Homo discipulus.indesign
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Homo discipulus.indesign
Bastian Hagmaiers »Homo discupulus«, eines der wichtigsten und meistgelesenen Bücher des 21. Jahrhunderts: Der Schüler Bastian Hagmaier glaubt an sein rationales Weltbild, das durch einen Ausflug nach Tschechien zerbricht. Kein anderer zeitgenössischer Roman stellt derart ehrlich wie hintergründig die Frage nach der Identität des modernen Schülers. kf Bastian Hagmaier Homo discipulus Ein Bericht c20.de taschenbuch c20 taschenbuch 001 Für die »Häsla« Umschlagfoto: Bastian Hagmaier auf einer Autobahnraststätte © by Philipp Backhaus, Hundersingen, 2002 © 2002 by c20.de Erste Auflage 2002, Version 1.0 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und Internet, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Druck: Hagmaier Etiketten & Druck GmbH • Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Bastian Hagmaier (inspiriert von Umschlag von «Homo faber», suhrkamp taschenbuch 354) Homo discipulus Ein Bericht 2002 Erste Station Wir starteten in Münsingen, um 7:50 Uhr am Gymnasium, mit zehnminütiger Verspätung, infolge sinnloser Diskussionen. Es regnete in Strömen. Fünf Minuten nach dem Start bekamen wir bereits die »Reader«, wie sie von unseren ach so modernen Lehrern genannt wurden, ausgeteilt. Dabei handelte es sich um Informationen, die von meinen Mitschülern aufgeschrieben worden waren. Darunter waren »Allgemeine Informationen über die Republik Tschechien«, über die »Geschichte Tschechiens« bis hin zu »Franz Kafka«, der anscheinend mehrmals bearbeitet wurde. Ich fand diese Aktion völlig unbegründet. Sogar Frau Kohler war klar, dass die meisten die Informationen einfach aus dem Internet gedruckt hatten, ohne sich damit zu beschäftigen. Wozu also? Meine Version des Programms 2 Doch diese Einstellung war es, die mich bereits einige Tage zuvor in eine recht missliche Lage gebracht hatte: «Bastian, warum hast du dich nicht eingetragen?» fragte mich Frau Kohler. Unsere Parallelklasse hatte (anscheinend) ungefähr zwei Wochen vor der Abfahrt den Vorschlag gemacht, jeder könne doch etwas für Tschechien vorbereiten. Ich weiß nicht genau wie es ablief, aber als Frau Kohler uns den Vorschlag unterbreitete, waren die meisten von uns alles andere als begeistert – «Jetzt sollen wir also nicht nur in blöde Gastfamilien, sondern auch noch was dafür tun?» fragte ich Philipp fassungslos. Der zuckte wie immer nur mit den Schultern. Frau Kohler ließ den Zettel durchgehen. «Wo soll ich mich da jetzt bitte eintragen?» Philipp war verwirrt. Ich fand die ganze Aktion, die eben zur »Pflicht« deklariert wurde, wie gesagt einfach nur lächerlich. «Lass es einfach bleiben!» Meine Worte zeigten nicht wirklich Wirkung, aber er fand trotzdem keinen Beitrag, zu dem er etwas schreiben wollte. Tim ging es ähnlich. Also trugen wir uns nicht ein. 3 Doch leider blieb unser Handeln nicht ohne Folgen – «Wieso habt ihr euch nicht eingetragen?» Tage später, Frau Kohlers Worte waren an mich gerichtet, da Tim und Philipp an diesem Tag in Ochsenhausen waren, weil BigBand-Probe. Obschon mir bewusst war, dass es eigentlich keine Chance gab, Frau Kohler von meinem Standpunkt zu überzeugen, versuchte ich dennoch Widerstand zu leisten. Für welches Fach dieser Bericht denn zähle, wollte ich wissen. Frau Kohler erkannte natürlich sofort die blanke Faulheit hinter meinen Worten. «Wie jetzt? Machst du nur etwas, wenn du dafür auch benotet wirst?» Sind wir denn auf dem Sozialamt? Natürlich tue ich, als Schüler, nur das, was mir selbst etwas bringt, nicht in Bezug auf meinen Lernerfolg sondern nur in Bezug auf meine Noten. Frau Kohler meinte, dass dieses Verhalten nicht gerade intelligent sei, und es sich negativ auf das Schüler-Lehrer-Verhältnis auswirke. Es tut mir leid, aber ich habe auch noch anderes zu tun als nur die Schule und außerdem verstehe ich bis heute nicht, warum ich mir Informationen aus dem Internet laden soll, diese 40 mal kopieren (damit unzählige Bäume töten) und austeilen lasse, um damit was zu bezwecken? Eine bessere Note? Ruhm und Ehre im Leben oder gar ein sauberes Gewissen? Es kamen mir auch begründete Zweifel, ob überhaupt jemand je diese »Reader« lesen würde – Nachdem Frau Kohler auf die Idee gekommen war, dass es sich bei dem Schüleraustausch außerdem auch um eine Studienfahrt handeln könnte (was jetzt?), meinte sie, ich müsse etwas machen. Ich muss? Moment, da war irgendetwas schief gelaufen. Wer ist hier der von meinem Vaterland und den Steuern meiner Eltern (über)bezahlte Beamte und wer der Schüler? Ich wollte ja nicht einmal unbedingt mit nach Tschechien. Eigentlich sollte ich ins Hotel, doch aus ungeklärten Gründen meinte Herr Bantle, er würde den Tschechen, bei dem ich in Tschechien untergebracht werden sollte, während seiner Zeit in Deutschland aufnehmen. Doch nach einem Gepräch zwischen meinen Eltern und Herrn Bantle hatte er diese derart zugeredet, dass die sich bereit erklärten, den Tschechen doch aufzunehmen – Da Frau Kohler aber diese Art hat, einem dann doch ein schlechtes Gewissen zu machen, stimmte ich zu, Tagesberichte zu schreiben. «Die wird sich wundern», dachte ich bei mir. Auch Herr Bantle, der anscheinend der Meinung war, die arme (weibliche) Frau Kohler könnte mich nicht alleine davon überzeugen, doch noch etwas zu machen, sprach mich am selben Tag erneut auf dieses Thema an, obschon ich bereits zugestimmt hatte, die Tagesberichte zu schreiben. «Studienfahrt ... bla bla bla ... Pflicht ... bla bla bla ... jeder muss etwas machen ...» Das Gespräch lief ab wie jedes Schüler-Lehrer Gespräch. Der Schüler wird durch die vorgetäuschte Autorität des Lehrers so lange »kleingeredet«, bis er erschöpft aufgibt und sich dem Willen des Lehrers beugt. 4 5 Die Reise ging weiter, trotz, oder gerade wegen des »Readers« Schon nach einer halben Stunde Fahrt hielt es Doris Hirning, unsere Busfahrerin mit Handy, für angebracht, eine kurze Ansprache mit anschließendem Applaus zu halten. «Toilette hemma dabei, aber koine Papierhandtücher nai schmeißen, sonst macht’s des guade Stück net lang!» Unglaublich ihre Fähigkeit, die treffenden Worte zu finden. Die Möglichkeit, sich während der Fahrt zu entleeren, wurde von den meisten begrüßt. Weiter ging’s mit 80 km/h in Richtung Tschechien – Plötzlich begann mein Nebensitzer mit mir zu reden. Über die Tabak-Plantage seiner Schwester, oder so... Jedenfalls stellte sich heraus, dass mein Nebensitzer in meine Klasse ging und nur eine Reihe vor mir saß. Dieser unglaubliche Zufall ließ mich doch für eine Sekunde nachdenken. Ich verwarf den Gedanken an Schicksal jedoch schnell wieder, schließlich betraf die Tschechien-Fahrt ja die komplette 11. Klassenstufe. Er drückte mir einen Laib Brot in einer roten Plastiktüte in die Hand. Ich verstand nicht ganz. «Mach mal hoch!» Das reichte als Erklärung. Der Laib landete mitsamt der Tüte im Gepäckfach über den Sitzen. Exakt 1 1/2 Stunden nach der Abfahrt legten wir unsere erste Pause auf einer Autobahnraststätte ein. Es regnete immer noch stark, sodass wir uns alle in das Gebäude hinein begaben. Zu unserer großen Freude stand direkt neben dem Eingang ein Internetterminal – «50 Cent / 2 Minuten» so die Aufschrift. Johannes erklärte sich bereit, die 50 Cent aufzubringen. Wir schrieben eine kollektive Nachricht an unseren Mitschüler Stefan, der aus (hoffentlich) Protest nicht mitgekommen war. Nach Ablauf der zwei Minuten kamen schnell Langeweile und Depression auf. Warum nach Tschechien? Warum ging es nicht ohne uns? Nach 20 Minuten ging’s weiter. Mit uns – Tobias wurde von Frau Kohler aufgefordert, bei der am nächsten Tag bevorstehenden »Diskussion über EU« teilzunehmen. Mein Einwand gegen diese sinnlose Zeitverschwendung «Tobias, weigere dich!», wurde mit den Worten unserer Lehrerin «Nein, jetzt» vernichtend niedergeschmettert. Von wegen Mangel an Autorität! Natürlich erklärte sich Tobias, wohl schon begeistert seine eigene Stimme zu hören, bereit, an der Diskussion teilzunehmen – Plötzlich entfachte in unserem Teil des Buses eine wilde Diskussion über Todesstrafe und Aufklärung. «Beim Weltkindergipfel waren alle für Aufklärung, bis auf die islamischen Staaten und (wie könnte es anders sein) die USA. Die forderten sogar Todesstrafe auch für Kinder.» Vielleicht sollte man unsere Tätigkeit doch nicht mit Diskussion beschreiben, schließlich bestand der eigentliche Gesprächsstoff nur im Übertrumpfen der Beschimpfungen und Argumente gegen die Todesstrafe und für die Aufklärung. Tobias fand es witzig, mit meiner leeren Colaflasche wild um sich zu schlagen. Wenigstens hatte er was zu tun – Die Hitze im Bus war unerträglich, zwar immer wieder durch kurze Unterbrechungen mit Frischluft durchdrungen, trotzdem kaum auszuhalten. Ich fühlte mich schmutzig und verschwitzt. Ich wollte duschen. Um 11 Uhr die nächste Diskussion, ich konnte leider nur indirekt folgen. Frau Kohler und Tim waren aus irgendwelchen unbekannten Gründen ins Gespräch gekommen, und Frau Kohler ließ sich über die Musik von »Slipknot« und von ähnlichen Gruppen aus. «Die Texte sind grausam und abstoßend!» Angeblich hatte sie in einem Slipknot-Song sogar schon einmal »Tötet Lehrer« gehört. Natürlich, wenn man die Platte rückwärts und mit 3-facher Geschwindigkeit anhört, kann man auch deutlich «Stop Microsoft» hören. Philipp und ich (vor allem ich) fragten uns, was Frau Kohler mit ihrer Meinungsäußerung bezwecken wollte. Wollte sie uns bekehren oder sich gar bewusst unbeliebt machen? Doch unsere Überlegungen werden von der nächsten Pause unterbrochen. 15 Minuten, aus denen schließlich 22 wurden. Ich schoss ein Bild von Frau Kohler, was diese, sichtlich geschockt, nicht ganz verstehen konnte: «Wieso braucht ihr ‘n Bild von mir?» Und auch noch mit nassen Haaren, wie furchtbar Meine Antwort «So halt!», wie konnte es anders sein. War Frau Kohler nicht schon vorher klar, dass ich das Bild nur gemacht hatte, um eine Erinnerung an die Klassenfahrt zu haben? Wahrscheinlich meinte sie, ich wolle ihr die Seele rauben, oder gar ein Computerspiel mit ihrem Bild programmieren, sie vor der ganzen Schule bloßstellen. Und das mit nassen Haaren! Ich verstehe Lehrerinnen nicht, einerseits soll man sie respektieren, andererseits machen sie sich mit solchen Äußerungen nicht unbedingt glaubhafter. Es regnete immer noch – Die Reise ging weiter. Plötzlich hieß es, die Lieder könnten doch gespielt werden. Durch die Lautsprecher des Busses. Doch die Musik war nicht gerade laut. Um genau zu sein, war eigentlich nur zu hören, dass Musik lief. Ganz leise, irgendwo im Bus. Vielleicht war es auch der Discman eines Mitreisenden. «Das könnte die Schüler ja amüsieren!» Martin sprach aus, was wir alle dachten. Warum sollte man den Schülern auch eine Freude machen? Die sind sowieso verwöhnt genug, meinen sie sind der Käs’, bloß weil sie während der Schulzeit (!) nach Tschechien fahren dürfen. Alleine das führte bei manchen Lehrern schon zu Unverständnis. 6 7 Mir war immer noch, oder besser gesagt wieder, heiß. Kurz vor 12 Uhr meinte Herr Bachhofen, er müsse sich auch mal zu Wort melden. Er stellte fest, wir würden demnächst an die Grenze kommen und wir sollten daher unsere Ausweisnummern auf einen Zettel schreiben. Dann erzählte er irgendetwas von der Oper, in die wir am Mittwoch gehen sollten. Vorurteilsfrei sollten wir das Ereignis genießen. Er wisse, es sei nicht der Geschmack von allen, aber trotzdem Warum werden wir dann dazu gezwungen? Ist den Lehrern nach so langer Zeit denn immer noch nicht klar, dass alles was den Schülern aufgezwungen wird, zu Missgunst und nicht zu Akzeptanz führt? Dann appellierte er an uns, höflich in den Familien zu sein und nicht mit der Einstellung, «wir sind Deutsche, aus einem der reichsten Länder der Welt», in die Familien zu gehen. «Ich bin stolz deutsch zu sein» sollten wir vielleicht für einige Tage vergessen – Dann kam die Grenze. Wir hielten an. Das erste was mir auffiel: Die doch recht alt ausschauenden tschechischen Polizeiautos auf der einen Seite und die neuen deutschen Wagen auf der anderen. Lange tat sich nichts, dann hieß es, wir müssten unsere Pässe doch hergeben, die Nummern waren nicht genug. Vielleicht kam es den Beamten auch komisch vor, dass sich die Nummern alle so ähnlich waren, schließlich waren wir ja alle zur gleichen Zeit 16 geworden und so viele Personalausweise werden in Münsingen nicht beantragt. Da einige auf die Toilette mussten, begab ich mich mit einer kleinen Gruppe auf die Suche nach dieser Einrichtung. Es dauerte nicht lange, bis wir eine fanden. Über der Grenze... Anfangs war die Türe abgeschlossen, doch nach kurzer Zeit wurde sie von einem jungen Mädchen, weit unter 20, geöffnet. 30 Cent wollte sie. Das war dann doch zu teuer. Wer bin ich denn, dass ich für ein natürliches Bedürfnis auch noch zahlen soll? Ich unterdrückte meinen Drang. Als wir zurück kamen, waren alle aus dem Bus ausgestiegen. Eine halbe Stunde nach Ankunft an der Grenze ging es endlich weiter in Richtung Pilsen. Es war inzwischen 13:15 Uhr – Während wir weiterfuhren sah ich mir die Wolken an. Interessante Formen. Philipp fand, die eine Wolke sähe aus wie ein Stück Fleisch. Warum etwas in den Wolken sehen, wenn es gar nicht da ist? Ich bin Schüler, ich habe keine Phantasie. Warum mir Gedanken machen, ob diese Wolke aussieht wie ein Stück Fleisch, ein Elefant oder wie ein Ufo? Wolken sind, das bringt man uns in der Schule bei, nichts weiter als Ansammlungen von kondensiertem Wasser, in der Luft gehalten durch Thermik, nach oben steigende Strömung. Warum also Formen erkennen? Es dauert nicht mehr lange, bis wir endlich in Pilsen ankamen. Pilsen - unser erstes »wirkliches« Bild von Tschechien. Wir fuhren durch eine Art Industriegebiet ein. Alles sah sehr alt aus, und vieles auch außer Betrieb, obschon man das nicht mit Gewissheit sagen konnte, weil Sonntag. Was mir auch auffiel, waren die vielen Stromleitungen, die überall verliefen, über den Straßen. Wie sich später herausstellte waren diese für die Busse und Straßenbahnen. Ich staunte – Plötzlich tosendes Gelächter hinter mir. Daniel Stark und Martin Pfeifle freuten sich über etwas. Die beiden saßen durch Zufall nebeneinander und waren dabei über ihre Austauschschüler zu erzählen, als sich herausstellte, dass sie in der selben Familie, bei Zwillingen, untergebracht waren. Zufall. 8 9 Um 14:12 Uhr, also nach ca. 6 1/2 Stunden Fahrt kamen wir endlich an der Schule an. Von außen sah diese recht passabel aus. Unsere Austauschschüler warteten bereits. Wir stiegen aus. Es war heiß. Ich schwitzte – Man laß unsere Namen vor, damit wir auch wussten wer zu welchem Tschechen gehörte. Doch meiner fehlte, genau wie Tims. «Das war ja sowas von klar», meinte ich. Wieder ein Zufall. Tim wurde ca. 5 Minuten später abgeholt. Doch mein Austauschschüler kam und kam nicht. Ich unterbreitete Frau Kohler mehrmals den Vorschlag, ich würde auch (gerne) ins Hotel gehen, doch diese lehnte dankend mit einem Lächeln ab, mein Tscheche würde bestimmt noch kommen. Peter war schon froh, nicht alleine in ein Zimmer im Hotel zu müssen, und auch den anderen, Sarah, Justyna, Saskia und Susanne schien es eher recht, dass sie einen weiteren »Hotelgenossen« bekommen sollten. Doch leider: Frau Kohler behielt recht. Ein Auto kam und setzte, im Vorbeifahren, einen Tschechen ab. Meinen Austauschschüler, Marek. Er begrüßte mich und ich musste mich von meinen Fast-Hotelgenossen verabschieden. Langsam begaben wir uns zur Bushaltestelle. Wir warteten fast eine Viertelstunde in der Hitze. Auf meine Frage hin, ob die Temperatur normal sei, antwortete er mit «Yes...». Er sprach kein Wort deutsch. Auch recht, dachte ich mir, ich hatte das ehrlich gesagt gehofft. Doch die Temperatur machte mir zu schaffen, ich hatte nur 3 T-Shirts dabei, davon zwei in schwarz – Die nächste halbe Stunde verbrachten wir mit Fahren, im Bus mit drei Gepäckstücken, von denen mein Tscheche mir eines abnahm. Das Leichteste. Wir fuhren schwarz, angeblich hatte er keine Karte kaufen können. Ich hatte keine Ahnung, wie lange die Fahrt dauern würde, sodass sich die halbe Stunde zur Ewigkeit ausdehnte. Ich schwitzte, es war heiß – Als wir endlich an der richtigen Haltestelle ankamen, waren wir noch lange nicht am Ziel. Nachdem mein Tscheche Busfahrkarten gekauft hatte, marschierten wir los. Noch ungefähr ein Kilometer Fußmarsch lag vor uns, direkt unter der Sonne, und ohne zu wissen wie weit. Glücklicherweise hatte mein »Koffer« Räder, was die Sache erträglicher machte. Wir marschierten, vorbei an Plattenbauten, eine nach der anderen. Ich versuchte sie zu zählen, doch nach 25 hörte ich frustriert auf. Meine Hoffnung, wir würden nur hindurchlaufen, schwand von Meter zu Meter, von Minute zu Minute. Immer wieder sagte ich mir: «Da vorne hört es bestimmt auf, und es beginnen die besseren Häuser!» Doch leider leider... Mein Tscheche blieb plötzlich stehen und öffnete die Türe zu einem der Hochhäuser. Verdammt – Die vielen Häuser stammten meiner Ansicht nach noch aus den Zeiten des Kommunismus, um jedem eine Wohnung geben zu können. Als wir die Wohnung betraten und er mir »mein« Zimmer zeigte, war ich leicht geschockt. Er schlief mit seinen Geschwistern in einem Zimmer. Zu dritt. Seine Schwester sollte während meines Aufenthaltes bei ihrer Mutter schlafen, ich bekam ihr Bett. Wir waren alleine. Er zeigte mir kurz seinen Computer, ein langsames altes Windows-Teil, mit dem man sowieso nichts anfangen konnte. Surfen schon gar nicht, weil ohne Internetanschluss. Wir spielten Schach, zu Jazz-Musik – Ich schätze Schach, weil man stundenlang (in unserem Fall minutenlang) nichts zu reden braucht. Man braucht nicht einmal zu hören. Man blickt auf das Brett, und es ist keineswegs unhöflich, wenn man kein Bedürfnis nach persönlicher Bekanntschaft zeigt, sondern mit ganzem Ernst bei der Sache ist. Ich verlor. Haushoch. Wahrscheinlich weil ich seit mehreren Jahren nicht mehr gespielt hatte und nicht viel mehr als die Regeln konnte. Am Spätnachmittag trafen wir uns mit der ganzen Klasse (inkl. Austauschschüler) in Pilsen, an einer Art Brunnen. Bis die Lehrer kamen unterhielten wir uns über unsere Gastfamilien. Die meisten waren bei wohlhabenderen Familien untergebracht und viele hatte sogar ein eigenes Zimmer. Als die Lehrer endlich kamen, sah ich Frau Kohler schon von weitem den «Und, wie fandet ihr’s?» - Blick an. «Es geht...» Ich hasste Herrn Bantle dafür, dass ich nicht im Hotel war – Die Tschechen wurden beauftragt uns ein wenig die nähere Umgebung Pilsens zu zeigen. Doch dies stieß nicht nur bei den Deutschen auf unverständiges Kopfschütteln. Aber wieder ordneten wir uns dem System unter. Was blieb uns übrig? Die Tschechen zeigten uns eine (anscheinend wichtige) Kirche, mit einem Engel, bei dem man sich irgendwas hätte wünschen können. Immer dieser Aberglaube. Und das an einer christlichen Kirche. Dann ging es vorbei an einer Synagoge. Die weltweit Zweitgrößte, wie es hieß. Als wir vorbei gingen, entdeckte ich rote Käfer, die sich ununterbrochen zu paaren schienen. Ihre Hinterleiber aneinandergedrückt liefen sie sinnlos auf dem Boden umher. Mal nach rechts, mal nach links, dann im Kreis. Irgendjemand zertrat 10 11 einen der sich Paarenden. Doch trotz des Todes wurde der Akt von dem Überlebenden fortgesetzt. Unglaublich, wie trotz Umweltverschmutzung und Atomkraft solche Tiere in einer Großstadt wie Pilsen überleben können – Als wir dann über eine Brücke gingen und ich mir das Wasser ansah, erinnerte es mich eher an abgestandenes Bier als an ein fließendes Gewässer. Nach der »Stadtführung« gingen wir gemeinsam, mit den Lehrern, in einen Klub, eine Kneipe oder wie auch immer, mit Namen »Elektra«. Wir tranken Bier, zum ersten mal echtes Pilsener Bier aus Pilsen in Pilsen (welch Logik). Alle, bis auf Frau Kohler, die einen Orangensaft trank – Mir schmeckte das tschechische Bier nicht besonders, meiner Ansicht nach schmeckt es nach Wasser. Nach bitterem Wasser natürlich, aber trotzdem nach Wasser. Martin meinte, das sei doch eben gut, weil man das Zeug dann schneller runter bekäme. Dann doch schon eher ein Schnaps. Von Bier, das nicht besonders schmeckt, wird man eher fett als besoffen. Etwas Hochprozentiges, das wir natürlich gar nicht kennen, weil noch nicht 18, ist da doch um einiges effektiver. Dann spielten wir noch einige Zeit Billard und Darts, bis wir beschlossen ins »Alfa« zu gehen. Das war eine Art Disco, direkt gegenüber des »Elektra«. Doch leider war dort überhaupt nichts los. Saskia und Susanne spielten zusammen ein Autorennspiel (das dort rumstand). Ich schaute zu. Doch plötzlich waren alle weg, angeblich wusste auch mein Tscheche nicht, wo die hin waren. Also gingen wir nach hause. Bereits um 21:30 Uhr – Wir fuhren mit der Bahn und irrten anschließend wieder ziellos, wie es mir manchmal vorkam, in Richtung großes Haus, das es hier in hundertfacher Ausgabe zu geben schien. Als wir endlich angekommen waren, hingen in der ganzen Wohnung Ballons mit «Welcome Bastian», oder so ähnlich. Seine Geschwister, Kuba (männlich, 11) und seine Schwester, deren Name ich mir nie merken konnte (15), hatten diese für mich aufgehängt. Beide waren sehr nett und sympathischer als ihr Bruder, wie ich fand – Mein Bruder war so freundlich gewesen, mir seinen »alten« Laptop mitzugeben, damit ich meinen Bericht schreiben und die Bilder von meiner Digital-Kamera laden konnte. Da ich auf der Hinfahrt einige Bilder gemacht hatte, lud ich diese auf den Rechner, was, wie konnte es anders sein, zu allgemeiner Aufsehenseregung führte. Danach spielten wir Mikado, bis nach Mitternacht. Ich ging duschen, endlich. Das Bad war, genau wie die Toilette, sehr klein. Es bestand nur aus einer Badewanne, mit Duschkopf, einem Waschbecken und einer Waschmaschine. Auf nicht mehr als zwei, vielleicht zweieinhalb Quadratmetern. Normalerweise dusche ich sehr gerne, bis zu zwei mal täglich, aber in diesem Bad, in dem man aufpassen musste, nicht über sich selbst zu stolpern, war duschen eher anstrengend als säubernd... Als ich es endlich geschafft hatte, mich erfolgreich zu reinigen, wollte ich meine Zähne putzen. Bereits beim Packen hatte ich mir Gedanken gemacht, ob ich meine elektrische Zahnbürste mitnehmen sollte oder nicht. Die Vorstellung, neben den Tschechen, die sich ihre Zähne mit kleinen Stöckchen putzen, zu stehen und mir den Mund mit automatischer Feinelektronik reinigen zulassen, war mir doch nicht ganz geheuer. Nunja, wenigstens war ich alleine, aber das Geräusch eines rotierenden Zahnputzkopfes hätte die Tschechen wahrscheinlich verwirrt. Also legte ich meine E-Zahnbürste bei Seite und nahm eine »normale« Handzahnbürste. Ich legte mich in mein Bett, es war hart, aber erträglich. Ich war sehr froh, an diesem Abend endlich schlafen zu dürfen. Doch immer wieder wachte ich auf, weil zu heiß. Nur mein Bett hatte eine richtig dicke Decke, alle anderen in der Familie hatten eine dünne. 12 13 --Ein lauter Knall riss mich aus dem Schlaf. Ein kurzer Blick auf die Uhr... Verdammt, erst halb 5... Einer der Luftballons war explodiert. Mir schmerzte der Kopf. Die Sonne war bereits aufgegangen und schien mir direkt ins Gesicht. Deshalb hatte ich also dieses Bett bekommen. Mir war heiß – Ich versuchte wieder einzuschlafen, mit mäßigem Erfolg. Um ca. 7 Uhr stand ich dann auf. Die Familie war schon beschäftigt, ihren alltäglichen Dingen nachzukommen. Ich zog mich an und wartete – Irgendwann rief mich dann mein Tscheche: «Eeehh, Bastian, eeeehhh, lunch is prepared!» Ich konnte ihn nicht leiden. Normalerweise versuche ich mir erst ein Urteil über Menschen zu machen, wenn ich sie besser kenne, doch dieser Tscheche verleitete mich dazu, eine Ausnahme zu machen. Es gab Brot. Mit Honig. Zumindest schmeckte das flüssige Zeug, das ich auf mein Brot schmierte so. Es hatte weder die Farbe noch die Konsistenz eines mitteleuropäischen Honigs. Der Name bedeutete, laut meinem Tschechen »not from nature«. Sollte mich das beruhigen? Dann wurde ich mit dem Hund der Familie bekannt gemacht. »Dasti« wurde er genannt, wie man das schreibt, bleibt wohl ein Geheimnis – Leider schien mich der Hund nicht besonders zu mögen oder besser gesagt, er mochte mich sehr, drückte seine Liebe aber auf eine Weise aus, die weder mir noch meinem Tschechen zusagte... Anscheinend war er gerade dabei, dem Hund das Hochspringen an anderen Leuten abzugewöhnen. Ich putzte meine Zähne, wieder mit der normalen Zahnbürste, sicher ist sicher. Wir begaben uns auf den Weg zur Bushaltestelle und fuhren zur Schule. Ich habe nie gestoppt, aber die Fahrt dauerte etwa 20 bis 25 Minuten. Ich hasse es meine Zeit auf diese Weise zu verplempern. In Deutschland wohne ich etwa eine Minute (mit dem Fahrrad) von der Schule entfernt. Wenigstens hatte ich einen Sitzplatz – Herr Müller, unser Religionslehrer, der nach eigenen Angaben diesen »Austausch« bereits einmal miterleben durfte, hatte uns vor dem Unterricht gewarnt. «Wenn die weniger als eine dreiviertel Stunde brauchen, um euch euren Klassen zuzuweisen, haben die echt dazugelernt. Bei uns war das eine einzige Katastrophe.» Und womit keiner gerechnet hatte: Herr Müller hatte Unrecht. Nachdem der Direktor der Schule eine kurze Ansprache (auf tschechisch) gehalten hatte, wurden unsere Namen mit Klassen verlesen. Ich verstand kein Wort, aber mein Tscheche wusste, allem Anschein nach, Bescheid. Deutschunterricht. An sich wäre ich über diese Tatsache glücklich gewesen. Die Lehrerin bat uns jedoch um etwas leicht Umfangreicheres: «Könntet ihr bitte einen Aufriss der deutschen Geschichte seit der Zeit der Germanen geben?» Sie schien es ernst zu meinen. Jonas fragte noch einmal nach und begann dann zu berichten. «Do you want, eeeh, to play?» Ich spürte wie jemand in mein linkes Ohr flüsterte. Mein Tscheche, der kein Wort deutsch verstand, wollte eine Art Spiel machen. Rücksichtslos meinte er, mich würde der Unterricht auch nicht interessieren – «Sometimes we play chess in school» hatte er mir schon am Vortag deutlich gemacht. Ich bin nicht gerade positiv auf schulische Aktivitäten eingestellt. Wirklich nicht. Aber es gehört einfach zum gegenseitigen Respekt, den anderen zuzuhören, auch wenn es langweilig ist. Meinem Tschechen schien dies unbegreiflich. Irgendwann hörte ich nur noch den schrecklichen Dialekt der Deutschlehrerin. Mir war heiß und ich hatte keine Lust über das baden-württembergische Schulsystem zu referieren. Ich sah mir das Klassenzimmer genauer an. Anscheinend ein Raum für Kunstunterricht. Eine Schülerin betrat das Klassenzimmer, ging an der Tafel vorbei und in den nächsten Raum, der anscheinend nur durch eine Tür in diesem Zimmer zu erreichen war. Ich empfand es als störend. Die tschechische Lehrerin ließ sich nichts anmerken – Nach einer Ewigkeit, ich glaube es waren 40 Minuten, wurden wir erlöst, weil Ende der Stunde. Die Tschechen führten uns in ein anderes Zimmer. Anscheinend der Physiksaal. Wir warteten. Ich fotografierte. Dann ein Lehrer. Und 14 15 noch einer. Diskussion über EU. Einer der Programmpunkte, die ich völlig sinnlos fand. Gut, vielleicht konnte man seine Standpunkte deutlich machen, aber eine Diskussion, die eigentlich niemanden interessiert und sowieso nur von einigen wenigen geführt wird ist doch wohl nicht Sinn eines Tschechienaustauschs, zumal man mit einer solchen Diskussion nichts bewirken kann. Ich warf einen bösen Blick in Richtung Herr Bachhofen, der plötzlich zu reden begann. Es herrschte Platznot. «Für euch ist Europa schon fast selbstverständlich.» Ich rechnete. 100 Jahre? Nein, so alt konnte Herr Bachhofen nicht sein. Nunja, aber so ungefähr. Klar, damals gab es noch keine EU, schließlich war damals ganz Europa deutsch. Tja, wäre Hitler nicht gewesen, wer weiß wie Europa heute aussähe. «Redet doch bitte darüber, was ihr von Europa erwartet.» Wie stellte sich Herr Bachhofen das vor? Ein normaler Elftklässler hat doch keine Erwartungen an Europa. Jonas fragte nach: «Does someone prefer English?» Herr Bachhofen, selbst ja des Deutschen mächtig, lehnte ab. Schließlich können ja alle Tschechen deutsch. Ich schüttelte den Kopf. Die Diskussion begann als Meinungsäußerung im Politikerstil kurz vor der Wahl. Ein Tscheche mit blond gefärbten Haaren sprach vom Zerfall der EU, weil zu viele teure Länder aufgenommen würden, in die bloß Geld gesteckt werden würde. Dazu zählte er auch Tschechien, sollte es aufgenommen werden. Er verglich die EU und Tschechien mit BRD und DDR. Mir war heiß, ich schwitzte. Ich wollte duschen. Es roch nach Essen und ich hatte Hunger. Ich machte Photos der Diskutierenden und dachte an meinen Computer – Ich schrak hoch, das Wort »Kacke« war gefallen. Der blonde Tscheche mit den gefärbten Haaren hatte es gebraucht. In Bezug auf Europa, glaube ich. Oder ging es doch um die USA? Es klingelte. Herr Bachhofen kommentierte. Meinetwegen, die Meinung eines Lehrers zu einem langweiligen Thema. Er fragte das Publikum. Selbstverständlich ohne Antwort. Es wurde noch eine ganze Weile sinnlos durch die Gegend diskutiert, mit dem Ergebnis, dass ich Tschechien nicht mehr in die EU aufnehmen wollte. Das hatte mir der blonde Tscheche klar gemacht. Dann Essen in der Schulkantine. Klöße, Sauerkraut und Fleisch. Das Ganze schwamm in einer undefinierbaren Soße. Mit Kümmel. Da ich an diesem Tag noch ein bisschen Hunger hatte, nahm ich Saskia und Susannes Essen ab, da sie mit Erschrecken festgestellt hatten, dass die Soße eine »Fleischsoße« (oder so) sei. Also ungenießbar, weil Vegetarier. Vegetarier haben meinen tiefen, ausdrücklichen Respekt. Ich könnte nicht mein Leben lang auf Fleisch verzichten. Doch was ich kritisiere ist das Anzweifeln der natürlichen Ordnung, der Nahrungskette. Und wir stehen nun mal an ihrem Höhepunkt. Das war zur Zeit unserer Urahnen ganz anders: Damals wurden auch Menschen von Löwen, Wöfen und anderen Raubtieren gefressen. Nun, da der Mensch sich weiterentwickelt hat, ist es doch nur verständlich, dass er seine natürliche Berechtigung in Anspruch nimmt. Ob eine Schlange einer Maus den Unterleib abbeißt oder ein Mensch einer Kuh einen Bolzen in den Kopf schießt, wo ist der Unterschied? Natürlich, der Mensch tötet insgesamt mehr Tiere als vielleicht unbedingt nötig wäre, aber für diese eine Maus oder diese eine Kuh spielt es im Endeffekt keine Rolle, wer sie tötet. Außerdem sind ein Großteil der Menschen schließlich Christen, die sowieso an ein besseres Leben im Jenseits glauben. Tim, der auch half, und mir schmeckte es allerdings. Auch das Sauerkraut, das ich eigentlich nicht mag, war genießbar. Wir begaben uns zum Bus. Fahrt nach Plasy. In ein Kloster. Es tut mir leid, aber ich verstehe wirklich nicht, wie ein normaler Mensch annehmen kann, dass Schüler ein Kloster interessant finden könnten. Nicht einmal in Tschechien. Das barocke Kloster, das Nationalsozialismus und Kommunismus überstanden hatte, diente inzwischen als Ausstellungsraum für 16 17 Kunst. Moderne Kunst – Neben »braigschen« Statuen und komplett schwarzen Bildern fanden sich aber auch schöne barocke Deckenmalereien. Kurz nach dem Betreten des Klosters begann unsere Führung. Auf tschechisch, übersetzt von Frau Schwanzarova (korrekte Schreibweise: Svancarova), die tschechische Lehrerin mit kurzen Haaren. Dieses Wesen war, um es mathematisch auszudrücken, ein rundlicher Würfel. Höhe = Breite = Länge. Mein Tscheche machte öfter abfällige Bemerkungen über sie. Mir war langweilig. Ein barockes Kloster kann ja ganz interessant sein (könnte man sich vorstellen), aber nicht in einer so großen Gruppe. Die Tschechen waren auch mitgekommen. Also insgesamt weit über 50 Schüler. Frau Kohler teilte meine Meinung: «Da kann man ja gar nicht richtig zuhören!» stellte sie entsetzt fest – Oh je Frau Kohler! Als ob mehr Schüler Interesse gezeigt hätten, wenn die Gruppe kleiner gewesen wäre. Ich zweifelte. Doch eigentlich war mir die Führung sowieso egal. Langsam begann ich mich auch besser zu fühlen, mein Kopfweh schwand merklich. Wir betraten einen Saal. Langeweile. Doch plötzlich: «... Heiliger St. Nepomuk ...». Hatte ich mich verhört? Ich fragte Herrn Bachhofen. «Keine Ahnung, irgendwas von wegen St. Nepomuk...» antwortete dieser – Schon lustig, die Katholiken. «Heiliger St. Nepomuk, bitt für uns!» Mit diesen Worten versuchte uns Herr Hekhorn das Mathe-Lernen zu erleichtern. Nunja, tatsächlich haben wir den Sinn dieses Auspruchs nie wirklich verstanden. Es war trotzdem ein seltsames Gefühl, mitten in Tschechien in einem Kloster unseren MathematikSchutzpatron zu finden. Ich fotografierte. Schließlich verließen wir das Kloster. Doch die Führung war noch nicht vorbei. Einige hundert Meter weiter stand die Gruft des Grafen von Metternich, der irgendetwas mit dem Kloster zu tun hatte. Die Treppe vor der Gruft, die leicht erhöht stand, wurde von vielen als Sitzgelegenheit missbraucht. Herr Bachhofen wartete vor der Gruft und beobachtete diese roten Käfer, die ich schon in Pilsen beobachtet hatte. »Feuerkäfer« nannte er sie (wie diese Dinger wirklich hießen, wurde nie definitiv geklärt). Auch hier wurde ohne Unterlass gepaart. Überall diese Fortplanzerei, es stinkt nach Fruchtbarkeit und blühender Verwesung. Ich war müde. Mein Kopfweh wurde wieder stärker. Ich beschloss die Gruft doch auch einmal anzusehen. Viel gab es jedoch nicht zu besichtigen. Mehr als ein großer Schrank mit Särgen, Gittern und eine einzelne brennende Kerze war nicht zu sehen. Wir saßen noch eine ganze Weile auf der Treppe, es wurden Fotos gemacht. Irgendwann die erlösenden Worte. «Wir gehen! Zurück zum Bus!» Kurz bevor wir wieder an der Schule in Pilsen ankamen, ein Kulturschock: Frau Hirnings Handy begann »Mozart’s 40.«, laut Nokia, zu piepsen. Erst nach gut einer Minute brachte Frau Hirning das Piepsen zumSchweigen. Mein Tscheche und ich fuhren nach hause. Noch vor 17 Uhr begann ich, die Bilder von meiner Kamera zu laden. 60 Bilder! Es dauerte eine Ewigkeit... Ich legte mich auf mein Bett. 18 19 Eine Stunde später erwachte ich wieder. Mein Ärger über mich selbst. Ich hasse es einfach einzuschlafen. Ich fühle mich dann so hilflos, ohne Kontrolle über meinen Körper. Doch wenigstens war ich wieder fit. Ich war genau im richtigen Moment erwacht. Es gab Essen. Vor mir stand eine schleimige, weiß-gelbe Masse mit Brot am Rand. Sauerkraut - oh nein! Sauerkraut gehört zu den Dingen, die ich normalerweise nicht esse. Eigentlich gar nicht. Meinen Zorn über die Unverschämtheit, einfach anzunehmen ich möge Sauerkraut und wolle gleich einen ganzen Teller davon, konnte ich gerade noch unterdrücken. Ich aß, Löffel für Löffel, dann wieder Brot, ein Schluck künstlicher Fruchtsaft. Wieder Sauerkraut, Löffel für Löffel. Irgendwann, der Teller war glücklicherweise fast leer, musste ich aufgeben. Mir war einfach zu schlecht, fast hätte ich mich übergeben. «Do you want more?» Fast hätte ich meinem Tschechen eine reingeschlagen. Doch ich lehnte dankend ab, es habe sehr gut geschmeckt. Warum lügt man in einer solchen Situation? Ich verstand mich selbst nicht. Ich hätte gleich sagen können, dass ich keinen Hunger hätte oder einfach, dass ich kein Sauerkraut mag. Aber nein, Höflichkeit ist wichtiger als das eigene Wohlbefinden. «Wir sind Botschafter unseres Landes, alles was ihr tut wird auf unser Land zurückgeworfen.» hatte Herr Bantle auf der Hinfahrt bereits angemahnt. Ich mag mein Land. Ich hatte meinen Stolz zwar für eine Woche abgelegt, aber trotzdem – Wahrscheinlich ist es einfach ein Problem unserer Gesellschaft, dass wir die Wahrheit nicht mehr sagen können. Und warum? Nur aus Angst, man könnte schlecht von uns denken oder gar über das eigene Land. Es ist also keineswegs uneigennützig, seine Interessen hinter die der Etiquette zu stellen, sondern im Gegenteil, fast schon egoistisch, weil man hofft, dadurch einen Vorteil zu erlangen. Ich traute meinen Augen nicht, als mein Tscheche sich noch eine Portion nahm. Igitt! Am Abend trafen wir uns wieder alle in der Stadt. Am «Amerika Platz». Doch das war eine fast noch größere Unverschämtheit als die große Portion Sauerkraut. Auf einer großen steinernen Platte war in goldenen Buchstaben zu lesen: «THANK YOU AMERICA! On may 6th 1945 the city of Plzen was liberated by the U.S. Army» Befreit aus der Unterdrückung durch die Deutschen. Welches kranke tschechische Hirn musste auf die Idee gekommen sein, sich genau hier zu treffen? Ich hatte Mühe nicht an eine Pumpgun zu denken. Wir begaben uns kollektiv ins Oko, das einige am vorigen Abend noch »entdeckt« hatten. «Echt geil da!» war die Beschreibung – Und tatsächlich, es war so. In einem länglichen Raum waren über sieben Billardtische aufgebaut. Daneben Tische um gemütlich zusammen zu sitzen und vielleicht etwas zu trinken. Mein Tscheche brachte mir ein Getränk. Ich hatte eigentlich gar nicht damit gerechnet, dass er mir etwas spendieren würde. Ich kostete – Der Geschmack von Cola durchfuhr mich. Endlich! Aber was noch? Im ersten Moment hatte ich Probleme den Geschmack einzuordnen. Dann sah ich die rötliche Färbung des Schaums. Natürlich: Wein! Das Getränk bestand zur Hälfte aus Rotwein. Justyna meinte, es handle sich um »Korea«. Meinetwegen. Wofür es nicht alles Namen gibt. «Aber Achtung, da kriegsch Kopfweh von!» Da ich schon Kopfweh hatte, schenkte ich der Warnung nicht weiter Beachtung. Ich weiß nicht mehr genau, wie viel ich hatte, aber an diesem Abend hielt es sich in Grenzen. Soweit ich mich erinnere, zwei dieser Koreas (0,5 l) und einen Baileys, den mein Tscheche im Verlauf des Abends plötzlich daherbrachte. Wir verstanden uns an diesem Abend alle sehr gut. Je mehr wir tranken desto besser, selbstverständlich. 20 21 --Am nächsten Morgen wachte ich wieder durch die Sonne auf. Noch bevor ich die Augen öffnete begann ich zu grinsen. Ich fühlte mich gut wie lange nicht mehr, keine Spur von Kopfschmerzen. Glücklicherweise hatte sich Justyna geirrt. Doch meine Stimmung wurde schnell schlechter, als ich mir meiner Müdigkeit bewusst wurde. Nicht ganz sieben Stunden Schlaf. Um acht sollten wir an der Schule stehen. Eine halbe Stunde für Bad, Frühstück und Rucksack packen. Um 8:17 Uhr fuhren wir nach Prag. Prag sollte zu einem der Höhepunkte unserer Reise werden. Wir machten einen Zwischenstopp auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums, in dem man Geld tauschen konnte. Doch leider war die Bank zu, sodass wir ohne Geld zu tauschen weiterfahren mussten. Plötzlich wieder das Gepiepse. Nur eine halbe Stunde nach der Abfahrt hatte irgendjemand wieder das Bedürfnis, Frau Hirning auf dem Handy erreichen zu wollen. Wieder der Selbe, nervige Klingelton. Noch 82 km – Mir war heiß, aber ich genoss es kein Kopfweh mehr zu haben. Um 10 Uhr kamen wir dann endlich an. Prag! Wir stiegen mitten auf der Straße aus dem Bus, weil Stau. Die Sonne schien, nur ein paar Quellwolken. Es war heiß. Unser erstes Ziel: Eine Toilette. Zufällig stand diese vor dem Prager Schloss, sodass wir dieses gleich besichtigten. Erst den großen königlichen Lustgarten, oder so. Mit Ausblick auf die Kathedrale, unser nächster Anlaufpunkt. Wir hatten jetzt 45 Minuten Zeit, um das Kloster mit unseren Tschechen zu besichtigen. Dazu fehlte mir aber ehrlich gesagt die Lust. Ich setzte mich mit Susanne, Saskia und Tim vor eine hässliche Statue. Erst wussten wir gar nicht, wohin wir gehen sollten. Klar, in Richtung Treffpunkt, aber wo war der? Schließlich machten wir uns auf. Ständig kamen uns Leute entgegen, die etwas Farbiges, wie einen Schirm, in die Höhe streckten. Wie sinnlos. Ein geistesgestörter Italiener, an dem wir vorbeigingen, kam nicht umhin Saskia «Cicci!» zu nennen. Diese war davon sichtlich verstimmt. «Was soll das heißen, Cicci?» Es half ihr nicht unbedingt, als Tim erklärte, dass es sich wohl um ein Wort handele, was Italiener für kleine, »süße« Kinder benutzten. Sie ärgerte sich noch einige Minuten darüber, bis wir schließlich den Treffpunkt fanden. Keiner da und noch eine halbe Stunde Zeit. Wir stellten uns an den Rand des Schlosses und genossen die Aussicht auf Prag. Ein seltsam dreinschauender Mann ging langsam an uns vorbei. Er wollte irgendetwas verkaufen, das er in den Händen hielt. Eine Art Spielzeug. Susanne ließ sich anmerken, dass sie sich dafür interessierte. Ein schlimmer Fehler. Der Penner wollte uns gar nicht mehr in Ruhe lassen. Glücklicherweise entdeckte er nach einiger Zeit das nächste Opfer. Der Treffpunkt war unter der nächsten hässlichen Statue. Als endlich alle da waren, wurden noch ein paar Fotos der Gruppe gemacht, bis es dann weiter ging. Quer durch Prag. Durch kleine Straßen, vorbei an Restaurants mit »böhmischen« Spezialitäten, Straßenverkäufern, Wechselstuben und Pennern. Der Himmel war inzwischen völlig mit Wolken bedeckt und es war kälter geworden. Wir gingen über die Karlsbrücke. Anscheinend eine wichtige Sehenswürdigkeit, laut Herrn Bantle. Aber viel war nicht zu sehen. Nur viele Leute – ich hatte Angst um meine Tasche. Überall auf der Brücke standen und saßen Maler, die Portraits und Karikaturen anfertigen wollten, an einer Ecke spielte eine Jazzband. Es begann zu regnen. Ganz leicht, aber unnachgiebig. Weiter ging es, durch die Prager Altstadt, bis wir schließlich an einen großen Platz kamen. Dann drei Stunden Zeit. Wir schnappten uns unsere Tschechen und machten uns auf den Weg. Als erstes wollten wir etwas essen. Natürlich bei McDonald’s. Doch der erste McDonald’s zu dem uns die Tschechen führten, war gnadenlos überfüllt. Auf einem Schild war zu lesen, es gäbe in der Nähe einen Weiteren. Nach längerer Debatte über Sinn und Zweck machten wir uns auf den Weg. Wir fanden auch schon bald den anderen, mit Platz für uns alle. Glück. Mein Tscheche lud mich wieder ein. «Eeeh Bastian, eeeh, what do you want?» Ein Chicken McNuggets Menü. Seine Reaktion auf meine Erklärung ließ mich schnell merken, dass er nicht besonders oft zu McDonald’s ging – Ich setzte mich also mit Andreas, Tim und Johannes an freie Plätze und wir warteten. Nach ungefähr einer Viertelstunde kamen dann unsere Tschechen und Philipp, dessen Tschechin sich geweigert hatte mitzukommen. Man sollte annehmen, McDonald’s sei überall gleich, aber meine Chicken McNuggets unterschieden sich in Geschmack und Form deutlich von den internationalen. Statt der normalen glatt panierten Oberfläche und einer angedeuteten Hähnchenform, waren diese Teile viereckig und grob paniert, mit Stückchen in der Panierung. Dies rief wohl auch die Differenz in Form in Geschmack hervor – Als alle fertig gegessen hatten, mussten einige ihren natürlichen Bedürfnissen nachkommen. Wieder fünf Kronen. Doch diesmal wurden die fünf Kronen in Form einen Gutscheins zurückgegeben. Keine schlechte Idee: Wer bloß wegen der Toilette kommt, zahlt fünf Kronen, die die noch etwas essen wollen, bekommen sie zurück. Doch: Unser Essen war schon bezahlt, sodass wir nichts von den Gutscheinen hatten. 22 23 Die Klos waren zwar nicht unbedingt sauber, für Tschechien aber durchaus akzeptabel. Als wir das Gebäude verließen, versuchte mein Tscheche die Gutscheine, es waren sicher sechs Stück, Leuten zu schenken, die sowieso gerade etwas essen gehen wollten. Doch keiner verstand, was er wollte. Witzigerweise auch wegen der Sprache. Erst erwischte er zwei Polinnen, dann einen Engländer. Endlich fand er einen Tschechen, der die Gutscheine bereitwillig entgegennahm. Der Regen hatte aufgehört. Dann weiter durch Prag. Zu einem Einkaufszentrum, eher eine Art Passage. Ein Musik-Geschäft, mit Postern. Ich kaufte mir ein Poster, das eine Atom-Explosion darstellte. Wir irrten weiter, eine Rolltreppe nach unten. Da war eine Art Lebensmittelladen. Friedi hatte mich gebeten, ich solle ihr unbedingt eine Flasche »Whiskey Cream« mitbringen. «Die schmeckt sooo geil!» meinte sie. Erst ab 18. Mein Tscheche erklärte sich bereit, eine Flasche zu kaufen. Doch der hatte keinen Ausweis dabei. Perfekt. Was dann geschah, kann ich nur aus seinen Berichten schließen, weil tschechisch. Eine Frau sprach ihn an und fragte ihn, ob sie es kaufen sollte. Anscheinend lebte sie auf der Straße oder so. Keine Ahnung, mein Tscheche war nicht unbedingt genau in seinen Ausführungen. Jedenfalls bekam er die Flasche und ich war glücklich. Immerhin mal ein Geschenk. Das einzige, das ich gekauft habe. Ich habe lange überlegt, was ich meinen Geschwistern und meinen Eltern aus Tschechien mitbringen könnte. Bis auf meinen Bruder hatte niemand um etwas spezielles gebeten. Der jedoch fragte mich kurz vor der Abreise: «Basti, bringst du mir ein paar tschechische Euro(s) mit?» Nunja, bei einem Wechselkurs von 1:1 mit tschechischen Kronen durchaus verlockend, aber ob tschechische Euro-Noten von deutschen Banken akzeptiert werden, ist überaus fraglich, aber nicht ausgeschlossen. Schließlich arbeiten tschechische Fälscher äußerst genau. Angeblich... Wir betraten ein Einkaufzentrum. Wieder Poster. Die anderen suchten diesmal nach einem. Philipp fand einige, für sich und seine Schwester. Auch Andreas wurde fündig. Dann Internet. Ein Stock tiefer sollte es angeblich ein Internetcafé geben. Doch: «They say, that the internet doesn’t work!». Mein Tscheche hatte gefragt, doch leider,... Einige hundert Meter weiter dann wieder ein Einkaufszentrum. Mit funktionierendem Internetcafé, endlich! Ich schrieb meiner Schwester eine eMail, wie es mir ging und so weiter... Verdammte tschechische Tastatur – Dann zurück zum Treffpunkt. Die Sonne schien wieder. Es wurde geprüft, ob auch alle da seien, was sich als nicht gerade einfach herausstellte, weil alle redeten. Frau Schanzarova ging im allgemeinen Gerede fast unter. Doch irgendwann war auch das geschafft und wir machten uns auf den Weg zur jüdischen Gemeinde in Prag – Ich nahm anfangs noch an, wir würden zum Bus gehen und dann zur jüdischen Gemeinde fahren, doch die Gemeinde war nur wenige Blocks entfernt, was mir aber erst klar wurde, als wir direkt vor einer Synagoge Halt machten. Ein letztes Bild, dann gelüstete es meine Kamera nach einer neuen Ladung Batterien. Von Aldi, versteht sich. Minutenlang standen wir in einer langen Schlange vor der Synagoge. Ohne Sinn und Zweck, bis sich der Schülerhaufen langsam in Bewegung setzte. In die Synagoge hinein – Das Bauwerk war, verglichen mit der Pilsener Synagoge, recht klein, und diente allem Anschein nach als Ausstellungsraum und weniger als »Gotteshaus«. Leider hielt sich meine Begeisterung für jüdische Kultur in Grenzen, nicht wegen irgendwelcher antisemitscher Grundzüge, im Gegenteil, die Sache mit dem Mondkalender (zum Beispiel) hätte mich durchaus interessiert, aber nicht, wenn ich von einer öffentlichen Institution, genannt Schule, mitten in Tschechiens Hauptstadt gezwungen werde, mich für Synagogen zu interessieren. Wann begreifen die Lehrer endlich, dass man sich eigentlich nie für etwas interessieren kann, was man aufgezwungen bekommt? Einzige Ausnahme ist, wenn man sich bereits vorher interessiert hat. Mehr tot als lebendig saßen und standen wir also in dieser Synagoge umher. Einige konnten noch den Worten der deutschsprechenden 24 25 Führerin lauschen. Ich saß neben Susi und erwartete gespannt das Ende der Führung – Endlich hatten wir Zeit uns umzusehen. Wie toll. Meine Stimmung hatte sich allerdings gebessert, da ich annahm, wir seien jetzt fertig. Doch plötzlich:«Das dauert jetzt noch 1 1/2 Stunden...» hörte ich jemanden sagen. Was? Sollten wir uns jetzt hier die ganze Zeit über aufhalten? Doch schon zwei Minuten später verließen wir die Synagoge. Vorbei an einem Andenkenshop. Ich erinnerte mich unvermittelt an den Geschichtsunterricht. «Kauf nicht beim Juden!» Zwar leicht unpassend, aber wozu bekommen wir sonst soetwas beigebracht? Unser nächstes Ziel war nicht etwa der Bus, sondern die nächste Synagoge. Ein Schild machte uns darauf aufmerksam, dass Käppchen zu tragen seien. Diese Juden-Teile eben, die nur ca. 1/3 des Kopfes bedecken und sehr symbolisch zu verstehen sind. «Den Abstand zu Gott vergrößern!» Erst behaupten Gott ist allmächtig und allgegenwärtig und plötzlich kann man mit einem Stück synthetischem Stoff die ganze Omnipräsenz zunichte machen? Verstehe einer die Religion... Frau Kohler bildete das Ende der Gruppe. Ich versuchte ihr klar zu machen, dass ich keine Lust hatte, diese Käppchen zu tragen. Ich machte das Angebot, vor der Synagoge zu warten. Hätte ich mich bloß nicht breitschlagen lassen. Frau Kohler hat diese Art, erstmal nach dem «Wieso jetzt?» zu fragen. «Naja, öhm, aus Glaubensfragen und so...» Da! Schon wieder ein schlechtes Gewissen. Wie ich das hasse. Lehrer die einem ein schlechtes Gewissen machen könne, sollte man allesamt verbieten. Auch Tims Protest wurde zerschmettert von der Übermacht weiblicher Autorität – Ich wurde also »gezwungen« die nächste Synagoge zu betreten. Selbstverständlich zog ich dann die Juden-Kappe auf, schließlich bin ich kein so intoleranter Trampel, der meint, sein Glaube sei der einzig richtige. Außerdem konnten die armen Juden ja nichts für meine Lehrerin – Das »Nichtaufziehen« der Kappe, das einige als Ausdruck des Protests benutzten, empfand ich als lächerlich und unpassend. Wenigstens war es ein Tscheche, der sich derart verhielt. Unpassend deshalb, weil die ganze Synagoge vollgeschrieben war mit Namen und Todesdaten. Alle zwischen 1941 und 1945. Jetzt sollten wir auch noch deswegen ein schlechtes Gewissen bekommen. Meinetwegen. Doch dann erinnerte ich mich an die Worte Herrn Bachhofens: «Vielleicht sollten wir die Vergangenheit einfach ruhen lassen. Gegenseitige Schuldzuweisungen bringen nichts.» So oder so ähnlich hatte er sich ausgedrückt. Gegenseitig war hier natürlich nicht ganz richtig, schließlich war der einzige »Fehler« der Juden gewesen, dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Und vorallem den »falschen« Glauben hatten. Nach der Meinung A. Hitlers zumindest. Jedenfalls war es nicht meine Schuld, dass all die Juden getötet wurden und die Wände mit ihren Namen machten sie auch nicht wieder lebendig. Meine Überlegungen wurden unterbrochen, als wir einen großen Friedhof betraten. Die Gräber waren teilweise übereinander errichtet worden. Weil Juden keine Gräber auflösen, oder so. Ich konnte der Führerin aus verschiedenen Gründen nicht zuhören. Weil mein Käppchen die ganze Zeit wegflog, weil ich mit Sassi und Susi sprach, deren rote Haare sich im Wind bewegten und weil die Führerin aus akustischen Gründen einfach schlecht zu verstehen war. Eigentlich interessierte es auch niemanden, ob der Friedhof jetzt 400 oder 500 Jahre alt war. Tim, der Berichte über die Ausflüge machen sollte, erklärte mir, er habe nicht einmal Notizen gemacht. Über mein Angebot, er solle warten bis mein Bericht fertig sei, war er dankbar. «Ich schreib’s aber genau wie’s war! Alle haben sich gelangweilt...» Ich konnte Tim nur zustimmen. Peter machte sich plötzlich Gedanken über die Tora und ToraBora. Außerdem erzählte er von seiner Vision des unsichtbaren Antisemiten – uns war allen langweilig. Weiter ging’s zur nächsten Synagoge. Diese war weit größer als die Vorigen, aber keineswegs interessanter – Und weiter zur Nächsten, zur letzten Synagoge. Diese war einige hundert Meter weiter. Doch Glück: Endlich Sitzgelegenheiten. Die 26 27 Bänke waren sofort voll. Unsere Führerin erzählte noch ein wenig, doch dann war ihre Zeit abgelaufen. Sie musste mit der Führung aufhören, weil wir zum Bus mussten. Doch: Die Tschechen waren weg! Nach ein paar Minuten konnte dann aber mittels Handy geklärt werden, wo wir hinzugehen hatten. Zurück zur vorigen Synagoge. Dort wurden wir bereits erwartet. Dann machten wir uns endlich auf den Weg zum Bus. Einige kauften dann doch noch beim Juden, in einem der zahllosen Souvenirshops. Nach einigen Minuten Fußmarsch, machten wir an einem großen Gebäude halt. «Letzte Gelegenheit auf’s Klo zu gehen!» Plötzlich: Das Durchzählen ergab einen Fehler! Saskia, Susanne, Hani, Johannes und Isabella waren nicht anwesend. Wir saßen also vor diesem Gebäude, das sich als Philosophische Fakultät herausstellte, und warteten. Nach wenigen Minuten – schon von weitem sah man Sasia und Susannes roten Köpfe leuchten. Glücklicherweise hatte Saskia Justynas Handynummer auswendig gekonnt, wie sie stolz verkündete. Ihre Verzögerung war auf das Kaufen von Souvenirs zurückzuführen. Endlich setzte sich die Schüler-Schlange wieder in Bewegung. Frau Kohler meinte, sie würde jetzt den Schluss bilden, damit niemand mehr verloren gehen könne. Ich nutzte die Gelegenheit für ein kurzes Gespräch. «Frau Kohler, warum haben wir eigentlich bei Homo faber nie das Demeter-Kore-Motiv besprochen?» Man konnte ihr die Verwunderung sofort am Gesichtsausdruck ablesen. «Bastian, ich wäre gestorben, hättest du mich das im Unterricht gefragt!» Wieder eine Chance vertan. Hätte ich bloß gefragt – Noch einige Sätze über Homo faber, dann ein Schlag ins Gesicht: «So, jetzt aber mal zum Deutschunterricht», meinte Frau Kohler plötzlich. Ha! Sichtlich stolz auf sich selbst, dass sie diese Überleitung so toll hinbekommen hatte, schaute sie mich fragend an. Ich konnte nicht ganz folgen. Sie versuchte mich über den Deutschunterricht auszufragen und warum unsere Klasse nicht unbedingt »interessiert« sei. Eine tolle Situation. Ganz am Ende der Gruppe, von der Lehrerin zum Gespräch gezwungen, weil ich ja ein «offener Mensch», wie sie meinte, sei. Ich fühlte mich eher wie ein Kriegsgefangener auf dem Foltertisch als ein Schüler mitten in Prag. Ich wusste auch gar nicht genau, was ich sagen sollte, schließlich wusste ich genau so wenig, warum ein Thema uninterresant ist wie sie – Ich versuchte es mit simplen Erklärungen wie «Wir sind eben alle faul.» oder «Das Thema ist eben uninteressant.» Ich beteuerte aber, dass es weder etwas mit der Lehrerin noch mit dem Fach zu tun hatte, dass wir eine eher »ruhigere« Klasse wären. Irgendwann war sie zufrieden. Doch zu welchem Preis? Wir hatten die Gruppe verloren. Es war sehr befriedigend mit anzusehen, wie Frau Kohler und Herr Bantle versuchten die Gruppe und den Bus wiederzufinden. Außer den zwei Lehrern waren noch sieben weitere Schüler zurückgefallen. Desorientiert und verwirrt gingen wir quer über eine Wiese, direkt auf eine Gruppe Busse zu. Doch: Es war ein simpler öffentlicher Busabstellplatz. Keine Spur unserer Gruppe. Wir setzten uns hin. Handy? Keine Chance, alle gespeicherten Personen waren unerreichbar. Selbstlos machte sich Herr Bantle auf die Suche. Dann war auch er verschwunden. Da saßen wir nun also. Alleine mit Frau Kohler mitten in einer tschechischen Großstadt. Ich war zufrieden. Endlich war es auch mal einem Lehrer passiert. Minutenlang passierte nichts. Dann endlich: Herr Bantle kam zurück und winkte uns schon von weitem, wir sollten kommen. Er hatte den Bus gefunden. Im Bus diskutierten wir noch kurz, ob und was wir am Abend machen sollten, doch ohne Ergebnis. Als wir wieder in Pilsen ankamen, führte Herr Bantle ein »ernstes Gespräch« mit den Hotelleuten. Die waren am Vortag fast eine halbe Stunde zu spät gekommen. Lächerlich – 28 29 Zur Strafe mussten sie an diesem Abend schon um 10 statt um 11 Uhr im Hotel sein. Obschon es den Lehrern an diesem Tag auch nicht besser ergangen war. Meine Laune war total im Keller und zu allem Überfluss meinte mein Tscheche auch noch, wir müssten zum Essen. Tim und die anderen gingen anscheinend gleich oder später, genau kann ich das nicht sagen, dann doch noch fort. Ich wollte nachkommen, denn mein Tscheche drängte, seine Mutter würde warten. Mit Essen, wahrscheinlich. Natürlich war dem nicht so. Als wir ankamen, begann seine Schwester (seine Mutter war gar nicht anwesend) gerade erst mit Kochen. Ich war begeistert – Ich lud wieder meine Bilder von der Kamera. Es waren ein paar wirklich Gute dabei. Wieder schlief ich ein, mein Ärger über mich selbst – Es war bereits 21:30 Uhr. Wir aßen. Es gab fettigen Reis mit süßsaurer Soße und ein wenig Fleisch. Es sollte wahrscheinlich chinesisch sein, schmeckte aber nicht danach. Aber es war im Gegensatz zu dem Sauerkraut vom Vortag wirklich gut. Erst gegen 22 Uhr waren wir mit Essen fertig und mein Tscheche fand, es hätte keinen Sinn noch in die Stadt zu gehen. Auch recht, aber das war noch lange kein Grund, mit ihm zu reden. Ich schrieb weiter am meinem Bericht. Das Programm für den nächsten Tag begann mit den Skoda-Werken. Die Gruppe traf sich bereits vor dem Gebäude. Das Schild «Museum Skoda» (man beachte: Skoda wird Schkodda, also mit kurzem O gesprochen) war verrostet und der Putz an der Wand abgebröckelt. Wir warteten. Die Sonne schien zwischen ein paar Wolken hindurch. Dann ging es los. Ein älterer Herr mit Krawatte begrüßte uns auf deutsch, mit starkem tschechischen Akzent. Er erzählte uns kurz etwas und stellte dann seinen »Assistenten« vor, der die Führung übersetzen sollte. Anscheinend deutsch, Franke, meiner Ansicht nach. Dieser Mann, Mitte 30, war das typische (noch lebende) Exemplar eines ausgewanderten Deutsch-Tschechens. Er trug Jeans, T-Shirt und hatte vor Fett triefende Haare mit Seitenscheitel. Das übliche eben – Die Führung begann im unteren Stock, wo es um die Vergangenheit, sprich Geschichte Skodas ging. Wir wurden auch gleich aufgeklärt, dass Skoda nichts (oder zumindest nicht viel) mit Skoda Auto zu tun hatte. Es ging um den Zweiten Weltkrieg. Vielleicht auch um den Ersten – Ich setzte mich auf den Boden, weil Schmerzen in den Füßen. Die Hälfte der Schüler saß uninteressiert im Raum, auch Herr Bantle und Herr Bachhofen taten es uns gleich. Dann ging es einen Stock nach oben, über eine Treppe. Dort ging es vor allem um die Gegenwart Skodas. Metallbearbeitung, soweit ich verstand. Ich saß mit Saskia und Susanne auf dem Boden. Rote Haare auf meinem Block, Saskia laß meine Notizen. Irgendjemand (ich glaube es war Peter) klagte über Halsschmerzen, weil tschechische Zigaretten. Nach einer Ewigkeit ging es endlich weiter. Jetzt kam der interessante Teil: Die eigentliche Werksbesichtigung. Auf dem Weg dorthin trafen wir Tobias, dessen Tscheche sich leicht verspätet hatte. Das Werk war wirklich interessant. Wir gingen zwei Meter an glühenden Stahlteilen vorbei, ohne jegliche Sicherheitsmaßnahme. Typisch tschechisch eben. Dann vorbei am Schmelzofen, heiße, stickige Luft strömte uns entgegen. Es stank. Es roch unangenehm, geradezu giftig. Ich versuchte den grünen Dampf zu ignorieren, der aus dem Schmelzofen strömte – Wir durchliefen noch die Nachbearbeitungs- und die Abfertigungshalle. Ohne Möglichkeit zum Sitzen. Der Franke redete und redete. Ich hörte weg – «Irgendwann hört er bestimmt auf!» Ich klammerte mich an diesen Gedanken und biss die Zähne zusammen. Doch der Schmerz in meinen Füßen wurde immer stärker und der Franke wollte einfach 30 31 --- nicht aufhören von »Endabfertigung« zu reden. Wie ich diese Tortur überleben konnte, weiß ich nicht mehr – Dann zur Schule, wieder Essen in der Schulkantine. Igitt... Leider kann ich mich nicht mehr erinnern was es gab. Irgendetwas ekelhaftes, mit Kümmel. Nach dem Essen kam dann der von mir persönlich gefürchtetste Programmpunkt: «Nachmittag Sport» Was ist der Sinn sportlicher Aktivität in Tschechien? Auf einer Studienreise. Am Vortag hatte ich noch eine Diskussion mit Frau Kohler gehabt, die meinen Standpunkt einfach nicht vestehen wollte oder konnte. Meiner Überzeugung nach hat Schule keinen Anspruch auf meine körperliche Leistung, schon gar nicht um Noten zu bekommen. Unverschämt! Außerdem gehört Schulsport zu den teuersten Fächern überhaupt und ist das einzige Fach (im Normalfall), in dem Verletzungen, meist nicht unerheblich, passieren können. Ich hatte mich also auf das Schlimmste vorbereitet und meine innere Haltung bereits klar auf »Verweigerung« eingestellt. Doch – dieser Mittag wurde zu dem schönsten und entspannendsten überhaupt. Bereits um 13:15 Uhr, also eine 3/4 Stunde zu früh, begannen wir uns den »braigschen« Minigolfplatz anzuschauen. Die komplette Anlage war selbst gemacht. Angemalt von Zehnjährigen oder zumindest hatte es den Anschein. Außerdem unebene Bahnen, Löcher und Gras, was nur einige wenige der Punkte waren, die ich bemängelte. Nach einer Viertelstunde hatte ich die Bahn durch, mehr oder weniger... Ich setzte mich auf das Gras. Dann zusammen mit Philipp, Tim und Martin auf eine der Bahnen. Langsam füllte sich der Platz. Keiner der Deutschen (fast keiner) hatte Lust, Basketball oder gar Fußball zu spielen. Nur ein paar Verrückte, wie Tobias und Peter, waren dazu in der Lage. Eine halbe Stunde nach offiziellem Beginn des Sports war von irgendwelchen Aufsichtspersonen, also Lehrern, keine Spur – Irgendwann saßen und lagen wir alle zusammen und genossen die Sonne. Ich fühlte mich wohl. Auf meinemBauch lag ein Kopf mit roten Haaren. Unter mir das Gras. Dazu das Scheppern von Saskias Walkman, mit eingebauten Lautsprechern! Ich genoss den Moment und wünschte mir, dass die Lehrer nie kommen würden. Eine Stunde und 50 Minuten nach Beginn tauchten plötzlich ein paar seltsam bekannte Gestalten auf. Oh, die Lehrer. Sie schien es wenig zu interessieren, dass sich keiner sportlich betätigte. Auch recht, obschon es sich um eine Pflichtverletzung handelte. Aber die tschechische Mentalität war, so schien es, auf sie übergesprungen. Plötzlich die freudige Botschaft: Nach der Oper am Abend hatten die Hotelleute die offizielle Erlaubnis bis zwölf (also 24 Uhr) wegbleiben zu dürfen, weil eigene Verspätung der Lehrer. Allgemeine Freude – Der Sport schien beendet. Nach kurzer Besprechung beschlossen Martin, Tim, Philipp und ich kurz zum Einkaufen zu gehen. Meinem Tschechen befahl ich... ich sagte ihm, dass er hier warten sollte. «I’ll wait here!» Ich nickte freundlich zurück und verkniff mir die Worte «Hab ich doch eben gesagt, du Arsc**och!», auch wenn er es nicht einmal verstanden hätte. Das nahegelegene «Einkaufszentrum» kam uns gerade recht. Doch, Einkaufszentrum traf es nicht ganz. Vielleicht hätte es irgendwann mal eine Passage werden sollen, denn das (meiner Ansicht nach) halbfertige Gebäude diente vor allem als Herberge verschiedener Kleinstläden. Glücklicherweise gab es auf Höhe der Straße eine kleine Drogerie. Wir kauften verschiedene Lebensmittel, Süßigkeiten. Ich entdeckte ein Imitat der »Prinzenrollen«, allerdings von einer völlig anderen Firma. Aber mit fast identischer Zeichnung auf der Packung und zum halben Preis. Außerdem noch eine 2 Liter »Coca Cola«-Flasche für unglaubliche 30 Kronen (ca. 1 Euro), das original tschechische Cola hingegen kostete nur 10 Kronen. Mir wurde aber gesagt, es sei ungenießbar. Wir machten uns langsam auf den Rückweg zur Schule. Mein Tscheche wartete schon – wir fuhren nach hause. Umziehen für die Oper. Es waren aber noch über 1 1/2 Stunden. Ich lud meine Bilder – 32 33 Wieder wurde mir bewusst, dass ich eingeschlafen war. Irgendwann weckte mich mein Tscheche und wir aßen noch etwas. Wieder viel zu viel, allerdings weiß ich nicht mehr was. Aber es war bestimmt furchtbar, mit Kümmel. Pünktlich kamen wir vor dem »Theater« an. Ich hatte mir extra meine schlimmsten Sachen angezogen, doch leider wurde ich trotzdem reingelassen, wie alle. Ich ging hoch. Eine ältere Frau erklärte mir sehr nett (wirklich) auf deutsch, wie ich meinen Platz finden konnte. Nicht, dass ich mir nicht selbst hätte denken können, was Reihe und was Sitzplatz hieß, aber die Frau sah aus, als würde nicht oft jemand mit ihr reden. Ich setzte mich und wartete. Frau Kohler hatte irgendetwas von einem besonderen Vorhang oder so gesagt. Anscheinend war es das, was die Bühne verdeckte. Ja natürlich, meinetwegen, dann war es eben wunderschön – Langsam füllten sich die Plätze. Doch als es los ging, waren längst nicht alle belegt. Wir waren auf dem zweiten »Balkon« oder wie das hieß. Bis zum ersten Wort hoffte ich noch, die Oper könnte in der Originalsprache, also Deutsch, aufgeführt werden. Mein Tscheche hatte irgendwas von einem »Untertitel-Projektor« erzählt, doch: Pech! Die Oper war selbstverständlich tschechisch. Doch auch die Tschechen verstanden kein Wort. Nach ca. 45 Minuten dann endlich Pause. Es ist wirklich nicht so, dass ich etwas gegen klassische Musik hätte, im Gegenteil. Es gibt Beschäftigungen, bei denen ich gerne klassische Musik im Hintergrund laufen lasse, zum Beispiel während ich etwas programmiere. Aber was uns in dieser Oper geboten wurde, war alles andere als angenehm. Wirklich störend war der Gesang zwar auch nicht, aber ich konnte einfach nichts entdecken, was irgendeinen Unterhaltungswert gehabt hätte. Wir saßen in einer Ecke mit zwei Sesseln. Sarah, Justyna, Peter, Saskia, Susanne, Martin, Tim und ich. Dann unsere Entscheidung: Wir wollten hier warten, bis zum Ende. Das erste Signal, dann das zweite, jetzt ging die Oper weiter. Wir blieben sitzen. Eine jüngere Frau steckte den Kopf durch einen Türspalt und bat uns auf deutsch: «Wenn Sie den zweiten Teil nicht mitverfolgen wollen, seien Sie bitte leise...» Kein Problem. Nach kurzer Diskussion verließen wir das Gebäude. Diskret, selbstverständlich. Wie uns ging es noch einigen anderen, doch die meisten verließen das Stück während der Aufführung, was für die wenigen Interessierten bestimmt störend war. Aber ich war weder interessiert noch in der Oper. Auch einige Tschechen standen jetzt mit uns vor der Oper. Doch was jetzt? Isabelle und einige mit ihr gingen in eine Sportbar, Fußball anschauen, es fand irgend ein Endspiel statt – Tim und Martin gingen mit ihren Tschechen. Ich stand alleine da, mit Sarah, Justyna, Saskia, Susanne und Peter. Diskussion über den weiteren Abend. Der Vorschlag: Das »Alfa«. Es war eben erst 20 Uhr, also warum nicht. Wir machten uns auf den Weg. Justyna ging es anscheinend nicht so gut und nach nur wenigen Minuten beschloss sie, es sei das Beste, wenn sie zurück ins Hotel ginge. Wir gingen weiter in Richtung »Alfa«, doch als wir ankamen war natürlich kein Mensch da. Die Musik dröhnte schon und an der Bar stand jemand, doch das war auch schon alles. Ich wollte ins »Oko« doch wirklich sicher waren wir uns nicht, ob wir hinfanden. Zurück zur Oper. Keiner da. Also unternahmen wir alleine den Versuch, zum Oko zu gelangen, schließlich hatten wir mit den anderen ausgemacht, wir würden uns dort treffen. Wir gingen den Weg nach Schilderung eines Mitmenschen (ich weiß nicht mehr wer es war). Irgendwann erkannte ich auch die Gegend wieder, doch ich hätte das Oko nie alleine gefunden – Peter und ich unterhielten uns über irgendetwas Sinnloses während Sarah, Saskia und Susanne uns zielsicher direkt vor die Türe des Okos führten. Respekt. Auch hier war nicht viel los, was uns aber nicht sonderlich störte. Wir diskutierten kurz über die Oper und die Geldverschwendung, die sie darstellte, doch ich sah das anders. Zwar interessierte mich die Oper überhaupt nicht, aber ohne unsere Teilnahme wäre das Theater mit Sicherheit nicht mal zur Hälfte gefüllt gewesen. Und der 34 35 Eintritt betrug umgerechnet gerade mal etwas über 3 Euro. Ich fand, wenn wir mit diesem Geld der Gruppe geholfen hatten, war es die Sache bereits wert gewesen. Wir tranken etwas und schon einige Minuten später kamen auch die anderen. Dieser Abend wurde zu einem der schönsten überhaupt, zumindest empfand ich das so. Sonne... wieder direkt in mein Gesicht. Ein Blick auf die Uhr, diesmal fast pünktlich, noch 10 Minuten, dann musste ich aufstehen. Frühstück – es gab Kuchen.Und das am frühen Morgen. Natürlich zwei Stück auf meinem Teller. Mit Rosinen. Dazu Cola, weil keine Milch mehr im Haus. Das erste Stück ging, aber da ich normalerweise ja nicht frühstücke, hatte ich ernsthafte Schwierigkeiten das zweite Stück Kuchen zu essen und gleichzeitig das erste für mich zu behalten. Mein Tscheche aß drei Stück und überlegte sich, ob er noch eines nehmen sollte – Fast pünktlich kamen wir an der Schule an. Martin hatte Geburtstag, ich kam vor lauter Gratulanten kaum an ihn ran, um ihm selbstverständlich ebenfalls zu gratulieren. Abfahrt nach »Karlsbad«. Wieder fuhren wir in getrennten Bussen. Nach einigen Minuten Fahrt, wir hatten Pilsen gerade verlassen, meldete sich Herr Bachhofen zu Wort. Es ging um die Oper. Er begann damit, dass er die »erste Gruppe« lobte, die die Oper diskret während der ersten Pause und auch kurz darauf verlassen hatte. Dieses Verhalten bezeichnete er als «annehmbar». Auch eine «zweite Gruppe» lobte er, nämlich diejenigen, die das Stück trotz tschechisch bis zum Ende schweigend miterlebt hatten. Doch dann kam er auf die «dritte Gruppe», die Kaninchen, zu sprechen. Er verglich deren Verhalten mit eben diesen armen kleinen Tieren. «Das Kaninchen frisst den ganzen Tag Möhrchen und hält alle anderen für blöd, bloß weil sie nicht auch Möhrchen essen.» Möhrchen? Normalerweise ist eine bildliche Sprache durchaus als vorbildlich zu bezeichnen, aber derart verschlüsselt? Meine Deutschinterpretation zu «Homo faber» war mir leichter gefallen als nachzuvollziehen, was Herr Bachhofen damit sagen wollte. «Und wenn ihr nicht aufpasst, fallt ihr in die Regenwurmstufe.» Langsam begann ich mich doch zu fragen, ob seine Worte überhaupt noch von der Oper handelten. Soweit ich verstand, versuchte er damit die Gruppe zu rügen, die in der Oper geblieben war, aber geredet und gestört hatte. Irgendwo konnte ich ja auch nachvollziehen, dass es störend gewesen sein könnte, wenn sich jemand für die Oper interessiert hätte. Ich musste an Sauerkraut denken. Mit Kümmel – Um ca. 10 Uhr kamen wir in Karlsbad an. Die Sonne schien, ein paar kleine Quellwölkchen zogen dahin, es war heiß. «Um 14:15 Uhr treffen wir uns wieder hier.» Einer der Lehrer war etwas vorschnell. Justyna, Sarah, Saskia, Susanne und Peter, also die Hotelleute unserer Klasse, nahmen diese Angabe zu wörtlich und machten sich kurzerhand alleine auf den Weg. Die Gruppe setzte sich in Bewegung, gemeinsam - natürlich ohne die eben Genannten. Unser erstes Ziel war eine »öffentliche« Toilette. Kostenlos für 5 Kronen. Ob wirklich jemand von dieser Gelegenheit Gebrauch machte, ist fraglich – vielleicht. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass die Hotelleute nicht mehr bei der Gruppe waren, die zwei rot leuchtenden Köpfe fehlten einfach. Frau Kohler reagierte auf meine Frage, ob sie wüsste, dass sich die Hotelleute abgesetzt hatten, gelassen: «Wenn die wissen, dass wir uns um 14:15 Uhr wieder am Bus treffen, ist’s doch o.k.» Weiter, durch eine Unterführung direkt auf eine Einkaufsstraße zu, welche wir dann gemeinsam entlanggingen. Mir war nicht ganz klar, welchen Sinn es hatte, der Gruppe zu folgen. Als wir an einem kleinen Straßencafé vorbeigingen die Überraschung: «Justyna?» Anscheinend hatten die Hotelleute doch die gleiche Route wie wir gewählt, nur schneller. Justyna saß alleine vor dem Café mit einer Tasse vor sich. «Wo sind die anderen?» «Die sind drinnen auf’s Klo!» Ich zögerte. Sollte ich mich hier anschließen? Doch mein Gewissen widersprach. Hätte ich mich bloß zu denen gesetzt, dann wäre der Tag vielleicht auch für mich interessant geworden. Doch leider ging 36 37 --- ich weiter mit der Gruppe, die Straße entlang. Wie konnte ich nur so dumm sein. Wir überquerten eine Brücke, vorbei an einem Thermalbad, wieder über eine Brücke. Es sah wirklich schön aus. Der Fluss, überall Bäume und Sträucher, Gras und zwitschernde Vögel. Irgendwie kitschig – Dann endlich begriff ich, warum wir noch gemeinsam unterwegs waren: Wir kamen an ein großes Bauwerk, wahrscheinlich eine Residenz dieses Karls, der ja bereits im Namen der Stadt zu finden war und auch in Prag war er mehrfach aufgefallen. Jetzt löste sich die große Gruppe auf. In kleinen Gruppen mit mindestens 3 Leuten sollten wir uns jetzt die Stadt anschauen. Ich wollte mit Philipps Gruppe, doch leider sah ich sie nirgends. Also schloss ich mich Martin, Dominika, Tobias, seinem Tschechen und Tim an. Mein Tscheche meinte, er müsste sich unserer Gruppe auch anschließen. Toll – Erste Station, eine Passage. Zum Einkaufen. Es handelte sich dabei um ein längliches Bauwerk auf drei Stockwerken. Mit Rolltreppen. Diese führten aber lediglich nach oben. Während Martin, Dominika und die anderen Karten anschauten, versuchte ich einen Weg nach unten zu finden. Vorbei an Kleinst-Läden. Kopfschüttelnd passierte ich die verschiedensten Artikel: Ledertaschen, Hochzeitskleider, Schuhe. Ein Paradies für weibliche Wesen, die Hölle für mich. Ich hatte das Gefühl allein durch meine Anwesenheit Geld zu verlieren. Am anderen Ende des Gebäudes dann endlich eine Treppe. Direkt neben einem »German Store«, der Mode direkt aus Berlin verkaufte. Wie originell – Endlich verließen wir das Gebäude. Ich machte den Vorschlag, zurück zu der Einkaufsstraße zu gehen, die wir am Anfang gemeinsam durchquert hatten. Keine Reaktion. Wir bewegten uns durch eine Gasse, völlig ziellos anscheinend. Niemand schien meine Frage nach dem «Wohin?» wahrzunehmen. «Mir reicht’s, wir sehn’ uns am Bus!» Ich drehte mich um und setzte Kurs auf die Einkaufsstraße. Verwunderte Blicke von meinem Tschechen. Die anderen merkten anscheinend nichts. Ich hatte damit gerechnet, dass mir jemand hinterher rufen würde, doch nichts dergleichen geschah. Meinetwegen. Ich ging den Weg zurück, den wir gekommen waren. Am Thermalbad setzte ich mich und dachte nach. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen. Ich hatte nur ungefähr 30 Kronen (1 Euro) bei mir, da ich alles andere Daniela geliehen hatte. Außerdem sprach ich ja kein Wort tschechisch und ein Handy hatte ich auch nicht dabei. Trotzdem, ich war froh alleine zu sein. Zum ersten Mal seit einigen Tagen. Ich fotografierte und machte Notizen. Ich genoss die Sonne. Wie lange ich einfach nur da saß, vermag ich nicht zu sagen. Irgendwann beschloss ich aufzustehen und in Richtung Bus zu gehen. Ich überquerte die Brücke. Plötzlich: Bekannte Gesichter. Julia und Nadine aus der ParallelKlasse kamen mir entgegen. Ich grüßte freundlich. Sie hatten sich auch schon früher abgesetzt und fanden jetzt niemanden der anderen. Selbstlos erklärte ich mich bereit ihnen zu zeigen, bis wohin wir mit der Gruppe gegangen waren. Auf unserem Weg fiel ihnen die Einkaufspassage auf, wegen eines großen Banners. «Da war ich schon drin, fand’s aber nicht so toll. Aber vielleicht ist es was für euch.» Meine Beschreibung gefiel ihnen anscheinend und die beiden beschlossen, die Passage zu besuchen. Ich ging weiter und setzte mich vor das große Bauwerk, das wir ja schon vorher hätten beschauen sollen. Überall kleine Brunnen, aus denen heißes, schwefelhaltiges Wasser strömte. Frau Kohler hatte gemeint, es besitze angeblich eine heilende Wirkung. Viele der Touristen hier schienen, im Gegensatz zu mir, daran zu glauben. Sie liefen mit großen Bechern oder Gläsern durch die Gegend, manche der Gefäße hatten Röhrchen, die am unteren Ende austraten und nach oben zeigten. Um von unten nach oben zu trinken. Aber wozu? Um den Schwefel nicht mit aufzunehmen vielleicht? Eigentlich war es mir egal. Ich saß da und wünschte mir 38 39 ein Handy. Vielleicht hätte ich die Hotelleute wiedergefunden. Im Schatten des Bauwerks und durch den Wind, der jetzt blies, war es angenehm kühl. Ich betrachtete das vollkommene Blau des Himmels und die eine Wolke, die dahinschwebte. Meine Versuche mich an meine Segelflugtheorie und den Kurs in Meteorologie zu erinnern, scheiterten kläglich. Vielleicht eine Strato-Cumulus Wolke, aber eigentlich war sie dafür zu hoch. Gegenüber wurde ein Haus gereinigt – Wieder eine Gruppe älterer Herrschaften, die das ekelhaft lauwarme Quellwasser tranken. Ich machte Fotos, von dem Gebäude, von einem der Brunnen. Da mir die Füße weh taten, beschloss ich zurück zum Bus zu gehen. Durch die Einkaufsstraße, natürlich mit der Hoffnung, eine der Gruppen zu treffen. Wieder durch die Einkaufsstraße, die Unterführung und vorbei an der »öffentlichen« Toilette. Doch kein bekanntes Gesicht weit und breit. Es war unerträglich heiß, als ich endlich am Bus ankam. Frau Hirning, unsere Busfahrerin, saß in einem Klappstuhl im Schatten des Busses und laß eine Zeitschrift, wahrscheinlich Gala. Ich grüßte. Ob sie mich wirklich als einen der Schüler erkannte, weiß ich nicht. Ich schätze, sie verließ sich einfach darauf, dass kein deutschsprechender Fremder einfach so auf sie zugehen würde. «Bisch du schowieder da?» fragte sie mich zu recht erstaunt. Um eine glaubhafte Erklärung zu bieten, erzählte ich, ich hätte meine Gruppe verloren. Sie öffnete mir die Bustür. Noch nicht mal 12 Uhr. Ich saß einfach nur da, vor dem Bus, auf der letzten Stufe. Kühler Wind wehte mir entgegen. Am liebsten wäre ich irgendwo auf einer Wiese gelegen, wie am Vortag, während des »Sports«. Wenn ich doch bloß die Handynummern aufgeschrieben hätte. Frau Hirning hätte mich bestimmt kurz telefonieren lassen. Mir schmerzten die Füße – Müdigkeit überkam mich. Ich legte mich auf die letzte Reihe des Busses. Es war nicht unbedingt bequem, aber durch die getönten Scheiben des Busses war es wenigstens nicht zu hell, sodass ich schnell einschlief. Ich träumte, von zweiköpfigen Tschechen und rothaarigen Deutschen. Fast eine Stunde später erwachte ich wieder. Ich hatte gar nicht bemerkt, überhaupt geschlafen zu haben. Mein Zorn über mich selbst – Notizen. Ich schrieb fast eine Seite. Dann machte ich Fotos. Von den Schienen hinter dem Bus. Nur weil ich nichts besseres zu tun hatte. Dann beschloss ich mich auf die Suche zu machen, vielleicht könnte ich jemanden finden. Diesmal ohne Rucksack. Vorbei an unzähligen Bussen, dem Bahnhof. Die Sonne brannte. Kein Wind mehr. Mir war unerträglich heiß. Warum hatte ich heute morgen auch unbedingt das schwarze T-Shirt anziehen müssen. An der öffentlichen Toilette, zu der wir ja bereits heute morgen gelangt waren, machte ich Pause. Ich hatte etwas im Schuh – Was dachte ich mir überhaupt dabei? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ich jetzt jemanden meiner Gruppe finden würde? Fast gleich null. Ich überlegte. Was sollte ich dann machen? Ich hatte ja nicht einmal eine Mütze auf und auf Sonnenbrand war ich nicht aus. Am Kopf sowieso nicht. Zurück zum Bus. «Niemand g’funden?» Ich schüttelte den Kopf. Wieder meine Notizen. Diesmal über die Abende im Oko. Ich schrieb und schrieb. Eine Seite, zwei. Dann zeriss ich das Blatt, es war sowieso zu nichts nütze. «Dein Bericht soll nüchtern und sachlich sein, Bastian, für’s Oberschulamt.» Frau Kohlers Worte hatte ich noch genau in Erinnerung. Also warum über sinnlose Saufgelage schreiben? Ich hätte mir zwar vorstellen können, dass es die Herrschaften des Oberschulamtes brennend interessiert hätte, wie die heutige Jugend feiert, aber Frau Kohler war anderer Meinung. Noch eine halbe Stunde – Ich saß auf meinem Platz, mein Kopf an der heißen Scheibe. Wahrscheinlich durch die Tönung erhitzt. Normalerweise wird Glas doch nicht heiß durch die Sonne. Ich war mir nicht sicher. Ich durchsuchte meinen Rucksack und warf den Müll in den gelben Sack. Noch 20 Minuten – Im Bus war es zwar im Vergleich zu draußen kühl, aber ich schwitzte 40 41 dennoch. Ich wollte duschen. Sekunden wurden zur Ewigkeit. Noch 15 Minuten. Dann endlich: Sarah und Justyna kamen. Endlich jemand zum Unterhalten. Doch viel war nicht zu erfahren. McDonald’s – Liegen auf einer Wiese – Vögel die Essen stehlen. Wäre ich doch bloß bei denen mitgegangen. Der Bus füllte sich. Philipp erzählte, dass sich fast alle auf dieser Wiese aus Justynas Erzählung getroffen hatten. Wäre ich einfach den Weg zurückgelaufen, wie ich es ja fast getan hätte, wäre ich mit ziemlicher Sicherheit auf die Wiese gestoßen, meinte er. 14:15 Uhr, der Bus war voll. Doch unsere Lehrer fehlten. Langsam wurden wir ärgerlich, im Bus war es heiß. Keine Spur der Lehrer – Eine Viertelstunde später, der Vorschlag ohne die Lehrer zu fahren, ließ sich leider nicht durchsetzen. Frau Hirning gab sich gelassen. Fast eine halbe Stunde später sahen wir bereits von weitem eine Gruppe dunkler Gestalten, die sich langsam dem Bus näherten. Sie lachten. Als die Lehrer den Bus betraten, wurden sie gnadenlos ausgebuht. Vergebens warteten wir allerdings auf eine Erklärung. Später erfuhren wir, dass die Lehrer angeblich beim Essen waren und sich in der Zeit etwas vergriffen hatten. Wahrscheinlich war auch etwas Alkohol geflossen. Frau Kohler hatte aber vermutlich wieder nur ein Glas Orangen-Saft getrunken. Die Busfahrt zurück nach Pilsen dauerte und dauerte. Mir war heiß. Von der Klimaanlage des Busses war nur wenig zu spüren. Doch endlich, endlich erreichten wir Pilsen und einige, darunter auch ich und mein Tscheche, durften bereits früher aussteigen, wodurch wir mindestens eine halbe Stunde sparten. Ich freute mich schon meinen Bericht weiterschreiben zu können und die Bilder zu sehen. Doch mein Tscheche hatte andere Pläne. «Do you want to watch ‘Monty Python’?» Ich hatte mir schon gedacht, dass ich die verbleibenden zwei Stunden nicht alleine mit meinem Bericht verbringen konnte – Nach kurzem Überlegen stimmte ich widerwillig zu. Doch der Film war wirklich nicht schlecht, zumal auf Englisch. Mit tschechischen Untertiteln. Monty Python ist eben lustig, egal wo und in welcher Sprache. Dazu gab es Eis, welches uns Mareks Mutter brachte. Nicht schlecht. Zum Berichtschreiben kam ich nicht mehr. Ich hatte gerade noch Gelegenheit meine Bilder runterzuladen, glücklicherweise war der Tag nicht unbedingt ereignisreich gewesen und Notizen hatte ich genug. Wir fuhren mit dem Bus zur Schule, der Abschlussabend stand bevor. Als wir ankamen, waren die Vorbereitungen in vollem Gange. Einige Bänke waren bereits im Hinterhof der Schule aufgestellt worden, Chips und Getränke (auch alkoholische) standen bereit und der Grill glühte. Jeder Versuch den tschechischen Schülern Arbeit abzunehmen, war allerdings vergebens, wir konnten nichts weiter tun, als uns zu setzen und zu warten. Dann kam der Fisch. Am Stück. Gegrillt, selbstverständlich. Leider hatten sich die Tschechen leicht in unseren Geschmäckern geirrt, nur wenige aßen Fisch. Obwohl dieser angeblich «ganz toll» schmeckte. Ich mag keinen Fisch. Warum weiß ich selbst nicht. Probleme, den kompletten Fisch vor mir zu sehen und schließlich zu verspeisen, habe ich keine. Überhaupt nicht. Was ich nicht mag, ist eben der Geschmack. Und der Geruch. Der Geruch nach gebratenem Fisch gehört zu den Dingen, die ich nicht ausstehen kann. Fisch ist wie Sport: Angeblich gesund, aber manche Leute mögen ihn einfach nicht. Zum Glück gab es auch noch »Chicken«, wie mein Tscheche das gegrillte Putenschnitzel bezeichnete. Er war so freundlich, mir einen Teller gegrillte Pute zu bringen und, es schmeckte wirklich gut. Salate standen auch auf den Tischen, am Ende war aber noch viel übrig. Ich saß neben Cécile und Tim. Arme Cécile: Sie hatte ein knallrotes Gesicht vom Sonnenbrand, was aber bestimmt schlimmer aussah, als es war – Plötzlich lautes Gelächter: Tobias obduzierte einen der gegrillten Fische. Besonders das Auge sorgte für allgemeinen Ekel. Warum Ekel? Jeder von uns hat ein solches Auge. Jeder von uns hat ein Herz, einen Darm, also warum sich ekeln? Andererseits war es nicht 42 43 unbedingt erforderlich den Fisch auseinanderzunehmen, während andere Essen. Rücksichtsvoll war es auf keinen Fall. Frau Kohler saß nur einige Meter entfernt. Ich holte meine Kamera aus meinem Rucksack und schoss unerwartet ein Foto. Sichtlich verärgert meinte sie: «Bastian du bist blöd!». «Was soll denn das?» fragte sie. Peter antwortete mit Anspielung auf meinen Bericht: «Das wird eine Überraschung!». Frau Kohler, die mich blöd fand, gefiel diese Vorstellung überhaupt nicht. «Ich will keine Überraschung von Bastian» waren ihre Worte, bestimmt war ihr bereits zu diesem Zeitpunkt klar, dass der Bericht nicht ganz so ausfallen würde, wie sie es sich gedacht hatte. Ich bin nicht blöd. Ich bin nur, was Lehrerinnen nicht vertragen, durchaus sachlich. Ich bin nicht blöd, wie Frau Kohler behauptet, und sage kein Wort gegen Schule; meistens fanden die Lehrerinnen selbst, dass ich mich nicht für Schule eigne. Ich kann nicht die ganze Zeit lernen. Es muss einfach mal eine Pause geben, Schüleraustausch ist eben nicht gleich Studienfahrt. Eine Studienfahrt macht man, um zu lernen, über Kultur und/ oder Geschichte. Einen Schüleraustausch hingegen macht man, um das Land und die Gewohnheiten des täglichen Lebens kennenzulernen. Wo ist da bitte Platz für die Schule? Zum Nachtisch gab es gekauften Kuchen und Obstsalat. Mit Sahne. Am Ende war auch hiervon noch jede Menge übrig. Irgendwann hieß es dann: «Jetzt gehen wir ins Oko!» Martins Geburtstag musste schließlich gefeiert werden. Eine kurze Bahnfahrt später saßen wir dann im Oko. Noch nicht alle, aber nach und nach wurde unsere Gruppe immer kompletter. Martin gab gleich einen aus. Auch Frau Kohler und Frau Strauß gesellten sich im Verlauf des Abends zu uns, aber zumindest Frau Kohler verzichtete auf den Genuss von Alkohol – Wir tranken, unterhielten uns und spielten Billard. Wie jeden Abend hier. Doch die Stimmung war merklich besser, schließlich war es unser letzter Abend. Es wurde spät. Sehr spät. Doch wie und wann wir nach Hause kamen, weiß ich nicht mehr. Ich duschte mich und fiel danach in mein Bett. Ich schlief sofort ein – 44 --Ein plötzliches Schütteln. Zum ersten Mal erwachte ich nicht durch die Sonne, sondern durch die Hand meines Tschechens. Ich war müde. Sehr müde. Nicht einmal 4 1/2 Stunden Schlaf. Mein einziger Gedanke: «Heute geht es endlich heim!» Endlich wieder kühles Cola, mein eigenes Bett, ausschlafen, mein Computer. Frühstück. Alles zog sich ewig in die Länge an diesem letzten Morgen. Kurz ein Photo mit mir und der Familie. Als wir gingen umarmte ich Mareks Schwester. Ich schnappte meinen Koffer und verließ die Wohnung. Verließ das Hochhaus. Ein letzter Blick zurück. «Nie mehr! Nie mehr Tschechien!» Ich zog meinen Koffer neben mir her. Wie oft war ich in der kurzen Zeit diese Strecke gelaufen? Ich hatte nicht mitgezählt. Der Bus war voll. Doch schon nach zwei Stationen hatte ich einen Sitzplatz – Als wir an der Schule ankamen, sahen wir überall seltsam verkleidete Schüler, die mit Wasser und Essig spritzten. Anscheinend eine Art Abischerz. Die meisten von uns fanden das aber alles andere als lustig. Unsere Gruppe bestand sowieso nur noch aus Alkoholleichen und Scheintoten. Wir luden unser Gepäck in den Bus. Abfahrt zur Pilsener Brauerei. Wir fuhren mehrere Minuten innerhalb Pilsens umher, bis wir durch ein Tor auf das Brauereigebäude fuhren. In einem neuen Anbau saßen wir dann für 10 Minuten und warteten, bis die Lehrer endlich alles geklärt hatten. «Nachher kommt noch eine andere Gruppe und der Souvenirladen wird voll sein. Daher macht der Laden extra für uns jetzt schon kurz auf.» Frau Kohler schien stolz auf sich selbst. Der Souvenirladen war nicht besonders groß, aber nett aufgemacht. Ich kaufte mir ein Bierglas. Für einen Liter Cola, versteht sich. Dann endlich begann die Führung. Ein älterer tschechischer Führer begrüßte uns auf Deutsch. Als erstes bekamen wir in dem neuen Vorführsaal einen Propaganda-Film zu sehen. Es ging um Bier. Die Qualität des Films war ausgesprochen gut. Eine DVD oder sogar direkt vom Computer. Auf deutsch. Dann gingen wir weiter. In Richtung Fabrikanlage. Doch bevor wir 45 das Gebäude betreten durften, wurde uns an einer bunten Schautafel erklärt, wie Bier (in Tschechien) hergestellt wird. Mir taten die Füße weh. Ich konnte kaum noch stehen. Die Augen fielen mir fast zu – Endlich ging es weiter, einen Stock höher. Es roch undefinierbar. Es stank. Noch ein Film, über Hopfen. «Neunzehnhundert Achtunvierzitsch wurde dieser erste Botitsch in Betrieb genommen.» Der tschechische Akzent des Führers war sehr interessant und für mich der erste »echte« tschechische Sprachstil. Wir verließen das Gebäude und begaben uns in den Gärkeller. Oder zumindest das, in dem früher das Bier gärte. Jetzt waren es nur noch wenige Fässer, die in dem viele Kilometer langen Tunnelnetzwerk waren. Wieder ein Film. Mir war kalt, denn hier unten herrschte eine konstante Temperatur von 8° C, angeblich. Dann eine Probe des Biers. 6° C kühl. Einen Schluck nahm ich, dann war mir wieder schlecht. Ich nippte mehrmals und setzte den Becher schließlich in einer Mülltonne vorsichtig ab. Endlich war die Führung beendet. Entscheidung: Stadt oder zurück zur Schule. Ich war müde und mir war heiß. Zurück zur Schule – Wir setzten uns wieder auf die Wiese hinter die Schule. Es war noch nicht einmal halb 12. Um 14:00 Uhr war Abfahrt. Wir saßen einfach nur auf der Wiese. Es war heiß und ich schwitzte. Sarah, Justyna, Tim, Saskia, Susanne waren bei mir. Wir saßen und redeten. Kurz darauf gingen wir in die Kantine. Ein letztes Mal aßen wir in der Schule. Hähnchen mit Soße und Kartoffeln. Jetzt war mir erst recht schlecht. Dann saßen wir wieder einfach bloß da. Machmal ein kurzes Gesprächsthema. Lästern über Lehrer und Fächer. Mit unserer Bank rückten wir immer weiter in Richtung Mauer, weil Sonne. Wir folgten dem Verlauf unseres Sterns. Mein Tscheche stand plötzlich vor mir und fragt, ob ich etwas zu essen für die Fahrt brauchte. «If it’s possible...» Ich wollte ihn nur los haben. Und tatsächlich, er verschwand und ließ sich vorerst nicht mehr blicken. Langsam scharten sich die jenigen, die noch in die Stadt gegangen waren, auf einer nahen Wiese. Meine Laune war am Boden. Noch eine Stunde. Warum konnten wir nicht jetzt losfahren? Und Gruppenbild sollten wir auch noch machen. Es wurde immer heißer. Noch 45 Minuten. Die Sonne kam immer näher. Wieder zurückrücken. Doch die Mauer ließ nur noch wenige Zentimeter zu. Doch irgendwie brachten wir auch noch die letzten Minuten herum. Und irgendwann war es tatsächlich 14 Uhr. Gruppenbild. Ich erklärte mich bereit, die Fotos zu machen und ließ mir acht Kameras in die Hand geben. So beladen knipste ich ein Foto nach dem anderen. Meine eigene Kamera hatte in diesem Moment natürlich wieder das Bedürfnis nach Batterien, was ich nicht befriedigen konnte, weil ich keine Zeit und keine Batterien mehr hatte. Also kein Bild mit meiner Kamera. Mein Tscheche gab mir mein Vesper in die Hand und verabschiedete sich. Dann endlich, nach Tagen der Qual: Ich stieg in den Bus, der viel zu heiß war, und schon kurz darauf fuhren wir tatsächlich los. In Richtung Deutschland. Als ich meinen Tschechen langsam immer kleiner werden sah, wusste ich: Es war vorbei. Ich verspürte ein Gefühl von Zufriedenheit, ein Gefühl absoluter Freiheit. Obschon ich in einer Stahlkonstruktion, genannt Bus, gefangen war und noch einige Stunden Fahrt vor mir hatte, fühlte ich mich irgendwie, als wäre eine Last von mir gefallen. Nach kurzer Zeit kamen wir dann an der Grenze an. Wir stiegen aus und legten uns ins Gras. Der Boden war kühl. Ich lag einfach nur da und sah den Wolken zu, wie sie über uns hinwegzogen. Ich genoss es mit meinen Freunden zusammen zu sein, mich mit ihnen ungezwungen zu unterhalten, mein Spaß dabei, ich lag und schwitzte. Susi fand ein vierblättriges Kleeblatt. Ich klemmte es in den Scheibenwischer des Busses, vielleicht brachte es uns Glück für die Staus. Musik, kein Dreck im Gras – Meine letzten Minuten in Tschechien. Sassi und Susis rote Haare, das Gras zwischen meinen Händen. Ich schließe die Augen und spüre wie mich das Licht der Sonne durchströmt. Ich preise das Leben! Zwanzig Minuten lagen wir da und redeten. Dann ging es weiter, mit 46 47 dem Bus, in Richtung Heimat. Ich schaute wieder aus dem Fenster, Wolken, durchstochen von Sonnenstrahlen. Eine Wolke erinnerte mich an einen Apfel. Sinnlose »Teenie-Magazine« wanderten durch den Bus, ich erinnerte mich an meine Fahrt ins Schullandheim. Nach mehreren Kilometern, Stopp an einem Parkplatz, mit öffentlicher Toilette. Kostenlos mit automatischer Spülung. Sauber auch ohne tschechische Frau am Eingang, die 5 Kronen verlangt. Weiterfahrt nach wenigen Minuten. Stundenlang fuhren wir weiter. Die Sonne sank immer tiefer, begann schon langsam sich orange zu färben. Halt an einer Tankstelle mit Autobahnraststätte. Ich kaufte mir ein Spezi, die Deutschen Preise. In Euro. «Die spinnen ja wohl! Das gab’s in Tschechien für die Hälfte!» Wir standen und saßen zusammen um einem großen Stein. Im Hintergrund die bekannten Geräusche eines Sport-Flugplatzes. Schweigen. Bald sollte sie vorbei sein, unsere gemeinsame Fahrt nach Tschechien. Unsere Busfahrt dauerte nun schon viele Stunden und Herr Bantle begann bereits über den Deutschland-Aufenthalt der Tschechen zu reden. Ich saß auf dem Boden des Busses, vor mir rote Haare. Links von mir die Türe des Busses. «Was machst du in den Ferien?» Susis Frage überraschte mich. «Keine Ahnung, mal sehen...» Endlich bekannte Straßen und Orte. Münsingen kam näher und näher. Wir konnten es kaum noch erwarten. Und endlich, nach Stunden der Enge öffnete sich die Tür – Ich setzte meinen Fuß auf den Boden meiner Heimatstadt, mit der Gewissheit, dass es in zwei Wochen heißen würde: «Sie kommen.» 48 Anmerkungen «Homo discipulus» wurde am 03.07.2002 fertiggestellt und beschreibt den Schüleraustausch der damaligen Klasse 11b mit Schülern der Tschechischen Republik. Stil, Wortschatz und Motive wurden bewusst in Anlehnung an Max Frischs «Homo faber», suhrkamp Verlag, eingebracht. Schriftliche Interpretationen sind ausdrücklich verboten und dürfen unter keinen Umständen (außer mit schriftlicher Genehmigung des Autors) durchgeführt werden. Der Roman wurde geschrieben »nach einer wahren Begebenheit«. Allerdings sind einige der Geschehnisse aus der Erinnerung des Autors und daher nicht unbedingt genau so geschehen. Sollte sich eine erwähnte Person schlecht oder gar falsch dargestellt fühlen, bitte ich dies zu entschuldigen. Teilweise wurden die Namen geändert oder vertauscht. Dank geht an dieser Stelle an Philipp Backhaus (und Carsten Stauder), zum einen für das Titelbild, aber auch für das Korrekturlesen der »Vorab-Version«. Liebe Grüße an unsere (Ex-)Deutschlehrerin Frau Kohler. Danke, dass Sie die Darstellung der »Roman Frau Kohler« mit Humor aufgenommen haben. Kommentare und Kritik per eMail an: [email protected] Dieses Buch kann auch kostenlos bezogen werden unter http://www.c20.de/ 49