Zur Zerstörung geschaffen. Figurinen der Kupferzeit Südsteuropas
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Zur Zerstörung geschaffen. Figurinen der Kupferzeit Südsteuropas
221 Zur Zerstörung geschaffen. Figurinen der Kupferzeit Südsteuropas Valeska Becker Valeska Becker Einführung Über die kulturellen Verhältnisse während des Beginns und der Blüte der Kupferzeit Ostbulgariens sind wir auf Grund zahlreicher Grabungen auf Tellsiedlungen und Gräberfeldern gut unterrichtet. Zwar harren viele Fundplätze ihrer endgültigen Vorlage, doch existieren zumindest für die meisten mehr oder minder umfangreiche Vorberichte. Zu den erforschten Tellsiedlungen in Thrakien gehört auch der Siedlungshügel von Drama-„Merdžumekja“, der südöstlich des modernen Dorfes Drama am linken Ufer der Kalnica gelegen ist. Die seit den achtziger Jahren des knochen auch zahlreiche Kleinfunde. Darunter befinden sich zoomorphe Figurinen und Gefäße, Miniaturmöbel und Kulttischchen, Tonplaketten, Radmodelle, Miniaturäxte, Stempel und auch anthropomorphe Figurinen aus Knochen und Ton. Eine Vorlage dieser Gegenstände, ihre kulturelle und kontextuelle Einordnung und Interpretation, ist in Vorbereitung. In vorliegender Studie stehen die anthropomorphen Figurinen des Tells und die taphonomischen Prozesse, die an ihnen beobachtet werden können, im Fokus der Betrachtungen. Die Schichten, aus denen sie zutage kamen, datieren in ihrer Mehrzahl in die bulgarische frühe und Thrakien Nordostbulgarien Westbulgarien Südostrumänien Südrumänien Karanovo VI Kodžadermen Varna Krivodol Gumelniţa Sălcuţa Marica Karanovo V Poljanica Sava Gradešnica Dikili Taš Hamangia Boian-Vidra Tab. 1 Schematische Übersicht über die kupferzeitlichen Kulturgruppen Bulgariens und Südrumäniens. zwanzigsten Jahrhunderts laufenden Ausgrabungen und Forschungen in der Mikroregion um das heutige Dorf erbrachten Erkenntnisse zur Besiedlungsgeschichte eines geografisch geschlossenen Raumes diachron vom Neolithikum bis in die byzantinische Zeit. Darüber hinaus lag ein Schwerpunkt der Untersuchungen auf der Erforschung des Tells und der Bearbeitung des von dort stammenden Fundmaterials (Lichardus u. a. 2000; Lichardus u. a. 2003). Die Ausgrabungen auf dem Tell erbrachten neben ungeheuren Mengen an Keramikfragmenten und vollständig erhaltenen Gefäßen, Stein-, Knochen- und Silexartefakten und Tier- mittlere Kupferzeit. Dies entspricht in der Terminologie für Südostbulgarien den Stufen Marica I–III bzw. Karanovo V und Marica IV (vgl. hierzu Todorova 1986; Krauß 2008, 129–131). In Westbulgarien ist die Gradešnica-Stufe anzuschließen. Weiter westlich grenzt die VinčaKultur mit ihren Stufen B2 und C an. Einige wenige Vertreter anthropomorpher Figurinen von Drama-„Merdžumekja“ lassen sich auch noch in die Spätkupferzeit datieren, die durch den Kulturkomplex KodžadermenGumelniţa-Karanovo VI bzw. die Varna-Kultur gebildet wird. In Westbulgarien ist diese Zeit durch den Kulturkomplex Krivodol-Sălcuţa- Thomas Link und Dirk Schimmelpfennig (Hrsg.) Taphonomische Forschungen (nicht nur) zum Neolithikum. Fokus Jungsteinzeit. Berichte der AG Neolithikum 3 (Kerpen-Loogh 2012) 221−235 222 Zur Zerstörung geschaffen. Figurinen der Kupferzeit Südosteuropas Bubanj Hum vertreten, was in etwa der Zeit von Vinča D entspricht. Die Figurinen, die aus den Schichten des Südosthangs des Siedlungshügels stammen (vgl. den Beitrag von Thomas und Gleser in diesem Band) und in die späte Kupferzeit datieren, werden jedoch nicht mit in die folgenden Überlegungen mit einbezogen; sie sind Gegenstand einer eigenen Publikation (Becker/Thomas 2011). Materialbasis und Typengruppen Gesichtet und bearbeitet wurden bislang ca. 400 anthropomorphe Figurinen aus Ton sowie weitere 80 Vertreter aus Knochen, die jedoch für das Folgende keine Rolle spielen. In ihrer Mehrzahl sind die Tonfigurinen fragmentiert. Lediglich etwa 50 Exemplare sind vollständig oder fast vollständig erhalten. Anhand dieser ganz erhaltenen Vertreter kann eine vorsichtige Unterscheidung in zwei Typen vorgenommen werden, die sich vor allem in der Gestaltung des Körpers voneinander unterscheiden. Die meisten Fragmente können zwanglos diesen beiden Typen zugeordnet werden. Zum einen kommen ungegliederte Figurinen vor, die einen säulenförmigen, im Querschnitt runden Körper aufweisen. Beine sind nicht wiedergegeben, stattdessen endet der Körper in der Regel in einer ebenen Fläche. Manchmal sind Füße ganz schwach angedeutet. Der Kopf geht ohne Hals in den Körper über, Arme sind gar nicht vorhanden oder nur in Form kleiner Stummel ausgebildet. Daneben lässt sich ein zweiter Typ unterscheiden, bei dem die Beine deutlich ausgeformt sind. Oft ist auch der Oberkörper dargestellt, und meist ruht der Kopf auf einem Hals. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es möglich, weitere Unterteilungen innerhalb der beiden Typengruppen vorzunehmen. Als mögliche Kriterien bieten sich Varianten in der Körperform, bestimmte Verzierungstechniken (Ritzlinien, Einstiche, Bemalung), -motive bzw. Verzierungslosigkeit an, ferner Geschlechtsmerkmale oder Größenverhältnisse (von etwa 3–4 cm bis zu 20–25 cm und mehr). Für die folgenden Abb. 1 Fragmentierung an Figurinen aus Drama-„Merdžumekja“. Überlegungen sind diese Unterteilungen jedoch zunächst nicht relevant. Fragmentierung (Abb. 1) Der weitaus größte Teil der anthropomorphen Figurinen liegt in mehr oder minder stark fragmentiertem Zustand vor. Bei den Grabungen kamen zahlreiche Bruchstücke von Köpfen, Oberkörpern, Armen und Beinen zutage. Während für den oben erwähnten ungegliederten Typ durchaus einige Vertreter angeführt werden können, die vollständig erhalten sind, gibt es für den stärker gegliederten Typ fast nur Fragmente. Dabei fallen besonders Brüche ins Auge, die in der Längsachse des Körpers erfolgten, etwa vertikal durch den Oberkörper oder den Hüftbereich. Sie wirken deshalb ungewöhn- Valeska Becker lich, weil sie durch massive Teile der Figurinen verlaufen. Eine Anpassung von verschiedenen Bruchstücken war nur in einigen vereinzelten Fällen möglich. Aus den Grabungen stammen zum Beispiel Dutzende rechte und linke Beine, die fast nie zusammenfügbar waren, und das, obwohl in über zwanzig Jahren Grabungsgeschichte große Flächen des Siedlungshügels geöffnet wurden und die Bruchstücke ein gutes Erkennungspotential aufweisen. Der fragmentarische Zustand vieler Figurinen schränkt naturgemäß die Möglichkeit zu Aussagen, die die Gesamtgestalt, die Flächigkeit von Verzierungen, die Größe und andere Merkmale betreffen, stark ein. Andererseits kann gerade der Umstand der Fragmentierung an sich als Ausgangspunkt für Untersuchungen genutzt werden, besonders auf Grund der Tatsache, dass manche Brüche nicht zufällig erscheinen. Daher steht im Folgenden die Herstellungstechnik der Figurinen im Vordergrund. Herstellungstechniken (Abb. 2) Technik 1: Fertigung aus Einzelteilen Bei der makroskopischen Analyse der Fragmente fiel auf, dass einige Figurinen offensichtlich aus einzelnen Teilen zusammengesetzt waren. Dies war daran zu erkennen, dass die Innenseiten von Bruchstücken glatt waren und keine typischen unebenen Bruchstellen aufwiesen. Nach der Fertigung der Einzelteile wurde allenfalls die Oberfläche verstrichen, sodass es zu einem einheitlichen Aussehen der Figurine kam. Diese dünne Deckschicht war im Bruch gleichfalls gut zu erkennen. Eine echte Verbindung der Einzelteile fand nicht statt. Damit wurde die Figurine an den Stellen, an denen die Einzelteile aneinander lagen, relativ instabil. Technik 2: Fertigung aus Einzelteilen, Verbindungen mit Stiften An einigen wenigen Fragmenten war eine zweite Technik zu beobachten. Wie bei der zuvor beschriebenen Technik war die Figurine wohl aus einzelnen Teilen zusammengefügt: Die 223 Bruchstellen sind an der Innenseite glatt. Im Unterschied zu vorhin wurden hier die einzelnen Teile aber wohl mit Stiften aus einem organischen Material miteinander verbunden. Von diesen Verbindungen zeugen noch einzelne Löcher. Stifte selbst sind nie erhalten geblieben, vermutlich bestanden sie aus Holz oder einem anderen organischen Material und vergingen bereits beim Brand. Löcher von Stiften finden sich besonders häufig im Gesäß-Hüftbereich. Selten sind sie auch am Hals feststellbar: Dies legt nahe, dass in diesen Fällen auch der Kopf einzeln geformt und dann verbunden wurde. Nach dem Zusammenstecken wurde die Oberfläche überglättet, sodass wiederum keinerlei Nähte mehr sichtbar waren. Wie bei Technik 1 führt auch Technik 2 zu einer Instabilität der Figurine. Technik 3: Fertigung eines Tonkerns und anschließende Übermodellierung Schließlich sei noch eine dritte Herstellungstechnik angeführt, die ebenfalls beobachtet werden konnte. Bei einigen Fragmenten war zu erkennen, dass offenbar zunächst ein Tonkern geformt wurde. Dieser wurde dann mit einem Mantel überzogen. Manchmal ließ sich ebenfalls wieder die Herstellung aus einzelnen Teilen nachweisen. Die drei Techniken kommen manchmal in Kombination vor bzw. gehen aus einander hervor. Bei kleinen Bruchstücken ist eine Zuordnung zu einer bestimmten Technik oft nicht möglich. Darüber hinaus kommen durchaus auch Fragmente vor, an denen sich keine Hinweise auf eine der drei beschriebenen Techniken findet. Alle drei Techniken führten jedoch auf jeden Fall dazu, dass die Figurine sehr zerbrechlich wurde. Dies mutet zunächst seltsam an; für gewöhnlich wünscht der, der etwas schafft, dessen Erhalt, nicht dessen Zerstörung. Im Fall der anthropomorphen Figurinen von Drama„Merdžumekja“ aber scheint die Zerstörung die Regel und vielleicht sogar gewünscht gewesen zu sein, ein Umstand, der für mögliche Interpretationen von Bedeutung ist. 224 Zur Zerstörung geschaffen. Figurinen der Kupferzeit Südosteuropas Abb. 2 Herstellungstechniken. 1 Technik 1; 2–3 Technik 2; 4–5 Technik 3. Es stellt sich nun die Frage, ob diese Techniken sich auf die Stücke vom Tell Drama„Merdžumekja“ beschränken, oder ob es sich um ein überregionales Phänomen handelt, das vielleicht auch an anderen Orten auftritt. Anlässlich einer Museumsreise im März des Jahres 2010, auf der es mir möglich war, zahlreiche auch unpublizierte Figurinen verschiedener 225 Valeska Becker Ausgrabungen in ganz Bulgarien und einem Teil Rumäniens in Augenschein zu nehmen, konnten bei vielen Stücken ähnliche Spuren verschiedener Fertigungstechniken festgestellt werden. Diese Fertigungstechniken wurden in Siedlungen Ostbulgariens ebenso angewendet wie in Westbulgarien. Somit überschreitet dieses Phänomen die seit dem Frühneolithikum bestehende kulturelle Grenze, welche Bulgarien in der Kupferzeit in einen östlichen Teil mit der dort vorherrschenden Karanovo-V- bzw. der Marica-Kultur sowie dem Kulturkomplex Gumelniţa-Karanovo-VI und einen westlichen Teil mit der Gradešnica-Stufe und den Kulturen Krivodol-Sălcuţa-Bubanj Hum I trennt. Synchroner Vergleich zur Fragmentierung Tatsächlich lassen sich diese Techniken und die Fertigung aus Einzelteilen auch über Bulgarien und Rumänien hinaus an Figurinen spätneolithischer und frühkupferzeitlicher Kulturen beobachten. Dabei ist von essentieller Wichtigkeit, dass die Herstellung der figürlichen Funde gesondert beachtet und von den jeweiligen Forschenden explizit untersucht wurde und damit auch bei einer entsprechenden Publikation thematisiert wird, denn oftmals ist aus Zeichnungen oder Fotografien allein nicht zu erkennen, ob eine besondere Fertigungstechnik zur Anwendung kam. Immerhin war es möglich, an einigen Figurinen der späteren Vinča-Kultur diese Techniken und die Fertigung aus Einzelteilen zu beobachten. Tatsächlich lässt sich das Phänomen der Fertigung in Einzelteilen und die zielgerichtete Fragmentierung sogar bis in den Lengyel-Kulturbereich hinein verfolgen. So stellte beispielsweise E. Ruttkay in einer Abhandlung zur anthropomorphen Tonplastik aus Svodín einige Figurinen vor und notierte bei mehreren Stücken besondere Fertigungstechniken (Ruttkay 2004). Sie erwähnt Beispiele für Technik 3, die Herstellung einer Figurine mittels eines Tonkerns und eines Mantels (Ruttkay 2004, 327–329), und die Herstellung aus Einzelteilen, die mittels „Zapfen“ miteinander verbunden wurden (Ruttkay 2004, 328–329), und schloss aus diesen Funden auf eine beabsichtigte Zerstückelung. Mit der Datierung der Funde in die Phase MOG Ia der Mährisch-Bemalten Keramik (MBK) dürften die Funde nur wenig älter sein als die Figurinen aus Drama-„Merdžumekja“ (Stadler u.a. 2006, 54). Ähnliche Beobachtungen, wie sie Ruttkay in Svodín für MOG Ia machte, lassen sich auch an Figurinen der jüngeren Phasen des Kulturkomplexes Lengyel und MOG bzw. MBK feststellen (vgl. z. B. die aus zwei Hälften gefertigte Figurine von Žlkovce, Stufe Lengyel II, Pavúk 2003, 319 Abb. 5,1; ein Kopffragment aus Obermixnitz mit einem Stiftloch, späte MBK, Berg/Maurer 1998, 66–67). Damit wird klar, dass es sich also um ein Phänomen handelt, das sich ganz allgemein im Spätneolithikum und in der frühen und mittleren Kupferzeit an anthropomorphen Figurinen manifestiert und nicht an eine bestimmte Kultur gebunden ist. Diachroner Vergleich zur Fragmentierung (Abb. 3) Im diachronen Vergleich zeigt sich, dass die Art der Fertigung aus Einzelteilen in Bulgarien in das Neolithikum zurückverfolgt werden kann. Exemplarisch kann hierfür eine Figurine aus dem Tell von Karanovo dienen, die ins bulgarische Mittelneolithikum (Karanovo II–III) einzuordnen ist (Berger 2005, 193–194). Sie wurde in Einzelteilen gefunden, es handelt sich aber um einen der seltenen Fälle, wo die Fragmente nah beieinander gefunden wurden und wieder zusammensetzbar waren. Kopf, Rumpf und die Beinhälften der Figurine wurden einzeln hergestellt und „wohl in lederhartem Zustand“ (Berger 2005, 193) miteinander verbunden. Die Beine waren mit drei Stäbchen aus organischem Material zusammengesteckt, von denen sich die tiefen Löcher in beiden Beinhälften erhalten haben. Ein vertikales Stäbchen verband Beine, Rumpf und Kopf miteinander. Zusätzlich befanden sich oben an den Beinen am Übergang zum Rumpf Tonzapfen, die gleichfalls zur Verbindung der Teile dienten. Nach dem Zusammensetzen der Einzelteile wurde die Oberfläche des Stücks verstrichen und geglättet. 226 Zur Zerstörung geschaffen. Figurinen der Kupferzeit Südosteuropas Abb. 3 Herstellungstechniken an Figurinen aus Karanovo (1) und Aşağı Pınar (2). Nach Berger 2005, 194 Abb. 6 und Hansen 2004, 199 Abb. 1. Tatsächlich lässt sich diese Sitte für das gesamte bulgarische Neolithikum immer wieder belegen. In einigen Fällen lassen sich Belege bis ins Frühneolithikum hinein finden (Becker 2010, 32–33). Auch im benachbarten Türkisch-Thrakien ist sie am Fundort Aşağı Pınar für das Mittelund Spätneolithikum durch S. Hansen erkannt worden (Hansen 2004). Er beschrieb die Fertigung aus einzelnen Teilen mit einem glättenden Überzug als auch die Verbindung der Einzelteile mit Stiften aus organischem Material (Hansen 2004, 195 u. 199 Abb. 1). Auf dem Balkan kann die Fertigung aus Einzelteilen und aus Einzelteilen, die manchmal zusätzlich mit Stiften verbunden wurden, gleichfalls bis in das Frühneolithikum zurückverfolgt werden. Die anthropomorphen Figurinen des Kulturkomplexes Starčevo-Körös-Criş liefern hierfür entsprechende Beispiele (z. B. aus Donja Branjevina: Karmanski 2005, 85 Taf. 3; Dévaványa-Atyaszeg: Oravecz 1995, 66 Abb. 3,1.2.; Kengyel-Csonka tanya: Raczky 1980, 13 Abb. 7,1; Zăuan: Hansen 2007, 140 Abb. 54) Voraussetzung ist, dass den Bruchstellen Aufmerksamkeit geschenkt wurde, was gerade in älteren Publikationen nicht immer der Fall ist. Überlegungen zu Gründen für die Fragmentierung Es wiederholen sich also synchron und diachron, auch überregional, bestimmte Elemente an den Figurinen: die Fragmentierung; das Brechen an bestimmten Stellen; und die Anwendung einer speziellen Herstellungstechnik, die ein Brechen begünstigt und auf Grund ihrer Einheitlichkeit auch zu relativ gleichförmigen Fragmenten führt. Hinter diesen wiederkehrenden Merkmalen ist ein Handlungsmuster zu vermuten, das zu interpretieren freilich schwer, wenn nicht unmöglich ist. Die Gründe für diese spezielle Art der Fertigung erschließen sich nicht sofort. So sind zunächst technische Aspekte in Betracht zu ziehen, eine Ansicht, die von manchen Forschern für die sehr gleichförmigen Figurinen der Lengyel-Kultur vertreten wird; bisweilen vermutete man sogar die Nutzung von Modeln (Doneus 2001, 74) für die Herstellung der einzelnen Körperteile. Entsprechende Model wurden jedoch bislang nicht gefunden. Zwar wird immer wieder ein Model aus Steinberg, Bezirk Oberpullendorf, in Niederösterreich angeführt, doch dürfte es sich hierbei vielleicht eher 227 Valeska Becker Abb. 4 Vorläufige Verteilung von Figurinen der älteren Siedlungsschicht von Drama„Merdžumekja“. Linien verbinden „Paare“ von Figurinen (Abbildung unter Verwendung des Planes von Fecht 2009). um ein Model für ein Kruseler Püppchen oder Ähnliches handeln (Hautmann 1931; zu Kruseler Püppchen z. B. Grönke/Weinlich 1998). Für die kupferzeitlichen Figurinen Bulgariens lässt sich zudem eine große Variabilität in der Form und Größe der einzelnen Bruchstücke feststellen, sodass die Verwendung von Modeln unwahrscheinlich ist. Der Ton, aus dem die Figurinen gefertigt wurden, unterscheidet sich zumindest in Drama-„Merdžumekja“ augenscheinlich nicht von dem, aus dem Gefäße hergestellt wurden. Somit sind technische Gründe für diese Art der Herstellung eher unwahrscheinlich. Damit bleiben ideelle, möglicherweise rituelle Gründe, die zu eruieren allerdings unmöglich ist; die Intention der Hersteller bleibt uns verschlossen. Denkbar wäre zum Beispiel, dass mehrere Personen an der Herstellung einer Figurine beteiligt waren und die einzelnen Teile von verschiedenen Personen gefertigt wurden; denkbar wäre auch, dass die spezielle Ferti- gung eben jenes Brechen erleichtern sollte und dass es somit Teil des Gebrauchs der Figurinen war. Figurinen in ihrem Kontext (Abb. 4) Die reine typologische und herstellungstechnische Betrachtung der Figurinen soll im Folgenden durch Überlegungen zu ihrem Fundkontext ergänzt werden, denn die Funktion der Figurinen lässt sich keinesfalls unmittelbar aus der Betrachtung der Stücke per se erschließen. Zunächst ist demnach das Fundmaterial in die beiden kupferzeitlichen Hauptsiedlungsphasen auf dem Tell Drama-„Merdžumekja“ aufzugliedern. Aus der frühen Kupferzeit bzw. den Phasen Marica I–III liegt nur eine geringe Anzahl von Figurinen vor. Zudem waren diese untersten Schichten auf dem Tell teils relativ stark durch die überlagernden Schichten der MaricaIV-Kultur und den Hinterlassenschaften jünge- 228 Zur Zerstörung geschaffen. Figurinen der Kupferzeit Südosteuropas rer Epochen gestört, sodass sich einige Stücke nicht mehr sicher zuordnen lassen. Erkennbar ist dennoch trotz aller Störungen, dass die frühe Siedlungsphase sich aus mehreren, einander teils überlagernden Häuser sowie Gruben zusammensetzt. Die Siedlung war von einem Graben umgeben, der sie an drei Seiten umschloss und einen Durchlass im Südwesten hatte. Die Häuser gingen nicht in einem Feuer unter, sondern wurden nach und nach aufgelassen. In den Häusern wurden neben kleinteilig fragmentierter Keramik, einzelnen Tracht- und Schmuckgegenständen sowie Stein- und Knochengeräten auch einige Figurinen gefunden. Ganz offenbar handelt es sich dabei um Objekte in sekundärem Befundzusammenhang, die keinen Aufschluss über den originalen Aufbewahrungsort erlauben. Leider findet sich nirgendwo ein spezielles Gebäude, das mit der Ausübung eines Kultes in Verbindung zu bringen wäre. Einzig Haus 486 am südwestlichen Rand der Siedlung fällt insofern aus dem Rahmen, als hier sieben Figurinen gefunden wurden. Es handelte sich dabei sowohl um fragmentierte als auch um ganz erhaltene Stücke, von denen drei um den Ofen des Hauses herum zutage kamen. Dennoch kann weder auf Grund der Größe noch der Orientierung oder anderer Merkmale auf eine besondere Funktion des Hauses geschlossen werden, eher auf eine etwas bessere Erhaltung als bei den anderen Gebäuden dieses Kulturhorizontes. Der Mangel an figürlichen Darstellungen im Westen der Siedlung ist wohl mit der hier auftretenden Erosion bzw. landwirtschaftlichen Nutzung des Geländes in Verbindung zu bringen. Auch in der folgenden, jüngeren Besiedelungsphase finden sich keine „besonderen“ Gebäude, die a priori auf Grund ihrer Ausrichtung oder ihres Inventars als rein kultisch zu betrachten wären. Wie in der vorangegangenen Besiedlungsphase der Zeit von Marica I–III sind die Häuser einräumig, die Siedlung ist vom immer noch genutzten Graben und einer Erweiterung an der Westseite nun ganz umgeben. Anthropomorphe Figurinen verteilen sich über weite Teile der Siedlung. In ihrer Mehrzahl stammen sie wiederum aus Häusern, einige Stücke kamen in Gruben zutage. Ein „Pompeji-Ereignis“, in dem ein Haus mit seinem Inventar auf einen Schlag versiegelt und danach nicht wieder gestört wurde, wäre natürlich sehr hilfreich, weil es vielleicht Aufschlüsse darüber geben könnte, wo und wie die Figurinen ursprünglich aufgestellt waren und zu welchen Zwecken sie eingesetzt wurden. Tatsächlich gibt es einige Befunde auf Drama-„Merdžumekja“, die in diese Kategorie einzuordnen sind. Das wohl beste Beispiel hierfür findet sich in Gestalt des Hauses 244 aus der jüngeren Besiedlungsphase, das in einem Feuer unterging (Lichardus u. a. 1996, 21). An der Westwand des Hauses lagen im Versturz große Mengen ganzer, zum Teil ineinander gestapelter Gefäße. Ebenfalls zum Inventar des Hauses gehörte ein gut erhaltener Kuppelofen, auf dem und um den herum gleichfalls zahlreiche Gefäße standen. Neben diesem Ofen, der Keramik und zahlreichen Stein- und Knochengeräten stammen aus dem Haus auch mindestens zehn anthropomorphe Figurinen. Sie gehören sowohl dem ungegliederten als auch dem gegliederten Typ an, und es liegen neben einigen ganz oder fast ganz erhaltenen Stücken auch etliche Fragmente vor. Sie waren in unterschiedlichen Versturzschichten im ganzen Haus verteilt. Offenbar befanden sie sich auch hier bereits in sekundärer Lage oder gerieten im Zuge des Feuers und des Einsturzes des Hauses an ihren letztlichen Fundort. Wie bei den anderen Vertretern anthropomorpher Figurinen von Drama-„Merdžumekja“ war es wiederum nicht möglich, Einzelteile zu vollständigen Stücken zusammenzufügen. Der bemerkenswerteste Fund ist bislang eine kleine anthropomorphe Figurine des ungegliederten Typs mit vorgewölbtem Bauch; sie wurde in situ in einem becherartigen Gefäß gefunden, das zerdrückt hinter dem Ofen des Hauses lag. Von diesem einen Befund auf den Nutzen und die Aufbewahrung aller Figurinen in Gefäßen schließen zu wollen, wäre übereilt, doch lassen Fundsituationen wie diese hoffen, dass eine Analyse des Kontextes der anderen Figurinen möglicherweise weitere Aufschlüs- Valeska Becker 229 Abb. 5 Figurinen-„Paare“ aus Drama-„Merdžumekja“. se zur Interpretation figürlicher Funde liefern kann. An dieser Stelle soll allerdings auf einen weiteren Umstand hingewiesen werden, der für die kontextuelle Merkmalanalyse von Bedeutung ist. In dem verbrannten Haus wurden neben ganz erhaltenen Figurinen auch Bruchstücke gefunden, und zwar ohne erkennbare Ordnung und nicht alle zusammen an einer bestimmten Stelle. Obwohl bereits fragmentiert, können auch sie zu einer Interpretation beitragen, denn sie geben Aufschluss darüber, was mit den Fi- gurinen nach ihrer Zerstörung passierte. Offenbar war es nicht nötig, die Bruchstücke quasi „zu beerdigen“ und gezielt zu einem bestimmten Zeitpunkt, in Vergesellschaftung mit ganz bestimmten weiteren Funden, zu deponieren. Stattdessen verblieben die Fragmente wohl im Haus und fielen einer schleichenden Entsorgung anheim. Eine sekundäre Verwendung der Bruchstücke konnte nicht nachgewiesen werden, das heißt, man könnte, nach der Definition von U. Sommer (Sommer 1991), die Fragmente tatsächlich als Müll bezeichnen. 230 Zur Zerstörung geschaffen. Figurinen der Kupferzeit Südosteuropas Figurinen-„Paare“ (Abb. 4; Abb. 5) Mit aller gebotenen Vorsicht kann aus dem Befund von Haus 244 geschlossen werden, dass die Figurinen in häuslichem Kontext benutzt wurden, wenngleich dies nicht unbedingt ausschließlich der Fall gewesen sein muss. Fragmente verblieben offenbar ebenfalls zumindest noch für einen gewissen Zeitraum im Haus, ohne jedoch eine besondere Behandlung zu erfahren. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass im Fundgut verschiedener Häuser wiederholt Fragmente ähnlich aussehender Figurinen zutage kamen. Diese Stücke ähneln sich nicht nur in Form und Verzierung, sondern sind auch auf nahezu gleiche Weise fragmentiert. Die folgenden Beispiele für diese Beobachtung stammen aus dem frühkupferzeitlichen Siedlungsbereich; es wird abzuwarten sein, ob sich Ähnliches auch für die Siedlung der Stufe Marica IV postulieren lässt. Aus Haus 150 stammt eine im Querschnitt rundliche Figurine mit ausgezogenen, zweifach durchlochten Ohren, plastisch gebildeter Nase und einer Verzierung aus einander kreuzenden Kerbschnittbändern und einer umlaufenden „Stacheldraht“-Linie um den Hals (Abb. 5,1). Sie besteht aus einem ungewöhnlich hellen, beige-braunen Ton. Unzweifelhaft handelt es sich bei dieser Figurine um einen Vertreter des ungegliederten Typus. Das Stück ist im unteren Drittel fragmentiert. Eine nahezu identische Figurine wurde in der obersten Siedlungsschicht der frühkupferzeitlichen Siedlung gefunden (Abb. 5,2). Sie wurde aus dem gleichen Ton gefertigt, ist ebenfalls mit Kerbschnitt- und „Stacheldraht“Bändern verziert und auch im unteren Bereich abgebrochen. Die Ähnlichkeit dieser beiden Figurinen ist frappierend, zumal, wenn man sich die identische Fragmentierung und die sehr ähnliche Verzierung vor Augen führt: Es handelt sich darüber hinaus um die einzigen beiden Figurinen, die mit Kerbschnittbändern verziert sind. Aus dem Material der frühen Kupferzeit lassen sich noch weitere vergleichbare „Paare“ hinzufügen. Wie bei den beiden ausführlich beschriebenen Stücken ergeben sich große Ähnlichkeiten in der Körperform und Haltung, der Verzierung und der Fragmentierung. So bemerkenswert diese Ähnlichkeiten auch sind, so erschließt sich ihre Bedeutung nicht unmittelbar. Denkbar ist, dass über diese „Paare“ räumliche Bezüge herzustellen sind. So können bestimmte Häuser miteinander verbunden werden. Eine entsprechende Kartierung von Figurinen aus gesichertem Hauskontext zeigt, dass manche „Paare“ in nahe bei einander gelegenen Häusern gefunden wurden, während andere weiter voneinander entfernt sind. Welcher Art die sich hieraus ergebenden Verbindungen waren – ob es sich zum Beispiel um Familien oder Verwandte handelte – lässt sich allein an Hand der Figurinen nicht beantworten. Möglicherweise ließe sich ein solcher Verdacht durch einen Vergleich des Gesamtinventars der Häuser erhärten. Wege zur Interpretation anthropomorpher Figurinen Die vorgestellten Überlegungen haben sich nur auf einige wenige Merkmale an den anthropomorphen Figurinen beschränkt, in erster Linie auf ihre Herstellungstechnik und ihren fragmentarischen Zustand sowie, in Ansätzen, den Kontext, in dem sie gefunden wurden. Würde man andere Merkmale in den Vordergrund stellen, verschöbe sich möglicherweise die Interpretation. So könnte beispielsweise eine Analyse der Geschlechtsmerkmale mit dem auch in Bulgarien noch weit verbreiteten Topos einer Fruchtbarkeitsgöttin oder Großen Mutter, die in Form der Tonfigurinen abgebildet wird, aufräumen. Denn nur ein geringer Prozentsatz der Figurinen weist überhaupt Geschlechtsmerkmale auf, die sich in Form geritzter Schamdreiecke und plastisch gebildeter Brüste manifestieren. Hinzu kommen Figurinen mit vorgewölbtem Bauch, die wohl Schwangerschaft andeuten. Bis auf den „Bärtigen“, eine dezidiert männliche Figurine mit Bart, liegen für die kupferzeitlichen Valeska Becker Siedlungsschichten in Drama-„Merdžumekja“ keine Darstellungen vor, die eindeutig als männlich anzusprechen sind. Der weitaus größte Teil der Figurinen allerdings lässt keinerlei Rückschlüsse auf das dargestellte Geschlecht zu, und wo Geschlechtsmerkmale auftauchen, sind sie klein, unauffällig und in keiner Weise besonders betont. Die fächerübergreifende Deutung der Figurinen als Ausdruck eines Fruchtbarkeitskults, die außer in der archäologischen Literatur auch in den Religionswissenschaften und der Ethnologie rezipiert wird, kann an den Funden selbst jedoch kaum je schlüssig begründet werden (hierzu ausführlich Hansen 2007, 322–326; ferner z. B. Wunn 2001; Eliade 1978). Zu fragen ist auch, warum die beiden oben beschriebenen unterschiedlichen Typen zumindest in Drama-„Merdžumekja“ vorkommen, wie sie sich verteilen, ob sie sich außer in der Form auch in der Verzierung und in anderen Merkmalen unterscheiden und ob es hierfür Parallelen von anderen Tellsiedlungen Thrakiens gibt; noch zu überprüfen wäre, ob es sich um ein überregionales Phänomen handelt. Mit aller gebotenen Vorsicht scheint dies der Fall zu sein, denn die Figurinen, die anlässlich der Museumsreise im März 2010 in Augenschein genommen werden konnten, ließen sich jedenfalls in diese Typengruppen aufteilen. 231 Aussichtsreich erscheint schließlich auch ein Vergleich zwischen den anthropomorphen Figurinen der Tellsiedlungen Bulgariens und den im Gräberfeld von Varna gefundenen Ton„Masken“. Diese „Masken“, die in den Gräbern 2, 3 und 15 gefunden wurden und möglicherweise nicht als Masken, sondern als Nachbildungen von Gesichtern Verstorbener anzusprechen sind, lagen im Gräberfeld nahe beieinander; in den Gräbern selbst wurden keine Skelette, dafür jedoch zahlreiche Beigaben gefunden (hierzu und zum Folgenden Ivanov 1988, bes. 52 u. 186–188). Zu betonen ist auch ihre räumlich Nähe zu den reichsten Bestattungen des Gräberfeldes. In Zusammenhang mit dieser Studie sind besonders die Ohren und der Mundbereich der Darstellungen von Bedeutung. In den Ohren fanden sich goldene Ohrringe; unterhalb der Münder, die mit Goldblechen angedeutet (oder verschlossen?) waren, waren in den Ton kleine Goldnägel gedrückt. Das Inventar, das sich in den „Masken“-Gräbern fand, wird oft als Hinweis auf ein mögliches weibliches Geschlecht der hier Bestatteten betrachtet, da sich in einem Grab ein flacher runder Stein mit zentraler Durchbohrung fand, der als Spinnwirtel gedeutet wird. Darüber hinaus enthielten die Gräber Schmuck in Form von Diademen, Halsketten, Besatzstücken und Anhängern aus Gold, Abb. 6 Maske“ aus Grab 2 von Varna und Figurine aus Drama-„Merdžumekja“ (1 nach Ivanov 1988, 56 Abb. 26). 232 Zur Zerstörung geschaffen. Figurinen der Kupferzeit Südosteuropas Kaolin und Dentalium sowie Feuersteinklingen, Gefäße, Kupfergegenstände, ein gewölbtes Marmor-„Idol“ und ein Knochenidol. Die Durchbohrungen unterhalb der Münder und die Lochungen der Ohren finden Parallelen an manchen Figurinen (Abb. 6). Kleine Anbohrungen unterhalb des Mundes und ein- und mehrfache Lochungen in den Ohren kommen an vielen Stücken vor. Dass hier tatsächlich Schmuck angebracht war, ist unsicher und in manchen Fällen auch auszuschließen, wenn die Lochungen der Ohren nicht vollständig erfolgten; auch die Anbohrungen unterhalb des Mundes dürften wohl kaum tatsächliche metallene Schmuckstifte geborgen haben. Im Gegensatz dazu sind einige Knochenfigurinen aus verschiedenen Fundorten Bulgariens zu sehen, die sehr wohl Schmuck in Form kupferner Ohrstecker, Halsketten und -ringe, Beinbleche, Gürtel und Arm- und Fußringe trugen (Hansen 2006, 440–441). Obwohl diese Merkmale – Ohrlöcher und Anbohrungen unterhalb des Mundes – bei den Tonfigurinen in einigen Fällen eher als symbolisch zu deuten sind, ergeben sich doch unzweifelhafte Analogien zu den „Masken“-Gräbern aus Varna. Ist der Schluss zulässig, so eröffnet dies neue Perspektiven in Hinblick auf die Interpretation anthropomorpher Figurinen. Statt ihre Deutung in einem immer wieder propagierten Fruchtbarkeitskult zu suchen, gerät nun der Bereich des Totenrituals bzw. der Jenseitsvorstellungen in den Fokus der Betrachtungen. Dabei ist von Bedeutung, wie die „Masken“-Gräber zu interpretieren sind: ob als Bestattungen tatsächlicher Personen, deren Leichnam aus irgendwelchen Gründen nicht im Grab niedergelegt wurde, oder als Symbolgräber bzw. Bestattungen mythischer, nicht reell existierender Persönlichkeiten, Gottheiten etc. Es steht zu hoffen, dass die neuen Analysen und die Endpublikation des Gräberfeldes von Varna in dieser Hinsicht Klärendes beitragen können (Slavchev 2010; Krauß in diesem Band). Leicht ließen sich weitere Argumente für einen Zusammenhang zwischen den Jenseitsvorstellungen bzw. dem Tod in Neolithikum und Kupferzeit einerseits und den anthropomor- phen Figurinen andererseits finden. So könnte man etwa die Augen der Figurinen anführen, die in der Regel durch horizontale Ritzlinien wiedergegeben sind, womit der Eindruck geschlossener Augen vermittelt wird. Dies und die schematisch-abstrakten Gesichter und Körper der Figurinen lassen sich mit Darstellungen Verstorbener assoziieren. Auch die in dieser Studie diskutierte Fragmentierung der meisten Figurinen kann mit dem Tod in Verbindung gebracht werden. Derartige Überlegungen wurden bereits in Bezug auf Figurinen der StarčevoKultur aus Donja Branjevina formuliert: „We have the impression that the statuettes represent ‘something’ passed away, the dead or a sacrificed ‘person’. The features, which are missing from their faces, are those that a dead person does not need anymore” (Karmanski 2005, 39). Derartige Überlegungen sollen an dieser Stelle jedoch als Arbeitshypothesen verstanden werden und nicht als neuer Deutungsvorschlag für anthropomorphe Figurinen der Kupferzeit. Neben den oben erwähnten „Masken“ mit ihren Ohrringen und Steckern unterhalb des Mundes können Bestattungen wie jene von Gräberfeld von Varna auch in Hinsicht auf die Analyse weiterer Verzierungen der Figurinen von Nutzen sein, wenn es darum geht, Interpretationsansätze zu gewinnen. Während manche Verzierungen offenbar Geschlechtsmerkmale andeuten, handelt es sich bei anderen möglicherweise um Darstellungen von Schmuckbzw. Trachtelementen (z. B. Armringe, Halsketten etc.) oder der Kleidung. Ein Abgleich der Verzierungen mit den Beigaben aus Varna und anderen Gräberfeldern und ihrer Lage am Körper verspricht hier neue Deutungsansätze, wenngleich anzumerken ist, dass Gräberfelder in Thrakien aus der Kupferzeit bislang fehlen und es fraglich ist, inwiefern ein Vergleich mit den weiter entfernten großen Nekropolen wie Varna oder Durankulak methodisch vertretbar ist. Schließlich bliebe, die anthropomorphen Figurinen im Gesamtkontext der Kleinfunde zu untersuchen und ihre Stellung zu zoomorphen Darstellungen, Plaketten, Miniaturmöbeln und Kulttischen zu definieren. 233 Valeska Becker Resümee Die hier vorgestellten Überlegungen zu taphonomischen Prozessen an anthropomorphen Figurinen zeigen, dass es nicht damit getan ist, einzelne Merkmale an einer bestimmten Fundgattung herauszugreifen und darauf aufbauend zu interpretieren. Vielmehr wird durch die Ausführungen deutlich, dass sich Interpretationsschwerpunkte signifikant verschieben können, wenn ein anderes Merkmal in den Vordergrund gerückt wird. Dabei ist gerade bei Funden, die in den Bereich der Glaubensvorstellungen und der Religion eingeordnet werden, besondere Vorsicht geboten. Das Merkmal „Fragmentierung“ verbindet Figurinen verschiedener geografischer Räume miteinander und ist regelhaft zu beobachten. Die in Drama-„Merdžumekja“ beobachteten Fertigungstechniken dienten wohl dazu, die Fragmentierung zu erleichtern. Die Zerstörung der Stücke war also einer, wenngleich vielleicht nicht einziger, Verwendungszweck der Figurinen. Unter Hinzuziehung weiterer Merkmale, etwa der Darstellung verschiedener Schmuckund Trachtelemente, lassen sich Parallelen zu Gräberfeldern ziehen. Ob damit allerdings eine Verbindung zwischen anthropomorphen Figurinen und Bestattungen postuliert werden kann, sei dahingestellt. Letztlich bleibt die Erkenntnis, dass sich für viele der Fragen, die im Zuge der Arbeiten mit den Figurinen auftauchen, keine Antworten finden lassen. Literatur Becker 2010 Anthropomorphe Plastiken Westbulgariens und ihre Stellung im südosteuropäischen Frühneolithikum. Studia Praehistorica 13, 2010, 23–40. Becker/Thomas 2011 V. Becker/M. Thomas, Keramische Kleinfunde aus Drama, Fundstelle „Merdžumekja-Südosthang“. Typologie und stratigrafischer Kontext. In: H.-J. 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Bei der Analyse der anthropomorphen Figurinen der frühen und mittleren Kupferzeit vom Tell Drama-„Merdžumkja“ konnten drei verschiedene Fertigungstechniken beobachtet werden, die in direktem Zusammenhang mit der Fragmentierung stehen: 1. Die Fertigung aus Einzelteilen, die durch Überglättung miteinander verbunden wurden; 2. Die Fertigung aus Einzelteilen und die Verbindung der Einzelteile durch Stifte aus organischem Material; 3. Die Fertigung mittels eines Tonkerns und eines „Mantels“. Die Figurinen aus Drama stehen in dieser Hinsicht nicht allein im Kulturgefüge Bulgariens. Vergleichbares in Bezug auf die Herstellungstechnik kann über weite geografische Räume und bis ins Frühneolithikum zurückverfolgt werden. Aus Drama liegen darüber hinaus „Paare“ gleichartig geformter, verzierter und fragmentierter Figurinen vor, die bestimmte Häuser miteinander verbinden. Diese Beobachtungen können dazu beitragen, neue Interpretationsansätze zu erarbeiten. Schlüsselwörter Figurinen, Kupferzeit, Bulgarien, Fragmentierung, Herstellungstechniken Summary Different characteristics of anthropomorphic figurines may shed light on their meaning. One of the most striking features to interfere with analysis is the fragmentary state of the figurines. Analysis of the anthropomorphic figurines of the early and middle Copper Age from the tell of Drama-“Merdžumekja” yielded three different manufacturing techniques that are directly related to fragmentation: 1. production from separate parts and the connection of these parts by surface smoothing; 2. production from separate parts and the connection of these parts using pegs from organic material; 3. the use of a clay core and a mantle. In this respect, the figurines from Drama are not unique among similar objects from the archaeological cultures of Bulgaria. Comparable manufacturing techniques can be traced over vast geographic regions and back into the Early Neolithic. Moreover, we know of “pairs” of similarly shaped, decorated and fragmented figurines from Drama which link different houses. These observations may add to developing new approaches in interpretation. Keywords Figurines, Chalcolithic, Bulgaria, fragmentation, manufacturing techniques