.
Ergebnisse aus Konferenzen können so live abgehört werden.
Jedes Handy nimmt im eingeschalteten Zustand automatisch regelmäßig Kontakt zur nächstgelegenen Mobilfunk-Relaisstation auf.
Zurzeit besitzen etwa 50 Millionen Deutsche ein Mobiltelefon.996
Das Bundeswirtschaftsministerium plant zurzeit die komplette Erfassung der technischen Kommunikation, die ein Handy im Netz führt.
Da die modernen Mobilfunknetze wie ein Schachbrett in Funkzellen
mit einem Durchmesser von einem bis zu 35 Kilometern eingeteilt
sind, ist der Betreiber eines Mobilfunknetzes automatisch über den
Aufenthaltsort des Kunden informiert. Diese Zellen mit entsprechenden Basisstationen sind notwendig, um Anrufe sofort weiterleiten zu
können. Die Mobilfunkbetreiber sind auf Anweisung der Justiz verpflichtet, das Abhören von Gesprächen und Kurznachrichten als
auch Zugriffe auf die jeweilige Mailbox zu ermöglichen.
Der Handy-Boom markiert somit den Beginn eines gigantischen
Volksüberwachungsprogrammes.
Die Handy-Gesellschaft
Abgesehen von der noch nicht endgültig geklärten Gesundheitsgefährdung durch von Handys und die für ihre Funktion notwendigen
Sendeantennen ausgehende Strahlung sind die Handykosten und
somit unbezahlte Telefonrechnungen nach RÜGER997 bei 15% aller
Beratungsgespräche in Schuldnerberatungsstellen mitverantwortlich
für die Verschuldungen. Vor allem junge Menschen haben erhebliche Probleme mit der Transparenz der Tarife.
Handys aus (einer) pädagogischen Sicht
JESSEN, der in einem vierjährigen Forschungsprogramm die Auswirkungen von Mobiltelefonen auf den Alltag von Kindern unter995
MM, 197, 2000, S. 3; nähere Informationen im aktuellen Magazin
der IHK München-Oberbayern.
996
MM, 84, 2001, S. 3
997
MM, 23, 2000, S. 1 und 2; RÜGER arbeitet bei einer Schuldnerberatungsstelle in München.
518
sucht hat, vertritt die Meinung, dass Kinder ohne ein eigenes Handy
als „Außenseiter“ sozial gefährdet seien. Ihnen drohe ein Ausschluss
aus dem Freundeskreis.
„Verantwortungsbewusste Eltern sollten eigentlich jedem ihrer Kinder ab zwölf Jahren ein Mobiltelefon geben, damit es unter Gleichaltrigen nicht isoliert wird.“998
Finanzielle Fakten zum Gebrauch von Handys
Der oftmals unüberlegte Gebrauch von Handys wird für viele Menschen (ebenso wie Kreditkarten) zu einer Schuldenfalle. In Bayern
gilt jeder siebte Haushalt als verschuldet. Ursache dafür sind nach
Ansicht von HINTERLEUTHNER999
 Schicksalsschläge in Familien
 Verlust des Arbeitsplatzes
 immer häufiger das unkontrollierte Geldausgeben mit Kreditkarten
 Unterschätzung der Kosten eines Mobiltelefons.
Drei Viertel der zwölf- bis19-Jährigen in Deutschland besitzen ein
Mobiltelefon. 1000
BERTHOLD: „Viele haben überhaupt kein Gefühl dafür, wie schnell
sie per Telefon in Schulden geraten.“1001
Nach Angaben des Münchner Instituts für Jugendforschung sind 6%
der Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren verschuldet. Bis zum
20. Lebensjahr ist jeder Fünfte mit durchschnittlich 1500 DM verschuldet.
Die Schulden deutscher Jugendlicher werden vom BDIU (Verband
Deutscher Inkasso-Unternehmen) auf 10 Milliarden Mark beziffert.
Die Zahlungsmoral sinkt, Ratenangebote verführen gleichzeitig zu
998
JESSEN arbeitet an der Pädagogischen Hochschule Kopenhagen.
MM, 254, 2001, S. 1; Regina HINTERLEUTHNER ist
Sprecherin der Schuldnerberatungsstelle in Bayern.
1000
SZ, 270, 2001, München, S. 47; Angabe des
Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest
1001
SZ, 270, 2001, S. 12; BERTHOLD ist Referent für
Schuldnerberatung beim Diakonischen Werk.
999
519
unüberlegten Käufen. Die Zahl von Firmenpleiten und damit die
Zahlungsunfähigkeit vieler Menschen nimmt dramatisch zu.
Magnetfelder
Die von Strom durchflossenen Oberleitungen von Zügen erzeugen
ein Magnetfeld, das fast ungehindert durch Beton, Holz, Kunststoffe,
Erde, viele Metalle und den menschlichen Körper durchdringt. Der
Effekt auf 21-Zoll-Computer-Bildschirme im Umfeld solcher Leitungen (200 m) ist vielfach belegt. Über die Wirkungen auf den
menschlichen Organismus dagegen gibt es keine wissenschaftlichen
Erkenntnisse.
Es ist heute möglich, elektromagnetische Wellen durch Gegenwellen
eines zweiten, bewusst erzeugten Magnetfeldes auszulöschen, indem
die Dynamik der vorhandenen Felder durch zeitlich koordinierte
Messungen erfasst wird. Am Computer wird daraufhin ein dreidimensionales Modell entwickelt, das die Arbeitsweise einer „Kompensationsanlage“ festlegt.1002 Ein Steuergerät, Magnetfeldsensoren
und Kabelschleifen in Boden und Decke erzeugen dann das Gegenfeld. Eine Spezialfirma in München ist nach eigenen Angaben in der
Lage, mit Hilfe subtiler Elektronikregelung Magnetfelder bis zu
einer Grundfrequenz von rund 10 Kilohertz zu eliminieren. Darunter
fallen auch die 16⅔-Hertz-Felder der Bahn, als auch die 50-HertzFelder der Stromleitungen.
In der Schweiz wurden die Grenzwerte seit 1999 deutlich verschärft,
um die Menschen vor schädlicher oder lästiger nicht-ionisierender
Strahlung zu schützen.
Ein neues Gutachten zur Sendeanlage Oberlaindern
im oberbayerischen Valley (Gemeinde Miesbach)
Sie strahlt rund um die Uhr mit einer Leistung von bis zu 1 Million
Watt.
1002
SZ, 255, 2001, V2 /13; München: Firma Wurzacher, Elektronische Systeme; Installation für ein Einfamilienhaus: ca. 20 000 DM,
Schutz eines Monitors ca. 1500 DM
520
TREMML: „Mittlerweile finden Sie in dem kleinen Ort kein Haus
mehr, in dem es nicht einen oder zwei Krebsfälle gibt. Das ist
furchtbar.“1003
FRENTZEL-BEYME führte in diesem Gebiet eine erste epidemiologische Studie von Sendeanwohnern in Deutschland durch. PAUL:
„Das Ergebnis hat unsere Erwartungen bei weitem übertroffen.“
Wirkungsvoller Schutz vor Strahlungen 1004
Wissenschaftler der Universität Kassel stellten fest, dass Grasdächer
und Lehmwände fast vollständig die Strahlung von Mobilfunksendeanlagen abschirmen. Ein Lehmgewölbe mit Grasdach dämpfe die
auftretende Strahlung um mehr als 99%, während ein herkömmliches
Ziegeldach nur ca. 50% der elektromagnetischen Wellen abhalte.
Nach Auskunft des Bundesamtes für Strahlenschutz gibt es derzeit
keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse darüber, dass es bei
Einhaltung der gesetzlichen Grenzwerte zu Gesundheitsschäden
kommt.
1003
SZ, 144, 2001, S. 49, Bayern; Bernd TREMML ist Fachanwalt
für Strahlenbelastungen in München;
FRENTZEL-BEYME ist Professor am Zentrum für Umweltforschung und -technolgie der Universität Bremen; PAUL ist Mitglied
der Initiative Sender-Freies-Oberland.
1004
MM, 128, 2001, S. 1
521
Die medizingeschädigte Gesellschaft – Schäden durch
medizinische Behandlung
Etwa 100 000 Menschen werden nach ZIMMERMANN in Deutschland jährlich durch eine medizinische Behandlung geschädigt. Weitere 25 000 Patienten überleben eine solche Schädigung nicht. Durch
eine „Verschwörung des Schweigens“ ist es für Patienten nur schwer
möglich, vor Gericht Schadenersatzforderungen zu stellen und
durchzusetzen.
BARTZ: „Das wahre Ausmaß ärztlicher Kunstfehler ist längst
noch nicht bekannt.“1005 Die wirkliche Zahl liegt ihrer Ansicht nach
weit höher als die 100 000 Fälle pro Jahr, die von der Verbraucherzentrale angegeben werden.
Nach einer seit dem Jahr 1894 geltenden Rechtsauffassung besitzen
die Patienten ein Selbstbestimmungsrecht, da nur sie letzten Endes
ihr wahres Interesse selbst verstehen können. Der Körper des Patienten darf in der Folge nicht willkürlich zum Objekt gutgemeinter
Heilversuche gemacht werden. Aus der Sicht vieler Ärzte stellt sich
diese Situation nach ZIMMERMANN als „irrsinnige“1006 Regelung
dar, die korrigiert werden müsste.
Sie argumentieren, dass





1005
eine vollkommene Aufklärung über alle Eventualitäten einer
Behandlung nicht möglich sei
korrekte Befunde erst möglich seien, wenn der menschliche
Körper durch eine Operation Einblicke erlaube
Vieles bei medizinischen Eingriffen und Behandlungen unvorhersehbar und schicksalhaft sei
bei Operationen oftmals schnell Entscheidungen getroffen werden müssen, die vorher nicht absehbar waren
ausführliche Aufklärung den Patienten schaden könne
SZ, 150, 2001, V2 /11; Gisela BARTZ ist Vorsitzende der
Notgemeinschaft Medizingeschädigter in Dormagen.
1006
SZ, 56, 1998, S. 2; ZIMMERMANN ist Präsident des Allgemeinen Patientenverbandes; DEUTSCH ist Professor für internationales
und ausländisches Privatrecht an der Universität Göttingen.
522


Patienten häufig nicht über die genaue Diagnose informiert
werden wollten
bei Bekanntgabe der Risiken einer Operation diese oftmals
gefährlich lange hinausgezögert werden.
Zudem sind die Ärzte verpflichtet, auch auf die persönlichen Umstände von Patienten bei der Aufklärung Rücksicht zu nehmen.
Durch juristische Formulierungen werden sie zweifellos immer wieder in die Enge getrieben. Seitenlange, an die Patienten verteilte
Formulare sollen sie selbst durch die Unterschrift der Patienten
schützen. ZIMMERMANN geht davon aus, dass Ärzte als Gutachter
vor Gericht es eher vorzögen, Kollegen zu helfen, als sie einem möglichen Urteil auszuliefern.
DEUTSCH: „Ärzte machen genauso viele Fehler wie andere Leute.“
Amputationen bei Zuckerkranken
In Deutschland werden nach Aussagen von WETZ pro Jahr etwa
28 000 Amputationen bei Zuckerkranken vorgenommen.
„Das sind viel mehr als in anderen europäischen Staaten wie Frankreich, den Niederlanden, Italien und den skandinavischen Ländern . .
Es könnten 8000 bis 10 000 weniger sein.“ 1007
Bereits im Jahr 1989 wurde Deutschland durch die WHO aufgefordert, die Amputationsrate zu halbieren. Experten gehen davon aus,
dass besonders bei schweren Diabetikern – hier führen primär Sensibilitätsstörungen zu Verletzungen, Infektionen und dem Absterben
von Gewebe – durch podologische (fußpflegerische) und orthopädieschuhtechnische Maßnahmen die Fußamputationen um 50% reduziert werden könnten.
Unnötige Brustamputationen
Mehrere hundert Patientinnen unterzogen sich zwischen 1994 und
1997 in Essener Krankenhäusern Brustamputationen. Sie hatten sich
auf die Diagnosen eines Pathologen verlassen, die dieser in seinem
privaten Institut gestellt hatte, obwohl es in vielen Fällen vermutlich
keine Anzeichen für Karzinome gab. Einer 37-jährigen Klägerin
1007
SZ, 261, 2001, V2 12; WETZ arbeitet an der Universität
Münster.
523
wurden jetzt 250 000 Mark Schmerzensgeld zugesprochen. Das
Urteil gilt als richtungsweisend. Inzwischen wurde von der verantwortlichen Versicherung eine Rücklage von 18 Millionen DM gebildet.1008
Arzneimittelwerbung – Hervorheben der Vorteile –
Herunterspielen der Nachteile – ein Vergleich: „Super“-Aspirine
Produkt
Vioxx
(Merck & Co,
MSD Sharp &
Dohme)
Celebrex
(Pharmacia)
Naproxen
Vorteile
laut
Werbung
magenschonender
magenschonender
Nachteile
Preis
Laut Studie traten
bei 2 von 100
Patienten innerhalb
von 9 Monaten Magengeschwüre auf
Negative Daten
bewusst verschwiegen
Bei 4 bis 5 von 100
Patienten traten
Magengeschwüre
innerhalb von 9
Monaten auf
Bei 2 von 100 Patienten Schlaganfälle
oder Herzinfarkte
10-fach gegenüber
anderen Schmerzmitteln
10-fach gegenüber
anderen Schmerzmitteln
Die US-Arzneimittelbehörde FDA mahnte das Unternehmen ab, dass
die Werbungen für Vioxx „falsch, unausgewogen oder irreführend“
seien. „Sie haben es unterlassen, deutlich zu machen, dass das nur
eine Hypothese ist, die nicht durch ernsthafte Daten untermauert
wird.“ 1009
Dennoch hatte HOLT einen Vertrag mit Merck & Co abgeschlossen,
um gegen Honorar Ärzte durch Vorträge von der Wirksamkeit des
Medikaments zu überzeugen.
1008
SZ, 287, 2001, S. 14
SZ, 227, 2001, V2 /9; HOLT ist Rheumatologe an der
John Hopkins University in den USA.
1009
524
Todesfälle bei Dialysepatienten 1010
Der US-Medizinproduktehersteller Baxter gab bekannt, dass eine
Flüssigkeit, die bei der Herstellung von Fasern für die Dialysegeräte
verwendet wird, mit für den Tod von ca. 33 Patienten eine Rolle
gespielt habe. Diese Flüssigkeit sei nur im schwedischen Werk Ronneby zur Anwendung gekommen. Die Todesfälle sind in Spanien
und Kroatien bekannt geworden.
Endoskopie – gravierende Mängel bei der Reinigung von
Instrumenten
Bei Darm- und Magenspiegelungen setzen sich die Patienten einem
hohen Risiko aus. Durch nicht ausreichende Reinigung der Instrumente besteht die Gefahr, sich mit folgenden Erregern (Viren/Bakterien, Würmern) und entsprechenden Krankheiten zu infizieren:
HIV, Tuberkulose, Hepatitis, Salmonellen, Helicobacter, CreutzfeldJakob-Krankheit und Wurmerkrankungen.
BOTZENHART: „Die Endoskopieaufbereitung bewegt sich zwischen dilettantisch und verbrecherisch.“ 1011
Zurückgebliebene Gewebereste stellen ein zusätzliches Risiko dar.
Es ist nicht auszuschließen, dass Krankheiten dadurch nicht richtig
diagnostiziert werden.
In einer Studie wurden 300 gereinigte Endoskope im Raum München in Kliniken und Praxen untersucht. Von den Endoskopen, die je
zwei Mal mikrobiologisch überprüft wurden, erfüllten in der ersten
Phase ca. 60% nicht die Anforderungen; in der zweiten Phase – also
nach der Beratung durch Hygiene-Fachleute waren es immer noch
40%.
Von den Wissenschaftlern wurden hauptsächlich rückständige Fäkalkeime (mangelnde Desinfektion oder Reinigung) und Nasenkeime
(Fehler beim Trocknen der Instrumente) entdeckt.
1010
SZ, 255, 2001, S. 14
SZ, 297, 2000, V2 /9; BOTZENHART ist Direktor des HygieneInstituts der Universität Tübingen.
1011
525
Fehldiagnosen von Ärzten
Die Auswertung von Autopsie-Ergebnissen zeigt, dass das eigentliche Leiden bei ca. 25% der Patienten zu deren Lebzeiten nicht erkannt wird. Anders ausgedrückt, wird jedes vierte Krankheitsbild
nicht erkannt. Bei etwa 10% verschlechtert dies die Prognose.1012
MUMMENTHALER: „Die modernen Diagnoseverfahren werden oft
ungezielt und ohne richtige Vorbereitung eingesetzt . . . wir sind
mehr und mehr fixiert auf das, was wir sehen.“
Die Fähigkeit, zuzuhören, sei bei vielen Medizinern verkümmert.
Auch Ärzte neigen, – wie jeder Mensch – dazu, nur zu sehen, was sie
sehen wollen. Auch Zeitmangel, Unlust und Unwissen tragen zur
Häufigkeit von Fehldiagnosen bei. KRUSE weist darauf hin, dass
viele Ärzte ihre eigenen Fähigkeiten überschätzen.
Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 25 000 Menschen an einer
falschen Behandlung. Die meisten ärztlichen Kunstfehler ereignen
sich mit 66,4% in der Chirurgie, gefolgt von der Gynäkologie und
Geburtshilfe mit 18%.1013 Die Folgen von Fehlern während einer
Geburt sind oftmals besonders schlimm, da die neugeborenen
Kinder nicht selten schwere Behinderungen davontragen.
Die Anzahl der ärztlichen Kunstfehler wird von Patientenorganisationen auf jährlich 400 000 geschätzt. Die chronische Überarbeitung
vieler Ärzte ist nach MONTGOMERY die Hauptursache für diesen
Tatbestand.
Blutkonserven
SCHEU gibt bekannt, dass in den Jahren zwischen 1976 und 1984
die deutsche Pharma-Industrie mit Hepatitis-C-Viren verseuchtes
Blut aus den USA importiert hat. Dabei seien 3000 Bluter infiziert
worden. Der seit 1976 in Deutschland als Standardtest bekannte
„ALT-Test“ wurde nicht angewandt.
1012
Deutsche Medizinische Wochenschrift, Bd. 125, 2000, S. 363, in
SZ, S. 129, 2000,V2 /16; MUMMENTHALER ist Neurologe in
Zürich; Waltraut KRUSE arbeitet am Universitätsklinikum Aachen
am Problem der Fehldiagnosen.
1013
SZ, 108, 2000, S. 2; Statistik der DAK; MONTGOMERY ist
Vorsitzender der Ärzteorganisation Marburger Bund.
526
In den 80er Jahren hatten sich in der BRD 1368 Bluter an HIVverseuchten Blutprodukten mit Aids infiziert. 750 der Patienten sind
inzwischen verstorben.1014
Hepatitis C ist in Deutschland eine der häufigsten Todesursachen.
Hier soll es mehrere hunderttausend mit diesem Virus Infizierte –
weltweit soll es 170 Millionen Infizierte geben. Das Virus wurde
erst im Jahr 1988/89 entdeckt. Gegen diese Erkrankung gibt es keinen Impfstoff.
Im Jahr 1998 haben sich acht Patienten über verseuchtes Blutplasma
mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert. Als Ursache wurde das bisher
beispiellose Versagen eines erprobten und zugelassenen Testverfahrens (Monalisa) angegeben. Das Paul-Ehrlich-Institut in Langen
stufte den Fall als „singulären“ Vorfall ein und bezeichnete das Testverfahren ansonsten als in Ordnung.1015
Für den Tod von fünf Patienten durch verunreinigte Blutkonserven
müssen sich zwei leitende Mediziner verantworten. Durch das
mehrmalige Öffnen der Konserven zum Zwecke von Verträglichkeitsprüfungen waren Rahnella-aquatilis-Schmutzwasserkeime in die
Blutbeutel gelangt. Die Dunkelziffer der Todesfälle durch verseuchte
Blutkonserven soll noch höher liegen.1016
Infektion durch Ärzte und Heilpraktiker
HOFFMANN weist darauf hin, dass infizierte Ärzte jedes Jahr mehr
als 1000 Patienten mit Hepatitis B anstecken. Besonders gefährdet
seien Patienten in chirurgischen, zahnärztlichen und gynäkologischen Arztpraxen sowie bei Heilpraktikern. 1017
Nach einer Freiburger Studie ist knapp ein Prozent des medizinischen Personals infiziert.
Das Robert-Koch-Institut hält die errechnete Zahl für spekulativ.
Mehr als 1000 Patienten sind im niederrheinischen Krankenhaus
Kleve zwischen 1990 und 1994 von einem infizierten Chirurgen
einer Hepatitis-B-Infektion ausgesetzt worden. Krankenhauspersonal
ist nicht verpflichtet, sich gegen Hepatitis B impfen zu lassen. Neun
1014
SZ, 187,1999, S. 14
SZ, 151, 1999, S. 12
1016
SZ, 10, 1998, S. 12
1017
MM, 161, 1999, S. 1
1015
527
von zehn Mitarbeitern machen vom Angebot einer Schutzimpfung
Gebrauch.1018
Todesfälle durch Hygienemangel
Nach Schätzungen von SCHMIDT-BURBACH sterben jährlich etwa
40 000 Patienten, weil sie sich im Krankenhaus als Patienten infiziert
haben. Etwa 30% der jährlich 450 000 bis 900 000 Infektionen könnten durch verbesserte Hygiene vermieden werden.1019
Antibiotika – unempfindliche „Superkeime“ in Krankenhäusern
können auf Handtüchern und Baumwollkleidung monatelang überleben und auch übertragen werden. Auch auf Polyester (Trennvorhänge) kann das Bakterium des Stamms Staphylokokkus aureus bis zu
sieben Wochen überleben. Besonders immungeschwächte Patienten
sind durch sie hochgradig gefährdet. In Deutschland könnten jährlich
etwa 400 000 Klinikinfektionen durch eine bessere Hygiene verhindert werden. Insgesamt infizieren sich etwa 800 000 Patienten jährlich in deutschen Krankenhäusern.1020
Asthma-Anfälle durch Schmerztabletten
Häufiger als bisher vermutet, werden Asthma-Anfälle offensichtlich
durch Schmerztabletten ausgelöst. SCHMITZ1021 stellte 500 AsthmaPatienten vor, bei deren Krankheit der Wirkstoff Acetylsalicylsäure
(ASS) eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Bei 80% dieser Patienten begännen die Beschwerden mit einer Entzündung der Nasenschleimhaut, etwa zwei Jahre später trete Asthma auf. Nach weiteren
drei Jahren entwickelten die Patienten dann das so genannte ASSAsthma. Rund 70% der Betroffenen seien Frauen.
1018
MM, 244, 1999, S. 9
MM, 146, 1999, S. 3
1020
New Scientist, Nr. 227 und MM, 53, 2000, J 4
1021
MM, 73, 2001, S. 9; SCHMITZ ist Pneumologe der Hochgebirgsklinik Davos-Wolfgang in Graubünden/Schweiz.
1019
528
Todesfälle durch Nebenwirkungen von Medikamenten
In Deutschland werden jährlich etwa 800 Millionen Arzneimittel
verordnet. Die Zahl der Fallberichte über schwere Nebenwirkungen
von Arzneien, die jedes Jahr beim Bundesinstitut für Arzneimittel
und Medizinprodukte (BfArM) eingehen, wird mit 9000 bis 10 000
angegeben. Die Zahl der Fälle, die zu lebensbedrohenden Zuständen
oder zu Dauerschäden geführt hat, wird auf ein Vielfaches geschätzt.
1022
KELLY analysierte 1520 Fallberichte der letzten 20 Jahre aus medizinischen Fachzeitschriften über schwere Nebenwirkungen von Medikamenten.
Von 1520 Fällen mit
schweren Nebenwirkungen
Lebensbedrohliche Nebenwirkungen
Todesfälle
Dauerhafte gesundheitliche
Beeinträchtigungen (meist Gehirn,
Augen und Ohren)
Anzahl
846
447
227
Viele dieser Fälle hätten nach KELLY verhindert werden können
durch:





bessere Untersuchung der Patienten
bessere Überwachung
mehr Labortests der Blutwerte
genauere Dosierung der Medikamente (in 15% waren Irrtümer
in der Medikation verantwortlich)
richtigen Einsatz der Medikamente.
Auch Doppelverordnungen sich gegenseitig ungünstig beeinflussender Arzneien führen häufig zu schweren Nebenwirkungen.1023 HAGEMANN (BfArM) geht davon aus, dass vor allem die Patienten
von schweren Nebenwirkungen häufiger betroffen sind, die:
 mehr als ein Arzneimittel einnehmen
1022
SZ, 203, 2001,V2 /7; KELLY arbeitet an der Mercer-Universität
in Atlanta, USA; auch in: American Journal of Health-System
Pharm, Bd. 58, 2001, S. 1406
1023
British Medical Journal, Bd. 323, 2001, S. 427
529


unter mehr als einer Erkrankung leiden
unter Nieren- und Leberfunktionsstörungen leiden.
KELLY geht davon aus, dass auch genetische Faktoren bei dem
Auftreten von großer Bedeutung sind.
Im Jahr 1998 mussten in den USA fünf Medikamente wegen tödlicher Nebenwirkungen vom Markt genommen werden. Das deutsche
Meldesystem wird im Vergleich zum amerikanischen als eher lückenhaft angesehen. Auch die Meldequote hält sich in Grenzen.
FRÖLICH nennt die jährliche Zahl von etwa 25 000 Todesfällen
durch unerwünschte Arzneimittelwirkung. Etwa 500 000 Patienten
werden aufgrund dieser Nebenwirkungen in eine Klinik eingewiesen.
Die meist nur 33 000 leichten Fälle wurden gemeldet.1024
CASCORBI stellt fest, dass mit den 25 000 Todesfällen damit mehr
Menschen als bei Unfällen im Straßenverkehr (8000) gestorben
seien. 1025
Die mögliche Häufung von Selbstmorden nach Einnahme einer Arznei wird zurzeit ebenfalls untersucht. Durch diese unerwünschten
Nebenwirkungen werden jährlich Kosten von „vielen Milliarden
Mark“ verursacht.1026
Akne-Medizin: „Accutane“
Dieses Mittel stand bereits im Mittelpunkt einer KongressUntersuchung, da sich bei Patienten Fälle von Depressionen und
Selbstmord gehäuft haben.1027 Neuere Vermutungen gehen davon
aus, dass der 15-jährige Charles Bishop, der mit einem Kleinflugzeug in einen Wolkenkratzer in Tampa (Florida) gerast war, dieses
Medikament einnahm.
1024
SZ, 90, 1999, V2 /15
MM, 22, 1999, S. 1
1026
FRÖLICH in MM, 85, 1999, S. 1
1027
MM, 8, 2002, Weltspiegel
1025
530
Trotz „guter Erfahrungen“: Brustkrebstote durch
Hochdosis-Chemotherapie
In Fachzeitschriften werden fast wöchentlich Studien veröffentlicht,
in denen die Wirkungslosigkeit vielversprechender Therapien belegt
wird.
In der ersten Hälfte der 90er Jahre begannen Ärzte immer mehr aufgrund von einzelnen positiven Fallberichten die HochdosisChemotherapie bei Frauen mit Brustkrebs zu favorisieren. Nicht
selten erhielten die Patientinnen so hohe Dosen der Chemotherapeutika, dass gleichzeitig Transplantationen mit blutbildenden Zellen
durchgeführt werden mussten, um den Tod hinauszuschieben. Diese
sehr lukrative Therapie führte zu einem Run auf viele Kliniken.
Vergleichsstudien zeigten jedoch folgendes Ergebnis:
Alle Frauen, die die Strapazen der Hochdosis-Chemotherapie
auf sich genommen hatten, lebten im Durchschnitt keinen Tag
länger als die konventionell behandelten Frauen.
JONITZ: „ Die Therapie entpuppte sich als teurer Irrtum.“ 1028
Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen:
„Killermedikamente“?
Kardiologen empfahlen Ende der 80er Jahre Patienten mit Herzrhythmusstörungen häufig zwei bestimmte Medikamente. Durch eine
Vergleichsstudie stellte sich heraus, dass in der Gruppe von Patienten, die mit diesen Mitteln behandelt wurden, doppelt so viele starben wie in der Gruppe ohne Therapie. In den USA waren wegen
„guter Erfahrungen“ bereits 800 000 Patienten mit diesen Medikamenten behandelt worden. Dieser Irrtum hat möglicherweise Zehntausende vorzeitig das Leben gekostet. 1029
JONITZ: „Wir können bei keiner Therapie sicher sein, ob sie nutzt,
schadet oder überflüssig ist, solange man sie nicht wissenschaftlich
erprobt hat.“1030
1028
SZ, 203, 2001,V2 /7; JONITZ ist Präsident der Berliner Ärztekammer.
1029
SZ, 203, 2001,V2 /7
1030
Weitere Informationen unter: Deutsches Netzwerk
531
„Medicus curat, natura sanat.“
Der Arzt behandelt, die Natur aber heilt!
Todesfälle durch „Lipobay“1031
Grundsätzlich verringern cholesterinsenkende Medikamente eine
bestimmte Form des Blutfetts LDL (ein Fett-Eiweiß-Komplex), das
in der Leber gebildet wird. Dieser Komplex kann sich in den Wänden der Blutgefäße festsetzen, dort ranzig werden und die Arterien
verkalken.
Die neuen „Cholesterinsenker“ werden Statine genannt (Lipobay,
Baycol, Staltor, Choltstat).
Eine starke Überdosierung kann zu einem Zerfall der Muskelzellen
führen.
Der Inhalt der Muskelzellen (der toxische Farbstoff Myoglobin)
gelangt in die Blutbahn und führt zu einer Verstopfung der Nierenkanäle; dies wiederum kann zu einem akuten Nierenversagen führen.
Gemeldete
Verdachtsfälle
Todesfälle
BRD
90
Spanien
40
Frankreich
29
USA
4
3
1
31
Allein in der Bundesrepublik Deutschland sind inzwischen 90 Fälle
von Muskelzerfall durch die Einnahme des cholesterinsenkenden
Mittels Lipobay registriert worden. In den USA werden gleichzeitig
31 entsprechende Todesfälle untersucht. Allein 29 der Todesfälle
sind auf ein akutes Nierenversagen der mit Lipobay behandelten
Patienten zurückzuführen.
Evidenzbasierte Medizin: www.ebm-netzwerk.de und PatientenInformationsdienst der Ärztlichen Zentralstelle Qualitätssicherung:
www.patienten-information.de
1031
MM, 183, 2001, S. 3; SCHULZ von der Bundesvereinigung
deutscher Apotheker-Verbände (ABDA) in Eschborn; BELZ ist
Professor bei der Deutschen Gesellschaft für klinische Pharmakologie und Therapie.
532
In den vergangenen Jahren wurden immer wieder ähnliche Mittel
vom Markt genommen, nachdem schwere Nebenwirkungen beobachtet wurden.
Im Juni 1999 wurde der Vertrieb des Antibiotikums „Trovan“ gestoppt, nachdem weltweit zuvor 100 Fälle von schweren Leberschäden nach dessen Einnahme aufgetreten waren.
Inzwischen wurde auch das französische Medikament „Zenas“ vom
Markt genommen.1032
SCHULZ rät Patienten, die in Deutschland „Lipobay“ einnehmen,
umgehend Kontakt mit ihrem Arzt aufzunehmen. Es gebe keinen
Grund zur Panik. BELZ nennt als Alternative zu diesem Medikament
den Wirkstoff Pravastatin, der so gut wie frei von Nebenwirkungen
sei.
Die Informationspolitik des Bayer-Konzerns wird von der bundesweiten Verbraucher-Initiative als „verantwortungslos“ bezeichnet.
Bereits im Juni wurde von Bayer ein sogenannter „Rote-Hand-Brief“
verschickt.
Weltweit wurde das Medikament „Lipobay“ zuletzt von etwa 6 Millionen Menschen eingenommen. Durch die Rücknahme vom Markt
erwartet der Bayer-Konzern Ergebniseinbußen von ca. 1,3 Milliarden
Mark.1033
Medikamenten-Nebenwirkungen bei der Behandlung von
Krebspatienten
Die Behandlung und Einweisung in eine Klinik wegen der Nebenwirkungen von Medikamenten nimmt ständig zu. Allein bei Krebserkrankungen kostet nach HAGER die Behandlung von Nebenwirkungen fast doppelt so viel wie die eigentliche Therapie.1034 Zudem seien die Leistungen nach Aussagen der Ärzte für Erfahrungsheilkunde in der so genannten Schulmedizin bei der Behandlung
chronisch Kranker oft nicht befriedigend. Die Kosten im Gesundheitswesen könnten durch eine Förderung biologischer und naturheilkundlicher Methoden erheblich gesenkt werden.
1032
MM, 183, 2001, S. 1
MM, 182, 2001, S. 28
1034
MM, 250, 2001, S. 1; HAGER ist Vize-Vorsitzender der Gesellschaft für Onkologie.
1033
533
Todesfälle durch falsche Methadonbehandlung
Nach SERVAIS/ERKENS1035 sterben etwa 10% Drogensüchtige
durch fatale Fehler der Ärzte beim Verordnen des Heroinersatzmittels Methadon. ERKENS: „Die Dunkelziffer ist hoch, weil die Todesursache oft nicht genau festgestellt und dokumentiert wird.“
Über nicht seltene Vergiftungen der Familienangehörigen von Drogensüchtigen mit Methadon berichten PÜSCHEL/SCHMOLDT.
Rinderbestandteile in 70% aller Medikamente
Nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen besteht jedoch
kein Risiko, sich durch Tabletten mit BSE zu infizieren. SICKMÜLLER: „Nach menschlichem Ermessen sind Arzneimittel
sicher . . . Ein großer Sicherheitsfaktor sind dabei hohe Temperaturen. Bei 200 Grad wird der Erreger nach allem, was man
weiß, zerstört.“1036
Rinder aus Hochrisiko-Ländern wie Großbritannien würden grundsätzlich nicht verwendet.
Schon seit zehn Jahren werde die Gefahr einer BSE-Übertragung
durch Medikamente bekämpft.
„Es war ja nicht auszuschließen, dass eine Übertragung stattfinden kann.“
Todesfälle durch die schlechte Handschrift von Ärzten
In den USA wird die schlechte Handschrift von Ärzten für jährlich
bis zu 100 000 Todesfälle verantwortlich gemacht.
Das US-amerikanische Institute of Medicine erklärte, dass sowohl
medizinische Fehler als auch die auf unleserlicher Schrift basierenden Fehlinformationen zum Tod von zahllosen Patienten führen.1037
Eine große Klinik in Los Angeles habe deshalb alle Ärzte angewiesen, Kurse zur Verbesserung ihrer Handschrift zu belegen.
1035
SZ, 229, 1998, V2 /12; Desiree SERVAIS und ERKENS sind
Rechstmediziner an der TH Aachen; PÜSCHEL/SCHMOLDT sind
Rechtsmediziner in Hannover.
1036
SZ, 279, 2000, S. 5; Professor Barbara SICKMÜLLER ist
Geschäftsführerin des Bereichs Medizin und Pharmazie beim BPI
(Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie).
1037
SZ, 114, 2000, S. 16
534
Schädigungen durch Impfungen
Siehe dazu die entsprechenden Meldungen in: Die unendliche Geschichte der Impfungen
Schäden durch verseuchte Augenspülmittel
Eine bakteriell verseuchte Lösung verursachte bei mindestens 34 am
Grauen Star operierten Patienten eine schwere Augenvereiterung.
Ursache dafür war ein in Deutschland hergestelltes, steriles Medizinprodukt.1038
Schäden durch Fehler bei der Geburtshilfe
Eine Analyse der DAK an 500 Verdachtsfällen im Zeitraum von
1983 bis 1989 ergab, dass die Ärzte in 62 Fällen bei der Geburtshilfe
Fehler gemacht hatten. So sei jeder 10. Geburtsschaden mit schweren gesundheitlichen Folgen auf einen Arztfehler zurückzuführen.1039
Über 80% der Gehirnschäden bei Babys entstehen nach WENZ bereits lange vor der Geburt.
Ist der Sauerstoffgehalt des Blutes unmittelbar nach der Geburt zu
niedrig und zeigte das CTG auch während der Geburt einen Sauerstoffmangel an, so ist eine Mitschuld des Arztes auszuschließen. Mit
Hilfe von computertomographischen Methoden oder von Kernspinresonanzuntersuchungen, die von Kinderneurologen am kindlichen
Schädel durchgeführt werden, ist es möglich, ein geburtshilfliches
Missmanagment zu erkennen. Die Krankenkassen sorgen für ein
kompetentes Gutachten.1040
Schäden durch Röntgenstrahlen
MENDELSOHN weist darauf hin, dass das „gefährlichste, durchdringendste Diagnosewerkzeug“ des Arztes das Röntgengerät sei.1041
Vor allem die kindliche Leukämie steht in einem exakt nachgewiesenen Zusammenhang mit vorgeburtlichen Röntgenbestrahlungen.
Wissenschaftler haben vor dem amerikanischen Kongress in einer
1038
MM, 146, 1999, S. 1, und SZ, 147, 1999, L 2
MM, 5, 1998, S. 3 und 1
1040
SZ, 11, 1998, II
1041
MENDELSOHN, 1993, S. 5
1039
535
Anhörung darauf aufmerksam gemacht, dass genetische Schädigungen sowohl bei der jetzigen als auch bei der nachfolgenden Generation durch Bestrahlungen des unteren Körperbereichs auftreten können. In den USA werden die jährlichen Todesfälle, die in direktem
Zusammenhang mit medizinischen oder zahnmedizinischen Röntgenanwendungen stehen, auf 4000 geschätzt.
Es ist Kassenärzten in Deutschland offiziell nicht erlaubt, gesunden
Frauen eine Früherkennungs-Mammographie anzubieten. Die Kassen bezahlen das Röntgen der Brust nur, wenn ein „konkreter Verdacht“ auf eine Krankheit besteht. Insider schildern, dass dieses
Verbot täglich unterlaufen wird, indem Ärzte einen Verdacht konstruieren – ein roter Fleck reicht schon. Bisher haben die Kassenund Ärztevereinigungen keine konkrete Vorstellung davon, wie viele
solcher verdeckten Untersuchungen jährlich durchgeführt werden.
Schätzungen gehen von bis zu 90% aus. Wegen der fehlenden Spezialausbildung der deutschen Ärzte existiert eine so hohe Fehlerrate,
dass die Frauen sich kaum Hoffnung machen können, ihr Risiko, an
Brustkrebs zu sterben, durch eine Mammographie zu verringern. Zu
oft jagen schlecht ausgebildete Ärzte den Frauen mit Verdachtsdiagnosen Angst ein, wobei der falsche Verdacht erst durch eine unnötige Operation bestätigt werde. Bei tatsächlichen Erkrankungen werden andererseits zu viele Tumore übersehen. Im Jahr 1992 wurde
erstmals ein Mammographie-Gesetz eingeführt. Die Hälfte der
Röntgenärzte erhielt damals zunächst keine Zulassung.1042
In Deutschland ist nach Angaben der Ersatzkassenverbände etwa die
Hälfte aller Röntgenuntersuchungen nicht notwendig.1043
Nach KAUFFMANN wird in Deutschland mit jährlich 100 Millionen Röntgenuntersuchungen zu viel geröntgt. Auf die Hälfte der
Aufnahmen könnte verzichtet werden. An der Qualität der Behandlung ändere sich dadurch nichts, zudem könnten 800 Millionen Mark
eingespart werden. Statistisch gesehen werde jeder Bundesbürger
1,24 Mal im Jahr durchleuchtet. Die Ursache dafür liegt in der Tatsache begründet, dass jeder Arzt in Deutschland, im Gegensatz zu
sämtlichen anderen Ländern, nach einer kurzen Zusatzausbildung
„nebenbei“ röntgen dürfe.1044
1042
SZ, 131, 2001, S. 1
MM, 238, 1999, S. 1
1044
MM, 109, 1999, S. 1; KAUFFMANN ist Präsident der
Deutschen Röntgengesellschaft.
1043
536
Die Röntgen-Ärzte fordern im Gegensatz dazu MammographieUntersuchungen bereits ab dem 40. Lebensjahr. Einer schwedischen
Studie zufolge verringere sich der Anteil der tödlich verlaufenden
Erkrankungen um mehr als ein Drittel, wenn ab dem 40. Lebensjahr
geröntgt werde.1045
Auch hier zeigt sich eines sehr deutlich: Jeder sieht ein bestimmtes
Problem nur aus seiner Perspektive. Schnell sind „wissenschaftliche“
Studien und Belege zur Hand, welche entgegengesetzte Standpunkte
unglaubwürdig erscheinen lassen. Es ist als sehr unwahrscheinlich
anzusehen, dass ein freiberuflich arbeitender Mensch Maßnahmen
ergreift, die zugleich sein Einkommen vermindern würden. So kann
ein Röntgenarzt, dessen wichtigstes Instrument nun einmal das
Röntgengerät ist, nicht zu weniger Röntgennaufnahmen raten.
Jeder Mensch kann sich nur durch die Informationen aus verschiedenen Blickwinkeln sein eigenes Weltbild konstruieren und dann der
entsprechenden Überzeugung nach handeln. Es gibt dort keine alleinige allgemein gültige Wahrheit, wo das Leben und die Lebensbedingungen sich ständig ändern.
Wir wissen noch viel zu wenig und können viel zu wenig von den
unendlich vielen Faktoren überschauen und in ihren gegenseitigen
Wechselbeziehungen und der sich daraus ergebenden Wirksamkeit
erfassen, um allgemein gültige Aussagen darüber zu treffen, was im
Einzelfall gut und schlecht, richtig und falsch ist.
Noch ist nicht geklärt, ob ionisierende Strahlen dauerhafte Spuren in
Form von Schäden im menschlichen Erbgut hinterlassen. Eine britische Untersuchung an 36 000 Kindern von Arbeitern, die ständig
einer bestimmten Strahlendosis ausgesetzt waren, erbrachte keine
Hinweise auf Erbschäden.1046 Wir wissen jedoch nichts darüber, ob
und wie weitere Generationen betroffen sind.
Andere Studien wiederum machen deutlich, dass möglicherweise der
Zeitraum vor der Befruchtung eine wichtige Rolle spielt. So wurde
im Tierversuch festgestellt, dass bei den Enkeln betrahlter MäuseGroßväter eine langsamere Zellteilung stattfindet. Welche Folgen
das für den wachsenden Organismus hat, und ob die Ergebnisse der
1045
MM, 108, 1999, S. 3
British Medical Journal, Bd. 315, 1997, S. 1181, in SZ 5, 1998,
S. 24
1046
537
Tierversuche auf den Menschen übertragbar sind, ist noch nicht
geklärt. Sowohl WILEY als auch MÜLLER ziehen mit Sicherheit in
Betracht, dass Strahlenschäden an die nächste Generation weitergegeben werden können. Möglicherweise sind bei den Schädigungen
Reparatursysteme betroffen, die das Erbgut nach einer Schädigung
normalerweise wieder herstellen.
Seit 1998 gibt es am Schwabinger Krankenhaus Durchleuchtungsund Aufnahmeverfahren, die eine 90%ige Einsparung der Strahlenbelastung ermöglichen. FÄRBER spricht von „einer enormen Strahlenreduktion“ durch die neuen Verfahren. 1047
Mit anderen Worten ausgedrückt bedeutet das, dass bei den herkömmlichen Verfahren eine erhebliche Strahlenbelastung auftritt.
Nach KÜBLER/HÖLZEL kann eine wirksame Brustkrebsfrüherkennung unter 40 Jahren bisher weltweit nicht belegt werden.
Von 100 000 Frauen erkranken heute in der Altersgruppe zwischen
25 und 40 Jahren etwa 25 an Brustkrebs. Keine anerkannte Methode
ist in der Lage, dies zu erkennen. Der Nutzen einer qualitätsgesicherten Mammographie im Alter zwischen 50 und 70 Jahren wird behauptet.1048
Wie bei allen Studien und wissenschaftlichen Forschungsergebnissen
ist immer entscheidend, wer die Studie in Auftrag gegeben und bezahlt hat und welche Vereinbarungen bezüglich einer Veröffentlichung getroffen wurden.
Grundsätzlich ist eine wissenschaftliche Absicherung nicht möglich,
da geringfügig veränderte Bedingungen zu anderen Ergebnissen
führen und grundsätzlich in Frage zu stellen ist, ob jemals überhaupt
gleiche Bedingungen herrschen können.
Auch ist nicht auszuschließen, dass Brüste fälschlicherweise bestrahlt werden. So wurde einer Frau über den Zeitraum von vier
Wochen die gesunde anstatt der operierten Brust bestrahlt. Ihr wurde
ein Schmerzensgeld in Höhe von 40 000 DM zugesprochen.1049
1047
SZ, 59, 1998, S. 40; Professor FÄRBER ist Leiter der Kinderröntgenabteilung im Krankenhaus München-Schwabing.
1048
SZ, 273, 1998, L 5
1049
MM, 19, 2000, S. 7; (Az: 3 U 84/99), Oberlandesgericht Hamm
538
Das Bundesamt für Strahlenschutz weist darauf hin, dass die Strahlenbelastung durch medizinische Untersuchungsmethoden in den
vergangenen Jahren um 25% gestiegen und zudem höher als in anderen europäischen Ländern sei. 50% aller Röntgenuntersuchungen
gelten als überflüssig, werden aber dennoch durchgeführt, weil entsprechend teuere Geräte dazu verführen, „Ammortisationsuntersuchungen“ durchzuführen.
Strahlenschützer weisen darauf hin, dass die Ärzte nichtstrahlende
Diagnosemethoden zu wenig einsetzen und oftmals Risiko und Nutzen nicht abwägten. Ihnen wird vorgeworfen, leichtfertig zu handeln
und die Gesundheit der Patienten zu gefährden.
Experten vermuten, dass der sorglose Einsatz – auch von veralteten
Geräten – zu jährlich Tausenden von Krebserkrankungen führen. Die
durchschnittliche Belastung habe sich von 1,5 auf 2 Millisievert pro
Person und Jahr erhöht. Eine herkömmliche Röntgenaufnahme ist
einer Strahlendosis von 0,3 Millisievert gleichzusetzen. Dies wiederum entspricht einem Achtel der natürlichen Strahlenbelastung pro
Jahr. Eine Belastung von etwa 27 Millisievert tritt bei einem Computertomogramm des Bauchraumes auf. KUNI fordert einen kritischeren Umgang „mit dieser scharfen Waffe der Medizin“. Nach seiner
Schätzung erkranken in Deutschland jährlich bis zu 50 000 Menschen an Krebs, weil sie Jahre zuvor durch medizinische Untersuchungen mit Röntgenstrahlen belastet wurden. Die unzureichende
Ausbildung der Radiologen und die veraltete Ausstattung tragen
nach Meinung von Fachleuten ihren Teil zu dieser Entwicklung bei.
Nach Ansicht von Experten ist zudem jede fünfte Röntgenaufnahme
so schlecht, daß sie kaum auszuwerten ist.1050
KUNI erklärt zu der gewaltigen Zahl von 50 000 Krebserkrankungen pro Jahr:
„Das ist natürlich eine grobe Schätzung. Sie ergibt sich aus dem
Vergleich der Strahlendosis, die die Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki abbekamen, mit der jährlichen Dosis durch
Röntgenuntersuchungen. Dabei muss man aber berücksichtigen, dass
die relative biologische Wirksamkeit der Röntgenstrahlung viermal
größer ist als die der Atombomben. Röntgenstrahlen richten also
viermal so viel Schaden im Gewebe an.“1051
1050
SZ, 177, 2000, S. 1 und 4; KUNI ist Professor für Nuklearmedizin in Marburg.
1051
Interview in der SZ, 181, 2000, V2 /8
539
KUNI weiter zur Praktik des Röntgens in Deutschland:




An der Spitze der fragwürdigen Röntgenaufnahmen stehen die
der Lunge bei gesunden jungen Menschen, die eine Arbeitsstelle
antreten.
Das zweite typisch Überflüssige sind Schädelaufnahmen bei
Kleinkindern, wenn sie sich den Kopf angeschlagen haben.
Das dritte typische Beispiel sind die Panorama-Aufnahmen von
Zähnen; sie werden häufig gemacht, auch wenn es nur um einzelne Zähne geht, und sie sind mit einer deutlich höheren Strahlenbelastung verbunden als Einzelaufnahmen; Untersuchungen
aus Chicago belegen, dass bösartige Tumore, wie zum Beispiel
Speicheldrüsenkrebs, gehäuft bei Menschen auftreten, die mehrfach zahngeröntgt worden sind. Und das, obwohl das Zahnröntgen zu den weniger strahlenintensiven Verfahren gehört.
Die Computertomographie belastet in der Regel sehr viel stärker
als das Röntgen.
Durch die Benutzung veralteter Röntgengeräte (mehr als 40%) können nach EDER1052 bei Bedienungsfehlern oder Störfällen durch die
dort vorhandene Belichtungsautomatik und die fehlende Sicherheitsschaltung (ein Gerät mit dieser Sicherung schaltet nach 30 Millisekunden ab, wenn eine mehrfach gefaltete Bleischürze geröntgt wird)
gegen Überexposition Strahlungen in bis zu 500-facher Höhe auftreten. Hochrechungen haben ergeben, dass bundesweit pro Jahr zwischen 30 000 und 50 000 Röntgenaufnahmen mit einer Dosis, die
weit überhöht ist (mehr als das Zehnfache einer Normalaufnahme),
durchgeführt werden. Als Ursache dafür werden technische oder
bedienungsbedingte Störfälle angegeben.
EDER: „Das ist Körperverletzung.“
LAUTERBACH: 1053
„In Deutschland lassen etwa 4 Millionen Frauen pro Jahr eine
Mammographie anfertigen, allerdings meist in Praxen, die europäi1052
SZ,123, 2001, S. 59 ; EDER arbeitet am Bayerischen Landesamt
für Arbeitsschutz, Arbeitsmedizin und Sicherheitstechnik (LfAS).
1053
SZ, 244, 2001, V2 /12; LAUTERBACH ist Professor und
Mitglied des Sachverständigenrats für die konzertierte Aktion im
Gesundheitswesen.
540
schen Qualitätsstandards nicht genügen. Das ist riskant, weil es oft
zu „falschpositiven“ Befunden kommt: Ärzte schöpfen einen Verdacht, wo keiner besteht. Der Sachverständigenrat geht davon aus,
dass in Deutschland jährlich 100 000 unnötige Brustoperationen
stattfinden, weil Mammographie-Aufnahmen falsch beurteilt werden
. . . Die meisten Ärzte wissen ja nicht einmal selbst, wie oft sie
falschpositive Diagnosen stellen.“
Im Vergleich zu ihren europäischen Kollegen zeigen sich die deutschen Ärzte deutlich röntgenfreudiger. Bei den Krankenkassen wurden folgende Untersuchungen abgerechnet:
1994
1997
83,15 Millionen
84,4 Millionen
Pro Kopf und Jahr ergibt das 1,24 Untersuchungen in Deutschland.
In Großbritannien, den Niederlanden, Dänemark und Schweden wird
nur halb soviel geröntgt.
REISER weist darauf hin, dass das Risiko, später Krebs zu kriegen,
überschätzt werde: „Es gibt dafür keinen Beweis, nur Hochrechnungen. . . . In Deutschland haben wir auch mehr Ultraschalluntersuchungen als in Europa und den USA zusammen.“ Große internationale Studien zeigten deutlich die Senkung der Brustkrebssterblichkeit um 30%. REGULLA: „Ein strahlenbedingtes Risiko nimmt im
Alter jedoch deutlich ab.“1054
Das bedeutet aber, dass Kinder und Jugendliche durchaus durch die
angesprochenen Untersuchungen hochgradig gefährdet sind.
EDER vertritt die Meinung, dass „ionisierte Strahlung“ aus Kernkraftwerken, die im Verdacht steht, für die hohe Krebsrate bei Kindern in der Nähe von Kernkraftwerken verantwortlich zu sein, im
Vergleich zur Belastung aus anderen Quellen „völlig unerheblich“
sei. Sie machten nur ein Tausendstel anderer „Einwirkungsgrößen“
aus. So seien zudem noch die natürliche Strahlenbelastung, transatlantische Flugreisen, Röntgenuntersuchungen, eventuell auch Elektrosmog und anderes möglicherweise verantwortlich und mit zu be1054
MM, 178, 2000, S. 3; REISER ist Professor für Radiologie in
München; REGULLA arbeitet am Institut für Strahlenschutz am
GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit.
541
rücksichtigen.1055 Er bestätigt damit direkt die synergistische Wirkung schädlicher Einflüsse und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, seriöse Forschungen in allen diesen Bereichen voranzutreiben, da bei der inzwischen bekannten Vielzahl der Schädigungsmöglichkeiten auch eine Vielzahl von minimalen Dosierungen verheerende Folgen für das Individuum nach sich ziehen kann.
Die Äußerungen der Experten zeigen deutlich, wie internationale
Studien – die kein Laie nachprüfen kann – zur Rechtfertigung angeführt werden.
Bezweifelt jemand solch unbequeme Studien, wird häufig mit folgenden Worten argumentiert:
„Die Studie wirft zur Zeit noch inhaltliche und methodische Fragen
auf“ oder: „Aufgrund des derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes besteht momentan kein Handlungsbedarf.“
Es ist selbstverständlich, dass ein Wissenschaftler keine Sichtweise
pflegen kann, die sein Dasein überflüssig machen würde oder seine
Qualität in Frage stellen könnte. Es geht auch nicht grundsätzlich um
den Nutzen von Untersuchungen oder Therapien. Jeder muss um sein
Überleben in dieser Welt kämpfen und wird eine entsprechende
Sichtweise pflegen und sie mit allen notwendigen Mitteln verteidigen.
Mammographie und Prozentrechnung 1056
Studenten wurden gebeten, den Nutzen von Mammographieuntersuchungen zur Erkennung von Brustkrebs abzuschätzen. Bisher vertreten Ärzte gerne die Meinung, dass durch regelmäßige Mammographieuntersuchungen das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, um 25%
verringert werde.
Tatsächlich sterben jedoch nur vier von 1000 Frauen innerhalb von
zehn Jahren. Dies bedeutet eine „relative Reduktion“ um 25% und
somit, dass durch das Screening nur eine von 1000 Frauen gerettet
werden könnte, während es für die anderen 999 Frauen ohne Nutzen
ist.
1055
SZ, 169, 2001, S. 48; EDER ist Ministerialrat am bayerischen
Umweltministerium.
1056
SZ, 297, 2000, V2 /9
542
Nur jeder vierte Student war in der Lage, bezüglich des Erfolges
eines Mammographie-Screenings das wahre Verhältnis richtig zu
berechnen.
HOFFRAGE: „Solange Gesundheitsorganisationen bei der Aufklärung nur Wahrscheinlichkeiten und relative Risikoreduktion angeben, ist eine wirklich aufgeklärte Entscheidung der Patienten unwahrscheinlich.“
Die Probleme mit der Prozentrechnung können ohne Weiteres auch
auf Wissenschaftler, Juristen und Ärzte erweitert werden. 1057
Augen-Operationen durch Laser-Therapie – eine
Augenwischerei?1058
Eine solche Operation ersetzt die meistens ab dem 40. Lebensjahr
notwendige Lesebrille nicht. Sehschwächen von mehr als 10 Dioptrien können auch durch die Lasertechnik nicht vollständig korrigiert
werden. Vor allem bei jüngeren Patienten muss damit gerechnet
werden, dass sich die Fehlsichtigkeit noch verändert. Ein Lasern ist
in solchen Fällen grundsätzlich nicht zu empfehlen. Durch einen
„Laser-Eingriff“ wird zwar die Kurzsichtigkeit in der Regel gemildert, das Sehvermögen insgesamt bessert sich jedoch nicht zwangsläufig. Benötigt ein Patient nach einer Operation dennoch eine Brille,
so erweist sich die Anpassung der Sehhilfen als schwieriger.
Bei der Operation oder danach häufig auftretende Probleme erfordern oftmals eine erneute Operation:




1057
Die zurückgeklappte Hornhaut bildet Falten
Entstehung von trübem Fremdgewebe im Sehbereich
Blutzellen in der Schnittstelle
Blendeffekte bei Dunkelheit.
Science, Bd. 290, 2000, S. 2261; HOFFRAGE ist Forscher am
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
1058
SZ, 7, 2000, V2 /11; ZEISBERG ist Augenarzt in Berlin; SEILER ist Arzt und Physiker an der Universität in Zürich. Weitere
Informationen unter: http://www.augeninfo.de
http://www.surgicaleyes.org (Lasergeschädigte berichten);
http://members.aol.com/eyeknowwhy/index.htm (Kritische Info zu
den Laserverfahren)
543
ZEISBERG weist darauf hin, dass es noch nicht viel bedeute, wenn
man sich von einem „zertifizierten Laserarzt“ operieren lasse. Oftmals wird ein Zertifikat nach einer mehrstündigen Übung an
Schweinsaugen oder durch eine abgeleistete Hospitanz erworben.
Auch der Bericht über Befunde und Behandlungsdaten zur Erlangung eines Zertifikats kann nicht verhindern, dass Ärzte mit wenig
Erfahrung operieren oder dass Patienten unsinnigerweise gelasert
werden. SEILER warnt davor, dass Langzeiteffekte insgesamt noch
wenig untersucht seien und sich Komplikationen erst allmählich
entwickeln können, da sich die Biomechanik der Hornhaut erst mit
den Jahren verändert. So kann z. B. eine gelaserte Hornhaut bei einer
Schwangeren unter dem Einfluss der hormonellen Veränderungen
bei Einsetzen der Wehen zerstört werden.
Überflüssige Operationen werden deshalb häufig durchgeführt, weil
die Auslastung der Geräte stimmen muss und eine Operation mehr
Einnahmen verspricht als das Verordnen einer Brille. Es wird von
Insidern berichtet, dass Ärzte, die an bestimmte Laserspezialisten
überweisen, Provisionen erhalten sollen. Auch die zum Teil irreführende Werbung in diesem Bereich trägt dazu bei.
Schmerztherapie1059
Mindestens 5 Millionen Menschen leiden nach Expertenschätzungen
in Deutschland an dauernden schweren Schmerzen.
Nach jüngsten Studien verordnen Ärzte in 75% aller Fälle Heilmethoden, die von Experten nicht empfohlen werden.
Patientenversuche
Alleine in Düsseldorf wurden 1300 Patienten ohne eine erforderliche
vorherige Aufklärung operiert. Die Operationen wurden von zwei
Medizinern im Rahmen einer von der Universität Magdeburg initiierten klinischen Studie ohne die vorgeschriebene Genehmigung
durch die zuständige Ethikkommision vorgenommen. Die Hälfte der
beteiligten Patienten wurde dabei nach Aussage der Staatsanwaltschaft ohne Zugabe von Antibiotika behandelt. Zwei Patienten musste nach einer Infektion mit einem gefährlichen Bakterium das be1059
MM, 237, 2000, S. 1
544
troffene Auge entfernt werden.1060 Ob bei diesen Patienten mit oder
ohne Antibiotika operiert worden war, konnte trotz Auswertung der
Patientenakten, der bei der Studie verwendeten Datenblätter und
einer Befragung der Ärzte nicht festgestellt werden. Auch die Infektionsquelle sei weiterhin unklar. Den Patienten wird empfohlen,
offensiv von den behandelnden Ärzten eine vollständige Aufklärung
einzufordern. Es erweist sich dabei als nützlich, alle Fragen schriftlich festzuhalten. Die Ärzte seien zudem bei größeren Eingriffen per
Gesetz zu einem halbstündigen Informationsgespräch verpflichtet.
Die Anzahl der „heimlichen“ Studien geht nach Schätzungen in die
Tausende. „Die Dunkelziffer von Studien ohne Information der Patienten ist gewaltig.“ Meist würden diese Studien im Auftrag der
Pharmaindustrie durchgeführt, wobei die Mediziner dabei finanziell
und karrieremäßig stark profitieren würden.
Finanzielle Schäden durch doppelte Abrechnung
Der DGB in Bayern hat Kassenärzten „unseriöse Methoden“ bei der
Abrechnungspraxis vorgeworfen. DITTRICH wies darauf hin, dass
einige Ärzte für die gleiche Untersuchung doppelt bei Patienten und
Krankenkassen abgerechnet hätten.1061 Außerdem sollten Kassenpatienten medizinisch notwendige Untersuchungen zunehmend aus
eigener Tasche bezahlen. Ursache für diese Entwicklung sei die
„Gier nach Geld“ und die Ärztedichte in Bayern.
Sechs Zahnärzte und drei Betreiber von Dentallabors wurden wegen
Steuerhinterziehung und Betrugs angeklagt. Zwischen 1987 und
1992 sollen Steuern in Millionenhöhe hinterzogen worden sein. In
2300 Fällen sollen Patienten und Krankenkassen betrogen worden
sein.
So wurden z. B. billige Prothesen, Kronen und Brücken als hochwertiger Zahnersatz deklariert.1062
Im Jahr 2000 stieg die Zahl der Betrugsfälle durch Ärzte um fast
30% auf 17 400 Delikte. Gegen 1600 Verdächtige wird bereits ermittelt. Viele der Rechnungen seien um 15 bis 25% zu hoch. Die Ermitt1060
MM, 85, 2000, S. 10
MM, 85, 2000, S. 1; DITTRICH ist Vize-Präsident des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
1062
SZ, 249, 1999, S. 16
1061
545
ler berichten darüber, dass die Ärzte recht erfinderisch seien. So
rechneten Radiologen überhöhte Kontrastmittel ab, Laborärzte nehmen unnötige Analysen vor, die teuer sind. Hausärzte wollen an
einem Wochenende 150 Notfallpatienten behandelt haben – eine
besonders lukrative Form im Falle eines Betruges.
Manche Mediziner verschaffen sich durch den Tausch von Patientenkarten, in der Absicht, zusätzliche Leistungen abzurechnen, illegale Nebeneinnahmen. Andere Ärzte sind an Pharmaunternehmen
als stille Gesellschafter beteiligt und erhalten Umsatzanteile. Es liegt
auf der Hand, dass dann bevorzugt Präparate eben dieser Firma verschrieben werden.
Sicher trägt auch das undurchschaubare Abrechnungssystem seinen
Teil zu der Misere bei. Detaillierte Rechnungen – nicht nur an Privatversichete – werden von vielen Ärzten aus bürokratischen Gründen abgelehnt.1063
Unnötige Operationen – Entfernung der Gebärmutter –
Hysterektomie
In Deutschland werden jährlich etwa 150 000 Gebärmütter entfernt.
Wegen chronischer Blutungen über den Zeitraum von einem Jahr
trotz hormoneller Behandlung werden davon etwa 30 000 operativ
entfernt.
RÖMER: „Ungefähr die Hälfte der Blutungspatientinnen erträgt
die Operation jedoch umsonst.“1064 Jeder Eingriff dieser Art kostet
etwa 6000 Mark. (Wenn diese Angaben stimmen, könnten somit
Kosten von 450 Millionen Mark eingespart werden.) Bei einer Operation muss vor allem bei Frauen mit Herzproblemen oder bei einer
Thrombose-Neigung eine intensive vorausgehende ärztliche Information erfolgen.
Folgende alternative Eingriffe stehen zur Debatte:
1063
SZ, 179, 2001, S. 21
SZ, 95, 2000, V2 /10; RÖMER ist Gynäkologe an der
Universität Köln.
1064
546
Art des Eingriffs
Endometrium – Ablation oder
Koagulation
Hydrotherm –Ablation (HTA)
„Rollerball“ – und „LaserAblation“
Ballon-Ablation
Beschreibung
Nur örtliche Betäubung; Entlassung
am Tag des Eingriffs
Ein Katheter wird durch den Muttermund in die Gebärmutter eingeführt;
durch eine 90 Grad heiße Kochsalzlösung wird die Schleimhaut zerstört
und verschorft; bisher nur in sechs
Kliniken in Deutschland angeboten.
Bei neun von zehn Patientinnen wurden die Blutungen nach der Behandlung deutlich reduziert; bei 35% wurden keine Blutungen mehr beobachtet.
Bei ungeschicktem Vorgehen kann es
zu Verbrennungen in der Scheide
kommen.
Die Gebärmutterschleimhaut wird mit
einer Elektro-Schlinge bzw. mit einem
Laser Punkt für Punkt verödet
Ein in die Gebärmutterschleimhaut
eingeführter Latex-Ballon wird mit
heißer Flüssigkeit durchspült. Dieses
Verfahren ist mit mehr Schmerzen
verbunden.
Alle oben angeführten Verfahren sind kontraindiziert bei einem
Verdacht auf Myome, Polypen oder Krebszellen in der Schleimhaut.
Bei 10 bis 15% der erfolgreich behandelten Frauen treten die Probleme innerhalb von zwei Jahren erneut auf.
MENDELSOHN weist darauf hin, dass 1975 in den USA 1700 von
787 000 Frauen starben, denen die Gebärmutter entfernt wurde. Im
Jahr 1979 wurden in Amerika etwa 690 000 Hysterektomien vorgenommen, „ . . . und es ist sehr zweifelhaft, ob mehr als ein Fünftel
davon klinisch gerechtfertigt werden könnten – auf der Grundlage von lebensbedrohender medizinischer Notwendigkeit. Das
heißt, dass über eine halbe Million Frauen die Operation aus
Gründen erlitten, die bestenfalls noch zweifelhaft, schlimmeren-
547
falls aber leichtfertig waren.“1065 Untersuchungen von NEWTON
„zeigen jedoch vermindertes sexuelles Verlangen bei 60% der
Frauen, denen Gebärmutter und beide Eileiter entfernt worden
waren. Auch andere Studien haben bestätigt, dass zwischen 20
und 42% der untersuchten Frauen nach der Hysterektomie
überhaupt keinen Geschlechtsverkehr mehr hatten.“
Überflüssige Hormone – Östrogenbehandlung der Frauen
In der weltweit zur Zeit größten Studie1066 testen 27 000 gesunde
Amerikanerinnen Nutzen und Risiken der Hormone. Zwischenbilanz
der Studie nach zwei Jahren:
Gruppe
hormonbehandelt
Placebo
Erwartungen
Verzögerung
des Knochenschwundes
Befürchtungen
Begünstigung
von Thrombosen, Brust- und
Gebärmutterkrebs
Beobachtungen
Eine geringe Zunahme
der Zahl der Herzinfarkte, Schlaganfälle
und Thrombosen;
vor allem bei schlanken
Frauen erhöht die
Hormon-Therapie das
Brustkrebsrisiko;
5 bis 6 von 1000 Frauen erkrankten daran;
abhängig vom Präparat
4 von 1000 erkrankten
an Brustkrebs
Nach einem vertraulichen Bericht an das Bundesgesundheitsministerium ist die in Deutschland weit verbreitete Hormontherapie über
mehrere Jahre hinweg für das Auftreten von mehr als 8000 Fällen
von Brust- und Gebärmutterkrebs pro Jahr verantwortlich.
GREISER et al. berechneten, dass von den etwa 42 000 Frauen im
Alter zwischen 40 und 79 Jahren, die 1998 erstmals an Brustkrebs
1065
MENDELSOHN, 1989, 25, S. 109; Niles NEWTON ist eine
Frau mit Psychiatrie-Professur an der medizinischen Fakultät der
Northwestern University; S. 115
1066
JAMA, Bd. 283, 2000, S. 485
548
erkrankten, bei etwa 5000 der Tumor auf die Einnahme von Hormon-Präparaten zurückzuführen ist. Das trifft somit für jeden achten
Tumor zu. Bei der Entstehung von Gebärmutterkrebs (8700 Fälle)
wird ein Drittel auf die lange Einnahme von Hormon-Präparaten
zurückgeführt.1067
Zwischen 1987 und 1998 hat sich die Zahl der verordneten Tagesdosen durch deutsche Ärzte versechsfacht. In den USA enthalten die
Beipackzettel seit Jahren Hinweise auf das Krebsrisiko. GREISER:
„Offensichtlich muss man die Hersteller zwingen, ehrlich zu
sein.“
Durch eine Fragebogenaktion der AOK an je 10 000 Frauen, die sich
für eine Hormontherapie entschieden hatten, wurde festgestellt, dass
etwa zwei Drittel der Frauen nicht oder nicht ausreichend über das
Risiko aufgeklärt wurde.
RABE:1068 „Die Wahrheitsfindung ist langwierig.“ Ob durch die
Verabreichung von Hormonen tatsächlich das Wachstum von Brustkrebs beschleunigt wird und ob sie in der Lage sind, HerzKreislauferkrankungen aufzuschieben, ist Gegenstand einer derzeitigen Untersuchung. Mehr als 200 Arbeiten zu diesen beiden Themen
müssen ausgewertet werden. Dabei erwiesen sich die meisten Studien weniger zuverlässig als bisher angenommen. Es ist inzwischen
nicht mehr auszuschließen, dass ein verzerrtes Bild von Nutzen und
Risiken der Hormone entstanden ist. Bei den vorliegenden Studien
wurden wichtige Einflussgrößen auf die Gesundheit der Frauen –
allein für die Entstehung von Brustkrebs sind inzwischen 30 Faktoren bekannt – nicht berücksichtigt. RABE geht nicht davon aus, dass
die vorgenommene Literatur-Analyse erheblich zur Wahrheitsfindung beitragen wird.
„Das Ergebnis wird eher sein, dass wir das Ausmaß unserer Wissenslücken erkennen, aber auch das wäre wichtig.“ Insgesamt
zeichnet sich offenbar die Tendenz ab, vorsichtiger mit der präventiven Gabe von Hormonen umzugehen.
Es bleibt somit aus wissenschaftlicher Sicht fragwürdig festzustellen:
1067
SZ, 182, 2000, S. 12; GREISER arbeitet für das „Bremer Institut
für Präventionsforschung und Sozialmedizin“ (BIPS).
1068
SZ, 66, 2001, V2/19; RABE arbeitet an der Universität Heidelberg an einem Projekt zum Nutzen der Hormonersatztherapie.
549



Brustkrebs ist die häufigste Tumorart bei Frauen.
Die auftretenden Fälle sollten registriert sein.
Niemand kann genau Auskunft geben, wie häufig diese Krebsart
wirklich auftritt.
 Zur Zeit werden jährlich ca. 47 000 Patientinnen neu diagnostiziert.
Bisher wurde im schulmedizinischen Betrieb bei der Diagnose
„Brustkrebs“ im Allgemeinen nicht nach folgenden Faktoren gefragt:
 Länge der Stillzeit
 Einnahme von Medikamenten/Hormonen/Antibaby-Pille
 Zahl der Schwangerschaften
 Wohnbereich in der Nähe von Strahlungsquellen.
In Zukunft ist die gemeinsame Einrichtung eines nationalen Brustkrebs-Registers geplant, das in Zusammenarbeit zwischen neun
Frauenarztverbänden und dem Deutschen Krebsforschungszentrum
Heidelberg eine möglichst hohe Anzahl von relevanten Daten sammeln und auswerten soll.
Nach der neuen Lehrmeinung gelten die bislang entdeckten „Brustkrebs-Gene“ als Ursache für eine Häufung der Fälle in einer Familie.
Dies ist das Ergebnis eines Projekts, an dem zwölf deutsche Unikliniken zusammen arbeiteten.
MEINDL:1069 „In den meisten Familien ist es schlicht Zufall, wenn
zwei Frauen erkranken.“ Es wird jedoch nicht mehr als Zufall angesehen, wenn drei oder mehr Tumore auftreten oder zwei der Kranken
jünger als 50 Jahre alt sind. Weitere Ergebnisse der Forschung:


1069
Mittlerweile sind die beiden Brustkrebs-Gene BRCA1 und
BRCA2 bekannt.
Ausländische Studien gingen bisher davon aus, dass fünf bis
acht von zehn Frauen mit Veränderungen an diesen Genen im
Laufe ihres Lebens erkranken, viele schon vor dem 50. Lebensjahr. Diese Genmutationen begünstigen offenbar auch die Entstehung von Eierstockkrebs.
SZ, 66, 2001, V2 /20; MEINDL ist Humangenetiker an der Universität München.
550




Bei 5 bis 10% der jährlich 47 000 Brustkrebsdiagnosen ist eine
ererbte Mutation mit beteiligt.
Von insgesamt 1000 untersuchten Hochrisikopatientinnen war
bei 210 eine Mutation im BRCA1-Gen nachzuweisen, bei 90 eine Mutation im BRCA2-Gen.
Ob bisher unbekannte Gene eine Rolle spielen, ist nicht bekannt.
In den 300 Familien mit Mutationen wurden wiederum 75 verschiedene Mutationen des BRCA1-Gens und 64 Mutationen des
BRCA2-Gens gefunden.
MENDELSOHN zur Einnahme der Antibabypille im Zusammenhang mit der Entstehung von Brustkrebs:
„Das Wirkungsprinzip der Pille besteht darin, in einen natürlichen
Prozess – den Eisprung – einzugreifen, indem man den Körper zu
einer Fehlleistung zwingt. So gesehen wird jede Frau, die die Pille
nimmt, im wahrsten Sinne des Wortes krank gemacht . . . In den
letzten zwei Jahrzehnten habe ich stapelweise Wissenschaftsberichte
zu lesen bekommen, die sämtlich Erkrankungen und Todesziffern
von Frauen betreffen, die die Pille genommen haben. Es hat sich
gezeigt, dass diese Frauen deutlich anfälliger sind für Krebs in der
Gebärmutter und am Gebärmutterhals, in der Brust und der Leber . . .
Aber seit die Frauen angefangen haben, die Pille zu nehmen, ist das
kritische Alter (für Brustkrebs, Anm. d. Verf.) weit unter 30 gesunken. Wissenschaftler, die eine Gruppe von 450 Frauen untersuchten,
stellten zu ihrem Erschrecken 15 Fälle von Brustkrebs bei Frauen im
Alter zwischen 15 und 29 Jahren fest. Die 15 jungen Frauen nahmen
alle die Pille.“1070
Neuere positive Erkenntnisse zur Brustkrebs-Statistik: 1071
52 Studien an insgesamt 160 000 Frauen wurden neu ausgewertet.
Dabei kam man zu folgenden Erkenntnissen:


1070
1071
Etwa neun von zehn Frauen werden bis zu ihrem 80. Geburtstag
nicht an Brustkrebs erkranken.
Selbst wenn Mutter, Schwester oder Tochter bereits an Brustkrebs erkrankten, bleiben die meisten Frauen davon verschont.
MENDELSOHN, 1989, S. 136 bis 137
SZ, 261, 2001, V2 /11; Lancet, 2001, Bd. 358, S. 1389
551




Von 100 Frauen erkranken bis zum 50. Lebensjahr etwa ein bis
zwei an dem Tumor, auch wenn sie keine betroffenen Verwandten haben.
Wenn eine Verwandte erkrankt ist, so sind es statistisch gesehen
vier von 100 Frauen, die erkranken.
Bei der Erkrankung von zwei Verwandten sind es acht von 100
Frauen.
Nur ein bis zwei von 100 Frauen sterben an dem Tumor, bevor
sie 50 Jahre alt werden.
Brustkrebsrisiko im Alter zwischen 50 und 80 Jahren:
 Etwa sechs Frauen müssen laut Statistik mit dieser Diagnose
zwischen 50 und 80 Jahren rechnen.
 Bei Erkrankung einer Verwandten sind es zehn von 100 Frauen.
 Sind zwei Verwandte erkrankt, so sind es 13 Betroffene.
 Bis zum 80. Geburtstag sterben je nach familiärem Risiko drei
bis sieben von 100 Frauen an Brustkrebs.
MENDELSOHN weist unter anderem darauf hin, dass es in den
Jahren von 1940 bis zu den siebziger Jahren auch üblich war, das
synthetische weibliche Hormon Diäthylstilböstrol (DES) „großzügig“ zu verordnen.
„1972 begannen sich dann die Langzeitwirkungen von DES zu zeigen. Bei einigen Frauen, die das Hormon genommen hatten, trat
Brustkrebs auf, bei ihren weiblichen Kindern Scheidenkrebs und bei
den Knaben, die sie seither geboren hatten, genitale Abnormitäten.“1072
Solche Erkenntnisse konnten natürlich nicht in medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht werden, die gleichzeitig durch Werbung
für bestimmte Medikamente finanziert wurden. Die Erkenntnisse
MENDELSOHNS wurden aus einsehbaren Gründen auch nicht in
einem renommierten Medizin-Verlag publiziert. Ethische Gesichtspunkte waren ausschlaggebend, dieses Wissen zu veröffentlichen.
„Die Ärzte, . . . die . . . so entschieden ihre unhaltbaren Standpunkte
verteidigten, bestärkten . . . meine Entschlossenheit, auch weiterhin
alle medizinischen Praktiken aufzudecken, die ich verabscheue.“
1072
MENDELSOHN, 1989, S. 41
552
Durch die Weiterentwicklung und Forschung im pharmazeutischen
Bereich sollten möglicherweise bereits bekannte Schäden ausgeschlossen werden. Es wurde die zweite und dritte Generation der
Pille entwickelt. Folgende Tatsachen sind (auf statistischer Grundlage) zu diesen Medikamenten inzwischen nachzulesen:1073


Pro Jahr entwickeln 15 von 100 000 Frauen, die mit der Pille der
zweiten Generation verhüten, eine Thrombose, die unter Umständen tödlich enden kann.
Bei der Pille der dritten Generation erhöht sich diese Zahl auf 25
pro 100 000.
Diese Erkenntnisse lagen der Pharmafirma Wyeth vor. Die entsprechende Studie wurde jedoch nicht veröffentlicht und RundfunkJournalisten bei der Ankündigung einer Sendung zu diesem Thema
mit juristischen Schritten gedroht.
BECKMANN zur Rechtssituation: Die Firma Wyeth scheint zunächst im Recht, denn es besteht keine Verpflichtung von Pharmakonzernen, ihre Studien zu veröffentlichen. „Unerfreuliche Ergebnisse müssen sie aber an die Behörden weiterleiten. Die Firma selbst
rechtfertigt sich damit, dass die Studie
 keine neuen Ergebnisse vorweisen könne
 und dass sie mangelhaft gewesen sei.
ROSENDAAL dazu: „Ob die Studie es wert ist, entscheidet man,
bevor man sie beginnt . . . Auch wenn nichts Neues dabei herausgekommen ist, ist das Ergebnis von Interesse.“
Es lassen sich grundsätzlich folgende Gesichtspunkte zur Taktik der
selektiven Veröffentlichung von Studien festhalten:
 Studien, die das erhoffte Ergebnis zeigen, werden veröffentlicht.
 Studien mit unerfreulichen oder geschäftsschädigenden Ergebnissen werden zurückgehalten.
 Es gibt vielfältige Argumentationen, auch das Zurückhalten zu
rechtfertigen.
 Die Ergebnisse sind oftmals eine Interpretationssache.
 Ein Rechtsstreit ist oftmals langwierig; bis zu einer Entscheidung – oftmals erst nach mehreren Jahren – wird das Medika1073
SZ, 66, 2001, V2 /21; BECKMANN ist Mitarbeiter am
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.
553
ment ohne Rücksicht auf mögliche Schädigungen weiter verkauft.
Elf von 18 vergleichenden Untersuchungen weisen laut BECKMANN inzwischen ein erhöhtes Thrombose-Risiko für die Pille der
dritten Generation nach. Die Erklärung für dieses Phänomen scheint
vorzuliegen:
Antibabypillen beinflussen den Faktor V der Blutgerinnung. Dieser
wird durch das „aktivierte Protein C“ (APC) gehemmt. Auf diese
Weise können leichter Pfropfen im Blut entstehen.
Bereits 1995 hatten Studien darauf hingewiesen, dass die in den
achtziger Jahren zugelassenen Verhütungsmittel das Risiko von
Thrombosen stärker erhöhen als ältere Präparate. Die Pillen der
dritten Generation unterscheiden sich von der Vorgängergeneration
durch die Auswahl des Gestagen-Hormons. Damals hatte die Bonner
Behörde die Hersteller aufgefordert, in den Beipackzetteln darauf
hinzuweisen, dass einige Hormon-Varianten das Risiko der Entstehung von Blutgerinnseln stärker erhöhen als andere; Frauen unter 30
sollten die Präparate gar nicht einnehmen.1074
Thrombosehäufigkeit pro Jahr:
pro 100 000 gesunde Frauen :
bei Einnahme der Pille der 2. Generation:
bei Einnahme der Pille der 3. Generation:
5 –10
20
30 – 40
Hormone nach Schlaganfall wirkungslos
Frauen, die bereits einen Schlaganfall erlitten, werden durch Hormongaben nicht vor einem weiteren Hirninfarkt geschützt.
664 Frauen mit dem Durchschnittsalter von 72 Jahren nahmen nach
einem Schlaganfall an einer von VISCOLI/HORWITZ 1075 geleiteten
Studie teil, in der Wirkung von 17ß-Östradiol getestet wurde. Die
1074
SZ, 227, 2001, S. 9
SZ, 250, 2001,V2 /13; Catherine VISCOLI und HORWITZ
arbeiten an der Yale Universität in Haven, USA; auch in: New
England Journal of Medicine, 2001, Bd. 345, S. 1243
1075
554
eine Hälfte der Versuchsgruppe bekam täglich ein Milligramm des
Hormons, die andere Hälfte ein Placebo verabreicht.
Die Ergebnisse nach einer Beobachtungszeit von drei Jahren:
Frauen, die mit der Ersatztherapie/Placebos behandelt wurden:
99/93 waren gestorben oder hatten einen weiteren Schlaganfall erlitten.
Die Diskussion darüber, ob Hormone bei jüngeren Frauen eine
Schlaganfall verhindern können, hält an.
Unnötige Tonsillektomien – nur in den USA?
„Mehr als 90% der in den USA vorgenommenen Tonsillektomien
sind technisch unnötig, und doch werden 20 bis 30% aller Kinder
dieser Operation unterzogen. Eines von 1000 stirbt an den unmittelbaren Folgen der Operation, und 16 erleiden schwere Komplikationen. Alle verlieren wertvolle Immunisierungsmechanismen.“1076
„Jahrzehntelang waren Tonsillektomien der Broterwerb der Chirurgen und Kinderärzte in der Chirurgie. In den dreißiger Jahren nahmen die Ärzte 1,5 bis 2 Millionen Tonsillektomien pro Jahr vor . . .
Ich bezweifle, dass bei mehr als einem von 10 000 Kindern dieser
Eingriff notwendig ist, und doch werden pro Jahr noch immer Hunderttausende von Tonsillektomien vorgenommen. Sie führen in 100
bis 300 Fällen zum Tod, und bei 16 von 1000 Operationen treten
Komplikationen auf.“1077
Reihenuntersuchungen an Schulkindern
aus dem Jahr 1934 – ein klassisches Beispiel für die
Voreingenommenheit der Ärzte 1078
Untersuchungen
1. Reihenuntersuchung von 1000
Kindern aus öffentlichen Schulen
1076
Ergebnisse
Bei 61% der Kinder waren die
Mandeln bereits entfernt worden
ILLICH, 1995, S. 80 und 81
MENDELSOHN, 1990, S. 140 und141
1078
Harry BAWKIN in New England Journal of Medicine, 1945, Bd.
232, S. 691bis 697, zitiert in ILLICH, 1995, S. 68
1077
555
New Yorks
2. Untersuchung der 39% durch
eine andere Gruppe von Ärzten
( 39% ohne Befund).
45% dieser Kinder wurde zu
einer Tonsillektomie geraten
(der Rest ohne Befund wurde
nach Hause geschickt).
3. Untersuchung der Gruppe ohne 46% wurde zu einer Entfernung
Befund aus der 1. Untersuchung
der Mandeln geraten
durch andere Ärzte
4. Dritte Nachuntersuchung der
Empfehlung zur Tonsillektomie
Gruppe der 2. Untersuchung
bei einem ähnlichen Prozentsatz.
(Kinder ohne Befund)
Zum Schluss blieben nach drei
Untersuchungsgängen von
1000 Kindern noch 65 übrig,
bei denen die Ärzte keine Tonsillektomie angeordnet hatten.
Unnötige Untersuchungen – Fehldiagnosen und daraus
resultierende Fehlbehandlungen
Ein Test ergab, dass bei Brustkrebs jede zweite Diagnose falsch
ist.1079 Dadurch, dass die Vorsorgeprogramme nicht auf dem neuesten Stand seien, aber auch durch die Anwendung alter Geräte sei der
Tod von 2100 Frauen nicht vermieden worden.1080 Jede zweite Tumordiagnose der an einem Test beteiligten Ärzte sei trotz eindeutiger
Röntgenbefunde falsch gewesen.
Ein Viertel aller Untersuchungen in den USA sind nach einer neuen
Studie unnötig. Etwa die Hälfte aller Komplikationen und 35% aller
Sterbefälle als Folge von Operationen wären nach dieser Studie
vermeidbar gewesen.1081
OHMANN geht in Deutschland davon aus, dass 40% der Diagnosen
bei Erstuntersuchungen falsch waren. Auch nach weiteren Untersuchungen mit Labordiagnosen waren noch 20% der Diagnosen falsch.
1079
MM vom 3. 6. 1994
Monitor, ARD, 2. 6. 1994
1081
SZ, 35, 1998, S. 2; eine Untersuchung der „Public Health
Research Group“; OHMANN ist Leiter des Funktionsbereichs Theoretische Chirurgie der Universität Düsseldorf.
1080
556
„Bei jüngeren Ärzten ist nahezu jede zweite Diagnose falsch, bei
erfahrenen Ärzten immerhin noch jede fünfte.“
In einer anderen Studie des niedersächsischen Sozialministeriums
wird die Behauptung vertreten, dass jede zweite Gebärmutterentfernung überflüssig sei, ebenso 40% aller Eingriffe an Eierstöcken und
Eileitern sowie 30% der Blinddarmoperationen bei Frauen. Jeder
zweite Kaiserschnitt sei nicht notwendig gewesen, wurde bei Untersuchungen an der Universität in Rom festgestellt.
KRUSE verweist auf die Möglichkeit, durch Rückmeldungen der
Kollegen aus allen Fachsparten Fehldiagnosen festzustellen.1082
Auch die Irreführung der Ärzte durch gut informierte Patienten ist
ein Grund für Fehldiagnosen.
Juristen und Ärzte werden wesentlich seltener operiert als der
Durchschnittsbürger. Es lohnt sich auch, bei Ärzten nachzufragen,
welche Impfungen sie selbst erhalten haben und wann und ob sie
regelmäßig – wie empfohlen – aufgefrischt wurden. Ein Blick in den
Impfpass der Ärzte kann Klarheit verschaffen. Jeder Arzt, der die
empfohlene Vorsorge bei sich selbst und seiner Familie nachweisen
kann, ist meiner Ansicht nach glaubwürdig.
Eingriffe an Ärzten und „Normalbürgern“: ein Vergleich nach einer
Schweizer Studie
Art des operativen Eingriffs
Chirurgische Eingriffe allgemein
Mandelentfernungen
Leistenbrüche
Gallenblasenerkrankungen
Normalbürger/Erhöhung in %
33%
47%
53%
84%
Es liegt keine Erklärung dafür vor, warum das so ist.
Medizin und Pharmaforschung – ein ewiger Kreislauf ?
Die Frage, ob die wissenschaftliche Medizin und die Pharmaindustrie in vielen Fällen durch ihre Arbeitsweise und -techniken dafür
1082
MM, 121, 1998, S. 1; Waltraut KRUSE ist Professorin an der
Uniklinik Aachen.
557
sorgt, dass immer genügend Arbeitsfelder vorhanden sind, muss
jeder selbst versuchen zu beantworten.
Ob die Zunahme der Lebenserwartung wirklich dem Konto der Medizin zugerechnet werden darf, bleibt offen. Es ist eine nicht zu
leugnende Tasache, dass sowohl Zivilisationskrankheiten als auch
unheilbare Krankheiten wieder auf dem Vormarsch sind und dass
Glauben und Wissen nicht weit voneinander entfernt sind.
Aufrichtigkeit, minimale Eingriffe in den menschlichen Organismus,
eine gesunde Lebensweise, mehr Verantwortungsbewusstsein auf
Seiten der erziehenden Generation und eine gehörige Portion Skepsis
können möglicherweise schwerwiegenden Schäden vorbeugen.
Millardenschäden durch Betrug im Gesundheitswesen1083
Eine siebenköpfige Arbeitsgruppe, der sich inzwischen rund 60
Krankenkassen angeschlossen haben, ist seit 1998 damit beschäftigt,
dieser Form von Wirtschaftskriminalität Einhalt zu gebieten. Der
aufgedeckte Gesamtschaden wird für das Jahr 2001 alleine für Niedersachsen mit etwa 50 Millionen Mark angegeben. In Bayern gibt
es keine vergleichbare Arbeitsgruppe.
Operationen durch kranke Ärzte
Trotz eines Hirnschadens und offenbar erheblicher psychischer und
physischer Beeinträchtigungen hat ein hirnkranker Chirurg angeblich
weit mehr als 120 Operationen durchgeführt. Bei mindestens einer
Operation erlitt ein Kind aufgrund eines Behandlungsfehlers irreparable Schäden. Die Operationen, an denen er mitwirkte, waren auch
als Teil seiner beruflichen Rehabilitation gedacht.1084
Ein weiterer Chirurg der Universitätsklinik Göttingen verschwieg 24
Jahre lang seine Hepatitis-B-Infektion und operierte in diesem Zeitraum über 4000 Patienten. Mindestens zwei Patienten seien mit der
gleichen Virus-Untergruppe des Arztes infiziert.1085 Die Krankenhausleitung hatte nach Bekanntwerden des Falls dem Arzt gegenüber
das Verbot ausgesprochen, Patienten ohne Impfung zu operieren.
1083
MM, 172, 2001, S. 1
SZ,157, 2001, S. 14
1085
MM, 160, 2001,Weltspiegel; Mitteilung von OPPERMANN,
Wissenschaftsminister, Hannover
1084
558
In Aachen hatte in einem ähnlichen Fall ein Arzt 47 von 2000 Patienten angesteckt.
In diesen Fällen stellt sich die Frage, warum die Ärzte selbst nicht
geimpft waren, wenn Impfungen einen wirksamen Schutz bieten
sollen.
Krankmachende Krankenhausbesuche
Etwa 7% der Patienten, die in ein Krankenhaus eingeliefert werden,
erleiden dort „kompensationsberechtigte“ Schäden. Nur im Baugewerbe oder Bergbau ereignen sich mehr Unfälle als im Krankenhaus,
wenn lediglich Industriezweige berücksichtigt werden. Von 50 Kinder-Patienten stößt einem im Krankenhaus ein Unfall zu, der eine
nachfolgende spezifische Behandlung erforderlich macht. Einer von
fünf in eine Forschungsklinik eingelieferten Patienten muss statistisch damit rechnen, sich ein Leiden zuzuziehen, das durch die Behandlung von Ärzten zugefügt wurde und das in einem von 30 Fällen
tödlich endet.1086
1086
ILLICH, 1995, S. 26 und 27
559
Die fragwürdig geschützte Gesellschaft
Die unendliche Geschichte der Impfungen
EDWARD
JENNER,
die erste
Pockenimpfung
vornehmend
„Ich weiß nicht, ob ich nicht doch einen furchtbaren Fehler gemacht und
etwas Ungeheueres geschaffen habe.“1087
I. KANT befürchtete, dass sich die Menschen durch die Pockenimpfung „zu
sehr mit der Tierheit gleichstellen . . . und sich eine Art Brutalität einimpfen“ könnten.1088
„. . . Bist du sicher, dass diese Impfung dich schützt?“
„Ganz sicher“, erklärte ich.
„Vielleicht sollte ich dich begleiten“, meinte er stirnrunzelnd.
„Das geht nicht – du bist nicht geimpft, und Typhus ist schrecklich ansteckend . . .“ 1089
„. . . Sie müssen morgen ins Spital kommen, um sich impfen zu lassen. Aber
um ein Ende zu machen, und ehe wir die Geschichte anfangen, merken Sie
sich, dass Ihre Chancen davonzukommen, nur eins zu zwei stehen. . . .“1090
„ . . . Die Statistik über die Wirkung der vorbeugenden Impfung war in
seinem Gedächtnis eingegraben. Aber er war unfähig, die wöchentliche Zahl
der Pestopfer anzugeben, und er wusste wahrhaftig nicht, ob die Seuche
zunahm oder zurückging. . . .“ 1091
1087
EDWARD JENNER, zitiert in: ENDERS, 1995, S. 115
zitiert in: KARGER-DECKER,1973, S. 207
1089
Diana GABALDON, Ferne Ufer, 1999, S. 718 und 719
1090
Albert CAMUS, Die Pest, 1956, S. 74
1091
Albert CAMUS, Die Pest, 1956, S. 125
1088
560
Iatrogene Faktoren als Ursachen für Lernbehinderungen
und Verhaltensstörungen
. . . Als unausweichliche Schlussfolgerung bietet sich
an, dass die genetisch bedingten, die ernährungsbedingten, die umwelt- und verhaltensbedingten wie
auch die medizinisch bedingten Einflüsse, die die
menschliche Reaktion auf Infektionskrankheiten bestimmen, unendlich komplex sind. Daher müssen wir
sehr zurückhaltend mit der Behauptung sein, Infektionen völlig zu verstehen oder über zuverlässige Mittel
zu ihrer Kontrolle zu verfügen. . . .“1092
Diese Zeilen sind heute aktueller denn je, in einer Zeit, in welcher
nicht nur Infektionskrankheiten sondern auch Allergien, chronische
Erkrankungen, Lernbehinderungen und Verhaltensstörungen sowie
geistige Behinderungen weltweit stark zunehmen. Es stellt sich daher
immer wieder die Frage nach dem „warum“.
Die medizinische Forschung scheint sich trotz der immer wieder
propagierten Fortschritte im Kreis zu drehen. Alle Ansätze, welche
die Errungenschaften eben dieser modernen Medizin in Frage stellen, werden von vorneherein als abwegig abgewiesen oder als unverantwortliches Denken und Tun abqualifiziert.
Es scheint mir dennoch wichtig, den Nutzen oder Schaden von Impfungen immer wieder zu hinterfragen. Aufgrund der vielen möglichen neurologischen Schädigungen ist es an der Zeit, den Mythos
„Impfung“ in Frage zu stellen und die vielen Faktoren, die gerne
verschwiegen oder nur marginal angeführt werden, zu benennen.
Es wird immer mehr beklagt, dass Kinder nicht mehr richtig denken,
nicht mehr richtig begreifen und konzentriert arbeiten können. Eine
neurologische Schädigung kann neben vielen anderen Ursachen
dafür verantwortlich sein.
Heute, da Eltern immer weniger Zeit für ihre Kinder aufbringen
können, scheint bedingungsloser, kurz- und langfristiger Schutz vor
Krankheit wichtig zu sein. Ob dies aber sinnvoll und überhaupt mög1092
McKEOWN, T., Die Bedeutung der Medizin, 1982, S. 153;
McKeown, Professor für Sozialmedizin an der Universität von
Birmingham.
561
lich ist, welcher Preis letzten Endes dafür bezahlt werden muss,
darüber besteht keine Einigkeit.
Aufgrund meiner vielen Gespräche mit Lehrkräften von GrundHaupt- und Sonderschulen und als Ergebnis langjähriger eigener
Beobachtungen, schält sich eine klare Erkenntnis heraus:
Lernstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, unerklärliche Verhaltensweisen oder der Verlust von Rechtsempfinden nehmen stark zu.
Lässt sich dies alles nur durch gesellschaftliche Faktoren erklären
oder sind möglicherweise andere, noch zu wenig bekannte Faktoren
Auslöser solcher Entwicklungen?
Die folgende Arbeit soll dazu beitragen, zum Teil sehr unpopuläres
Gedankengut zu einem neuen Bild aus sonderpädagogischer Sichtweise zu verknüpfen, auch wenn dadurch manches als sicher geltendes Wissen in Frage gestellt werden wird.
Impfschäden in der medizinischen Literatur
Zunächst sollen aus der medizinischen Literatur vielfältige Stellen
zitiert werden, welche beweisen sollen, dass seit langer Zeit sowohl
die Gefährlichkeit von Impfungen als auch die möglichen, daraus
resultierenden Schäden bekannt sind.
Gerade im Hinblick auf Entwicklungsverzögerungen, Lernbehinderungen oder Verhaltensstörungen ist es von großer Bedeutung, auch
eine Schädigung des ZNS durch iatrogene Faktoren in Betracht zu
ziehen.
Der Verfasser vermutet, dass die auffälligen, zunehmenden Verhaltensänderungen und Lernbehinderungen neben anderen, bereits angeführten gesellschaftlichen Faktoren, auch durch iatrogene Schädigungen mehrerer Generationen bedingt sein könnten.
Diese These soll im Folgenden belegt werden.
Die biologische Reifung läßt sich nach CASE1093 durch verschiedene
Prozesse erklären.
1093
OERTER/MONTADA, Entwicklunspsychologie, 1995, S. 563
562


Der Mensch ist einerseits bereits bei der Geburt mit einer Kernausstattung von Problemlösungsprozessen ausgerüstet, während
andererseits bereits unmittelbar nach der Geburt die Automatisierung von Lernprozessen einsetzt.
Eine wesentliche Voraussetzung für den zweiten, wichtigen
Vorgang (Informationsverarbeitung im Kurzzeitspeicher) ist die
Myelinisierung (Markscheidenbildung) im Gehirn.
Myelin ist eine weiße, fette, zähe Substanz welche wasserundurchlässig ist und die Nerven derart umhüllt wie die Isolierung einen
elektrischen Draht. COULTER führt dazu an:
„Die Entwicklung des Nervensystems des Kindes während der
Schwangerschaft und nach der Geburt vollzieht sich in zwei Phasen.
Zuerst treten die Nervenfasern (Neuronen und Achsenzylinderfortsätze) in Erscheinung. Erst wenn sie alle an Ort und Stelle sind,
beginnt der Prozeß der Umhüllung mit Mark.
Bevor die Myelinisierung beginnt, sind die Nervenfasern verletzlich,
da Nervenimpulse marklose Fasern langsamer durchlaufen als mit
Mark umhüllte. Auch kann es Kurzschlüsse zwischen den Fasern
geben. Aber im Augenblick der Geburt hat die Myelinisierung eben
erst begonnen. Bei einigen Nerven fängt sie überhaupt erst im Alter
von acht Monaten oder noch später an. Sie entwickelt sich dann in
unterschiedlichem Tempo je nach neurologischem Sektor weitere 15
Jahre, und bei manchen Nerven hält die Myelinisierung bis zum 40.
Lebensjahr an!
Sie beginnt in den phylogenetisch älteren Teilen des Gehirns (den
Teilen, die der Mensch mit dem Tier gemeinsam hat) und geht dann
auf die phylogenetisch jüngeren Teile über (die den Menschen vom
Tier unterscheiden).
Da die Großhirnhälften und die Großhirnrinde (der Ort des Gedächtnisses und der höheren Verstandesfunktionen) die phylogenetisch
jüngsten Teile sind, sind sie auch die letzten, die vollständig mit
Mark umgeben werden – erst im fünften Lebensjahr oder noch später.“1094
1094
COULTER, L. Harris, Impfungen der Großangriff auf Gehirn
und Seele, 1995, S. 63
563
Dabei ist von Bedeutung, dass verschiedene Systeme auch in der
Myelinisierung variieren. CASE weist darauf hin, dass bestimmte
Leistungen erst dann ohne Störungen möglich werden, wenn die
betreffende Markscheidenbildung in den entsprechenden Regionen
des Gehirns abgeschlossen ist.
Die Nervenfasern sind also äußerst verletzlich, bevor der Prozeß der
Myelinisierung abgeschlossen ist.
Eine Untersuchung von DIETRICH und Mitarbeitern aus dem Jahre
1988, bei der die elektromagnetischen Resonanzen der Gehirne von
Säuglingen im Alter von vier Tagen bis zu 36 Monaten aufgezeichnet wurden, stellt fest, dass „die entwicklungsmäßig zurückgebliebenen Kinder ungenügende Myelinisierung aufwiesen.“1095
Neueste Forschungen zeigen, dass isolierte Myelin bildende Zellen
offensichtlich in der Lage sind, blankliegende Nerven von gentechnisch veränderten Ratten zu umhüllen und somit defektes Gewebe
ersetzen können.1096
Bei Patienten mit multipler Sklerose und den damit oft einhergehenden schweren Bewegungsstörungen geht die schützende Myelinschicht der Nerven allmählich zugrunde. Bei Kindern mit Impfschäden, oder bei Kindern, die eine deutliche Entwicklungsverzögerung
aufweisen, sind ebenfalls oftmals deutliche Bewegungs- und Koordinationsstörungen zu erkennen.
STEINHAUSEN weist in dem Kapitel „Organische Psychosyndrome“ auf folgende Tatsache hin:
„Zu den entzündlichen Erkrankungen des ZNS zählen die durch
Bakterien, Viren, Protozoen und Pilze bzw. in der Folge von
Allgemeinerkrankungen oder Impfungen bedingten Krankheitsbilder Enzephalitis und Meningitis.“1097
Es soll die vornehmliche Aufgabe dieser Arbeit sein, zu hinterfragen,
welche Faktoren möglicherweise bestimmte Krankheitsbilder und
die damit verbundenen Beeinträchtigungen auslösen können. Um die
1095
o. a. S. 164
Oliver BRÜSTLE, Neuropathologe an der Universität Bonn in
der Fachzeitschrift Science; SZ Nr. 174, 31.7. / 1. 8. 1999, S. 12
1097
STEINHAUSEN, H.C., Psychische Störungen bei Kindern und
Jugendlichen, 1996, S. 95
1096
564
ganze Breite der Entwicklung aufzuzeigen wird immer wieder auch
auf entsprechende geschichtlich-medizinische Texte zurückgegriffen
werden.
Dass es sich dabei sehr häufig um homöopathische Ärzte und deren
Beobachtungen handelt, hängt damit zusammen, dass es gerade diese
Berufsgruppe war, die sehr oft mit hoffnungslosen Fällen von Impfschäden konfrontiert wurde und der es gelang, die entsprechenden
Fälle nicht aus schulmedizinischer Sicht zu betrachten, sondern eigene Perspektiven zu entwickeln, welche bei einer schulmedizinischen Behandlung aufgrund der anderen Denk- und Betrachtungsweise nicht möglich gewesen wären.
Impfbeschwerden
Nach dem Reichsimpfgesetz vom 4. März 1874 muss in Deutschland
jedes Kind vor Ablauf des auf sein Geburtsjahr folgenden Jahres der
Schutzpckenimpfung unterzogen werden. Dieselbe wird im 12. Lebensjahre nochmals wiederholt. Gesetzliche Gründe zur Unterlassung der Impfung sind nur Krankheitszustände der Impflinge, während in England auch Gewissensbeschwerden der Eltern berücksichtigt werden.
Impfbeschwerden kommen nach dem Impfen öfters vor, besonders
infolge zu tiefer Einschnitte, Verunreinigung der Wunden und Benutzung verdorbener Lymphe.
Seitdem die reine Kuhpockenlymphe allgemein benutzt wird und die
Impfvorschriften viel strenger als früher sind, kommen wirklich
ernste und gefährliche Folgen bei vorher gesunden Kindern nicht
mehr so häufig vor, dagegen läßt sich nicht leugnen, dass die Impfung bei schwächlichen und skrofulösen Kindern schlummernde
Krankheiten zum Ausbruch bringen und somit zu ernsten Gesundheitsstörungen Veranlassung geben kann. 1098
Im gleichen Text wird darauf hingewiesen, dass zwischen dem 7.
und 9. Tag nach dem Impfen Fieber, rosenartige Geschwulst oder
tiefe Geschwüre auftreten können.
1098
VOGEL, G. Homöopathischer Hausarzt, 1923,
Neuauflage 1984, S. 128
565
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde von EDWARD JENNER
die Behauptung aufgestellt, dass ein von ihm entwickeltes Impfverfahren zuverlässigen Schutz vor der Pockenerkrankung biete. 1099
Diese Behauptung wird bis zum heutigen Zeitpunkt aufrechterhalten
und wird uns mehr oder weniger bewußt fast täglich durch entsprechende Zeitungsmeldungen regelrecht „eingeimpft“, obwohl vielfältiges Beweismaterial existiert, welches sogar vermuten lässt, dass
Impfungen – auch in der heutigen Form- möglicherweise sogar mehr
Schaden als Nutzen bringen. Eine Übersicht über entsprechende
Zeitungsmeldungen zweier verschiedener Tageszeitungen im Zeitraum von 1994 bis zum Jahr 2002 soll dies verdeutlichen.1100
Als die Impfschäden immer bedrohlichere Ausmaße annahmen
sprach JENNER seine Zweifel gegenüber der medizinischen Gesellschaft aus:
„Ich weiß nicht, ob ich nicht doch einen furchtbaren Fehler gemacht und etwas Ungeheueres geschaffen habe.“1101
BUCHWALD weist darauf hin, dass es vor allem Waisenkinder
waren, die damals in den Landesimpfanstalten geimpft wurden.
ebenso war es üblich, das von den Waisenkindern gewonnene neue
Impfmaterial unter den Fürstenhöfen auszutauschen. Durch diese
Handhabung wurden aber auch alle bekannten Erkrankungen des
Blutes einschließlich der Geschlechtskrankheiten schnell zu weiterer
Ausbreitung gebracht. 1807 wurde in Hessen die gesetzliche Impfflicht eingeführt. Andere Länder schlossen sich an.
Etwa 70 Jahre später entstanden die ersten Hilfsschulen in
Deutschland, so 1879 in Elberfeld, dann 1881 in Braunschweig und
in Leipzig. Das Reichsimpfgesetz trat 1875 in Deutschland in Kraft.
Bereits im Jahre 1884 wies der englische homöopathische Arzt J. C.
BURNETT auf einen Zustand hin, den er als Vakzinose bezeichnete.1102
1099
BUCHWALD, G., Impfen - das Geschäft mit der Angst, 1995,
S. 20
1100
WALTER, J. Überblick über Zeitungsmeldungen
1101
zitiert in: ENDERS, 1995, S. 115
1102
BURNETT, J.C., Vakzinose und ihre Heilung mit Thuja, 1991,
S. 11
566
Allein ein Blick auf die in den Impfstoffen enthaltenen Impfstoffzusätze verdeutlicht nach ROY1103 die Gefahren, die diese Stoffe für
den menschlichen Organismus darstellen.
Impfstoffzusätze
Antibiotika
Betapropriolakton
Formaldehyd
Natriumtimerfonat
Thiomersal
Protaminsulfat
Neomycin
Gentamycin
Human-Albumin
Hühnereiweiß
Hydrolysierte
Gelatine
Aluminiumhydroxid
Aluminiumphosphat
Bekannte Nebenwirkungen
allergieauslösend
inaktiviert Impfstoffe; krebserregend
Allergieauslöser; Bronchitis, Asthma, krebserregend
als Konservierungsmittel
als Konservierungsmittel
Blutungshemmend: plötzlicher
Blutdruckabfall, Atemstörungen,
Hautrötungen
(Komaprophylaxe): Allergie,
Magen-Darm-Störungen
(Antibiotikum): Nieren-,
Hör- und Gleichgewichtsstörungen,
Allergen, Immunsuppressivum
(als Stabilisator): Allergen
Allergen
(als Füllstoff, Bindemittel): aus
Tierknochen
(als Adjuvans): Allergen
(als Adjuvans): Allergen,
Alzheimerische Krankheit
Wird der Quecksilbergehalt aller Impfungen addiert, die ein Kind bis
zu seinem zwölften Lebensjahr erhalten sollte, so wird der zulässige
Grenzwert für den Körper eines Erwachsenen bei weitem überschritten.
Eine besondere Gefahr besteht durch die Impfstoffe, die aus tierischen Seren oder menschlichen Krebszellen hergestellt werden, da
durch den Akt der Impfung die Artenschranke durchbrochen wird,
wenn unter Umgehung des Verdauungskanals direkt in den Organismus gelangen.
1103
ROY, Carola u. R., 1997, S. 34 f.
567
Ist der sprunghafte Anstieg von Allergien in den letzten Jahrzehnten
möglicherweise auf eine genetische Langzeitwirkung von Impfungen
zurückzuführen?
Jeder dritte Deutsche leidet unter Allergien. Experten gehen davon
aus, dass nur jeder zehnte Allergiker richtig behandelt wird.1104
Neben den klassischen Allergien wie Heuschnupfen oder allergisches Asthma ist auch bei Kontaktallergien der Haut und verwandten
Erkrankungen wie der Neurodermitis eine starke Zunahme zu verzeichnen. Es sollte ernsthaft darüber nachgedacht werden, welche
Rolle die über Jahrzehnte hinweg bei mehreren Generationen vorgenommenen Impfungen dabei spielen. Da wenig Aussicht besteht, der
Wahrheit über Statistiken oder von der Pharma-Industrie finanzierte
„wissenschaftliche“ Untersuchungen näher zu kommen, bleibt nur
ein einfacher Weg:
Jeder interessierte Laie sollte selbst beginnen, Fragen zu stellen.
Beobachten sie und fragen sie von Allergien Betroffene.
Fragen sie danach, wie viele Impfungen bisher durchgeführt wurden, wann sie durchgeführt wurden und beurteilen sie selbst, ob das
auftreten einer Allergie in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer
Impfung stehen könnte. Impfungen sollen die Abwehrkraft stärken,
das Immunsystem trainieren. Es besteht aber auch die Möglichkeit
einer Schädigung, nämlich dann, wenn es überfordert wird durch
provozierte Abwehrreaktionen; nämlich dann, wenn Impfstoffe mit
Zusatzstoffen und entsprechenden Erregern zu einem willkürlich von
Ärzten gewählten Zeitpunkt routinemäßig ohne gründliche körperliche Untersuchung, ohne eingehende Beratung und ohne Abwägung
der Notwendigkeit durchgeführt werden.
Fragen sie auch nach, wenn „Kinderkrankheiten“ auftreten. Alleine
in meinem Bekanntenkreis weiß ich von einem Mumps-Fall der trotz
Impfung auftrat und von einer Masern-Erkrankung eines Erwachsenen trotz Impfung. Fragen sie nach und tauschen sie ihre Erfahrungen aus.
Albert CAMUS beschreibt in seinem Roman „Die Pest“ sehr anschaulich den klassischen Verlauf einer Epidemie. Über die Rolle
eines entsprechenden Impfstoffes kann der Leser in seinem Werk
selbst philosophieren.
1104
MM, 2001, 103, S. 1
568
Überblick über Impffolge-Symptome aus der
„schulmedizinischen“ Literatur
Hinweise zu den Literaturangaben:
(Die hochgestellten Zahlen beziehen sich auf die Literaturangaben in
der Fußnote, die nachfolgenden, großen Zahlen in runder Klammer
beziehen sich immer auf die Seite der zuletzt angegebene Quelle.)
Alle Daten sind eigentlich nichts Gegebenes. Es sind vielmehr Zahlen, die bereits einem menschlichen Verarbeitungsprozess unterworfen wurden. Somit sind sie „capta“ geworden, „Gefangene“ des
menschlichen Geistes mit all seinen Schwächen und Irrtümern.
Da jede Statistik aufgrund bestimmter Interessenlagen erstellt wird
und jeweils immer nur die gemeldeten oder bekannten Daten ausgewertet werden, sind die folgenden Daten und Symptome grundsätzlich nur als Möglichkeiten zu sehen, vor allem deshalb, weil sowohl
der Zeitpunkt als auch der Ort des Auftretens grundsätzlich nicht
vorhersagbar ist. Wir haben es auch im wissenschaftlichen Bereich
immer nur mit Wahrscheinlichkeiten zu tun, obwohl uns hier durch
viele Veröffentlichungen ein ganz anderes Bild vermittelt wird. Die
der Literatur entnommenen Prozent- und Zahlenangaben haben somit nur Wahrscheinlichkeitscharakter. Für den von einer ernsthaften
Symptomatik betroffenen Menschen und seine Angehörigen ist es
letzten Endes unbedeutend, wie oft dieses Symptom auftritt. Hinter
allen Zahlen steht der betroffene Mensch.
Die Häufigkeitsangaben haben folgende Bedeutung.
häufig mehr als 10%, gelegentlich 1-10%, selten weniger als 1%,
sehr selten weniger als 0,1% und Einzelfälle einzelne Fallmeldungen, noch nicht quantifizierbar.1105 Diese Begriffe sind natürlich
immer in die Relation zur verkauften und angewendeten Anzahl der
Impfstoffpräparate zu setzen.
1105
Rote Liste, 1995, Zusammenstellung von Gegenanzeigen und
Anwendungsbeschränkungen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen, S. 115
569
Abkürzungen:
P: Polio, D: Diphterie, T: Tetanus, HIB: Haemophilus influenzae
Typ b.
,
Spiess1106, S. 37
DPT,HIB,Polio (S. 59) 1. Lebensjahr : Krampfanfälle; präexistierende Erkrankungen des ZNS können zeitgleich mit dem Impfprozess
klinisch auftreten.
(56)P: Enzephalopathie 1: 140 000, Risiko bleibender cerebraler
Schäden 1: 300 000
(38)P: Fieber, Bewusstseinstrübung, Unruhe, persistentes Schreien,
Krampfanfälle, muskuläre Hypo-oder Hypertonien, anhaltende mentale oder motorische Retardierung.
(164)D: Lokalreaktion (mind. 20 mm Durchmesser), Aluminiumzysten, Fieber, Übelkeit, Nephrose, vorübergehende thrombozytopenische Purpura, Hämaturie, Exazerbation einer Tuberkulose oder
einer Allergose, vereinzelt zerebrale und neurale Schäden, polyneuritische Lähmungen als Gaumensegel- Facialis - und Abduzenparese,
mit Akkomodationsstörung, Papillitis und Optikusneuritis, periphere
Paresen an den Extremitäten.
(173) T: selten örtliche Reaktionen, Rötung, Schwellung, sterile
Absezessbildung, hyperergische Reaktionen, Exantheme, Urtikaria,
anaphylaktischer Schock mit Todesfällen, Hitzegefühl, regionale
Lymphknotenschwellungen
(184) HIB: in 1-2% lokale Rötungen und Schwellungen, Irritabilität,
Apathie, erbrechen und Fieber bis 40 Grad
(195) Polio: Impfpoliomyelitis, hohes Fieber, anhaltende Durchfälle,
Meningitis, Paresen
(205) Masern: Impfmasern mit Fieber über 39 Grad bis zu 5 Tagen
und flüchtigem Exanthem, Fieberkrämpfe, Enzephalitis
(218) Röteln: Virämie, Lymphadenopathie, Gelenkschwellungen
1106
SPIESS, Impfkompendium, 1994
570
(228) Mumps: Lokalreaktionen selten, Fieber, Fieberkrämpfe,
mumpsähnliche Erkrankung, Diabestesinduktion wird diskutiert. 1107
(236) Influenza: 10% geringe Hautrötung, Verhärtung der Injektionsstelle, leichte Temperaturerhöhung, Muskelschmerzen
(260) Hepatitis A/B: gelegentlich Rötung, Schwellung, leichter
Schmerz, selten Kopfschmerz, Übelkeit, leichtes Fieber,allergische
Reaktionen auf Thiomersal
(271) FSME: lokale Entzündung mit Reaktion der Lymphknoten;
Allgemeinreaktionen: Fiebr- Kopf- Kreuz- Gliederschmerzen, Abgeschlagenheit, gelegentlich auch Übelkeit, Neuritiden und Neuralgien
in seltenen Fällen
(276) Varizellen : gelegentlich Rückenschmerzen, Hautausschlag,
Tachykardie, Blutdruckabfall, Atemnot, bis hin zum anaphylaktischen Schock (wie bei allen anderen Immunglobulinpräparaten auch)
(288) Tollwut: Rötung, Verhärtung, Juckreiz, Fieber, Kopfschmerzen, Magenbeschwerden, Neurokomplikationen (?)
(293) Gelbfieber: Rötung, Schwellung, leichter Temperaturanstieg,
Kopf- Gliederschmerzen
(301) Typhus: gelegentlich Magen-Darm-Beschwerden
(307) Cholera: bei ca. 10% Nebenwirkungen und Komplikationen zu
erwarten; Allgemeinreaktionen: Temperatursteigerung, Schüttelfrost,
gastrointestinale Beschwerden, Kopfschmerz, Übelkeit, Brechreiz,
Unpäßlichkeit, Urtikaria und Purpura selten
(313) Japanische Enzephalitis: bei Impfungen nach 1965 eine erstaunlich geringe Nebenwirkungsrate*; Fieber, allgemeine Schwäche
und abdominelle Symptome
1107
ROY, 1997, S. 224, berichtet über 19 in der Fachliteratur
angeführte Fälle von Diabetes nach einer Mumpsimpfung und
drei Diabetesfälle nach einer Mumpserkrankung.
571
(318 f.) Pocken: Abnorme Lokalreaktionen: Aufflammen der Reaktion („Reaktion auf schlafende Keime“), Impfulzera, Impfkeloid,
Nebenpocken, Vaccinia serpiginosa, area bullosa, area migrans
Kutane/okuläre Reaktionen: Vaccinia secundaria und translata, generalisata oder gangraenosa, Vakzine des Auges, postvakzinale Exantheme, Purpura, Organerkrankungen, Angina, Pneumonien, Myokardaffektionen, Dyspepsien, Nierenerkrankungen, Osteomyelitis,
Postvakzinale Zerebralsymptome, Okkasionskrämpfe, Meningitische
Reaktionen, Myelitische und bulbäre Reaktionen, Postvakzinale
Enzephalopathie und Enzephalitis**
(331) Meningokokken-Meningitis: Lokal- und Fieberreaktionen
(337) Pneumokokken: lokale Rötung, leichter Schmerz, lokale Verhärtung, leichtes Fieber; bei Wiederholungsimpfungen sechsmal
häufiger Reaktionen
(343) Pest: lokale Rötung und Schwellung, regionale Lymphknotenschwellungen, Fieber, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Abgeschlagenheit
Mendelsohn1108
Zu den Impfungen allgemein:
 (232): es ist nicht bekannt, welchen Schaden artfremde Proteine
im menschlichen Körper anrichten
 es gibt keinen schlagenden wissenschaftlichen Beweis für die
Wirksamkeit von Massenimpfungen
 Epidemien erlöschen in Ländern mit Massenimpfungen und
solchen ohne Massenimpfungen nahezu gleichzeitig
 (233): möglicherweise ist die starke Zunahme von Autoimmunerkrankungen*** auf die künstliche Immunisierung zurückzuführen
 (233) Pocken: 30 Jahre lang starben Kinder durch Pockenimpfungen, obwohl die Krankheit selbst keine Bedrohung mehr darstellte.
1108
MENDELSOHN, 1990, S. 232 f.
572
MENDELSOHN1109
(165) Diphterie: Vier von 16 Diphterieopfern waren im Jahre 1969 in
Chicago völlig immun gegen die Krankheit; fünf weitere hatten eine
oder mehrere Dosen des Impfstoffes injiziert bekommen, zwei von
ihnen zeigten vollständige Immunität.
(166): Bei einem weiteren Bericht mit drei Todesfällen war eines der
Todesopfer und auch 14 der 23 erkrankten völlig immun gewesen.
(166) Keuchhusten: Das Serum gegen Keuchhusten wirkt nur bei der
Hälfte der Geimpften; es besteht grundsätzlich die Gefahr von
Krämpfen und Gehirnschäden.
(166) Masern: Ein Zusammenhang zwischen Impfung und Enzephalopathie besteht: 1: 1 000 000; zudem gibt es einen häufige Zusammenhang zwischen der Impfung und neurolgischen Erkrankungen.****
(167) Röteln: Arthritis
(167) Polio: Einige Poliofälle in den USA wurden durch den SalkImpfstoff ausgelöst.
Apotheken-Depesche 5/95:
Impfung gegen FSME, Masern, Mumps
Zwillingsbrüder wurden zweimal gegen FSME und anschließend
gegen Masern/Mumps geimpft.
Beide hörten nach den ersten Impfungen schlecht, nach der MasernImpfung ertaubten beide: ein Bruder vollständig, der andere auf dem
rechten Ohr. Erhöhte Aufmerksamkeit bei der Kombination beider
Impfungen und eine genaue Indikationsstellung bei der FSMEImpfung sind notwendig, bis weitere Informationen vorliegen.
PZ (Pharmazeitung?), Nr.46, S. 23, Jahrgang, 16. 11.95
Entschädigung von Impfopfern
Ende der 70er Jahre waren in der DDR mehrere tausend Frauen einer
Anti-D-Impfprophylaxe unterzogen worden. Dabei wurden Hepatitis-Infizierte Immunglobuline verabreicht, die bei einer nicht exact
bekannten Zahl von Frauen zu einer Hepatitis-C-Infektion führten.
Es können maximal 6773 Frauen infiziert worden sein. Die Opfer
würden lediglich als „Impfschäden“ eingestuft, mit der Folge, dass
1109
MENDELSOHN, 1988, S. 165 f.
573
keine Haftungs-Schmerzensgeld und Ausgleichsansprüche bestünden.
Wissenschaftliche Untersuchungen ließen vermuten, dass bei vielen
infizierten Frauen die Erkrankung langsam abklinge oder nicht
schwerwiegend werde.
Auch bei COULTER/FISHER, QUAST und LINDEN/BÜHLER
finden sich zahlreiche Hinweise auf die Möglichkeit von Schadensfällen durch Impfungen.
Zu den * im oben angeführten Text:
* ROGGENDORF weist darauf hin, dass es Befürchtungen bezüglich schwerer Nebenwirkungen im Bereich des ZNS gab. Ausschlaggebend dafür war die Herstellung der betreffenden Vakzine
aus Mäusehirnsuspensionen. Es wurde selten auch über Meningitis,
Demyelinisierung und Polyneuritis berichtet.
** „ . . . Die jüngeren Kinder sterben eher an der zerebralen Impfkomplikation, die älteren überleben mit entsprechend höherer Frequenz bleibender Hirnschäden.“(322)
Jetzt folgt ein wichtiger Hinweis für alle Lehrerinnen und
Sonderpädagoginnen, da sie möglicherweise mit den Folgen von
Impfschäden umgehen müssen:
„Residualschäden bei Überlebenden werden zwischen 6 und 50%
angegeben. Am häufigsten sind spastische Paresen, Hyperkinesen,
extrapyramidale Störungen und Intelligenzdefekte in Abhängigkeit
von der Schwere der Dauer der Impfenzephalitis oder Impfenzephalopathie.“ (322)
*** Bei einer Autoimmunerkrankung ist die körpereigene Abwehr
nicht mehr in der Lage artfremdes Eiweiß von körpereigenem zu
unterscheiden. MENDELSOHN stellt die Frage:
„Haben wir Mumps und Masern gegen Krebs und Leukämie eingetauscht?“ (234)
Interessanterweise finden sich genau entgegengesetzte Behauptungen unter der Rubrik „Medizin aktuell“. Die folgende Zeitungsmel-
574
dung zeigt, wie unterschiedlich der Nutzen von Impfungen gesehen
werden kann:1110
Leukämiegefahr durch zu wenig Impfungen
Heidelberg (ap) - Das Ausbleiben frühkindlicher Infektionskrankheiten und fehlende Impfungen können nach neuen Forschungserkenntnissen offenbar zur Entstehung von Leukämie bei Kindern
beitragen. Ein "untrainiertes Immunsystem" halte dem Angriff der
Krebszellen nicht lange stand, sagte der Mainzer Krebsforscher Jörg
MICHAELIS gestern auf einem Leukämiekongreß im Deutschen
Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Auffällig sei, daß Einzelkinder und Kinder, die spät in eine Kindertagesstätte gebracht werden, sich als besonders anfällig gezeigt hätten.
Dagegen hält der Wissenschaftler englische Untersuchungen, die
Anfang der 90er Jahre einen Zusammenhang zwischen der Impfung
des Blutgerinnungsvitamins K bei Babys und dem Auftreten von
Leukämiefällen herstellten, für relativiert. Er sprach sich dafür aus,
die zur Zeit in Deutschland geltende Impfbeschränkung für Vitamin
K bald aufzuheben.
MICHAELIS bezog sich bei seinen Angaben auf Untersuchungen,
die zwischen 1992 und 1995 in den niedersächsischen Gemeinden
Sittensen und Elbmarsch durchgeführt wurden. Einen direkten Zusammenhang zwischen der überdurchschnittlichen Häufigkeit von
Leukämiefällen in der Elbmarsch und dem nahegelegenen Kernkraftwerk Krümmel habe bislang nicht bewiesen werden können.
Wie so oft, begegnen uns völlig widersprüchliche Aussagen. Es
bleibt zu bedenken, dass diese Zeitungsmeldung vermutlich wesentlich mehr Leser erreicht hat, als die vorher angeführte Äußerung von
MENDELSOHN.
1110
Münchner Merkur, 16. Januar 1996
575
****dazu zählen:
 Ataxie: lebensgefährliche Störung des geordneten Ablaufs und
der Koordination von Muskelbewegungen; ein anderer Ausdruck
dafür ist im Bereich der Sonderpädagogik auch Apraxie, womit
eine eingeschränkte Geschicklichkeit bezüglich der Bewegungsplanung gemeint ist. Daneben existiert noch der Begriff Dyspraxie, womit eine stark eingeschränkte Fähigkeit des geschickten
Einsatzes der Extremitäten bei der Bewegungsplanung gemeint
ist, jedoch nicht in so starker Ausprägung wie bei einer Apraxie.
AYRES schreibt dazu: „ . . . Dyspraxie ist eine der häufigsten Manifestationen von Störungen der sensorischen Integration bei Kindern
mit Lernstörungen oder auch geringen cerebralen Dysfunktionen.“1111 Eine normale Persönlichkeitsentwicklung wird durch Störungen im Nervensystem verhindert.
Die betroffenen Kinder brauchen aus diesem Grund besonders viel
Bestätigung und Liebe (S. 149). Auch orale Apraxien mir einer eingeschränkten Beweglichkeit der Mundmuskulatur und damit verbundenen Artikulationsschwierigkeiten sind in der Praxis bekannt.
 Retardation: Die geistige und/oder körperliche Entwicklung ist
verlangsamt
 Überspanntheit
 nicht entzündliche (aseptische) Gehirnhautreizung
 Schlaganfälle
 Halbseitige Lähmung
Wie so oft begegnen uns immer wieder völlig widersprüchliche
Aussagen. Es bleibt zu bedenken, dass die oben angeführte Zeitungsmeldung vermutlich wesentlich mehr Leser erreicht hat, als die
vorher angeführte Äußerung von MENDELSOHN.
An einem Beispiel möchte ich verdeutlichen, dass Wissen sehr oft
mit Glauben verwechselt wird. Nehmen wir an, ein Kind erhält eine
Impfung. Nun bestehen sehr viele Möglichkeiten einer Bewertung
dieses medizinischen Eingriffs:
1111
AYRES, Bausteine der kindlichen Entwicklung, 1984, S. 128
576
Bewertung der Impfung in den Augen des Beobachters nach den
auftretenden Folgen:
1.
2.
3.
4.
Das Kind erkrankt nicht an der Krankheit, gegen die geimpft
wurde. Die Bewertung: Eine Impfung ist nützlich und sie
schützt. Die Nicht-Erkrankung wird meistens der Impfung zugeschrieben, obwohl nicht nachweisbar ist, ob das Kind auch ohne
Impfung nicht erkrankt wäre. Über mögliche Spätfolgen (Prionen -Problematik) wird nicht nachgedacht, auch nicht über die
Summierung der Schäden durch mehrere verschiedene Impfungen oder andere schädigende Faktoren im Sinne einer synergistischen Wirkungsweise.
Das Kind erleidet einen anerkannten Impfschaden : Die Bewertung: Die Impfung war schädlich.
Eine Erkrankung erfolgt trotz Impfung: Bewertung: Die Impfung war nutzlos.
Erkrankung ohne Schäden bei Nichtimpfung: Wir können nicht
wissen, wie der Organismus sich verhalten hätte, wenn geimpft
worden wäre. Eine Bewertung ist nicht möglich.
Impfbefürworter weisen auf die Möglichkeit einer wissenschaftlich
exakten Diagnostik bei einem Impfschadensverdacht hin. 1112 Durch
die modernen und subtilen Arbeits- und Untersuchungsmethoden
der Virologie/Serologie, Genetik, Radiologie und Biochemie erscheinen laut Meinung der genannten Autoren ältere Impfschadensgutachten als wissenschaftlich nicht mehr haltbar. (362)
Oftmals wurde bei vermuteten Impfschadensfällen eine völlig andere
Grunderkrankung diagnostiziert; auf diese wurden dann auch die
vermeintlichen Impfschäden zurückgeführt. Es ist jedoch eine Tatsache, dass in „Harrisons Innere Medizin“1113 darauf hingewiesen wird,
dass Impfungen sowohl als Auslöser von Impfreaktionen als auch
von Impfschäden anzusehen sind.
Hier zeigt sich deutlich, dass sich unter der Bezeichnung „wissenschaftlich“ endlose Diskussionen führen lassen, deren Teilergebnisse
und abschließende Fakten von einem Laien nicht mehr nachvollziehbar sind. Menschliche Beobachtungen reichen für die Herstellung
1112
WIERSBITZKY,BRUNS, Atypische Impfverläufe und aktuelle
Impffragen – Die pädiatrische Impfberatungsstelle, 1995, S. 352
1113
Harrison’s Innere Medizin, USA, 13. Auflage, 1995
577
von medizinischen Kausalzusammenhängen offensichtlich nicht aus.
Es gibt immer Argumente für und wider bezüglich einer Tatsache –
jedoch scheint die Meinung eines Menschen bezüglich eben dieser
Tatsache einerseits von den eigenen Beobachtungen, andererseits
aber auch von der Vielfalt der bewusst oder unbewusst aufgenommenen Informationen abzuhängen.
Faktum ist, dass wir praktisch nicht die Möglichkeit haben, alles zu
prüfen und durch Fachleute prüfen zu lassen, was für uns von Wichtigkeit ist. Wir müssen uns im Falle einer für uns wichtigen Prüfung
die Fachleute auswählen, von denen bekannt ist, dass sie die Gutachten so verfassen, wie es unserer Meinung entspricht. So wurde auf
dem 1. Impfkritikerkongress in Augsburg im Jahre 1997 darauf hingewiesen, dass es sehr wohl von der Wahl des Gutachters abhängt,
wie ein Gutachten ausfällt. Ähnliche Erfahrungen sind täglich in
Pressemeldungen zu lesen, die sich mit Gutachten beschäftigen,
Gutachten die z. B. im psychiatrischen Bereich abgegeben werden
und oft zu fatalen Folgen führen. Der Mensch ist ein Mängelwesen
und bleibt es, so wie die Geschichte der Medizin auch eine Geschichte von unzähligen Irrtümern ist.
Bereits im Jahre 1982 weist der Sozialmediziner McKEOWN darauf
hin, dass es nicht möglich ist, eindeutige Ursachen für den Rückgang
von Epidemien und somit für den Rückgang von Erkrankungen oder
gar von Todesfällen festzustellen. Die Einführung der BCG-Impfung
fällt so zeitlich etwa mit dem zunehmenden Gebrauch von Streptomycin zusammen, wobei zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass die
Epidemieverläufe einzelner Krankheiten zum Zeitpunkt der Impfungen jweils kurz vor dem vollständigen Abklingen waren.1114
Auch BUCHWALD weist auf diese Zusammenhänge immer wieder
hin.1115
Selbstverständlich spielen auch Faktoren wie die Wohnverhältnisse,
die Ernährung oder die hygienischen und somit sanitären Verhältnisse eine Rolle dabei, ob ein Mensch empfänglich für eine Krankheit
ist oder nicht. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang eine Meldung des Berliner Robert-Koch-Instituts vom Juli 1977:
1114
1115
MC KEOWN, Die Bedeutung der Medizin, 1982, S. 136 f.
BUCHWALD, Impfen – Das Geschäft mit der Angst, 1995
578
„Es ist davon auszugehen, dass in Deutschland jährlich eine Million
Patienten eine Krankenhausinfektion erleiden.“
Zu den dadurch bedingten Todesfällen in Krankenhäusern werden
Zahlen zwischen 10 000 und 40 000 genannt.1116 In den meisten
Fällen werde eine mangelnde Hygiene dafür verantwortlich gemacht.
Ärztliche Kunstfehler werden immer mehr zu einem Problem in der
modernen Medizin. Bei der Auswertung von 80 000 Schadensfällen
in 150 deutschen Kliniken über mehrere Jahre hinweg wurde festgestellt:
„Laut unserer Datei wurden 279 Fremdkörper in Patienten vergessen: Bauchtücher, Kompressen, Tupfer, Schere oder Nadelhalter.“
(siehe dazu auch das Kapitel: Schäden durch medizinische Behandlungen)
Die teuersten Fehler entstehen jedoch im Bereich der Geburtshilfe.
„Dort ereignen sich zwar nur 2% der Fehler, diese können in Rekordfällen jedoch mehr als sieben Millionen Mark kosten.“ 1117
Bei den 80 000 untersuchten Fällen stellen 2% immerhin die beachtliche Zahl von 1600 medizinischen Fällen dar, bei der menschliches
Leid und Folgekosten in immenser Höhe entstehen.
Allergien und Impfungen
Die Impfstoffe wurden im Laufe der Zeit immer wieder verändert.
SPIESS bemerkt, dass die Zahl der allergischen Reaktionen „vom
verzögerten Typ“ (49) durch die Zusatzsubstanz Formaldehyd deutlich vermindert werden konnte und gibt damit zu, dass solche Reaktionen offensichtlich vormals deutlich vorhanden waren. Ebenso
wird von einer drastischen Verringerung der Allergien durch die
Antibiotikazusätze Penicillin und Streptomycin berichtet, seit diese
Substanzen durch Neomycin ersetzt wurden. Im gleichen Satz wird
eingestanden, dass Allergien früher häufiger beobachtet wurden. Es
ist seit Jahren bekannt, dass das in vielen Hautsalben enthaltene
Antibiotikum Neomycin z. B. für allergische Hautreaktionen bei bis
zu 15% der Patienten verantwortlich ist. 1118
1116
SZ, 164, 1997, S. 1
SZ, 162, 1997, S. 10
1118
Arzneimittelkommisiom der deutschen Ärzteschaft,
Arzneiverordnungen , 1981, S. 377
1117
579
Auch von Formaldehyd sind schwere Auswirkungen auf den
menschlichen Organismus bekannt, so z. B. die Gefahr von Schleimhautreizungen der Augen und der Atemwege und die Möglichkeit
von Verätzungen und Ekzemen auf der Haut.1119 Die Gefährlichkeit
dieser Zusatzstoffe wird natürlich in erheblichem Maß dadurch gesteigert, dass sie durch die Injektion direkt in die Blutbahn gelangen.
Artfremde Eiweiße und vor allem Eiweißfragmente in Form von
Prionen stelllen eine weitere besondere Gefahr dar, weil die BlutHirn-Schranke umgangen wird.
Die Zusatzsubstanz Phenol „kann Ursache für eine lokale Typ-IVReaktion bilden“. Lactalbuminhydrolysat kann in Verbindung mit
einer Nahrungsmittelallergie (Milcheiweiß) theoretisch eine allergische Reaktion auslösen. (50)
Die Impfungen führen zu immunologischen Reaktionen im Körper,
das heißt, dass Reaktionen lokaler und systemischer Art zu erwarten
sind. (56) Speziell die DTP-Impfungen führen bei jedem zweiten
Kind zu Temperaturanstieg, Gereiztheit, seltener zu Anorexie, Erbrechen, Schläfrigkeit und anhaltendem Schreien.
Nach REINHARDT können bereits 11 bis 12% aller Neugeborenen
als Hochrisikogruppe für die Entwicklung von Allergien angesehen
werden (SPIESS, 45).
Es erscheint nicht mehr verwunderlich, dass bei der immer noch
hohen Durchimpfungsrate und den in den Impfstoffen enthaltenen
Zusatzstoffen die Allergien unter den Kindern ständig zunehmen. So
weist GRAF im Jahr 1994 darauf hin:
„Bei Einschulung (1994) ist jedes zweite Kind Allergiker und eine
höhere Dunkelziffer wird vermutet, jedes 5. Kind bereits Neurodermitiker und jedes 15. Kind Asthmatiker.“1120
Eine Zeitungsmeldung aus dem Jahre 1998 bezeichnet jedes zehnte
Kind in Deutschland als Asthmatiker. Die Tendenz sei zunehmend.
„Asthma wird vererbt, aber für den Ausbruch der Krankheit sind die
Lebensumstände entscheidend“, so der Vorsitzende der deutschen
Arbeitsgemeinschaft Asthmaschulung.1121
1119
FORTH u. a., Allgemeine und spezielle Pharmakologie und
Toxikologie, 1980, S. 552
1120
GRAF, 1994, Die Impfentscheidungen, S. 24
1121
Münchner Merkur, 100, 1998, S. 3, 2./3. Mai
580
Es ist verständlich, dass die Kinderärzte wegen des Gesundheitszustandes der Jugendlichen in größter Sorge sind.
Gleichzeitig ist nach den vorausgehenden Ausführungen aus wissenschaftlicher Sicht – nicht jedoch aus wirtschaftlicher Sichtweise, –
unverständlich, warum nicht auch Zusammenhänge zwischen Impfstoffen und dem Gesundheitszustand der Jugendlichen vermehrt
hergestellt werden.
Fast ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind
nach Aussage der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde chronisch krank.1122 An erster Stelle aller chronischen Leiden liegen die
Allergien, gefolgt von den Erkrankungen des Bewegungsapparates
und Fehlernährungen. GRITZ führt als Ursachen dafür folgende
Gründe in folgender Rangordnung auf:
1.
2.
3.
Umweltfaktoren
Falsche Ernährung
Psychosoziales Umfeld (Entwicklung von Fehlhaltungen durch
das Alleinsein)
Ärzte mit kritischem Wissenschaftsverständnis sollten meiner Ansicht nach auch Ursachen in den von ihnen angewandten Methoden
suchen und nicht von vorneherein ausschließen. Von der Regierung
erwarten die Ärzte, dass die „Dominanz der Krankenkassen“ massiv
beschränkt wird und die Verantwortung für die Gesundheit der Kinder zum großen Teil beim Staat bleibt.
An dieser Stelle ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass die
Eltern und die Kinder selbst in erster Linie die Verantwortung für
ihre Gesundheit übernehmen und tragen müssen. Das Abgeben der
Verantwortung bedeutet zugleich den Verlust des Gespürs für die
eigene Gesundheit!
Bleibende zerebrale Schäden durch Impfungen
SPIESS gibt bei der Pertussisimpfung die Möglichkeit von Schäden
mit 1: 300 000 an. (56) Wir dürfen davon ausgehen, dass diese Zahl
absolut niedrig angesetzt ist. Erkrankungen, die auf eine Pertus-
1122
bei der Eröffnung des 95. Jahrestages der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin in München am 9. September, in
SZ, 209, 1999, L 2
581
sisimpfung zurückgeführt werden, umfassen „die ganze Bandbreite
frühkindlicher zerebraler Erkrankungen“(153).
Im Jahre 1992 wurden in den alten und neuen Bundesländern zusammen 809 083 Kinder geboren. In eine einfache Gleichung übersetzt bedeutet das, dass ca. drei (2,69) Kinder im Jahre 1992 alleine
durch eine Pertussisimpfung bleibende cerebrale Schäden davontrugen, wenn davon ausgegangen wird, dass nahezu alle Kinder die
vorgeschriebenen und empfohlenen Impfungen erhielten.
Auf zehn Jahre hochgerechnet bedeutet dies 30 geschädigte Kinder,
das heißt drei voll besetzte Sonderschulklassen, wobei zu berücksichtigen ist, dass laut Aussagen der Impfärzte eine Verbesserung der
Impfstoffe kontinuierlich vorangetrieben wurde.
Andere Schätzungen finden sich bei COURNOYER, die – sich auf
Coulter berufend – darüber berichtet, dass jährlich ca. zehn Menschen an der Krankheit und etwa 943 an der Impfung sterben (87).
QUAK bemerkt zu den anerkannten Impfschäden in der BRD: „Sich
langsam entwicklende oder erst spät auftretende Schäden sind nur
sehr schwer in einen kausalen Zusammenhang mit der Impfung zu
bringen, da zwischenzeitlich viele weitere Faktoren bezogen auf den
Menschen einwirken, die statistisch nicht oder kaum fassbar bzw.
voneinander zu trennen sind. Deswegen werden solche Schäden
meist nicht als Impfschäden anerkannt: Bis zum Jahre 1991 bezogen
in der Bundesrepublik Deutschland „nur 1870 Impfgeschädigte Versorgungsleistungen nach dem BSeuchG (21). Nach Buchwald (31)
wurden bis 1992 in Deutschland 3407 Impfschadensfälle juristisch
anerkannt. Dies entspräche einer Prävalenz von 4,3 auf 100 000, bei
einer Inzidenz von 0,21 auf 100 000. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland ergibt das ca. 170 anerkannte Impfschadensfälle pro Jahr. Die Zahl der gestellten Anträge ist natürlich um ein
Vielfaches höher.“1123
Im Jahre 1953 wurde von KÖNIG eine Zusammenstellung veröffentlicht, in der 82 Fälle von Pertussis-Impfschäden aus der gesamten
Literatur enthalten waren. Fünf Jahre später waren bereits 107 Fälle
verzeichnet, davon 93 aus den USA.1124
1123
QUAK, 1996, Impfungen und Impffolgen, Internet, Stichwort :
Impfungen
1124
COULTER/FISHER, Dreifach-Impfung, Ein Schuss ins Dunkle,
1991, S. 71
582
STRÖM, wies in den 50er Jahren darauf hin, dass die neurologischen
Komplikationen nach der Pertussis-Impfung höher seien als durch
die natürliche Erkrankung (73).
MILLER et al. wiesen in der NCES-Studie 1981 darauf hin, dass es
eine „bedeutsame Verbindung zwischen ernsthaften neurologischen
Erkrankungen und der Keuchhusten-Impfung“ gebe (78).
QUAST et al.1125 sehen als Ursache einer perivenösen Enzephalomyelitis eine Immunreaktion pathologischen Charakters und weisen
darauf hin, dass die Impfstämme – so Hundenierenzellen, Entenembryonen oder aber Kaninchenzellen für die Auslösung einer Myelitis
verantwortlich sein können.
ROGGENDORF weist auf die Möglichkeit einer Meningitis oder
einer Demyelinisierung nach vorausgegangener Impfung gegen
Japanische Enzephalitis hin. Grund dafür waren die Vakzine, die aus
Mäusehirnsuspensionen hergestellt wurden.1126 Die Tatsache, dass
eine schwere Schädigung des ZNS durch Fremdeiweiße erfolgen
kann, wird also auch in der schulmedizinischen Literatur eingestanden. Der Zeitablauf und naturgemäße Prozess des entwicklungspsychologischen Geschehens in den ersten Lebensjahren kann durch
Impfungen – besonders wenn sie mit Injektionsmaßnahmen verbunden sind, zur Entgleisung gebracht werden. GRAF weist darauf hin,
dass durch die Injektionsmaßnahmen die natürlichen „Fremderkennungswege“ umgangen werden.1127 Durch die Polio-, Masern oder
Rötelnimpfung gelangen Viren ohne Vorwarnung in das menschliche Nervensystem. Dort erfolgt ein Einbau des Genmaterials im
Zellkern von Nervenzellen, wobei jederzeit die Möglichkeit einer
Reaktivierung besteht. (20) Autopsien nach postvakzinaler Enzephalitis brachten wiederholt gelblich-rote Läsionen in verschiedenen
Hirnarealen zum Vorschein. Betroffen waren jeweils die weiße Substanz von Rückgrat, Hirnstamm oder Kleinhirn. Eingefärbte Gewebeproben zeigten eine vollständige oder unvolllständige Zerstörung
der Myelinhüllen, wobei die Nerven selbst sich weit weniger angegriffen zeigten.1128
1125
QUAST, THILO, FESCHAREK, 1993, Impfreaktionen, S. 205
In SPIESS, Impfkompendium, 1994, S. 313
1127
GRAF, Impfentscheidungen, 1996, S. 19
1128
MERRIT, 1979, S. 102 und 103
1126
583
Impfversagen
Bei der Masern-Mumpsimpfung wird eine Schutzrate von etwa 95%
angegeben.1129 Gelegentlich ist auch ein Impfversagen möglich. Dies
gilt im Übrigen auch für andere Impfungen. Das Auftreten einer
Masernerkrankung ist trotz vorausgehender Impfung möglich. (44)
Der Impfschutz wird an dieser Stelle im gleichen Buch mit über 90%
angegeben, während oben noch von 95% gesprochen wird. Eine
Masern-Erkrankung vermag nach STICKL sogar vorausgegangene
Impfungen negativ zu beeinflussen (64).
Die Ursachen für ein Impfversagen entsprechen im Wesentlichen
denen für das Auftreten von Impfschäden. Ergänzt werden kann
noch das Auftreten einer beeinträchtigten Impfreaktion (SPIESS/78).
Es ist möglich, dass trotz regelrechter Grundimmunisierung (Hepatitis B) nach drei bis vier (!) erfolgten Impfungen kein ausreichender
Anti-HBs-Titer gebildet wird. Erklärt wird diese Tatsache durch
sogenannte „Low-Responder“, bei denen es zu keiner IgMStimulierung gegen das HBs-Antigen kommt (QUAST, 102).
Für die Praxis wird eine wiederholte Impfung empfohlen, verbunden
mit entsprechender Laborkontrolle. Dass ein 100%iger Schutz durch
Impfungen nicht erfolgen kann, wird ersichtlich, da es mit Sicherheit
mehrere Personen gibt, die zur Gruppe der „Low-Responder“ zählen.
QUAK berichtet über mehrere große Impfunfälle:
„Da Impfstoffe millionenfach auf ganze Populationen angewandt
werden, können übersehene virale Durchseuchung, Rückmutation
oder Neumutation des attenuierten Impfstoffes oder ungenügende . . .
Erregerabschwächung für viele Menschen dramatische Konsequenzen haben (30). Große Impfunfälle treten immer wieder auf. Ein paar
Beispiele aus der Medizingeschichte: 1944 gab es in Brazzaville
aufgrund einer Gelbfieberimpfung 102 Erkrankungen an Enzephalitis und 17 Tote. 1942 wurde eine mit Hepatitisviren durchseuchte
Gelbfieberimpfung in den USA durchgeführt. Die Folge: 28 585
Hepatitisfälle und 62 Tote. Im Jahre 1955 der sogenannte CutterVorfall in den USA; dabei gab es 250 Polioerkrankungen und zehn
Tote wegen lebender Erreger im Totimpfstoff. In Berlin traten 1960
innerhalb von vier Wochen 25 Fälle von paralytischer Poliomyelitis
auf, nachdem ein Impfstoff angewandt wurde, der noch eine Restfähigkeit zur Erzeugung einer Poliomyelitis besaß (56). Und 1988 bis
1129
QUAST, 100 und mehr knifflige Impffragen, 1990, S. 40
584
1992 die oben beschriebene Enzephalitishäufung bei der MMRImpfung.1130
Über weitere Fälle von sogenanntem „Impfversagen“ berichtet
ROY1131:
Namibia, 1994: Impfpoliomyelitis durch Fehler bei der Kühlung des
Impfstoffes.
Holland, 1978 und 1993: Impfpoliomyelitis bei 557 Menschen.
Brasilien, 1962: Impfpoliomyelitis bei 196 Menschen.
USA, seit 1961: Jeder auftretende Fall ist auf Impfpolyomyelitis
zurückzuführen.
Rumänien, 1988 bis 1992: Impfpoliomyelitis durch die Impfung
selbst bei 18 Kindern, durch den Kontakt mit geimpften Kindern bei
13 Kindern.
In regionalen Zeitungen und Informationsblättern erscheinen in
jüngster Zeit aufwendige Werbeanzeigen mit einer Länge bis zu
einer halben Seite nach dem üblichen Schema. Ein Angst einflößendes Foto und lange Erläuterungen, in welchen eingeräumt wird, dass
es . . . „gravierende Impfkomplikationen“ bei der Polioimpfung
sogar in Deutschland gab. „ . . . Die wenigen aufgetretenen Poliofälle waren aus dem Ausland eingeschleppt oder durch die Impfung
selbst verursacht worden . . .“1132 Die Polioepidemie von 1978 in den
Niederlanden wird folgendermaßen begründet: Die dort erkrankten
110 Personen hatten sich aus religiösen Gründen nicht impfen lassen
(vgl. dazu die Darstellung bei ROY).
Überblick über Impffolge-Symptome aus der homöopathischen
Literatur
Die mit * gekennzeichneten Fälle wurden von Dr. Eichelberger aus
der alten homöopathischen Literatur übernommen.
1130
QUAK, 1996, Impfungen und Impffolgen , Seite 6, Internet,
Stichwort: Impfung
1131
ROY, 1997, S. 237 f.
1132
Kreisbote, Landkreis Weilheim-Schongau, 2. 9. 1998, S. 33
585
Erklärung: Name des Verfassers, Quelle (I bedeutet Band 1 und II
Band 2), Jahr, Seiten oder bei EICHELBERGER: Fallbeschreibung
Nr. (F),
Art der Impfung, Alter und Geschlecht des Impflings (35/w bedeutet:
35 Jahre alt, weiblich), Symptome und Komplikationen
Abkürzungen für die Impfungen:
BCG: Tuberkulose, HIB: Haemophilus influenzae Typ b, FSME:
Frühsommermeningoenzephalitis, DPT: Diphterie, Polio und Tetanus, MMR: Masern, Mumps und Röteln
Braun, Deutsches Journal für Homöopathie, 1995, S. 46 bis 48
BCG: lokale Abszessbildungen, inguinale Lymphknotenschwellungen, Lymphknoteneiterungen und – wenn auch sehr selten – Aussaat
der Impfbakterien im ganzen Körper
HIB: Erkrankungen trotz mehrmaliger HiB-Impfungen
FSME: Nervenentzündungen, Lähmungen und allergische Erkrankungen (z. B. Capillary leak Syndrome)
Masern/ Mumps: Tausende Erkrankungen trotz Impfungen (Ungarn);
Risiko von Erkrankungen in höherem Erwachsenenalter
Pertussis: 50% der Säuglinge bekommen Fieber, Schreiattacken über
Stunden und Tage sowie Krampfanfälle
Eichelberger, Klassische Homöopathie I, 1979, F 95
Grippe (35/w): ständige Müdigkeit, Herzklopfen, Kreislaufbeschwerden, häufige Kopfschmerzen im Stirn- und Nebenhöhlenbereich, Halsbeschwerden
1979, F 185
Pocken (59/w): Fieber, Impfarm (1 Woche starke Schwellung), eitrige Pusteln (3 Wochen), Ekzem nässend und juckend
1979, F 213
Polio Schluckimpfung (35/m): nach 3 Tagen Schwäche in den
Gliedmaßen, dauernde Stürze, beidseitige Schwellung der Halsdrüsen, Schweiß an Unterschenkeln und Füßen, Gelenkschmerzen in
Fingern und Knien
1979, F 281
Pocken und Polio (24 /m): Augenmuskelschwäche, Spannungsgefühl
in der Stirn, Steifheitsgefühl der Augäpfel und der Mundpartie,
Lichtempfindlichkeit, betrachtete Gegenstände wackeln
586
II/1982, F 92
Diphterie/Tetanus (1/w): Gesichtsblässe, nach 3 Tagen starke Durchfälle wässrig, grün, schwarz, stinkend; Wiederauftreten von starken,
bereits früher vorhandenen Hautausschlägen (Rötungen vom Bauchnabel bis zu den Knien und über das ganze Gesäß), hohes Fieber
II/1982/149*
wiederholte, regelmäßige Impfungen im Kindesalter (50/m):
dyspeptische Beschwerden, Magengeschwür, Frieren, übermäßig
viele Warzen, ständige Übersäuerung und Brechattacken, Blähbauch,
Flatulenz, Schmerzen im Oberbauch
II/1982 , F 154*
Pocken (?), Kind: Hautausschläge, welche durch äußere Medikamente nach innen „vertrieben“ wurden; darauf Krämpfe und in der
Folge Epilepsie (bis zu siebenmal täglich)
II/1982/214
Pockenimpfung (36/m): hartnäckige Hämorrhoidalbeschwerden mit
Blutungen, Jucken, Depressionen
II/1982, F 291*
Pocken (3/m): Hautausschlag, welcher mit Salben „vertrieben“ wurde, danach hartnäckiger Husten mit Auswurf im Kehlkopf
II /1982, F 295*
Pocken (?m): chronischer Magenkatarrh, nach Behandlung desselben
faustgroße Geschwulst in der linken Brust
Eichler, Deutsches Journal für Homöopathie, 1995, S. 60 bis 63
Komplettimpfung, inklusive HIB (Kleinkind):
Neurodermitis constitutionalis, Hitze der Haut, lautes, schmerzbedingtes Schreien, starke Unruhe, muss ständig beschäftigt werden,
sehr zornig und oft unzufrieden, eigensinning und oft stur, aus dem
Schlaf oft hochschreckend, dabei ganz große Augen, rollt den Kopf
im Schlaf hin und her, schnarcht im Schlaf, Mund nachts meistens
offen
Fuckert, Deutsches Journal für Homöopathie, 1995, S. 50 bis 52
DPT/II+HiB (Säugling/m): Fieber, Verhalten gedäm