Moskaus neue Allianzen

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Moskaus neue Allianzen
faulheit & arbeit
Sonnabend/Sonntag,
14./15. Februar 2015, Nr. 38
n Drucksachen
n Schwarzer Kanal
n Reportage
n ABC-Waffen
Im Februar 1845 erschien die erste gemeinsame Arbeit von Marx und Engels: »Die heilige Familie«. Ein Auszug
Die Beschweigerzunft. Auch Minsk II wurde
Kiew militärisch abgezwungen. In deutschen Zeitungen steht davon fast nichts
Wo schon Lenin zu Gast war. Ein Besuch in
der Londoner »Marx Memorial Library«.
Reportage von André Scheer
Ich frage, was Zwangsernährung und wer
überhaupt Holger Meins sei. Das Lächeln
der Alligatoren. Von Michael Wildenhain
BRITTA PEDERSEN/DPA
»Wir sind nicht mehr dasselbe Volk«
Gespräch n Mit Georges Bensoussan. Über die erstarkende Rechte in Frankreich,
Antisemitismus und die Furcht vor der imperialistischen Attitüde Berlins
V
or acht Jahrzehnten,
am 6. Februar 1934,
gingen in Paris 300.000
empörte Franzosen
auf die Straße. Vor
dem prächtigen Bau der Nationalversammlung riefen sie »À bas les
voleurs!« – »Nieder mit den Dieben!«
Sie demonstrierten gegen Korruption
und Vetternwirtschaft in der Politik – und gegen die Regierung des
Sozialisten Eduard Daladier, der an
diesem Tag die Vertrauensfrage im
Parlament stellte. Der 6. Februar ist
ein Schlüsselereignis in der Geschichte des französischen Faschismus, sagt
der deutsche Historiker Ulrich Pfeil
von der Universität Metz. Er zeige,
wie groß das antidemokratische
Potential in der französischen Gesellschaft war. Ist die damalige Situation
mit der heutigen vergleichbar?
Es gibt in der Tat viele Vergleichspunkte.
Die hohe Arbeitslosigkeit in den dreißiger Jahren, die vielen Korruptionsfälle in
der Politik, der dramatische Ansehensverlust der politischen Kaste, das Fehlen von
Wirtschaftswachstum. Nicht vergleichbar
scheint mir allerdings die soziale Situation der Mehrheit der Gesellschaft. Sie ist
Demonstration in Paris
GEORGES BENSOUSSAN
im Gedenken an Ilan Ha-
wurde 1952 in Marokko geboren.Er ist Spezialist für die Geschichte der europäischen
Juden und Verlagsleiter des Pariser »Mémorial de la Shoah«, der zentralen Shoah-
limi (26.2.2006).
Der 23jährige französi-
Gedenkstätte in Frankreich.
In seinen Forschungsarbeiten vertritt Bensoussan die These, dass die Shoah
2006 von einer Gruppe
sche Jude war Anfang
in der Gesamtgeschichte Europas nicht als »Anomalie«, sondern als Folge einer
marokkanischer Migran-
logischen Entwicklung zu betrachten ist. Strikt spricht er sich dagegen aus, den
ten über einen Zeitraum
von drei Wochen zu Tode
Holocaust schon in der Grundschule zu thematisieren. Kinder seien in diesem Alter
psychisch nicht reif genug, um damit konfrontiert zu werden.
Unter dem Pseudonym Emanuel Brenner gab Bensoussan im Jahr 2002 das hef-
gefoltert worden
tig umstrittene Buch »Les territoires perdus de la République« heraus, das sich mit
dem Rassismus in Frankreichs Schulen befasst.
heute, wenn auch durchaus mit Mängeln,
im sozialen Netz abgesichert, sie ist sozusagen gegen vollkommene Verelendung
geschützt. Die politische Situation ist, im
Gegensatz zu damals, einigermaßen stabil.
Sie sind Verlagsdirektor des »Mémorial de la Shoah«, daher die Frage:
Ist der heute in Frankreich sich offen
wieder ausbreitende Antisemitismus
dem der dreißiger Jahre gleichzusetzen ?
Wir haben es nicht mehr mit den gleichen
Bevölkerungsgruppen zu tun. In den Jahren
vor dem Weltkrieg war der Antisemitismus
in der Gesellschaft fest installiert. In der
Politik, in der Armee, in der Polizei, in den
Behörden. Heute ist es einem Politiker in
Frankreich fast unmöglich, sich antisemitisch zu äußern. Es gibt keine politische
Partei mehr, die sich offen, ich betonte
das Wort »offen«, zum Antisemitismus
bekennt, nicht mal der Front National.
Der FN ist nicht mit der faschistischen »Action française« (AF) oder
dem »Parti Popoulaire Français«
(PPF) zu vergleichen?
AF und PPF waren keine Parteien, sie
waren faschistische Organisationen. Man
hat in Frankreich keine solchen Organisationen mehr.
Der FN war unter Jean-Marie Le
Pen eine offen antisemitische und
durchaus faschistoide Parteiorganisation …
Das hat sich geändert. Seine Tochter Marine Le Pen hat sich von dieser Programmatik verabschiedet. Die für den alten
Kurs der Partei neben Jean-Marie Le Pen
zuständigen Leute sind nicht mehr da, Bruno Mégret zum Beispiel hat abgedankt.
Der FN ist jünger geworden, die Mehrheit
ist zwischen 30 und 40 Jahre alt, die alten Faschisten, die Kollaborateure, sind
Antidemokraten
Ein Gespräch mit Georges Bensoussan
über die erstarkende Rechte in Frankreich,
Antisemitismus und die imperialistische
Attitüde Deutschlands. Außerdem: Die Beschweigerzunft. Minsk II wurde militärisch
erzwungen, zu lesen ist davon fast nichts.
n Fortsetzung auf Seite zwei
ACHT SEITEN EXTRA
GEGRÜNDET 1 947 · SONNABEND/SONNTAG, 14./15. FEBRUAR 2015 · NR. 38 · 1,80 EURO · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
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Private Universitäten sollen staatliche Hochschulen diskreditieren. Ein Interview
Syriens Regierung, UN-Sicherheitsrat
und Anti-IS-Koalition auf einer
Seite, ohne Partner zu sein
Die 24. Internationale Buchmesse in
Havanna erwartet Zehntausende
Besucher. Von Volker Hermsdorf
Ukraine: Innerhalb des Bataillons
»Asow« kämpfen Faschisten
für »arisch-ukrainische Werte«
Keine Spur von Frieden
EU verlängert Sanktionen
gegen Russland
Brüssel. Auf ihrem Gipfeltreffen haben sich die Staats- und
Regierungschefs der Europäischen
Union am Donnerstag in Brüssel
darauf verständigt, ihre Strafmaßnahmen gegen Russland im
Zusammenhang mit dem UkraineKonflikt weiter aufrechtzuhalten.
Die Minsker Vereinbarung über
eine Waffenruhe in der Ostukraine,
die am Donnerstag zwischen der
Ukraine, Frankreich, Deutschland
und Russland getroffen wurde,
wendete diese Entscheidung nicht
ab. Bei den am Montag automatisch in Kraft tretenden Restriktionen gegen Moskau geht es um Einreiseverbote und Sperrungen von
Konten. Außerdem habe der Gipfel
die EU-Kommission aufgefordert,
weitere Wirtschaftssanktionen gegen Russland vorzubereiten, falls
diese notwendig werden sollten.
(dpa/jW)
Vor vereinbartem Waffenstillstand nehmen Kämpfe im Donbass an Intensität zu.
Ukrainische Faschisten pfeifen auf Minsker Vereinbarungen. Von Reinhard Lauterbach
Z
Tarifkonflikt:
IG Metall legt nach
Soldaten der ukrainischen Armee am Donnerstag auf einem gepanzerten Truppentransporter in der Nähe von Debalzewe
träge und Papiere, sondern die erhöhte Kampfbereitschaft der ukrainischen Armee. Jazenjuk bedauerte
in diesem Zusammenhang, dass die
Ukraine 1994 auf die ihr aus dem sowjetischen Erbe zugefallenen Atomwaffen verzichtet hat. Außenminister Pawlo Klimkin schränkte die in
Minsk vereinbarte Amnestie ein: Sie
werde nicht für die politischen und
militärischen Führer der Aufständischen gelten. Auch eine föderale
Umgestaltung der Ukraine schloss er
aus. Gleichzeitig gärt es in Teilen der
ukrainischen Streitkräfte und auf der
politischen Rechten. Der Führer des
»Rechten Sektors«, Dmitro Jarosch,
erklärte auf einem Treffen mit den
Kommandeuren der faschistischen
Freiwilligenbataillone, für ihn gebe es keinen Waffenstillstand und
keinen Frieden mit den »Russen«.
Nach Angaben der Aufständischen
haben mehrere Kommandeure angekündigt, ihre Truppen künftig dem
Rechten Sektor zu unterstellen und
nicht mehr der Regierung.
Der US-Propagandasender Radio
Liberty ging unterdessen auf Distanz
zu Poroschenko. In seinem ukrainischen Programm brachte er eine Enthüllungsstory, nach der Poroschenko und sein politischer Mitstreiter
und langjähriger Geschäftspartner
Igor Kononenko sich von der Kiewer
Stadtverwaltung unentgeltlich zwei
Grundstücke in einem Kiewer Villenviertel hätten überschreiben lassen.
Der Deal sei über eine Schwester Kononenkos eingefädelt worden. Der
Marktwert der beiden Grundstücke
wurde auf etwa sieben Millionen Euro geschätzt. Die Publikation dieser
Vorwürfe zum jetzigen Zeitpunkt in
einem vom US-Kongress finanzierten Medium kann als Warnschuss an
die Adresse Poroschenkos verstanden werden. Er gilt – berechtigt oder
nicht – als nachgiebiger gegenüber
Russland als Ministerpräsident Jazenjuk.
Moskaus neue Allianzen
Russland baut Bündnisse mit linken Regierungen in Lateinamerika aus. Putsch in Venezuela vereitelt
M
oskau verstärkt das Engagement in Lateinamerika.
Am Donnerstag (Ortszeit)
unterzeichneten in Managua der russische Verteidigungsminister Sergej
Schoigu und Nicaraguas Armeechef,
General Julio César Avilés, eine Reihe
von Abkommen. So sollen russische
Kriegsschiffe künftig Nicaragua für
humanitäre Einsätze oder Antidrogenoperationen anlaufen dürfen. Außerdem werden nicaraguanische Kadetten
in Russland geschult. Vorgesehen sind
auch Besuche des russischen Ministers
in Venezuela und Kuba, bei denen
ebenfalls über einen Ausbau der militärischen Kooperation verhandelt werden soll. Vor einigen Monaten hatte es
Spekulationen gegeben, Russland wolle Militärbasen in Südamerika errichten. Das war jedoch von den betroffenen Regierungen dementiert worden,
weil die Verfassungen etwa Venezuelas oder Ecuadors die Einrichtung ausländischer Stützpunkte verbieten.
Ebenfalls am Donnerstag kamen in
Moskau die venezolanische Außenministerin Delcy Rodríguez, Erdölminister Asdrúbal Chávez, ihre ecuadorianischen Amtskollegen Ricardo
Patiño und Pedro Merizalde sowie der
russische Energieminister Alexander
Nowak zu Beratungen zusammen.
Im Mittelpunkt der Gespräche stand
dabei die Lage am Erdölmarkt. Der
Preisverfall für den Brennstoff trifft
die Ökonomie der Erdöl exportierenden Länder schwer. Venezolanische
Regierungssprecher machten dafür die
USA verantwortlich, die mittels Fracking den Markt gezielt überschwemmt
hätten, um Länder wie Russland, Iran,
Ecuador und Venezuela zu schwächen,
die sich der Hegemonie Washingtons
widersetzen.
In Caracas warf Präsident Nicolás
Maduro am Donnerstag den USA direkt vor, einen von den Sicherheitskräften des südamerikanischen Landes vereitelten Putschversuch unterstützt zu haben. Die Verschwörer seien
am Mittwoch verhaftet und der Staatsstreich rechtzeitig abgewehrt worden.
Den Aussagen zufolge sollen an dem
Komplott erneut hochrangige Luftwaffengeneräle beteiligt gewesen sein.
Schon im vergangenen März hatte Maduro über ähnliche Anschlagspläne informiert (jW berichtete). (dpa/AVN/jW)
n Siehe auch Seiten 7 und 8
OLE SPATA/DPA
GLEB GARANICH/REUTERS
wei Tage vor der vereinbarten Waffenruhe im Donbass
haben die Kämpfe an Heftigkeit zugenommen. Nach übereinstimmenden Berichten beider Seiten
versuchen ukrainische Truppen, den
Kessel von Debalzewe aufzubrechen. Bis zum Freitag mittag ist ihnen das offenbar nicht gelungen. Die
Volkswehren halten das direkt an der
wichtigsten Zufahrtsstraße gelegene
Dorf Logwinowo und beschießen
die Straße von den umliegenden Hügeln aus mit Artillerie. Videos der
»neurussischen« Seite zeigen ganze
Batterien von schweren Selbstfahrhaubitzen, die nach Darstellung des
Kommentators gezielt ukrainische
Fahrzeuge unter Feuer nahmen.
Mehrere Kiewer Angriffe von Infanterie mit Panzerunterstützung seien
zurückgeschlagen worden.
Die ukrainische Artillerie beschoss auch in der Nacht zum Freitag
Städte im Hinterland der Volksrepubliken. Dabei wurden mindestens
sieben Zivilisten getötet, darunter
drei Kinder. Nach ukrainischen Angaben starben am Freitag vormittag
mehrere Besucher eines Cafés in der
von den Regierungstruppen gehaltenen Stadt Schtschastje nördlich von
Lugansk, als eine Granate der Volkswehr dort einschlug.
Die Kiewer Regierung verbreitete unterdessen Skepsis, ob der in
Minsk vereinbarte Waffenstillstand
halten werde. Präsident Petro Poroschenko sagte, bis zum Frieden sei
es noch weit, aber die Ukraine habe keine andere Wahl gehabt, als in
Minsk zu unterschreiben. Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk erklärte auf der Webseite der Regierung,
den Frieden garantierten keine Ver-
Berlin/Hannover. Im Tarifkonflikt
in der Metall- und Elektroindustrie geht die IG Metall konsequenter vor. Im Bezirk BerlinBrandenburg-Sachsen drohte die
Gewerkschaft am Freitag mit einer
Urabstimmung über Streiks. »Die
Vorbereitungen sind getroffen, um
vom 2. bis 4. März eine Urabstimmung abzuhalten«, sagte der Erste
Bevollmächtigte der IG Metall in
Berlin, Klaus Abel. »Wir werden
jetzt mit Großaktionen antworten
und den Druck massiv erhöhen«,
kündigte auch IG-Metall-Bezirksleiter Hartmut Meine an, nachdem
auch die dritte Verhandlungsrunde
mit dem Unternehmerverband Niedersachsenmetall ohne eine Annäherung zu Ende gegangen war.
Bundesweit legten am Freitag nach
Angaben der Gewerkschaft 20.000
Metaller in rund 80 Betrieben
zeitweise die Arbeit nieder. Die
Gewerkschaft fordert 5,5 Prozent
mehr Lohn sowie Regelungen zur
Alters- und Bildungsteilzeit.
(dpa/jW)
wird herausgegeben von
1 619 Genossinnen und
Genossen (Stand 28.1.2015)
n www.jungewelt.de/lpg