sie leben! sie leben! - Theater an der Parkaue

Transcription

sie leben! sie leben! - Theater an der Parkaue
SIE LEBEN! SIE LEBEN!
SIE LEBEN NOCH IMMER!
Ein Berliner Märchen
von Lothar Trolle
1
Uraufführung
Sie leben! Sie leben! Sie leben noch immer!
Ein Berliner Märchen von Lothar Trolle
Wir danken den Studierenden der Humboldt-Universität zu Berlin, die im
Sommersemester 2013 durch ihre Ideen und Recherchen zum Stück
dieses Begleitheft maßgeblich mitgestaltet haben. Zudem danken wir der
Philosophischen Fakultät II der HU für die Mitfinanzierung des Heftes.
Literaturnachweise (sofern nicht angegeben)
> Ludwig Bechstein: Märchen. Prag 2001
> Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Fassung letzter Hand.
Frankfurt am Main 1996
> David Brauns: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig 1885
> Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. In drei Bänden.
Frankfurt am Main 1997
> Franz Hessel: Ein Garten voll Weltgeschichte. Berliner und Pariser Skizzen. München 1994
> Mascha Kaléko: Großstadtliebe. Lyrische Stenogramme. Reinbek 1996
> Erich Kästner: Werke. Hg. von Franz Josef Görtz. Bd. 1: Zeitgenossen, haufenweise.
Gedichte. München/Wien 1998
> Gerhard Krügel: Berliner Sagen. Berlin 1926
> Oskar Loerke: Sämtliche Gedichte. Hg. von Uwe Pörksen u.a. Bd. 1. Göttingen 2010
> Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis. Berlin 1989
> Heiner Müller: Werke 8. Schriften. Frankfurt am Main 2005
> Hermann Plagge: Expressionist. Ein Porträt. Eggingen 1992
> Silly: Paradies. (LP/CD) 1996
Lothar Trolle: Die Helden unseres Volksstücks © Lothar Trolle
Webcams: Sascha Bunge, Annett Gröschner, Jamal Tuschick © bei den Autoren
Textauszüge aus Lothar Trolle: Hans (im Glück) und Sie leben! Sie leben!
Sie leben noch immer! - mit freundlicher Genehmigung von henschel schauspiel
Theaterverlag Berlin GmbH.
Impressum
Herausgeber: Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur und
THEATER AN DER PARKAUE – Junges Staatstheater Berlin
Intendant: Kay Wuschek (V.i.S.d.P.)
Redaktion: Kristin Schulz und Dorothee Wieser
Alle Fotos: © Andreas Böhmig (Die Baumzeichnungen sind Teil der Serie I was here.)
Umschlagfoto: Eiserne Brücke, 29.6.2013, 14:17
Grafisches Konzept und Satz: Stefanie Klekamp
Druck: Laserline Berlin
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Es spielen:
Lutz Dechant
Caroline Erdmann
Jakob Kraze
Franziska Krol
Thomas Pasieka
Denis Pöpping
Franziska Ritter
Regie: Sascha Bunge
Bühne: Angelika Wedde
Kostüme: Clemens Leander
Video: Konstantin Bock
Dramaturgie: Hannes Oppermann
Theaterpädagogik: Hannes Oppermann / Karola Marsch
Musikalische Einstudierung: Stefan Faupel
Regieassistenz: Patrizia Schuster
Inspizienz: Jürgen Becker
Soufflage: Franziska Fischer
Technischer Direktor: Eddi Damer
Bühnentechnik: Marc Lautner
Licht: Theo Reisener
Ton- und Videotechnik: Sebastian Klemke
Maske: Ilonka Schrön
Requisite: Jens Blau
Ankleiderei: Milena Sow
Bühnenbildassistenz: Anja Hofmann
Premiere: 24. Oktober 2013, 19.00 Uhr, Bühne 3
ab 16 Jahren / ab 11. Klasse
Die Inszenierung findet in Kooperation mit dem Institut für deutsche Literatur
der Humboldt-Universität zu Berlin statt und wird vom Freundeskreis des THEATER
AN DER PARKAUE e.V. unterstützt.
Die Herstellung der Dekoration erfolgt unter der Leitung von Jörg Heinemann in den
Werkstätten der Stiftung Oper Berlin – Bühnenservice. Die Herstellung der Kostüme
erfolgt durch die Firma GEWÄNDER – Maren Fink-Wegner.
Die Aufführungsrechte liegen bei henschel schauspiel Theaterverlag Berlin GmbH.
Premierenklassen sind zwei Kurse der Klassenstufe 12 des Immanuel-Kant-Gymnasiums
Berlin-Lichtenberg.
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Typus:
Einführung
Stückauszüge
Reflexionen
Gespräch
Berliner Bühnen
Lyrik
Seite:
Inhalt:
6–9
Kristin Schulz und Dorothee Wieser
Einführung: Die Straßen hinter den Fenstern von Berlin
10 – 14 Lothar Trolle
Stückauszüge: Sie leben! Sie leben! Sie leben noch immer!
10 – 61 Reflexionen zu den Themen
Erzählen, Märchen, Mythen
32 – 75 Gespräch mit Lothar Trolle
Mythen sind die Krimis der Geschichte
6–7
Mascha Kaléko: Horoskop gefällig ...?
32 – 35 Erich Kästner: Vorstadtstraßen
38 – 39 Oskar Loerke: Die gespiegelte Stadt
70 – 71 Hermann Plagge: Vorstadtabend
81 Baumzeichnungen
Webcams
(Kon)Texte
Silly: Asyl im Paradies
16 – 17 Annett Gröschner: Metzer Straße
30 – 31 Jamal Tuschick: Danziger Straße / Ecke Prenzlauer Allee
48 – 49 Sascha Bunge: Berlin-Rummelsburg, Hauptstraße
76 – 77 Jamal Tuschick: Prenzlauer Allee, unweit der Immanuelkirche
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Lothar Trolle: Die Helden unseres Volksstücks
22 – 24 Walter Benjamin: Unglücksfälle und Verbrechen
28 – 29 Lothar Trolle: Hans (im Glück)
56 – 57 Franz Hessel: Persönliches über Sphinxe
64 – 69 Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis
78 – 80 Heiner Müller: New York oder Das eiserne Gesicht der Freiheit
Märchen
44 – 47 Die weißen Ratten von Monbijou
50 – 53 Der Schädel – eine japanische Sage
58 – 59 Brüder Grimm: Allerleirauh
72 – 73 Ludwig Bechstein: Das Tränenkrüglein
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Kristin Schulz / Dorothee Wieser
Mascha Kaléko
Einführung
Die StraSSen hinter den
Fenstern von Berlin
Ein Spätverkauf, der dicht macht. Leute, die sich aus Gewohnheit und Neigung
immer noch davor treffen, um in loser Formation auf Bierkästen zu sitzen wie
andere Leute auf ihrem Sofa, als hätte das Leben sie dazu bestimmt, den Lauf der
Dinge, in den sich die Tage ergeben, hinzunehmen als Gewissheit. Die Gewissheit kommt und geht, ohne sich um den Ausgang ihrer Geschichte auch nur im
Geringsten zu bekümmern. Diese Leute schlagen Zeit tot wie andere Fliegen,
aus reinem Spieltrieb, ohne Ehrgeiz, ohne Ekel an ihrer Gegenwart. Sie halten
sich mit Geschichten ohne Ende über Wasser. Ihr (Happy) End heißt: „Sie leben!
Sie leben! Sie leben noch immer!“ – Doch was für sie selbst wie Triumph klingt,
ein Märchen, in dem sogar Engel einen Platz haben, ist für Passanten eine Bedrohung – für jene Vorbeieilenden, die
nicht in die Verlegenheit kommen wol- Horoskop gefällig ... ?
len, Fragen eine Stirn bieten zu müssen. Dabei sind die Hockenden sich selbst
nicht prekär, es sind weder Obdachlose noch Trinker. Wenn sie sich treffen, müssen sie einander nicht kennenlernen, sie kennen sich längst, dafür brauchen sie
keine Namen: Wer immer da bleibt, gehört dazu. Gewohnheitsrecht macht sie zu
Besitzern ihrer Straße, das Erzählen zu Bewohnern (ihrer Geschichten).
Aber was sind das für Leute, die da hocken und manchmal auch singen, doch sich
vor allem freihändig in ihre Erzählungen stürzen wie in letzte große Abenteuer,
die der Menschheit zu bestehen aufgegeben sind? Diese Frage beschäftigt Lothar
Trolle in seinem neuen Stück. Er navigiert uns Zuschauer durch ein Berlin, in dem
an vertrauten Orten der Alltag abgleitet und die Schichtungen der Stadt sichtbar
werden. Es kommt zu unvermuteten Begegnungen: Fritze Bollmann trifft im
Landwehrkanal auf Rosa Luxemburg, ein BVG-Fahrer auf den Schädel aus einer
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An unsrer Straßenecke steht ein Mann,
Der kann, so sagt er, in den Sternen lesen.
Zwölf Jahr ist er im Koch-Beruf gewesen,
Bis er auf die Berufung sich besann.
Die Branche scheint ihm besser zu behagen.
Von zwei bis sechs wird Zukunft offeriert.
‚Die Sterne lügen nicht. Dankschreiben garantiert!‘
Erzählt das Pappenschild an seinem Wagen.
Saturn und Venus sind dem Seher heilig
Und wolln ihm nicht mehr aus dem sechsten Sinn;
Doch leider steht nichts in den Sternen drin,
Naht Mars sich in Gestalt des Schupos eilig.
Das Horoskop, das er für mich gestellt,
Befiehlt, den Glücksstein Carneol zu tragen.
Den kaufte ich mir gläubig vor acht Tagen;
Nun wart ich, daß das Glück mich überfällt ...
Da steht auf himmelblauem Holzpapier,
Der Tierkreis Steinbock lenke meine Schritte,
Und wenn ich ab und zu an Leichtsinn litte –
Das liegt am Kosmos. Ich kann nichts dafür ...
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DIE HELDEN UNSERES VOLKSSTÜCKS
kein Rädchen im Getriebe,
in den Wartezimmern der Job-Center,
vor der Imbissbude an der Ecke usw.
in dieser Endlosschleife aus Beliebigkeiten,
Nichtzuständigkeiten, diesem Überfluss an Zeit,
weggegeben die Sprache in all den vor-, nachmittäglichen,
abendlichen Dialogen mit dem heimischen TV-Gerät,
(also nicht mehr teilnehmend am allgemeinen Diskurs)
meine Sprache, die ist jetzt ...
und wenn ich etwas zu sagen habe, sage ich:
„Ich bin allein auf der Welt!“,
aber im Plural ausgesprochen heißt das: ......
Gröschner in Form von ‚webcams‘ – hier ist der Autor Aufzeichnungsapparat, der
erfasst, was in einem Augenblick optisch und akustisch wahrgenommen werden
kann, ohne kausale Zusammenhänge und psychologische Erklärungen zu stiften.
Das Stück spinnt ein Netz aus Erzählungen, und wer sich darin verstrickt, findet
erst dann zurück, wenn er vom direkten Weg abkommt und sich der Neugier auf
Abzweigungen und Seitenpfade überlässt. Kein Ende einer Geschichte, das nicht
Anlauf nimmt in die nächste.
Studierende eines Seminars am Institut für deutsche Literatur der HumboldtUniversität zu Berlin haben sich im Sommersemester 2013 den Vorgaben des
Stücks ausgesetzt und sind den Richtungsweisern aus dem Text in andere literarische, journalistische und soziologische Texte gefolgt. Sie haben Materialgesammelt und zusammengetragen, sortiert, viel verworfen, um das naheliegende
Ferne zu finden. Davon erzählt das Heft – von möglichen Les- und Spielarten
sowie Verwandlungen: von Mythen und Märchen in Bildzeitungsgeschichten –
von einem, der auszog das Suchen zu lernen und heimkehrt als Hans im Glück,
unbeschwert, doch der Mutter eine Last, bis sie nun ihrerseits auf Mittel und
Wege sinnt, die Geschichten zum Guten zu fügen. Eine Mythenbildung, die Sie
als Leser und Zuschauer beteiligt – As you like it.
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Breite StraSSe / Mühlendamm, 20.7.2013, 13:43
Kristin Schulz / Dorothee Wieser
Lothar Trolle
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japanischen Sage, eine Mutter auf ihre jahrelang vermisste Tochter mit Tränenkrüglein, ein Jude auf drei Araber und ein Vater auf seine in Ratten verwandelten
Kinder. Alle Geschichten – ob von Liebe, Hass, Gedächtnis, Mangel, Gewalt,
Ausbruch – führen zurück zu den Leuten, die sie erzählen. Die scheinbare Ereignislosigkeit ihres äußeren Lebens kontrastiert die Unbändigkeit des Erlebten
in den Erzählungen. Und wenn ihnen die Geschichten ausgehen wie Butter fürs
Brot, wird für Ersatz gesorgt, indem sie sich den Belag einfach erfinden.
Als Zuschauer steht man an der Schwelle dieses Schauplatzes, der immer neue
Öffnungen nach innen und außen gewährt – durchaus ein Wagnis, wenn man
sich darauf einlässt. Das Begleitheft zur Inszenierung führt Sie in die Umgebung
des Stücks – zu Lothar Trolle, der in einem ausführlichen Gespräch über sein
Schreiben und seine Erfahrungen mit dem Theater berichtet, zu Märchen und
Gedichten, die in dem Stück aufgegangen sind, bis hin zu Texten, die den Blick
über die Grenzen des Stücks hinaus werfen – von den Berliner Stadtschreibern
Walter Benjamin und Franz Hessel bis zu Heiner Müller, der in New York einen
anderen Untergrund heraufkommen sieht. Auch der Frage nach der Bedeutung
des Erzählens im öffentlichen Raum und an seinen Rändern wird nachgespürt.
Fotos von Berliner Bühnen zeichnet die Kamera Andreas Böhmigs auf, die Szenenbeschreibungen dazu liefern u. a. die Autoren Jamal Tuschick und Annett
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(Stückauszüge)
Da ist die Geschichte von IHM (dem DROGISTEN AUS DER PRENZLAUER ALLEE) …
und das ist eine von den Geschichten, die sich die fünf, sechs, sieben, acht, neun (die da tröpfchenweise (d.h. im Minuten- bzw. HalbeStunden-Abstand war man aus einem Hauseingang getreten (bzw.
von drüben aus der ...straße bzw. der ...straße gekommen), und jeder
von ihnen hatte dabei nur ein Ziel vor Augen gesehen (?), das Etablissement (die Einrichtung, die Niederlassung), vor dem man noch
gestern Nachmittag (die Rechte an seiner Flasche STERNBURGER ?)
bis zum Dunkelwerden auf schmalen Bänken an schmalen Tischen
gesessen hatte (?)), ECKE ... bzw. ECKE ...STRASSE (EINE EINFACHE
STRASSE MIT EINFACHEN HÄUSERN, IN DENEN EINFACHE LEUTE
Wo ist die Person zu Hause? Die Frage bezieht sich weniger
auf ein geographisches als vielmehr auf ein rhetorisches
Gebiet [...]. Die Person ist dort zu Hause, wo sie sich in der
Rhetorik der Menschen auskennt, mit denen sie das Leben
teilt. Dass man zu Hause ist, erkennt man daran, dass
man sich ohne Schwierigkeiten verständlich machen kann
und ohne langwierige Erläuterungen Zugang zu den
Denkweisen seiner Gesprächspartner findet. Das rhetorische
Land einer Person endet dort, wo ihre Gesprächspartner
die Gründe, die sie für ihr Tun und Lassen angibt, oder die
Klagen, die sie vorbringt, und die Bewunderung, die sie
äußert, nicht mehr verstehen.
Marc Augé: Nicht-Orte. München 2011
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WOHNEN) (nun wie lange schon) herumstehen, herumsitzen) erzählen (zuhören, wie ein anderer sie erzählt) (und eine andere handelt von einem Busfahrer der BVG, der monatelang vor Kopfschmerzen nicht schlafen konnte …)
›
aber was sind das eigentlich für Leute, was sind das für einfache
Leute (wie heißen sie, wie haben sie den Vormittag zuvor verbracht
… usw.), und was haben sie eigentlich vor, dass es sie offensichtlich nicht stört, sich heute umsonst auf den Weg gemacht zu haben
(denn dort, wo sie noch gestern gesessen und ihr Bier getrunken haben, stehen nun keine Bänke, keine Tische mehr auf dem Gehweg,
vor der Ladentür, die für sie so etwas war wie der Eingang zum Paradies, die Jalousie ist heruntergelassen), dass es für sie Anlass genug ist (?), dass man hier Ecke ... (einer Straßenecke, die sich durch
nichts unterscheidet von der Straßenecke eine Straße weiter bzw.
Die Funktion des Herstellens, sprich die
Schaffung einer Heimat und bewohnbaren
Welt, wird auf der Straße dann besonders
gut sichtbar, wenn dieser als Schwellenort
zwischen dem Privaten und Öffentlichen
den Raum vor der eigenen Haustür markiert.
Auf diese Weise ist er Teil des menschlichen
Wohn-Raumes mit besonders identitätstragender Funktion. Nicht umsonst halten
sich viele Menschen bevorzugt im eigenen
‚Kiez‘ auf und fühlen sich dort stärker für das,
was auf der Straße geschieht, zuständig, als
anderswo.
Sandra Maria Geschke
Stückauszüge Lothar Trolle
Marc Augé
SIE LEBEN! SIE LEBEN!
SIE LEBEN NOCH IMMER!
Sandra Maria Geschke: Straße als kultureller Aktionsraum – Eine Einleitung.
In: dies. (Hg.): Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre Betrachtungen des
Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Wiesbaden 2009
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oder erzählen die, wenn sie erzählen … von keinem anderem als von
sich selber, oder sollten sie, wenn sie von sich erzählen, nicht ganz
andere Geschichten erzählen …
aber schwärmen (von ihrer Stadt), das können sie, sich (mit verschränkten Armen (und einem Bein, das angewinkelt ist)) an eine
Hauswand lehnen bzw. sich dort, wo zwischen den parkenden Autos die Lücke groß genug ist, auf die Bordsteinkante setzen und
dann schwärmen …
aber wer sind die, wer sind die, die nun schon ... Stunden an einer
Straßenecke verbringen und das machen, was man macht, verbringt man ... Stunden an einer Straßenecke (sich aber dabei noch
Geschichten erzählen wie (IN DER EBERTYSTRASSE EINE FRAU …))
aber wer sind sie ... was wollen sie ... was haben sie (die von noch
ganz anderen Geschichten erzählen können als (PAPA KOMMT
AUCH HEUTE PÜNKTLICH NACH HAUSE …))
was haben sie vor (die sich dann sogar (aus Freude/Enttäuschung,
dass es hier nun kein Bier mehr gibt (?)) zu zwei, zu dritt, zu ... da am
Rand des Gehwegs als Chor postieren (?) und (minutenlang/stundenlang) Lieder singen …)
und wer von ihnen hat da eben (dazwischen) gerufen „VATA, LASS
DEM JUNGEN DOCH DIE BULETTEN, ER WILL DOCH NUR MIT IHNEN SPIELEN!“ (und wer blabbert da die ganze Zeit vor sich hin) …
und singen sie/er (sie alle (?)) nun auch noch davon (FRITZE BOLLMANN WOLLTE ANGELN, DOCH DA FIEL DIE ANGEL ‘RIN ...)
Sandra Maria Geschke
Die Organisation des Raumes und die Konstituierung
von Orten gehören zu den Einsätzen und Modalitäten
der kollektiven und individuellen Praxis innerhalb ein
und derselben sozialen Gruppe.
Die Straße als Ort von Bewegungen,
als Ort von Positionierung und
Kommunikation wahrzunehmen,
heißt, sie als kulturellen Aktionsraum
beschreibbar werden zu lassen.
Sandra Maria Geschke: Straße als kultureller Aktionsraum – Eine Einleitung.
In: dies. (Hg.): Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre Betrachtungen des
Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Wiesbaden 2009
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Marc Augé
Stückauszüge Lothar Trolle
der Ecke ... (und an der natürlich auch noch andere Leute unterwegs
sind) (und da ist nicht nur ER ... bzw. ER ..., da ist auch ...)) zu siebent,
acht, neunt, zehnt … (und weiß man, ob sich nicht da bald ein kleiner
Volksauflauf bildet) den schmalen Gehweg bevölkert (und es ist mit
vielem zu rechnen, nur nicht damit, dass eine gewisse Jalousie nun
doch wieder nach oben gezogen wird, auf dem Gehweg bald wieder
Tische und Bänke stehen), um sich so eine Geschichte zu erzählen
(die da neulich erst passiert ist …)
Die Kollektive [...] sind ebenso wie die Individuen, die
diesen Kollektiven zugehören, darauf angewiesen,
Identität und Relation zugleich zu denken und dazu die
Bestandteile der [...] Identität ebenso zu symbolisieren
wie die besondere Identität [...] und die singuläre
Identität [...]. Die ‚Bearbeitung‘ des Raumes ist eines
der Instrumente, mit deren Hilfe dies geschieht.
Marc Augé: Nicht-Orte. München 2011
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der WeiSSe See, 17.6.2013, 21:17
Stückauszüge Lothar Trolle
weil sie, die sich (wie man inzwischen hören konnte) bestens kennen …
die Gelegenheit, dass man an diesem Nachmittag, diesem Abend,
dieser Nacht noch einmal, letztmalig (!) zusammen ist (JA, MORGEN,
MORGEN, DA TRINKT MAN SEIN BIER SCHON GANZ WOANDERS
UND MIT GANZ ANDEREN LEUTEN...), nutzen wollen, endlich (und
warum sonst sollten sie immer wieder, immer wieder auf diese eine
Geschichte zu sprechen kommen (EIN RUSSE LENIN IM JAHR...))
und wer von ihnen könnte eigentlich diese Geschichte erzählen:
EIN KIND nahm eines Tages 1 Stück Kreide …
Sandra Maria Geschke
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Es ist schon paradox: Die Straße ist ein offenes Buch
und zugleich ein Geheimnis. Es gibt keinen gesellschaftlichen Raum, der vergleichbar heterogen
oder handlungsreich ist, denn im Unterschied zum
Privatraum ist die Straße ein Raum der Öffentlichkeit,
der von jedem Bürger betreten, beeinflusst und
auf die Weise mitgestaltet werden kann.
Sandra Maria Geschke: Straße als kultureller Aktionsraum – Eine Einleitung.
In: dies. (Hg.): Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre Betrachtungen des
Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Wiesbaden 2009
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Schwelle und Versprechen, das sind freilich
konnotative und programmatische Aspekte
des Begriffs ‚Straße‘, wie auch für ‚Wald‘
oder ‚Wiese‘ konnotative Semantiken gelten.
Wo Verheißungen und Versprechen sind,
da ist auch die Kehrseite mitzudenken, also
der Schrecken der Straße.
Thomas Dillo
an diesem Abend, in dieser Nacht, da an dieser Straßenecke ihre eigene Geschichte, ihr „Berliner“ Märchen ... zu erzählen, ihr Märchen,
das aber keineswegs mit dem Schlusssatz so vieler Märchen ... UND
WENN SIE NICHT GESTORBEN SIND, JA DANN ... enden soll ... SIE
LEBEN! ... SIE LEBEN!, ... und da ist ja auch noch die Geschichte von
IHR …
Thomas Dillo: Schwellenzauber und Aufmerksamkeitsstrategie. Das Versprechen der Straße.
In: Sandra Maria Geschke (Hg.): Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre Betrachtungen des
Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Wiesbaden 2009
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Webcam
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Max-Steinke-StraSSe 40, 24.6.2013, 21:21
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Bethlehemskirchhof, 15.6.2013, 12:32
Walter Benjamin
Unglücksfälle
und Verbrechen
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Die Stadt versprach sie mir mit jedem Tag aufs neue und am Abend war sie
sie schuldig geblieben. Tauchten sie auf, so waren sie, wenn ich an Ort und Stelle kam, schon wieder fort wie Götter, die nur Augenblicke für die Sterblichen
übrig haben. Ein ausgeraubtes Schaufenster, das Haus, aus dem man einen Toten
getragen hatte, die Stelle auf dem Fahrdamm, wo ein Pferd gestürzt war – ich
faßte vor ihnen Fuß, um an dem flüchtigen Hauch, den dies Geschehn zurückgelassen hatte, mich zu sättigen. Da war er auch schon wieder hin – zerstreut
und fortgetragen von dem Haufen Neugieriger, die sich in alle Winde verlaufen
hatten. Wer konnte es mit der Feuerwehr aufnehmen, die von ihren Rennern
zu unbekannten Brandstätten befördert wurde, wer durch die Milchglasscheiben
in das Innere der Krankenwagen blicken? Auf diesen Wagen glitt und stürzte
Unglück, dessen Fährte ich nicht erhaschen konnte, durch die Straßen. Doch
hatte es noch seltsamere Vehikel, die freilich ihr Geheimnis eigensinnig wie
die Zigeunerwagen hüteten. Und auch an ihnen waren es die Fenster, in denen
es mir nicht geheuer schien. Eiserne Stäbchen hielten sie verwahrt. Und wenn
ihr Abstand auch so winzig war, daß keinesfalls ein Mensch sich durch sie hätte
zwängen können, hing ich doch immer den Missetätern nach, die drinnen, wie
ich mir erzählte, gefangen saßen. Ich wußte damals nicht, daß das nur Wagen
für die Beförderung von Akten waren, begriff sie aber darum nur noch besser
als stickige Behältnisse des Unheils. Auch der Kanal, in dem das Wasser doch so
dunkel und so langsam trieb, als sei es mit allem Traurigen auf du und du, hielt
mich von einem Mal zum andern hin. Umsonst war jede seiner vielen Brücken
mit einem Rettungsring dem Tod verlobt. So oft ich sie passierte, fand ich sie
jungfräulich. Und am Ende lernte ich, mich mit den Tafeln zu begnügen, die
Wiederbelebungsversuche an Ertrunkenen zeigen. Doch diese Akte blieben mir
so fern wie die steinernen Krieger des Pergamon-Museums.
Für das Unglück war überall vorgesorgt; die Stadt und ich hätten es weich
gebettet, aber nirgends ließ es sich sehn. Ja, wenn ich durch die festgeschlossenen
Laden in das Elisabeth-Krankenhaus hätte blicken können! Es war mir, wenn
ich durch die Lützowstraße kam, aufgefallen, daß manche Laden hier am hellen
Tag geschlossen waren. Auf meine Frage hatte ich erfahren, in solchen Zimmern
lägen „die Schwerkranken“. Die Juden, wenn sie von dem Todesengel erzählen
hörten, der mit seinem Finger die Häuser der Ägypter bezeichnete, deren Erstgeburt sterben sollte, mögen sich diese Häuser so mit Grauen vergegenwärtigt
haben wie ich mir die Fenster, deren Laden geschlossen blieben. Aber tat er
wirklich sein Werk – der Todesengel? Oder gingen dann eines Tages doch die
Laden auf, und legte sich der Schwerkranke als Genesender ins Fenster? Hätte
man ihm nicht nachhelfen mögen – dem Tod, dem Feuer oder auch nur dem
Hagel, der gegen meine Scheiben trommelte, ohne jemals sie zu durchschlagen?
Und ist es wunderbar, daß, als nun endlich Unglück und Verbrechen zur Stelle
waren, dieses Erlebnis alles um sich her – ja auch die Schwelle zwischen Traum
und Wirklichkeit – zunichte machte? So weiß ich nicht mehr, ob es einem
Traum entstammt oder nur vielfach in ihm wiederkehrte. In jedem Fall war es
im Augenblick bei der Berührung mit der „Kette“ gegenwärtig.
„Vergiß nicht, erst die Kette vorzumachen“ hieß es, wenn mir gestattet worden
war, die Tür zu öffnen. Die Angst vor einem Fuße, der sich in die Tür stemmt,
ist mir durch meine Kindheit treu geblieben. Und in der Mitte dieser Ängste
dehnt sich endlos wie die Höllenqual das Schrecknis, das offenbar nur eingetreten war, weil nicht die Kette vorlag. Im Arbeitszimmer meines Vaters
steht ein Herr. Er ist nicht schlecht gekleidet, und er scheint die Gegenwart der
Mutter gar nicht zu bemerken, spricht über sie hinweg, als ob sie Luft wäre.
Erst recht ist meine Gegenwart im Nebenzimmer für ihn unbeträchtlich.
Der Ton, in dem er spricht, ist vielleicht höflich und wohl kaum sehr drohend.
Gefährlicher ist eine Stille, wenn er schweigt. In dieser Wohnung ist kein
Telefon. Das Leben meines Vaters hängt an einem Haar. Vielleicht wird er das
nicht erkennen und indem er vom Sekretär, den zu verlassen er noch gar nicht
Zeit fand, aufsteht, um den Herrn, der eindrang und längst Fuß gefaßt hat,
hinauszuweisen, wird dieser ihm zuvorgekommen sein, abschließen und den
Schlüssel an sich nehmen. Dem Vater ist der Rückzug abgeschnitten, und
mit der Mutter hat der andre es auch weiter nicht zu tun. Ja das Entsetzlichste
an ihm ist seine Weise, sie zu übersehen, als wenn sie mit ihm, dem Mörder und
Erpresser, im Bunde wäre.
Weil auch diese finsterste Heimsuchung ging, ohne mir ihr Rätselwort zu hinterlassen, habe ich immer den verstanden, der zum ersten besten Feuermelder
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flüchtet. Sie stehen als Altäre an der Straße, vor denen man zur Unglücksgöttin
fleht. Dann stellte ich mir, noch erregender als das Erscheinen des Wagens,
die Minute vor, in der man als einziger Passant sein noch entferntes Sturmsignal
erlauscht. Fast immer aber hatte man an ihm den besten Teil des Unheils schon
dahin. Denn selbst im Falle, daß es brannte, war vom Feuer nichts zu sehn. Es
schien, als ob die Stadt die seltne Flamme mit Eifersucht betreue, tief im Innern
des Hofes oder Dachgestühls sie nähre und jedermann den Anblick dieses
hitzigen, prächtigen Geflügels, das sie sich da gezogen hatte, neide. Feuerwehrleute kamen ab und zu von drinnen, doch sie sahen nicht aus als seien sie den
Anblick wert, von dem sie voll sein mußten. Wenn dann ein zweiter Zug mit
Schläuchen, Leitern und Boilern vorgefahren kam, so schien er nach den ersten
eiligen Manövern sich in den gleichen Schlendrian hineinzufinden und der
robuste und behelmte Nachschub mehr Hüter eines unsichtbaren Feuers als sein
Feind. Meist aber kamen keine Wagen nach, sondern auf einmal merkte man,
daß auch die Polizei verschwunden und das Feuer abgelöscht war. Keiner wollte
einem bestätigen, es sei angelegt gewesen.
Dreifaltigkeitskirchhof, 15.6.2013, 12:44
Walter Benjamin
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Zossener StraSSe 60, 15.6.2013, 12:57
Lothar Trolle
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IN DER HAND KEINEN SCHLEIFSTEIN,
IN DER HOSENTASCHE KEINEN WETZSTEIN,
DA KANNST DU DEINE HÄNDE IN DIE HOSENTASCHEN
STECKEN,
STEHST DA, DIE HÄNDE IN DEN HOSENTASCHEN, UND JEDER,
DER DICH SIEHT, MÖCHTE SO DASTEHEN WIE DU,
UNTERM ARM KEINE GANS,
DA KANNST DU SICHER SEIN,
DU WIRST NICHT VOLLGESCHISSEN VON EINER GANS,
VOR DIR HERTREIBEND KEIN SCHWEIN,
DA STEHT KEIN SCHWEIN DIR IM WEGE UND DU HAST
VOR DIR FREIE BAHN,
HINTER DIR HERZERREND KEINE KUH,
DA MUSST DU DICH NICHT IMMER NACH HINTEN UMKUCKEN
UND KANNST SELBER
DAS TEMPO DEINES GEHENS BESTIMMEN,
UNTERM ARSCH KEIN PFERD,
DA WEISST DU BALD,
AM SICHERSTEN STEHT MAN AUF SEINEN EIGENEN FÜSSEN,
AUF DER SCHULTER KEINEN KLUMPEN GOLD,
DA DRÜCKT DICH NICHTS AUF DEINE SCHULTERN,
DU HAST BEIDE HÄNDE FREI, STEHST UND ...
HANS IM GLÜCK, HANS IM GLÜCK,
HAT NICHTS,
KANN ABER ALLES
UND KEINER MACHT IHM ETWAS VOR.
HANS IM GLÜCK, HANS IM GLÜCK,
DA STEHT ER (NACHTS NAH AM RAND DER AUSFAHRTSTRASSE)
IM NÄCHTLICHEN SCHATTEN DER ....
(DIE DA NEBEN DER STRASSE STEHT)
STEHT NEBEN DER STRASSE AUF DEM SCHMALEN
SCHOTTERSTREIFEN
(DER DIE STRASSE VON DER ANGRENZENDEN GRASFLÄCHE
TRENNT)
MUSSTE SOEBEN, DA SICH IHM VON … EIN AUTO NÄHERTE,
EINEN SCHRITT VON DER STRASSE WEGTRETEN
DAS AUTO IST AN IHM VORBEIGEFAHREN UND ER
KUCKT SICH NUN NACH HINTEN UM
(OB SICH DA NOCH EIN WEITERES AUTO NÄHERT)
ABER AUS DIESER RICHTUNG KOMMT KEIN AUTO MEHR
SIEHT (IN DER ENTFERNUNG) DER NÄCHTLICHEN SCHATTEN
DER VORORT-SIEDLUNG
(IN DER ER VOR KURZEM NOCH UNTERWEGS GEWESEN WAR)
KUCKT JETZT WIEDER NACH VORN
ABER AUCH AUS DER RICHTUNG NÄHERT SICH KEIN AUTO
KUCKT NUN NACH OBEN IN DAS GEÄST DER ...
(ÜBER IHM (IN DER NACHT) DER STERNENÜBERSÄTE HIMMEL).
STEHT NUN DA IN DER NACHT AN DER STRASSE
HAT DEN KOPF NUN NOCH WEITER IN DEN NACKEN GELEGT
UND KUCKT
KUCKT ... KUCKT UND SIEHT JETZT ......
[…]
Hans (im Glück) (Auszüge)
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Webcam
Gespräch mit Lothar Trolle
Erich kästner
Mythen sind die Krimis
der Geschichte
Ein Gespräch mit Lothar Trolle über Berlin,
sein Schreiben und das Theater
Lothar Trolle zählt zu den wichtigsten, wenn auch nicht zu den bekanntesten
zeitgenössischen Autoren. Seine Texte für das Theater regen alle Beteiligten –
Regisseure, Schauspieler, aber auch die Zuschauer – zur Reflexion theatraler
Möglichkeiten und Mittel an – und dies fernab aller postdramatischen Novitäten.
Trolles Texte schaffen in erster Linie Freiräume und laden ein, das Gehörte und
Gesehene im eigenen Kopf neu entstehen zu lassen. An die Stelle von kohärenten
Figuren und kausal-logischen Handlungssträngen treten bei ihm ineinander geschobene Bruchstücke, Zitate, momenthaft erscheinende Typen – in einer bildreichen, oft ausufernden und ‚undramatischen‘ Sprache. Trolles Textflächen kreisen
um Orte, Gegenstände, Personen und Situationen.
Lothar Trolle wurde am 22. Januar 1944 in Brücken bei Sangerhausen (Harz)
geboren. Nach einer Berufsausbildung zum Handelskaufmann arbeitete er als
VORSTADTSTRASSEN
Transportarbeiter und Bühnentechniker am Deutschen Theater Berlin. Von 1966
bis 1970 studierte er Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit
1970 arbeitet Trolle als freier Schriftsteller. Er schreibt Theaterstücke, Hörspiele,
Prosa, Lyrik und übersetzt (u. a. Charms und Euripides). Lothar Trolle zählte
wie Heiner Müller zu den Dramatikern, die in der DDR wenig oder gar nicht
gespielt wurden. Erst seit Ende der 1980er Jahre wurden seine Stücke auf größeren Bühnen in Chemnitz, Frankfurt/Oder, Magdeburg und Berlin häufiger
inszeniert.
Nach Das Hildebrandslied (2006), Warum Elefanten hysterisch sind (2008) und LEUCHTE BERLIN, LEUCHTE! (2009) ist
Sie leben! Sie leben! Sie leben NOCH immer! die vierte Inszenierung eines Stücks von Lothar Trolle durch Sascha Bunge am Theater an der
Parkaue seit 2005.
In Vorbereitung dieser Inszenierung führten Studierende der Humboldt-Universität zu Berlin am 17. Mai 2013 ein Gespräch mit Lothar Trolle.
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Es riecht nach Fisch, Kartoffeln und Benzin.
In diesen Straßen dürfte niemand wohnen.
Ein Fenster schielt durch schräge Jalousien.
Und welke Blumen blühn auf den Balkonen.
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Mit solchen Straßen bin ich gut bekannt.
Die Häuser bilden Tag und Nacht Spalier
Sie fangen an, als wären sie zu Ende.
und haben keine weiteren Interessen.
Trinkt Magermilch! steht groß an einer Wand,
Seit hundert Jahren stehen sie nun hier.
als ob sich das hier nicht von selbst verstände.
Auf wen sie warten, haben sie vergessen.
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Gespräch mit Lothar Trolle
Erich kästner
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Wie sind Sie zum Schreiben gekommen? Mit welcher Intention begannen Sie mit
dem Schreiben, speziell fürs Theater?
Das war kein bewusster Vorgang. Bei mir war das so, ich war in der Schule relativ
schlecht, machte mir aber darüber keine richtige Rübe, hab auch kaum gelesen,
war mehr Fußballer, da war ich gut. Ich war der festen Überzeugung, ich werde
sowieso Schriftsteller, aber wo die Überzeugung hergekommen ist, das weiß ich
nicht genau. Mit 16 oder 17 Jahren, als Fußball langweiliger wurde, habe ich angefangen zu lesen und hatte auch Freunde wie Einar Schleef, die sich in Provinznestern wie Sangerhausen für Kunst interessierten. So ergab sich ein Austausch.
Zu dieser Zeit habe ich auch angefangen, kleine Gedichte zu schreiben, die ganz
gut waren, ich weiß nicht, wo die sind. Theater, das war Zufall. Ich hatte mein
Abitur mit knapper Vier gemacht, da war ein Studium ziemlich ausgeschlossen.
Da musste man also irgendwo arbeiten. Man hat sich überlegt, was mach ich, ich
bin dann auf die Idee gekommen, Bühnenarbeiter zu werden. Zu der Zeit fing
Schleef an, Bühnenbild zu studieren, deshalb gingen wir, wenn ich ihn in Berlin besuchte, oft ins Theater. Aber da war das Interesse eigentlich schon da. Wie
ich zum Theaterschreiben kam, war nicht bewusst. Theaterschreiben, das ist eine
eigene Schreibhaltung, anders als beim Romane-Schreiben. Da brauchst du eine
andere Ruhe, da sitzt du, du rauchst Pfeife – das entspricht nicht meinem Tem-
perament. Aber Schreiben fürs Theater ist spielerischer, glaube ich, ich schreibe
auch viel sporadischer, wenn du Prosa oder Roman schreibst, dann musst du ja
fast jeden Tag schreiben, wie Thomas Mann früh um 8 Uhr anfangen, und das
war nie mein Fall. Ich hab auch Prosa geschrieben, ich schreibe fürs Theater auch
Texte in Prosaform, aber was unterscheidet Texte, die man in Prosa fürs Theater
schreibt, von Prosa außerhalb? Ich weiß das nicht so genau. Erstens schreibt man
Prosa meist im Präsens, ganz simpel. Aber das geschieht von selbst. Was mich
außerdem zum Schreiben gebracht hat: Einmal, da war ich noch Bühnenarbeiter,
Schleef hat mich im Theater besucht, es liefen die Proben für Bau, da fuhr plötzlich ein Taxi vor und Heiner Müller stieg aus, und ich dachte: Mensch, der hat
Geld, so wollen wir auch Geld verdienen.
(lacht)
›
Zu welcher Zeit passierte das? In den 1960er Jahren lebte Müller bekanntlich
auch am Rand des Existenzminimums.
Diese Bau-Probe war in meiner Erinnerung 1965 im Herbst, kurz vor dem
elften Plenum des Zentralkomitees der SED. Zu dieser Zeit tauchte Müller im
Deutschen Theater auf.
Die Nacht fällt wie ein großes altes Tuch,
So sieht die Welt in tausend Städten aus!
von Licht durchlöchert, auf die grauen Mauern.
Und keiner weiß, wohin die Straßen zielen.
Ein paar Laternen gehen zu Besuch,
An jeder zweiten Ecke steht ein Haus,
und vor den Kellern sieht man Katzen kauern.
in dem sie Skat und Pianola spielen.
Die Häuser sind so traurig und so krank,
Ein Mann mit Sorgen geigt aus dritter Hand.
weil sie die Armut auf den Straßen trafen.
Ein Tisch fällt um. Die Wirtin holt den Besen.
Aus einem Hof dringt ganz von ferne Zank.
Trinkt Magermilch! steht groß an einer Wand.
Dann decken sich die Fenster zu und schlafen.
Doch in der Nacht kann das ja niemand lesen.
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In einem Sekundärtext über Hermes in der Stadt weist Norbert Otto
Eke darauf hin, dass Kunst keinen Ausweg in der Gegenwart mehr zeigt, dass
Kunst als Vorbild für das Humane ausscheidet und folglich kein positives Gegenbild zur brutalen Wirklichkeit liefert. Trotz aller Schrecken habe ich das aber in
anderen Texten so nicht lesen können. Zum Beispiel Die 81 Minuten des
Fräulein A. Darin flüchten sich Verkäuferinnen oft in Fantasiewelten, so
dass ich den Eindruck behalten habe, dass die Kunst eine Vision für eine ‚andere
Welt‘ und Gedankenmodelle jenseits der Realität bereitstellen kann.
Ja, ich sehe den Hermes eher als ein clowneskes Spiel, das ist doch lustig, das
sind doch alles Clowns, so hat Frank Castorf in seiner Inszenierung am Deutschen Theater Anfang der 90er Jahre das auch inszeniert. Darin liegt die Befreiung. Die Befreiung liegt in der genauen Beschreibung, indem man etwas genau
benennt. Ich habe mich dabei sehr amüsiert. Gerade in dem ersten Bild, wo der
kleine Junge vorgibt, Altstoffe zu sammeln, in Wahrheit jedoch auf Klautour geht,
das ist doch sehr lustig, das ist eine Komödie.
Über die Tätigkeiten des Handelns und Sprechens
ist es demzufolge möglich, Informationen über
den tätigen Menschen zu erfahren. Diese vollziehen
sich an jedem Ort, doch gerade die Straße stellt
als durch Pluralitäten gekennzeichnete Kulisse,
als Raum der ‚Überlagerung von Unterschieden‘,
für das Handeln und Sprechen ein besonders
geeignetes Setting bereit, das diesem andauernden
Prozess der kommunikativen Expression facettenreich Raum geben kann.
In den 81 Min. des Fräulein A. kreuzt der Satz auf: „Da kommt keiner,
der dir die Hoffnung macht, dass auch ein anderes Leben möglich ist.“ Sehen Sie
Theater als Gegenentwurf zum Leben – oder als Möglichkeit eines utopischen
Lebens?
Naja, ich meine, man kann mit dem Theater nur das Theater verändern, die
Wirklichkeit verändert sich anders. Das Theater hat ganz andere Gesetze als die
Welt. Verändern heißt für mich: Wie kann Theater in die Wirklichkeit eingreifen,
das trägt man ja als abwegigen Gedanken mit sich herum. Theater kann gemeinschaftliche Erlebnisse stattfinden lassen, indem Leute zeitgleich dasselbe sehen.
Es kann einen Ansatz für einen Dialog zwischen Autor und Publikum bieten,
und bei einem Dialog kann dann etwas entstehen und weiterführen – vielleicht
kann sich auch etwas in neuen Erkenntnissen festsetzen. Wenn man zum Beispiel
Hermes nimmt, ein Stück gezogen aus dem Osten, wie soll so ein Stück die
Welt verändern? Andererseits vielleicht doch. Dass man noch einmal unideologisch und genau aufschreibt, was da im Osten stattgefunden hat, dass da unheimlich was los war (lacht). Da war Bambule und Kriminalität, das waren unglaublich
intelligente und fantasiereiche Leute. Im Osten gab es ganz buntes Leben. Ein
solcher Gedanke kann von der Bühne aufgenommen und dann vom Publikum
verstanden werden.
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RiemannstraSSe 13, 15.6.2013, 12:03
Gespräch mit Lothar Trolle
Sandra Maria Geschke
Das zerstört einen Mythos. Den Mythos vom armen Müller – nach dem Skandal
um die Umsiedlerin verarmt. Dazu passt kein Taxi.
(lacht)
Sandra Maria Geschke: Straße als kultureller Aktionsraum – Eine Einleitung.
In: dies. (Hg.): Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre Betrachtungen des
Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Wiesbaden 2009
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37
Gespräch mit Lothar Trolle
Oskar Loerke
Aber in die Wirklichkeit einzugreifen – das ist schwierig heute. Für den Brecht
der frühen Lehrstücke war das noch viel einfacher. Zu der Zeit gab es in der Gesellschaft noch politisch offensive Gegensätze. Man solidarisierte sich mit den einen und verdammte die anderen: Man war Kommunist oder Sozialdemokrat. So
etwas ist heute undenkbar, das ist ja eine amorphe Masse. In diesem Sinn finden
keine Klassenkämpfe mehr statt. Das ist alles ein Dahindümpeln. Ich weiß auch
nicht, ob das Anlass für Schreiben sein kann: die Wirklichkeit zu verändern. Ich
glaube, das kann nicht der Anlass sein. Der Anlass ist doch immer ein Erlebnis.
Wie Louis Aragon sagt: „Ich hab etwas gesehen, ich weiß etwas und teile es euch
mit.“ Ein Erlebnis, das mich berührt hat, das versuche ich aufzuschreiben. Meine Stücke entstehen meist zu konkreten Anlässen. Auch bei den 81 Min. des
Fräulein A. war das so. Im ‚Steirischen Herbst‘ in Graz 1995 sollten nur
Männerstücke gespielt werden. Außerdem sollte das Festival das Thema ‚Räu-
DIE
GESPIEGELTE
STADT
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me‘ behandeln – bis zu Verbindungen von Architektur und Theater. Das war so
hochgestochen. Aber es gab am Theater auch zehn Schauspielerinnen, die sagten,
wir wollen ein Stück für zehn Frauen. (lacht) Wenn man dann Geld braucht, dann
macht man das. Dann habe ich überlegt, und mir fiel gar nichts ein. Ich wohnte
damals in Weißensee und ging immer in eine nahe Kaufhalle, ich glaube, das war
ein ‚Plus‘, und wollte da einmal Leergut abgeben. Da war kein Personal, es hieß,
ich solle eine Tür aufmachen. Und schon stand ich im Aufenthaltsraum von den
Verkäuferinnen. Das ist doch ein Raum, über den schreib ich jetzt, dachte ich.
Und immer schwerer stürzt und stürzt der Regen.
Des Abgrunds Himmel brüllen wie ein Meer.
Im Nichts den Fuß, hoch geh ich drüber her.
Schwermütig kommt das leere Nichts entgegen.
Der Regen fällt. Berlin durchhallt die kalte
Sintflutmusik der Nacht. Der Regen fällt.
Noch ein Berlin, steil auf den Kopf gestellt,
Versinkt umgraut, verschwommen im Asphalte.
Die Wagen stehn vermummt in Lederkutten,
Wer unterm nassen Leder sitzt, vermummt;
Turmtief von einem Hause sehn verstummt
Zwei nackte tote Knaben, Sandsteinputten:
In steifen Prozessionen stehn Laternen
Und glühn tief unter sich, und schwarzer Stein
Scheint alle Leere, aller Raum zu sein
Bis in des Himmels stumpf geballte Fernen.
Halb graues Chaos schon und nur zu ahnen,
Sie horchen in die wüste Nacht aus Stein
Und schreiten Hand in Hand matt aus dem Sein,
Der dumpfen Ungewißheit Untertanen.
Im Stein stehn Bilder, gleich vergessnem Truge
Magnetisch an die obre Welt geklebt.
Sinds Häuser? Straßen? Leben kommt und schwebt
Verkehrt, verwünscht, gleich einem Faschingszuge.
Und ich auch schreite, Knecht des Ungewissen,
Die Bilder deutend, jenseits aller Zeit.
Voll ungeheurer Traumestraurigkeit
Umschweben sie im Schlaf noch meine Kissen:
Die Menschen wollen in den Himmel schwinden,
Hinab gleich Blättern, vom Asphalt geweht,
Hinab in sinkend schönen Kreis gedreht,
Sich seelig in der Wettertiefe winden.
Nichts war mehr, außer unter meinem Fuße
Die große Stadt; die hing von Türmen schwer,
Wie Stalaktiten überm Himmelsmeer,
Ganz schwarz, ganz still, im Krampf der Todesmuße.
Doch ihrer Schuhe Sohlen haften an den Steinen,
Ganz oben hält sie traurige Gewalt.
Die leichtre Welt im Spiegel aus Asphalt
Und die darüber bleiben in der einen.
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Die sternentief entfernten Weiten schollen,
Die Düsternisse wetterleuchteten,
Daß Ängste meine Schläfen feuchteten,
Vulkanisch murrend wuchs und wuchs ein Rollen – –
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Frenzel / Müller / Sottong
Da kommt aber eine Ebene hinzu, die Traumwelten, in die sich diese Frauen
versetzen.
Wenn du die geführten Gespräche in diesem Aufenthaltsraum ernst nimmst, da
wird nur Blödsinn geredet, erscheinen die Figuren als Idioten. Doch das sind sie
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nicht, man muss die Figuren in ihren Möglichkeiten auffassen. Sie verkörpern viel
mehr, als sie scheinen. Die Blödheit ist Fassade, sie werden vielmehr verblödet.
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Direkt anschließend zu den Frauengestalten: Da gibt es u.a. Eine (kurze)
Szene Annas und Die Heimarbeiterin. Gab es für diese Stücke
auch Aufträge, oder was hat Sie an diesen Figuren interessiert, die ja ziemlich
typische Rollenmuster erfüllen?
Bei Heimarbeiterin gab es einen Artikel in der Bild-Zeitung. Der geschilderte Fall hat mich berührt, und plötzlich kam die Idee mit diesen Liedern
dazu, und das war der Einstieg, die Lieder. Die Lieder boten die Möglichkeit einer
anderen Sprache. Und bei Einer (kurzen) Szene Annas, da hat mich
Erzählen ist primär eine phatische Handlung.
[…] Die ‚erzählende Rede‘ ist nach
Malinowski ein ausgezeichnetes Mittel,
die sozialen Beziehungen herzustellen und
aufrechtzuerhalten […].
Das Erzählen zeichnet sich nämlich immer wieder vor allem
durch eines aus: seine Offenheit. Wer mit Geschichten
kommuniziert, ‚öffnet‘ den kommunikativen und sozialen
Raum ebenso wie den Raum des Denkens. Geschichten
sind keine Befehle, sie enthalten keine Handlungsanweisungen, sie sind nicht performativ […] und sie sind auch
nur in geringem Maß appellativ. Der Akt des Austauschs
von Geschichten, die Situation gemeinsamen Erzählens,
schafft, solange sie dauert, eine bestimmte Gleichwertigkeit
zwischen den Beteiligten, setzt hierarchische und
autoritative Differenzen zwischen den Beteiligten […]
vorübergehend außer Kraft.
Wenn wir uns Interaktionen vorstellen, in denen die phatische
Funktion von Sprache nicht nur an bestimmten Stellen […] auftritt,
sondern durchgängig den gesamten Kommunikationsprozeß
dominiert – ich denke hier an Textsorten wie ‚Kaffeeklatsch‘, das
männliche Gegenstück: ‚Stammtischgespräch‘, Unterhaltung
mit Freunden, Nachbarn, Bekannten, Gespräche auf einer Party
usw. – dann kann jeder aus seinen Alltagserfahrungen bestätigen,
daß diese Interaktionen dadurch gekennzeichnet sind, daß die
Beteiligten wechselseitig ständig Geschichten erzählen, Anekdoten
vortragen, Erlebnisse berichten, Witze erzählen und dergleichen.
Alle diese Handlungen dienen dazu, die Kommunikation aufrechtzuerhalten und dabei ein Gefühl von ‚Gemeinsamkeit‘ zu stiften:
man lacht und amüsiert sich über dieselben Dinge, man verschafft
sich wechselseitig Kenntnisse über den Alltag und die Alltagserlebnisse der anderen, man lernt sich besser kennen.
Karolina Frenzel; Michael Müller; Hermann Sottong:
Storytelling. Das Praxisbuch. München 2006
Rainer Rath: Erzählfunktionen und Erzählankündigungen in Alltagsdialogen.
In: Erzählforschung. Ein Symposion. Hg. von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1982
Rainer Rath
Gespräch mit Lothar Trolle
Das war auch provokativ. Sollen die anderen doch was über edle Räume machen,
ich schreibe über diesen Verkäuferinnenraum in dieser Kaufhalle in Weißensee.
Das ist was, das kann ein Impuls zum Schreiben sein, ein Stachel als Protest gegen
diese Art von Kultur-Veranstaltungen. Der Witz war: Die Männerstücke fielen
aus, alle Frauen vom Ensemble waren in meinem Stück besetzt, und es mussten
noch Schauspielerinnen zusätzlich engagiert werden. Auch das ist Theater. (lacht)
Von mir aus: Wir machen jetzt hier so einen Arme-Leute-Raum gegen diese
Raumtheoretiker. Aber wie kann so ein Stück die Wirklichkeit nun verändern?
Nun, ganz einfach. Man bringt normale Menschen auf die Bühne, die sonst gar
keine Rolle spielen, jedoch bringt man sie als Traum. Ich kenn die auch nicht, ich
leg denen was in den Mund. Ich fasele mir was zurecht. Das Faseln ist Nachdenken über diese Trennung zwischen uns Intellektuellen und dem ‚vierten Stand‘.
Daraus könnte sich ein Schritt zur Veränderung ergeben. Dazu muss man nicht
gleich eine Verkäuferin heiraten wollen.
41
Gespräch mit Lothar Trolle
als Stoff interessiert: Was machen die kleinen Angestellten nachts? Was passiert in
Marzahn hinter den Fenstern?
In Einer (kurzen) Szene Annas fallen die vielen Lücken und Freilassungen im Text auf. Welche Absicht verbindet sich damit?
Das werde ich immer von Dramaturgen gefragt. Die Antwort ist simpel. Da gibt
es diesen unbewussten Blick, z.B. sie guckt, wo auch immer sie hinguckt; das ist
eine Leerstelle der Handlung, wenn ich aber sagen würde, sie guckt zum Stuhl,
wäre das ein flacher Vorgang. Ich will jedoch das Unbewusste darin betonen.
Shakespeare. Nehmen Sie Viel Lärm um nichts, da sind überall Klammern in den Repliken. Das kriegt eine andere Wichtigkeit. Kommata wären dann
schon wieder Literatur. Klopstock zum Beispiel, Winterfreuden: „Wenn
ich vorüberglitt an hellbeblütheten Ulmen / (Schnee war die Blume)“. In einer
solchen Form ergibt sich ein anderes Erzählen. Plötzlich erscheint der Schnee als
ein eigener Vorgang und wird wichtig.
››
weiter auf Seite 58
Julia Abel
Auch jenseits der Lücken nutzen Sie ja insgesamt eher unkonventionelle Formen als Schriftbild, z.B. in Hans (im Glück). Es wirkt schriftlich wie ein
Schwall an Sätzen und Worten und Verbindungen und abgebrochenen Verbindungen. Warum diese Form?
Klammern dokumentieren einen anderen Sprechgestus. Das hat mir immer viel
Ärger mit den Dramaturgen eingebracht. Dabei gab es Klammern schon bei
Erzählend ist der Mensch nicht nur in der Lage, zeitliche Sachverhalte
zu organisieren, sondern diese zudem in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Damit überführt er Geschehen in Geschichten,
in denen Ereignisse auseinander und nicht bloß aufeinander folgen.
Dieser besonderen Leistung der Narration wird eine zentrale
Bedeutung für die Konstruktion von Identität zugeschrieben, die in
jüngeren Identitätstheorien nicht länger als eine Art Besitz, sondern
dynamisch als lebenslanger Konstruktionsprozess konzeptualisiert
wird. […] Identität hat also einen deutlich performativen Charakter:
Sie wird besonders durch Sprechhandlungen hervorgebracht.
Julia Abel: Erzählte Identität. Mündliches Erzählen in der deutschen ‚Migrantenliteratur‘.
In: Der Deutschunterricht, 2/2005
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Ich habe immer das Gefühl, daß dieser
Medea-Stoff, der kommt im Moment
nur noch in der Bildzeitung vor, aber den
gibt es nach wie vor. Die letzte Variante
davon habe ich gehört in Pankow, in
Ost-Berlin, die Frau eines Staatsbeamten,
er kommt nach Hause, er findet einen
Zettel auf dem Küchentisch: Ich bin
zu Mutter gezogen, dein Essen steht im
Kühlschrank. Er macht den Kühlschrank
auf, und da liegt das Baby drin.
Das ist wirklich wahr.
Heiner MÜLLER
Um dem Stück und dem Text auch mehr Möglichkeiten zu geben?
Ja, wahrscheinlich. Sonst wird das fad.
JAHNN IST HUMUS: Heiner Müller im Gespräch mit Walter Hinck, Hans-Joachim Schlieker,
Ingeborg Villinger u. a. 10.2.1989. In: Heiner Müller: Werke 11. Gespräche 2. Frankfurt am Main 2008
43
Die weiSSen Ratten von Monbijou
44
Es war einmal eine Gärtnerfrau im Schlosse Monbijou, die Küch‘
und Stub‘ und Keller allezeit wie ein Schmuckkästchen hielt,
und wer ihre Kindlein hüpfen sah in den sauberen weißen Kleidchen, dem lachte das Herz vor Freuden. So hätte der Gärtner mit
seiner hübschen jungen Frau wohl glücklich leben können,
wenn sie nicht einen gar so schlimmen Fehler gehabt hätte, den sie
auch nimmermehr bezwingen konnte: sie wollte nur immerfort
tanzen. Darüber konnte sie alles vergessen, das Haus und den Mann
und selbst die Kindlein, die sie aus Herzensgrunde liebte. Wohl
hundertmal hatte sie es ihrem Manne versprochen, daß sie nun
das sündhafte Tanzen lassen wolle; kam dann wieder die unselige
Lust über sie, so war sie doch nicht zu halten.
Einmal war sie auch schön geschmückt aus dem Schlosse getreten.
„Willst du schon wieder zum Tanze gehen?“ fragte sie unwillig
der Gärtner, der noch in den Anlagen arbeitete, „ich meine, du
solltest lieber der Kindlein warten, sie werden sich ängsten, wenn
sie so allein in dem großen Schlosse sein sollen!“ „So bleib du
doch bei ihnen!“ erwiderte unfreundlich die Frau. „Hab ich mich
darum verheiratet, daß ich nicht einmal tanzen soll?“ Der Mann
blickte sie bekümmert an und seufzte. „Du hast fünf Mägdlein,“
sagte er mit lindem Ton, „die holdseliger blühen als alle Rosen
im Garten! Sieh nur, wie sie mit fliegenden Zöpfen dort über den
Rasen springen! Sie sollten nun im Bette liegen; aber eine Lust
ist es doch, alleweile dies fröhliche Rufen bei der Arbeit zu hören.
Wie viele Frauen sehnen sich nach solch einem Gottesglück!
Und du, du weißt nichts als Tanzen!“ Das war sein bitteres Leid.
Darum, als er nun einmal verreisen mußte, so legte er es der
Mutter an das Herz, daß sie doch dieses eine Mal von ihrem argen
Hange lassen und der Kinder am Abend acht haben solle. So er
wiederkäme, und es wäre ihnen ein Leid zugestoßen, sollte
sie sich nimmermehr vor seinen Augen sehen lassen. Das ging
der Frau zu Herzen, und sie versprach es ihrem Manne unter
Tränen, daß sie es diesmal gewiß nicht tun wolle. Darüber war der
Mann froh und reiste erleichterten Sinnes. Das war am Morgen
des Johannistages.
Es war aber der Abend noch nicht gekommen, so packte sie wieder
eine so wilde, unwiderstehliche Lust zu tanzen, dass sie es gar
nicht abwarten konnte, bis die Kinder schliefen. Und als nun
endlich das letzte die müden Äuglein geschlossen hatte, so schlich
sie heimlich davon und ließ die Kinder allein. In ihrer Ungeduld
achtete sie nicht der schwarzen Wolken, die düster am Himmel
heraufzogen; auch das stille Wetterleuchten in der Ferne gewahrte
sie nicht.
Sie war noch nicht lange beim Tanzen, so kam ein schweres
Gewitter, das schreckte selbst das übermütige Volk im Saale, daß
sie mit Angst und heimlichem Grauen nach dem schwarzen
Himmel schauten, an dem jetzt kein Stern mehr zu sehen war.
Nur die grellen Blitze durchzuckten unheimlich die Nacht; so heftig
war das unaufhörliche Krachen und Rollen des Donners, daß sie
darüber nicht hören konnten, wie der Regen drieschend an
die Fenster schlug. Da gedachte die junge Gärtnerin wohl ihrer
verlassenen Kindlein im Schloß; aber sie konnte jetzt nicht nach
Hause gehen, und nachher, als das Gewitter wieder geringer
ward, nahm auch der Tanz seinen Fortgang, daß sie der Mägdlein
bald vergaß.
Die Kleinen waren aber von dem gräßlichen Unwetter auch aus
ihrem Schlaf aufgeschreckt worden, daß sie immerfort laut und
angstvoll nach der Mutter riefen. Als niemand antwortete, tappten
sie weinend in der Wohnung umher und suchten die Mutter überall.
Aber sie konnten sie doch nicht finden. Und war auch niemand
zu dieser Stunde in dem ganzen Schlosse, der ihnen hätte beistehen
können in ihrer Bangigkeit; hätt‘ auch kein Mensch ihr Schreien
und angstvolles Rufen hören können, das ging in dem furchtbaren Toben des Wetters unter. Da hielt es die Kinder nicht länger
in der finsteren Wohnung, wo von dem unaufhörlichen Donnern
die Scheiben erklirrten, und sie flüchteten sich wimmernd hinaus
auf den Flur. Und während die zuckenden Blitze die langen
Gänge schauerlich erhellten, tappten die zitternden Mägdlein auf
nackten Füßen überall im Schloß umher und suchten ihre Mutter.
Da flammte auf einmal ein Blitz auf, der von einer unheimlichen
Helligkeit war. Alsbald krachte es rund umher, als sollte das Schloß
zusammenstürzen. Die Kinder schrien und weinten, und als
wieder ein Blitz die schreckliche Finsternis erhellte, so verkrochen
sie sich eilends in die schwarzen Feuerlöcher der Kamine.
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Die weiSSen Ratten von Monbijou
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Dort hockten sie noch, als endlich in der Morgenfrühe die Mutter
wieder nach Hause kam. Der war nicht wohl, als sie auf ihrem
Heimwege der Kindlein gedachte, die sie bei dem entsetzlichen
Unwetter so ganz allein in ihrer Herzensangst gelassen hatte, und
sie lief, als sie nun in das Schloß trat, schnell in die Küche und
von der Küche in die Kammer, in der die Mägdlein schliefen. Aber
die Bettlein der Kinder waren leer, und auf ihr unruhvolles
Rufen antworteten sie mit keinem Wort. Nun suchte auch sie in
dem Schloß umher, treppauf, treppab, immer nach ihren Kindern
rufend. Endlich vermeinte sie, aus einem fernen, weiten Saale
die angstvollen Stimmchen der Kleinen zu vernehmen. Da lief sie
eilend herzu. Wie sie aber die zitternden Kindlein so in den
Feuerlöchern kauern sah, konnte sie ihren Unmut nicht verwinden
und, statt sie liebevoll zu locken, fuhr sie sie hart und scheltend
an: „Ihr bösen, ungezogenen Kinder, warum liegt ihr denn nicht in
euren Betten? Ihr sitzt ja wie die Ratten im Ofenloch!“ Kaum hatte
sie das unselige Wort gesagt, so huschten auf einmal fünf Ratten
aus dem Kamin, weiß, wie die Mädchen in ihren Hemdlein gewesen
waren; die fuhren ein paarmal um die schreckensbleiche Frau her,
dann liefen sie eilend zum Gange hinaus und weiter die Treppen
hinunter auf den Flur.
Einen Augenblick stand die arme Frau, als spränge ihr Herz entzwei, dann flog sie mit jammerndem Rufen hinter den Ratten her,
wieder treppauf und treppab, bis die Ratten zuletzt hinaus in
den Garten sprangen und dort in einem Busche verschwanden.
Händeringend stand die Mutter davor. Da fuhr noch einmal
ein einziger, greller Blitzstrahl hernieder, der traf die sündige Frau,
daß sie lautlos zusammenbrach.
Alsbald war sie auch verschwunden; an der Stelle aber, wo sie
zuletzt gestanden hatte, lag nun ein harter Stein. Zu dem kamen
die Ratten gelaufen und krochen auch eine kurze Weile um
den grauen Stein herum; dann wühlten sie sich darunter in die
Tiefe hinab.
Als der Mann wieder von seiner Reise nach Hause kam, fand er das
Schloß und die Wohnung leer, konnt‘ auch keiner ihm sagen, wo
die Seinen geblieben. Daß seine Frau wieder zum Tanze gewesen
war, wußten manche, mehr konnte er nicht erfahren. Da war ihm
der Ort, an dem sein Herz gehangen, verleidet, und er ging in die
weite Welt, seinen Schmerz allda zu vergessen.
Alljährlich aber, wenn die lichten Sommernächte anheben,
kommen die weißen Ratten wieder aus ihren Löchern hervor und
huschen ins Schloß hinein, und von dem Flur über die Treppen
und durch die Zimmer. Kein Riegel kann sie aufhalten und kein
Schloß sie hindern; die Türen springen allein auf, wohin sie
kommen, und selbst die Feuerlöcher der Kamine öffnen sich,
sobald sie erscheinen. Ruhelos huschen sie in jedes Loch hinein
und wieder heraus und wieder hinein und heraus, um aufs
neue dann durch die Zimmer zu jagen, treppauf, treppab, bis in der
Frühe der Tag graut und keiner mehr sehen kann, wo sie bleiben.
Ein Feuerschein umhüllt sie und folgt ihnen nach, und es ist, als
wäre immerdar ein Klagen um sie her, das tönt wie das Wimmern
feiner Kinderstimmchen. Auf den Gängen kann man alsdann
eine bleiche Frauengestalt erblicken, die ringt die Hände und weint.
So ihr jemand in den Weg tritt, zerrinnt sie wie Luft. Weißt du,
wer das ist? Um die Mitternacht singt sie bisweilen; aber ihr Sang
ist verworren, und dabei tanzt sie wie eine Traumwandlerin die
Treppen hinauf und hinab. Dies aber ist ihre Weise:
Wole, wole, Kindlein schön,
fürcht‘t euch nicht alleine!
Mutter will zum Tanze gehn,
hat ein Herz von Steine.
Wole, wole, ohne Ruh
auf den kalten Stufen
muß ich tanzen immerzu,
muß die Kindlein rufen.
Wole, wole, Kindlein springt,
tanzt im Mondenscheine!
Wenn der Tau herniedersinkt,
weinen auch die Steine.
So singt sie noch immer im stillen Schlosse Monbijou und kann
doch nicht mit ihrem kummervollen Sang die Kindlein, die durch
sie verdarben, erlösen.
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Webcam
Baumzeichnungen
der schädel
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Der Schädel –
eine japanische Sage
Einst litt ein Mann an fortdauerndem, sehr argem
Kopfschmerz, dessen Ursache kein Arzt zu ergründen
vermochte. Da wandte er sich endlich an die erhabene,
gütige Göttin Kwannon und flehte sie aufs inbrünstigste
um Hülfe an. Die Göttin erhörte auch seine Gebete
und ließ ihm durch den Priester sagen, er möge sich in
den Wald an eine näher bezeichnete Stelle begeben;
dort werde er die Ursache seines Leidens mit eigenen
Augen sehen und dieselbe leicht beseitigen können.
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Baumzeichnungen
der schädel
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Als er an dem angegebenen Orte angekommen war, sah
er, halb von Erde bedeckt, einen menschlichen Schädel;
er forschte weiter nach und fand, daß eine Baumwurzel
durch den Schädel hindurchgewachsen war und angefangen hatte, denselben auseinander zu treiben. Ein
Ast war aus der Augenhöhle des Todtenbeins förmlich
wieder herausgewachsen, und der Schädel war ganz
und gar von der Wurzel eingeengt und geklemmt.
Der Mann vermuthete sogleich, daß dieser Schädel ehedem ihm selber, während einer der früheren irdischen
Existenzen, die seine Seele durchwandert, angehört habe;
er beseitigte die Wurzel und legte den Schädel ganz frei,
und nun hörte sein Kopfschmerz augenblicklich auf.
Da ward es ihm zur völligen Gewißheit, was er gemuthmaßt, und dankerfüllt pries er die Gnade, die ihm die
Göttin Kwannon erwiesen.
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Max Lüthi
Baumzeichnungen
„Erzähl mir keine Märchen“, sagen wir abschätzig – das Wort
ist da nur ein höflicher Ausdruck für Lügen, für besonders
kunstvoll gebaute Lügen. Wenn wir andererseits etwas
außergewöhnlich Schönes bewundern, dann stellt sich wie
von selbst das Wort ‚märchenhaft‘ ein, und jetzt heißt es
nicht unwirklich im Sinne von unwahr, sondern im Sinne von
überirdisch. So deuten sich Ablehnung des Märchens und
Faszination durch das Märchen schon im Sprachgebrauch an.
Max Lüthi: Es war einmal. Vom Wesen des Volksmärchens. Göttingen 2008
54
55
Franz Hessel
Persönliches
über Sphinxe
56
Auf mich haben es in Berlin die Sphinxe abgesehen. Berliner Sphinxe zwar,
aber doch immerhin letzte Nachfahren des Kolosses bei den Pyramiden
und der Rätslerin von Theben. Und wenn endlich einmal ein gelehrter Herr
auf den guten Gedanken kommen sollte, Kultur- und Kunstgeschichte in
einer Monographie über die Sphinxe zu spezialisieren, Tiefsinn und Schnörkelei
von Gizeh und Karnak bis zum Wiener Belvedere mit seinen zierlich gezöpften Tierdamen zu sammeln, die literarische Auffassung und Ausdeutung
dieser Bestien von den griechischen Tragikern bis zur modernen Hintertreppe zu studieren, über Creuzer und Bachofen nicht den Herausgeber meines
griechischen Schullexikons zu vergessen, der die grausige thebanische
Sage auf Überschwemmungen und deren Beseitigung durch Kanalisation
zurückführt, kurz, wenn dieser kuriose Abriß der Weltgeschichte je
unternommen werden sollte, so möchte ich aus persönlicher Erfahrung
folgendes dazu beitragen.
Als ich Schuljunge war, wohnten meine Eltern dem Zoo gegenüber. Ging
ich die fünfzig Schritte bis zur Kurfürstenstraßenecke, so erhob sich vor
mir das Portal eines stattlichen Hauses aus der Gründerzeit. Da lagerte hoch
und gewaltig wie eine dämonische Portierfrau die Jungfrau mit Flügeln
und Tatzen. Drohend schaute sie auf meinen Schulweg, besonders montags
früh. Vor kurzem sah ich sie wieder. Auf dem Block unter ihren Pranken
war ein Anschlag angebracht, der die Aufteilung der ehemaligen Hochherrschaftlichkeit in 3½- und 4-Zimmerwohnungen verkündete.
Milder und kleiner als diese mächtige Hausmeisterin waren dann die vier,
die auf der Brücke überm Landwehrkanal lagern, weggewandt von den beiden
Taten des Herkules, die sich auf mittlerer Brückenhöhe begeben. Ganz nahe
bei diesen hab’ ich lange Zeit als Erwachsener in einem gut bürgerlichen Hause
gewohnt und bin tagtäglich an ihnen vorbeigekommen. Statt Flügeln haben
sie jede ein Kind mit Füllhorn auf dem Rücken. Sie sind viel gelassener
als die beiden Herkulesse, die es, der eine mit einem Löwen, der andere mit
einem Centauren zu tun haben. Viel erlebte ich mit diesen Vieren zusammen,
viel ist an uns vorbeigezogen. Darüber ist der einen die Nase abgebröckelt
und in allzu hellem Stein ersetzt worden wie auch des einen Herkulesses Bein
und seines Löwen Hinterbacken.
Und nun bin ich vor kurzem in ein Hinterhaus des bayerischen Viertels gezogen. Beim ersten Besuch meiner neuen Wohnung habe ich die Einzelheiten
des Vorderhauses kaum beachtet. Ich hatte schon gemietet, da fiel mir erst
auf, daß im vorderen Hausflur auf einem Podest mit einmal eine Sphinx lagerte
wie eine Katze auf einem Kissen. Mit der lebe ich nun in naher Gemeinschaft.
Sie ist winzig gegen meine früheren Sphinxe. Sie hat ein schmales Mädchenköpfchen, und über den Nacken fällt ihr steinern ein Kopftuch. Ihre Vorderpfoten liegen nicht prankig drohend; schräg krümmt sich die eine zu der andern,
und man könnte ein Kinderbällchen in sie hineinlegen oder -denken. Auf
eine schadhafte Stelle, eine Vertiefung über ihrer linken Brust, hat neulich ein
vorwitziger junger Bekannter die Asche seiner Zigarette abgeschlagen.
Manchmal im Vorbeigehen muß ich leise über ihren Rücken streichen, um
das Tierchen zu ein wenig Mythologie zu ermuntern. Mit der haben wir es ja
beide nicht mehr leicht.
Was wird meine nächste Sphinx sein? Vielleicht eine Stoff- oder Quietschpuppe
meines Enkelkindes, wenn ich das noch erlebe! Oder sollten wieder Zeiten
kommen, in denen diese Katzen groß vor Pyramiden und Abgründen lagern?
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Gespräch mit Lothar Trolle
Brüder Grimm: Allerleirauh
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Nebentexte wie Regieanweisungen, die Anweisungen für die Schauspieler etc.
werden bei Ihnen als Text eingesetzt.
Alle Stücke mit Regieanweisungen sind eigentlich blöde, hab ich mal gedacht,
bis mich jemand darauf aufmerksam gemacht hat, dass meine Stücke nur aus Regieanweisungen bestehen. Ich glaube, es kommt im Theater darauf an, Vorgänge
zu benennen: Er geht ins Zimmer, hält eine Hand auf, die andere Hand trägt das
Glas, und dann sagt er Guten Tag. Ist alles gleichberechtigt. Die Regieanweisungen transportieren die puren Vorgänge, damit sie für sich sprechen können.
Jetzt sind wir wieder bei der Prosa. Man könnte sagen, dass die Besonderheit des
Theaters sich darin erschöpft, dass der Text zur Darstellung kommt.
Auf dem Theater funktionieren Adjektive anders und Reflexion geht gar nicht.
Für die Bühne kann man nicht so etwas schreiben wie: er guckt mit finsteren Gedanken zum Fenster raus. Im Theatertext muss genau beschrieben werden, wie
wer guckt. Ob mit schwimmenden Augen oder mit zitternder Unterlippe. (lacht)
So muss man für das Theater schreiben.
Es war einmal ein König, der hatte eine Frau mit goldenen Haaren,
und sie war so schön, daß sich ihresgleichen nicht mehr auf
Erden fand. Es geschah, daß sie krank lag, und als sie fühlte, daß sie
bald sterben würde, rief sie den König und sprach: „wenn du
nach meinem Tode dich wieder vermählen willst, so nimm keine,
die nicht ebenso schön ist, als ich bin, und die nicht solche
goldene Haare hat, wie ich habe; das mußt du mir versprechen.“
Nachdem es ihr der König versprochen hatte, tat sie die Augen
zu und starb.
Der König war lange Zeit nicht zu trösten und dachte nicht daran,
eine zweite Frau zu nehmen. Endlich sprachen seine Räte: „es
geht nicht anders, der König muß sich wieder vermählen, damit wir
eine Königin haben.“ Nun wurden Boten weit und breit umhergeschickt, eine Braut zu suchen, die an Schönheit der verstorbenen
Königin ganz gleichkäme. Es war aber keine in der ganzen Welt zu
finden, und wenn man sie auch gefunden hätte, so war doch keine
da, die solche goldene Haare gehabt hätte. Also kamen die Boten
unverrichteter Sache wieder heim.
Nun hatte der König eine Tochter, die war gerade so schön wie ihre
verstorbene Mutter und hatte auch solche goldene Haare.
Ich könnte bei Ihren Texten oft nicht sagen, was jetzt der Theatertext ist, der
gespielt werden soll, und was zu sprechen ist.
Beim Schreiben denke ich am besten nicht ans Theater, das würde mich einengen. Du kannst das aufschreiben, was du willst, aber das Theater macht auch, was
es will.
Manche Autoren sind regelrecht verletzt, wenn man an ihren Text rangeht, Sie
haben gesagt, Sie schreiben einen Text und machen damit dem Theater ein Angebot. Gibt es trotzdem eine Art Trolle-Kern, der bewahrt werden soll?
Entweder der Regisseur kapiert mich, oder du weißt, der kann das sowieso nicht.
Das ist eine andere Welt, das Theater. Das wird nur unangenehm, wenn du
merkst, die haben das zynisch hingerotzt, und selbst das stört mich nicht, wenn
›
Als sie herangewachsen war, sah sie der König einmal an und sah,
daß sie in allem seiner verstorbenen Gemahlin ähnlich war, und
fühlte plötzlich eine heftige Liebe zu ihr. Da sprach er zu seinen
Räten: „ich will meine Tochter heiraten; denn sie ist das Ebenbild
meiner verstorbenen Frau, und sonst kann ich doch keine Braut
finden, die ihr gleicht.“ Als die Räte das hörten, erschraken sie und
sprachen: „Gott hat verboten, daß der Vater seine Tochter heirate,
aus der Sünde kann nichts Gutes entspringen, und das Reich
wird mit ins Verderben gezogen.“ Die Tochter erschrak noch mehr,
als sie den Entschluß ihres Vaters vernahm, hoffte aber, ihn
von seinem Vorhaben noch abzubringen. Da sagte sie zu ihm:
„eh’ ich Euren Wunsch erfülle, muß ich erst drei Kleider haben, eins
so golden wie die Sonne, eins so silbern wie der Mond und eins
so glänzend wie die Sterne; ferner verlange ich einen Mantel von
tausenderlei Pelz und Rauhwerk zusammengesetzt, und ein jedes
Tier in Euerm Reich muß ein Stück von seiner Haut dazu geben.“
Sie dachte aber: „das anzuschaffen ist ganz unmöglich, und
ich bringe damit meinen Vater von seinen bösen Gedanken ab.“
Der König ließ aber nicht ab, und die geschicktesten Jungfrauen in
seinem Reiche mußten die drei Kleider weben, eins so golden wie
die Sonne, eins so silbern wie der Mond und eins so glänzend
wie die Sterne; und seine Jäger mußten alle Tiere im ganzen Reiche
auffangen und ihnen ein Stück von ihrer Haut abziehen; daraus
ward ein Mantel von tausenderlei Rauhwerk gemacht. Endlich,
als alles fertig war, ließ der König den Mantel herbeiholen, breitete
ihn vor ihr aus und sprach: „morgen soll die Hochzeit sein.“ […]
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In Ihrem Schreiben spürt man, finde ich, einen versteckten Idealismus.
Das ist kein richtiger Idealismus. Schreiben ohne Entfremdung ist Erfüllung. Das
ist besser als Serienschreiben. Ich will auch nicht alkoholkrank werden. Hunderttausend Verkannte liegen in der Charité.
Haben Sie beim Schreiben einen selbstformulierten Auftrag?
Es gibt beim Schreiben Momente, da merkt man, das kann nur ich schreiben und
nur so will ich es schreiben. Wenn man diesen Punkt erreicht, ist das erfüllend.
Dann schreibt man gut gelaunt und locker. Das ist ein großes Privileg. Als Schriftsteller muss man nirgendwo antanzen. Auch zu DDR-Zeiten, wir hatten zwar
kein Geld, aber bis früh um vier konnten wir immer zusammen sitzen.
Dreifaltigkeitskirchhof, 15.6.2013, 12:24
Steht der Künstler außerhalb der Gesellschaft?
Nein, du bist ein kleiner Warenproduzent. Du bist verstrickt, du musst deine
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Sachen unterbringen. Das geht nur in der Gesellschaft.
Merkwürdig ist, wie oft es einem gelingt, in Auftragsarbeiten dennoch aufzugehen. Ich habe nie etwas geschrieben, das mich unzufrieden zurückgelassen hätte.
Das hat nichts mit Qualität zu tun, sondern damit, dass ich sage, das hat Spaß
gemacht. Letztendlich hat einen etwas Angenehmes beschäftigt. Mehr Spielraum
beim Schreiben hast du sowieso nicht.
›
Was bedeutet es für Sie, über Berlin zu schreiben, wo Sie auch wohnen?
Ich komme vom Dorf. Stadt ist erst einmal ein Erlebnis. Es ist naheliegend, ab
und zu über Berlin zu schreiben. Was sind das für Gefühle, wenn man S-Bahn
fährt. Immer im Kreis. Großstadt bleibt Mysterium, völlig unnormal. Sich damit
zu beschäftigen ist eine Möglichkeit. Märchenhafte Geschichten über Berlin zu
schreiben, rein sportlich ist das so, das müssen Geschichten sein, in denen die
Wirklichkeit verfremdet erscheint. Das interessiert mich. Also nicht einfach solche Sachen wie „Verkäuferin geht um achte ins Geschäft“. Das muss man anders
hinkriegen, damit die Stadt neu gesehen werden kann. Dass auch ich die Stadt
neu sehe. Zum Beispiel bei dem Märchen von dem Mann am Weißen See und
dem Ring, das geht auf eine japanische Sage zurück. Berlin ist überall, woanders
ist es nicht anders.
Das mythische Element in der Literatur
[W]enn man wissen will, was ein mythisches Element ist, müßte man
ja zunächst einmal klären, was man unter dem Mythos versteht.
Ich habe dazu ein sehr einfaches Experiment gemacht, ich habe einige
meiner Bekannten – Menschen verschiedener Herkunft und Bildungsstufen – gefragt, was ihnen beim Hören dieses Wortes einfällt und
die Antworten waren: „Na, Göttergeschichten und so” – „alte Sagen“ –
„Unwissenschaftliches“ – „irgendwas Vorzeitliches“ – „primitives
Erklären von rätselhaftem Naturgeschehen“ – „so zusammengesponnnes
Zeug, also nichts Wahres“ – „was man früher halt so geglaubt hat“ –
dies etwa der Definitionsbereich, den man mit diesen Antworten
abstecken könnte. Die meisten versuchten eine thematische Erklärung,
zusammengefaßt etwa so formulierbar: „Geschichten von Göttern,
übermenschlichen Helden, Fabelwesen und Ungeheuern“, und diese
Antworten treffen in der Tat etwas Wesentliches. […]
Franz Fühmann
Gespräch mit Lothar Trolle
es ein Erfolg wird. In Köln haben sie einen grauenhaften Hermes in der
Stadt gemacht. Es war ein Riesenerfolg, aber die Inszenierung – fürchterlich.
Puppen spielten auf der Bühne Geschlechtsverkehr. Die Leute haben sich amüsiert! So ein RTL-Publikum. Es war ein einziges Gejuchze und Gekreische.
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Was macht aus der Geschichte über den ‚vierten Stand‘ ein Märchen? Oder was
ist denn ein Märchen?
Was ein Märchen ist? Naja, was ist ein Märchen? Ich weiß nicht, ob ich das jetzt
Damit scheint eine klare Abgrenzung gegeben, nämlich die zur Realität
hin: Der Mythos ist offensichtlich das, was die Wirklichkeit nicht ist, und
erfahrbares Dasein mit seinen Gesetzen fängt dort an, wo der Mythos
aufhört – auf diesen Zug deuten auch die Antworten von dieser Art
hin: „zusammengesponnenes Zeug“ – „unwissenschaftlich“ – „unwahr“
und Äußerungen ähnlichen Inhalts. […]
Natur- wie Gesellschaftswesen zu sein, das ist der Grundwiderspruch
des Menschen, in diesem Spannungsfeld entwickelt sich sein Gattungsleben und formt sich seine individuelle Psyche, und die Frage nach der
Übereinstimmung eines Stücks Literatur mit dem Leben (und als Literatur
wollen wir das Märchen, und unter diesem Aspekt wollen wir den Mythos
hier ansehen) müßte wohl auch die Frage nach der Abbildung dieses
Grundwiderspruchs sein. Im Märchen sind die Widersprüche gelöscht,
oder genauer: dort ist ihre Einheit ins Gegeneinanderstehen von zwei
autonomen und in sich homogenen Gestalten auseinandergedrieselt: der
gute Prinz da, der böse Zauberer dort. Damit aber ist der Widerspruch
62
beantworten kann. (lacht)
Mich würde der Unterschied zwischen Märchen und Mythen in Bezug auf Ihre
Texte interessieren. Nach Fühmann sind Märchen Endfassungen von Mythen,
aus denen die Widersprüche getilgt wurden.
Mir kommt es auch darauf an, dass im Märchen etwas Zauberhaftes auftritt, wie
der Mann mit dem Ring, aber dass auch ganz reale Geschichten als Märchen bezeichnet werden können. Ganz provokativ würde ich die als Märchen bezeichnen.
Wie auf dem Recyclinghof die Frau umgebracht wird, das ist ein Märchen.
›
Aber was ist mit dem Klischee vom Happy-End? Wäre diese Mordgeschichte
dann nicht eher ein Anti-Märchen?
Das ist doch ein guter Ausgang. (lacht)
Auch bei Büchner ist vom Anti-Märchen die Rede.
Ich habe mit dem Begriff nicht gerechnet. Märchen sind doch die Geschichten,
die Leute erzählen. Vielleicht sollte man den Begriff so einsetzen. Im Sinne von
ursprünglich mündlicher Weitergabe von Geschichten.
In Hermes in der Stadt oder Weltuntergang Berlin II de-
geschwunden, denn voneinander Geschiedenes ist selbst dann noch
kein dialektischer Widerspruch, wenn es einander bekämpft und sich für
diesen Kampf der Terminus ‚äußerer Widerspruch‘ eingebürgert hat:
Die Akteure – ob Menschen, ob Fabelwesen – sind im Märchen frei von
inneren Widersprüchen, und darum ist es dort auch die Gesellschaft –
darin, und nicht in der Existenz von Zauberern und Feen und sprechenden Katern, besteht das, was man als die Märchenhaftigkeit, die
spezifische Irrealität des Märchens empfindet und was einen zu dem
Seufzer veranlaßt: Es wäre ja schön, wenn es so wäre, doch so war
es nie, und so wird es nie sein! […]
Der Mythos gibt den Widerspruch wieder, das Märchen schafft ihn weg;
in einem Zug also, den wir wohl als wesentlich anerkennen müssen,
stimmt der Mythos mit dem Leben überein.
Franz Fühmann
Gespräch mit Lothar Trolle
War das Ihre Idee mit den Märchen und Sagen?
Ich hatte diese Märchenidee schon, da kam das Theater an der Parkaue und wollte
Lokaltheater machen, ein Stück über Berlin. Und da hab ich gesagt, klar, mach
ich. Und dann fing das an, mich zu interessieren. Es gibt in der deutschen Dramatik ernstlich keine Szenen aus dem Leben einfacher Leute, sag ich jetzt mal.
Wie zum Beispiel Goldoni. Hier ist alles Klassik. Heiner Müller, Lothar Trolle,
alle schreiben klassisch, und möglichst noch in Versen. Wie kann man die Welt
– wie in Carlo Goldonis Komödie Il Campiello – von Berlin-Lichtenberg
aus erzählen? Das ist wirklich schwer. Wenn du nur die Sprittis zeigst, das ist trist,
das trifft es auch nicht. Wie man das hinkriegt? Das ist abgestorben seit Lenz’
Hofmeister. Dann gab es noch Büchner, seitdem gibt es das nicht mehr. Das
ist ein Ehrgeiz von mir, so etwas zu schreiben, dass Leute, die nicht ins Theater
gehen, sich selbst sehen könnten. Da fällt mir gerade ein, Foucault hat einmal
gesagt, wir sind nicht berechtigt, über den ‚vierten Stand‘ zu schreiben, aber wir
müssen ihm wenigstens ein Podium bieten.
In: Franz Fühmann: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964 – 1981. Rostock 1993
63
Gespräch mit Lothar Trolle
konstruieren Sie das Märchenschema, die Märchen verlieren ihren Trost. Wie
sehen Sie die Verbindung von Kinder- und Jugendtheater und Märchen? Müssten
Märchen nicht auch etwas Positives haben?
Darüber denke ich nicht nach. Ich weiß nicht, ob man das aktuelle Stück überhaupt ein Märchen nennen kann. Mir war wichtig, dass es Geschichten sind.
Wenn man auf dem Theater Märchen ankündigt, dann muss man den Moment
des Erzählens zeigen, nicht die Geschichte selbst. Vielleicht könnte das Märchenerzählen wieder eine Möglichkeit sein, einen Chor auf die Bühne zu bringen. Das
müssten dann Geschichten sein, die jeder kennt, die aber erst in dem Augenblick,
in dem sie erzählt werden, ins Bewusstsein treten – und Gemeinschaft schaffen.
Dieser Moment des Erzählens ist sehr stark. Sie schreiben keine Prosa, Sie schreiben für das Theater und doch ist das immer erzählt und undramatisch. Das ist
erst einmal nicht zwingend und bewirkt stets eine Verschiebung der Unmittelbarkeit, eine Distanzierung. Warum diese Form?
Die Leute erleben nichts anderes, als dass sie sich was erzählen.
Rosa Luxemburg
Ja, aber der Vorgang des Erzählens wird auf die Bühne gestellt. Der Sprechakt
selbst ist die Handlung.
Briefe aus dem Gefängnis
64
Also, die Aktion erschöpft sich darin, dass Leute auf der Bühne sich etwas erzählen. Das entspricht der Realität, in Wirklichkeit passiert nicht mehr. Man muss
sich Abenteuer organisieren, in dem man sie sich ausdenkt, das wird dann wirkliches Erleben. Wir sitzen alle in unseren Köpfen fest.
›
Ist es dann noch relevant, dass es einen Bezug zur tatsächlichen Welt gibt?
Wahrscheinlich ist es so: Die Märchen müssen auf der Bühne erfunden werden.
Das ist Theater: Geschichten erfinden. Jeder erfindet andere Geschichten. Man
steht, man guckt, im Kopf bewegt sich was – das ist unmittelbares Theater. Mir
scheint, als hätten die Leute eine unglaubliche Sehnsucht nach Erleben. Aber diese
Wronke, 19.4.1917
Sonjuscha, mein kleines Vöglein!
[…] Wie möchte ich jetzt bei Ihnen sein, um Sie wieder zum
Lachen zu bringen wie damals nach Karls Verhaftung, als
wir beide – wissen Sie noch? – im Café Fürstenhof durch unsere
übermütigen Lachsalven einiges Aufsehen erregten. Wie war
das damals schön – trotz alledem! […]
Erinnern Sie sich noch der fabelhaften Mondnacht in Südende,
in der ich Sie heimbegleitete und uns die Häusergiebel mit ihren
schroffen schwarzen Konturen auf dem Hintergrund der süßen
Himmelsbläue wie alte Ritterburgen vorkamen?
Sonjuscha, so möchte ich ständig um Sie sein, Sie zerstreuen,
mit Ihnen plaudern oder schweigen, damit Sie nicht in Ihr düsteres, verzweifeltes Brüten verfallen. Sie fragen in Ihrer Karte:
„Warum ist alles so?“ Sie Kind, „so“ ist das Leben seit jeher, alles
gehört dazu: Leid und Trennung und Sehnsucht. Man muß es
immer mit allem nehmen und alles schön und gut finden. Ich tue
es wenigstens so. Nicht durch ausgeklügelte Weisheit, sondern
einfach so aus meiner Natur. Ich fühle instinktiv, daß das die
einzige richtige Art ist, das Leben zu nehmen, und fühle mich
deshalb wirklich glücklich in jeder Lage. Ich möchte auch nichts
aus meinem Leben missen und nichts anders haben, als es war
und ist. Wenn ich Sie doch zu dieser Lebensauffassung bringen
könnte! […]
Ich umarme Sie vielmals und herzlich stets Ihre Rosa
65
Gespräch mit Lothar Trolle
Rosa Luxemburg
66
Sehnsucht können sie nicht formulieren und auf den Straßen passiert nichts.
Sie sagten vorhin, das Theater mache aus den Stücken etwas anderes und dass
die Märchen auf der Bühne erfunden werden. Wäre es da nicht die Lösung, wie
zum Beispiel bei René Pollesch, mit den Schauspielern zusammen die Stücke zu
entwickeln?
Nee, das kann ich nicht. Regie ist was ganz anderes. Ich habe einmal Regie gemacht, das war fürchterlich.
Sie fänden es fürchterlich, auf der Bühne mit den Schauspielern etwas zu entwickeln?
Mich würde es langweilen, diesen Herstellungsprozess aufzuschreiben. Schauspiel ist so etwas anderes als Schreiben.
Wronke, 2.5.1917
Meine liebste kleine Sonjuscha!
[…] Gestern, am 1. Mai, begegnete mir – raten Sie wer? – ein
strahlender frischer Zitronenfalter! Ich war so beglückt,
daß mir mein ganzes Herz zuckte. […] Am Nachmittag fand ich
drei verschiedene schöne Federchen: ein dunkelgraues vom
Rotschwänzchen, ein goldfarbenes von einem Goldammer und
ein graugelbes von einer Nachtigall. […] Die Federchen lege ich
zu meiner kleinen Sammlung […]. Ich weiß schon, wem ich sie
jetzt schenken werde.
[…]
Aber ich bin ja natürlich krank, daß mich jetzt alles so tief erschüttert. Oder wissen Sie? ich habe manchmal das Gefühl, ich bin
kein richtiger Mensch, sondern auch irgendein Vogel oder ein
anderes Tier in mißlungener Menschengestalt; innerlich fühle ich
mich in so einem Stückchen Garten wie hier oder im Feld
unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat als – auf
einem Parteitag. Ihnen kann ich ja wohl das alles ruhig sagen:
Sie werden nicht gleich Verrat am Sozialismus wittern. Sie wissen,
ich werde trotzdem hoffentlich auf dem Posten sterben: in
einer Straßenschlacht oder im Zuchthaus. Aber mein innerstes Ich
gehört mehr meinen Kohlmeisen als den ‚Genossen‘. […]
Gab es eine Inszenierung, bei der Sie sagen konnten: „Das war beeindruckend!“?
Das traf auf eine Inszenierung in Magdeburg zu. Die hab ich etliche Male gesehen, war jedes Mal neu. Leuchte Berlin, leuchte! am Theater an der
Parkaue hat mir auch gefallen.
›
Kinder- und Jugendtheater hat im Kulturbetrieb keinen hohen Stellenwert. Wie
sehen Sie das?
Ich habe nicht viel für das Kindertheater geschrieben, nur zwei, drei Stücke. Ich
bin nicht so in Theatern involviert. Diese Statusgeschichten sind viel eher ein
Problem der Schauspieler. Und das Kinderpublikum ist natürlich auch nicht vorhersehbar.
Ist das auch ein anderes Schreiben? Schreiben Sie auch anders, wenn Sie Kinder
ansprechen?
Da ist immer dein Stoff und den musst du in eine Form bringen. Alle großen
Dramatiker schreiben wie für Kinder. Brechts Stücke sind für Kinder geeignet.
Vorigen Frühling ging ich in meiner stillen, leeren Straße von
einem Feldspaziergang heim, als mir auf dem Boden ein
dunkler kleiner Fleck auffiel. Ich bückte mich und sah ein lautloses
Trauerspiel: Ein großer Mistkäfer lag auf dem Rücken und
wehrte sich hilflos mit den Beinen, während ein ganzer Haufen
winziger Ameisen auf ihm herumwimmelte und ihn – bei
lebendigem Leibe – verzehrte! Mich schauerte es, ich nahm mein
Taschentuch heraus und fing an, die brutalen Bestien wegzujagen.
Sie waren aber so frech und hartnäckig, daß ich einen langen
Kampf mit ihnen ausfechten mußte, und als ich endlich den armen
Dulder befreit und weit aufs Gras gelegt hatte, waren ihm schon
zwei Beine abgefressen … Ich lief fort mit dem peinigenden
Gefühl, daß ich ihm schließlich eine sehr zweifelhafte Wohltat
erwiesen habe.
[…] Sonjuscha, ich schreibe Ihnen bald wieder. Seien Sie ruhig
und heiter, alles wird gut werden, auch mit Karl. […]
Ich umarme Sie. Ihre Rosa
67
Gespräch mit Lothar Trolle
Bei Ihnen sind Kinder auffällig oft Hauptfiguren.
Ja, das ist mir eigen. Aber woher das kommt? Muss ich das rauskriegen?
Viele Texte haben eine apokalyptische Grundierung. Selbst Kinder werden als
mordende Figuren vorgeführt. Als ob Sie nachweisen wollten, dass zu diesen Zeiten keine schuldlose Kindheit möglich ist. Reitet Sie da der pädagogische Ehrgeiz?
Nein, das sagt mir nichts. Ich bleibe immer konkret. Zum Beispiel das Kind vor
dem Tierpark in Weltuntergang II, was das träumt, das kann nur ein
Kind träumen. Das kann kein Erwachsener.
Am Ende von Weltuntergang II kommt die Stelle, „Jetzt wissen Sie,
was ich Ihnen für den weiteren Abend wünsche“ – das ist zutiefst boshaft.
Ja, ist ja auch ein verfremdetes Kind, ist ja nicht mehr realistisch. Das Vorbild ist
Rousseau, der Zöllner, wie der Kinder malte. Solche Scheusale.
Rosa Luxemburg
Ich würde gerne noch mal auf die Absurdität der Existenz als ein Leitmotiv kommen. Wenn man so apokalyptisch mit der Welt umgeht, was ist dann mit dem
Gestus der Freiheit, den man Literatur zuspricht?
Die Hoffnung? Oder eher, wo bleibt das Positive?
Wronke, 23.5.1917
Sonjuscha, mein Liebling,
[…] Sie fragen: „Wozu das alles?“ „Wozu“ ist überhaupt kein
Begriff für die Gesamtheit des Lebens und seine Formen.
Wozu gibt es Blaumeisen auf der Welt? Ich weiß es wirklich
nicht, aber ich freue mich, daß es welche gibt, und empfinde
als süßen Trost, wenn mir plötzlich über die Mauer ein eiliges
„Zizi bä“ aus der Ferne herübertönt. […]
Ich umarme Sie vielmals. […] Ihre Rosa
68
Ja, das Positive.
Ist das nicht in den Stücken? Zum Beispiel Kurze Szene Annas, ist das
negativ? Das empfinde ich nicht so. Die Szene ist doch sehr mit Sympathie geschildert.
›
Anna spielt mit dieser Anonymität der Großstadt: „Ich hab jemanden angerufen, ich hab jemandem auf den AB gesprochen und vielleicht sitze ich jetzt direkt
neben dem.“
Das Positive ist, dass sie sich in ein Scheusal verwandelt, dass sie eine Kraft kriegt.
Sie löst sich aus ihrer Rolle des kleinen Pflänzchens. Keiner ruft an, da übernimmt
sie die Initiative.
Bei Hermes in der Stadt ist es noch schwieriger, das positiv zu sehen.
Das ist ein Menetekel, wenn auch nicht ohne Hoffnung. Sonst müsste man sich
nicht die Arbeit machen, ein Stück zu schreiben. Bloß Auskotzen finde ich langweilig. Andererseits mein Stück Baugrube nach Platonow endet sehr traurig.
Aber ist das deshalb hoffnungslos? Ich kann das nicht sagen. Jedenfalls ist das nicht
ausgekotzt.
Wronke, 20.7.1917
Sonitschka, mein Liebling, da mein Ableben hier sich doch
länger hinzieht, als ich ursprünglich annahm, sollen Sie noch
einen letzten Gruß aus Wronke kriegen. […]
Ich nahm Abschied von dem gepflasterten, schmalen Weg an
der Mauer entlang, auf dem ich nun fast neun Monate
hin- und hergelaufen bin, in dem ich nun schon jeden Stein
und jedes Unkräutlein, das zwischen den Steinen wächst,
genau kenne. An den Pflastersteinen interessieren mich die
bunten Farben: rötlich, bläulich, grün, grau. Namentlich
in dem langen Winter, der so sehr auf ein bißchen lebendiges
Grün warten ließ, haben meine farbenhungrigen Augen
sich an den Steinen ein wenig Buntheit und Anregung zu
schaffen gesucht. […]
Ich umarme Sie vielmals. Auf Wiedersehen in meinem
neunten Gefängnis. Ihre treue Rosa
69
Wie kann ich Kindern Stücke von Lothar Trolle näher bringen? Gibt es eine
didaktische Hilfe?
(lacht) Einsperren, und sie müssen lesen. Die Frage ist doch, wie alt sind die Kinder? Ich sage mal David Rubinowicz ist für Kinder ab dreizehn, vierzehn.
Das aktuelle Stück ist für Jugendliche gedacht. Meinen Kindern hab ich die Stücke nicht zugemutet. Die Frage ist doch,
wie kannst du Kindern Shakespeare naVORSTADTABEND
hebringen? Das geht erst ab einem bestimmten Alter. Wann sind sie bereit,
das Schöne an Shakespeare zu entdecken? Das ist schwierig. Mir geht es so,
dass ich manches bei Shakespeare erst heute kapiere. Da müsste man sich selbst
befragen, wann hatte man die entscheidenden Leseerlebnisse? Das ist bei allen
unterschiedlich. Ich weiß noch, für mich war in der elften Klasse Brecht entscheidend, und unter der Hand besorgten wir uns Kafka. Das unterschied sich sehr von
all dem Vorgekauten.
›
Michail Scholochows Neuland unterm Pflug vs. Kafka. Wäre das
nicht auch mit Trolle-Texten möglich zu zeigen: Was ist das Besondere im Gegensatz zum Kanon?
Als Jugendlicher ist man störrisch und will etwas anderes, als einem angeboten
wird. Zumindest mir ging das so und meinen Freunden. Wenn der Lehrer Arnold
Zweig sagte, dann haben wir das nicht gelesen, stattdessen andere Autoren.
An jedem Abend steigt die Riesenwelle
der Lichtflut auf und wirft die Blinkerkämme
rauschend gegen die nachtgefugten Dämme
der Dunkelheit und droht mit großer Helle.
Hermann Plagge
Gespräch mit Lothar Trolle
Mauerpark, 22.6.2013, 14:47
70
Die Frage ging eher dahin: Wen spreche ich an? Was ist zumutbar? Würden
Sie einen Stoff wie in Hermes in der Stadt auch in einem Kinderstück
verarbeiten?
Nein, das spielt doch kein Kindertheater. Grundsätzlich aber ist Kindern alles
zumutbar, wenn man es richtig schreibt. Die ganzen Märchen sind doch gruselig.
Fundevogel, das ist doch grausam. David Rubinowicz ist auch eine
furchtbare Geschichte, darin wird einer vergast.
Bisweilen flieht in das gedehnte Land
ein Stadtbahnzug, der atemlos sich rettet
und Baum an Baum mit seinem Licht verkettet,
und ferne schmal wird wie ein Ordensband.
Die Nacht wächst blau herauf an allen Enden.
Die Sterne frieren, hoch und dünn gestrählt,
Orion, gierig, mit den goldenen Händen
hascht nach dem Mond, der unten sich gequält
heraufwürgt aus der Weltstadt Riesenlenden
wie eine Frucht, groß, blank und abgeschält.
71
Gespräch mit Lothar Trolle
In Ihrem Werk spielen viele mythologische und biblische Motive eine Rolle und
Intertextualität ist ein großes Thema. Woher kommt das Interesse, bestimmte
Stoffe immer wieder aufzugreifen und damit zu spielen? Und wie entscheidend ist
Vorwissen?
Der Leser muss neugierig werden. In meinem Text Judith kommen Joseph
und seine Brüder vor. Das war so eine Entdeckung, dass Judith in derselben Stadt
gewohnt hat, in der Joseph von seinen Brüdern verkauft wurde. Das kann man
dann andeuten, und wenn du neugierig wirst, dann guckst du eben nach.
Das heißt, es ist schon ein bewusst gesetztes Angebot?
Die historischen Anschlüsse versorgen die Texte mit Allgemeingültigkeit. Man
trägt Schichten ab, quer durch die Geschichte. Judith müsste heute wie vor
tausend Jahren spielen können. Warum sonst die antiken Zwischenspiele in Heiner Müllers Stück Zement?
Ludwig Bechstein: Das Tränenkrüglein
Aber woher kommt die Faszination für Mythen?
Es sind berührende Geschichten. Wenn du den Weg des Arbeiters ins Werk in
ein Verhältnis zu Herakles setzt, kriegt der Arbeiter eine andere Dimension. Sein
Text wird größer.
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Es war einmal eine Mutter und ein Kind, und die Mutter hatte das
Kind, ihr einziges, lieb von ganzem Herzen, und konnte ohne
das Kind nicht leben und nicht sein. Aber da sandte der Herr eine
große Krankheit, die wütete unter den Kindern und erfaßte auch
jenes Kind, daß es auf sein Lager sank und zum Tod erkrankte. Drei
Tage und drei Nächte wachte, weinte und betete die Mutter bei
ihrem geliebten Kinde, aber es starb. Da erfaßte die Mutter, die nun
allein war auf der ganzen Gotteserde, ein gewaltiger und namenloser Schmerz, und sie aß nicht und trank nicht und weinte, weinte
wieder drei Tage lang und drei Nächte lang ohne Aufhören, und
rief nach ihrem Kinde. Wie sie nun so voll tiefen Leides in der
dritten Nacht saß, an der Stelle, wo ihr Kind gestorben war, tränenmüde und schmerzensmatt bis zur Ohnmacht, da ging leise die
Türe auf, und die Mutter schrak zusammen, denn vor ihr stand ihr
gestorbenes Kind. Das war ein seliges Engelein geworden und
lächelte süß wie die Unschuld und schön wie in Verklärung. Es trug
aber in seinen Händchen ein Krüglein, das war schier übervoll.
Richten sich Ihre Stücke eher an intellektuelles Publikum?
Ins Theater gehen Intellektuelle. Selbst die Stenotypistin mit Abonnement, die
ist doch nicht blöd. Und wenn sie etwas nicht versteht, guckt sie nach. Wer seine
Wochenenden im ‚Berghain‘ verbringt, den erreichst du nicht. Den kannst du
vergessen. Das ist aber auch tolles Publikum. Das dann in Dunkelkammern verschwindet. (lacht)
Diese intertextuellen Bezüge, zum Teil sind ganze Gedichte und fremde Passagen
im Text. Woher kommen die?
Ich hab als junger Mensch unheimlich viel Gedichte gelesen. Und ich lese heute
noch gerne Gedichte. Wir waren eine Generation, die Gedichte gelesen hat. Auch
Müller, der konnte das alles.
Sie haben Shakespeare und Klopstock erwähnt. Haben Sie einen Lieblingsautor?
Das ändert sich, aber Klopstock ist immer gut, zumindest der frühe. Der späte
ist ein bisschen langweilig. Lest ihr noch Klopstock? Die frühen Gräber
oder auch Eislauf und Winterfreuden sind großartige Gedichte.
Und das Kind sprach: „O lieb Mütterlein, weine nicht mehr um
mich! Siehe, in diesem Krüglein sind deine Tränen, die du
um mich vergossen hast; der Engel der Trauer hat sie in dieses
Gefäß gesammelt. Wenn du nur noch eine Träne um mich
weinest, so wird das Krüglein überfließen, und ich werde dann
keine Ruhe haben im Grabe und keine Seligkeit im Himmel.
Darum, o lieb Mütterlein, weine nicht mehr um dein Kind, denn
dein Kind ist wohlaufgehoben, ist glücklich, und Engel sind
seine Gespielen.“ Damit verschwand das tote Kind und die Mutter
weinte hinfort keine Träne mehr, um des Kindes Grabesruhe
und Himmelsfrieden nicht zu stören.
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In gewisser Weise korrigieren Sie die Bibel, wenn Sie die Sintflut konsequent zu
Ende denken und beispielsweise in dem Text der Tod der Fische auch noch
die Fische sterben lassen.
Jaja. Das war der Auslöser. Ich hab mich mit der Genesis beschäftigt und bin
auf erhebliche Widersprüche gestoßen. Peter Hacks war begeistert: Da wird die
Bibel wirklich widerlegt. Das hat er gesagt. Der Mord von Kain an Abel, das ist
klar, da werden Konflikte zwischen Ackerbau und Viehzucht besprochen. Das
sind an sich authentische Dokumente, diese frühen biblischen Geschichten, und
da dachte ich, dass man die historisch-kritisch erzählen sollte. Den Pfarrern die
Bibel wegnehmen sozusagen. Hat man aber viel zu tun, die Bibel ist lang. (lacht)
Plötzlich kriegen die Leser es mit Adams Rippe zu tun.
Und warum in verschiedenen Texten immer wieder Noah?
Na, das ist doch ein toller Plot. Die ganzen gotischen Kathedralen beziehen ihre
Maße aus den Beschreibungen der Arche Noah. Die Kathedralen durften nicht
höher gebaut werden als das himmlische Jerusalem in der Offenbarung des Johannes.
Hat sich Ihr Schreiben nach dem Mauerfall verändert?
Das hat mehr mit dem Alter als mit dem Mauerfall zu tun.
Sind Themen dazugekommen?
Nein, der Mauerfall war nicht so ein Akt der Befreiung.
Schreiben Sie spontan oder erfüllen Sie beim Schreiben einen Plan?
Das ist verschieden. Aufträge schiebe ich fast bis unmöglich vor mir her und nachher drängen die Termine. Dann stehst du um sechs auf und sitzt bis abends um
elf. Sonst schreibe ich eher spontan. Ich bin kein Schriftsteller, der jeden Tag früh
aufsteht und sagt: „Jetzt muss ich was schreiben.“ Das ist nicht meine Welt.
Deswegen auch eher die kleinen Formen und keine Romane?
Das kann gut sein. Einen Roman krieg ich eh nicht hin. Außerdem werden so
viele geschrieben.
Wo kommt die Konzeption her, entwickelt sie sich über einen längeren Zeitraum
oder entsteht sie beim Schreiben?
Sie entsteht beim Schreiben. Ich habe auch angefangene Stücke, die melden sich
immer wieder. Also, zu tun hätte ich schon. So klein ist die Form gar nicht.
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Zionskirche, 22.6.2013, 14:06
Gespräch mit Lothar Trolle
Und was reizte Sie an den Bibelgeschichten, die Sie schon in den 70er und 80er
Jahren gegen den Strich bürsteten?
Wir sind in einer atheistischen Gesellschaft groß geworden. Die Bibel wurde
nicht gelesen. Aber ich hab die trotzdem gelesen, zur Sintflut fielen mir sofort
viele Geschichten und Szenen ein. Mir erscheinen die biblischen Stoffe zeitlos.
Ihre Darstellung ist so klar, David und Salome, die sind auch erotisch ambivalent.
Wie ist das, wenn man viele Jahre gegen ein System angeschrieben hat und plötzlich ist dieser Widerstand nicht mehr da. Stattdessen herrscht die Beliebigkeit.
Ich hatte nie diese Sonderstellung. Und so bewusst oder kalkuliert zu schreiben,
das ist mir nie gelungen. Das wollte ich gern, aber dazu bin ich nicht der Typ. Ich
hab nach ’89 viel mehr geschrieben, das hatte damit zu tun, man musste fleißiger
sein. Wir waren ja vorher stinkend faul. (lacht)
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Webcam
New York
oder Das eiserne Gesicht
der Freiheit
Heiner Müller
[...]
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In Kafkas Amerika trägt die Freiheitsstatue an der Hafeneinfahrt von New York
ein Schwert statt der Fackel. In New York zeigt die Freiheit ihr eisernes Gesicht.
Manchmal ist es das Gesicht der Gorgo, deren Blick versteint. Seit London,
erschöpft von Herrschaft wie eine Frau von Geburten, nicht mehr in der Nachfolge Roms steht (der eigentliche Verlierer des Zweiten Weltkriegs, als einer
Phase im Weltbürgerkrieg des zwanzigsten Jahrhunderts, ist England), sind New
York und Moskau die Metropolen der Welt, New York das Flaggschiff des
Kapitals im BAUCH DER BESTIE wie Che Guevara die USA genannt hat,
mit der Blutbahn der Banken, Moskau die narbenbedeckte Hoffnung der
Welt, lange Zeit dem Blick entzogen durch einen blutigen Nebel. So wenig
wie Moskau ist New York eine feste Stadt. Moskau seit dem Sturm aus Asien,
der die Rache der Kinder Abels an den Erben des Brudermörders und
ersten Städtebauers Kain war, immer neu gegen den Wind gebaut, nomadisch
bis in die Architektur; noch der Stalinbarock hat durch seine Ornamentik
die Fliehkraft von Zeltgiebeln: asiatische Verfremdung der kalt monumentalen
Wallstreetgeometrie, die der architektonische Ausdruck des Puritanismus
ist, einer Religion für Kolonisatoren.
New York ein Gebilde, das aus seiner eignen Explosion besteht, UNSTET
UND FLÜCHTIG im Sinn der biblischen Verfluchung, Schnittpunkt von
Kontinenten, kein Schmelztiegel, wie die landläufige Vorstellung meint, sondern
ein Ort der Trennung, die Elemente (Rassen Klassen Nationen) bleiben
separat (Little Italy Chinatown Lower Eastside Harlem), mit keiner andern
Solidarität als der des Geldes. Die berühmte Skyline täuscht: New York,
ein Pfahlbau, ist dem Wasser näher als dem Himmel, sein Grund die Leiber
der toten Indianer, die Abels weniger glückliche Nachkommen sind. (Auf
den Baugerüsten arbeiten die letzten Irokesen, schwindelfrei durch einen Zufall
der Natur.) Und manchmal schlägt der Grund zurück: Im New York der
siebziger Jahre, als es Mode wurde, Kindern statt Goldhamster kleine
Alligatoren zu schenken (der leichte Weg, das Spielzeug wieder loszuwerden,
wenn es lästig wurde, die Spülung des WC, SEE YOU LATER ALLIGATOR),
kehrten immer häufiger Kanalarbeiter von ihrer Arbeit unter der Stadt nicht
zurück. Suchtrupps entdeckten in den Abwässern der Kanalisation Geschwader
von ausgewachsenen Alligatoren. Sie waren weiß und blind und satt. Wenn
als Folge der Klimaverschiebung, ein Triumph der Technik, Nord- und Südpol
schmelzen, holt der Atlantik vielleicht seine Hauptstadt heim, das Wasser den
Beton, schwimmen die Haie durch die Banken. Inzwischen ist das Gesetz
des Wachstums von New York das Gesetz des Dschungels: Wucher und
Verfall, und aus den Ghettos wächst die Wüste auf die Stadt zu, während mit
schnellerem Wachstum im Schatten der Erdbeben Los Angeles die Nachfolge
antritt, Hauptstadt des Pazifik und ein neues Babel. Auf den ersten Blick ist
New York die letzte intakte europäische Stadt, eine Jungfrau unter den Städten:
keine Bombe vom Himmel hat es berührt, es hat keine Panzer gesehen.
Der tägliche Krieg findet in den Subways, in den Ghettos, auf den Straßen, in
Appartements und Fahrstühlen statt. Eine Stadt der Einsamkeit: nirgendwo
hört man so viele Menschen mit sich selber reden wie in den Straßenschluchten
von New York. Stadt der Extreme: reiche Witwen mit Penthouse und
Chauffeur, bewacht von schwarzen oder irischen Türstehern, ihre Hunde von
Negerinnen ausgeführt, Schaufel und Plastiktüte unvermeidlich im Griff,
um, wie das Gesetz es befiehlt, die Scheiße wegzuräumen; junge schwarze
Mörder, für die nicht einmal in den Gefängnissen Platz ist. Schwierig,
New York mit Kunst beizukommen: Vor dem Tanz der fliegenden Zeitungen
und im Wirbel der Mülltonnen, die der Wind aus den Indianerprärien
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Heiner Müller
über die Straßen am Hudson treibt, schrumpft sie auf das Beispiel Andy Warhol,
Klassiker New Yorks durch die Qualität der kleinsten Größe. Unvergeßlich
die Trauer im Gesicht des alten Juden, Hegel- und Marxübersetzers (er hatte,
wie er beim Whisky gestand, in der McCarthy-Ära vor die Wahl zwischen
Management und Alkohol gestellt, die Flucht in den Alkohol vorgezogen), bei
seiner Erzählung von einem Besuch im Metropolitan Museum am Vortag:
er stand vor einem altägyptischen Relief, zwei junge Schwarze stellten sich rechts
und links neben ihn: WHAT ARE YOU DOING HERE THIS IS OUR
CULTURE. Er kannte gut die sozialen Wurzeln des schwarzen Antisemitismus:
Mietwucher in Harlem, Bauspekulation, Brandstiftung gehört zum Geschäft, in
den Ghettos, Krieg der Minderheiten. Sein Resümee: Was Marx vergessen
oder nicht gewußt hat: die Gewalt des Tribalismus. Erst wenn die Verführungskraft der Fassaden schwindet (die den Bewohnern der Hölle den Himmel
auf Erden verspricht), weil das Mahlwerk der Ausbeutung unter der staatlichen
Schuldenlast stockt, kann in den Ghettos eine andre Solidarität aufblühn
als die des Kapitals gegen das Elend. Bevor man stirbt, sollte man New York
gesehen haben, einen der großen Irrtümer der Menschheit.
1987
Gib mir Asyl hier im Paradies
Hier kann mir keiner was tun
Gib mir Asyl hier im Paradies
Nur den Moment um mich auszuruhn
Da draußen lauern deine Hände
Und ziehn mich auf den Grund
Ich sinke, ich sinke und ertrinke
An deinem warmen Mund
Gib mir Asyl ...
Hörst du sie rufen? Sie kommen,
mich zu suchen.
Siehst du die Feuer dort am Strand?
Sag ihnen: Keine Macht der Welt
Holt mich zurück, zurück an Land.
Gib mir Asyl ...
ASYL IM PARADIES, Songtext
80
Silly / Tamara Danz
Meine Uhr ist eingeschlafen
Ich hänge lose in der Zeit
Ein Sturm hat mich hinausgetrieben
Auf das Meer der Ewigkeit
Die Märchen müssen auf der Bühne
erfunden werden. Das ist Theater:
Geschichten erfinden. Jeder erfindet
andere Geschichten. Man steht,
man guckt, im Kopf bewegt sich was –
das ist unmittelbares Theater.
Lothar Trolle
82