INFOBLATT 150 Jahre Psychotraumatologie Trauma und Gewalt, 5

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INFOBLATT 150 Jahre Psychotraumatologie Trauma und Gewalt, 5
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150 Jahre Psychotraumatologie
Trauma und Gewalt, 5. Jahrgang, Heft 3, August 2011,
Bericht von Guido Flatten, Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie,
systemischer Familientherapeut, EMDR-Supervisor im Eurogio Institut in Aachen
Bei der Traumaarbeit schauen wir auf 150 Jahre ent-decken, ent-tabuisieren. Zu Traumafolgestörungen
schauen wir auf 15 Jahre Leitlinienentwicklung. Traumaarbeit steht immer in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen und politischen Kräften.
1859, vor 150 Jahren, waren die Diskussionen um die Evolutionstheorie von Charles Darwin aktuell. Zeitgleich wurde die Eisenbahn erfunden und weiterentwickelt. Es passierten schwere Zugunglücke (z.B. 1842
in Versailles mit ca. 50 Toten, 1861 Clayton mit 21 Toten und 230 Verletzen). Vielleicht ist es Zufall: 1998
ereignet sich in Eschede ein Zugunfall mit vielen Toten. Dieses Ereignis hat in der deutschen Öffentlichkeit
Impulse zur Bewusstseinsbildung und Verbesserung der psychotraumatologischen Versorgungsstruktur
gegeben.
1867 beschreibt der Chirurg Eric Ericksen als Erster das, was wir heute Posttraumatische Belastungsstörung
nennen. Er ging von einer Erschütterung des Rückenmarks aus, benennt aber schon damals ein psychisches
Störungsbild, das mit überflutender Wiedererinnerung, angstbetontem Vermeidungsverhalten und heftigen
körperlichen Erregungszuständen einhergeht (genannt Railway spine).
1870 beschreibt der Hirnforscher Ewald Hering seine Beobachtungen zu Bewusstsein und Gedächtnisorganisation.
1883 beschreibt der Chirurg Herbert Page die Traumafolgesymptome als Ausdruck einer traumatischen
Hysterie.
1884 wird im Deutschen Reich die gesetzliche Unfallversicherung eingeführt.
1886 schreibt der Neurologe Hermann Oppenheim in seiner Habitilation über „Die Bedeutung des Schrecks
für die Nervenkrankheiten“. Es geht um ein Verständnis für Traumafolgestörungen, auch wenn sie damals
noch organischen Ursachen (dem Rückenmark und Gehirn) zugeschrieben wurden. Das seelische Erleben aber wurde bereits als Ursache gesehen. Weitere Werke von Oppenheim: „Die traumatische Neurose“
(1889) und „Stand der Lehre von den Kriegs- und Unfallneurosen“ (1918).
Pierre Janet, (Franzose, 1859-1947), gilt weithin als ein Begründer der Psychotraumatologie. Er war Philosoph, Psychiater und Psychotherapeut. Er entwickelte ein Konzept der Dissoziation der Persönlichkeit und
erklärte damit, wie traumatische Erfahrungen als abgespaltene Anteile der Persönlichkeit im Unbewusstsein
überdauern und später Auslöser für Erkrankungen werden können.
Die Entdeckung der strukturellen Dissoziation hat hier ihre Wurzeln. Bei dieser geht es um ANP’s = anscheinend normale Persönlichkeitsanteile und den EP’s, den emotionalen Persönlichkeitsanteilen, die die
abgespaltene traumatische Erfahrung verkörpern können.
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Sigmund Freud und Josef Breuer waren zur gleichen Zeit mit der „hysterischen Störung“ beschäftigt. Freud
gelang damals nicht die Enttabuisierung der Zusammenhänge, er relativierte seine ursprünglichen Erkenntnisse später in den Konzepten der Psychoanalyse.
Der erste Weltkrieg verursachte 17 Millionen Tote und circa 21 Millionen Verletzte. Soldaten kamen als
„Kriegszitterer“ von der Front zurück und wurden für den Wiedereinsatz hypnotisch behandelt – hierzu
gibt es belegendes Bild- und Filmmaterial. Statt die psychische Störung zu erkennen, erfand die Medizin im
Dienste der Kriegsherren den Shell-Shock, der angeblich durch die Druckwelle von Granatexplosionen verursacht wurde (dabei würde Gehirn durch die Druckwelle an die Schädelwand gedrückt). Der Umgang mit
seelischer Verletzbarkeit wurde mit aller Kraft abgewehrt, die Schrecken des Krieges wurden gesellschaftlich
verleugnet. Max Nonne (Nervenarzt, 1861-1959) verneinte in einer Rede vor dem im Deutschen Reich
psychische posttraumatische Störungen der Soldaten.
„Kriegszitterer“ (weil die Männer unkontrolliert zitterten), „Schützengrabenneurose“ oder „Rentenneurose“ genannt – erkrankte Soldaten galten in der Zeit des ersten Weltkrieges und danach als moralische Invaliden,
konstitutionell minderwertig, als Simulanten oder Feiglinge. Mit dieser Haltung ist es verständlich, dass es
zwischen dem 1. und dem 2. Weltkrieg keine wesentlichen Erkenntnisse in der Psychotraumatologie gab.
Neue Impulse kamen während des zweiten Weltkriegs aus den USA.
Abram Kardiner (1891 – 1981) setzte sich kritisch mit der Psychoanalyse von Freud auseinander. 1941
veröffentlichte er das Buch „The traumatic neurosis of war“. Er sah in der traumatischen Kriegsneurose eine
Überforderung der individuellen Anpassungsfähigkeit an die Kriegserfahrung. Er nannte die Auswirkungen
„Physioneurose“, um gleichzeitig körperliche wie seelische chronische Auswirkungen zu beschreiben. Diese
Erkenntnisse werden heute in der modernen und den neurobiologischen Modellen der PTBS bestätigt.
Nach dem zweiten Weltkrieg befasste sich auch die Neurobiologie mit dem Thema. Der Kanadier und Psychologie Donald Hebb (1904 – 1985) entwickelte die neurophysiologische Annahme einer synaptischen
Plastizität und damit einen wichtigen Baustein zum Verständnis von Lernen und Gedächtnisbildung. Aus
seinen Erkenntnissen entwickelte sich die Theorie: Je intensiver und emotionaler eine Erfahrung erlebt
wird, umso stärker ist sie in neuronalen Netzwerken repräsentiert. Neuronen vernetzen sich entweder
durch wiederholte Lernvorgänge oder durch intensives emotionales Erleben. Durch häufiges intensives Wiedererleben bilden sich stabile neuronale Netzwerke im Sinne von traumatischen Attraktoren.
Hätte es nicht die Kriegsveteranen aus dem 1./2. Weltkrieg und dem Vietnamkrieg gegeben, wären nicht so
viele staatliche und private Forschungsgelder geflossen.
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Das Jahr 1968 gilt als Anfang der modernen Psychotraumatologie. Der Psychiater Robert Jay Lifton
(geb. 1926) formulierte seine Erkenntnisse aus den Erfahrungen der Kriege in Japan und Korea. Er war
1951-1953 Psychiater bei der Air Force und Wegbereiter der Diagnose „Posttraumatic stress disorder“.
Der Vietnamkrieg und die Rückkehr der Soldaten in den 70er Jahren schuf ein neues gesellschaftliches
Bewusstsein für die Folgen von Gewalt, Krieg und Hilflosigkeit.
Die Frauenbewegung der 60er Jahre, die das Thema der körperlichen und sexualisierten Gewalt gegen
Frauen und Kinder enttabuisierte, legte damit einen Grundstein. Judith Hermann, heute Professorin in
Harvard, ist mit ihrem Buch „Die Narben der Gewalt“ eine der Begründerinnen. Es bestand eine extreme
gesellschaftliche Dialektik im Spannungsfeld zwischen Tabu-Bewahrung und Ent-Tabuisierung.
Zwei Bereiche wurden parallel öffentlich: die Folgen von Kriegstraumatisierung und die Folgen von Entwicklungstraumata, die im häuslichen Umfeld stattfinden. Ebenfalls wurde der öffentliche Fokus auf die
Täter innerhalb der Bekannt- und Verwandtschaft (sprich innerhalb der sozialen Netz) gelegt, weg von der
gesellschaftlichen Angst vor dem „schwarzen Mann“ (übrigens eine diskriminierende Falschannahme).
Fortschreitende wissenschaftliche Erkenntnisse nach dem 2. Weltkrieg spiegelten sich in den Diagnosen von
DSM-I bis DSM-IIR. 1952 galt die Diagnose „Gross stress“, sie bedeutete, dass die traumatisierende Erfahrung den normalen Horizont menschlicher Erfahrung überschreitet. Die alltäglichen Erfahrungen nach Unfällen, Gewalt, Natur- und technischen Katastrophen waren 1952 noch nicht traumarelevant anerkannt.
1980 erschien die Diagnose „Posttraumatic Stress Disorder“ im amerikanischen Diagnosemanual DSM-IIIR.
Danach dauerte es weitere 12 Jahre, bis das Internationale Klassifizierungsmanual ICD 10 die Diagnose
„Posttraumatische Belastungsstörung“ aufnahm und auch die deutschen ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen die Traumafolgestörung als reaktive, erlebnisbezogene und damit behandlungsbedürftige Erkrankung diagnostizieren konnten.
Dass die Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts hundert Jahre brauchten, bis sie durch Vietnamkrieg und
Frauenbewegung medizinisch fassbar wurden, macht die Wechselwirkung zu den gesellschaftlichen und
politischen Faktoren deutlich.
An dieser Stelle fehlt noch die Erwähnung der Parallelentwicklung der Neurobiologie.
Eric Kandel verfolgte in den 70er Jahren die relevanten biochemischen und genetisch verankerten Prozesse
für Gedächtnisbildung. 2000 erhielt er hierfür den Nobelpreis für Medizin und Physiologie. Kandel wies
nach, dass die neuronale Verschaltung bei Lernprozessen bei niedrigen Tieren und beim Menschen besteht
und er bestätigte, dass neuronale Netzwerke über die Intensität ihrer synaptischen Verschaltung gespeichert
werden. Das heißt, je intensiver das Erleben, je intensiver die Verankerung im Gehirn.
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Seit Einführung der PTBS gibt es in Deutschland zwei Phasen:
• bis 1995 hatten nur wenige Experten erste Einblicke in das Aufgabenfeld der Psychotraumatologie
• seit 1995 im internationalen Vergleich hat die Auseinandersetzung in Deutschland mit den Themenbereichen der Traumatisierung stark zugenommen. Die Entwicklung in Deutschland hatte hier Vorbildcharakter.
Die öffentliche Diskussion über langanhaltende Folgen von frühen Vernachlässigungen, körperlichen und
sexualisierten Gewalterfahrungen führte zu einer Sensibilisierung in der Gesellschaft. Die Weiterentwicklung entstand auch durch die Beschäftigung mit Spätfolgen und generationsübergreifenden Folgen des
Holocaust, aus der Frauenbewegung zu den Themen sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung und häusliche
Gewalt sowie aus psychosozialen Zentren für Flüchtlinge zu den Folgen von Folter, politischer Verfolgung
(Bürger-)krieg und Zwangsprostitution.
Gesellschaftliche Prozesse werden durch Veröffentlichungen wie zum Beispiel von Sabine Bode „Die vergessene Generation“ oder von Anne-Ev Ustoff „Wir Kinder der Kriegskinder“ weiterentwickelt und Geschichtsbewältigung weiter gebracht.
Die Öffentlichkeit ist auch mit der medialen Verarbeitung von Katstrophen beschäftigt: z. B. das Zugunglück
von Eschede 1998, der Anschlag auf das Word Trade Center (2001), der Tsunamiekatastrophe in Asien
(2004) oder dem Reaktorunfall in Japan.
Die Traumapädagogik gibt es seit 2003. Wer sich näher mit der Geschichte der Psychotraumatologie beschäftigen möchte, kann mehr dazu nachlesen bei: Ellenberger (1985), Fiedler (1999), Frommberger
(Überarbeitung 2003), Herman (Neuauflage 2003), Hofmann (1999), Hofmann et al. (2003)
Seit den bahnbrechenden Arbeiten von Judith Herman in den 70er Jahren gilt die Dreiteilung der
Traumabehandlung als Methode der Wahl:
Stabilisieren – Traumakonfronation – Integration (mit Trauerarbeit und Wiederanknüpfen).
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