Buch_Johnson 9.indb
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Buch_Johnson 9.indb
_Schmutztitel_ _vakat_ _Titelei_ _Impressum_ Inhalt Vorwort 7 Norbert Mecklenburg Barbara Scheuermann 55 Rainer Paasch-Beeck 9 Nachbarschaften mit Unterschieden. Interkulturelles als soziographisches Erzählen in Uwe Johnsons „Jahrestagen“ „Halt dir grade, Mensch!“ Uwe Johnson: Fremdbilder und Selbstbild. Die Kesten-Affäre und ihre Folgen „In Anklam aber empfängt mich die Hölle“. 39 versiegelte Todesfälle in den „Jahrestagen“ Jurij Sacharow 0 Carsten Gansel 29 Birgit Dahlke 57 Oliver Fritsch 69 Sieglinde Geisel 83 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion – kritische Bilanz einer Rezeptionsgeschichte Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson zwischen Nähe und Distanz Die beteiligte Chronistin – Annett Gröschners Wahlverwandtschaft mit Uwe Johnson Von der Gewilltheit des Zuhörers. Zur Rolle des Lesers in Thorsten Krämers „Neue Musik aus Japan“ und Uwe Johnsons „Zwei Ansichten“ „Fremd in der Fremde“. Uwe Johnson und Christoph Brumme – zwei Autoren, die vieles trennt und die vieles verbindet 5 Jana Hensel 9 Tobias Hülswitt 20 Das Land, in dem ich war. Zur Konstruktion von Kindheit in Texten junger ostdeutscher Autoren nach 989 Das alte Rom in seinen Provinzen. Die junge deutsche Literatur kam aus dem Westen, im Osten herrschte verschüchterte Stille Dokumentation Peter Kauffold 209 Walter Hinck 25 Jürgen Becker 22 Martin Wiebel 229 Chistoph Busch 235 Carsten Gansel 24 Rainer Paasch-Beeck 263 Von der Pflicht, wieder neu zu entdecken. Festrede des Ministers für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern Erinnerungen haften an den Landschaften. Laudatio auf Jürgen Becker Das Vergangene wieder vergegenwärtigen. Dankesrede Annäherung durch Entfernung. Laudatio auf Christoph Busch und Peter Steinbach Auf der Suche nach einer menschlichen Welt. Dankesrede „Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“. Gespräch mit Jürgen Becker „Nachbarschaft als Fremde“. Eine Johnson-Tagung in Iserlohn 6 Vorwort Jahrbücher und Schriftenreihen zu Autoren und literaturgeschichtlichen Themen erfreuen sich zwar nach wie vor einer guten Konjunktur, aber oft genug erweist sich früher oder später das Sujet als erschöpft. Diese Prognose trifft auf Uwe Johnson trotz der inzwischen außerordentlich umfangreichen Sekundärliteratur nicht zu. Das „Internationale Uwe-Johnson-Forum“ feiert inzwischen sein fünfzehnjähriges Bestehen, der „Uwe-Johnson-Preis“ wurde 2003 zum fünften Mal verliehen, und auch die „Uwe-Johnson-Tage“ in Neubrandenburg finden seit mehr als zehn Jahren statt. Vor diesem Hintergrund hält unser Periodicum an seinem Ziel fest, das schriftstellerische Werk Uwe Johnsons mit wechselnden methodischen Zugriffen zu erschließen. Nach wie vor gilt der Leitgedanke der Offenheit: Jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wird die Möglichkeit geboten, ihre Lese-Erfahrungen mit Johnsons Erzähltexten und Korrespondenzen vorzustellen, neue Denkfiguren zu erproben und Analyseansätze zu präsentieren. Dabei sollen die jeweiligen Deutungsmuster Ausgangspunkte für weitere Diskussionen bilden – nicht zuletzt unter den verschiedenen Generationen von Johnson-Lesern. Norbert Mecklenburg geht in seinem umfassenden Beitrag interkulturellen Aspekten im Werk von Uwe Johnson auf den Grund. Er zeigt, wie in den „Jahrestagen“ nicht zuletzt über die ‚kulturelle Verschiedenheit‘ von Menschen in ihren Räumen erzählt wird. Das Erfahren von ‚Fremde‘ spielt folglich für Johnsons Figuren eine zentrale Rolle, und insofern sieht Mecklenburg den Autor als einen „Fachmann für Fremdheitsfragen“. Das Besondere etwa in „Jahrestage“ besteht darin, dass politische, historische, soziale, regionale und kulturelle Unterschiede einander nicht polarisierend entgegengestellt oder beliebig präsentiert werden, vielmehr erfolgt im Erzählprozess eine Differenzierung. Barbara Scheuermann untersucht am Bespiel der „Kesten-Äffäre“ von 96 und ihrer späten Nachwirkungen, in welchem Maße für Uwe Johnson Prinzipien von ‚Wahrhaftigkeit‘ und ‚Verläßlichkeit‘ in poetologischen wie persönlichen Fragen bestimmend geblieben sind. Rainer Paasch-Beck wendet sich einem Kapitel in Johnsons Biographie zu, zu dem bisher nur sehr wenige Fakten vorliegen, den ‚Anklamer Jahren‘. Er zeigt, wie Johnson in seinem ‚Riesentext‘ „Jahrestage“ an einen der dunkelsten Punkte der Stadtgeschichte erinnert, die 7 Vorwort Rolle des Wehrmachtsgefängnisses, in dem in der Zeit von 94 bis 945 etwa 39 Soldaten hingerichtet wurden. Jurij Sacharov resümiert die Rezeptionsspuren Johnsons in der ehemaligen Sowjetunion. Er deckt dabei Klischee-Bildungen und Abwehrhaltungen auf und zieht eine insgesamt kritische Bilanz. Mehrere Beiträge – sie sind das Ergebnis eines Neubrandenburger Kolloquiums – fragen danach, welche Bedeutung Uwe Johnson für die jüngste Autorengeneration hat. Carsten Gansel steckt unter diesem Vorzeichen einen Rahmen ab und setzt die am Ende der 90er Jahre im Zeichen von ‚Pop‘ angetretene neue Erzählergeneration ins Verhältnis zu Uwe Johnson. Dabei geht es ihm sowohl um poetologische wie literarische Bezüge. Birgit Dahlke zeigt an ausgewählten Texten von Anett Gröschner, wie die Autorin Uwe Johnson insofern nahe steht, als auch sie am Ende der 90er Jahre erzählend eine Wirklichkeit wiederherstellt, die bereits vergangen ist. Während Birgit Dahlke eine ,Wahlverwandtschaft‘ zwischen einer Autorin mit ostdeutscher Herkunft und Uwe Johnson nachweist, wendet sich Oliver Fritsch einem jungen Autor zu, der westdeutsch sozialisiert ist. In einem Vergleich von Thorsten Krämers „Neue Musik aus Japan“ und Johnsons „Zwei Ansichten“ zeigt er, inwieweit beide dem Leser eine vergleichbare emanzipatorische Rolle zuweisen. Sieglinde Geisel geht einmal mehr Uwe Johnsons „Mutmassungen über Jakob“ nach und setzt diesen Roman in Beziehung zu Christoph Brummes Kindheitsgeschichte „Nichts als das“. Vor diesem Hintergrund werden Gemeinsamkeiten wie Unterschiede der Erzähltechniken deutlich. Nach der Konstruktion von Kindheit bei jungen ostdeutschen Autoren (ab dem Jahr 989) fragt Jana Hensel, und sie weist an Romanen von Julia Schoch, Antje Strubel, Falko Henning und Jochen Schmidt nach, wie diese junge Generation zehn Jahre nach der Wende auf der Suche nach dem ist, was ihre Geschichte einmal hätte sein können. Tobias Hülswitt, einer jener jungen Autoren, die mit ihrem Romandebüt viel beachtet wurden, geht in einem Essay der jungen deutschen Literatur nach, die zunächst – so seine Diagnose – aus dem ‚Westen‘ kam. Der Band wird mit der Dokumentation der Laudationes und der Dankesreden zum „Uwe-Johnson-Preis“ des Jahres 200 fortgesetzt. Die Reden auf den Preisträger Jürgen Becker von Peter Kaufhold und Walter Hinck sind ebenso nachzulesen wie die Dankesrede von Jürgen Becker. Walter Hinck spürt in seinem Beitrag den Anfängen Jürgen Beckers nach und macht anschaulich, auf welche Weise es bis zu dem Buch „Aus der Geschichte der Trennungen“ und 8 Internationales Uwe-Johnson-Forum – Band 9 damit sukzessive zu einer Annäherung an die zunächst abgewehrte romanhafte Form gekommen ist. Becker betont in seiner Dankesrede die erzählerische Nähe wie die Distanz zu Uwe Johnson und liefert so erkenntnisreiche Einblicke in seine Poetologie. Die Laudatio von Martin Wiebel auf die beiden Träger des „Uwe-Johnson-Sonderpreises“, Christoph Busch und Peter Steinbach, markiert deutlich, welchem Grundprinzip das Drehbuch der Verfilmung nach Johnsons „Jahrestagen“ verpflichtet ist, nämlich einer ‚Annäherung durch Entfernung‘. Busch stellt in seiner Dankesrede heraus, welche Entdeckung sie bei ihrer Arbeit an den „Jahrestagen“ gemacht haben, dass Johnsons Text bei aller Trauer auch noch etwas anderes wie einen ‚roten Faden‘ durchzieht: die ‚Hoffnung‘. Den Schlußteil des Bandes bildet ein Gespräch zwischen Carsten Gansel und Jürgen Becker sowie eine Replik von Rainer Paasch-Beck zu einer Uwe-Johnson-Tagung in Iserlohn. Carsten Gansel Nicolai Riedel April 2004 9 Norbert Mecklenburg Nachbarschaften mit Unterschieden Interkulturelles als soziographisches Erzählen in Uwe Johnsons „Jahrestagen“ Uwe Johnsons „Jahrestage“ sind bis zum Rand voll von Unterschieden aller Art, auch von kulturellen. Die Hauptfigur ist eine Arbeitsmigrantin. Sie lebt als Deutsche in der Weltmetropole New York. Sie ist in ihrem Leben über mehrere Grenzen gegangen und blickt auf die Verschiedenheit ihrer Lebensgebiete erzählend zurück. Diese Grundkonstellation macht den Roman für eine interkulturelle Betrachtung interessant.„Fremde und Fremderfahrung“, location und dislocation spielen in den „Jahrestagen“ eine zentrale Rolle.1 Johnson erweist sich hier als literarischer „Fachmann für Fremdheitsfragen“.2 Auch unter diesem Gesichtspunkt läßt sich sein Weg von den früheren Romanen zu dem Hauptwerk als „Ausdifferenzierung“3 bestimmen, nämlich als Erweiterung des dargestellten Spektrums kultureller Differenzen und Kontakte und als Verfeinerung von deren erzählerischer Gestaltung. Johnsons Weg zu einem ,interkulturellen Erzählen‘ verläuft, kurz skizziert, so: In „Ingrid Babendererde“, der jugendlich-frühreifen Literarisierung schulischer, regionaler und politischer Erfahrung, verbleibt das Themenfeld der Grenze und der Unterschiede noch am Rande. In „Mutmassungen über Jakob“ kommt Vielstimmigkeit als Technik und als Programm hinzu, ein Schreibansatz, mit dem Differenzen aller Art differenziert gestaltet werden können. „Das dritte Buch über Achim“ bezieht sich direkt auf „die Grenze: die Entfernung: den Unterschied“, d.h. auf den in der deutschen Teilung sichtbaren politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Ost-West-Gegensatz. Dieses Konfliktfeld wird in den „Jahrestagen“ aufgehoben, also zugleich bewahrt und relativiert durch Einbettung in einen weiteren historisch-politischen Horizont. So kann man die Entfaltung von Johnsons Erzählkunst als Ausdifferenzierung des Erzählens von Differenzen beschreiben. Problematisch aber erschiene es mir, Johnson vorrangig als Erzähler von kulturellen Differenzen, von Fremdheitsfragen nur in einem „kulturologischen Sinne“4 herauszustellen. Denn Norbert Mecklenburg die vielfältigen Fremdheitsaspekte in den „Jahrestagen“ lassen sich nicht alle auf kulturelle Aspekte reduzieren. Dieses Erzählwerk ist unter interkultureller Perspektive gerade deshalb interessant, weil es – in markantem Unterschied zu einer postmodernen Denkmode – Kulturdifferenzen realistisch, d.h. nicht anstelle von oder vorrangig vor anderen Unterschieden, sondern immer mit ihnen zusammen darstellt. Johnsons Erzählkunst in den „Jahrestagen“ orientiert sich zwar in hohem Maße an Differenzen: politischen, historischen, sozialen, regionalen, kulturellen usw. Das geschieht aber in der Weise, daß die Differenzen nicht polarisierend festgeschrieben, vielmehr differenziert werden. Jedoch wird diese Differenzierung nicht ins Beliebige vorangetrieben; im Gegenzug zu ihr wird eine klare Gewichtung unter den verschiedenen Differenzen vorgenommen. Dabei treten nicht etwa die kulturellen, vielmehr die sozialen Unterschiede als die wichtigsten hervor. Diese These möchte ich im Folgenden so erläutern, daß ich einige Komplexe und Kapitel der „Jahrestage“ exemplarisch untersuche. Ich habe solche ausgewählt, die etwas mit einer Leitdifferenz des ganzen Romans zu tun haben, der Differenz von Nachbarschaft und Fremde. Einige Bemerkungen hierzu und ein paar Hinweise auf das breite Spektrum der Differenzen in den „Jahrestagen“ seien vorangeschickt. Bei Johnson wird in dem Wort ,Nachbarschaft‘ die räumliche immer von einer sozialen Bedeutung überlagert, und zwar so, daß damit kein ausschließender Gegensatz zu ,Fremde‘ und ,Fremdheit‘ ausgesprochen wird. Heinrich Cresspahl bleibt in Jerichow als Nachbar unter Nachbarn zeitlebens in gewisser Weise dennoch ein Fremder. Gesine erfährt in New York, in der Fremde und als Fremde, dennoch Nachbarschaft. Und das hat auch Uwe Johnson in seinem letzten Lebensjahrzehnt erfahren und in seinen „Insel-Geschichten“ zu gestalten begonnen: ein Fremder als Nachbar unter Nachbarn. Nachbarschaft ist zweifellos ein Schlüsselbegriff bei Johnson. Neben die neutrale Grundbedeutung ,menschliche Beziehungen im Nahbereich des sozialen Raumes‘ tritt die von Nachbarlichkeit als Wertbegriff für eine positive Qualität menschlicher Beziehungen. Zu ihr gehören Freundlichkeit und Vertrauen, Anerkennung und zwanglose Verständigung, wechselseitige Hilfe und Solidarität. Auch wenn sich dabei regionalistische oder kommunitaristische Ansätze aufdrängen, die gegen eine ,abstrakte Gesellschaft‘ die ,konkrete Gemeinschaft‘ auszuspielen lieben, läßt sich Johnsons Konzept der Nachbarlichkeit nicht in solcher Weise einengen. 12 Nachbarschaften mit Unterschieden Wie in diesen Ansätzen aber gewinnt auch in Johnsons Lesart der Begriff der Nachbarschaft eine kritische und zugleich eine utopische Funktion. Die Kritik richtet sich gegen Verhältnisse und Strukturen der Entfremdung, die Nachbarschaft verhindern oder zerstören können. Sie berührt sich mit einer Kultur- und Stadtkritik, welche die „kleinste Nachbarschaft“ als Modell einer neuen Weltordnung denkt, die keine Machtordnung, sondern eine Lebensordnung wäre,5 und die ohne das „Lebensmuster“ der Nachbarschaft keine „reife Menschlichkeit“ in der modernen Welt für möglich hält.6 Die Utopie der Nachbarschaft besteht in der Idee, daß alle Fremdheit aufgehoben und alle Menschen Nachbarn würden. Diese Utopie wird von Gesine am Ende der „Jahrestage“ sehr bestimmt und sehr marxistisch (mit dem Begriff „Gesetz“) gegen erfahrene und erwartbare Enttäuschung mit der Hoffnung auf eine Zukunft beschworen, in der „Menschen von dunkler Hautfarbe mit rosanen leben als Nachbarn und in Freundschaft unter einander“ (885).7 Damit ist das Problemfeld umrissen, auf dem wir uns zusammen mit Uwe Johnson bewegen, wenn wir nach seinem erzählerischen Umgang mit Unterschieden, mit der Dialektik von Nachbarschaft und Fremde fragen. Wie wird diese Dialektik nun in den „Jahrestagen“ entfaltet? Gesine Cresspahl, die Zentralfigur des Werks, lebt als Deutsche in New York. Das ermöglicht einen doppelt fremden Blick, auf Amerika ebenso wie zurück auf das Herkunftsland. Gesine ist eine Fremde in New York, aber das bereits sechs Jahre lang. So hat sie in ihrem Wohngebiet, Upper West Side, am Riverside Drive, eine gewisse Nachbarschaft erworben. Nicht zuletzt verdankt sie das Marie, ihrer Tochter, die als kaum Vierjährige den Umzug von Düsseldorf nach New York zunächst als Trauma, als Fremdheitsschock erlebt hat. Inzwischen aber, als Zehn- und Elfjährige, hat sie sich in ihre amerikanische Umgebung erheblich mehr integriert als ihre Mutter. Damit ist die interkulturelle Grunddifferenz der „Jahrestage“ auf der Gegenwartsebene bereits von vornherein differenziert durch die Generationsdifferenz; Die Fremdheit Gesines wird ständig begleitet von der Nicht-Fremdheit Maries. Auf der so skizzierten Grundstruktur der „Jahrestage“ erhebt sich ein weiter, vieldimensionaler Erzählraum, der aus Spannungsfeldern in Gestalt von Differenzen aufgebaut ist. Die Differenzen Deutschland-USA, Europa-Amerika werden synchron von dem politischen Ost-West-Konflikt überlagert, dem historischen Systemgegensatz von Kapitalismus und Kommunismus. Darin eingelagert ist die – inzwischen gleichfalls historische – deutsch-deutsche Differenz, 13 Norbert Mecklenburg die Gesine durch ihre Lebensgeschichte wie durch ihre Zeitgenossenschaft nach New York mitbringt. Diese Differenz aber wird ihrerseits durch Historisierung differenziert. Denn die Jerichow–, also die Vergangenheitsebene des Romans ist von der diachronen Differenz zweier totalitärer politischer Systeme auf deutschem Boden bestimmt, dem Nazi-Reich und der frühen DDR. Der Roman entwirft Amerika- und Deutschlandbilder im Wechsel. Gesine blickt mit fremden Augen auf die USA und zurück auf Deutschland, wobei ihre Blicke auf Westdeutschland nicht nur fremd, sondern auch kalt und abweisend wirken. Die differentielle Betrachtungsweise stellt unter dem Aspekt des Totalitarismus das nationalsozialistische und das stalinistische System hintereinander, unter dem Aspekt des Rassismus den Antisemitismus in Deutschland und die Diskriminierung der Afro-Amerikaner – und auch der Puertorikaner – durch die weiße Mittel- und Oberschicht in den USA. Gelegentliche Seitenblicke auf die historische Vernichtung und gegenwärtige Verachtung der Indianer ergänzen das Bild. Der Befund, daß Kultur und Kulturdifferenzen in den „Jahrestagen“ eine geringe Rolle spielen, wird gerade durch Episoden bestätigt, in denen sie eigentlich im Zentrum stehen müßten: Episoden vom Typ ,Leben in einem fremden Land‘, also Parallelgeschichten zu der Rahmengeschichte über Gesine in New York. Dazu gehören die Kapitel über Lisbeth in Richmond, über Robert Papenbrock in Süd- und Nordamerika – von allen Familienmitgliedern das weitestgereiste –, über Slata, seine Beute-Geliebte, in Gneez. Dazu gehören aber auch: Gesine in Westdeutschland, Jakob in Olmütz. (Heinrich Cresspahls diverse Auslandsaufenthalte8 bleiben in den „Jahrestagen“ im Erzählhintergrund). Dazu kommen noch Episoden im Irrealis vom Typ »Was wäre gewesen, wenn«. Das ist eine Erzähltechnik, die geradezu darauf angelegt ist, Differenzen durchzuspielen: Wenn Heinrich und Lisbeth in Richmond geblieben wären… (33ff.). Wenn Mr. Smith in Jerichow zu Besuch gekommen wäre … (652ff.). Wenn Jerichow zu Westen gekommen wäre … (239ff.). In all diesen Episoden über Unterschiede des Lebens in einem anderen Land sind die kulturellen Unterschiede zwar realistischerweise mitgezeichnet, primär geht es jedoch immer um anderes. Schließlich wären solche Episoden von Interesse, in denen, im Gegenzug zur desillusionierenden Bestandsaufnahme von Trennungen, von Strukturen der Fremdheit, die Utopie der Nachbarlichkeit in verschiedenen Beleuchtungen aufscheint. Außer dem zentralen, mehr und mehr ins Zeichen des Scheiterns 14 Nachbarschaften mit Unterschieden tretenden Prager Entwurf sind das vor allem die Kapitel über den Schlegelhof als Landkommune, über Gesines Ferienleben mit den Paepckes auf dem Fischland, über das von Marie erfundene Kinderland „Cydamonoe“. Auch Jakobs Eisenbahneridylle in Olmütz gehört dazu. Und last not least das Mädchen Marjorie, eine bloße Blickbekanntschaft, eine Winterfee wie aus „Tausendundeiner Nacht“, die schöne, zarte Erscheinung von Freundlichkeit mitten in New York, jenseits oder diesseits der Trennung von Nachbarschaft und Fremde. Nachbarn als Fremde, Fremde als Nachbarn – es ist schon das erste Kapitel, eine Art von Präludium zu dem ganzen Roman, das neben mehreren anderen deutlich auch dieses Thema anschlägt und es auf markante Weise exponiert. „Jahrestage“, das Epos von Jerichow und New York, Vergangenheit und Gegenwart, beginnt mit der Gegenwart. Aber es beginnt nicht mit New York selbst, sondern – nach einem suggestiven Strand- und Meeresbild – mit der Beschreibung eines amerikanischen Dorfes, die in den Bericht über einen zehntägigen Urlaub Gesines an der Küste von New Jersey eingebettet ist. Das leitende Konzept dieser Beschreibung ist die Frage: Wie hält es die Gemeinde dieses Dorfes mit Nachbarschaft, mit Fremden? Obwohl Gesine allein angereist ist und auch zurückreist im Zug wie andere Angestellte am Montagmorgen in der lonely crowd, „jeder allein mit seinem Aktenkoffer“ (0), gibt es einen Hauch von Nachbarschaft: Am Strand kann sie „benachbarten Gesprächen“ lauschen; das Haus, das ihr Freunde zur Verfügung gestellt haben, hat ein „Nachbarhaus“ mit freundlichen, hilfsbereiten Nachbarn. Dennoch bleibt sie eine von den „Fremden“, denen das Dorf Zutritt zum Strand „verkauft“. Allenfalls sieht man sie als eine „Katholikin irischer Abstammung“ an, d.h. für WASPs (White Anglo-Saxon Protestants) eine Fremde mit dem niedrigsten Fremdheitsgrad. (Warum? Vielleicht weil man sie nicht in der Kirche gesehen hat und so weit wie Europa nicht denken kann). Dieses Dorf ist keine Dorfgemeinschaft. Es zerfällt in drei Gruppen: die privilegierten Villenbesitzer, die zahlenden Fremden, die „dunkelhäutige Dienerschaft“. Diese hat eine eigene Kirche, d.h. es herrscht rigide Rassentrennung. Bei den Immobilien wie am Strand sind Neger nicht zugelassen. „Auch Juden sind hier nicht erwünscht“ (7). Das weckt in Gesine negative Erinnerungen an ihre Kindheitswelt unterm Nationalsozialismus, wie der Meeresstrand positive Ansichten weckt von damaligen Ferien. Aber: „Waren es Ferien?“ (9) Der skeptische Doppelblick auf Gegenwart und Vergangenheit wirft Fragen auf, die das ganze weitere Werk durchziehen: Wie läßt sich, kurz- oder längerfristig, 15 Norbert Mecklenburg Nachbarschaft in einem Land erfahren, wo Tauschprinzip und Apartheid die Menschen trennen? Wo soziales Fremdsein auf ökonomischer Entfremdung basiert und Nachbarschaft durch Rassenvorurteile und Klassenunterschiede eingeschränkt wird? Ist es in New York anders als in diesem anonymen Küstendorf von New Jersey? Ist es anders gewesen in der deutschen Herkunftswelt? Das Kapitel, das die „Jahrestage“ eröffnet, evoziert die Opposition Dorf/Provinz – Stadt/Metropole und unterläuft bzw. differenziert sie zugleich. Das geschieht dadurch, daß es sie mit der von Nachbarlichkeit und Entfremdung nicht zusammenfallen läßt. Uwe Johnsons soziographisches Erzählen differenziert die Differenzen. Es zeigt Nachbarschaften mit Unterschieden. In den folgenden Abschnitten wird beobachtet, wie der Erzähler der „Jahrestage“ die Rolle eines New-York-Ethnologen spielt und dabei den ethnologischen Blick scherzhaft dekonstruiert, um ernsthaft auf Ethnozentrismus und Rassenideologie in den USA hinzuweisen „Gelb in New York“. Als Soziograph eines New Yorker Viertels präsentiert er sodann die harte Gegenrechnung zu dessen trügerisch multikultureller Oberfläche: soziales Elend und Ausbeutung (Obere Westseite: Multikultur und Slums). Eine Nachbarin, die zugleich eine Fremde bleibt (Mrs. Ferwalter), und ein Nachbar, der gewaltsam zu einem Fremden gemacht wird (Dr. Arthur Semig) – das sind die beiden zentralen Figuren des Themenfeldes der Shoah in den „Jahrestagen“, an dem sich Reichweite und Grenze eines interkulturellen Erzählens messen lassen. Einer interkulturellen Idylle, die aber von gleichen und verschiedenen politischen Verhältnissen überschattet wird, widmet sich der Schlußabschnitt (Jakob in Olmütz). Jeder Abschnitt nimmt die Leitthemen ,Nachbarschaft/Fremde‘ und ,Differenzierung der Differenzen‘ auf, hält sich dabei jedoch auch für den jeweiligen ,Eigensinn‘ der herangezogenen „Jahrestage“-Kapitel offen. 16 Nachbarschaften mit Unterschieden Gelb in New York Natürlich sind die „Jahrestage“ voll von „interkulturellen“ Beobachtungen darüber, was in New York, in Amerika anders ist: von der Art des Zeitunglesens (4) oder des Kopfsprungs (487) über die „Pantomimen“ (54) des Begrüßens (865, 734) und Verabredens bis zu Festbräuchen und Erziehungsstilen. Jedoch aufs Ganze gesehen spricht Uwe Johnson kulturelle Differenzen eher beiläufig an und verwendet die Sprache der Ethnologie nur ironisch, parodistisch, satirisch, indem er von kommunistischen „Häuptlingen“ (54) spricht, sei es – mit sarkastischer „Faust“-Anspielung – von des amerikanischen „Landes Brauch“ des Erschießens (522), sei es von der „mecklenburgischen Seele“ – womit die bornierte Provinzbourgeoisie gemeint ist. Aber hat er nicht wenigstens einmal doch den „Kulturologen“ gespielt? Ist nicht das Kapitel über „Gelb in New York“ ein Beitrag zur Ethnologie und Kultursemiotik der amerikanischen Metropole? Ist es einer, dann ein ziemlich dekonstruktiver. Das Kapitel war ursprünglich ein 966 auf Englisch verfaßter Brief „A letter from abroad“, der auf Deutsch 967 in Enzensbergers „Kursbuch“ erschienen ist, unter dem Titel „Ein Brief aus New York“ und mit dem Briefschluß „Schöne Grüße aus New York. Uwe Johnson“.9 Ein Brief Johnsons an seinen Studienfreund Manfred Bierwisch vom 7.0.966 zeigt, daß der Autor sich den Ostberliner Sprachwissenschaftler als idealen Adressaten gedacht hat.10 Tatsächlich mischen sich mit der Beschreibung gelber Objekte in New York Betrachtungen zu dem Wort „gelb“ bzw. „yellow“ und seinen Verwendungen im amerikanischen Englisch, wie man sie im „Webster“ verzeichnet findet. So gehen Stadt-Ethnographie und Kultursemiotik ineinander über: Der Stellenwert der Farbe Gelb wird in sprachlichen und anderen kulturellen Zeichensystemen beobachtet. Für die „Jahrestage“ hat Johnson – außer kleineren Veränderungen, meist von ungezwungenerem in mehr gravitätischen Stil – das Brief-„Du“ durch ein „Sie“ ersetzt. So ergibt sich ein Text, der mit „wissen Sie“, „sehen Sie“, „wohin Sie blicken“, „was Sie kennen“ wie ein belehrender Vortrag in der Art eines Fremdenführers klingt. Es ist ein Vortrag „über einen Unterschied“, über das, „was hier anders ist in New York im Staate New York“: „Gelb, zum Beispiel“ (690). Gelb sind im New Yorker Stadtbild und Alltag andere Gegenstände als, zum Beispiel, in Berlin. Und „yellow“ kommt im Amerikanischen in anderen Redewendungen vor als z.B. im Deutschen „gelb“. Das ist nicht anders zu erwarten, aber was das Merkwürdige ist: „Gelb ist hier anderswo“, d.h. obwohl man nirgendwo so viel 17 Norbert Mecklenburg Gelb sehen kann wie in dieser Stadt, assoziieren deren Bewohner mit dieser Farbe andere Orte und andere Menschen. Was es mit diesem Paradox auf sich hat, klärt sich erst am Ende des Kapitels. Dieses besteht aus einer einzigen, in typisch topischer Manier gebotenen Reihung von diversen Beispielen für Gelb in New York. Diese lineare, additive Reihung von scheinbar Gleichem, nämlich Gelbem, verdeckt, daß da sehr Heterogenes auf verschiedenen Ebenen angesprochen wird. Auf der ersten Ebene, welche die Hauptmasse der Beispiele bietet, vermittelt der New-York-Ethnologe interkulturelles Wissen über Gegenstände der Alltagswelt, des Straßenbildes und Verkehrswesens, die Gelb großenteils als Signal- oder Symbolfarbe tragen. Das ergibt so etwas wie ein Rasterbild von New York, ein verfremdetes Porträt der Stadt in Gelb. Es fragt sich allerdings, was man weiß, wenn man das alles weiß. Heraus kommt letztlich nur: Einiges ist gelb, anders als anderswo, anderes ist gelb, ebenso wie anderswo. (Wenn bei den gelben Verkehrsampeln angemerkt ist, sie seien „des Sprechens unkundig“ (69), dann ist wohl nicht, wie der „Jahrestage“Kommentar meint, an „akustische Signale“ anderer New Yorker Ampeln zu denken,11 vielmehr an den Unterschied zu Ampeln in der DDR, deren Nichtbeachten den Lautspecherverweis eines Verkehrspolizisten nach sich ziehen konnte, wie es der Westdeutsche Karsch 960 mit Befremden wahrnimmt12). Auf einer zweiten Ebene wird der Sprachgebrauch beobachtet, die Idiomatik des Wortes „yellow“. Doch auch das ist dadurch verfremdet, daß die entsprechenden Ausdrücke und Wendungen auf Deutsch erscheinen, manchmal obendrein mit drastisch bis grotesk verdeutlichenden Zusätzen. „Als ein Gelber gilt hier ein Eifersüchtiger, ein Neidhammel, ein Melancholiker, ein Verräter […]. Gelbe Leute sind hier welche zum Verachten, gelb heißen die Boulevardblätter so [im Originaltext wohl fehlerhaft: wo] wie die gelbe Bildzeitung […]. Hier glaubt die Sprache, daß manche Eingeborene im Südwesten des Landes gelbe Bäuche haben, gelb wie Schwefel.“ (69) Gemeint ist hier der abfällige Ausdruck „Yellowbelly“ für Mexikaner. Dieses Beispiel gehört auch schon zur dritten Ebene des Textes, auf welcher der „kulturologische“ Diskurs über Gelb in vielfältiger Weise gebrochen und unterminiert wird. Denn der Vergleich mit Schwefel diffamiert den schon als „Eingeborenen“ diskriminierten Mexikaner als Teufel. Was die Sprache hier „glaubt“, wird als Verhexung durch Sprache bloßgestellt. Die Betrachtung über Sprache und Weltbild der New Yorker entpuppt sich als Ideologiekritik an Rassismus. Dieser ist es, der am Ende herauskommt, wenn sich das Paradox 18 Nachbarschaften mit Unterschieden „Gelb ist hier anderswo“ auflöst. Es fängt harmlos an: Unter die gelben Dinge, die es nicht nur in New York, sondern überall gibt, wie Eigelb, Gelbsucht und Butterblumen, sind auch die „gelben“ Mongolen geschmuggelt. Später folgen die „gelbbäuchigen“ Mexikaner, und schließlich treten die Vietnamesen mit ihrer „gelben Hautfarbe“ auf. Auf die antwortlose Frage, was es mit dem vielen Gelb auf sich hat, geben zum Schluß die „Autoritäten“ ihren Bescheid – also Stimmen, die Michail Bachtin unter dem Begriff des ,autoritären Wortes‘ faßt. Eine solche läßt sich so vernehmen: „Wir alle können von Glück reden, daß wir diese Bauernbande in Viet Nam oder wie das da genannt wird wenigstens aus anderen Gründen umbringen als wegen ihrer gelben Hautfarbe.“ Das zitiert unser Kulturologe und fügt in scheinbar gleichem Ton hinzu: „Schließlich werden Sie zugeben, daß in New York oder in einer beliebigen anderen Stadt des Landes niemand umgebracht wird, weil er eine gelbe Haut am Leibe hat. Erstens geht es da um dunklere Schattierungen. Zum anderen ist dies ein freies Land. Sie müssen die Sache mehr gelb sehen.“ (693) Der alberne, verulkende letzte Satz läßt ebenso wie der zynische Hinweis auf „dunklere Schattierungen“ an dieser Passage markant hervortreten, was das ganze Kapitel als einen parodistisch-satirischen „Jux“ charakterisiert: ein karnevalistisches Verfahren, das in Scherz und Ernst nicht nur das „autoritäre Wort“ eines amerikanischen Alltagsrassismus und Kriegschauvinismus, sondern auch die Expertenstimme des Kulturanthropologen bloßstellt, in der „jene Leute“ karikiert sind, die „nach ganz kurzer Zeit Aufenthalts in einer fremden Stadt genau wissen, wo es lang geht und warum alles so funktioniert“.13 Das Sprichwort „Wer viel fragt, kriegt viel Antwort“ aber, welches das ganze Kapitel einrahmt (690, 693), verweist auf die Unverläßlichkeit dieser interkulturellen Belehrung über Gelb in New York: Es gibt ein paar Sachen, „die stimmen, und ein paar Sachen, die nicht stimmen“. Das Konstruieren von Differenzen zwischen „uns“ und „ihnen“, Eigenem und Fremdem, hier aufgebaut auf der Farbsemantik und dem Hautfarben-Paradigma, wird dekonstruiert: Der kulturologische Diskurs zerfällt, und zum Vorschein kommen Ethnozentrismus und Rassenideologie. Das im Text präsentierte autoritäre Wort vertritt eine Denk- und Redeweise, wie sie real z.B. der amerikanische Außenminister Dean Rusk artikuliert hat, als er 967 in Hinblick auf die Vietnamesen vor der „Gelben Gefahr“ warnte.14 Der deutsche Leser mag sich daran erinnern, daß auch in seinem Land die Farbe Gelb dazu gedient hat, andere zu diffamieren und umzubringen, von der „Gelben Gefahr“15 bis zum „Gelben Stern“. 19 Norbert Mecklenburg In San Francisco aber fragte eine junge amerikanische Johnsonforscherin den Autor, ob er nicht so, wie er das Andersartige von New York auf einen charakteristischen Begriff, nämlich Gelb, gebracht habe, vielleicht einen solchen treffenden Begriff auch für San Francisco nennen könne. Johnson mußte sie doppelt enttäuschen: indem er auf den Scherzcharakter seines Textes16 hinwies und indem er ernsthaft hinzufügte: „Ich würde mich mitnichten unterfangen, eine Stadt in einem einzigen Symbol unterzubringen, das wäre wohl ziemlich eng für all die Leute, die darin wohnen.“17 Obere Westseite: Multikultur und Slums Uwe Johnson hat Gesine einen Blick auf Amerika und New York verliehen, der bei aller Offenheit für eine Fülle konkreter Beobachtungen letztlich immer wieder auf die Doppeldiagnose Kapitalismus und Rassismus hinausläuft. Dennoch hat er sie keineswegs ohne jede Wahrnehmung der multiethnischen Seite der von zahlreichen Einwanderungsgruppen besiedelten Weltmetropole gelassen. Aber mit einem tiefergehenden Interesse für Multikulturelles, für die Kulturseite dieser Heterogenität – wie für Kultur überhaupt18 – hat er sie nicht ausgestattet, schon gar nicht mit postmoderner Schwärmerei für kulturelle Vielfalt oder Hybridität. Exemplarisch dafür ist Gesines dankbares, aber keineswegs euphorisches Bekenntnis zur Oberen Westseite von Manhattan als ihrem augenblicklichen Lebensgebiet. Zusätzlich macht ihr Blick über den Atlantik, auf Westdeutschland, wo man den „allbekannten Antifaschisten Willy Brandt“ als Außenminister unter einem ehemaligen Nazi als Bundeskanzler sehen kann, den „hiesigen Aufenthalt angenehm“ (73). Jedoch nicht die USA, das Viertel ist „unsere Gegend“ (76) geworden durch erfahrene Freundlichkeit (73). Man verhält sich hier zu den Cresspahls wie zu „Bekannten“, ja wie zu „Nachbarn“. Das bewirkt geradezu eine Einbildung von „Heimat“. Beim Spazierengehen, beim Einkaufen erscheint der Broadway-Abschnitt der Upper West Side als „unser Broadway“, als der Marktplatz „unseres Viertels“. Dieser Markt wartet auf mit „japanischem Bier, Kamtschatkakrebsen, irischem Honig, düsseldorfer Senf oder dresdner Stollen“. Er bietet chinesische, israelische, indische, italienische Gaststätten. Mit Schlachter Schustek, der noch etwas westfälisches Deutsch kann wie seine puertorikanischen Gehilfen genug Jiddisch für die Kunden, tauschen Gesine und Marie gern Freundlichkeiten, 20 Nachbarschaften mit Unterschieden mag das auch – wie Gesine ernüchternd hinzufügt – ein „Schmiermittel der Warengesellschaft“ sein (75). In dem „Guten Eßgeschäft“ werden sie angesprochen als „unentbehrliche, zu lange schon entbehrte Nachbarn“, mag das auch – wie Gesines ehemalige Mitschüler in der DDR, etwas grobschlächtiger als sie, sagen würden – den „Kapitalismus perpetuieren“ (76). Von einigen aufhellenden Akzenten abgesehen, wird in den „Jahrestagen“ ein distanziertes, skeptisches Bild New Yorker Multikulturalität geboten: durch einen historischen Blick auf die Besiedlungsfolge (52, 842f.) und durch einen soziologischen Blick auf das Viertel mit seinen jeweils „für sich“ bleibenden Gruppen (574ff., 88ff.). Als Marie sich „verkuckt“ an das multikulturelle Straßenbild von San Francisco, an die „einverstandene Art“, mit der „die gelben und schwarzen und rosanen Leute“ miteinander und mit Fremden umgehen „in einer Kameradschaft“, da dämpft Gesine diesen Anhauch von Utopie mit einem skeptischen Hinweis auf das ungenaue „Auge des Durchreisenden“ (846). Ihr selbst bietet das multikulturelle Straßenbild von Uptown Broadway letztlich nur einen Schein von Nachbarlichkeit. Was Gesine von der Upper West Side wahrnimmt und mitteilt, beschränkt sich nun aber keineswegs auf ihre persönlichen Lebensumstände oder gar auf ihr Heimatdefizit. Ihre über mehrere „Jahrestage“-Kapitel verstreuten Beschreibungen dieses Teils von New York haben vielmehr einen relativ selbständigen soziographischen Sachgehalt. Das liegt vor allem daran, daß ihr der Autor hier seine eigenen Ansichten von New York zugeschrieben hat, die er bereits ein Jahr vor Erscheinen des ersten Bandes veröffentlicht hatte. Sein essayistisches Stadtporträt „Ein Teil von New York“19 entstand, wie Johnsons Tagebuch ausweist,20 im Januar 968, also unmittelbar vor Beginn der ersten, der New Yorker Phase des Schreibens an den „Jahrestagen“. Der Autor fertigte es zweifellos als eine Materialgrundlage für diese an (BU 424), aber zugleich auch für den dokumentarisch-experimentellen New York-Film „Summer in the City“ von Michael Blackwood, für den Johnson das Drehbuch schrieb und als Off-Sprecher mitwirkte. Einbringen konnte er eigene mehrmonatige Erfahrung mit der Oberen Westseite, dazu – wie üblich – breitgestreute Recherchen zu New York. Für sein Bild von diesem Stadtteil war vor allem die Lektüre eines Buches wichtig: Joseph P. Lyfords „The Airtight Cage“, das Gesine selbst einmal zur Lektüre empfiehlt (88). Lyford verbindet in seiner umfangreichen Studie von 966 über New Yorks West Side und ihre Slums21 schriftstellerisch eindrucksvoll seine eigene 21 Norbert Mecklenburg langjährige Erfahrung als Bewohner des Viertels mit ausgedehnten soziographischen Ermittlungen als teilnehmender Beobachter, anschauliche Reportagen mit einer die Sozialstrukturen aufdeckenden Analyse. Kurz gesagt: Lyford bot journalistisch, was Johnson episch vorhatte. Darum lehnt sich seine Darstellung in Gesamtbild und Details sehr stark an Lyfords Buch an. Aus ihm hat er, wie sich nachweisen läßt, viel Wissen und Anschauungsmaterial für Essay und Roman übernommen.22 Das betrifft Daten zu Bebauung und Besiedlungsfolge – WASPs, Iren, Juden, Neger, Puertorikaner (842f.: L 4f.) –, Immigration und Slumbildung, die Johnson vor allem dem ersten Kapitel bei Lyford, betitelt „The Area“ (L -6), entnommen hat. Ein paar Beispiele: Sprachenvielfalt auf dem Broadway (27, T 50: L 3), Inseln von gehobenem Wohnkomfort in der Gegend Central Park West (574: L ), die im Norden der area expandierende Columbia-Universität (573: L 2), Maximierung von Mieteinnahmen durch mehrfache Wohnungsteilungen (843: L 33). Viele sprechende, symptomatische Details stammen aus Lyford. So die Bezeichnung „Boulevard“ für den Broadway der Pferdekutschenzeit (97: L 2) oder die ironische Bezeichnung „Luftpost“ für herabgeworfenen Müll, welche die „Tante Times“ nicht kennt oder nicht in den Mund nehmen mag (27, 846); Lyford widmet solcher „Airmail“ einen langen Abschnitt (L 24-28). Auch generelle Einschätzungen Lyfords finden bei Johnson ein Echo: Bestimmung des Slums als einer „American institution“ (L XX), Kritik an rassistischen ,Erklärungen‘ des Slum-Elends, Skepsis gegenüber liberaler Ideologie und revolutionärer Euphorie, die Konservatismus, Fatalismus und Anpasssungstendenz der Neger des Viertels ignorieren, welche nach „mehr Polizei“ verlangen (845: L XXII), „futility of individual protest“ (L 302), Kennzeichnung der area als bloßes Nebeneinander (576), als „conglomeration“ anstelle von „community“ oder „neighborhood“ (L ), Lyfords kritischen Leitbegriffen. In seinem Schlußplädoyer beklagt Lyford eine allgemeine „auto-anesthesia“ gegenüber der sozialen Misere und der Destruktivität des Gesellschaftssystems, das sie erzeugt (L 346f.). Das ist genau jener Verlust einer „Empfindlichkeit gegen Schmerz“, den auch Gesine fürchtet (828). Johnsons Essay, für den Lyford die Hauptquelle darstellt, besteht thematisch aus drei Teilen: Er behandelt erstens das gesamte Gebiet der Upper West Side als Stadtteil in Manhattan, vor allem dabei die Straße Riverside Drive und den Riverside Park; zweitens die Slums dieses Stadtteils, erst allgemein soziographisch, dann speziell das Konfliktfeld um Sanierungsmaßnahmen; drittens den 22 Nachbarschaften mit Unterschieden Broadway-Abschnitt der Upper West Side. Dieser Einteilung entsprechend ist der Essay stückweise, stilistisch überarbeitet und teilweise ergänzt, in verschiedene „Jahrestage“-Kapitel eingegangen23 – ausgenommen der Abschnitt über Sanierung (T 45-48); darauf werde ich zurückkommen. Aus einem genauen Vergleich ergeben sich vier Bearbeitungstendenzen: Erstens werden die Essaystücke episch integriert. Die Reporterstimme Johnsons wird überlagert von der Figurenstimme Gesines. Was im Essay „konservative Weiße“ über die Slums sagen (T 43), ist im Roman Gesines Freundin Ginny Carpenter in den Mund gelegt (844). Zweitens: „Der offensichtliche Unterschied ist der zwischen Reichtum und Armut, dem angenehmen Leben und einem Leben in Schwierigkeiten“ (T 36). Diese soziale Sicht und gesellschaftskritische Bewertung, wie sie den ganzen Essay prägen, werden im Roman durchgehend übernommen, aber oft noch schärfer akzentuiert. Drittens tritt jedoch im Stadtteilbild der „Jahrestage“ gegenüber dem des Essays die politische Dimension hinter der sozialen zurück. Denn Johnson hat diejenigen Passagen nicht übernommen, in denen Kommunalpolitik als Sanierungsprogramm, Protest und – nach Gruppen unterschiedene – Gegenwehr angesprochen wird. Das bedeutet einen Verlust an Differenzierung. Viertens tritt im Roman auch die kulturelle Dimension der Stadtteilbeschreibung hinter der sozialen zurück. Das betrifft z.B. Passagen über Verschiedenheit und Abgrenzung der Gruppen voneinander. Im Essay wird der Zusammenhalt der Puertorikaner durch „Kultur“, „Familie“ und „Religion“ herausgestellt (T 45); in den Roman hat dieser Passus keinen Eingang gefunden. Im Essay heißt es: „alle Gruppen halten fest an ihrer Sprache, an ihrer Kultur“ (36); im Roman wird die Kultur bezeichnenderweise weggelassen (574). Im Essay werden Heterogenität und Instabilität des Viertels in Anlehnung an Lyford kultursoziologisch bestimmt und negativ bewertet: es ist keine „Heimat“, keine „Gemeinde“, es hat keine „Identität“. Was früher einmal ein Dorf war und Bloomingdale, Tal der Blumen, hieß, nennen die Bewohner jetzt bloß „area“, als wäre es „nur eine zufällige Ansammlung von Häusern, ein zufälliges Nebeneinander von Leuten, keine Nachbarschaft, eine Gegend aus Unterschieden“ (T 36). Im Roman fällt diese kultursoziologische Bewertung durch den Autor weg (576). Auch auf die Formel „Gegend aus Unterschieden“, die im Essay negativ gemeint ist, als erfordere „Nachbarschaft“ Homogenität und schlösse Unterschiede aus, verzichtet der Roman. Dies ist zweifellos ein Gewinn an Differenzierung. 23 Norbert Mecklenburg Man sieht, Gesines Erfahrung entspricht kaum dem salad bowl-, geschweige denn dem melting pot-Modell amerikanischer Multikulturalität. Durchschlagend ist in ihren Augen letztlich immer die soziale Seite der Medaille, und das heißt: Diskriminierung, Elend, Ausbeutung. In historischer Hinsicht wird das gleiche Problemfeld an den Indianern entfaltet. „Was Himmler mit den Juden gemacht hat, haben wir im Effekt mit den Indianern angestellt“ (85). Wenn zu dieser Äußerung von Gesines amerikanischem Freund Jim O’Driscoll eine Variante in dem Party-Gerede bei der Gräfin Seydlitz zu vernehmen ist (876), dann ist damit zwar eine leicht ironische Distanzierung gegenüber solch einem selbstkritischen Verbalradikalismus angedeutet, aber zugleich das harte Faktum des Völkermords benannt, das aus der neuzeitlichen europäisch-amerikanischen Geschichte nicht weggedacht werden kann. An die vertriebenen und vernichteten Altamerikaner erinnern auf Ausflügen in dem ihnen gestohlenen Land topographische Namen wie „Raritan-Bucht“ (225). An sie erinnert der Sandsteinfries an dem New Yorker Haus, in dem Gesine und Marie wohnen (549). Marie aber hat den Alltagsrassismus der weißen Mittelschicht gegenüber den übriggebliebenen Indianern so weit verinnerlicht, daß sie sie „vanishing Americans“ nennt, „als sei es in der Ordnung, daß die ihrer eigenen Hautfarbe überlebten“ (55). Hinter den Rassenkonflikten stehen Klassenkonflikte. Diese Sicht zieht sich, mit unzähligen Einzelstellen und zahlreichen Stimmen, als Leitthema durch das ganze Werk. Sie wird in reportageartigen Teilen, z.B. in den Slum-Abschnitten, ebenso deutlich wie in erzählenden Teilen, z.B. in der Edmondo- und der Francine-Geschichte. Es sind zwei Geschichten, in denen Freundschaften nicht an Kulturdifferenz, vielmehr am sozialen Unterschied scheitern, genauer: am Elend des Slums, gegen das individuelle private Aktionen nicht ankommen können. Marie hat als Vierjährige Edmondo Barrios zum ersten amerikanischen Freund gehabt und an ihm die Trennung zwischen „Gefärbten“ und Rosahäutigen gelernt (435). So lernte sie auch das „Ghetto“ von Ost-Harlem, den Slum, kennen – ein Schock für sie (436ff.). Von sozialem Elend und psychosomatischer Krankheit gezeichnet, kam er in eine Heilanstalt, wo Marie ihn einmal besuchte. „Dann konnte man ihn nicht mehr besuchen“ (439). Ebenso traurig verläuft die Freundschaft mit Maries Klassenkameradin Francine, der „Alibinegerin“ aus ganz ähnlichen Verhältnissen wie Edmondo. Es fängt schon schwierig an, denn die Arbeit des Freundlichseins muß Marie gegen ihre eigenen, von der übrigen Klasse geteilten Rassenvorurteile leisten (28ff.). Es spitzt sich zu, als die bürgerlichen Cresspahls das Mädchen aus dem Slum in 24 Nachbarschaften mit Unterschieden ihre Wohnung aufnehmen: zuerst Schwierigkeiten des Umgangs miteinander, dann deren behutsame Überwindung. Doch gerade als sich Francine „fast zu Hause“ fühlt und sichtlich aufblüht, wird sie – nach einem typisch Johnsonschen Erzählmuster – von der Fürsorge abgeholt. Der Entwurf einer Nachbarschaft und Freundschaft gegen die Rassentrennung ist gescheitert. Die Freundinnen verfehlen sich auf der Suche nacheinander. Schließlich verliert Marie Francine aus den Augen, und Gesine resümiert traurig: sie „mag gestorben sein; ist verloren“ (885). Nicht zu finden ist sie jedenfalls von Mutter und Tochter Cresspahl bei ihrer Suchaktion in den Slums der Oberen Westseite. Dafür erhalten sie – und mit ihnen der Leser im Kapitel vom 9. März – ein genaues Bild dieses Teils ihrer Nachbarschaft (84-847), der ihnen, obwohl bloß „um die Ecke“ gelegen, so fremd ist und bleibt wie eine „ausländische Gegend“ (842). So werden sie zu Zeugen eines gesellschaftlichen Verbrechens: „Wir haben es gesehen“ (847). So hat Johnson mit der Francine-Geschichte, deren Schluß den Kapitelrahmen bildet, eine Reportage über die Slums auf lockere Weise episch verflochten. Diese Reportage ist so angelegt, daß die sichtbaren Gegebenheiten des Slums auf die ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen, ökonomischen Ursachen und Strukturen hin durchleuchtet werden. Der Slum – so läßt sich das Grundargument zusammenfassen – ist ein ehemals bürgerliches Wohnviertel für „Weiße“, das im Lauf der Besiedlung durch andere ethnische Gruppen immer mehr herunterkommt, nicht durch deren Verhalten, vielmehr durch „Erwerb und Eigentum“ (843), d.h. durch Profitinteresse und Ausbeutung. Lyford schreibt: „The slum itself is the product of an economic conspiracy“ (L 300); bei Uwe Johnson heißt es: „Erwerb und Eigentum stellen den Slum erst einmal her“ (843). Die sozialkritische Schärfe dieser Diagnose gipfelt in dem Satz: „Der Slum ist ein Gefängnis, in das die Gesellschaft jene deportiert, die sie selbst verstümmelt hat“ (845). Dem „Gefangenen des Slum“ ist der Ausweg in ein lebenswertes Leben versperrt (846). Das entspricht Lyfords Vergleichen des Slums mit einem „concentration camp“ (L XXII) und mit einem luftdichten Käfig, einem „airtight cage of poverty, frustration, and fear“, in das die Bewohner „imprisoned“ sind (L 34). Zur Veranschaulichung hat Johnson noch drastischeres Belegmaterial aus einer sehr guten Reportage über die Slums des Stadtteils Brownsville in der „New York Times“ vom 7. März 968 – also zwei Tage vor dem Slumming-Ausflug der Cresspahls – hinzugefügt:24 Da stiehlt man aus manchen Häusern die Wasserleitungen, aber die Diebe sind „nice“ und stellen vorher den Haupthahn 25 Norbert Mecklenburg ab (846). Da ist von Kindern die Rede, die sich zu Hause nicht richtig waschen können und sich darum schämen, in die Schule zu gehen: „the teachers start fussing at them“ (847). Da lockt ein Kind mit „Here, kitty, here, kitty“ eine katzengroße Ratte (843). Und Bürgermeister Lindsay nennt in seinen „speeches“ Brownsville „Bombsville“, weil von den „Slumghettos“ angeblich Aufstand und Terror drohen (847). Da die Slums überwiegend von den sozial am tiefsten Stehenden, Negern, bewohnt werden, ist das hier und anderswo in den „Jahrestagen“ vermittelte Bild des Slums in einen Diskurs über Rassen und ihre angebliche Verschiedenheit eingebettet. Dieser Diskurs ist – wenigstens an der Textoberfläche – vielstimmig. Schon Marie und Gesine stellen hier zwei unterschiedliche Stimmen dar. Marie „möchte nirgends leben, nur in New York“ (259). Ihre amerikanische Sozialisation schließt frühe Übernahme des alltäglichen Rassismus der weißen Mittelschicht in ihr Denken ein. Für dieses Denken ist ein Satz wie der folgende typisch und wird von Gesine als ein solcher herausgestellt: „Neger haben auch einen anderen Körperbau als wir“ (22). Diesen Rassismus, den Marie jedoch mit zunehmend schlechtem Gewissen artikuliert, hat sie von ihrer Nachbarschaft bezogen, von einem Dr. Brewster – „alle diese Betrunkenen und Neger und Ritualmorde“ () – oder von der Stiefmutter ihrer Freundin Marcia. Diese nette Ginny Carpenter, von Gesine ironisch gerühmt als eine „Großmacht in unserer Gegend, ein Pfeiler unserer Nachbarschaft“ doziert immer wieder „über die dunkelhäutige Rasse als solche“ (424, 426), z.B. daß „diese Schwarzen schlicht nicht verstünden, in einer Zivilisation zu leben“ – als sei das eine „Veranlagung von der Natur aus“ (844). Diese Ginny-Stimme als Personifikation der Ideologie konservativer weißer Amerikaner hat Johnson aus Lyfords Einleitung übernommen, in der die typische, diskriminierende Meinung angeführt wird, „that the inhabitants of the slum are generally not fit to live anywhere else“ (L XXVI). Genau diese Meinung hat Johnson Ginny Carpenter in den Mund gelegt. Gegen diese falsche Verallgemeinerung, in Form eines ideologischen, rassistischen Erklärungsmodells für die Slums, das biologische und kulturelle Differenz im Sinne von Minderwertigkeit nicht-weißer Rassen behauptet, stellen Lyford, Johnson und Gesine ein soziologisches Erklärungsmodell. Das bedeutet zunächst einmal einen Gewinn an Differenzierung. Allerdings kommt es bei diesem Modell wiederum auf feine Unterschiede an. So wird in den „Jahrestagen“ aus der „New York Times“ ein prominenter New Yorker Psychologe zustimmend 26 Nachbarschaften mit Unterschieden zitiert, der – übrigens selber Afroamerikaner – , den Ghettoneger beschreibt als „zynisch, verbittert, feindselig und entnervt, weil die berufliche Situation, die der Wohnverhältnisse und die der Schule im nationalen Slum keinerlei Fortschritt aufweisen“ (33). Problematisch ist dieser Erklärungsansatz jedoch weniger wegen seiner Reduktion der sozialen auf die psychische Dimension als vielmehr wiederum wegen seiner pauschalisierenden Tendenz, welche die Slumbewohner als homogene Gruppe erscheinen läßt. Einer solchen Tendenz unterliegt aber auch Gesine, wenn sie wiederholt aus Wohnungsnot und Armut das Potential für Gewalt und Kriminalität in den Slums erwachsen sieht. Sie stellt Mr. Shuldiner die Slums in den Seitenstraßen der Upper West Side vor Augen. Die Beschwerden ihrer Bewohner nützen nichts: „Warum sollten die nicht Ihrer Frau die Handtasche wegreißen, das Messer unters Kinn halten? (575) Ganz ähnlich heißt es an anderer Stelle: „Da die Weißen als Gruppe Hilfe verweigern, warum nicht dem einzelnen Weißen ein Messer aufs Herz setzen und seiner Brieftasche, seiner Ladenkasse, seiner Wohnung Hilfsmittel entnehmen. Da dem Gefangenen des Slum ein Ausweg in das lebenswerte Leben versperrt ist, sollte er lange zögern, dem Leben in den Illusionen und Krankheiten des Rauschgiftes zu entgehen?“ (846) Diese Sicht ist, wie das Buch von Lyford zeigt, gerade als soziologische Sicht zu undifferenziert. Johnson hat nicht darauf geachtet, nicht darauf achten wollen, daß die Slumbevölkerung keineswegs – aufgrund gleichen sozialen Elends – homogen ist, sondern sich scharf in zwei Gruppen teilt, „the people“, die Mehrheit, die nach einem friedlichen, gesellschaftskonformen Leben strebt, und „the others“, eine Minderheit ohne „sense of belonging“ und „neighborhood“, die von Drogen, Gewalt, Kriminalität geprägt ist (L XXI-XXV). Diese Gruppe der „others“ aber als die typischen Slumbewohner hinzustellen, ist eine falsche Verallgemeinerung. Warum unterläuft sie dem Autor, entgegen seinem Konzept der Differenzierung? Ich glaube, die Antwort ist einfach. Man kommt ihr näher, wenn man sieht, wie Johnson aus seinem minutiös gezeichneten Bild der Slumbevölkerung als OpferTäter alles das sorgfältig heraushält, was man demokratische Sozialpolitik nennt – von staatlichen bzw. städtischen Refomprogrammen über kommunale wie überregionale Organisationen bis zu Eigeninitiativen, Protest, Gegenwehr der „community“. Genau jenen Abschnitt seines eigenen Essays, der in Anlehnung an Lyford (L X, 8-0, 9ff.) diese politische Dimension behandelt (T 45-48), hat er aus den „Jahrestagen“ herausgehalten. Da Reformen das System nicht 27 Norbert Mecklenburg ändern können, sind sie uninteressant – das scheint Johnsons und Gesines Antwort zu sein, es wäre eine klassisch marxistische. Würden sie wohl andere, die sich für soziale Reformen einsetzen, ebenso eiskalt abkanzeln wie sie es mit der Salonrassistin Ginny Carpenter tun? „Kaum eines jener Argumente, die einer annähernd gleichmäßigen Verteilung des gesellschaftlichen Eigentums steuern sollen, ist bemüht um Brillanz oder doch den Anschein von Schlüssigkeit“ (844).25 Mrs. Ferwalter Die erste Nachbarschaft am Riverside Drive wurde der Fremden aus Deutschland, der jungen, alleinstehenden Mutter Gesine Cresspahl, 96 angeboten, und sie ist haltbar geblieben, die Nachbarschaft mit Mrs. Ferwalter. Hier hat Johnson die unter all den schwierigen oder weniger schwierigen Nachbarschaften in den „Jahrestagen“ wohl unwahrscheinlichste gestaltet. Denn es ist eine Nachbarschaft, die ein äußerstes Maß an vorgegebener und sich einstellender Fremdheit überbrückt, die eine beträchtliche Distanz einschließt und die dennoch fast an Freundschaft heranreicht. Drei markante Momente der Fremdheit durchlaufen kontinuierlich die Erzählung von dieser Nachbarschaft zwischen Gesine und Frau Ferwalter. Das erste und dominante beruht darauf, daß die jüdische Immigrantin eine Überlebende der Shoah ist. Seitdem Gesine die Nummer gesehen hat, die in den linken Unterarm ihrer Nachbarin tätowiert ist, belastet sie ihre mitgebrachte, unüberwindliche Befangenheit und Scham, die sie als Deutsche im Bewußtsein der deutschen Schuld gegenüber Juden empfindet. Diesen Graben kann sie nicht überspringen, es ist Mrs. Ferwalter, die ihr entgegenkommt – das erste Mal wortwörtlich: aufstehend von einer „benachbarten Bank“ im Park (45) – und die damit die Freundschaft überhaupt ermöglicht. Der Graben, die Kommunikationshemmung, bleibt auf Gesines Seite dennoch bestehen, symbolisiert durch die wiederholte Formel: Danach „können wir sie nicht fragen“ (46). So erfährt sie erst nach sieben Jahren, daß ihre Nachbarin in Auschwitz war. Das zweite Fremdheitsmoment dagegen geht umgekehrt von der orthodoxen Jüdin aus und besteht in der strengen Sortierung der Menschen in Gläubige und Gojim („Gois“), d.h. Nichtgläubige. Dieser Unterscheidung ordnet sie die in „für sich“ lebende und assimilierte Juden unter. Zur ersten Gruppe zählte ihre Familie in ihrem Heimatdorf in der östlichsten Slowakei; die zur zweiten 28 Nachbarschaften mit Unterschieden Gehörenden, wie sie vor allem in der westlichen Tschechoslowakei zu finden waren, nannten sie „Moritze“ (69). Dieser Spitzname rührt vermutlich daher, daß Juden unter Assimilationsdruck Vornamen wie „Mosche“, „Moses“ gern durch „Moritz“ ersetzten, einen Gleichklangsnamen also, der dadurch jedoch bald seinerseits einen jüdischen Anstrich erhielt.26 Nun beschränkt sich diese Abgrenzung bei den Ferwalters allein auf das Feiern der jüdischen Feste und auf den Intimbereich der Kleinfamilie, repräsentiert vom gemeinsamen Essen nach den religiösen Speisegeboten – darum sind die Cresspahls „noch nie zum Essen eingeladen“ worden (72), schon gar nicht zu Yom Kippur oder Chanukka oder zur Sederfeier des Passahfestes. Dennoch bekundet Gesine darüber wiederholt ihr Befremden (50, 79). Dieses Befremden beruht aber nicht etwa – wie bei Marie – auf unbefriedigter Neugier auf religiöse Folklore. Auch sieht sie sich nicht schmerzlich ausgeschlossen aus dem „fremdkulturellen“ Bereich der Nachbarn. Befremdet ist Gesine allein deshalb, weil deren Grenzziehung (Gläubige/Gojim) zu ihrer eigenen (Täter/Opfer) so irritierend querläuft. Die Differenzdefinitionen differieren. Dieses Befremden Gesines schafft nun aber, gegenläufig zu der behutsamen freundschaftlichen Annäherung, ein drittes Fremdheitsmoment in dieser Nachbarschaft, eine kritische Distanz, die zwar Gesine beileibe nicht ihrer jüdischen Freundin, um so mehr jedoch der „Genosse Schriftsteller“ dem Leser signalisiert. Gesine kann nicht davon absehen, daß sie die Denkweise Mrs. Ferwalters in wichtigen Punkten nicht nur fremd, sondern auch falsch finden muß, wenn sie nicht ihr eigenes Denken verraten will. Wo sie ihre Nachbarin nicht verstehen kann, folgt sie darum nicht der postmodernen Parole, den Fremden fremd sein zu lassen, sondern versucht das Nichtverstehbare zu erklären. Das Muster dafür liefert ihr die klassische Konzeption von Ideologiekritik, die auch Religion als Ideologie, als „verkehrtes Weltbewußtsein“ (Marx) erklärt. In das komplexe Porträt der Mrs. Ferwalter, das mehrere „Jahrestage“-Kapitel mosaikartig herstellen, gehen die widerstreitenden Impulse der Zuneigung und der Abwehr, der Solidarität und der Distanzierung, der Empathie und der Kritik ein. Die Bekanntschaft hat begonnen mit Müttersolidarität und Einkaufstips, mit der Hochschätzung auch anderer als amerikanischer „Schicklichkeiten“, nämlich europäischer (789), mit Gesines Kenntnis des Brotgeschmacks in Budweis, nach dem Frau Ferwalter Heimweh hat (47). Diese ist, was man ein schlichtes Gemüt nennt, soziologisch ausgedrückt: eine typische Kleinbürgerin. Sie ist naiv und sentimental – in Filmen liebt sie romantischen Kitsch (792) –, 29 Norbert Mecklenburg sie ist durch und durch unpolitisch, und sie ist, leider, ein bißchen dumm. Dies zeigt sich ebenso anrührend wie drastisch z.B. an der Geschichte ihrer amerikanischen Staatsbürgerschaftsprüfung (67). Sie hat eine verblüffend ungebrochene Hochschätzung der Deutschen und Gesines als einer Deutschen, weil sie sie nicht mit Hitler, sondern mit Europa assoziiert. Und sie hat eine bewundernde Schwäche für große, gutaussehende Menschen germanischen Typs mit strenger Disziplin (790). Gesine mag über den einen Zug an ihrer jüdischen Nachbarin gerührt sein, den anderen belächeln. Was sie fassungslos befremdet aufnehmen muß, ist deren Hang, die Nazi-Deutschen zu entschuldigen. Die guten Deutschen „haben es nicht gewußt“, was sie mit den Juden gemacht haben (790). Der deutsche Staatspräsident Lübke, ehemaliger „K.Z.-Baumeister“ – sicherlich mußte er „das damals tun, gewiß hatte er eine Ehefrau“ (788f.). Eine der SS-Wächterinnen in Mauthausen „war so gut, sie hatte fünf Kinder und mußte das alles ja“ (46). Auch in Auschwitz war die „Chefin“, Frau Stiebitz, eine „gute Frau“ (786).27 Was Gesines Befremden aber in – freilich unausgesprochene – Kritik umschlagen läßt, ist Mrs. Ferwalters Begabung, „das alles“ und auch noch anderes mit einer religiösen Rechtfertigung zu versehen. Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen. Die meisten werden in einem Kapitel präsentiert, das nicht die Lebensgeschichte, sondern die Denkweise von Frau Ferwalter nachzeichnet. Das aber geschieht in einem so kritischen Licht, daß die Freundschaftsbekundung Gesines gegenüber ihrer Nachbarin am Kapitelschluß, wenn auch nur versteckt im Rahmen eines „Kopfgesprächs“, ebenso nachdrücklich wie unwahrscheinlich anmutet. Als erstes möchte ich gezielt an einem Beispiel zeigen, daß sich Gesines Kritik in keiner Weise speziell gegen die jüdische Religion richtet, vielmehr gegen ein typisch religiöses Denkmuster überhaupt. Rebecca Ferwalter, Maries Freundin, ist im Unterschied zu dieser „lange erzogen worden nach finsteren Prinzipien des Alten Testaments; züchtige ich nicht mein Kind? beweise ich nicht, daß ich es liebe? Daß die Cresspahl ihr Kind frei aufwachsen ließ, Mrs. Ferwalter sah es mit entsetztem Mißtrauen, und erst spät nahm sie sich ein wenig Milde an“ (79). Ehe hier womöglich ein beliebtes christlich-antijüdisches Denkmuster einrasten kann – Neues gegen Altes Testament –, erinnert sich der aufmerksame Leser daran, daß Gesine den für diese Art von Erziehung einschlägigen Salomo-Spruch (Sprüche 3, 24) zur Erklärung des religiösen, verbrecherischen, 30 Nachbarschaften mit Unterschieden schließlich geisteskranken Verhaltens ihrer allzu christlichen Mutter in der Wassertonnen-Episode herangezogen hat: „‚Wer sein Kind liebt‘, Marie, der…“ (68).28 Hier geht es also nicht um eine christlich-jüdische Differenz, sondern um die Differenz autoritär-inhumaner und aufgeklärt-moderner Erziehung. Befremden erregt bei Gesine, wie Mrs. Ferwalter Gott und Religion mit sehr irdischen Dingen verquicken kann: Die jüdische Kapo, die ihr im Lager Böses angetan hatte, aber in Israel vor Gericht mit Freispruch davonkam, ist von Gott dann doch noch „gestraft“ worden: mit einem schlechten Ehemann (788). Die Ferwalters sind nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei über Israel in die USA mit Hilfe von Schwarzmarktgeschäften gelangt, erzählt Mrs. Ferwalter und nennt es „des Allmächtigen Hilfe“ (789). Wenn sie einem religiösen Sozialdarwinismus frönt, wie er auch im christlichen Calvinismus verbreitet ist, dann nimmt auch ihr religiöser Rassismus nicht mehr wunder. Unter den Orthodoxen haben Reiche einen „Vorzug“, denn ihr Reichtum beruht auf „Gottes Entscheidung“. Ebenso ist es Gott, der „die Armut bestimmt hat, den ungeschickten Juden wie den leider gänzlich von der Vorsehung angeschwärzten Negern“ (67f.). Mrs. Ferwalter „glaubt allen Ernstes, Gott habe diese gemacht, in Schmutz und Armut und Sünde zu leben“ (79). Darum darf Rebecca nicht in die Wohnung der Cresspahls kommen, solange die ein schwarzes Kind namens Francine aufgenommen haben (790, 792). Gibt es etwas, das Gesines Denken noch mehr zuwider sein könnte als diese sozialtheologischen Grundsätze ihrer Nachbarin? Es gibt etwas, und leider muß Gesine auch das registieren, allerdings mit größtmöglicher kritischer Distanzierung, und zwar dort, wo ihre jüdische Freundin in ihre religiöse Rechtfertigungssucht sogar noch die Shoah einbezieht. An diesem Punkt reagiert Gesine nicht nur kritisch, sondern ausgesprochen polemisch, ja verletzend, denn sie fühlt sich hier selber in ihrer intellektuellen und moralischen Integrität verletzt! Darum verfremdet sie ihre Erläuterung zum jüdischen Seder-Ritual durch ein geradezu blasphemisches Wortspiel: Die Juden feiern ihre „Beförderung zum auserwählten Volk, dem selektierten“ (98). Ich glaube nicht, daß man diese extrem anstößige Stelle „kultursoziologisch“ bewältigen kann.29 Dagegen spricht vor allem ein Ausspruch Mrs. Ferwalters, den Gesine bereits früher hat anhören müssen, so daß diese frühere Textstelle ein unüberlesbares Interpretament für die spätere abgibt. Mrs. Ferwalter hat nämlich klipp und klar gesagt: „Was die Deutschen den Juden getan haben, es ist von Gott so beschlossen worden.“ (792) 31 Norbert Mecklenburg Mit diesem Satz ist nur der äußerste Befremdungspunkt in der Beziehung zwischen Mrs. Cresspahl und Mrs. Ferwalter markiert. Aber auch wenn man diese Beziehung im Ganzen betrachtet, mit ihrem vertrackten Ineinander von Freundschaft und Fremdheit, dann kann man hier kein Beispiel für eine „interkulturelle“ Erzählstrategie sehen. Diese Nachbarschaft läßt sich nicht hochrechnen zu einem Romanprogramm, das auf Anerkennung kultureller Andersheit gerichtet wäre. Jüdische Personen und Sachverhalte in den „Jahrestagen“, auf der New-York-Ebene breit aufgefächert, durch die mitlaufende Jerichow-Ebene durchgehend perspektiviert auf das Leitthema der Shoah, werden nicht primär kulturbezogen dargeboten. Das Judentum formiert sich in Gesines Blick keineswegs als homogene fremde Kultur.30 Die in die Kalenderstruktur des Werks eingepaßten Ausschnitte aus der religiösen jüdischen Kultur, in erster Linie Festtagsriten und -mythen, die ebenso kunstvoll wie versteckt zu einer sekundären, symbolischen Bedeutungsebene verknüpft sind, genügen m.E. nicht, von einem „kulturalistischen Impetus“ des ganzen Romans zu sprechen.31 Johnsons erzählerischer Umgang mit Differenzen impliziert vielmehr eine Kritik an Kulturalismus als einer Dominantsetzung kultureller gegenüber anderen Differenzen. Die Fremdheit zwischen Gesine und Mrs. Ferwalter ist, von beiden Seiten aus, eine andere als Kulturfremdheit, und auch ihre Nachbarschaft beruht nicht auf interkultureller Kommunikation. Daß sie an Freundschaft heranreicht, beruht schlicht und einfach auf persönlicher Zuwendung und wechselseitigem Gernhaben. Die Fremdheitsmomente lähmen Gesine nur deshalb nicht, weil sie ihre Nachbarin als einen besonders gutherzigen, entgegenkommenden, freundlichen Menschen erfährt und schätzt. Der Autor aber dürfte in der Emigrantin vom Riverside Drive vor allem die für sein zeitgeschichtlich-dokumentarisches Erzählen kostbare Stimme einer Zeitzeugin, einer Überlebenden geschätzt haben. Daß er sich in dieser Einschätzung nicht getäuscht hat, läßt sich an einer kurzen, rätselhaften Textpassage aufweisen. Sie dreht sich scheinbar um eine innerdeutsche Kulturdifferenz, nämlich um die Frage, was Schwaben von anderen unterscheidet. „Bitte, was sind Schwaben?“ (786) Das fragt Mrs. Ferwalter Mrs. Cresspahl, als sie wieder einmal auf einer Bank im Riverside Park beisammensitzen. Allein, die Jüdin aus der östlichen Slowakei stellt ihrer Nachbarin aus dem nördlichen Deutschland diese Frage nicht aus interkultureller Neugier auf intrakulturelle, regionale deutsche Differenzen. Es geht nicht – wie Gesines ebenso hilflose wie korrekte Antwort unterstellt – um eine Definition für die „Bewohner einer süddeutschen 32 Nachbarschaften mit Unterschieden Provinz“, also um Kulturkunde deutscher Stämme und Landschaften. Es geht der Fragenden überhaupt nicht um Kulturunterschiede. Und um Kultur geht es allenfalls negativ, nämlich um jene deutsche Barbarei, welche die Jüdin am eigenen Leib erfahren hat. Unmittelbar nach dem rätselhaften Gespräch über „Schwaben“ gibt Mrs. Ferwalter den längeren Lebensbericht aus dem Todeslager, der fast das ganze weitere „Jahrestage“-Kapitel vom . August füllt und der mit dem lapidaren Satz beginnt: „Wir kamen nach Auschwitz.“ Das „Gespräch auf einer Parkbank“ hat sich zunächst ganz harmlos um ein Kindertreffen gedreht, das Marie vor der Abreise nach Prag plant, und dann, schon weniger harmlos, um die Partei der Neonazis in der Bundesrepublik. („Was wollen die bloß?/Änderung der Grenzen, so für den Anfang.“) Dann kommt Mrs. Ferwalter auf das Gebäck zu sprechen, das sie zu dem Treffen beisteuern will, weil Kinder das mögen, nämlich „Passovergebäck“. „Wir haben es zum letzten Mal zu Hause gebacken im vierundvierziger Jahr. Damals gehörte unser Ort zu Ungarn. Transporte kamen schon seit 94 durch, und im Land wurden Leute abgeholt. Im Mai 944 wurden alle genommen. Ich hatte einen katholischen Paß, mit katholischer Religion. Die Deutschen haben mich angesehen, und genommen. Die Ungarn und die Deutschen, die waren einander wert. Es waren alles Soldaten. Bitte, was sind Schwaben? Bewohner einer süddeutschen Provinz, dächten wir. Sind Schwaben mehr für Hitler gewesen als andere? So wie die anderen auch. Das waren Schwaben. (Siebenbürger? Nein. Die waren doch dagegen.) Wir kamen nach Auschwitz. Ich war da acht Monate. Die meisten kamen gleich ins Krematorium.“ Was Mrs. Ferwalter hier naiv-lakonisch mitteilt, fügt sich Punkt für Punkt exakt in die Chronik der Vernichtung ein. Ihr ruthenisches, d.h. ukrainisches Heimatdorf lag im östlichsten Teil der Tschechoslowakei, in der KarpatenUkraine. Diese wurde 939, nach Auflösung des tschechoslowakischen Staates durch die Nazis, von Ungarn annektiert. Und in der Tat gab es dort bereits 94/42 erste Deportationen von Juden, nämlich sobald Ungarn unter einer rabiat antisemitischen Regierung an der Seite von Nazi-Deutschland in den Krieg gegen die Sowjetunion eintrat.32 Dabei waren die Juden der KarpatenUkraine in besonderem Maß betroffen, weil ein antijüdisches Gesetz von 33 Norbert Mecklenburg 939 den meisten von ihnen die Einbürgerung verwehrte. „Die Ungarn und die Deutschen, die waren einander wert.“ Von dieser ungarischen Verfolgung blieb Mrs. Ferwalter verschont. Offenbar auch dadurch, daß sie wie viele andere orthodoxe Juden33 – um des Überlebens willen, nicht aus Glaubensgründen – zum Katholizismus übertrat. Dessen ungarische Repräsentanten leisteten lange zähen, letztlich vergeblichen Widerstand gegen die Verfolgung ihrer jüdischen Kirchenmitglieder.34 „Im Mai 944 wurden alle genommen.“ Auch diese Aussage Mrs. Ferwalters paßt überaus exakt in den historischen Rahmen. Im März 944 überrannten die Deutschen Ungarn und überschwemmten das Land mit einem Heer von Funktionären der „Endlösung“.35 Der rasante Zeitplan der Vernichtung, der umgehende Ghettoisierung und sofortige Deportation vorsah, bezog sich auf sechs Zonen; die letzte war die Hauptstadt Budapest, die erste die Karpathen-Ukraine. Hier wurden die Juden planmäßig zwischen April und Juni abtransportiert.36 Die junge Frau, die spätere Mrs. Ferwalter, wurde im Mai „genommen“ – obwohl sie sich als Katholikin ausweisen konnte: „Die Deutschen haben mich angesehen, und genommen. […] Es waren alles Soldaten. Bitte, was sind Schwaben?“ Was sie „Soldaten“ nennt, das waren natürlich SS-Uniformierte – aber warum fragt Mrs. Ferwalter in diesem Zusammenhang nach Schwaben und ob die „mehr für Hitler gewesen“ seien als andere? Gesine verneint dieses verständlicher Weise. Aber die Fragerin beharrt auffällig nachdrücklich darauf: Die SS-Mannschaften, die sie „genommen“ haben, waren „Schwaben“. Daran rätseln auch – das steht in Klammern – der „Genosse Schriftsteller“ und Gesine gemeinsam weiter: Ob es vielleicht Siebenbürger waren? Nein, die seien doch dagegen gewesen, d.h. gegen Hitler. Beide bewegen sich an den Tatsachen, auf die sich Mrs. Ferwalter so insistierend wie ahnungslos bezieht, dicht vorbei. Aber noch dichter und noch hilfloser daneben trifft hier der sonst so hilfreiche „Jahrestage“-Kommentar, der die dunkle Textstelle so aufhellen möchte: Für die „Schwaben“ verweist er unpassend auf „deutsche Volksinseln in der Slowakei“ – wo doch eine tschechoslowakische Jüdin deren Bewohner gewiß richtig zu erkennen und zu benennen gewußt hätte. Und von den Siebenbürgern teilt er überflüssig mit, viele von ihnen seien 944 ins Reich evakuiert oder nach Rußland deportiert worden.37 Aber das geschah ja nicht, weil sie gegen Hitler gewesen wären! (Gegen Hitler waren unter den Deutschsprechenden in Südosteuropa die in der Bukowina um und in Czernowitz Lebenden: es waren größtenteils Juden). 34 Nachbarschaften mit Unterschieden Des Rätsels Lösung ist einfach. Nur habe ich bisher nicht ermitteln können, wo Johnson sie gefunden haben könnte. So möchte ich überhaupt bezweifeln, ob er selber die Lösung gekannt hat, d.h. ob er sich der Tragweite dessen bewußt war, was er seine Figur hier über „Schwaben“ und deren besonders starke HitlerAnhängerschaft aussagen läßt. Das klingt freilich etwas paradox: Die Figur, der Text soll mehr wissen als der Autor? Das ist indessen weniger paradox, wenn man, und zwar mit guten Gründen, annimmt, Johnson habe für diesen Bericht seiner Mrs. Ferwalter mündliche Mitteilungen einer Überlebenden aus seiner New Yorker Nachbarschaft verwendet und protokolliert,38 in – wie sich jetzt erweist – berechtigtem Vertrauen auf die Authentizität dieses Zeugnisses, auch dort, wo es ein Rätsel aufgibt. Apropos, der Name der Schwaben in Schwaben, des Germanenstammes der Sueben, kommt nach Jacob Grimm ganz ungermanisch von dem slawischen Wort „svoboda“, das Freiheit bedeutet. So heißt 968 der Staatspräsident des Landes, aus dem Mrs. Ferwalter stammt und in das Gesine und Marie in wenigen Tagen reisen wollen. „Schwaben“ aber nannte man in Südosteuropa diejenigen Deutschstämmigen, die, überwiegend aus fränkischen Gebieten kommend, im 8. Jahrhundert, nach der Vertreibung der Türken, beiderseits der mittleren Donau angesiedelt wurden, zwischen Donau und Drau um Fünfkirchen (Pecs), im Banat um Temeschburg (Temeschwar) – die „Donauschwaben“, wie sie darum später genannt wurden. Zusammen mit den „Siebenbürger Sachsen“ – die ebensowenig aus Sachsen stammten wie die „Schwaben“ aus Schwaben – gehörten sie bis 99 zu Österreich-Ungarn, danach als deutsche Minderheiten teils zu Ungarn, teils zu Rumänien. Gerade bei ihnen nun förderte die Volkstumspolitik und -ideologie des Nazireichs so gezielt wie erfolgreich die „völkische Bewegung“. So fanden sich unter diesen und anderen „Volksdeutschen“ besonders fanatische Hitleranhänger. Den Antisemitismus mußten sie nicht erst lernen. Die „Landsmannschaften“ der Ungarn- und Rumäniendeutschen arbeiteten sogar eng mit NS-Amtswaltern zusammen. Als „Volksgruppenführung“ wurden sie schließlich so etwas wie Dienststellen Himmlers, die sich der Rekrutierung von „Volksdeutschen“ für die SS widmeten. Am Ende dienten 60.000 Donauschwaben und Siebenbürger in Himmlers Armee.39 Je länger nun der Krieg dauerte, desto empfindlicher mangelte es an Personal für die „Endlösung“, besonders bei den SS-Wachmannschaften. So wurden seit 942 auch hierfür viele „Volksdeutsche“ herangezogen. Sie waren Verbände 35 Norbert Mecklenburg zweiter Klasse, eine Art „Bodensatz der SS“.40 944 waren mehr als ein Drittel der Wachmannschaft in Auschwitz „Volksdeutsche“ (ca. 900), und von ihnen wiederum waren ein Drittel, also ca. 300, Siebenbürger und Donauschwaben. Von dieser Sorte waren es zweifellos auch welche, die Mrs. Ferwalter „genommen“ und nach Auschwitz deportiert haben. Das waren die „Schwaben“. Dr. Arthur Semig Dr. Arthur Semig, Tierarzt in Jerichow und beamteter Fleischbeschauer im Landkreis Gneez, ist ein Nachbar, der zum Fremden gemacht wird. So könnte man seine Geschichte auf eine Formel bringen. Aber das wäre zu undifferenziert. Denn zum Nachbarn, nämlich von Cresspahl, wird er erst, und ein Fremder, nämlich ein nicht Zugehöriger, ein Außenseiter, ist er in einer bestimmten Hinsicht von Anbeginn. Der Leser der „Jahrestage“ sieht ihn zuerst mit den Augen Papenbrocks. Der mag sich 93 nicht anfreunden mit einem künftigen Schwiegersohn, der erstens keinen Hut trägt und zweitens im Ostseebad Rande sich sehen läßt zusammen „mit einem Dr. Semig“. Und dieser erlaubt es sich doch, auf der Terrasse „vor einem christlichen Hotel“ zu sitzen (70f.). Da es sich hier nicht etwa um ein christliches Hospiz handelt, sondern, wie der Leser ein paar Zeilen zuvor erfahren hat, um das Hotel Erbgroßherzog, merkt er bereits beim ersten Lesen der „Jahrestage“, daß Papenbrocks Blick ein antisemitischer ist und Semig von ihm als Jude ausgegrenzt wird. Doch erst nach Kenntnis des weiteren Buches weiß er, wie weit diese Ausgrenzung geht. Denn das antisemitische Ressentiment Papenbrocks und anderer bleibt nicht nur davon unbeeindruckt, daß Dr. Semig zwei Diplome an der Wand hängen hat und „zu Kaisers Geburtstag seine Kriegsauszeichnungen durch die Stadtstraße“ zu tragen pflegt, sondern auch davon, daß „der Jude“ Semig Christ ist, evangelisches Gemeindemitglied. Diese Textstelle, mit späteren zusammengenommen, zeigt mehrerlei: . An der Haltung Papenbrocks als Repräsentanten des deutsch-nationalen Besitzbürgertums wird eine der Ursachen für das Nazi-Reich und damit für die Shoah personifizierend kenntlich gemacht. Antisemitismus gehörte zum deutschen Alltag, nicht nur kurz, vielmehr lange vor 933. (Das ist schon auf der ersten „Jahrestage“-Seite angedeutet mit Gesines Nachdenken, ob „Juden vor 933 noch mieten durften in dem Fischerdorf vor Jerichow“ (7). Und dieser All36 Nachbarschaften mit Unterschieden tagsantisemitismus bildete nach 933 eine der Grundlagen für die schrittweise Durchsetzung des Vernichtungsantisemitismus. 2. Die Borniertheit des Ressentiments zeigt sich daran, daß es stur wider besseres Wissen festgehalten wird: Da sitzt „der Jude“ vor einem „christlichen Hotel“, obwohl man ihn jeden Sonntag in der Kirche sehen kann. Da verläßt einer frühzeitig die Hochzeitsfeier, „erstaunlich taktvoll für einen Juden, und für einen Akademiker“ (5) – so wundern sich die Papenbrocks und die von Bothmers. Da zieht ein Pastor Methling, dessen Vorliebe für Bargeld bekannt ist, über die „Geldgier“ der Juden vom Leder. „Dr. Semig hatte oft genug im Preis nachgelassen. Er [Methling. N.M.] sprach von der jüdischen Gleichgültigkeit gegen die Idee der Nation, aber er hatte in der Heimat gepredigt, als Semig im Graben lag“ (238). Auch vor Gericht kann Semig bewußt die christliche Form des Eides wählen,41 helfen wird es ihm doch nicht. Man erkennt sehr wohl die Differenz der Wirklichkeit gegenüber dem Vorurteil, das falsche Differenzen fixiert, aber revidieren wird man es dennoch nicht. 3. Arthur Semigs maximale Integration und – bezogen auf seine jüdische Abstammung – Assimilation, nämlich durch Herkunft und Beruf, nationale Gesinnung und christliche Konfession, regionale Zugehörigkeit und gutbürgerliche Heirat, haben ihn vermutlich zu keinem Zeitpunkt seines Lebens vor Diskriminierung bewahrt und werden es, ab 933, immer weniger tun – so sehr er das, wie sich zeigen wird, in typisch bildungsbürgerlich-unpolitischen Illusionen befangen, ignoriert oder verdrängt. Das Verdrängte kommt zumindest indirekt zu Wort in einer bitter ironischen Äußerung Semigs, die Gesine sich ausdenkt als Teil seines Terrassengesprächs mit Cresspahl. Die wirtschaftliche Krisensituation – so läßt sie Semig ausführen – zwinge auch ihn als Tierarzt zu mehr Zugeständnissen: „Früher hätte ich abgeklingelt. Aber in solcher Notzeit, und als Jude… Was Sie nich sagn. Aber mein lieber Herr Cresspahl, sehen Sie das nich? Sie wissen doch, man sieht es. Sehen Sie mich mal an, Herr Cresspahl! Nu weiten Se dat, nich?“ (7) So könnten sie miteinander gesprochen haben, denkt sich Gesine; so könnte Cresspahl Näheres über Semigs Herkunft erfahren haben. Das veranlaßt ihn jedoch – wie sich später zeigt – weder zu der Meinung, daß man „es sieht“, nämlich das Jüdische, noch überhaupt dazu, ihn als Juden zu betrachten. Semig mag „mit seinem geschorenen Hasenkopf“ (4) etwas komisch aussehen – aber 37 Norbert Mecklenburg jüdisch? Sehen er und seine – in keiner Weise jüdische – Frau einander doch so ähnlich (294)! Wollte ein antisemitischer Blick an den „krummen Lippen“ und der „gekrausten Nase“ Semigs (4f.) typisch Jüdisches identifizieren, er sähe sich zurechtgewiesen von einer transkulturell aufgeklärten Marie, die Semigs freundliches Nasenkräuseln in dem von Mr. Fang Liu in einer New Yorker Wäscherei wiederfindet (37f.). Nicht „nur Chinesen“ (wie Gesine ironisch behauptet) also oder nur Juden lächeln Kinder so an. Ob man „es sieht“ oder nicht – das bleibt freilich noch auf der New-York-Ebene des Romans ein heikles Problem. Gesine bekennt von sich, halb ironisch, halb irritiert: „Schon sechs Jahre habe ich sie zu Nachbarn, und kann sie von den andern nicht unterscheiden. Womöglich gibt es solchen Blick als Begabung. Ich habe sie nicht.“ (88) Was Arthur Semig betrifft, so hat er, „groß gewachsen, schmal und fest am ganzen Leibe“ (294), jedenfalls keine Ähnlichkeit mit einem „Schmulchen Schievelbeiner“ (233). Die Bekanntschaft des Handwerkers Cresspahl mit dem Akademiker Semig beruht zunächst auf Neugier des Verliebten auf Jerichow, den Ort, in dem Lisbeth lebt. Daraus wird aber erstaunlich schnell so etwas wie Freundschaft („Er war nun fast befreundet mit dem Mann, so weit es eben gehen konnte mit einem Studierten...“ 48) – wenn auch in Grenzen, gezogen durch die „Steifheiten und Vornehmheiten“ Semigs (425). Vielleicht verbindet auch beide, den Einheimischen, der zugleich ungewollt Außenseiter ist, und den „Ausländer“, der gegen seinen Wunsch einheimisch wird, ein gleiches Gefühl der Fremdheit gegenüber diesem Ort: innere Nachbarschaft von zwei Männern, die ihrer äußeren Nachbarschaft, wenn auch in verschiedener Hinsicht, fremd bleiben? Diese beiden Mecklenburger jedenfalls schätzen einander nicht als Landsleute, sondern als anständige Menschen. Unwahrscheinlich, auch aufgrund vergleichsweise geringer erzählerischer Ausgestaltung, wirkt diese Freundschaft über die soziale Klassendifferenz hinweg gleichwohl. Man merkt ihr die Hand des Autors an, der demonstrieren möchte, wie sich der Held der Erzählung demonstrativ mit einem assoziiert, den die anderen zunehmend diskriminieren. Denn die persönliche und familiäre Nachbarschaft, ermöglicht durch die Hausschenkung an Gesine, beginnt gleichzeitig mit der bürgerlichen Entrechtung Semigs, deren Schatten der „Judenboykott“ am . April 933 vorauswirft. Diese auffällige Freundschaft wird bezeugt durch Teilnahme Arthurs an Heinrichs und Lisbeths Hochzeit, und zwar als Trauzeuge, und später durch seine 38 Nachbarschaften mit Unterschieden Bestellung zum Taufpaten für Gesine. Als Cresspahl diese bei Pastor Brüshaver vornimmt, kommt zwar etwas verklemmt, aber dennoch unangenehm sichtbar dessen christlicher Antisemitismus zum Vorschein, von dem er sich später wohl nicht leichter, wenn auch früher und klarer lösen wird als sein berühmterer Amts- und Waffenbruder Martin Niemöller. 938 jedenfalls hat er ihn geradezu vergessen oder verdrängt, indem er sich einredet, Arthur Semig, seit einigen Monaten nach Österreich verzogen, sei für ihn immer nur „ein Glied seiner Gemeinde gewesen, nicht ein Jude“ (645). Im März 933 dagegen hat er auf Cresspahls Verlangen nach Semigs Taufpatenschaft zunächst so abweisend reagiert, daß dieser fast drohend zu erklären sich genötigt sieht: „Herr Semig ist kein Jude, schon sein Großvater hat die Taufe genommen, und die Kösters werden ihre Tochter nicht blinden Auges weggegeben haben“ (299). Das ist nun zwar auf den ersten Blick sympathische Demonstration einer Freundschaft gegen Rassenvorurteile und zugleich des kirchlichen Rechtsstandpunkts – selbst Pastor Methling hätte damals Cresspahls Verlangen nicht abschlagen können –, auf den zweiten Blick aber nicht ohne Zweideutigkeit. Besser hätte sich Cresspahl wohl mit einem Argument begnügt als mit dreien; das Erste hätte ja für sein Verhandlungsziel vollauf genügt! Ein Taufpate muß Kirchenmitgliedschaft, aber keinen getauften Großvater nachweisen. Man wird weder rechtlich noch religiös mehr Christ, je mehr christliche Ahnen man hat. Anstatt den Pastor für dessen Vorbehalt gegen Semig zur Rede zu stellen, kommt Cresspahl mit seinem Hinweis auf den Großvater ungewollt und ohne es zu ahnen selber der demnächst fälligen NS-Gesetzgebung entgegen. Sein drittes Argument ist noch zweideutiger. Was heißt: Die Kösters werden ihre Tochter „nicht blinden Auges weggegeben“ haben? Hatten sie einen solchen Blick als Begabung zu sehen, was Cresspahl weiß, aber gewiß nicht vom Sehen: nämlich daß Arthur Semig sein Christentum „in einer ordentlichen Art unterhalten“ habe (Bd. 2, Anh. S. XIV)? Wenn Cresspahl nicht meint, man könne einem Menschen seine Christlichkeit ansehen, was kann man ihm dann ansehen? Etwa seine jüdische Abstammung? „Sie wissen doch, man sieht es.“ Aber Arthur sieht doch Dora so ähnlich! Cresspahls Argument ähnelt verdächtig demjenigen van der Straatens in Fontanes Roman „L’Adultera“, der das antisemitische Mißtrauen seiner Frau gegenüber dem erwarteten Gast namens Rubehn so auszuräumen versucht: „Er [d.h. Rubehn. N. M.] ist nicht bloß christlich, er ist auch protestantisch, so gut wie du und ich. Und wenn du noch zweifelst, so lasse dich durch den Augenschein überzeugen.“ Und dann zeigt er ihr ein Photo…42 39 Norbert Mecklenburg Cresspahls gut gemeintes, jedoch verfängliches Großvater-Argument aber, das er am 7. März 933 Brüshaver vorhält, ist wenig später gänzlich kraftlos. Am . April wurde eine Verordnung erlassen, die definierte, was das Gesetz vom 7. April zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in §3 als eine „nicht arische Abstammung“ bezeichnete: nämlich wenn jemand auch nur einen jüdischen Eltern- oder Großelternteil hatte.43 Aufgrund dieses Gesetzes wird Semig aus seinem Amt als Kreisveterinär geworfen. Das geschieht zwar insofern gesetzeswidrig, als man, vorgeblich aus Versehen, keine Rücksicht darauf genommen hat, daß Semig als ehemaliger Frontsoldat von der Zwangspensionierung ausgenommen ist (359). Dagegen erhebt er, wenn auch erfolglos, Einspruch, nicht jedoch gegen seine Einstufung als nicht arisch. Denn er kann zwar einen Großvater vorweisen, der die Taufe genommen hat – der Ausdruck „genommen“ deutet an, daß jener nicht „liegend“, sondern „stehend“ getauft worden, d.h. aus dem Judentum übergetreten ist44 –, aber ansonsten muß er sich mit „jüdischen Großeltern“ abfinden (Bd. 2, Anh. S. XIV), und zwar mit dreien, wenn man davon ausgeht, daß die Taufe des einen Großvaters nicht eine solche seiner Frau einschließt.45 So ist er – nach der Definition der Nürnberger Gesetze von 935 – Jude und lebt in einer so genannten Mischehe. Natürlich sind all diese Ausdrücke und Unterscheidungen auf den Rassenund Vernichtungsantisemitismus des Nazi-Staates bezogen. „Was er glaubt ist einerlei/In der Rasse liegt die Schweinerei.“46 Oder, im Originalton der Hamburger Gestapo: „Wenn man einen Hund mit Wasser übergießt, so bleibt er doch ein Hund.“47 Die perverse Paradoxie der Nazi-Gesetze liegt ja darin, daß sie, zum „Schutze des deutschen Blutes“, und zwar „ohne Rücksichtnahme auf Konfession“, eine Zugehörigkeit zu „jüdischem Blut“ gerade und allein nach der Konfession, nämlich derjenigen der Großeltern, definieren.48 Gewiß darf man hier nicht gedankenlos oder nachlässig den Nazi-Sprachgebrauch übernehmen – Semig als „Dreivierteljude“ usw. – , andererseits scheint es mir kaum möglich, sprachlich hinter die Shoah einfach zurückzugehen, indem man Judesein konfessionell definiert wie Christsein.49 Das gelingt ja – wie gezeigt – nicht einmal Cresspahl unzweideutig. In Raul Hilbergs Standardwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ sind die Christen, die nach Nazi-Gesetzen als Juden oder Mischlinge eingestuft, verfolgt, ermordet wurden, keineswegs vergessen. Auch in einer Studie über Johnsons Darstellung der Verfolgung der „Juden in Mecklenburg“ sind mit dem Wort „Juden“ ebenso „Menschen jüdischer Herkunft“ wie „Menschen jüdischen Glaubens“ gemeint.50 Der Christ Arthur Semig ist Jude nur in dem Sinne, daß er wegen 40 Nachbarschaften mit Unterschieden seiner jüdischen Herkunft mit Gewalt zum Juden gemacht wird. Das kann kein „Jahrestage“-Leser überlesen. Problematisch ist es allerdings, wenn man Arthur Semig als „assimilierten Juden“ bezeichnet. Denn es ist sicher angebracht, zwischen Dr. Arthur Semig und z.B. Dr. Wilhelm Spiegel sorgfältig zu unterscheiden, 51 auch wenn der „Jahrestage“-Diskurs beide – über Dora Semigs Perspektive – eng zusammenführt. Engführung heißt bei Johnson ja keineswegs Verwischung von Unterschieden. Semig, Tierarzt, ist Mitglied der Evangelischen Gemeinde in Jerichow, Spiegel, Rechtsanwalt und SPD-Politiker, am 3. März 933 ermordet, war Mitglied der Israelitischen Gemeinde in Kiel.52 Auf Spiegel paßt die Bezeichnung „Vertreter eines bürgerlich-national assimilierten Judentums“53 gewiß besser als auf Semig, denn Spiegel nahm bewußt und aktiv diejenige Errungenschaft der Judenemanzipation in Anspruch, die Juden seit dem Kaiserreich dazu motivierte, sich deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens zu nennen. Christen mit jüdischen Vorfahren kamen größtenteils aus dieser Gruppe; insofern verkörpern sie gewissermaßen eine maximale Stufe der Assimilation (. Stufe: bürgerliche Gleichstellung; 2. Stufe: kulturelle Assimilation; 3. Stufe: Religionswechsel).54 Allerdings sieht man Wilhelm Spiegel nicht gern als „jüdischen Rechtsanwalt“ (294) bezeichnet, wie es der „Genosse Schriftsteller“ einmal tut – vielleicht um dem Leser mit dem Zaunspfahl zu winken.55 Johnson stellt uns ja auch Arthur Semig nicht als „christlichen Tierarzt“ vor. Gewiß wurde der Sozialist und Antifaschist Spiegel auch ermordet, weil er Jude war, aber das meinten seine Mörder ja wohl kaum im religiösen Sinne. „Was er glaubt ist einerlei…“ Genau darum macht sich Dora Semig nach der Lektüre der Zeitungsnachricht über Spiegels Ermordung Sorgen um ihren Mann. Ich glaube, es gibt einen Grund, warum einige „Jahrestage“-Interpreten, darunter auch ich, den Christen Arthur Semig, sicher zu undifferenziert, als typischen Vertreter eines assimilierten Judentums bezeichnet haben.56 Dieser Grund liegt darin, wie und nach welchen Konzepten Johnson selbst diese Figur modelliert hat, also wiederum in seiner „Erzähl- und Aufklärungsabsicht“. Zwar gehört zu Johnsons Figurenpoetik bekanntlich der Grundsatz, sie als autonome Personen zu behandeln und zu respektieren, so als könnten sie jederzeit von sich sagen: Nicht die anderen, sondern ich selbst bestimme, wer ich bin.57 Semig bestimmt sich als deutschen Staatsbürger christlichen Glaubens, und wenn Cresspahl das respektiert, sollte es auch der Leser tun. Aber diese Autonomie, 41 Norbert Mecklenburg diese individuelle Differenz gegenüber Zuschreibungen von außen, wird leider in zweierlei Hinsicht unterlaufen. Das Eine ist, daß es bekanntlich mit unserer Autonomie nicht so weit her ist, wie unsere Selbstliebe es will, wenn wir nüchtern die Determinanten unseres Lebens ins Auge fassen. „Wir sind immer mehr Sein als Bewußtsein“ – in dieser Einsicht stimmt Gadamer nicht nur mit Heidegger, sondern auch mit Marx überein, und auch Johnsons realistische Figurenpoetik entspricht ihr. Allerdings legt sie ebenso auf den Spielraum Wert, den eine Person gerade dann nutzen kann, wenn sie ein illusionsloses Bewußtsein ihrer eigenen Determinanten hat. Gesine hat dieses Bewußtsein, Arthur Semig nicht. Er macht sich Illusionen, und er verdrängt das Wissen um seinen Status als „existentieller“ Außenseiter.58 Nicht daß er zu einer lutherischen anstatt zu einer israelitischen Gemeinde gehört, ist der entscheidende Unterschied gegenüber Wilhelm Spiegel, sondern daß er unpolitisch lebt und denkt – ganz so wie viele andere bürgerliche Deutsche jüdischer Herkunft, die ebenfalls zu spät „aufgewacht“ sind (893), nämlich aus Illusionen über ihre Integration in Deutschland. Genau auf dieses typische Mentalitätsmuster kommt es Johnson bei der Modellierung der Semig-Figur und ihrer Geschichte an. Arthur kann und will nicht begreifen, warum er aus dem Land gehen soll, in dem „alle so sprachen wie er, wenn sie auch in Manchem anders dachten“ (472). Hier zeigt sich der zweite Grund dafür, daß man nur begrenzt von einer Autonomie der Romanfiguren ausgehen kann. Sie sind und bleiben eben Figuren, nüchtern textanalytisch ausgedrückt: semantische Merkmalbündel, und unterscheiden sich darin von realen Personen. Auch eine Figur Johnsons kann, entgegen seinen bekannten Mystifikationen, nur in dem Rahmen über sich selbst bestimmen, den der Autor für sie vorbestimmt hat. Seinen Erzählkonzepten ist sie unterworfen. Warum z.B. hat Johnson seinem Jerichower Tierarzt den seltenen Familiennamen „Semig“ gegeben? Der Vorname „Arthur“ ist nicht jüdisch, sondern keltisch, auch wenn er im 9. Jahrhundert bei jüdischer Namenflucht gern als Ersatzname gewählt wurde. Namen wie „Semisch“ oder „Semig“ können von dem wendischen Wort „samu“ = „selbst“ abgeleitet werden59 – so wäre Arthur Semig niemand anderer als eben er selbst. Oder „Semig“ ist wie „Simm“ Kurzform eines wendischen Namens „Simand“ (auch „Simank“, „Schimmang“), der auf den biblischen Namen „Simon“ zurückgeht.60 Darum war „Simon“ natürlich immer auch ein christlicher Vorname, jedoch, wegen der Nähe zu „Simeon“ und „Simson“, auch ein jüdischer bzw. jüdisch besetzter Familienname. „Simon“ 42 Nachbarschaften mit Unterschieden kommt von griech. simós = stumpfnäsig. Sollte das auf Arthurs „Hasenkopf “ verweisen? Aber ist ein Hase nicht eher langnäsig? Woran immer Johnson bei seiner Namenwahl gedacht haben mag – noch leichter als bei „Arthur“ „Arier“ kann sich bei „Semig“ „Semit“ als Assoziation einstellen. Sollte das gewollt sein, so verwiese diese literarische Namenstrategie symbolisch auf ein nicht tilgbares Element in der Anlage der Figur Arthur Semig: ihre unbestimmte und doch gewisse jüdische Herkunft. Ein anderes Erzählkonzept besteht darin, daß die Arthur Semig aufgezwungene Identitätskrise im Verhalten seiner Frau Dora gespiegelt wird. Das Symbiotisch-Solidarische dieser Ehe schließt für Dora nicht nur jeden Gedanken daran aus, auf die infamen Versprechungen der Behörden für eine Scheidung einzugehen (624), sondern führt in der Emigration, im geteilten Leiden an Not und Demütigung, bei ihr zu einer merkwürdigen Überidentifikation mit der jüdischen Zwangsidentität ihres Mannes, und zwar noch bevor Arthur selbst „aufgewacht“ ist. Ausgerechnet Dora, die – wie es ironisch-paradox heißt – „von Natur evangelisch ist“ (544), schließt sich selbst in diese Identität mit ein, indem sie am eigenen Leibe erfährt, daß „wir Juden sind“ (65f.). So spricht sie in einem Brief von sich selbst als einer „Jüdin, die ich bin“ (982). Was sie damit meint, bleibt eine Leerstelle. Die Christin Dora spricht hier übrigens ähnlich wie die Christin Lisbeth. Die sagt: „Christus war auch ein Jude. Denn sind wir auch welche“ (547). Gesine aber fragt sich befremdet: Ist Dora „bei den Tschechen oder den Franzosen zum Glauben der Juden übergetreten? Hat Semig am Ende in der Fremde versucht, wie die Juden zu leben?“ So offen diese Fragen bleiben, so unwahrscheinlich macht der Kapitelkontext, daß Gesine sie bejaht. Denn es ist eben dieses Karfreitagskapitel, das Passahkapitel, das ihre härteste Aussage über Religion enthält, nämlich über den Glauben der Juden in Hinblick auf die Vernichtung der Juden (98). Arthurs „Aufwachen“ versteht Gesine darum gewiß nicht als Erweckung zum jüdischen Glauben, sondern als Erkenntnis seiner lebensbedrohlichen Lage, und Doras Bekenntnis als „Jüdin“ nicht als religiöse Konversion, sondern als menschlich-partnerschaftliche Solidarität. Dora identifiziert sich freiwillig mit der Rolle, in die ihr Mann gezwungen wird. Er ist für sie Jude in dem Sinne, daß er als Jude vertrieben und verfolgt wird, und indem sie dieses Schicksal mit ihm teilt, fühlt auch sie sich als „Jüdin“. Diese demonstrative Geste sollte man ebenso ernst nehmen wie Cresspahls demonstrative Bezeugung, daß Arthur Semig Christ ist. Er ist beides. 43 Norbert Mecklenburg Das leitende Erzählkonzept für Semigs Geschichte aber lautet: Illusion und Desillusionierung. So groß die Anteilnahme ist, die sein Weg aus bürgerlicher Sekurität und kleinstädtischer Nachbarschaft in die Fremde, in die Erniedrigung, ins Nichts weckt, sowenig läßt sich die Kritik überlesen, welche die Erzählung an dieser Figur implizit übt. Die Anfänge der systematischen rassistischen Diskriminierung hält Arthur für „persönliche Intrige“ (359f.). Ans Grotesk-Komische grenzt die Erzählung darüber, wie er sich mit Händen und Füßen gegen das Bemühen seiner Freunde wehrt, ihn zur Selbstrettung durch Auswanderung zu bewegen, das er als „Einmischung“ zurückweist (544-547). Noch während seiner Haftzeit 937 wiegt er sich in der „Gewißheit, daß nicht möglich war, was ihm zustieß“, daß das ihm widerfahrende Unrecht nur ein „Versehen“ sein könne. Nur „seiner Frau zuliebe“ geht er schließlich auf eine „Reise“, nicht etwa in die Emigration (624). Diese Haltung Semigs kritisiert die Erzählung nicht als seine persönliche Schwäche – so hätte er, als Überlebender, sich womöglich selber kritisiert –, vielmehr als Befangenheit in einem Denkmuster seiner sozialen Klasse. Das wird nirgendwo deutlicher als in der Gegenüberstellung mit der anderen Familie jüdischer Herkunft in Jerichow, den Tannebaums. Diese Gegenüberstellung dient allein dem Zweck der Differenzierung. Semig ist wie Tannebaum ein Fremder in der Jerichower Gemeinschaft, nämlich ein als Jude stigmatisierter Außenseiter, aber im Unterschied zu dem Kleiderhändler ist er sozial, regional, kulturell weitgehend integriert, denn er hat von Anfang an „dazugehört, mit Besitz, mit Bildung“ (544). So lassen die anderen mit Besitz oder Bildung den Akademiker Semig – „Jude hin. Jude her“ (357) – mehr als Nachbarn gelten als den anderen, ihm soll „nichts passieren“, und darum wollen sie – Antisemiten, die sie trotz aller Nachbarschaft sind – „sich wenigstens einen Juden vom Halse schaffen“ (544). Johnson realisiert das Erzählprogramm einer Differenzierung der Differenzen in den „Jahrestagen“ vorrangig dadurch, daß er seine Figuren und ihre Beziehungen sozial durchmodelliert. Die soziale Differenz ist die Schlüsseldifferenz. An ihr relativieren sich andere Differenzen. Sie selbst aber relativiert sich nur in besonderen Fällen menschlich-persönlicher Nähe und Freundschaft. Das wird von Johnson so konsequent befolgt, daß er manchmal, ganz selten, mit dem Zaunpfahl winkt. So teilt er dem Leser z.B. mit: „Von den Tannebaums, jüdische [!] Kleiderhandlung zu Jerichow, verabschiedete Dr. Semig sich nicht. Er hatte kein Mal mit ihnen zu tun gehabt; nicht einmal als Kundschaft“ (626). Das sind ganz überflüssige Sätze, kein Leser würde es anders erwarten. So unterstreichen sie nur dick, was der Leser längst weiß: daß Semig und Tannebaum eben zwei 44 Nachbarschaften mit Unterschieden verschiedenen Gruppen angehören, auch wenn der NS-Antisemitismus sie mit Gewalt in eine zwingt. Jakob in Olmütz Auch Jakob hatte, wie Gesine und eine Reihe weiterer Personen in den „Jahrestagen“, eine interkulturelle Erfahrung gemacht. Er hat eine Zeitlang in einem anderen Volk und einer fremden Sprache gelebt. Das war genau ein Jahr vor seiner Erfahrung mit dem kapitalistischen Westen, in Düsseldorf bei Gesine, einer sehr irritierenden, befremdenden Erfahrung, die, bei seiner Heimkehr, mit dem Tod endete. Demgegenüber ist die Erfahrung mit den Tschechen, dem „Brudervolk“ im Rahmen des Ostblocks, nahezu idyllisch, zumindest sehr nachbarlich. Diese Erfahrung von Nachbarlichkeit steht jedoch in krassem Gegensatz zu dem gleichzeitig vermittelten Wissen über kommunistische Machtstrategien im tschechoslowakischen Nachbarland. Daß es gerade ein Ort in der ČSSR ist, in dem Jakob ein paar Wochen lang im Herbst 955 bei Eisenbahnern gelebt haben soll, paßt gegen Ende des „Jahrestage“-Erzählprojekts, am 3. August 968 (805-82), dem Jahrestag des Mauerbaus sieben Jahre zuvor (789), auffällig gut, der erzählenden Figur Gesine wie dem „Genossen Schriftsteller“. Johnson stellt dadurch eine Doppelklammer her, einerseits zur Jerichow-Ebene: zweimal das stalinistische System der Fünfziger Jahre und sein Terror in zwei betroffenen Ländern; andererseits zur Gegenwartsebene: zweimal ČSSR. Das Land, in das Gesine und Marie eine Woche später reisen sollen, Jakob war schon einmal da, 3 Jahre früher. Johnson war die Doppelklammer offenbar so wichtig, daß er diese Jakob-Episode im Kapitel vom 3. August anachronisch eingeschoben hat: zwischen den Lockenvitz-Prozeß und Gesines Abitur 952. Das Jahr 955 ist erst am 7. August fällig (864ff.), da ist aber die Schul- und DDR-Geschichte schon zu Ende erzählt. Warum aber greift Gesine hier in ihrer Erzählung vor? Über Jakobs Besuch bei „sin lütt Süster“, die inzwischen in Halle studiert (834), und über die aus den „Mutmassungen“ bekannten Ereignisse im Herbst 956 (866) spricht sie mit Marie jeweils erst ein paar Tage später. Sie selbst gibt die Antwort: „Hier haben wir ein Kind, dem steht die Reise in sieben Tagen ungemütlich bevor, dem ist das Land zu fremd, […]. Nun muß eine Verköstigung her, ein Vorgeschmack; der lange aufgesparte für Notzeiten. Ob Marie wohl weiß, daß 45 Norbert Mecklenburg Jakob im Herbst 955 Briefe geschrieben hat aus Olmütz, Olomouc, wo er auf dem hl. n. die Betriebstechnik des Dispatchens einübte, am Eisenbahnkilometer Nr. 253 von Prag aus?“ (806f.) Marie soll das fremde Land, in das sie nicht gerne mitgeht, etwas vertrauter werden. So versucht Gesine sie zu ködern, indem sie erzählt, wie dieses Land Jakob etwas vertraut wurde, als er 955 eine Zeitlang bei tschechischen Eisenbahnern in Mähren „en famille“ lebte (807). Von diesen Leuten hat Gesine als Jakobs „lütt Süster“ seitdem „eine Einladung“ (809). Marie beißt an: „Jakob hat einmal gearbeitet, wo wir sein werden? Sehen wir uns das an?“ (807) Jakob hat seit 953 mit Gesine Briefe darüber ausgetauscht, wie „das Leben ist in der Fremde“ (490). Aus der einen Fremde, Westdeutschland, schrieb Gesine; 955 konnte dann auch Jakob einmal von einer Fremde berichten, für die sich Gesine schon damals sehr interessierte: Prag, die Stadt Kafkas, die ihr aber aus beruflichen Gründen unzugänglich war. Jakob hat also Briefe aus Olmütz geschrieben, und einer davon liegt – angeblich – in einem Banksafe in Düsseldorf verwahrt (8). Es bleibt für den Leser ungewiß, ob Gesine ihrer Tochter nur erzählt, was sie weiß, ob sie es für ihren Zweck ausschmückt, ob es Jakobs Brief und Olmütz-Erfahrung überhaupt gibt. Gesine beschwört das auf Verlangen Maries zwar, aber dem „Genossen Schriftsteller“ bekennt sie hernach: „Und wenn’s ein Meineid war, ich tät’s gleich noch mal“ (8). Gleichwohl hat dieser vielleicht doppelt fiktive Brief von 955 insofern einen dokumentarischen Wert, als er – wie noch näher gezeigt werden soll – so detaillierte zeitgeschichtliche Informationen über die ČSSR enthält, wie sie im Westen damals noch kaum bekannt waren. (Eine lange SPIEGEL-Serie über kommunistische Machtstrategien in verschiedenen osteuropäischen Ländern, aus der Johnson Informationen auch zur ČSSR entnehmen konnte,61 erschien erst ein Jahr später62). Der Kapitelbeginn bietet Nachrichten von einem ziemlich unterkühlten Besuch Ulbrichts bei Dubček – Spätstalinismus vs. Reformkommunismus – und einen Rückblick auf die vortägige Reise der Cresspahls nach Chicago (805f.). Für den neuen Tag ist ein Ausflug vorgesehen. Dieser Ausflug mit der U-Bahn auf die Insel Rockaway im Atlantik bildet den Erzählrahmen für die Geschichte von Jakob in Olmütz: Wahrzunehmen sind da eine verkommene, durch Bauspekulation zerstörte amerikanische Gegend und verkümmerte menschliche Beziehungen (8f.). Das steht in gezieltem Kontrast zu dem alteuropäischen mährischen Ort Olmütz und der warmherzigen Nachbar46 Nachbarschaften mit Unterschieden lichkeit der dortigen Gastgeber gegenüber Jakob. Trotzdem würde Marie am Ende doch lieber in Amerika bleiben, und sie lacht über eine Frau, die mitten im fröhlichen Menschengewimmel des U-Bahnsteigs ein deutschsprachiges Buch liest über die „Einsamkeit des Menschen in der modernen amerikanischen Gesellschaft“ (82). Der Binnenteil besteht aus Gesines Erzählung von Jakob in Olmütz, mit kurzen Zwischenbemerkungen Maries. Er bietet vier Abschnitte: () die stimmungsvolle Beschreibung eines spätherbstlichen Morgens bei Feliks und Tonja (807f.); (2) wie sie Jakob liebevoll umsorgen und auf eine Zugreise nach Prag mitnehmen (809); (3) wie sie ihm ‚Landeskunde‘ vermitteln über die kommunistische Machtübernahme in der ČSSR, exemplarisch mit Hinweisen zum Kirchenkampf und zu einer infamen „Parfümkistenverschwörung“ (80); (4) wie Jakob – nur? – gesprächsweise verstrickt wird in eine sehr private Frage: Wann ist eine außereheliche Liebschaft ein Verrat (8)? Diese Sequenzbildung zeigt deutlich, wie Johnson hier in charakteristischer Weise dokumentarisch-zeitgeschichtliche Information (3) in eine fiktionale Handlung (, 2, 4) eingebettet, Ansichten von einem fremden Land narrativiert hat. Er läßt den Leser daran teilhaben, was Marie von Gesine, Gesine von Jakob, Jakob von Feliks und Tonja erfahren hat. So kann er ihm, wie es Gesine – allerdings nicht ganz erfolgreich – mit Marie versucht, dieses andere Land und seine Leute ein Stück näherbringen. Gleichzeitig wird durch kapitelinterne und -übergreifende Klammerbildung eine komplexe Opposition aufgebaut: hier Rockaway/USA, ‚freie Welt‘, aber ‚Entfremdung‘ – dort Olmütz/ČSSR, Kommunismus, aber Nachbarlichkeit. Ein interkulturelles Erzählen also, das die Differenzen nicht polarisiert, sondern differenziert. Die Strategie des Näherbringens besteht in der Anbindung der politisch-historischen Sachinformationen an die Begegnung mit Personen als Zeitzeugen. Feliks und Tonja geben Jakob eine Lektion in Landeskunde. Diese besteht erstens aus Grundwissen, von historischen Daten („Olmützer Punktuation“) und Bauwerken bis zum Alltagsleben unter staatssozialistischer Mangelwirtschaft (kein Draht, keine Zitronen, keine Teelichter); zweitens aus Kafkakunde, denn die Pragreise führt systematisch zu den Lebensstätten des Prager Autors63 (Gesine in Düsseldorf hat sich bei Jakob Fotos davon bestellt); drittens – und das nimmt den meisten Raum ein – Kommunistenkunde. (Leider ist nicht zu erkennen, wie Jakob diese Lektion aufnimmt). Für den Leser wie für Marie ist diese tschechoslowakische Landeskunde zugleich Geschichtskunde, die 47 Norbert Mecklenburg auf Vergleichen und Unterscheiden angelegt, an Bekanntes anschließbar ist: ČSSR- vs. DDR-Kommunismus, stalinistische vs. nationalsozialistische Machtergreifung, katholischer vs. evangelischer Kirchenkampf. Zu einer Erzählkunst, die Fremdes näherbringt, gehört in diesem Kapitel noch mehrerlei: Da sind der Einstieg in medias res mit einer suggestiven Morgenszene und die Einlage einer ebenso suggestiven Katzenszene (809) – Szenen, die den Leser unmittelbar in Jakobs Olmützer Leben „en famille“ hineinziehen. Da ist ein Erzählhumor, der die fremden Menschen näherbringt, indem er Allzumenschliches nicht übergeht: Das katholische Ehepaar hat bei seinem riskant staatskritischen Erzählen Vertrauen zu Jakob, „obwohl er nach Luther erzogen war und in die Hölle kommen würde“ (80). Da ist das Problem der Fremdsprache, das punktuell, exemplarisch gezeigt, jedoch ziemlich heruntergespielt wird – Jakob lernt etwas Tschechisch –, im Ganzen jedoch überspielt wird durch ,Übersetzung‘ der auf Tschechisch zu denkenden Gespräche in vertrauten norddeutschen Sound: „Nu hab dich man nicht so für deine achsseen Heller!“ Jakobs stummes Blickgespräch mit einem kleinen Jungen wird sogar, wohl dem zuhörenden Kind Marie zuliebe, auf Englisch dargeboten (808).64 Und da ist schließlich, in Gegenzug zur näherbringenden Anbindung an die Figurenperspektive Jakobs, eine kräftige Relativierung dieser interkulturellen Idylle durch Einblenden der harschen politischen Fakten. Daß Tschechen als „Nachbarn“ auch anders sein konnten, hat im übrigen die Lebensgeschichte Prof. Kreslils gezeigt (926). Vollends Distanz schaffen die Schlußszene (4), in der wie aus heiterem Himmel ein Ehebruch ominös beschworen wird – vermutlich aufgrund einer entsprechenden Obsession des Autors – , und Gesines dickes Herausstreichen ihrer Unverläßlichkeit als Nacherzählerin – oder Erfinderin? – von Jakob-Briefen (8). Den Höhepunkt des Kapitels und den Abschluß der Lektion in Landeskunde bildet die dichte Verflechtung von fiktionaler und dokumentarischer Erzählung in der Geschichte von der „Parfümkisten-Verschwörung“ (80f.). Sie ist, abgesehen von der Einleitungsszene, die längste Episode des Kapitels. Olmütz als Schauplatz verbindet die kleine mit der großen Geschichte, zu der Namen wie Beran, Beneš, Gottwald und Jan Masaryk gehören. Oral history wird simuliert: „Dafür sind wir hier in Olmütz berühmt, Jakob.“ Wie der ungeklärte, vermutliche Mord der Kommunisten an dem Außenminister Masaryk (852, 027f.). sind es auch Lehrstücke über ihre skrupellosen 48 Nachbarschaften mit Unterschieden Machtstrategien, wie sie mit dem Erzbischof Josef Beran umsprangen, der jahrelang in Dachau KZ-Häftling gewesen war, oder mit dem Staatspräsidenten Beneš. Diese relativ bekannten Ereignisse werden nur kurz angedeutet. (Der Leser weiß bereits, daß erst mit dem Prager Frühling ihre Aufarbeitung einsetzte. 399, 54) Im Vergleich mit ihnen klingt die grotesk-infame Geschichte von der „Parfümkisten-Verschwörung“ am . September 947, einem kommunistischen Spengstoffattentat auf drei Prager Minister, darunter auch Masaryk, wie ausgedacht. Dabei hat Johnson sie Punkt für Punkt aus einer zeitgeschichtlichen Untersuchung getreu übernommen.65 (Diese Quelle ist eindeutig identifizierbar, u.a. durch Johnsons irreführende Bezeichnung der „Volkssozialisten“, einer demokratischen Mitte-Links-Partei, als „Nationalsozialisten“, 8066). Neben einem Tischler – das schreibt der Eisenbahner Jakob der Tischlerstochter Gesine – gehörte auch ein Eisenbahner aus dem Distrikt Olmütz, also ein Arbeitskollege von Feliks, zu den Beteiligten. Dadurch ist diese historische Episode noch suggestiver in den fiktionalen Rahmen eingeflochten. Einmal jedoch hat Johnson eine kleine, aber für seine Technik des „Einschwärzens“ bezeichnende stilistische Änderung vorgenommen: Dem in das Attentat verstrickten Eisenbahner Opluštil, der vernommen werden sollte, drohten seine kommunistischen Parteioberen an, er könnte – wie es in Johnsons Quelle heißt – „be crushed between two cars“.67 Statt „cars“ schreibt Johnson: „Waggons“: Das ist näher dran an Eisenbahneralltag und – wie der Leser der „Mutmassungen“ weiß – an den Umständen, unter denen Jakob stirbt, genau ein Jahr, nachdem er diese Geschichte von seinen tschechischen Kollegen gehört hat. Anmerkungen 1 Wolf Dieter Otto: Fremde und Fremderfahrung in Uwe Johnsons „Jahrestagen“. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. 9. Jg., 993, S. 44-66. – Colin Riordan: „Nachmittage in der Fremde.“ Dislokation in Uwe Johnsons „Jahrestage“. In: Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Tagungsakten des Internationalen Symposions zur Reiseliteratur, University College Dublin. Herausgegeben von Anne Fuchs und Theo Harden. Heidelberg: Carl Winter 995, S. 23-228. (= Neue Bremer Beiträge. 8). 2 Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman „Jahrestage“. Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 237. (= Johnson-Studien. 4). 49 Norbert Mecklenburg 3 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. „Jahrestage“ und andere Prosa. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 997, S. 3-20. 4 Vgl. Anm. 2. 5 Lewis Mumford: Die Stadt. Geschichte und Ausblick. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 963, S. 670f. 6 Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 965, S. 26. (= edition suhrkamp. 23). 7 Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag. Bd. : 970, Bd. 2: 97, Bd. 3: 973, Bd. 4: 983. – Hier und im folgenden werden die Seitenangaben aus dieser Ausgabe dem Text mit einfachen Zahlen in Klammern eingefügt. 8 Uwe Johnson: Heute Neunzig Jahr. Herausgegeben von Norbert Mecklenburg. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 996, S. 28-32, 54-67. 9 Uwe Johnson: Ein Brief aus New York. In: Johnsons „Jahrestage“. Herausgegeben von Michael Bengel. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 985, S. 30-34. (= suhrkamp taschenbuch materialien. 2057). 10 Eberhard Fahlke: „Die Katze Erinnerung“. Uwe Johnson – Eine Chronik in Briefen und Bildern. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 994, S. 94. 11 Johnsons „Jahrestage“. Der Kommentar. Herausgegeben von Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth (†) und Ulrich Fries. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 999, S. 909. 12 Uwe Johnson: Das dritte Buch über Achim. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 96, S. 8f. 13 Eberhard Fahlke: „Die Katze Erinnerung“, a.a.O., S. 94f. 14 Ekkehart Krippendorff: Die amerikanische Strategie. Entscheidungsprozeß und Instrumentarium der amerikanischen Außenpolitik. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 970, S. 463. 15 Uwe Johnson: Heute Neunzig Jahr, a.a.O., S. 5f. 16 Diesen Scherz als Karikatur des „Kursbuch“-Marxismus mißverstehen kann nur, wer vergessen hat, daß er sich selber einmal als Johnsonforscher zu den „sogenannten linken westdeutschen Intellektuellen“ gezählt hat: Bernd Neumann: Uwe Johnson. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 994, S. 596. 17 Vgl. Anm. 0. 18 Er hat wohl selber gemerkt, daß da an seiner Figur etwas nicht stimmt; darum läßt er sie einmal sich bei ihm beschweren: Er habe ausgelassen, daß sie in zehn Monaten immerhin dreimal in der Philharmonie gewesen sei (427). 19 In: Neue Rundschau. 80. Jg., 969, S. 26-274; abgedruckt in: Johnsons „Jahrestage“. Herausgegeben von Michael Bengel, a.a.O., S. 35-52 (im folgenden zitiert als T). 50 Nachbarschaften mit Unterschieden 20 Ich verdanke diese Information Eberhard Fahlke (Uwe-Johnson-Archiv, Frankfurt/M.). 21 Joseph P. Lyford: The Airtight Cage. A Study of New York’s West Side. New York: Harper & Row 966, 356 S. (im folgenden zitiert als L). 22 Vgl. Sibylle Luithlen: Konzepte der Amerikadarstellung in Uwe Johnsons „Jahrestagen“. Köln 998, Magisterarbeit. 23 Upper West Side (T 35f.): 573-576; Riverside Drive (T 36-40): 5-54; Riverside Park (40f.): 88-9); Slums (T 4-45): 84-848; Broadway (T. 48-52): 26f., 96-99, 75f. 24 Steven V. Roberts: Brownsville Sinks in Decay and Fear. In: The New York Times, Ausgabe vom 7.03.968. – Die im Text folgenden englischen Zitate stammen alle aus diesem Artikel. 25 Das ist ein Satz wie Leuten ins Stammbuch geschrieben, welche die marxistische Art der Gesellschaftskritik in den „Jahrestagen“ leugnen wollen. Leute, die das, auch aufgrund solcher Sätze, nicht gut können und darum eine Differenz zwischen Gesines marxistischer und Johnsons angeblich un- oder sogar antimarxistischer Sichtweise konstruieren, müssen damit an der Identität der Aussagen im Roman und im New York-Essay scheitern; dieser hält sogar den Ausdruck „idiotisch“ bereit (T 43). 26 Dietz Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 82-933. Stuttgart: Klett-Cotta 987, S. 6, 350. 27 In den Büchern über die Shoah aus Johnsons Bibliothek ist der Name bisher nicht gefunden worden. Er findet sich auch nicht in dem umfangreichen Namenregister bei Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager AuschwitzBirkenau 939-945. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 989. Vielleicht war es ein Spitzname, abgeleitet von dem Verb ‚stibitzen‘, d.h. „heimlich und listig kleinigkeiten entwenden“ (Grimm: Deutsches Wörterbuch); denn der würde zu dem von Frau Ferwalter beschriebenen Verhalten dieser vergleichsweise „guten“ KZ-Wächterin genau passen: als Ermunterung, etwas Nahrung unauffällig zu stibitzen. 28 Vgl. auch Uwe Johnson: Heute Neunzig Jahr, a.a.O., S. 95. 29 Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen, a.a.O., S. 294. – Dazu kritisch Norbert Mecklenburg: Ungeziefer und selektiertes Volk. In: The Germanic Review. 78. Jg., 200, S. 254-266, hier S. 263. 30 Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen, a.a.O., S. 25. 31 Thomas Schmidt, a.a.O., S. 238. 32 Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Durchgesehene und erweiterte Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 990, Bd. 2, S. 862, 875. (= Fischer Taschenbücher. 062). 33 Raul Hilberg, a.a.O., S. 78, 790. 34 Raul Hilberg, a.a.O., S. 862-896. 51 Norbert Mecklenburg 35 Raul Hilberg, a.a.O., S. 859, 886. Raul Hilberg, a.a.O., S. 897f., 906. – Vgl. Martin Gilbert: Endlösung. Die Vertreibung und Vernichtung der Juden. Ein Atlas. Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 982, 264 S. (= rororo aktuell. 503). – (UweJohnson-Archiv, Nr. 828), Karte 255. 37 Johnsons „Jahrestage“. Der Kommentar, a.a.O., S. 960f. 38 In seinem Essay „Ein Teil von New York“, den Johnson vor den „Jahrestagen“ veröffentlicht hat, ist die Rede von einer realen jüdischen Nachbarin vom Riverside Drive, einer „Emigrantin aus Karlovy Vary“, welche die gleichen nostalgischen Gefühle hat wie die Mrs. Ferwalter zugeschriebenen: Johnsons „Jahrestage“. Hrsg. v. Michael Bengel, a.a.O., 985, S. 38. – Vgl. auch Bernd Auerochs: „Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick.“ Zum Holocaust und zum Verhältnis zwischen Deutschen und Juden in Uwe Johnsons „Jahrestagen“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. Berlin. 2. Jg., 993, S. 595-67, hier S. 6. 39 Dieter Schlesak: Unser Erbe, das Nichts. In: Die Zeit. Hamburg. Nr. 42 vom 4.0.988. – Schlesak bezieht sich u.a. auf Hans Wolfram Hockl: Offene Karten. Dokumente zur Geschichte der Deutschen in Rumänien 930-980. Linz 980, S. 38. (= Donauschwäbische Beiträge. 76). 40 Raul Hilberg: Vernichtung, a.a.O., S. 966f. 41 Rainer Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“. Die Verdrängung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Mecklenburgs im Spiegel der „Jahrestage“. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. München. 200, H. 65/66 (Uwe Johnson. Neufassung), S. 9-34; hier S. 27f. 42 Theodor Fontane: Romane und Erzählungen. Berlin: Aufbau-Verlag, 3. Aufl. 984, Bd. 3, S. 24. Vgl. dazu Elisabeth Hoffmann: „L’Adultera“ und die ‚Judenfrage‘ (ungedr. Vortragsmanuskript). – Norbert Mecklenburg: Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 998, S. 97ff. 43 Raul Hilberg: Vernichtung, a.a.O., S. 70. 44 Diesen Hinweis verdanke ich Elisabeth Hoffmann. 45 Es ist also irreführend zu sagen, Semig habe „unter seinen Vorfahren auch einen jüdischen Großvater gehabt“: Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“, a.a.O., S. 29. 46 Raul Hilberg: Vernichtung, a.a.O., S. 70. 47 Ursula Büttner/Martin Greschat: Die verlassenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im ‚Dritten Reich‘. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 998, S. 2. 48 Also keineswegs nach dem „blood of their grandparents“ (Michael Berenbaum, zitiert bei Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“, a.a.O., S. 28), das sie ebensowenig definieren können wie das der Enkel. 36 52 Nachbarschaften mit Unterschieden 49 Die Hilfsbezeichnung „Judenchristen“ – immer in distanzierenden Gänsefüßchen – ist eben nur eine Hilfsbezeichnung. Büttner/Greschat: Die verlassenen Kinder, a.a.O., S. 9. 50 Rainer Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“, a.a.O., S. 22. 51 Rainer Paasch-Beeck, a.a.O., S. 27. 52 „Israelitisch“ sind in Wahrheit auch die „israelischen Kultusnachrichten“, die der Verleger des Lübecker General-Anzeigers 933 aus dem Blatt wirft (98), als es noch keinen Staat Israel gab. 53 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, a.a.O., S. 305. 54 Es waren die „‚Judenchristen‘, die sich am stärksten der deutschen Mehrheit assimiliert […] hatten“. Büttner/Greschat: Die verlassenen Kinder, a.a.O., S. 2. 55 Rainer Paasch-Beeck (Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“, a.a.O., S. 25) nennt das höflicher „Erzähl- und Aufklärungsabsicht Johnsons“. 56 Vgl. Anm. 53 sowie Auerochs: „Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick“, a.a.O., S. 605; Michael Hofmann: Dr. med. vet. Arthur Semig: ein Jude in Jerichow. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. Berlin. 4. Jg., 995 (Sonderband), S. 65-84, hier S. 73. 57 Rainer Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“, a.a.O., S. 29. – Ganz in diesem Sinne läßt Johnson Gesine sagen: „Meine Psychologie mach ich mir selber, Genosse Schriftsteller.“ (428). 58 Das heißt: in Unterschied zum „intentionellen“ ein Außenseiter von Geburt an. Vgl. Hans Mayer: Außenseiter. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 975, S. 3, 6, 8. 59 Max Gottschald: Deutsche Namenkunde. Unsere Familiennamen nach ihrer Entstehung und Bedeutung. München: Lehmann 932. S. 362 und 340. 60 Max Gottschald: Deutsche Namenkunde. Mit einer Einführung in die Familiennamenkunde von Rudolf Schützeichel. 5. verbesserte Aufl. Berlin: Walter de Gruyter 982, S. 46. 61 Z.B. die Parallelisierung der Umstände des Todes von Jan Masaryk mit dem historischen ‚Prager Fenstersturz‘. 62 „Ich bin ein Lump, Herr Staatsanwalt!“ (4. Fortsetzung). In: Der Spiegel. Hamburg, Ausgabe vom 2.2.956, S. 43-5. 63 Johnsons „Jahrestage“. Der Kommentar, a.a.O., S. 98f. – 955 ist auch genau das Jahr, in dem Johnson bei Hans Mayer ein Referat „Das Leben Franz Kafkas“ schrieb, lange bevor in der DDR und in der ČSSR das literaturideologische Verdikt gegen Kafka revidiert wurde. 64 Eine sehr ähnliche Szene, nur im New Yorker Viertel Upper West Side spielend, kann Johnson bei Lyford gefunden haben: The Airtight Cage, a.a.O., S. 23. 65 Claire Sterling: The Masaryk Case. New York: Harper & Row 969, S. 5ff. 53 Norbert Mecklenburg 66 67 54 Claire Sterling, a.a.O., S. 5: „National Socialists“. Claire Sterling, a.a.O., S. 53. Barbara Scheuermann „Halt dir grade, Mensch!“ Uwe Johnson: Fremdbilder und Selbstbild Die Kesten-Affäre und ihre Folgen Nur knapp zwei Jahre war Uwe Johnson Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Anlass und Gründe für seinen Austritt hat er in seinen Frankfurter Vorlesungen unter dem Titel „Begleitumstände“ breit dargestellt: Er hält dafür, dass der Umgang mit Wörtern – wie mit Menschen – genau und verlässlich zu sein habe; sein Nachweis, dass bestimmte ihn betreffende Formulierungen in einem Ausstellungskatalog zum Büchner-Preis und seinen Trägern ungenau, missverständlich und deshalb wahrheitswidrig seien, mündet in die Forderung, der Katalog müsse zurückgezogen werden, und die Ankündigung, er werde die Akademie verlassen, sollte seiner Forderung nicht entsprochen werden.1 Mit Blick auf die Frage, ob bei diesem ,Begleitumstand‘ Johnsonsche Idiosynkrasien oder aber das Verpflichtetsein eines Akademiemitglieds auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu verhandeln sind, wird im Folgenden zunächst die von Johnson auf der Herbsttagung der Deutschen Akademie 977 gehaltene Antrittsrede unter den Aspekten ,Selbstoffenbarung‘ und ,Selbstverhüllung‘ genauer untersucht. Die Rede wurde inzwischen mehrfach nachgedruckt, zuletzt in dem zum 50. Jubiläum der Akademie herausgegebenen Sammelband „Wie sie sich selber sehen“.2 Anschließend soll vor dem Hintergrund dieser Rede versucht werden, Johnsons Sicht seines Streits mit Hermann Kesten aus dem Jahre 96, auf den jener Ausstellungskatalog Bezug nimmt, sowie die öffentliche Wahrnehmung dieses Streits und seine Auswirkungen zu beschreiben, zu erklären und zu bewerten. Barbara Scheuermann „Andere über mich“ Johnsons Antrittsrede abgedruckt im Feuilleton einer großen Wochenzeitung zu lesen führt zu anderen Leseeindrücken als die Wahrnehmung desselben Textes in Sammelbänden, die sich ausschließlich Uwe Johnson widmen.3 Noch anders ist die Wirkung, wenn diese Rede im Verbund mit weiteren aus demselben Anlass gehaltenen Reden gelesen wird, wie es jener Band mit den – seit 962 üblich gewordenen – Vorstellungsreden neuer Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gestattet. Wie manch anderer Redner auch, beginnt Johnson mit dem Topos der Bescheidenheit, des Herausgefordertseins durch die ihm gestellte Aufgabe der Selbstdarstellung,4 der er im Folgenden auf ungewöhnliche Weise zu genügen gedenkt. Unter Aufnahme in die Akademie rubriziert er „Pflichten“, nicht aber Dankbarkeit und Stolz.5 Einer dieser Pflichten kommt er nun mit seiner Vorstellungsrede nach; er braucht dafür freilich mehr als jene fünf Minuten, die das Ritual vorsieht.6 Einleitend spricht der Redner, Klimax und Hyperbel miteinander verbindend, von der „Härte, ja, Grausamkeit der Aufgabe“,7 die die Aufforderung, sich selbst vorzustellen, für ihn bedeute. Der Hauptteil der Rede verknüpft das Chronologische mit der Vorstellung von Begriffen und dem Nachweis von deren Unzulänglichkeit. Die Rede endet mit einem – inzwischen häufig zitierten – Bekenntnis: „Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Elde und der Havel“.8 „Pommer“ – „Mecklenburger“ – „Flüchtling“ (im Nachkriegsdeutschland) – „Bürgerlicher“ – „Leipziger“ – „Staatsbürger“ (der DDR) – „Verräter“ – „Flüchtling“ (aus der DDR) – „Kein Flüchtling“ (in Westberlin) – „Trojanisches Pferd“ – „Dichter der beiden Deutschland“ – „Westberliner“ – „Kommunistenschwein“ – „New Yorker“ – „Bürger der Bundesrepublik Deutschland“ – „German“ – „Nachbar“; so lauten die Bezeichnungen, mit denen Johnson sich auseinandersetzt.9 Sie fokussieren bestimmte Lebensabschnitte des Autors und sind gleichwohl nur als – akzeptierte oder zurückgewiesene – Teile eines Gesamtbildes sinn- und identitätsstiftend. Indem Johnson die Fülle ihm geltender disparater Zuschreibungen zum Gegenstand seiner Rede macht, kann er Widersprüchliches kritisch beleuchten, durch Detaillierung und Kontrastierung das oberflächlichklischeehafte gegen das tiefgründend-treffende Urteil abgrenzen. 56 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild Durch die Variation von Verben, die die Außensicht betonen, geht der Redner auf Distanz zu geläufigen Zuschreibungen: „Ihr neues Mitglied wird […] ein ,Pommer‘ genannt“, „es gefällt Leuten, mich einen Mecklenburger zu nennen“, dort „galt ich als einer von den ,Flüchtlingen‘“, später „wurde ich mir bekannt gemacht als ein ,Bürgerlicher‘“.10 Die Variation in der Einbindung jener aus der Außensicht stammenden Formulierungen erzeugt zugleich deutliche ironische Effekte. Als den für seine Kindheit und Jugend bestimmenden Faktor führt Johnson seine Herkunft an, zunächst geographisch (Pommer/Mecklenburger), dann gesellschaftlich (Flüchtling/Bürgerlicher),11 und er leitet seine Verbundenheit mit Mecklenburg ganz konkret aus der Arbeit ab, die einem (Flüchtlings-)Kind in der Nachkriegszeit abverlangt wurde: „durch eigene, ausgiebige Beschäftigung mit dem Boden dieses Landes, beim Kartoffelwracken, Rübenverziehen, Heuwenden, Einbringen von Raps und Roggen, des Umgangs mit den Tieren auf diesem Boden nicht zu vergessen.“12 Nicht so sehr kompositorisches Element denn Mittel detaillierender Veranschaulichung ist hier die rhetorische Figur der Häufung, rhythmisiert durch die altertümlich klingende genitivische Wendung am Schluss und die ihr vorangestellte Alliteration. Die arbeitend gewonnenen Kenntnisse und Einsichten sind es, die Johnson die Identität ,Mecklenburger‘ annehmbar erscheinen lassen.13 Weniger annehmbar indes ist für ihn, was der sozialistische Staat und die herrschende Ideologie dem Einzelnen abverlangen oder aufzwingen, indem sie selbstherrlich Bildungschancen verteilen. Lapidar listet der Redner Beispiele staatlicher Willkür auf: Die Bezeichnung „Flüchtling“ gilt als herabsetzend und wird verboten, an ihre Stelle tritt der ideologisch erwünschte „Umsiedler“; der Sohn der als bürgerlich geltenden Fahrkartenkontrolleurin in Personenzügen bleibt vom Studium ausgeschlossen, jenem, der eine als Arbeiterin eingestufte Güterwagenschaffnerin zur Mutter hat, stehen hingegen alle Türen offen.14 Johnson führt dies als Erziehung zu Unaufrichtigkeit und Lüge vor – als einen Prozess, der schließlich mit seinem Weggang aus Rostock endet: „Es muß nicht die Universität sein in Mecklenburg.“15 Die emphatische Ausklammerung verweist auf ein kompliziertes Verhältnis von Nähe und Distanz zu Mecklenburg,16 zu dem sich zu bekennen ihm andernorts zur selbstverständlichen Pflicht wird: „Unverdrossen als ein Mecklenburger bezog ich eine sächsische Universität“.17 Diese ironisch gefärbte Selbstoffenbarung berührt freilich nur sehr beiläufig Johnsons folgenreiche Auseinandersetzung mit staatlichem Unrecht; statt, wie von ihm gefordert, die Kampagne gegen die Junge Gemeinde zu rechtfertigen, distanzierte er sich 953 öffentlich von den Machenschaften der Regierung, 57 Barbara Scheuermann indem er detailliert deren Verstoß gegen mehrere Verfassungsartikel nachwies. In seiner Antrittsrede von 977 spricht Johnson fast sybillinisch davon, dass auch die Universität Rostock sozialistisch habe werden sollen, „und wer die Auslegung dieser Verwandlung durch die Behörden einmal verfehlt und dabei des Beistands seiner Kommilitonen entbehrt, geht nach dem zweiten Jahr erst einmal weg.“18 Diese Äußerung ist Selbstverhüllung, stellt eine Erfahrung als abgearbeitet dar, die doch, wie seine Frankfurter Vorlesungen von 979 zeigen, für Johnson und sein Schreiben zentral blieb. Wahrhaftigkeit und Verlässlichkeit sind die Fixpunkte dieser Rede. Sie betreffen das Private – Johnsons Umgang mit Freunden in Leipzig – wie sein Verhältnis zum Staat,19 der ihn schikaniert und von dem er sich dennoch nicht lossagt: „Da mir aber gerade gelegen war an der Natur dieser öffentlichen Sache, dieser res publica und Republik, weiterhin an dem Deutschen und dem Demokratischen dabei, lebte ich weiter im ehemaligen Mecklenburg und im ehemaligen Sachsen“.20 Der Akzent liegt auf dem Epitheton „ehemalig“; es hält die Erinnerung an ein Unrecht wach, das historisch Gewachsenes zerstörte. Wer wahrhaftig und verlässlich sein will, dem sind politische Schlagwörter suspekt. Damit erklärt Johnson seinen Weggang aus der DDR genauso wie nachfolgend seine Distanz zum westdeutschen Feuilleton, durch das er sich verkürzt, zum Teil auch gehässig mit Etikettierungen wie „Dichter der beiden Deutschland“ und „Trojanisches Pferd“ traktiert sieht.21 Die neue Heimat Berlin vorübergehend zu verlassen wird infolgedessen als notwendige Reaktion vorgeführt,22 dieser Vorgang indes zugleich humoristisch gebrochen durch das Wortspiel „sich auf den Leib ziehen/verziehen“ und den parataktischen Anschluss am Ende des Satzes: „Dann zog [trug] mir eine Doppelgeschichte über eine Berliner Liebschaft […] nochmals den Titel auf den Leib, der mich zum Fachmann machte bloß für die deutsche Teilung, und ich verzog mich nach New York.“23 Das letzte Lebensjahrzehnt und damit die Jahre nach dem Aufenthalt in New York skizziert der Redner nur noch mit wenigen Worten. Der Schluss seiner Einlassung liefert eine ungewöhnliche Klimax, die Fazit und Programm zugleich ist. Wenn der Redner sich hier als jemanden definiert, „der hat es mit Flüssen“,24 dann gelangt er endlich im Kern zu jenem „Ich über mich“, das als Überschrift seit dem Abdruck in der „Zeit“ vom 4..977 die wiederholte Veröffentlichung dieser Rede begleitet hat. An dieser Schlusspassage hat Johnson besonders gefeilt, wie ein Blick in die Erstfassung der Rede zeigt. Er ändert 58 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild „dann kam die Nebel von Güstrow“ in memorierendes „durch Güstrow fließt die Nebel“; auf das unspezifisch klingende „Berlin ist bekannt für Havel und Spree“ verzichtet er ganz. Er präzisiert „Peene“ zu „Peene von Anklam“, „nach Rostock“ zu „nach und in Rostock“ und verlebendigt „seit drei Jahren habe ich vor dem Fenster die Themse“ in „seit drei Jahren bedient mich vor dem Fenster die Themse“; die wohlklingende und zugleich irritierende Wendung „ich gedenke auch eines Flusses Hackensack“ fügt er neu hinzu.25 In dem komprimierten Schlussteil seiner Rede zeigt sich der Autor als wort-, stil- und faktenkundiger Rhetor. Auf welches Bild des Autors Uwe Johnson und seines Werdegangs zielt nun diese Rede als ganze? Dem Zuhörer wie dem Leser wird in einem sehr dichten Text vermittelt, dass hier jemand weiß, wer er ist, versteht er doch hinlänglich zu begründen, wer er nicht ist. Was immer Johnson getan hat, im Kontext dieser Selbstdeutung wirkt sein Handeln folgerichtig und schlüssig. Indem er den Heimatbegriff als zentrale Kategorie nutzt, setzt er Zuhörer wie Leser auf die Spur eines ,Menschen von Mecklenburg bis Manhattan‘, der sich zuvörderst als einen Mecklenburger sieht, der vorübergehend indes auch Leipzig, vor allem jedoch Westberlin als Heimat angenommen hat.26 Unlösbar verknüpft mit den Gegenden und Orten, in denen er lebte, ist seine literarische Biographie, auf deren frühe Stationen er sich bezieht, um sein Erzählprogramm zu verdeutlichen: im Blick auf die DDR als einen „Beitrag zu ihrer Wirklichkeit“, insgesamt als ein Angebot seiner „verwandelten Erfahrungen […] zur beliebigen Verwendung durch den Leser“.27 Der Redner zeichnet von sich das Bild eines Mannes, der sich stets streitbar, aber nie streitsüchtig eingemischt hat, wo Wahrheit und Wahrhaftigkeit gefährdet waren. Licht und Schatten verteilt er so, dass der Gegner borniert, er selber – als der Verteidiger einer guten Sache – hingegen besonnen und klug erscheint: „Denn ich war in wissenschaftlichen Instituten belehrt worden über die Bemühungen und die Befugnisse von Dichtern; mir hatte das als eine Warnung gedient.“28 Durch Selbstironie umgeht Johnson dabei die Gefahr, dass solche Einlassungen besserwisserisch oder selbstgerecht klingen könnten. Manche der in dieser Rede gewählten Wendungen mögen den Leser an ähnliche Formulierungen Johnsons in Interviews, Gesprächen oder Vorträgen erinnern; sie gehören unverkennbar zu seiner öffentlichen Selbststilisierung.29 Ungewöhnlich jedoch sind Zugriff und Verknüpfung: das Ernstnehmen der Außensicht auf den Autor, das abwägende Vorstellen und Prüfen der ihm 59 Barbara Scheuermann angetragenen Bezeichnungen als Facetten eines Gesamtbildes. Johnsons Selbstdarstellung wirkt durch den Gestus der Betroffenheit, der hier und da durchscheint, glaubwürdig und anrührend, zum Beispiel in seinen Bemerkungen zu Leipzig („Glauben Sie einem Landsmanne der Sachsen.“) und zur Stadt Westberlin („Nicht nur habe ich sie mir als eine Heimat erworben, ich versuchte auch ihren anderen Bewohnern gut zuzureden bei dem Gebrauch, den sie seit der Einmauerung von ihrer Stadtbahn machten“).30 Bereits in den Anfängen seines Schreibens hat die Außensicht auf seine Person den Autor Uwe Johnson beschäftigt, wie ein früher Text ausweist, in dem er – über ihn in Zeitungen und im Rundfunk verbreitete – Beschreibungen und Urteile anderer präsentiert. Unter dem 29. Februar 960 äußert er gegenüber seinem Verleger, dass ihm die Bitte einer Wochenzeitung, er möge eine Aussage „Über mich selbst“ abliefern, wenig gefallen habe; da er sich einer solchen Aufgabe nicht wiederholt aussetzen wolle, liefere er anliegend – zur Begutachtung durch seinen Verleger – eine „Dauerlösung“. Siegfried Unseld antwortet am 3. März mit dem überschwenglichen Lob „Die physiognomische Zusammenstellung ist brillant.“31 Anders als die Vorstellungsrede vor der Deutschen Akademie wurde jener Text von 960 „Über mich selbst“ freilich keine „Dauerlösung“, weil er Blickwinkel und Wahrnehmungsweise der Beobachter allein durch Auswahl und Kontrast ad absurdum führt, auf eine Auseinandersetzung mit den Urteilen anderer über Johnson jedoch verzichtet.32 Merk-Würdiges über ,Neues zur neuen deutschen Literatur‘ Zwei Jahre nach jener Zusammenstellung von Auszügen aus Zeitungen und Rundfunksendungen hätte Johnson, so er denn seinen Text hätte aktualisieren wollen, über erheblich brisantere Materialien verfügen können. Bis ins Frühjahr 962 hinein war der Johnson-Kesten-Streit mit der sich anschließenden heftigen öffentlichen Auseinandersetzung ein wichtiges kulturpolitisches Thema der Medien.33 Zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften druckten – mit unterschiedlichen Bewertungen – Äußerungen der Beteiligten und Kommentare von Schriftstellern, Publizisten und Politikern. Johnson hat alle Reaktionen aufmerksam verfolgt und noch am 3.4.962 in der „Zeit“ mit einem „Offenen Brief über Offene Briefe. Die Nützlichkeit des Postgeheimnisses“ reagiert.34 Aus einigen jener Artikel zitiert er später in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen. 60 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild Auslöser des Streits war die Rede „Neues zur neuen deutschen Literatur“, die der Schriftsteller und Literaturkritiker Hermann Kesten 96 zunächst während der traditionellen Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt hielt, also kurz nach dem Bau der Berliner Mauer am 3. August jenes Jahres. Diese Rede, die sich auch heute noch wie ein Pamphlet liest, wurde bereits im Herbst 96 von der Presse als „Provokation“ eingeschätzt.35 Das Jahrbuch der Akademie vermerkt in seinem Bericht über die Diskussionen, es habe „an den herausfordernden Thesen Kestens“ gelegen, „daß ihnen die meisten Erwiderungen galten“.36 Zum Stein des Anstoßes wird die Rede jedoch erst in Mailand, wo Kesten sie bei der Vorstellung des jungen Autors Uwe Johnson durch den Verleger Feltrinelli ein weiteres Mal – leicht verändert – hält.37 Den Autor, um den es hier aus Anlass des Erscheinens der Übersetzung von „Mutmassungen über Jakob“ in Italien vorrangig gehen sollte, erwähnt Kesten dabei nur am Rande.38 In seiner Darmstädter Rede liefert Kesten einen Schnelldurchgang durch die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, mit einer eigenwilligen Ausgangsthese („diese neueste Berliner Mauer […] hat eine neue Periode in der deutschen Literatur aufgerichtet“),39 einem Rundumschlag gegen realistische Literatur in Ost und West, die er als „Scheinrealismus“ und „Superformalismus“ diskreditiert, und der abstrusen Schlussfolgerung, dass mit der Zäsur des 3. August 96 „die postfaschistische Periode“ durch „die humanistische Periode“ abgelöst worden sei.40 Den in der Bundesrepublik angeblich vorherrschenden „unmoralischen Ästhetizismus“, den er als „transkontinentales Geschmäcklertum“ verortet,41 sieht Kesten durch die Ereignisse des 3. August geschwächt, wodurch das Ende „der schmerzlichen und peinlichen Epoche der moralischen Indifferenz“ gekommen sei.42 Die wenigen Textproben zeigen einen schlichten Literaturbegriff und ein dichotomisch-manichäisches Verständnis von Literaturgeschichte, sprachliche Übertreibungen und Unzulänglichkeiten in der Begriffswahl, unbelegte Behauptungen und apodiktische Urteile. Der Bericht im Jahrbuch der Akademie von 96 über die Diskussion der Kesten-Rede zitiert ausführlich aus einem Artikel von Karl Korn, der in der FAZ vom 7.0.96 unter der Überschrift „Die Literatur und die Mauer“ ein genaues Bild von den Diskussionsbeiträgen zeichnet und mit der Einschätzung schließt: „So schien denn Kesten ziemlich eingekreist. […] Kesten schien insoweit einzulenken, als er Form, Moral und Humanität der Literatur schließlich nicht mehr als Gegensätze sah.“43 61 Barbara Scheuermann Dass Bert Brecht in Kestens Rede als „Prediger und Diener der Diktatur“ apostrophiert wird,44 führt in Mailand zum Eklat. Angesichts des Tenors seiner Rede konnte Kesten mit der Zustimmung eines literarisch gebildeten Publikums, zumal bei einer Veranstaltung im Hause Feltrinelli, eigentlich nicht rechnen. Er scheint gleichwohl davon durchdrungen gewesen zu sein, dass seine Sicht die allein richtige sei und seine Zuhörer deshalb auch überzeugen werde. Dass die in Darmstadt während der Herbsttagung der Deutschen Akademie erhobenen Einwände von Autoren wie Walter Höllerer und Dolf Sternberger ihn nicht veranlassten, seine Rede in einigen Punkten abzuändern, widerlegt die Vermutung von Karl Korn, Kesten sei in Darmstadt schließlich bis zu einem gewissen Grade zum Einlenken bereit gewesen. In Mailand widerspricht Uwe Johnson Kestens Thesen mit Entschiedenheit; seine Richtigstellung betrifft vor allem den Mauerbau und die Person Bert Brechts. Wenige Tage später erscheinen in der Münchner „Abendzeitung“ und in der Hamburger „Welt“ Berichte Hermann Kestens über die Veranstaltung in Mailand; ihr Verfasser behauptet unter anderem: „Uwe Johnson erklärte nachdrücklich, seine Romane seien völlig unpolitisch. Er sprach mit Verachtung von Moral. […] Übrigens sei die Mauer quer durch Berlin (Ulbrichts Mauer) keineswegs unmoralisch (wie ich behauptet hatte!). […] Die Mauer sei notwendig gewesen.“45 Am 7. November – noch vor Kestens erstem Zeitungsartikel – nimmt Johnson in einem Brief an Siegfried Unseld auf die Vorgänge in Mailand Bezug; ironisch-herablassend geht er auf die Angelegenheit ein und gibt seinem Verleger einen humoristisch ausgestalteten Bericht:46 „Mich wundert, daß Ihr schon wissen solltet von dem Skandal in Milano, Ihr könntet mir mal schreiben, woher. […] Am nächsten Abend kam der Skandal. Herr Kesten hatte eine Rede vorgelegt im Manuskript, die von uns allen einmütig für Geschwätz gehalten wurde, man kann eine grundsätzliche Unkenntnis der deutschen Nachkriegsliteratur auf weniger als 0 Seiten zu verstehen geben. Er wurde um Kürzungen gebeten, beschäftigte sich aber am Nachmittag mit der Anfertigung neuer Passagen. […] Herr Kesten sprach sehr lange in einem Italienisch, das die Einheimischen an die deutsche Besatzungsmacht erinnerte, für das sich zu entschuldigen er nicht für nötig hielt. […] Als er ,servitore‘ sagte zu Brecht, erhoben sich Teile des Publikums und riefen ,buh‘. […] Als er fertig war, stand mein Dolmetscher mit mir auf und wir gaben die Unterschiede meiner Meinung bekannt. Ich 62 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild leugnete, daß dieses mangelhafte Bauwerk [die Mauer; B.S.] ein literarisches Datum sei und äußerte einiges Merkwürdige über die fahrlässige Vermischung von Geschichte und Moral. Zu Brecht sagte ich, er habe einer Diktatur nicht gedient, sondern in einer Diktatur gelebt. Erzählte dann von der Ausweisung aus Amerika, der Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis für die westlichen Besatzungszonen und von dem geschenkten Theater als einem Instrument, ein Lebenswerk in Gestalt zu bringen; erzählte auch zwei Keuner-Geschichten von der Gewalt und vom Überleben und behauptete, Brecht habe uns ein Beispiel des Überlebens gegeben. Dem Publikum gefiel das, dem Kesten gefiel das nicht, aber seine Wortmeldung wurde von Feltrinelli nicht zugelassen.“ „Als er fertig war, stand mein Dolmetscher mit mir auf und wir gaben die Unterschiede meiner Meinung bekannt. […] Dem Publikum gefiel das, dem Kesten gefiel das nicht“. Johnson veranschaulicht hier seinem Verleger die Mailänder Vorgänge als szenisches Geschehen, in welchem ihm selber eine tragende Rolle zufällt, die er selbstbewusst auszufüllen versteht, der Zustimmung des weiteren Mitspielers ,Publikum‘ von Anfang an gewiss. Seine Einschätzung, er habe „einiges Merkwürdige über die fahrlässige Vermischung von Geschichte und Moral“ geäußert, nutzt die Doppelbedeutung von ,merkwürdig‘ – im ursprünglichen Sinne als ,notatione dignus‘ und im heute geläufigen Verständnis als ,auffallend‘, ,verwunderlich‘ –,47 um mit Selbstironie mögliche Kritik abzuwehren. Um solche Feinheiten geht es freilich nicht mehr, als Johnson sich wenig später genötigt sieht, mit dem Tonbandmitschnitt der Mailänder Veranstaltung als Beweismittel gegen Kestens Unterstellungen öffentlich vorzugehen. Seit Ende November 96 berichtet und kommentiert die Presse den Kasus ausführlich; für Kesten und seine Sicht der Vorgänge sind zunächst die Münchener „Abendzeitung“, dann die Hamburger „Welt“ ein Forum, das er für Verunglimpfungen nutzt: „Uwe Johnson will nur als Tonband mit mir sprechen? Das eben war ja mein Vorwurf, daß er in Milano wie ein Tonband klang, sogar wie ein manipuliertes Tonband.“48 Am 5. Dezember unterbricht Johnson wegen der ihn schmähenden Artikel seine Lesereise durch die Bundesrepublik, um auf einer Pressekonferenz des Suhrkamp Verlages Kestens Darstellung der Vorgänge als Lüge zurückzuweisen: „Hermann Kesten hat gelogen. Ich nenne Hermann Kesten einen Lügner.“49 Er begründet und belegt sein Urteil mit dem Tonbandprotokoll der Mailänder Veranstaltung – einem Bezugspunkt und Beweismittel auch seiner späteren Frankfurter Poetik-Vorlesungen.50 63 Barbara Scheuermann Nach dieser Pressekonferenz setzen sich in den folgenden Tagen zahlreiche Zeitungen mit dem Streit, seinen Ursachen und seinen Folgen auseinander. „Wir haben einen Literaturskandal“, konstatiert Joachim Kaiser in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 7.2.96.51 Ein Augenzeugenbericht, abgedruckt in der „Zeit“ vom 8.2., zeichnet ein Bild der Mailänder Veranstaltung, das im Kern jener Beschreibung entspricht, die Johnson seinem Verleger am 7.. brieflich übermittelt hatte.52 Die Gegenüberstellung des Wortlauts der Johnsonschen Äußerungen mit deren entstellender Wiedergabe durch Kesten – gleichfalls in der „Zeit“ vom 8.2. – erlaubt es dem Leser, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Auch die „Welt“ dokumentiert am folgenden Tag, einem Sonnabend, die Vorgänge sehr umfassend: mit Texten von Johnson und Kesten sowie eigenen kritischen Bemerkungen zu Johnsons Stellungnahme vom 5. Dezember.53 Die drei Frankfurter Zeitungen – „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Frankfurter Neue Presse“ und „Frankfurter Rundschau“ – äußern Verständnis für Johnson; die „Frankfurter Rundschau“ deutet den Streit als einen Generationenkonflikt.54 In „Christ und Welt“ befasst sich Barbara Klie mit ersten Reaktionen auf die Auseinandersetzung und kritisiert die dabei zutagetretenden Beurteilungskriterien: „Ergriffenheit vor dem Elend des Vaterlands – ist das ein Fahrschein, der dem Kontrolleur vorgelegt werden muß, und wer den richtigen Tarif nicht kennt, wird aus dem Zug gewiesen?“55 Inzwischen ist es zu Weiterungen auf der politischen Ebene gekommen: In der Bundestagsdebatte vom 6.2.96 fordert der damalige Außenminister Heinrich von Brentano, sich auf Kestens Artikel stützend, dass Uwe Johnson das – ihm bereits zwei Jahre zuvor zuerkannte! – Villa-Massimo-Stipendium entzogen werden solle: „Wir haben die Gewissensfreiheit in Deutschland, das ist selbstverständlich, und Herr Uwe Johnson kann in Deutschland sagen, was er will. Aber er hat keinen Anspruch darauf, von dieser Bundesrepublik als Stipendiat und Sprecher ins Ausland geschickt zu werden.“56 Am 8..962 geht der zuständige Innenminister Hermann Höcherl in einer Fragestunde des Deutschen Bundestages auf die Vorwürfe ein und resümiert als Ergebnis der öffentlichen Diskussion, Johnson habe sich seinerzeit „nicht auf die Seite Ulbrichts gestellt und die Schandmauer nicht als ,gut, vernünftig und sittlich‘ bezeichnet“.57 Das Stipendium wird nicht in Frage gestellt; jedoch bereitet Kestens Berichterstattung Uwe Johnson insofern weiteres Ungemach, 64 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild als die Kenntnis davon auch ins Ausland dringt. Zum Jahresende 96 erhält er einen Brief von Henry Kissinger, in dem dieser sich alarmiert zeigt über das, was er in der „Zeit“ über den Fall gelesen hat:58 „As I understand them, you said the Wall in Berlin was necessary because the East German regime could not maintain itself without it. For this reason, the question of morality did not apply, and that it was not in any case the task of the intellectuals to make moral judgements./If you forgive me, this is like saying that the gas chambers were morally justified because they were the most effective means of exterminating Jews.“ Die Forderung Henry Kissingers, der Intellektuelle müsse eine moralische Instanz sein, ist für Johnson inakzeptabel, sieht er sich doch als Schriftsteller, der lediglich zu beobachten, zu beschreiben, eine Geschichte zu erzählen hat. Auf den hier deutlich werdenden prinzipiellen Gegensatz „zwischen Politischem und Unpolitischem, zwischen Beobachtern und Moralisten“ hebt – in seinen Tagebuchaufzeichnungen zum Fall Johnson-Kesten – auch Peter Härtling ab; als „Tagebuchblätter aus dem vergangenen Jahr“ erscheinen seine Aufzeichnungen 962 in der Februar-Ausgabe des „Monats“. Darin zeichnet er ein genaues Bild von der emotionalen Gespanntheit, in der er – im steten Gedankenaustausch mit Freunden und Bekannten – Berichte in den Zeitungen und Informationen von Augenzeugen verfolgt, die Ereignisse und mögliche Hintergründe reflektiert und sich um ein vorsichtig abwägendes Urteil bemüht:59 „Ich lese eine dpa-Meldung aus Lemgo in Lippe; dort hat Johnson aus seinen Büchern vorgelesen; und er hat gesagt, er besitze ein Tonband von dem Mailänder Abend, mit dem er beweisen könne, daß er nichts von dem gesagt, was Kesten in der Welt geschrieben hat: ,Wenn ich das sagte, wäre ich nicht hier. Er muß alles zurücknehmen. Ich werde da bis zum Ende gehen. Ich lasse mir das nicht nachsagen.‘ Ein Tonband – hält es auch die Mißverständnisse fest und macht es deutlich, wie Mißverständnisse entstehen können? Ein Tonband bedürfte eines Kommentars. Ich frage mich, ob Kesten nicht Recht hat mit der literarischen Selbstbesinnung vor der Mauer […].“ „Johnson habe, sagt B., den Eindruck eines Heiligen gemacht, der von Pfeilen getroffen worden sei. Er hat das Tonband für sich reden lassen, selber geredet und unter anderem Hermann Kesten einen Lügner genannt. In Lemgo noch hatte er sich auf subtile Unterscheidungen verlassen: dort hatte er Kestens Attacken als ,Akt des Mißverständnisses und des Mißtrauens‘ bezeichnet, und war, meine ich, dem ohnehin ärgerlichen Grund nahegekommen. Was ist das für ein Wort: Lügner? Ich bin froh, dennoch dem Nachmittag in Frankfurt nicht beigewohnt zu haben. Im allgemeinen, vor allem unter den Jungen, 65 Barbara Scheuermann herrscht Zufriedenheit. Johnson ist im Reinen. Er wohl – wir jedoch, die wir in Reflexionen daran beteiligt sind?“ Härtling bewertet Johnsons Urteil über Kesten als problematische Etikettierung, die ausblendet, dass sowohl über die eigentlichen Ursachen der Auseinandersetzung als auch über wünschenswerte Formen literarisch-politischen Streitens erst noch zu reden sei. Dass Johnson einen anderen Schriftsteller als „Lügner“ apostrophiert, rührt für Härtling an Grundsätzliches: an das Selbstverständnis der literarischen Zunft. Zugleich deutet er an, dass solche Etikettierung wirkungsmächtig sein könnte, indem sie dem Gescholtenen die Rolle des Widersachers, ja Feindes anträgt – die jener zukünftig dann auch tatsächlich spielt. Fern solcher Differenzierungen hält Wolfdietrich Schnurre am 2.2.962 im RIAS Berlin einen Vortrag unter dem Titel „Der Schrifsteller und die Mauer“, in dem er Johnson als „inhuman und einen schlecht getarnten Marxisten“ diskreditiert.60 Die literarische Zunft wie das Feuilleton ist gespalten; und als ,Literaturskandal‘ fordert der Streit seinen Tribut. Schadenfroh lässt sich dazwischen eine Stimme aus Ostberlin hören: „Soll man sich vielleicht von einem grünen Jungen aus dem roten Osten auf seine schwarz-braune Weste spucken lassen?“ Im „Neuen Deutschland“ sekundiert Hermann Kant, Uwe Johnson hämisch in den Blick nehmend: „Er ist enttäuscht, der Gute: er hat immer gedacht, die ,Welt‘ und der ,Merkur‘ und sicher auch ,Bild‘ seien moralische Anstalten.“61 Noch Ende 963 referiert ein Artikel des Literaturkritikers Günter Zehm – erschienen in der „Welt“ anlässlich der Rede von H.M. Enzensberger als BüchnerPreisträger – neuerliche Verunglimpfungen Johnsons durch Kesten: „Hermann Kesten meinte in einem Hamburger Vortrag, die Rede von Enzensberger basiere auf einem überheblichen, unangemessenen ,Chauvinismus‘ und stelle ihren Autor in eine Reihe mit dem ,unbegabten Nationalisten und Nationalbolschewisten Uwe Johnson‘.“ 62 Solche Schmähungen bestätigen Peter Härtlings Eindruck, dass es in dieser Auseinandersetzung um mehr gehe als um eine Fehlleistung des Gedächtnisses. Kestens denunziatorische Zuschreibungen an Johnson zielen darauf, diesen als lediglich in der Wolle gefärbten DDR-Adepten zu treffen, für dessen Bild in der Öffentlichkeit literarische Qualitäten völlig ohne Belang seien. Als „Nationalbolschewist“ diffamiert, läuft Johnson Gefahr, dass sein literarisches Werk künftig missdeutet und ignoriert wird. 66 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild Von Beginn des Streits an ist Johnsons Verleger um Schadensbegrenzung bemüht, wie briefliche Anmerkungen Siegfried Unselds über die „Affaire Kesten“ verraten.63 Unter dem 30. Dezember 962 erinnert er – gekränkt darüber, dass Johnson in verschiedenen Medien den Anteil, den der Verlag und insbesondere Unseld an seinem literarischen Erfolg hatten, „auf die Kommatafuchserei“ reduziert habe – diesen seinen Autor an die Erfahrung von Mailand, die belege: „in der Öffentlichkeit kommen eben Nuancen nicht an […], da zählt nicht das Gemeinte, sondern das einzelne Wort, das auch für andere Zusammenhänge zu brauchen ist“.64 Indem er „das Gemeinte“, das die Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes voraussetzt, gegen „das einzelne Wort, das auch für andere Zusammenhänge zu brauchen ist“, abgrenzt, trifft Unseld den entscheidenden Punkt vermutlich richtig: In der aufgeregten Atmosphäre nach dem Bau der Berliner Mauer ist Eindeutigkeit erwünscht, sind Nuancierungen gefährlich. Dass Johnson in Mailand statt eines Bekenntnisses zur Bundesrepublik eine Reihe – leicht misszuverstehender – Nuancierungen liefert, ist indes wohl weniger der Situation geschuldet, in der er sich extemporierend zu diffizilen Fragen äußern muss, als vielmehr seinen persönlichen Erfahrungen in den beiden deutschen Staaten und seinem Geschichtsbild. Kühl hatte Johnson wenige Wochen vor dem Mauerbau bilanziert:65 „Die Grenze in einer Stadt ist einmalig, der unerhörte Anblick verleitet dazu ihn hinzunehmen wie etwas bereits Erklärtes. Er zeigt aber lediglich die gegenwärtige Phase eines Zustands, der veränderlich ist und eine Geschichte von fünfzehn oder zweiundzwanzig Jahren hat; und seine Bezeichnung ist irreführend. Es gibt nicht Berlin. Es sind zwei Städte Berlin […].“ Wer eine solch nüchtern-rationale Bestandsaufnahme liefert, kann jene etwa 200.000 Flüchtlinge aus der DDR und Ostberlin, die 96 bis zum 3. August als Antragsteller für das Notaufnahmeverfahren registriert wurden,66 durchaus als Verlust für die DDR einschätzen („denn sie [die ostdeutschen Behörden; B.S.] wollten weiterleben“) und deren Begründung für den Bau der Mauer als Teil einer allseits bekannten Strategie unaufgeregt und sachlich zur Kenntnis nehmen:67 „Die ostdeutschen Kommunisten haben, als sie diese Mauer zogen, nicht die Absicht gehabt, unmoralisch zu handeln, sondern sie befanden sich in der Notwehr. Ihre Maßnahmen mussten, da sie den Sozialismus gewaltsam und nicht mit der Zustimmung der Bevölkerung einführen konnten, Unpopularität erwecken.“ 67 Barbara Scheuermann Johnsons Trennung von Geschichte und Moral wirkt auf zeitgenössische Leser vor allem deshalb so provozierend, weil sie die offizielle Begründung der DDR für den Mauerbau, die angebliche Bedrohung durch den Militarismus und Revanchismus der Bundesrepublik, völlig übergeht und das in der DDR begangene systembedingte Unrecht fast ganz außer Betracht lässt.68 In dem Entwurf zu einem Brief an Johnson formuliert Peter Härtling in seinen Tagebuchblättern:69 „Sie haben mich aufgebracht. Denn Sie halten etwas auseinander, das zwar auseinandergehalten werden kann, doch eben von der Geschichte ununterbrochen zusammengedrängt und vermengt wird. […] Wahrscheinlich wollten Sie sagen: Marx, ja Hegel, auch Lenin, Lukacz und andere haben nichts mit Ulbricht und Beria zu tun. Ich halte das für einen erstaunlichen Gedankensprung.“ Für kritische Reaktionen in der westdeutschen Öffentlichkeit hat Johnson wenig Verständnis; er beharrt auf dem Wortlaut des Gesagten („Diese Mauer ist nur ein Ereignis, ein wirkliches Ereignis, das die Menschenrechte verletzt, wie sie in einer westlichen Konvention festgelegt sind, die von dem Ostblock nicht anerkannt wird.“). Er mag auch nicht konzedieren, dass seine Worte immerhin missverständlich geklungen haben könnten. Vielmehr bleibt er bei seiner in Mailand getroffenen „Unterscheidung der Begriffe Moral und Geschichte“,70 obgleich doch auch der von ihm verehrte Ernst Bloch, der sich im August 96 zufällig zu einer Vortragsreise in Westdeutschland aufhält, deutliche, klare Worte über die Mauer auch unter moralischem Aspekt findet. An den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften in Berlin schreibt Bloch – noch am 20.4.96 hatte er im „Neuen Deutschland“ ein Bekenntnis zur DDR abgelegt („auf deren Boden ich stehe, mit deren humanistischem Anliegen ich übereinstimme“)! –, dass er die gegen ihn gerichteten Machenschaften des ostdeutschen Staates, die zu seiner Isolierung und Kaltstellung geführt hätten, beklage und daraus nun seine Konsequenzen ziehe:71 „Nach den Ereignissen vom 3. August, die erwarten lassen, daß für selbständig Denkende überhaupt kein Lebens- und Wirkungsraum mehr bleibt, bin ich nicht mehr gewillt, meine Arbeit und mich selber unwürdigen Verhältnissen und der Bedrohung, die sie allein aufrechterhalten, auszusetzen. Mit meinen 76 Jahren habe ich mich entschieden, nicht nach Leipzig zurückzukehren.“ Johnson freilich spricht zwar in seiner Erklärung auf der Pressekonferenz von der „elenden Mauer, die auch ihn einsperrt“, einer „jämmerlichen Pfuscharbeit“,72 seine Mailänder Bemerkung zum Mauerbau relativiert er damit aber keineswegs. Kestens Anwürfe legen ihn in gewisser Weise auf eine Position fest.73 68 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild Johnsons Fähigkeit zu Perspektivenwechsel und Empathie korrespondiert einer Empfindlichkeit, die ihm Verständigung unter den obwaltenden Umständen als routinierten Relativismus und kleinmütige Scheinlösung verdächtig macht.74 Hellhörig registriert Johnson jede Verlautbarung der anderen Seite; während seiner vom 4. bis zum 5..963 stattfindenden Lesereise nach England nimmt er am 9.. den bereits erwähnten Artikel von Günter Zehm in der „Welt“ zur Kenntnis und wendet sich sofort brieflich an Siegfried Unseld mit der Frage: „Muss ich noch lange den wohlerzogenen Jüngeren spielen, nur weil Herr Kesten alt ist und (wie ich vermute) ein Jude?“75 Johnson nimmt den Streit, die Reaktion der Öffentlichkeit und die aus beiden erwachsenden Konsequenzen als tiefgreifende Kränkung wahr, wie der von ihm in „Begleitumstände“ gewählte Vergleich mit der Hexenjagd gegen McCarthy in den USA verrät; noch 979 sieht er sich im Rückblick als Opfer von „Senator Mc Kesten“ und dessen „Kampagne in seinen Leibblättern“.76 Richtigstellungen – Biographie, Geschichte und Moral Zum Jahr 97, in dem Uwe Johnson Büchner-Preisträger war, führt der vom Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 978 herausgegebene Ausstellungskatalog zum Büchner-Preis und seinen Trägern als ein wichtiges Ereignis der Johnsonschen Vita für 96 auf: „Gespräche über den Ost-Berliner Mauerbau auf einem Mailänder Diskussionsabend bei dem italienischen Verleger Feltrinelli; Widerspruch Hermann Kestens; Diskussion bis in den Bundestag – Heinrich von Brentano fordert die Rücknahme des von der Bundesrepublik 959 gewährten Villa MassimoStipendiums.“77 Knapp zehn Jahre später – drei Jahre nach Johnsons Tod – wird der Passus „Widerspruch Hermann Kestens“ in der überarbeiteten und aktualisierten Fassung des Katalogs abgeändert in: „Streit mit Hermann Kesten über dessen Interpretation der Äußerungen Johnsons zur Teilung Deutschlands.“78 Für 96 vermerkt der Katalog von 978 zum Büchner-Preisträger von 974, Hermann Kesten, lapidar: „Streit zwischen Kesten und Uwe Johnson über Johnsons Äußerungen zur deutschen Teilung und über die politische Einstellung zur DDR.“79 Diese Formulierung wird in die Dokumentation von 987 mit einer geringfügigen Änderung – „dessen Äußerungen“ statt „Johnsons Äußerungen“ – übernommen.80 69 Barbara Scheuermann Erst im Jahrbuch 984 reagiert die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung auf Johnsons in seinen „Frankfurter Vorlesungen“ 979 vorgetragene Darstellung der Vorgänge, die zu seinem Bruch mit der Akademie geführt hatten. Nach Uwe Johnsons plötzlichem Tod übernimmt das Jahrbuch einen freundschaftlichen Nachruf von Wolfgang Koeppen, den dieser am 22.3.984 im „Stern“ veröffentlicht hatte;81 die Literaturangabe wird um eine „Anmerkung in eigener Sache“ ergänzt:82 „Eine Anmerkung in eigener Sache zu Uwe Johnson nach dessen frühem Tod. Uwe Johnson wurde am 6. Mai 977 zum korrespondierenden Mitglied der Akademie gewählt, und er blieb es, auch wenn er sich persönlich verunglimpft glaubte wie im Falle des – noch heute begehrten – Kataloges, der 978 aus Anlaß der großen Ausstellung ,Der Georg-Büchner-Preis 95-978‘ erschien. Johnson nahm Anstoß an bestimmten, ihn betreffenden Formulierungen des Katalogs, für den das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, welches auch den größten Teil der Ausstellung besorgte, die Verantwortung trug. Johnson vermutete – ganz zu Unrecht; aber er wollte es nicht glauben – ,Machenschaften‘ der Deutschen Akademie und sprach in seinen ,Frankfurter Vorlesungen‘ im Jahr 979 (erschienen 980 unter dem Titel ,Begleitumstände‘) von der Möglichkeit des Austritts. Die Deutsche Akademie hätte einen solchen Austritt sehr bedauert, und tatsächlich ist er in der gebührenden Form nie erfolgt. Daran zu erinnern, scheint nötig, seitdem durch die Notate der ,Frankfurter Vorlesungen‘ bisweilen der Eindruck entstanden ist, Johnson habe seinen Austritt aus der Deutschen Akademie erklärt. Und Freunde berichten, er sei am Ende selbst dieser Meinung gewesen.“ In Übereinstimmung mit dieser Version wurde Uwe Johnson bis zu seinem Tode als Mitglied geführt, erschien sein Name in den Jahrbüchern der Akademie zwischen 977 und 983 sowohl in den Mitgliederverzeichnissen als auch unter den Rubriken „Mitteilungen“, „Ehrungen und Auszeichnungen“ und „Bibliographie“.83 Erst die beiden Publikationen von 999 nennen Johnson als korrespondierendes Mitglied nur für den Zeitraum von 977 bis 979.84 Die sprachlich ungelenke „Anmerkung in eigener Sache“ ist gewiss anfechtbar, weil jener Ausstellungskatalog sehr wohl den Eindruck erweckt, das Deutsche Literaturarchiv Marbach und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung seien – als Mitglieder des Arbeitskreises selbständiger kultureller Institutionen e.V. – gemeinsam und gleichrangig für Ausstellung und Katalog verantwortlich gewesen. Die Feststellung, dass Johnson „sich persönlich verunglimpft glaubte wie im Falle des – noch heute begehrten – Kataloges“, suggeriert, dass hier etwas zu verallgemeinern sei, und sucht mit einer Abschweifung die 70 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild Akademie zu entlasten. In ihren Veröffentlichungen von 999 hätte diese die Gelegenheit nutzen sollen, mit einer neuerlichen „Anmerkung in eigener Sache“ die Darstellung von 984 zu korrigieren – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den politischen Diskurs von 96/62 über die Mauer und die politische Verantwortung des Schriftstellers. Freilich zeigt Johnsons breite Behandlung der „Kesten-Affaire“ im 4. Kapitel der „Begleitumstände“ unter der Überschrift „Freiberuflich, 2. Teil“ den Autor eher streitsüchtig denn streitbar. Johnson verbindet hier berechtigten Unmut mit verletzender Ironie („Vertrauend auf die bewundernswerte Sorgfalt mit Fakten, die der Präsident Herr de Mendelssohn in seinen Arbeiten an den Tag legt, hatte ich erwartet, dass die Akademie den unter ihrer Verantwortung verfälschten Katalog aus dem Verkehr zieht“).85 Weil seinen Erwartungen nicht entsprochen wird, nimmt er an, dass „eine der Richtlinien für den Umgang mit der Wahrheit in der Akademie für Sprache und Dichtung zu Darmstadt der Umstand ist, dass die Herren de Mendelssohn und Kesten einander schon etwas länger kennen“ – eine Vermutung, die eher den Charakter einer Unterstellung hat.86 Unfair ist auch Johnsons Kommentar, an der Formulierung des Mailänder Vorfalls und seiner Folgen in Kestens Vita falle „bescheiden auf, dass dieser Mensch nach siebzehn Jahren seine Fälschungen feierte als ein biographisches Datum von Nennenswert“.87 Genauso wenig, wie Johnson für die Formulierung des das Jahr 96 betreffenden Eintrags in seinem eigenen Lebenslauf verantwortlich ist, ist es Kesten für die von Johnson als Verunglimpfung aufgefasste Entsprechung. Dass Johnson der Akademie „den unter ihrer Verantwortung verfälschten Katalog“ als „irreführend“ vorhält und von ihr erwartet, sie möge ihn „aus dem Verkehr“ ziehen, dass er die pragmatische Lösung, einen Zettel mit einer von ihm zu formulierenden Korrektur in den Katalog zu stecken, als völlig ungenügend zurückweist und mit der Allusion auf Kleists berühmten Selbsthelfer Michael Kohlhaas schließt – „Unter diesen Umständen werde ich mir selber helfen müssen“ –,88 zeigt das ganze Ausmaß der Kränkung, die ihn nun über fast zwei Jahrzehnte hinweg erfüllt hat. Johnsons Verleger Siegfried Unseld sieht kritisch, wie sein Autor in den Frankfurter Vorlesungen mit der Kesten-Affäre umgeht; aus Anlass einer in der F.A.Z. erschienenen Rezension gibt er Johnson vorsichtig zu verstehen, dass er dem Kritiker Günter Blöcker in einem seiner Urteile – „Über-Dokumentation des Falles Hermann Kesten“ – vielleicht zustimmen könne.89 Auf Johnsons mit der Publikation der „Begleitumstände“ öffentlich gemachte Forderung, dass 71 Barbara Scheuermann der inkriminierte Katalog hätte zurückgezogen werden sollen, geht Unseld brieflich nicht ein; eine „Verwandlung des Buches in Altpapier“, 90 wie sie Johnson vorgeschwebt haben mag, dürfte ihm als Verleger – in Anbetracht der finanziellen Folgen – absurd erschienen sein. Knapp zwanzig Jahre trennen Johnson von der durch Kesten erfahrenen Kränkung,91 als er sich an die Aufarbeitung der Affäre macht – eine Aufarbeitung, die unter dem Anspruch von Wahrheit und Wahrhaftigkeit begonnen wird und in kleinliche Rechthaberei mündet. Der zeitliche Abstand zum Streitfall ändert für Johnson nichts an seiner Wahrnehmung und Bewertung der Vorgänge; der Gedanke, in zeitgeschichtlicher Perspektive relativierten sich möglicherweise sowohl Kestens Polemik als auch seine eigenen Befunde, ist ihm fremd. Wer wie Peter de Mendelssohn Verantwortung für ein Ganzes trägt, muss, so erwartet es Johnson, dieser seiner Verantwortung in jedem Detail gerecht werden. ScheinKompromisse und lediglich prozedurale Problemlösungen lehnt er ab; das für richtig Erkannte nur halbherzig zu verfolgen wäre unaufrichtig und moralisch verwerflich. Johnson ist überzeugt davon, selber entsprechend dieser Maxime zu entscheiden und zu handeln.92 Ausweis dessen ist seine Vorstellungsrede vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung von 977, mit der er versucht, falsche Bilder von der eigenen Biographie fernzuhalten und einer gebildeten Öffentlichkeit jene Maxime als Mittelpunkt des eigenen Lebens vorzuführen. Dieses neue Mitglied der Akademie ist, in der Selbstverhüllung sich doch zugleich offenbarend, Moralist, unter keinen Umständen bereit, eine Ungenauigkeit in der Wortwahl durchgehen zu lassen, weil dies einer Lüge gleichkäme. Die in Johnsons Antrittsrede vollzogene abwägende Klärung von Zuschreibungen unterschiedlichster Provenienz ist das distanziert und differenziert ausgearbeitete Pendant zu des Autors scharfen Reaktionen auf die Beschädigung seines Selbstbildes durch Kesten und deren Fortschreibung im Ausstellungskatalog zum Büchner-Preis. Johnsons Briefwechsel sowohl mit Max Frisch als auch mit Siegfried Unseld ist zu entnehmen, dass es der Kränkungen viele gab, gegen die Johnson glaubte sich zur Wehr setzen zu müssen. Wenn er Unseld detailliert auflistet, in welchen Punkten jener Absprachen nicht eingehalten habe und – zum wiederholten Male – wortbrüchig geworden sei, argumentiert er immer auch prinzipiell.93 Ulrich Fries vermutet, dass Max Frisch, indem er Uwe und Elisabeth Johnson Mitte der 70er Jahre einerseits großzügig finanziell unterstützt, sie aber andererseits zugleich für seine eigenen Probleme über Gebühr beansprucht habe, indirekt 72 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild Auslöser der Ehekrise der Johnsons und damit auch der Schreibprobleme des Verfassers der „Jahrestage“ geworden sei.94 Nach allem wird man Johnsons Verhalten in jener Ehekrise wohl in erster Linie als extreme Reaktion eines extrem Verletzlichen deuten müssen, deren Muster einer bestimmten Disposition entspringt, die auch in anderen Situationen und gegenüber anderen Menschen zu weitreichenden Missverständnissen und unüberbrückbarer Entfremdung geführt hat.95 Auf äußerst schmerzliche Weise ist die Johnsonsche Ehe – in ihrem Beginn wie in ihrem Scheitern – zudem mit ,der deutschen Frage‘ verknüpft, ein Umstand, der den gelassenen Umgang mit der eigenen Vergangenheit, sei diese nun privat oder öffentlich, zusätzlich erschwert haben wird.96 Auf jene niederdeutsche Formel des Vergessens und Vergebens – „Ick vegæt di dat“ –,97 mit der Johnson seinen Romanfiguren gestattet, Kränkendes und Belastendes zu verarbeiten, vermag er für sich selber offensichtlich nicht zurückzugreifen. Vielmehr lässt ihn eine einmal erfahrene Kränkung zeitlebens nicht mehr los.98 Dies zeigt exemplarisch seine Reaktion auf den Hinweis aus dem Ausstellungskatalog zum Büchner-Preis, in deren Vollzug eine alte, nicht aufgearbeitete Kränkung Raum gibt für neuerliche Verletzungen, eigene wie anderen zugefügte. Mit der Allusion auf „Michael Kohlhaas“ überzeichnet Johnson den zugrunde liegenden Sachverhalt, und er konstruiert einen Begründungszusammenhang, durch den er Gefahr läuft, nun selber einen Dritten, Peter de Mendelssohn, zu kränken und zu verletzen. Auch wenn Johnson sich den Anschein gibt, als halte er ein Plädoyer für Wahrheit und Wahrhaftigkeit, gelingt es ihm hier – anders als in seiner Vorstellungsrede vor der Deutschen Akademie – kaum, Distanz zu wahren und ein abwägendes, gerechtes Urteil zu fällen. Wie anders klingt da der Rat, den Johnson unter dem 23. März 974 seinem Verleger Unseld erteilt, dessen Verhältnis zu Max Frisch betreffend:99 „Wenn du ihm einen Zwischenfall nicht vergeben kannst von einer Sorte, wie du sie Martin [Walser; B.S.] auf das vielfältigste nachgesehen hast am Ende, so muss ich da eher eine Verkrampfung erkennen als Souveränität. […] ich denke da vornehmlich an dich und dass als Schmoll-Ecke erscheint, was ich dir gerne glauben will als echte Verletzung. Halt dir grade, Mensch!“ Die hier angemahnte Souveränität ist es, die man Johnson bei der Aufarbeitung der „Kesten-Affaire“ – einer „echte[n] Verletzung“ für einen Autor, dem Wahrheit nicht „Schietkråm“ war – gewünscht hätte.100 73 Barbara Scheuermann Anmerkungen 1 Vgl. Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 992 (edition surhkamp 820, NF 820), S. 206ff. [= BU]. – Johnson erweckt darin den Eindruck, er habe seinen Austritt unter dem 28. Mai 979 schriftlich erklärt (BU 24). Ein entsprechendes Schreiben ist jedoch weder im Uwe-Johnson-Archiv noch in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung auffindbar; laut brieflicher Auskunft von Herrn Michael Assmann, Deutsche Akademie, ist Johnson der Auffassung gewesen, dass mit der Einsendung eines Exemplars seiner Frankfurter Vorlesungen an die Akademie sein Austritt wirksam geworden sei – was zu durchschauen erst ein späterer Hinweis Siegfried Unselds ermöglichte. – Ich danke Frau Monika Gerhardt vom Uwe-Johnson-Archiv, Frankfurt/M., für hilfreiche Recherchen. – Der vorliegende Aufsatz folgt einem Vortrag, den die Verfasserin auf einer von Jürgen Grambow geleiteten Tagung der Ostsee-Akademie Travemünde über Uwe Johnson (9.-. März 200) gehalten hat. 2 Mit zwei stattlichen, im Göttinger Wallstein Verlag erschienenen Sammelbänden erinnerte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung im Jahr 999 an ihr fünfzigjähriges Bestehen: Wie sie sich selber sehen. Antrittsreden der Mitglieder vor dem Kollegium der Deutschen Akademie. Hrsg. v. Michael Assmann. Göttingen: Wallstein, 999, 495 S.; Zwischen Kritik und Zuversicht. 50 Jahre Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Hrsg. v. Michael Assmann und Herbert Heckmann. Göttingen: Wallstein, 999, 477 S. – Die Veröffentlichung der beiden Bände steht unter dem Anspruch, Leistungen der Akademie und ihrer Mitglieder zu dokumentieren sowie die bei Jubiläen gebotene Bestandsaufnahme mit einer Selbstvergewisserung und kritischer Reflexion zukünftiger Aufgaben zu verknüpfen. – Johnsons Antrittsrede wird hier, da sie zu anderen Reden aus jenem Band in Beziehung gesetzt wird, zitiert nach: „Wie sie sich selber sehen“, S. 63-68. 3 Uwe Johnson: Ich über mich. Vorstellung bei der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. In: „Die Zeit“, 32. Jg., Nr. 46 vom 4..977, S. 46, mit zwei Fotos zur Illustration: Johnson vor Regalen mit Büchern sitzend, mit nach vorn gestreckten Beinen, die Füße in Sandalen (Kommentierung: „Ein Pommer, wie er in Büchern steht: Uwe Johnson“ – vgl. Die Katze Erinnerung. Uwe Johnson. Eine Chronik in Briefen und Bildern. Zusammengestellt von Eberhard Fahlke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 994, S. 4), und Johnson in Lederjacke mit hochgestelltem Kragen, flacher Schirmmütze sowie der obligatorischen Pfeife, die Hände am Revers, Brustbild eines bullig wirkenden Autors (Kommentierung: „Über die Grenze geschickt als Trojanisches Pferd: Uwe Johnson“ – vgl. ähnlich in: „Die Katze Erinnerung“, S. 208). – Die Rede sodann in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung [= Jb. Ak.]. Darmstadt. 977, S. 54-59; ferner Nachdruck in: Uwe Johnson. Hrsg. v. Rainer Gerlach und Matthias Richter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 984, S. 6-2, und in: Über Uwe Johnson. Hrsg. v. Raimund Fellinger. Frankfurt/M.: Suhrkamp 992, S. 74 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild 372-376, sowie in: Wohin ich in Wahrheit gehöre. Ein Uwe-Johnson-Lesebuch. Hrsg. v. Siegfried Unseld. Frankfurt/M.: Suhrkamp 994, 39 S.; S. 9-3. – Auf Uwe Johnsons Antrittsrede und die darin getroffenen Unterscheidungen nimmt – wenngleich nicht explizit – Bezug Berndt Seite in seiner „Festrede zur Verleihung des Uwe-JohnsonPreises 997 an Marcel Beyer“. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum 7 (998), S. 249-252. 4 Vgl. z.B. Günter Kunert, der seiner Rede den Titel gab „Über die Schwierigkeit der Selbstrepräsentation“, in: „Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 232-234; ferner Werner Betz (S. 45), Karl Dedecius (S. 54), Jurek Becker (S. 257), Fritz Stern (S. 35), Durs Grünbein (S. 424), Peter Gülke (S. 440) und Robert Schindel (S. 443). 5 „Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 63. – Eine ähnliche Sicht auch in Johnsons Rede aus Anlass der Verleihung des Büchner-Preises 97: Er dankt „dem Präsidium der Akademie für Sprache und Dichtung: für ihre Absicht, den Verfasser durch den Namen Georg Büchners zu verpflichten“ (Büchner-Preis-Reden 95-97. Mit einem Vorwort von Ernst Johann. Stuttgart: Reclam 972, 248 S.; S. 240). – Andere Redner aus dem Band „Wie sie sich selber sehen“ statten zunächst ihren Dank ab (a.a.O., S. 7, 4, 267, 299, 308, 464). 6 Vgl. Pavel Kohout (a.a.O., S. 303), der einleitend darauf abhebt: „Die strenge Regel dieses Hauses, sich in fünf Minuten vorzustellen, zwingt auch mich, meinen Lebenslauf ein bißchen zu vereinfachen“. 7 A.a.O., S. 64. – Gewiss ist bei diesem Einstieg auch Ironie im Spiel. Johnsons Vorstellungsrede ist der ars bene dicendi im Sinne des genus demonstrativum zuzurechnen; der Hauptteil liefert eine Verbindung von narratio und refutatio. 8 A.a.O., S. 68. – Eingriff in das Zitat: Falsch abgeschriebenes „Eide“ wurde in „Elde“ korrigiert. 9 „Kein Flüchtling“ war in der Erstfassung der Rede nicht in Anführungsstriche gesetzt (vgl. Vita-Mappe im Uwe Johnson-Archiv, Frankfurt/M., aus der hier mit freundlicher Erlaubnis seines Leiters, Herrn Dr. Eberhard Fahlke, zitiert wird; die Mappe enthält ein handschriftliches Exemplar und eine getippte Version der Rede). – Johnsons eigentliches Anliegen verrät die zunächst gewählte Formulierung „Besprechung der Ansichten“, die er in „Vorstellung der Ansichten“ abändert. 10 „Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 64 u. 65. 11 Beides wird historisch unterfüttert durch Hinweise auf die nationalsozialistische Obrigkeit und auf Auswirkungen von Maßnahmen der Sowjetischen Militär-Administration und später der DDR auf das Land Mecklenburg. 12 „Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 64. – Die Schlusswendung „des Umgangs mit den Tieren auf diesem Boden nicht zu vergessen“ ist nachträgliche Ergänzung (vgl. Vita-Mappe). – Ein Vergleich der handschriftlichen Erstfassung mit der getippten Version zeigt, dass Johnson bei der Überarbeitung verknappt, präzisiert und rheto75 Barbara Scheuermann risch feilt (so wird „als Kind schlicht vermietet werden […] in landwirtschaftliche Arbeit drei Wochen auf fremdem Acker“ zu „als Kind schlicht vermietet werden […] in drei Wochen Arbeit auf fremdem Acker“ verkürzt, ein Satz über die erste Liebe gestrichen, jedoch für den politischen Werdegang Wichtiges hinzugefügt – „und im sechzehnten mag ich begriffen haben, wie ich zu antworten wünschte auf die Ansinnen der Leute und Behörden, mit denen ich befaßt war“ –, durch eine Wortumstellung – „Viel spricht nun dafür“ zu „Viel nun spricht dafür“, „Meine Mutter hätte siedeln können“ zu „Siedeln hätte meine Mutter können“ – rhythmischer Wohlklang bzw. emphatische Betonung erreicht). 13 Dieser Akzentsetzung korrespondiert eine wichtige Änderung im folgenden Absatz (a.a.O., S. 65): für den neuen Passus über die John-Brinckman-Schule und das mecklenburgische Platt verzichtet Johnson auf ursprünglich vorgesehene Hinweise zu Güstrow als „Klein-Paris“ (vgl. Vita-Mappe). – Zu dem angeblich schwedischen – in Wirklichkeit aber mecklenburgischen – Großvater Uwe Johnsons vgl. die gründliche Recherche von Rainer Paasch-Beeck: Versuch, einen Großvater zu finden. Uwe Johnsons familiäre Wurzeln in Mecklenburg. In: Risse. Zeitschrift für Literatur in Mecklenburg und Vorpommern. Sonderheft (Versuche. Uwe Johnson-Tage 999). Rostock: Literaturhaus Kuhtor 999, S. 20-38. 14 Die Arbeit seiner Mutter schildert der Redner in einem plastisch ausgeführten Trikolon („Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 65). Indem er an die Stelle der zunächst gewählten Berufsbezeichnungen (sie „war Uniformschneiderin für die Rote Armee, Schneiderin für Volkseigene Kleiderwerke, Schaffnerin in Personenzügen“) prägnante Tätigkeitsbeschreibungen setzt („Meine Mutter ging Uniformen schneidern für die Rote Armee, sie nahm Arbeit in den Volkseigenen Kleiderwerken der Stadt, sie kontrollierte Fahrkarten in Personenzügen“), veranschaulicht er Umfang und Unermüdlichkeit ihres Arbeitseinsatzes (vgl. Vita-Mappe). 15 A.a.O., S. 65. 16 Darauf verweist auch die nachträglich – mit Bezug auf die Anfang 947 erfolgte Tilgung Vorpommerns aus dem Ländernamen – eingefügte Akzentuierung „und wir waren endgültig von auswärts“. Die Wendung „wir hatten keine feste Statt in Mecklenburg“ spielt an auf Lk 2,7 („sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“), lässt mithin das Schicksal der Heiligen Familie aufscheinen; die Allusion auf Lk 2,3 („Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt“) in Johnsons Hinweis auf eine folgenreiche Entscheidung seiner Mutter – „sie ging in die Stadt Güstrow“ – verstärkt diese Sicht (a.a.O., S. 65). 17 A.a.O., S. 65. 18 In der handschriftlichen Erstfassung äußert Johnson sich weniger distanziert: „denn in Mecklenburg hatte ich in einer Überprüfung durch die Behörden, milde gesagt, etwas Beistand entbehrt.“ (vgl. Vita-Mappe) – Vgl. dazu auch BU 57ff. 76 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild 19 Er könne, so Johnson, von Leipzig sprechen als „,der Stadt, die unsere Jugend war‘“ („Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 66); das Zitat wird deutlicher in der Erstfassung: „wie jener Freund Ernst Rowohlts als ,der Stadt, die unsere Jugend war‘“ (vgl. Vita-Mappe). 20 A.a.O., S. 66. – Der Kausalsatz wurde nachträglich eingefügt (vgl. Vita-Mappe). 21 Johnson erklärt dies damit, dass er Personen der DDR auch „in normalen, ja lebenswerten Umständen gezeigt“ habe (a.a.O., S. 67), was damals in Westdeutschland unerwünscht gewesen sei; zunächst hatte er von „normalen, ja angenehmen Situationen“ gesprochen (vgl. Vita-Mappe). – Zu „Dichter beider Deutschland“ vgl. Uwe Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Hrsg. v. Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger. Frankfurt/M.: Suhrkamp 999, 29 S.; S. 4. 22 Nachdrücklich wird an dieser Stelle die Bedeutung Westberlins hervorgehoben: Durch die Ergänzung der Erstfassung um das emphatische Bekenntnis „Nicht nur habe ich sie mir als eine Heimat erworben“ und die von der üblichen Sichtweise abweichende Wortwahl „seit der Einmauerung“ (vgl. Vita-Mappe). 23 Bei Gerlach/Richter (s. Anm. 3), S. 20, und Raimund Fellinger (s. Anm. 3), S. 376, heißt es an dieser Stelle „trug“; das Wortpaar „trug“/„verzog“ hat sowohl das getippte Exemplar der Vita-Mappe als auch der Abdruck in der „Zeit“ vom 4..977. Michael Assmann, Herausgeber von „Wie sie sich selber sehen“, orientiert sich mit „zog“/„verzog“ an dem „Erstdruck“ im Jb. Ak. 977, S. 58, einer von Johnson vermutlich autorisierten Version. 24 „Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 68. – Bezeichnender Weise korrigiert Uwe Johnson in seinem Exemplar der „Zeit“ vom 4..977 die Überschrift „Ich über mich“ handschriftlich in „Andere über mich“. 25 A.a.O., S. 68 und Vita-Mappe. – Mit der originell-kapriziösen Wahl des in New Jersey liegenden Hackensack River, eines westlich parallel zum Hudson River fließenden kleineren Flusses, der in die Newark Bay mündet, konnte Johnson seine Zuhörer gewiss verblüffen und irritieren. – Hier ist im übrigen sein Bekenntnis zu New York als weiterer Heimat versteckt, das er sechs Jahre zuvor in seiner Rede beim Empfang des Büchner-Preises von 97 sehr deutlich formuliert hatte: „War der Verfasser [bei seiner jüngsten Reise nach New York; B.S.] nicht in einer ungünstigen Lage gewesen? in einer Stadt, die ihm Jahre lang Heimat gewesen war, und mußte fremd tun mit ihr? Er durfte nicht zurück in die Zeit, die er hier mit seinen Personen gemeinsam gehabt hatte, und in jene Lage nur in der Vorstellung. […] Das Heimweh nach New York, das ihm wie seinen Personen schon bekannt gewesen war, als ihnen allen die Stadt noch erlaubter Wohnsitz war, ließ sich diese Empfindung nicht mitsamt ihren Anlässen verwandeln in Gegenstände für Arbeit?“ [Büchner-Preis-Reden (s. Anm. 5), S. 237f.] 26 983 wäre Uwe Johnson – als Präsident der Akademie der Künste, in einer Funktion, für die er kurzzeitig im Gespräch war – wohl gern nach Berlin zurückgekehrt (vgl. 77 Barbara Scheuermann Uwe Johnson – Max Frisch. Der Briefwechsel. Hrsg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 999, 43 S.; S. 428). 27 „Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 66 u. 67. 28 A.a.O., S. 67. – Diesen ironischen Kommentar zu seinem Werdegang als Schriftsteller hat Johnson nachträglich hinzugefügt (vgl. Vita-Mappe). 29 Vgl. zur Grenze in Deutschland das Interview mit Arnhelm Neusüß in Gerlach/Richter (s. Anm. 3), S. 44, für die Zurückweisung des Begriffs „Flüchtling“ das Werkstattgespräch mit Horst Bienek sowie ein Gespräch mit W.J. Schwarz und für den Hinweis des Redners auf den Tag, an dem „in einer westdeutschen Druckerei“ sein Name „auf das Titelblatt von ,Mutmassungen über Jakob‘ gesetzt wurde“ Johnsons A.L. Willson gegebenen Auskünfte („Ich überlege mir die Geschichte…“. Uwe Johnson im Gespräch. Hrsg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 988, 360 S.; S. 206, 245 u. 283). Mit der Bezeichnung „Dichter der beiden Deutschland“ hat Johnson sich mehrfach auseinandergesetzt: vgl. Gerlach/Richter, S. 220, und Raimund Fellinger, S. 23 u. 223f. (s. Anm. 3). – Einem Bedürfnis nach Stilisierung entspricht wohl auch jene Korrektur (vgl. Vita-Mappe), durch die ein geläufiger hypotaktischer Satzbau in eine Konstruktion mit Parataxe und Ausklammerung verwandelt wird: „Nachdem mir eine Doppelgeschichte über eine durch die Berliner Mauer getrennte und zerrüttete Liebschaft nochmals den Titel auf den Leib zog, der mich zum Fachmann bloss für die deutsche Teilung machte, verzog ich mich auf zweieinhalb Jahre nach New York.“/„Dann trug mir eine Doppelgeschichte über eine Berliner Liebschaft, getrennt und zerrüttet durch die vollendete Grenze, nochmals den Titel auf den Leib, der mich zum Fachmann machte bloß für die deutsche Teilung, und ich verzog mich nach New York.“ 30 „Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 66 u. 67. – Das rhetorisch wirkungsvolle Dativ-e in „Landsmanne“ ist Ergebnis einer Korrektur (vgl. Vita-Mappe). 31 Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 7-73 u. 75. 32 Die Beobachter finden in dem Äußeren des Autors und in seinen Bewegungen wieder, was sie vorher von ihm wussten: „Er wirkt äusserlich vielleicht etwas schwerfällig: Kasseler Post. Langschädlig, mit randloser Brille, nervösen Handbewegungen und einer gedämpften Stimme: Hessische Allgemeine. […] Johnson ist bäuerlicher Herkunft, man sieht es ihm auf den ersten Blick an: Südwestfunk“ (a.a.O., S. 72). – Johnson verfährt ähnlich in BU 429-435 (vgl. dazu Anne-Güde Lassen: Poetologische Reflexionen in Uwe Johnsons Frankfurter Vorlesungen. In: Johnson-Jahrbuch. Göttingen. 7/2000, S. 97-22; hier: S. 06ff.). 33 Zur ersten Orientierung vgl. die umfangreiche Bibliographie der im „literarischpolitische[n] Streitfall Johnson-Kesten (96)“ erschienenen Zeitungsartikel bei Nicolai Riedel: Uwe Johnson. Bibliographie 959-998. Stuttgart, Weimar: Metzler 999, 600 S.; S. 508-56 (= Personalbibliographien zur neueren deutschen Literatur. 78 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild Hrsg. v. Michael Knoche u. Reinhard Tgahrt. Bd. 3). – Im übrigen grundlegend und fundiert – unter anderem Blickwinkel als die hier vorliegende Untersuchung – Margund Hinz und Roland Berbig: „Ich sehe nicht ein, daß die Mauer in Berlin ein literarisches Datum gesetzt haben sollte…“. Uwe Johnson im politischen Diskurs 96. In: Roland Berbig und Erdmut Wizisla: „Wo ich her bin…“. Uwe Johnson in der D.D.R. Berlin: Kontext 993, S. 240-269. 34 Uwe Johnson: Offener Brief über Offene Briefe. Die Nützlichkeit des Postgeheimnisses. In: Die Zeit. Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Handel und Kultur. Hamburg. 7. Jg., Nr. 5 vom 3.4.962, S. 3. – Johnson bezieht sich darin auf einen in der Aprilnummer von „Das Schönste“ erschienenen Offenen Brief eines ihrer Herausgeber, Dr. Kurt Fassmann, in dem dieser Hermann Kesten und Uwe Johnson ins Gewissen redet (In: Das Schönste. München. 8. Jg., 962, H. 4, S. 4). In seinem Offenen Brief erwähnt Johnson Hermann Kesten mit keinem Wort; anhand der Geschichte des Briefes und des Briefverkehrs verdeutlicht er vielmehr Bedingungen für das Schreiben von Briefen im Allgemeinen und von Offenen Briefen im Besonderen. 35 Jb. Ak. 96, S. 63-69. – Vgl. die im Ausstellungskatalog „Der Georg-Büchner-Preis 95-978“ (Ausstellung und Katalog: Dieter Sulzer, Hildegard Dieke und Ingrid Kußmaul, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 978, 373 S.) für das Jahr 96 – unter Hinweisen zu dem Preisträger Erich Nossack – abgedruckte, im „Tagesspiegel“ vom 8.0.96 veröffentlichte Einschätzung von A. Kirchheim: „Ihr Auftakt war noch eine Provokation: Hermann Kestens brillierende, einseitige, anfechtbare, doch Horizonte eröffnende Rede ,Neues zur neuen deutschen Literatur‘.“ 36 Jb. Ak. 96, S. 75. 37 In BU 208ff. berichtet Johnson von einer Veranstaltung am Abend des . November im „Circulo Turati“, bei der Kesten auftrat als „der vom Verlag eingeladene Vorsteller Johnsons“ (BU 22) – so Feltrinelli in einem Schreiben vom 27.. 96. – Vgl. zu ersten Eindrücken auch Anm. 52 dieses Aufsatzes sowie Hinz/Berbig (s. Anm. 33), S. 256ff. 38 Unter der Überschrift „Mauerschau“ bemerkt Walter Busse ironisch im „Spiegel“ vom 6.2.96: „Festredner Kesten […] machte Johnson das Kompliment, zu einer Gruppe von Nachwuchs-Schriftstellern zu gehören, die den Anschluß an ältere ,humanistische‘ Autoren gefunden habe.“ (Der Spiegel. Das deutsche Nachrichtenmagazin. Hamburg. 5. Jg., Nr. 50 vom 6.2.96, S. 93-94; hier: S. 94) – Vgl. dazu auch den Leserbrief von H. Kesten (a.a.O., 6. Jg., Nr. -2 vom 0..962), auf den S. Unseld drei Wochen später antwortet (a.a.O., 6. Jg., Nr. 5 vom 3..962). – Hätte Kesten den erst seit Mitte 959 in der Bundesrepublik lebenden Johnson – inzwischen Verfasser nicht nur der „Mutmassungen“, sondern auch des „Dritten Buchs über Achim“ – wirklich vorstellen wollen, so hätte er wohl eine neue, ganz andere Rede als jene in Darmstadt gehaltene schreiben müssen. 79 Barbara Scheuermann 39 Jb. Ak. 96, S. 63. A.a.O., S. 67. – Vgl. dazu die Anmerkungen Peter Härtlings in seinen Tagebuchblättern unter dem 25..: „Ich begreife die Prämissen nicht. Gab es denn eine postfaschistische Periode?“ (Peter Härtling: Literatur, Politik, Polemik. Tagebuchblätter aus dem vergangenen Jahr. In: Der Monat. Berlin. 4. Jg., H. 6 vom Febr. 962, S. 45-52; hier: S. 45). 41 Jb. Ak. 96, S. 64. 42 A.a.O., S. 69. 43 A.a.O., S. 75f. – In der Diskussion stellten sich, Korn zufolge, gegen Kestens Thesen Walter Höllerer (er „wollte von den ausgelaugten alten Formeln des Idealismus, auch von einem neuen Humanismus wenig wissen“, er wies zudem nach, „daß der literarische Aufbruch seiner Generation zeitlich beträchtlich vor dem 3. August 96 liege“), Dolf Sternberger und Benno Reifenberg („daß die Form die Moral des Schriftstellers ist“), Hans Hennecke („ließ Ezra Pound und Ernst Jünger eine Ehrenrettung zuteil werden“) und Fritz Usinger („daß Formalismus als solcher bereits ein Protest gegen die Diktatur sei“). Die zitierte Passage endet mit dem Urteil Karl Korns über Kestens Anliegen: „Da Kesten es vermied, politisch konkret zu sprechen, blieb sein Appell an das Moralische im Allgemeinen, das sich von selbst versteht.“ 44 A.a.O., S. 66. 45 Hermann Kesten: Mutmaßungen über Uwe Johnson. Höchst Seltsames über die Berliner Mauer. In: Die Welt. Unabhängige Tageszeitung für Deutschland. Hamburg. Nr. 275 vom 25..96, (Beil.) „Die geistige Welt“, [S. I]; Johnson wird als übler „Ästhetizist“ kritisiert: „Indem er ein Potpourri aller Stilexperimente zusammenkocht, […] ward er ein hilfloser Supermanierist“. Kesten kleidet seine Unterstellungen in Fragen: „Also hat Johnson nur Mißbrauch mit einem großen Thema getrieben, mit dem zerrissenen Deutschland? Also hat er nur einen Bestseller aus dem Leiden des Volkes machen wollen, nur ästhetische Zwecke verfolgt? Warum sprach er in Mailand, als wäre er Ulbricht?“/„Sind das die Produkte der Erziehung im Diktaturstaat Ulbrichts?“ Mit der zuletzt zitierten Frage schließt sowohl Kestens Beitrag in der „Welt“ als auch sein wenige Tage zuvor in der Münchener Abendzeitung veröffentlichter Bericht „Schock in Mailand. Mutmaßungen über Uwe. Streitgespräch mit Johnson über die Mauer erregt die Gemüter.“ (In: Abendzeitung. München. 4. Jg., Nr. 278 vom 2..96, S. 7). – Zur Berichterstattung der „Welt“ vgl. BU 209f. 46 Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 66ff. – An eben diesem 7.. erschien in der „Welt“. Nr. 269, S. 7 ein Artikel von Monika von Zitzewitz, der über Johnsons Auftritt in Mailand berichtet („Italienischer Cocktail mit Uwe Johnson“), ohne Kesten und seinen Vortrag überhaupt zu erwähnen. 47 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 2 = Bd. 6. Bearb. von Moritz Heyne (Nachdruck der Erstausgabe von 885. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 984), Sp. 207f. – Johnsons Mailänder Einlassungen in diesem Punkt 40 80 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild sind eher apodiktisch als stringent und insofern eher verwunderlich als des Merkens würdig: „Und hier von Immoralität zu sprechen, heisst Geschichte mit moralischen Vorwürfen zu vermengen, heisst implicit zu sagen, der Kommunismus wäre immoralisch. Ich meine nicht, dass die Aufgabe der Literatur wäre, die Geschichte mit Vorwürfen zu bedenken“ (BU 27). 48 Hermann Kesten: Erste Antwort auf ein Tonband. In: Abendzeitung. München. 4. Jg., Nr. 286 vom 30..96, S. 7. – Durch einen an Kesten gerichteten Offenen Brief des italienischen Verlegers Feltrinelli erhalten die Leser der Münchener „Abendzeitung“ am nächsten Tag ein ganz anderes Bild: „Es ist mir sehr peinlich, aber ich muß Sie erinnern, daß Sie und nicht Johnson ausgepfiffen wurden.“ (Giangiacomo Feltrinelli: Kesten wurde ausgepfiffen“; a.a.O., Nr. 287 vom .2.96, S. 9). 49 Vgl. die Gegenüberstellung in: Die Zeit. 6. Jg., Nr. 50 vom 8.2.96, S. 6, unter der Überschrift „Uwe Johnson am Pranger? Oder wie man amoralische Ästhetizisten macht“, sowie BU 28 u. 209ff. – Zur Rolle des Tonbandes in „Jahrestage“ vgl. Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman „Jahrestage“. Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000 (= Johnson-Studien 4), 398 S.; S. 347ff. 50 Zur Rolle der „Zeit“ vgl. BU 2 und Hinz/Berbig (s. Anm. 33), S. 265f. – Vgl. ferner die vorsichtige Stellungnahme von Rudolf Walter Leonhardt: Zum Stil literarischer Polemik. Über Uwe Johnson. In: Die Zeit. 6. Jg., Nr. 49 vom .2.96, S. 3; Leonhardt befürchtet die „Ächtung Johnsons in der BRD“, dass „zum Fallbeil“ wird, „was als Rute gemeint war“. 51 Joachim Kaiser: Johnson sagt, daß Kesten lügt. Zum vorläufigen Abschluß eines literarisch-politischen Streits. In: Süddeutsche Zeitung. München, 7. Jg., Nr. 292 vom 7.2.96, S. 2. 52 Erwin Koppen: Johnson und die Mauer. Ein Augenzeugenbericht von dem Diskussionsabend in Mailand. In: Die Zeit. 6. Jg., Nr. 50 vom 8.2.96, S. 5 (Koppen weist darauf hin, daß Uwe Johnson in jener Rede „nur kurz behandelt wird (so daß nachher Giorgio Zampa die eigentliche Vorstellung übernehmen muß). […] Vor allem antwortet Johnson selbst. Er bringt es fertig, daß seine Antworten selbst dann klar erscheinen, wenn er im Grunde den Fragen nur ausweicht, aber das merkt man erst später./Dazwischen fallen dann, so ganz en passant, die Äußerungen, die, aus dem Zusammenhang und der leicht unwirklichen Atmosphäre dieses Diskussionsabends gerissen, in Deutschland Staub aufgewirbelt haben.“). – Giorgio Zampa war Kritiker des „Corriere della Sera“. 53 Die Welt. Nr. 287 vom 9.2.96, (Beil.) „Die geistige Welt“, [S. VIII]. – Der Spiegel, a.a.O. (s. Anm. 38), S. 94 merkt freilich kritisch an: „Was das Mailänder Tonband fixiert, zeigt allerdings, daß Johnson auch als Redner seine Schriftsteller-Eigenart bewahrt, Einfaches nicht allzu einfach mitzuteilen.“ – Dass mehrere Zeitungen Teile des Tonbandprotokolls drucken, lässt erkennen, für wie wichtig der gesamte Vorgang 81 Barbara Scheuermann gehalten wird; dem korrespondiert die Reaktion in Leserbriefen. Ein Leser der „Zeit“ aus Münster, A. Klawon, verweist auf Uwe Johnsons Eintreten für die 953 in der DDR schikanierte Junge Gemeinde, das er als Beleg für eine unmißverständliche politische Haltung deutet: „[…] in dieser Situation der Verzweiflung für viele steht Uwe Johnson auf und stellt sich gegen die Partei! Er spricht mit einer Offenheit, daß alle im Saal erstarren, sogar die SED-Funktionäre, die vor Verwunderung zu einer Reaktion unfähig sind. Johnson geht weit über das gesteckte Thema hinaus, er spricht von Terrorurteilen des Staatsapparates gegen oppositionelle Halbwüchsige und klagt das Regime […] der Unmenschlichkeit an./Ein Ereignis! Eine humane, eine mutige Tat!“ (In: Die Zeit. 6. Jg., Nr. 52 vom 22.2.96, S. 7) 54 Bettina Neustadt: Verleumdung oder Mißverständnis. Uwe Johnson contra Hermann Kesten. In: Frankfurter Rundschau. Unabhängige Tageszeitung. Frankfurt/M., 7. Jg., Nr. 284 vom 7.2.96, S. 0; Ruth Tilliger: Ein Tonband und der Literatenstreit. Uwe Johnson widerlegt die Behauptungen Hermann Kestens. In: Frankfurter Neue Presse. Frankfurt/M., 6. Jg., Nr. 284 vom 7.2.96, S. 9; Karl Korn: Haut ihn! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Zeitung für Deutschland. Frankfurt/M., Nr. 285 vom 8.2.96, S. 5; Karl Korn kritisiert insbesondere Heinrich von Brentano: „Ist ihm jeder recht, wenn man die Literaten schlechtmachen kann?“ – Zur Einschätzung der Frankfurter Rundschau vgl. auch Peter Härtling: „Ich sehe die beiden einander gegenüberstehen, ich sehe die Unvereinbarkeit ihrer Schreibweisen, ihrer Wertungen. Ist das ein Generationenkonflikt?“ (In: Peter Härtling (s. Anm. 40), S. 46) 55 Barbara Klie: Eine Hexenjagd. Zu den Angriffen auf Uwe Johnson. In: Christ und Welt. Deutsche Wochenzeitung. Stuttgart, 4. Jg., Nr. 49 vom 8.2.96, S. 2. – Ihre Kritik gilt Autoren wie Peter Hornung, der wenig später unter der Überschrift „Brecht als Beispiel des Überlebens“ in der „Deutschen Tagespost“ ausführt: „Rufmord und Existenzvernichtung heißen die palavernden Wehklagen, seitdem man über den literarischen Wunderjüngling der Saison, Uwe Johnson, bedenkliche politische Vermutungen anzustellen gezwungen war.“ (In: Deutsche Tagespost. Unabhängige Tageszeitung für abendländische Politik und Kultur. Würzburg. 4. Jg., Nr. 48 vom 2.2.96, S. ) 56 Zitiert nach: „Die Katze Erinnerung“ (s. Anm. 3), S. 0. – Dass Kesten nicht einfach als Parteigänger rechter Kreise in der CDU/CSU-Regierung zu gelten hat, betonen Hinz/Berbig (s. Anm. 33), S. 250ff.; dort auch Näheres zu Kestens Lebenslauf und zu seinem öffentlichen Auftreten in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre als „unbedingter Moralist“ – befördert durch die „Ruhelosigkeit“ des Emigranten und den „vor und im Exil erworbene[n] Lektorenruhm“. 57 Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 72. – Brentanos Anwürfe sind mit ein Grund für den Verleger Gerd Bucerius, aus der CDU auszutreten; in seiner in der „Zeit“ vom 6.2.962 unter dem Titel „Warum ich aus der CDU austrat“ veröffentlichten Erklärung führt er aus: „Kurz zuvor hat mich sein spontaner, unbedachter 82 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild Angriff von der Rednertribüne des Bundestages auf den Schriftsteller Uwe Johnson sehr erschreckt. Sofort nach seiner Rede war ich zu Brentano gegangen und hatte ihn gebeten, sich zu korrigieren; das hatte er abgelehnt. Brentano hielt Johnson eben für einen Kommunisten, obwohl seine Werke dies widerlegen.“ 58 „Die Katze Erinnerung“ (s. Anm. 3), S. . Kissinger und Johnson hatten einander im Sommer 96 auf dem „International Seminar der Harvard Summer School“ kennengelernt. – Laut Auskunft von Monika Gerhardt, Uwe Johnson-Archiv, schloss sich an dieses Schreiben Kissingers ein kurzer Briefwechsel an, in dem beide – im Ton versöhnlich – ihren Standpunkt noch einmal darlegten. – Zur Wahrnehmung des Streits durch das Ausland vgl. den Aufsatz „,L’affaire‘ Uwe Johnson. Un Chapitre du drame allemand.“ In: Documents. Revue des questions allemands. Paris, Vol. 7, 962, S. 493-497, sowie „Uwe Johnson’s muur. Rel om gevlucht auteur.“ In: Haagse Post. Onafhankelijk Weekblad. Den Haag. 48. Jg., Nr. 2454 vom 23.2.96, S. 4-5. 59 Peter Härtling (s. Anm. 40), S. 47f., vorangehendes Zitat: S. 48; Eintragungen unter dem 27.. und 5.2.96. – Zuvor hatte Klaus Harpprecht in der Januar-Ausgabe des „Monats“ (4. Jg., H. 60 vom Jan. 962, S. 93-96) unter der Überschrift „Freiwild oder heilige Kuh?“ gegen Marcel Reich-Ranicki („Brentano, Brecht, Horst Wessel und Johnson. Freie Schriftsteller dürfen nicht zu Freiwild werden.“ In: Die Zeit. 6. Jg., Nr. 5 vom 5.2.96, S. 9) polemisiert und Uwe Johnson böse-listig geraten, das Stipendium abzulehnen und Brentano ,die Markscheine ins Gesicht zu schmeißen‘. 60 Wolfdietrich Schnurre: Der Schriftsteller und die Mauer, Vortrag im RIAS Berlin. Kulturelles Wort, gesendet am 23.2., 22.00-23.03 Uhr (Zitat in der Manuskriptkopie: S. 26); schon vorher hatte Schnurre bei einem Vortrag in München Uwe Johnson mit eben diesem Vorwurf traktiert (vgl. Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung. Köln, 7. Jg., vom 3.2.962, statt „Marxist“ heißt es dort „Kommunist“); diese Sicht behält Schnurre bei in: Schreibtisch unter freiem Himmel. Olten und Freiburg: Walter, 964, S. 90f. – Uwe Neumann verdanke ich den Hinweis, dass Wolfdietrich Schnurre knapp zehn Jahre später seine harsche Kritik an Uwe Johnson deutlich zurückgenommen hat („Heute würde ich Johnson fast recht geben wollen“, bemerkt Schnurre in: Protokoll zur Person. Autoren über sich und ihr Werk. Hrsg. v. Ekkehart Rudolph. München 97, S. 2f.). – Peter Härtling notiert am Abend des 25. November erste Reaktionen, wohl aus seinem Bekanntenkreis: „Ich habe mich mit einigen Leuten unterhalten: Fast alle freuen sich über die Abfuhr, die Johnson bekommen hat – ein Kommunist, der hier alles sagen kann und so weiter. Mir ist nicht wohl, wenn ich daran denke.“ (In: Peter Härtling (s. Anm. 40), S. 46) – Ulrich Fries vermutet, daß die „Querelen um das Rom-Stipendium“ ein Grundstein waren für die im Fall Johnson „bis heute anhaltende Trennung von literarischem Erfolg und öffentlicher Anerkennung“ (Ulrich Fries: Goin’ Goin’ Gone. Zu: Der Briefwechsel Max Frisch/Uwe Johnson. In: Johnson-Jahrbuch. Göttingen. 7/2000, S. 237-265; hier: S. 242). 83 Barbara Scheuermann 61 Hans Weiser: Klein Uwes Renkontre mit der großen Freiheit. In: Neue deutsche Literatur. Monatsschrift für Schöne Literatur und Kritik. Berlin-Ost. 0. Jg., 962, H. 3, S. 46-47; hier: S. 47. – Hermann Kant: Der Jüngling im Eiskasten. In: Neues Deutschland (Ausg. B), Nr. 49 vom 8.2.962, S. 4. – Hermann Kants Bild des „Merkur“ widerlegt ein im April 962 veröffentlichter Aufsatz von Rolf Schroers unter dem Titel „Aufstand für die Wiedervereinigung“, in dem der Verfasser – unter Verweis auf den Umgang mit Johnson – „gegenwärtig durchaus auch den Aufstand gegen eine gewisse bundesrepublikanische Selbstgerechtigkeit“ für erforderlich erklärt (In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Stuttgart. 6. Jg., 962, H. 70, S. 306-320; hier: S. 36). 62 Günter Zehm: Denk’ ich an Deutschland am Rednerpult. Anmerkungen zu Enzensbergers Büchner-Rede. In: Die Welt, Nr. 262 vom 9..963, (Beil.) „Die geistige Welt“. – Vgl. zu Kestens Zielen auch seinen in der Januar-Ausgabe 962 der Zeitschrift „Kultur“ veröffentlichten Artikel „Falsche Zitate, irreführende Interpretationen und ein umstrittenes Tonband. Hermann Kesten berichtigt Uwe Johnson, Giangiacomo Feltrinelli, Enrico Filippini und deckt die Wahrheit auf.“ (In: Die Kultur. München. 0. Jg., 962, Nr. 7, S. 6-7), dem ein ,Offener Brief ‘ von Hans-Christian Kirsch an Uwe Johnson folgt. – Bestürzend in ihrer skrupellosen Direktheit ist Kestens literarische ,Verarbeitung‘ seiner an Johnson gerichteten Vorwürfe in einer 962 veröffentlichten „Novelle“ mit dem Titel „Nikolaus Stern“, in der Johnson durch makabre Zitatmontage zu einem Gehilfen Ulbrichts und „Lump“, der den Schießbefehl rechtfertigt, dämonisiert wird (Hermann Kesten: Der Freund im Schrank. Novellen. Frankfurt/M. [u.a.]: Ullstein. 983, S. 0-45; hier: S. 0f.). – Vgl. dazu auch Hinz/Berbig (vgl. Anm. 33), S. 268f.; in der Diskussion meines Vortrags in Travemünde schloss Rainer PaaschBeeck nicht aus, dass Uwe Johnson diesen Text gekannt haben könnte, was dann dessen Jahre später in den „Frankfurter Vorlesungen“ geäußerte Sicht der „Affaire Kesten“ nachvollziehbar und verständlich gemacht haben würde. 63 Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 74: Brief vom 3. Januar 962. – Unseld rät darin seinem Autor davon ab, einer Einladung von Hermann Kant zu folgen und an einem Treffen von ost- und westdeutschen Autoren am Schwielow-See teilzunehmen; Unseld fürchtet die Reaktion der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und möchte vermieden sehen, „dass Du abermals in diesem politischen Aspekt in die Spalten der Zeitungen gerätst, dies nach all dem, was war, wäre unausdenkbar und würde all die strafen, die sich jetzt in der Affaire Kesten für Dich verwandt haben.“ – Hier ist u.a. an Hermann Höcherl zu denken (vgl. BU 234ff., und JohnsonUnseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 72); vgl. auch den Brief von Heinrich Böll, der Johnson am 6.2.96 in seiner Haltung bestärkt: „es liegt mir sehr daran, Ihnen zu schreiben, dass ich ganz auf Ihrer Seite stehe“ („Die Katze Erinnerung“ (s. Anm. 3), S. ). Vorsichtig für Johnson Partei ergreift auch Hans Bender in: Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung. Köln. 6. Jg., Nr. 283 vom 7.2.96, S. 4 (unter der Überschrift „Uwe Johnson und seine Antwort“). – Im Abstand von gut 30 Jahren 84 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild urteilt Günter Grass: „Ich habe mich damals an diesem Streit nicht oder nur mit spöttischen Schlenkern beteiligt. Mein Respekt vor Hermann Kesten war zwar sehr groß, kannte aber Grenzen; und Uwe Johnson bis in den letzten Hintersinn seiner Wortwahl zu verstehen war oft nur Glückssache. […] weil dieser Zank, immer wieder neu motiviert, bis in alle Gegenwart anhält, weiß ich inzwischen: Es ging todernst dabei zu.“ (Günter Grass: Wir sind als Richter nicht tauglich. Rede zur Verleihung der Hermann Kesten-Medaille in Darmstadt. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. 6, Essays und Reden III. Hrsg. v. Volker Neuhaus und Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 997, S. 427-432; als ganze eine gerade auch im Blick auf den Johnson-Kesten-Streit lesenswerte Rede von 995) 64 Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 256. – Am 7. März 962 schreibt Johnson seinem Verleger mit Bezug auf die in Paris geplante Vorstellung der französischen Übersetzung der „Mutmassungen“, daß ein „zweites milanesisches Zwischenspiel“ nicht stattfinden werde, „weil es einen Hermann Kesten nur einmal gibt und zu dieser Zeit nur in den Vereinigten Staaten“ (a.a.O., S. 79). – Darauf repliziert Unseld übermütig-ironisch: „Ich bin überzeugt, Du wirst Dir genau vornehmen, was Du da sagen möchtest. Wie bringen wir Kesten dorthin?“ (a.a.O., S. 8) 65 Berliner Stadtbahn. In: Uwe Johnson: Berliner Sachen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 975. S. 9. 66 Die Zahlen differieren: Thilo Vogelsang: Das geteilte Deutschland. München: Deutscher Taschenbuch Verlag,966 (= dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. ), S. 208 nennt für 96 bis zum 3. August die Zahl von 8 33 Flüchtlingen; nach den „Informationen zur politischen Bildung“ 8 („Berlin“), 983, S. 23 war die Zahl höher: 207.026 Flüchtlinge. 67 Aus Johnsons Mailänder Redebeitrag. In: Die Zeit. 6. Jg., Nr. 50 vom 8.2.96, S. 6 (s. Anm. 50). 68 Vgl. Beschluss des Ministerrats der DDR zur Sperrung der Berliner Sektorengrenze vom 2.8.96. In: DDR. Geschichte und Bestandsaufnahme. Hrsg. v. Ernst Deuerlein. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 966 (= dtv dokumente 347), S. 234: „Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und Westberlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenzen zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist.“ – Vgl. im übrigen mehrere Leserbriefe in der „Zeit“, 6. Jg., Nr. 52 vom 22.2.96, S. 7 und jene in der „Welt“ vom 6.2.96 (Hachfeld: „Amadeus geht durchs Land“) und im „Simplicissimus“ (München) am 6..962 erschienenen Verse über das „Mauer-Blümchen Uwe Johnson“ (Wiederabdruck in „Die Katze Erinnerung“ (s. Anm. 3), S. 0 und in BU 232). 69 Peter Härtling (s. Anm. 40), S. 48. – Reserviert äußert sich im März 962 der Literaturkritiker Joachim Kaiser, wie die Schwäbische Donau-Zeitung (Ulm) am 24.3.962 85 Barbara Scheuermann unter der Überschrift „Ein symptomatischer Fall“ zu berichten weiß: „Das Tonband widerlegte die Berichte Kestens zwar bis zu einem gewissen Grad, jedoch – so betonte Kaiser – nicht eindeutig und mit letzter Sicherheit.“ 70 BU 28. 71 Ernst Deuerlein (s. Anm. 68), S. 206 und 236f. 72 BU 29. – So entstehen laut Hinz/Berbig (s. Anm. 33), S. 268, „Wunden, die nicht zum geringsten dem Kalten Krieg zuzuschlagen sind, zu dessen Gefechten das zwischen Johnson und Kesten gehörte“. 73 Vgl. dazu auch Peter Härtlings Schlussbetrachtung in seinen Tagebuchaufzeichnungen: „Das Feldgeschrei ,Seht, ein Kommunist‘ hat schon manchen überfallen, der aus Zorn über solche Unvernunft und Unkenntnis am liebsten einer geworden wäre.“ (Peter Härtling (s. Anm. 40), S. 52) 74 Vgl. z.B. Johnsons Eintreten für Fritz Rudolf Fries in Briefen an seinen Verleger Unseld: Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), insbes. S. 530-532. Ferner bezeugen zahlreiche nicht veröffentlichte Antwortschreiben an Leser (oder Besucher) Johnsons großes Einfühlungsvermögen – aber auch die Grenzen seiner Bereitschaft zu Empathie (so sein Briefwechsel mit Ulrich Fries). 75 Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 3: Brief vom 0..963 aus London Kensington; Johnson fährt fort: „Offenbar versteht er nicht Fairness: nach dem Dementi seiner Erfindungen, nenn es wer wolle, habe ich jede Äusserung über ihn abgelehnt; in Florenz bekam er sichtbar genug meine Stimme als Sprecher der deutschen Delegation; Herrn Fassmanns ,Offenen Brief ‘ umging ich höflich; denkt der Mensch nun ein Recht auszuüben? Da diese Anschwärzung weit über Methoden der Christdemokraten hinausgeht, könnte man ihn doch ersuchen seine Meinung zu beweisen. Was meinst du dazu?“ – Zu Fassmann vgl. Anm. 34 in diesem Aufsatz. – Wenig erfreuliche Konnotationen transportiert Johnsons als Vermutung ausgegebener Hinweis, Kesten sei wohl ein Jude – möglicherweise ein Reflex auf die in BU 237 zitierte infame Bemerkung Kestens, nach der „ein grosser blonder Arier“ dem „niedrig gewachsenen, unansehnlichen Juden“ den Rang streitig machen wolle. 76 BU 23. – Mit dem – später so nicht realisierten – Vorschlag, Uwe Johnsons Erklärung auf der Pressekonferenz vom 5.2.96 in ein Taschenbuch unter dem Titel „Beschreibungen“ aufzunehmen (vgl. Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 649f.), mag Siegfried Unseld, ohne dass dies seine Absicht gewesen wäre, Johnson in seiner Einschätzung der Bedeutung der „Affaire Kesten“ bestärkt haben. 77 Ausstellungskatalog 978 (s. Anm. 35), S. 260. 78 Der Georg-Büchner-Preis: 95-987, eine Dokumentation (von Dieter Sulzer, aktualisiert von Michael Assmann), München [u.a.]: Piper,987, 473 S.; S. 260. 79 Ausstellungskatalog 978 (s. Anm. 35), S. 294. 86 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild 80 Ausstellungskatalog 987 (s. Anm. 78), S. 293. Wolfgang Koeppen: Ein Bruder der Massen war er nicht. Zum Tode von Uwe Johnson. In: Jb. Ak. 984, S. 58-6; Johnsons „Jahrestage“ gehören für Koeppen „in die Klasse der Gipfel, der Romane von Balzac und Zola, die Dichtung und Zeitgeschichte sind und im Handel ihrer vielen Personen im Umkreis einer Familie von Band zu Band ihr Jahrhundert vor Gericht bringen“ (a.a.O., S. 6). 82 a.a.O., S. 207f. 83 Jb. Ak. 977, S. 54-59, 93f., 206; 978 (), S. 43; 978 (2), S. 33, 38, 44; 979 (), S. 25; 979 (2), S. 44; 980 (), S. 23; 980 (2), S. 3, 38; 98 (2), S. 34; 982 (2), S. 33; 983 (2), S. 39, 54. 84 „Wie sie sich selber sehen“ (s. Anm. 2), S. 68; „Zwischen Kritik und Zuversicht“ (s. Anm. 2), S. 407. 85 BU 240. 86 BU 24. – Nach Johnsons eigenen außerordentlich strengen Maßstäben, wie sie in den „Vorschlägen zur Prüfung eines Romans“ (in: Gerlach/Richter (s. Anm. 3), S. 3036; hier: S. 33) formuliert sind, sollte eigentlich mit „Beschwerde“ und „Protest“ auf „jede lügenhafte Spekulation“ (wohl nicht nur im Roman, sondern auch in anderen Texten) reagiert werden. – Vgl. auch Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 3, und Anm. 75 dieses Aufsatzes. 87 BU 238. – Dabei hatte er in seiner Stellungnahme am 5.2.96 betont, dass es ihm um Fairness gehe: „Mir ist gelegen an Fairness. Ich protestiere gegen die üblen Manieren einer beliebigen Person“ (BU 22). 88 BU 240f. – Vgl. auch Hinz/Berbig (s. Anm. 33), S. 264ff. – Zu einem ,intertextuellen Dialog‘ zwischen Johnson und Kleist vgl. die aufschlussreiche Studie von Uwe Neumann: Uwe Johnson und Heinrich von Kleist. Neuigkeiten aus dem Schlußkapitel der Jahrestage. In: Johnson-Jahrbuch. Göttingen. 7/2000, S. 97-225. 89 Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 992: Brief vom 29.7.980. – Im Übrigen wird Unseld daran gelegen gewesen sein, Hermann Kesten als möglichen Autor seines Hauses nicht zu verprellen, und gewiss wird der Verleger bei allem die Außenwirkung für den Suhrkamp Verlag im Blick gehabt haben. Wie auch sonst bei der Herstellung von – dem Miteinander gegensätzlicher Autoren förderlichen – Arbeitsbedingungen wurde ihm hier eine Gratwanderung abverlangt. 90 VR (s. Anm. 86), S. 33. 91 Am 2.0.978 wird die Ausstellung zum Büchner-Preis in Bonn eröffnet; Johnson ist dazu (und zu einem anschließenden Essen mit dem Bundeskanzler) gemeinsam mit anderen Büchner-Preisträgern eingeladen und nimmt an den Veranstaltungen auch teil (vgl. Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 929f.); gut fünf Wochen später wendet er sich das erste Mal schriftlich an den Präsidenten der Akademie 81 87 Barbara Scheuermann (vgl. BU 238f.). Während dieser Zeit beschäftigt den Autor die Abfassung der PoetikVorlesungen, auf die er sich Unseld zuliebe eingelassen hat (vgl. Johnson-UnseldBriefwechsel (s. Anm. 2), S. 923, 937 u. 950). 92 So abwegig manche Annahmen und Schlussfolgerungen Johnsons indessen auch klingen mögen, in einem anderen Licht erscheinen sie angesichts seines eigenen Verhaltens als Mitglied und vorübergehend Vizepräsident einer anderen – der Berliner – Akademie (der Künste). Briefe Johnsons an Siegfried Unseld zeigen, dass er sich niemals zeitaufwendigen, für das Erscheinungsbild der Akademie wichtigen Verpflichtungen und Aufgaben entzieht, nicht einmal dann, wenn sein Verleger ihm signalisiert, er sehe ihn lieber am Schreibtisch sitzen: vgl. Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 746f., 022 u. 039f. 93 A.a.O., S. 240-259: Briefe vom 30..962 bis zum ..963 über wechselseitige Enttäuschungen und Unstimmigkeiten in Zusammenhang mit dem Projekt einer Internationalen Zeitschrift; S. 374-389: Briefwechsel vom 7.5.965 bis zum 2.7.965 zu „Zwei Ansichten“, er beginnt mit einem Paukenschlag: „Lieber Siegfried Desinteresse kann man praktischer ausdruecken Uwe Johnson“, so telegraphiert Johnson am 7.5. seinem Verleger; ferner S. 596-68: Johnson setzt sich zunächst mit dem Umschlagentwurf für die „Jahrestage“ auseinander und befindet am Ende (S. 604) unter dem 26.3.970 verärgert: „Wenn ihr nicht gedenkt, meine Antworten zu berücksichtigen, so erspart mir doch eure Fragen. / Ich hab auch die Zeit nicht für solche Spiele.“ Seine briefliche Beschwerde über den Umgang des Verlags mit seinem Manuskript und über offensichtliche Versäumnisse bei der Organisation des Korrekturlesens (S. 6) mündet in Grundsätzliches (das Unseld freilich unter „Nörgeln“ (S. 63) abbucht): „Es ist das erste Mal, dass ich besorgt bin, was ihr mit dem Buch machen werdet. / Insgesamt werde ich durch solche Vorgänge nicht an den Verlag erinnert, in den ich einmal als einzigen wollte, sondern an die, von denen du nichts hältst.“ – In der unter starkem Zeitdruck stattfindenden Auseinandersetzung über Inhalt und Form des zunächst als „Frisch-Brevier“ gehandelten Suhrkamp-Jubiläum-Bandes „Stichworte“ (S. 855-872) lehnt Johnson – beeinträchtigt durch den eben erlittenen Infarkt – es unter dem 9. Juli 975 schließlich ab, einzustehen für Veränderungen, denen er nicht zustimmen mag: „Ersetzt meinen Namen auf dem Titelblatt und beim Vorwort durch Siegfried Unseld.“ (S. 872) – Vgl. dazu auch die Darstellung von Max Frisch in: Frisch-Johnson-Briefwechsel (s. Anm. 26), S. 26-30, und Johnsons akribische Antwort in einem unter dem 20. August beigelegten Brief vom 3. August (S. 36-40), an dem er „fünf Wochen lang gesessen“ hat und der, wie Eberhard Fahlke in seinem Nachwort (S. 42) darlegt, wohl „als Selbstrechtfertigung für die Nachwelt“ gedacht ist. 94 Ulrich Fries (s. Anm. 60), S. 253ff.; er verweist auf des Schweizer Autors Beschäftigung mit den Themen ,Ehebruch‘ und vor allem ,Eifersucht‘, wie sie in „Montauk“, das die Johnsons lektorieren, literarisch verarbeitet sind. 88 „Halt dir grade, Mensch!“ Johnson: Fremdbilder und Selbstbild 95 Vgl. insbesondere die Umstände von Johnsons Bruch mit seinem langjährigen Freund Manfred Bierwisch, zu denen dieser sich äußert in: Raimund Fellinger (s. Anm. 3), S. 286-295, unter der Überschrift „Erinnerungen Uwe Johnson betreffend“. Es spielt wohl auch Selbstüberschätzung mit hinein, wenn Johnson, der in dieser Angelegenheit Siegfried Unseld um sein Urteil bittet, dessen Meinung dann doch vollständig ignoriert; Unseld antwortet ihm unter dem 6. April 98: „Du bist und bleibst wie der Endunterfertigte ein naiver Mensch. (Mein Satz: nur naive Menschen bewegen die Welt!) Wer auch immer es ist, der in der DDR lebt und mit einer Festschrift bedacht werden soll, ein Vorwort von Dir für diese Festschrift wäre für den Bedachten ruinös. Ich weiß wirklich nicht, wie man sich so etwas überhaupt denken kann. Reisen kannst Du ja gewiß überall in der DDR, aber als Ein-Leitender für irgend etwas in der DDR kommst Du nach Lage der Dinge nicht in Frage“ (Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 008; weitere Literaturhinweise a.a.O., S. 007, Anm. 3). – Vgl. auch Johnson-Frisch-Briefwechsel (s. Anm. 26), S. 230ff.; trotz der Mäßigung anratenden Stellungnahme Unselds schreibt Johnson am 6. Juni einen bitter-ironischen Brief an Frisch über diese „Geschichte“; auf Unseld nimmt er indirekt Bezug, indem er einen Satz aus dessen Antwortbrief zitiert, ohne jedoch auf die Herkunft des Zitats einzugehen: „Nur naive Menschen bewegen die Welt“ (a.a.O., S. 232). 96 Diesen Aspekt übernehme ich von Rainer Paasch-Beeck, der in der Diskussion meines Vortrags in Travemünde darauf abhob, dass Kestens Vorwurf, Johnson habe die Mauer gerechtfertigt, besonders infam gewesen sei, weil Johnson durch den Mauerbau vor allem auch von seiner späteren Frau getrennt wurde – ein biographischer Aspekt, der während der Abfassung der Frankfurter Poetik-Vorlesungen virulent wird und sich mit dem Kesten-Trauma verbindet. 97 Barbara Scheuermann: Zur Funktion des Niederdeutschen im Werk Uwe Johnsons. „in all de annin Saokn büssu hie nich me-i to Hus“. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 998 (= Johnson-Studien 2), S. 60ff. 98 So anrührend Johnsons – handschriftliches! – Bekenntnis vom . April 979 gegenüber Siegfried Unseld – dass „von allen Freundschaften, die ich seit 959 gefunden habe, die mit dir als einzige sich erwiesen hat als in allen Stücken zuverlässig und haltbar“ – auch wirkt, so ist es doch auch ein Dokument eingestandener Einsamkeit: „so bist du für mich der menschliche Ort geworden, ohne den das einsamste Leben unmöglich ist“ (Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 952f.). Brieflich die Hintergründe jener Einsamkeit zu reflektieren war Johnson weder Unseld noch Frisch gegenüber möglich. 99 A.a.O., S. 82. – Zu dieser Zeit waren Max Frisch und Uwe Johnson, zusammen mit Burgel Zeeh, Unselds persönlicher Sekretärin, mit geheimen, aufwändigen Vorbereitungen für die Feier des 50. Geburtstags ihres Verlegers am 28.9.974 beschäftigt (vgl. a.a.O., S. 828, und Johnson-Frisch-Briefwechsel (s. Anm. 26), S. 7ff.). – Unselds Verärgerung über Max Frisch rührte aus dessen Haltung im Streit über das in der 89 Barbara Scheuermann – Ende 973 gegründeten – Suhrkamp Verlags AG Zürich vorgesehene Verlagsprogramm her (vgl. Johnson-Unseld-Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 842-845). 100 vgl. JT 980 und Barbara Scheuermann (s. Anm. 97), S. 66f. – Jürgen Grambow: Uwe Johnson. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 997 (= rm 50445), S. 2 spricht im Blick auf Johnsons Wahrnehmung seiner Ehekrise von „Verstiegenheit“ und beschreibt damit nicht den Einzelfall, sondern ein Wahrnehmungsmuster, das sich auch in Johnsons Reaktion auf das Verhalten der Deutschen Akademie zeigt. 90 Rainer Paasch-Beeck „In Anklam aber empfängt mich die Hölle“ 1 – 139 versiegelte Todesfälle in den „Jahrestagen“ „Die Anfänge der Person Uwe Johnsons liegen mehr im dunkeln als die Anfänge seines Geschlechts.“2 Dieser Satz Bernd Neumanns, mit dem er das zweite Kapitel seiner großen Johnson-Biographie einleitet, gilt besonders für die zehn Jahre, die Johnson mit seinen Eltern und seiner Schwester bis 945 in Anklam verbracht hat. Und nicht nur Johnson – „Das hat er selbst so gewollt.“3 – hat später wenig zur Erhellung dieser Zeit beigetragen. Auch der Teil der JohnsonForschung, der sich intensiver mit biographischen Aspekten bei Uwe Johnson beschäftigt hat, konnte bis heute nicht viel Licht in das von Neumann konstatierte Dunkel bringen. Zwar hat Neumann der Zeit bis zur Flucht der Johnsons aus Anklam nach Mecklenburg in seiner Biographie fast 30 Seiten eingeräumt. Unglücklicherweise aber hat er für diese ‚Anklamer Jahre‘ viel Spekulation und nur wenig Fakten zu bieten. Der negative Höhepunkt ist dabei fraglos errreicht mit Neumanns Fabulieren über die Gründe, die zur Verhaftung von Erich Johnson, Uwes Vater, im Frühsommer 945 durch die Rote Armee in Anklam geführt haben (sollen).4 Zu Recht hat sich daher Johnsons Schwester in einem Beitrag für „Die Zeit“ gegen Neumanns Passagen, die hochspekulativ und wenig seriös erscheinen, verwahrt.5 Ihre Titulierung vom „Anklamer Uniform-Märchen“6 für diese Stelle schmeichelt Neumann dabei fast noch; das hätte man auch ganz anders benennen können. Umso ärgerlicher ist es, dass Neumann in späteren Auflagen nicht die Möglichkeit zur Korrektur dieser z.T. abwegig anmutenden ‚Thesen‘ genutzt hat.7 Wie wichtig eine Revision aber ist, wird deutlich, wenn man die Forschungsliteratur betrachtet, die sich bei ihren biographischen Passagen vor allem auf die Aussagen Neumanns über Johnsons Kindheit verlässt. So referiert Michael Hofmann in seiner über weite Strecken ausgezeichneten Einführung in das Werk Uwe Johnsons8 in der vorangestellten ‚biographischen Skizze‘ in einem hohen Maße Neumanns Aussagen. Mit kaum noch wahrnehmbarer Distanz beteiligt er sich so auch an den von Neumann ausgelösten Spekulationen über die „Ereignisse des Kriegsendes“, die zur Verhaftung Erich Johnsons geführt haben (sollen). Neumanns ‚Hypothese‘ vom ‚Verratsvorwurf ‘ Johnsons gegenüber seiner Mutter – und allen sich daraus Rainer Paasch-Beeck ergebenden Schlussfolgerungen für das „Verständnis der literarischen Texte“ – erscheint Hofmann dabei „plausibel“.9 Mir nicht! Auch Jürgen Grambow hat in seiner Monographie zu Johnson zum ‚Kapitel Anklam‘ nur wenig anzubieten, was über das von Neumann präsentierte ‚Material‘ hinausgeht.10 Johnson selbst schwieg zu Anklam; Lebensläufe und autobiographische Mitteilungen beginnen zum Teil erst mit dem Jahr 945, dem Jahr seiner Flucht und Ansiedelung in Mecklenburg.11 Und diesem Mecklenburg hat er in seinen Texten später mehr als eines der sprichwörtlichen „literarischen Denkmäler“ gesetzt. Natürlich denkt man dabei zuerst an Gesines Ausspruch über das Fischland, „das schönste Land in der Welt“ (JT 495) und zweifellos an eines der letzten Tageskapitel der „Jahrestage“. Beschrieben wird hier Gesines Blick vom Güstrower Heidberg, „welch Anblick mir möge gegenwärtig sein in der Stunde meines … Sterbens“(JT 822). Hier wird endgültig die Freundschaft zwischen Gesine Cresspahl und Anita Gantlik besiegelt. Hier werden mögliche Einwände des „Genossen Schriftstellers“ kurzerhand beiseite gewischt, hier vertrauten sie „einander etwas an über die Unentbehrlichkeit der Landschaft, in der Kinder aufwachsen und das Leben erlernen“ (JT 822). Eine literarische Liebeserklärung an eine Stätte der Kindheit, die diese erst sehr spät und bis heute zaudernd erwidert hat. Uwe Johnson hat den Großteil seiner Kindheit in Anklam verbracht. Es ist mehr als Erbsenzählerei, wenn man einmal überprüft, wie oft der Name von Anklam vom Erzähler Johnson in seinen Texten verwendet wurde und sich vergegenwärtigt, auf welche Weise die vorpommersche Kreisstadt Anklam Eingang insbesondere in den Erzählkosmos der „Jahrestage“ gefunden hat.12 Während der „Jahrestage“-Kommentar etwa für Krakow und vor allem für Güstrow, zwei andere wichtige Orte seiner Jugend- und Schülerzeit, jeweils zahlreiche Einträge verzeichnet, sind es für Anklam ganze zwei. Beide werden erzählt in den Passagen, die von Wilhelm Abs, Jakobs Vater, handeln. Ohne einer biographischen Lesart Vorschub zu leisten, muss man an dieser Stelle doch registrieren, dass die knappen biographischen Annäherungen an Gesines ‚Schwiegervater‘ bzw. Maries zweiten Großvater vom Autor mit einer Reihe von Details aus dem Leben seines eigenen Vaters, Erich Johnson, ausgestattet sind: das Studium in Neukloster, der Versuch, in Brasilien eine neue Existenz zu finden und natürlich der angegebene Beruf Inspektor in Mecklenburg und Pommern (JT 24) und schließlich „Prüfer des Milchkontrollverbandes“ (JT 93). Nicht zu vergessen, dass der (Um-)Weg Wilhelm Abs an die ostpreu- 92 „In Anklam aber empfängt mich die Hölle“ ßische Front, wo sich seine Lebensspur verläuft, über einen Bauernhof an der Dievenow führt. In Darsewitz an der Dievenow hatte auch die Familie von Johnsons Mutter ihren Hof. Zugleich verhindert der Text aber eine zu weit gehende biographische Lesart. Denn Anklam wird nicht – wie von Johnsons eigener Biographie intendiert – als Arbeitsfeld des Milchprüfers, sondern in einem ganz anderen Kontext erwähnt. In zwei weit auseinanderliegenden Erzählanlässen – zum einen Marie Abs’ Erinnerung an das Kriegsende und den Abschied von ihrem Mann, zum anderen der Versuch Gesines und ihrer Tochter Marie, sich in einem Gespräch der unbekannten Figur Wilhelm Abs zu nähern – erfährt der Leser, dass Wilhelm Abs „aus dem Wehrmachtsgefängnis Anklam entlassen“ (JT 92) und von dort an die ‚Ostfront“ geschickt wurde. Die zweite ‚Anklam-Stelle‘ nur wenige Seiten weiter greift diese Information erneut auf. „In einem Soldatengefängnis war er, in Anklam“ (JT 24). Doch viel mehr erfährt man weder aus der Erinnerung Marie Abs’ noch aus dem Gespräch Gesines mit ihrer Tochter. Auf Maries Frage, ob sie nun „zwei vorbestrafte Großväter hätte“ (JT 24), kann oder will Gesine nur ausweichend antworten: „Jakobs Vater hat vor keinem Gericht gestanden.“ Und auch ihre weitergehende Spekulation, „ob er wenigstens den Kriegsdienst verweigert“ hat, muss Gesine offen lassen: „Es war vielleicht keine Handlung, wie sie dir gefiele. Und ich weiß sie nicht“ (JT 24). Nicht nur diese Frage bleibt offen.13 Vorerst offen bleibt auch, warum Johnson an zwei autobiographisch so außerordentlich ‚belasteten‘ Stellen ein Wehrmachtsgefängnis in Anklam ins Erzählen gebracht hat und darüber hinaus, ob er mehr über dieses Gefängnis gewusst hat als die Person Gesine Cresspahl. Ein Blick in Johnsons Bibliothek hilft auch hier zumindest ein kleines Stück weiter. Zwar enthält diese keinen eigenständigen Titel über ein solches Gefängnis, in einem für die Geschichte Mecklenburgs und Pommerns einschlägigen Titel findet man aber einen ersten Hinweis. Eine im wahrsten Sinne parteiische Darstellung des antifaschistischen Widerstandskampfes in Mecklenburg bis 94514 enthält auf zwei Seiten auch Angaben über ein Wehrmachtsgefängnis in Anklam, in dem hauptsächlich Deserteure gefangengehalten und in großer Zahl auch hingerichtet worden sind. Als Belegquelle wird ein Text von Ulrich Schulz mit dem Titel „Wehrmachtsgefängnis Anklam“15 genannt. Es ist nicht mehr zu klären, ob Johnson auch diese, nur sehr schwer zugängliche Quelle hat lesen können, oder ob er bei seiner Bearbeitung auf die eher spärlichen Angaben in der genannten Darstellung angewiesen war. Vielleicht ist es besonders eine Zahl gewesen, die den Anlass für die Aufnahme eines ‚Wehrmachtsgefängnis Anklam‘ in die 93 Rainer Paasch-Beeck „Jahrestage“ geboten hat: „39 Hingerichtete“16 nennt der Bericht über Anklam. Auch diesen 39 Opfern hat Uwe Johnson einen „Ort des Gedenkens eingerichtet“, wie es Norbert Mecklenburg an anderer Stelle einmal genannt hat.17 Die dargestellte schmale erzählerische Unterfütterung der Anklam-Episode lässt es eher unwahrscheinlich erscheinen, dass Johnson den Bericht von Ulrich Schulz gekannt hat. Um so bemerkenswerter erscheint in diesem Licht eine bedrückende Parallele zwischen beiden so unterschiedlichen Texten. Ausgebreitet über acht Seiten enthält der Bericht von Ulrich Schulz in langen Listen die Namen, den Dienstgrad, den Todes- bzw. Hinrichtungstag und – soweit bekannt – die Anklage bzw. den Grund der Verurteilung der in Anklam hingerichteten deutschen Soldaten.18 Da es für die meisten der Hingerichteten schon lange keine Gräber und somit auch keinen Ort der Erinnerung in Anklam mehr gibt, ist es auch diese Liste, die ihre Namen und ihre Schicksale davor bewahrt, endgültig vergessen zu werden. Die von Johnson in den „Jahrestagen“ aufgestellte Liste mit den Namen zahlreicher Opfer der „Justiz in Mecklenburg während der Nazizeit“ (JT 945ff.) erinnert nicht nur formal sehr an die von Schulz recherchierte Liste. Auch Johnsons Liste setzt vielen anderen zumeist unbekannt gebliebenen Opfern des Nationalsozialismus einen Ort des Gedenkens. Ähnliches gilt ohne Frage auch für Lockenvitz’ „vorläufige Liste zur Justiz in Mecklenburg seit 945“ (JT 790ff.). Im Gespräch zwischen Gesine und Marie bleibt offen, warum und wie lange Wilhelm Abs im Anklamer Wehrmachtsgefängnis gefangengehalten war. Durch Maries Bemerkung – „Hat er wenigstens den Kriegsdienst verweigert?“ (JT 24) – wird aber auf den Grund für die meisten Todesurteile gegen Soldaten der Wehrmacht, und zwar nicht nur in Anklam, aufmerksam gemacht: Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe oder auch Desertion oder Fahnenflucht, wie es bis heute abschätzig heißt. Ob Johnson auf diese sehr verdeckte Weise auch an das Schicksal von schätzungsweise 20.000 zwischen 939 und 945 hingerichteten deutschen Soldaten, in der Mehrzahl so genannte „Deserteure“19, erinnern wollte, muss offen bleiben. Festzuhalten ist, dass Johnson mit der Erwähnung des Anklamer Wehrmachtsgefängnisses an eine der wichtigsten Einrichtungen des Systems des unmenschlichen Wehrmachtstrafvollzugs bereits 973 erinnert hat, lange bevor sich die Öffentlichkeit und die Wissenschaft diesem verdrängten Thema gestellt haben.20 Gemerkt haben wir alle es nicht. Und noch eine andere Aussage Gesines gibt Rätsel auf „Jakobs Vater hat vor keinem Gericht gestanden, Marie“ (JT 24). Soll das bedeuten, dass die für die Verurteilung von Soldaten zuständigen Kriegsgerichte in den Augen Gesines 94 „In Anklam aber empfängt mich die Hölle“ – und damit vielleicht auch des ‚Genossen Schriftstellers‘ – keine Einrichtungen waren, die ihren Vorstellungen von einem ‚ordentlichen Gericht‘ entsprachen? Aber dieses Urteil träfe doch auf – fast – alle im nationalsozialistischen Deutschen Reich tätigen Gerichte zu. Tatsächlich sind wohl annähernd 5.000 deutsche Soldaten Insassen des Anklamer Wehrmachtsgefängnisses gewesen. Abgesehen von den dort untergebrachten Untersuchungshäftlingen sind alle von ihnen dorthin im Anschluss an die Urteile der Militärgerichte gebracht worden. Viele, um dort ihre Strafen abzusitzen, andere um in andere Militärgefängnisse weitergeleitet zu werden. Tausende von ihnen kamen von hier in so genannte Straf- oder Bewährungseinheiten; Einheiten also, die zu besonders gefährlichen Kriegseinsätzen herangezogen wurden und eine extrem hohe Verlustquote hatten.21 Und schließlich die mindestens 39 Soldaten, die in einem eigenen Todeszellentrakt auf ihre Hinrichtung warteten, bevor sie dann in der Regel im Hof des Anklamer Wehrmachtsgefängnisses erschossen wurden. Ulrich Schulz und seine Mitstreiter waren die ersten, die sich um die vergessene und verdrängte Geschichte des Anklamer Gefängnisses bemüht haben. Ihnen ist es zu verdanken, dass dieser dunkle Abschnitt deutscher Geschichte im Allgemeinen und der Geschichte der deutschen Wehrmacht in der Zeit von 939 bis 945 im Besonderen nicht in Vergessenheit geraten ist. Da die meisten Unterlagen und Dokumente kurz vor dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Anklam vernichtet worden sind, mussten die Rechercheure an den unterschiedlichsten Orte verstreute Dokumente und Erinnerungen von Zeitzeugen ausfindig machen und sichern. Mit dem Bau des Gefängnisgebäudes wurde Ende 939 begonnen, die ersten ‚Belegungen‘ fanden ein Jahr später statt. Der Standort am südlichen Stadtrand befand sich nicht in unmittelbarer Nähe des Hauses von Johnsons Familie. Die relativ große Anlage war für etwa 600 Häftlinge ausgerichtet, teilweise war das Gefängnis aber mit einer mehr als doppelt so hohen Anzahl von Häftlingen völlig überbelegt. Die Schätzungen anhand der aufgefundenen Dokumente gehen davon aus, dass insgesamt mehr als 5.000 Häftlinge in den knapp viereinhalb Jahren der Existenz des Gefängnisses dort eingesessen haben. Die ersten Hinrichtungen in Anklam fanden im November 94 statt. Als gesichert gilt die Zahl von 39 hingerichteten Soldaten des Anklamer Wehrmachtsgefängnisses. Die überwiegende Zahl der ermordeten Soldaten war noch sehr jung; so entstammten 45 Männer den Jahrgängen 9 bis 920 und 42 den Jahrgängen ab 92.22 Mehrere der Erschossenen waren noch nicht einmal 8 Jahre alt, als sie verurteilt bzw. hingerichtet wurden. Die vermutliche Zahl der Getöteten dürfte aber noch um einiges höher liegen, da 95 Rainer Paasch-Beeck insbesondere in den letzten Kriegswochen auch in Anklam eine Vielzahl so genannter ‚Deserteure‘ durch Schnellgerichte zum Tode verurteilt wurden. Viele der so zu Tode gekommenen fanden keinen Eingang mehr in die doch sonst so sorgfältige deutsche Bürokratie. In Anklam sind noch am 26. April 945, zwei Tage bevor das Gefängnis vor der anrückenden ‚Roten Armee‘ geräumt wurde und wenige Tage vor der Kapitulation Deutschlands, zwei zum Tode verurteilte Soldaten erschossen worden. Genau wie an die vielen anderen in Anklam ermordeten Soldaten erinnert an sie kein Grabstein mehr. Lediglich von zwei 944 erschossenen Offizieren existieren noch die Gräber. Uwe Johnson hat mit der zweimaligen Erwähnung des Anklamer Wehrmachtsgefängnisses in seinem „opus magnum der Epochenerinnerung“23 der Stadt, in der er die ersten zehn Jahre seines Lebens verbracht hat, ein merk-, ja ein denkwürdiges literarisches Mahnmal gesetzt. Nicht nur, dass er darauf verzichtet hat, im Zusammenhang mit dieser Stadt einen sentimentalen Rückblick auf eine ‚glückliche Kindheit‘ zu gestalten,24 sondern er hat stattdessen an einen der dunkelsten Punkte in der Geschichte dieser Stadt erinnert.25 Geographisch näher lag seinem Elternhaus in der Anklamer Siedlung „Min Hüsung“ vor allem der jüdische Friedhof in unmittelbarer Nähe, aber auch die 938 zerstörte Synagoge in der Mauerstraße.26 Johnson aber hat einen Ort ins Erzählen seiner „Jahrestage“ gebracht, an dem mindestens 39 zumeist junge Männer erst ermordet und danach regelrecht verscharrt worden sind. So wie er vor den meisten anderen an das Sterben im Lager „Fünfeichen“ erinnert hat, hat er im dritten Band seines großen Romans auf eine zwar subtile, aber doch mit einem deutlichen Signal – Anklam! – versehene Weise auf ein Kapitel deutscher (Unrechts-)Geschichte aufmerksam gemacht, das in der Forschung und der Öffentlichkeit erst mit zwanzigjähriger Verspätung angemessen ‚aufgearbeitet‘ werden sollte. In der Stadt Anklam bemüht man sich seit einiger Zeit mit Ausstellungen und Vorträgen, die Beschäftigung mit der Person und dem Werk Uwe Johnsons etwas stärker in die Öffentlichkeit zu transportieren. Zugleich stellt Andreas Wagner die beschämende Tatsache fest, „dass in der Stadt Anklam gegenwärtig für die … Opfer der NS-Militärjustiz kein Erinnerungszeichen existiert“.27 Johnson hat in seinem Werk solch ein Erinnerungszeichen gesetzt. Eine Auseinandersetzung mit den „Jahrestagen“ ist immer auch eine schmerzhafte Beschäftigung mit der deutschen Geschichte – nicht nur für Anklam. 96 „In Anklam aber empfängt mich die Hölle“ Anmerkungen 1 Andreas Wagner: „In Anklam aber empfängt mich die Hölle…“ Dokumentation zur Geschichte des Wehrmachtgefängnisses Anklam 940-945. Schwerin 2000 (Politische Memoriale), S. 52. 2 Bernd Neumann: Uwe Johnson. Mit zwölf Porträts von Diether Ritzert. – Studienausgabe – Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 996, S. 3. 3 A.a.O. 4 A.a.O., S. 5-59. 5 Elke an Huef: Wer war Uwe? Wer ist Johnson? In: Die Zeit. Hamburg. 49. Jg., Nr. 32 vom 5.8.994, S. 42. 6 A.a.O. 7 Vgl. Bernd Neumann: Uwe Johnson. Mit zwölf Porträts von Diether Ritzert. Berlin: Ullstein, aktualisierte, überarbeitete Ausgabe 2000, S. 7-75. 8 Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam 200. 9 A.a.O., S. 9. 10 Jürgen Grambow: Uwe Johnson. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 997 (= rowohlts monographien. 50455), S. 26-30. 11 Vgl. Eberhard Fahlke: „Erinnerung umgesetzt in Wissen“. Spurensuche im UweJohnson-Archiv. In: Uwe Johnson: „Für wenn ich tot bin“. Siegfried Unseld und Eberhard Fahlke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 99 (= Schriften des Uwe Johnson-Archivs. l), S. 73-43, hier S. 80ff. 12 Bernd Neumann (a.a.O., s. Anm. 2, S. 24) weist zu Recht auf die „ebenso mimetisch genau erinnerte wie frei konzipierte Skizze“ der Anklamer Siedlung „Min Hüsung“ in den Familienszenen in „Das dritte Buch über Achim“ hin. Dass dort Anklam nicht genannt wird, ist evident. 13 Die vage angedeutete Möglichkeit, der Figur Wilhelm Abs, versehen mit biographischen Details von Johnsons eigenem Vater, oppositionelle oder gar widerstandsspezifische Züge zuzuschreiben, korreliert – bei aller Vorsicht einer solchen Deutung – mit Bernd Neumanns Beobachtungen zu der Anlage des Vaters im „Achim“-Roman. Dieser ist zumindest partiell als Antifaschist gestaltet. Ob dieser „Wunschvater“ des Autors tatsächlich als eine Hommage an Hans Mayer zu verstehen ist, bleibt dahingestellt. Vgl. Neumann, a.a.O.(s. Anm. 2), S. 26. 14 Der antifaschistische Widerstandskampf unter Führung der KPD in Mecklenburg 933 bis 945. Hrsg. v. den Bezirkskommissionen zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei den Bezirksleitungen Rostock, Schwerin und Neubrandenburg der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Rostock, 970, S. 286f. 97 Rainer Paasch-Beeck 15 Ulrich Schulz: Wehrmachtsgefängnis Anklam. Bericht einer Forschungsgruppe der Ortsgruppe des Deutschen Kulturbundes Anklam. Anklam 962 (Mskpt. Masch., 45 S.). Die o.a. Darstellung (,antifaschistischer Widerstandskampf ‘, Anm. 4, S. 287) nennt irrtümlich 964 als ‚Erscheinungsjahr‘. Ich habe Herrn Ulrich Schulz für die großzügige Überlassung seiner Studie und anderer Materialien zu danken. 16 Antifaschistischer Widerstandskampf, a.a.0. (s. Anm. 4), S. 286. 17 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsans. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt/M.: Suhrkamp 997, S. 400. 18 Schulz, a.a.O. (s. Anm. 5); S. 24-3. 19 Vgl. Wagner, a.a.O. (s. Anm. ), S. 3. 20 Vgl. Wagner, a.a.O., S. 3ff. Auch die von Wagner zusammengestellte Auswahlbibliographie. 21 Andreas Wagner, a.a.O., S.37. – Ulrich Schulz (a.a.O., s. Anm. 5, S. 5f.) hat darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, dass viele Gefangene zu Arbeitskommandos zusammengestellt wurden und vor allem in Anklamer Zivil- und Rüstungsbetrieben arbeiten mussten. Dazu zählten die Arado-Flugzeugwerke sowie die Raketenversuchsanstalt in Peenemünde. 22 Vgl. Andreas Wagner, a.a.O. (s. Anm. ), S. 40f. und Ulrich Schulz, a.a.O. (s. Anm. 5), S. 23. 23 Klaus Briegleb: Vergangenheit in der Gegenwart. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Band 2: Gegenwartsliteratur seit 968. Herausgegeben von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München: Carl Hanser Verlag 992, S. 7-6, hier S. 93. 24 Auch in seiner vielzitierten Hommage an die Flüsse, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben (die berühmten „Orte des Aufwachsens“ in einem Brief an Rolf Italiaander), nennt Johnson – im Gegensatz zu Güstrow und Rostock – Anklam, die Stadt an der Peene, ausdrücklich nicht. Stattdessen schreibt er über „die Peene, die bei Karnin weissen Sand auswäscht, fein wie für Sanduhren“ (zitiert nach: Uwe Johnson – Die Katze Erinnerung. Eine Chronik in Briefen und Bildern. Zusammengestellt von Eberhard Fahlke. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 994, S. ). 25 Auch wenn mit dem Stichwort ‚Anklamer Wehrmachtsgefängnis‘ eine der wenigen Leerstellen, die der „Jahrestage“-Kommentar überhaupt nachgelassen hat, nun positivistisch gefüllt ist, bleibt vom Kapitel ‚Uwe Johnson in Anklam‘ nach wie vor vieles im Dunkeln. Und das wird wohl so lange so bleiben, wie die wichtigsten Zeuginnen schweigen. 26 Vgl. Heinz Bemowsky: Anklam. In: Wegweiser durch das jüdische MecklenburgVorpommern. Herausgegeben von Irene Dieckmann. Potsdam: Verlag für BerlinBrandenburg 998, S. 67-82. (= Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in Bran- 98 „In Anklam aber empfängt mich die Hölle“ denburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. 2). – Rainer Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“. Die Verdrängung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Mecklenburgs im Spiegel der „Jahrestage“. In: TEXT + KRITIK. Zeitschrift für Literatur. München. 200. Heft 65/66 (Uwe Johnson. Neufassung), S. 9-34. 27 Andreas Wagner, a.a.O. (s. Anm. ), S. 42. – Ulrich Schulz (a.a.O., s. Anm. 5, S. 65-68) weist darauf hin, dass nach 962 lediglich aufgrund von privater und in bescheidenem Maße kommunaler Initiative eine „kleine Mahn- und Erinnerungsstätte“ innnerhalb des ehemaligen Gefängnisses errichtet werden konnte. Zum heutigen Zeitpunkt scheint das Gebäude einschließlich der Todeszellen der Zerstörung preisgegeben zu sein. 99 Jurij Sacharov Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Eine kritische Bilanz einer Rezeptionsgeschichte 969, also genau zehn Jahre nach seinem Start in die literarische Szene, wurde Uwe Johnson gefragt, ob einige seiner Werke in den Ostblockstaaten erschienen seien1. Es folgte die nicht gerade erfreuliche Antwort des Autors: „Es gibt lediglich eine serbische2 Ausgabe meiner Bücher. Die Herausgabe in der DDR würden schon die ostdeutschen Schriftsteller zu verhindern wissen“. Seitdem hat sich die Situation tief greifend verändert, allerdings nur insofern, als es einen Ostblock nicht mehr gibt, die früheren ostdeutschen Leser freien Zugang zu Johnsons Werken haben und in dem Autor einen großen Landsmann und einen „gemäßigten“ Befürworter der DDR wiederentdecken können. In der anderen Hinsicht, nämlich der auf das Vorhandensein von Übersetzungen in den Sprachen der ehemaligen sozialistischen Länder, bleibt Johnsons Nachlass nach wie vor eine terra incognita und ein mare tenebrosum: der 999 erschienenen „Uwe-Johnson-Bibliographie“3 zufolge wurde die karge Vertretung von Johnsons Werk im Osten und Südosten Europas nur um zwei Ausgaben erweitert, die wiederum auf dem Terrain von Ex-Jugoslawien herausgebracht wurden4. Desto interessanter liest sich in „Begleitumstände“ folgendes Zeugnis des Autors, in dem er auf einen Beitrag in der ‚Literaturnaja Gazeta‘5 verweist: „Hochgestellter Besuch aus Moskau gab zu verstehen, wie man zumindest bei der ‚Literaturnaja Gaseta‘ denke über die Möglichkeit, ein Buch des Verfassers in der Sowjetunion herauszubringen: er müsse es eigens schreiben, und zwar mit einem Bewusstsein, das ein Land in Europa (nördlich von Bayern, östlich der Bundesrepublik, südlich der Ostsee, westlich der Volksrepublik Polen) weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart anerkenne als vorhanden.“6 Diese in typisch Johnsonscher allegorisch-anspielender Manier abgefasste Passage lässt auf Folgendes schließen: In der Sowjetunion erkannte man die Bedeutsamkeit des Autors Uwe Johnson, so dass man dort trotz allen politischen Bedenken bereit war, dem Autor eine Ausgabe zu bescheren. Andererseits hing die Tauglichkeit eines Buches von Uwe Johnson für die Jurij Sacharov Publikation in der Sowjetunion ganz von dem Faktor mit dem Namen DDR ab. Dem Autor wurde zur Bedingung gemacht, dass er ganz seinen Jerichower Mikrokosmos würde aufgeben und über die Tatsache hinwegsehen müssen, dass es im Deutschland der fünfziger, sechziger, siebziger, achtziger Jahre, um in Anlehnung an Johnson zu sprechen7, eine Staatsgrenze gab. Die Gefälligkeit der sowjetischen Seite blieb bekanntlich unerwidert. In Anbetracht der aufgezeigten miserablen Übersetzungssituation können wir nur sehr bedingt und vorsichtig über eine Rezeption von Johnsons Werk östlich des „Eisernen Vorhangs“, insbesondere in der einstigen Sowjetunion sprechen. Nur eine geringe Anzahl von Interessenten, vor allem Literaturwissenschaftlern, dürften über Kenntnisse von Johnsons Werk verfügen. Diesen Sachverhalt spiegelt die „Johnson-Bibliographie“ wider, wo nur fünf in der Ex-Sowjetunion erschienene literaturwissenschaftliche Publikationen entdeckt werden konnten. Die selbständigen Recherchen in den Bibliotheksbeständen der Ukraine, eines der Nachfolgestaaten der UdSSR, konnten dieses Ergebnis nur bestätigen, es sei denn, als sechste Veröffentlichung wäre die russischsprachige Übersetzung einer in der DDR erschienenen Geschichte der deutschen Literatur8 zu betrachten, wo Johnson knapp eine halbe Seite zugestanden wird. Symptomatisch erscheint auch jenes Faktum, dass die dreißigbändige „Große sowjetische Enzyklopädie“ Johnson kein selbständiges Lemma widmet, während solche seiner Zeitgenossen wie Böll, Enzensberger, Frisch, Grass, Koeppen, Richter, Walser „vollberechtigt“ präsent sind. Johnson wird im Stichwort Bundesrepublik Deutschland (dort siehe Kapitel Literatur) als modernistischer Schriftsteller und Autor der „Jahrestage“ unter jenen Literaten erwähnt, deren Werke zunehmende realistische Tendenzen aufwiesen.9 Nicht aufgenommen wurde Johnson auch in die modernere fünfbändige „Ukrainische Literaturenzyklopädie“,10 obwohl Böll, Enzensberger, Koeppen, Walser, Lenz wiederum aufgeführt sind. Im letzten Fall war weniger politisches Bedenken im Spiel, vielmehr liegt es am Fehlen von Übersetzungen der Bücher Johnsons ins Ukrainische oder ins Russische. In Bezug auf insgesamt ca. 3.500 Titel von Publikationen über Uwe Johnson machen die fünf bzw. sechs in der Sowjetunion herausgekommenen Aufsätze einen unproportioniert kleinen Anteil aus. Sämtlich mitten im Kalten Krieg entstanden (die Erste ist mit 966, die Letzte mit 982 bzw. 986 datiert), können sie a priori als ideologisch geprägt und nicht objektiv beurteilt werden. 102 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte Eine Anmerkung ist der Darstellung dieser Abhandlungen vorauszuschicken. Die UdSSR war ja eine Diktatur, und man hat in der Diktatur gelebt und geschrieben, wie es Johnson über Bertolt Brecht sagte.11 Heute würden deren Verfasserinnen und Verfasser ihre Stellung zu Johnson und seinem Werk wahrscheinlich revidieren. Darüber hinaus enthalten die Veröffentlichungen kuriose faktologische Errata, was aber ebenfalls seine Gründe hat (u.a. Mangel an Primär- und Sekundärliteratur). Aber selbst von einigen Forschern in der BRD wurde Jakobs Elbestadt irrtümlich als Dresden geortet!12 Der Leser dieser sowjetischen Veröffentlichungen muss sich mit einer sehr dürftigen Darstellung von Johnsons Vita begnügen. Außer den Erscheinungsjahren seiner Bücher ist lediglich zu erfahren, dass der Autor 934 in Kammin (Pommern) in einer Bauernfamilie geboren wurde, nach dem Germanistikstudium aus der DDR nach West-Berlin zog, 966-68 in den USA lebte und Träger mehrerer Literaturpreise, darunter des Fontane- (960) und des Büchner-Preises (97) ist. Zwei Tendenzen bei der Interpretation von Johnsons Romanen lassen sich feststellen. Einerseits wird dem Autor eine eindeutig antikommunistische, gegen die DDR gerichtete Position unterstellt, dementsprechend wird er auch behandelt, be- und verurteilt. Andererseits versucht man, ähnlich dem Plan von Herrn Rohlfs hinsichtlich Gesine, Johnson für „die Sache des Sozialismus zu gewinnen“13 : man akzentuiert in den Werken jene Episoden, die sich dazu eignen, Johnsons kritische Einstellung zum Kapitalismus bzw. zur westdeutschen Wirklichkeit zu belegen, und man vertuscht zugleich jene Textstellen, die die kommunistischen Zustände in ungünstigem Licht zeigen. Beinahe-Revanchist Uwe Johnson hatte vollkommen Recht, als er im Brief an Siegfried Unseld vom 27.8.965 die Vermutung äußerte, das damals gerade erscheinende Buch „Zwei Ansichten“ setze den Autor „noch kräftiger in die Ehren eines objektiven Feindes [des Sozialismus]“.14 Denn neben einem erneuten Einreiseverbot für die DDR15 sowie einer negativen Rezension in einer österreichischen prokommunistischen Zeitung16 musste Johnson noch einen Angriff der sowjetischen Literaturkritik hinnehmen, deren Aufmerksamkeit das Erscheinen von Johnsons ersten drei Büchern anscheinend entgangen war: 103 Jurij Sacharov „Uwe Johnson denkt wohl, daß er mit den Revanchisten nicht unter einer Decke steckt. Aber mit seinem Roman ist er auf seine eigene Art und Weise beim Schüren der Feindlichkeit zwischen den Deutschen beiderseits der Grenze mit von der Partie. Der Autor wollte die Unparteilichkeit bewahren – er versteckte sich hinter seinen Personen und betitelte das Buch ‚Zwei Ansichten‘. Aber das Buch drückt konsequent nur eine Ansicht aus. Die nicht gute Ansicht“17 schrieb Tamara Motylova in ihrem Artikel „Eine Ansicht“, erschienen in der Zeitschrift „Ausländische Literatur“, dem Organ des UdSSR-Schriftstellerverbandes (die Publikation ist in der „Johnson-Bibliographie“ unter den „Rezensionen zu den großen erzählerischen Werken“ aufgeführt). Die Einwände der sowjetischen Rezensentin stehen in einem „dialektischen“ Gegensatz zu den kritischen Bemerkungen jener westdeutschen Kritiker, die auch nicht ganz begeistert von Johnsons neuem Buch waren. In ihrem Beitrag polemisiert die sowjetische Kritikerin mit diesen Kritikern und nutzt ihre Befunde als Anhaltspunkte, um zu diametral entgegensetzten Schlüssen zu kommen. Ein Vergleich der sowjetischen Publikation mit den betreffenden westlichen Rezensionen erscheint sehr aufschlussreich. Der Buchtitel, der Motylovas Missfallen erregt, ist bei den westdeutschen Literaturkritikern Horst Krüger und Marcel Reich-Ranicki ebenso ein Stein des Anstosses und der Ausgangspunkt für „kritische Waffengänge“. Ganz wie Motylova erblickt Krüger nur eine Ansicht im Roman („Zwei Ansichten? Nein. Ich sehe beim besten Willen nur eine.“18), rügt aber den Autor Johnson, weil er für die DDR eben eine Vorliebe zeige. Johnson „wollte Mauerbau und Flucht in der Doppelperspektive von Ost und West spiegeln – vielleicht sogar gegeneinander neutralisieren? Dieses Vorhaben ist ihm nicht gelungen. Gemessen an dem vielschichtigen, realitätsgesättigten Bild der ostdeutschen Seite, wirkt die westdeutsche Dependance merkwürdig blaß und flächig.“ Johnson sei „ein meisterhafter Darsteller der DDR-Wirklichkeit: sein Auge, sein Herz, seine Erinnerung […] sind krankhaft vor Heimweh nach dem Osten gerichtet […] Im Westen ist er ein Fremdling geblieben.“19 Und auch Marcel Reich-Ranicki fällt ein ähnliches Urteil: Johnsons Buch „sollte auf zwei Beinen stehen – und es steht, bestenfalls, auf einem. Nicht zwei Möglichkeiten zeigt es […] sondern nur eine. […] Wie in ‚Mutmassungen‘und 104 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte in ‚Achim‘ erweist er sich auch in diesem neuen Buch als ein Dichter einer der beiden deutschen Welten – jener zwischen Elbe und Oder.“20 In ihrem Aufsatz beruft sich die sowjetische Kritikerin auf diese beiden westdeutschen Publikationen, zitiert sie, verschweigt aber deren Schlussbefunde über „eine Ansicht“ bzw. „ein Bein“. Der Sinn der Zitate wird dabei manipuliert. Bei Krüger steht: „B. soll […] als Typus des bundesrepublikanischen Konsumbürgers gezeichnet werden: repräsentationssüchtig, hochgestochen, labil. […] Ist er nicht ein wenig eine DDR-Vorstellung? Ist er nicht viel zu unterentwickelt in seinem Bewußtsein, um die spezifischen Antagonismen unserer westlichen Gesellschaft sichtbar zu machen? Bundesrepublik, ist das nicht ein verwirrender Pluralismus […] Von dieser sprengenden Vielgestaltigkeit unserer Gesellschaft lässt unser Herr B. nichts ahnen“. Der sowjetische Artikel enthält als Zitat nur einen Teil von Krügers Gedankens, denn der Satz „Ist es nicht ein wenig eine DDR-Vorstellung?“ wird weggelassen, wodurch die Tatsache vertuscht wird, dass Krüger nicht so konkret die Johnsonsche Position, sondern vielmehr die Vorurteile eines Ostdeutschen gegen die westdeutschen Bürger ins Visier nimmt. Durch solche „Technik“ des ausgewählten Zitierens wird der Eindruck erweckt, als habe Johnson auch bei den westdeutschen Kritikern ausschließlich Misserfolge verbucht. Dass ein größerer Teil von Krügers Artikel eine Hommage an Johnson als politischen Erzähler ist, davon lässt die sowjetische Kritikerin fast nichts verlauten. Nur flüchtig bemerkt sie, dass nach Krügers Ansicht die DDR-Teile des Romans besser geraten seien als die BRD-Kapitel. Ebenso unvollständig werden Reich-Ranickis Äußerungen wiedergegeben. Im deutschen Urtext heißt es: „Offenbar sollte die Welt der sauberen Arbeit und des sinnvollen Lebens gegen die des verächtlichen Konsums [… ] ausgespielt werden, wobei die Bürger der einen Welt die Freiheit entbehren müssen, die der anderen jedoch nicht viel mit ihr anzufangen wissen. Mit einer derartigen Verteilung der Akzente […] nähert sich Johnson […] [einem] Propagandisten“.21 Die sowjetische Kritikerin erklärt sich lediglich damit nicht einverstanden, dass in Johnsons Roman die DDR angeblich als „die Welt der sauberen Arbeit und des sinnvollen Lebens“ erscheine. Reich-Ranickis Bemerkungen über die unfreie ostdeutsche Welt sowie sein Vorwurf, Johnson ähnele einem kommunistischen Propagandisten, erwähnt sie aus naheliegenden Gründen nicht. 105 Jurij Sacharov „Ja, die Krankenschwester D. und ihre Kollegen arbeiten, aber irgendwie sehr trist, ohne Freude. […] Bei Johnson ist das ganze Lebensbild der DDR eingeengt auf die jämmerliche Existenz der Krankenschwester D., einer sehr beschränkten Frau, die von nicht nachvollziehbarer pathologischer Angst, von Minderwertigkeitskomplex (der Vater war ein Kriegsverbrecher, der Bruder ging in den Westen…), peinlicher Unsicherheit besessen ist“22 schreibt Motylova. Die Darstellung der DDR bei Johnson erinnere stark an einige in der kapitalistischen Welt beliebte antisozialistische „negative Utopien“; tendenziöse Anlage, Voreingenommenheit des Autors seien überall präsent. „Johnsons Roman […] lässt sich überhaupt nicht mit der wahren DDR-Wirklichkeit vergleichen“23 beteuert die Kritikerin nachdrücklich. Die Rezensentin räumt ein, dass der dem Roman zugrunde liegende Lebenskonflikt wirklich akut sei. Dem Autor wird jedoch vorgeworfen, dass er im Unterschied zu Anna Seghers („Die Entscheidung“) und Christa Wolf („Der geteilte Himmel“) nicht Farbe bekenne. „Uwe Johnson weigert sich demonstrativ, Stellung zu beziehen […] nicht umsonst ist das Buch ‚Zwei Ansichten‘ betitelt.“24 In Johnsons Buch seien alle Zusammenhänge zwischen der gegenwärtigen deutschen Wirklichkeit und der jüngsten Geschichte des Landes wie vorsätzlich abgebrochen. „Nur beiläufig erfahren wir die Tatsache, dass der Vater der D. ein hochrangiger Nazi-Offizier war und dass dieser Umstand die Karriere der D. beeinträchtigt.“25 Im Roman gebe es keinen Platz zum Nachdenken über historische Schicksale der Nation. Alles werde auf das isolierte „Hier“ und Jetzt“ reduziert. Das getrennte Bestehen der beiden deutschen Staaten sei sowohl für den Autor wie für seine Personen bloß ein unfassbares Missverständnis, das sich durch die Schuld unbekannter geheimnisvoller Missetäter in die Länge gezogen habe. „Man darf nicht die Vergangenheit vergessen – sonst verschließt sich die Gegenwart dem Verständnis […] In dem Roman von Uwe Johnson ist das Vergangene ganz und gar vergessen, durchgestrichen. Infolgedessen wird das Gegenwartsbild verzerrt.“26 Der Gedanke der Kritikerin lässt sich weiterführend so interpretieren: Johnson verstehe nicht oder wolle nicht einsehen, dass all die in seinem Roman beschriebenen „Ansichten [von] der Sperre, Hohlblockwänden, geschichteten Betonplatten, verstrebten Stacheldrahtlinien, zugemauerten Fenstern in Grenzhäusern, Posten auf dreistöckigen Hochständen, mit Hunden im Schußfeld,“ sowie „Drahtnetze auf Hausfirsten, […] Sichtblenden, […] Schießscharten“27 wie auch Bulldozer und Pioniere, die Gartenlauben und Wohnhäuser aus 106 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte dem Schußfeld räumen, zwangsläufige Folgen des Krieges sind. Und diese Beschreibung der Grenze stimme gar nicht, weil sie ein Phantombild der verzerrten Vorstellung Johnsons sei. Die Ausführungen der Kritikerin über die „Vergesslichkeit“ Johnsons entbehren – bei Licht besehen – jedoch jeder Grundlage: „man kann in der Welt eigentlich nicht über Deutschland reden. Eigentlich hätten wir nach 945 alle still sein müssen. […] Das ist ein Land mit einer Schande, die nicht vergeben werden kann. Das Einzige, was ein Reden oder Schreiben über Berlin rechtfertigen könnte, das ist eben die Teilung, die Grenze, die Entfernung. […] Das könnte die Welt interessieren, und das gibt uns ein Recht zu sagen: wir sind da, wir sind beachtenswert. Aber sonst nichts!“ nimmt Johnson in einem Gespräch Stellung.28 Unumstrittenes Talent und tiefe Widersprüche des Weltbildes Neun Jahre dauerte es, ehe man Johnsons Werk erneut beleuchtete. 975 erschien in dem Buch „Die Literatur und die „Konsumgesellschaft“. Der westdeutsche Roman der 60er – Anfang der 70er Jahre“ der Aufsatz von Irina Mlečina „Wirklichkeit und ‚Poetik der Mutmaßungen‘. Romane von Uwe Johnson“. Mlečina ist zugleich Verfasserin des Kapitels über Uwe Johnson in der maßgebenden „Geschichte der Literatur der BRD“ (980). Diese zweite Abhandlung ist die größte und informativste Publikation über Johnson, die je in der Sowjetunion erschienen ist. In der „Johnson-Bibliographie“ werden diese Publikationen den „Allgemeinen Betrachtungen zum Werk und Biographica, Porträts in Literatur-Lexika“ zugeordnet.29 Da Mlečinas Beiträge inhaltlich eng zusammenhängen, erfolgt deren anschließende Darstellung vor allem aufgrund der letzten Fassung aus dem Jahre 980. Die Grundeinstellung dieser Veröffentlichungen zum Autor und seinem Werk ist als ungünstig und missbilligend zu charakterisieren. Zwar sei Johnsons Talent unbestritten und seine Rolle in der Literaturentwicklung der BRD bedeutend, aber sein Werk kennzeichne eine tiefe Widersprüchlichkeit seines Weltbildes.30 Mlečinas Diskurs setzt mehrere Akzente, die sich zusammenfassend wie folgt wiedergeben lassen: 107 Jurij Sacharov Johnson missverstehe die Hintergründe und Ursachen der Teilung Deutschlands. Als Hauptthema von Johnsons ersten drei Romanen bestimmt Mlečina die Darstellung der menschlichen Schicksale unter den Bedingungen von zwei deutschen Staaten. Die Romane seien ein Versuch, die Auswirkungen dieses Faktors auf Persönlichkeit, menschliche Psychologie und zwischenmenschliche Beziehungen zu analysieren. Johnson betrachte das Problem der zwei Deutschland „von der privaten Position eines kleinen Menschen her, dem die Grenze einen unersetzlichen Schaden zugefügt hat“.31 Das Wort privat ist hier negativ konnotiert und bedeutet „allem Öffentlichen und Gemeinsamen entgegengesetzt“.32 Ähnlich wie Motylova bemerkt Mlečina, in Johnsons Büchern werde die deutsche Spaltung nicht als Ergebnis eines bestimmten historischen Prozesses gedeutet, der durch Krieg und Zerschlagung des Faschismus eingeleitet und durch Aktivitäten der Reaktionskräfte in den Westzonen besiegelt worden sei, sondern als Folgen von offenem und geheimem Getue sowie von Intrigen der beiden einander bekämpfenden Lager. Johnsons voreingenommene Einstellung zum Sozialismus falle viel schärfer aus als seine Kritik am Kapitalismus. Johnsons Helden würden sich beiderseits der Grenze unbehaglich fühlen. Sie würfen sich hin und her zwischen den Machtapparaten, die die Persönlichkeitsfreiheit gleichermaßen bedrohen würden. „Nach Johnson sind dem Menschen […] jedes staatliche und soziale System – ‚West‘ und ‚Ost‘, Kapitalismus und Sozialismus gleichermaßen fremd […] Die sozialistische Gesellschaftsordnung wird als unverträglich mit den Persönlichkeitsinteressen dargestellt“. Den Roman „Das dritte Buch über Achim“ fülle der Autor mit einer Menge von geringfügigen, tendenziös zusammengestellten Tatsachen aus dem DDR-Leben. In „Zwei Ansichten“ werde die Wirklichkeit des sozialistischen Deutschland äußerst abschätzig geschildert. Die D. habe keinen Anlass, aus der DDR zu fliehen, sie werde weder verfolgt noch sei sie einer Bedrohung oder Gefahr ausgesetzt. Doch sie fühle, dass sie dort nicht länger bleiben könne. Der ganze gut durchdachte Hintersinn lasse den Leser die Unvereinbarkeit der Heldin mit der Wirklichkeit des sozialistischen Staates nachvollziehen. 108 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte Negativ geschildert sei in Johnsons Romanen auch die BRD-Realität, die der Autor wie auch die handelnden Personen seiner Romane zweifelsohne missbilligen würden. Aber Johnsons Kritik an den westdeutschen Zuständen falle träge und wenig wirksam aus im Vergleich zu der von Böll, Grass, Koeppen, Walser. Johnsons Pessimismus Nach Mlečina sei für Johnson eine tief pessimistische Wahrnehmung der Geschichte bezeichnend. Der Mensch sei nach Johnsons Auffassung dem Chaos der Ereignisse gegenüber machtlos. Die Zukunft erscheine seinen Helden noch düsterer als der heutige Tag. Das Gefühl der Aussichtslosigkeit, die sich durch die Enttäuschung von der Wirklichkeit der beiden Deutschland einstelle, bestimme ihre Lebensempfindung: das sei die Lebensempfindung der Opfer, der Menschen, die aufgehört hätten, souveräne Persönlichkeiten zu sein und die ihre Identität eingebüßt hätten. Johnsons Jakob werde als guter, gerechter und gewissenhafter Mensch charakterisiert. Aber eben wegen seiner Güte falle er dem Bösen zum Opfer. Jakob sei der Held des ewigen Gleichnisses über den guten Menschen, den das Schicksal für seine Tugenden bestraft. „Aber diese Johnsonsche Parabel entbehrt der Dialektik, des optimistischen, aktivierenden Ansatzes, die der Brechtschen Variante der Parabel über den guten Menschen eigen sind: bei Johnson ist das Scheitern des Guten unausweichlich, da jedes gesellschaftliche System der Menschlichkeit entgegenstehe. So wird der Konflikt zwischen hoher moralischer Persönlichkeit und Amoralität der gesellschaftlichen Institute verabsolutiert.“33 Mittelmäßigkeit und Prinzipienlosigkeit von Johnsons Personen. Mlečina lehnt sich an Hans Mayers These über die Durchschnittlichkeit von Johnsons Romanfiguren an. In der Ästhetik des sozialistischen Realismus sind „Durchschnittlichkeit, Mittelmäßigkeit“ eher negative Begriffe. Mlečina pflichtet der Meinung Mayers darüber bei, dass Johnson zu den Autoren gehöre, in deren Werken „Durchschnittlichkeit als werthaft, sogar als einzig beachtenswert“34 vorgestellt werde. Welche Autoren außer Johnson bei Mayer gemeint sind, wird in der sowjetischen Publikation umgangen, denn es würde ja nicht in deren Konzept passen, dass Mayer zu den die Mittelmäßigkeit „besingenden“ Autoren auch die DDR-Autorin Christa Wolf zählt! Verschwiegen wird ebenfalls, dass Mayer seinen Gedanken weiterführt und befindet: „Allein 109 Jurij Sacharov Charakterstärke ist kein literarisches Kriterium“.35 Die geheime, sogar tragische Pathetik solcher Werke bestehe, so Mayer, darin, „den Zusammenprall einer solchen Durchschnittlichkeit mit extremen Zuständen, […] Grenzsituationen“36 zu zeigen. In solchen Werken gehe es „um den Kontrast des Mitläufers mit der extremen, aller Mittelmäßigkeit widersprechenden Lebenslage“. Im Fall Johnsons wären diese „Grenzsituationen, extreme Zustände und Lebenslage“ durch die deutsche Teilung determiniert. Mayer stellt zwei Charakteristika von Johnsons ersten Romanen auf: das Hauptthema der deutschen Teilung stehe neben „einem zweiten Leitmotiv“, nämlich dass auf Johnsons Menschen „kein Verlass“ sei. Johnsons Personen seien „Durchschnittsmenschen aus Deutschland“. Aber alles ist mit ihnen und durch sie möglich, im Guten wie im Schlimmen: „je nach Augenblick und Konstellation.“37 Dieses zweite Leitmotiv der „Unverlässlichkeit“ findet sich bei Mlečina zur „Haupteigenschaft“ von Johnsons Helden gesteigert und modifiziert: „Diese Menschen sind „ambivalent“, unbeständig, ohne feste Überzeugungen und Prinzipien, aber die menschliche Mittelmäßigkeit lässt sich, wie es die Geschichte lehrt, allem Möglichen anpassen, darunter den äußersten Formen des Bösen.“38 Unter dem „Bösen“ sind wohl Faschismus, Imperialismus, Revanchismus zu verstehen. „Tatsächlich ermöglicht der Mangel an festen Ansichten beliebigen Umschwung in ihrem (Johnsons Personen, J.S.) Betragen. Gesine, Jakobs Freundin, wird zur NATO-Agentin und schädigt objektiv den Menschen, den sie liebt“,39 so Mlečina. Hauptsächlich auf dem Befund über die Durchschnittlichkeit von Johnsons Helden baut Mlečina ihre Interpretation der Hintergründe der „Mutmassungsprosa“ und seiner nichtallwissenden Position auf. In den „Mutmassungen“ sei Jakob zwar ein gewissenhafter Mensch und Arbeiter, aber von ihm könne man nichts Bestimmtes sagen, wie es auch Jonas Blach gemeint habe: „dieser [Jakob] schien keine [Eigenschaften] zu haben.“40 Wie könne man solchen unfassbaren, mittelmäßigen, homogenen Menschen ohne spezifische Eigenschaften doch beikommen? Über sie könne man nur mutmaßen, und eben aus diesem Umstand ergebe sich Johnsons eigenartige „Poetik der Mutmaßungen“. 110 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte Somit führt Mlečinas Interpretation der Johnsonschen „Mutmassungstechnik“ auf die Mittelmäßigkeit seiner Menschen zurück. Anders gesagt: Johnson schafft undurchschaubare, mittelmäßige Persönlichkeiten mit undurchdringlicher Psychologie und Beziehungen zueinander, um sie anschließend zu „entschlüsseln“ zu versuchen. Solche Deutung unterscheidet sich von den Ausführungen jener westlichen Kritiker, die Johnsons mutmaßliche Verfahrensweise als eine durch die politisch-gesellschaftliche Situation verursachte Erzähltechnik betrachten. So meint Horst Bienek, dass das „heiße Thema“ der deutschen Teilung nicht mit herkömmlichen Erzählmittel zu erfassen gewesen sei und dass es erst Johnson gelungen sei, es zu bewältigen, indem er neue „unterkühlte Mittel […] in der Fabel, in der Sprache, in der Form“41 eingesetzt habe. Bei Günter Blöcker wird Johnsons umsichtig mutmaßende Vorgehensweise folgendermaßen gerechtfertigt: „Jedes Mehr an Deutlichkeit, […] würde die eigentlich unerzählbare Geschichte Jakobs, des Manns zwischen Ost und West, zerstören. Denn diese wechselseitige, furchtbare Entfremdung der beiden Deutschland […] – wie soll man sie mit groben Worten aussprechen und benennen, ohne weitere Verwüstungen anzurichten…“42 Und auch Mayer ist derselben Auffassung: „Die Unschärfe hat […] mit dem gesellschaftlichen […] Untergrund des Romans zu tun. Dem geteilten Deutschland und der Notwendigkeit heutiger Deutscher, in diese Konstellation hineinzuleben.“43 Doch gewisse Überschneidungspunkte mit der westdeutschen Kritik weist Mlečinas weiterer Deutungsansatz auf, wo sie den gesellschaftlichen Faktor als möglichen Hintergrund für Johnsons Mutmaßungsstil in Erwägung zieht: „Nach Meinung des Autors wird in der modernen Gesellschaft (unabhängig davon, von welcher gesellschaftlichen Struktur die Rede ist) auf die Persönlichkeit politischer, ideologischer Druck ausgeübt. Dieser Druck lässt die Person ihr wahres Gesicht verstecken, sich unter ‚Konformismus‘ tarnen.“44 Auch bei Reich-Ranicki ist zu lesen: „Die Gestalten müssen verschwommen bleiben“, denn Johnson „vergegenwärtigt die Infiltration der Politik in das Leben eines jeden Individuums im totalitären Staat von heute und zeigt das Resultat: der Mensch tarnt sich; nicht nur für die Machthaber, auch für seine Umgebung wird 111 Jurij Sacharov er undurchschaubar. Daher ist er für den Romanautor ebenfalls nicht durchschaubar – nur die Art der Beziehungen zu den Mitmenschen kann angedeutet werden…“45 Der westliche Kritiker spricht jedoch ausdrücklich vom totalitären Staat, nicht zweideutig ist darunter die DDR zu verstehen. Hingegen bei Mlečina ist verschleiernd lediglich von der modernen Gesellschaft die Rede. Es drängt sich eine Schlussfolgerung auf: während die westdeutschen Kritiker Johnsons mutmaßende Technik politisieren und als Folge der deutschen Teilung akzentuieren, lässt Mlečina solche Deutung unbeachtet und „verharmlost“ Johnsons Technik, indem sie jegliche Bezugnahme auf die deutsche Spaltung vermeidet. Zwar sträubte sich auch Johnson gegen eine Politisierung seiner Person: mit der Formel „der Dichter der beiden Deutschland“ habe man ihn ja jagen können46 und seine Bücher seien „kein politisches Unterfangen [gewesen], sondern Geschichten, deren Personal auf beiden Seiten lebte“.47 Aber in „Berliner Stadtbahn“ äußert er sich unmissverständlich, dass nichts Anderes als eben die wie „eine literarische Kategorie“ wirkende Grenze verlange, „die epische Technik und die Sprache zu verändern, bis sie der unerhörten Situation gerecht werden“.48 Johnsons Nichtallwissenheit sei eine jener literarischen Konsequenzen, die aus den Bedingungen des Themas „Deutschland nach dem Krieg“ hervorgegangen seien. Die Manieren der Allwissenheit seien „verdächtig“ geworden deswegen, weil „die Lage“, d.h. die verwirrende Situation der beiden Deutschland über die herkömmlichen Erzählmittel à la Balzac hinausgewachsen sei.49 Mithin seien Nebelhaftigkeit und Schwierigkeit der Form kein Eigensinn des Autors, sondern sie würden zwangsläufig resultieren aus den „Verhältnissen, wie sie in Deutschland sind“.50 Kapitulation vor der undurchdringlichen Realität Zwar sei unverkennbar, so Mlečina, dass sich Johnson doch um die Erkundung der wahren Wirklichkeit bemühe und dass er ständig auf der schwierigen, den Leser aktivierenden Wahrheitssuche sei: Der Blickwinkel auf ein bestimmtes Faktum wie auch die Erzähldistanz verschöben sich unablässig, um denselben Sachverhalt aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Aber diese Technik diene bei Johnson nicht einer Präzisierung, Klärung der Wahrheit, vielmehr führe sie eine noch dichtere Vernebelung des Geschilderten herbei. Hiermit bezwecke der Autor, die Gestalt bis auf eine totale Verschwommenheit ihrer 112 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte Grenzen zu relativieren. Die ganze Erzählstrategie Johnsons laufe, so Mlečina, auf die Kapitulation vor der undurchdringlichen Realität hinaus. Je mehr sich Karsch mit der Erkundung von Achims Leben befasse, desto verwirrender, nebelhafter, komplizierter werde Achims Porträt. Es sei ja nicht ausgeschlossen, dass er „den konterrevolutionären Putsch am 7. Juni 953“51 mitgemacht habe. Die verworrene Vergangenheit Achims stärke Karschs Zweifel an der Möglichkeit, die Wirklichkeit zu schildern und den menschlichen Charakter zu decodieren. Die Metamorphosen mit Achim würden jegliche genauen Schlüsse verhindern. Auch wenn Johnson auf die „formale Extravaganz“ verzichte und einen klaren Text schreibe, verlasse er nicht das geheimnisvolle Labyrinth und bleibe der „Poetik der Mutmaßungen“ treu. Zwar weise „Zwei Ansichten“ eine gespannte, dynamische Handlung, eine nahezu mathematisch durchrechnete Komposition auf. Die Sprache verliere hier ihre scharfen Kanten, die Schwerfälligkeit von Johnsons Prosa werde weniger spürbar. Aber auch dieses Buch sei von derselben Verworrenheit und Verschwommenheit gekennzeichnet. „Amorphe Welt der Empfindungen der Helden, ihre nicht angemessenen, psychologisch unvorbereiteten Handlungen und Entscheidungen, Unmotiviertheit, Fragmentarität bei der Wiedergabe von momentanen Wahrnehmungen – dies alles entspricht im Großen und Ganzen der Konzeption und Manier Johnsons aus der Zeit seines ersten Romans“. 52 Diskrepanz zwischen detaillierten Beschreibungen und der Verschwommenheit des Ganzen. Mangel an gesellschaftskritischer Funktion der Beschreibungen Nach Mlečina seien genaue Beschreibungen von Gegenständen, Inventarisierung von Details für das moderne Erzählen charakteristisch, aber ihre Anwendungsbereiche seien variabel. Bei Walser erfülle die Inventarisierung eine parodierende Funktion und trage zur satirischen Darstellung der Reklametechniken und zur Bloßlegung der Merkmale der „Konsumgesellschaft“ mit ihrem Sachen-Fetischismus bei. Eine solche gesellschaftskritische Aufgabe hätten Johnsons detaillierte Beschreibungen nicht: sie stünden bloß in krassem Widerspruch zu der vom Autor intendierten Verschwommenheit des Ganzen. Und auch das erfundene Dokumentarelement, das Johnson weitgehend verwende, sei kein Mittel der historischen Bestätigung, sondern eine Technik, die erlaube, sich hinter der scheinbaren Objektivität zu verbergen. 113 Jurij Sacharov Sprachliche Eigentümlichkeiten als Ausdruck der Ungeordnetheit der Welt und als Ablehnung von Klischees. Die strukturellen und sprachlichen Besonderheiten von Johnsons Romanen würden darauf abzielen, das Nicht-genau-Wissen auszudrücken und die Verschwommenheit der Wirklichkeit zu zeigen. Gebrochene, elliptische Sätze, häufiger Konjunktivgebrauch, nicht identifizierte Sprecher lassen den Leser jegliche Schlüsse bezweifeln. Mlečina verweist auf die Vorliebe des Autors für die Parataxe, unendliche Aufzählungen und asyndetische Satzverbindungen. Syntaktische Zerrissenheit, Verselbständigung einzelner Phrasenelemente wirke sich nachteilig auf das sprachliche Ganze aus. Somit demonstriere der Autor das Fehlen logischer Verbindungen in der chaotischen Außenwelt. Demselben Ziel diene Johnsons eigenartige Lexik und seine eigensinnige Interpunktion. „Es leuchtet ein, dass hinter den sprachlichen Neuerungen Johnsons die Abneigung gegen Sprachklischees und Schablonen, abgenutzte Wörter steht. Pessimistische Einstellung zur Sprache teilen heute sehr viele westdeutsche Autoren. Die jüngste Vergangenheit Deutschlands, zwölfjährige Schandherrschaft Hitlers beraubte die Wörter ihres wirklichen Sinnes. Die Epoche des ‚Wirtschaftswunders‘ ‚Ära des Konsums‘, intensive Entwicklung der Massenmedien und besonders der Werbung entfärbten und entwerteten die Sprache, machten sie erneut verdächtig, geschmacklos und ordinär […] Einer solchen Sprache schenkt der Schriftsteller keinen Glauben, er sucht nach einer neuen.“53 „Jahrestage“: ungenügende Vergangenheitsbewältigung und undifferenzierte Gesellschaftskritik In „Jahrestage“ würden sich Johnsons neuen ideelle, bildliche, strukturelle Entscheidunge erkennbar machen. Aber auch hier überblicke der Autor nicht das Ganze, er fixiere lediglich Details: Gesines New Yorker Leben werde in Skizzen, Augenblicksaufnahmen dargestellt, bald deutlich, bald verschwommen, absichtlich verdunkelt. Es entstehe kein verallgemeinertes Bild der USA. Die Einstellung der Heldin (wie des Autors) zu den USA sei zwiespältig. Zum einen solle Amerika ihr neues Zuhause werden. Zum anderen spüre und sehe Gesine auch negative Seiten des amerikanischen Daseins, die ziemlich überzeugend im Roman dargestellt seien. Den moralischen Ansatz des Romans verkörpere Gesines Tochter Marie. In den früheren Romanen Johnsons habe es nicht eine solche Figur gegeben, 114 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte die die moralische Substanz des Werkes so betont auf sich konzentriert hätte. Zudem sei Marie die lebendigste aller Figuren der „Jahrestage“. Hingegen bleibe die Gestalt Gesines eigentlich genauso neblig wie das ganze epische Personal des frühen Johnson. Die USA von heute würden im Roman deutlich mit dem Deutschland der jüngeren Vergangenheit verglichen; diese Konfrontation sei eines der ideellen und kompositorischen Zentren der Erzählens. Demnach wende sich Johnson dem Thema der Vergangenheitsbewältigung zu. In „Jahrestage“ verletze Johnson sichtlich sein objektivistisches Prinzip, die Geschichte nicht mit Vorwürfen zu belegen, indem er die Taten der Menschen eben beurteile. Dennoch habe seine programmatische Enthaltsamkeit zur Folge, dass die nach ihrem Charakter und Inhalt entgegengesetzten Phänomene nicht differenziert würden und verschiedene Gesellschaftsstrukturen weiterhin eine Gleichgewichtung erführen: Neben der negativen Einstellung des Autors zur kapitalistischen Wirklichkeit, zum heutigen Amerika sei ebenfalls seine feindliche Gesinnung zur Welt des Sozialismus, insbesondere seine Voreingenommenheit gegen die DDR nicht zu verkennen. Mit aufrichtiger Anteilnahme kommentiere Johnson Fälschungen der „New York Times“ über den „Prager Frühling“, das „tschechoslowakische Experiment“. Johnsons Perspektive der Nichteinmischung führe dazu, dass die Vergangenheit in seiner Darstellung viel harmloser aussehe als bei Böll, Grass, Schallück, Lenz. Zwar seien auch die Johnsonschen Romane voller innerer Tragödien (z.B. der Selbstmord von Lisbeth Cresspahl). Aber immerhin bleibe dem Leser das Gefühl einer gewissen Harmlosigkeit des Geschehenden, besonders was das Vergangenheit betreffe, erhalten. Vieles im Roman lasse an die „Poetik der Mutmaßungen“ erinnern. In dem kompositorischen Aufbau, der Ideenstruktur und der Personenkonstellation der „Jahrestage“ sei die Überzeugung des Autors gegenwärtig, dass das Wirklichkeitsbild nicht in seiner Kausalität eingefangen werden könne. Johnsons deformierte, manieristisch altmodische, mit vielen Dialektismen und formalistischen Neuerungen übersäte Sprache verzerre auch hier die Darstellung erheblich und beeinträchtige somit die soziale Kritik. Dennoch würden sich „Jahrestage“ bei aller ihrer Widersprüchlichkeit von den vorigen Büchern Johnsons abzeichnen. Unverkennbar sei Johnsons Bemühen, den Rahmen der „Poetik der Mutmassungen“ zu sprengen und die aktuellen gesellschaftlichen und moralischen Zeitprobleme aufzuwerfen. 115 Jurij Sacharov „Die Taube auf dem Dach“54 Die dritte große Publikation erschien 978 im Buch „Literarischer Kampf in der BRD“ und wurde betitelt „Von der Bekenntnisprosa zum neuen Psychologismus“ (der Autor Vladimir SteŽenskij). In der „Johnson-Bibliographie“ ist dieser Aufsatz unter „Darstellungen zu Werkkomplexen“ zu finden.55 Die einhellige Verherrlichung Uwe Johnsons von der westdeutschen Kritik sei, so SteŽenskij, auf das Grundthema seiner Werke, die deutsche Teilung, zurückzuführen: die Kritiker, selbst der fast allen jungen Literaten gegenüber „mürrische“ Günter Blöcker, hätten in Johnson nicht nur ein überdurchschnittliches Talent, sondern auch den „politischen“, antikommunistischen Autor erblickt, dessen sie damals bedurft hätten. Zwar würden Johnsons erste Bücher den Eindruck machen, dass es sich bei ihrem Autor tatsächlich um einen Antikommunisten handele. In den „Mutmassungen“ verkörpere die in die Handlung eingreifende Tätigkeit Rohlfs’ eine bestimmte Sorte der Politik und verursache (indirekt oder direkt) eine unheilvolle Atmosphäre (Jakobs Tod, Jonas’ Inhaftierung). Die Bücher würden zudem direkte Ausfälle gegen die sozialistischen Länder enthalten. So werde beispielsweise im ersten Roman die wahre Deutung des Personenkultus verzerrt. Ebenso antisozialistisch sei der Umstand, dass sowohl Jonas Blach als auch sein Professor vom Sozialismus enttäuscht und zurückgetreten seien. Und auch in Johnsons zweitem Roman scheine Achim T. aus schlechten Propaganda-Büchern entliehen zu sein: ein aus Eisenbeton bestehender mitleid- und geistloser Roboter von Sport und Politik. Aber trotz aller dieser markanten Merkmale der antikommunistischen Literatur sei es nicht richtig, und das habe sogar die westdeutsche Kritik (z.B. Erhart Kästner) einräumen müssen, diese Bücher als eines der Muster von antisowjetischer und antidemokratischer Lektüre zu betrachten. „Tja, es wäre zu simpel, Uwe Johnson zu jenen Kerlen anzurechnen, die den Antikommunismus zu ihrem Geschäft gemacht haben!“56 so SteŽenskij. Einerseits werde in „Mutmassungen“ jeder Ausfall gegen die DDR durch einen Angriff gegen die kapitalistischen Zustände ausgeglichen. Gesine sei ganz unglücklich im Lande des „Wirtschaftswunders“, geschweige denn Jakobs Mutter, die im Westen ein äußerst elendes Dasein im Lager für Überläufer friste. Andererseits integriere der Autor in „Mutmassungen“ eine „ausführliche und spannende“ Schilderung der Arbeit, was noch „vor der westdeutschen Literatur der Arbeitswelt“57 unternommen worden sei. In der sowjetischen Publikation wird 116 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte Jakobs entwickeltes „Kollektivismusgefühl“ hervorgehoben. Jakobs Freunde seien gerade jene Werktätigen, die ohne große Worte den Sozialismus aufbauen und mit denen Jakob vollkommen solidarisch sei. Im Westen werde er vor allem von der Einsamkeit und Entfremdung der Menschen deprimiert. Es bleibe aber ein Rätsel, warum er ausgerechnet in seiner Heimat ums Leben komme. Der sowjetische Kritiker macht die Weltanschauung Johnsons für diesen Ausgang verantwortlich. Nach Auffassung des westdeutschen58 Autors, so Steženskij, handele der moderne Mensch unlogisch. Genauso unlogisch sei die Welt, in der er lebe, wie auch immer diese Welt sei: kapitalistisch oder demokratisch-sozialistisch. Dabei übersieht oder verschweigt der Kritiker die Tatsache, dass „Mutmassungen“ noch während der DDR-Zeit Uwe Johnsons entstanden sind. Auch „Das dritte Buch über Achim“ weise gar nicht jene üblen Eigenschaften („Entlarvung“ der Sozialordnung in der DDR) auf, wie es auf den ersten Blick vorkommen möge. Je deutlicher sich der biografische Faden Achims für das geplante Buch abzeichne, desto mehr überzeuge sich Karsch, dass der berühmte Sportler gar nicht jener harte, geistlose Karrierist sei, wie er dem westdeutschen Journalisten anfangs erschienen war. Karin, die sich von Achim trenne, sei nicht zum Westen geflohen, wie früher die junge Gesine, sondern bleibe in der DDR. Karsch sehe ein, dass sowohl Karin als auch Achim mit der sozialistischen Ordnung der DDR innerlich verbunden seien. Mit solchem Gefühl reise der Journalist aus dem von ihm nicht verstandenen Lande zurück nach Hamburg. Für nicht zufällig hält Steženskij jenes Moment, dass im Unterschied zu den „Mutmassungen“ im „Dritten Buch über Achim“ alle Ereignisse westlich der Elbe quasi ausgeklammert seien. In den „Mutmassungen“ habe Johnson die beiden Lebensweisen der zwei Deutschland noch vergleichen müssen, um dem Leser und sich selbst zu beweisen, dass nicht nur in der sozialen und politischen Struktur der Gesellschaft, sondern auch in der Psychologie der DDR-Bürger unumkehrbare Veränderungen eingetreten seien. In seinem zweiten Roman betrachte der Autor diesen Umstand bereits als eine unbestreitbare Tatsache. „Zweifelsohne enthält der Roman eine implizite Polemik mit übereiltem antisozialistischem Geschreibsel von Karschs Kollegen, den westdeutschen Journalisten, die die tief greifenden Prozesse übersahen, die sich im Bewusstsein der DDR-Bürger nach elf Jahren des Bestehens des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden vollzogen.“59 117 Jurij Sacharov Johnsons Psychologismus. Unlogik der Taten seiner Personen. Die Zentralthese in Steženskijs Aufsatz ist seine Konzeption des Psychologischen in Johnsons Romanen. Bei all den politischen Momenten sei es nicht berechtigt, Uwe Johnson als politischen Schriftsteller zu betrachten. Vielmehr interessiere sich Johnson für eine besondere Art der Psychologie. Er scheine sich zum Ziel gesetzt zu haben, unbewusste, tiefe Prozesse in Geistern und Gemütern des modernen Menschen zu zeigen, ohne diese Vorgänge jedoch zu erklären. Im Unterschied zu den Autoren des 9. Jahrhunderts, deren handelnde Personen sich bestimmten logischen, kausal begründeten Impulsen untergeordnet hätten, handelten Johnsons Helden unlogisch und spontan. „Unvermittelt taucht Gesine, die nicht einmal ihren Pass legalisiert hat, in der Elbestadt auf und rennt mit Jakob, Hals über Kopf, nach Jerichow, obwohl sie nicht von Rohlfs ‚verfolgt‘ wird!“60 Für den sowjetischen Kritiker ist es ebenso nicht einleuchtend, weswegen Jonas nach Jerichow habe kommen sollen. Seltsam seien auch die Handlungen von Frau Abs, die nur wegen eines Gesprächs mit Rohlfs in den Westen fliehe und den Sohn zurücklasse. Das Sujet von „Achim“ sei ebenfalls nach den Gesetzen der Antilogik aufgebaut. Warum werde Karsch von Karin aufgefordert, unverzüglich zu ihr zu kommen, warum leiste Karsch dieser Einladung sogleich Folge, obwohl die Liebesbeziehung längst abgebrochen sei? Absolut unmotiviert sei auch Karschs Entscheidung, ein Buch über Achim zu verfassen. Als mögliche Ursache solcher unlogischen Taten nennt Steženskij eine Art Fluch, der auf Johnsons Helden zu liegen scheine. Das sei der Fluch der Vergangenheit, der sinnlosen Jahre des Hitler-Regimes, des sinnlosen, von den Nazis angerichteten Gemetzels. Die Unlogik der Vergangenheit projiziere sich auf die Nachkriegszeit. Zwar mag der „Fluch der Vergangenheit“ als eine Hypothese angenommen werden, auch wenn sie übertrieben ausgetüftelt vorkommt. Aber das Belegmaterial des sowjetischen Kritikers zur Unlogik ist, mit Verlaub zu sagen, meistens nicht haltbar und kann leicht verworfen werden. Gesine wird von Herrn Rohlfs doch verfolgt, und eben angesichts der Gefahr von seiten Rohlfs initiiert Jakob die Nachtfahrt nach Jerichow, denn „wo hätt er sie denn lassen sollen“61 . Was Jonas angeht, so ist das Haus von Gesines Vater offensichtlich die einzige Stätte, wo Jonas die ihm in Berlin abhanden gekommene „Ruhe und Klarköpfigkeit“62 noch gewinnen konnte, um an seinem Manuskript zu schreiben. Das Verhältnis von Frau Abs zu Gesine ist mütterlich,63 so dass es für 118 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte sie nicht denkbar ist, ihre Fast-Tochter zu gefährden. Karsch wird von Karin eingeladen, weil Achim das wünscht.64 Karschs Entschluss, dieser Einladung zu folgen, beruht auf seiner beruflichen, gesundheitlichen und familiären Krise und wird in „Eine Reise wegwohin“, 960 explizit erklärt.65 Und auch sein Plan, ein Buch über den Rennradfahrer zu schreiben, ist eine motivierte Entwicklung aus dem Auftrag von Herrn Fleisg, einen Artikel über Karschs Begegnung mit Achim für die städtische Zeitung zu verfassen.66 Angesichts der aufgezeigten Unstimmigkeiten ist es berechtigt zu fragen, ob „die Zusammenhanglosigkeit der Handlung und die Unmotiviertheit […] der Taten“67 wirklich Johnsons schöpferischer Methode zugrunde liegen, wie es Steženskij behauptet. Noch krasser ist aber folgendes Erratum: Zur Bekräftigung seiner Theorie zitiert der Kritiker (in russischsprachlicher Übersetzung) eine Stelle, wo angeblich Jakobs Gedanken wiedergegeben werden: „Denn Cresspahl in der Ferne und seine verschwundene Mutter und Gesines wahnwitziger Besuch, das alles half gar nichts, das waren wieder alles Leute mit ihren Handlungen für sich allein, die einander nicht erklärten.“68 Wenn schon diese Überlegungen zur „Theorie der Unlogik“ gut passen mögen, steckt hier ein gravierender Irrtum. Zwar kennt der Autor ausnahmsweise an einigen Stellen auch Jakobs Gedanken, aber nicht in diesem Fall, denn die zitierten Überlegungen gehören in Wirklichkeit nicht Jakob, sondern seinem Gesprächspartner Jonas Blach! Im Urtext steht: „[…] und wiederum fragte Jonas sich wie Jakob denn dem Verständnis erreichbar sein könne. Denn Cresspahl in der Ferne“ usw.69 Unbegreiflich ist auch, warum „seine“ (verschwundene Mutter) als russisches moja „meine“ übersetzt wurde. Sehr angetan zeigt sich der Kritiker vom Erzählungsband „Karsch, und andere Prosa“. Dabei legen die Art und Weise, auf die die Präsentation im Aufsatz erfolgt, ein aussagekräftiges, stellvertretendes Zeugnis für die allgegenwärtige Zensur ab. Während die ideologisch unanstößige Geschichte „Osterwasser“ ausführlich nacherzählt wird, ist über den Inhalt von „Beihilfe zum Umzug“ und „Geschenksendung, keine Handelsware“ lediglich Folgendes zu erfahren: „Die beiden Geschichten beziehen sich auf jene Zeit, als Gesine bereits […] in Frankfurt mit einem unehelichen Kind […] wohnt. Sie denkt oft daran zurück, wie sie Sendungen von […] Frau Abs aus Jerichow bekam. Und auf jedem Päckchen stand vermerkt: ‚Geschenksendung, keine Handelsware‘. In den beiden Erzählungen versucht Gesine, ihrer Verwandtschaft und Bekanntschaft in Jerichow zu helfen. Doch der Leser spürt: Jerichow ist für 119 Jurij Sacharov sie unerreichbar entfernt […] Alle drei Geschichten klären sehr viel im Werk des Autors. Sie sind sehr lyrisch, der feine Johnsonsche Psychologismus tritt darin noch deutlicher zu Tage als in den Romanen“.70 Es ist fraglich, ob eine solche dürftige Darstellung überhaupt etwas „klären“ kann bei einem Leser, der keine Johnson-Texte vorliegen hat. Unerwähnt bleibt, welcher „Umzug“ gemeint ist, warum Jerichow für Gesine unerreichbar entfernt war. Ebenso gibt es keinen Hinweis auf die mit bürokratischen Schikanen verbundene Abschiebung der Rentner aus der DDR, auf den Mangel an notwendigsten Waren im Osten, womit „die Ostdeutschen [… ] den Krieg bezahlten immer noch, nachdem die Westdeutschen wieder lebten“.71 Kein Wort steht in dem Aufsatz über die Mengenvorschriften für die Sendungen, die man obendrein so zu verpacken versuchte, damit sie den ostdeutschen Röntgenapparaten und Sonden nicht auffielen etc. Von der „Technik“ des ausgewählten Nacherzählens ist ebenso „Eine Reise wegwohin“, 960 stark betroffen. In Einzelheiten wiedergegeben wird nur der Teil nach Karschs Rückkehr in die BRD. Es wird betont, dass Karsch ein progressiver Journalist sei, der Kritik an der Reaktion und der Regierung der BRD übe, jedoch von der Wirksamkeit dieser Kritik enttäuscht sei. Nach Recherchen in den Bibliotheken werde ihm immer deutlicher, wie idiotisch die berüchtigte Politik der Nichtanerkennung der DDR sei. Aber die Tatsachen, die Wahrheit würden nichts für die Machthaber der BRD bedeuten. Da Karsch in seiner Wahrheitssuche nicht nachgebe, werde er „schweren Repressalien“72 ausgesetzt. Dass aber einer in der DDR drei Jahre Haftarbeitslager hätte bekommen können lediglich für eine witzige Anspielung auf den Staatsratsvorsitzenden, wird in der sowjetischen Publikationen außer Acht gelassen. Keine Beachtung schenkt der Kritiker auch anderen DDR-Erfahrungen Karschs, z.B. den Gründen für die Flucht der Ostdeutschen (ca. 3 Millionen) in den Westen, dem mangelhaften Hotelservice oder den Schikanen der ostdeutschen Polizeimonteure. Unbequeme Stellen werden einfach weggelassen, damit sie das positive Bild Johnsons nicht verderben und damit der Autor, „die Taube auf dem Dach“, für die Sache des Sozialismus behalten werden konnte. In „Jahrestage“ werde, so Steženskij, die Johnsonsche Erzählhaltung mehr traditionell, ungeachtet der Collagetechnik, die jedoch eine bestimmte kritische Funktion erfülle, mit deren Hilfe Johnson seine Position zur modernen Welt und insbesondere zu Amerika zum Ausdruck bringe. Der Kritiker, ähnlich wie Mlečina, unterstreicht das Motiv der Erinnerung, das in diesem Roman 120 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte erstmals bei Johnson dermaßen deutlich auftauche. Bezeichnend sei, dass Gesines Taten nicht motiviert und ihr Denken mitunter chaotisch wirken würden, während ihre Tochter Marie voller vernünftiger Gewalt sei. Gesine wisse offenkundig nicht einmal, worin ihr Glück bestehe, zumal sie nicht darum kämpfe. Ganz anders Marie, die Anzeichen dafür zeige, ein Mensch von einem ganz anderen Schlag zu werden. Am Schluss seines Beitrags diskutiert Steženskij mit der „völlig grundlosen“ Meinung „eines der Kritiker in der Zeitschrift ‚Monat‘“73, Johnson laufe Gefahr, wegen der detailgetreuen Beschreibungen (z.B. des Eisenbahn- oder des Radfahrwesens) zu einem „Sklaven der Dinge“ zu werden. „Der deutsche Kritiker hat wahrscheinlich missverstanden: gerade die Beschreibung von Sachen hilft den Charakter der Personen vollständig darzutun. […] Einen Sachenkult gibt es in Johnsons Romanen nicht; die Sachen als Symbole der Macht, Wohlfahrt, Mode fehlen. Die Einstellung von Johnsons Personen zu den sie umgebenden Gegenständen unterscheidet sich von der Position westdeutscher in den Umständen des ‚Wirtschaftswunders‘ aufgewachsener Philister. Im Gegensatz zu der Einstellung der heutigen ‚Götzendiener‘ des Komforts, zu Waschmaschinen, Gefrierschränken und Klimaanlagen geht das Interesse von Johnsons Personen an den Sachen nicht über das Interesse eines Robinson Crusoe hinaus, d.h. werthaft sind allein ihre Rationalität und Nützlichkeit für ein bescheidenes Arbeitsleben.“74 Steženskij führt Johnsons „sehr ungewöhnliche Techniken“ der psychologischen Beschreibungen auf den klassischen Roman der vorigen Jahrhunderte zurück. Dort seien die Seelenzustände der Personen nicht durch ihre „Selbstäußerungen“, sondern durch ihre Taten sowie Situationen und die „Sachen“, mit welchen sie umgegangen sind, zum Ausdruck gekommen. Das Äußere seiner Helden ziemlich ausführlich beschreibend, erzähle Johnson nie direkt über ihre Gefühle, geschweige denn über unbewusste Empfindungen. „Johnsons Helden lieben, aber sie machen keine Liebesgeständnisse. Bewusstseinsstrom, innere Monologe – alle diese Modetechniken der modernen Autoren werden bei Johnson umgewandelt.“75 Johnsons literarischen Techniken könne man nicht verstehen, ohne die Erscheinung „Krise der selbstentblößenden ‚Bekenntnisprosa‘“ im Auge zu behalten. Alle die Techniken der (Selbst)analyse, des Bewusstseinsstroms, bereits von Joyce in die Literatur mit voller Deutlichkeit eingeführt, hätten sich in den 60er und 70er Jahren in die sogenannte Antiliteratur verwandelt, die in den USA eingesetzt und dann nach Westeuropa übergegriffen habe. Diese Literatur 121 Jurij Sacharov sei eine Art von masochistisch-unanständigem Geschwätz, das nichts mit der Psyche eines normalen Menschen zu tun habe. Die äußerste Aufrichtigkeit eines Dädalus sei in obszöne Selbstbekenntnisse entartet. In Westdeutschland habe solche Literatur mit der autobiografischen Prosa Peter Weiss’ begonnen und Ende der 60er Jahre in den frühen Werken von Peter O. Chotjewitz und in den Romanen Hubert Fichtes ihren Höhepunkt erreicht. „Die Inflation der Selbstbekenntnisse und Selbsterforschung ließ die klassisch strenge Prosa von Uwe Johnson aufkommen, deren Helden karg an Worten sind und ihr inneres Wesen nur in ihren Taten offenbaren.“76 Abrundung des Porträts Die fünfte und letzte Veröffentlichung aus der Feder eines sowjetischen Kritikers erschien 982 und ist, abweichend von den vorangehenden russischsprachigen, in deutscher Sprache abgefasst. Sie ist eine skizzenhafte Darstellung in der dreibändigen „Geschichte der deutschen Literatur“ (Autor Aleksandr Bukajev), die nach ihrem Inhalt eine knappe Synthese der Abhandlungen von Mlečina und Steženskij (u.a. ihrer Thesen über Johnsons äußerst widersprüchliches und verschwommenes Weltbild, Unlogik des Menschen und der Umwelt in seinen Werken, ideelle Verschiebung der Jahrestage zugunsten der sozialkritischen Funktion) bildet.77 In der „Johnson-Bibliographie“ ist diese Publikation unter den „Porträts in Literaturlexika“ verzeichnet. Nach Bukajev schreibe Johnson wie viele andere bürgerlich-humanistische Autoren von den Positionen eines „dritten Weges“ aus. „Gerade damit lassen sich seine gelegentlich antikommunistischen Ausfälle gegen die DDR und die Sowjetunion erklären.“ Dem Autor wird aber zugute gehalten, dass er „in seinen Werken oft die imperialistische bundesdeutsche Realität, die Einsamkeit und Vereinzelung des westdeutschen Bürgers kritisch darstellt“.78 Johnson habe eine agnostizistische Weltanschauung, die vielfach auch die Erzähltechnik seiner Romane bedinge. Johnsons „Jahrestage“ nähmen eine hervorragende Stellung in der literarischen Landschaft der 70er Jahre ein, die Gestalt der Marie sei eine bedeutende künstlerische Leistung des Autors, die das Verantwortungsgefühl und den Gerechtigkeitssinn der heranwachsenden Generation verkörpere. Auch diese knappe Darstellung blieb nicht von Kuriositäten verschont: Karsch figuriert dort als ein Westberliner Sportjournalist. 122 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte Das Tüpfelchen auf dem i Im ersten Jahr der Perestroika, 986, wurde eine russische Übersetzung der in der DDR erschienen „Kurzen Geschichte der deutschen Literatur“ veröffentlicht.79 Dort ist immer noch kein Hauch eines neuen Denkens zu verspüren. Missbilligend wird bemerkt, in den „Mutmassungen“ habe der Autor die Perspektive eines unschlüssigen zwischen den Fronten des Klassenkampfes herumirrenden Mannes gewählt, der an seiner umfassenden Irritation scheitere. „Dem Autor gelingt es weder hier noch im Roman „Das dritte Buch über Achim“, die revolutionären Veränderungen in der DDR zu erfassen.“80 In der Tetralogie „Jahrestage“ beziehe Johnson zwar einen weiten zeitgeschichtlichen Umkreis ein und übe treffende Kritik an den USA-Zuständen, aber seine antikommunistische Grundhaltung werde dort deutlicher als bisher. Schlussbetrachtung Johnson hielt seine Bücher für „Anlässe für viele und mehr differenzierte positive Äußerungen“81 über die DDR und zeigte sich daher verwundert und befremdet, wenn sie alle, von Siegfried Unseld beharrlich dem Ostberliner „Aufbau Verlag“ für eine Veröffentlichung in der DDR angeboten, jedesmal auf hartnäckige Ablehnung stießen. In einem Interview sagte er: „Der Gedanke der Wiedervereinigung scheint mir zu verlangen, dass wir uns gründlich und geduldig, d.h. also durch den Versuch eines Verständnisses und der Kenntnisnahme, darauf vorbereiten.“82 Folgerichtig ließ er sich von dieser Maxime leiten und betätigte sich z.B. im Westberliner „Tagesspiegel“ als Kritiker des Ostdeutschen Fernsehens, denn er hoffte, den Westberlinern „die ostdeutschen Verhältnisse bekannter zu machen“. Und mögen die Westdeutschen „die Kenntnis des ostdeutschen Bewusstseins- und Informationsstandes noch lange nicht brauchen für eine Gelegenheit von Wiedervereinigung, vielleicht stimmen sie Massnahmen der Entspannung einsichtiger zu.“83 An einer „differenzierten“ Darstellung, an „Kenntnisnahme“ und „Verständnis“, für die Johnson plädierte, mangelte es im Osten vielleicht noch entschiedener als im Westen. Auffällig ist, dass in den sowjetischen Publikationen keine Selbstzeugnisse des Autors, keine seiner aufschlussreichen Antworten während der zahlreichen Interviews mit ihm zitiert werden, die aber erlauben 123 Jurij Sacharov würden, den Autor und sein Werk objektiver und eben „differenzierter“ zu beleuchten. Beispielsweise sind die dem Autor vorgehaltene „Vergesslichkeit“ und die fehlende Einsicht in die wirklichen Ursachen der deutschen Teilung bloß grundlose Unterstellungen: Zwar war zu der Zeit der meisten sowjetischen Publikationen „Begleitumstände“ (980)84 noch nicht erschienen, wo sich Johnson ausgiebig und eingehend mit den Hintergründen der deutschen Teilung auseinandersetzt und eben die westdeutsche Politik brandmarkt. Aber zumindest „Eine Reise wegwohin, 960“ mit dieser Problematik war bereits seit 964 da! Johnsons „schwierige Wahrheitssuche“, eine Fortsetzung der von Bertolt Brecht, wurde berühmt. In einem Interview zählte er mehrere Arten der Wahrheit auf: „Es gibt subjektive oder die Erlebniswahrheit. […] Dann gibt es auch objektive Wahrheiten, etwa der Geschichtsschreibung oder der Statistik […] und auch noch die parteiische Wahrheit: die Wahrheit des Sachwalters oder die Wahrheit des Kanzlers: all diese Teilwahrheiten: sie mögen sich manchmal überdecken, mitunter bestätigen sie sich, aber sie alle greifen von ganz verschiedenen Aspekten her den Gegenstand […] an, und sehr oft widersprechen sie sich.“ Daraus resultiert auch Johnsons nicht eindeutig zu beantwortende Frage: „Was ist denn da die Wahrheit?“85 Johnsons Lebensposition lässt sich mit dem alten Rechtsgrundsatz treffend formulieren: Audiatur et altera pars – es möge auch die andere Seite angehört werden. Von diesem Grundsatz ausgehend, muss auch jede negative Rezeption akzeptiert werden. Und bei all den ideologischen Verzerrungen ist es den sowjetischen Kritikerinnen und Kritikern anzurechnen, dass sie immerhin partiell zur Popularisierung des Autors beisteuerten. 124 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte Anmerkungen 1 Wilhelm J. Schwarz: Gespräch mit Uwe Johnson (am 0.7.969 in West-Berlin). In: „Ich überlege mir die Geschichte…“. Uwe Johnson im Gespräch. Hrsg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 988. S. 239. (= edition suhrkamp 440). 2 Uwe Johnson: Dva schvatanja (Zwei Ansichten). Prevela Marija Dordević. Beograd: Isdavaćko Preduzeće, 967. – Die Anmerkung im Anschluss an den Text des Interviews, wonach es sich bei den Johnsonschen Worten um die Übersetzung von „Das dritte Buch über Achim“ handle, ist irrtümlich. Siehe dazu Anm. 4. 3 Nicolai Riedel: Uwe-Johnson-Bibliographie 959-998. Stuttgart [u.a.]: Metzler 999. (= Personalbiographien zur neueren deutschen Literatur; Bd. 3). 4 Das sind folgende slowenischsprachige Übersetzungen: Uwe Johnson: „Tretja kniga o Achimu“. Prevedel (übersetzt von) Darko Dolinar. Ljubljana: Cankarjeva Založba 970 und „Potovanje w Celovec“ [Auszug aus „Eine Reise nach Klagenfurt“]. In: Naži Razgledi. Ljubljana. 25. Jg., Nr. 20 (595) vom 22.0.976, S. 548. – Fortsetzungen in Nr. 2 (596) vom 5..976, S. 580 und Nr. 22 (597) vom 26..976, S. 603-605. 5 Bei der ‚Literaturnaja Gazeta‘ handelt es sich um das älteste russische Priodicum; es erscheint wöchentlich mit Beiträgen zu Literatur, Kultur und Politik. 6 Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 986. (= edition suhrkamp 3322), S. 444f. 7 8 9 10 11 „Kleinmütig […] kann ich nicht anders als ergänzen daß es im Deutschland der fünfziger Jahre eine Staatsgrenze gab“ ist der Wortlaut des Zitats aus: Uwe Johnson: „Das dritte Buch über Achim“. Frankfurt/M.: Suhrkamp 992, S. 7. (= edition suhrkamp 89). Kurze Geschichte der deutschen Literatur. Leitung und Gesamtbearbeitung von Kurt Böttcher und Hans Jürgen Geerdts. Berlin: Volk und Wissen, 98, S. 660. Istorija nemezkoj literatury v trëch tomach. [Geschichte der deutschen Literatur in drei Bänden]. Tom [Band] III (895-985). Moskwa: Raduga 986, S. 227. Bolšaja sovetskaja enciklopedija (Hauptredakteur A.M. Prochorow). 3. Auflage. Moskwa: Sovetskaja enziklopedija, 973-978. Siehe Bd. 27, Sp. 740 (Stichwort: Federativnaja Respublika Germanii [Bundesrepublik Deutschland]). Ukrajins’ka literaturna enzyklopedija w p’jaty tomach. (Verantw. Redakteur I. O. Dsewerin). Kyjiw: Ukrajinaska enzyklpedija, 988. Während des Streits mit Hermann Kesten in Mailand am ..96 entgegnete Uwe Johnson auf Kestens Unterstellung, Bertolt Brecht sei ein Diener der Diktatur, folgendermaßen: „Ich möchte dem entgegenhalten, dass Brecht in einer Diktatur lebte“. Siehe Uwe Johnson: Begleitumstände, a.a.O., S. 220. 125 Jurij Sacharov 12 Vgl. Angabe in: Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 5. München: R. Oldenbourg 969, Sp. 78: Jakob wird „auf dem Gelände des Dresdner Bahnhofs von einer Lokomotive überfahren“. Dazu siehe Erläuterung in: Hansjürgen Popp: Lektürehilfen Uwe Johnson: „Mutmassungen über Jakob“. . Aufl. Stuttgart: Klett 988, S. 4f. 13 Herr Rohlfs bekommt folgenden Auftrag: „Gewinnen Sie diese Person [Gesine] dlja weschtschi sozialisma [für die Sache des Sozialismus]“. Siehe Uwe Johnson: Mutmassungen über Jakob. Frankfurt/M.: Suhrkamp 992. S. 4. (= edition suhrkamp 88). 14 Uwe Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Hrsg. v. Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger. Frankfurt/M.: Suhrkamp 999, S. 40. 15 „[…] mir ist an der Grenze mitgeteilt worden, dass ich in Ostberlin „nicht mehr erwünscht“ sei“ schreibt Johnson im Brief an Unseld vom 3..966. Siehe Uwe Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, a.a.O., S. 42. 16 S.M.: Eine verlorene Generation? In: Volksstimme. Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs. Wien. Nr. 279 vom .2.965, S. 7. 17 Tamara L. Motylova: Odin vzgljad. In: Inostrannaja literatura. LiteraturnochudoŽestvennyj i obŝestvenno-polititčeskij žurnal. Organ sojusa pisatelej SSSR. Moskwa, 966, Heft (Januar), S. 270-272. Für das Zitat siehe S. 272. 18 Horst Krüger: Das verletzte Rechtsbewusstsein. In: Über Uwe Johnson. Hrsg. v. Reinhard Baumgart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 970. S. 49. (= edition suhrkamp 405). 19 Ebenda, S. 47f. 20 Marcel Reich-Ranicki: Uwe Johnson: „Zwei Ansichten“. In: Ders.: Literatur der kleinen Schritte. Deutsche Schriftsteller heute. München: R. Piper 967, S. 65. 21 Ebenda, S. 64. 22 Tamara L. Motylova, a.a.O., S. 272. 23 Ebenda. 24 Ebenda, S.27 25 Ebenda. 26 Ebenda. 27 Uwe Johnson: Zwei Ansichten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 965, S. 40f. 28 Arnhelm Neusüss: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. Gespräch mit Uwe Johnson am 0.9.96 in West-Berlin. In: „Ich überlege mir die Geschichte…“, a.a.O., S. 89. 29 Irina V. Mlečina: Realnost i „poetika dogadok“. Romany Uwe Johnsona. In: Dies.: Literatura i „obŝestvo potreblenija“. Sapadnogermanskij roman 60ch-načala 70ch godov. Moskva: Chudožestvennaja literatura 975, S. 63-77. Irina V. Mlečina: Uwe Johnson. In: Istorija literatury FRG. Akademija Nauk SSSR. Redaktion: Ilja M. Fradkin, Nina Pavlova, Dmytro W. Satonskij. Moskva: Nauka 980, S. 386-398. 126 Uwe Johnson in der ehemaligen Sowjetunion: Bilanz einer Rezeptionsgeschichte 30 Irina V. Mlečina: (975), a.a.O., S. 63. Irina V. Mlečina: (980), a.a.O., S. 386. 32 Die Bedeutungsnuancen von privat finden sich ausgeführt in: Siegfried Unseld: Uwe Johnson. „Für wenn ich tot bin“. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 997 (= suhrkamp taschenbuch 2676), S. 62f. 33 Irina V. Mlečina: (980), a.a.O., S. 388. 34 Hans Mayer: Zur deutschen Literatur der Zeit. Zusammenhänge, Schriftsteller, Bücher. Reinbeck bei Hamburg: Rohwolt 967, S. 339. 35 Ebenda, S. 338. 36 Ebenda, S. 339. 37 Ebenda, S. 338. 38 Irina V. Mlečina (980), a.a.O., S. 389. 39 Ebenda. 40 Mutmassungen…, a.a.O., S. 74. 41 Horst Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson (am 3.-5..962 in West-Berlin). In: „Ich überlege mir die Geschichte…“, a.a.O., S. 97. 42 Günter Blöcker: Roman der beiden Deutschland. In: Über Uwe Johnson. Hrsg. v. Raimund Fellinger. Frankfurt: Suhrkamp 992. S. 49. (= edition suhrkamp 82). 43 Hans Mayer: „Mutmassungen über Jakob“. In: Über Uwe Johnson, a.a.O. 44 Irina V. Mlečina: (980), a.a.O., S. 390. 45 Reich-Marcel Ranicki: Registrator Johnson. In: Über Uwe Johnson, a.a.O., S. 08f. 46 Vgl. Reinhard Baumgart: Uwe Johnson im Gespräch (am 2.8.967 in München). In: „Ich überlege mir die Geschichte…“, a.a.O., S. 223. 47 Armin Halstenberg: „Dichter sollte man nicht stören“. Heute am Telefon: Uwe Johnson (9.7.969 in West-Berlin). In: „Ich überlege mir die Geschichte…“, a.a.O., S. 232. 48 Uwe Johnson: Berliner Stadtbahn (veraltet). In: Ders.: Berliner Sachen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 975. S. 0. (= suhrkamp taschenbuch 249). 49 Vgl. Ebenda, S. 20f. 50 Arnhelm Neusüss, a.a.O., S. 84. 51 Irina V. Mlečina (980), a.a.O., S. 392. 2 52 Ebenda, S. 393. 53 Ebenda, S. 39f. 54 Vgl. Mutmassungen…, a.a.O., S.4., „Taube auf dem Dach“ heißt Rohlfs Plan zur Gewinnung Gesines für die Sache des Sozialismus. 55 Wladimir I. Steženskij: Ot ispovedalnoi prosy k nowomu psichologismu. In: Ders.: Ljudmila B. Tschornaja: Literaturnaja borba w FRG. Poiski, protiworetschija, problemy. Moskva: Sowjetski pisatjel, 978, S. 29-43. 31 127 Jurij Sacharov 56 Wladimir I. Steženskij, a.a.O., S. 3. Vgl. Ebenda, S. 33. 58 Sperrdruck von J.S. 59 Wladimir I. Steženskij, a.a.O., S. 35. 60 Ebenda, S. 32. 61 Mutmassungen…, a.a.O., S. 60. 62 Ebenda, S. 83. 63 Vgl. Ebenda, S. 8f. 64 Vgl. Das dritte Buch…, a.a.O., S. 2. 65 Uwe Johnson: Karsch, und andere Prosa. Frankfurt/M.: Suhrkamp 990. S. 29ff. (besonders S. 32). (= suhrkamp taschenbuch 753). 66 Vgl. Das dritte Buch…, a.a.O., S. 40f. 67 Wladimir I. Steženskij, a.a.O., S. 32. 68 Mutmassungen…, a.a.O., S. 25f. 69 Ebenda, S. 25. 70 Wladimir I. Steženskij, a.a.O., S. 37. 71 Karsch…, a.a.O., S. 27. Dazu auch siehe: Norbert Mecklenburg: Vorschläge für Johnson-Leser der 90er Jahre. In: Karsch…, a.a.O., S. 38. 72 Wladimir I. Steženskij, a.a.O., S. 38. 73 Ebenda, S. 4. 74 Ebenda. 75 Ebenda, S. 42. 76 Ebenda, S. 43. 77 I. Bukajew Aleksandr: Uwe Johnson. In: Ders.: Istorija njemezkoj litjeratury, Tshcast 3. [Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 3]. Minsk: Wyschejschaja Schkola 982, S. 90-92. 78 Ebenda, S. 90. 79 Siehe Anm. 8. 80 Istorija njemezkoij litjeratury (986), a.a.O., S. 227 und Kurze Geschichte der deutschen Literatur, a.a.O., S. 660. 81 Uwe Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, a.a.O., S. 40. 82 „Ich überlege mir die Geschichte…“ a.a.O., S. 207. 83 Uwe Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, a.a.O., S. 340. 84 Uwe Johnson: Begleitumstände, a.a.O., S. 336-38. 85 „Ich überlege mir die Geschichte…“ a.a.O., S. 9f. 57 128 Carsten Gansel Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson zwischen Nähe und Distanz1 Wovon Uwe Johnson in „Ingrid Babendererde“ erzählt, ist bekannt, es geht um junge Leute, die in einer mecklenburgischen Kleinstadt im Mai des Jahres 953 kurz vor dem Abitur stehen, es geht um erste Liebe, Sonne, Segeln, Schule und Freizeit. Ingrid Babendererde, Klaus Niebuhr und Jürgen Petersen sind Schüler der Klasse 2 A der Gustav-Adolf-Oberschule, und sie geraten in den staatlicherseits provozierten Konflikt um die christliche Junge Gemeinde. Aus moralischen wie politischen Gründen halten sie das Vorgehen des Staates gegen einzelne Mitschüler schlichtweg für einen Verfassungsbruch. Ingrid und Klaus, die mehr als Freundschaft verbindet, ziehen die Konsequenz und verlassen die DDR. Jürgen wird für seine Ideale eines demokratischen Sozialismus weiter einstehen und in der Jonas-Figur der „Mutmassungen über Jakob“ eine Fortsetzung finden. So die dürre Wiedergabe der Fabel. Als ein Thema sah Johnson später „all die Knoten und Knicke und Brüche in Lebensläufen“ und wie sie sich ergeben bei Personen „seit dem verfassungswidrigen Kirchenkampf von 953“.2 Der Autor gestaltete damals also einen Stoff, der ihn selbst anging, der Abstand zum Selbsterlebten war bei dem Zwanzigjährigen gering, kurzum bei „Ingrid Babendererde“ handelte es sich um ein zeitdiagnostisches Buch, das dann nicht erschien.3 Erst 985 – ein Jahr nach dem Tod des Autors – wurde der Text aus dem Nachlaß herausgegeben und viel diskutiert. Als „Arbeit eines Zwanzigjährigen“ – so ein Johnson-Kenner – sei dies „eine ganz unwahrscheinliche künstlerische Leistung“.4 In diesem Frühwerk würden sich bereits „viele Eigentümlichkeiten“ Johnsons zeigen, „Verzögerung“ und „Zeitlupentechnik“5, seine „eigenwillige Syntax“, „pointenreiche Lakonismen“,6 „sprachliche Originalität“7, eine „dialektische Diktion“8. Kurzum, an Johnsons Text lasse sich bereits das entdecken, was den Autor der „Mutmassungen“ und der „Jahrestage“ auszeichne: die Verbindung von „Alltag und Weltgeschichte, Natur und Gesellschaft, Lebenspraxis und politischer Ideologie“.9 Auch Johnsons Erzähltalent wurde herausgestellt, seine Fähigkeit, eine bzw. die Geschichte zu erzählen, „denn da wird handfest erzählt, und zugleich wird Zeit-Geschichte, die auch in diesem Carsten Gansel geographischen Winkel Welt-Geschichte war, ins Bewußtsein gerückt“10. Ein knappes Resümee lautete: „dieser Erstling war erstklassig“.11 Mehr als vierzig Jahre später, Ende der 90er Jahre, ist eine ‚neue Erzählergeneration‘ angetreten, von der es heißt, sie würde „literarische Theorien und Dogmen“ mißachten und „so saftig, unterhaltsam und unbekümmert“ erzählen, „wie einst der junge Grass“. Gefeiert wurde die „neue Lust am Erzählen“ und das „vitale Interesse am Erzählen, an guten Geschichten und wacher Weltwahrnehmung“ herausgestellt12, ja überhaupt eine „Rückkehr des Epischen“ diagnostiziert.13 Wenn von „wacher Weltwahrnehmung“ die Rede ist oder vom „Erzählen von Geschichten“ so sind die Gemeinsamkeiten mit Johnsons Erstling „Ingrid Babendererde“ offensichtlich. Darüber hinaus: Johnson damals – wie die heutigen jungen Autoren heute – erzählen über eine Phase, die sie selbst gerade erlebt haben, sie erzählen über ihre Jugend bzw. Adoleszenz und dies als Betroffene. Genau das wird von einem Teil der Kritiker gegenwärtig als das eigentlich Faszinierende beschrieben: Endlich schreibe mal jemand darüber, „was uns interessiert. Übers Jungsein, diesen privilegierten Zustand des Nichtmehr-und-noch-nicht. Sie haben es erreicht, daß wir uns endlich mal wieder unterhalten, verstanden und manchmal sogar vertreten fühlen.“14 Eine der vielen Fragen nun ist, worüber und auf welche Weise und mit welchen literarischen Mitteln erzählen diese Jungen, finden sich Generationsmerkmale, durch welche kulturellen Kontexte sind ihre Texte geprägt, wie ist ihr Verhältnis zur Welt, und gibt es möglicherweise Verbindungen zu einem Autor wie Uwe Johnson. Da Gemeinsamkeiten der jüngsten Autorengeneration nicht zuletzt im neuen Verhältnis zu Pop gesehen und ihre Texte mit dem Etikett ‚Popliteratur‘ versehen wurden, steht auch die Frage, ob sich bei Uwe Johnson Pop-Bezüge finden lassen. Die Suche nach Spuren einer Johnson-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur ist also durchaus angeraten und zeigt – wie ein neuerer Beitrag unterstreicht15 – einen durchaus beträchtlichen Einfluß. Bei Generationsgefährten wie Jürgen Becker, Günter Grass, Hans Werner Richter, Fritz Rudolf Fries oder Christa Wolf finden sich ebenso Hinweise auf den Autor wie bei den jüngeren Schriftstellern. Jürgen Becker stellt in seinem mit dem Uwe Johnson-Preis 2002 ausgezeichneten Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ Bezüge zum Werk von Uwe Johnson her, nicht nur was den Umgang mit dem ‚Gedächtnis‘ und der ‚Erinnerung‘ betrifft.16 In der Dankesrede von Jürgen Becker sowie einem Gespräch17 finden sich weitere Hinweise auf Nähe wie Distanz zu Uwe Johnson. Jürgen Becker ist nach anfänglicher Faszination 130 Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson und notwendigem Abstand dem Werk von Uwe Johnson in dem Maße näher gekommen, wie er für sich den Roman (wieder) entdeckte und ihm dabei die Koordinate der ‚Erinnerung‘ immer wichtiger wurde. Marcel Beyer als ‚Vertreter‘ der jüngeren Autorengeneration hat in seiner Rede zur Verleihung des Uwe-Johnson-Preises die poetologische Verwandtschaft zu Johnson betont und herausgestellt, wie wichtig ihm Johnsons Konzept einer Verbindung von Individuellem und Gesellschaftlichem, von Persönlichem und Politischem ist: „‚Schweigen ist unmöglich.‘ – ‚Die guten Leute sollen das Maul halten.‘ Diese beiden Sätze markieren eine Spannung, der ich mich heute ausgesetzt sehe. – Als Nachkomme von Schweigegeneration und Antwortgeneration, dazu als jemand, der weder einen Stern noch einen farbigen Winkel sich an die Kleidung hätte heften müssen, der nicht zur Ermordung vorgesehen wäre, weiter als jemand, der mit Worten umgeht, aus Neigung, zudem vor der Öffentlichkeit, und der aus seiner Neigung notwendigerweise eine Befragung, eine unabschließbare Prüfung seines Materials, der Sprache ableitet. Eine Spannung, die nicht auflösbar ist. Sie ist eine Voraussetzung meines Sprechens und Hörens.“18 Nun handelt es sich bei Marcel Beyer allerdings um einen Autor der jüngeren Generation, der durch eine Reihe von herausragenden Texten als bereits ‚etabliert‘ und anerkannt gelten kann, was auch für Thomas Brussig und Ingo Schulze gilt. Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen stellt sich die Frage, ob sich Spuren der Rezeption von Uwe Johnson explizit oder implizit auch bei Autoren finden lassen, die in den 70er Jahren geboren wurden und als Exempel für eine ‚neue Erzählergeneration‘ gelten. Die Vermutung, daß dies so sein könnte, hatte Jana Hensel genährt, die eine Sammelrezension mit dem Titel „Alle Orte sind gleich fremd. Junge Literatur erinnert sich an den europäischen Osten“ überschrieb und mit einem Johnson-Zitat begann. „‚Man hat kein anderes Material als seine Erinnerungen‘“, diese ‚Erkenntnis‘ von Uwe Johnson bildete den Ausgangspunkt für die Besprechung ausgewählter Neuerscheinungen des Bücherherbstes 999 und das Herausstellen einer Gemeinsamkeit der Jungen, bei denen es nämlich – wie bei Uwe Johnson – um die Frage „nach der Gestalt der Erinnerungen“ geht.19 Nachfolgend werden ausgewählte Aspekte eines direkten oder indirekten Johnson-Bezugs bei der jüngeren Autorengeneration angedeutet. Die Aussagen verstehen sich als vorläufig, selektiv und sollen einer Eröffnung des Gesprächs im Rahmen des Kolloquiums dienen, das auf Uwe Johnson und Gegenwartsliteratur bezogen ist. 131 Carsten Gansel Von „Ingrid Babendererde“ über „Wasserfarben“ bis zu „Helden wir wir“ Fragt man nach Themen bzw. Sujets, die bei Autoren unterschiedlicher Generationen eine Rolle spielen, so muß man konstatieren, daß es insbesondere Erzählungen und Romane über Kindheit und Jugend bzw. Adoleszenz sind, die einen regelrechten Boom erleben und zum vielleicht meistgeliebten Sujet der 90er Jahre avancierten. Der Trend begann schon Anfang der 90er Jahre mit Texten wie Martin Ahrends „Der Märkische Radfahrer“ (992) und „Mann mit Grübchen (995). In weiteren Romanen wurde jeweils über Kindheiten in Ost und West erzählt. Dazu gehörten Friedrich Christian Delius‘ „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ (994), Christoph Brummes „Nichts als das“ (994), Peter Wawerzineks „Das Kind das ich war“ (994), Stephan Krawzyks „Der irdische Kind“ (996), Birgit Vanderbekes „Friedliche Zeiten“ (996), Christoph Heins „Von allem Anfang an“ (997), Hans-Ulrich Treichels „Der Verlorene“ (998), Ralf Rothmanns Romane („Flieh mein Freund“, „Stier“, „Wäldernacht“, „Milch und Kohle“), natürlich Jürgen Beckers „Aus der Geschichte der Trennungen“ (999). Bevorzugt über Kindheit wie Adoleszenz erzählen nun auch gerade jene jungen Autoren, von deren „Aufbruch“ die Rede war: Thomas Brussig, Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre, Alexa Henning von Lange, Benjamin Lebert, Judith Hermann, Zoe Jenny. Insofern ist es legitim die Reihe mit Johnsons Schul- bzw. Adoleszenzroman „Ingrid Babendererde“ und beispielsweise der Frage zu beginnen, was der Text über das Verhältnis der Jungen zu Staat und Gesellschaft aussagt, wie die Konfliktlösung aussieht und wodurch Jugend bzw. Adoleszenz gekennzeichnet sind.20 Zwei Aspekte sind dabei für Johnsons Text maßgeblich. Erstens: Uwe Johnson zeigt am Konflikt um die junge Gemeinde, wie es um die staatliche Verfaßtheit der DDR bestellt ist. Offensichtlich wird, auf welche Weise der Staat, hier vertreten durch Schuldirektor Pius Siebmann, einzelne FDJ-Funktionäre oder die Staatssicherheit in das Leben der jungen Leute eingreift. Die „Babendererde“ führt die Konsequenzen dieses Eingriffs für den einzelnen in einer Gesellschaft vor, die nach dem Primat der Politik funktioniert, die also vom Individuum – egal in welchem Bereich es sich befindet – eine Unterordnung unter die politischen Postulate verlangt. Weil die Jugendfiguren die politischen Forderungen des Staates nicht mit ihrem Gewissen und ihrer Auffassung von Sozialismus vereinbaren können, müssen sie wie Ingrid und Klaus die DDR verlassen. Ihnen bleibt zur Wahrung ihrer moralischen Inte- 132 Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson grität keine andere Wahl. Zweitens: Uwe Johnsons „Babendererde“ macht bereits für die 50er Jahre anschaulich, daß in der DDR als einer – sagen wir ruhig – „staatssozialistischen Diktatur“ zu unterscheiden ist zwischen der DDR als „Staat“, also seinen Institutionen (Schule, Armee, FDJ, Gerichte, Staatssicherheit), den Gesetzen, den Regeln einerseits, und dem, was man als „Gesellschaft“ andererseits bezeichnen kann, den Beziehungen zwischen Menschen, dem Leben in der Familie, im Freundeskreis, im Betrieb. Mit „Gesellschaft“ ist jener „soziale Nahbereich“ gemeint, der es dem einzelnen ermöglicht, eigene Entscheidungen unabhängig von der Politik zu treffen. Es läßt sich sagen, daß auf dieser „untersten Ebene“, im sozialen Nahbereich also, im kleinen Raum, dort, wo Überschaubarkeit gegeben ist, der einzelne durchaus Macht- wie Regelungskompetenzen besitzt. Das erklärt, warum Volkspolizist Heini Holtz, eigentlich ein Vertreter des Staates, Ingrid gegen ihren Stasi-Verfolger in Schutz nehmen und ihn als „kleine(n) Spitzel“ (IB 2) abkanzeln kann. Johnsons „Babendererde“ zeigt insofern die Besonderheit von DDR, in der relativ freie Entscheidungen lediglich auf den „privaten“ Bereich bezogen blieben, also die Möglichkeit bestand, Segeln zu gehen oder nicht. „Die Grenze nach oben“, notiert Thomas Lindenberger, „bereits zur Kreis- oder Betriebsebene, war weitgehend undurchlässig; von dort kamen aber auch die Gefahren für diesen Raum des bedingt Eigenmächtigen.“21 Johnson nun erfaßt bereits als Zwanzigjähriger, wie dieses Mit- und Gegeneinander von „Staat“ und „Gesellschaft“ funktioniert und wie der Bewegungsspielraum von Jugend politisch eingeschnürt wird. Damit erfaßt der Text ein Phänomen, an dem sich von den frühen 50er Jahren bis in die Endachtziger Zeit nichts geändert hat. Ein Blick auf Thomas Brussigs „Wasserfarben“ macht dies deutlich: es handelt sich wie bei Johnson um einen Schul- bzw. Adoleszenzroman, und der Autor war erst um die Zwanzig, als er ihn schrieb.22 Brussigs Text liest sich wie eine Verlängerung von Johnsons „Babendererde“. Offensichtlich werden mit Blick auf den Status von Jugend Kontinuitäten wie Veränderungen.23 Als dem Protagonisten Anton von seinem Direktor die Schule als eine Institution suggeriert wird, auf der die „Elite der Nation“ und die Führungsgarde von morgen herangezogen“ werde, kommentiert dieser das mit „und blablabla“ (WF 9). Anton kommt vielmehr zu dem Ergebnis: „Alles nur fauler Zauber. Die ganze Schule war ein einziger fauler Zauber.“ (ebd.) Das ist durchaus symbolisch gemeint. Geblieben ist – wie seit Uwe Johnsons „Ingrid Babendererde“ – die Politisierung des Privaten: Jemand, der wie Anton noch keinen Studienwunsch hat, kann in den Augen des Schuldirektors – der wie Siebmann 133 Carsten Gansel als Repräsentant des Staates funktioniert – nur als „Luftikus“ gelten. Was unter modernen Verhältnissen allgemein anerkannte Voraussetzung und legitimer Ausdruck der Suche nach dem eigenen Ich ist, wird unter real-sozialistischen Bedingungen als „nicht normal“ (WF 9) eingestuft. Einem solchen „jungen Menschen“ werden „wir kein Reifezeugnis aushändigen“ (WF 7). In „Wasserfarben“ – also Ende der 80er Jahre – ist es alltägliche Erfahrung, vom Staat ohne Grund in etwas Politisches hineingezogen zu werden. Anton leitet daraus Vorsicht im Umgang mit den staatlichen Machtträgern ab, und dazu gehören insbesondere die Lehrer. Weil Direktor Schneider ihm andauernd „politisch“ kommt, wägt er jedes Wort ab: „Ich habe nichts gesagt, was er gegen mich verwenden kann. Das ist es nämlich. Erst machen sie auf vertraulichen Gesprächspartner, und dann drehen sie einem daraus ’nen Strick.“ (WF 20) Das Paradoxe an der Situation ist, daß Anton nicht weiß, woran er ist und nicht abschätzen kann „wie heiß es überhaupt war“ (ebd.). Kleinste Nuancen können politisch ausgelegt werden. Das Verhalten der Machtträger ist unberechenbar. Anton zieht aus dieser Erfahrung den Schluß: „Man muß immer vorsichtig sein, damit man gar nicht erst in was verwickelt wird. Besonders politisch. Man muß sich höllisch vorsehen, daß sie einen nicht politisch drankriegen.“ (ebd.) Anton reagiert auf diese Politisierung individueller wie gesellschaftlicher Handlungsfelder – anders als Johnsons Figuren – mit einer unpolitischen Gegenbewegung. Er geht auf den politischen Code nicht mehr ein, er hat mit dem, was ich als Staat bezeichnet habe, abgeschlossen. Anton protestiert nicht mehr öffentlich wie Ingrid Babendererde, er opponiert nicht wie Edgar Wibeau („Die neuen Leiden des jungen W.“), und er wehrt sich auch nicht wie Karin („Unvollendete Geschichte“). Da Anton das Wissen um seine Machtlosigkeit bereits als gegeben hinnimmt und weiß, wie hilflos er dem ausgeliefert ist („Sie haben uns eben in der Hand“; WF 55), verzichtet er auf Gegenbewegung und Konfrontation. Es erscheint ihm nützlicher, sich in die Nische, also den gesellschaftlichen Nahbereich zurückzuziehen. Klaus und Ingrid bei Johnson verlassen die DDR, Edgar Wibeau ist diese Möglichkeit verbaut, er flieht statt dessen in eine Gartenlaube mitten in der Metropole Berlin. Anton dagegen prüft Vor- und Nachteile, wägt sie ab und entscheidet cool, erst einmal zu bleiben und das Abitur zu Ende zu machen. Jugendlicher Idealismus ist seine Sache nicht, weil er nüchtern die Chancen oppositioneller Gegenbewegung 134 Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson analysiert. Daß für Thomas Brussig der Autor Uwe Johnson sehr wohl eine bekannte Größe ist, unterstreicht ein Gespräch, in dem es wiederholt um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Schreibansätzen geht. Angesprochen auf Johnsons Hinweis darauf, daß die zu erzählende „Geschichte sucht“, sie sich gewissermaßen „ihre Form“ selbst macht, notiert Thomas Brussig: „Ja schon, aber die Form zu finden, das ist ein langer Prozeß. Es hat für ‚Helden wie wir‘ ein Jahr gedauert, bis ich die Erzählerstimme hatte. Insofern ist das Finden der Form ein mit vielen Unsicherheiten behafteter Prozeß. […] Aber wenn dann der Punkt erreicht ist, wo man die Form für seine Geschichte gefunden hat oder eben die Geschichte diese Form gefunden hat – wie Johnson sagt – dann ist es ein schönes Arbeiten. Da bewegt man sich dann in eben dieser Form.“24 Es stellt sich die Frage, was ist in dem Fall ist, da sich für die jugendlichen Protagonisten die staatliche Repression bis in den familiären Nahbereich, das was ich Gesellschaft genannt habe, fortsetzt, wo also Eltern, vielleicht sogar Freunde gleichsam eine Verlängerung des Staatswesens darstellen, ein Freiraum also gar nicht mehr existiert? Texte, die diese Frage stellen, sind in der DDR nur in Ausnahmen erschienen: Dazu gehört Volker Brauns „Unvollendete Geschichte“. Nach 989 und dem Ende der DDR haben Christoph Brumme und Thomas Brussig eine solche Konstellation durchgespielt. In seinem Debütroman „Nichts als das“ entwirft Brumme eine Eltern-Kind-Beziehung, in der „Staat“ wie gesellschaftlicher „Nahbereich“ dem Kind bzw. Jugendlichen keinen eigenen Raum lassen. Es ist kein Zufall, wenn sein Held den Namen „No“ trägt und vom Erzähler als „falscher Hund“ bezeichnet wird, als „falscher Fuffziger“, der „jederzeit das Gegenteil von dem sagen konnte, was er gerade gesagt hatte“.25 Anders aber als in Thomas Brussigs „Helden wie wir“ stehen die Eltern des Protagonisten in Distanz zu den politischen Vorgaben des Staates. Für das Kind macht dies insofern keinen Unterschied, als insbesondere die Vater-Figur autoritär agiert und dem Protagonisten keine Spielräume läßt.26 Thomas Brussig baut in „Helden wie wir“ – wenngleich in der Form der Groteske – eine Familienstruktur, in der die Eltern des Protagonisten Klaus Uhltzscht auch zu Hause den Staat repräsentieren. Klaus Uhltzscht besitzt daher keine Freiräume, denn als Kind eines Stasi-Offiziers und einer Hygieneinspekteuse wird er auch im familiären Nahbereich staatlich sozialisiert. Entsprechend erinnert er: „Ich habe immer getan, was andere wollten! Ich habe nie getan, was ich wollte“.27 Eine solche Figur kann nur ein ‚Flachschwimmer‘ bleiben. 135 Carsten Gansel Wenn denn der Vater nicht vorher das Zeitliche segnen würde, lägen frühexpressionistische Vatermordgedanken nahe, so muß er ‚nur‘ die Befreiung von der Mutter-Instanz vollziehen. Das wird Klaus auf jener Großdemonstration bewußt, die am 4. November 989 Hunderttausende in Berlin zusammenbringt. Thomas Brussig läßt seinen Protagonisten die Rednerinnen verwechseln, nicht Christa Wolf nimmt er als solche wahr, sondern die Eiskunstlauftrainerin Jutta Müller: „Was mich zusätzlich alarmierte, war […] daß sich Jutta auf Mutter reimte und durch einen winzigen Federstrich in Müller die l zu t werden. Jutta Müller, die Mutter aller Mütter. […] Na prost Mahlzeit! Der Sohn meiner Mutter ist pervers geworden – was wird aus dem Land, wenn die Eiskunstlaufrainerinnen und Hygieneinstpekteusen-Revolution siegt […] Daß unsere Mütter so gnadenlos un-ta-de-lig waren! Was sie alles für sich verbuchen können. Sie haben Olympiasiege gemacht. Verfassungsentwürfe präambelt! Sie haben das Land aus den Trümmern geholt oder schauten zumindest aus dem Kinderwagen zu … Versuchen Sie mal sich bei einer Frau, die mit Lebensmittelkarten aufgewachsen ist, […] zu beschweren […]. Und sie können sich nicht vorstellen, wie dreckig es uns geht! […] Wie soll man umgeben von olympischen Müttern, darüber sprechen können.“28 Daß die staatlichen Übermütter mit der eigenen und dann der literarischen gleichgesetzt und alle in einem entsorgt werden, mag manchen – weil Christa Wolf die Zielscheibe der Kritik ist – provokant wie ungerecht erscheinen. Unbestritten aber ist, daß schärfer eine politische wie literarische Absetzung von der älteren Autorengeneration, der Wolf-Generation, nicht aussehen kann. Derartige poetische Befreiungsakte haben junge Autoren der 975er Jahrgänge aus dem Osten nicht mehr nötig, weil ihre Kindheit und Jugend nicht mehr in dem Maße von der DDR und Teilen ihrer Literatur geprägt war. Dort, wo der Abschied von der Kindheit mit dem Abschied von der DDR zusammenfiel, bedarf es nicht einer vergleichbaren Absetzung von maßgeblichen Autoren der vorangegangenen Generationen. Die Erfahrung mit der DDR oder Bundesrepublik wirkt sich in der Gegenwart auf das „Was“ und „Wie“ sowie auf das „Erinnern und Erzählen“ der neuen Texte aus. Für diese These gibt es hinreichend Belege. „Ich behaupte“, so der in der DDR aufgewachsene Ingo Schulze, 136 Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson „daß man nicht ungestraft denselben Stil für die Zeit vor und nach 989/90 anwenden kann. Die Bedeutung einer Sprache, die Menschen in einem System benutzen, das vorrangig auf ideologischen Postulaten beruht, ist eine andere als die in einem System, das sich in erster Linie über die Ware, das Geld zu regulieren sucht. Eine Binsenweisheit, aber eine kaum berücksichtigte.“29 Versuchen wir die Konsequenzen für heutiges Erinnern wie Erzählen durchzuspielen und nehmen einen einfachen Satz: „Der junge Herr B. konnte die Hand auf großes Geld legen und kaufte einen Sportwagen.“30 Solch ein Satz, es ist der Beginn von Uwe Johnsons „Zwei Ansichten“, taugt für die Zeit vor 989, also für die DDR nicht, es gab weder „großes Geld“ zu verdienen und noch unmöglicher war es, schnell mal einen Sportwagen zu erwerben, denn schon die Wartezeiten für einen Trabant lagen bei zehn Jahren. Der gleiche Satz 990/9 geschrieben, könnte der Beginn einer Geschichte sein, die nicht unbedingt mit der russischen Mafia enden müßte. Daß ein und derselbe Satz in „verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Assoziationen“ hervorruft, macht das Erzählen schwer, mindestens dann, wenn es um das Erinnern und das Erzählen geht. Uwe Johnson hat daher die Grenze als eine „literarische Kategorie“ bezeichnet, die verlangt, die epische Technik und die Sprache zu verändern, bis sie der unerhörten Situation gerecht werden.“31 Ingo Schulze bezieht sich auf eben diese Erfahrung Johnsons, insofern besteht eine poetologische Beziehung und die „Simple(n) Stories“ bedeuten ihre Anwendung. Nur in einem System nämlich, das auf der Ware-Geld-Beziehung basiert, nimmt man es also einem jungen B. ab, daß er sich mal schnell einen Sportwagen kauft. In einer „arbeiterlichen Gesellschaft“ erscheint es schwerlich möglich, daß die literarischen Figuren mit Anfang Zwanzig ein „Problem mit armen Leuten“ haben32, „Ferien für immer“ machen wollen33, mehrere Seiten lang die Problematik nicht haftenden Nagellacks bedenken, über den Vorteil handgenähter Schuhe sinnieren, Prada, Joop oder Dolce & Gabana lieben, ja überhaupt den „Kauf bestimmter Kleidungsstücke (als) … eine Form der Weltanschauung“ ansehen.34 Solche Figuren- wie Konfliktanlagen stehen in Distanz zu Uwe Johnsons Schreibansatz, seinen Texten wie seinen Lebensmaximen, denn unbestritten dürfte sein, daß der Autor auf nahezu alle „Fragen an das Leben“ (JT 523) – wie Norbert Mecklenburg wiederholt und trefflich herausstellt – „klassisch marxistische“ Antworten gibt.35 Gleichwohl sei danach gefragt, ob und wo sich Bezugspunkte zwischen Johnson und den Jungen ergeben. Zu diesen Zweck seien ansatzweise Entwicklungen in der jungen Gegenwartsliteratur markiert. 137 Carsten Gansel Vom ‚Relaxen‘, Pop und dem Erinnern „‚Wolln wir die Pillen gleich nehm, oder was?‘ ‚Klar‘. Ich hole Wasser. Im Flur stolpere ich erst mal über den Anrufberantworter. Mann. Ich bin komplett fickrig. Auf Pille kannst du einfach nicht rattern. Das führt zu nichts.“36 Derartige Textausschnitte sind von Kritikern bevorzugt ausgewählt worden, wenn es um den Nachweis ging, daß in Alexa Henning von Langes Debüttext „Relax“ mit dem vermeintlichen Loblied auf die „Comic-Brüste“ von Vampirella sich nichts anderes spiegele als der „Trend zur Konditionierung auch weiblicher Teenies auf die Reize marketing-getunter Turbo-Mentalität“.37 Bei der Kritik an Benjamin von Stuckrad-Barre, der seit „Soloalbum“ als Anführer der männlich-deutschen Popliteraten gilt, stößt neben Textkritik vor allem dessen mediale Inszenierung wie Vermarktung auf Widerspruch.38 Zunächst machte die Provokation, die etwa „Relax“ oder in anderer Weise Stuckrad-Barre bei manchen Kritikern wie Lesern auslöste, sich an der vermeintlich tabulosen Präsentation von Sexualität oder Drogenexzessen fest, auch die Selbstinszenierung in einer trendigen Spaßgesellschaft erbrachte Irritationen. Damit rieb die Kritik sich an der Oberflächenstruktur von „Relax“. Doch die eigentliche Aufstörung durch Texte dieses Typs geht von der ‚semantischen Tiefenstruktur‘ aus, nämlich der Tatsache, daß es keinerlei erzählerische Kommentierung gibt, jegliche moralisierende Außenperspektive fehlt, damit traditionelle Vorstellungen von Identitätsfindung, Sinnsuche, Autonomie der Persönlichkeit in Frage gestellt, somit Fundamente der Literatur der Moderne destruiert werden. Die Autoren treten gänzlich hinter ihre Figuren zurück, es wird auf Kommentierung oder versteckte moralische Wertungen verzichtet. Darin findet sich eine gewisse Nähe zu Uwe Johnson, denn der hat die „Lieferung einer Quintessenz oder einer Moral“ als „Bruch des Vertrages“ zwischen Autor und Leser angesehen und gerade auf einen mündigen, einen aktiven Leser gesetzt.39 Distanz ergäbe sich beim Blick auf das zur Verfügung gestellte ‚Material‘, obwohl auch hier Zurückhaltung geboten ist, denn für Johnson, war ein Roman neu, „der zu tun hat mit der Zeit, in der der Leser lebt“.40 Dies wird man mit einigem Recht Alexa Hennig von Langes „Relax“ durchaus zugestehen müssen. Erzählt wird über ein Wochenende, in dem das Feiern im Zentrum steht. Der Text besteht aus zwei Teilen, bei denen es sich um eine Mischung aus inneren Monologen bzw. einem Bewußtseinsstrom sowie Figurenrede handelt. Erzählt wird also über den gleichen Zeitraum einmal aus der Sicht des 138 Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson männlichen Protagonisten, Chris, und zum anderen aus der Perspektive der weiblichen Heldin, die keinen Namen hat, sondern nur als „die Kleine“ auftritt. Beide Ich-Erzähler sind um die zwanzig. Eine Handlung im herkömmlichen Sinne existiert nicht, vielmehr entstehen durch den beständigen Wechsel zwischen innerem Monolog und Figurenrede schnelle Schnitte, die einer Film- und Clip-Ästhetik vergleichbar sind und den Leser vor die Notwendigkeit stellen, beständig die Perspektive zu wechseln. „Mann. Ich bin ein Rockstar“, so setzt Chris’ Monolog ein, und auch beim Abfeiern fühlt der männliche Protagonist sich nach dem Einschmeißen von Pillen immer wieder wie eine Popgröße. „[…] Ich bin ein Rockstar und gehe jetzt tanzen. ‚Jungs, ich geh jetzt tanzen!‘ ‚Biste sicher?‘ ‚Warum nicht?‘ ‚Du bist doch komplett zu!‘ ‚Kann doch trotzdem tanzen, oder nich?‘ ‚Wenn de meinst!‘ Klar. Tanzen geht immer. Ich gehe jetzt tanzen. Im Nebel tanzen, ich tanze jetzt im Nebel. Ist doch nett. Ich tanze jetzt. Mit 000 Leuten tanzen. Heute wird gefeiert und getanzt. Tanzen, tanzen, tanzen. Schwitzen, schwitzen, schwitzen. Man ist mir heiß. Ich ziehe mal meine Jacke aus. Zahnpasta auf der Jacke. Ich schenke meiner Kleinen eine Zahnpastatube. Ist alles das gleiche Zeug. Zahnpasta ist Zahnpasta und ich tanze jetzt …“ 41 Offensichtlich wird: Ein rationaler Diskurs findet nicht statt, die Protagonisten reflektieren zwar durchgängig, aber ihre Gedanken kreisen in beständigen Wiederholungen und Schleifen ausschließlich um Banalitäten des Alltags, sie stehen in keinem direkten Zusammenhang und stellen das Gegenteil dar von der Suche nach der eigenen Identität. Über die Welt, wie sie sich lokal außerhalb der Wohnung und dem Party-Ort darstellt und zeitlich zwischen den Wochentagen Montag bis Freitag abläuft, erfährt der Leser nichts. Arbeit, Beruf, Politik spielen keine Rolle, Generationskonflikte existieren nicht, das Verhältnis etwa zu den Eltern wird nicht explizit thematisiert, die Notwendigkeit zur Rebellion fällt weg.42 Statt dessen steht das Ausleben von Hedonismus im Zentrum, es geht um Sex, Drogen, ‚Abhängen‘, Kiffen. Ganz in diesem Sinne notiert Chris: „Ich finde das klasse. Das Leben ist zum Feiern da“, und er formuliert seine Maxime so: „Du mußt doch ein bißchen Spaß haben im Leben. Sonst hat das alles gar keinen Wert. Ich meine, solange du niemandem wehtust, ist alles erlaubt. Was soll das? Diese ganzen blöden Gesetze. Wenn du die alle beachten wolltest, müßtest du dein ganzes Leben damit verbringen, Gesetze zu beachten. 139 Carsten Gansel So ein Quatsch.“43 Daß Chris permanent etwa der „Kleinen“ ‚wehtut‘, ja sie das Wochenende geradezu fürchtet, vermag er nicht zu erkennen. Die Feier des Augenblicks wird von Chris begründet durch eine Hoffnung auf Gemeinschaft. „Ist doch schön, wenn alle zusammen tanzen“, findet er.44 Die Spannung bei Hennig von Lange und anderen Jungautoren entsteht gerade nicht – wie man vermuten könnte – aus „dramaturgisch profihaften Handlungsverläufen“, sondern, eher „aus dem Hineinstellen der Helden in Versuchsräume, in denen die Dinge der Welt auf sie treffen und aus der Frage, wie sie darauf reagieren.“45 Zu diesem Zweck wird – so könnte man mit Boris Groys sagen – der ‚Raum des Profanen‘ ausgeschritten und auf diese Weise ‚Neues‘ produziert.46 Die Mythen bzw. Helden der „Kleinen“ in Hennig von Langes „Relax“ entsteigen im Sinne von Leslie Fiedler den Welten der Filme, der Comics und des obszönen Zeichenstifts. Wenn – wie hier – eine Außenund Innenwelt literarisch erfasst wird, die einzig aus einer (An)Sammlung von Tätigkeiten wie Warten, Abhängen, Trinken, Kiffen, Wichsen usw. besteht, wird man diese wohl mit einigem Recht als banal oder profan bezeichnen können. Nur wäre es verfehlt, dies schlechthin als Vorwurf an die Autorin und Text zu formulieren. Im Gegenteil: Man mag im „Inventarisieren“ ein auffälliges Merkmal der Literatur der jüngsten Autorengeneration sehen: Aufwachsen im Westen Deutschlands war eben nur vermeintlich „konfliktfrei und behütet“, weswegen sich bei der literarischen Verarbeitung „Abgründe“ auftun und sich ein „frappierender Mangel an Werten und Orientierungspunkten“ zeigt.47 Eine moderne Suche nach Identität erfolgt daher bei Hennig von Lange nicht bzw. nur verdeckt, statt dessen gibt es ein lockeres Spiel mit jenen Angeboten, die eine Erlebnisgesellschaft zur Selbstinszenierung des Ichs zur Verfügung stellt. So erscheint das Leben als Endlosparty, mal spaßig, mal frustrierend. Es geht um Lifestyle, um die Suche nach dem coolsten outfit.48 Wie in den Medien, der Werbung, der Musik, den Clips spielen in Texten dieser Art Oberflächen eine entscheidende Rolle. Die Folge sind schnelle Schnitte, die Erzählperspektiven wechseln, die Identitäten wandeln sich. Aus den kurzzeitig aufblitzenden Stimmungen, Launen, Affekten, Beobachtungen, Absurditäten wird ein Bild von jungen Leuten entworfen, die zwar keinen festen Wesenskern im Sinne eines ausgeprägten und stabilen Sinn-Mittelpunktes besitzen und die gerade darum – wie in Enrico Remmert „Loove Never Dies“ – von ihrem „unaufhörlichen Versuch“ erzählen, „der Welt einen Sinn zu geben und uns zu erklären, was geschieht“.49 Es geht in Texten dieser Art nicht darum, durch das „Was“ und „Wie“ des Erzählens eine Verbindung von Persönlichem und Politischem, In140 Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson dividuellem und Gesellschaftlichen herzustellen, wie dies in „Ingrid Babendererde“, bei Brussig, Brumme, Kerstin Hensel („Im Schlauch“, „Tanz am Kanal“), Kathrin Schmidt („Die Gunnar-Lennefson-Expedition“), Peter Wawerzinek („Das Kind das ich war“) der Fall ist. Statt dessen werden bewußt Oberflächen einer Erlebnisgesellschaft präsentiert. Eine Begründung, warum dies so ist, hat Enrico Remmert seinem Roman als Leitmotiv vorangestellt: „Erst wenn man die Oberfläche der Dinge kennengelernt hat, kann man sich aufmachen, um herauszufinden, was darunter sein mag. Doch die Oberfläche der Dinge ist unerschöpflich“, ein Zitat aus einem als postmodern geltenden Text Italo Calvinos mit dem Titel „Herr Palomar“. Hennig von Lange mit „Relax“ oder Christian Kracht mit „Faserland“ schreiben ein Erzählmuster nach, das Breat Easton Ellis (Jahrgang 964) auch mit Anfang Zwanzig in „Unter Null“ (986) und „Einfach unwiderstehlich“ (987) entworfen hat.50 Die Protagonisten in Ellis Romanen sind nur noch Zeichen und Oberfläche. Sie kennen keine Erinnerung und Geschichte, was zählt ist die Gegenwart. Und die ist ohne Ränder in andere Zeitstufen. Für Autoren, Kritiker, Leser, die an zentralen Kategorien der Moderne wie Subjekt – Geschichte – Sinn festhalten, muß die Darstellung von Sex, Kiffen, Verwahrlosung, Bindungslosigkeit ein Grund zur Ablehnung sein. Insofern wird ein Gegensatz zu Johnsons Erzählkonzept offenbar, dem es ja gerade darum ging, „hinter die äußere Kruste des Gewesenen“ zu kommen und der aus diesem Grunde Erinnern und Erzählen zusammenband. Die postmoderne Inszenierung von Orientierungsverlust und Ich-Auflösung hat Johnson nicht mitgemacht. Als Romancier ist er von den „Entwürfen der klassischen Moderne nicht in Richtung Postmoderne gegangen, sondern hin zu einem modernen, problemorientierten und zugleich differenzierten Realismus“.51 In dieser Hinsicht zeigt sich Distanz zu den Jungen, auch zu einem Autor, der sich wiederholt auf Uwe Johnson bezogen hat: Rainald Götz.52 Alexa Hennig von Lange auf der einen und Rainald Götz auf der anderen Seite gelten altersmäßig als Markierungen für das, was man inzwischen Popliteratur nennt. Aber wie werden die Begriffe Pop und Popliteratur bestimmt. Für Christian Höller meint Pop „diejenige Form von kultureller Artikulation, in der ein umfassendes Set von Widersprüchen mit größtmöglicher affektiver Intensität und vergleichsweise hohem Publikumsbezug ausgetragen wird“ Insofern handelt es sich bei Pop um: „eine ‚kulturelle Formation‘, die ein labiles Konglomerat aus Musik, Kleidung, Filmen, Medien, Konzernen, Ideologien, Politiken, Szenebildungen usw. darstellt. Und die so diffuse Inhalte wie Jungsein, Marginalisiertsein, alltägliche 141 Carsten Gansel Machtkämpfe, politische Auseinandersetzungen, sexuelle Konflikte, schließlich die ganze Palette von Pubertäts-, Jugend- und Lebensbewältigungen bearbeitet. Ökonomisch kanalisiert wird diese Formation über eine massenmediale Vermarktung, durch die all diese Widersprüche und disparaten Momente für eine relativ große, nicht elitäre Menge abrufbar und erfahrbar werden.“53 Ausgehend von der knappen Bestimmung von Pop kann Popliteratur erstens Popularität meinen, Verkaufserfolg, massenmediale Inszenierung, Jugend der Autoren und einen subkulturellen Szenebezug. Von Popliteratur kann zweitens die Rede sein, wenn es um das „Was“ der Texte geht, also ihren Inhalt. Hier reicht das Spektrum von Darstellungen der Pop-Welt (Disco, Musikstile, Glamour, Medien, Drogen, Sexualität, Ekstase) über das Erzählen von JungSein (Adoleszenz, erste Liebe, Peer-Group, jugendlichen Subkulturen), das kritische Hinterfragen von Welt mit dem Betonen des Widerständigen bis zum ‚Unterwegssein‘ im Stile der amerikanischen Beat-Generation der 50er Jahre. Popliteratur läßt sich drittens festmachen am „Wie“ der literarischen Darstellung, also an der Abkehr vom traditionellen Erzählen, der Fragmentarisierung, der Vielstimmigkeit oder umgekehrt dem Erzählen und Erinnern mit einem Rückgriff auf die Muster von Roman, Krimi, Horror, Science Fiction oder den Gebrauch von Szenesprache oder Slang.54 Nimmt man nur einmal Schreibansatz wie Texte von Thomas Brussig, dann zeigt sich wie maßgeblich Pop für die Generation jener jungen Autoren ist, die ab Mitte der 60er Jahre geboren wurden. Mit Blick auf die DDR-Literatur betont Brussig: „Die Texte hatte irgendwann nichts mehr mit mir zu tun. Die spielten bei Hofe, es ging um vergangene Autoren wie Kleist oder Emigrantenschicksale. Es ging nicht um meine Probleme, Armee kam nicht vor, oder auch nicht die Frage, wie einen die Schule zurück läßt. Ich fand nicht dieses Gefühl, wie einem die Zeit wegläuft, nichts passiert und man als Junger die lebenslange Langweile vor sich hat. Das habe ich nicht mehr ausgehalten, das konnte ich nicht mehr lesen. Dagegen war das, was in der Rockmusik abging viel interessanter und nahe an meinen Erfahrungen.“55 Es kann nicht verwundern und wäre ein eigenes Thema den Popspuren in den Texten von Thomas Brussig nachzugehen. Dabei würde sich zeigen, wie unterschiedlich die Funktion der Musik- bzw. Popbezüge ist. In „Helden wie wir“ ist angesichts der Figurenanlage und dessen, was erzählt wird Pop für den Text nicht maßgeblich, es sind vielmehr Agitprop- und Pionier-Lieder, die eine 142 Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson symbolische Funktion übernehmen. Klaus’ Erinnerung an ein Pionierferienlager hat einmal mehr symbolische Bedeutung: „Im Ferienlager […] lernte ich das Lied vom Kleinen Trompeter. Ein herzerweichend trauriges Lied von einem kleinen lustigen Freund, der, als man in einer friedlichen Nacht so fröhlich beisammensaß von einer feindlichen Kugel getroffen wurde, die sein Herz durchbohrte. Der Kleine Trompeter war – ich sage das zur Vermeidung von Kitsch in heutigen Worten – ein Leibwächter Ernst Thälmanns, der sich bei einer Saalschlacht vor Thälmann stellte, als jemand mit der Pistole auf Thälmann zielte. Der Schuß fiel, der Kleine Trompeter wurde getötet, Thälmann passierte nichts. Danach wurde das Lied vom Kleinen Trompeter geschrieben, der ein lustiges Rotgardistenblut war.“56 Daß in dieser (vermeintlich) humorvollen Episode gleichsam eine Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus geführt wird, sei nur angemerkt. Anders als Klaus in „Helden wir wir“ sind Micha Kuppisch und seine Freunde im Ostberlin der 70er Jahre popsozialisiert. Entsprechend notiert der Erzähler: „Dann hörten sie Musik, am liebsten das, was gerade verboten war. Meistens war es Micha, der neue Songs mitbrachte – kaum hatte er sie in SFBeat aufgenommen, spielte er sie am Platz. Allerdings waren sie da noch zu neu, um schon verboten zu sein. Ein Song wurde ungeheuer aufgewertet, wenn es hieß, daß er verboten war. Hiroshima war verboten, ebenso wie Je t’aime oder die Rolling Stones, die von vorne bis hinten verboten waren. Am verbotensten von allen war Moscow, Moscow von ‚Wonderland‘. Keiner wußte, wer die Songs verbietet, und erst recht nicht, aus welchem Grund. Moscow, Moscow wurde immer in einer Art autistischer Blues-Ekstase gehört – also in wiegenden Bewegungen und mit zusammengekniffenen Augen die Zähne in die Unterlippe gekrallt. Es ging darum, das ultimative Bluesfeeling zu ergründen und auch nicht zu verbergen, wie weit man es darin schon gebracht hat.“57 Die Pop-Songs haben für die Gruppe eine besondere Bedeutung: Die Musik trägt zur Gruppenbildung bei, es entsteht eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie dient zudem der Abgrenzung von den Erwachsenen und vom Staat. Darüber hinaus wirkt das Hören der ‚verbotenen‘ Lieder wie ein stummer Protest gegen die Bevormundung durch den ostdeutschen Staat. Der Erzähler selbst gibt einen Hinweis darauf, welche Rolle für Micha und seine Clique die Musik spielt: „er (Micha – C.G.) fühlte, daß es was zu bedeuten hatte, wenn alle aus der gleichen Q3a-Enge kamen, sich jeden Tag trafen, in den gleichen Klamotten zeigten, dieselbe Musik hörten, dieselbe Sehnsucht spürten und sich mit jedem Tat deutlicher erstarken fühlten – um, wenn sie endlich erwachsen sind, alles, alles anders zu machen.“58 143 Carsten Gansel Mit den Kommentaren von Thomas Brussigs Erzähler sind entscheidende Hinweise auf die Rolle von Pop auch in literarischen Texten gegeben. Kurzum: Pop hängt zusammen mit der entstehenden Jugend- bzw. Subkultur seit den 50er Jahren und wird von daher in jedem Fall bedeutsam für Protagonisten, die über ihre Jugend erzählen oder sich an sie erinnern. Dabei wird mit dem Einsatz von Popbezügen auf eine Abgrenzung von den Normen und Werten der Erwachsenen, ja der etablierten Gesellschaft insgesamt gezielt. Pop gibt den jungen Leuten die Chance, ein eigenes Terrain zu finden, zu dem die Erwachsenen keinen Zugang haben. POP, die Beatles und Uwe Johnson Es steht nunmehr die Frage, was Pop oder Popliteratur mit Uwe Johnson zu tun haben, von dem bekannt ist, daß er eher unmusikalisch war und wenn, dann eher Volksliedhaftes intonierte. In den „Jahrestagen“ spielt Pop denn auch keine Rolle, wenigstens nicht auf den ersten Blick. Doch bei genauer Suche wird man auch diesbezüglich Spuren finden. Daß die ‚New York Times‘, ja Medien wie Fotographie, Tonband, TV für das Erzählen in den „Jahrestagen“ eine besondere Funktion besitzen, ist bekannt. Gesine spricht für ihre Tochter Marie auch Zeitungsmeldungen auf Band. Am 29. November 967, einem Mittwoch beginnt sie damit. „Heute versuche ich zum ersten Mal, dir etwas auf das Tonband zu sagen ‚für wen ich tot bin‘“ (JT S. 385). Diese erste Mitteilung bezieht sich auch auf die Zeitung. „I read the Times today:/Oh boy.“ (ebd.). Dabei handelt es um ein Zitat aus einem Beatles-Song59, nämlich um „A Day in the Life“, der mit der Zeile beginnt: I read the news today oh boy“. Der Song selbst basiert wiederum auf einem Zeitungsbericht in der ‚Daily Mail‘ vom 7. Juni 967 über den Unfalltod eines jungen Freundes der Beatles, des Millionärssohns Tara Browne. Der war – möglicherweise unter dem Einfluß von Drogen – bei Rot über eine Kreuzung gerast und auf einen geparkten Kleinbus aufgefahren. In dem Zeitungsbericht wird – für Medien üblich – die ‚Berühmtheit‘ von Browne genutzt, um eine sensationelle Meldung zu produzieren und das Interesse an Klatsch und Tratsch zu bedienen. Die Beatles nun stellen in ihrem Lied einerseits die Wirklichkeitskonstruktionen durch Medien und ihre entfremdenden Wirkungen bloß und spielen andererseits auf den anarchischen Impetus der 68er Bewegung an, wenn es nach der Präsentation der traurigen Geschichte heißt: „I’d love to turn you on“ – „Ich würde euch 144 Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson gern anmachen“. Mit eben diesem Wunsch endet dann auch der Song. Es ist also keineswegs Zufall, wenn Uwe Johnson gerade diesen Beatles-Song zitiert und genau kalkulierend die gegenkulturelle und subversive Funktion von Pop nutzt, um – indirekt freilich – ein Urteil über Facetten einer (kapitalistischen) Mediengesellschaft abzugeben. Dafür, daß Johnson Songs wie Texte der Beatles mit Gespür wahrgenommen hat und Entwicklungen im Umfeld der Popkultur durchaus aufgeschlossen gegenüberstand, gibt es einen weiteren Hinweis: Es ist Mittwoch, der 27. Dezember 967, ein Tag zwischen Weihnachten und Neujahr. Die zehnjährige Marie – Tochter von Gesine Cresspahl, der Hauptfigur in Johnsons „Jahrestage“ – hat schulfrei, sie schlendert durch Warenhäuser, fährt mit der U-Bahn, kurzum, sie macht von ihrem „Recht auf Vergnügen“ Gebrauch. Und sie findet es im Kauf eines Geschenks für Gesine, ihre Mutter. Allein das sagt viel über Maries Selbständigkeit wie das Verhältnis von Mutter und Tochter aus. Der Leser erfährt am Beginn des Tagebucheintrags nicht, was für ein Geschenk Marie ausgesucht hat. Johnson läßt seine Gesine, die hier erzählt, statt dessen daran denken, wie anders es vor einem Jahr war. Nicht naß und kalt, sondern das Ufer von New Jersey war „weiß, hoch aufgepackt hinter eisigem Flußhellblau“, was wiederum einen winterlichen „Vormittag am Bodensee“ in Erinnerung bringt. Die Gegenwartsebene von New York wird auf diese Weise mit der Vergangenheit in Deutschland verbunden. Ohne Übergang erfolgt sodann ein Schnitt zur ‚New York Times‘, deren begeisterte Leserin Gesine bekanntlich ist. Am heutigen Tag präsentiert die Zeitung den „Erfinder des Napalm“, einen emeritierten Professor der Universität Harvard, „Louis Frederick Fieser, deutsch auszusprechen. Im Jahr 94 bekam er den Vertrag vom Nationalkomitee für Verteidigungsforschung, Mitte 942 war er fertig“. In knappster Weise ist über das Kriegsmittel „Napalm“ eine Verbindung hergestellt zwischen Gegenwart (Vietnamkrieg) und Vergangenheit (Zweiter Weltkrieg). Der aufmerksame Leser weiß nämlich um das Datum des Eintritts der USA in den Zweiten Weltkrieg. Der Professor argumentiert nun, daß Leute nicht dafür haftbar zu machen sind, wenn andere ihre Erfindungen mißbrauchten, von Vietnam wisse er nicht genug und überhaupt sei er „kein Jota mehr zuständig“ für die „moralischen Aspekte“ von Napalm. Erzähler wie Figuren moralisieren nicht, die Aussagen des Professors bleiben unkommentiert, statt dessen fragt Gesine „Gibt es antifaschistisches Napalm“, womit auf den Diskurs um die Konfliktsituation des modernen Naturwissenschaftlers verwiesen ist, der sich nicht sicher sein kann, ob seine Forschungsergebnisse nicht zu militärischen Zwecken genutzt 145 Carsten Gansel werden.60Angespielt wird mit dem Hinweis auf Dürenmatts „Die Physiker“ (962) und Heinar Kipphardts „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ (964). Für Uwe Johnsons Erzählen Typisches bestätigt sich mit dem Beginn des Eintrags einmal mehr: schon mit den ersten Zeilen wird eine Verbindung von Individuellem und Gesellschaftlichem, von Persönlichem und Politischem hergestellt. In einer zunächst unscheinbaren Episode realisiert der Autor das Prinzip des Gedenkens und der „Trauerarbeit“, denn die Unheilsgeschichte Deutschlands ist mit der erlebten Gegenwart verbunden. Mit Blick auf das Formale zeigt sich einmal mehr ein parataktisches Erzählen, das „harte Schnitte und scharfe Kontrastierungen“ (Norbert Mecklenburg) nutzt. Schließlich fallen jene „Techniken von Verknüpfung, Verdichtung und Verrätselung“ auf, die Johnsons Prosa – simpel gesprochen – so vieldeutig machen. Genau dies zeigt sich nämlich, wenn man danach fragt, was es mit dem Geschenk auf sich hat. Erst zu Ende des Eintrags erfährt der Leser nämlich um was für ein Geschenk es sich handelt: Marie gibt es Gesine nicht, sie verläßt sogar verärgert die Wohnung, „weil die ungehorsame Mutter bis Dienstschluß in der Bank blieb, statt nach Hause zu kommen“. Das Geschenk hat sie „höflich auf dem Tisch hinterlassen, eine Schallplatte von Leuten aus Liverpool mit Fragen an das Leben“ (JT 523). Gesine, die hier erzählt, weiß – auf den bloßen Augenschein hin – wovon die Männer aus Liverpool singen. Die zehnjährige Marie muß also jene Platte mit Bedacht gekauft haben, denn warum sonst sollte sie sie der Mutter zum Geschenk machen. Dabei handelt sich nicht um die neueste Veröffentlichung jener ‚Männer aus Liverpool‘, der Beatles, denn die „Fragen an das Leben“ finden sich auf der LP „Revolver“ von 966, und sie werden gestellt in der Ballade „Eleanor Rigby“, jenem Song, der der Nummer -Hit der Platte war.61 Gesine ist eine moralische Person, der zerrüttete Zustand dieser Welt läßt sie nicht glücklich sein, und sie versucht, ihre Lebensprinzipien an ihre Tochter Marie weiter zu geben. Dazu nutzt sie die Populärkultur in dem Fall, da ihre eigenen Positionen bestätigt werden. Mit anderen Worten: Gesine verfährt nach dem Prinzip der ‚kognitiven Dissonanz‘. Ihre von Biographie, Lebenssituation, Weltanschauung geprägte ‚Wirklichkeitssicht‘ nutzt jene Medieninhalte und ‚Geschichten‘ zur ‚Weltdeutung‘, denen sie bereits vor der Rezeption inhaltlich zustimmt. Erneut ist es mit „Eleanor Rigby“ eine traurige und im marxistischen Sinne die Klassenschranken offenbarende Geschichte, die Johnson hier versteckt zitiert: 146 Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson Ah, look at all the lonely people./ Ah, look at all the lonely people./ Eleanor Rigby picks up the rice in the church/ where a wedding has been,/ Lives in a dream./ Waits at the window, wearing the face/ that she keeps in a jar by the door./ Who is it for?/ All the lonely people, where do they all come from?/ All the lonely people, where do they all belong?// Father McKenzie, writing the words of a sermon/ that no-one will hear,/ No-one comes near./ Look at him working, darning his socks/ in the night when there´s nobody there,/ What does he care?/ All the lonely people, where do they all come from?/ All the lonely people, where do they/ all belong? Ah, look at all the lonely people./ Ah, look at all the lonely people.// Eleanor Rigby died in the church/ and was buried along with her name./ Nobody came./ Father McKenzie, wiping the dirt from his hands/ as he walks from the grave./ No-one was saved./ All the lonely people, where do they all come from?/ All the lonely people, where do they all belong?//62 Daß in der Popmusik das ‚Thema Tod‘ eher vermieden wird, ist bekannt. Entsprechend aufstörend wirkte der Beatles-Song, als er am 5. August 966 erschien, auf die Zuhörer.63 Erzählt wird vom trostlosen Leben einer alten Frau, deren Lebenssituation sie zwingt, nach der Hochzeit den Reis von den Stufen der Kirche zu sammeln. Armut und Alleinsein ist das Thema dieses traurigen Liedes, denn Eleanor Rigby stirbt einsam in der Kirche und wird einsam begraben, und mit ihr wird ihr Name begraben und stirbt („was buried along with her name“), wodurch das Ausmaß der Einsamkeit noch eine poetische Steigerung erfährt. Auf der anderen Seite steht der Priester ‚Father McKenzie‘, der sich kalt und unberührt „den Staub von den Händen wischt, als er vom Grab weggeht“ („wiping the dirt from his hands as he walks from 147 Carsten Gansel the grave“). Eleanor Rigby ist ob ihrer Einsamkeit verzweifelt, aber die Regeln der englischen Mittelstandsgesellschaft machen es ihr unmöglich, davon zu sprechen. Die Beatles finden für diesen Vorgang ein Bild, das auch Johnson in besonderem Maße für trefflich gefunden haben muß. Eleanor Rigby bleibt nichts anderes übrig, als ihr Gesicht in einem Gefäß neben der Tür aufzubewahren („wearing the face that she keeps in a jar by the door“). Insofern stirbt Eleanor im wirklichen Sinne allein, weil sie keinem sagen kann, wie sie sich fühlt. Und auch die Predigt wird keiner hören, weil keiner kommt („Nobody came“). Entsprechend endet der Song mit einer Frage, die Johnsons ‚Person‘ gewissermaßen aus dem Herzen spricht: „All the lonely people, where do they all belong?/All the lonely people, where do they all belong?“ – „Alle diese einsamen Menschen, woher mögen sie nur kommen?/All diese einsamen Menschen, mag die keiner mehr?“ Die Aufnahme Beatles-Zitates zeigt einmal mehr, wie genau Johnson seinen ‚Riesentext‘ bis in kleinste Details durchkomponiert hat und wie mit der ‚Entdeckung‘ des Pop-Bezugs neue ‚Spiegelungen‘, ‚correspondences‘ sowie Vielstimmigkeit erzeugt werden. Dabei verzichtet Johnsons „kritischer Realismus“ auf die „Lieferung einer Quintessenz oder einer Moral“: „Was dazu gesagt wird, sagen Sie“ – also der Leser! Johnson spielt zudem nicht auf einen beliebigen Beatles-Titel an, sondern auf einen Song, von dem es heißt, daß er die „minimalistische Perfektion einer Beckett-Story“ (A.S. Byatt) hat. Das mag ein Grund dafür sein, daß gerade dieser Beatles-Song auch in nachfolgenden Generationen durchaus bekannt zu sein scheint und zum Ausgangspunkt für einen Streit in Enrico Remmerts Poproman „Looove Never Dies“ wird.64 Hinsichtlich der Bezugnahme auf Pop-Phänomene betont Johnson vor allem die ‚jugendliche‘, ‚rebellische‘ ,kritische, widerständige Seite. Diese widerständige Seite spielt allerdings – abgesehen von Ausnahmen wie etwa Andreas Neumeister oder Thomas Meinecke – im Rahmen der neuen Popliteratur keine herausgehobene Rolle.65 Mit dem Hinweis auf ‚Jugend‘ und ‚Generation‘ sind wir beim Ausgangspunkt angelangt, der Tatsache nämlich, daß Johnson wie die heutigen Jung-Autoren schon früh mit ersten Texten an die Öffentlichkeit treten und dabei Autobiographisches ebenso eine Rolle spielt, wie unmittelbare Jugenderfahrungen, die in geringem zeitlichen Abstand erinnert werden. Wenn in der Gegenwart die Abwehr der Texte junger Autoren sich nicht zuletzt auch am Alter festmacht, dann muß darauf hingewiesen werden, daß dieser Einwand wie das daran gekoppelte Verdikt von fehlender Erfahrung weder 148 Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson historisch noch literaturgeschichtlich neu ist. Jugend allerdings ist modern im modernen Sinne erst dann, wenn sie sich selbst zum Thema (der Literatur) macht – in Distanz zu den Einredungen der Erwachsenen. Nun ist die Rede von der ‚einen jungen Generation‘ problematisch, das beweist schon Uwe Johnson, denn als er „Ingrid Babendererde“ und „Mutmassungen über Jakob“ in der DDR schrieb, gab es gegenteilige Konzepte bei Generationsgefährten wie Christa Wolf („Moskauer Novelle“, „Der geteilte Himmel“) oder Brigitte Reimann („Ankunft im Alltag“). Gleichwohl gab es durchaus generationenübergreifende Merkmale im Sinne von Karl Mannheim, also identische Grunderfahrungen, Erlebnisse, eine spezifische Art des Erlebens, eine besondere Art des Eingreifens in die Gesellschaft.66 In der Gegenwart mag dies insbesondere für junge ostdeutsche wie osteuropäische Autoren zutreffen, die die Erfahrung des Bruchs von 989 teilen und die nunmehr beginnen, die Jahre des ‚davor‘ über den Vorgang der Erinnerung und (Re)Konstruktion erzählerisch zu entdecken. Für jene jungen Autoren, die im Westen Deutschlands groß wurden, gilt dies nur eingeschränkt, denn es gibt keine einschneidenden Grunderfahrungen.67 Für sie könnten statt dessen die frühen Erfahrungen einer Mediengesellschaft prägend geworden sein und die Erinnerung an die Welt der Kindheit bestimmen. Bei Tobias Hülswitt, der auch dem Pop-Raster zugeschlagen wird, sind es daher wohl nicht zufällig Markenartikel wie Peugot, Fiat, Kaloderma oder Figuren wie Litti, Jim Knopf, Astrid Lindgren, Heinrich Böll, die das Erinnern motivieren. In seinem Roman „Saga“ kommt der Anlaß des Erzählens von Außen. „Erzähl mal was“ sagt seine „erste große Liebe“. Die wiederholte Aufforderung führt zum Erzählen von Kindheitserlebnissen, „an die ich unentwegt denken mußte, ohne etwas zu sagen“.68 Der Erzähler muß an diese „blinden Stellen“ denken, weil er Schuld gegenüber seinem (Adoptiv)Bruder empfindet. Der Impuls „Erzähl mal was“ holt das Verdrängte hervor, gar nicht unähnlich dem Motiv, das Uwe Johnsons Gesine bewegt. Johnsons „Jahrestage“ wurden bei Ihrem Erscheinen von manchen Kritikern deshalb abgelehnt, weil der Autor vermeintlich überholte realistische Formen kultiviert habe und Geschichten erzähle. Derartige Anwürfe waren schon damals wenig stichhaltig, weil sie von einer Eigenbewegung des Ästhetischen ausgehen und Autoren immer dann loben, wenn sie vermeintlich innovative Erzählverfahren suchen. Und sie zeigen sich in der Gegenwart erneut, wenn nicht hinreichend beachtet wird, daß die jungen Autoren, nach den adäquaten 149 Carsten Gansel Mitteln suchen, um ihre Geschichten zu erzählen. Ingo Schulze, der sich explizit auf Johnson bezieht, hat diesen Anspruch beim Lesen eines Autors betont, der wiederum für Johnson wichtig war: Alfred Döblin. Bei dem findet Schulze den Satz „ich ließ vorsichtig den Stil aus dem Stoff kommen“. Für Schulze bedeutet dies, nach jenen Formen zu suchen, mit denen „ich näher an die Wirklichkeit heran (komme)“.69 Das ist genau jener Ansatz, den Uwe Johnson nicht müde wurde zu betonen: „Die Geschichte muß sich die Form auf den Leib gezogen haben. Die Form hat lediglich die Aufgabe, die Geschichte unbeschädigt zur Welt zu bringen. Sie darf vom Inhalt nicht mehr ablösbar sein.“70 Die Geburtsmetapher verweist auf die Schwierigkeit der Suche nach der Form für die Geschichten. Es ist dies ein Ansatz, der in vergleichbarer Weise auch für die neuen Geschichten der jungen Autoren gilt. Anzunehmen ist: Uwe Johnson wäre mit Sicherheit ein kritischer Beobachter der jungen Autorengeneration gewesen. Abgelehnt hätte er mit hoher Wahrscheinlichkeit Denkmuster einer „Generation Golf “, die an den bestehenden gesellschaftlichen Antagonismen kein Interesse zeigt, ja sich gegenüber sozialen Fragen ‚blind‘ verhält. Gleichwohl wäre Johnson bei aller Distanz „einfachen Wahrheiten“ nicht gefolgt. Der Hinweis, hier würde es sich eine Autorengeneration in der „kapitalistischen Warenwelt intellektuell bequem“ machen, weil sie gut geschnittene Anzüge liebt oder ihre literarischen Gegenstände, mithin die Stoffe, die Themen zu klein geraten seien oder sich gesellschaftliche Kritik im Text nicht explizit finden lasse, hätte ihm nicht gereicht. Johnson könnte den Kritikern harsch geantwortet haben: „Die guten Leute wollen einen guten Kapitalismus. […] Die guten Leute stehen auf dem Markt und weisen auf sich hin als die besseren. […] Die guten Leute sollen das Maul halten. Sollen sie gut sein zu ihren Kindern, auch fremden, zu ihren Katzen, auch fremden; sollen sie aufhören zu reden von einem Gutsein, zu dessen Unmöglichkeit sie beitragen.“71 150 Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson Anmerkungen 1 Der Beitrag bildete den Ausgangspunkt für ein Kolloquium zum Thema „Uwe Johnson und die junge Autorengeneration“ bei den Uwe-Johnson-Tagen im September 200 in Neubrandenburg. In diesem Sinne sollte eine Art Rahmen für die nachfolgende Diskussion gegeben werden. 2 Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 980, S. 95; vgl. auch Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 953 Frankfurt/M.: Suhrkamp 985 (suhrkamp TB 987), S. 23. 3 Siehe dazu ausführlich Carsten Gansel: „es sei EINFACH NICHT GUT SO“. Uwe Johnsons „Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 953“. In: TEXT + KRITIK. Zeitschrift für Literatur. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. Heft 65/66: Uwe Johnson. Zweite Auflage. Neufassung, S. 50-68. 4 Norbert Mecklenburg: Kleine lustige Wolke. Zu Uwe Johnsons nachgelassenem Jugendwerk „Ingrid Babendererde“. In: Nicolai Riedel: Uwe Johnsons Frühwerk. Im Spiegel der deutschsprachigen Literaturkritik. Bonn: Bouvier 987, S. 23. 5 Reinhard Baumgart: Sonne, See und Sozialismus. Uwe Johnsons erster Roman „Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 953“. In: Ebenda, S. 92. 6 Norbert Mecklenburg: Kleine lustige Wolke … In: Ebenda, S. 24. 7 Joachim Kaiser: … so eine jungenhafte, genaue Art. Uwe Johnsons Erstling, der die literarische Welt verändert hätte. In: Ebenda, S. 204. 8 Edwin Hartl: Mit allen Begleitumständen. Uwe Johnsons Erstling postum. In: Ebenda, S. 200. 9 Reinhard Baumgart: Sonne, See und Sozialismus … In: Ebenda, S. 94. 10 Ulrich Schacht: Wie Ingrid Babendererde drüben ihr Abitur machte. Ein unveröffentlichter Jugendroman von Uwe Johnson. In: Ebenda, S. 97. 11 Joachim Kaiser: … so eine jungenhafte, genaue Art … Ebenda, S. 204. Bei Raimund Kargerer heißt es: „Ansatzlos, gleichsam mit dem allerersten Schritt auf der Höhe seiner Zeit wie seines Schreibens, hat Uwe Johnson die literarische Welt betreten.“ (Ders.: Frühe Meisterschaft. Uwe Johnsons Erstlingswerk „Ingrid Babendererde“. In: Ebenda, S. 225). 12 Volker Hage: Die Enkel kommen. In: Der Spiegel, Nr. 4, .0.999, S. 244-254. 13 Martin Hielscher: Aus dem Regen zurück. Die neue Lebendigkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Kunst & Literatur, 8/999, S. 3-33. 14 Susanne Messmer: Helden wie wir. In: taz, ./2.August 200, S. 5. 15 Uwe Neumann: Spurensuche. Zur produktiven Rezeption von Uwe Johnson in der deutschsprachigen Literatur. In: TEXT + KRITIK. Zeitschrift für Literatur. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. Heft 65/66: Uwe Johnson. Zweite Auflage. Neufassung 200, S. 20-49. 151 Carsten Gansel 16 Siehe Jürgen Becker: Aus der Geschichte der Trennungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 999. Es sei an dieser Stelle lediglich auf die Reflexionen des Erzählers zum Prozeß des Erinnerns verwiesen (S. 7ff.). 17 Siehe die Dankesrede von Jürgen Becker sowie das Gespräch in diesem Band. 18 Marcel Beyer: Dankesrede. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum. Band 7. Hrsg. v. Carsten Gansel und Nicolai Riedel. Frankfurt/M.; Berlin; New York; Paris; Wien: Lang 998, S. 268. 19 Jana Hensel: Alle Orte sind gleich fremd. Junge Literatur erinnert sich an den europäischen Osten. In: EDIT. PAPIER FÜR NEUE TEXTE. Nr. 2, 999, S. 62-63. Siehe den Beitrag von Jana Hensel in diesem Band. 20 Siehe dazu meine Darstellung: „es sei EINFACH NICHT GUT SO“ – Uwe Johnsons „Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 953“, a.a.O., S. 50-68. 21 Ebenda, S. 3f. 22 Siehe Carsten Gansel/Thomas Brussig: Ich schreibe nur, was ich selbst gern lesen würde. Ein Gespräch. In: Nordkurier, 22. September 200. 23 Cordt Berneburger (d.i.Thomas Brussig): Wasserfarben. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 99. Seitenangaben fortlaufend im Text. 24 Carsten Gansel/Thomas Brussig: Ich schreibe nur, was ich selbst gern lesen würde. Ein Gespräch. In: Nordkurier, 22. September 200. 25 Christoph Brumme: Nichts als das. Frankfurt/M.: Fischer TB 996 (994), S. 35. 26 Falko Hennig (Jahrgang 969) liefert mit seinem Debüt „Alles nur geklaut“ eine Art Eulenspiegelroman, in dem der Held die staatlichen Instanzen so recht ernst nicht (mehr) nimmt, die Symbole der Macht persifliert. Obwohl die Elternfiguren als Lehrer eigentlich Vertreter des Systems sind, stehen sie in Distanz zum Machtapparat. 27 Thomas Brussig: Helden wie wir. Berlin: Volk und Welt 996, S. 282. 28 Ebenda, S. 3. 29 Ingo Schulze: Stil als Befund. In: Schraffur der Welt. Junge Schriftsteller über das Schreiben. Hrsg. v. Perikles Monioudis. München: Quadriga 2000, S. 2. 30 Uwe Johnson: Zwei Ansichten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 965 (suhrkamp TB 976), S. 7. Seitenangaben fortlaufend im Text. 31 Uwe Johnson: Berliner Stadtbahn (veraltet). In: Ders.: Berliner Sachen. Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp 975 (suhrkamp taschenbuch 249), S. 0. 32 Alexa Hennig von Lange, Till Müller-Klug, Daniel Haaksmann: Mai 3 D. Ein Tagebuchroman. München: List 200, S. 24. 33 Christian Kracht, Eckhart Nickel: Ferien für immer. Die angenehmsten Orte der Welt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 999. 34 Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Frankfurt/M.: Fischer TB 2000, S. 45. 152 Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson 35 Siehe auch den Beitrag von Norbert Mecklenburg in diesem Band. Alexa Hennig von Lange: Relax. Hamburg: Rogner & Bernhard 997, S. 3. 37 Vgl. den profunden Band von Johannes Ullmeier: Von ACID nach ADLON und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz: Ventil Verlag 200, S. 26. 38 Siehe dazu ausführlich meinen Beitrag: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Popliteratur. In: TEXT + KRITIK. Sonderband: Popliteratur. Herausgegeben von Heinz-Ludwig-Arnold und Jörgen Schäfer. München 2003 (Im Erscheinen). 39 Uwe Johnson: Vorschläge zur Prüfung eines Romans. In: Uwe Johnson. Herausgegeben von Rainer Gerlach und Matthias Richter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 984 (suhrkamp taschenbuch 206), S. 35. 40 Ebenda, S. 3. 41 Alexa Hennig von Lange: Relax, a.a.O., S. 9, 25. 42 Gleichwohl erfährt der Leser, daß Chris eigentlich unter der Scheidung seiner Eltern leidet: „Meine Eltern haben sich auch scheiden lassen. Komplett blöde Geschichte. Denke ich nicht gerne dran. Ich meine, Scheiße. Deine Eltern kommen nicht miteinander zurecht, und du schleppst die Sache bis an dein Lebensende mit dir rum. Das ist doch komplett ungerecht. Ich denke da nicht gerne dran. Das tut weh, und Scheiße, am besten du fickst einfach nur.“ (Ebenda, S. 2). 43 Ebenda, S. 23, 39. 44 Ebenda, S. 29. 45 Tobias Hülswitt: Das alte Rom in seinen Provinzen. Die junge deutsche Literatur kam aus dem Westen, im Osten herrschte verschüchterte Stille. In diesem Band, S. 203-208, hier: S. 203. 46 Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Frankfurt/M.: Fischer 999, S. 55f. 47 Tobias Hülswitt: Das alte Rom in seinen Provinzen, a.a.O. (Anmerkung 45). 48 Dies ist in etwa die Summe von Kritiken zu Hennig von Lange. Siehe dazu Carsten Gansel: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Popliteratur, a.a.O. (Anmerkung 28). 49 Enrico Remmert: Loove Never Dies. Müncher: Kunstmann Verlag 99, S. 7. 50 Bei Ellis werden – wie dann in „Relax“ – verschiedene Ich-Perspektiven nebeneinandergereiht, „separat“, „wahllos“, zufällig“, ohne daß eine Geschichte erzählt würde. Das Zusammenspiel der fragmentarischen Redeteile ergibt einzig den Sinn, daß es keinen Sinn gibt. Hinter der von den Jugendlichen auf der Darstellungsebene beständig beschworenen Action steckt in Wahrheit Bewegungslosigkeit. 51 Norbert Mecklenburg: Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Frankfurt/M.: Suhrkamp 997, S. 334. 36 153 Carsten Gansel 52 Siehe die Hinweise Uwe Neumann: Spurensuche …, a.a.O. (Anmerkung 4). Christian Höller: Widerstandsrituale und Pop-Plateaus. In: Tom Holert/Mark Terkessidis (Hrsg.): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin, Amsterdam: Edition ID-Archiv 996, S. 57. 54 Siehe dazu Carsten Gansel: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Popliteratur…, a.a.O. (Anmerkung 28). 55 Carsten Gansel/Thomas Brussig: Ich schreibe nur, was ich selbst gern lesen würde. Ein Gespräch. In: Nordkurier, 22. September 200. 56 Thomas Brussig: Helden wie wir, a.a.O., S. 97f. (Anmerkung 23). 57 Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Berlin: Volk & Welt 999, S. f. 58 Ebenda, S. 0. An anderer Stelle heißt es: „Dann saßen sie zusammen, um ein, zwei, drei oder noch mehr LPs zu überspielen. Man musste sich gar nicht groß kennen, es reichte ja, daß die Leute dieselbe Musik gut fanden. Sie konnten reden oder der Musik zuhören und hatten alle Zeit der Welt. Sie fühlten, wie es ist, ein Mann zu werden, und die Musik, die dazu lief, war immer stark.“ (Ebenda, S. 58) 59 Vgl. den Hinweis bei Ulrich Fries: Uwe Johnsons „Jahrestage“. Erzählstruktur und politische Subjektivität. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 990, S. 94. 60 Siehe dazu Ralf Schnell: Die Literatur der Bundesrepublik. Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb. Stuttgart: Metzler 986, S. 84. 61 Den Hinweis verdanke ich dem Beitrag von Thomas Steinfeld: Die Melodie – Uwe Johnson findet eine Schallplatte. In: Ders.: Riff. Tonspuren des Lebens. Köln: DuMont Buchverlag 2000, S. 26-34. Die Platte fand sich in Johnsons Nachlaß, sie war dem Autor, seiner Frau und Tochter also wichtig genug, sie von New York bis in das einsame Sherness on Sea mitzunehmen. 62 Der Text folgt Alan Aldridge (Hrsg.): The Beatles Songbook. München: dtv 2000, S. 39. 63 Vgl. Ian MacDonald: The Beatles Song-Lexikon. Kassel, Basel, London, New York, Prag: Bärenreiter 2000, S. 220. 64 Einer der Protagonisten, Tommaso, berichtet, er hätte am Kiosk eine Zeitschrift gekauft, der eine Live-CD der Beatles mit „Eleonor (sic) Rigby“ als Geschenk beigelegt war. Die Antwort kommt promt: „Gaia regt sich auf: ‚Das gibt’s überhaupt nicht! Das letzte Live-Konzert der Beatles war im Candlestick Park in San Francisco, und zwar am 29. August 966.‘ ‚Ja und?‘ fragt Thommaso ungerührt. ‚Und Eleonor (sic) Rigby ist erst später herausgekommen, in Revolver Ende 966, und es kann vorher gar nicht live aufgeführt worden sein.“ (S. 33). Hier irrt die Popspezialistin, denn in der Tat erschien der Titel bereits am 5. August 966. Der Streit wird nachfolgend nicht aufgelöst, sondern dient dem Erzähler lediglich zur Charakterisierung eines Figurentyps, in deren ‚Weltwissen‘ Pop-Phänomene eine besondere Bedeutung 53 154 Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson besitzen, die aber zu politischen oder kulturellen Dimensionen von Vergangenheit und Gegenwart kein Interesse hat. Entsprechend heißt es: „Du kennst viele Leute, die so sind wie diese Gaia: Sie wissen, was Bono morgens zum Frühstück ist und wie viel Plomben Sting im Mund hat, glauben aber womöglich, Pakistan liege in Südamerika.“ (Ebenda) 65 Siehe Carsten Gansel/Andreas Neumeister: POP bleibt subversiv. Ein Gespräch. In: TEXT + KRITIK. Sonderband: Popliteratur. Hrsg. v. Heinz-Ludwig-Arnold und Jörgen Schäfer. München 2003 (S. 83-96). 66 Hier stellt sich – auch im Ost-Westvergleich – die Frage nach der Mentalität, nämlich danach, ob es eine „Struktur der durch Sozialisation aufgeprägten bzw. verinnerlichten Denk und Verhaltensmodi“ gibt. 67 Für die Gegenwart wird es gänzlich unübersichtlich: Sie wird mit Stichworten wie Entdramatisierung des Generationenkonflikts, Früherwachsenheit, Pluralisierung der Lebensformen, Verwischen der Trennlinien zwischen Kindheit/Jugend bzw. Jugend/Erwachsenheit, Medialisierung zu fassen gesucht. Schon im Schulalter findet eine Ausdifferenzierung statt: in HipHopper, Techno-Freaks, Gothics, Skater, Comic-Leser, Stephen King-Freaks. 68 Tobias Hülswitt: Saga. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2000, S. 20. 69 Ingo Schulze: Stil als Befund. In: Schraffur der Welt. Junge Schriftsteller über das Schreiben., a.a.O., S. 22f. (Anmerkung 25). 70 Uwe Johnson: Vorschläge zur Prüfung eines Romans, a.a.O., S. 34 (Anmerkung 38). 71 Uwe Johnson: Über eine Haltung des Protestierens. In: Ders.: Berliner Sachen. Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp 975 (suhrkamp taschenbuch 249), S. 96. 155 Birgit Dahlke Die beteiligte Chronistin – Annett Gröschners Wahlverwandtschaft mit Uwe Johnson Worin könnte eine sogenannte Wahlverwandtschaft zwischen Uwe Johnson und der genau dreißig Jahre jüngeren ostdeutschen Autorin Annett Gröschner begründet sein? Gröschner, Jahrgang 964, hat erst Ende der 80er Jahre zu schreiben begonnen. Die von mir vermutete Wahlverwandtschaft bezieht sich auf Texte, die nach dem Ende der DDR entstanden sind. Welche Gründe könnten eine jüngere Autorin nach dem Ende der DDR auf Johnsons Texte, ja vielleicht sogar auf dessen Poetologie zurückgreifen lassen? Antwort : Um etwas über die unbekannte eigene Geschichte zu erfahren. Antwort 2: Um über eine Art historischen Reiseführer durch Mecklenburg zu verfügen. Antwort 3: Um nach 989 einen „authentischen“ Chronisten der DDR-Geschichte unter den AutorInnen aus der DDR zu befragen, schließlich hatte Johnson seine Heimat im Unterschied zu Christa Wolf, Heiner Müller oder Volker Braun ja früh genug verlassen (wobei uns wohl allen klar ist, dass diese Heimat für ihn zuallererst Mecklenburg hieß und erst dann DDR). Die Rezeption Uwe Johnsons nach 989, von welcher Seite auch immer, trägt den Stempel des widersprüchlichen und komplizierten deutschen Vereinigungsprozesses. Gerade im Zuge der Umbewertung aller Literatur aus der DDR wurde Johnson ein weiteres Mal simplifizierend als „Dichter des geteilten Deutschland“ kanonisiert, der er nie hatte sein wollen.1 Das Verbindungsglied zwischen der Autorin, die um die Wendezeit noch nicht 30 Jahre alt war, und dem in der DDR lange ungedruckt gebliebenen Erzähler Mecklenburgs ist – so meine These – das Problem des Erinnerns, des Umgangs mit der eigenen und der jüngeren deutschen Geschichte. Mit dem Zusammenbruch der DDR sahen sich alle Generationen nicht nur einem sozialen, sondern auch einem symbolischen Kollaps ausgesetzt: Vom Ende her gesehen schien keine frühere Sichtweise auf die eigene Gesellschaft, auf das eigene kleine Leben mehr haltbar. Gerade was man für selbstverständlich gehalten hatte, wurde Birgit Dahlke nun einem umfassenden Verdacht ausgesetzt. Verschiedene Generationen mit unterschiedlichen Erfahrungen und teilweise gegensätzlichen politischen Überzeugungen teilten plötzlich ein und dasselbe Erlebnis: sich der eigenen Geschichte enteignet zu fühlen – egal ob diese vier oder zwei Jahrzehnte in der DDR umfasst hatte. Eben dieses Enteignungsgefühl löste – wie jeder gewaltsame historische Einschnitt – eine Welle von Literatur des Erinnerns aus. Eigene Varianten der Inventur wurden den wirkungsmächtigen aktuellen Deutungen der jüngsten Geschichte entgegengesetzt. Innerhalb des heterogenen Gebildes, das nur unzureichend als „DDR-Literatur“ bezeichnet wird, sehe ich drei große Erzähltraditionen des Erinnerns, auf die man unter solchen Bedingungen zurückkommen konnte: Christa Wolf hatte eine Erinnerungspoetologie des Subjektiven, das Konzept der „subjektiven Authentizität“ entwickelt. Christoph Hein schuf sich die Erzählinstanz des „Chronisten“. Uwe Johnson schließlich ließe sich mit dem paradoxen Erzählverfahren des „beteiligten Chronisten“ zwischen diesen beiden Polen einordnen. Annett Gröschner greift nach 989 nicht auf die als „weiblich“ beschriebene Tradition eines bewusst und explizit subjektiven Erzählens zurück, sondern auf Johnson. Aus welchen Gründen? Sowohl Christa Wolf als auch Johnson hatten eine Art Poetik der Schuld und Scham entwickelt, wie viele deutsche DichterInnen des 20. Jahrhunderts. Beider Kindheit war vom faschistischen Alltag geprägt, beider Jugend vom Erlebnis eines übereilten und gewaltsam erzwungenen Umwertungsprozesses (945 war Wolf 6, Johnson 2 Jahre alt). Beide experimentieren mit Erzählperspektiven, die sich eben dieser existenziellen Verunsicherung ihrer Autoren nicht mittels vorgegaukelter Allwissenheit (des auktorialen Erzählers) entziehen. Man sollte Wolfs Essay „Lesen und Schreiben“ auf Spuren der impliziten Auseinandersetzung mit Johnsons Überlegungen zum „Platz des Erzählers“ hin analysieren, wie von Carsten Gansel und Oliver Fritsch vorgeschlagen.2 Christa Wolf treibt in den Vorarbeiten für ihren autobiographischen Roman „Kindheitsmuster“ (976) von einer Manuskriptfassung zur nächsten dem Text die Ich-Perspektive aus3 und ersetzt sie durch drei Erzählperspektiven („sie“/Nelly, „du“ und nur am Schluss „ich“). Ihren Roman durchziehen Reflexionen über Verdrängungsmechanismen auf allen möglichen Zeit- und Handlungsebenen: der erinnerten, der erinnernden und der schreibenden. Wolf ist auf Ich-Erkundung aus, auf Trauerarbeit von Autorin und LeserInnen. 158 Die beteiligte Chronistin – Annett Gröschners Wahlverwandtschaft mit Johnson Johnson nicht. Er baut ungefähr zeitgleich im ersten Band der „Jahrestage“ bewusst eine Distanz zwischen der Erinnerungsarbeit des realen Autors und derjenigen der zweistimmigen Erzählinstanz auf. Wolfs „Du“ ist innerpsychisch, Johnsons nicht. Johnson stattet auch seine Erzählinstanz nicht mit Authentizität aus, er stellt stattdessen eben deren Zeugenschaft zur Disposition, nicht nur diejenige seiner Figuren. Johnsons ideale Leser sind die ungläubigen. Julia Hell4 hat darauf aufmerksam gemacht, dass der für „Jahrestage“ so charakteristische Erzählpakt zwischen männlichem Erzähler und weiblicher Hauptfigur seinen Ausgangspunkt in einer fast dokumentarischen Szene nimmt, in welcher der Autor sogar unter seinem eigenen Namen berichtet, wie ihm von New Yorker Juden die Autorität entzogen wird, über das Nachkriegs-Deutschland zu reden und sei es kritisch: „Ihm war nicht zuzutrauen, daß er selber das Land verstand, geschweige denn erklären konnte, für dessen Erklärung er sich hatte haftbar machen lassen; er hatte noch nicht begriffen, daß Zeit und Adresse ihm die Schuldlosigkeit des Fremdenführers aus den Händen genommen hatten und ihm jedes analytische Wort im Munde umdrehten zu einem defensiven.“5 Genau im Anschluss an die Episode, die den deutschen Autor als verwundet, als im Strick von Schuldzuschreibungen und -abweisungen verfangen zeigt, wird der Pakt geschlossen und für die LeserInnen mit Namen versehen: „Wer erzählt hier eigentlich, Gesine. Wir beide. Das hörst du doch, Johnson.“ (256) Hell erkennt und analysiert hinter dieser spezifischen Erzählkonstruktion die zentrale Schwierigkeit Johnsons, als nichtjüdischer deutscher Autor seiner Generation nach 945 von der deutschen Vergangenheit und Schuld zu sprechen. Sie geht noch weiter und schließt auf eine Krise männlicher Autorschaft: „My contention is, that this scene narrates the de-stabilization, indeed the breakdown of masculin authorship in the wake of the shoa […].“ „I propose to use Joan Riviere’s concept of femininity as masquerade for this particular narrative construction of a male writer and female speaker, and Norbert Mecklenburg’s term hybridity for the peculiar narrative voice that this constellation produces“.6 Sowohl Wolf als auch Johnson schreiben gegen Erzählkonventionen an, welche die Linearität eines historischen Kontinuums unterstellen. Johnson setzt nicht etwa zwei Erzählinstanzen ein (oder wie Wolf in „Kindheitsmuster“ drei), die nebeneinander erzählen und deren Erinnerungsvarianten einander in Frage 159 Birgit Dahlke stellen. Johnson erzählt stattdessen zweistimmig. Gänzlich anders als Wolf weicht er dem Dilemma des omnipotenten Erzählers, den „Manieren der Allwissenheit“, wie er dies in seinen Frankfurter Vorlesungen nennt, aus: „Aber er hatte sich jeden Anspruches auf Allwissenheit begeben [so heißt es dort über den „Erzähler“]; er meldete sich bloss, wenn die anderen [die Figuren] schwiegen, auffordernd, wenn sie an ein Stück der Erzählung geraten waren, das hatten sie verpasst, da luden sie ihn ein zur Mithilfe. Er mochte der Urheber sein; hier war er bloss jemand, der machte mit. Er arbeitete mit ihnen zusammen.“7 Johnson will „das hohe Ross eines allwissenden Autors“ vermeiden, denn „seine Leute“ – wie er seine Figuren bezeichnet – verweigern so einen Umgang.8 Das ist nicht nur ein Spiel mit Erzählidentitäten oder moderner Autorschaft, es ist vor allem auch eine Methode moralischer Legitimation. Annett Gröschner nun scheint es in ihrer Prosa und Essayistik der 90er Jahre nicht um Christa Wolfs Trauerarbeit zu gehen. Sie nimmt jedoch auch nicht das komplexe Erzählmuster Johnsons auf. Worauf greift sie zurück, wenn sie sich in einem Essay von 993 ganz explizit auf „Jahrestage“ bezieht? „Reise nach Jerichow“ lautet ihr Titel. Natürlich kann eine solche Reise nur im übertragenen Sinne nach Jerichow führen, das ist auch der nach Klütz (bei Boltenhagen) reisenden Autorin und studierten Germanistin bewusst. Und so wird der Weg für ihren Reisebericht wichtiger als das Ziel, führt er doch im August 993 über den Bahnhof Bad Kleinen, wo gerade erst die westdeutsche Geschichte gewaltsam und ganz konkret in die ostdeutsche eingebrochen ist, in Gestalt der RAF-Mitglieder Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams am 27. Juni 993. Bei näherer Betrachtung dieses essayistischen Reiseberichts muss ich meine Ausgangsvermutung von einer poetologischen Wahlverwandtschaft allerdings korrigieren: Es scheint, als wollte die Autorin weniger Uwe Johnsons Spuren folgen, als vielmehr denjenigen seiner literarischen Figur, der Gesine aus den „Jahrestagen“. Grund dafür könnte die mentale Nähe zwischen der realen jüngeren Autorin um die dreißig und der Mittdreißigerin namens Gesine sein, die Johnson Ende der 60er Jahre auf die Suche nach dem Ort ihrer Kindheit gehen ließ. „Wo ich her bin das gibt es nicht mehr“ – der vielzitierte Satz Gesines (JT 386), gleichzeitig zu sich selbst und für die Tochter Marie aufs Tonband gesprochen „für wenn ich tot bin“, dieser Satz ist es, der die eigentliche Verbindung bildet und folgerichtig im Untertitel des Reiseberichts von 993 zu stehen kommt.9 Ein weiteres Verbindungsglied ließe sich vermuten: „Jene frühe Erziehung im Sozialismus sitzt fest in ihr [Gesine], sie hat ja auch das Schwimmen nicht verlernt“10. – Anders als in den vielen 160 Die beteiligte Chronistin – Annett Gröschners Wahlverwandtschaft mit Johnson Kindheitstexten etwas älterer KollegInnen wie Nadja Klinger, Barbara Köhler, Peter Wawerzinek, Andreas Koziol oder Uwe Kolbe sind es jedoch nicht diese Prägungen, die sie vorrangig interessieren. Mit der Figur der Gesine teilt Annett Gröschner die befremdende Erfahrung, Bürgerin verschiedener Staaten11 zu sein, zweier Staaten, deren proklamiertes Selbstverständnis gegensätzlicher nicht sein könnte. Wie für Johnsons Hauptfigur existiert der eine der beiden Staaten nur noch im Gedächtnis der sich Erinnernden. Gröschner reist nach Klütz, nicht in das Jerichow Johnsons. „Ginge es mir um die Biographie, würde ich diese Reise nicht machen. Die Person, die hinter der ‚Person‘ Gesine an der Schreibmaschine sitzt, ist mir nicht sonderlich sympathisch.“12 Den Namen Johnson kennt die spätere Germanistin Gröschner nach eigener Auskunft seit 983. Im selben Jahr war Johnson zum letzten Mal in seinem Leben in Mecklenburg. Geschützt, getarnt, distanziert durch die selbstgewählte Rolle des Touristen, als Mitglied einer englischen Reisegruppe und bewusst nur englisch sprechend! Von dieser letzten Reise brachte er eine Holzschindel nach Sheerness-on-Sea in England mit, auf die der fiktive Ort und ein reales Datum gezeichnet wurden „Jerichow 9.8.983“.13 Mit Gesine teilt Gröschner, in der Essayistik vom Ende der 90er Jahre noch mehr als in diesem Jerichow-Text, die Absicht, erzählend eine Wirklichkeit wiederherzustellen, die vergangen ist. Will Gröschner eine souveräne Autorinstanz schaffen, so darf sie nicht in all zu großer Nähe zur Figur der Gesine verharren, der nämlich gerät alles zum Gleichnis. Aber Gesine ist eben nicht Johnson, und ihr Mecklenburg ist nicht Johnsons Mecklenburg, wie dieser nicht müde wurde zu betonen. Johnsons artifizielle Erzählkonstruktion konterkarierte ja selbst Gesines Kindheitserinnerungen noch mit der Erkundungsfigur der Anita, die in der Erzählzeit vor Ort recherchiert. Gröschners Wahlverwandtschaft ist, ich wiederhole es, nicht wirklich als eine poetologische zu bezeichnen, wie ich dies im Titel behauptet habe. Auf der virtuosen Ebene des Erzählverfahrens versucht sie gar nicht, ihm zu folgen. Wo sie ein Ich einsetzt, fällt es ganz traditionell mit der Autorin des Essays zusammen: „Ich suche die Ziegelei nicht. Ich bin nicht gekommen, um in der Realität vorzufinden, was ich gelesen habe.“ (65) Gröschner nimmt das Gedankenspiel von Johnsons zweistimmiger Erzählinstanz, „wenn Jerichow zum Westen gekommen wäre“ auf14. Drei Jahrzehnte später versteht sie es gänzlich unpathetisch und gar nicht prophetisch. Sie kommentiert trocken: „Jerichow ist zum Westen gekommen, aber es sieht noch nicht so aus.“ Auf die erzählreflexive Dimension eines 161 Birgit Dahlke weiteren von ihr zitierten Satzes „Manchmal, und öfter, benähmen sich die Jerichower als wären sie Klützer“, geht sie nicht ein. Was bedeutet dies innerhalb der Erzählkonstruktion der „Jahrestage“, wenn (im Konjunktiv!) gesagt wird, die fiktionalen Mecklenburger würden sich benehmen wie die realen? Immerhin ist es gerade dieser ironische Verweis im überlieferten Text, der sie in einen realen Ort, eben Klütz, geführt hat. Was hat sie dort gesucht, wenn eben nicht „die Realität“ hinter der Literatur? Vielleicht die Methode, große Geschichte mit der kleinen zu vermitteln. Die eine nicht auf die andere zu reduzieren. Die Eigenart ihrer Texte, vergessene Konkreta des DDR-Alltags mit Namen und auch gleich noch mit ironisch historisierenden Fußnoten zu versehen (ihr Spiel mit „Wofasept“, „Ketwurst“ und „Messe der Meister von Morgen“) könnte hier seine Wurzeln haben. Gröschner übernimmt in ihren Essays, aber auch in ihrer Kurzprosa (die frühe Lyrik lasse ich an dieser Stelle außerhalb der Betrachtung) die Rolle einer Forscherin, die ihre LeserInnen mit Material statt mit Wertungen versorgt. Wie Johnson betreibt sie intensive Quellenstudien zur jüngsten deutschen Geschichte. Der Band, in dem ihre Essayistik der 90er Jahre versammelt ist, hat den skurrilen Titel „ybbotaprag. heute. geschenke. schupo. schimpfen. hetze. sprüche. demonstrativ. sex. DDRbürg. gthierkatt. ausgewählte essays, fließ- & endnotentexte 989-98“. Dahinter verbirgt sich nicht nur eine missglückte Textkonvertierung, sondern ein ungewöhnliches Archiv deutsch-deutscher Zeitgeschichte. Der kleine Berliner Kontextverlag wagt, was für Suhrkamp unmöglich wäre: Das Buchinnere nach außen zu kehren und Provisorisches herauszustellen. So erhält, wer das Buch in Händen hält, nebenbei gleich noch eine kleine Einführung in den Prozess des Büchermachens: Schmutztitel, Vakatseite, Impressum werden erklärt und sozusagen im Vorstadium abgedruckt. Die avantgardistische Geste lässt sich durchaus als gegenkulturelles Statement lesen: Der herrschenden Dominanz der Bilder und des Häppchenjournalismus wird Widerstand entgegengesetzt. Die Lektüre wird statt erleichtert zusätzlich erschwert, die „Fließtexte“ sind sperrig und verweigern sich dem schnellen Überfliegen. In einer Zeit ideologischer Abrechnungen versucht Gröschner Geschichte von unten zu erkunden. Sie sichert Spuren, gräbt in Archiven und Kellern, bohrt und schichtet um. Ob eine Eisherstellerin porträtiert wird oder die Kleinstadt Jerichow, ob der Abzug der Roten Armee kommentiert oder die Geschichte des Prenzlauer Berger Wasserturms, der Gleimstraße oder der Veteranenstraße erzählt wird, die Autorin legt Schichten frei, von denen man gar nicht ahnte, dass sie existieren. Dabei artet die Recherche (trotz der vielen Fußnoten) nie in Bildungshuberei aus, wie 162 Die beteiligte Chronistin – Annett Gröschners Wahlverwandtschaft mit Johnson nebenbei wird eine Vielfalt an historischen Quellen eingeflochten, mit beeindruckender Leichtigkeit verschränken sich aktuelle zeitgenössische Vorgänge mit unterschiedlichen geschichtlichen Ebenen. Die überraschende Leichtigkeit der dokumentarischen Prosa ergibt sich aus dem Humor der Autorin, die einen Blick für Skurriles und Banales hat, Schäbiges und Schwäche nicht denunziert und Stärke nicht glorifiziert. Die Abwesenheit von Pathos ermöglicht, auch über bewegende Momente zu schreiben wie z.B. den letzten Arbeitstag der Margot Siedow nach dreißig Jahren in ein und demselben DDR-Betrieb. Die literarische „Archäologin“ guckt immer genau da hin, wo der erste schnelle Blick abgleiten würde: auf das überklebte Ortsschild, die geflickte Jacke, die Lücke im Adressbuch. Wenn sie auf den Dolmetscher zu sprechen kommt, der russische und deutsche Soldaten 995 bei medienwirksam-gemeinsamen Ausgrabungen im Oderbruch begleiten soll, so heißt es: „Er ist hier für die Kommunikation zuständig. Aber es sind nicht nur die fehlenden Sprachkenntnisse, die kein Gespräch aufkommen lassen.“ „Hier soll ein Schlussstrich unter die Geschichte gezogen werden. Die Summe unter dem Strich ist unbekannt. Weil hier der Rest liegt.“15 Ein Satz Heiner Müllers kommt ihr in den Sinn und rückt seltsam konkret ins Realgeschehen ein: „Die Befreiung der Toten findet in der Zeitlupe statt.“ Wo die Banalität des Alltags zu zynischen oder sarkastischen Sätzen verleiten könnte, lässt die Autorin Dokumente und Archivmaterialien sprechen: Grenzakten, Spruchbänder, Betriebsanweisungen, Schreibtischkalender, Merkblätter für Arbeitslose, Speisekarten, Adress-, Grund- und Totenbücher. Die literarische Historikerin hütet sich vor Verklärung und Moralisieren, stattdessen ruft sie unliebsame Erinnerungen auf: Den Lärmkrieg zwischen dem Westberliner „Studio am Stacheldraht“ und dem Ostberliner „Studio 3. August“ im September 96, den Zweiklassen-Abzug der Alliierten 994, das Verschwinden sowjetischer Kulturoffiziere in Stalins Lagern, die vergessene Autorin Christa Reinig. Die scheinbar zufällige assoziative Reihung von Beobachtungen, Erinnerungen und recherchierten Fakten hat Methode. Personen, Häuser, Straßen bekommen ein Gesicht. „Die Häuser allein erzählen Geschichten. Es sind Klopfzeichen aus einer vergangenen Zeit, die nur aufmerksame Betrachter zu deuten wissen.“16 Gröschner stellt die sowjetische Kulturoffizierin und spätere Literaturkritikerin Kazewa vor, lässt BewohnerInnen der Berliner Gleimstraße zu Wort kommen, 163 Birgit Dahlke befragt Frauen in Trebbin und Magdeburg oder den Bauleiter eines zum Hotel gewordenen Schlosses in Thüringen. Die essayistischen Reportagen und literarischen Porträts taugen selbst als Dokumente der Zeitgeschichte, manche waren zwischen 990 und 993 in aufregenden Nachwendepublikationen wie „die andere, Ypsilon“ oder später „Sklaven“ zu lesen. (Alles Zeitschriften, die inzwischen auch schon Fußnoten zu ihrer Erklärung brauchen). So ist die Beobachterin bei aller Zurückhaltung doch stets präsent und in ihren Texten aufzufinden. Selbstbewusst, neugierig, sachlich, verspielt, selbstironisch und das eine oder andere Mal auch auf angenehme Weise sentimental: „und die Wehmut hat ihre Gründe“.17 Solche archäologische Spurensuche arbeitet einem diskursiven/verfestigten Wissen entgegen. Gemäß Adornos Satz: „Aufgabe der Kunst ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen“ lässt sich das mimetische Verfahren Johnsons, erinnerte Geschichte, Geschichten von Personen zu erzählen, auch nach 989 der Übermacht des „Wissens“ (darüber, was die DDR war) entgegensetzen.18 Eben das versucht Gröschner. Auch ihr erster Roman weist ein ähnliches Herangehen auf.„Moskauer Eis“19 funktioniert weniger nach den Gesetzen eines Romans als nach denjenigen der Detektivgeschichte: Während ein Roman seine Spannung daraus gewinnen würde, dass offene Entwicklungen von ihren Gründen, Herkünften, Voraussetzungen her geschildert werden, nutzt die Detektivgeschichte eine entgegengesetzte Regung: die Neugier, zu gegebenen, abgeschlossenen Tatsachen die Ursachen kennen zu lernen. (In „Moskauer Eis“ wäre dies der tote Vater in der Tiefkühltruhe, in den Essays das definitive Ende des DDR-Alltags). Entgegen der vor allem unter westdeutschen Literaturkritikern verbreiteten Lesart des Romans, die Eismetaphorik gleich für ein Bild der gesamten DDR-Gesellschaft zu nehmen, macht für mich der Weg der Recherche, die (ergebnislose) Suche nach Erklärungen für das, was geschehen sein könnte, das Zentrum des Romans aus. Eine andere Textart, die Gröschner nutzt, das literarische Porträt, entwickelte sich aus einer Art ABM-Stelle als Sozialarbeiterin: 992 sollte sie im Auftrag der Neuen Gesellschaft für Literatur Lesungen für Rentner organisieren. „In einem Altenheim sagten mir die Bewohner, Lesungen interessieren sie nicht, aber ich sollte doch mal kommen und mit ihnen Kaffee trinken, da würden sie mir Geschichten erzählen, einer könnte sich sogar noch an den Kapp-Putsch erinnern. Eine neunzigjährige Frau turnte mir die Übungen vor, die sie im Fichte-Sportverein immer gemacht hatten, und eine andere beschrieb mir ihr zerstörtes Haus in der Choriner Straße in allen Einzelheiten.“20 164 Die beteiligte Chronistin – Annett Gröschners Wahlverwandtschaft mit Johnson Annett Gröschner gründete ein „Erzählcafé“ in der Kollwitzstraße, wo die Alten einmal im Monat hinkamen: „Angelockt durch den Titel der ersten Veranstaltung, ‚Auf der Schönhauser Allee lagen die toten Pferde‘, kamen dreißig alte Leute, und es begann eine Diskussion über den Krieg, die in unterschiedlichsten Formen drei Jahre währte. Viele, vor allem Frauen, hatten ihre persönliche Geschichte noch nie erzählt, ihre Kinder wollten sie nicht hören.“ Die Autorin war von der Kraft der Erzählungen der Alten fasziniert, und sie konnte zuhören. Erstaunlich ist die Vielfalt dessen, was sie mit dem ihr so „zugewachsenen“ Material anstellte: eine Aufsehen erregende Ausstellung „Kriegspfad Berlin“, eine Sammlung von Schulaufsätzen aus dem Jahr 94621, und nicht zuletzt die literarisch bearbeiteten Porträts, die sie auf der Grundlage von Gesprächsprotokollen mit den Alten erarbeitete. Sie erschienen zunächst unter der Rubrik „Menschen an unserer Rückseite“ in der kleinen Berliner Zeitschrift „Sklaven“. Die Porträts fanden eine vielfach größere Öffentlichkeit, als der Rowohlt Verlag sie 998 gesammelt als Taschenbuch herausgab. Der Originaltitel, der auf den Roman von Eduard Claudius anspielte, erschien dem Verlag allerdings offensichtlich als geschäftsschädigend, so dass er ihn in das berlintümelnde „Jeder hat sein Stück Berlin gekriegt. Geschichten vom Prenzlauer Berg“ umwandelte. Gröschner tritt in den Porträts bewusst hinter ihre ZeitzeugInnen zurück und macht zugleich die Fragilität und Konstruiertheit von Erinnerung zu einem Aspekt der Darstellung. Sie versucht, die Differenz zwischen Fiktionalem und Dokumentarischem im Text kenntlich zu machen. Sie sammelt nicht einfach Lebensgeschichten, sondern bringt diese in neue narrative Strukturen, ordnet sie in den von ihr aufgesuchten Kontext. Sie bewegt sich damit zunächst in der Nähe zu Methoden der oral history, um sich dann wieder davon zu entfernen. Erst durch ihr genaues Zuhören und ihre Auswahl kristallisieren sich Sätze heraus, die literarischen Mehrwert enthalten. Zwei Beispiele aus der sogenannten Nummernrevue „0 mal x mal 49 Frauen“: „frau 4 +++ an den kreuzungen regelten die russinnen in abendkleidern den verkehr. Meins war auch dabei. Vor jahrhunderten hatte ich es im hotel esplanade beim ball getragen +++ frau 5 +++ ich bin per kaiserschnitt auf dem küchentisch zur welt gekommen. meine mutter ist lange tot, den tisch habe ich heute noch +++“22. Gröschner experimentiert mit verschiedenen Textformen: dem Porträt, Essay, Bericht, Dialog, Interview, der Kolumne oder auch der dramatisierenden 165 Birgit Dahlke Montage wie in dem eben zitierten Beispiel. Schriftliche, landschaftliche, städtebauliche Zeichen der Gegenwart liest sie wie in ihrem preisgekrönten Essay „Esplanade“23 als Palimpsest, als Fragment vielfacher Überschreibungen, dessen Subtext noch freizulegen ist, nicht zuletzt um Gegenwärtiges zu verstehen. Dazu sind Spuren zu sichern und Strukturen zu rekonstruieren, fehlende Glieder manchmal auch durch Spekulationen über mögliche Zusammenhänge zu ersetzen. Nie behauptet sie, etwas wäre genau so geschehen wie sie es erzählt, aber: so hätte es sein können… Johnson hatte in „Jahrestage“ einen neuen Typ des modernen Erzählers als „Führer des Protokolls“24 geschaffen, eben jenen Erzählstandort des beteiligten Chronisten, an den Gröschner unter gänzlich anderen historischen Umständen anknüpft. Eine Wahlverwandtschaft im weitesten Sinne also. Natürlich ist der beteiligte Chronist ein Widerspruch in sich: ein Chronist sollte ja eigentlich eben nicht parteilich sein, er sollte sich um sogenannte Objektivität beim Protokollieren bemühen. Johnson wie Gröschner wissen um die Unmöglichkeit solcher „Objektivität“. Der „beteiligte Chronist“ übernimmt im Unterschied zum Chronisten Verantwortung, er bezieht bewusst Haltung, ohne diese als „subjektiv“ zu verkleinern. Ein Gestus selbstbewusster zeitgenössischer Autorschaft. „Dies ist alles was ich anbieten kann als Erfahrung im Prozess des Erfindens: er ist vergleichbar dem Vorgang der Erinnerung, die eine längst vergessene, in diesem Fall noch unbekannte, Geschichte wieder zusammensetzt, bis alle ihre Leute, ihre Handlungen, ihre Lebensorte, ihre Geschwindigkeiten, ihre Wetterlagen unauflöslich mit einander zu tun bekommen.“25 166 Die beteiligte Chronistin – Annett Gröschners Wahlverwandtschaft mit Johnson Anmerkungen 1 „Peinlich setzt in solcher Berufsbeschreibung der gute Wille sich durch, der damit ja jemanden loben will und ehren für seine Beschäftigung mit dem ‚gespaltenen‘ Deutschland, als wäre das ein Verdienst. Tatsächlich ist es bloss das Ergebnis einer Biographie, die einem Schriftsteller für seinen Fall gerade zwei verschiedene deutsche Erfahrungen zugewiesen hat, als sein Material.“ Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 980, S. 337. 2 Carsten Gansel, Oliver Fritsch: „Klischeebildung statt Wahrheitsfindung“? oder vom „Platz des Erzählers“. Zum Konstruktionsprinzip von Uwe Johnsons „Zwei Ansichten“. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum. Beiträge zum Werkverständnis und Materialien zur Rezeptionsgeschichte. Hrsg. v. Carsten Gansel und Nicolai Riedel, Bd. 7, Frankfurt/M. u.a. 998, S. 04. Die Autoren weisen auf den Bezug zwischen „Lesen und Schreiben“ (968) und Johnsons Essay „Berliner Stadtbahn (veraltet)“ [erschienen in: Ders.: Berliner Sachen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 975] hin. 3 Catherine Viollet: Nachdenken über Pronomina. Zur Entstehung von Christa Wolfs „Kindheitsmuster“. In: Christa Wolf. Ein Arbeitsbuch. Studien – Dokumente – Bibliographie. Hrsg. v. Angela Drescher. Berlin, Weimar: Aufbau 989, S. 0-3. 4 Julia Hell: The Melodrama of Illegal Identifications, or, Post-Holocaust Authorship in Uwe Johnson’s Jahrestage. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur. Madison. 94. Jg., 2002, H. 2, S 209-229. 5 Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. , Frankfurt/M.: Suhrkamp 973, S. 255. 6 Julia Hell, a.a.O. (zitiert nach dem Manuskript) S. 5 und S. 4. 7 Uwe Johnson: Begleitumstände, a.a.O., S. 39. 8 Ebenda, S. 32. 9 Annett Gröschner: Eine Reise nach Jerichow. In: Dies.: ybbotaprag… ausgewählte essays, fließ- und endnotentexte 989-98, Berlin 999, S. 46-65. Geschrieben 995, zuerst veröffentlicht in: Moosbrand. Neue Texte 5/997, S. 69-77. 10 Johnson 973 in einem Brief an Siegfried Unseld. In: Johnsons „Jahrestage“. Hrsg. v. Michael Bengel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 985. S. 94. 11 Die Gesine-Figur hat – wie ihr Autor – vier Gesellschaftsordnungen erfahren. 12 Annett Gröschner: Eine Reise nach Jerichow, a.a.O., S. 53. 13 Uwe Johnson im Gespräch. Hrsg. v. Eberhard Fahlke, Frankfurt/M. 988, S. 39. Zitiert nach Roland Berbig: „Eine Bürgerin der D.D.R.“ namens Gesine Cresspahl erzählt Beobachtungen zu der DDR in Uwe Johnsons „Jahrestage“. In: Wo ich her bin. Uwe Johnson in der D.D.R. Hrsg. v. Roland Berbig, Erdmut Wizisla, Berlin: Kontext 993, S. 320-352, hier 325 und Anmerkung 5, S. 43. 14 Annett Gröschner: Reise nach Jerichow, a.a.O., S. 63. G. zitiert hier Johnson, „Jahrestage“, S. 243, wie sie in einer Fußnote auch angibt. 167 Birgit Dahlke 15 Annett Gröschner: Den Großonkel ausgraben. Eine Reise ins Oderbruch (995). In: ybbotaprag…, a.a.O., S. 38-52, hier S. 48 und 40. 16 Annett Gröschner: Das Gedächtnis der Häuser (994). In: ybbotaprag…, a.a.O., S. 304-30, hier S. 307. 17 Annett Gröschner: ybbotaprag…, S. [Schmutztitel]. 18 Ich folge hier der Argumentation von Inge Münz-Koenen: Spurensuche 992. Uwe Johnsons „Jahrestage“ und Monika Marons „Stille Zeile“. In: Wer sind wir? Europäische Phänotypen im Roman des zwanzigsten Jahrhunderts. Hrsg. v. Eberhard Lämmert und Barbara Naumann, München 996, S. 253. 19 Annett Gröschner: Moskauer Eis. Roman, Leipzig 2000. 20 Annett Gröschner: Jeder hat sein Stück Berlin gekriegt. Geschichten vom Prenzlauer Berg, Hamburg 998, S. 6. 21 Ich schlug meiner Mutter die brennenden Funken ab. Berliner Schulaufsätze aus dem Jahr 946, ausgewählt und eingeleitet von Annett Gröschner. Hrsg. vom PrenzlauerBerg-Museum, Berlin, 996. 22 Annett Gröschner: 0 mal x mal 49 Frauen. Eine Nummernrevue. In: Sklaven 8/9/ 995, S. 2. 23 In: Freitag 44/995, S. 5. Unter dem Titel „Verschiebbarer Mythos?“ auch im Essayband, S. 24-37, abgedruckt. 24 Uwe Johnson: Begleitumstände, a.a.O., S. 35. 25 Ebenda, S. 27. 168 Oliver Fritsch Von der Gewilltheit des Zuhörers Zur Rolle des Lesers in Thorsten Krämers „Neue Musik aus Japan“ und Uwe Johnsons „Zwei Ansichten“. Ein Vergleich Vorbemerkungen Dem Leser kommt im literarischen Produktionsprozess eine herausragende Bedeutung zu. Auf welche Weise? Zwar unterscheiden sich auf der einen Seite Rezeptionsmuster, Erwartungshorizont und ästhetisches Urteil von Individuum zu Individuum. Doch ist auf der anderen Seite in jedem fiktiven Prosatext dem Leser eine zumeist implizite Rolle eingeschrieben. Eine Analyse der Leserrolle reicht an die Schnittstelle heran zwischen literarischer Produktion und dem Wirkungsgrad eines Textes; damit an eine essenzielle Fragestellung von Literatur. Zwangsläufig berücksichtigt ein Autor die vorweggenommene Rezeption, indem er erlebte oder vermutete Reaktionen und Verhaltensmuster der Leserschaft – auch eigene Leseerfahrung – in den Schreibprozess integriert. Dabei steht ihm frei, ob er vermeintliche Lesegewohnheiten bedienen oder dagegen verstoßen möchte. Entscheidend ist der rezeptive Kontext. Literatur soll gelesen werden, das bedeutet: Reaktionen – in erster Linie in Form von mentalen Prozessen – sollen initiiert werden. Um mit der Leserschaft in einen virtuellen Dialog zu treten, muss der Autor jedoch derlei Kenntnisse über ihre Gewohnheiten besitzen. Dieses Wissen rekrutiert er einerseits aus direkten Reaktionen seitens Lesern und Kritikern: Buchkauf; jedwede Form von mündlicher oder schriftlicher Äußerung an primäre Instanzen wie z.B. Autor/Verlag/Lektor sowie an sekundäre Instanzen wie z.B. Medien. Andererseits ist der Blick eines Literaten in besonderem Maße sensibilisiert für soziale Konstellationen, spezifische Leseerwartungen bestimmter gesellschaftlicher Segmente und diesbezügliche Einstellungen moralischer sowie politischer Art. Daraus resultiert in seiner Vorstellung ein typisiertes Gesamtbild eines Lesers bzw. ein Spektrum an Lesertypen. Daher ist es angebracht, der Gemeinschaft aller Leser die Macht zuzusprechen, Schreib- Oliver Fritsch prozesse indirekt zu beeinflussen; auch wenn direkte Rückkanalfunktionen – wie z.B. digitale Medien dies ermöglichen – nicht existieren. Pointiert formuliert: Literatur besitzt eine Vorform von Interaktivität. Die Beziehung zwischen dem Leser und der Erzählstimme hat viele Dimensionen. Verfügt der Erzähler über die relevanten Informationen? Gibt er sie preis? Sind seine Ausführungen verlässlich? Gibt er zu, dass er bloß Vermutungen anstellt? Ist sein Urteil aufrichtig, vorschnell, besserwisserisch? Diese Fragen sind dem Kenner des Werks von Uwe Johnson spätestens seit der Veröffentlichung von „Berliner Stadtbahn (veraltet)“ explizit bekannt, doch beschäftigt sich der Leser eines jeden Erzähltextes zwangsläufig mit diesen. Der Autor wiederum weiß um diesen die Wirkung seines Romans beeinflussenden Faktor. Er trifft ein „Abkommen zur Arbeitsteilung“ mit seiner Leserschaft, indem er seinen Erzähler gezielt mit für die Rezeption relevanten verschiedenen Attributen sowie einem speziellen Handlungs- und Erzählrepertoire ausstattet. In diesem Sinne ist der Erzähler zunächst eine Romanfigur, deren Eigenschaften jedoch speziell auf die Rezeption und die Leserrolle einzuwirken vermögen. Es wird im Folgenden erstens darum gehen, die Leserrolle in Thorsten Krämers „Neue Musik aus Japan“ (999) in ausgewählten Aspekten zu untersuchen und zweitens einen diesbezüglichen Vergleich1 mit Uwe Johnson anzustreben. Dazu wird exemplarisch „Zwei Ansichten“ herangezogen, da in diesem Text dem Leser sowohl eine besonders aktive als auch eine ganz spezielle Rolle zukommt (vgl. Gansel/Fritsch 998). Drittens geht es darum, aus diesen Erkenntnissen für beide Autoren poetologische Schlussfolgerungen abzuleiten. An dieser Stelle werden deren den eigenen Schreibprozess reflektierende Aussagen Berücksichtigung finden, die im Falle Krämers aus einer Email-Korrespondenz hervorgingen. Was rechtfertigt einen Vergleich eines jungen deutschen Autors der Jahrtausendwende mit Uwe Johnson? Krämers Roman ist von den Feuilletons im Allgemeinen positiv aufgenommen worden. Man begrüßte eine „große Zurücknahme des Autors zugunsten der Geschichten, die er schreibt, und der Personen, die er beschreibt“ (Wiedermann 999: 3). Insbesondere im Vergleich mit anderen (Pop-)Autoren seiner Generation schätzt man das leise Urteil, das dem Leser den vorschnellen Kommentar zum Geschehen erspart. Vielmehr scheint es dezidiert dessen Aufgabe zu sein, Einschätzungen und Bewertungen zu übernehmen. Genau hierin könnte eine geistige Verwandtschaft mit Uwe Johnson bestehen. Schließlich legte dieser „stets größten Wert auf das unabhängige Urteil seiner Leser“ (Neumann 995: 6). 170 Von der Gewilltheit des Zuhörers Immer wieder hat er seiner Leserschaft Respekt gezollt und mit Formulierungen wie der folgenden eine Art idealen Leser seiner Texte gezeichnet: „Ich würde es vorziehen, daß der Leser, also der Adressat der Geschichte, sich zu ihr selbst verhält, sie selbst überdenkt und dann zu seinen eigenen Schlüssen kommt“ (G 204). Eine Poetik hat Johnson zwar zeitlebens von sich gewiesen (dargestellt in Neumann: 995)2. Vermutlich befürchtete er, auf ein bestimmtes literarisches Programm festgelegt und reduziert zu werden. In der Tat unterscheiden sich seine Romane auf der formalen Ebene der Erzähltechnik3 beträchtlich. „Mutmassungen über Jakob“ stellt andere Aufgaben und Ansprüche an den Leser als „Jahrestage“, diese wiederum andere als „Das dritte Buch über Achim“. Dennoch lässt sich die Werkkonstante feststellen, „daß es Uwe Johnson sich und seinen Lesern nie leicht gemacht hat“ (Neumann 995: 55). Er hatte immer den mündigen Leser vor Augen. I Intermediale Verwandtschaften In den zwanzig chronologisch ungeordneten Episoden in „Neue Musik aus Japan“ passiert selten etwas Dramatisches, zumindest wird auf einen dramatischen Tonfall verzichtet. Der Leser erfährt von zumeist alltäglichem Geschehen, das ihm aus zwischenmenschlichem Bereich bekannt ist: Liebe, Ehe, Freundschaft, Begegnung, Trauer, Eifersucht etc. Katastrophe und Glück lauern zwar in den meisten Fällen, doch bricht das Geschehen an Stellen ab, an denen der Leser Kritisches oder Spannendes4 erwartet. „Eine Geschichte nach der anderen weist lustvoll darauf hin, dass sie längst nicht alles preisgibt“ (Oehlen 999:9). Zudem gibt es keine konventionelle Figurenkonstellation, denn Protagonisten sucht der Leser vergebens. Stattdessen tauchen Figuren unter und später in anderen Lebenskontexten und Kontinenten unerwartet wieder auf. Da der Erzähler zudem auf Psychologisierungen und Kommentierungen weitgehend verzichtet, entstehen Deutungslücken. Diese zu füllen, sind dem Leser zunächst die nicht weiter erläuterten Querverbindungen einzelner Episoden behilflich. Da erkennt er den Japaner Haruki, der einmal als kleiner Junge aufgeregt und am heimischen Bildschirm das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 974 verfolgt, nunmehr als erwachsenen Menschen wieder. In der ersten Situation 171 Oliver Fritsch wurde seine Verehrung für die deutsche Fußballnationalmannschaft um Beckenbauer, Müller und Maier dargestellt, während er in der zweiten mittlerweile in Deutschland und mit einer Deutschen zusammen lebt. Ob zwischen der Vorliebe für den deutschen Fußball und dem späteren Wohnortwechsel eine Kausalität besteht, wird nicht einmal angedeutet. Der aufmerksame Leser hingegen erkennt diese Textklammer und wird zu eigenen Schlüssen kommen und sich Kontexte erschließen. Krämers Erzähler lässt ihm dabei freie Hand. Nicht einmal die von ihm gewählte chronologische Struktur muss dabei eingehalten werden. Die Episoden lassen sich in beliebiger Reihenfolge lesen, was nebenbei bei Johnson undenkbar wäre. Das literarische Programm ist im Text formuliert: „Das erste, was Anne an Haruki gefallen hatte, waren seine Ausführungen über die CD gewesen. Er hatte behauptet, mit der CD sei das Konzept der Seite, welches früher zum Beispiel für die sogenannten Konzeptalben ganz eminent wichtig gewesen sei, entfallen, und außerdem die Linearität insgesamt zerbrochen worden, da nun jeder Hörer selbst über die Reihenfolge der Stücke entscheiden oder sogar einer Shuffle-Funktion die Verantwortung überlassen könne“ (NMaJ 09). Dieser Aufbau lässt sich auf den Text übertragen, den man folglich verstehen kann, ohne auf Reihenfolge und Chronologie Rücksicht zu nehmen. Den intermedialen Aspekt kann man ausdehnen. Der Roman verfügt nämlich nicht nur über den Rezeptionscharakter einer CD, sondern man kann ihn zudem als Vorstufe eines Hypertexts betrachten. Insbesondere die „Scharnierwörter“ (Krämer) – Namen, Orte, Requisiten etc. – kann man als Links verstehen, da sie eine quer verweisende Funktion innehaben. Zwar macht Krämer darauf aufmerksam, dass „diese Verbindungen ganz anders gelagert [sind] als bei einer Website. Links sind ja immer noch physisch, wenn man so will, d.h. es gibt auf einer Seite ein Wort oder eine Textstelle, die als Link hervorgehoben ist“. Jedoch entstehen solche Links in „Neue Musik aus Japan“ idealiter im „Kopf des Lesers“ (Krämer) und eröffnen somit dort einen imaginären Hyperraum5. Dadurch „ist er [der Text, O.F.] aber vielleicht sogar noch hypertextiger […] Und das ist auch der Vorteil des Buches gegenüber dem Internet: Zwischen zwei Buchdeckeln ist ein Text bereits als Entität organisiert, während im Internet solche Einheiten erst konstruiert werden müssen – was ja gerade das Problem ist, das viele User am Anfang damit haben. Das Buch also als eine Art Internet für Anfänger“. 172 Von der Gewilltheit des Zuhörers II Alter ego des Lesers Die Geschichte Bernhards verteilt sich folgerichtig ebenso auf mehrere von einander entfernte Episoden. Eine schildert seinen geradezu manisch eifersüchtigen Racheakt, als er – sich verschmäht wähnend – seiner Verehrten nachts die Autoreifen zersticht. Jedoch hält sich der Erzähler mit Kommentaren über diese unbesonnene Tat zurück. Statt dessen wird diese Figur aus der Innensicht eingeführt. Mit einer sentenzenhaften Fragestellung beginnt das Kapitel: „Wie oft denkt man wirklich an die anderen? Natürlich weiß man theoretisch, wie viel Menschen außer einem selbst auf der Welt leben, aber wann ist einem dieser Sachverhalt schon einmal wirklich bewusst?“ (NMaJ 60) Dieser Frage folgt eine Darstellung der Innenwelt des zu diesem Zeitpunkt noch kindlichen Bernhards, in der er sich lebensfremde Vorstellungen macht. Diese der eigentlichen Episode vorgeschalteten Bemerkungen enden mit dem Erzählerkommentar: „Wir erwähnen dies alles, um bestimmte Verhaltensweisen Bernhards, wie sie im weiteren erzählt werden, etwas weniger dunkel erscheinen zu lassen“ (NMaJ 60). Diese sanfte Einführung einer Figur, die sich im weiteren Verlauf als Sonderling erweist, zeugt einerseits von Nachsicht des Erzählers. Andererseits ist nunmehr der Leser gefordert, sich ein Urteil über das Verhalten Bernhards zu bilden. Ist seine Straftat (Sachbeschädigung von Autoreifen) nachzuvollziehen, gar zu rechtfertigen? Liegt sein merkwürdiges Verhalten im Anschluss daran, als er in der U-Bahn laut Selbstgespräche führt, und seine offensichtliche Außenseiterrolle in gesellschaftlichen Bedingungen oder biografischen Einflüssen begründet oder ist er schlicht der Eigenbrötler, für den man ihn auf den ersten Blick hält? Das sind Fragen, die der Text insgesamt gar nicht beantworten will, vermutlich weil sie von einer einzelnen Person (dem Erzähler) alleine gar nicht zu beantworten sind. Der Leser mag sich an dieser Stelle noch auf der Seite von Bernhard wähnen. In einer späteren Episode jedoch wird der Vorgang aus anderer Perspektive betrachtet. Dort berichtet eine namenlose Freundin der Journalistin Anne schlicht, dass ein „krankhaft eifersüchtiger Freund alle vier Reifen ihres Autos aufgeschlitzt hatte“ (NMaJ 09) und sie deswegen nicht wie geplant nach Hamburg fahren könne. Der Erzähler stellt durch diese zusätzliche Stimme seine eigene, vorsichtige Einschätzung in Frage, wodurch er Glaubwürdigkeit erreicht. Der Leser kann demnach an dieser Textstelle erkennen, dass 173 Oliver Fritsch er es mit jemandem zu tun hat, der ausgewogen zu urteilen vermag. In einer späteren Episode erleben wir Bernhard in einer selbstreflexiven Phase: „Ich habe vor ein paar Jahren einen, na ja, so eine Art Nervenzusammenbruch gehabt, weil ich mich in diese fixe Idee verrannt hatte, daß man irgendwie verstehen müßte, was alles gleichzeitig geschieht, die verschiedenen Lebensläufe von Menschen, die zufällig gerade in einem Bus sitzen und so weiter, er machte eine wegwerfende Handbewegung“ (NMaJ 30). Selbst als er von dieser Wahnvorstellung und seinem „Denkzwang“ durch eine Therapie befreit wird, interessieren ihn solche Fragestellungen noch immer. Als ihn seine Freundin Idil nach einem Unfall im Krankenhaus besucht, erlöst diese den Bettnachbarn Sven aus einer Art Amnesie, was wiederum Bernhard zu euphorischen Theoretisierungen über die Weltzusammenhänge provoziert: „Welch eine Überraschung! rief er aus, was für ein Zufall! Er richtete sich im Bett auf. Ich habe nämlich ein Faible für solche Zusammenhänge … Tatsächlich nämlich, fuhr Bernhard fort, ereignen sich solche Zufälle weitaus häufiger, als man selbst annehmen könnte. Im Grunde kennt jeder selber so eine Geschichte, oder sogar mehrere, wo man auf einmal feststellt, daß der Freund eines Freundes einen Bekannten hat, der eben die Person ist, die man gerade kennengelernt hat“ (NMaJ 29f.). Nach Krämers Aussagen wird gerade in der Figur Bernhard ein alter ego des Lesers wahrnehmbar. In den Augen beider haben nicht alle Begebenheiten eine konkrete Bedeutung, weder im Text noch im Leben. „Bernhard verhält sich zur Welt so wie der Leser zu einer Erzählung: Er sucht in allem nach Bedeutung“. Hierin unterscheiden sich Krämer und Johnson. Bei Johnson ist der Leser aufgefordert, eigene Ursachenzuschreibungen zu tätigen, der Geschichte damit eine Kohärenz zu verleihen. Krämers Leser soll hingegen erkennen, dass er Opfer seiner eigenen vorschnellen Bereitschaft werden kann, Deutungslücken zu schließen. Bei Krämer ist der Mangel an Kausalität literarisches Programm, es regiert der Zufall. 174 Von der Gewilltheit des Zuhörers III Zufall Die einzelnen Episoden in Krämers Roman sind nahezu ausnahmslos durch Zufälle oder zufällige Begegnungen miteinander verbunden. Im Subtext ergeben sich jedoch flüchtige Verbindungen und Kontexte, die vom Leser geschlossen bzw. offen gelassen werden können. An der Oberfläche existiert ein inkohärenter Text, der sich bei genauerem Hinsehen als Netzwerk der Figuren und Situationen entpuppt. Auf diese Weise erreicht Krämer in seinem Roman Lebensechtheit. Wiedermann (999) verweist auf eine Affinität zur soziologischen Theorie der „six degrees of separation“. Danach ist jeder Mensch mit jedem anderen beliebigen Menschen auf der Welt höchstens sechs Verbindungspersonen getrennt. „Mit dieser [Theorie] wird ein Kontingenzrahmen erstellt, der zwar objektivwissenschaftlich die Wahrscheinlichkeit bestimmter Zufälle erklärt, aber Raum lässt für ‚tatsächliche‘ Zufälle“ (Krämer). Bei Krämer soll der Leser erkennen, dass Zusammenhänge und Kausalitäten vom Erzähler oder einer anderen Figur oft unbedacht hergeleitet werden. Dem Faktor Zufall kommt dabei eine tragende Bedeutung zu, wobei im Roman selbst verschiedene Aspekte diesem Thema abgerungen werden. „Bernhard zum Beispiel ist jemand, der aus den Zufällen ein System herauszulesen versucht […] Er scheitert daran, daß ihm dies in der richtigen Welt nicht gelingt“ (Krämer). Der Erzähler belässt es bei dem Zufall und verweist implizit auf den substanziellen Unterschied zwischen Kausalität und Korrelation. Diese programmatische Auffassung erinnert wiederum an Johnsons Ausführungen über die möglichen literarischen Fehlerquellen: „Er [der Verfasser, O.F.] kann für allgemein halten, was einzeln ist. Er kann typisch nennen, was privat ist. Er kann ein Gesetz erkennen wollen, wo nur eine statistische Häufung erscheint“ (BS 4). Der menschlichen Neigung, manche Ereignisse den bestimmenden Fügungen des Schicksals zuzuschreiben, ist sich auch Krämer bzw. sein Erzähler bewusst. Als Jürgens Vater an dem Tag starb, an dem sein Sohn einen Plattenladen eröffnete, ist die Mutter fast dazu geneigt, Jürgen den Tod ihres Mannes vorzuwerfen. 175 Oliver Fritsch „Es gibt immer zwei Arten von Zufällen, solche, die wir auch tatsächlich für Zufall halten, und solche, mit deren angeblicher Zufälligkeit wir uns nicht abfinden können, oder wollen“ (NMaJ 93). Die vom Schicksal getroffene Mutter sieht Zusammenhänge, die es offensichtlich nicht geben kann. Hingegen ist der Erzähler davor gefeit, die Kausalitätszuschreibung seiner Figuren mitzutragen. Allerdings gesteht er diesen Raum für ihre Deutungsbereitschaft und damit eine gleichberechtigte Haltung zu. Von dieser Art Kooperation war auch Johnson überzeugt: „Der Verfasser weiß die Geschichte von außen, und man könnte sagen, daß der Verfasser mit den Personen zusammen arbeitet, wo Gelegenheiten auftreten, in denen sie es eigentlich besser wissen müßten, weil sie zu dem fraglichen Gegenstand ein intimeres Verhältnis haben, oder: wenn sie dabei waren, dann sollen sie es eben sagen. Das ist eine Verteilung der Kompetenzen“ (G 9). IV Doing Damage Wie Forschung und Kritik mit Vorliebe betonen, zeugen Uwe Johnsons Texte von „epischer Gerechtigkeit“. Beispielsweise relativierte die Vielstimmigkeit in „Mutmassungen über Jakob“ jeglichen im Text aufkommenden Kommentar über den Tod des Protagonisten Jakob. Selbst dem Stasi-Spitzel Rohlfs widerfuhr Fairness im Umgang, obwohl man in ihm mühelos einen Schuldigen hätte ausmachen können. „Zwei Ansichten“ behandelt vordergründig die Liebesgeschichte zwischen einem westdeutschen Fotojournalisten – genannt B. – und der Ostberliner Krankenschwester D. Ihre ohnehin flüchtige Beziehung wird durch den Bau der Berliner Mauer nahezu verunmöglicht. Dennoch entschließt sich B., D. zur Flucht zu verhelfen. Als sie sich im Westen wiedersehen, erkennen sie beide, dass ihre Liebe verschwunden ist, sofern sie jemals vorhanden war. Für die vorliegende Analyse jedoch ist die Erzählweise des Textes relevant. Hier agiert nämlich ein Erzähler, der bezüglich westdeutschem Leben und Personen Klischees produziert, welche er auf die Hauptfigur überträgt. Vom ersten Moment an6 desavouiert sich die erzählende Stimme durch geradezu unsachliche Äußerungen über die Hauptfigur B. Die diesbezüglichen Kommentare sind von Antipathie und Abneigung geprägt. Der aufmerksame Leser ist daher sofort misstrauisch gegenüber dem unseriösen Erzähler, zumal dieser 176 Von der Gewilltheit des Zuhörers mit der Protagonistin D. völlig konträr widerfährt. Ihre Lebensverhältnisse und Handlungen werden neutral bis affirmativ geschildert. Der Leser hat demnach eine aktive Rolle einzunehmen und die Gänsefüßchen des Gesagten bzw. des Folgenden zu erkennen. Der Erzähler der „Zwei Ansichten“ verhält sich, gemessen an Johnsons poetologischem Anspruch, derart widersprüchlich, dass man von einer gewollten Irritation seitens des Autors auszugehen hat. Es scheint ein Spiel mit den Erwartungen des Lesers zu sein, welches gewohnte Rezeptionsmuster aufbrechen sowie Hellhörigkeit und Skepsis provozieren soll. Dazu war es Johnson Recht, „Fehler“ in seinen Text einzubauen, wobei freilich immer die Gefahr besteht, dass diese Strategie nicht durchschaut wird und dem Text Mängel nachgesagt werden (dargestellt in Gansel/Fritsch 998). Auch Thorsten Krämer hat in Bezug auf seine Schreibweise von so genannten Fehlern gesprochen, die er in seinen Text integriert hat: „Ich [versuche], eine einzige Ebene zu schaffen, die in sich selbst so viele ‚Fehler‘ hat, dass auch ein ‚naiver‘ Leser merkt, dass da etwas nicht stimmt. Der Regisseur Hal Hartley hat für seine Art, Filme zu machen, den Ausdruck ‚Doing Damage‘ verwendet. Das scheint mir ein sehr gutes Bild. In „Neue Musik aus Japan“ halten die einzelnen Kapitel eine Spannung. Sie sind nicht wirklich Kurzgeschichten, aber auch keine „richtigen“ Romankapitel. Die Aktivität des Lesers liegt daher nicht darin, Chiffren zu entziffern und mit einer bestimmten Bildung in Beziehung zu setzen, sondern aus dem Text heraus die Besonderheiten des Textes zu erkennen. Diese Besonderheiten sollen wie kleine Widerhaken wirken, die einen dazu bringen, den Text vielleicht noch einmal zu lesen oder sich zu fragen, was man überhaupt von einem Text erwartet“. Gefragt ist der kritische Leser, der sein Rezeptionsverhalten reflektiert und in die Lektüre integriert, der zudem erkennt, dass er jemandem vor sich hat, der sich selbst und seinen Erzählvorgang nicht allzu ernst und wichtig nimmt. Zunächst noch scheinen Krämers Titelgebung sowie die Praktik, jeder Episode einen Songtitel aktueller japanischer Elektronikmusik vorzuschalten, entscheidende Sinngebung des Erzählers zu sein. Diese vermeintliche Hilfestellung bricht jedoch im Laufe der Lektüre zusammen. Im Anfangskapitel bietet Arnd der offenbar verehrten Anne an, ihr seine Expertenkenntnisse in Sachen asiatischer Kultur unter Beweis zu stellen, indem er ihr ein Tape mit japanischer Musik zusammenstellen will. In Kapitel 3 kommt dieses mit 177 Oliver Fritsch der Post bei ihr an, und Annes japanischer Freund Haruki entlarvt den selbst ernannten Experten Arnd als Dilettanten, der von japanischer Musik nichts versteht. Daraufhin landet die Kassette im Mülleimer. Der Titel „Neue Musik aus Japan“ ist folglich Ausdruck erzählerischer Selbstironie. Spätestens an dieser Textstelle erkennt der Leser den doppelten Boden des Romans, dessen vordergründige Sinngebung sich selbst untergräbt. Auch in „Zwei Ansichten“ verrät der Erzähler die Ursachen seines zulasten der männlichen Hauptfigur parteiischen Standpunkts erst am Ende der Erzählung, als der junge Herr B. von einem Bus gerammt und verletzt wird; für den Erzähler kein Anlass zu Mitleid. „An der Straßenkreuzung oberhalb der Kneipe lief er bei rotem Licht gegen ein langes übermächtiges Tier von Autobus, und hatte es um die Kurve schwenken sehen. Im Fallen war er ganz zufrieden. Der großgewachsene junge Mann in dem schwarzen Anzug, dem der Hemdkragen hing wie aufgerissen, taumelte so haltlos, schlug mit dem Kopf in den Rinnstein, als habe er sich fallen lassen. Ich habe ihn aufheben helfen und bin mit dem heulenden Krankenwagen zur Unfallstation gefahren“ (ZA 239). Hierbei handelt es sich nicht zuletzt wegen des Wechsels in die Ich-Form zweifellos um eine Schlüsselstelle des Textes7, die Leserrolle betreffend. Der von Anfang an misstrauische Leser sieht sich in seinem Urteil bestätigt, während der „naive“ Leser die Wertung des Geschehens und der Figuren (im Speziellen: B.) überdenken muss. Der Protagonist sieht sich nämlich einer Art Diffamierung ausgesetzt, die vom Leser nicht übernommen werden soll, sondern hinterfragt und durchschaut. Der Prozess der Klischeebildung und der vorschnellen Verurteilung eines Menschen in der öffentlichen Meinung wird somit transparent gemacht. In diesem Verfahren ist eine eindeutige Parallele zu Krämer zu erkennen. Der Leser wird irritiert: – in den „Zwei Ansichten“ nahezu durch den ganzen Text, überdeutlich am Textende, insgesamt eher laut, – in „Neue Musik aus Japan“ allmählich und gelegentlich, insgesamt eher leise. 178 Von der Gewilltheit des Zuhörers Fazit Was vereint nun die beiden zunächst so unterschiedlich anmutenden Autoren, was trennt sie? Die Gemeinsamkeiten: zunächst die Anerkennung des Lesers als autonomes Wesen. Diese findet ihren Niederschlag nicht nur in poetologischen Aussagen, sondern speziell in der Erzählweise ihrer Texte. Es ist eine Erzählinstanz am Werk, die sich ihrer Fehlbarkeit bewusst ist und daraus auch kein Hehl macht. Zudem erreichen beide Autoren – sei es durch gelegentliche Selbstironie, sei es durch Verdeutlichung im Sprachgebrauch – Transparenz im Erzählvorgang. Der mündige Leser ist deswegen bereit, mit ihnen eine „Arbeitsteilung“ einzugehen. Des weiteren sind in beiden behandelten Texten bewusst „Fehler“ eingebaut. Ein Leser, der diese erkennt und als gewollte Irritationen identifiziert, wird jede Deutung des Geschehens bezweifeln. Demnach soll durch diese Methode eine kritische Lesehaltung initiiert werden, die Revisionen des Geschriebenen oder des Gedeuteten ermöglicht. Daher ist es auf der einen Seite die Aufgabe des Lesers, Deutungslücken selbstständig zu schließen sowie vorschnelle Urteile als solche zu erfassen. Auf der anderen Seite – und damit wird der zentrale Unterschied zwischen Krämer und Johnson angesprochen – soll er zugleich seine eigene Les- und Denkart in Frage stellen. Die kritische Haltung gegenüber vorschnellen Wahrheiten und Wahrheitsdeutungen bezieht sich bei Krämer – und in dieser Betonung liegt eine deutliche Differenz zu Johnson – nicht zuletzt auf den Leser selbst. Dieser soll Distanz nicht nur zu Erzähler und Figuren bzw. deren Wahrheiten aufbauen. Vielmehr sollen seine eigene Deutungswilligkeit und -fähigkeit auf den Prüfstand. Wenn der Verfasser einen mündigen Leser fordert, muss er zwangsläufig mit den Konsequenzen leben. Hat dieser sich mit seiner Rolle angefreundet, können ihm nicht ohne weiteres Urteile aufgedrängt werden. Auf rezeptive Vorgaben sensibilisiert, lässt er sich nicht mehr täuschen. Aber nun besteht für den Autor offenbar die Gefahr, dass die Kommunikation zwischen ihm und dem Leser erschwert wird. Folgende Textstelle in Krämers Roman macht das deutlich: „Ein Beispiel ist eine schwierige Angelegenheit. Benutzt man es als Beleg für eine allgemeine Behauptung, mag ein Zuhörer einwenden, es sei aber nicht immer so wie in diesem einen speziellen Fall. Hebt man andererseits gerade auf seine Besonderheit ab, wird der Zuhörer behaupten, es sei gerade keine [kursiv im Original, O.F.] Ausnahme, im Gegenteil, so etwas passiere ständig. 179 Oliver Fritsch Am Ende hängt vielleicht tatsächlich alles von der Gewilltheit des Zuhörers ab, dem Anlaß des Gesprächs“ (NMaJ 25). Hier registriert der Leser zwar anerkennend, dass er und sein Wille ernst genommen und seine Einwände und Bedenken durch den Erzähler eingeschätzt und in den Erzählvorgang integriert werden. Gleichzeitig wird er jedoch an seine eigene Störrigkeit erinnert. Dieses Zitat relativiert wiederum Krämers Wunschvorstellung vom kritischen Leser. Sein Erzähler geht an dieser Stelle einen Schritt weiter. Den kritischen – ja, überkritischen – Leser vor Augen, scheint er diesem zuzurufen, er möge es mit seiner aktiven Rolle nicht übertreiben. Abschluss Der neuen deutschen Erzählergeneration – wenn man denn bereits von einer Generation reden möchte – wird meist vorgehalten, ihre Texte seien oberflächlich, ihre Stimmen marktschreierisch sowie ihr Gesichtsfeld egozentrisch. Wenn dem so sein sollte, ist Thorsten Krämers Roman „Neue Musik aus Japan“ als Gegengewicht anzusehen. Unter der Oberfläche eines zunächst aussageschwachen seichten Textes verbirgt sich erstens eine Geschichte der sozialen Beziehungen zwischen Menschen, die erst bei näherem Hinsehen erkennbar wird. Zweitens versteckt sich darin ein Idealbild von einem Leser, welcher alle Stimmen – auch seine eigene – hinterfragt. Damit liegt Thorsten Krämer ebenfalls außerhalb des allgemein ausgemachten Trends. Statt dessen scheint es bei ihm durchaus angebracht, von einer Verwandtschaft mit Uwe Johnson zu sprechen. Seine zukünftigen Texte werden es zeigen. 180 Von der Gewilltheit des Zuhörers Literatur NMaJ – Thorsten Krämer (999). Neue Musik aus Japan. Köln: Kiepenheuer & Witsch. BS – Uwe Johnson (975). Berliner Stadtbahn (veraltet). In: ders.: Berliner Sachen. Frankfurt/M.: Suhrkamp: 7-2. BU – Uwe Johnson (980). Begleitumstände. Frankfurt/M.: Suhrkamp. G – Uwe Johnson (988). „Ich überlege mir die Geschichte…“ Uwe Johnson im Gespräch. Hrsg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt/M.: Suhrkamp. ZA – Uwe Johnson (965). Zwei Ansichten. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Carsten Gansel & Oliver Fritsch (998): „Klischeebildung oder Wahrheitsfindung“? oder vom „Platz des Erzählers“. Zum Konstruktionsprinzip von Uwe Johnsons Zwei Ansichten. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum 7. Hrsg. v. Carsten Gansel u. Nicolai Riedel. Peter Lang: Frankfurt/M. u.a.: S. 63-06. Katja Leuchtenberger (2000): Ein Erzähler beginnt zu erzählen. Die Exposition von „Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 953“. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum 8. Hrsg. v. Carsten Gansel u. Nicolai Riedel. Peter Lang: Frankfurt/M. u.a.: S. 59-82. Uwe Neumann (995): „Er stellt seine Fallen öffentlich aus“. Zu Uwe Johnsons poetologischen Äußerungen. In: Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. Internationales Uwe-Johnson-Symposium. Hrsg. v. Carsten Gansel u. Nicolai Riedel. Berlin; New York: de Gruyter: 55-80. Roberto Simanowski (2002): Interfictions. Vom Schreiben im Netz. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Volker Wiedermann (999): Literatur der Uneitelkeit. taz v. 2.8.: 3. Anmerkungen 1 2 Figurenzeichnung, politisches Engagement oder Stoffauswahl beider unterschiedlich renommierter Autoren differieren beträchtlich und werden in diesem Beitrag vernachlässigt. Neumann verweist allerdings darauf, dass Johnson über eine aus literaturwissenschaftlicher Sichtweise verengte Vorstellung von Poetik verfügt habe, worunter dieser ein „Inventar narrativer Gestaltungsmittel“ (58) verstanden habe. Von einer impliziten Poetik könne man bei Johnson sehr wohl sprechen. Außerdem finde sich in seinem Erzählwerk eine breite Palette an diesbezüglichen Aussagemodi „von offenen Absichtserklärungen bis hin zu versteckten, teils kryptischen verschlüsselten Anspielungen“ (59). 181 Oliver Fritsch 3 4 5 6 7 182 Daraus resultierte nicht selten Kritik und Desinteresse. Vermutlich ist der Vorwurf mangelnder Formqualitäten der Grund, warum „Zwei Ansichten“ bis heute ein Schattendasein in der Johnson-Forschung führt (dargestellt in Gansel & Fritsch 998). Des Autors selbstreflexive Retrospektive spielt auf die vermeintliche Langeweile seines Romans an. „Im Nachhinein ist mir an „Neue Musik aus Japan“ etwas aufgefallen, was mich an einen Satz Marcel Beyers erinnert hat: Es gebe Bücher, die man die ganze Lektüre hindurch eigentlich langweilig finde, die aber als Ganzes plötzlich eine ganz andere Wirkung erzeugen. Das habe ich mir lange nicht vorstellen können, bis mir irgendwann der Gedanke kam, dass „Neue Musik aus Japan“ vielleicht sogar in diese Kategorie gehört.“ Mit Simanowski (2002) lässt sich die „Hypertextualität“ von „Neue Musik aus Japan“ als „medienuntypisches Merkmal experimenteller Grenzüberschreitungen des einen Mediums in Richtung des anderen beschreiben“ (8). Zur Bedeutung von Romananfängen siehe u.a. Leuchtenberger (2000). Die Schlüsselstellentheorie bestätigt Uwe Johnson (vgl. BU 324f.). Sieglinde Geisel „Fremd in der Fremde“, Uwe Johnson und Christoph D. Brumme Zwei Autoren, die vieles trennt und die vieles verbindet Uwe Johnsons Roman „Mutmassungen über Jakob“ spielt in der DDR der fünfziger Jahre. Er wurde auch in dieser Zeit in der DDR geschrieben von einem, der dann wegen dieses Romans in den anderen Teil Deutschlands „umzog“, wie er es nannte. Jakob habe sich nach dem Krieg eingelassen „mit dem was wir also nennen wollen Hoffnung des Neuanfangs“, sagt Gesine über Jakob. Eine der vielen Mutmaßungen, aus denen dieser Roman besteht. In seinem Zentrum steht einer, der stumm bleiben muss, denn er ist bereits tot. Wie bei einem Krimi erfährt man dies gleich im ersten Satz des Romans: „Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.“ In einer Montage aus Gesprächsfetzen und Monologen bietet der Roman ein Kaleidoskop aus Erinnerungen an einen Menschen, der allen fremd geblieben ist: Die Jugendfreundin Gesine, deren Vater Heinrich Cresspahl, Gesines späterer Freund Jonas Blach und schliesslich Herr Rohlfs, der mit Jakob Abs geheimdienstlich zu tun hat. „Jedem sein eigener Blutkreislauf “, war eine Maxime von Jakob. Er wusste, „dass die Lebensumstände nichts zu tun haben mit einer Person“. Er lebte aus sich selbst heraus, und er ruhte in sich. Bedächtig, wohlwollend, reglos, verlässlich – so haben ihn die Anderen in Erinnerung. Als Uwe Johnson den Roman „Mutmassungen über Jakob“ schrieb, war Christoph Brumme noch nicht geboren. Zwischen den Entstehungsjahren der beiden Romane liegen nicht zufällig fast vierzig Jahre, denn die beiden Bücher künden je vom Anfang und vom Ende der DDR. Uwe Johnson hatte vom westlichen Literaturbetrieb sehr schnell sein Etikett erhalten: „Schriftsteller der beiden Deutschland“. Wenn ich Christoph Brumme ein Etikett verleihen dürfte, dann wäre es dieses: „DDR-Autor nach dem Ende der DDR“. Erst nach dem Ende der DDR habe er den Roman „Nichts als das“ schreiben können, sagt Brumme. Das Verschwinden der DDR machte es ihm möglich, diese eigenartige Lebenswelt als literarischen Stoff zu behandeln, sie auf ihre ethnologische Substanz hin Sieglinde Geisel zu untersuchen, sie zu erzählen als etwas, was war. Das verschwundene Land wird zu einem Raum des Allgemeingültigen. „Nichts als das“ ist die Geschichte einer Kindheit. No ist eines von fünf Geschwistern. Die Familie lebt in einem Dorf namens Elend, im Grenzgebiet am Brocken. Das Kind sieht im Bücherschrank der Eltern ein Buch stehen mit dem Titel „Die Elenden“, und lange hatte No geglaubt, bei dem Roman von Victor Hugo handle sich um die Dorfchronik. Viel später erst lernt er, dass das Wort vom mittelhochdeutschen ellende (enellende) kommt und „im Ausland, in der Fremde“ heisst. „Ein Elender war ein Fremdling und ein Fremdling war ein Elender“, so will es Brummes sprachliche Logik. Die Zeit, in der No aufwächst, hat mit der politischen Lebenswelt des Jakob Abs nichts mehr zu tun. Es gibt in Brummes Roman keine Zeitangabe, aber die fünfziger Jahre sind längst vergangen. Niemand mehr denkt an die „Hoffnung des Neuanfangs“. Niemand mehr reibt sich auf für diesen Staat, niemand reibt sich ernstlich am Staat. Die Konflikte haben sich aus der Sphäre des Politischen ins Private verlagert: Die Familie ist der Ort, an dem eine Kontrolle herrscht, wo erzogen wird und wo man sich Fluchten ausdenkt. Die Familie ist ein Ort, an dem eine andere Art der Fremdheit entsteht, als wir es beim frühen Johnson beschrieben finden. Mutmassungen über Jakob „Wenn er seine Antworten nur nicht so verschwiegen hätte. Wenn wir ihm nur die richtigen Fragen gestellt hätten.“ Dies sagt Gesine, der Mensch, der ihn am besten gekannt hat oder der ihm zumindest am nächsten war, früher einmal. Aber eigentlich war Jakob schon immer ein Fremder, denn er ist mit seiner Mutter als Kriegsflüchtling aus Pommern nach Jerichow gekommen, „allerdings war er immer nur besuchsweise angekommen“, meint Cresspahl, in dessen Haus die beiden unterkommen und bleiben. Jakob ist im Ausland – im Elend – ein Fremdling geblieben. Er ist denen, die ihn kannten, so fremd, dass sie nur über ihn mutmaßen können – eine besonders ungesicherte Form der Erzählung. Bedächtig, wohlwollend, reglos, verlässlich – darüberhinaus scheint es nichts zu geben, was ihn charakterisieren könnte. Herr Rohlfs, der Geheimdienstoffizier, erinnert sich, wie er Jakob in einem Speisewagen zum ersten Mal beobachtete. „Wenn 184 Johnson und Brumme – zwei Autoren, die vieles trennt, und die vieles verbindet ich mich recht erinnere, begann ich sogleich nach Worten zu suchen. Das Nächste war dass ich ein Wort nach dem anderen wegwarf, sie meinten sämtlich Eigenschaften, dieser schien keine zu haben.“ Jakob ist einer der vielen Männer ohne Eigenschaften, die sich in der Literaturgeschichte finden. Dafür gibt es Gründe. „Und dass einer sich immer aussuchen kann was er will und verantworten mag: das nennst du Freiheit?“, fragte Jakob einmal. Die Freiheit des Individualismus ist eine Freiheit, die ihm nichts bedeutet. Jakob ist ein Mann ohne Eigenschaften, denn er ist eingebunden in eine Gesellschaft. Der Gedanke, der Anspruch, dass einer sein Leben selbst bestimmen könnte, ist ihm fremd, – „denn die Zeit („die Sseitn“) war und waren so gefügt dass einer wenig Gewalt hatte über sein eigenes Leben und aufkommen musste für was er nicht angefangen hatte.“ Dies nun ist das Gegenteil von der Freiheit des Einzelnen. Jakob hatte als Flüchtling erfahren, wie wenig Gewalt einer über sein eigenes Leben hat, und diese Einsicht prägt auch sein Verhältnis gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik, deren Namen er immer vollständig ausspricht. Er ist kein politischer Mensch, aber er teilt die „Hoffnung des Neuanfangs“, fühlt sich verantwortlich für das größere Ganze. Sein Beruf ist eine Metapher für seine Einsamkeit und seine Vernetzung. Jakob arbeitet als Dispatcher bei der Eisenbahn, „hinter verschlossener Tür im Turm“. Er ist verantwortlich dafür, dass die Züge fahren, dass sie ankommen, dass ein System funktioniert. Dispatcher ist ein Beruf, in dem „jede Entscheidung eine Frage des staatlichen Gewissens war“. Jakob tastet sich an der Schnittlinie entlang zwischen dem, was er selbst für gut befindet und dem, was von ihm erwartet wird. Der Aufstand in Ungarn 956 ist eine Prüfung seiner Haltung. Ein anderer Dispatcher hat den Zug mit den sowjetischen Truppen blockiert. Für Jakob jedoch wäre dies undenkbar. Er diskutiert darüber mit Jonas Blach, dem Freund von Gesine, einem politischen Menschen. Es ist das einzige Mal im Roman, dass wir Jakob erregt sehen (oder genauer: dass sich jemand daran erinnert, ihn erregt gesehen zu haben). „Morgen früh wären sie doch da gewesen. Ich red nicht davon dass wir alle drei – Ehrenpussel sagt er, er ist ja wohl rein beleidigt! und du und ich verhaftet wären. Ich mein: es wär als hätten wir verrückt gespielt aus lauter Lust und Drolligkeit.“ Jonas darauf: „Und ihr hättet euch benommen nach eurer Meinung.“ „Das mein ich mit Verrücktspielen“ sagte Jakob lächelnd. 185 Sieglinde Geisel Damit erklärt Jakob indirekt seine Haltung gegenüber dem Staat und gegenüber sich selbst. Jakob ist pflichtbewusst – und sein Staat nimmt ihn in die Pflicht. Die Staatsmacht ist nicht anonym, sondern sie heisst Herr Rohlfs. Herr Rohlfs diskutiert, erklärt die Vorzüge des Sozialismus; er möchte Jakob nahe kommen, denn er will ihn für sich gewinnen. Die Staatsmacht hatte „ein persönliches Verhältnis zu Jakob und wollte bestehen vor ihm in der Achtung und mochte freundlich gegrüsst werden von ihm“. Die Autorität will geliebt werden, aber sie lässt dem Umworbenen keine Freiheit. Das Auto, in dem der Geheimdienstagent sitzt, ist eine ständige Drohung. „Also jedes Mal, wenn Jakob einen dunkelroten schmutzigen bespritzten Pobjeda über die Strasse kriechen sah … erinnerte er Herrn Rohlfs und wusste dass seine Hand über ihm war zu allen Zeiten.“ Nichts als das Diese Spannung zwischen dem Staat und dem Individuum, zwischen Herrn Rohlfs und Jakob, wird im Roman von Christoph Brumme in die Familie verlegt, zwischen Vater und Sohn. „Wenn No wo hinguckte, hatte er das Gefühl, woanders hinzugucken.“ So beginnt der Roman „Nichts als das“. No ist sich selber fremd – bereits in diesem ersten Satz. Er hört Stimmen, ein Sprechen, das er nicht versteht. „Etwas sprach in ihm, ohne dass er sprach. Bemerkte er das Sprechen, hörte es auf zu sprechen (…). Vergaß er, darauf zu achten, was in ihm gesprochen wurde, sprach es wieder.“ Eine Spaltung, die das Ergebnis der Art und Weise ist, in welcher sich der Vater des Sohns bemächtigt. Nos Vater ist Lehrer und also nicht nur privat ein Erzieher, sondern auch von Beruf. Es hat mich bei der Lektüre erstaunt, wie sehr sich die Vorträge von Herrn Rohlfs und die Predigten von Nos Vater ähneln. Beiden geht es nicht um blinden Zwang, sondern um etwas Raffinierteres, um eine wirksamere Form der Repression – „sein Vater half ihm, vernünftig zu sein“, heisst es bei Brumme, und No bleibt nichts übrig, als die fremde Vernunft anzunehmen. Der Vater überwacht ihn, spioniert ihm nach, und er diskutiert mit ihm. Er will ihn überzeugen, denn er will geachtet, geliebt werden von dem, der ihm ausgeliefert ist. Der Sohn soll selbst einsehen, warum die Tracht Prügel nötig ist. Der Vater kennt die Gesetze der verinnerlichten Strafe: Je härter die kleinen Vergehen bestraft werden, desto größer sind die Schuldgefühle, wenn auf die großen Vergehen keine Strafe folgt. 186 Johnson und Brumme – zwei Autoren, die vieles trennt, und die vieles verbindet Das Spiel von Macht und Ohnmacht hat sich in die Familie verlagert, weil die politische Macht des Staatsapparats ihre Wirkung verloren hat. Von der „Hoffnung des Neuanfangs“ ist in dieser DDR, die im Roman übrigens nie genannt wird, längst keine Rede mehr. „Politik verdirbt den Charakter, das war schon immer so und das wird auch immer so sein“, sagt Nos Vater, der „einen Rochus auf die Kommunisten“ hat. Der Staat ist ihm fremd geworden. Er glaubt die Parolen nicht mehr. Aber gleichzeitig ist ihm der Staat noch nicht fern genug, als dass es ihn kalt ließe. Für No dagegen ist der Staat nur noch als Staffage existent. Durch geschicktes Fragen bringt er etwa den Lehrer Kappel dazu, den Staat zu loben, damit dieser darüber das Unterrichten vergisst. Glauben oder nicht glauben, lügen oder nicht lügen – diese Kategorien greifen in Nos Generation schon längst nicht mehr. Und nicht nur, weil No ein Kind ist: Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sich daran etwas ändern wird, wenn er erwachsen ist. In welche Ferne das Politische in der Romanwelt von Brumme gerückt ist, zeigt sich am Verhältnis zur Teilung Deutschlands. Jakobs Freundin Gesine war schon lange in den Westen geflüchtet, seine Mutter seit kurzem, und Jakob besucht sie beide kurz vor seinem Tod. Er entzieht sich auch im Westen und entscheidet sich fürs Fremdsein. Gesine berichtet, dass er sich das westliche Hotelpersonal vom Leibe hielt, „indem er sich einfach auf nichts einliess, indem er sich nämlich nicht «benahm» (…) Wirklich war sein Kopfschütteln so verlegen um Verständnis (…), dass er einem doch ganz fremd vorkommen konnte: befremdet.“ Jakob tut etwas, was keiner versteht: Er fährt zurück in den Staat, der ihn sich an die Brust nehmen will. No erlebt die Grenze nicht als eine politische Tatsache, sondern als eine aufregende Gefahrenzone, einen Tabubereich, den man nicht betreten darf. No wächst im Grenzgebiet auf, und er weiss wie alle Kinder, dass man einen Grenzverletzer anzeigen muss, und einmal geschieht es, dass Vater und Sohn auf einer Wanderung verhaftet werden. Nachts träumt No oft davon, wie er die Grenze zu überwinden versucht, es gelingt ihm aber nicht. Auch hier haben wir es mit einer Übersetzung des Politischen ins Private zu tun: Die Welt, die No im Traum verlassen möchte, ist nicht der Staat DDR, sondern das Gefängnis seiner Familie. „Jedem sein eigener Blutkreislauf“, konnte Jakob sagen. Er war fremd, aber er war sich nicht selber fremd, so dürfen wir mutmaßen. Nach allen Berichten ruhte er in sich selbst, bis zur Eigenschaftslosigkeit. Er entzog sich jedem, der ihm zu 187 Sieglinde Geisel nahe trat, und wir erfahren bereits auf der ersten Seite, dass er sich endgültig allen Zumutungen entzogen hatte – ob sein Tod auf den Gleisen nun ein Unfall oder Selbstmord war. Nos Seele dagegen hat keinen eigenen Blutkreislauf, er ist seinem Vater auf eine andere, viel intimere Art ausgeliefert. No hat ein ambivalentes Verhältnis zu seinem Vater: Er fürchtet ihn, und er bewundert ihn. Je tiefer die Ambivalenz, desto stärker die Bindung, so lautet eine Erkenntnis der Psychologie. In der Familie gibt es für ein Kind keinen Rückzug, es kann sich nicht abgrenzen. Die Fremdheit richtet sich deshalb auch nach innen. Wie sein Name es andeutet, ist er ein Kind ohne Eigenschaften – das heisst, die Eigenschaften, die er hat, sind eine Reaktion auf seine Lebensumstände: No ist verschlagen, verlegen und verträumt. No ruht nicht in sich selbst, er ist nervös, und er ist stolz darauf, nervös zu sein. „Als Nervöser würde er vielleicht an den Südpol mitgenommen werden, da wollte er schon lange hin.“ No kann sich nicht in sich selbst zurückziehen wie der unnahbare, breite Jakob mit dem schweren Kopf. Er erprobt kleine Fluchten: In Phantasiewelten, in Bücher, ins Schachspiel, wenn er sich vorstellt, er sei ein Springer. Am Ende des Romans tut No das, was Jakob nie eingefallen wäre: „Verrücktspielen“. No entzieht sich durch scheinheiligen Übergehorsam, durch Ironie. Der Schluss des Romans ist, so ein Hinweis des Autors selbst, wie ein Scherzo in der Oper: Die Konflikte werden noch einmal durchgespielt, aber im Scherz. No tut naiv, „als wär er neu hier“, wie sein Vater es formuliert. Ästhetik Wie erzählen die beiden Autoren ihre Geschichte? Wie setzen sie die Fremdheit ihrer Hauptfigur um? Beide Romane haben nichts von dem, was man als Handlung bezeichnen könnte. Vorkommnisse werden geschildert, Zustände, kleine Geschichten, Erinnerungen, man „hört“ Gespräche (und Selbstgespräche). Der Zeitraum von „Mutmassungen über Jakob“ umfasst die letzten Wochen in Jakobs Leben, allerdings im Rückblick und durchsetzt mit Erinnerungen an frühere Zeiten. Der Roman „Nichts als das“ beginnt, als No lesen lernt und endet, als No alt genug ist, das Beil gegen seinen Vater zu erheben. Gleichzeitig erkennt No auch die eigentliche Bedeutung des Worts Elend – er ist fähig, über die Sprache und damit über seine eigene Lage zu reflektieren. 188 Johnson und Brumme – zwei Autoren, die vieles trennt, und die vieles verbindet In beiden Romanen bleibt der Leser als Beobachter außerhalb der Geschichte. Es sind „kalte“ Erzählungen, allerdings entsteht die Kälte jeweils durch sehr verschiedene Mittel. Bei Johnson verhindert die komplizierte Struktur, dass man sich beim Lesen gehen lässt. Man muss sozusagen „Buch führen“ über die einzelnen Ebenen, nicht immer weiss man zweifelsfrei, wer spricht. Auch die Sprache ist kompliziert, manchmal scheint es, als sollten die Worte den Leser auf Distanz halten. Bei Brumme ist es genau das Gegenteil. Man kann das Buch in einem Zug lesen und dem Text ohne Schwierigkeiten folgen, auch die Sprache ist einfach, bis hin zu elementarsten Stilmitteln (wie etwa der Wiederholung). Hier sind es die fehlenden Worte, die Distanz schaffen, wie etwa in der Küchenszene: „Sein Vater klopfte gegen die Scheibe, und da wusste No, dass sein Vater in die Küche guckte, und meist wusste er auch, was er gerade falsch gemacht hatte. Er stellte das ab, was er gerade falsch gemacht hatte, so hieß das: Stell das ab! Das tat er ganz von allein, da brauchte sein Vater nichts zu sagen. Manchmal klopfte sein Vater nicht gegen die Scheibe, sondern riss die Küchentür auf, stand plötzlich in der Küche, und dann setzte es was. Dann war es zu spät, was abzustellen. Danach war Ruhe.“ Hier tut sich ein Abgrund auf, weil der Autor die Katastrophe zu verschweigen weiß. Auf den ersten Blick kommt der Text so zutraulich daher – und dann diese Abgründe des Nicht-Gesagten. Sie sind es, die dem Text seine Bedrohlichkeit verleihen. Auch der Roman „Mutmassungen über Jakob“ ist von Bedrohung durchdrungen. Johnson jedoch schafft die Atmosphäre der Unbehaustheit und des Unheils mit Worten, mit der Beschreibung von Dunkelheit und Kälte: „an der Haltestelle der Strassenbahn standen Menschen unbehaglich in der windigen Feuchte vor den berussten öden Mauern in der Dämmerung“ – derartige Beschreibungen durchziehen den Roman, selbst dann wenn doch einmal die Sonne scheint: „Als am frühen Vormittag der Himmel sich senkte unter dem Weiss und die stille Feuchte den kälter strahlenden Spalt Sonnenschein stetig auffrass“. Das Wichtigste jedoch: Sowohl Jakob Abs als auch No sind Figuren, die keine Einfühlung zulassen. Sie bleiben uns beim Lesen fremd. Die Erzählperspektive ist dafür ganz entscheidend – aber jeweils auf eine andere Art. Über Jakob Abs erfahren wir nur aus der wechselnden Perspektive der Erinnerungen, aus 189 Sieglinde Geisel Gesprächsfetzen. Wir erfahren, was andere über ihn denken oder genauer, was sie mutmaßen, denn schon sie, unsere Gewährsleute, waren ihm fremd, sie können sich nicht in ihn hinein versetzen, sie sehen ihn in ihrer Erinnerung nur von außen. Von No erfahren wir viel mehr als von Jakob (zum Beispiel die Träume – es würde der Perspektive bei Johnson widersprechen, uns an Jakobs Träumen teilhaben zu lassen). Nos Geschichte wird nicht in der IchForm erzählt, und doch ist es, als sei No selbst der Erzähler. Er spricht von sich selbst in der dritten Person – die gespenstische Erzählperspektive von einem, der sich selber fremd ist. Die Geschichte von No – also der private Konflikt – erscheint uns auf den ersten Blick brutaler, verhängnisvoller. Und doch stimmt das vielleicht nicht, denn sie endet nicht mit dem Tod, wie die politische Version bei Jakob. No kann der Autorität seines Vaters entkommen, schlicht indem er älter wird. Die Hand des Vaters ist nicht „über ihm zu allen Zeiten“, wie bei Jakob die Hand des Staats, der von seinem Bürger geliebt werden wollte. 190 Jana Hensel Das Land, in dem ich war. Zur Konstruktion von Kindheit in Texten junger ostdeutscher Autoren nach 19891 Für Denis Scheck Sehr geehrte Damen und Herren, ich hoffe, Sie erlauben mir bitte, Ihnen gleich zu Anfang eine Frage zu stellen, ohne mich für indiskret zu halten: Haben Sie sich während der Lektüre der „Jahrestage“ eigentlich gefragt, auf welcher Seite Sie stehen? Haben Sie dieser Gesine Cresspahl aus Jerichow bei ihren endlosen Monologen über ein Land, in dem sie schon lange nicht mehr war und über Menschen, die schon lange nicht mehr lebten, nicht auch mit einer Mischung aus Faszination und Neid, aber insgeheim doch misstrauisch von der Seite zugesehen? Und haben Sie dieser altklugen Marie unbeschwertere Kindertage ohne ständige Diskussionen über amerikanische Waffenlieferungen und den Vietnamkrieg gewünscht und die strenge Erziehung für eine ziemliche Übertreibung gehalten? Eine Übertreibung vor allem dann, wenn so ein Mann wie Professor Erichson, mit in Dokumenten einsehbarer und damit verbuchter Herkunft aus Wendisch-Burg, in den besten Jahren, mit einem Einkommen, das ausreicht für drei und einem gefestigten Standing in der New Yorker Gesellschaft, wenn so ein Mann also um ihre Hand anhielte, Sie aber wie Gesine verneinen und auf einen Toten verweisen müßten: „Wenn ich mich auf einen Menschen einlasse, könnte sein Tod mich schmerzen. Ich will diesen Schmerz nicht noch einmal.“ Oder halten Sie es eher mit D.E.? Bewundern Sie ihn für seine kühle Unterspanntheit, die selbst diesen mißglückten Heiratsantrag noch zu einer schönen Frage werden läßt: „Wenn wir einander eines Tages träfen, vielleicht sollten wir dann zusammen sein.“ Die Sache mit der Hochzeit ist eine der wenigen, die offen bleiben wird für ihn, denn die kann er nicht allein entscheiden. Al- Jana Hensel les andere hat er geklärt für sich, und es stört ihn nicht, daß er, vor vierzehn Jahren nun schon, sein Heimatland verlassen hat. Die Sache Sozialismus hält er für eine, über die sich diskutieren läßt, „eine theoretische Übung, das Spiel mit einer nicht verfügbaren Alternative, davon die Wurzeln sind nicht biographisch“ Seine Erinnerungen liegen in einem Archiv, Personen sind dort wie Städte geführt. „Er hat sie umgesetzt in Wissen“ und zu Todesfällen gemacht. Mit denen lebt man nicht mehr. Die Ereignisse gleichen sich: In diesem Herbst nun ist es zwölf Jahre her, daß wir die DDR verlassen haben, und auch wenn wir nicht in New York leben, sondern noch immer auf demselben Boden stehen, müssen wir uns erinnernd einen Weg zu den Orten bahnen, an denen wir gelebt und zu den Menschen, die wir gekannt haben, denn die wenigsten von ihnen leben noch. Zwölf Jahre sind eine lange Zeit. Vor allem dann, wenn man damals erst fünfzehn, sechzehn oder achtzehn war und etwas verschwand, von dem man noch gar nicht wußte, ob man für oder gegen es sein sollte und dass es das Land war, das man als seine Heimat anzunehmen nie bezweifelt hätte. Wie Gesine und D.E. müssen wir uns wieder entscheiden, ob wir die DDR zu einem Wendisch-Burg werden lassen, das wir nur dem Namen nach kennen und das wir allenfalls noch auf der Landkarte finden würden. Oder ob wir ein Jerichow wollen, da kennen wir die Menschen, da sind wir oft durch die Straßen gelaufen und da wissen wir, wer die braunen, weißen und roten Fahnen aus den Fenstern gehängt hat. Und plötzlich, nach diesen zwölf Jahren, nimmt man mit Erstaunen zur Kenntnis, dass die DDR-Literatur, die man kurz nach dem Ende des kleineren deutschen Staates flugs zu Grabe getragen hat, so etwas wie eine kleine Stiefschwester – vielleicht mit derselben Mutter und einem anderen Vater? – bekommen hat. Julia Schoch, Antje Strubel, Falko Hennig und Jochen Schmidt sind dabei nicht die Enkel von Christa Wolf und Hermann Kant. In die Schule des sozialistischen Realismus haben sie nur kurz hineingeschaut und sich dafür länger in den Universitäten von Paris und Moskau, New York und Bukarest herumgetrieben. Sie haben Vladimir Sorokin, Michel Houellebecq, Bret Easton Ellis und Durs Grünbein mehr gelesen als Elke Erb oder Uwe Kolbe. In den letzten beiden Jahren nun sind ihre Bücher erschienen, und sie erzählen überraschenderweise alle von der DDR. Überraschend wenn man bedenkt, 192 Das Land, in dem ich war. Zur Konstruktion von Kindheit … dass diese Autoren im Schnitt zehn Jahre jünger sind als Grünbein oder Ingo Schulze, und während sich zumindest der erst Genannte längst neuen Themen zuwendet, diese Autoren über etwas schreiben, über das sie, als die Wende sie einholte, als literarisches Material ebenso wenig sicher verfügten wie über eine kenntnisreiche kulturelle Identität. Sie sind vielmehr alle in einem Land aufgewachsen, das für sie frühzeitig aufhörte zu existieren und dessen Verschwinden eine Zäsur in ihrem Leben markierte, die das Ende der Kindheit oder der Jugend bedeutete und über das sie nicht selbst entschieden haben. Die Unfreiwilligkeit dieses Bruches hat nicht nur individuelle Entwicklungsprozesse unterbrochen oder abrupt beendet, sondern sie hat auch, nicht von heute auf morgen, aber doch schneller als irgend etwas sonst, die vertraute Welt zerschlagen und alle Dinge, Alltagsgegenstände, ideologische Sinnstrategien und private Konstellationen verschwinden oder empfindlich zu einer Veränderung drängen lassen. Jochen Schmidt beschreibt das, wenn er seinen Held sagen läßt, dass man „keine Chance hat, es richtig zu machen, weil das eigene Leben nur noch ein Aufguß des wirklichen Lebens ist, das man früher einmal zu leben vorgehabt hatte.“ Oder Antje Strubel, die in ihrem zweiten Roman „Unter Schnee“ der ostdeutschen Protagonistin in den Mund legt: „Die einzige Verantwortung, die nicht illusorisch ist, ist die für sich selbst. Was sollte es sonst bedeuten, dass man vor ein paar Jahren verantwortlich war für Dinge, die es heute nicht mehr gibt?“ Diese Autoren begeben sich nun, zehn Jahre danach und in der Mitte ihrer Jugend angekommen, auf die Suche nach dem, was ihre Geschichte hätte sein können und bemerken, je näher sie sich an die Vitrinen ihrer Kindheit beugen, desto weiter entfernen sich die Dinge, die unter dem Glas wie Tote liegen, von ihnen und entschwinden ihrem Blick. Die junge ostdeutsche Literatur ist eine Herkunftsliteratur, die sich nicht lange der naiven Hoffnung hingegeben hat, eine verlorene oder beschädigte Identität wieder zu einem neuen Ganzen zusammenzusetzen, sondern die, wie aller Realismus, erzählen will, wie es gewesen sein könnte. Es ist eine Literatur der Mutmaßungen, Rekonstruktionen, Projektionen und Inszenierungen. Und so verwundert es wenig, dass Antje Strubel in ihrem dritten, noch unfertigen Roman mit dem Arbeitstitel „Tupolew 34“ gleich zu Beginn klar macht: „Glauben Sie nicht, dass ich mir das ausgedacht habe. Glauben sie noch weniger, dass es so passiert ist.“ 193 Jana Hensel Und dass die ebenfalls 974 geborene Julia Schoch, die soeben mit dem Band „Der Körper des Salamanders“ debütierte, in der ersten Zeile der Erzählung „Der Exot“ gesteht: „Lassen sie mich ehrlich sein: Ich bin unaufrichtig.“ Sie schildert die Reise einer jungen Journalistin an den Ort ihrer Kindheit: „Wie das Photo im Hauseingang hatte ich auch diese Fahrt geplant … Ich hatte auch für die nötige Atmosphäre sorgen wollen, wie sie sich für solch eine Fahrt in meinen Augen gehörte. Aber nun kam ich zurück und mußte feststellen, daß Romantik sich nicht recht einstellen wollte, obwohl ich sie doch inszeniert hatte. Denn ich hatte extra den Weg über die Dörfer genommen, die Dörfer mit dem Katzenkopfpflaster, um mich einzustimmen, über Liepgarten, Ferdinandshof und Torgelow Holl war ich gekommen, da, wo früher die Wiesen trockengelegt worden waren, freiwillig und ohne Lohn, als achtes Weltwunder, damit es vorwärtsging, und wo jetzt Schilder blinkten von kleinen Handwerksbetrieben, Tankstellen und Reiterhöfen. Die Huckelsteine waren noch da, auch die schöne Alleenkurve, durch die ich zurückkam wie in eine Heimat…“ Diese Mutmaßungen und Inszenierungen kann man nun für altbekannte Fiktionalisierungssignale eines Erzähler-Ichs halten, die eine Handlung vom realen Autor distanzieren sollen, und das sind sie sicherlich auch. Möglich schiene es mir hier aber auch, an Roland Barthes und an seinen Begriff der vraisemblance zu erinnern. Da die Historie in den Vitrinen verschwunden ist, rekonstruieren diese Autoren ihre Geschichte als das Wahrscheinliche, als das wahr Scheinende, die dann als einzig anzunehmende Wirklichkeit eine tatsächlich passierte Biographie ersetzt und somit den Begriff der Fiktion vollständig auflöst. Barthes schafft damit einen Begriff des Authentischen, der wahrhaftig ist und dennoch falsch schillert und den Jochen Schmidt in einem Interview mit den Worten bestätigt: „Seltsamerweise entgleitet einem das Thema. Ich weiß gar nicht mehr genau, was damals war, obwohl ich es achtzehn Jahre erlebt habe.“ Aber weil hier das Leben auf die Kunst trifft und diese Autoren eine ganz reale Verlusterfahrung ästhetisch auszubeuten versuchen, ringt die junge ostdeutsche Literatur um einen Begriff von Authentizität, der wieder wahrhaftig genommen werden darf und der im Kleid eines sich ernst nehmenden Realismus auftritt. Ihre literarischen Suchgänge in das letzte Jahrzehnt des verschollenen Staates setzen sich dabei einerseits zusammen aus den individuellen Rekonstruktionsversuchen der Autoren und werden andererseits determiniert von den Realitätserwartungen eines Publikums, das sich in 194 Das Land, in dem ich war. Zur Konstruktion von Kindheit … zehn Jahren eines wiedervereinigten Deutschlands sein eigenes Bild von der DDR gemacht hat. Authentizität und Herkunft werden dabei zu zwei Dingen, die sich nur scheinbar berühren. Wie sehr das Authentische als farbig schillernde Wahrheit angestrebt wird, zeigt Julia Schoch in der bereits erwähnten Erzählung „Der Exot“. Noch auf der Reise in das Dorf, aus dem die junge Frau stammt, hallen in ihr die Worte des Chefs nach: „‚Schreiben Sie‘ hatte der Redakteur gesagt. ‚Aufrichtige Geschichten brauchen wir. Authentizität. Sie mit dem Bruch im Leben, Sie werden ja wohl kein Problem damit haben‘.“ Je mehr die Journalistin jedoch diese Authentizität anstrebt, um so mehr muß sie ihre Herkunft als Biographie neu aufbauen und fiktionalisieren, um sie wieder erzählbar zu machen: „Über allem lag also mein eigener Fingerzeig; die Dinge schon herausgesucht und eingeplant, wie schwer sie wiegen, wie sie mir erscheinen würden, längst gesagt, notiert. Es gab keinen Unterschied zwischen Leben und Plan.“ Unter dieser Maske der Fiktionalisierung soll Herkunft nicht nur neu aufgebaut werden, sondern sie soll gleichsam produziert werden. Es soll ein sozialer Raum für die Generation geschaffen werden, die zwitterhaft lebt mit so etwas wie einer DDR-Identität im westdeutschen Sozialisationsgewand. Es ist dabei keine unwichtige Fußnote, daß alle hier genannten Autoren ihre Bücher in westdeutschen Verlagshäusern publizieren, was Jochen Schmidt mit der Angst begründet, ansonsten „vermutlich gar nicht wahrgenommen“ zu werden. Er bestätigt damit, was längst klar ist: Die neue ostdeutsche Herkunftssuche der heute 25- bis 30jährigen Autoren braucht den westdeutschen Resonanzraum wie die Luft zum Atmen. Die genannte Autorengeneration produziert Herkunft nun auf verschiedene Weise. Falko Hennig und Jochen Schmidt setzen Kindheitsbeschreibungen in das Zentrum ihrer Texte und siedeln ihre Geschichten damit stärker als Julia Schoch und Antje Strubel vor 989 an. Beide betreten ihre Kinderwelt wie ein fremdes Terrarium, sie gehen darin umher wie in einem Museum, nehmen entschwundene Dinge wieder in die Hand und betrachten sie Stück für Stück unverstellt neu. So auch der jugendliche Ich-Erzähler in Falko Hennigs vor zwei Jahren erschienenem Romandebüt „Alles nur geklaut“, der alles einsteckt, was nicht niet- und nagelfest ist. Im Kindergarten ‚Clara Zetkin‘ ist es die Spielzeugeisenbahn, die mitgeht, in der Schule wird das Chemie- und Biovorberei195 Jana Hensel tungszimmer geplündert oder die Delikatabteilung der Kaufhalle wird um ihre Bestände an Nordhäuser Doppelkorn und anderen Genußmitteln gebracht. Das geht so weiter, bis die Kindheit schließlich vorbei ist und die Mauer fällt. Mit einer solchen, im Diebischen höchst affirmativen Gedächtnisfeier des Faktischen fängt Falko Hennig ganz natürlich und wie unter der Hand Leben ein, und ihm ist völlig egal, ob er dabei ideologisch korrekt spricht oder nicht. Die Dinge haben ihren Wert sowieso längst verloren und können nun, erzählerisch als Fetische eines kindlich Klaustrophoben, zu Reliquien einer anderen Welt, einer Kinderwelt, werden. In dieser Kinderwelt existiert kein Unrechtsstaat, es stören keine Menschenrechtsverletzungen, und es liegt keine ideologische Folie über den Ereignissen. Der private Parlandoton dieses Textes, der den Gegenständen und Reliquien geruchsintensiv und sprachlich naiv dicht auf den Fersen ist, baut die alltäglichen Dinge wieder auf, entschlackt sie ideologisch und gibt ihnen ihr Geheimnis wieder. Die treuesten Helfer sind Falko Hennig dabei, wie sollte es anders sein, die Worte. Nur sind es tote Worte wie Milchdienst, Barkas, Mätschis, Gruppenrat oder Trainingslager, Trabant oder Deli, die Funkfeuern gleich den Piloten die Einflugschneise erkennen lassen. Ähnlich verfährt Jochen Schmidt in seinem in den Berliner Seiten der FAZ erschienenen Text „Im Lager der Spezialisten“. Die Fabel der Kurzerzählung – ein Junge muß als Mitglied eines Mathematikerzirkels in ein Ferienlager fahren und wird dort ein französischen Mädchen küssen – gerät zum Teppich einer ebensolchen Erinnerungszelebration wie in Hennigs Roman: „Ich hatte keine Lust, mit dem Russen, dem Zahnlosen und mit noch begabteren als diesen beiden in ein Bungalowlager zu fahren. Aber dann hörte ich, dass im zentralen Pionierlager ‚Kalinin‘, in dem die MSG im Sommer ihr Bezirksspezialistenlager durchführte, auch Franzosen gesehen worden seien. Das war natürlich ein unschlagbarer Anreiz, dem ich mit 4 nicht widerstehen konnte. Auf einer vorbereitenden Elternversammlung wurden die Eltern aufgefordert, den Kindern Materialien für eine im Lager anzufertigende Wandzeitung zum Thema ‚UdSSR-DDR-Raumfahrt‘ mitzugeben. Natürlich begann meine Mutter zu Hause gleich zu wühlen und förderte haufenweise Fanartikel von Sigmund Jähn und Waleri Bykowski zutage. Meine Eltern waren immer Feuer und Flamme, wenn ich etwas basteln sollte. Die meisten meiner jährlichen Exponate in der ‚Galerie der Freundschaft‘ und bei der ‚Messe der Meister von Morgen‘ hatte in Wirklichkeit mein Vater zusammengeklebt.“ 196 Das Land, in dem ich war. Zur Konstruktion von Kindheit … Was daherkommt wie eine postrealsozialistische Alltagssatire, ist ein eng geknüpfter Teppich aus verschwundenen Namen, Institutionen, Kinderhelden und Alltagsgegenständen, der einem Gebet gleich, kollektives Erinnern evozieren will und dafür alle möglich erscheinenden, realsozialistischen Erfahrungen auf die Haut eines als Abgesandter der Generation sprechenden Protagonisten bannt. Hier vollführt Jochen Schmidt den Schulterschluß mit der gleichaltrigen westdeutschen Autorengeneration des Pop. Dieses affirmative Oberflächenparlando darf nun auch für den Osten in seinem besten Sinne populär sein, weil es die Unterkomplexität individueller Erlebnisebenen für ein literarisches Sprechen zumindest legitimiert. Es soll ein warmes, kuscheliges Wir-Gefühl erzeugen, in dem die Erinnerungen des Autors die Erinnerungen des Lesers stimulieren. Und vielleicht mehr noch als in der alten BRD könnten die Erinnerungen des Autors zu den tatsächlichen Erinnerungen des Lesers werden, da wir die Phase des Bekanntmachens mit westdeutscher Wirklichkeit nach zehn Jahren langsam beginnen abzuschließen und nun in eine Phase des Wiedererinnerns an die DDR eintreten und in dieser letzten Dekade viele Erinnerungen verloren gingen. Dieser ideologiefreie Sprechgestus hat dabei nach Jochen Schmidt den Vorteil, „daß man im Osten jetzt bestimmte Themen, die man vorher nicht beachtete, als literaturwürdig erkannt hat. Man war immer nach Westen orientiert, über einen Pioniernachmittag hätte man nicht geschrieben, denn das war graue Wirklichkeit und wird jetzt erst interessant.“ Auch wenn weiterhin natürlich zu fragen bleibt, ob damit die ostdeutsche Vorwenderealität eine ihr adäquate Sprache tatsächlich gefunden hat und ob fürs erste, wie gewöhnlich, der Westen imitiert wird. Erinnerung zelebriert auch Antje Strubel in ihrem in Klagenfurt ausgezeichneten Kapitel aus „Tupolew 34“, wenn sie den bundesdeutschen Geliebten von Katja Siems, genannt Perkoff, wie folgt vorstellt: „Perkoff trägt diesmal einen hellen Anzug und einen Schlips, der ihm nicht steht. Er gehört zu einer vierköpfigen Delegation aus Dortmund, mit der bewiesen ist, daß das kapitalistische Ausland die heimische Produktion keineswegs ignoriert, sondern die internationalen Wirtschaftsbeziehungen entgegen feindlicher Propaganda glänzend florieren. Für die Delegation endet die Führung durch den sozialistischen Produktionsbetrieb mit holländischer Butter, belgischem Käse und einheimischen Export-Sekt.“ 197 Jana Hensel Auch wenn das ein ebenso reich mit toten Worten ornamentiertes Sprechen ist, Pop ist es nicht. Antje Strubel legt diesen DDR-Sound als einen Erinnerungsteppich unter die Geschichte, die sie eigentlich erzählen will, und die will mehr sein als das reine Erinnern. Ihre Protagonistin Katja Siems wird im Laufe des Romans, genauer gesagt am 30. August 978, eine polnische Linienmaschine mithilfe einer Spielzeugpistole zur Landung in Berlin Tempelhof zwingen und sich selbst und einen Kollegen auf den deutschen Boden bringen, der unter amerikanischem Recht steht. Dieses verlangt bekanntermaßen Geschworene, doch die waren nicht erwünscht und so agierte das über Nacht gegründete „United States Judge for Berlin“ in einem rechtsfreien Raum und überhaupt nur für diesen einen Fall. Die Heldin Katja Siems, von der Antje Strubel sagt, sie läge dem Alter nach irgendwo zwischen ihr und ihrer Mutter, wird begleitet von einem allwissenden Erzähler, der einer Stimme aus dem Off ähnlich, die Fäden dieses Romans führt. Es sind Sätze wie „Die Geschichte ist es möglicherweise nicht. Sie läßt sich nicht wahrheitsgetreu erzählen“ oder „Ein verschwundenes Land, wie das, in dem Katja geboren wurde, liegt sehr weit zurück“ die ein um das andere Mal die Anwesenheit einer Gegenwart bescheinigen. Diese Erzählstimme kommt aus dem Heute, aus der Realität des wiedervereinigten Deutschland und stellt ein Verbindungsglied zur DDR her. So wie Gesine in den Gesprächen mit Marie setzt diese die zu erzählende Geschichte zusammen, verleiht den Personen Identitäten und läßt dabei den Autor nicht in den Verdacht geraten, hier Erfahrungen zu benutzen, die als lediglich autobiographische ausgelegt werden könnten, sondern bereitet im Gegenteil alles vor, daß die Fiktionalisierung beginnen kann, Herkunft zu produzieren. Antje Strubel duckt sich dabei unter keinem gesellschaftlichen Diskurs hindurch, wenn sie Sätze schreibt wie: „In den sonnigsten Tagen des Juni 953 schien das Ende einer Welt angebrochen zu sein, die gerade erst begonnen hatte. Aber Siems [der Vater Katjas] sah die Wand über seiner Wohnzimmercouch“ holt sie nicht nur ein medial verbranntes, weil historisches Ereignis unschuldig in den Text, sondern thematisiert ebenso Fragen nach gesellschaftlichem Opportunismus und historischer Schuld. Was dieses auf unterschiedlichen Zeitebenen angelegte Sprechen möglich macht, zeigen die folgenden Sätze: „Ich erinnere mich daran, was mein Vater einmal gesagt hat, wird Katja in der Vorverhandlung sagen. Er sagte, wie schwierig es ist, wenn das eigene Kind plötzlich politisch was in der Hand hat, mit dem es die eigenen Eltern 198 Das Land, in dem ich war. Zur Konstruktion von Kindheit … verurteilen darf “ in denen Ereignisse wie 989 und ein daraus resultierender Generationskonflikt bereits als Hallraum funktionieren, obwohl sie selbst noch gar nicht statthatten. Am 29. November 967 bespricht Gesine zum ersten Mal ein Tonband für Marie, „für wenn ich tot bin“, und sagt: „… ich trau dem nicht was ich weiß, weil es sich nicht immer in meinem Gedächtnis gezeigt hat, dann unverhofft als Einfall auftritt. Vielleicht macht das Gedächtnis aus sich so einen Satz, den Jakob gesagt hat oder vielleicht gesagt hat, gesagt haben kann“ und das Kind wird nicht wissen, wovon die Mutter spricht. Für Marie ist noch unklar, wie viele Biographien sie haben und welche erlebten oder gehörten Geschichten sich für sie vermischen werden zu einem Leben. Ich weiß nicht, ob ich ihr wünschen soll, es möge nur eine sein, dann müßte sie nicht immer fremd sein und könnte alles aus erster Hand erleben. So wie Gesine jedenfalls wird diese hier beschriebene Generation nie erzählen können und so wie D.E. wird sie sich nicht dagegen entscheiden, denn dazu weiß sie zu wenig. Sie wird sich immer zu erinnern versuchen, um so mehr, je stärker sie merkt, daß sie sich nicht mehr erinnern kann. Anmerkungen 1 Bei dem Text handelt es sich um einen Beitrag, der auf dem Kolloquium “Uwe Johnson und die junge Autorengeneration” im Rahmen der Uwe-Johnson-Tage 200 im September 200 in Neubrandenburg gehalten wurde. Die Form des öffentlichen Vortrags wurde beibehalten und auf Anmerkungen verzichtet. 199 Tobias Hülswitt Das alte Rom in seinen Provinzen Die junge deutsche Literatur kam aus dem Westen, im Osten herrschte verschüchterte Stille. Man darf sich nicht verwirren lassen. Zwar existiert in Ostdeutschland, in Leipzig, das Deutsche Literaturinstitut als die avancierteste der ganz wenigen universitären deutschen Ausbildungsstätten für Schriftsteller. Zwar geht von ihm durchaus auch im westlichen Teil Deutschlands wahrgenommene junge Literatur aus. Doch dies bedeutet nicht, daß es eine Literatur junger ostdeutscher Schriftsteller gäbe, die in ihrer Präsenz ein Pendant zum Phänomen junger westdeutscher Literatur bildete. Was kennzeichnet diese junge westdeutsche Literatur? Wieso sind junge ostdeutsche Autorinnen und Autoren so still? Und wie kann eine spezifisch ostdeutsche, junge Literatur aussehen? Die junge Westliteratur ist Jugendliteratur im doppelten Sinne. Auf der einen Seite wird sie von Jugendlichen geschrieben, zu denen ich im Literaturbereich alle Autoren unter 35 zählen möchte, ein Alter, dessen Erreichen lange gleichsam als Passierschein in die Welt der ernstzunehmenden Schriftsteller galt. Auf der anderen Seite handelt sie von jungen Menschen und spiegelt deren oft mühsames und gefährdetes Zurechtkommen in einer komplexen und undurchsichtigen Welt. Dabei entsteht Spannung häufig nicht mehr aus dramaturgisch profihaft gebauten Handlungsverläufen, sondern aus dem Hineinstellen der Helden in Versuchsräume, in denen die Dinge der Welt auf sie treffen, und aus der Frage, wie sie darauf reagieren. Diese Texte erfüllen auf anderem Niveau eine Funktion, die im Bereich des Films für breite Schichten die Daily Soaps ausüben: Sie dienen dem Abgleichen der eigenen Verhaltensweisen an denen der Protagonisten, einem hoch konzentrierten Abhaken, einem Bestätigen oder Durchstreichen. Im Ernst, was haben wir in den letzten fünf Jahren nicht alles gelernt über Ehrmannjoghurt, H&M, Schuhe mit genagelten Sohlen, Hippies in Goa oder den VW Golf? Und ganz gleich, wie ich mich zum neuen Kodex der Dinge und Stile verhalte, ob ich ihn annehme oder ablehne, es ändert nichts daran, daß er in Büchern transportiert wurde, die von hoher künstlerischer Sensibilität und literarischem Potential der Autoren und, in den besten und traurigsten Fällen, Tobias Hülswitt von der Verletztheit junger Leben zeugte. Daß dabei fast durchgehend in der ersten Person erzählt wird, liegt nicht daran, dass die jungen Autoren besonders egozentrisch wären, sondern bedeutet ein begründetes poetologisches Mißtrauen gegenüber dem Größenwahn des auktorialen Erzählers. Die jungen Autoren enthalten sich weitgehend dem ernsthaften literarischen und gesellschaftlichen Diskurs. Sie ducken sich unter ihm hindurch, auf der Suche nach einem unmittelbaren Verhältnis ihrer Texte zum Leben. Wie sehr dabei auch die immer gegebene Medialität von Schrift ignoriert wird und man sich weigert, das Verhältnis von Schrift und Sprache zur Welt theoretisch oder narrativ zu reflektieren – junge Leser danken es den Autoren, sich das Leben und die eigene Jugend endlich nicht mehr ausschließlich von ihren schreibenden Vätern und Müttern erklären lassen zu müssen. Und das Fehlen von Theorie schmerzt sie vermutlich gar nicht. Die eigene westdeutsche oder westberliner Vergangenheit zu beschwören und zu inventarisieren, gehört zu den auffälligsten Merkmalen der neuen Jugendliteratur. Das wirkt harmlos, und vermeintlich war Jungsein im Westdeutschland der Achtziger Jahre konfliktfrei und behütet. Bei seiner literarischen Verarbeitung jedoch tun sich Abgründe auf, ein frappierender Mangel an Werten und Orientierungspunkten tritt zutage. Angesichts der Ernsthaftigkeit dieser Abgründe hat das Argument, mit fünfundzwanzig Jahren könnte niemand etwas Lesenswertes schreiben, da er ja noch nicht erlebt habe, ausgedient. Zumal ein Leben im heutigen Deutschland vermutlich auch nach 70 Jahren nicht die abenteuerliche Biographie hervorbrächte, die eine solche Argumentation fordert. Selbstverständlich wird zurecht über nichts geschrieben, denn was massiv vorhanden war, war eben dies: nichts. Den subtilen Brutalitäten der Wohlstandsgesellschaft ist mit literarischen Actiontheorien wie denen eines Maxim Biller nicht beizukommen. Denn Texte, die literarisch dramatisierten, was nach keinerlei Maßstäben Stoff für Dramatik bietet, würden nicht die Realität abbilden, die wir erlebt haben. Nicht nur die Leser danken es den Autoren, daß sie das Sprechen über die Jugend zu ihrer Sache machen. Auch die Medien haben sie entdeckt. Das bringt Spaß und eine Gefühl der Bestätigung, löst aber auch moralisches Unbehagen aus, selbst unter manchen Lesern gleichen Alters. Paradoxerweise, denn den Reflex der Gleichsetzung von Medien und Bösem haben sie von Schriftstellergenerationen gelernt, deren berühmtesten Vertreter wie Martin Walser, Günter 202 Das alte Rom in seinen Provinzen Grass oder Hans Magnus Enzensberger mit sämtlichen Massenmedien schon lange auf du und du sind. Auf deren Unterstützung bei der Klärung der Frage, inwieweit Medien und Böses nun tatsächlich verwachsen sind, ist also nicht mehr zu bauen, der erlernte Reflex ist unbrauchbar. Daneben läßt die Medienpräsenz der jungen Autoren etliche Literaturinteressierte glauben, sie zu kennen und beurteilen zu können – ohne je eine Zeile von ihnen gelesen zu haben. Worauf sich ihr Urteil gründet, sind Auftritte dieser Autoren in Talkshows (von denen sie gehört haben), Live-Übertragungen von Lesungen (wovon sie gelesen haben), und die Bewerbung dieser Lesungen durch bunte Plakate, deren Sponsoren-Signets sie im literarischen Umfeld unsittlich fanden. Wenn ich nachdenke, fallen mir nur zwei Autorinnen und zwei Autoren ein, die aus Ostdeutschland stammen, jünger als 35 sind und literarische Arbeiten zum Thema Jugend veröffentlicht haben. Da ist zunächst Robby Dannenberg, 974 in Leipzig geboren. In seinem Roman „Gisela“, den er zusammen mit Anke Stelling (97 in Ulm geboren) schrieb, werden zwar weder ostdeutsche Vergangenheit noch Gegenwart explizit geschildert, aber doch eine Stimmung und eine Färbung der Bilder erzeugt, die diese äußerst klug und eindringlich erzählte Liebesgeschichte ohne Zweifel im östlichen Teil Deutschlands verorten lässt. Katrin Askan, geboren 966 in Ostberlin, erzählt in ihrem Roman „Aus dem Schneider“ die letzten Stunden, die eine junge Frau vor ihrer Flucht in den Westen im Haus ihrer Kindheit verbringt. Die Erinnerungen der Heldin reichen dabei mit fiktionalem Zugriff bis in die Zeit ihrer Großeltern zurück. Es ist die deutliche und gekonnt umgesetzte Absicht des Buches, anhand eines Familienschicksals ostdeutsche Zeitgeschichte zu erzählen. Seine Intensität verdankt das Buch unter anderem der Tatsache, daß die Autorin die Lebensumstände in der DDR aus eigener Erfahrung kennt, und es ist kaum vorstellbar, diese von einem westdeutschen Autor ebenso glaubwürdig erzählt zu bekommen. Jenny Erpenbeck, 967 in Ostberlin geboren, schreibt in ihrer „Geschichte vom alten Kind“ nicht im eigentlichen Sinne über Jugend. Vielmehr verwendet sie Jugend als Synonym für Naivität, Unwissenheit und Ausgeliefertsein: „Eben daß es (das alte Kind) unzulänglich ist, und seine Unzulänglichkeit deutlich zu spüren bekommt, ohne jedoch verstehen zu können, was diese Unzulänglichkeit ausmacht, daß es schuld ist, und diese Schuld anerkennt, 203 Tobias Hülswitt ohne jedoch zu erkennen, worin sie besteht, daß es zu spät kommt, und sich dafür entschuldigt, jedoch nie erfährt, wozu es zu spät gekommen ist, all dies macht sein Verhältnis zu ihnen (seinen Klassenkameraden) aus.“ Durch diesen und viele andere Sätze kann die Erzählung als Parabel auf das Ankommen Ostdeutschlands im Westen gelesen werden. Und mit der Parabel, deren Stoßrichtung nicht nachweisbar ist, weil erst der Leser sie stillschweigend ins richtige Verhältnis zur Gegenwart setzt, wird hier eine Form der kritischen Literatur und des kritischen Theaters wiederbelebt, die in der DDR zum Überleben gehörte. Falko Hennig, 969 in Ostberlin geboren, schickt den Helden seines Romans „Alles nur geklaut“ auf einen grandiosen Diebeszug durch die DDR der 70er und 80er Jahre, die Wende- und die Nachwendezeit. Unaufdringlich passiert dabei alles Revue, was diese Zeiten ausgemacht hat, und trotz des großen Witzes, mit dem Falko Hennig hier arbeitet, ist die Ernsthaftigkeit jeder erzählten Situation bedrückend spürbar. Mit seiner Schelmenschläue kommt der Held nach seiner Flucht über die ungarische Grenze auch im Westen bestens zurecht. Aber er ist unentschieden, er vermißt etwas, „und schließlich“, so seine frühe Einsicht, „waren die Leute in der DDR einfach netter als im Westen.“ Und er fragt: „Warum also sollte sich da nicht ein Land machen lassen, das die Vorzüge aller Länder miteinander vereinigte? So frei wie Amerika, so guter Wodka wie in Russland, Autos wie von Mercedes, die Freundlichkeit Asiens, mit der Effizienz Westdeutschlands und das gute Bier der Tschechei, warum sollte es nicht möglich sein, ein solches Land aufzubauen?“ Das Geschehen nach ’89 hat die Frage schnell beantwortet: Weil die Effizienz Westdeutschlands und die Autos wie von Mercedes für alle – bis auf eine verschwindende politische Minderheit – alles waren, was zählte. Die Frage jedoch, weshalb es eine von breiter Öffentlichkeit wahrgenommene junge Literatur aus dem Teil Deutschlands, der ein solches Land hätte werden können, nicht gibt, und ob sie nicht entstehen könnte, ist noch offen. Oder anders gefragt: Warum wurden die genannten Autoren und ihre vielversprechenden Ansätze einer ganz speziellen und spannenden jungen Literatur aus dem Osten nicht mit ähnlicher Aufmerksamkeit aufgenommen wie ihre jungen Westkollegen? Im kommenden Bücherherbst versprechen Namen wie Jochen Schmidt oder Wladimir Kaminer eine Fortsetzung der neuen ostdeutschen Literatur. Und nun werden die großen Feuilletons und Kultursender, deren einflußreichsten immer noch und auf unabsehbare Zeit westdeutsch sind, 204 Das alte Rom in seinen Provinzen beweisen müssen, daß sie diese Literatur im Vergleich zur jungen Westliteratur nicht notorisch minderbeachten. Die bekannten ostdeutschen Autoren Ingo Schulze und Thomas Brussig lasse ich nicht nur deshalb außen vor, weil sie älter als 35 sind, sondern auch, weil die Wende sie einholte, als sie ihre ostdeutsche Biographie, eine bestimmte kulturelle Identität und die intime Kenntnis eines heute verschwundenen Landes als literarisches Material bereits sicher besaßen. Wer, dem mit 25 und jünger die Struktur einer Heimat so absolut abhanden kam, kann das von sich behaupten? Die bisherige relative Stille junger ostdeutscher Autoren im Vergleich zu ihren Westkollegen hat ihren Grund in der gewaltigen Umwälzung, die vor zehn Jahren stattfand. Die jungen Autoren im Osten hatten und haben noch immer alle Hände voll damit zu tun, mit den übergestülpten Wert- oder Antiwertmaßstäben des Westens zurechtzukommen und damit kaum Kräfte frei, sich dem Gewesenen, den Spuren des Verschwundenen oder der ostdeutschen Gegenwart zuzuwenden. Wer sich im Osten über junge deutsche Literatur unterhält, unterhält sich über westdeutsche Literatur: junge Ostdeutsche sind gezwungenermaßen voll und ganz damit beschäftigt, sich westdeutsche Kultur und damit auch ihre Literatur anzueignen. Zum Sprechen über die eigene junge Biographie fehlte lange Zeit ein bestimmter Tonfall, ein Sound oder Code, da die Zeit, in der er hätte entwickelt werden können, gleichsam abgebrochen wurde und er sich erst nun, um einige Jahre verzögert, unter anderem in den Ostberliner Leseshows wie der „Chaussee der Enthusiasten“, der „Reformbühne Heim und Welt“ oder bei den „Surfpoeten“ bildet. Zudem verlangt das Schreiben über sich selbst den jungen ostdeutschen Autoren nicht nur einen Akt einfachen Erinnerns innerhalb eines biographischen Kontinuums ab, wie es bei ihren jungen westdeutschen Kollegen der Fall ist, sondern die Rekonstruktion einer verlorenen Identität – ein schwieriger und aufreibender Prozeß. Wenn er, wie bei Falko Hennig, gelingt, dann oft mit Hilfe eines bestimmten, irgendwo zwischen Schabernack und schwarzem Humor angesiedelten Witzes, der jene Stelle einnimmt, die in der jungen Westliteratur Melancholie und Ironie besetzen. Eine schwer zu nehmende Hürde scheint für viele potentielle Jungautoren des Ostens ein unausgesprochenes Verbot zu sein: ein Verbot, von ihrer Vergangenheit in einem offensichtlich schlechten System zu erzählen oder darüber zu sprechen, wie verdeckt aggressiv und schonungslos ihr Land mit dem schlechten Image von seinem Nachbarland verschluckt worden ist. 205 Tobias Hülswitt Nicht nur erstaunlich, sondern geradezu erschreckend ist dabei, mit welcher Vehemenz die Angleichung an den Westen im Osten selbst betrieben wird, obwohl alle wissen, daß der Westen eine Gesellschaft bildet, die viel dringender als die Reproduktion ihrer von Leistungsdruck und Konkurrenz geprägten Verhältnisse neue soziale Impulse benötigt. Innerhalb dieses Angleichungs- oder auch Auslöschungsprozesses im Osten bildet das bisher weitgehende Fehlen junger genuin ostdeutscher Literatur nur eine kleine, aber aussagekräftige Leerstelle. Aussagekräftig darüber, was hier wie auch im Ganzen fehlt, nämlich ein Bewußtsein von der Art dieser scheinbar friedlichen Okkupation durch den Westen, das selbstbewußte Dagegenhalten des Eigenen und vielleicht sogar eine Art Empörung gegen diesen Westen, der sich im Osten eingerichtet hat wie das alte Rom in seinen Provinzen. 206 Dokumentation zum Uwe-Johnson-Preis 200 Peter Kauffold Von der Pflicht, wieder neu zu entdecken. Festrede des Ministers für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern Im reichen Bestand kleiner und großer Literaturpreise ist es vielleicht selten, ist es eher ungewöhnlich, dass der Preisträger zugleich auch mit dem Menschen, dessen Namen der Preis trägt, bekannt – gar befreundet – war. Es gibt Ausnahmen. „Johnson äußerte Zweifel an der Funktion“ von „Tagungen“; Freundschaften indes können bei solcher Gelegenheit sehr gut entstehen. In Aschaffenburg beispielsweise begann, was lange währen sollte: Johnsons freundschaftliche Verbundenheit mit dem Schriftsteller und Rundfunkautor Jürgen Becker. Jürgen Becker hatte eine Besprechung der „Mutmassungen“ geschrieben, die am 6. September 960 von der Deutschen Welle ausgestrahlt worden war und in der man hören konnte, dieser Roman sei „das Dokument, (…) auf welches man hierzulande die fünfziger Jahre hindurch gewartet hat“. So liest sich die Beschreibung des Beginns der Bekanntschaft und späteren Freundschaft von Jürgen Becker und Uwe Johnson in Bernd Neumanns Johnson-Biographie. Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrter Herr Becker, Sie werden heute mit dem „Uwe-Johnson-Preis“ ausgezeichnet. Ich gratuliere Ihnen dazu herzlich. Sie gingen von West nach Ost, von Ost nach West; und sind angekommen in einem wiedervereinigten Deutschland. Die entscheidende Voraussetzung für Johnsons Werk war die Teilung Deutschlands. Die entscheidende Voraussetzung für Ihren Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ war die deutsche Wiedervereinigung. Der Suhrkamp Verlag kündigte dieses Buch 999 damit an, dass die Wende dem Kölner Schriftsteller Becker den Weg zu diesem Werk geebnet habe. Der Held Ihres Romans macht Peter Kauffold sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Dadurch wird für ihn, für sie, für den Leser, Vergangenheit erlebbar und Gegenwart erklärbar. Der geteilte Himmel hat sich geschlossen. Für Autoren wie Johnson oder Sie, verehrter Herr Becker, war dieser nicht wirklich oder nicht mehr „geteilte Himmel“ Grunderlebnis, um Texte zur Geschichte der Teilung und deutschen Wiedervereinigung zu schreiben. „Aus der Geschichte der Trennungen“ ist ein Roman, von dem man nunmehr meinen könnte, die neunziger Jahre hindurch haben wir gewartet auf ein solches Buch oder Bücher wie dieses Buch der Wiedervereinigung. In den großen Feuilletons wurde lange „hingearbeitet“ auf „das“ Buch der Einheit. Nun liegt Ihr Roman vor, das preiswürdige Zeugnis einer ost-westlichen Existenz. Vierzig Jahre Zweistaatlichkeit, das sind „geteilte Erinnerungen“ mehrerer Generationen in einer gemeinsamen Epoche deutscher Geschichte. In einem Interview haben Sie einmal gesagt, Herr Becker: „Der einzige Autor, der mich von meinen Generationsgenossen interessierte, war Uwe Johnson … Beim Schreiben von ‚Aus der Geschichte der Trennungen‘ kam mir oft Johnson in den Sinn. Ich merkte, wie er ostdeutsche Wirklichkeit beschrieben hat.“ Eine Wirklichkeit, die in der „Geschichte der Trennungen“ aus der Gegenwart reflektiert wird. Und ich in meiner Verantwortung, in meinem Amt empfinde das jeden Tag, wenn ich im Bereich von Bildung zu tun habe. Martin Walser hat Lesungen aus seinem Roman „Die Verteidigung der Kindheit“ mit der Bemerkung begonnen die Ereignisse der Jahre 989/90 hätten dieses Buch „unter der Hand aus einem Gegenwartsroman zu einem historischen Roman gemacht“, denn seit es die Mauer und die DDR nicht mehr gebe, sei das Leben im geteilten Deutschland ein historischer Stoff geworden. Ich finde das stimmt und das stimmt auch wieder nicht. Denn diese Vergangenheit hat Heutiges geprägt und reicht weit bis in unsere Gegenwart hinein, wie in Ihrem Buch, Herr Becker. 210 Festrede Sehr geehrter Herr Becker, ich habe Ihren Roman nicht erst vor allzu langer Zeit gelesen. Die Eindrücke sind noch recht frisch. Betrachten Sie mich selber als einen Teil Ihres geschätzten Publikums. Als solchem steht es mir auch zu, Ihre Jury zu beglückwünschen. Sie sind ein guter Schriftsteller, und Sie sind auch ein wahrhaftiger Autor. Ihre Erzählung begegnet dem Leser als ein lebendiges Kunstwerk. In den verwobenen Kindheitserinnerungen aus Krieg und Nachkrieg findet sich derjenige, wie ich zum Beispiel, der dem etwas näher steht als viele andere und der aufmerksam, ja sensibel, zur Kritik geneigte Hiergebliebene bemerkt, was Sie als Literat wiederentdecken wollten und darin, wie dies geschieht, nicht, was darin befremdet. Sehr verehrte Damen und Herren, der „Uwe-Johnson-Literaturpreis“ wird heute zum fünften Mal verliehen. Zum ersten Mal jedoch verleiht die Mecklenburgische Literaturgesellschaft einen Sonderpreis. Diesen erhalten Christoph Busch und Peter Steinbach für ihr Drehbuch zur Verfilmung von Uwe-Johnsons „Jahrestage“ für die ARD in einer Koproduktion von Eikon Film, WDR und NDR; unterstützt von den Filmförderungen Niedersachsens und Nordrhein-Westfalens. In der Begründung der Jury heißt es unter anderem: „In den entworfenen Filmszenen, Bildern, Dialogen wird mit spezifischen Mitteln sensibel gezeigt, in welcher Weise die Lebensgeschichte eingebunden ist, wie eng letztlich Persönliches und Politisches, Individuelles und Gesellschaftliches zusammenhängen und wie die ‚große Geschichte‘ immer wieder eingreift in das Leben des Einzelnen. Mit dem Drehbuch und der darauf aufbauenden Verfilmung ist es gelungen, Uwe Johnsons Werk und die darin enthaltenen Fragen einem großen Publikum sehr überzeugend nahe zu bringen und zu zeigen, auf welche Weise im Medium Film Stoffe von historischem Format eine eindrucksvolle Gestaltung finden.“ Um letztendlich solch ehrende Worte über diesen Film sagen zu können, hat es großer Anstrengungen bedurft und viel Kraft gekostet, die Finanzierung zu sichern und die richtigen Drehorte zu finden und gerade bei diesem Film spielten Originalschauplätze keine unwesentliche Rolle, wenn man bedenkt, wie akribisch genau gerade dieser Autor auf die richtige Beschreibung von Details in seinen Texten achtete. 211 Peter Kauffold Dass gerade bei diesem Film im Bereich der Außendrehorte für Mecklenburg-Vorpommern nicht alle Wünsche in Erfüllung gingen, ist einmal mehr Ansporn für die Landesregierung, Rahmenbedingungen zu schaffen, die auch im Filmbereich das Land Mecklenburg-Vorpommern zu einem ebenbürtigen Partner machen. Meine Damen und Herren, in meiner Amtszeit als Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur habe ich dazu beitragen können, dass die Ressourcen für Kunst und Kultur im Landeshaushalt stabilisiert wurden. Dass in den vergangenen Jahren Entwicklungen zu verzeichnen sind, die immer wieder den Ruf nach mehr Geld ertönen lassen, ist ganz normal. Dass aber auch ein Denkprozess in Gang gekommen ist, der nach anderen Finanzierungsmodellen von Kunst und Kultur Ausschau hält, erfüllt mich mit Freude. Die Mecklenburgische Literaturgesellschaft im Verein mit dem Nordkurier ist meines Erachtens eine außerordentlich gelungene Symbiose von Kultur und Wirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern bezüglich der Förderung herausragender künstlerischer Leistungen. Und dafür möchte ich auch Ihnen meinen herzlichen Dank aussprechen. Mecklenburg-Vorpommern ist reich an kulturellem Erbe. Größen wie Caspar David Friedrich, Hans Fallada, Ernst Barlach, Gerhart Hauptmann oder eben Uwe Johnson sind im breiten öffentlichen Bewußtsein. Spätestens seit der Oscar-Verleihung 994 für den besten Kurzfilm „Schwarzfahrer“, gefördert von der Kulturellen Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern, ist bekannt, dass Mecklenburg-Vorpommern auch in diesem Bereich keine Nebenrolle mehr spielen möchte. Neben dem schon erwähnten Engagement der Wirtschaft für die Kultur möchte ich die seit drei Jahren verstärkte Bundeskulturförderung für unser Land ergänzt durch Mittel aus dem Lande nicht unerwähnt lassen. Sichtbare Zeichen dafür sind gerade hier in Neubrandenburg der Umbau der Marienkirche, die Erweiterung des Kinos „Latücht“ oder die Sanierung des Fallada-Hauses in Carwitz. 212 Festrede Meine Damen und Herren, Uwe Johnson hat seine Erzählweise als Versuch beschrieben, eine Wirklichkeit, die vergangen ist, wieder herzustellen. Vier Monate vor seinem Tod hat er in einem Interview im WDR im Oktober 983 über den Roman „Jahrestage“ gesagt, er ist erzählt für jedermann der zuhören will mit der Bereitschaft zu erwägen, ob es so gewesen sein könnte in der Vergangenheit. Ich komme noch einmal auf Sie zurück, sehr geehrter Herr Becker: Die Biographien deutscher Menschen sind ebenso unterschiedlich wie die Stationen ihres Lebens und Wirkens. Ihnen wurde es möglich, Landschaften, Orte und Schicksale wieder zu entdecken und im Strom des Lebens zu verknüpfen, zusammenzuführen. Die Mehrzahl der Deutschen, die jetzt leben, kann nicht wiederentdecken, sie hat aber die Möglichkeit, die Pflicht, wieder neu zu entdecken. Möge Ihr Roman dabei viele als Reisebegleiter begleiten und mögen die Uwe-Johnson-Tage für die Literaten selber und ihr Publikum dasselbe auch in Zukunft leisten. Ich danke Ihnen. 213 Walter Hinck Erinnerungen haften an den Landschaften. Laudatio auf Jürgen Becker Wer um 970 gefragt worden wäre, was den Schriftstellern Jürgen Becker und Uwe Johnson gemeinsam ist, wäre wohl in Erklärungsnot geraten. Autoren zwar desselben Verlags, aber im breiten Suhrkamp-Spektrum doch eher Antipoden. Jürgen Becker ist im Jahre 200 Träger des Uwe-Johnson-Preises – da muss in den Zwischenjahrzehnten einiges geschehen sein. Beim Berliner Kritiker-Colloquium 963 wendet sich der einunddreißigjährige Kölner Autor „Gegen die Erhaltung des literarischen Status quo“, nennt das „Geschichtenerzählen“ anachronistisch, erkennt den überlieferten Roman nicht mehr als repräsentative literarische Gattung für die derzeitige Gesellschaft und Wirklichkeit an: „Erst jenseits des Romans findet das Schreiben den Sinn des Authentischen.“ Zu den Werken, in denen das Versagen der erzählerischen Muster zum Thema wird, rechnet er auch „Das dritte Buch über Achim“. Jürgen Becker beruft sich also bei seiner Attacke gegen den Roman auf den Romanautor Uwe Johnson. Das lässt auf Gemeinsamkeit schließen, hat aber zunächst keine fassbaren Folgen. In seinen Büchern „Felder“ (964) und „Ränder“ (968) geht Becker mit Sprach- und Formexperimenten in Klausur, nimmt zwar ein paar Lektionen bei Helmut Heissenbüttel, findet aber rasch zu eigenen Formen der sprachlichen Wiedergabe von Wahrnehmungen und Bewusstseinsvorgängen. Bei seinen weiteren Prosatexten vermeidet er die Gattungsbezeichnung. Erst den Band „Der fehlende Rest“ von 997 bezeichnet er als „Erzählung“, und schließlich beim preisgekrönten Buch von 999 „Aus der Geschichte der Trennungen“ fällt das jahrzehntelange Tabu. Der Erzähler Becker fasst das heiße Eisen an, das heikle Wort „Roman“. Es gibt in Brechts „Geschichten vom Herrn Keuner“ eine, die fast sprichwörtlich geworden ist. „Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ,Sie haben sich gar nicht verändert.‘ ,Oh!‘ sagte Herr K. und erbleichte.“ Jürgen Becker braucht nicht zu erbleichen. Walter Hinck Die Entwicklung vom Romanverächter des Jahres 963 zum Romanautor des Jahres 999 war möglich, weil sich Becker nie an Dogmen klammerte und immer für neue Wirklichkeitserfahrungen und neue künstlerische Ausdrucksformen offen hielt. Man könnte, der heutigen Ehrung zu Gefallen, von Jürgen Beckers Weg zu Uwe Johnson sprechen. Doch würde solche Vereinfachung dem eigengesetzlichen Gang der Veränderungen in Beckers Werk nicht gerecht. Wohl aber kommt eine Annäherung zustande, weil das Verständnis Beckers für Johnsons Romankunst wächst. Erst beim Schreiben des eigenen Romans habe er, so Becker, Johnsons „Mutmassungen über Jakob“ richtig erfasst. Wer oder was aber vermittelt diese neue Art der Begegnung? Es ist das Gebanntsein von der Geschichte, der Antrieb, die erlebte Geschichte im Deutschland der Kindheit und im getrennten Deutschland zu erinnern und erzählerisch in die Gegenwart zu holen. Entscheidendes ereignet sich im zwei Jahre nach den „Rändern“ erschienenen Prosaband „Umgebungen“ (970). Erzählerische Ansätze früherer Arbeiten verdichten sich. Die Wahrnehmung und Beobachtung der Lebensumwelt, eben der „Umgebungen“, verfestigt sich zu kleinen Skizzen, zu Ausflügen in die Landschaft und ins „Reich der Gewohnheiten“; Becker wendet sich den „Erinnerungsobjekten“, der „erzählbaren Welt von Gestern“ zu. Eine dieser Skizzen ist „Wahner Heide“ überschrieben. Vom Flughafenkreuz geht der Blick ins Historische, zu den blutigen Zwisten um das Gebiet seit dem 5. Jahrhundert, zur preußischen Annexion und zur Gründung des Truppenübungsplatzes „Wahner Heide“ im Jahre 87. Mit der Landung des Zeppelins im Jahre 930 und mit der Eröffnung des Feldflughafens gewinnt der historische Bericht wieder Anschluss ans Heute, an die Wirklichkeit des internationalen Airports. Was hier in „Umgebungen“ noch ein wenig dem Geschichtsunterricht gleicht, befreit sich zur epischen Poesie in einem Buch von 98. Jetzt auch gibt der Titel schon ein deutliches Signal: „Erzählen bis Ostende“. Vorausgegangen ist allerdings ein Scheideprozess. Von der offenen, gattungsneutralen Schreibweise ist Becker zu geschlosseneren Formen übergegangen, die wieder den Stempel literarischer Gattungstrennung tragen. Er selbst kennzeichnet diesen Vorgang als „Entflechtung“. Und es sind vor allem die lyrischen Elemente, die zu Anfang der siebziger Jahre zur Verselbstständigung drängen. Spätestens mit dem Gedichtband „Das Ende der Landschaftsmalerei“ (974) ist Becker zu einem der sprachmächtigsten deutschen Lyriker der Gegenwart geworden. Melancholisch wird die Zerstörung der Natur wahrgenommen, 216 Laudatio doch halten sich die Gedichte von wohlfeilen Kassandrarufen fern: Die Zeit der „heilen“ Natur ist vorbei, doch kann Besonnenheit auch die Silhouetten der Technik ins Bild der Landschaft einbetten. Gedichtbände wie „Erzähl mir nichts vom Krieg“ (977) und „In der verbleibenden Zeit“ (979) bringen Beckers Annäherung an die Geschichte, und wenn man so will, an Uwe Johnson voran. Die gerade in der Lyrik mögliche subjektive Bestimmtheit von Wahrnehmungen, Erinnerungen und Reflexionen wird konkret in einer Selbsterkundung, die natürlicherweise in die Vergangenheit und damit auch in die Tiefe der Geschichte führt. Denn auch das Ich-Bewusstsein hat bei Becker seinen Ort nicht jenseits, sondern innerhalb des Sozialen und Historischen. Signalwirkung kommt dem Titel des Gedichtbandes von 993 zu: „Foxtrott im Erfurter Stadion“. Schon in früheren Texten blitzten Erinnerungsreflexe aus einer bestimmten Lebensperiode auf. Im Jahr 939 übersiedelte der Siebenjährige mit seinen Eltern von Köln nach Erfurt, und erst 947 kehrte er nach Westdeutschland zurück. Wichtige Kindheits- und Jugendjahre verbrachte er also in Thüringen. Die Gedichte des Bandes von 993 führen nicht nur in die Thüringer Zeit zurück; der Film im Kopf sammelt Momentbilder aus der gesamten Lebenszeit, blendet sie ineinander. Aber gerade die Sequenzen aus den Thüringer Tagen lassen den Zurückschauenden nicht los. Eine besonders: „Schlagbäume/ über den Dorfweg; Schneisen durch Harz und Thüringer/ Wald mit Hochständen, Feldstechern, Fahrradpatrouillen;/ bald fielen die ersten Schüsse; die beiden Särge/ holten wir auf dem offenen Lastwagen heim. Eine nie// erzählte Geschichte“ In seinem Roman von 999 wird Becker diese Geschichte genauer erzählen, die Geschichte eines tödlichen Versuchs, über die Zonengrenze zu entkommen. Doch hatte Becker schon 988 die Leser mit einem Buchtitel verblüfft: „Das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“. Er wählte den Titel zu einer Zeit, da das Wort „Wiedervereinigung“ zwar zu den Parolen westdeutscher Festansprachen gehörte, aber mit keiner ehrlichen Erwartung mehr verbunden war. Auch Becker gedachte sich hier nicht als politischer Prophet zu gebärden. Das Gedicht ist über weite Teile Landschaftselegie mit melancholischem Blick auf jene Zeit, „als der Himmel/ sich teilte“ eine Anspielung auf Christa Wolfs bekannte, auch verfilmte Erzählung „Der geteilte Himmel“. Aber es protestiert zugleich gegen diesen historischen Willkürakt: „Wie vorläufig,/ oder endgültig, ist die Trennung der Regionen, die/ von toten Männern vollzogen ist und die 217 Walter Hinck eine Kindheit/ zerschnitten hat“. Es ist ein Protest im Namen des Ich, eines Ich allerdings, das für viele andere steht. „Es kommt auf die Nähe zu unseren Landschaften an, die so wichtig für die Arbeiten im Gedächtnis sind.“ Die Erinnerungen haften an den Landschaften, sie verknüpfen Landschaften, und insofern vereinigen sie Landschaften (wieder). In dieser poetischen Wiedervereinigung der Landschaften zeigte sich tatsächlich etwas vom „Vorschein“ dessen – „Vorschein“ im Sinne von Ernst Bloch –, was die Geschichte einlösen sollte. „Das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ ist ein Langgedicht, es nimmt den ganzen Raum des Buches ein und stößt an jene Grenze, wo Lyrik schon in Epik übergeht. So bildet es eine Brücke zu dem 997 erschienenen Buch „Der fehlende Rest“, das nun so ausdrücklich als Erzählung deklariert wird. Damit betritt Becker das Terrain des Erzählers Uwe Johnson. Und man möchte nicht an Zufall glauben, wenn ausgerechnet hier Beckers Erinnerungen Fuß fassen in der mecklenburgisch-pommerschen Heimatlandschaft Johnsons, genauer auf der Insel Rügen. Zum ersten Mal tritt hier die Instanz eines Erzählers hervor, und zwar in doppelter Gestalt: als zuhörender, Erzähltes mitteilender Nacherzähler und als erzählender Erzähler. In diesem, dem Fotografen Jörn, erkennt der Kenner der Texte Beckers rasch die Konturen von Beckers autobiografischem Ich wieder. Da ist ein Fachwerkhaus im bergischen Dorf bei Köln, wie es Becker mit seiner Frau, der Malerin Rango Bohne, bewohnt; da tauchen wieder die Stationen der Kindheit auf, der Umzug von Köln nach Erfurt, die Schulzeit und der Dienst im „Jungvolk“ des „Dritten Reiches“, die Scheidung der Eltern usw. Das neue geschichtliche Fundstück der Erinnerungen sind die Eindrücke des Jungen bei einer Sommerferienreise nach Rügen während des Krieges. Hier ist der Punkt für den unmittelbaren Übergang zum Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“, wo der Ferienbesuch im Rückblick sein genaueres historisches Umfeld erhält. Wieder erzählt das autobiografische Ich unter dem Tarnnamen Jörn. Jörn und seine Frau Lena begleiten in einem Sommer der neunziger Jahre einige Architekten von der Berliner Akademie der Künste durch Mecklenburg und zu den Inseln Rügen und Hiddensee. Vor allem die Begegnung mit der Geisterstadt Prora wird zu einem Schlüsselerlebnis. Als KDF-Seebad der „Deutschen Arbeitsfront“ Dr. Leys in die Dünen gesetzt, aber durch den Kriegsausbruch seiner Bestimmung entzogen, nach Sprengversuchen der Russen teilweise wiederaufgebaut, von Kasernierter Volkspolizei und Nationaler Volksarmee als 218 Laudatio Stützpunkt im „Kampf gegen den Imperialismus“ benutzt, nach der „Wende“ fast ganz wieder leer stehend – an dieser architektonischen Ruine offenbart sich zeichenhaft die ruinöse deutsche Geschichte eines halben Jahrhunderts. Beckers Roman begnügt sich nicht mehr mit einem Gewebe von Assoziationen, sondern schafft Kontinuität in Gestalten und Lebensläufen. Eine Detailgenauigkeit, manchmal sogar Behaglichkeit lässt eine ganz neue Plastik der Landschaften, Figuren, Handlungen und historischen Zusammenhänge entstehen. Die Erinnerung flirrt nicht mehr durch die Zeit, sie „erwandert“ sich die Vergangenheit. Nicht dass sich Becker nun zu einer chronologischen Erzählweise unter dem Szepter des epischen Imperfekts bekehrt hätte. Immer wieder pendelt der Bericht aus der Gegenwart eines Aufenthalts in der Nähe von Schloss Wiepersdorf in der Mark (wo der Schriftsteller eine Zeit lang als Stipendiat zu Gast war) in die Kindheit und Jugend in Köln und Erfurt oder in die Zeit nach der Wiedervereinigung zurück, aber auch in frühere Situationen des Erzählens, so dass die verschiedenen Zeitschichten bloßliegen. Doch ordnet sich alles einer „Geschichte der Trennungen“ unter, die sich im Privaten in der Trennung der Eltern kristallisiert. Am bewegendsten sind die Sequenzen der Erinnerung an die Mutter, die fröhliche und tüchtige und am Ende in den Freitod gehende Mutter. Zu einem Gutteil ist der Roman auch eine Suche nach der verlorenen Mutter. So verschränken sich Zeitgeschichte und Ich-Geschichte. Wie verhält sich solches Erzählen zur epischen Schreibweise Uwe Johnsons? Die Bemerkung zu Johnsons „Das dritte Buch über Achim“ verriet Übereinstimmung in einem Punkt. Becker teilte von vornherein den Zweifel Johnsons am selbstherrlichen „auktorialen“ Erzähler, der Wirklichkeit eindeutig glaubte fixieren zu können. „Das dritte Buch über Achim“ (96) zeigt Johnson auf der „Suche nach Erzählmöglichkeiten“; die Umstände der Nachforschungen nach einem Sportidol der DDR werden miterzählt, so dass ein Geflecht aus erzählerischen und dokumentierenden oder zitierenden Partien entsteht. „In zwei Ansichten“ (965) schränkt Johnson den Gebrauch experimenteller Erzählmittel wieder ein, zugunsten eines konkreteren Handlungs- und Figurenaufbaus. In der vierbändigen Romanchronik „Jahrestage“ (970-983) unternimmt Johnson den großartigsten Versuch, Vergangenheit von der Gegenwart her auszuleuchten. Zwei Zeitschichten und zwei historische Linien werden ineinander verzahnt: die Gegenwart Gesine Cresspahls und ihrer Tochter in New York des Jahres zwischen August 967 und August 968 und die im Bewusstsein Gesines asso219 Walter Hinck ziativ herbeigerufenen Bildfolgen aus der Geschichte der mecklenburgischen Familie, zumal der Lebensgeschichte des Vaters, des Kunsttischlers Heinrich Cresspahl. Die Lektüre der „New York Times“ vermittelt eine Chronik der zeitgeschichtlichen Ereignisse (beispielsweise des Vietnam-Krieges, später der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Armeen des Warschauer Pakts). Mit chronistischer Sorgfalt, mit erzählerischer Umsicht und Gelassenheit aber wird überhaupt erzählt. So versucht Uwe Johnson, obwohl er die epische Instanz in die Hauptfigur verlegt, doch wieder den Anschein der Objektivität, epischer Totalität, verlässlicher Weltdarstellung zu erneuern. Diesen Schritt geht Becker im Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ nicht mit. Wo Johnson die deutsche Geschichte eines halben Jahrhunderts durch erfundene Personen und Handlungen einkreist, bleibt bei Becker der Bürge für Glaubwürdigkeit das Bewusstsein des Ich. Nicht die erzählerische Fiktion dominiert, sondern das autobiografische Ich. Die Erinnerungsschübe kommen in Sprüngen. Oft ist die Erzählung schon an einem Punkt, den sie erst viel später wieder einholt. Der Leser wird zum Teilnehmer einer Springprozession, bei der er nach ein paar Erkundungsschritten vorwärts wieder einen rückwärts macht. Das Bewusstsein bietet die Vergangenheit und die Geschichte oft wie eine Collage, und hier ist auch der Berührungspunkt mit den Collagen von Rango Bohne, mit der zusammen Becker ein paar Bild-Text-Bände herausgegeben hat. Die Bewusstseinsstruktur bestimmt die Romanstruktur. Aber gerade darin bestätigt sich wieder das Wechselverhältnis von Bruch und Folgerichtigkeit in der Entwicklung des Beckerschen Werks. Kein literarischer Text ist die strukturelle Wiederholung des vorhergehenden, und doch antwortet jeder auf die früheren. Im Roman von 999 sind die Experimente der sechziger Jahre, auch die im Hörspiel, nicht vergessen. Kein deutscher Gegenwartsautor beweist im ständigen Wechsel der literarischen Formen zugleich so viel Kontinuität. Am Anfang beruft sich Jürgen Becker auf Uwe Johnsons Bezweiflung des traditionellen Romans. Mit dem Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ antwortet er in seiner, in produktiver Weise auf die Romankunst Johnsons. Der Uwe-Johnson-Preis geht in würdige Hände, die Wahl des Preisträgers ehrt die Jury. 220 Jürgen Becker Das Vergangene wieder vergegenwärtigen. Dankesrede Während ich darüber nachdachte, was in dieser Rede zu sagen sei, traf der Terror in New York und Washington ein. Er traf im Bewusstsein aller ein, die das Geschehen am Bildschirm miterlebten, dem Schriftsteller, gedanklich mit dem heutigen Abend beschäftigt, kam jeder Gedanke daran abhanden; er fragte sich nur, würde dieser Abend heute überhaupt stattfinden? Vielleicht doch eine marginale Veranstaltung angesichts der Opfer, des Schreckens, der erwartbaren Konsequenzen. Seit dem . September bereiten wir uns auf einen Kriegszustand vor, wie wir ihn noch nicht kennen. Unsere Angst sagt, es könnte die Vorbereitung für den Dritten Weltkrieg sein Auch meine Angst, obschon sie noch nicht so tief sitzt wie in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Dass in den Phasen des Kalten Krieges der heiße, der finale ausbrechen könnte, dazu hatten wir oft genug die Anlässe zu befürchten, und es schaudert mich in der Erinnerung an Korea und die Kubakrise, den 7. Juni und den Mauerbau, den Ungarn-Aufstand und die Suez-Krise, an Vietnam und den Einmarsch in die Tschechoslowakei. Die Lunte am Pulverfass, mehr als einmal fürchteten wir, dass sie glimmt. Inzwischen erscheint der Kalte Krieg ferngerückt wie die Eiszeit. Der Zusammenbruch des realen Sozialismus hat die Konfrontation der ideologisch verfeindeten Systeme historischer Betrachtung überlassen. Seit Wende und Vereinigung kommt es mir vor, als sei das Gespenst eines letzten, alles verheerenden Krieges verschwunden; seitdem beschäftigen uns Deutsche die Mühen der wiedervereinigten Ebenen; angesichts der Dimensionen, die uns die Globalisierung auch des Terrors verheißt, ein eher regionales Problem. Vor Augen die aktuellen Fernsehbilder aus New York, kamen mir auch die „Jahrestage“ in den Sinn mit ihren Aufzeichnungen des täglichen Schreckens, wie Uwe Johnson ihn sich von der alten Tante „New York Times“ berichten ließ. Wer diese vier Bücher kennt, hat eine Ansicht von New York, das es so Jürgen Becker nicht mehr gibt. Freilich waren, als Gesine Cresspahl im südlichen Manhattan nahe dem Finanz-Distrikt als Bankangestellte zugegen war, die beiden Türme des World Trade Center noch nicht hochgezogen; die inzwischen achtundsechzigjährige Rentnerin könnte aber nun um die Tochter fürchten, falls der Berufsweg der vierundvierzig Jahre alten Marie zu einem Büroplatz in einem der beiden Türme geführt hätte. Uwe Johnson lässt die „Jahrestage“ 968 enden; aber mitunter habe ich mich gefragt, was aus Gesine und Tochter Marie wohl geworden ist. Mit dem Ende dieses Romans erlaubt es unsere Imagination noch lange nicht, dass auch das Leben aller seiner Personen zu Ende sei; sie existieren in der Vorstellung weiter in der Weise, wie sie der Verfasser realisiert hat: als Personen, die aus der Fiktion des Romans sich entfernt und verselbstständigt haben. Auf der Suche nach der Adresse des Bankhauses, in dem sich Gesine Cresspahl jeden Morgen einfand, geriet ich beim Blättern in den Sommer 942. Da war das neunjährige Mädchen vom Vater Heinrich Cresspahl nach Ahrenshoop geschickt worden, aufs Fischland zwischen Ostsee und Saaler Bodden. Und mir fiel ein, dass im gleichen Kriegssommer meine Patentante aus dem Rheinland nach Thüringen kam und mich dort abholte für eine Fahrt nach Berlin, und nach ein paar Tagen Aufenthalt weiter dann für meine erste Reise quer durch Mecklenburg hoch zur Ostsee, nach Greifswald zu den Verwandten, nach Lubmin, auf die Insel Rügen. Dass diese Reise, diese endlos erscheinenden Ferienwochen, einmal literarische Motive hervorbringen würden, von meinem ersten Buch 964 bis zum letzten Hörspiel in diesem Jahr, davon ahnte der zehnjährige Junge damals nichts. In seinem Gedächtnis blieben endlose Kiefernwälder zurück am Rand eines Kiefernwaldes, hinter dem der Strand, das Meer begann, stand eine grün gestrichene Bretterbude, ein Milchausschank, und mit dem Geschmack der Buttermilch, die der Junge an einem jeden Morgen dort trank, holte die Erinnerung jahrzehntelang die Bilder von Sandwegen und Kiefern, den Geruch der Ostsee zurück. Und dazu fiel mir eine andere Reise ein, die am Ende durch lauter Kiefernwälder zu führen schien, die Fahrt von Thüringen durch Sachsen und Brandenburg in die Lausitz nach Cottbus im August 946. Es war die Reise zur Beerdigung der Mutter, die nach dem Erfurter Abschied von ihrem Sohn in der Lausitzer Landschaft ums Leben gekommen war. Ein Erfahrungsschock, von dem der vierzehnjährige Junge auch nicht ahnte, dass er als literarisches Motiv ihn einmal heimsuchen und nicht mehr loslassen würde, bis zu seinem letzten Buch vor zwei Jahren „Aus der Geschichte der Trennungen“. 222 Dankesrede Von beiden Reisen wußte Uwe Johnson. Sie waren in den Geschichten aufgetaucht, die wir einander aus unseren Kindheiten erzählten, gelegentlich, wenn wir mit Elisabeth Johnson zu dritt in der Stierstraße in Berlin-Friedenau zusammensaßen, Anfang der siebziger Jahre vor dem Umzug der Johnsons nach Sheerness-on-sea. Überrascht, dass der rheinische Kollege einen Ort wie Anklam zu kennen vorgab, wollte der Mecklenburger – vier Jahre sei er doch in Anklam zur Volksschule gegangen – wissen, was sein Gedächtnis davon behalten habe; aber so viel war da nicht übrig geblieben, näher stand und mehr gab zum Erzählen her die Kriegs- und Nachkriegszeit in Erfurt mit Vergleichen auch der ersten Erfahrungen in der Sowjetischen Besatzungszone bis 947; aber im Herbst dieses Jahres kehrte der Fünfzehnjährige schon ins Rheinland zurück, in einen Garten voller Kirschbäume Meine Kirschbäume sind mir verloren: unvergessen der Satz, den der Flüchtling aus Pommern, der Mecklenburger in Westberlin, auf eine Art sagte, dass der Rheinländer darin einen Vorwurf gegen sich hörte. Beharrlich blieb Uwe Johnsons Interesse an der Cottbus-Geschichte. Sie war aufgekommen beim Studium des riesig vergrößerten Meßtischblattes, das hinterm Sofa an der Wand der Berliner Wohnung hing. Beide Autoren verstanden sich als Landkartenleser, und so demonstrierte der Berliner seinem rheinischen Kollegen die Topographie der Gegend, in der Peter Huchel, der soeben die DDR endlich hatte verlassen dürfen, gefangen und zu Hause gewesen war: südlich Potsdam, mitten in den Wäldern, Wilhelmshorst. Dabei fuhr sein ausgestreckter Finger über Caputh am Ufer des Schwielow-Sees entlang, dessen Entdeckung und Namen im Kopf des Rheinländers einen Assoziationssprung verursachte, die plötzliche Vergegenwärtigung eines Sees, der nördlich von Cottbus liegt und fast den gleichen Namen hat: der Schwieloch-See. Uwe Johnson wollte dann wissen, welche Beziehung seinen Kollegen mit der Lausitzer Landschaft verbinde nun, ein paar Gläser Wodka waren schon getrunken, und so erzählte der Rheinländer, wovon er lange Zeit geschwiegen hatte, nämlich die Geschichte vom Tod seiner Mutter im Schwieloch-See, von der Beerdigung in Cottbus, von seinem Schuldgefühl, das Grab nicht einmal besucht zu haben, von seiner Aversion aber auch gegen die DDR, die er nach der Flucht aus seiner zweiten, der thüringischen Heimat nicht mehr zu betreten gedenke. Damit war Uwe Johnson nun gar nicht einverstanden. Zunächst dachte ich, es sei der Wodka, der ihn zu der Idee inspirierte, gemeinsam zu dritt nach Cottbus zu fahren und dort auf dem Südfriedhof nach dem Grab zu sehen. Aber an einem der folgenden Abende wurde mir klar, dass er es ernst meinte; er hatte 223 Jürgen Becker sich einen Reiseplan ausgedacht und redete mir auf eine nahezu drohende Weise ins Gewissen. Mit allerlei Ausreden versuchte ich dagegenzuhalten und zu erklären, warum ich vor einer Reise in die DDR zurück in die Landschaften der Kindheit zurückscheute; ich zweifelte auch die Möglichkeit an, ob man ihm und seiner Frau, DDR-Exilanten, überhaupt die Einreise gestatten werde. Das solle meine Sorge nicht sein, er werde das schon riskieren, und was er riskiere, das könne sich ein Rheinländer schon lange erlauben. Und im Übrigen: Es stehe mir frei, die Reise nach Cottbus auch allein zu unternehmen. Kurzzeitig kam es zu einem Zerwürfnis. Dann lud mich Uwe Johnson noch einmal in die Stierstraße ein, zum letzten Mal vor dem Umzug nach England. Wieder ein Drohen in der Stimme: Ob es bei meiner Weigerung bleibe. Ja, dabei bleibe es. Aber zur Kenntnis nehmen müsse ich dann dieses hier. Uwe Johnsons rechter Arm kam hinter seinem Rücken hervor, und seine Hand hielt dem Kollegen ein Blatt Papier vor die Augen, ein Schriftstück, ein Dokument, das mit Linien, Buchstaben, Zahlen versehen war. Was sei denn das? Das sei eine Lagebezeichnung, die bezeichne die Lage des Grabes seiner Mutter auf dem Südfriedhof von Cottbus. Der Kollege verstand nicht. Es gebe auch nichts zu verstehen, zu fragen auch nichts, denn er, Uwe Johnson, könne keine Auskunft über seine geheimen Ermittlungen geben, ich dürfe lediglich zur Kenntnis nehmen, dass der Tod der Mutter und das Vorhandensein ihres Grabes in Cottbus, DDR, nach wie vor aktenkundig sei. Und dabei ist es dann geblieben: Uwe Johnson hat seinem Kollegen nie verraten, über welchen Weg er sich das Dokument aus Cottbus nach Westberlin hat kommen lassen. Wer den Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ gelesen hat, weiß, wie er anfängt und was die ersten sieben Seiten erzählen: nämlich, dass die Hauptperson des Buches, Jörn Winter, ein Mann in den Sechzigern, aus dem Rheinland in die Mark Brandenburg fährt, durch den Fläming in die Lausitz ans Südufer des Schwieloch-Sees. Es ist ein Sonntag im August 996; es ist der fünfzigste Todestag seiner Mutter. Den Ort ihres Todes sieht er zum ersten Mal; er versucht herauszufinden, wo genau sie ins Wasser gegangen ist. Ein entscheidender Impuls für das Schreiben dieses Buches. Während der Verfasser an den ersten sieben Seiten saß, ging ihm auch die Sache mit Uwe Johnson durch den Kopf, vor allem die jahrelang quälende Frage, warum er damals die Reise in die Lausitz hatte versäumen wollen. Der wahre Grund eines Versäumnisses wird einem selten klar; er mag in Unterbewusstes reichen, dorthin, wo die Ängste sich verstecken, das Verdrängte, das insgeheim Erhoffte. 224 Dankesrede Der Verfasser geht nicht so weit zu sagen, er habe damals geahnt, dass er mit seinem Versäumnis sich nur eine Erfahrung aufspare, die ohnehin Jahrzehnte später ihn erwarte. Aber obschon er für das geteilte Deutschland, mithin für die Existenz der DDR, eine unendlich längere Zukunft, als sie dann hatte, voraussah, aber er hatte einen Rest Hoffnung behalten, jenseits von nie und nirgendwann einmal zurückkehren zu können, und das würde dann heißen: die abgeschnittenen Teile der Kindheit seinem Leben wieder anzufügen, das Vergangene wieder zu vergegenwärtigen und dabei mit den Orten und Landschaften die Motive zu entdecken, die zwischen Ostsee und Thüringer Wald auf ihn warteten. Die Motive meines Schreibens seit zwölf Jahren für Gedichte und Hörspiele; die Motive für den Roman, den Sie heute Abend mit Ihrer Auszeichnung versehen. Motive stellen sich in der Regel unerwartet ein, vor allem diese, die mit dem Unerwarteten selber kamen: dem Ende der Teilung, der Trennung der Deutschen. Von da an kam es mir vor, als schreibe eine neue Wirklichkeit mit. Gelegentlich wird ein Autor gefragt, wie er auf Dieses oder Jenes gekommen sei, warum er so und nicht anders schreibe. Im Besonderen ein Autor, der eine Zeit lang als Verfasser experimenteller Texte, der länger noch allein als Lyriker gegolten hat, und der jetzt, im Alter, seinen ersten Roman schreibt. Nun ist diesem Roman zwei Jahre zuvor ein Buch vorangegangen, eine Erzählung mit dem Titel „Der fehlende Rest“. Ein Buch, das die Arbeit des Erinnerns beschreibt, und was die Erinnerung dabei entdeckt, ist die Gegenwart dessen, was die Hauptperson der Erzählung, derselbe Jörn Winter, von dem die „Geschichte der Trennungen“ handelt, für seine Vergangenheit hält. Sie hat, mit den Erfahrungen der Kindheit, seinem Erwachsenwerden, das Entstehen seiner Ansichten und Gewohnheiten, seine Ticks, seine Verhaltensweisen, Reaktionen und Ängste, sein Bewusstsein auf eine Weise mitbestimmt, das ihm kenntlich wird der Zusammenhang seiner individuellen Geschichte mit der Geschichte seiner Zeit, mit den kollektiven Erfahrungen, mit dem Gang der Historie. Man kann die Erzählung vom „fehlenden Rest“ als Präludium zur „Geschichte der Trennungen“ lesen; sie kommt mit Personen, Schauplätzen, Geschehnissen, die sich dann ausdehnen in den Dimensionen des folgenden Romans. Als der Autor den „fehlenden Rest“ beendete, wußte er: Dieses Buch ist zwar fertig, aber die Geschichten darin fangen jetzt erst an; die Spuren liegen offen, die Hintergründe einer Biografie werden sichtbar. Als hätte ein Archäologe, der noch nicht recht weiß, wonach er eigentlich sucht, den wahren Gegenstand 225 Jürgen Becker seiner Forschungen entdeckt, so sah der Autor nun ein Territorium vor sich, das wahrzunehmen und zu beschreiben nach weitgreifenden erzählerischen Verfahren verlangte. Ein reales Territorium, das sich aus Träumen und Erinnerungen zurückverwandelt hatte in konkret erfahrbare Wirklichkeit. Es war lange Zeit verdrängte Sehnsucht, die den Autor nach Mauerfall und Einheit in die Landschaften zwischen Elbe und Oder hineinzog; Sehnsucht nach dem in der Kindheit Vertrauten, dem scheinbar Verlorenen, aber auch nach dem Unbekannten, dem Noch-nicht-Gesehenen. Da hatte er in seinen jungen Jahren noch ein ungeteiltes, ein Vaterland gekannt, das ihm und seiner Generation dann beigebracht hatte, dass es das Vaterland der Verbrechen gewesen war. Da hatte er die Konsequenzen von Schuld und verlorenem Krieg erfahren und den Anfang einer Geschichte, die sein Land in Besatzungszonen und alsbald in zwei Staatsgebilde teilte, in denen wir, die Deutschen, Identitäten annahmen, die, nach neutralen Himmelsrichtungen benannt, sich doch als ideologisch feindliche verstanden. Dabei hätte die politische Landkarte auch anders aussehen können: Der Russe hätte Berlin behalten, die Briten und Amerikaner wären im Mecklenburgischen, im Sächsischen, in Thüringen geblieben. Wenn, wie Uwe Johnson es imaginierte, Klütz zum Westen gekommen wäre, eine Hälfte von ostdeutschen Biografien hätte den westdeutschen Verlauf genommen. Bittere Konjunktive; die Wirklichkeit hat Jahrzehnte gewartet, bis sie die Grenzlinie auf den Landkarten löschte. Der Autor aus dem Westen, der einen langen erzählerischen Weg durch den Osten geht, um die Spuren seines früheren Lebens, um das Gemeinsame von Kinderzeit-Erfahrungen zu finden, er kommt mit Ansichten und Gewohnheiten, die sich von denen der Einheimischen unterscheiden. Er hört deutsche Wörter, die etwas bedeuten, wovon er keine Ahnung hat; er gebraucht deutsche Wörter, an denen man gleich seine Herkunft erkennt. Er meint ein vertrautes Zuhause zu betreten, und wenn auch die alten Klingelknöpfe noch an der Haustür hängen, die Vergangenheit steht nicht da und sagt: Na endlich, da bist du ja wieder. Eher trifft er auf eine Gegenwart, die durch ihre eigene Geschichte geprägt ist und die ihm zu sagen scheint: Deine Kindheit wohnt hier nicht mehr, hier haben ganz eigene Lebensläufe angefangen. Beim Schreiben seines Buches hat sich der Autor mitunter gefragt: Wer wäre ich, wenn damals 947 sein Vater gesagt hätte, wir bleiben hier in Erfurt, da gibt es genug zu tun. Vielleicht ähnelte seine Biografie der seiner Kollegin im 226 Dankesrede Rundfunk der DDR, die auf Tag und Jahr gleichaltrig und aufgewachsen in Thüringen, später in der Berliner Nalepastraße das Hörspiel leitete, und zwar zur selben Zeit, als unser Autor im Deutschlandfunk in Köln sich in der gleichen Funktion befand. Also doch FDJ, also sicher Genosse. Oder er hätte notorisch Rias gehört und das Gehörte weitergesagt, und er wäre dafür, wie der Müller in Kossin, zwei Jahre nach Bautzen gekommen. Oder er hätte sich von der Staatssicherheit anwerben lassen. Oder man hätte ihn aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Oder er hätte die Sommermonate vielleicht in Wiepersdorf, vielleicht in seinem Haus auf dem Hohen Ufer in Ahrenshoop verbracht. Oder man hätte ihm dann doch die Ausreise genehmigt in einen Westen, aus dem er zwar stammte, aber in dem er sich als Fremder vorgekommen wäre. Die Möglichkeiten einer Identität, und wie sie jeweils abhängt vom Sein, das unser Bewusstsein bestimmt. Beim Schreiben seines Buches, dessen Schauplätze sich auf dem Territorium der ehemaligen DDR befinden, hat sich der Autor einmal gefragt, ob er das Recht habe, das Land mit den Erinnerungen ans Früher zu überziehen. Er tat es mit der Empfindung, dass die Geschichte der Ostdeutschen auch Teil der eigenen Geschichte sei, und indem er es tat, nahm er sich das Recht der Literatur, die Wirklichkeit zu untergraben und nach etwas zu suchen, das die Wirklichkeit verschüttet hat. Erst die Genauigkeit und die Beharrlichkeit des Erinnerns stellt die wahren Dimensionen der Wirklichkeit wieder her; sie macht kenntlich die Widersprüche, die Zusammenhänge zwischen dem Einst und dem Jetzt; sie sagt uns, dass Verlorenes nicht verloren geht, solange das Gedächtnis es festhält. Aber kenntlich werden dabei auch die Defizite, das hat der Autor beim Schreiben gemerkt. Aufgewachsen und weitergekommen im westeuropäischen Erfahrungsbereich, weiß er wenig Bescheid über das Leben seiner Landsleute in der DDR. Er hat seine Vorurteile, und er hat sie sich korrigieren lassen. Er hat sich Erfahrungen und Lebensläufe erzählen lassen, aber das ersetzt das authentische Erleben nicht. Die Geschichte der Trennungen erzählt auch vom Getrenntsein der Erinnerungen und Erlebnisse. Der Autor würde keinen Roman versuchen, der einzig auf die Fiktion setzte und Biografien erfinden würde, deren reale Bestandteile er nicht kennt. Es ist, so sagt es Uwe Johnson, „unzweifelhaft misslich, dass einer bloß wahrscheinliche Leute hinstellt, wo sie nicht gestanden haben, und sie reden lässt, was sie nicht sagen würden“ Er hat, unser Autor, mit seinem Roman eher versucht, den Defiziten seiner Erfahrung eine Art Hoffnung entgegenzusetzen, dass in seinem Buch die Geschichte der 227 Jürgen Becker Trennungen ihr allerletztes Kapitel begonnen hat. Diese Hoffnung reicht über den Roman hinaus; sie richtet sich auf unsere Wirklichkeit, darauf, dass die Wirklichkeit selber mit diesem letzten Kapitel zurande kommt. Ein Impuls in die Zukunft hinein, die auch der Autor vor Augen hat, indem er so viel vom Gang, von den Wirkungen der Geschichte erzählt. Vielleicht, dass hier in Neubrandenburg sein Buch so angenommen worden ist. In jedem Fall berührt es mich, macht es mich glücklich, dass die Auszeichnung dafür aus Mecklenburg gekommen ist, aus einem Land, in das mich, bevor ich es kennen gelernt habe, Uwe Johnson eingewiesen hat. Mein Dank hat Dauer für alle Zeit. 228 Martin Wiebel Annäherung durch Entfernung. Laudatio auf Christoph Busch und Peter Steinbach anlässlich der Verleihung des Sonderpreises der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft Meine Damen und Herren, lieber Busch, lieber Steinbach! Ihr habt über Millionen von Wörtern gesessen. Ihr habt Euch den Menschen von Jerichow und ihren Geschichten mit eigener Phantasie und Erinnerung genähert. Ihr habt durch diese vorsichtige Annäherung die innere Geschichte des literarisch riesigen zeitgeschichtlichen Werkes Johnsons in Filmbildern zu erzählen gewagt. Ihr habt die innere Wahrheit dieses überreichen Werkes freischneiden müssen, wie Rosenschneider. Das braucht Zeit, Geduld, Hartnäckigkeit und vor allem Liebe, Liebe vor allem, die Respekt und Zuneigung, Ehrfurcht und Distanz braucht, um ihre wahre Tiefe zu entfalten. Diese Arbeit ging nicht ohne Vereinfachung ab in der Transformation der facettenreich-raffinierten Vielschichtigkeit des Romans zu einer erzählbaren Fabel, einer Filmerzählung, die ihre eigenen Regeln hat. Zuschauer und Leser haben nun einmal eine radikal unterschiedliche Wahrnehmungsweise, die nicht straflos zu ignorieren ist. Ihr habt Euch den erwartbar betonierten Vorurteilen der literarischen Beckmesser und der berufskranken TV-Zyniker gestellt, die schon vorher wußten, dass Uwe Johnsons „Jahrestage“ ohnehin nicht verfilmbar seien und sowieso „wieder keine Sau hinschauen“ würde. Ihr seid nicht allein gewesen, eher allseitig beaufsichtigt und unter vielseitigem Druck, wie er in einer Allianz der Kreativität mit dem Dramaturgen, der Produktionsfirma und der Regisseurin entsteht. Eure Drehbücher hatten aber die Kraft, bei jedermann den möglichen Fernsehfilm heraufzubeschwören, und darauf kam es an. Martin Wiebel Meine Damen und Herren, Drehbücher werden ja nicht geschrieben um gelesen, sondern um verfilmt zu werden. Ein Drehbuch ist noch kein Film, sondern ein Drehbuch für einen Film ist keine eigene Kunstform, sondern die Sehnsucht nach einer Kunstform, die durch die Verfilmung entsteht. Ein Drehbuch ist also auch die Sehnsucht nach einem anderen Fernsehfilm, von dem die Autoren träumen. Deshalb sind sie bereit, immer wieder Kompromisse zu machen. Deshalb sind sie bereit, diese „Lebenszeitverkürzungstreffen“, die man Drehbuchbesprechung nennt, zu ertragen. Ich weiß, wovon ich rede. Es gibt viel zu entschuldigen. Dass hier und heute mit Busch und Steinbach zwei Drehbuchautoren eine eigene Wertschätzung erfahren, ist für mich doppelt bedeutsam: einerseits als Ritterschlag der literarischen Welt für die Filmbilderwelt, aber auch als Brückenschlag zwischen Drehbuchautoren und Regie. Margarete von Trotta hat Eure aufgeschriebene Vision der „Jahrestage“ aufgenommen und sie durch ihre Regiekunst darüberhinausgeführt. Gemeinsam haben wir ihr viel zu verdanken, besonders für die vielen Blicke zwischen den Zeilen. Lieber Busch, lieber Steinbach, wenn ich im Weiteren von eurem Film spreche, dann eben weil ihr aus dem grandiosen Gefüge Johnsons liebevoll und behutsam mit distanzierter Bewunderung und kritischem Respekt einen Strang von Geschichten herausgelöst habt, der sich zu einer Filmerzählung fügt, die die Zuschauer am Zuschauen hielt und darüber hinaus für die Lektüre des Romans erwärmte. Euer Film mag vieles vom Autor genommen haben, ihr habt dem Autor aber auch vieles gegeben, Leser vor allem, 40.000 neue. Ein Grund zum Gratulieren. Euch ging es darum, Gewalt gegen das Buch bei der filmerzählerischen Analogiebildung zum literarischen Werk zu vermeiden. Wir mussten uns gegenseitig immer wieder ermutigen, unsere Liebe zu Johnson in angemessene Distanz, gespeist aus präziser Kenntnis seines Werkes, zu verwandeln. Annäherung durch Entfernung nannten wir das. Aber dann habt ihr vor allem noch Herz und Seele dazugegeben. Dafür ist euch zu danken. 230 Laudatio Ihr habt den „Jahrestagen“ ihre Wahrheit erhalten und den Geist des Buches bewahrt. Nicht durch eine seminaristische und wahrscheinlich ohnehin lächerliche Texttreue, sondern durch filmerzählerische Phantasie und deren Verteidigung. Ihr seid Analogie-Künstler, und wie Johnson obsessiv von der anarchischen Subjektivität der Erinnerung geprägt. Das alles geschah nicht ohne Besorgnis. In einer solchen besorgten Nacht notierte Steinbach: „Dein Kind Johnson hat Ansprüche gelernt. Schau, diese Werkstattfenster, von Mühsal bestäubt. Ach, was, alter Schwede, wir haben doch eine andere Wahrheit!“ Die andere Wahrheit, das ist die Macht der Kunst der Geschichtenerzähler, die Anteilnahme und Aneignung beim lesenden und beim sehenden Publikum hervorbringen können, das ist die Erinnerungsbefähigung und Nachsichtigkeit, die es zu stärken gilt, das ist die Kraft, „Ausbrüche aus dem versiegelten Gedächtnis“ zu registrieren, wie Durs Grünbein nach der Terror-Erfahrung des .09.200 in New York. Die Erinnerung an die Menschen sind deren Geschichten auch und gerade in politischen Unzeiten. Die haben Drehbuchautoren vor allem zu erzählen. Anderenfalls würden die Menschen an narrativer Atrophie sterben und blieben ohne Gedächtnis. Die andere Wahrheit hat aber auch eine bedrohte Seite. Wir registrieren einen Verlust an nationaler Erzähl- und Filmkultur, mindestens eine kommerzielle Schwäche des Deutschen Films und der Deutschen Literatur. Die scheinen eine gemeinsame Wurzel in der interesselosen Abgewandtheit vom wahren gesellschaftlichen Leben zu haben. Eigentlich betrifft nichts niemanden mehr, und alles scheint gleich und gültig. Es braucht einen trotzigen Mut von Produzenten, Dramaturgen und Autoren, gegen die formatierte Tristesse des auf den Boulevard drängenden Fernsehens, literarisches Fernsehen zu machen, das heißt Fernsehfilm nach literarischen Vorlagen, auf den die Zuschauer einen Anspruch haben. Dieser Anspruch, auf intelligente Weise unterhalten zu werden, ist in größter Gefahr, von den Format-Bulldozern mit Günter Jauch im Sulky niedergewalzt zu werden. Busch und Steinbachs Qualitätswille und ihre Robustheit helfen gegen den wuchernden Quoten-Opportunismus und die resignative Verbeugung vor dem niedrigsten gemeinsamen Nenner des Geschmacks. In diesem 231 Martin Wiebel Sinne sind sie preiswürdig als Unzeitgemäße, die sich weniger für die vorübergehenden Erzählmoden interessieren und nicht den Kategorien des derzeitig Interessanten folgen, die zunehmend den Warenwert der Kunst bestimmen. Wer sich wie Busch und Steinbach jahrelang an ein vom Zeitgeist gefährdetes Fernsehfilmprojekt hängt, der interessiert sich für eine emanzipierte Öffentlichkeit, für ihre Verhältnisse, für das Gedächtnis von uns allen. Meine Damen und Herren, es bleibt eine Binsenweisheit. Ein Roman ist ein Roman, und ein Film ist ein Film, nebeneinander und autonom und so auch wahrgenommen. Jede Literaturverfilmung bildet natürlich nur einen Teil des verfilmten Werkes ab. An Literatur ist nur Literatur das, was nicht zu verfilmen ist. Wenn aber eine Verfilmung die empfindlichste Stelle der Literatur, die erzählerische Phantasie, nicht verletzt, dann wird die Verfilmung zu einer Art Rezension des literarischen Werkes. Und wichtig ist dabei, wie und wann und wer einen Roman in eine filmerzählerische Analogie bringt, denn das sagt viel, über den Roman und die Zeit und die Künstler, die es versuchen. So gesehen war mein Traum, meine Version, mein tiefstes Leseerlebnis zu einem kollektiven Fernseherlebnis zu machen, auch im Scheitern vor den Hochrichtern der Literatur ein Erfolg: sechs Stunden Filmerlebnis haben andere Erinnerungsarbeit als 892 Seiten Romanlektüre hervorgerufen. Dem Roman in seiner Eigenständigkeit ist durch den Film nichts genommen, aber er gab ihm etwas: Aufmerksamkeit und Neugier. Unter den bemerkenswert vielen 3,5 Millionen Fernsehzuschauern pro Folge waren die 00.000 bisherigen Johnson-Leser voraussichtlich in der Minderheit, wenn sie sich überhaupt diesem Film nach Uwe Johnsons Roman aussetzen wollten. Deren literarischer Himmel, den ihre Lektüre aufgebaut hat, mag irritiert worden sein, weil Busch und Steinbach eingreifen mussten in die Erzählstruktur, ja sogar in die Sprache. Aber 40.000 neue Leser werden nach dem Film ein ganz eigenes Leseerlebnis haben, und es mag ihnen gehen wie dem Kritik-Teiresias Joachim Kaiser, der eines immerhin bemerkt hat, dass kein Leser nach dem Film sich den Heinrich Cresspahl anders als in Matthias Habichs Verkörperung mehr vorstellen kann. 232 Laudatio Für mich sind Literatur und Film nicht in einer Notgemeinschaft und auch nicht zwingend feindliche Geliebte. Aber ich frage mich schon, wo eigentlich die deutsche Literatur unserer Tage ist, die potenzielle Stoffe für ernstzunehmende Fernsehfilmprojekte bietet. Das Medium ertrinkt im schamlos gleichförmigen Unsinn, hangelt sich zur Zeit verzweifelt an Biopics über den Abgrund, aber Verlage und Autoren von erzählerischem Gewicht scheinen interesselos an Film und Fernsehen. Es beruhigt nicht, dass Alfred Andersch das schon vor 30 Jahren beklagte. Noch heute nennen Autoren von Büchern, die sich selbst auf Film und Fernsehen einlassen, diese Tätigkeit Broterwerb, Geldmaloche oder auch nur Gelegenheitsjob, und wahrscheinlich verachten sie sich dafür und finden wie ihre Kritiker das Medium verächtlich, für das sie schreiben. Aber die Autoren, die Agenten und Verlage täten gut daran, sich kritisch in die Film- und Fernsehwelt einzusehen, um dann mit Stoffen aufzuwarten, die betreffen. Solange die Literaten und die Literaturkritiker das Fernsehen bloß als „Glotze“ sehen, in dem lediglich Banalisierung und Trivialisierung jedweden Textes zu erwarten sind, wird die Diskrepanz zwischen Literatur und Gesellschaft immer größer. Dass unser Fernsehen so elfjährig wirkt, hat ja auch damit zu tun, dass die Autoren sich verweigern, sich dem Wetter nicht aussetzen, sondern sich lieber unterstellen. Nichts ist gegen die Liebe zum linksbündigen Schreiben zu sagen, und ich verstehe auch die Abneigung gegen den lobotomischen Vorgang des Drehbuchschreibens, aber sich der enormen gesellschaftlichen Chance zu ergeben, die populärste und beliebteste Kunstform unserer Zeit zu nutzen, statt sich sprachverliebt oder nach innen gewandt zu verweigern, spricht nicht gerade für ein gesellschaftliches Selbstverständnis. Schreiben ist ein einsames Geschäft und Drehbuch-Schreiben erst recht. Die Unsichtbarkeit von Drehbuchautoren hat einen doppelten Grund: Drehbücher erleben und erdulden nach den Marktgesetzen der Filmproduktion einen Wandel vom Kulturgut zum Wirtschaftsgut, weil im Entwicklungsprozess von der Entstehungsgeschichte zur Verwertungsgeschichte ein veritabler Warentausch stattfindet. Aus dem Traum der Autoren wird ein Produkt der Traumfabrik, die sich mit dem Regisseur dann einen neuen omnipotenten Künstler erschafft, um das Produkt wieder vom Waren-Charakter zu befreien. Großmächtige Literaturkritiker, die auf Befragen stolz mitteilen, nie fernzusehen, rezensieren dann ohnmächtig das TV-Angebot und schaffen es, viele lange Spalten in einer großen Tageszeitung die Drehbuchautoren Busch und 233 Martin Wiebel Steinbach gar nicht wahrzunehmen, nicht einmal kritisch, sie einfach unerwähnt zu lassen. Das macht Autoren unsichtbar. In der Ökonomie der Aufmerksamkeit, besonders in Zeiten des zum bloßen Zeitvertreib tendierenden Fernsehens ist eine Preisauszeichnung für die Drehbuchautoren Busch und Steinbach deshalb ein signalhaftes Geschenk, nicht bloß materiell, eher politisch. Den Sonderpreis der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft für meine Freunde Busch und Steinbach empfinde ich als Signal, dass anderen aufgefallen ist, welche Mühe sie sich gegeben haben. Ich gratuliere Euch zu dieser Ehrung und Auszeichnung und den Preisstiftern zu ihrem Mut, Euch diesen Preis zuzusprechen. Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für Ihre Geduld. 234 Christoph Busch Auf der Suche nach einer menschlichen Welt. Dankesrede Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich von Herzen über diesen Preis und danke Ihnen. Und darf das gleich doppelt: Für meinen Freund Peter Steinbach gleich mit. Wer hätte mit diesem Lob gerechnet? Peter und ich jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Der Respekt vor Johnsons Kunst hat uns immer wieder am Vorhaben der Adaption zweifeln lassen, immer wieder beim Schreiben der Bücher. Und was würden die Johnson-Fans mit uns machen? Uns mit seinen Werken nebst Sekundärliteratur auf der Ostsee aussetzen? (Mit einem Schlauchboot wäre es da allerdings nicht getan). Sie haben uns leben lassen. Manche lieben sogar die Filmfassung: Jetzt haben sie eben zwei ganz verschiedene „Jahrestage“, und damit doppelt Freude. Und nun sogar Lob aus literarischer Runde für uns! Dieses Lob tut auch Redakteurinnen und Redakteuren in den Sendern gut: Die Einschaltquote ist ein Lob für guten Umsatz, ist das Lob für die Fischstäbchen. Womit ich nichts gegen Fischstäbchen sagen will. Aber Fernsehen ist kein Fischstäbchen, zumindest nicht nur, sondern wie Presse, Theater, Radio und Literatur Spiegel und Anregung unseres gesellschaftlichen Lebens. Weshalb Fernsehen nicht allein nach ökonomischen Regeln gespielt werden darf. Weil zum Beispiel eine dieser Regeln der Trend zur Vereinheitlichung und Konzentration ist: Fischstäbchen für alle und immer wieder. Wer Ungewohntes zubereiten will, nouvelle cuisine im Fernehen quasi, riskiert es, vom Markt nicht mehr geliebt zu werden, statt drei Sternen einen auf die Mütze zu kriegen. Darum brauchen Redakteurinnen und Redakteure die nicht kommerzielle Ermutigung zum Beispiel durch diesen Preis. Das wiederum macht den Drehbuchautor hoffen, dass er so arbeiten kann, wie er es am liebsten tut: Ohne die Quote im Nacken! Was wiederum die Zuschauerinnen und Zuschauer hoffnungsvoll stimmen sollte: Überraschung, Christoph Busch Veränderung, Neues, vielleicht sogar Besseres steht in Aussicht. Eine Hoffnung, wie sie auch in den „Jahrestagen“ lebt! Das mag Sie im ersten Moment verblüffen: Wo, bitte, findet sich in den „Jahrestagen“ Hoffnung? Heinrich Cresspahl bewahrt die Jerichower vorm Verhungern und wird zum Dank in Fünfeichen gequält. Jakob will etwas für den Sozialismus tun und wird von einer Lok überfahren. Tochter Marie tut etwas gegen die Rassendiskriminierung. Aber das schwarze Mädchen Francine muss in den Slum zurück. Alle Mühen um mehr Menschlichkeit scheinen für die Katz. Höchstens Futter für die Katze Erinnerung. Alles scheint immer nur eine Variation des schon Erlebten und Erlittenen. Trotzdem ist Hoffnung ein roter Faden der „Jahrestage“: Uwe Johnson erzählt nicht genüßlich vom Scheitern, sondern stellt ohne Häme fest, dass es wieder mal nicht geklappt hat. Kein „Siehste-wohl“ klingt an, und kein „Das-mußteja-so-kommen“. Uwe Johnson läßt seine Menschen nicht vernünftig werden, sich nicht die Hörner abstoßen, und wie die Formulierungen für Anpassung und Aufgabe sonst noch lauten mögen. Johnsons Menschen lassen sich durch Niederlagen nicht die Hoffnung nehmen. Selbst nach der Tortur in Fünfeichen ist Heinrich Cresspahl kein pauschaler Russenhasser, kann immer noch differenzieren. Er mag müde sein, aber er hat seinen eigenen Willen, sein eigenes Bild von der Welt. Anita hegt trotz Vergewaltigung durch eine Gruppe russischer Soldaten Sympathien für andere Fraktionen der Roten Armee und glaubt als Fluchthelferin das Richtige für ihre Vorstellung von einer besseren Welt tun zu können. Marie läßt sich ihre Idee von einem glücklichen Zusammenleben dreier Menschen auch nicht durch die geballte Liebesangst ihrer Mutter austreiben. Gesine engagiert sich trotz böser Erfahrung mit Russen und Parteien für den „Prager Frühling“. Und die „Jahrestage“ enden nicht etwa mit der Feststellung, dass ihr Versuch dämlich war, sondern mit einer Marie, die ihrer Mutter helfen wird, auch dieses Scheitern zu überstehen. Aber warum lassen Johnsons Menschen die Hoffnung nicht fahren? Was ist ihr geheimes Rezept? Eine Utopie ist sicherlich hilfreich. Etwa eine freiheitliche-sozialistische, wie Gesine sie auf Seite 690 der „Jahrestage“ notiert. Grundsätzliches Nachdenken über gesellschaftliche Alternativen ist gerade auch in den heutigen Zeiten verschärften Konsensdrucks sogar schon ein erster Schritt zur Veränderung. 236 Dankesrede Hoffnung braucht aber nicht das perfekte gesellschaftliche Gegenmodell oder gar seine unmögliche Umsetzung, um aktiv werden zu können. Das wäre „eine Haltung, die längst auf den individuellen Protest verzichtet hat und damit auf eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse; sie kann von ihren Beweisen prächtig leben und ähnelt doch dem, was früher kleinbürgerliches Denken hieß“. Was über D.E. in den „Jahrestagen“ (340-34) gesagt wird. Denn eine Utopie dient nicht der Abwertung kleiner, konkreter Erfolge, nicht der automatischen Enttäuschung, sondern der Motivation. Darum bevorzugen Johnsons Menschen eine praktikable Utopie: Ihre Hoffnung ist getragen von dem Bedürfnis nach einem selbstbestimmten Zusammenleben freier und gleicher Individuen. Und ein faires Zusammenleben der Menschen, wenn es kein Geschwätz sein soll, muss heute und jetzt beginnen. Im Kleinen. Ist nach Johnson vielleicht auch nur im Kleinen zu erreichen. Wenn Cresspahl mit anderen über Nacht eine HJ-Hütte verschwinden läßt, stoppt das nicht Hitler. Aber es macht allen, die mittun, Mut. Vom „eroberten“ Bauholz ganz abgesehen. Wer die kleinen Erfolge trotz weitergehender Wünsche zu schätzen weiß, kann kaum enttäuscht werden. Im Plattdeutschen gibt es die Weisheit: „Houpen is en staw, de de Mensk ut’t Paradiese metnoumen had“. „Hoffen ist ein Stab, den der Mensch aus dem Paradies mitgenommen hat“. Um ihn hier zu nutzen. Entsprechend vielfältig sind die Wege, sich der Erfüllung der Hoffnung zu nähern: Sei es Cresspahls gefährliche Spionage. Sei es Maries Spende für den Bettler mit den blauen Haaren in New York. Gesine versucht zwar, Marie das Geben an Bettler zu untersagen, aber vergebens. Denn es gibt keinen allein seligmachenden Weg, es gilt kein Effektivitätsmaßstab. Die Ursachen von Unrecht zu bekämpfen, ist so richtig wie das Lindern der „Symptome“, die den einzelnen Menschen treffen. Jeder Weg, Unrecht und Leid zu mildern, ist besser, als wegzusehen. Verständnis für fremde Wege auf der Suche nach einer menschlichen Welt ist deshalb auch Teil der Hoffnung. Cresspahl kann den Sozialisten Jakob ebenso verstehen wie den Pastor Brüshaver. Nur wer sich unbedingt einsam oder elitär fühlen will in seinem Bemühen, verachtet die Wege des anderen. Johnson behält allerdings nicht für sich, welchen Wegen er den Vorzug gibt: Seine Hoffenden sind nicht blind, sind nicht Gläubige auf der Suche nach dem Märtyrertod. Johnsons Hoffende sind listig, Cresspahl ebenso wie seine Enkelin 237 Christoph Busch Marie. Johnsons Hoffende haben Gespür für das ihnen individuell Mögliche. Johnsons Hoffende wollen möglichst viel ändern und möglichst viel leben. Doch trotz Augenmaß für sich, für die eigenen Fähigkeiten, die eigene Rolle in der Gesellschaft geht jeder aktiv Hoffende, auch der hoffende Fernsehredakteur ein Risiko ein. Zumindest das Risiko, aufzufallen, anzuecken, nicht akzeptiert, nicht geliebt zu werden für das, was sie oder er tut. Und damit eventuell nicht einmal viel zu erreichen. Was treibt dann die Hoffenden? Sind sie verrückt, besessene Weltverbesserer? Die Hoffenden ahnen, dass die Welt ohne sie, ohne ihre „Traumtänzerei“ anders aussähe. Brutaler wahrscheinlich, ein wenig mieser bestimmt. Wie zum Beispiel wäre der Krieg ohne Cresspahls Spionage für die Engländer verlaufen? Die Rettung der KZ-Häftlinge hat Cresspahl nicht erreicht. Aber wenn durch sein Tun der Krieg zehn Minuten früher aufgehört hat, nur zehn Menschen weniger gestorben sind, ist das nichts? Warum soll der Einspruch gegen die Ohrfeige für ein kleines Kind im Supermarkt nicht der Beginn eines menschlicheren Zusammenlebens sein? Auf jeden Fall haben die Hoffenden selbst etwas davon. Sie müssen Ärger über die Verhältnisse nicht herunterschlucken. Sie müssen Gespür für Unrecht und Wissen um Missstände nicht verdrängen. Sie müssen die veröffentlichte Meinung nicht hilflos über sich ergehen lassen. Sie können sich eine eigene Meinung, andere Ansichten vom Lauf der Dinge erlauben. Und etwas tun. Und sei´s nur, mit einem Nachbarn reden. Wer hofft, spürt sich höchstpersönlich. Hat ein Selbst. Ein Bewusstsein. Johnsons Menschen können nicht ohne: „Du kommst nicht an einem Pferd vorbei, ohne ihm in die Augen zu sehen.“ Heißt es über Gesine auf Seite 87 der „Jahrestage“. Hoffnung ist deshalb ein Mittel gegen die Angst. Angst ist verbreitet: Angst vor Arbeitslosigkeit, vor Armut, vor Krieg, vor Terror, Kriminalität. Verängstigte Menschen sind leichter zu manipulieren. Hoffnung auf Veränderung ist, so wenig aussichtsreich sie scheinen mag, ein vernünftiges Mittel gegen irrationale Ängste. Lieber sich von der Hoffnung umtreiben lassen, als von der Angst. Mit anderen Worten: Hoffnung auf Veränderung ist egoistisch. Und das ist gut so. Hoffnung auf Veränderung hat und pflegt der Mensch, weil sie oder er es braucht, um sich zu fühlen, um zu leben. Wer sagt, er hoffe nur für andere, dem ist heftigst zu misstrauen. Nur wer es selbst ohne Hoffnung in dieser Welt nicht aushält, wie Jakob, Cresspahl, Gesine, Anita und Marie, meint es ehrlich. 238 Dankesrede Johnsons leise Sympathie für die Hoffenden hat uns bei der Drehbucharbeit in große Schwierigkeiten gebracht. Johnson hatte viele hundert Seiten und vor allem seine bei aller Trockenheit ins Herz gehende Worte, um trotz momen-tanen Scheiterns seiner Menschen die Hoffnung durchschimmern zu lassen. Wir mussten einen Film schreiben, dessen letzter Teil in einer Versammlung von Katastrophen endet: In der 68er Roman-Gegenwart stirbt D.E., den zu lieben sich Gesine gerade getraut hat. Gesines wiedergefundene politische Liebe zu einem menschlichen Sozialismus wird von den Sowjet-Truppen überrollt. In der Roman-Vergangenheit stirbt Jakob. Wir wollten trotzdem Johnsons stille Erklärung, dass Hoffnung und Eintreten für dieselbe den Menschen zum Menschen macht, zum Ausdruck bringen. Wir haben uns entschieden, die Toten den Lebendigen Mut machen zu lassen. Ich hoffe, es hat Sie nicht aus der scharfen Kurve getragen: vom Preis zur Hoffnung bei Johnson. Mir war danach, die Kurve zu kriegen, gerade in diesen Zeiten, Johnson hatte, wie gesagt, bei aller Skepsis, ein Herz für die Waghalsigen. Vielleicht hat er ja auch Verständnis für die scharfen Kurven von Drehbuchautoren. Danke noch einmal, dass Sie Peter Steinbach und mir Hoffnung machen. Danke an Margarete von Trotta, Martin Wiebel und alle anderen, ohne deren Arbeit die Drehbücher ein Berg Papier mit einem Dutzend Leserinnen und Leser geblieben wären. Und Dank an Uwe Johnson, dessen Kunst unsere Arbeit erst möglich gemacht hat. Danke, dass Sie meinem Wort zum Sonntag Ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben. 239 „Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“. Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker G: Sie haben in den 60er Jahren mit Ihren Bänden „Felder“, „Ränder“ und „Umgebungen“ Prosaskizzen geliefert, dabei aber ‚Wirklichkeit‘ in ‚disparate Einzelheiten‘ aufgelöst. Mithin, es ging ihnen nicht um ein traditionelles Erzählen, vielmehr wurde mit der epischen Form gespielt und experimentiert. In den 970er Jahren stand dann die Lyrik im Zentrum, wobei dem Autor auch hier das Experimentelle wichtig war.. Nun sind Sie in den 80er bzw. 90er Jahren zunehmend zum Epischen gekommen. Hängt dies möglicherweise mit dem ‚Prinzip Erinnerung‘ zusammen, das für Sie eigentlich schon früh eine Rolle gespielt hat, so mein Eindruck. Um die Erinnerungen zu ‚verarbeiten‘ bzw. darzustellen, war die epische Form notwendig. B: Ja, damit hat das sicher zu tun. Schon als ich noch jung war, habe ich bereits mit „Erinnerung“ gearbeitet. Die „Felder“ sind bereits ein Erinnerungstext sogar mit Motiven, die in dem Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ jetzt wiederkehren. Meine ersten drei Bücher „Felder“, „Ränder“, „Umgebung“, die sogenannte experimentelle Phase, waren der Versuch, die Gattungen zu verschmelzen. Es ging mir darum, den lyrischen Impuls und das Erzählerische in eine Textform zu bringen. Diese Textform geht zunächst von der Sprache aus, ohne danach zu fragen: „Bin ich Gedicht, bin ich Prosastück“? Nicht die Frage der Gattung ist also zentral, sondern die Tatsache, daß hier ein „Stück Sprache“ existiert, das bestimmte Dinge reflektiert, Wahrnehmungen aufzeichnet. G.: Es war dies allerdings nur eine Phase, sie ging dann zu Ende. B: Nun gut, die Phase ging zu Ende, und weiterhin experimentell zu schreiben – da wäre ich wieder in einer Konvention geendet, die ich damit eigentlich widerlegen wollte. Danach – in aller Kürze gesagt –, habe ich versucht, die einzelnen Impulse wieder zu verselbstständigen, also einmal den lyrischen Impuls, ich schrieb dann Gedichte. Es ging mir ferner darum, das Akustische in meinen Büchern freizusetzen, ich schrieb Hörspiele. Und dann wollte ich eben auch Prosa schreiben, das begann mit „Erzählen bis Ostende“. Der Text war schon fast ein Romanansatz. In den 70er und 80er Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker Jahren konzentrierte ich mich auf die Lyrik, wobei die Lyrik ja zunehmend erzählerischer wurde. Diese langen, langen Gedichte sind ja eigentlich alle Erzählungen. Die Texte versuchen alle, Gleichzeitigkeit zu formulieren, es geht um den Moment, um den Hintergrund des Moments, also letztlich um das Vergangene. G: Die Konzentration auf die Lyrik hatte möglicherweise auch etwas mit Ihrem Beruf zu tun. Denn Sie waren ja über viele Jahre fest beim Rundfunk angestellt. B: Ja, ich war fast zwanzig Jahre im Deutschlandfunk, und das war ein FulltimeJob, der zwar Zeit ließ, am Wochenende oder in den Ferien oder abends noch Gedichte zu schreiben, aber ich merkte zunehmend, daß das starke berufliche Engagement keine Zeit und keine Energie ließ für Prosa, die ich fortwährend in meinem Kopf hatte. Und erst nach meiner frühzeitigen Pensionierung 993, da wußte ich, jetzt schreibe ich eigentlich das Prosabuch, das ich immer schreiben wollte. Das war der Ansatz des „Fehlenden Restes“, ich wußte aber nicht, wohin es geht. Ich hatte keinen Stoff, keinen Inhalt, nur diesen Impuls. Und der führte dann eben zu einem Punkt, an dem ich merkte, hier öffnet sich etwas. G: Inzwischen waren auch einschneidende gesellschaftliche Veränderungen eingetreten. Mit dem Jahr 989 eröffneten sich ganz neue und andere Perspektiven. B: Genau, die Wende und die Wiedervereinigung. Das hat mich sehr stark beschäftigt und das wurde auch in den Gedichten spürbar. Es gab Reisen in die Landschaften der Kindheit, und das waren eben auch Reisen in deutsch-deutsche Vergangenheiten. Es ging also nicht nur um Privatkindheit, sondern eben auch um unsere deutsche Herkunft, unsere Geschichte. Es gab zwei getrennte Länder, die aber eine gemeinsame Vergangenheit hatten und die nun plötzlich wieder eins sind. „Der fehlende Rest“ – das Buch war beendet, aber ich wußte, das ist eigentlich der Anfang eines neuen Buches, nämlich des Romans „Aus der Geschichte der Trennungen“. Da tauchte nun der Jörn Winter auf, diese Figur, die sich mit ihrer Kindheit beschäftigte, aber das war in dem ersten Buch nicht mehr unterzubringen. Als ich das Buch beendete, wußte ich, das nächste Buch wird doch eine größere erzählerische Dimension annehmen, die ich dann natürlich eigentlich auch „Roman“ nennen könnte – gegen alle Skrupel und Widerstände. 242 „Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“ G: Kann man sagen, daß Ihnen die Gattung „Roman“ über viele Jahre nicht so lieb war, ja Ihnen das ‚Erzählen‘ im traditionellen Sinne gegen den Strich ging? B: Ich hatte zunächst immer theoretisch ‚etwas‘ gegen den Roman. Aber im Fall der „Geschichte der Trennungen“ war es ja nicht nur ein authentisches Erzählen, also ein authentischer Bericht über die eigene Biographie, sondern es kam die Entdeckung der erzählerischen Imagination hinzu, eben das, was der Germanist Fiktion nennt. G: Sie entdeckten also gewissermaßen die Möglichkeiten einer ‚epischen Fiktion‘ für sich neu? B: Ja, das war die Entdeckung von etwas ganz Konventionellem, aber für mich doch Neuem. Ich merkte, daß in dem Fall, da man nicht völlig autobiographisch schreiben will, es die Möglichkeit gibt, in der Fiktion sich eine Person entwickeln und leben zu lassen, ohne daß man dabei an eine :-Übersetzung von Erlebtem und Dargestelltem denken muß. Es war also gar nicht die Entscheidung, einen Roman zu schreiben, sondern eine ganz natürliche Entwicklung. Es hatte sich nämlich soviel Stoff angesammelt, und dieser Stoff konnte eben nur in dieser großen Dimension seinen Platz finden. G: Von Uwe Johnson gibt es den vielzitierten Satz, der möglicherweise auf den Vorgang zutrifft, den Sie soeben beschrieben haben: „Die Geschichte sucht, sie macht sich ihre Formen selber.“ B. Vielleicht. Ich merkte, daß diese Geschichte von Jörn Winter von mir Besitz ergriff. Von mir als Autor, der ich ja eigentlich die Geschichte zu erzählen habe. Der aber zugleich die Geschichte als einen selbständigen Vorgang in der Weise begreift, daß der Autor der Geschichte folgen muß, daß er sie für sich quasi entdeckt. Irgendwie ist die Geschichte da, jetzt muß sie aber erzählt werden. Das führte dann zu der Entdeckung dieses zweiten Ichs, von dem Proust einmal gesprochen hat. In uns steckt ein zweites Ich, das erzählt, denn der Autor ist es nicht alleine. Dadurch entsteht eine Art Doppelkonstruktion, beim „Fehlenden Rest“ und bei den „Trennungen“, da sind zwei Personen, es gibt den Erzähler und den Jörn, wobei im Grunde beide fast identisch sind. Das ist der kleine Kunstgriff. G: Warum bleibt der Erzähler im Roman von der „Geschichte der Trennungen“ eigentlich namenlos? 243 Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker B: Es ist ein Schatten oder der Zuhörer, den man hat, wenn man Selbstgespräche führt, der sich dann einmischt und Fragen stellt und es genauer wissen will. Ich glaube, es wird vielleicht erkennbar, daß diese Figur die Funktion des Erzählers hat, der auch schon mal den Jörn was fragt, ihm weiterhilft oder mit ihm spricht. Das ist einfach nur ein Erzählgriff, um die Erzählung überhaupt in Gang zu halten. Die Form nach dem Prinzip „Ich erzähle meine Geschichte“ war mir zu direkt. Mit den zwei Figuren waren die Brechungen und Distanzen möglich. G: Ich fühlte mich dabei an Uwe Johnson erinnert, aber auf eine ganz andere Weise. Johnsons Ich-Erzählerin Gesine hat ja auch eine Art Helferin beim Erinnern, nämlich ihre Tochter Marie. Diese Konstruktion, die Johnson entwickelt, ist mitunter kritisiert worden. Die Marie wurde als eine Art Stichwortgeberin bezeichnet, als eine ‚Figur‘ also, die dazu da ist, den Vorgang der Erinnerung bei Johnsons maßgeblicher ‚Person‘ Gesine auszulösen. Die erinnert sich, erzählt und Marie löst dann in Form einer Frage einen neuen Erinnerungsstrom aus. Auch bei Ihnen gibt es mit dem Paar ‚Erzähler-Jörn‘ eine Konstruktion. Im Vergleich zu Johnson gibt es natürlich deutliche Unterschiede, mindestens jenen, daß es bei Ihnen kein Kind ist, das die Stichworte gibt, als Partner im Prozeß des Erzählens auftritt und dadurch mitunter etwas überfordert wirken kann. B: Ja, das wirkt manchmal ein wenig altklug, aber trotzdem hat mich Johnsons Ansatz überzeugt. Und auch Johnsons Verhältnis zu seiner ‚Figur Gesine‘. Wir hatten mal ein Gespräch darüber, wo er schon fast tickhaft erklärte „Ich schreibe im Auftrag von Gesine Cresspahl“. Ich habe da bei meinem ‚Jörn‘ dran denken müssen. Nicht, daß ich mich jetzt mit Johnson vergleichen möchte. Aber ich denke, es ist wirklich so in der Art. Man schreibt einen Roman und hat da eine ‚Person‘, von der man sich quasi beauftragt fühlt. Das war für mich eine neue Erfahrung. Die ‚Person‘ schaut einen an, sie will wissen „wie geht es weiter mit mir, was habe ich erlebt“. Daß diese ‚Person‘ halbwegs identisch mit dem Autor ist, der sich dann selbst wieder fragt, „was war da“, das ist ein spannender Vorgang. Und den hat Johnson erlebt. Das ist dann auch ein sehr reizvolles Spiel in einem rein imaginären Bereich. G: Insofern kann man durchaus sagen, daß der Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ eine verdeckte Autobiographie ist? Verdeckt meine ich völlig wertneutral. 244 „Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“ B: Ja. Ich habe das Buch auch deshalb Roman genannt, um die Tatsache zu kaschieren, daß es sich um eine Autobiographie handelt, um eine nicht im ganzen strengen Sinne :-Autobiographie. Aber ohne die autobiographischen Erfahrungen des Autors wäre die Geschichte von Jörn nicht zustande gekommen. G: Ich glaube, es spielt auch noch ein zweiter Aspekt eine Rolle, der aus ihrem ‚Herkommen‘ rührt, also aus den 60er Jahren. Schon für Lyrik ist die Erinnerung wichtig, und im Roman sagt der Erzähler es dann auch ganz direkt: „Das Gedächtnis lebt erst auf, wenn es Wörter und Sätze gibt. Die müssen wir uns aus dem Schlaf holen.“ An anderer Stelle heißt zum Problem der Erinnerung: „Es ist oft so, daß ich nicht mehr weiß, wie es wirklich gewesen ist und ist das, was ich jetzt erzähle, eigentlich das, was ich wirklich erlebt habe oder ist es das, was ich von anderen gehört habe und meine erlebt zu haben?“ Damit wird die Problematik des Erinnerns thematisiert und auf die Beschaffenheit Gedächtnisses angespielt. B: Ja, ja, das ist hier ganz deutlich geworden, wo es zum Teil um sehr konkrete Erinnerungen geht, die man hat, so als ob man in einem Fotoalbum blättert und dann ein altes Foto sieht. Und jetzt weiß ich auch vielleicht noch, das Kind auf dem Foto, das bin ich, und ich kann mich vielleicht sogar noch daran erinnern, wie das Foto zustande gekommen ist, wo das war und wann. Aber das große Umfeld, der Film, der vorher läuft und weitergeht – den kenne ich entweder nur ungenau oder gar nicht. Und bei manchen Fotos weiß man vielleicht noch, was die Eltern oder jemand anders einem dazu erzählt haben, und hier beginnt schon die Vermittlung – die vorproduzierten Erinnerungen, die man sich zu eigenen macht. Doch die Erinnerung kann sehr ungenau sein. Und trotzdem, man weiß genau, diesen Geruch, dieses Zimmer, diesen Blick aus dem Fenster, das gab es alles. Allerdings immer in Verbindung mit der ganzen Geschichte. Das aufzuschreiben, das geht oft nur über die Imagination. Man stellt sich vor, wie es hätte sein können, oder vermischt es mit dem, was man erzählt bekommen hat. Für einen alten Romancier ist dies eine ständige Erfahrung, für mich war es neu. Denn selbst beim Gedichteschreiben, bei der Lyrik – auch dort, wo man schon ins Erzählen kommt –, ist das nicht der Fall. Da geht es um ganz andere Fragen. Da schreibt man zwar auch hochbewußt, aber zugleich spielt das Unbewußte mehr eine Rolle. Und wenn es mir jetzt nur darum ging, genau die Straße zu beschreiben, wo der Autor gewohnt hat und wo der Jörn jetzt aus dem Auto steigt – Sie werden es gemerkt haben – da ist zum Teil eine 245 Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker völlig übertriebene Detailbesessenheit, bei der es mir nur darum ging, das, was in der Erinnerung noch als Bild da ist, zu einer Wirklichkeit, zu einer sehr präzisen Wirklichkeit zu formen. Das war immer das Problem, das war aber auch immer der Reiz beim Schreiben. G: Uwe Johnsons Figur Gesine spricht in den „Jahrestagen“ von den sogenannten „Tricks der Erinnerung“, daß man sich einen Tag vorstellt, eine Person, daß dies aber schon zwanzig oder dreißig Jahre her ist. Auf diese Weise kann es zu einem Umschreiben der Vergangenheit kommen. Heraus kommen kann ein Tag, „der so nicht war“, gefertigt wird eine Vergangenheit, „die ich nicht gelebt habe“. Ein „falscher Mensch“ ist vielleicht das Ergebnis, einer, „der von sich getrennt ist durch die Tricks der Erinnerung“, wie es bei Johnson heißt. Wie ist es dem Jörn bzw. dem Autor Jürgen Becker gegangen mit diesen „Tricks der Erinnerung“? Denn: Es ist ja ein menschliches Bedürfnis, ja es gehört zum Wesen des Autobiographischen, rückblickend Handlungen, Ereignisse, Vorgänge in einem besseren Licht aufscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit waren. Hatten Sie beim Schreiben auch mit diesem Problem zu tun, gab es Stellen, an denen Sie sich vielleicht sogar revidieren mußten? B: Ja, es passierte öfter, daß ich mich revidieren mußte, oder da, wo es vermeintlich authentisch ist, stimmt es dann doch nicht. Das merkte ich anläßlich eines Klassentreffens 2000 in Erfurt. Meine letzte Klasse in Erfurt, die ich 947 zuletzt gesehen hatte, die hatten mich durch das Buch irgendwie entdeckt und luden mich ein. Sie kannten alle das Buch, und da ging es dann los: Der erste sagte „Nein, so war das im Osten nicht“, der zweite sagte „Ja genau, und jetzt ist sogar meine eigene Erinnerung plötzlich wieder da und ich weiß, wie es war.“ Direkte Fehler habe ich beim Erzählen nicht gemacht, aber wenn man meine Erinnerungen mit denen von anderen vergleicht, die im selben Umfeld gelebt haben, da gibt es schon riesige Unterschiede, die das Objektive von Erinnerung nicht sofort in Frage stellen, aber doch modifzieren. G: Was war, wenn Sie sich nicht mehr erinnern konnten? B: Wenn es beim Schreiben nicht weiterging, bin ich immer sofort zurück in die Gegenwart gegangen. Der eigentliche Schauplatz ist ja Wiepersdorf, wo die Personen sitzen und wo das gegenwärtige Leben auch eine maßgebliche Rolle spielt. Die vielen Spaziergänge, das Beschreiben des Flughafens, die Landschaft, das kam ja immer noch hinzu. Ich hatte zwei Monate ein Sti246 „Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“ pendium in Wiepersdorf, und die Landschaft hat mich so stark beeinflußt, daß ich dachte „die möchte ich darstellen, die möchte ich beschreiben“, ohne dabei an den Roman zu denken. Das spielte aber dann bei dem Roman eine Rolle – ich suchte einen Schauplatz, überlegte mir „wo bringe ich den Jörn unter“. Also gut – ich schickte ihn nach Wiepersdorf – da kennt er sich ein bisschen aus, da hat er sich wohlgefühlt, da sind Menschen, dieser Dorfschmied, der in seinem Alter ist. Die zwei kann man an einen Tisch bringen, die unterhalten sich, sind Generationsgenossen. So entstand dann diese Gleichzeitigkeit, diese ständige Gegenwart von Wiepersdorf. Und dann kam dort irgendein Impuls, der dann plötzlich wieder zurückführte in die Kindheit, und wo ich dann merkte „hier geht es nicht weiter, hier ist irgendetwas abgeschlossen“. Dann ging es erneut wieder zurück nach Wiepersdorf, dann war es die neue Gegenwart und von dort kam wieder ein Impuls, der zurückführte. G: Man kann sagen, der Wechsel der Ebenen war für das Schreiben des Romans wichtig. Mit dem Wechsel ging es gewissermaßen beständig ‚voran‘. B: Dieser Wechsel der Schauplätze hat die Sache in Gang gehalten. Anders wäre es gewesen, wenn ich den Jörn nur nach Erfurt geschickt hätte und ihn dort herumlaufen ließe – nur dort. Das wäre nur Vergangenheit gewesen, und das hätte mich nicht so gereizt, weil das, was jetzt ist, ja auch immer seine Vorgeschichte hat. Und ich frage mich: wie wirkt das zusammen und wie sind die Zusammenhänge? Der Jörn sitzt auf einem kleinen Flugplatz, das war früher mal ein Feldflugplatz der Luftwaffe, dann war der Russe da, die NVA, und jetzt er, der als Junge fasziniert war von der Fliegerei und von der deutschen Luftwaffe. Da war plötzlich der Impuls da. Ich hatte gar nicht vor, über diese Fliegerbegeisterung von Jörn zu schreiben, daß er als kleiner Junge die Ritterkreuzträger der Luftwaffe aus der Zeitung schnitt – der Impuls kam auch durch Gespräche auf dem Flugplatz zustande – ein NVA-Flieger leitete den Flugplatz und erzählte mir von seinen Flugschülern. Der Vater eines Schülers hat hier gelegen und noch eine JU 88 geflogen, ein anderer erzählte mir, er sei früher in der Flieger-HJ gewesen, und er fängt jetzt wieder an zu fliegen. Da waren auf einmal Zusammenhänge da zwischen ‚Jetztzeit‘ und Vergangenheit – Görings Piloten sind in dieser technischen Lehranstalt ausgebildet worden. Man erlebt jetzt etwas und sieht auf einmal, wie die Dinge zurückführen. Und da sind natürlich auch Jörns Erinnerungen an seine eigene Zeit, wie er als kleiner Junge „war-minded“ war, wie der Engländer sagt: kriegsbegeistert. Speziell die Fliegerei – er 247 Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker wollte ja auch selber Jagdflieger werden. Und das fällt ihm eben alles auf diesem kleinen Flughafen ein, wo er diesen kleinen Privatmaschinchen zuschaut, wo er selber einmal mitfliegt, und auf einmal diese Erlebnisse hat, die ihm sagen „was hatte ich als Kind für Träume, für Illusionen im Kopf “. G: Man kann also annehmen, daß die Erinnerungsarbeit des Jörn bzw. des Autors Jürgen Becker ganz stark gebunden ist an Orte und Landschaften? Jörn ist ein visueller Mensch, der mit Natur viel verbindet und über die Natur wird ein Erinnerungsprozeß in Gang gesetzt? B: Ja, das ist richtig. Am Anfang steht die sinnliche Erfahrung von Landschaft – ich bin ein sehr sinnlich erfahrender Mensch, wenn ich Maler wäre, wäre ich Landschaftsmaler. Aber Landschaft ist ja nicht nur der ästhetische Vorgang alleine, ist nichts Neutrales, nichts Unschuldiges. Landschaft hat Geschichte und verbindet sich mit allen möglichen politischen, historischen Vorgängen. Und da ist es dann, wie Sie es sagen: Landschaft oder Orte stellen Zusammenhänge bzw. Beziehungen zu Vorgängen her; zu Vorgängen aus der eigenen Geschichte oder zu Vorgängen unserer Geschichte. Ich bin kein politischer Schriftsteller, aber für mich ist Landschaft auch immer wieder das Muster, die Kulisse oder der Ort, wo etwas passiert ist, das auf uns alle eingewirkt hat. G: Im Roman meint Jörn, daß die Geschichte gespalten, „verblockt“ sei. Woran liegt es, daß Jörn, der ja nun kein junger Mann im klassischen Sinne mehr ist, sehr spät an seine Wurzeln zurückkehrt. Es ist ja eigentlich ‚normal‘, wenn man sich mit 50 oder 60 Jahren seiner Kindheit erinnert. Man tut dies sicher ganz anders, als dies in jüngeren Jahren der Fall gewesen wäre. Heute gibt es Autoren, die mit Mitte zwanzig ‚Kindheitsgeschichten‘ erzählen. Woran liegt es, daß Jörn sich erst jetzt an diese verlorenen, „verblockten“ Schauplätze und Vorgänge erinnert? B: Das hat mit der Geschichte zu tun und den für mich sehr entscheidenden geschichtlichen Veränderungen von Wende und Wiedervereinigung, mit der Möglichkeit, die Jörn nun sehr exzessiv wahrnimmt, daß er nämlich durch die sogenannten „Neuen Länder“ fährt, sich also zwischen Thüringer Wald und Ostseeküste aufhält. Jörn hat nie die DDR kennen gelernt. 947, als er aus Thüringen weggeht, und das stimmt mit dem Lebenslauf des Autors überein, hat er – aus welchen Gründen auch immer – diese DDR, die damals so noch nicht existierte, aber als sowjetische Besatzungszone 248 „Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“ schon alles anzeigte, was in der DDR sich dann alles realisieren sollte, nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Irgendwo sagt er: „Ich habe immer mit dem Rücken zur DDR gelebt“. G: Das hängt mit der „Geschichte der Trennungen“ zusammen. Es gibt viele Gründe, die Jörn mit dem ‚Rücken zur DDR‘ leben lassen. B: Dafür gibt es in der Tat eine ganze Menge von Gründen. Das Ergebnis ist, daß diese Zeit dem Jörn als eine abgeschlossene vorkommt, als eine abgeschnittene Kindheit, die zwar jetzt den Gang seiner Erinnerungen auslöst, aber es ist nichts, wohin er glaubt, je zurückkehren und es vergegenwärtigen zu können. Er hat ja vorher auch eine Kindheit gehabt. Viele Reisen und ein paar Jahre sind vergangen – und schon hat man eine Erinnerung daran. Dahin kann man zurückkehren und es lebendig halten. Aber im Falle des Staatsgebietes der DDR, da funktionierte das nicht mehr. Und er hatte ja auch nicht die Hoffnung, daß sich das mal ändern könnte. Für ihn war das ein Fakt der Geschichte, er hatte angenommen, daß er dies niemals würde wiedersehen – Rügen oder Thüringen oder eine Stadt wie Erfurt. Und das führte eben zu einer Blockade, unter der er nicht gelitten hat; es war ein Abschluß, es war vorbei, es war eine Kindheitserinnerung, das lebte nicht mehr, das hatte keine Zukunft. Doch das ändert sich in dem Moment, da er plötzlich unverhofft wieder in diese Orte gehen kann, und das keineswegs nur besuchsweise, sondern er könnte da leben, er könnte sogar umziehen. Dieses ganze Deutschland ist wieder jener Bereich, den er als Kind kannte; man kann dorthin fahren und überall zuhause sein. Das hat die Sache ausgelöst und zugleich noch einmal verdeutlicht, wie ‚verblockt‘ er eigentlich gewesen ist, wie isoliert oder in welcher Distanz er gelebt hat zu seiner Kindheit. G: Aus dem Text lese ich noch einen zweiten Grund heraus, warum Jörn sich seiner Kindheit erst sehr spät erinnert. Und der liegt in der Geschichte des Jörn selbst. Es gab für ihn ein traumatisches Ereignis, nämlich den Tod der Mutter. B: Ja, das spielt natürlich auch eine Rolle. Der Jörn hat, und auch das ist identisch mit dem Autor, als Kind die Erfahrung gemacht, die Kinder heute öfter machen, daß sich die Eltern haben scheiden lassen. Und im Jahr 943 war eine Ehescheidung ein Ereignis, das unvorstellbar war. Da hatten die Ehepaare andere Sorgen – der Mann an der Front, die Frau zu Hause. Und so eine Ehescheidung war etwas ganz Seltenes und eben auch sehr Gravie249 Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker rendes, auch durch die Folgen bis hin zum Tod der Mutter. Und als Kind, da nimmt man das einfach so zur Kenntnis. Aber was da übrigbleibt und was sich mit der Zeit daraus entwickelt, hat wahrscheinlich wirklich eine traumatische Wirkung gehabt. Und es war für den Jörn sehr entscheidend. Seine Mutter liegt in der Mark Brandenburg begraben. Und das Grab, so denkt er, wird er nie wieder sehen. Dadurch entstanden dann auch gewisse Schuldgefühle, etwa die, daß er sich nicht um das Grab kümmern konnte. Das hat der Vater eine Weile lang getan, aber dann auch nicht mehr. Da waren wohl sehr starke Schuldgefühle, die sich so einfach auch nicht auflösen lassen. Aber diese Privatgeschichte hat mit dazu geführt, daß in Jörn eine Mischung aus Gleichgültigkeit, gespielter oder erfundener Gleichgültigkeit, Trauma, Schuldgefühl das Verhältnis zum ganzen Land mitbestimmt hat. Das löst sich nun nach der Wiedervereinigung auf einmal auf – auf einmal kann man überall hin. Jetzt kann er zum Schwieloch-See fahren, dorthin, wo die Mutter ums Leben gekommen ist. Also alles ein Grund, warum plötzlich ein Roman entsteht, warum sich solche Dinge auf einmal in eine Erzählung verwandeln. G: Der Roman heißt „Aus der Geschichte der Trennungen“. Und das meint natürlich auch – so lese ich den Text –, die unterschiedliche Geschichte in Ost und West. Sie wird im Roman durch unterschiedliche Protagonisten gewissermaßen repräsentiert. Da sind zum einen jene, die im Westen großgeworden sind und zum anderen jene, die im Osten lebten. An einer Stelle – relativ früh im Roman – sagt Jörn: „Zwischen uns liegt so etwas wie ein Nebel, der alles unscharf macht. Das Trennende sind die unterschiedlichen Erfahrungen.“ Nun verfügt der Jörn über die West-Erfahrung. Aber wie kommt er an die Ost-Erfahrung? B: Das ist ja sein Problem, und es bleibt auch noch sein Problem, denn er kommt an die Ost-Erfahrung nicht herran. Er weiß nur, daß er überhaupt nicht zuständig ist für irgendwelche Kommentare über das Leben im Osten. Er hält sich da sehr zurück. Er wird Lebensläufe nicht beurteilen oder kommentieren können – gleich welcher Art. Ein Mensch, der in Polen aufgewachsen ist oder in Ungarn oder in Belgien oder in Spanien – das sind auch völlig unterschiedliche Lebensläufe. Aber hier ist es der deutschdeutsche Lebenslauf; das ist das Problem. Es ist zwar noch die gleiche Sprache, und in seiner Generation ist es die gleiche Kindheit; die Kriegs- und Nachkriegskindheit, deshalb ist für ihn ja der Demuth so interessant, da es da durch die Kindheit noch einen gemeinsamen Hintergrund gibt, aber 250 „Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“ dann spaltet sich das auf. Dann beginnen 40 Jahre hier und 40 Jahre dort. Natürlich weiß der Jörn, weiß der Autor, ein bißchen etwas über den Osten, denn man hat ja viele Menschen gekannt und vieles gehört und gesehen und gelesen. Aber trotzdem – ich werde in der Hinsicht eigentlich immer sprachloser und stummer. Leben in der DDR – und ich meine jetzt nicht das Offizielle –, sondern den Alltag, also Fragen danach „wie verbringe ich meine Tage“, „wie arbeite ich“, „wie komme ich zu einem Studium oder zu einem Beruf“. Daraus ergibt sich die Frage „was wäre aus mir geworden, wenn ich in der DDR geblieben wäre, wenn mein Vater sich damals anders entschieden hätte. Wenn er gesagt hätte ‚gut, wir bleiben hier‘? Was wäre aus mir geworden?“ G: Deshalb gibt es die Figur der Vera Binz? B: Genau, die Vera Binz taucht nicht zufällig auf, für sie gibt es ein reales Vorbild, eine Dramaturgin beim Rundfunk der DDR, die genau am selben Tag wie Jörn Geburtstag hat und die genau das beruflich geworden ist, was er am Ende auch wurde: Hörspielchef. Sie bei der Hörspielabteilung beim Rundfunk der DDR und der andere bei der Hörspielredaktion im Deutschlandfunk – ein fast magischer Zusammenhang. Beide sind gewissermaßen Antipoden, Kontrahenten, ideologische Gegner. Aber über eine Antwort auf die Frage, „was wäre, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre“, bin ein bißchen ratlos, und ich kann dazu nicht viel sagen. Ich weiß nur, daß ich nicht autorisiert bin, DDR-Biographien zu bewerten, ich bin nicht kompetent, dazu etwas zu sagen. Nun bin ich aber auch nicht der Reporter, der übers Land zieht und ständig Interviews führt und alles wissen will. Soweit geht es nicht, daß ich jetzt ostdeutsche Lebensläufe nacherzählen möchte, wie sie einem Westdeutschen erzählt werden. Das wird ja mitunter gemacht. Da gibt es so viele Rundfunksendungen und inzwischen auch Biographien. Das interessiert mich auch sehr, aber ich weiß ganz genau, da fehlt mir etwas. G: Aber trotzdem kann man erkennen, daß Jörn Abstand zu Vera Binz herstellt. Es heißt hier: „Vom Krieg schienen sie nur behalten zu haben, daß sie ihren Staat …“ Das ist ja dann schon ein Hinweis darauf, daß er bestimmte Positionen der Vera Binz so nicht teilen kann. B: Es ist merkwürdig. Mir stehen da noch ein paar Gespräche bevor mit Vera Binz. Denn wenn wir zusammengesessen und geredet haben, das war dann meistens im italienischen Ausland, war es für mich rührend, mit Kollegen 251 Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker zusammenzusitzen, die aus Thüringen kommen, die bestimmte Dinge in Thüringen zur gleichen Zeit erlebt haben und jetzt darüber sprechen. Ich geriet ins Reden und merkte nicht, daß ich auf der anderen Seite diese Art von Erinnerung eigentlich gar nicht hervorrufen kann – die ist irgendwie durch etwas anderes überdeckt. Das lag auch daran, daß West- und Ostdeutsche in den 80er Jahren nicht so reden konnten, wie sie vielleicht eigentlich wollten. Und möglicherweise war man auch gehemmt. Das ist jetzt erst möglich. Ich hatte immer das Gefühl, da liegt irgendwie ein ‚Tabu‘ darüber. Ich werde versuchen, es mit einem Klischee zu erklären: Menschen, die in der DDR leben, haben zu dieser NS-Vergangenheit ein völlig anderes Verhältnis. Ich hatte den Eindruck, daß sie für sie erledigt ist, man lebte in einem antifaschistischen Staat und da spielte alles andere eigentlich keine Rolle mehr. Das genügt nicht, da bin ich noch dahinter gekommen. Denn es gibt doch natürlich Erinnerungen. Ich denke an die Tage, als der Ami aus Thüringen abzog und der Russe kam. Das war 945 ein traumatisches Erlebnis, darüber kann ich stundenlang reden. Aber erstaunlicherweise nicht mit den Gesprächspartnern aus der DDR. Da war entweder das Gedächtnis weg oder man wollte nicht darüber reden. Man meinte, deren Biographie schien eigentlich erst anzufangen mit der Gründung der DDR. So war zumindest die offizielle Version – ob es so stimmt, das kann ich so genau nicht sagen. G: Ende der 80er Jahre hat Stefan Hermlin darauf verwiesen, daß auch in der dann entstandenen DDR nur ein sehr geringer Teil der Bevölkerung wirklich etwas gegen die Nazis getan hat. Aber mit dem Hinweis auf den Westen und die dort wieder in hohen Positionen agierenden Vertreter des Dritten Reiches konnten Mitläufer in der DDR ihr Gewissen entlasten, sie wurden gewissermaßen entschuldet. B: Das fing ja damals 945 schon an. Ich war zwar ein Kind, aber ich habe sehr genau wahrgenommen, wie in diesen zwei Jahren SBZ Veränderungen stattfanden bei Leuten, die man kannte. Für mich war der erste Schock: da laufen plötzlich die alten Fähnleinführer im blauen Hemd der FDJ herum. Ich dachte, das kann nicht wahr sein. Ich war ich gerne Pimpf, aber da war auch nach 945 die Desillusionierung so stark. Auf jeden Fall: gegen eine Uniform oder eine Jugendbewegung – da war ich immunisiert. Auch wenn man einen Gesinnungswandel voraussetzt und davon ausgeht, daß man neu aufbauen mußte, ich hatte das Gefühl, von der einen Diktatur geht es jetzt in die andere über – das war eine sehr spürbare Tendenz. 252 „Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“ G: Wenn ich einmal unterbrechen darf, das ist eine Tendenz, die Sie wahrgenommen haben. Ein Autor wie Johnson hat das zunächst nicht so gesehen. Für ihn standen zunächst der Aufbau, die neue Gesellschaft, das gesellschaftliche Engagement im Vordergrund. Und dafür nennt Johnson zunächst auch gute Gründe. B: Ich will das nicht bestreiten. Johnson ist zunächst in die FDJ gegangen und hat sich engagiert. Er ist ja nur zwei Jahre jünger als ich, hat im Grunde aber vergleichbare Erfahrungen. Und natürlich will ich nicht die Redlichkeit von Menschen anzweifeln, die einen Neuanfang versuchen. Aber ich hatte in Thüringen andere Erfahrungen. Da hat man zwei Jahre darauf gewartet und gehofft, daß der Ami zurückkommt. Da gingen wirklich die absurdesten Gerüchte um, die kommen wieder. Man wußte ja offiziell nichts vom Potsdamer Abkommen, also davon, daß die Aufteilung nunmehr besiegelte Geschichte ist. Man hatte immer noch die Illusion, der Ami kommt zurück. Er ist aber nie gekommen. Die, die geblieben sind, haben sich sicher gesagt: „Gut, wenn der Ami nicht kommt, dann bauen wir eben unseren Staat“. Man hat eben auf diese neue Karte gesetzt und sich gar keinen Illusionen mehr hingegeben, sondern sich sehr schnell auf die neue Realität eingestellt, nicht nur passiv, sondern auch aktiv. Das war jedenfalls so bei Leuten, die ich in Thüringen kenne, die eben geblieben sind. Denn es wären wahrscheinlich noch mehr gegangen, wenn sie im Westen eine Möglichkeit gesehen hätten, wenn sie da Verwandte gehabt hätten. Viele blieben ja nur, weil sie sich sagten: „Wohin denn in den Westen? Hier ist mein Haus, mein Garten, meine Heimat.“ G: Im Text wird – kursiv hervorgehoben – das bekannte Adorno-Diktum zitiert: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ Das spielt bei Johnson auch eine Rolle, das hat er der Gesine in den Mund gelegt. Sie revidieren das in gewisser Weise, denn der Jörn mahnt an, daß man etwas differenzierter umgehen solle mit diesem harten Diktum. B: Ja sicher, dies ist einer dieser Zaubersätze von Adorno. Ich habe eine zeitlang sehr intensiv Adorno gelesen, so in den 60er Jahren, und konnte mich dann auf die Dauer mit Adorno nicht weiter beschäftigen, denn dieser Einfluß war so stark, daß es bis in die Schreibweise und bis ins Denken hineinging und das Weltbild prägte. Man mußte das Gefühl haben, in diesem einerseits doch sehr wunderbar freien Westen lebt man in einer falschen Welt, die eigentlich doch nur eine verkappte faschistische Welt ist. 253 Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker Das ist bei Adorno alles sehr stimmig, aber verglichen mit der Wirklichkeit stimmt es eben nicht. Und davon habe ich mich gelöst, vollkommen. Das hat jetzt mit dem Roman nichts zu tun, aber da die Erfahrung „Adorno“, die Beurteilung von Leben, eine sehr eindeutige ist, aber die Erfahrung der Wirklichkeit dann doch immer wieder eine andere wurde, konnte das für mich nicht in der Weise maßgebend bleiben. Und wenn man sich in diesem Zusammenhang Biographien anschaut, wie etwa die des Architekten Klotz, mit der ich mich jetzt eine ganze Zeit beschäftigt habe, von dem man sehr wenig weiß, der im Dritten Reich seine Karriere gemacht hat, aber vorher schon ein erfolgreicher Architekt war, und der wahrscheinlich nie richtig begriffen hat, was er macht, und der sich nach dem Krieg immer beschwert hat: „Warum bekomme ich keine Aufträge mehr, ich war doch völlig unpolitisch“ – das war er auch. Damit war er aber auch willfährig nach allen Seiten hin, wie es Architekten oft sind, die nehmen Aufträge von allen Seiten an. Ich fragte mich dies beispielhaft „Wie kann ich eine solche Biographie richtig kennen lernen und beurteilen?“ G: Nach dem Diktum Adornos hätte der Mann völlig falsch gelebt. B: Ja, aber wie hat er denn nun wirklich gelebt, wie war seine Herkunft? Er ist ja nicht als Nazi auf die Welt gekommen. Er ist wahrscheinlich auch nie einer geworden, er hat sich nur sehr weit angepaßt und hat damit auch Erfolg gehabt, als Architekt und Baumeister. Aber schauen wir alle unsere Biographien an, die nach außen hin so eindeutig sind: Was steckt da noch an Möglichkeiten, an Unsicherheiten, an verdeckten Dingen in uns? Die Fragen und Rätsel, die jede Biographie so in sich trägt, die lassen, selbst wenn sie eindeutig erscheinen, ein solches Diktum nicht zu, das „richtige“ oder das „falsche“ Leben. G: Deswegen erscheint mir der Hinweis Ihrer Figur, man würde mit diesem Diktum eine ganze Existenz im Nachhinein erledigen, ganz richtig. Die Biographie, das deutet er an, besteht aus mehr. Die Varianten eines Lebenslaufes sind sehr vielfältig und lassen sich nur schwer auf einen Punkt bringen, da ist in einer Person viel Widersprüchliches, Anpassung und Widerstand schließen einander nicht aus, im Gegenteil. B: Der Möglichkeiten gibt es viele, es hängt mit von den Umständen ab, welches Ich sich durchsetzt. G: Das gilt aber für jede Gesellschaft, nicht nur für die DDR. 254 „Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“ B: Das ist richtig, ich will das jetzt keineswegs auf die NS-Zeit oder DDR-Zeit beschränken. In jeder beruflichen Konstellation, auch in jeder Ehe spielt es eine Rolle; überall, wo Gesellschaftliches passiert. Egal, ob wir als Lehrer vor der Schulklasse stehen oder als Polizist den Verkehr regeln. Aber was ist darüber hinaus der Hintergrund unserer Existenz? G: Der Mensch ist eben nicht nur ein politisches Wesen, und Lebensläufe lassen sich nicht auf Eingriffe der Politik reduzieren. Denn es gibt freilich auch Bereiche, in die der Staat nur indirekt eingreifen kann: Die Beziehungen in der Familie, das Verhältnis zwischen Ehwpartnern, zwischen Eltern und Kindern, die Kontakte zu Freunden. Auf der einen Seite kann man eine moralisch abzulehnende Person vor sich haben, die gleichzeitig sensibel Natur beobachtet und Kunst liebt. Adorno notiert sein Diktum, es gäbe „kein richtiges Leben im falschen“ in den „Minima Moralia“ unter der Überschrift „Asyl für Obdachlose“! Aber unabhängig davon: Die Konsequenz des Satzes wäre fatal: Sie würde bedeuten, nimmt man nur einmal die DDR-Jahre, die Leute hier hätten kein ‚richtiges Leben‘ gehabt. Eine solche These verkennt das ‚kleine Leben‘, das eben mit der ‚großen Politik‘ nicht viel zu tun haben muß. Ganz abgesehen davon, wäre die Wende des Jahres 989 schwerlich gekommen, wenn nicht engagierte Leute, ihr ‚richtiges Leben‘ im sogenannten ‚falschen‘ geführt hätten. B: Damit ist das Problem der Kollektivschuld angesprochen, das im Westen sehr lange diskutiert wurde. Man kann es sich einfach machen; irgendwie stehen wir alle in diesem Schuldzusammenhang. Das ist auch für meinen Roman wichtig. Man sollte daher nicht so tun, als seien die Kinder damals im Krieg nur harmlos spielende Kinder gewesen. In den Kindern hat alles dringesteckt. Was wäre aus den Kindern geworden, wenn wir den Krieg gewonnen hätten? Was wäre aus mir geworden? Ich wäre sicher kein überzeugter Nazi, weil ich keine solche ideologische Veranlagung in mir habe, aber ob ich in bestimmten gesellschaftlichen Funktionen nicht funktioniert hätte, da bin ich mir nicht sicher. Der Jörn wollte immerhin Offizier werden, Flieger – also da traue ich mir selber nicht über den Weg. Deshalb sollte man nicht aus dem Blick verlieren, in welchem Maße alle, die wir in der Gesellschaft leben, an ihr beteiligt sind und unsere Verantwortung haben und möglicherweise auch schuldhaft verstrickt sind, selbst da, wo man vielleicht subjektiv nichts getan hat. Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus. 255 Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker G: Der Jörn sagt, er könne sich an die Zeit der 40er Jahre erinnern und Stichwörter wie „Gelber Stern“ oder an das sogenannte „Konzertlager“. Erst nach 945 schien das Wort „Konzentrationslager“ auf einmal „aus seinem Schweigen befreit“. Da redet man plötzlich über Konzentrationslager, und da wußten plötzlich alle, daß es die wirklich gegeben hat, während vorher dieses Wort nicht da war – es war verniedlichend ein „Konzertlager“ geworden. Erst später also wurde die Erinnerung wieder frei und die Verdrängung offenbar. B: Das ist aber die Erfahrung des Kindes. Ich weiß nicht, wie damals Erwachsene damit umgingen. Dem Kind fällt auf, daß ein bestimmtes Wort, von dem man eher etwas ahnte als wußte, zu einer bestimmten Zeit da war. Man muß natürlich differenzieren: Konzentrationslager, das war dann ein Arbeitslager, da wurde gearbeitet – von da bis nach Auschwitz, das ist ein Riesensprung. Da kann ich Helmut Schmidt folgen, der auf die Frage „Wann haben sie zum ersten Mal von Auschwitz gehört“ als Oberleutnant der Luftwaffe antwortete: „Nach dem Krieg.“ Der hat das Wort Auschwitz nicht gekannt und auch nicht gewußt, was da geschieht. Aber da ist natürlich auch viel vergessen und verdrängt worden, da ist immer wieder neuer Nebel entstanden. Ich habe nie Erwachsene erlebt, die ganz knallhart gesagt hätten, daß sie wußten, was da passiert. Aber wie wir Menschen so sind – wir wissen, da ist etwas hinter der Tür, also machen wir sie gar nicht erst auf. G: Insofern spielt also auch ‚Schuld‘ in Ihrem Text eine ganz entscheidende Rolle, eben im Kontext mit dem Erinnern. Die Aussage von Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl von der „Gnade der späten Geburt“ wird aber nun durch das Erzählen eigentlich revidiert. B. Das kann man so nicht sagen, man kann es aber auch nicht völlig dementieren. Es ist nicht so, daß der Satz falsch wäre, nur weil Kohl ihn gesagt hat. „Späte Geburt“, ich weiß nicht, ob „Gnade“ das richtige Wort ist, aber auf jeden Fall ist es ein Faktum, daß eine späte Geburt den Spätgeborenen nicht freispricht, aber doch aus dem unmittelbarem Schuldzusammenhang wieder herausholt. Das kann man meinetwegen „Gnade“ nennen, Schicksalszusammenhänge. Aber man ist nicht damit freigesprochen, das ist ganz klar. So einen Satz, der zwei Seiten hat, ständig im Munde zu führen, wäre fahrlässig. G: Ich stelle die Frage auch deshalb, um nochmals den Bezug zu Johnson und zu den „Jahrestagen“ herzustellen. Johnsons Figur Gesine, mit der 256 „Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“ der Autor „Kontakt“ hat, wie er sagt, geht aus der DDR weg, weil sie den Umgang dieses vermeintlichen neuen Staates mit dem Dritten Reich, mit dem Holocaust, nicht akzeptieren kann und sie geht aus der BRD in die USA, weil sie wiederum nicht akzeptieren kann, wie in der BRD mit der Vergangenheit, also auch mit dem Holocaust, umgegangen wird. Mit anderen Worten: sie kann nicht akzeptieren, wie beide deutsche Staaten mit ihrer ‚Schuld‘ umgehen. Ist dies eine Haltung bzw. Motivation, die dem Autor Jürgen Becker oder seiner Figur Jörn nahe stände? B: Da wäre ich mit Johnson nicht einer Meinung, also in der Beurteilung der westdeutschen Gegenwart, an der vieles auszusetzen ist, das ist ganz klar. Aber mir ist die BRD nie als ein Land erschienen, das ich verlassen muß. Man hat oft kokettiert, „es ist furchtbar in diesem Land, ich muß weg“, aber letzten Endes war es dann für mich doch eine Alternative zur DDR. Denn was immer an der BRD zu kritisieren gewesen ist – es war ein intaktes demokratisches Gebilde, und das war keineswegs selbstverständlich. Denn die nach 945 in die Freiheit entlassenen Deutschen mußten ja lernen; institutionell, politisch und ökonomisch. Und im Grunde ist das der BRD auch gelungen. Das heißt nicht, daß sich nicht einiges an Menschen und Strukturen gehalten hat, was zu dem Unheil führte. Aber es hatte dies nicht zur Folge, daß zu irgendeinem Zeitpunkt die demokratische Substanz bedroht gewesen wäre. Das kann man dem Westen nicht nachsagen. Und wenn ich das mit unserem Leben vergleiche – man hat doch in der Bundesrepublik machen können, was man wollte. Das einzige Risiko war, daß in dem Fall, da man – wie in meinem Fall – keinen richtigen Beruf gelernt hat und sich mit 2 Jahren dennoch dafür entscheidet, freier Schriftsteller zu werden, man möglicherweise Abstriche machen muß und sich mit wenig Geld so „durchzuwurschteln“ hat. Autoren konnten doch schreiben, was sie wollten. Ich habe keine Schwierigkeiten gehabt, weil mein Schreiben nicht politischer Natur war. Aber selbst Kollegen, die sich dezidiert politisch äußerten, hatten doch nicht wirklich Probleme. Das ganze Geschrei, das da losging, weil irgendein Bundeskanzler wie der Erhardt, mal von „Pinschern“ gesprochen hatte, das war doch die Ausnahme. Oder die Ausfälle von Franz Josef Strauß. Man kann die Vorfälle wirklich an einer Hand abzählen, da führende westdeutsche Politiker sich zur Literatur oder zu Intellektuellen geäußert haben, ich denke an Brentano oder die Anwürfe gegenüber der Gruppe 47. Das war doch alles harmlos, das war lächerlich. Und wenn das von vielen Intellektuellen als Bedrohung der Demokratie 257 Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker empfunden wurde, da kann ich dem nicht folgen. Dabei betone ich, was von Strauß und Konsorten ausging, hat mir nicht gefallen, das waren alles nicht meine Freunde, ich habe die alle nicht gemocht. Aber im Nachhinein kann man sagen, es war letztlich harmlos. Das sind normale Reibereien gewesen. In der Opposition sitzt einer, der geht polemisch vor, es wird zurückgeschlagen und so kommt es zu einem Vorgang. Insofern teile ich auch das Weltbild von Böll nicht, den ich an sich sehr schätze. Aber Böll hatte oft solche Verschwörungstheorien in Bezug auf den Staat im Kopf, vor allem in der Zeit nach 968, als es mit den Terroristen losging, und das Klima in Westdeutschland wirklich nicht sehr schön war. Aber es war ja nie so, daß man hätte um Freiheiten und um demokratische Rechte fürchten müssen. G. Und bei Johnsons Gesine, diese Figur kann nicht anders, sie muß gehen. B: Für Gesine Cresspahl, die eine strenge Moralistin ist, mag das konsequent gewesen sein, aber warum New York. Vielleicht weil er selbst in New York gelebt hat, das kannte er. Und dann England, warum ist er dorthin gezogen. Bei Johnson war es – glaube ich – ein ganzes Gemisch von Gründen. Man kann aber nicht sagen, ein Schriftsteller wie Johnson wäre in Westdeutschland genötigt gewesen, das Land zu verlassen. Das stimmt so nicht. G: Jörn in Ihrem Roman sagt, er habe „mit dem Rücken zur DDR gelebt“. Das trifft nach allem was Sie jetzt betont haben, zu einem gewissen Teil auch auf Sie zu. Dies bringt mich auf eine Frage, die nicht mit Ihnen, wohl aber mit anderen Autoren zu tun hat, die – im Westen lebend –, den Osten fasziniert betrachteten und ihn als eine Art Alternative zum Westen bzw. zum Kapitalismus ansahen. B: Das war bei mir nie der Fall, nie. Auch als ich Adorno las und seine Kritik am Kapitalismus – der Gedanke, die DDR wäre eine gerechte Gesellschaft, eine Alternative, ist mir nicht gekommen. G: Ihre Position ist – wenn ich das so sagen darf – konsequent, aber wie sehen Sie die Haltungen anderer Autoren. B: Das war die Diskussion, die ich mit westdeutschen Kollegen und sogar Freunden hatte. Wenn sie nicht für die DDR waren, dann doch für eine sozialistische Gesellschaft. Dieser Gedanke einer gerechten Gesellschaft war natürlich faszinierend. Aber beim Wort „Sozialismus“, da sah ich sofort den real existierenden Sozialismus in den osteuropäischen Ländern, 258 „Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“ angefangen mit der Russischen Revolution und Sowjet-Rußland. Vieles der Utopien der westdeutschen Intellektuellen ging weit zurück in die sowjetische Vergangenheit. Und da war es für mich ganz eindeutig: Das ist nicht der Weg. Damals, 968 in der Tschechoslowakei, war es eine Hoffnung, da schien es, als ob dort eine demokratische sozialistische Gesellschaft entstehen könnte. Das war die Hoffnung von allen westdeutschen Linksintellektuellen. Aber es war dann doch eher eine Illusion. Das fand ich ja auch überaus sympathisch. Auch als Gedankenspiel, als Vorstellung von einer menschlichen Gesellschaft. G: Also fanden Sie, der Sozialismus könnte eine Chance haben? B: Ich war manchmal ein historischer Fatalist, und ich dachte, der Weg in die Zukunft ist wahrscheinlich ein sozialistischer, der Kapitalismus kracht an seinen Widersprüchen zusammen, wenn es nicht sogar einen großen Krieg gibt. Bei dieser finalen Auseinandersetzung zwischen den beiden Systemen, so mein Gedanke, würde der Sozialismus wohl gewinnen, und dann wird die Zukunft vielleicht so wie in der DDR aussehen. So stellte ich es mir in meinen schwärzesten Momenten vor. Wir leben im Westen, so meinte ich, so auf Zeit, und der Zug in die Zukunft, der kommt von Osten. Ich billigte das nicht, und ich wollte es nicht, aber mir schien, wenn man sich in der Geschichte die historischen Gesetzmäßigkeiten ansieht, dann würde dies wohl der Weg sein. Also, es hätte mich nicht überrascht, wenn der Westen zusammenkracht wäre und die BRD der DDR beitritt. G: Das wäre ja eine spannende literarische Fiktion. Was wäre, wenn – nehmen wir an – Hamburg usw. – zum Osten gekommen wäre. Bei Johnson gibt es bekanntlich in den „Jahrestagen“ jene Passage, auf die auch Sie angespielt haben, nämlich „Wenn Jerichow zum Westen gekommen wäre“. B: Sicher, aber daß es nun real anders gekommen ist, darüber sind wir ja nun alle froh. G: Was haben Sie im Gedächtnis behalten vom Menschen oder Autor Uwe Johnson? Oder wie erinnern Sie ihn? Es ist ja nun viel Zeit vergangen, und Sie und Ihre Frau kennen Johnson ja beide. B: Ich habe ihn ja nicht fortwährend gesehen. Man sah sich lange Zeit nicht, dann sah man sich öfter, in Berlin. Ich hatte manchmal Angst vor ihm, das Bedrohende, das von ihm ausging, wenn er saß und schwieg. Es war wohl Unsicherheit dem Geheimnis gegenüber, das ihn umgab. Johnson schien 259 Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker ein Geheimnis zu umgeben. Wo kommt er her, wo geht er hin? Selbst als er schon England lebte, aber immer mal wieder nach West-Berlin an die Akademie kam, fragte ich mich: „Wo ist er denn nun eigentlich?“ Ich sah ihn immer nur im U-Bahn-Schacht verschwinden, und er fuhr wahrscheinlich Richtung Bundesallee. Vielleicht zu einer Pension. Aber Johnson, der im U-Bahn-Schacht verschwindet, und gewissermaßen jetzt in ein Geheimnis geht. Es war auch etwas an ihm, das einem den Zugang schwer machte. Manchmal konnte er ungeheuer spontan und sehr direkt sein – und dann wieder dieses Unnahbare um sich, daß man sich sehr überlegte, „was sage ich jetzt?“. Das waren manchmal unangenehme Momente, wo ich jedes Wort genau auf die Goldwaage legte. Denn man dachte, „wehe, wenn ich jetzt das falsche Wort sage“, dann wird er sehr kritisch fragen oder sehr bedrohlich aufschauen. Und wenn man dann etwas getrunken hatte, dann konnte sehr schnell ein Streit mit ihm entstehen. Aber da bin ich nicht der Einzige, der diese Erfahrung machte. Dieser große Mensch war manchmal auch wie ein verletztes Tier. Da waren Verletzungen, die ihn wohl so „zumachten“. Er saß ja auch in der letzten Zeit nur noch mit hochgezogenem Kopf und seiner Pfeife da, sehr „abgeblockt“, sehr „zugemacht“. Vielleicht wollte er etwas Inneres, etwas, was da sehr weh tut, damit zurückdrängen. Ich weiß es nicht. Es war auf jeden Fall nie ein freier, ganz normaler Umgang mit ihm möglich, so wie mit anderen Personen, wo man Banales daherredete und daherreden konnte. Bei Johnson mußte man immer genau überlegen, was man sagte. Das Schönste war immer, wenn man bei ihm zuhause saß und Elisabeth (Johnson) hatte gekocht, und dann vergingen so halbe Nächte – aber je mehr getrunken wurde, desto problematischer konnte es dann werden. G: Und wenn Sie an ihn als Autor denken? Sie sprachen darüber, daß Sie die „Mutmassungen“ gleich 959 lasen und Johnson einer der wenigen ProsaAutoren war, der Sie – anders als Günter Grass – faszinierte. B: Johnson war für mich in der Tat die Ausnahme. Johnson mit seiner Art des Erzählens. Als Romancier widersprach er meinen recht dogmatischen Ansichten über Roman und Erzählen, er widerlegte mich ständig. Johnsons Art des Recherchierens, des Nachdenkens und eben auch des Schreibens, das widerlegte alles, was ich an Aversionen und Einwänden aufgebaut hatte. Und im nachhinein habe ich auch gesehen, daß meine Positionen damals etwas einfach waren. Die Diktion, die Sprache, die Johnson findet, es ist so, 260 „Aber der einzelne kommt aus seinen historischen Zusammenhängen nicht heraus“ daß mich ein Johnson-Satz sofort umwerfen kann. Das merkte ich beim Lesen der „Mutmassungen“. Aber das war natürlich eine große Gefahr für mich; in Uwe Johnsons Sprechweise zu verfallen. G: Es ist vielleicht auch ‚Notwehr‘ eines Autors, zu sagen „Ich lese den gar nicht“. B: Es hat Zeiten gegeben, da konnte ich Johnson nicht lesen, da war mir das auch alles viel zu manieriert. Mit den „Jahrestagen“ habe ich große Schwierigkeiten gehabt, ich habe sie angefangen und dann liegengelassen und dann doch weitergelesen. Vom vierten Teil fehlt mir auch noch ein Teil. Es ist aber nicht so, daß ich Johnson völlig verfallen wäre. Nein, das war ein Hin und Her, ich konnte oft Johnson gar nicht lesen, da ging er mir auf den Nerv. Etwa diese Details und diese Besessenheit. Oder in den „Jahrestagen“ die ganzen Familiengeschichten, die so genau recherchiert sind bis in alle Einzelheiten hinein. Da sage ich: „Eigentlich interessiert es mich dann auch wieder nicht.“ G: Es gibt auch Unterschiede beim Umgang mit der Erinnerung. B: Ja, wenn man vergleicht, wie wir beide mit der „Erinnerung“ umgehen, das ist ganz verschieden. Da ist der eine Autor, also ich, der es vorzieht, alles seinen Erinnerungen, seinen Assoziationen, seiner Imagination zu überlassen. Der würde nicht darauf kommen, an ein Archiv zu schreiben und zu fragen „Gibt es jetzt noch eine genaue Liste der jüdischen Gäste in diesem Seebad?“ Das sind auch ganz deutliche Mentalitäts- und Temperamentsunterschiede. Ich wäre zu ungeduldig, auf eine Antwort zu warten. Entweder ich weiß es sofort und ich finde das Material, aber ich käme nie auf die Idee, jetzt lange zu recherchieren, da hätte ich schlichtweg keine Geduld. Das wäre mir zu aufwendig. Ich bin einfach anders – ich reagiere spontaner, sauge alles auf, was ich an Material finde und verwende es auch, wenn es gegeben ist, sammle es, lege es hin, weiß, es kann noch mal was kommen. G: Aber es gibt vielleicht eine Gemeinsamkeit, die sich bei näherer Betrachtung doch wieder als ein Unterschied herausstellt. Ich denke daran, daß Johnson und seine Frau, Elisabeth Johnson wohl ein sehr enges partnerschaftliches Verhältnis gepflegt haben, ja vieles in Johnsons Texten mit einiger Wahrscheinlichkeit Geschichten von Elisabeth Johnson sind, die gewissermaßen gemeinsam ‚bedacht‘ wurden. Auch Sie und Ihre Frau, die 261 Carsten Gansel im Gespräch mit Jürgen Becker Bildende Künstlerin ist, arbeiten gemeinsam. Ich kenne von Ihnen Texte mit Collagen Ihrer Frau. B: Was Sie zu Johnson und Elisabeth sagen, das mag stimmen. Aber bei uns ist es doch etwas anders. Wir machen gerade ein neues Buch. Im nächsten Jahr werden wir beide 70, und dann gibt es ein Buch mit 35 Bildern und 35 Texten – das ergibt dann die Zahl 70 (lacht). Wir werden ja manchmal in der Öffentlichkeit so als „Künstlerpaar“ hingestellt. Da muß ich sagen, das stimmt leider nicht. Wir sind kein Künstlerpaar, das ständig im Austausch steht und sich gegenseitig inspiriert. Diese Bücher zum Beispiel sind zustande gekommen, weil ich als Mensch, der sich für Malerei interessiert, und glücklich ist, mit einer Malerin verheiratet zu sein, das Privileg habe, die Bilder entstehen zu sehen. 262 Rainer Paasch-Beeck „Nachbarschaft als Fremde“ Eine Johnson-Tagung in Iserlohn Ibbenbüren, Innsbruck, Itzehoe nennt das Ortsregister von Bernd Neumanns Johnson-Biographie, um Insterburg ergänzt der „Jahrestage“-Kommentar die Liste der Städte mit „I“. Und auch die akribische Übersicht der Stationen sämtlicher Lesetourneen Uwe Johnsons in Nicolai Riedels Bibliographie bringt uns an dieser Stelle nicht weiter: sie verzeichnet keinen Aufenthalt des Autors in Iserlohn. Trotzdem wird man sich den Namen Iserlohn in der Johnson-Forschung merken müssen. Nachdem schon im November 2000 namhafte Referenten und fast 90 Teilnehmer einer Einladung der Evangelischen Akademie Iserlohn zu der wissenschaftlichen Tagung („Zwischen Jerichow und New York“) im Jahr der Ausstrahlung der Jahrestage-Verfilmung gefolgt waren – von denen wohl niemand sein Kommen bereut hat –, lud die Akademie im letzten Jahr (23.-25. Nov. 200) erneut zu einer Tagung über Uwe Johnson nach Iserlohn. „Nachbarschaft als Fremde. Uwe Johnsons ‚Jahrestage‘ in der Rezeption nach 989 und nach dem . September 200“. Und erneut bot die Tagungsstätte in Iserlohn einer großen Zahl von Johnsonkennern und -liebhabern ein ideales Forum. Nicht nur um die Vorträge zu hören und an vier Workshops teilzunehmen, sondern auch um in den Pausen und an den Abenden die Gelegenheit zu nutzen, in kollegialer, ja freundschaftlicher Atmosphäre Leseerfahrungen auszutauschen und sich mit den neuesten Informationen aus der weitgefächerten „Johnson-Szene“ zu versorgen. Wie schon im ‚Film-Jahr 2000‘ hielt auch dieses Mal Norbert Mecklenburg den Eröffnungsvortrag. In enger Anlehnung an das Tagungsthema widmete er sich vor allem dem „paradoxen Stichwort“ „Nachbarn als Fremde“ und betonte in der Folge auch eine „interkulturelle Komponente“ bei der Beschäftigung vor allem mit den „Jahrestagen“. Erfreulicherweise grenzte er sich dabei von einem inflationären Gebrauch der zugehörigen und noch kaum differenzierten Schlagworte ab. Wie wichtig gerade bei Johnson die Differenzierung ist, wurde bei seinem Vortrag, der Johnsons Erzählprogramm einer „Differenzierung der Differenzen“ in den unterschiedlichsten Facetten ausleuchtete, immer wieder Rainer Paasch-Beeck deutlich. Zu Recht wies er darauf hin, dass Johnsons „Leitthema Nachbarschaft – Fremde“ bereits auf den ersten Seiten des Romans exponiert wird, wobei stets die Dialektik der beiden Pole hervorgehoben wird. Seine Beispiele (etwa Johnsons Versuch über die Farbe Gelb in New York oder Gesines zumindest partielle Wahrnehmung des multiethnischen und multikulturellen New York) zeigten dies. Auch wenn er dabei stets Johnsons Blick auf die sozialen Verhältnisse als Erklärungsmuster hervorhob, zeigte er doch zugleich deren Begrenztheit. So sei auch seine Beschreibung der Slums nicht frei von pauschalisierenden Tendenzen, die etwa deren Bewohner unzulässigerweise als homogene Masse betrachten. Zwei Beispiele von Nachbarschaft erläuterten Johnsons „Differenzierung der Differenzen“ eindrucksvoll. Ausgerechnet mit der ersten Nachbarschaft, die Gesine und Marie in New York angeboten wird (und die bis zum Ende hält), wird zugleich die unwahrscheinlichste gestaltet. Indem Mrs. Ferwalter der Deutschen Cresspahl ihre Nachbarschaft anbietet, muss ein doppeltes Fremdheitsmoment überwunden werden. Nicht nur der zu überspringende Graben, der Mrs. Ferwalter als Überlebende der Shoah von einer Angehörigen der Täternation trennt, sondern auch ihre Zugehörigkeit zum orthodoxen Judentum steht den ‚ungläubigen‘ Cresspahls gegenüber. Dass Letzteres für Mrs. Ferwalter der entscheidende Unterschied ist, steht dabei quer zu Gesines traumatischer Täter-Opfer-Differenzierung. An dieser Stelle machte Mecklenburg erneut auf die großen Schwierigkeiten Gesines mit Ferwalters Deutung der Shoah aufmerksam. Deren Hinweis auf einen ‚göttlichen Ratschluss‘, der Religiöses und Irdisches in unakzeptabler Weise vermengt, wird von Gesine in polemischem Ton verworfen.1 Und erneut ließ Mecklenburg seine Zuhörerinnen und Zuhörer an seinen Leseerfahrungen mit den „Jahrestagen“ teilhaben. Zu den vielen Stellen, die sich sogar ihm lange verschlossen haben, gehörte eine knappe Bemerkung aus Mrs. Ferwalters Bericht über ihren Leidensweg durch die Konzentrationslager der Nazis im vierten Band. Sie, die in Ungarn verhaftet wurde, fragt Gesine: „Die Ungarn und die Deutschen, die waren einander wert. Es waren alles Soldaten. Bitte, was sind Schwaben?“ Und weiter: „Sind Schwaben mehr für Hitler gewesen als andere?“ (JT 786). Natürlich geht es hier nicht um die „Bewohner einer süddeutschen Provinz“, wie von Gesine gemutmaßt. Indem Mecklenburg sich mit den auch in Ungarn angesiedelten sog. ‚Donauschwaben‘ einmal etwas genauer beschäftigt hat, scheint er die Lösung gefunden zu haben. Diese Volks- 264 Nachbarschaft als Fremde deutschen waren nämlich überproportional in der Waffen-SS vertreten und über ein Drittel der Wachmannschaften der Vernichtungslager rekrutierte sich aus dieser Gruppe. Es waren demnach wohl ‚Donauschwaben‘, die Mrs. Ferwalter verhaftet haben. Bewerkenswert ist ein weiterer Aspekt, den er an dieser Stelle in die Diskussion einbrachte. Nach bisherigen Erkenntnissen der Forschung stand Johnson bei der Gestaltung des Leidensweges von Mrs. Ferwalter keine schriftliche Quelle zur Verfügung – eine mündliche Zeugenschaft kann daher an dieser Stelle angenommen werden. Für Mecklenburg ergab sich daraus die Frage, ob Johnson selbst die von ihm intendierte Zuspitzung der ‚Schwabenfrage‘ überhaupt bewusst gewesen ist. Oder gar das Paradox, dass die Figur hier mehr weiß als ihr Autor? Vom Autor wurde hier offensichtlich der Authentizität der Zeugen vertraut, auch wenn sie dem Autor (und den Lesern) Rätsel aufgibt. Auch an dieser Stelle scheint der „Jahrestage“-Kommentar ergänzungsbedürftig – doch befindet er sich dieses Mal in bester Gesellschaft mit Gesine. Auch Arthur Semig ist ein Nachbar. Zumindest vordergründig, denn durch den alltäglichen Antisemitismus in Deutschland vor und nach 933 wird er zum Fremden gemacht. Mecklenburg verwies ausdrücklich auf die Perspektive Pastor Brüshavers, die seiner Meinung nach deutlich von einem christlich verklärten Antisemitismus geprägt ist. Norbert Mecklenburg nutzte seine intensive Beschäftigung mit der Person Arthur Semig zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einem 200 erschienenen Forschungsbeitrag zur ‚jüdischen Thematik‘ in den „Jahrestagen“.2 Ich habe dort mehreren Interpreten einen „Lesefehler“ vorgeworfen, weil sie in unterschiedlicher Weise Arthur Semig zu einem (typischen) Vertreter eines assimilierten Judentums erklärt und wichtige Textsignale außer Acht gelassen haben, die für die nach meiner Einschätzung zulässige Aussage stehen: „Arthur Semig ist kein Jude.“3 Mecklenburg bestritt einen solchen „Lesefehler“. Neben sehr bedenkenswerten Ausführungen zu Johnsons ‚Erzähl- und Aufklärungsabsicht‘, die auch für die Modellierung der ‚Figur‘ Semig verantwortlich ist, ist es in erster Linie seine Einschätzung, dass es ihm bei der Charakterisierung Semigs kaum möglich erscheint, „sprachlich hinter die Shoah einfach zurückzugehen“, die seinem Einspruch Gewicht verleiht. Er begründet dies plausibel aus dem Text heraus, wenn er die Haltung von Semigs Frau Dora bestimmt. Sie identifiziert sich freiwillig mit der Rolle, in die ihr Mann von den Nazis gezwungen wurde. Für sie wird er dadurch zum Juden, dass er als Jude vertrieben, verfolgt und mit hoher Wahrscheinlichkeit später auch ermordet wird. So teilt er das 265 Rainer Paasch-Beeck Los von Millionen europäischer Juden. Indem Dora Semig das Schicksal ihres Mannes mit ihm teilen will, fühlt sie sich auch als ‘Jüdin’. Wichtige Zeugen wie Cresspahl und Gesine pochen darauf, dass Arthur Semig evangelischer Christ ist – die deutschen Rassefanatiker verfolgen ihn als Juden. Mecklenburg schließt mit dem Satz: „Er ist beides.“ Womöglich hat er Recht. Legenden ranken sich schon um das CD-ROM-Projekt des Frankfurter Johnson-Archivs unter der Regie von Eberhard Fahlke. Die Teilnehmer in Iserlohn erhielten in dem medienunterstützten Vortrag Fahlkes einen faszinierenden Einblick, was sie bei der sehnlich erwarteten Fertigstellung der „JahrestageCD“ alles erwartet. Und mit Erstaunen nahmen sie zur Kenntnis, dass der Suhrkamp Verlag sich mit einer Unterstützung für dieses bedeutende Projekt offensichtlich sehr zurückhält. Warum eigentlich? Fahlke stellte seinen Vortrag unter das den „Jahrestagen“ entnommene Kryptozitat „Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen“ (JT 697, 9. Februar 968). Gemeint ist natürlich der von Gesine in New York äußerst kritisch beobachtete VietnamKrieg. Die ersten Tage im Februar 968, die für den Meinungsumschwung in der amerikanischen Öffentlichkeit von entscheidender Bedeutung werden sollten, nutzte er dabei zur Veranschaulichung der Arbeit an und mit der CD-ROM. In den Mittelpunkt stellte er einen ausführlichen Bericht des „Time Magazins“ vom 9.2.968 über den Angriff eines 9-köpfigen ‚Selbstmordkommandos‘ des Vietcong auf die als uneinnehmbar geltende US-Botschaft in Saigon. „–Hast du die Zeit, Mrs. Williams, Amanda? – Hier haben Sie Time, Dschi-sain!“ (JT 695). Natürlich lesen auch Gesine und ihre Kolleginnen und Kollegen in der Bank diesen Bericht. Vor allem aber sehen sie die schockierenden Bilder der Folgen dieses Angriffs und der Rückeroberung der Botschaft durch US-Soldaten. Und Eberhard Fahlke zeigte diese Fotos, die Bestandteil der CD-ROM sind, in Iserlohn. Man ist so in der Lage zu sehen, wie genau die Fotos – im Übrigen einer der ganz seltenen Fälle, dass Johnson Farb-Fotos ins Erzählen bringt – in den Gesprächen Gesines mit diversen Partnern betrachtet und anschließend beschrieben und damit folglich auch ‚erzählt‘ werden. Allein die von Johnson aus dem Amerikanischen übernommene Formulierung von dem „Botschafter Bunker vor seinem Bunker“ boten dem Referenten Anlass für so viele weitergehende Informationen, dass zu hoffen ist, dass der ‚Vietnam-Teil‘ seines Vortrages schnellstmöglich publiziert wird. Anhand dieser zwei „Time“-Seiten aus Uwe Johnsons Archiv lässt sich die Gültigkeit einer Fahlke-Formulierung – „Prosatexte müssen auch ohne die Bilder funktionieren; aber Bilder helfen“ 266 Nachbarschaft als Fremde – exemplarisch belegen. Nicht zuletzt diese Bilder von einer der spektakulärsten Aktionen zu Beginn der nordvietnamesischen ‚Tet-Offensive‘ Ende Januar 968 haben für einen dramatischen Stimmungswandel gegen eine Fortsetzung des Vietnam-Krieges in der US-Bevölkerung gesorgt. Ausgedrückt hat dies kein Geringerer als Robert Kennedy einen Tag vor der Veröffentlichung der Bilder im „Time“-Magazin. Dieses Mal berichtet eine alte Bekannte: „– New York Times, erste Seite. Text Seite 2“ (JT 697). Erneut ein überzeugendes Beispiel dafür, wie Dokumente, wie Zeitungstexte von Johnson in die personenbezogene Erzählung gebracht werden. Fahlkes hochinteressante Entdeckungen zum Umgang mit Robert McNamara,4 von Johnson in brechtscher Konsequenz natürlich immer ‚Kriegsminister‘ genannt, vor allem aber seine Interpretation des Tageskapitels vom „2. Februar, 968 Freitag Groundhog Day“5 haben zwei Dinge klargemacht. Zum einen, welch enormer Interpretationsbedarf in Bezug auf den ‚VietnamKomplex‘ in den „Jahrestagen“ noch besteht und auf Abarbeitung wartet. Zum anderen aber, dass Johnson nicht nur eine ‚Chronik der frühen DDR‘, sondern auch eine minutiöse und die Medien kritisch-aufmerksam begleitende Darstellung des ‚Traumas Vietnam‘ gelungen ist. An solchen Stellen ist Johnson tatsächlich aktueller denn je und könnte so manchen der „guten Leute“ unter seinen Kollegen, die sich zum Teil halsbrecherisch über den . September 200 und seine Folgen auch in und für Afghanistan geäußert haben, zum Vorbild dienen. So wie Eberhard Fahlke mögliche Vergleichbarkeiten historischer Augenblicke und den Umgang mit ihnen aufgezeigt hat, so macht es Sinn – und Spaß, wenn man davon in einem solchen Kontext sprechen darf. „Verhinderte Innovation als Ausdruck des Umgangs mit dem Fremden. Die in der DDR ungedruckten Bücher Johnsons“. Theo Buck konnte in seinem Vortrag nicht wirklich Neues aufzeigen, machte aber detailliert den Prozess deutlich, durch den Johnson in seiner Heimat zum Fremden geworden bzw. gemacht worden ist. Den „Fall Johnson“ (Buck), beleuchtete er noch einmal in aller Breite mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Dokumente. Dass dabei auch die inzwischen berühmt-berüchtigte „Gehirnwäsche“-Empfehlung aus dem Gutachten des Aufbaulektors Max Schroeder noch einmal vorgelesen wurde, konnte nicht überraschen. Das sich schon hier abzeichnende lebenslange Publikationsverbot für Johnson zeugt nun, so Buck, „für immer gegen die, die daran mitgewirkt haben“. Und für den Referenten schien es beinahe eine Genugtuung zu sein, dass die erste Buchpublikation der Werke Johnsons in der DDR zeitgleich mit dem Ende der DDR zusammengefallen ist. 267 Rainer Paasch-Beeck Einen stärker textorientierten Beitrag lieferte Ingeborg Gerlach (Braunschweig) mit ihrem Vortrag „Er hatte Angst, sie zu verlieren. Das Scheitern der englischen Alternative“. Bis zum für die Lisbeth-Handlung vorentscheidenden Jahr 935 hat Johnson nach ihrer Auffassung „noch mehrere Fenster der Gelegenheit eingerichtet“, die eine Alternative zum Scheitern, zum Tod offen gelassen haben. Gerade dies Aufzeigen von Alternativen betont die dialektische Schreibweise, die utopische Momente noch beinhaltet. Ähnlichkeiten bei der Beschreibung des Scheiterns der Ehe von Heinrich und Lisbeth Cresspahl und damit des ‚Scheiterns der englischen Alternative‘ mit Sartres „Les jeux sont faits“ und Frischs „Biografie: Ein Spiel“, die Gerlach ansprach, sollten einmal näher untersucht werden. Zwei Haupthindernisse für ein Gelingen der Ehe nannte die Referentin. Zum einen ein sehr früh zu beobachtender, im Text mit den Händen zu greifender Mangel an verbaler Kommunikation zwischen den Eheleuten. Cresspahl ‚versteht‘ nicht, dass seine Frau in England leidet; sie ist zu stolz, um ihre Gefühle einzugestehen. Ihre Hoffnung auf ‚sprachlose‘ Kommunikation kann sie nicht retten. An diesem Punkt wurde deutlich, wie eng für Johnson Sprache und Mündigkeit miteinander verknüpft sind. Zum anderen die zu stark voneinander abweichenden Vorstellungen von der Rollenverteilung in ihrer Ehe. Während Cresspahl eine symmetrische Ehebeziehung zweier autonom handelnder Partner erwartet, braucht Lisbeth offensichtlich eine asymmetrische. Cresspahls Wunsch nach Gleichberechtigung überfordert sie, da sie sich im hohen Maße als eine von Autoritäten (ihre Kirche, ihr Vater und nun ihr Mann) abhängige Frau darstellt, die auf Befehle wartet: „Es soll aber der Mann entscheiden“ (JT 5). Das Scheitern ihrer Ehe wird zusätzlich forciert durch die Einbettung in den dichten historischen Kontext. Gerade die immer tiefer werdende Verstrickung der Cresspahls in die Schuld der Deutschen ist für das Scheitern mitverantwortlich. 935 ist dabei das entscheidende Jahr. Fortan überwiegt ‚die Schuld‘ alles andere – ab diesem Zeitpunkt ist Lisbeth vor allem wieder die Tochter ihrer Mutter Louise Papenbrock und hat offensichtlich keine Alternativen mehr. Wer befürchtet hatte, dass Greg Bond in seinem Schlussvortrag („Distanz und Nähe, und nochmals Distanz – die Rezeption von Uwe Johnsons Werk, insbesondere nach 989/990“) hauptsächlich an seinen Forschungsüberblick in der Neuauflage des TEXT + KRITIK-Heftes zu Johnson6 anknüpfen würde, sah sich angenehm überrascht. Nachdem er seinen glänzenden Beitrag mit der 268 Nachbarschaft als Fremde Feststellung eingeleitet hatte, dass es sich bei der Johnson-Forschung bis 989 – von wenigen Ausnahmen abgesehen – um „das Libanon der Literaturwissenschaft“ gehandelt hat, legte er seinen Schwerpunkt auf die populäre JohnsonRezeption. Als intelligenter Schachzug erwies sich dabei die Unterstützung seines Vorhabens durch einen Text von Johnson, der bisher in der Forschung nicht näher untersucht worden ist: „Vergebliche Verabredung mit V.K.“ Das Stichwort, die Variante einer ‚Vergeblichen Verabredung‘ könnte auch das Motto des Bondschen Resümees sein, der die Beschäftigung mit Johnson in Deutschland bis zum heutigen Tage als unbefriedigend erachtet. Der Grundstein für dieses Defizit ist sicher schon in der Auseinandersetzung mit Werk und Person Johnsons in der westdeutschen Öffentlichkeit vor 989 gelegt worden. So ist laut Bond nie hinreichend anerkannt worden, dass Johnson die westdeutsche Öffentlichkeit, die westdeutsche Gesellschaft immer kritisch gesehen und die BRD im Wesentlichen nicht angenommen hat. Insbesondere sucht man bei ihm eine offensive Verteidigung der westlichen Demokratien vergeblich, ein ‚Verfassungspatriot‘ sei Johnson nie gewesen. Norbert Mecklenburg ergänzte diese Aussagen später mit der Feststellung, dass er Johnsons heftige Kritik an der westdeutschen Sozialdemokratie in dieser Zeit als ausgesprochen unglücklich ansieht. Den Höhepunkt des Missverständnisses sah Bond dadurch erreicht, dass dem verdutzten Dichter sehr schnell das Etikett des ‚Dichters der deutschen Teilung‘ umgehängt wurde. Anstatt die durch Johnsons Texte betonte Differenzierung wahrzunehmen, verwischte das Feuilleton diese Differenzierung zugunsten einer gewünschten Eindeutigkeit der Zuordnung. Das völlig neue Ausmaß der populären und wissenschaftlichen Rezeption (Bond: „Industriesparte Sekundärliteratur“) nach der ‚Wende‘ nannte Bond sicher zu Recht einen „Quantensprung“. Nach einigen kritischen Bemerkungen zu dem Versuch, Johnson zu dem ‚wahren Autor der DDR‘ zu erklären und dabei insbesondere den Fehler zu machen, ausgerechnet mit dem politisch und materialistisch denkenden Johnson die DDR als Landschaft, als Heimat retten zu wollen, nannte er beispielhaft einige der Auswüchse der Rezeption. Zu diesen gehört sicherlich der reißerische „Spiegel“-Artikel über Johnson und die Stasi, an dem sich die Tendenz festmachen ließ, dass viel zu häufig mehr über das Scheitern als über die Erfolge des Autors zu lesen ist. Das andere Beispiel ist der verunglückte siebte Band der „Schriftenreihe des Uwe-Johnson-Archivs“.7 Stimmen in der anschließenden Diskussion, die dieses Buch vor allem als Werbeschrift für den Anwalt bezeichneten, als den Versuch, sich auf eine solche Weise als 269 Rainer Paasch-Beeck Spezialist für Fragen des Erbrechts zu profilieren, fanden keinen Widerspruch. Es ist traurig, dass diese so imposant gestartete Reihe nunmehr seit vier Jahren ihren (vorläufigen?) Abschluss ausgerechnet mit diesem Band gefunden hat. Und bezeichnend Bonds Feststellung, dass die Auseinandersetzungen über Johnsons Testament in der Presse wesentlich größere Beachtung fanden als die zur selben Zeit herausgegebenen Texte aus dem Nachlass. Zur scharfen Kritik Bonds an der Verfilmung der Jahrestage sei auf den schon genannten Beitrag im Johnson-Heft in der Reihe TEXT + KRITIK verwiesen. Abschließend zeigte Bond zwei Komplexe auf, die im Mittelpunkt einer künftigen fruchtbaren und (werk-)adäquaten Auseinandersetzung mit Johnson stehen könnten. Zum einen ist das die durch Johnson immer wieder aufgeworfene Frage nach einer deutschen Identität. Warum kann Johnson gerade mit dieser Frage vielleicht über eine Zeit des ‚Booms‘ hinaus aktuell bleiben? Wie kann sein Werk überhaupt als Identifikationsobjekt angenommen werden – insbesondere wenn man anerkennt, dass seine Figuren eine deutsche Nationalität für sich ablehnen? Zum anderen ist es die Frage nach der deutschen Schuld, „Uwe Johnsons Thema schlechthin“, so Bond. Bei der vor allem in den „Jahrestagen“ aufgeworfenen Frage, wie man persönlich mit der Schuld einer Nation umgehen kann, ist Johnson selbst sicher einer ehrlichsten und auch unbequemsten Ratgeber. Und Greg Bond ist einer der verdienstvollen Autoren, die sich gerade dieser ‚deutschen‘ Frage im Werk Johnsons immer wieder gestellt haben. Bleibt zu ergänzen, dass die Teilnehmer die Gelegenheit hatten, in einer Gesprächsrunde mit Weggefährten und Freunden Johnsons (Heinz Lehmbäcker sowie Käthe und Axel Walter) einiges über den ‚Menschen Johnson‘ zu erfahren. Und schließlich informierte Delia Angiolini, die italienische Übersetzerin der „Jahrestage“, über den Stand ihres Projektes. Vielleicht gab es bei einigen Teilnehmern angesichts der Beifügung des Datums des . Septembers 200 zum Tagungsthema Befürchtungen hinsichtlich einer möglichen pseudoaktuellen Überfrachtung der Tagung. Die Disziplin der Tagungsteilnehmer, aber auch die souveräne Tagungsleitung und angenehme Gesprächsführung durch Rüdiger Sareika haben eine solche falsche Akzentsetzung verhindert. Auch die Abschlussdiskussion verlief erfreulicherweise nicht zu sehr in abwegigen Parallelisierungen und Spekulationen. Festzuhalten bleibt auch hier die übereinstimmende Charakterisierung von Johnson als eines unbedingten Aufklärers. 270 Nachbarschaft als Fremde Wir haben mit Rüdiger Sareika verabredet, dass von Seiten der Johnson-Philologinnen und -Philologen in den nächsten Jahren soviel Neues und Wichtiges zum Werk Uwe Johnsons veröffentlicht werden wird, dass er und die Evangelische Akademie gar nicht umhin kommen werden, spätestens 2004 erneut zu einer Johnson-Tagung nach Iserlohn einzuladen. Also: schreiben und nach Iserlohn fahren! Anmerkungen 1 Vgl. dazu Norbert Mecklenburg: Ungeziefer und selektiertes Volk. Zwei Aspekte von New York in Uwe Johnsons Jahrestagen. In: The Germanic Review. New York. 76. Jg., 200, H. 3, S. 254-266, v.a. S. 262f. 2 Rainer Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“. Die Verdrängung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Mecklenburgs im Spiegel der „Jahrestage“. In: TEXT + KRITIK. Zeitschrift für Literatur. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Heft 65/66: Uwe Johnson, Zweite Auflage: Neufassung, München 200, S. 9-34. 3 Ebenda, S. 26. 4 Daneben verdient sicher Fahlkes Hinweis Beachtung, dass McNamara nicht in das „Kleine[s] Adreßbuch für Jerichow und New York“ aufgenommen worden ist. Die Lektüre der von ihm mehrfach zitierten Erinnerungen Robert McNamaras (ders.: In Retrospect. The Tragedy and Lessons of Vietnam. New York: Random House, 995, deutsch: Vietnam. Das Trauma einer Weltmacht. Hamburg: Spiegel-Buchverlag. Hofmann und Campe 996) könnte für das Verständnis der einschlägigen Passagen der „Jahrestage“ sehr hilfreich sein. 5 Im Mittelpunkt stand hier seine Analyse von Johnsons erzählerischer Anverwandlung der durch die Weltpresse gegangenen drei Fotos von der Erschießung („– Die Erschießung. – Die Ermordung. Ich will gar keinen Streit.“ JT 672) eines gefangenen Vietcong-Angehörigen durch den südvietnamesischen General Nguyen Ngoc Loan. In Kenntnis der von Fahlke vorgetragenen Aspekte zur Biographie Loans (der im Übrigen noch an mehreren anderen Tagen im Roman in anderen Kontexten genannt wird) aus einem Text der italienischen Journalistin Oriana Fallaci (Dies.: Nichts und Amen. Köln: Kiepenheuer und Witsch 99) scheint eine Revision, mindestens aber eine Ergänzung der zu Loan einschlägigen Stelle im „Jahrestage“-Kommentar angezeigt zu sein. 271 Rainer Paasch-Beeck 6 7 272 Greg Bond: Veraltet? Die Beschäftigung mit Uwe Johnson heute. In: TEXT + KRITIK, Heft 65/66: Uwe Johnson, a.a.O., S. 3-9. Heinrich Lübbert: Der Streit um das Erbe des Schriftstellers Uwe Johnson. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 998 (= Schriften des Uwe-Johnson-Archivs. 7).