Das Dschungelbuch

Transcription

Das Dschungelbuch
Das Dschungelbuch
Materialsammlung
Spielzeit 2014/15
Fabeln
Die Fabel verwendet Personifikationen von Tieren und Pflanzen, um moralische Lehren zu erteilen.
Menschliche Eigenschaften werden in übersteigerter Form Tieren zugeschrieben – wie dem listigen
Fuchs, dem störrischen Esel, dem stolzen Storch, der hinterhältigen Schlange –, um darüber
Geschichten mit meist eindeutiger Schlussbotschaft zu ersinnen. Die bekanntesten Verfasser von
Fabeln sind Äsop, Hans Sachs, Johann Wolfgang von Goethe, Ephraim Lessing, Ludwig Bechstein,
Jean de la Fontaine, Iwan Krylow und James Thurber. Moderne Geschichten, die das Grundmotiv
der Fabel aufgreifen, sind »Die Farm der Tiere« von George Orwell oder »Das Dschungelbuch« von
Rudyard Kipling.
(Holger Lindemann)
INHALT
Von A bis V
Rudyard Kipling
Robert Musil
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (Auszug)
Stephan Nagel
Menagerien1
Vom Wilden zum Menschen2
Ein Streifzug durch die Dritte Welt in der Kinder- und Jugendliteratur
Rudyard Kipling
Kim (Auszug)
Michael Chabon
Wildnis – für Kinder geschlossen
Stadtkinder in der Wildnis
Roddy Doyle
WILDNIS (Auszug)
Im Gespräch mit Sir David Attenborough
AUS ALLER WELT
1
Der Text enthält Formulierungen wie das »N«-Wort. Ich habe sie bewusst nicht herausgestrichen, da sie auf den
seinerzeit gewöhnlichen, kolonialistischen Sprachgebrauch zur Entstehungszeit des Textes hinweisen.
2 Hier habe ich entsprechende Begriffe (siehe Fußnote 1) durch »« kenntlich gemacht, da sie sonst, wenngleich die
Autorin auf Stereotype hinweisen will, als gebräuchlich und politisch korrekt durchgehen würden. Das ist meiner
Ansicht nach unbedingt zu vermeiden.
A wie
Der Affen-König, des -es, plur. die -e, der König
unter den Affen; eine Würde, welche man den
Brasilischen Affen, Aquiqui genannt, beylegt,
unter welchen sich einer befinden soll, der die
andern zu gewissen Zeiten durch sein Geschrey
zusammen rufet.3
Wanderlied des Affenvolkes
Wir schwingen uns, ein fliegender Kranz,
Halbwegs bis zum neidischen Mond im Tanz.
Bewunderst du nicht unsere prächtige Schar,
Hätt'st gern noch ein Extrahändepaar?
Möchtest du nicht, geschweift wär' dein Schwanz
Wie Amors Bogen – voll Eleganz?
Nun bist du böse. Doch glaube mir,
Bruder, dein Schwanz hängt hinter dir.
Hier sitzen wir im Gezweig und beraten
Viel schöne Pläne und große Taten.
Doch träumen wir nur von Dingen,
Die im Ernst wir doch nie vollbringen.
Was edel ist und klug und fein,
Tun wir durch Wünschen ganz allein.
Schon ist's vergessen. Doch glaube mir,
Bruder, dein Schwanz hängt hinter dir.
Alles Geschwätz, das wir brachten nach Haus,
Vom Vogel, vom Wolf und der Fledermaus,
Wir schnattern es nach und alle zugleich.
Noch einmal! wie herrlich, wie rhythmenreich!
Wahrhaftig, jetzt sind wir den Menschen gleich.
Gut, seien wir's – doch glaube mir,
Bruder, dein Schwanz hängt hinter dir.
Das ist so recht der Affen Manier.
Komm, reih' dich unsern Scharen ein,
Die hoch in den Bäumen springen,
Die mit der Dschungel wildem Wein
Sich stolz in die Lüfte schwingen.
Wir schwören, beim Schmutz auf unserm Pfad,
Bald kommt sie, die große, erlösende Tat.4
3 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der
Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1798, Sp. 174–
175.
4 Rudyard Kipling: Das Dschungelbuch, Kapitel 4, 1984.
Der Anführer, des -s, plur. ut nom. sing. Fämin.
die -inn, eine Person, welche eine andere
anführet, so wohl durch Zeigung des Weges, als
auch durch Ertheilung des nöthigen
Unterrichtes und Befehles. Mein Anführer in der
Musik. Der Anführer der Soldaten in einer
Schlacht. Einen zum Anführer erwählen. Die
Vernunft sollte die beste Anführerinn zum Guten
seyn.5
Und damit wandte er sich zu Baghira und
erzählte ihm, wie er Hathi, den wilden Elefanten,
gebeten habe, ihm die Meisterworte zu verraten
– denn Hathi weiß alles; und wie dann Hathi
Mogli selbst mit nach dem Sumpf genommen
habe, um das Schlangenwort von den
Wasserschlangen zu erfahren, denn das
vermochte Balu nicht auszusprechen. Und nun
wäre Mogli gegen alles Unglück in der
Dschungel gefeit, da weder Schlangen noch
Vögel noch Raubtiere ihm etwas anhaben
könnten. (…) »Wahr ist, was Hathi sagte, der
wilde Elefant: ›Niemand ist ohne Feind‹.6
F wie
Der Freund, des -es, plur. die -e, Fämin. die
Freundinn, plur. die -en, überhaupt eine Person,
welche uns liebt, doch unter verschiedenen
Einschränkungen. 1) Eine Person, welche durch
die Bande der Verwandtschaft mit uns
verbunden, und uns folglich zu lieben verbunden
ist, ein Verwandter, eine Verwandte. Ein
weitläufiger Freund. Ein naher Freund. Seine
Freunde (d. i. Verwandten) wollten die Heirath
nicht zugeben. S. Blutsfreund. 2) Eine geliebte
Person des andern Geschlechtes, man mag
ehelich mit ihr verbunden seyn, oder nicht, in
der edlen und anständigen Schreibart. Schon in
den Monseeischen Glossen wird Fruidilinna
durch Concubina übersetzt, und im
5 Adelung, Band 2., 1798, Sp. 297.
6 Kipling, Kapitel 3.
Schwabenspiegel kommt Friundinne in eben
diesem Verstande vor. Siehe, mein Freund, du
bist schön und lieblich, Hohel. 1, 16. Stehe auf,
meine Freundinn, meine Schöne, Kap. 2, 10; und
so in andern Stellen dieses Buches mehr. 3) Eine
Person, mit der man durch den Umgang
verbunden ist. Er ist mein alter Freund. Ein
vertrauter Freund. Ihre Freundinnen und
Gespielen. 4) Der Neigung nach, eine Person, die
man liebt, deren Bestes man zu befördern
sucht, ohne Rücksicht auf das Geschlecht. Er ist
mein sehr guter Freund. Jemanden zum
Freunde haben. Sich jemanden zum Freunde
machen. Ein wahrer Freund. Ein falscher,
verstellter Freund. Machen sie dem Dinge ein
Ende, wenn wir Freunde bleiben sollen, Weiße.
Der Freund kann nicht Freund seyn, ohne sich
mit mir zur Tugend zu vereinigen, Gell. Er ist ein
guter Freund von mir, für, er ist mein Freund, ist
eine im gemeinen Leben sehr übliche,
vermuthlich nach dem Französischen gebildete
Art des Ausdruckes. 5) Im gemeinen Leben
nennt man Freunde sehr oft solche Personen,
mit welchen man in entfernten Verbindungen
der Handlung oder der Nahrung stehet. In
diesem Verstande pflegen die Kaufleute ihre
Correspondenten und Bekannten Freunde zu
nennen. 6) Oft ist mein Freund oder guter
Freund ein Ausdruck, mit dem man [Bd. 2, Sp.
284] geringere unbekannte Personen aus
Vertraulichkeit anredet, deren Nahmen oder
Stand man nicht weiß. 7) Figürlich. Ich bin kein
Freund von vielen Reden, d. i. ich liebe das viele
Reden nicht. Er ist ein Freund vom Trinken, vom
Lesen u. s. f. Ein Freund der Wahrheit und der
Tugend. Die Nacht ist niemands Freund,
begünstiget niemandes Vorhaben. Die Stille der
Nacht und die Einsamkeit sind Freundinnen der
Schmerzen, Weiße. Die Freude ist eine
Freundinn der Gesellschaft und überläßt sich
ungezwungen allen Führungen derselben,
Sonnenf.
Anm. Freund, bey dem Kero und Ottfried Friunt,
im Niedersächs. Fründ, im Holländ. Vriend, im
Angels. Freond, im Engl. Friend, bey dem
Ulphilas Frionds, im Schwed. und Isländ.
Fraende, ist eigentlich das Mittelwort von dem
alten Zeitworte frigon, lieben, so wie Feind von
fijan, hassen; S. Freyen. Aus dem Worte
freundlich scheinet zu erhellen, daß Freund
eigentlich eine Person bedeutet, die ihre gute
Gesinnung gegen uns durch Geberden an den
Tag leget.7
Es war in den Tagen, als Balu das
Menschenjunge das Gesetz der Dschungel
lehrte. Der große, würdige alte Bär freute sich,
einen so gelehrigen Schüler zu haben; denn
junge Wölfe wollen nur so viel von dem
Dschungelgesetz lernen, als unbedingt nötig ist
für das eigene Rudel, und laufen von dannen,
sobald sie den Jagdspruch hersagen können:
»Füße, die geräuschlos traben, Augen, die im
Dunkeln sehen, Ohren, die den Wind hören,
Zähne, die wie Messer schneiden – das sind die
Zeichen unserer Brüder. […] Jetzt lehre ich ihn
gerade die Meisterworte, Urworte der Völker der
Dschungel, die ihm Schutz gewähren bei Vögeln
und Schlangenvolk und bei allem, was vierfüßig
auf dem Erdboden jagt. Wenn er die Worte
behält, dann kann er bei allen Völkern der
Dschungel Schutz und Hilfe heischen.«8
H wie
Der Hêlfer, des -s, plur. ut nom. sing. Fämin. die
Helferinn, plur. die -en, eine Person, welche hilft,
in allen Bedeutungen des Zeitwortes. Gott der
Herr ist ein Helfer, 2 Mos. 2, 22. Da ist kein
Helfer, 2 Sam. 22, 42. Vor einem bescheidenen
Helfer verbirgt sich die leidende Unschuld nicht,
Gell. In der zweyten Hauptbedeutung des
Zeitwortes, wo in der anständigen Schreibart
7 Adelung, Band 2., Sp. 283–285.
8 Kipling, Kapitel 3.
Gehülfe üblicher ist, kommt es nur noch in den
Provinzen vor, wo besonders die Diaconi oder
Capelläne der Priester im Oberdeutschen Helfer
genannt werden. Gott hat in der Gemeine
gesetzt Helfer, 1 Cor. 12, 28. Ein Helfers Helfer,
im verächtlichen Verstande, der dem Gehülfen
eines andern in einer bösen Sache hilft. Schon
bey dem Notker Helfare.9
Hatte er ein Gelüste nach Honig (Balu sagte ihm
nämlich, daß Honig und Nüsse mindestens so
gut schmeckten wie Fleisch), dann kletterte er in
den Bäumen umher, und Baghira zeigte ihm,
wie er das tun müsse. Der schwarze Panther war
ein verständiger Lehrer. Er sprang zuerst selbst
den Baum hinauf, als sei es gar kein Kunststück,
streckte sich bequem auf einem Aste aus und
rief: »Komm her zu mir, kleiner Bruder!«
Anfänglich wollte Mogli sich anklammern wie
das Faultier, aber später schwang er sich durch
die Baumkronen fast so kühn wie der graue Affe.
Er hatte bald auch seinen Platz bei dem
Ratsfelsen in der Versammlung. Und hier
machte er eines Tages die seltsame
Entdeckung, daß die Wölfe seinen Blick nicht
aushalten konnten. Starrte er einem von ihnen
gerade ins Gesicht, so senkte der Wolf die
Augen. Und so gewöhnte er sich daran, rein aus
Mutwillen, sie anzustarren. Oft aber auch zog er
mit seinem kleinen, flinken Händen die Dornen
aus den Ballen seiner Freunde, denn Wölfe
leiden schrecklich unter Dornen und Splittern in
ihren Pfoten und ihrem Fell. Zuweilen schlich er
sich des Nachts nahe an die Dörfer und
betrachtete neugierig die braunen Bewohner der
Hütten; aber er mißtraute den Menschen, denn
Baghira hatte ihm eine Kastenfalle gezeigt, die
mit schweren Fangeisen so geschickt im Grase
verborgen war, daß Mogli beinahe hineingeraten
wäre. Am liebsten ging Mogli mit dem Panther
so recht in das dunkle, feuchtwarme Herz des
9 Adelung, Band 2., Sp. 1098–1100.
Urwaldes, um dort den schwülen Tag über zu
schlafen und des Nachts Baghira auf der Jagd
zu begleiten.10
J wie
Der Junge, des -n, plur. die -n, das vorige
Beywort als ein Hauptwort gebraucht, wo es
wider die Art solcher Hauptwörter auch mit dem
Artikel der Einheit, ein Junge, und nicht ein
Junger lautet. 1. Überhaupt, eine junge Person
männlichen Geschlechtes, welche das
Jünglingsalter noch nicht erreicht hat, so wie
Mädchen eine solche Person weiblichen
Geschlechtes bezeichnet; wo es doch nur in der
niedrigen und vertraulichen Sprechart üblich ist,
und oft einen verächtlichen Nebenbegriff hat,
daher in der anständigern Sprechart Knabe
dafür gebraucht wird. Ein kleiner Junge, ein
guter Junge, in der vertraulichen Sprechart, ein
guter junger Mensch, wenn er gleich schon ein
Jüngling oder Mann ist. Ein Bauerjunge,
Hirtenjunge, Gänsejunge, Schuljunge u. s. f.
wofür man in der anständigern Sprechart ein
Bauerknabe, Hirtenknabe, Gänseknabe,
Schulknabe sagt. 2. Besonders. 1) Ein Lehrling,
bey den Handwerkern, Künstlern und Kaufleuten,
wo sich denn dieses Wort nicht so wohl auf das
Alter, als vielmehr auf die Lehrjahre beziehet,
indem ein solcher Mensch im gemeinen Leben
so lange ein Junge heißt, bis seine Lehrjahre
vorüber sind, und er los gesprochen worden. In
den anständigern Sprecharten ein Lehrling.
Einen Jungen aufdingen, los sprechen u. s. f. Ein
Schneiderjunge, Schusterjunge u. s. f. Einige
Künstler und Handwerker pflegen ihre Lehrlinge
in der anständigen Sprechart Bursche zu
nennen. 2) Ein Knabe, so fern er zur Aufwartung
bestimmt ist, und seiner Jugend wegen noch
nicht ein Bedienter genannt werden kann;
gleichfalls nur im gemeinen Leben und mit
Verachtung. Einen Jungen annehmen. Sich
10 Kipling, Kapitel 1.
einen Jungen halten. Im Tatian ist Jungo ein
Jüngling. Im Nieders. hat man auch das
Diminut. Jünsken, Jüngelken, für Knäbchen.11
S wie
Der Schurke, des -n, plur. die -n, ein in den
gemeinen Sprecharten aller Deutschen
Provinzen sehr übliches Schmähwort, eine
Mowgli (indisch: wildes Kind)
nichtswürdige männliche Person von jeder Art
Rudyard Kipling hat den Namen frei erfunden
zu bezeichnen. Nieders. gleichfalls Schurk,
und in seiner erfundenen Sprache bedeutet
Schwed. Skurk, Isländ. Skurka, Engl. Shark. Die
Mowgli "kleiner Frosch". Der Name soll auch auf Abstammung dieses Wortes ist wie der meisten
die Naturverbundenheit hindeuten und die
ähnlichen Scheltwörter dunkel; wahrscheinlich
Kommunikation mit Tieren. Der Name Mowgli
ist es indessen doch, daß dieses Wort mit dem
wird deshalb mit "w" geschrieben, weil Kipling
Lateinischen Scurra verwandt ist, wofür im
einen Namen wollte, der sich auf Kuh (englisch mittlern Lateine ohne Zischlaut Curro und
cow) reimt, da die Kuh in Indien heilig ist.12
Curilis vorkommen. Schurk läßt sich füglich von
Mutter Wolf warf sich keuchend zwischen ihre
scheren und dessen Intensivo schergen,
Jungen nieder, und Vater Wolf sagte jetzt mit
schürgen ableiten, so fern sie ehedem auch
besorgter Miene: »Schir Khan hat nicht ganz
laufen, ingleichen im Lande umher streichen
unrecht. Das Menschenjunge muß dem Rudel
bedeuteten. Frisch führet bey dem Worte
gezeigt werden. Willst du es wirklich behalten?« Scherge mehrere Beyspiele an, aus welchen
»Wirklich behalten?« fragte sie entrüstet.
erhellet, daß schurgen nicht nur antreiben,
»Nackt und ganz allein kam es zu uns in der
sondern auch laufen bedeutete. Vor etlicher
Nacht und sehr hungrig und hatte doch nicht ein Jahren Schurg, ist bey dem Jeroschin, vor
bißchen Furcht. Sieh doch nur, jetzt hat es
einigen verlaufenen Jahren; in des Mayen
schon wieder eins meiner Kinder beiseite
Geschurg, im laufenden May, im Maymonath.
gedrückt. Und dieser lahme Viehschlächter
Schurk würde also eigentlich einen Landläufer,
hätte es beinahe verschlungen und sich dann
Landstreicher bedeuten können. Das
zum Waingungaflusse aus dem Staube
Schlesische Schurk, ein Tannapfel, Tannzapfen,
gemacht, während die Dorfbewohner hier alle
gehöret zu einem ganz andern Stamme.14
Schlupfwinkel durchsucht hätten, um Rache zu
nehmen! Ihn behalten? Natürlich will ich das.
Shir Khan ist ein höchst eloquenter
Lieg still, kleiner Frosch. Oh, mein Mogli – denn Menschenfresser, der mit seinen Opfern –
Mogli, Frosch, werde ich dich nennen –, der Tag ebenso wie Hannibal Lecter – ausgesprochen
wird für dich kommen, diesen Schir Khan zu
höflich umgeht. Zugegeben, sein Hass auf das
jagen und zu hetzen, wie er dich heute gehetzt Menschengeschlecht ist verständlich, wenn
hat!«13
man bedenkt, dass es seine gesamte Familie
ausgelöscht hat. Doch Shir Khans kaltes,
berechnendes Vorgehen erinnert stark an einen
Soziopathen. Bonuspunkte bekommt der Tiger
auch für seinen Handlanger: eine leutselige
Schlange mit hypnotischen Fähigkeiten.15
11 Adelung, Band 2., Sp. 1448–1449.
12 http://www.vorname.com/name,Mowgli.html
13 Kipling, Kapitel 1.
14 Adelung, Band 3., Sp. 1685-1686.
15 Die ultimative Rangliste der 24 fiesesten DisneyBösewichte, Nr. 16,
http://www.huffingtonpost.de/2014/02/11/24-ultimative-
V wie
Notker gebraucht ferfuoren und verfuoren in den
jetzt veralteten Bedeutungen des Wegführens
Verführen, verb. regul. act. 1. Für das einfache
führen, doch in einer jetzt veralteten Bedeutung, und Versetzens.
Der Verführer, des -s, plur. ut nom. sing. Fämin.
so daß ver eine bloße Intension bezeichnet.
Einen Lärmen, ein großes Geschrey verführen, die Verführerin, nur in der letzten Bedeutung
d. i. erheben und fortsetzen. Nicht, wie der rohe des vorigen Zeitwortes, eine Person, welche
durch irrige Vorstellungen eine andere zum
Schwarm, der ein Geschrey verführt, Wenn wo
ein Bürgerweib ein Kind zur Welt gebiert. Bernh. Bösen bewegt. Ein Verführer des Volkes. Die
Verführer deiner Jugend.16
Man gebraucht es nur mit den schon
angezeigten und einigen ähnlichen
Kaas Jagdtanz
Hauptwörtern. 2. In die Ferne führen, es
Es prunkt in hell schillernden Farben/ der
geschehe nun auf der Achse oder auf einem
scheckige Leopard, / Stolz ist der mächtige
Schiffe. Waaren, Güter verführen, wie der
Büffel / auf Hörner gewaltiger Art, / . . . Doch
Fuhrmann und Schiffer thun. 3. Irre führen,
falsch führen, S. Ver 1. (2) (g). (1) Eigentlich. Von willst du als Jäger bestehen, / halt glänzend den
seinem Wegweiser verführet werden, wofür man eigenen Pelz, / Denn Jugendstärke verkündet /
des prächtigen Felles Schmelz. / . . . Und
doch lieber sagt, irre geführet werden. Wie ein
Irrlicht, welches den Wanderer verführet. Noch schleudert der kämpfende Büffel / den Feind zur
Wolke hinauf, / Und spießt der schnaubende
häufiger, (2) Figürlich, durch Beybringung
Sambar / den Gegner in rasendem Lauf: / Das
unrichtiger Vorstellungen zu einer bösen
Handlung bewegen, wo dieses Zeitwort freylich brauchst du uns nicht mehr zu melden, / wir
wissen's aus uralter Zeit. / Verschone das
mehr sagt und härter ist, als verleiten, S.
fremde Junge / und füge ihm zu kein Leid. /
dasselbe. Jemanden zu etwas verführen. Die
Nein, grüß es als Schwester und Bruder, / auch
Israeliten ließen sich verführen, andere Götter
anzubethen, 5 Mos. 30, 17. Sich von dem Zorne, wenn es noch wehrlos und klein, / Es könnte die
von der Sinnlichkeit verführen lassen. Ingleichen starke Bärin / des Kleinen Mutter sein. / »Ich bin
in der Dschungel der Stärkste!« / ruft prahlend
absolute, durch irrige Vorstellungen jemandes
Sitten verschlimmern. Einen jungen Menschen ein junges Blut / Nach dem ersten errungenen
Siege / in törichtem Übermut! / Doch groß ist
verführen. Er ist schon verführet worden. In
die herrliche Dschungel, / und klein ist das
weiterm Verstande bedeutet es oft, doch
prahlende Kind, / Bald wird es wachsen und
gemeiniglich nur im Scherze, jemanden durch
wissen, / wer hier die Mächtigen sind. / Bis
Vorstellungen, besonders durch sinnliche
dahin laß es schwatzen, / wie es nun immer will,
Vorstellungen, zu etwas bewegen, welches er
… / Bald fühlt es Zähne und Tatzen, / dann
vorher nicht willens war. Jemanden zu einem
17
Spatziergange verführen. Daher die Verführung, wird's von selber still.
besonders in dieser letztern Bedeutung, die
Handlung, da man andere verführet, zuweilen
auch der Zustand, da man verführet wird. Sich
vor der Verführung bewahren. Ingleichen die
Gelegenheit verführet zu werden. In volkreichen
Städten ist die Verführung immer groß. Anm.
disney-boesewichte_n_4765335.html
16 Adelung, Band 4., Sp. 1037–1039.
17 Kipling, Kapitel 3.
Rudyard Kipling
1865: 30. Dezember: Joseph Rudyard Kipling wird als Sohn des englischen Kurators John Lockwood
und dessen Frau Alice Macdonald in Bombay geboren.
1871: Die Eltern schicken Kipling in ein Heim in Southsea, um ihn in englischer Tradition erziehen zu
lassen.
1878-1882: Schulbesuch auf der Kadettenanstalt in der Grafschaft Devonshire (England).
1882: Kipling kehrt nach Indien zurück und ist dort sieben Jahre lang als Journalist tätig.
1888: Seine ersten Kurzgeschichten, wie "Schlichte Geschichten aus Indien" und "Drei Soldaten",
erscheinen und sind ein großer Erfolg. In ihnen zeichnet er mit Ironie die Schwächen und Konflikte
der englischen Bevölkerung in Britisch-Indien nach.
1889: Bei seiner Rückkehr nach England eilt ihm sein Ruf als Schriftsteller bereits voraus. Er wird
innerhalb kurzer Zeit zu einem der beliebtesten englischen Autoren.
1892: Heirat mit Caroline Balestier. Das Paar siedelt in die USA über. Beide können sich jedoch dort
nicht an das Leben gewöhnen. Sie kehren nach kurzer Zeit nach England zurück.
Ab 1892: Mit seinen volkstümlichen Erzählungen und Gedichten wie "Balladen aus dem Biwak"
(1892) und "Recessional" (1897) wird Kipling zum literarischen Sprachrohr des britischen
Imperialismus. In vielen seiner Geschichten und Balladen idealisiert er das Britische Empire. Kipling
ist überzeugt von der politischen und kulturellen Missionsaufgabe der Kolonialmächte und sieht im
Kolonialismus eine zivilisatorische Leistung.
1894: Die Tiergeschichte "Das Dschungelbuch" erscheint mit großem Erfolg. Diesem Kinderbuch
folgen in den nächsten Jahren weitere, zum Teil ebenso erfolgreiche Werke für Kinder wie "Nur so
Geschichten für Kinder" (1902) und "Puck vom Buchsberg" (1906).
1895: Kipling lehnt die Ernennung zum "Poet Laureate" ab.
1897: Der Roman "Brave Seeleute" wird veröffentlicht.
1901: Der Abenteuerroman "Kim" erscheint. In ihm erzählt Kipling die Geschichte eines in den
Slums von Lahore (Indien) aufgewachsenen Sohns einer irischen Unteroffiziersfamilie. Der Roman
zeichnet ein genaues Bild Indiens und schildert den dort herrschenden Konflikt zwischen Indern
und Briten.
1902: Kipling erwirbt ein Haus in Burwash (Sussex), in das sich die Familie zurückzieht.
1907: Kipling erhält als erster Engländer den Nobelpreis für Literatur.
ab 1907: Er unternimmt zahlreiche ausgedehnte Reisen nach Südafrika.
1936: 18. Januar: Rudyard Kipling stirbt in London.
1941: Postum wird sein unvollendeter autobiographischer Essay "Something of myself"
veröffentlicht
aus: https://www.dhm.de/lemo/biografie/rudyard-kipling
Robert Musil
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (Kapitel 2)
Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Rußland führt.
Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des
breiten Fahrdammes; neben jedem wie ein schmutziger Schatten der dunkle, von dem Abdampfe in
den Boden gebrannte Strich.
Hinter dem niederen, ölgestrichenen Stationsgebäude führte eine breite, ausgefahrene Straße zur
Bahnhofsrampe herauf. Ihre Ränder verloren sich in dem ringsum zertretenen Boden und waren nur
an zwei Reihen Akazienbäumen kenntlich, die traurig mit verdursteten, von Staub und Ruß
erdrosselten Blättern zu beiden Seiten standen.
Machten es diese traurigen Farben, machte es das bleiche, kraftlose, durch den Dunst ermüdete
Licht der Nachmittagssonne: Gegenstände und Menschen hatten etwas Gleichgültiges, Lebloses,
Mechanisches an sich, als seien sie aus der Szene eines Puppentheaters genommen. Von Zeit zu
Zeit, in gleichen Intervallen, trat der Bahnhofsvorstand aus seinem Amtszimmer heraus, sah mit
der gleichen Wendung des Kopfes die weite Strecke hinauf nach den Signalen der
Wächterhäuschen, die immer noch nicht das Nahen des Eilzuges anzeigen wollten, der an der
Grenze große Verspätung erlitten hatte; mit ein und derselben Bewegung des Armes zog er sodann
seine Taschenuhr hervor, schüttelte den Kopf und verschwand wieder; so wie die Figuren kommen
und gehen, die aus alten Turmuhren treten, wenn die Stunde voll ist.
Auf dem breiten, festgestampften Streifen zwischen Schienenstrang und Gebäude promenierte
eine heitere Gesellschaft junger Leute, links und rechts eines älteren Ehepaares schreitend, das
den Mittelpunkt der etwas lauten Unterhaltung bildete. Aber auch die Fröhlichkeit dieser Gruppe war
keine rechte; der Lärm des lustigen Lachens schien schon auf wenige Schritte zu verstummen,
gleichsam an einem zähen, unsichtbaren Widerstande zu Boden zu sinken.
Frau Hofrat Törleß, dies war die Dame von vielleicht vierzig Jahren, verbarg hinter ihrem dichten
Schleier traurige, vom Weinen ein wenig gerötete Augen. Es galt Abschied zu nehmen. Und es fiel
ihr schwer, ihr einziges Kind nun wieder auf so lange Zeit unter fremden Leuten lassen zu müssen,
ohne Möglichkeit, selbst schützend über ihren Liebling zu wachen.
Denn die kleine Stadt lag weitab von der Residenz, im Osten des Reiches, in spärlich besiedeltem,
trockenem Ackerland.
Der Grund, dessentwegen Frau Törleß es dulden mußte, ihren Jungen in so ferner, unwirtlicher
Fremde zu wissen, war, daß sich in dieser Stadt ein berühmtes Konvikt befand, welches man schon
seit dem vorigen Jahrhunderte, wo es auf dem Boden einer frommen Stiftung errichtet worden war,
da draußen beließ, wohl um die aufwachsende Jugend vor den verderblichen Einflüssen einer
Großstadt zu bewahren.
Denn hier erhielten die Söhne der besten Familien des Landes ihre Ausbildung, um nach Verlassen
des Institutes die Hochschule zu beziehen oder in den Militär- oder Staatsdienst einzutreten, und in
allen diesen Fällen sowie für den Verkehr in den Kreisen der guten Gesellschaft galt es als
besondere Empfehlung, im Konvikte zu W. aufgewachsen zu sein.
Vor vier Jahren hatte dies das Elternpaar Törleß bewogen, dem ehrgeizigen Drängen seines Knaben
nachzugeben und seine Aufnahme in das Institut zu erwirken.
Dieser Entschluß hatte später viele Tränen gekostet. Denn fast seit dem Augenblicke, da sich das
Tor des Institutes unwiderruflich hinter ihm geschlossen hatte, litt der kleine Törleß an
fürchterlichem, leidenschaftlichem Heimweh. Weder die Unterrichtsstunden, noch die Spiele auf
den großen üppigen Wiesen des Parkes, noch die anderen Zerstreuungen, die das Konvikt seinen
Zöglingen bot, vermochten ihn zu fesseln; er beteiligte sich kaum an ihnen. Er sah alles nur wie
durch einen Schleier und hatte selbst untertags häufig Mühe, ein hartnäckiges Schluchzen
hinabzuwürgen; des Abends schlief er aber stets unter Tränen ein.
Er schrieb Briefe nach Hause, beinahe täglich, und er lebte nur in diesen Briefen; alles andere, was
er tat, schien ihm nur ein schattenhaftes, bedeutungsloses Geschehen zu sein, gleichgültige
Stationen wie die Stundenziffern eines Uhrblattes. Wenn er aber schrieb, fühlte er etwas
Auszeichnendes, Exklusives in sich; wie eine Insel voll wunderbarer Sonnen und Farben hob sich
etwas in ihm aus dem Meere grauer Empfindungen heraus, das ihn Tag um Tag kalt und gleichgültig
umdrängte. Und wenn er untertags, bei den Spielen oder im Unterrichte, daran dachte, daß er
abends seinen Brief schreiben werde, so war ihm, als trüge er an unsichtbarer Kette einen goldenen
Schlüssel verborgen, mit dem er, wenn es niemand sieht, das Tor von wunderbaren Gärten öffnen
werde.
Das Merkwürdige daran war, daß diese jähe, verzehrende Hinneigung zu seinen Eltern für ihn selbst
etwas Neues und Befremdendes hatte. Er hatte sie vorher nicht geahnt, er war gern und freiwillig
ins Institut gegangen, ja er hatte gelacht, als sich seine Mutter beim ersten Abschied vor Tränen
nicht fassen konnte, und dann erst, nachdem er schon einige Tage allein gewesen war und sich
verhältnismäßig wohl befunden hatte, brach es plötzlich und elementar in ihm empor.
Er hielt es für Heimweh, für Verlangen nach seinen Eltern. In Wirklichkeit war es aber etwas viel
Unbestimmteres und Zusammengesetzteres. Denn der »Gegenstand dieser Sehnsucht«, das Bild
seiner Eltern, war darin eigentlich gar nicht mehr enthalten. Ich meine diese gewisse plastische,
nicht bloß gedächtnismäßige, sondern körperliche Erinnerung an eine geliebte Person, die zu allen
Sinnen spricht und in allen Sinnen bewahrt wird, so daß man nichts tun kann, ohne schweigend und
unsichtbar den anderen zur Seite zu fühlen. Diese verklang bald wie eine Resonanz, die nur noch
eine Weile fortgezittert hatte. Törleß konnte sich damals beispielsweise nicht mehr das Bild seiner
»lieben, lieben Eltern« – dermaßen sprach er es meist vor sich hin – vor Augen zaubern. Versuchte
er es, so kam an dessen Stelle der grenzenlose Schmerz in ihm empor, dessen Sehnsucht ihn
züchtigte und ihn doch eigenwillig festhielt, weil ihre heißen Flammen ihn zugleich schmerzten und
entzückten. Der Gedanke an seine Eltern wurde ihm hiebei mehr und mehr zu einer bloßen
Gelegenheitsursache, dieses egoistische Leiden in sich zu erzeugen, das ihn in seinen wollüstigen
Stolz einschloß wie in die Abgeschiedenheit einer Kapelle, in der von hundert flammenden Kerzen
und von hundert Augen heiliger Bilder Weihrauch zwischen die Schmerzen der sich selbst
Geißelnden gestreut wird. – – –
Als dann sein »Heimweh« weniger heftig wurde und sich allgemach verlor, zeigte sich diese seine
Art auch ziemlich deutlich. Sein Verschwinden führte nicht eine endlich erwartete Zufriedenheit
nach sich, sondern ließ in der Seele des jungen Törleß eine Leere zurück. Und an diesem Nichts, an
diesem Unausgefüllten in sich erkannte er, daß es nicht eine bloße Sehnsucht gewesen war, die
ihm abhanden kam, sondern etwas Positives, eine seelische Kraft, etwas, das sich in ihm unter dem
Vorwand des Schmerzes ausgeblüht hatte.
Nun aber war es vorbei, und diese Quelle einer ersten höheren Seligkeit hatte sich ihm erst durch ihr
Versiegen fühlbar gemacht.
Zu dieser Zeit verloren sich die leidenschaftlichen Spuren der im Erwachen gewesenen Seele
wieder aus seinen Briefen, und an ihre Stelle traten ausführliche Beschreibungen des Lebens im
Institute und der neugewonnenen Freunde.
Er selbst fühlte sich dabei verarmt und kahl, wie ein Bäumchen, das nach der noch fruchtlosen
Blüte den ersten Winter erlebt.
Seine Eltern aber waren es zufrieden. Sie liebten ihn mit einer starken, gedankenlosen, tierischen
Zärtlichkeit. Jedesmal, wenn er vom Konvikte Ferien bekommen hatte, erschien der Hofrätin
nachher ihr Haus von neuem leer und ausgestorben, und noch einige Tage nach jedem solchen
Besuche ging sie mit Tränen in den Augen durch die Zimmer, da und dort einen Gegenstand
liebkosend berührend, auf dem das Auge des Knaben geruht oder den seine Finger gehalten hatten.
Und beide hätten sie sich für ihn in Stücke reißen lassen.
Die unbeholfene Rührung und leidenschaftliche, trotzige Trauer seiner Briefe beschäftigte sie
schmerzlich und versetzte sie in einen Zustand hochgespannter Empfindsamkeit; der heitere,
zufriedene Leichtsinn, der darauf folgte, machte auch sie wieder froh, und in dem Gefühle, daß
dadurch eine Krise überwunden worden sei, unterstützten sie ihn nach Kräften.
Weder in dem einen noch in dem andern erkannten sie das Symptom einer bestimmten seelischen
Entwicklung, vielmehr hatten sie Schmerz und Beruhigung gleichermaßen als eine natürliche Folge
der gegebenen Verhältnisse hingenommen. Daß es der erste, mißglückte Versuch des jungen, auf
sich selbst gestellten Menschen gewesen war, die Kräfte des Inneren zu entfalten, entging ihnen.
Törleß fühlte sich nun sehr unzufrieden und tastete da und dort vergeblich nach etwas Neuem, das
ihm als Stütze hätte dienen können.
Eine Episode dieser Zeit war für das charakteristisch, was sich damals in Törleß zu späterer
Entwicklung vorbereitete.
Eines Tages war nämlich der junge Fürst H. ins Institut eingetreten, der aus einem der
einflußreichsten, ältesten und konservativsten Adelsgeschlechter des Reiches stammte.
Alle anderen fanden seine sanften Augen fad und affektiert; die Art und Weise, wie er im Stehen die
eine Hüfte herausdrückte und beim Sprechen langsam mit den Fingern spielte, verlachten sie als
weibisch. Besonders aber spotteten sie darüber, daß er nicht von seinen Eltern ins Konvikt gebracht
worden war, sondern von seinem bisherigen Erzieher, einem doctor theologiae und
Ordensgeistlichen.
Törleß aber hatte vom ersten Augenblicke an einen starken Eindruck empfangen. Vielleicht wirkte
dabei der Umstand mit, daß es ein hoffähiger Prinz war, jedenfalls war es aber auch eine andere Art
Mensch, die er da kennen lernte.
Das Schweigen eines alten Landedelschlosses und frommer Übungen schien irgendwie noch an
ihm zu haften. Wenn er ging, so geschah es mit weichen, geschmeidigen Bewegungen, mit diesem
etwas schüchternen Sichzusammenziehen und Schmalmachen, das der Gewohnheit eigen ist,
aufrecht durch die Flucht leerer Säle zu schreiten, wo ein anderer an unsichtbaren Ecken des leeren
Raumes schwer anzurennen scheint.
Der Umgang mit dem Prinzen wurde so zur Quelle eines feinen psychologischen Genusses für
Törleß. Er bahnte in ihm jene Art Menschenkenntnis an, die es lehrt, einen anderen nach dem Fall
der Stimme, nach der Art, wie er etwas in die Hand nimmt, ja selbst nach dem Timbre seines
Schweigens und dem Ausdruck der körperlichen Haltung, mit der er sich in einen Raum fügt, kurz
nach dieser beweglichen, kaum greifbaren und doch erst eigentlichen, vollen Art etwas SeelischMenschliches zu sein, die um den Kern, das Greif- und Besprechbare, wie um ein bloßes Skelett
herumgelagert ist, so zu erkennen und zu genießen, daß man die geistige Persönlichkeit dabei
vorwegnimmt.
Törleß lebte während dieser kurzen Zeit wie in einer Idylle. Er stieß sich nicht an der Religiosität
seines neuen Freundes, die ihm, der aus einem bürgerlich-freidenkenden Hause stammte,
eigentlich etwas ganz Fremdes war. Er nahm sie vielmehr ohne alles Bedenken hin, ja sie bildete in
seinen Augen sogar einen besonderen Vorzug des Prinzen, denn sie steigerte das Wesen dieses
Menschen, das er dem seinen völlig unähnlich, aber auch ganz unvergleichlich fühlte.
In der Gesellschaft dieses Prinzen fühlte er sich etwa wie in einer abseits des Weges liegenden
Kapelle, so daß der Gedanke, daß er eigentlich nicht dorthin gehöre, ganz gegen den Genuß
verschwand, das Tageslicht einmal durch Kirchenfenster anzusehen und das Auge so lange über
den nutzlosen, vergoldeten Zierat gleiten zu lassen, der in der Seele dieses Menschen aufgehäuft
war, bis er von dieser selbst ein undeutliches Bild empfing, so, als ob er, ohne sich Gedanken
darüber machen zu können, mit dem Finger eine schöne, aber nach seltsamen Gesetzen
verschlungene Arabeske nachzöge.
Dann kam es plötzlich zum Bruche zwischen beiden.
Wegen einer Dummheit, wie sich Törleß selbst hinterher sagen mußte.
Sie waren nämlich doch einmal ins Streiten über religiöse Dinge gekommen. Und in diesem
Augenblicke war es eigentlich schon um alles geschehen. Denn wie von Törleß unabhängig, schlug
nun der Verstand in ihm unaufhaltsam auf den zarten Prinzen los. Er überschüttete ihn mit dem
Spotte des Vernünftigen, zerstörte barbarisch das filigrane Gebäude, in dem dessen Seele
heimisch war, und sie gingen im Zorne auseinander.
Seit der Zeit hatten sie auch kein Wort wieder zueinander gesprochen. Törleß war sich wohl dunkel
bewußt, daß er etwas Sinnloses getan hatte, und eine unklare, gefühlsmäßige Einsicht sagte ihm,
daß da dieser hölzerne Zollstab des Verstandes zu ganz unrechter Zeit etwas Feines und
Genußreiches zerschlagen habe. Aber dies war etwas, das ganz außer seiner Macht lag. Eine Art
Sehnsucht nach dem Früheren war wohl für immer in ihn zurückgeblieben, aber er schien in einen
anderen Strom geraten zu sein, der ihn immer weiter davon entfernte.
Nach einiger Zeit trat dann auch der Prinz, der sich im Konvikte nicht wohl befunden hatte, wieder
aus.
Nun wurde es ganz leer und langweilig um Törleß. Aber er war einstweilen älter geworden, und die
beginnende Geschlechtsreife fing an, sich dunkel und allmählich in ihm emporzuheben. In diesem
Abschnitt seiner Entwicklung schloß er einige neue, dementsprechende Freundschaften, die für ihn
später von größter Wichtigkeit wurden. So mit Beineberg und Reiting, mit Moté und Hofmeier, eben
jenen jungen Leuten, in deren Gesellschaft er heute seine Eltern zur Bahn begleitete.
Merkwürdigerweise waren dies gerade die übelsten seines Jahrganges, zwar talentiert und
selbstverständlich auch von guter Herkunft, aber bisweilen bis zur Roheit wild und ungebärdig. Und
daß gerade ihre Gesellschaft Törleß nun fesselte, lag wohl an seiner eigenen Unselbständigkeit, die,
seitdem es ihn von dem Prinzen wieder fortgetrieben hatte, sehr arg war. Es lag sogar in der
geradlinigen Verlängerung dieses Abschwenkens, denn es bedeutete wie dieses eine Angst vor
allzu subtilen Empfindeleien, gegen die das Wesen der anderen Kameraden gesund, kernig und
lebensgerecht abstach.
Törleß überließ sich gänzlich ihrem Einflusse, denn seine geistige Situation war nun ungefähr
diese: In seinem Alter hat man am Gymnasium Goethe, Schiller, Shakespeare, vielleicht sogar
schon die Modernen gelesen. Das schreibt sich dann halbverdaut aus den Fingerspitzen wieder
heraus. Römertragödien entstehen oder sensitivste Lyrik, die im Gewande seitenlanger
Interpunktionen wie in der Zartheit durchbrochener Spitzenarbeit einherschreitet: Dinge, die an und
für sich lächerlich sind, für die Sicherheit der Entwicklung aber einen unschätzbaren Wert
bedeuten. Denn diese von außen kommenden Assoziationen und erborgten Gefühle tragen die
jungen Leute über den gefährlich weichen seelischen Boden dieser Jahre hinweg, wo man sich
selbst etwas bedeuten muß und doch noch zu unfertig ist, um wirklich etwas zu bedeuten. Ob für
später bei dem einen etwas davon zurückbleibt oder bei dem andern nichts, ist gleichgültig; dann
findet sich schon jeder mit sich ab, und die Gefahr besteht nur in dem Alter des Überganges. Wenn
man da solch einem jungen Menschen das Lächerliche seiner Person zur Einsicht bringen könnte,
so würde der Boden unter ihm einbrechen, oder er würde wie ein erwachter Nachtwandler
herabstürzen, der plötzlich nichts als Leere sieht.
Diese Illusion, dieser Trick zugunsten der Entwicklung fehlte im Institute. Denn dort waren in der
Büchersammlung wohl die Klassiker enthalten, aber diese galten als langweilig, und sonst fanden
sich nur sentimentale Novellenbände und witzlose Militärhumoresken.
Der kleine Törleß hatte sie wohl alle förmlich in einer Gier nach Büchern durchgelesen, irgendeine
banal zärtliche Vorstellung aus ein oder der anderen Novelle wirkte manchmal auch noch eine
Weile nach, allein einen Einfluß, einen wirklichen Einfluß, nahm dies auf seinen Charakter nicht.
Es schien damals, daß er überhaupt keinen Charakter habe.
Er schrieb zum Beispiel unter dem Einflusse dieser Lektüre selbst hie und da eine kleine Erzählung
oder begann ein romantisches Epos zu dichten. In der Erregung über die Liebesleiden seiner
Helden röteten sich dann seine Wangen, seine Pulse beschleunigten sich und seine Augen
glänzten.
Wie er aber die Feder aus der Hand legte, war alles vorbei; gewissermaßen nur in der Bewegung
lebte sein Geist. Daher war es ihm auch möglich, ein Gedicht oder eine Erzählung wann immer, auf
jede Aufforderung hin, niederzuschreiben. Er regte sich dabei auf, aber trotzdem nahm er es nie
ganz ernst, und die Tätigkeit erschien ihm nicht wichtig. Es ging von ihr nichts auf seine Person
über, und sie ging nicht von seiner Person aus. Er hatte nur unter irgendeinem äußeren Zwang
Empfindungen, die über das Gleichgültige hinausgingen, wie ein Schauspieler dazu des Zwanges
einer Rolle bedarf.
Es waren Reaktionen des Gehirns. Das aber, was man als Charakter oder Seele, Linie oder
Klangfarbe eines Menschen fühlt, jedenfalls dasjenige, wogegen die Gedanken, Entschlüsse und
Handlungen wenig bezeichnend, zufällig und auswechselbar erscheinen, dasjenige, was
beispielsweise Törleß an den Prinzen jenseits alles verstandlichen Beurteilens geknüpft hatte,
dieser letzte, unbewegliche Hintergrund, war zu jener Zeit in Törleß gänzlich verloren gegangen.
In seinen Kameraden war es die Freude am Sport, das Animalische, welches sie eines solchen gar
nicht bedürfen ließ, so wie am Gymnasium das Spiel mit der Literatur dafür sorgt.
Törleß war aber für das eine zu geistig angelegt und dem anderen brachte er jene scharfe
Feinfühligkeit für das Lächerliche solcher erborgter Sentiments entgegen, die das Leben im
Institute durch seine Nötigung steter Bereitschaft zu Streitigkeiten und Faustkämpfen erzeugt. So
erhielt sein Wesen etwas Unbestimmtes, eine innere Hilflosigkeit, die ihn nicht zu sich selbst finden
ließ.
Er schloß sich seinen neuen Freunden an, weil ihm ihre Wildheit imponierte. Da er ehrgeizig war,
versuchte er hie und da, es ihnen darin sogar zuvorzutun. Aber jedesmal blieb er wieder auf halbem
Wege stehen und hatte nicht wenig Spott deswegen zu erleiden. Dies verschüchterte ihn dann
wieder. Sein ganzes Leben bestand in dieser kritischen Periode eigentlich nur in diesem immer
erneuten Bemühen, seinen rauhen, männlicheren Freunden nachzueifern, und in einer tief
innerlichen Gleichgültigkeit gegen dieses Bestreben.
Besuchten ihn jetzt seine Eltern, so war er, solange sie allein waren, still und scheu. Den zärtlichen
Berührungen seiner Mutter entzog er sich jedesmal unter einem anderen Vorwande. In Wahrheit
hätte er ihnen gern nachgegeben, aber er schämte sich, als seien die Augen seiner Kameraden auf
ihn gerichtet.
Seine Eltern nahmen es als die Ungelenkigkeit der Entwicklungsjahre hin.
Nachmittags kam dann die ganze laute Schar. Man spielte Karten, aß, trank, erzählte Anekdoten
über die Lehrer und rauchte die Zigaretten, die der Hofrat aus der Residenz mitgebracht hatte.
Diese Heiterkeit erfreute und beruhigte das Ehepaar.
Daß für Törleß mitunter auch andere Stunden kamen, wußten sie nicht. Und in der letzten Zeit
immer zahlreichere. Er hatte Augenblicke, wo ihm das Leben im Institute völlig gleichgültig wurde.
Der Kitt seiner täglichen Sorgen löste sich da, und die Stunden seines Lebens fielen ohne
innerlichen Zusammenhang auseinander.
Er saß oft lange – in finsterem Nachdenken – gleichsam über sich selbst gebeugt.
Zwei Besuchstage waren es auch diesmal gewesen. Man hatte gespeist, geraucht, eine
Spazierfahrt unternommen, und nun sollte der Eilzug das Ehepaar wieder in die Residenz
zurückführen.
Ein leises Rollen in den Schienen kündigte sein Nahen an, und die Signale der Glocke am Dache des
Stationsgebäudes klangen der Hofrätin unerbittlich ins Ohr.
»Also nicht wahr, lieber Beineberg, Sie geben mir auf meinen Buben acht?« wandte sich Hofrat
Törleß an den jungen Baron Beineberg, einen langen, knochigen Burschen mit mächtig
abstehenden Ohren, aber ausdrucksvollen, gescheiten Augen.
Der kleine Törleß schnitt ob dieser Bevormundung ein mißmutiges Gesicht, und Beineberg grinste
geschmeichelt und ein wenig schadenfroh.
»Überhaupt« – wandte sich der Hofrat an die übrigen – »möchte ich Sie alle gebeten haben, falls
meinem Sohne irgend etwas sein sollte, mich gleich davon zu verständigen.«
Dies entlockte nun doch dem jungen Törleß ein unendlich gelangweiltes: »Aber Papa, was soll mir
denn passieren?!« obwohl er schon daran gewöhnt war, bei jedem Abschiede diese allzu große
Sorgsamkeit über sich ergehen lassen zu müssen.
Die anderen schlugen indessen die Hacken zusammen, wobei sie die zierlichen Degen straff an die
Seite zogen, und der Hofrat fügte noch hinzu: »Man kann nie wissen, was vorkommt, und der
Gedanke, sofort von allem verständigt zu werden, bereitet mir eine große Beruhigung; schließlich
könntest du doch auch am Schreiben behindert sein.«
Dann fuhr der Zug ein. Hofrat Törleß umarmte seinen Sohn, Frau von Törleß drückte den Schleier
fester ans Gesicht, um ihre Tränen zu verbergen, die Freunde bedankten sich der Reihe nach, dann
schloß der Schaffner die Wagentür.
Noch einmal sah das Ehepaar die hohe, kahle Rückfront des Institutsgebäudes, – die mächtige,
langgestreckte Mauer, welche den Park umschloß, dann kamen rechts und links nur mehr
graubraune Felder und vereinzelte Obstbäume.
Die jungen Leute hatten unterdessen den Bahnhof verlassen und gingen in zwei Reihen
hintereinander auf den beiden Rändern der Straße – so wenigstens dem dicksten und zähesten
Staube ausweichend – der Stadt zu, ohne viel miteinander zu reden.
Es war fünf Uhr vorbei, und über die Felder kam es ernst und kalt, wie ein Vorbote des Abends.
Törleß wurde sehr traurig.
Vielleicht war daran die Abreise seiner Eltern schuld, vielleicht war es jedoch nur die abweisende,
stumpfe Melancholie, die jetzt auf der ganzen Natur ringsumher lastete und schon auf wenige
Schritte die Formen der Gegenstände mit schweren glanzlosen Farben verwischte.
Dieselbe furchtbare Gleichgültigkeit, die schon den ganzen Nachmittag über allerorts gelegen war,
kroch nun über die Ebene heran, und hinter ihr her wie eine schleimige Fährte der Nebel, der über
den Sturzäckern und bleigrauen Rübenfeldern klebte.
Törleß sah nicht rechts noch links, aber er fühlte es. Schritt für Schritt trat er in die Spuren, die
soeben erst vom Fuße des Vordermanns in dem Staube aufklafften, – und so fühlte er es: als ob es
so sein müßte: als einen steinernen Zwang, der sein ganzes Leben in diese Bewegung – Schritt für
Schritt – auf dieser einen Linie, auf diesem einen schmalen Streifen, der sich durch den Staub zog,
einfing und zusammenpreßte.
Als sie an einer Kreuzung stehen blieben, wo ein zweiter Weg mit dem ihren in einen runden,
ausgetretenen Fleck zusammenfloß, und als dort ein morschgewordener Wegweiser schief in die
Luft hineinragte, wirkte diese, zu ihrer Umgebung in Widerspruch stehende, Linie wie ein
verzweifelter Schrei auf Törleß.
Wieder gingen sie weiter. Törleß dachte an seine Eltern, an Bekannte, an das Leben. Um diese
Stunde kleidet man sich für eine Gesellschaft an oder beschließt ins Theater zu fahren. Und
nachher geht man ins Restaurant, hört eine Kapelle, besucht das Kaffeehaus. Man macht eine
interessante Bekanntschaft. Ein galantes Abenteuer hält bis zum Morgen in Erwartung. Das Leben
rollt wie ein wunderbares Rad immer Neues, Unerwartetes aus sich heraus ...
Törleß seufzte unter diesen Gedanken, und bei jedem Schritte, der ihn der Enge des Institutes
nähertrug, schnürte sich etwas immer fester in ihm zusammen.
Jetzt schon klang ihm das Glockenzeichen in den Ohren. Nichts fürchtete er nämlich so sehr wie
dieses Glockenzeichen, das unwiderruflich das Ende des Tages bestimmte – wie ein brutaler
Messerschnitt.
Er erlebte ja nichts, und sein Leben dämmerte in steter Gleichgültigkeit dahin, aber dieses
Glockenzeichen fügte dem auch noch den Hohn hinzu und ließ ihn in ohnmächtiger Wut über sich
selbst, über sein Schicksal, über den begrabenen Tag erzittern.
Nun kannst du gar nichts mehr erleben, während zwölf Stunden kannst du nichts mehr erleben, für
zwölf Stunden bist du tot ...: das war der Sinn dieses Glockenzeichens.
Als die Gesellschaft junger Leute zwischen die ersten niedrigen, hüttenartigen Häuser kam, wich
dieses dumpfe Brüten von Törleß. Wie von einem plötzlichen Interesse erfaßt, hob er den Kopf und
blickte angestrengt in das dunstige Innere der kleinen, schmutzigen Gebäude, an denen sie
vorübergingen.
Vor den Türen der meisten standen die Weiber, in Kitteln und groben Hemden, mit breiten,
beschmutzten Füßen und nackten, braunen Armen.
Waren sie jung und drall, so flog ihnen manches derbe slawische Scherzwort zu. Sie stießen sich
an und kicherten über die »jungen Herren«; manchmal schrie eine auch auf, wenn im Vorübergehen
allzu hart ihre Brüste gestreift wurden, oder erwiderte mit einem lachenden Schimpfwort einen
Schlag auf die Schenkel. Manche sah auch bloß mit zornigem Ernste hinter den Eilenden drein; und
der Bauer lächelte verlegen, – halb unsicher, halb gutmütig, – wenn er zufällig hinzugekommen war.
Törleß beteiligte sich nicht an dieser übermütigen, frühreifen Männlichkeit seiner Freunde.
Der Grund hiezu lag wohl teilweise in einer gewissen Schüchternheit in geschlechtlichen Sachen,
wie sie fast allen einzigen Kindern eigentümlich ist, zum größeren Teile jedoch in der ihm
besonderen Art der sinnlichen Veranlagung, welche verborgener, mächtiger und dunkler gefärbt war
als die seiner Freunde und sich schwerer äußerte.
Während die anderen mit den Weibern schamlos – taten, beinahe mehr um »fesch« zu sein, als aus
Begierde, war die Seele des schweigsamen, kleinen Törleß aufgewühlt und von wirklicher
Schamlosigkeit gepeitscht.
Er blickte mit so brennenden Augen durch die kleinen Fenster und winkligen, schmalen Torwege in
das Innere der Häuser, daß es ihm beständig wie ein feines Netz vor den Augen tanzte.
Fast nackte Kinder wälzten sich in dem Kot der Höfe, da und dort gab der Rock eines arbeitenden
Weibes die Kniekehlen frei oder drückte sich eine schwere Brust straff in die Falten der Leinwand.
Und als ob all dies sogar unter einer ganz anderen, tierischen, drückenden Atmosphäre sich
abspielte, floß aus dem Flur der Häuser eine träge, schwere Luft, die Törleß begierig einatmete.
Er dachte an alte Malereien, die er in Museen gesehen hatte, ohne sie recht zu verstehen. Er wartete
auf irgend etwas, so wie er vor diesen Bildern immer auf etwas gewartet hatte, das sich nie
ereignete. Worauf ...? ... Auf etwas Überraschendes, noch nie Gesehenes; auf einen
ungeheuerlichen Anblick, von dem er sich nicht die geringste Vorstellung machen konnte; auf
irgend etwas von fürchterlicher, tierischer Sinnlichkeit; das ihn wie mit Krallen packe und von den
Augen aus zerreiße; auf ein Erlebnis, das in irgendeiner noch ganz unklaren Weise mit den
schmutzigen Kitteln der Weiber, mit ihren rauhen Händen, mit der Niedrigkeit ihrer Stuben, mit ...
mit einer Beschmutzung an dem Kot der Höfe ... zusammenhängen müsse ... Nein, nein; ... er fühlte
jetzt nur mehr das feurige Netz vor den Augen; die Worte sagten es nicht; so arg, wie es die Worte
machen, ist es gar nicht; es ist etwas ganz Stummes, – ein Würgen in der Kehle, ein kaum
merkbarer Gedanke, und nur dann, wenn man es durchaus mit Worten sagen wollte, käme es so
heraus; aber dann ist es auch nur mehr entfernt ähnlich, wie in einer riesigen Vergrößerung, wo
man nicht nur alles deutlicher sieht, sondern auch Dinge, die gar nicht da sind ... Dennoch war es
zum Schämen.
Menagerien
von Stephan Nagel
Titelbild des Kinderbuches “Grosse Menagerie”,
Schreiber-Verlag Esslingen, Ende 19.Jh.
Hereinspaziert in die Menagerie,
Ihr stolzen Herrn, ihr lebenslust’gen Frauen,
Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen
Die unbeseelte Kreatur zu schauen,
Gebändigt durch das menschliche Genie.
Hereinspaziert, die Vorstellung beginnt! –
Auf zwei Personen kommt umsonst ein Kind.
...Frank Wedekind, Beginn des Prologs zum „Erdgeist“, 1895
Zur Bude näher gelangt, durften sie die bunten, kolossalen Gemälde nicht übersehen, die mit
heftigen Farben und kräftigen Bildern jene fremden Tiere darstellten, welche der friedliche
Staatsbürger zu schauen unüberwindliche Lust empfinden sollte. Der grimmig ungeheure Tiger
sprang auf den Mohren los, im Begriff, ihn zu zerreißen, ein Löwe stand ernsthaft und
majestätisch, als wenn er keine Beute seiner würdig vor sich sähe, andere wunderliche, bunte
Geschöpfe verdienten neben diesen weniger Aufmerksamkeit. (...) ‘Es ist wunderbar’, versetzte der
Fürst, ‘daß der Mensch durch Schreckliches immer aufgeregt sein will. Drinnen liegt der Tiger ganz
ruhig in seinem Kerker, und hier muß er grimmig auf einen Mohren losfahren, damit man glaube,
dergleichen inwendig ebenfalls zu sehen; es ist an Mord und Totschlag noch nicht genug, an Brand
und Untergang; die Bänkelsänger müssen es an jeder Ecke wiederholen. Die guten Menschen
wollen eingeschüchtert sein, um hinterdrein erst recht zu fühlen, wie schön und löblich es sei, frei
Atem zu holen. (Goethe: Novelle. Ausgabe Frankfurt/ M. 1989, S.21f) Reisende Tierschaustellungen
beinhalteten bis ins 18. Jahrhundert hinein vorwiegend einzelne oder wenige Tiere (vgl. Haarhaus
1906, S.346ff). Aus Magdeburg sah man bereits im vorigen Monath October nachbenahmte
Tierbude und
Panorama,
Holzstich 1844
(Ausschnitt),
Sammlung
Nagel
sehenswürdige frembde Thiere anhero gebracht, und in einer aufm Neumarkt aufgebauten Bude
umbs Geld sehen lassen: 1.) einen grossen See-Löwen, der seine Stimme mit grosser
Verwunderung erhebet; 2.) einen grossen Beßmann oder Pavian, der ungemein schöne Farben in
seinem Angesichte hat, auch am Hinterleibe mit curieusen Circuln und allerhand merckwürdigen
Farben geziertet, er verursachet durch Complimentmachen u. Liebkosen jedermann vieles Plaisir;
3.) ein kleiner sehr lustiger Affe, der mit einen jungen Beßmänngen viel lächerliche Possen machet;
4.) eine Kuh mit 6. Beinen, davon 2. Auf den Rücken stehen.” (Kurzgefaßter Kern Dreßdenischer
Merckwürdigkeiten von Jahr 1741 in Sagemüller 1993ff, S.118) Gegen Ende des 18. Jahrhunderts
entstanden zunehmend Menagerien mit einem vielfältigen Tierbestand, ganz so, wie sie uns Karl
von Holtei in seinem Roman „Die Vagabunden“ von 1852 sehr authentisch vor Augen führt. Eine
typische Jahrmarktsmenagerie aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wird im nachfolgenden
zeitgenössischen Text aufschlussreich beschrieben: "Wer ein Liebhaber abgerichteter Thiere ist,
stellt sich auch gern in den Menagerien ein, welche in letzter Zeit sich in dem pompösen Titel
“Zoologisches Etablissement” gefallen. Die Exercitien der Thierbändiger aber sind überall
dieselben und waren es auch wohl von jeher. Auf einem Podium läßt sich ein lärmendes Orchester,
ein Klirren, wie von zerschmettertem Geschirr hören; dumpfe Paukenschläge locken herbei. Ein
Neger in himmelblauer Kleidung, einen numidischen Krieger vorstellend, führt einen Bären am
Strick und läßt ihn auf den Brettern tanzen, gerade vor der blonden Cassiererin mit dem funkelnden
Diadem im Haar; sie lächelt, allein ihre Zähne sind nicht so weiß wie die des Schwarzen. Ueber ihr,
hinter dem Gasrohr, hängt das Bildnis eines Löwen mit schrecklich wüster Mähne und einem gen
Himmel gerichteten Blick. Nicht weit davon der Löwenbändiger, aus Wunden blutend, die er auf der
Brust zeigt, wie ein
General seine Orden –
daneben noch einmal der
Löwenbändiger in der
Apotheose: auf einer
Pyramide von
verschiedenartigen
Bestien thront er, ein
cäsarischer Sieger. Ein
`Redner´ in einem
buntcarrirten Costüm tritt
hervor, winkt die Musik ab,
lüftet den Hut alle
Augenblicke und setzt ihn
wieder auf; indem er ihm
mit der einen Hand einen
Holzstich nach einem Gemälde von P. Meyerheim (1864), Sammlung Nagel
kleinen Ruck giebt, zeigt er mit der anderen auf ein Placat, welches die Preise der Plätze kund giebt,
dann öffnet sich das Gehege seiner Zähne, und er giebt die feierliche Versicherung, daß das
Publicum zufrieden, die Auslage ihm nicht leid sein würde – er bekräftigt seine Versicherung durch
sein Ehrenwort. Das Publicum hat sich inzwischen angesammelt, man staunt, man horcht: Einige
treten an den Zahltisch - damit ist der Anfang gemacht, der Nachahmungstrieb macht sich
geltend, Andere folgen. Die Baracke ist fast voll. Draußen sitzt noch immer die Cassirerin, im
blonden Haar das messingene `Regardez moi´. - `Seh mir mal an´, auf Berlinisch – sie kost mit
dem Neger, der, die Hand in die Hüfte gestützt, sein krauses Haupt zu ihr neigt und bedeutsam
Detail eines Holzstichs von 1887, Sammlung Nagel
lächelt. Der Redner aber ist jetzt in voller Arbeit, er
erzählt, die Hände in den Hosentaschen, von den
Thaten des Negers und anderen unglaublichen
Dingen, indem er bei den noch Zögernden durch
seine feurige Beredtsamkeit den Entschluß zur
Reife bringt, ihren Obolus zu spenden und näher zu
treten. In der Baracke mit dem Zeltdach ist ein
fürchterlicher Geruch nach wilden Thieren: Ellbogen
an Ellbogen steht die Menge und starrt in die dicht
vergitterten Käfige. Die Bären wackeln mit ihren
Köpfen hin und her, als wären es Körbe mit Salat,
den sie ausschwenken, erheben sich wohl auch auf
den Hinterbeinen, lassen sich aber schnell wieder
herab und brummen verächtlich: Niemand wirft
ihnen etwas in die rosigen Schnauzen! Die Hyänen
laufen hin und her, als schämten sie sich ihrer
Einsperrung; die Panther gähnen und zeigen die
schimmernden Zähne, als wäre es ein Halsschmuck
aus Elfenbein; die Tiger, in schön gestreiftem, rothbraunem Burnus blinzeln mit den Augen; die
Löwen, in würdevollem Schritt, gehen auf und ab, dann strecken sie sich wieder hin als versagten
die Muskeln alle auf einmal den Dienst, der Kopf fällt auf die Vorderpranken: der König der Wüste
ist übel gelaunt, das Publikum lacht; sein stöhnender Athem bläßt den gemeinen Staub, der ihm
vor der Nase liegt, fort. (...) Ein Elephant schwingt seinen Rüssel über den Köpfen der Zuschauer
und verlangt Spenden - oder ertheilt die asiatische Gottheit am Ende gar ihren Segen? Die Aras
erheben ein Ohren zerreißendes Geschrei, und gucken den kleinen Anachoreten, den Affen, in die
engen Klausen. Die Urahnen des Menschen aber knabbern in ihrer Verlegenheit an längst benagten
Nußschalen immer und immer wieder. Mitten in der Reihe der aufgefahrenen Wagen steht einer mit
dem `Vorstellungs-´ oder `Theaterkäfig´; dieser ist innen weiß angestrichen, der Boden ist
bestreut mit einem Gemisch von Sägespähnen und Harz; ein großer, jetzt noch leerer Raum. Die
Musikanten haben das äußere Podium verlassen, ihre Tribüne im Innern bestiegen und intoniren
eine Teufels-Symphony, während die Gaslampen angezündet werden. Drei Hammerschläge, und
die Thür in der Rückwand des Theaterkäfigs thut sich auf, ein junger Mann in polnischen Stiefeln
und einem Dolman, mit Haaren,
Vorführung eines zahmen Löwen 1760 Radierung in Haarhaus 1906, S.351
die lang sind, und einem
Schnurbart, der kurz ist und
wohl erst eben zu sprießen
beginnt, mit einem Blick, der
sanft ist wie der eines Pagen,
der eine Mandoline unter dem
Arm hat, tritt ein und begrüßt
mit seiner Reitgerte und einem
Neigen des Hauptes die
Anwesenden. Jetzt werden die
Thüren der anstoßenden Käfige,
deren Bewohner bereits eine gewisse Unruhe verriethen, nach einander aufgezogen; in dem sich
stark bemerkbar machenden Alkali-Geruch, dem sich noch der von allerhand thierischen
Naturstoffen mischt, füllt sich der Raum mit an den Wänden hinjagenden, springenden und von der
unbarmherzigen Peitsche des jungen Mannes geleiteten Thieren. Die Zuschauer recken die Hälse,
die Augen flimmern. Es scheint, als jagten die Thiere nur herum, um einen Ausgang zu suchen,
durch den sie entwischen könnten. Die Löwen, geschmeidig und schwerfällig, springen über das
bestiefelte Bein, welches der Bändiger wider das Gitter stemmt. Die Löwinnen kratzen mit den
Pranken und schnellen empor wie Bälle, ohne daß es irgend einer Anstrengung bedürfte; die Tiger
dehnen die Glieder im Sprunge, einem Moment der Freiheit, Hyänen und Bären jagen wie Tölpel in
wider Furcht dahin, als ob eine heilige Hermandad hinter ihnen wäre, um sie zu arretiren, die
Panther schnauben und sehen sich um nach jedem Sprunge. Einige Uebungen, bei denen die
Ueberredung eine Rolle zu spielen scheint, gewähren dem Bändiger Zeit, sich von dem ersten
wilden Gehetz zu erholen. Eine Löwin hat sich auf den Boden hingestreckt, über sie streckt sich der
Bändiger hin; vertrauensvoll, die Hände auf dem Rücken, steckt er der Bestie sein Haupt in den
offnen Rachen. Jetzt drängt er sie zum Gitter, er kreuzt die Arme über der Brust; auf ein gegebenes
Zeichen springt sie auf ihn ein; die Hinterbeine auf seinen Knien, ist ihr Kopf dicht an dem seinigen.
In diesem Augenblick leuchtet am Plafond des Käfigs ein Feuerwerkskörper auf, und unter den
sprühenden Funken desselben jagt, vor Furcht außer sich, die Löwin durch zwei mit Papier
verklebten Reifen und schlüpft hurtig in den willkommenen Kerker, ihren Käfig, zurück, - wendet
sich aber sogleich um und stürzt wüthend auf die inzwischen herabgelassene Thürklappe. Der
Bändiger ist für sie nicht zu haben; er giebt seinem Haupt einen Ruck in die Höhe, daß das lange
Haar auf die Schultern fällt, und verneigt sich vor der Beifall klatschenden Menge. (Hachet-Souplet
1898, S.12ff)
Um die Tierschauen attraktiver zu machen, wurden dem Publikum
über die reine Schaustellung der Tiere hinaus öffentliche
Fütterungen, pseudo-wissenschaftliche
Erläuterungen und Dressuren in der hier beschriebenen Art
geboten. Die “Dressierbarkeit” bzw. die Empfänglichkeit für
Erziehungsmaßnahmen wurde dabei als Zeichen für die
Intelligenz der Tiere gedeutet. Als besonders “klug” galten
Elefanten und Affen, denen entsprechend Kunststücke
beigebracht wurden, die menschliche Tätigkeiten imitierten. Auch
Raubtierdressuren sollten bis in die 1830er Jahre das
“Menschliche” im Tier herausstellen, das sich in einer
Überwindung der Wildheit, d.h. der Lernfähigkeit und Zahmheit
der Tiere zeigte. Zumindest bis in das frühe 19. Jahrhundert
Souvenirkarte 1903, Sammlung Nagel hinein stimmt die Vorstellung von brutalen Dressurmethoden in
den Wandermenagerien nicht. Vielmehr stand die Zahmheit der Tiere im Vordergrund. Der vertraute,
friedliche Umgang des mit überlegenen Kräften versehenen Menschen mit sanftmütigen Tieren,
denen eigentlich Wildheit und Blutrünstigkeit nachgesagt wurde, sollte Verwunderung erwecken.
(vgl. Riecke-Müller 1999, S.100ff) Goethes „Novelle“ um den Ausbruch zweier Raubtiere aus einer
kleinen Jahrmarktsmenagerie ist ein eindrucksvolles literarisches Zeugnis solcher Auffassungen.
Chamissos berühmtes Gedicht „Die Löwenbraut“ aus dem Jahr 1827 spiegelt – trotz seines
tragischen Ausgangs – ebenfalls sehr genau diesen Zeitgeist wieder:
Mit der Myrte geschmückt und dem Brautgeschmeid,
Des Wärters Tochter, die rosige Maid,
Tritt ein in den Zwinger des Löwen;
Er liegt der Herrin zu Füßen, vor der er sich schmiegt.
Der Gewaltige, wild und unbändig zuvor,
Schaut fromm und verständig zur Herrin empor;
Die Jungfrau, zart und wonnereich,
Liebestreichelt ihn sanft und weinet zugleich:
"Wir waren in Tagen, die nicht mehr sind,
Gar treue Gespielen wie Kind und Kind,
Und hatten uns lieb und hatten uns gern;
Die Tage der Kindheit, sie liegen uns fern.
Du schüttest machtvoll, eh wir's geglaubt,
Dein mähnenumwogtes königlich Haupt;
Ich wuchs heran, du siehst es: ich bin, Ich bin das Kind nicht mehr mit kindischem Sinn.
O wär ich das Kind noch und bliebe bei dir,
Mein starkes getreues, mein redliches Tier!
Ich aber muß folgen, sie taten mir's an,
Hinaus in die Fremde dem fremden Mann.
Es fiel ihm ein, daß schön ich sei,
Ich wurde gefreit, es ist nun vorbei:
Der Kranz im Haar, mein guter Gesell,
Und vor Tränen nicht die Blicke mehr hell.
Verstehst du mich ganz? Schaust grimmig dazu,
Ich bin ja gefaßt, sei ruhig auch du;
Dort seh ich ihn kommen, dem folgen ich muß,
So geb ich denn, Freund, dir den letzten Kuß!"
Und wie ihn die Lippe des Mädchens berührt,
Da hat man den Zwinger erzittern gespürt,
Und wie er am Zwinger den Jüngling erschaut,
Erfaßt Entsetzen die bagenden Braut.
Er stellt an die Tür sich des Zwingers zur Wacht,
Er schwinget den Schweif, er brüllet mit Macht,
Sie flehend, gebietend und drohend begehrt
Hinaus; er im Zorn den Ausgang wehrt.
Und draußen erhebt sich verworren Geschrei.
Der Jüngling ruft: bring Waffen herbei,
Ich schieß ihn nieder, ich treff ihn gut.
Aufbrüllt der Gereizte schäumend vor Wut.
Die Unselige wagt's sich der Türe zu nahn,
Da fällt er verwandelt die Herrin an:
Die schöne Gestalt, ein gräßlicher Raub,
Liegt blutig zerrissen entstellt in dem Staub.
Und wie er vergossen das teure Blut,
Er legt sich zur Leiche mit finsterem Mut,
Er liegt so versunken in Trauer und Schmerz,
Bis tödlich die Kugel ihn trifft in das Herz.
.
„Die Löwenbraut“
Veltees Stadtpanoptikum um 1890
Einer der herausragenden Dompteure dieser Zeit war Henri Martin, der damit warb, seine Tiere
“ohne zu schlagen oder sonstige Gewalt” zu zähmen. Seine folgende Aussage ähnelt dabei
durchaus den Auffassungen moderner „Tierlehrer“: Ich bemühe mich, den Charakter jedes
einzelnen Tieres zu enträtseln, seinen Neigungen entgegenzukommen. Ich lasse die älteren in
Ruhe, ich spiele mit den spielerisch veranlagten. Ich werde ihr Freund, weil sie Angst haben, ich
könnte ihr Feind sein. Um die Ergebnisse zu haben, die sie in Erstaunen versetzen, bedarf es
lediglich des Mutes, der Kraft und eines guten Beurteilungsvermögens.” (zit. n. Riecke-Müller 1999,
S.111) Diese Einstellungen zum Tier und damit zur Dressur änderte sich während der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts – auch wenn zunächst weiterhin von “Zahmheits-Produktionen” die Rede war.
Dem weniger empfindsamen Zeitgeist entsprechend, der den (zivilisierten) Menschen als Herrscher
über alle Naturgewalten sah, gaben sich die Dompteure Mitte das Jahrhunderts oftmals als
Bezwinger blutgieriger Tiere. So ließ zum Beispiel Gottlieb Kreutzberg angesichts der Erfolge der
wilden Dressur des Dompteurs Batty im Circus Renz eine junge Dompteuse in den 1870er Jahren
eine ebensolche Darbietung zeigen, obwohl sie eigentlich unter Kreutzbergs Niveau lag. (vgl.
Gartenlaube Nr. 20. 1873, S.322) In einem älteren Führer seiner Menagerie warb er noch mit
humanen Dressurmethoden: Obgleich die Vorstellungen außerordentlich erscheinen, so haben sie
doch nichts Erschreckendes, da Herr Kreutzberg die Zähmung seiner Thiere nicht durch Brutalität,
sondern nur durch die sanfteste Behandlung und größte Sorgfalt erreicht hat. (Kreutzberg’s große
Menagerie, S.24)
Kreutzbergs Menagerie auf der Leipziger Messe Holzstich Sammlung Nagel
Neben diesen wandernden
Theatern stehen die
Menagerien am höchsten
in der Gunst des Volkes,
jene `Wilde-Tier-Buden´, in
denen eine Musikkapelle
in der Montur der
Rindfleischesser
(königliche Leibwache) und
mit hohen Mützen aus
Leopardenfell unaufhörlich
spielt. Draußen hängen
große, mit starken Farben
prächtig kolorierte Bilder
von Tigern, die gerade Menschenköpfe verspeisen oder von einem Löwen, den man gerade mit
glühenden Eisen brennt, um zu erreichen, daß er seine Beute fahren läßt. Vor diesen Buden steht
meist ein sehr großer heiserer Mann in einem Scharlachrock und mit einem Rohr in der Hand, mit
dessen Hilfe er von Zeit zu Zeit an die Bilder schlägt, um sie zu erläutern: `Hierher! Hierher! Hierher
müssen sie schauen! Das ist das Bild des Löwen, ganz akkurat das Bild des Löwen drinnen. Dieses
schreckliche Tier hat vor einem Jahr auf dem Camberwellmarkt dem Herrn den Kopf abgebissen.
Seit er ausgewachsen ist, hat er durchschnittlich jedes Jahr drei Wärter aufgefressen. Aber dafür
müssen Sie nicht extra zahlen. Wir stellen keine unbilligen Forderungen. Alle zahlen nur sechs
Pence für den Einlaß!' (Charles Dickens 1836, in Narciß 1967, S.45f) Besondere Publikumsmagnete
waren junge weibliche “Beherrscherrinnen der wilden Bestien”, weshalb Frauen und Töchter von
Menageriebesitzern häufig die Tiere vorführten. (vgl. Grubitzsch 1993, S.216) Solche „starken
Frauen“ standen in vielerlei Hinsicht im Gegensatz zum sittsamen Frauenideal des 19.
Jahrhunderts und inspirierten daher zahlreiche Schriftsteller – auch solche von zweifelhaftem Ruf:
(…) Des Bändigers Tochter von hoher Figur,
Von lieblich rundem und rosigem Gesicht,
Von glänzend hellbraunem Augenlicht,
Das schwarze Köpfchen in Mannesfrisur,
Betritt grüßend den Kreis, im Miederchen nett
Um schneeige Schultern, und lächelt kokett.
Johanna, gewappnet mit bannendem Blick,
Sie schwingt sich hinauf auf den Leu,
Mit sanftem Mut und mit seltner Treu
Erträgt sie das königliche Genick,
Stolz kreuzt sie die Arme und lächelt dabei,
Und die Menge lohnt ihr mit Bravogeschrei.
Die Jungfrau steigt ab, und mit Heldenmut
Fährt in des Panthers Rachen ihr Arm,
Drin braust’s gewaltig wie Bienenschwarm,
Und wilder tobt es in Heißhungers Glut.
Sie reicht ihm das Becken mit Blut gefüllt,
Und gierig, doch langsam den Durst es nun stillt.
Inzwischen sieht man die Königin der Wut
Gefräßig schnaubend spähen ringsum,
Das Mädchen bieget den Nacken krumm,
Und hinten hinauf steigt die wilde Brut.
Den Mörder am Halse, sie lächelt dabei,
Und die Menge lohnt ihr mit Bravogeschrei. (…)
(Kempner, S.161f)
Menagerie Malferteiner 1902, Sammlung Nagel
Dompteurin in Kreutzbergs
Menagerie, Ausschnitt eines Stichs
nach einer Zeichnung von H.
Leutemann, Sammlung Nagel
Die Abbildung zeigt die oben
erwähnte „viele Jahre hindurch
sechszehnjährige Schwedin“, die
bei Kreutzberg im Gegensatz zum
Vorführstil des Prinzipals
„Vorstellungen mit großem
Geschrei, Peitschenhieben und
Löwengebrüll“ gab. (vgl.
Gartenlaube 1873, S. 322)
(...) Im höchsten Grade interessant und bewundernswerth sind die Exercitien, welche Fräulein Rossi
mit den verschiedenen reißenden Tieren ausführt. Sie zeigt sich als vollkommene Beherrscherin
derselben, ihr zu Füßen schmiegt sich der Löwe, wie der Tiger, der Eisbär wie die tückische Hyäne.
Wenn sie den Eisbären mit Füßen tritt oder als Ruhekissen gebraucht, wenn sie der hungrigen
Hyäne ihre blutige Atzung entreißt und ein Blick, ein Zuruf von ihr hinreicht, die brüllende Bestie
zum Schweigen, zur Unterwerfung zu bringen, so weiß der Zuschauer wahrlich nicht, was er mehr
bewundern soll, den Muth des Fräulein Rossi oder die Macht des menschlichen Geistes, der alle
Reiche der Natur unter seine Herrschaft bringt, der selbst die Thiere der Wüste dazu zwingt, ihre
blutrünstige Natur seinem Willen zu unterwerfen. In solchen Fällen zeigt sich der Mensch wahrlich
als Herr der Schöpfung.” (Zeitungsbericht von 1852, zit. in Stadtmuseum Münster 1986, S.185)
Die männlichen Berufskollegen durften hier nicht nachstehen. Ihr martialisches Auftreten bediente
und nährte Vorstellungen vom verwegenen Raubtierdompteur, die zum Teil bis heute fortwirken:
Seit Dienstag befindet sich Herr Robert Daggesell mit seiner großen Menagerie, die zu den
bedeutendsten der Jetztzeit gehört, in unserer Stadt, um nicht nur seine schönen, wohlgepflegten
Thiere, deren Seltenheit und Schönheit selbst von den competentsten Seiten anerkannt ist, zu
zeigen, sondern um auch in der Dressur der Raubthiere, welche von seinem kühnen Thierbändiger
in der vorzüglichsten Weise ausgeübt wird, Zeugniß zu geben. (…) Der Thierbändiger tritt in den
großen Centralkäfig, der eigens zu dem Zweck der Dressur gebaut ist und in dem sich den Tag über
8 Löwen herumtummeln. Er öffnet eine Pforte und herein treten mehrere, 2 bis 4 gestreifte Hyänen.
In dem Nachbarkäfig werden mehrere Zwischenwände entfernt und die Gesellschaft vermehrt sich
um 2 Wölfe und einen Bären. Die ansonsten an ein einsames Leben gewöhnten Thiere sind
offenbar durch das Beisammensein nicht erfreut. Die Hyänen heulen, die Wölfe bellen, dort erhält
ein Thier einen Biß, hier wird gekratzt, gekämpft und gerungen. Doch dies hindert den kühnen
Mann, der nur mit einer Reitpeitsche bewaffnet, ruhig und sicher unter der furchtbaren Meute
einherwandelt, nicht im Geringsten. Er hat noch nicht genug Leben um sich herum. Er schreitet zu
der linken Thür, um die im nächsten Käfig befindlichen Löwen hereinzulassen. Der Thierbändiger
ist genöthigt von
Raubtierdressur in der Menagerie Daggesell, Holzstich 1876, Sammlung Nagel
seiner Reitpeitsche
Gebrauch zu
machen, um sie mit
einigen leichten
Jagdhieben
herauszubringen.
Der eine Löwe ist
nicht gutwillig,
sondern legt sich
vor die Thür, um
seinem Meister den
Weg streitig zu
machen. Uns
steigen die Haare
zu Berge. Drinnen
die wüthende Menge und hier der
einzelne Mann, abgesperrt und von
einem Löwen bewacht. Der
Thierbändiger macht kurzes
Federlesen, er nimmt das
widerspenstige Thier am Kragen und
schafft es herein in den Zentralkäfig.
Man ruft die einzelnen Thiere bei
Namen, streichelt und liebkost sie,
läßt sie von einem Stück Zucker
beißen, gibt ihnen Fleisch, das er
ihnen wieder entreißt und anstatt
dessen er ihnen seinen Arm in das
Maul legt. Nun läßt er ein Schaf in den
Käfig, über das die Wölfe springen, und
dirigirt nach und nach die ganze
Gesellschaft wieder in ihre alten
Quartiere. Eine Zeitlang ist Ruhe. Der
Thierbändiger öffnet von Neuem die
Thür und herein stürmen 8 Löwen,
übereinander hinwegsetzend und sich
drängend. Der Thierbändiger ergreift
den größten und lehnt ihn mit den
Holzstich 1881, Sammlung Nagel
Vordertatzen an das Eisengitter, um dem Publikum die Bauchseite zu zeigen. Dann wirft er ihn
nieder, läßt die anderen Löwen darüber hinwegsetzen, dann über eine Latte, durch einen Reifen
und endlich über sich selbst springen. – Es wäre Schade, wenn die gewiß so bald nicht
wiederkehrende Gelegenheit, eine Menagerie allerersten Ranges kennen zu lernen, nicht allseitig,
vornehmlich auch zum Besten der Jugend, benützt würde. Da Herr Daggesell nur bis Montag bleibt,
sei der rechtzeitige Besuch angelegentlich empfohlen. (Nördlinger Anzeigenblatt vom 20.8.1875 in
Sagemüller 1989, S.59f) Die Zahl der Unglücksfälle war bei diesen Methoden natürlich hoch – was
den Reiz des Menageriebesuchs für das sensationslüsterne Publikum noch erhöhte. (...) Ehe aber
Frau Castanel entkommen konnte, hatte der wildgewordene Löwe sich ihr genähert und mit einem
einzigen Tatzenschlage streckte er die Thierbändigerin zu Boden. Der Schlag hatte die rechte Hüfte
getroffen. Die Kleider waren zerrissen und das Fleisch hing in Fetzen von dem bloßgelegten
Knochen herab. Mit unglaublicher Anstrengung erhob sich Frau Castanel noch einmal und
peitschte den Löwen, daß er zurückwich. Der Thierbändigerin gelang es dann, aus dem Käfige zu
entkommen. Ohnmächtig sank sie neben demselben nieder. Ihre Wunden sind sehr schwere und ihr
Zustand flößt Besorgnis ein. (Rieser Volksblatt, 31.1.1890 in Sagemüller 1993ff, S.5)
Zeitungsberichte aus dem 19. Jahrhundert belegen zudem, dass der Besuch einer Menagerie
aufgrund mangelnder Sicherheitsvorkehrungen mitunter auch für das Publikum nicht ungefährlich
war. Die zum Teil grauenvollen Unfälle wurden in erster Linie durch leichtsinnige Besucher
verursacht, die den Käfigen zu nahe kamen. Viele Menagerien versuchten dem durch solche
Unglücksfälle, das wenig
ansprechende Erscheinungsbild
einiger Tierbuden und das effekthaschende Gebaren vieler
Tierbändiger verursachten
schlechten Ruf der
Wandermenagerien zu
begegnen. Ein Beispiel war der
Dompteur „Charles“: (...) Es ist in
der That ein schönes Bild, wenn
er z.B. auf der Löwin liegt, den
Kopf zwischen ihren Pranken,
während als Schemel seiner
Füße das langmähnige Haupt
des gehorsamen Löwen dient. Le
Petit Journal, Paris 25. Avril 1891
Oder wenn er mit der Hyäne zu
Tische sitzt und sie ihm das Stückchen Zucker vom Munde nascht: – man empfindet keinen Anflug
von Besorgnis, die ruhige, sichere Art, mit der Herr Charles die Thiere behandelt, der mächtige,
feste, in seinen Wirkungen große Blick des Mannes, läßt die magische Gewalt menschlichen
Willens über das unvernünftige Geschöpf ahnen und auch in Zuschauer zum Bewußtsein kommen.
Wir werden öfter diese Menagerie besuchen, und empfehlen dringend des Eltern ihre Kinder
hinzusenden; für das Studium der Naturgeschichte ist der Besuch einer Menagerie ein
unersetzliches Hülfsmittel. Wir geben vorläufig den geehrten Eltern Notiz, daß durch sehr
zweckmäßige Einrichtung der Schranken jede Besorgniß vor Gefahr gänzlich beseitigt ist. Die
ganze Einrichtung hat überhaupt etwas einfach Nobles; von einem Aufreizen der Thiere zu Gebrüll
und derartigen Possen ist hier nicht die Rede. Herr Charles verschmäht solche Künste. (Der
Bürgerfreund, Bremen, 23.10.1845 in Sagemüller 1993ff, S.59) Auch der Menageriebesitzer und
Tierbändiger Theodor Opitz betont im Jahr 1870 genau wie Kreutzberg zuvor, dass seine
außerordentlichen Vorstellungen nichts Abschreckendes haben, “da die Zähmungen nicht durch
Brutalität und Hunger, sondern durch sanfte Behandlung und Geduld erreicht werden ”.
(Nachrichten für Stadt und Land Oldenburg 29.6.1870 in Sagemüller 1993ff, S.10) Gegen Ende des
19. Jahrhunderts scheint dieser neuerliche Wandel in der Einstellung zum Raubtier recht weit
fortgeschritten gewesen zu sein, worauf eine Besprechung der Dressur des Löwenpaares ‘Faust’
und ‘Grete” durch Frl. Ella Falk deutet: In staunenswerter Weise, als wären es dressierte Hunde,
versteht diese Dame, in wohlverschlossenem Käfig mit den ‘gräulichen Katzen’ umzugehen.
Schließlich benehmen sich die Tierchen so zärtlich, daß sie ihre Herrin sogar küssen und sie mit
Grazie umarmen, ja sich bereitwilligst als Sopha benutzen lassen. Wie ein Löwenkuß schmeckt,
weiß vielleicht sonst niemand in Nördlingen; wer sich aber überzeugen will, wie liebenswürdig in
Wahrheit der König der Tiere ist, im Gegensatz zu den schlimmen Dingen, die ihm von sogenannten
Naturforschern und auch von manchen Dichtern, welche nie einen Löwen sahen, nachgesagt
werden, versäume nicht, die Falk’sche Menagerie zu besuchen.
(Nördlinger Anzeigenblatt 8.12.1893 in Sagemüller 1989, S.87)
Farblithographie 1896 nach
einem Gemälde von G.
Wertheimer, Sammlung
Nagel
Die Dompteurin Nouma Hawa mit zwei
Löwen ihrer Menagerie. 1886, Sammlung
Nagel
Souvenirkarte 1907, Sammlung Nagel
Die Haltungsbedingungen in den reisenden Menagerien waren an heutigen Maßstäben
gemessen denkbar schlecht.
Fehlende Kenntnisse über eine
ausgewogene Ernährung,
enge Käfige,
Infektionskrankheiten, Zugluft
und Kälte waren die Gründe für
eine oftmals niedrige
Lebenserwartung der Tiere. Ein
kalter Winter konnte den
Bestand einer Menagerie
erheblich dezimieren. (siehe
Lais 2005, S.43) Einige
Exemplare erreichten
Menagerie Bostock and Wombwell 1907, Führer 1927
trotzdem ein beachtliches Alter, offensichtlich konnte eine intensive Hinwendung zu den meist
handzahmen Tieren gewisse Haltungsmängel ausgleichen. (Rieke-Müller 1999, S.56) Auch
gelegentliche Raubtiergeburten deuten auf einen “guten physiologischen und Verhaltenszustand”
hin. Andernfalls wären weder Trächtigkeit noch Geburt lebensfähiger Junger und deren Aufzucht
möglich gewesen. (ebenda, S.58)
H. Leutemann: Ein
Morgen in der
Menagerie.
Holzstich um
1865, Sammlung
Nagel
In der zweiten
Hälfte des 19.
Jahrhunderts
entwickelten
sich einige
Menagerien zu
großen
Unternehmen,
die um die
Jahrhundertwende enorme
Ausmaße annehmen konnten und zum Teil mit Sonderzügen transportiert wurden. Mit dem
steigenden Anteil von Dressuren im Programm wandelten sich darüber hinaus gegen Ende des
Jahrhunderts viele Menagerien in Circusse mit einem besonders hohen Anteil an Tierdarbietungen,
darunter bekannte Namen wie Barum, Krone oder Bouglione. Kleinere Buden zeigten weiterhin nur
einzelne oder wenige, mitunter ausgestopfte Tiere, die aber um so bombastischer angekündigt
wurden, wobei die Schausteller das Informationsdefizit der Bevölkerung ausnutzten und den oft
diffusen Vorstellungen über fremde Länder Vorschub leisteten. Ein Bison wandelte sich zum
Beispiel zu einem wahren Ungeheuer: Zur Nachricht Es ist in dieser Stadt zu sehen der vierfache
Teufel, der in der Naturgeschichte bekannt ist, der große Bison Jabatus, (...). Dieses Thier ist so
stark, daß es ein Stein wie einen Ball fortwirft; den Elephanten, Rhinoceros, Zebus (...), tödtet der
Bison alle. Der Löwe ist eine Mücke vor ihm, wie alle andere Thiere. Vor 400 Jahren war die Art
davon ganz verlohren. (...) Es ist genug davon zu sagen, daß es gerne Zucker frißt, und so bald es
Damen kommen sieht, ist es munter, in der Hoffnung, Zucker zu bekommen, mit welchem man
auch seine Wuth, de ihre gleichen hat, besänftiget. Es trinkt Branntwein und Caffee, und frißt alles,
ausser Fleisch nicht (...). (undatierter Akündigungszettel in Oettermann 1979ff, Abb.276)
Detail einer humoristischen Postkarte um 1900,
Sammlung Nagel
(…) Die von einer Frau bei der Explication
vorgetragenen naturwissenschaftlichen
Erläuterungen waren zum Teil
haarsträubend. Von dem Affen behauptete
sie z.B. mit vollem Ernst, dass diese Thiere
in ihrer Heimath, in Indien, in bewohnten
Gegenden Kinder von ein bis eineinhalb
Jahren raubten, mit diesen auf Bäume
kletterten und die Kinder dann so lange
kitzelten, bis sie todt wären, dann ließen die Affen die Kinder herabfallen! Der Affe, dessen Sippe
solches nachgesagt wurde, machte dazu ein verschmitztes Gesicht und dachte wahrscheinlich,
dass ihn selbst diese üble Nachrede nicht genire, wie er denn auch zum Beweis dessen an einem
Apfel lustig knabberte. (Neuer Mainzer Anzeiger 1885, zit in Endres 1983, S.200) Solche
ausufernden publikumswirksamen Freiheiten bei der Beschreibung einzelner Tiere beschränkten
sich allerdings nicht auf kleinere Tierbuden, auch wenn sich die größeren Menagerien oftmals als
wahre Volksbildungsstätten präsentierten. Viele Tierschaustellungen trugen dazu bei, verfälschte
Sichtweisen in Bezug auf einige Familien oder Arten zu verbreiten und zu festigen. Alfred E. Brehm
führt in seinem „Thierleben“ als Beispiel die Hyänen auf: Unter den Thieren der Schaubuden finden
sich regelmäßig einige, denen sich, dank den Erläuterungen des trinkgeldheischenden
Thierwärters, die besondere Aufmerksamkeit der Schaulustigen zuzuwenden pflegt. Der Erklärer
verfehlt nie, diese Thiere als wahre Scheusale darzustellen, und dichtet ihnen die fürchterlichsten
Eigenschaften an. Mordlust, Raubgier, Grausamkeit, Blutdurst, Hinterlist und Tücke ist gewöhnlich
das geringste, was der Mann ihnen, den Hiänen, zuschreibt; er lehrt sie regelmäßig auch noch als
Leichenschänder und Todtenausgräber kennen und erweckt sicherlich ein gerechtes Entsetzen in
den Gemüthern aller naturunkundigen Zuschauer. Die Wissenschaft hat es bis jetzt noch nicht
vermocht, solchen Unwahrheiten zu steuern, diese haben sich vielmehr, allen Belehrungen zum
Trotze, seit uralter Zeit frisch und lebendig erhalten. (2. Auflage 1882-1887, Frankfurt 2006, S.117)
kleine Menagerie, 20er Jahre
Sammlung Nagel
Eine überaus aufschlussreiche, authentische und
eindrucksvolle Schilderung des Geschehens vor
und hinter den Kulissen
einer kleinen Menagerie
stammt von Joachim
Ringelnatz, der 1901 für
kurze Zeit in einer der
zahlreichen Schlangenbuden arbeitete
(Ringelnatz 1983, S.156-169). Der Besitzer Friedrich Malferteiner gehörte zu einer Schaustellerfamilie, unter deren Mitgliedern viele Besitzer von Menagerien verschiedener Größenordnungen
waren. Malferteiner präsentierte damals in einer ca. 25 Minuten dauernden Vorstellung neben
einigen Schlangen lediglich eine Rieseneidechse, einen Pelikan und einige nach zoologischen
Berechnungen über 1000 Jahre Krokodile. 'Man zeigt den Herrschaften zum Schluß die größte und
gewaltigste Schlange der Gegenwart. – Alle Mann!!’ Auf letzteres Kommando (…) stellen sich die 4
Matrosen an der großen Kiste in bestimmter Reihenfolge auf. Malferteiners Frau erscheint in dem
kleinen Spalt, der als Hinterthür dient. Es ist ein aufgedonnertes Weib. (…) Diese Alte löst den Alten
ab, der als fünfter Matrose zu uns herunter kommt. Nun wird der Deckel der großen Kiste halb
geöffnet und wir bücken uns in dieselbe hinein, um die zusammengerollte Boa zurechtzulegen. Der
Alte ergreift das Kopfende und kommandiert: ‚Auf!’ Der Deckel wird vollständig geöffnet. ‚Achtung!’
Wir packen die Schlange jeder an der uns angewiesenen Stelle. ‚Hoch, gleichmäßig!’ Wir heben sie
langsam aus dem Kasten heraus und auf unsere Schultern. - - - - Herrgott! Oh! Ah! Und andere
Rufe des Erstaunens und der Bewunderung folgen einer vorangegangenen Pause spannenden
Schweigens. – Die Schlange ist bei ihrer enormen Größe nicht übermäßig schwer, trotzdem
keuchen wir unter ihrer Last. Das macht Effekt beim Publikum. Malferteiner selbst beginnt nun
ohne Unterbrechung und
jede Silbe scharf betonend:
‚Eine Boa constrictor. Ihre
Heimat ist Südamerika. Der
Biß der Boa ist
ungefährlich, da dieselbe
nicht giftig ist. Mensch und
Tier wird sie gefährlich,
durch ihre grässliche
Gewalt und die furchtbare
Kraft ihrer Muskeln; denn
sie ringt in der Freiheit mit dem
Sammlung Nagel
Löwen und dem Tiger, besitzt auch die Kraft dem größten und stärksten Büffelochsen alle
Knochen zu zerbrechen, sobald sie ihn umschlungen hat. Gefüttert wird sie alle 4 bis 6 Wochen mit
lebenden kleinen Schweinen auch Schaf- oder Ziegenlämmern. 1000 Mark bietet die Direktion
jedem Besucher Prämie, der beweisen würde oder könnte, wo er schon jemals in ganz Europa ein
zweites Exemplar dieser Riesenschlange zur Schau ausgestellt gesehen hätte. Lebend ist sie die
größte und gewaltigste Boa die gegenwärtig in ganz Europa zur Schau ausgestellt wird. Vorsichtig!’
Dieses letzte Wort gilt uns und wir legen nun das lange Tier wieder langsam auf die weichen
Decken worauf wir noch eine Decke darüber decken. (Ringelnatz 1983, S.164f)
Das Matrosen- oder Forscheroutfit der Angestellten solcher Schaustellungen sollte den Eindruck
der Weitgereistheit erwecken. Man hatte jedem von
Detail eines Friedländer-Plakats
uns einen Matrosenanzug gegeben, der freilich aus
Nachdruck, Original B. Gammals, Helsinki
billigstem Zeug geschneidert war. Der meinige war
viel zu groß, und so geschah es einmal, dass ich
während der Vorstellung über meine eigenen
Hosenbeine stolperte und hinfiel und die vier
anderen Pseudomatrosen nebst Boa constrictor
mit zu Boden riß. Herr Malferteiner benutzte die
Situation geistesgegenwärtig und rief aufgeregt:
‚Sie wird wieder wild! Schnell fort mit ihr in den
Kasten!’ Was großen Eindruck auf die Zuschauer
machte. (ebenda, S.132) Auch kleine Raubtierschauen waren recht verbreitet. Dabei bildeten
„Ringkämpfe“ mit Bären lange Zeit eine beliebte Schaubuden- und Kleincircusattraktion. Der
Familiencircus von Hans Kaiser zeigte sie noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Schmidts “AltdeutscheBärenschauspiele” um 1910
Sammlung Nagel
In einigen dieser
kleinen Buden bildeten
die Tiere nur die
Staffage für
Attraktionen mit –
wiederum –
offenkundig erotischvoyeuristischem Charakter: Junge Frauen
zwischen allerlei vermeintlich giftigen bzw. als
besonders abstoßend empfundenen Getier.
Detail einer Postkarte, Anfang 20. Jh., Sammlung Nagel
Parade einer kleinen Menagerie, Schaustellermuseum Essen
Sammlung Nagel
Hier ist Miarka, das Schlangenmädchen, lebendig und nackt in ihrem Glassarg. Miarka, die schöne
Korsin! Mit Recht nennt man, wie Sie sehen werden, Korsika die Schönheitsinsel. Miarka, die keine
Hemmungen hat, fast nackt – ich betone es – mit gefährlichen Schlangen zusammenzuleben, die
an ihrem prächtigen Körper entlanggleiten!´ Maurice bellte dies in seinen Lautsprecher. Im Inneren
der Bude bemerkte man über den Sarg gebeugte Burschen, die neugierig die schöne Korsin
betrachteten; an dere, die auch etwas sehen wollten, versuchten, nach vorn in die erste Reihe zu
kommen. `Die Schlangendame ist keine gewöhnliche Jahrmarktsnummer. Sie ist ein
unvergeßliches Schauspiel. Dazu sehen Sie noch das Kind mit den vier Armen und Jacky, den
zweigeschlechtlichen Affen. Kommen Sie herein, dreißig Centimes nur, dreißig armselige Kröten,
sehen Sie sich Miarka die Korsin an, die herrliche Schönheit, die in jedem Augenblick ihr Leben aufs
Spiel setzt.’ Miarka, nur mit einem Bikini bekleidet, lag auf dem Rücken. Sie hielt zwei träge
Schlangen in den Händen, die sie von Zeit zu Zeit an die Lippen führte. Mitunter schlief sie ein. Sie
schloß die Augen, die Schlangen in den Händen, und wartete darauf, daß Maurice sie zur Ordnung
rief, indem er mit seinem Ring an das Glas klopfte. Die Zuschauer kamen wegen der Schlangen,
aber auch, um `ein Auge zu riskieren´. In regelmäßigen Abständen mußte sie sich auf die Seite
legen, damit ihre Brüste eine vollere Form annahmen, oder sie reckte sich, um ihren Venushügel
hervorspringen zu lassen. Wenn sie als Kind auf dem Lande eine Ringelnatter erblickt hätte, wäre
sie vor Angst in Ohnmacht gefallen. Wie weit hatte sie es doch gebracht! Im Morvan geboren und
einfach Jeannette genannt, war sie als Mädchen für alles nach Paris gekommen, und dort hatte
man aus ihr Miarka, die Korsin, gemacht. Wenn sie die Augen aufschlug, sah sie über die
gebeugten Gesichter. `Wie lüstern und schmierig sie alle schauen!´ dachte sie. Es waren alte
Männer darunter, Jugendliche in Gruppen, die Witze darüber machten, wohin die Schlangen
kriechen könnten, aber auch Frauen, die zimperlich taten und Entrüstung heuchelten, weil sie nicht
soviel herzuzeigen hatten. (Robert Sabatier 1963 in Narciß 1967, S.117f) Ähnliche Einblicke mögen
auch viele Besucher der zahlreichen Schaustellungen „lebender Seejungfrauen“ erhofft haben. Die
„Seejungfer“ war mitunter eine Illusion, meistens erwies sie sich beim Betreten der Bude allerdings
als Robbe. Ihre Enttäuschung hierüber schluckten nicht alle Besucher herunter. 1904 gab es auf
dem Bonner Pützchens Markt eine Schlägerei, als sich das Meerweibchen von Madagaskar als ein
alter Seehund in.einer Badewanne entpuppte. (Brandt 2001, S.37) Fehlte das Adjektiv „lebend“ bei
der Anpreisung von „Meer- oder Seejungfrauen“ wurden i.d.R. große Fischkörper mit aufgesetzten
(Affen-) Schädeln und –armen gezeigt. Die typische Schaubudenattraktion hatte wie viele andere
ihre Vorläufer in den Wunderkabinetten des 17. Jahrhunderts. Zu den Menagerien sind darüber
hinaus die Buden zu zählen, die tierische Abnormitäten zeigten - ob im Einzelfall “echt”, sei
dahingestellt... Noch nie dagewesen! Ein lebender Wunderochse mit Menschenarm und Hand, 3
Finger und 1 Daumen, Handgelenk, Ellenbogen und Schulterblatt. Eine lebende Wunderkuh mit 6
Füßen, wobei sich 2 Rehfüße befinden. Die Schaubude befindet sich auf dem Brettermarkt. Entree
20 Pfg. Kinder und Militär ohne Charge zahlen die Hälfte. (...) Zu zahlreichem Besuch ladet
ergebenst ein Wittwe Beckmann. (Nördlinger Anzeigenblatt 14.6.1879 in Sagemüller 1989, S.64) J.
Wittersheim bat 1875 in einer Annonce zum Liborifest in Paderborn um gütiges Wohlwollen
gegenüber seiner Schaubude „Wunder d. Wunder“. Dort präsentierte er neben „Murphi“, dem „3200
Pfund wiegenden König der Stiere“, das lebende Wunderpferd, geboren mit 2 Vorderfüßen wie ein
Kameel, der hintere Fuß ist ein Menschenarm und hängt an demselben ein Schnabel von einem
Adler und ein Horn von einem Schaf, der vierte Fuß ist ein Menschenfuß und trägt einen Schuh von
Horn. Wittersheim bot 1000 Mark demjenigen, der jemals ein ähnliches Thier gesehen hat.
(Stambolis 1996, S.144) Besonders häufig wurden angeblich bis zu 4500 Pfund schwere „RiesenOchsen“ gezeigt, gegen die „Murphi“ allerdings ein „Leichtgewicht“war. Die „Echtheit“ der
tierischen
Abnormitäten
wurde immer wieder
angeblich durch
„bedeutende
Professoren“
„beglaubigt“.
Sammlung Nagel
Bei einem im 17. Jahrhundert ausgestellten
„dreifachen Lamm“ genügte zur Bestätigung
der Glaubhaftigkeit der Ankündigungen noch
die Aussage dass es auch von fürnehmen
Herrn gesehen worden. (vgl. Jenny 1996, S.60)
Kalb mit zwei Köpfen und zwei Schwänzen, Ausschnitt
einer Souvenirkarte um 1910, Sammlung Nagel
…
Sehr großer Beliebtheit erfreuten sich auf den Jahrmärkten der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts die “Affen- und Hundetheater”. Die verkleideten Tiere, neben Affen und Hunden
mitunter auch dressierte Feldhasen, zeigten akrobatische Kunststücke sowie menschliche
Handlungen in kleinen Szenen. Casanovas Affentheater (…) Wir beginnen mit den Künsten der
beiden großen Mandrills. (…) Diese wilden Afrikaner treten als Soldaten auf, zeigen ihren Paß vor,
den sie selbst aus der Tasche ziehen und öffnen, sie exercieren auf Commando, feuern das Gewehr
ab, spielen Geige und schlagen die Becken, ziehen den Säbel und stecken ihn wieder in die Scheide
und höchst possierlich ist es, wenn sie beim Exerzieren nach ihrem kleinen Ckako greifen, um ihn
nicht zu verlieren. (…) Nicht minder bewundernswert sind die Leistungen der vierfüßigen Künstler
als Kunstreiter. Was wir bei Menschen bewundert, das leisten diese Thiere, (…). Das afrikanische
Gastmahl, die Madame Pompadour, die unglückliche Spazierfahrt, tanzende und spinnende Hunde,
(…), Tonnen- und Kugelläufer fehlen natürlich auch nicht. Kurz, man findet hier die reichste
Abwechslung und kommt gar nicht aus dem Staunen heraus. (Leipziger Tageblatt 29.9.1858)
Massenandrang vor der
Parade eines Affentheaters
um 1900, Sammlung Nagel
Szene aus Bringes Affentheater um 1905,
Sammlung Nagel
Die Programme der Affen- und Hundetheater
ähnelten sich i.d.R. – der Auftritt von
„Madame Pompadour“ und ihrer Begleitung
gehörte zum festen Repertoire.
Holzstich 1871, Sammlung Nagel
Die größte Weltspecialität ist zum ersten male hier. Während der Kirmeß und des Schützenfestes
auf dem Wiesenplatze vor dem Hessenthore: Das Theater der weltberühmten gelehrten Hunde.
Darunter befindet sich der Königshund Professor Weiß, der den Titel von Sr. Majestät König Albert
von Sachsen erhalten hat. Die kleinen Hündchen rechnen, lesen, schreiben, zählen Geld, kennen
jede Taschenuhr, sowie alle Photographien aller Kaiser und Könige, Landesfahnen und Blumen, sie
spielen Karten, Domino und Schach, sowie Klavier und machen Gymnastik, tanzen Ballet und
bringen ganze militärische Scenen zur Aufführung. – Auch hatten sie die Ehre, vor anderen hohen
Herrschaften Vorstellungen geben zu dürfen, u.a. vor ihrer Majestät Königin Viktoria von England,
sowie vor Seiner Kgl. Hoheit dem Großherzog von Baden und Ihrer Königl. Hoheit der
Kronprinzessin - Ww. Stephanie von Österreich. - Es ist eine wahre Lust, die kleinen Hunde zu
beobachten, denn sie führen ihre Vorstellungen zur größten Freude des Publikums aus, da die
Lehrmeisterin weder mit Stock noch mit Peitsche regiert. Die kleinen Hunde sind ausgebildet wie
Kinder in der Schule. Mache die geehrten Herrschaften darauf aufmerksam, daß die kleinen
Wunderhündchen einzig und allein ohne
Concurrenten dastehen. Zu diesen
interessanten Vorstellungen ist die
geschätzte Bürgerschaft von Neuß und
Umgegend freundlichst eingeladen. Um
recht zahlreichen Besuch bittet Die
Lehrmeisterin. (Neußer Zeitung vom
29.8. 1896 in Sagemüller 1993ff, S.661)
Ausschnitt einer Ansichtskarte mit dem in der
Annonce werbenden Hundetheater von 1908,
Sammlung Nagel
Holzstich nach einem Gemälde von Paul
Meyerheim, um 1895 Sammlung Nagel
Häufig gab es in den
Jahrmarktsbuden auch einzelne
Pferde zu sehen, denen allerlei
Kunststücke andressiert waren.
Das “Wunderpferd“ „Der Kluge
Hans”, das zu Beginn des
20.Jahrhundert bis zur
Widerlegung seiner
vermeintlichen
Rechenfähigkeiten für Furore
sorgte, war Namensgeber vieler
ähnlicher Darbietungen in
Sammlung Nagel
Schaubuden und Circussen.
Weniger weit verbreitet waren
Vorführungen dressierter
(Kanarien-)Vögel oder “Ratten- und
Mäusetheater”, in denen sich die
Tiere meist in Miniaturszenerien
bewegten. „Flohcircusse” gastierten
hingegen häufiger auf den
Jahrmärkten. Die Darbietungen der
„Flohbändiger“ sind dabei weit
älteren Ursprungs als häufig
angegeben. Lässt man zum Beispiel
die phantastisch-romantischen
Überzeichnungen folgender Textstelle aus E.T.A. Hoffmans „Meister Floh“ außer Acht, treten
deutlich typische Bestandteile der Floh-Vorführungen hervor: Es befand sich zu der Zeit ein Mann
in Frankfurt, der die seltsamste Kunst betrieb. Man nannte ihn den Flohbändiger und das darum,
weil es ihm, gewiß nicht ohne die größeste Mühe
Stefan Mart 1933
und Anstrengung, gelungen, Kultur in diese
kleinen Tierchen zu bringen und sie zu allerlei
artigen Kunststück-chen abzurichten. Zum
größten Erstaunen sah man auf einer Tischplatte
von dem schönsten weißen, glänzend polierten
Marmor Flöhe, welche kleine Kanonen,
Pulverkarren, Rüstwagen zogen, andre sprangen
daneben her mit Flinten im Arm,
Patronentaschen auf dem Rücken, Säbeln an der
Seite. Auf das Kommandowort des Künstlers
führten sie die schwierigsten Evolutionen aus, und alles schien lustiger und lebendiger wie bei
wirklichen großen Soldaten, weil das Marschieren in den zierlichsten Entrechats und Luftsprüngen,
das Linksum und Rechtsum aber in anmutigen Pirouetten bestand. Die ganze Mannschaft hatte ein
erstaunliches Aplomb, und der Feldherr schien zugleich ein tüchtiger Ballettmeister. Noch beinahe
hübscher und wunderbarer waren aber die kleinen goldnen Kutschen, die von vier, sechs, acht
Flöhen gezogen wurden. Kutscher und Diener waren Goldkäferlein der kleinsten, kaum sichtbaren
Art, was aber drin saß, war nicht recht zu erkennen. (E.T.A. Hoffmannn 1820. 1981, S.41) Bei den
Vorstellungen konnte er das Publikum maßlos in Erstaunen versetzen, wenn auf seinen Befehl die
kleinen Fahrzeuge im Zicksack fuhren, wenn die Zugtiere aus der Insektenwelt auf das Kommando
`Halt´ stehenblieben, und die Avisi `Rechts´ oder `Links´ strikte befolgten. Wer konnte denn ahnen,
daß unter dem Tisch ein Gassenjunge sitze mit einem Hufeisenmagnet in der Hand? Da war es
doch viel wahrscheinlicher, daß die gebändigten Flöhe mit einer unerhörten Intelligenz begabt und
auf jeden Wink ihres Herrn dressiert seien. (Egon Erwin Kisch 1920 in Narciß 1967, S.157) In der
Regel waren aber weder irgendwelche Magneten, noch die „unerhörte Intelligenz“ der Flöhe
Grundlage der Kunststücke. Im gewissen Sinne kann durchaus von einer Art „Dressur“ gesprochen
werden. (dazu Willke 2001) Gegen immer wieder aufkommende Zweifel an der Echtheit der
Kunststücke verwahrten sich die Prinzipale entschieden – genauso, wie sie dem hochverehrten
Publikum immer wieder versicherten, dass ein Entkommen ihrer Schützlinge ausgeschlossen sei:
Holzstich 1892, Sammlung Nagel
Flohzirkus-Ankündigung, Sammlung Nagel
Der Ankündigungszettel zeigt das typische
Programm eines Flohzirkus’ mit abschließender
Fütterung. Letztere gestaltete sich recht
einfach, indem die kleinen Künstler einfach auf
die Arme des „Circusdirektors“ gesetzt wurden.
Der traditionsreiche Flohcircus von Robert Birk, vormals im Besitz der Schaustellerfamilie
Mathes, gastiert seit vielen Jahrzehnten auf dem Münchner Oktoberfest. Wichtige Auftrittsorte für
Nostalgiegeschäfte dieser Art sind darüber hinaus mittlerweile die vielerorts etablierten
„Historischen Jahrmärkte“.
Flohcircus Mathes
Detail einer Souvenirkarte von 1977
Sammlung Nagel
aus: Stefan Nagel: Schaubuden. Geschichte und Erscheinungsformen. Münster 2000–2014,
http://www.schaubuden.de/
Vom Wilden zum Menschen
Ein Streifzug durch die Dritte Welt in der Kinder- und Jugendliteratur
von Jutta Kleedorfer
Wo die wilden Kerle wohnen
Im aufsteigenden Bürgertum des 18. Jahrhunderts erhielten Bildung, Erziehung, Familie und
Kindheit einen besonderen Stellenwert und wurden in der für die Jugend geschriebenen Literatur
neu definiert. Das Fundament einer moralisch und bürgerlich heilen Welt und deren
wohlbegründete Ordnung wurde zusätzlich gefestigt durch den neugierigen Blick in fremde Welten:
Doch die Abenteuer- und Reiseliteratur, die Seefahrts- und Indianergeschichten vermittelten
Projektionen sozialer Intentionen, waren geprägt von Unkenntnis und Intoleranz. J.J. Rousseau,
einer der bedeutendsten Schriftsteller und Philosophen der europäischen Aufklärung, vertrat die
Ansicht, dass der Mensch von Natur aus gut sei und nur durch die Zivilisation und Gesellschaft
verdorben werde. Die natürlichen Instinkte, die ersten Eindrücke und Gefühle, mit denen der kleine
Mensch auf seine Umwelt, die Natur und die Mitmenschen reagiert, seien seine besten Lehrmeister
und Führer zu einem richtigen Verhalten. Am besten geschähe dies durch einige wenige Bücher,
daher schenkte er seinem Emile im gleichnamigen Roman zum 12. Geburtstag ein Buch mit dem
Titel „Robinson Crusoe“. Wie der Titelheld in Daniel Defoes Roman sich auf einer fernen Insel
durchschlägt, so soll sich der jugendliche Leser sein Leben aus eigener Kraft selbst gestalten.
Freitag, der Wilde und Menschenfresser, verdankt Robinson sein Leben. Er unterwirft sich ängstlich
dem „göttlichen“ Weißen, läßt sich domestizieren und wird ein willkommener Gefährte in der
Einsamkeit und Wildnis. Die „gottgewollte soziale Ordnung“ von Herr und Knecht, die Überlegenheit
des weißen Mannes dokumentieren sich damit wie von selbst.
Das Gesetz des Dschungels
Es ist nicht zu bestreiten, dass die Durchsetzung von Kinder- und Jugendliteratur, ehe sie ihr
eigentliches Publikum erreicht, zunächst einmal davon abhängt, ob sie den Erwartungen und
ideologischen Präferenzen der Erwachsenengesellschaft entspricht. Dies gilt vielfach für
klassische Kinder- und Jugendbücher, wie z.B. Mark Twains „Tom Sawyer“ (1876), H. BeecherStowes „Onkel Toms Hütte“ oder R. Kiplings „Dschungelbuch“ (1894). Letzteres zeigt massiv
kolonialistische, ja rassistische Züge, an die sich viele Fragen anknüpfen lassen: Mowglis Leben mit
den Tieren, mit dem Bären Baloo und dem Panther Bagheera, der Pythonschlange Kaa und dem
Wolfsrudel bleibt ja nicht bei der unschuldig-paradiesischen Gleichheit aller Kreaturen, wie es uns
die Disney-Verfilmung glauben machen will. Im Buch wird völlig klar ausgesprochen, dass das
Dschungelvolk unterworfen werden muss, mit Gewalt in Schach gehalten werden muss, was nur
durch die Überlegenheit des weißen Mannes möglich ist. Eine Blutsbrüderschaft mit den Wölfen ist
und bleibt trügerisch, denn die Tiere hassen den Fremdling wegen seiner Überlegenheit. Hier wird
die romantische Kindheitsutopie in Frage gestellt: Kindheit, das bedeutet von vornherein
Auseinandersetzung mit Gewalt. Der Dschungel selbst ist kein friedlicher Kindheitsraum, sondern
Kampfplatz, auf dem das Recht des Stärkeren gilt. Das kann man nicht früh genug lernen. In
diesem Sinn formuliert Baloo im Abgesang seine letzte Mahnung an den Abschied nehmenden
Mowgli:
„Achte das Gesetz,
das das Menschen-Rudel macht –
rein oder befleckt, heiß oder schal,
achte es, als wäre es die Fährte
durch den Tag und durch die Nacht,
weder links noch rechts zweifelnd:“ 1
Diesem Dschungelgesetz liegt kein ethisches Prinzip zugrunde, sondern das Gesetz des Stärkeren,
das die historische und politische Wirklichkeit des Imperialismus bestimmte. In der Beherrschung
der „Naturvölker“, mit denen die Kolonisatoren zusammenstießen, zeigte sich die Kraft der geistig
und moralisch höherstehenden Rassen. Dabei sei, so die sozialdarwinistische Legimation,
Gewaltanwendung zunächst unerlässlich, um sich Raum und Sicherheit zu schaffen. Danach
könnten auch die zwischenmenschlichen Verhältnisse zu den Unterworfenen humanisiert werden.
Die deutsche „Kolonialliteratur“2 waren eine propagandistische Rechtfertigung der Feldzüge,
wodurch die „primitiven, barbarischen Ein heimischen „zivilisiert“ und der christlichabendländischen Kultur zugeführt wurden. Dabei wurde z.B. die brutale Vorgangsweise der
Engländer den freundlichen Methoden der Deutschen in Afrika gegenüber gestellt, was die
deutsche Kolonialpolitik und den deutschen Imperialismus in doppelter Weise sanktionierte. Der
koloniale Held, Siedler oder Soldat und die züchtige, treue, zupackende Siedlersgattin entsprachten
dem Idealbild der deutschen Männer und Frauen.
»Zehn kleine Negerlein«
Abenteuerbücher spielen in fernen Ländern, ihre Helden begegnen Vertretern fremder Rassen und
informieren als Reiseliteratur auch über exotische Völker, Länder und Landschaften. Sie
verarbeiten aus der Sicht des „Weißen“ subjektiv Erlebtes und berichten über Unheimliches,
Bedrohliches, Verlockendes. Moralische Stärkung erfuhr der kindliche Leser durch die
Identifikationsfiguren dieser Bücher. Der weiße Held trotzte jeder Gefahr, blieb gleichmütig im
Unglück, war diszipliniert auch in extremen Situationen und blieb seinen bürgerlichen,
europäischen Wertevorstellungen wie seinem christlichen Glauben treu. Das weit verbreitete
Kinderlied von den „Zehn kleinen Negerlein“ spiegelt diese Einstellung wider und vermittelt die
verschlüsselte koloniale Herrschaftsideologie3 des 19. Jahrhunderts. Der Aufbau folgt dem Prinzip
der abnehmenden Zahl, wonach die „Negerlein“ in die europäische Zivilisation kommen und der
Reihe nach wegen Kulturunfähigkeit sterben. Sie sind einfach zu dumm, zu ungeschickt, daher sind
am Schluß „alle futsch“. Eine andere Version endet damit, dass ein kleines »Negerlein« erstaunlich
schlau ist, denn „es ging zurück nach Kamerun und nahm sich eine Frau“. Die Moral von der
Geschichte: Der „Neger“ bleibe am besten, wo er ist, und maße sich nicht an, Kulturträger sein zu
wollen wie die Weißen. Das Lied handelt daher auch weniger von „Negerkindern“ als vielmehr von
„Kindnegern“, die gemäß dem rassistischen Klischee vom „primitiven Wilden“ über das infantile
Entwicklungsstadium nicht hinauskommen, es sei denn, der Kolonisator, der Missionar oder der
Entwicklungshelfer führen ihn. Dieses Denken war praktisch, denn es legitimierte die christlichen
wie imperialistischen Europäer und Amerikaner, sich die Dritte Welt in Kolonien und wirtschaftliche
Einflussgebiete unter sich aufzuteilen. In der Zeit der Romantik hatte sich auch das Bild vom edlen,
reinen Wilden entwickelt, das bei James F. Cooper in seinen Erzählungen „Der Lederstrumpf“ oder
„Der letzte Mohikaner“ in einer verherrlichenden Darstellung des Naturmenschen gipfelt. Die
Vorstellung reichten demnach vom kindlich unverdorbenen, drolligen Wilden bis zum bedrohlichen,
zähnefletschenden Kannibalen, vom exotischen, bunt geschmückten Fabelwesen bis zum
primitiven, unterentwickelten Sklaven oder zum armen Heidenkind, das es zu bekehren galt.
Wie bei den Hottentotten
Mit der industriellen wie technischen Revolution im 19. Jahrhundert wurden Reisen in die fernsten
Winkel der Erde möglich und bald bildeten sich die unterschiedlichsten Klischees 4 dazu. Jules
Verne, einer der meistgelesenen und meistübersetzten Autoren des 19. Jahrhunderts, vergleicht in
seinem Roman „In 80 Tagen rund um die Welt“ die Schwarzafrikaner mit Affen, hält sie für
Übergangswesen zwischen Affe und Mensch. Die Darstellung von anderen Völkern und ihren
Kontinenten ist in der Kinder- und Jugendliteratur so oft in vereinfachter Form gestaltet worden,
dass auch heute noch beim Hören von Namen und Begriffen einem sofort stereotype Bilder und
Vorurteile aufsteigen:
•AFRIKA
Die Afrikaner erscheinen als grausame Kannibalen, werden als dümmlich-drollig mit Kulleraugen
und Baströckchen dargestellt und sprechen ein entsetzliches Kauderwelsch. Afrika als der dunkle
Kontinent mit riesigen Urwäldern, großen Tierparks und primitiven, nackten Eingeborenen, die als
Wilderer ihr Unwesen treiben. Seltsame Riten und Tänze, Großwildjagden und Safaris, reiche
»Neger«häuptlinge und Kinder mit vor Hunger aufgeblähten Bäuchen …
•ASIEN
Gelbe „Gefahr“ mit Schlitzaugen und Zopf, hohe, unverständliche Kultur, geheimnisvolle und
grausame Menschen, tückische und gefährliche Verbrecher, Großfamilien und „Land des Lächelns“
…
•LATEINAMERIKA
Regenwald, Karneval, Fußball, Samba, Slums, Straßenkinder, Korruption …
•INDIANER
Prärie, Pferde, Tipis und Wigwam, Häuptlinge und Squaws, Büffel, Federschmuck und Skalp,
Cowboys, Ausrottung durch die Weißen, Medizinmann, Naturverbundenheit, Reservate …
•AFROAMERIKANER
Sklaven, Onkel Tom, Jazz, Sportler und Entertainer, arm, gutmütig, faul …
•ARABIEN
Islam, unterdrückte, schleiertragende Frauen, Harem, Blutrache, Bauchtanz, schnelle Pferde, stolze
und freiheitsliebende Nomaden (Tuareg), Waffenschmuggel, Kamele, Wüstensöhne … Solche
übertriebenen Verallgemeinerungen sind meist gekoppelt mit einer negativen Wertung, wodurch
kulturell und religiös verankerte Feindbilder entstanden sind. Offenen Rassismus findet man nicht
nur in der Abenteuerliteratur, er wurde auch von der Filmindustrie bestens vermarktet. Tarzan ist
nicht zufällig weiß. Sein Schöpfer, Edgar Rice Burroughs, konzipierte ihn in den zwanziger Jahren
dieses Jahrhunderts als Idealfigur, die Schwarzen dagegen als Inkarnation des Dummen und
Bösen. Diese gängigen Vorurteile wurden zur Zeit des Nationalsozialismus durch die Rassenlehre
noch verschärft. Erich Ohser, besser bekannt als E.O. Plauen, wagte es in seinen bis heute beliebten
schwarzweißen Bildergeschichten zum Ausdruck zu bringen, was in der bedrückenden Welt der
Nazis, keinen Platz hatte: Menschlichkeit, Toleranz und befreiender Humor. Alles, was den Nazis
fremd war, verfolgten sie mit ihrem Hass, und sie machten sich über andere Völker lustig. Das
machen einmal auch der melonenköpfige, schnauzbärtige Vater und sein kleiner Sohn mit der
Struwwelpeterfrisur: Mit ausgestrecktem Zeigefinger lachen sie über eine Afrikanerin und ihre
Tochter. Aber es funktioniert auch umgekehrt: Im nächsten Bild lachen die Afrikanerin und ihre
Tochter über Vater und Sohn, denn die sehen aus ihrer Sicht mindestens ebenso exotisch aus.
Vater und Sohn lehren, friedliebend und fröhlich das Leben zu meistern; als ihnen dies nicht mehr
möglich ist, spazieren sie einfach in den Mond hinein. Ihrem Schöpfer war so ein märchenhaftes
Verschwinden nicht gegönnt. Nach seiner Verhaftung durch die Nazis erhängte er sich einen Tag
vor der Gerichtsverhandlung im Gefängnis. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente die „Dritte Welt“
weiterhin als exotische Kulisse für weiße Helden oder Abenteurer. Es entstanden bis weit in die
sechziger Jahre Missionsbücher und Romane von Entwicklungshelfern als fast eigenständige
Gattung. Man wollte den „rückständigen“ Menschen mit technologischem Fortschritt helfen und
ihnen den „wahren“ Glauben bringen. Die unterentwickelten Menschen im Süden sollten mit Hilfe
des großen Bruders aus dem Norden in den Genuss der zivilisatorischen Errungenschaften
kommen. Diskriminierung und europazentrierte Überheblichkeit können auch sehr subtil in Kinderund Jugendbücher einfließen. Oft sind die Geschichten so geschrieben, dass sie durchaus
Sympathie und Verständnis für uns fremde Menschen, Länder und Kulturen wecken. Doch die
vordergründig positive Haltung, die letztlich nur die eigene Kultur hervorhebt oder väterlich
wohlwollend zeigt, wie rückschrittlich die anderen sind, kann in gefährlicher Weise bei unkritischen
Lesern – das sind ja Kinder und Jugendliche, die zum ersten Mal ein solches Thema kennenlernen –
unreflektierte Vorurteile wachsen und entstehen lassen. Diese Art der Darstellung wird entlarvt
anhand folgender Kriterien5, wie J. Becker sie formuliert: • Das Vermeidungsyndrom: Es gibt keine
Rassenkonflikte, alle kommen wunderbar miteinander aus.
• Das Biologiesyndrom: Unterschiede ergeben sich naturgemäß aus der angeblich biologischen
Andersartigkeit.
• Das Harmonisierungssyndrom: Vorhandene augenscheinliche Konflikte werden privatisiert,
bagatellisiert und verniedlicht.
• Das Oasesyndrom: Es steht nur ein Schwarzer im Konflikt mit der weißen Gesellschaft.
• Das Gewaltsyndrom: Schwarze Gewalt wird kriminalisiert, weiße Gewalt wird sanktioniert.
• Das Syndrom der Enthistorisierung: Rassenkonflikte werden so gelagert, dass sie die weiße
Vorherrschaft nicht tangieren.
Wer fürchtet sich vom Schwarzen Mann?
„Was macht zwei Millionen Norweger zu einem Volk
und ebenso viele Baganda zu einem Stamm, ein
paar Hunderttausend Isländer zu einem Volk und 14
Millionen Haussa-Fulbe zu einem Stamm? Es gibt
dafür nur eine Erklärung: Rassismus“.6
„Als Kind habe ich gelernt. Jenseits der Grenzen liegt das Ausland mit all den Ausländern, vor
denen man sich in Acht nehmen muss; ich war Inländer. Isländer und Irländer, dachte ich, müssen
uns irgendwie verwandt sein; es trennt uns ja bloß ein einziger Buchstabe!“ 7
So die Überlegungen des Autors Lukas Hartman über seinen frühen Hang zu Internationalismus,
der schön zeigt, welche Fallstricke und Fußangeln schon in früher Kindheit in den einzelnen
Sprachmustern stecken. Wie tief verwurzelt ist die Angst vor dem Schwarzen (oder Roten oder
Gelben) Mann, den wir in Bilderbüchern gesehen haben, womit uns Angst gemacht wurde? Die
Sprache verrät’s! Es ist gerade bei Kinderbüchern aus und über Afrika, Lateinamerika und Asien
bedeutsam zu beobachten, ob und wie folgende Tendenzen8 sichtbar werden:
•Ethnozentrismus – Kulturüberheblichkeit
Mit Ethnozentrismus wird eine Einstellung bezeichnet, die das eigene Denken, Fühlen und Handeln,
die eigene Lebensart und Kultur ins Zentrum der Welt gestellt. Es ist ein ambivalenter Begriff, der
positive und negative Aspekte aufweist. Es wird dadurch der innere Zusammenhalt, einer Gruppe
gestärkt und deren Existenz und Identität gesichert, andererseits bedeutet es auch die Unfähigkeit,
dem Fremden und Unbekannten aufgeschlossen und lernbereit zu begegnen. Die
Kulturüberheblichkeit ist nicht auf die Industriegesellschaften beschränkt.
•Paternalismus
Der Paternalismus zeigt sich in der „väterlich wohlwollenden“ Einstellung und im Verhalten von
Industriegesellschaften gegenüber Menschen in sogenannten Entwicklungsländern. Es ist eine
herablassende Art im Umgang mit den „Unterentwickelten“, denen – oft gewaltsam und meist zum
eigenen Vorteil – zum technischen und zivilisatorischen Fortschritt verholfen wird.
•Sexismus
Sexismus ist die Diskriminierung eines Menschen auf Grund seines Geschlechtes. Die
Benachteiligung der Frauen in der Dritten Welt zeigt sich in den verschiedenen gesellschaftlichen
Bereichen und wird nur zu gern von europäischen oder amerikanischen Schriftstellern als Sujet
aufgegriffen, können dadurch Sehnsüchte und geheime Wünsche ungehindert auf den fernen
Orient, auf fremde Kontinente, projiziert werden.
•Rassismus
Merkmal rassistischen Denkens ist es, ungleiche und ungerechte Verhältnisse zwischen einzelnen
Menschen, Gruppen oder Völkern auf biologische Unterschiede (z.B. Hautfarbe) zurückzuführen.
Auf diese Weise wird versucht, vermeintliche Überlegenheit der einen gegenüber der anderen
Gruppe zu rechtfertigen. Diese Herabsetzung von Menschen anderer Völker und Kulturkreise
legitimiert Gewalt und Unterdrückung und damit die Beibehaltung von Macht und wirtschaftlicher
Überlegenheit.
Wo kommen die Löcher im Rassismus-Käse her?
Erste Tendenzen, diese rassistischen Darstellungen zu hinterfragen, zeigen sich im Zuge der
antiautoritären 68er Bewegung. Man begann sich um das politisch wie sozial unverfälschte,
wahrhaftige Kinder- und Jugendbuch zu bemühen, das die Anliegen und Bedürfnisse von Kindern
und Jugendlichen ernst nahm und sich um Wahrheit bemühte. Durch den gesellschaftlichen
Umbruch Ende der sechziger Jahre wurden traditionelle Werte und Normen kritisiert. Dazu gehörte
auch die kritische Auseinandersetzung mit der Entwicklungshilfe, die als Hilfe zur Unterentwicklung
angeprangert wurde.
Und die Invasion geht weiter9
Und die Invasion geht weiter. Viele bedrängen uns von allen Seiten – sie wollen uns verändern nach
ihren Vorstellungen und uns abhängig machen von all den Dingen die sie produzieren, und womit
sie vermeinen, glücklich zu werden. Sie kommen in Massen, um unsere Tänze zu sehen, und wenn
sie durcheinander reden, klingen ihre Worte nach Streit, nach Bauchweh und Lärm mit
angeberischem, vulgärem Sinn. Sie haben einen unstillbaren Durst nach Silber und Gold, den wir
nicht begreifen wollen. Aber die Invasoren sehen und denken anders. Um ihren Durst zu stillen,
benehmen sie sich wie Raubtiere: Sie holzen die Wälder ab und öffnen die Erde – ohne Achtung
und mit Gewalt. Sie vergessen, dass die Erde ein lebender Körper ist.
Diese Kritik ging wesentlich auf die Forderung der „Dritten Welt“ zurück, wo inzwischen viele Länder
unabhängig geworden waren. In Nordamerika kämpfte die Blackpower-Bewegung für die
Gleichberechtigung der Schwarzen. 1978 war die Diskussion um die Darstellung der Dritten Welt im
Kinder- und Jugendbuch so aktuell, dass sie an der Frankfurter Buchmesse zu einem
Schwerpunktthema wurde. Die Bemühungen um eine vorurteilsfreie, ehrliche Begegnung mit
außereuropäischen Ländern, Völkern und Kulturen gipfelten in der noch heute gültigen Erklärung
von Bern, die Grundlage für die Bewertung von Kinder- und Jugendbüchern wurde. Mittlerweile ist
die Dritte Welt in der Jugendliteratur ein anerkanntes Thema. Laufend erscheinen gute und
empfehlenswerte Kinder- und Jugendbücher von europäischen oder anglo-amerikanischen
Schriftstellern über Länder der Dritten Welt. Bücher aus diesen Ländern jedoch gibt es nach wie vor
eher selten, haben sie doch schon bei der Herausgabe im eigenen Land mit großen Problemen zu
kämpfen und finden kaum Verleger und Übersetzer. Der Kinderbuchfonds Baobab, Terres des
Hommes und einige engagierte Verlage in Deutschland, der Schweiz und Österreich fördern im
Besonderen Kinder- und Jugendbücher von Autor/inn/en aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Die
Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendmedien, „Eselsohr“ stellt in einer eigenen Rubrik „Verlag
gesucht“ Texte aus der Dritten Welt vor, um gerade authentische Literatur aus Afrika, Asien oder
Lateinamerika zu fördern.10
Die nachkoloniale Kinderstube
Heute zeichnen sich in der Entwicklung des Kinder- und Jugendbuches zum Thema Dritte Welt zwei
Schwerpunkte ab11:
•Texte über die Dritte Welt, vornehmlich von Autor/inn/en aus Europa oder Nordamerika
geschrieben. Sie sind aus der Sicht westlicher Industrieländer verfasst. Sie wollen meist etwas
erklären, wollen aufklären, wollen zeigen, wie Kinder anderswo leben, wie schlecht es jenen und wie
gut dagegen uns geht. Es entsteht ein Bild aus Elend, Hunger und Ungerechtigkeit, das Mitleid und
paternalistische Gefühle hervorruft. Manche der dargestellten Kinderschicksale sind erschütternd,
erdrückend und hoffnungslos. Sie appellieren an die Solidarität der reichen Länder und wollen ein
Umdenken einleiten.
•Bücher von Autor/inn/en aus Afrika, Asien und Lateinamerika sprechen von ihrer eigenen Kultur.
Sie lassen uns teilhaben an Dingen, die für uns Europäer fremdartig sind, zeigen aber auch, wo
Annäherungen möglich sind, wo Gemeinsames sichtbar wird. Die Auseinandersetzung mit
ungewohnten Gedanken, Vorstellungen und Lebensweisen fällt nicht leicht, schockiert und stößt
ab, bietet aber auch die Chance, unser eigenes Denken zu erweitern und andere Seinsweisen zu
tolerieren, wenn auch das Verständnis dazu von beiden Seiten fehlt. Vor allem geht es um die
Förderung von Empathie, um jene latente Angst vor dem Fremden und Unbekannten abzubauen,
die meist Ursache von Vorurteilen, Diskriminierungen und Rassismus ist. Es gibt einige
Fragestellungen12, die gezielt eine rasche Analyse ermöglichen, ob ein Buch vorurteilsfrei und
authentische geschrieben ist:
1. Wer sind die Helden der Geschichte?
2. Wie werden Menschen verschiedener Völker beschrieben? Wie handeln sie, und wie gehen sie
miteinander um?
3. Wie werden andere Lebensformen beschrieben und andere Lebensnormen gewürdigt?
4. Was ist die Botschaft des Buches?
5. Wie sind die Illustrationen gestaltet? Wiederholen sie Klischees und bestätigen sie Vorurteile?
6.Wie sind Sprache und Stil des Buches? Gelingt es dem Autor, die Menschen und ihre Umgebung
authentisch zu beschreiben, oder liegt in Stil und Wortwahl schon eine Wertung?
7. Trägt das Buch dazu bei, bei Leser/inne/n eine solidarische Haltung zu verstärken?
8. Ist der Autor ein Einheimischer oder ein Europäer bzw. Amerikaner? Wer hat das Buch illustriert?
9. Wann ist das Buch erschienen?
Am Ende der Weißheit?
In der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur sind solche Bemühungen zur Überwindung der
Vorurteile schon Anfang der sechziger Jahre deutlich zu beobachten. Käthe Recheis hat aufgrund
ihrer wiederholten Reisen und Recherchen bei Indianerstämmen die konkreten Formen
indianischen Lebens beobachtet und beschrieben. Das für die Bewusstseinsänderung
bedeutendste Buch ist m.E. „Der lange Weg des Nataiyu“, in dem der Einfluss „weißer Erziehung“
auf das Welt- und Menschenbild junger Indianer von heute schonungslos dargestellt wird und deren
Widerstand und Identitätssuche zur Folge hatte. Neben vielen Bilder-Buch-Texten schrieb sie auf
Erfahrung beruhende informative Erzählungen oder mit Fotos bebilderte Reports über fremde
Völker, Lebensweisen und Kulturen. Besonders erwähnenswert ist die von ihr übersetzte und
redigierte „Indianerbibiliothek“ (Verlag Herder, ab 1989) in der indigene Vertreter zu Wort kommen
und authentische Texte vorgelegt werden. Ähnliches gelingt auch Renate Welsh in dem
Sammelband afrikanischer Erzählungen mit dem Titel „Ich verstehe die Trommel nicht mehr“.
Weiters wären Mira Lobes „Geggis“ (1989) zu nennen, aber auch Lene Mayer-Skumanz, die das
historische Bild der christlichen Mission mutig und wortgewaltig durcheinanderbeutelt. Ihre
schwarze Schwester Halleluja spricht ein zorniges Gebet: „Gott, ich hab’ was zu reden mit dir! Wirf
einen Blick in die Bibel, dorthin, wo Maria das große Loblied singt! Wofür will sie dich preisen und
loben? Dafür dass du die Hungrigen satt machst? Hör nur, ich lese dir vor: ‚Die Hungrigen
beschenkt er mit seinen Gaben, die Reichen schickt er mit leeren Händen fort.‘ Gott, hat sich Maria
geirrt? Oder gilt dies nicht für unser Land? Schau unsre Felder an, die jungen Hirsepflanzen! Heute
waren Regierungsbeamte da, mächtige Herren aus der Stadt. Sie haben befohlen: ‚Reißt die Hirse
heraus! Baut Baumwolle an, Erdnüsse und Kakao!‘ Gott, du weißt es: Von diesen Nüssen, diesem
Kakao werden unsere Kinder nicht satt. Aus dieser Baumwolle werden sie keine Kleider tragen! All
diese Güter werden ins Ausland verkauft. Unsere Bauern bekommen nichts von dem Gewinn, den
stecken andere ein. Reiche werden noch reicher. Ohne Hirsefelder aber müssen wir verhungern!
Gott, du hast mich, deine schwarze Dienerin, so geschaffen, dass ich nicht wegschauen kann, wenn
Arme leiden und ihnen Unrecht geschieht. Mach meine Stimme laut, wenn ich schreie! Gib mir
einen langen, kräftigen Atem, wenn ich Anklage erheb im Namen der Armen! Lass meine Worte wie
Pfeile aus Wind ins Gewissen der Mächtigen treffen, dorthin, wo vielleicht noch, von dir behütet, ein
Funken Barmherzigkeit glimmt.“ 13 Ein weiterer Meilenstein ist die von Peter Wesely 1991
herausgegebene Anthologie „Niños del mundo“ (Verlag St. Gabriel), eine Sammlung von
historischen und zeitgenössischen Berichten, von Begegnungen und Erlebnissen einzelner sowie
Sachinformationen z.B. über die Ausbeutung der Landbevölkerung in Lateinamerika. Einzelne
Geschichten, geschrieben von bekannten Kinderbuchautoren, erzählen über das Leben junger
Menschen, während die übrigen Beiträge von Entwicklungshelfern, Fachleuten und anderen
Kennern dieses Erdteils verfasst wurden, die ihr Leben in den Dienst der Armen und Ärmsten
gestellt haben. Sie geben Auskunft über die Lebenswirklichkeit, zeigen die Folgen der Konquista,
der Ausbeutung und Sklaverei. Voll Engagement beschreibt auch Robert Klement seine Eindrücke
während seines Aufenthalts in Brasilien in dem Buch „Die Straßenkinder von Rio“ (Verlag
Jugend&Volk, 1994) Er weist auf den unvorstellbaren Existenzkampf dieser Kinder hin und versucht
durch die Identifikation mit der Hauptfigur Solidarität bei den jugendlichen Leser/inne/n zu wecken.
Doch bleibt er seinem eurozentrischen Blickwinkel verhaftet, indem er informiert, erklärt und
wertet. Bei allem Wohlwollen und gut gemeintem Engagement wird aber auch deutlich, welch
gewichtige Unterschiede in der Rezeption entstehen, ob nun ein Autor aus seiner europäischen
Perspektive Ausschnitte aus der fremden Wirklichkeit wahrnimmt oder ob er als Angehöriger eine
Geschichte mit seinem eigenen kulturellen Hintergrund authentisch gestaltet. Ein Stück
österreichischer Entwicklungshilfe verpackt Wilhelm Pellert in seiner Erzählung „Ayana und das
goldene Tor“ (Neuer Breitschopf, Wien 1992). Es wird einleitend erzählt, wie junge Österreicher als
Entwicklungshelfer mit ihren Kenntnissen den afrikanischen Dorfbewohnern bei der Arbeit helfen
und eine Genossenschaft aufbauen. Als Austausch gibt es auch die Möglichkeit, dass junge
Afrikaner ein Jahr lang nach Europa kommen und im Fall Ayanas ein Jahr in die Schule gehen. Als
das schwarze Mädchen als unzivilisiert und primitiv bezeichnet wird, setzt sie sich folgendermaßen
zur Wehr: „Heißt das, dass ich eine Primitive bin? … Weißt du, wir in Togo können uns eine
Lehmhütte und ein Strohdach über dem Kopf bauen, wir können Stoffe für unsere Kleidung weben
und Hirse anbauen, ernten und zubereiten, und das nennst du primitiv? … Wenn man im Kreis
wohnt, wie in Afrika, dann sieht man einander, aber wer übereinander wohnt, sieht den anderen
nicht. Jeder will alles nur für sich kaufen! Keiner will tauschen und teilen. … In Europa würde alles
irgendwem gehören. Wald, Fluss, Berg und Tal. In Wirklichkeit gehört doch alles allen. … Es gibt
dazu ein afrikanisches Sprichwort: ‚Der Hund hebt an einer Hütte sein Bein und glaubt die Hütte
gehört ihm.‘ Und wenn ein Baum Früchte trägt, die für die Menschen nicht gut sind, sind sie
vielleicht für die Tiere gut. Und wenn seine Früchte auch für die Tiere nicht gut sind, so ist er immer
noch ein Schattenbaum!“ 14
BAOBAB – mehr als ein Schattenbaum
Baobab, so heißt der Affenbrotbaum, der in vielen Teilen Afrikas anzutreffen ist. Im Schatten seiner
weit ausladenden Äste pflegen die Menschen sich zu treffen und Geschichten zu erzählen.
BAOBAB ist ein Markenzeichen für eine bestimmte Reihe von Kinder- und Jugendbüchern
geworden, die authentisch Geschichten von Kindern und Jugendlichen in der Dritten Welt erzählen.
Sie wollen Vorurteilen entgegenwirken, jungen Leser/inne/n zutreffende Informationen über Leben
und Probleme von Menschen in außereuropäischen Kulturen vermitteln und sie miterleben lassen,
was junge Menschen in fernen Ländern bewegt und beschäftigt, freut und bedrückt. Vermittelt
werden authentische Aussagen durch den Inhalt von Text und Illustration, beantwortet werden
Fragen, die für Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt wichtig sind:
• Wie ist das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern?
• Wie sind die Pflichten, Freiheiten und materiellen Bedingungen?
• Welchen Anteil haben die Kinder am Leben und an den Gesprächen der Erwachsenen?
• Wie wird gelernt?
• Wie wirken sich die Probleme, mit denen eine Gesellschaft kämpft, auf die Kinder aus?
• Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen leben die Kinder, wie werden sie erwachsen?
Die Reihe BAOBAB, die vom Kinderbuchfond Baobab, der Erklärung von Bern zusammen mit terre
des hommes Schweiz herausgegeben wird, erscheint beim Verlag Nagel&Kimche für Deutschland
und die Schweiz und beim Verlag St. Gabriel für Österreich. Geboten werden Kinderbücher aus
Ländern der sogenannten Dritten Welt, ausschließlich geschrieben von afrikanischen, asiatischen
und lateinamerikanischen Autor/inn/en.
Ein Buch ist nicht die Welt
Ein Buch ist nicht die Welt. Es erzählt Menschengeschichten. „Aber wenn nur ein einziger junger
Mensch sich beim Lesen über soviel Leid und Verzweiflung empört, hat meine Arbeit an dem Buch
sich gelohnt“, meint Júlio Emílio Braz über seine packende Geschichte „Kinder im Dunkel“ (1996)
aus Brasilien. Die Bücher der Australierin Patricia Wrightson wurden kongenial von dem
österreichischen Schriftsteller Wolf Harranth ins Deutsche übertragen und geben Einblick in die
gewandelten Dimensionen: „Das alte Land liegt im Süden der Erde wie eine quer über den Globus
gelegte, sanft gewölbte offene Hand … an den grünen Küsten, da und dort in Städten
zusammengeschart, leben die Glücksjäger, das Gesicht zum Meer. Dem Glück gilt ihr Leben,
glücklich zu sein ist ihr Beruf und ihre Pflicht. Sie erforschen die Wege des Glücks und unterweisen
ihre Kinder darin; sie zerreden es und stopfen es in enge Gesetze, sie erkämpfen es und führen es
aus und ein. Vor allem aber kaufen und verkaufen sie das Glück. Da bleibt ihnen freilich keine Zeit,
einen Blick über die Schulter auf das alte Land zu werfen, das hinter ihrem Rücken liegt. … Die
Glücksjäger sind davon überzeugt, die wahren Herren des Landes zu sein, und glauben, dass alles
ihnen gehört. Und doch leben zwischen den Städten und jenseits der steilen, kahlen Berge auch
Menschen ganz anderer Art. Ihre Zahl ist gering, und sie sind weit übers Land verstreut: die Inländer
und jene, die sich einfach ‚das Volk‘ nennen. Die vom Volk sind dunkelhäutig, sie haben buschige
Brauen und wachsame Augen, und sie sind innig mit dem Land verbunden; sie spüren es unter
ihren bloßen Füßen. Gewiss, auch ihre Vorväter haben einmal das Land einem anderen Volk
weggenommen, aber das ist so lange her, dass sie das getrost vergessen können und behaupten
dürfen, einen Anspruch auf dieses Land zu haben – sofern nicht vielmehr das Land einen Anspruch
auf diese Menschen erhebt. … Und während die Glücksjäger, die Inländer und das Volk versuchen
sich näherzukommen und dabei immer weiter auseinandergeraten, lebt die älteste Rasse von allen
ganz im Geheimen mitten unter ihnen. Das sind jene Geschöpfe, die das Land selbst gebar: aus
roten Felsen und versonnenen Tümpeln, aus Staubwirbeln und abgelegener Einsamkeit, aus
grünem Dschungel und kobalbtlauen Salzsträuchern. Die Leute aus dem Volk kennnen sie seit
langem und erwähnen sie kaum. Und die anderen, die Glücksjäger und die Inländer? Sollte wirklich
jemals einer von ihnen auf einen Erdgeist stoßen, verschlägt ihm das gleich die Sprache und
deshalb ist uns keine derartige Begegnung überliefert.“ 15 Bücher wie diese, deren Bilderwelten sich
nicht an gängigen Kindheitsmustern orientieren, deren Textgestaltung behutsam den fremden
Erzählrythmus nachgestaltet, erweitern die inneren Bilder einer anderen Welt und regen zum
Nachdenken in vielfacher Hinsicht an. Abschließend sei die kubanische Schriftstellerin Hilda
Perera zitiert, die in ihrem Buch „Traumtausch“ ein facettenreiches Bild von den Nord-SüdSpannungen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gestaltet und resümierend feststellt: „Seit
ich klein war, hatte ich so viele Kinder auf dem Boden schlafen sehen; armen Kindern hatte ich
zugeschaut, wie sie an felsigen Stellen im Meer badeten, statt an den sauberen, blauen Stränden,
an die ich Privilegierte ging. Von klein auf hatte ich Mitgefühl mit armen Leuten, machte mir
Vorwürfe, dass es sie gab. Später dann mein ganzes Lateinamerika mit armen Leuten, Indios,
Analphabeten, unbezahlbaren Schulden, Unterentwicklung und Arbeitslosigkeit. Dort gärt es,
solange ich denken kann. Und plötzlich sehe ich mich selbst: ich kann nichts ausrichten. Ich bin
per Definition, durch meine Umgangsformen, meine Bildung, aus Mangel an Läusen die ‚Senora‘.
Über mir schlägt eine Flut von Gewissensbissen zusammen, aber ich weiß nicht, welche Sünden
ich begangen haben soll. … Jetzt weiß ich, dass es mir nicht gelingen wird, Mercedes (illegales
Dienstmädchen aus Honduras) aus ihren fatalen Erinnerungen herauszuhelfen oder sie von ihrer
Vergangenheit zur kurieren. Aber Maria, ihre Tochter schon. Maria werde ich als Anwältin oder
Ärztin oder Bankpräsidentin erleben. Und sie wird drei Sprachen sprechen: Die erste Generation
arbeitet, die zweite schafft den Durchbruch; in der dritten erinnert sich niemand mehr daran, dass
die Großmutter einmal barfuß herumgelaufen ist.“ 16 Lesen sprengt Grenzen, die Menschen auf der
ganzen Welt stehen einander näher, als es die Landkarte vermuten lässt. Kinder- und
Jugendbücher werden vom Prinzip Hoffnung getragen, vermitteln die Utopie einer humanen, einer
besseren Welt, der einen Welt: „Es ist die Literatur, die das Bild eines Landes bestimmt, gerade
indem sie allen fertigen Bildern mit Hartnäckigkeit und sanfter Gewalt widerspricht.“ 17
Anmerkungen:
1) Rudyard Kipling: Das zweite Dschungelbuch. Neu übersetzt von Gisbert Haefs. Zürich: Haffmans Verlag, 1989, 2. Aufl.,
S. 237f.
2) Erklärung von Bern-Dokumentation, 5/95, S. 3.
3) Vgl. dazu: Karl Luger, Vergnügen, Zeitgeist, Kritik. Streifzüge durch die populäre Kultur: Österreichischer Kunst- und
Kulturverlag, Wien 1998, S. 152ff.
4) Margret Wannemacher-Zehnder: Fremde Welt – ein Spiegel unserer eigenen Welt? In: Tausend und Ein Buch,
#5/1997, S. 9.
5) Gerhard Haas (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Handbuch. Reclam: Stuttgart 1984, 3. Aufl., S. 99.
6) Mamood Mamdani, ugandischer Sozialwissenschaftler, in: Guck mal über den Tellerrand, hg. Von der deutschen
Welthungerhilfe, 1995, S. 10.
7) Lukas Hartmann, ISIS, in: Eselsohr 9/98, S. 7.
8) Zitiert aus: Fremde Welten, hg. Kinderbuchfonds Babobab Basel, 1997, 12. Aufl., S. 5.
9) Luciano, Schamane der Tarahumara, in: Unser Amerika, hg. von der Gesellschaft für bedrohte Völker, Jugend&Volk:
Wien 1992, S. 7.
10) Weitere Auskünfte, auch über Bücher, erhält man bei: Claudia Stein, Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus
Afrika, Asien und Lateinamerika e.V., Postfach 100116, 60001 Frankfurt/Main, Tel.: 0692/2102-270, Fax: 0692/2102-227.
aus: Kleedorfer, Jutta: Vom Wilden zum Menschen. Ein Streifzug durch die Dritte Welt in der
Kinder- und Jugendliteratur, Medien-Impulse, 7 (1998), 26, S. 33–41.
Kipling, Rudyard
Kim
Oh ye who tread the Narrow Way
By Tophet-flare to Judgment Day,
Be gentle when »the heathen« pray
To Buddha at Kamakura!
[Ihr, die ihr geht bei Höllenglast
den Schmalen Pfad zum Jüngsten Tag,
seid milde, wenn »Die Heiden« beten
zum Buddha in Kamakura!]
Er saß, allen behördlichen Anordnungen trotzend, rittlings auf der Kanone Zam-Zammah auf ihrem
Ziegelsockel gegenüber dem alten Ajaib-Ghar – dem Wunder-Haus, wie die Eingeborenen das
Museum von Lahore nennen. Wer Zam-Zammah besitzt, jenen »feuerspeienden Drachen«, der
besitzt den Punjab, denn das große Geschütz aus grüner Bronze ist immer wichtigstes Beutestück
des Eroberers. Es gab eine gewisse Rechtfertigung für Kim– mit den Füßen hatte er Lala Dinanaths
Sohn von den Schildzapfen gestoßen – , da die Engländer den Punjab besaßen und Kim Engländer
war. Zwar war er schwarzgebrannt wie nur irgendein Eingeborener; zwar benutzte er mit Vorliebe die
Umgangssprache und seine Muttersprache nur in einem verstümmelten, ungewissen Singsang;
zwar verkehrte er mit den kleinen Jungen des Basars auf völlig gleichem Fuß; aber Kim war ein
Weißer – ein armer Weißer, einer von den allerärmsten. Die halbblütige Frau, die sich um ihn
kümmerte (sie rauchte Opium und gab vor, an dem Platz, wo die billigen Droschken stehen, einen
Laden mit gebrauchten Möbeln zu betreiben), erzählte den Missionaren, sie sei die Schwester von
Kims Mutter; aber seine Mutter war Kindermädchen in der Familie eines Obersten gewesen und
hatte Kimball O’Hara geheiratet, einen jungen Fahnensergeanten von den Mavericks, einem irischen
Regiment. Später nahm er eine Stellung bei der Sind-Punjab-Delhi-Eisenbahn an, und sein
Regiment kehrte ohne ihn in die Heimat zurück. Seine Frau starb in Firozpur an Cholera, und O’Hara
begann zu trinken und mit dem dreijährigen Kind, das lebhafte Augen hatte, die Bahnlinie
entlangzustromern. Gesellschaften und Geistliche, die sich um den Jungen sorgten, suchten ihn
einzufangen, aber O’Hara trieb weiter, bis er der Frau begegnete, die Opium nahm, und von ihr lernte
er den Geschmack daran und starb, wie arme Weiße in Indien sterben. Beim Tod bestand sein
Besitz aus drei Papieren – das eine nannte er sein »ne varietur«, weil diese Wörter auf dem Papier
unter seiner Unterschrift standen; das zweite sein »Klarierungs-Zeugnis«. Das dritte war Kims
Geburtsschein. Diese Dinger, pflegte er in seinen glorreichen Opiumstunden zu sagen, würden aus
dem kleinen Kimball noch einmal einen Mann machen. Kim solle sich auf keinen Fall von ihnen
trennen, denn sie seien Teil einer großen Magie – solch einer Magie, wie Männer sie drüben hinter
dem Museum betreiben, in dem großen blau-weißen Jadū-Ghar – dem Zauber-Haus, wie wir die
Freimaurer-Loge nennen. Alles würde, sagte er, irgendwann in Ordnung kommen, und Kims
Horn würde erhöht werden zwischen Säulen – ungeheuren Säulen – der Schönheit und Kraft. Der
Oberst selbst, auf einem Pferd sitzend, an der Spitze des feinsten Regiments der Welt, würde sich
um Kim kümmern – den kleinen Kim, der es besser haben sollte als sein Vater. Neunhundert
erstklassige Teufel, deren Gott ein Roter Stier auf einem grünen Feld sei, würden sich um Kim
kümmern, wenn sie O’Hara nicht vergessen hätten – den armen O’Hara, der Rottenführer auf der
Firozpur-Linie gewesen war. Dann weinte er immer bitterlich, in seinem zerbrochenen Binsenstuhl
auf der Veranda. So kam es, daß die Frau nach seinem Tod Pergament, Papier und Geburtsschein in
eine Amulettscheide aus Leder nähte, die sie Kim um den Hals hängte. »Und irgendwann«, sagte
sie, wobei sie sich verworren an O’Haras Prophezeiungen erinnerte, »wird deinetwegen ein großer
Roter Stier auf einem grünen Feld kommen, und der Oberst auf seinem großen Pferd, ja, und« – hier
fiel sie ins Englische – »neunhundert Teufel.« »Ah«, sagte Kim, »ich werde daran denken. Ein Roter
Stier und ein Oberst auf einem Pferd werden kommen, aber zuerst, hat mein Vater gesagt, kommen
die beiden Männer, die den Boden für diese Dinge bereiten. Genauso, hat mein Vater gesagt, haben
sie es immer gemacht; und überhaupt ist es immer so, wenn Männer Magie machen.« Wenn die
Frau Kim mit diesen Papieren zum örtlichen Jadū-Ghar geschickt hätte, wäre er natürlich von der
Provinz-Loge aufgenommen und ins Freimaurer-Waisenhaus in den Bergen geschickt worden; aber
was sie von Magie gehört hatte, machte sie mißtrauisch. Kim hatte ebenfalls seine eigenen
Ansichten. Als er in die Flegeljahre kam, lernte er, Missionare und ernst dreinblickende weiße
Männer zu meiden, die wissen wollten, wer er war und was er machte. Denn Kim machte mit
großem Erfolg gar nichts. Er kannte zwar die wunderbare, umwallte Stadt Lahore vom Delhi-Tor bis
zum äußeren Festungsgraben, war bestens vertraut mit Männern, deren Dasein merkwürdiger war
als alles, was einst Harun al-Raschid träumte, und selbst lebte er ein Leben, das so phantastisch
war wie das in Tausendundeiner Nacht, aber Missionare und Sekretäre mildtätiger Gesellschaften
waren blind für die Schönheit dieses Daseins. Kims Spitzname im Viertel war »Kleiner Freund der
ganzen Welt«; und da er geschmeidig und unauffällig war, übernahm er oft Botengänge für
gewandte und feine junge Herren, nachts, auf den dichtbelebten Hausdächern. Natürlich ging es
um Liebeshändel – das wußte er wohl, so wie er von allem Übel wußte, seit er sprechen konnte – ,
aber was er daran liebte, war das Spiel um des Spieles willen – verstohlen durch dunkle Kanäle und
Gassen streifen, Wasserrohre hinaufkriechen, Anblick und Klang der Frauenwelt auf den
Dachterrassen und die jähe Flucht von Dach zu Dach im Schutz des heißen Dunkels. Dann gab es
da heilige Männer, aschebeschmierte Fakire neben ihren Schreinen aus Ziegeln, unter den Bäumen
am Flußufer; mit ihnen war er gut bekannt – er begrüßte sie, wenn sie von Bettelreisen
zurückkehrten, und wenn niemand in der Nähe war, aß er mit ihnen aus einer Schüssel. Die Frau,
die sich um ihn kümmerte, bedrängte ihn unter Tränen, europäische Kleidung zu tragen – Hosen,
ein Hemd, einen abgeschabten Hut. Kim fand es einfacher, in Hindu- oder Mohammedanertracht zu
schlüpfen, wenn er mit gewissen Geschäften befaßt war. Einer der feinen jungen Herren – und zwar
jener, der in der Nacht des Erdbebens tot auf dem Grund eines Brunnens gefunden wurde – hatte
ihm einmal eine komplette Hindu-Ausstattung geschenkt, die Kleidung eines Straßenjungen aus
niedriger Kaste, und Kim verwahrte sie in einem geheimen Versteck unter einigen Balken von Nila
Rams Zimmerplatz, hinter dem Obersten Gerichtshof des Punjab, wo die duftenden Deodarstämme
zum Auswittern liegen, nachdem sie den Ravi herabgetrieben sind. Wenn Geschäfte oder Unfug
angesetzt waren, holte Kim seine Besitztümer hervor; im Morgengrauen kam er dann zur Veranda
zurück, völlig erschöpft davon, daß er am Ende einer Hochzeitsprozession gejubelt oder bei einer
Hindufeier gejohlt hatte. Manchmal gab es im Haus etwas zu essen, häufiger nichts, und dann ging
Kim wieder los, um mit seinen eingeborenen Freunden zu essen. Während er mit den Fersen gegen
Zam-Zammah trommelte, wandte er sich manchmal von seinem Wer-ist-der-Herr-der-Burg-Spiel
mit dem kleinen Chota Lal und Abdullah, dem Sohn des Zuckerwerk-Verkäufers, um dem
einheimischen Polizisten, der am Museumstor neben Reihen von Schuhen Wache stand, eine
Frechheit zuzurufen. Der dicke Punjabi grinste nachsichtig: Er kannte Kim schon ewig. Ebenso der
Wasserträger, der aus seinem Schlauch aus Ziegenfell Wasser auf die trockene Straße rieseln ließ.
Ebenso Jawahir Singh, der Tischler des Museums, der sich über neue Packkisten beugte.
Überhaupt kannten ihn alle in Sichtweite, außer den Bauern aus dem Hinterland, die zum WunderHaus hinaufliefen, um die Dinge zu betrachten, die Leute in ihrer eigenen Provinz und anderswo
verfertigten. Das Museum war indischen Künsten und Handwerkserzeugnissen gewidmet, und
jeder, der Weisheit suchte, konnte den Kurator um Erklärungen bitten. »Runter! Runter! Laß mich
rauf!« rief Abdullah; er kletterte Zam-Zammahs Rad hinauf. »Dein Vater, der bäckt Zuckerwerk,
deine Mutter klaut das ghi«, sang Kim. »Alle Moslems sind längst von Zam-Zammah
runtergefallen!« »Laß mich rauf!« kreischte der kleine Chota Lal mit seiner goldbestickten Kappe.
Sein Vater war vielleicht eine halbe Million in Sterling wert, aber Indien ist das einzige
demokratische Land der Welt. »Die Hindus sind auch von Zam-Zammah runtergefallen. Die
Moslems haben sie runtergeschubst. Dein Vater, der bäckt Zuckerwerk ...« Er hielt inne; um die
Ecke, vom lärmenden Moti-Basar her, kam nämlich mit schleppenden Schritten ein Mann, wie Kim,
der alle Kasten zu kennen glaubte, ihn noch nie gesehen hatte. Er war beinahe sechs Fuß groß,
gekleidet in Falten über Falten eines schmutzigbraunen Stoffs, ähnlich einer Pferdedecke, und
keine einzige dieser Falten konnte Kim einem ihm bekannten Gewerbe oder Beruf zuschreiben. An
seinem Gürtel hingen ein langer, durchbrochen gearbeiteter Federbehälter aus Eisen und ein
hölzerner Rosenkranz, wie heilige Männer ihn tragen. Auf dem Kopf trug er eine spitze Mütze mit
Ohrenklappen. Sein Gesicht war gelb und runzlig wie das von Fook Shing, dem chinesischen
Stiefelmacher im Basar. Seine Augen bogen sich an den Winkeln hoch und sahen aus wie schmale
Schlitze aus Onyx. »Wer ist das denn?« sagte Kim zu seinen Kameraden. »Vielleicht ist es ein
Mensch«, sagte Abdullah; er hatte einen Finger im Mund und starrte. »Ohne Zweifel«, erwiderte
Kim; »aber er ist kein Mensch aus Indien, wie ich ihn je gesehen hab.« »Vielleicht ein Priester«,
sagte Chota Lal; er entdeckte den Rosenkranz. »Sieh mal! Er geht ins Wunder-Haus!« »Nein, nein«,
sagte der Polizist; dabei schüttelte er den Kopf. »Ich verstehe Eure Rede nicht.« Der Constable
sprach Punjabi. »O Freund der ganzen Welt, was sagt er?« »Schick ihn her«, sagte Kim; er rutschte
von Zam-Zammah herab und schwenkte dabei seine bloßen Füße. »Er ist ein Fremder, und du bist
ein Büffel.« Der Mann wandte sich hilflos ab und kam langsam zu den Jungen. Er war alt, und sein
wollener Kaftan roch noch nach dem stinkenden Beifuß der Gebirgspässe. »O Kinder, was ist
dies große Haus?« sagte er in sehr gutem Urdu. »Das Ajaib-Ghar, das Wunder-Haus!« Kim redete
ihn nicht mit einem Titel an – etwa Lala oder Mian. Er konnte nicht erraten, welchem Glauben der
Mann angehörte. »Ah! Das Wunder-Haus! Darf jeder eintreten?« »So steht es über der Tür
geschrieben – jeder darf hinein.« »Ohne Bezahlung?« »Ich gehe ein und aus. Bin ich ein Bankier?«
Kim lachte. »Ach! Ich bin ein alter Mann. Ich wußte es nicht.« Dann tastete er nach seinem
Rosenkranz und wandte sich halb zum Museum um. »Was ist Eure Kaste? Wo steht Euer Haus?
Kommt Ihr weit her?« fragte Kim. »Ich bin über Kulu gekommen – von jenseits des Kailas –,
aber was wißt ihr denn? Aus den Bergen, wo« – er seufzte – »die Luft und das Wasser frisch und
kühl sind.« »Aha! Khitai [ein Chinese]«, sagte Abdullah stolz. Fook Shing hatte ihn einmal aus dem
Laden gejagt, weil er den Götzen über den Stiefeln angespuckt hatte. »Pahari [ein Bergmensch]«,
sagte der kleine Chota Lal. »Ja, Kind – ein Bergmensch aus Bergen, die du niemals sehen wirst.
Hast du schon mal von Bhotiyal [Tibet] gehört? Ich bin kein Khitai, sondern ein Bhotiya [Tibeter],
wenn ihr es wissen müßt – ein Lama – oder auch, in eurer Sprache, ein Guru.« »Ein Guru aus Tibet«,
sagte Kim. »So einen Mann habe ich noch nie gesehen. Die in Tibet sind dann also Hindus?« »Wir
folgen dem Mittleren Pfad und leben in Frieden in unseren Lamaklöstern, und ich bin aufgebrochen,
um die Vier Heiligen Stätten zu sehen, bevor ich sterbe. Jetzt wißt ihr, die ihr Kinder seid, so viel wie
ich, der ich alt bin.« Er lächelte gütig auf die Jungen hinab. »Hast du gegessen?« Unbeholfen
tastete er im Gewand vor seiner Brust herum und zog eine abgenutzte, hölzerne Bettelschale
hervor. Die Jungen nickten. Alle Priester, die sie kannten, bettelten. »Ich will noch nicht essen.« Er
drehte seinen Kopf wie eine alte Schildkröte in der Sonne. »Ist es wahr, daß es viele Bildwerke gibt
im Wunder-Haus von Lahore?« Er wiederholte die letzten Wörter wie jemand, der sich einer Adresse
versichern will. »Das stimmt«, sagte Abdullah. »Es ist voll von heidnischen būts. Du bist auch so
ein Götzendiener.« »Kümmer dich nicht um den da«, sagte Kim. »Das Haus gehört der Regierung,
und es gibt darin keine Götzendienerei, sondern nur einen Sahib mit weißem Bart. Komm mit, ich
zeig es dir.« »Fremde Priester essen kleine Jungen«, flüsterte Chota Lal. »Und er ist ein Fremder
und ein būt-parast [Götzendiener]«, sagte Abdullah, der Mohammedaner. Kim lachte. »Er ist was
Neues. Rennt ihr doch zu euren Müttern und kriecht ihnen auf den Schoß; da seid ihr sicher.
Komm!« Kim ließ das zählende Drehkreuz klicken; der alte Mann folgte und blieb verwirrt stehen. In
der Eingangshalle standen die größeren Gestalten der gräko-buddhistischen Bildhauerei,
angefertigt vor so langer Zeit, daß nur die Gelehrten es wissen, von vergessenen
Handwerkskünstlern, deren Hände nicht ohne Geschick versucht hatten, den geheimnisvoll
vermittelten griechischen touch zu erfühlen. Da gab es Hunderte von Stücken, Friese mit Gestalten
in Relief, Fragmente von Statuen und von Figuren wimmelnde Platten, die einmal die Ziegelwände
der buddhistischen stupas und viharas des Nordlands bedeckt hatten und nun, ausgegraben und
etikettiert, der Stolz des Museums waren. Staunend und mit offenem Mund wandte sich der Lama
hierhin und dorthin, und schließlich hielt er verzückt und hingerissen inne vor einem großen
Hochrelief, das eine Krönung oder Apotheose des Buddha darstellte. Der Meister saß in dieser
Darstellung auf einem Lotos, dessen Blätter so tief unterhöhlt waren, daß sie beinahe losgelöst
schienen. Es umgab Ihn eine anbetende Hierarchie von Königen, Ältesten und Buddhas der Vorzeit.
Unter ihnen waren lotosbedeckte Gewässer mit Fischen und Wasservögeln. Zwei devas mit
Schmetterlingsflügeln hielten ein Blumengewinde auf Sein Haupt; über ihnen stützten zwei weitere
einen Sonnenschirm, den der juwelenbesetzte Kopfschmuck des Bodhisat überragte. »Der HErr!
Der HErr! Es ist Sakya Muni selbst«, sagte der Lama beinahe schluchzend, und mit verhaltender
Stimme begann er die herrliche buddhistische Anrufung:
To Him the Way – the Law – Apart –
Whom Maya held beneath her heart,
Ananda’s Lord – the Bodhisat.
[Sein sind allein Pfad und Gesetz,
den Maya unterm Herzen barg:
Anandas Herr, der Bodhisat.]
»Und Er ist hier! Das Höchst Vortreffliche Gesetz ist auch hier. Meine Pilgerreise hat gut begonnen.
Und welch ein Kunstwerk! Welch ein Kunstwerk!« »Da drüben ist der Sahib«, sagte Kim; er
verdrückte sich zur Seite, zwischen die Schaukästen des Flügels der Kunst- und
Handwerkserzeugnisse. Ein weißbärtiger Engländer schaute den Lama an, der sich würdevoll
umwandte, ihn grüßte und nach einigem Tasten ein Notizbuch und ein Stück Papier hervorzog. »Ja,
das ist mein Name.« Der Engländer lächelte über die unbeholfene, kindliche Druckschrift.
http://www.fischerverlage.de/media/fs/308/LP_978-3-596-90526-3.pdf (Auszug aus dem ersten
Kapitel)
Wildnis – für Kinder geschlossen
In der schönen, neuen Sicherheitsgesellschaft ist kein Platz mehr für Abenteuer. Und auch kein
Platz mehr für Literatur, befürchtet Michael Chabon.
Als ich aufwuchs, grenzte unser Haus an den Wald, ein dünnes Zwei-Hektar-Überbleibsel einer
einst mächtigen Wildnis. Das war in einer Stadt in Maryland, deren aufgeklärte Planer für ein paar
solcher bleibender Streifen Grün gesorgt hatten. Sie waren denkbar zahm, unsere Wälder, und doch
füllten sie sich des Nachts noch immer mit unermesslichen Schatten. Im Winter waren sie tief
verschneit und schienen all die gewöhnlichen Geräusche deines Körpers und deiner Welt zu
schlucken. In diesen Wäldern konnten immer noch schaurige Dinge geschehen. Sie waren der Ort,
wohin sich die bösen Buben flüchteten, nachdem sie an Halloween deine Fenster mit Eiern
beschmissen und deine Kürbisse zermatscht in der Einfahrt hatten liegen lassen. Indianer gab es in
diesen Wäldern keine, aber es hatte sie dort gegeben. Wir hörten in der Schule von ihnen. PatuxentIndianer, hatte man sie genannt. Schnell, zielsicher, still wie Wild. Verschwunden bis auf ihre
wunderbaren Ortsnamen: Patapsco, Wicomico, Patuxent.
Eine unbedeutende, aber nicht zu leugnende romantische Aura heftete der Geschichte Marylands
an: geflohene englische Katholiken, Kavaliere mit Ringellocken und Schulterkragen, Piraten,
Schlachten, die Verheerung Washingtons, "The Star-Spangled Banner", Harriet Tubman, Antietam.
Und wenn du in die Wälder hinter unserem Haus hinausliefst, konntest du diese Geschichte spüren,
die Schlachten und Dramen und Romanzen, all diese Geschichten. Du konntest sie in deine Spiele
einbauen, in deine Fantasien, deine einsamen Fluchten aus dem Durcheinander oder Dämmer
deines Lebens daheim. Meine Freunde und ich brachten Stunden dort zu, Krieger, Kreuzfahrer,
Kommandotruppen, Blaue und Graue.
Doch die Wildnis der Kindheit, wie jedes Kind, das, wie mein Vater, in den Vierzigerjahren auf den
Straßen von Flatbush aufwuchs, beschwören könnte, hatte nichts mit Bäumen oder Natur zu tun.
Ich konnte mich auf Brachen und Spielplätzen verlieren, in der Gasse hinter dem Wawa, in den
Vorgärten der Nachbarn, auf den Bürgersteigen. Überall, kurzum, wohin ich mit meinem Fahrrad
kam, einem Schwinn Typhoon von 1970, coladosenrot mit einem Bananensattel, Sissybar und
Chopper-Lenker. Mit ihm fuhr ich die Nachbarschaft im Umkreis einer halben Meile ab. Ich kannte
die Häuser aller meiner Klassenkameraden, wusste, wie viele Haustiere und Geschwister sie hatten,
welche Sorte Eis es bei ihnen gab und wie gefährlich ihre Väter werden konnten.
Matt Groening hat einen großartigen "Life in Hell"-Strip in Form von Bongos Nachbarschaft
gezeichnet. Am einen Ende der Straße, die sich zwischen Gärten und Häusern wand, stand Bongo,
der einohrige Hasenjunge. Am anderen Ende stand seine Mutter, kurz davor, in die Luft zu gehen Bongo war schon wieder zu spät zum Abendessen. Zwischen Mutter und Sohn lagen die Gefahren bissige Hunde, vagabundierende Hooligans, ein in Bongo verknalltes Mädchen - einer jeden Reise
durch die Wildnis: todbringende Tiere, feindliche Menschen, Köder und Fallen. Der Strip fing die
Karten, die Kinder in ihren Köpfen endlos verbessern und verfeinern, perfekt ein. Kindheit ist ein
Zweig der Kartografie.
Die meisten großen Abenteuergeschichten, vom "Hobbit" bis zu den "Sieben Säulen der Weisheit",
sind mit einer Karte versehen. Das ist so, weil jede Abenteuergeschichte auch die Geschichte einer
Landschaft ist, der Beziehung von Menschen und Topografie. Jede Abenteuergeschichte ist nur in
Bezug auf die besonderen geografischen Gegebenheiten denkbar, die, buchstäblich, ihren Kurs
festlegen. Aber es gibt noch einen anderen, tieferen Grund dafür, dass sich in oder am Ende einer
Abenteuergeschichte verlässlich eine Karte findet. Wir glauben nämlich an die Idee einer Reise im
Lehnstuhl und stellen uns einen Leser vor, der in einer packenden Geschichte oder der Schilderung
einer Polarexpedition in unbekannte, halb sagenhafte Gegenden die Sorte Heldentum und Gefahr
sucht, auf die er oder sie im Leben nicht hoffen kann. Das ist eine falsche Vorstellung. Die Leute
lesen – und schreiben – Abenteuergeschichten, weil sie selbst Abenteurer gewesen sind. Und das
große ursprüngliche Abenteuer ist, war, sollte die Kindheit sein, die von Entbehrung, Mut, ständiger
Wachsamkeit, Gefahr und manchmal von Unglück erzählt. Meist ziehen die jungen Abenteurer
dabei nur mit einer fragmentarischen Karte los, einer Karte, die er oder sie aus dem Flickwerk
persönlicher Missgeschicke, der Gutenachtlektüre und der Überlieferung durch die Nachbarskinder
gewonnen hat.
Bezeichnend, wie viele Geschichten für Kinder, darunter viele Klassiker, von den Abenteuern eines
Kindes, öfter noch einer Gruppe von Kindern erzählen, die sich in einer Welt bewegen, in der
Erwachsene, insbesondere Eltern, kaum eine oder gar keine Rolle spielen. Denken Sie an "Der König
von Narnia" oder die "Peanuts". Philip Pullmans Trilogie "His Dark Materials" präsentiert mit
Cittàgazze, einer Stadt, deren Erwachsene gestohlen worden sind, eine packende Version dieser
Welt. Dann wäre da noch der blühende Zweig einer Kinderliteratur, die von ganz gewöhnlichen
zeitgenössischen Kindern erzählt, die ihre Abenteuer in einer ganz zeitgenössischen, nichtfantastischen Welt erleben, auf die die Erwachsenen wenigstens eine Zeit lang keinen
unmittelbaren Einfluss haben - die "Superfritz"-Bücher zum Beispiel, die "Great Brain"-Bücher, die
"Henry Reed"- und "Homer Price"-Bücher, die Geschichten des "Mad Scientists' Club".
Als Kind mochte ich eine Reihe von, ich bin sicher, großteils fiktiven Biografien besonders gern, die
die Kindheit berühmter Amerikaner - Washington, Jefferson, Kit Carson, Henry Ford, Thomas
Edison, Daniel Boone - dramatisierten. Ein nahezu universelles Element dieser Geschichten war die
ungeheure Menge an Zeit, die diese berühmten historischen Jungs angeblich damit verbracht
hatten, mit ihren Busenfreunden, netten Indianerjungen oder einem treuen Sklaven, durch die einst
mächtige Wildnis zu ziehen, die Wildnis der Kindheit, von erwachsener Aufsicht gänzlich befreit.
Obwohl die Wildnis, die mir zur Verfügung stand, auf einen bloßen Grünstreifen ihrer vorherigen
Gewaltigkeit geschrumpft war, obwohl sich die Kindheit in den Jahren, die zwischen den
Abenteuern des jungen George Washington auf seiner Seite des Potomac und meinen VorstadtExpeditionen am anderen Ufer, so sehr verändert hatte, gab es da noch ein Kontinuum der Kindheit.
Das Virginia des 18. Jahrhunderts, das Maryland des 20., das Großbritannien des 10., Narnia,
Nimmerland, Prydian - es war alles die gleiche Wildnis. Die sagenhaften Wanderungen Boones und
Carsons und des jungen Daniel Beard (des Vaters der amerikanischen Boy Scouts), die Kriegsspiele
und Expeditionen, von denen ich las, die furchterregende Erfahrung echter Gefahr, ohne dass
Mutter und Vater hätten helfen können, war mir - und ich glaube, das ist mein zentraler Punkt völlig vertraut.
Wenn ich heute über die Wildnis der Kindheit nachdenke, überrascht mich die unglaubliche Freiheit,
die mir meine Eltern gaben, in dieser Wildnis das Abenteuer zu suchen. Unsere Vorstellung von
Kindheit hat seitdem einen sehr tiefergehenden, sehr bedeutsamen Wandel erlebt. Die Wildnis der
Kindheit ist verschwunden, die Zeit des Abenteuers ist vorbei. Das von den Kindern beherrschte
Land, in das sich ein Kind aus dem benachbarten Königreich der Erwachsenen wenigstens für ein
paar Stunden jedes Tages flüchten konnte, ist zu großen Teilen besetzt, vereinnahmt, kolonisiert,
vom Nachbarland geschluckt worden.
Der Reisende lernt schnell, dass der einzige Weg, eine Stadt kennenzulernen, sie im Kopf wie
provisorisch auch immer zu kartieren und sich nach und nach in ihr zurecht zu finden, darin
besteht, sie allein zu erkunden, am besten zu Fuß, und sich dann so gründlich wie möglich zu
verlaufen. Ich war, auf Lesereise, vielleicht ein halbes Dutzend Mal in Chicago und kann doch North
Shore und North Side noch immer nicht unterscheiden, weil ich jedes Mal, wenn ich da war,
abgeholt und herumkutschiert wurde und jemand, der sich mit den Wundern und Wirren der Stadt
viel besser auskannte als ich, mir die Sehenswürdigkeiten zeigte.
Das ist der allumspannende Tür-zu-Tür-Bringeservice, den wir Erwachsenen für unsere Kinder auf
die Beine gestellt haben. Wir planen ihre Erlebnisse, wir fahren sie vom Haus des einen zum Haus
des anderen, sodass sie nie die Chance bekommen, die unerforschten Länder dazwischen zu
entdecken. Wenn sie Glück haben, schicken wir sie zum Spielen in den Garten, wo man sie
einzäunen kann und, in Extremfällen, sogar mit Kameras überwachen. Als meine Familie und ich
nach Berkeley zogen, zählte zur Familie nebenan auch ein neun Jahre altes Mädchen; zwei Häuser
weiter wohnte ein neun Jahre alter Junge, exakt gleich alt und, wie sie, in der Straße geboren. Die
beiden hatten sich nie kennengelernt.
Die Sandplätze und Bachbetten, die Gassen und Wälder sind zugunsten eines Systems von
Reservaten aufgegeben worden. Fröhliche Freizeitzentren, von Erwachsenen entworfen und
geplant, mit keinen weißen Flecken bis auf die Türen mit der Aufschrift "Nur für Mitarbeiter". Wenn
Kinder Radfahren oder Rollerskaten, dann gerüstet wie für die Schlacht, und üblicherweise sind ihre
Eltern in der Nähe.
Für all das gibt es Gründe. Dass ist teils Folge einer Warentest-Mentalität, des generell
gewachsenen Bewusstseins für Sicherheit und Gefahr. Hinzufügen ließen sich noch die steigenden
Ansprüche der Versicherungsmathematik und die amerikanische Eigenart, sich mit
Schadensersatzklagen die Zeit zu vertreiben. Der Hauptgrund für die Beschneidung des
Abenteuers, die Schließung der Wildnis jedoch ist die gewachsene Angst, die wir alle vor dem
Missbrauch unserer Kinder durch Fremde haben; wir fürchten die Wölfe der Wildnis. Diese Angst ist
nicht rational; 1999 etwa lag die Zahl der Missbrauchsfälle durch Fremde nach Angaben des
amerikanischen Justizministeriums bei 115. Solche Verbrechen sind zu allen Zeiten etwa gleich
häufig geschehen; Kindsein ist heute nicht mehr und nicht weniger gefährlich denn je. Nur ist uns
das Grauen heute viel vertrauter. Zeitweilig sieht es so aus, als würden Eltern absichtlich dazu
angehalten, um das Leben ihrer Kinder zu fürchten, auch wenn nur ein Zyniker auf die Idee käme,
damit ließe sich Geld verdienen.
Die Gefährdung unserer Kinder – dieses Dauerthema des Lebens, der Kunst, der Literatur der
vergangenen 20 Jahre – hallt so gewaltig wider, weil wir als Eltern auf den vergifteten Nachlass der
modernen Industriegesellschaft schauen, auf die Welt des Streits und der Radioaktivität, der
Klimakatastrophe und Überbevölkerung, und uns schuldig dabei fühlen. So wie das nationale
Schuldgefühl nach der Auslöschung der Indianer zu einer Art Kult um den Indianer geführt hat,
werden uns unsere Kinder zu Kultobjekten, zu kostbar, um sie aufs Spiel zu setzen. Und sie werden
Fetische, Objekte einer ungesunden Fixierung. Und ist etwas erst fetischisiert, eilt der Kapitalismus
herbei und findet einen Weg, es zu verkaufen.
Welche Folgen hat die Schließung der Wildnis für die Entwicklung der Fantasie der Kinder? Ich
wuchs in einem Freiraum, mit einer Freiheit auf, die einem heute den Atem raubt und undenkbar
vorkommt Neulich hat meine jüngere Tochter nach den üblichen Kämpfen und Komödien
Fahrradfahren gelernt. Auf ihre Freude folgte schnell eine schleichende Verwirrung und
Enttäuschung, als uns beiden klar wurde, dass es für sie keinen Ort gab, an den sie würde fahren
können - nichts, wohin ich sie lassen würde. Soll ich meine Kinder zum Spielen nach draußen
schicken?
Um die Ecke gibt es ein kleines Lebensmittelgeschäft, keine zweihundert Yards von unserer
Haustür entfernt. Kann ich sie dahin fahren lassen, damit sie die einzigartige Freude erfährt, sich
an einem heißen Sommertag selbst ein Eis zu kaufen und es auf dem Bürgersteig zu essen, allein
mit ihren Gedanken? Bald nachdem sie Radfahren gelernt hatte, gingen wir nach dem Abendessen
auf die Straße, sie auf ihrem Fahrrad, ich in sicherem Abstand hinterher. Was mir, als wir an diesem
herrlichen Sommerabend durch die schönen Straßen unseres Viertels streiften, gleich auffiel, war,
dass uns zu dieser Stunde, die einmal der Gipfel, die magische Stunde meiner Kindheit gewesen
war, nicht ein einziges anderes Kind über den Weg lief. Selbst wenn ich sie rausschicke, werden sie
jemanden zum Spielen finden?
Kunst ist eine Form der Erkundung, ein selbstständiger Aufbruch ins Unbekannte, das Ziel sind die
weißen Flecken auf der Landkarte. Wenn Kindern nicht erlaubt – nicht beigebracht – wird, als Kinder
Abenteurer zu sein, was wird dann aus der Welt der Abenteuer, der Geschichten, der Literatur
selbst?
aus: http://www.welt.de/welt_print/kultur/literatur/article4189309/Wildnis-fuer-Kindergeschlossen.html
Stadtkinder in der Wildnis
von Rebecca Stringa (2011)
Mönchengladbach. Kräftig packen die sechs- bis zehnjährigen Grundschulkinder bei der
Erlebniswoche mit an. Gemeinsame Aktionen wie der Bau einer Höhle stärken das
Gemeinschaftsgefühl und fördern das Bewusstsein für die Natur. FOTO: Markus Rick
Mönchengladbach. 34 Grundschüler lernen eine fremde Welt kennen. Während einer Erlebniswoche
bringt der Kinder- und Jugendsportverein den Teilnehmern mit Höhlenbau und
Pflanzenbestimmung den Hardter Wald näher.
Mit großen Augen bestaunen die aufgeregten Kinder die Bäume und Pflanzen des Hardter Walds.
Für die 34 Mädchen und Jungen gleicht das Dickicht aus Nadel- und Laubgehölz einem
verwunschenen Märchenwald. Die Sonne flutet die Lichtung und lässt die Blätter bunter
erscheinen. Von der Sommerhitze sind die Kinder im Schatten der Bäume geschützt.
In der Erlebniswoche "Abenteuer in der Wildnis" des Kinder- und Jugendsportvereins
Mönchengladbach lernen die sechs- bis zehnjährigen Grundschulkinder nicht nur die
unterschiedlichsten Pflanzen- und Baumarten kennen, sondern auch, wie sie sich im Wald richtig
zu verhalten haben. Mit diesem Angebot trifft der Verein damit ins Schwarze. Das Interesse der
Kinder ist schnell geweckt. Fragen wie: "Welcher Baum hat solche Blätter?" oder "Wo verstecken
sich die Tiere tagsüber?" machen die Runde und werden mit viel Fachwissen und Geduld der zwei
Betreuer beantwortet.
Der Andrang auf die Outdoor-Erlebniswoche war groß: "Wir haben erst mit nur 20 oder 25 Kindern
gerechnet, aber nicht mit 34. Uns freut es natürlich, dass sich die Mädchen und Jungen noch für
den Wald und seine Bewohner interessieren", sagt Sportwissenschaftler und Betreuer Roland
Fabisch, der sich über die große Teilnehmerzahl sichtlich freut. Unterstützung beim Betreuen der
Rasselbande bekommt der 27-Jährige von dem angehenden Sportlehrer Michel Röhrs (25). Unter
der Aufsicht der beiden können sich die Kinder eine ganze Woche lang von neun bis 13 Uhr im Wald
austoben, spielen und basteln. Besonders bei gemeinsamen Projekten knüpfen die Kleinen schnell
neue Freundschaften. So auch bei der Aktion Höhlenbau, bei der die Kinder einen Unterschlupf zum
Schutz vor Regen selber zimmern. "Das macht den Kindern unglaublich viel Spaß und sie haben
keine Scheu, sich auch mit Erde dreckig zu machen", sagt Roland Fabisch. Und falls es bei den
Arbeiten zur ein oder anderen Schramme kommt, ist Michel Röhrs mit Pflaster und aufmunternden
Worten zur Stelle.
Zwar steht der Spaß der Kinder im Vordergrund, zusätzlich werden mit der Erlebniswoche aber auch
motorische Fähigkeiten, Kreativität und Teamfähigkeit der Kleinen geschult. Und auch das
Bewusstsein für die heimische Natur wächst. Schon nach wenigen Stunden fühlen sich die Kinder
mit dem Wald verbunden. Oder, wie es Michel Röhrs formuliert: "Unsere Stadtkinder fühlen sich
jetzt auch im Wald zu Hause."
http://www.rp-online.de/nrw/staedte/moenchengladbach/stadtkinder-in-der-wildnis-aid-1.1536173
Roddy Doyle
WILDNIS
DIE AUGEN
Die beiden Jungen musterten die Augen des Hundes. »Was ist das für eine Farbe?«, sagte Johnny.
»Weiß nicht«, sagte Tom. Die Augen ließen sich mit nichts vergleichen, was die Jungen je zuvor
gesehen hatten. Für diese Farbe gab es tatsächlich keine Bezeichnung. »Blau?«, sagte Tom.
»Nein«, sagte Johnny. »Türkis?« »Eher nicht.« Der Hund starrte zurück. Die meisten anderen Hunde
in der Einzäunung jaulten und machten Laute, die fast wie Worte aus einer fremden Sprache
klangen. Sie zerrten an ihren Ketten, brachten sie zum Rasseln. Aber dieser Hund direkt vor ihnen
war anders. Stand dort im schmutzigen Schnee, völlig unbewegt, und musterte die Jungen, sah zu
Tom und dann zu Johnny, zu Tom, dann Johnny. Sie sahen gar nicht wirklich aus wie Hundeaugen.
Jedenfalls glichen sie keinen Hundeaugen, wie die Jungen sie von zu Hause kannten. Viele ihrer
Freunde besaßen Hunde, ihre eigene Tante sogar zwei, doch die hatten alle gewöhnliche
Hundeaugen. Die Augen dieses Hundes aber, der sie gerade anstarrte, schienen zu einer völlig
anderen Art von Tier zu gehören. Sie wirkten beinahe menschlich. »Es ist, als wäre jemand in ihnen
gefangen«, sagte Tom. Johnny nickte. Er verstand genau, was sein Bruder meinte. Sie traten einen
Schritt zurück, den Blick immer noch auf den Hund gerichtet. Sie hatten Angst davor, ihm ihre
Rücken zuzuwenden. Ein weiterer Schritt zurück, in den tiefen, sauberen Schnee. Noch einer, und
sie stießen gegen etwas Hartes. Sie drehten sich um und sahen zu dem hünenhaftesten und
breitschultrigsten Mann hoch, den sie je gesehen hatten. Der Mann türmte sich wie eine Mauer vor
ihnen auf. Unmittelbar hinter ihnen stand der Hund. »Warum – seid – ihr – hier?«, sagte der Mann.
KAPITEL EINS
Johnny Griffin war schon fast zwölf und sein Bruder, Tom, war zehn. Mit ihren Eltern und ihrer
Schwester wohnten sie in Dublin. Sie waren ganz normale Jungen. Und an jenem Tag, als ihre
Mutter die Ankündigung machte, waren sie besonders normal. Sie saßen in der Küche und
erledigten ihre Hausauf – gaben. Draußen regnete es und der Regen hämmerte auf das flache
Küchendach. Deshalb hörten sie den Schlüssel ihrer Mutter in der Haustür nicht und sie hörten sie
auch nicht durch den Flur kommen. Sie war ganz plötzlich einfach da. Sie mochten es sowieso,
wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, aber heute war es noch besser, denn sie war klatschnass.
Um ihre Füße bildete sich bereits eine Pfütze. »Bin ein bisschen nass geworden, Jungs«, sagte sie.
Sie schüttelte sich und große, mitgebrachte Regentropfen spritzten die Jungen voll und ließen sie
aufschreien und lachen. Sie packte nach ihnen und drückte ihre Gesichter gegen ihre feuchte
Jacke. Tom lachte erneut, Johnny aber nicht. Er fand, dafür sei er schon zu alt. »Lass los!«, schrie
er in die Jacke. »Sag bitte«, sagte seine Mutter. »Nein!« Aber sie ließ ihn los, und dann auch seinen
Bruder. »Wo wir hinfahren, Jungs, gibt es keinen Regen«, sagte sie. Das klang interessant. »Nur
Schnee.« Das klang sehr interessant. Also erzählte sie ihnen, was sie heute getan hatte, während
der Mittagspause. Sie war an einem Reisebüro vorbeigegangen und etwas Helles im Fenster hatte
ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie war stehen geblieben und hatte es sich angesehen. Es war ein
Hügel, mitten im Fenster, aus künstlichem Schnee errichtet, und diesen Hügel fuhr ein Teddybär
auf Skiern herunter. Es war Werbung für die Winterferien. »Es war wirklich albern, Jungs«, sagte sie.
»Der arme Teddy trug einen viel zu großen Sturzhelm und die Skier hatten sie ihm falsch herum
angezogen. Aber, völlig egal, ich ging rein und buchte eine Reise für uns.« »Wohin?«, sagte Johnny.
»Finnland.« Die Jungen flippten aus. Tom schoss durch den Flur, die Treppen rauf, sprang auf die
Betten, und kam wieder zurück. »Wo ist Finnland?«, fragte er. Sie holten Johnnys Atlas aus der
Schultasche und fanden Finnland. Ihre Mutter zeigte ihnen die Route, die sie nehmen würden. Ihre
Finger glitten über Dublin, die Irische See. »Zuerst müssen wir bis Manchester fliegen«, sagte sie.
Und ihr Finger tippte auf Manchester und glitt auf der Karte weiter nach Norden. »Und dann nach
Helsinki.« Der Klang des Namens gefiel ihnen. »Helsinki! Helsinki!« Sie stießen sich gegenseitig an
und lachten. »Und dann«, sagte ihre Mutter, »wechseln wir nochmals das Flugzeug und fliegen
sogar noch weiter nach Norden.« Ihr Finger glitt ab Helsinki aufwärts und hielt dann inne.
»An einen Ort, der nicht mal auf der Karte verzeichnet ist«, sagte sie. »Warum nicht?«, fragte Tom.
»Wahrscheinlich weil er dafür zu klein ist«, sagte Johnny. »Stimmt«, sagte ihre Mutter. »Wie heißt
er?« »Hab ich vergessen«, sagte ihre Mutter. »Und die Reisebroschüre hab ich auf der Arbeit liegen
lassen. Aber es sieht dort wunderbar aus.« »Wann fahren wir los?«, sagte Johnny. »In zwei
Wochen.« »Krass«, sagte Tom. »Aber dann haben wir noch Schule«, bemerkte Johnny. Er hatte es
ausgerechnet. Jetzt war Mitte November. Zwei Wochen dazu und es war Anfang Dezember, drei
Wochen vor dem Beginn der Weihnachtsferien. »Nein, habt ihr nicht«, sagte ihre Mutter. »Ich hab
schon mit Mrs Ford telefoniert.« Mrs Ford war die Direktorin ihrer Schule. Johnny ging in die sechste
Klasse und Tom war in der fünften. »Sie sagte, sie neige dazu, gnädig über mein Anliegen zu
entscheiden, weil ihr beide dabei so wahnsinnig viel lernen könnt.« »Heißt das, wir dürfen mit?«
»Ja«, sagte ihre Mutter. »Sie meinte, ihr sollt abzischen, aber bloß nicht vergessen, ihr ein
Geschenk mitzubringen.« Damit war die Sache geritzt. Sie würden nach Finnland fahren. »Coohool!« Im Großen und Ganzen stimmte das alles. Doch einiges von dem, was ihre Mutter Johnny
und Tom erzählt hatte, entsprach nicht der Wahrheit. Sie hatte ihnen gesagt, sie habe die
Reisebroschüre auf ihrem Schreibtisch liegen lassen. Hatte sie aber nicht. Sie steckte in ihrer
Handtasche. Sie wollte aber nicht, dass die Jungs sich auf ihre Tasche stürzten und darin
herumwühlten. Es waren Dinge darin, die die beiden nicht sehen sollten. Sie hatte ihnen erzählt, der
Teddy im Schaufenster habe einen zu großen Sturzhelm getragen und falsch herum auf den Skiern
gestanden. Das stimmte nicht. Es gab gar keinen Teddy. Und sie hatte ihnen erzählt, sie sei
schnurstracks ins Reisebüro marschiert, um den Urlaub zu buchen. Aber auch das stimmte nicht.
Sie hatte die Reise heute während der Mittagspause gebucht. Aber geplant hatte sie sie bereits seit
Wochen. Johnnys und Toms Mutter hieß Sandra. Sandra Hammond. »Kommt Dad mit?«, fragte
Tom später, beim Mittagessen. Ihr Vater hieß Frank. Frank Griffin. »Nein«, sagte Sandra. »Warum
nicht?« »Na ja«, sagte Sandra. »Das wird ein Abenteuerurlaub. Und ihr kennt doch euren Dad. Unter
einem Abenteuer versteht er, an die Haustür zu gehen und die Milch reinzuholen.« »Was ist mit
Gráinne?« Gráinne war ihre Schwester. »Nein«, sagte Sandra. »Die kommt auch nicht mit.« »Warum
denn nicht?«, sagte Johnny. »Weil sie nicht wollen würde«, sagte Sandra. Tom und Johnny berührte
das nicht weiter. Ihre Mutter hatte Recht, Gráinne würde nicht mitkommen wollen, selbst in ein so
cooles Land wie Finnland nicht. Gráinne war viel älter als die Jungen. Sie war achtzehn. Und Tom
und Johnny mochten sie nicht besonders. Hauptsächlich deshalb, weil Gráinne sie auch nicht
mochte. Ihr Vater kam nach Hause. Sie hörten es an der Musik. Er drehte sie immer laut auf, die
Autofenster heruntergelassen, allerdings erst, wenn er in die Auffahrt einbog. Er tat es, um ihre
Nachbarin zu ärgern. Das war eine lange Geschichte. Jedenfalls reichte sie weit zurück. Sie reichte
zurück in die Zeit, als Gráinne erst drei Jahre alt und Frank mit einer Frau namens Rosemary
verheiratet war und sie in das Haus einzogen. Frank half den Möbelpackern dabei, ein Sofa ins Haus
zu tragen. Bloß war er ihnen keine wirkliche Hilfe. Eigentlich war er eher im Weg. Er stand vor der Tür
und beobachtete Gráinne. Sie sprach mit einer Frau, die gerade ihre Seite der Hecke beschnitt. Das
war Mrs Newman, die neue Nachbarin, auch wenn sie keineswegs wirklich neu war – sie war
mindestens vierzig. Und Gráinne redete mit ihr. »Hallo«, sagte sie. Aber die neue Nachbarin gab
keine Antwort. »Hallo, Frau«, sagte Gráinne. Frank sprang über das Sofa und ging geradewegs zur
Hecke. »Meine Tochter hat Hallo zu Ihnen gesagt«, sagte er. »Was?«, sagte Mrs Newman. »Sie hat
Hallo zu Ihnen gesagt.« »Ich hab sie nicht gehört.« Sie sah Frank nicht wirklich an. Sie beugte sich
vor und kappte ein Stück Hecke mit der Schere. Es fiel vor Franks Füße. »Ich bin ein wenig taub«,
sagte sie. »Oh«, sagte Frank. Er streckte seine Hand aus, über die Hecke. »Ich bin übrigens Frank
Griffin.« Aber Mrs Newman schüttelte Franks Hand nicht. Tatsächlich schnippelte sie ihm beinahe
die Finger ab. Er zog seine Hand gerade noch rechtzeitig zurück. Er spürte den Luftzug an den
Fingerspitzen, als die beiden Klingen zuschnappten. Er hob Gráinne hoch und trug sie in das neue
Haus. Mit Mrs Newman sprach er nie wieder, aber die Musik begann er erst viel später lauter zu
stellen, etwa drei Jahre nach dem Einzug. Das war der traurige Teil der Geschichte. Frank und
Rosemary waren nicht mehr glücklich verheiratet. Er wusste nicht, woran es lag, genauso wenig wie
sie. Es schien einfach so zu passieren. Sie liebten einander nicht mehr. Und sie stritten sich. Über
Kleinigkeiten, über dummes Zeug. Sie hatten einen Riesenstreit über einen verfaulten Apfel, den
Frank am Boden von Gráinnes Schultasche fand. Die Apfelmatsche war in zwei ihrer
Schönschreibhefte gesickert und er machte Rosemary dafür verantwortlich. Er wusste, dass es
gemein war. Aber er konnte nicht anders. So fühlte es sich an: Er wollte aufhören, aber er konnte
nicht. »Wenn du dich auch nur ein bisschen für ihre Erziehung interessieren würdest, hättest du
den Apfel gefunden, bevor er in ihrer Tasche explodierte«, sagte er. Er brüllte es. »Und was ist mit
dir?«, sagte Rosemary. Sie brüllte zurück. Sie waren im Schlafzimmer, das zur Straße hinaus lag.
Es war eine wunderschöne Septembernacht. Das Fenster stand weit offen. Frank sah es, das
geöffnete Fenster, aber es war ihm egal. »Wo ist denn dein Interesse an ihrer Erziehung?«, sagte
Rosemary. »Jedenfalls bin ich interessierter als du«, sagte Frank. »Das steht mal fest.« So ging der
Streit immer weiter. Er war wirklich albern und führte zu nichts. Es klingelte an der Haustür.
Rosemary schaute zum Fenster hinaus und sah den Polizeiwagen. »O Gott«, sagte sie. Sie gingen
nach unten, um die Tür zu öffnen. Die beiden jungen Beamten, ein Mann und eine Frau, wirkten
peinlich berührt. Es habe eine Beschwerde wegen des Lärms gegeben, erklärten sie Frank. Die Frau,
die Polizistin, führte die Unterhaltung. Rosemary stand direkt hinter Frank, sie betrachtete die
Beamten über seine Schulter. Frank bat um Entschuldigung und Rosemary hinter ihm nickte
ebenfalls. Es tat ihnen sehr leid. »Ja, also dann«, sagte die Polizistin. Sie musterte sie beide
sorgfältig, und Frank erkannte plötzlich den Grund dafür, und er wünschte sich, ein Loch würde sich
im Boden auftun und ihn verschlingen. Sie suchte nach Blutergüssen, Hautabschürfungen,
Anzeichen für eine gewalttätige Auseinandersetzung. »Es war nur ein Streit«, sagte Frank. »Tut mir
leid.« Die Polizistin hatte ihre Untersuchung beendet. »Gut«, sagte sie. »So etwas kennt jeder von
uns. Aber vielleicht könnten Sie nächstes Mal das Fenster schließen, Mr Griffin.« Frank lachte,
obwohl ihm in seinem ganzen Leben nie weniger zum Lachen zumute gewesen war. Er fühlte sich
so gedemütigt, so schrecklich – er wollte bloß noch die Tür schließen. Und genau das tat er. Da sah
er die Zigarette. Sie sahen sie beide. Draußen war es dunkel, und es wurde noch dunkler, als der
Polizeiwagen wendete und davonfuhr. Aber da war sie, die glühende Zigarette, auf der anderen
Seite der Hecke. Hinter der Zigarette verbarg sich Mrs Newman und beobachtete sie. Und jetzt
wussten sie es. Sie war es gewesen, die die Polizei angerufen hatte. »Die ist nur dann taub, wenn es
ihr in den Kram passt«, sagte Frank, als er die Tür schloss. Frank und Rosemary umarmten einander
im Flur. Sie gingen in die Küche, setzten Tee auf und kamen überein, dass sie nicht mehr länger
zusammen leben konnten. Es war eine fürchterliche Nacht und im Nachhinein gab Frank immer Mrs
Newman die Schuld daran. Er wusste, dass das nicht fair von ihm war. Aber wenn er an jene Nacht
dachte und an die Tage und Monate, die darauf hingeführt hatten, sah er immer diese glühende
Zigarette vor sich. Dreizehn Jahre nach dieser Nacht, acht Jahre, nachdem Mrs Newman das
Rauchen aufgegeben hatte, drehte Frank immer noch die Musik auf, wenn er in die Auffahrt einbog,
bloß um sie daran zu erinnern, dass er es wusste – sie war kein bisschen taub. Er war
längst nicht mehr sauer. Aber es machte ihm immer noch Spaß, Mrs Newman zu ärgern.
Johnny und Tom holten ihn an der Haustür ab. »Wir fahren nach Finnland«, rief Tom.
»Seht zu, dass ihr zum Schlafen rechtzeitig wieder hier seid«, sagte Frank. »In zwei Wochen«, sagte
Tom. »Ist das euer Ernst?« Frank zog seine Jacke aus und hängte sie übers Treppengeländer. »Ja«,
sagte Johnny. »Wir fahren mit Mum.« »Kommt mit in die Küche und erzählt mir alles«, sagte Frank.
Aber er wusste längst Bescheid. Tatsächlich war es seine Idee gewesen. Und die Freude in den
Gesichtern der Jungen war das Beste, was er seit langer Zeit gesehen hatte. Am Tag nach dem
letzten Streit machte Rosemary Gráinnes Lunchpaket für die Schule zurecht. Sie half Gráinne in
den Mantel und sie begleitete Gráinne die Straße hinunter zur Schule. Sie küsste Gráinne und
umarmte sie. »Mach’s gut, Honigbienchen«, sagte sie. »Ich wünsch dir einen schönen Tag.« Dann
stand sie am Geländer des Pausenhofs und beobachtete Gráinne, wie sie über den Hof und in die
Tür verschwand. Sie weinte, und es war ihr gleichgültig, dass die Leute sie dabei sahen. Sie ging
nach Hause zurück und packte zwei Koffer. Die Großmutter holte Gráinne von der Schule ab und
Frank holte Gráinne nach der Arbeit bei der Großmutter ab. Als Frank und Gráinne zu Hause
ankamen, war Rosemary nicht mehr da. »Wo ist Mama?«, fragte Gráinne. »Sie macht Urlaub«,
sagte Frank. Tagelang waren es dieselbe Frage und dieselbe Antwort und dann kam eine weitere
Frage hinzu. »Wann kommt sie wieder nach Hause?« Und eine weitere Antwort. »Bald.« Und eine
weitere Frage. »Wann denn?« Und die Antwort. »Ich weiß nicht.« Bis Gráinne die Fragen nicht mehr
stellte. Eine ganze Weile lang hörte Frank nichts mehr von Rosemary. Er fand heraus, dass sie nach
Amerika gegangen war. Dann hörte er, dass sie in New York lebte. Ein paar Mal im Jahr telefonierte
sie mit ihren Eltern und sie schickte Gráinne liebe Grüße. Aber das war alles. Für eine lange Zeit gab
es nur noch ihn und Gráinne. Und es war gut so. Sie waren einsam, aber sie waren gemeinsam
einsam. Gráinne vermisste ihre Mutter und glaubte irgendwann nicht mehr daran, dass sie wieder
nach Hause kommen würde. Aber sie liebte ihren Vater, und er war stets für sie da, lächelnd, stets
zu Hause, wenn sie einschlief, stets wach, bevor sie selber erwachte. Stets ihr Vater. Dann traf er
Sandra. Sie lernten sich bei einem Konzert kennen. Sie war mit ihrem festen Freund dort und sie
saß auf Franks Platz. Er warf einen zweiten Blick auf sein Ticket. »M17«, sagte er. »Tut mir leid, aber
Sie sitzen auf meinem Platz.« »Wirklich?«, sagte sie. Ihr Freund, auf der anderen Seite, stand auf.
»Was ist los?«, fragte er. »Das ist mein Platz«, sagte Frank. Der Freund schaute auf Franks Ticket.
Dann schaute er auf sein eigenes. »N18«, sagte er. »Wir sind in der falschen Reihe. Ups.« Er räumte
seinen Platz und Frank setzte sich auf den frei gewordenen Platz neben Sandra. Und als das
Konzert zu Ende war, hatten sie sich ineinander verliebt, obwohl Sandras Freund nur eine Reihe
hinter ihnen saß. Später erklärte sie es Frank. »Es lag an der Art, wie du zugehört hast«, sagte sie.
»Du hast dich in deinem Sitz vorgebeugt. Du hast wirklich zugehört. Das gefiel mir. Und du hast eine
wundervolle Nase. Was hat dir an mir gefallen?« »Alles«, sagte Frank. Es stimmte. Er liebte alles an
Sandra. Er liebte sogar die Art, wie sie gehustet hatte, als sie sich während einem der ruhigeren
Lieder an ihrem Bonbon verschluckt hatte. »Was ist mit Jason?«, sagte Frank. Jason war ihr
bisheriger Freund. »Na ja«, sagte Sandra. »Er ist in Ordnung. Aber ich könnte nie einen Mann
wirklich lieben, der ›Ups‹ sagt.« Sandra lernte Gráinne kennen und die beiden mochten sich.
Gráinne war sechs. Sandra brachte sie oft zum Lachen, und Gráinne fand sie wunderschön, und es
gefiel ihr, wie ihr Dad sie anschaute. Er lachte ebenfalls oft. Und drei Wochen danach gingen Frank
und Gráinne ins Bad Ass Café, nur sie beide, und er erklärte ihr, dass Sandra bei ihnen einziehen
würde, und wie fühlte sich Gráinne dabei? »Was ist mit Mami?«, sagte sie. »Sie wohnt in New York«,
sagte Frank. »Wahrscheinlich brauchte sie Abstand. Für eine Weile zumindest. Sie liebt dich,
Gráinne, aber mich liebt sie nicht mehr. Du kannst sie in New York besuchen. Wenn du älter bist.«
Also nickte Gráinne und sagte: »Gut.« Sie mochte Sandra. Es würde nett werden. Und das wurde es.
Sandra war keine gute Köchin, aber sie war witzig und liebenswert und sie sang sehr häufig. Sie
gingen zusammen einkaufen und sie kaufte Gráinne Dinge, auf die Frank nicht im Traum
gekommen wäre – Jeans und Tops, Socken und Slips. Frank kaufte ihr ständig feine Kleidchen und
Röcke, farbige Strumpfhosen und Halsketten. Sie fuhren häufig zusammen durch die Gegend, die
drei, in die Berge und nach Howth oder Malahide. Dann, eines Morgens, wachte Gráinne auf.
Draußen war es noch dunkel, also ging sie in Franks Zimmer, um sich neben Frank ins Bett zu
legen. Und neben Frank lag Sandra, beide schliefen. Gráinne stand vor ihnen und betrachtete sie.
Ihr war kalt. Sie krabbelte ins Bett, neben Frank. Er umarmte sie. Seine Augen waren noch
geschlossen. Er drehte sich um, Gráinne fest im Arm, und sie rutschte zwischen die beiden,
eingequetscht zwischen Frank und Sandra, und das gefiel ihr. Es war wunderbar und warm. Als sie
wieder wach wurde, war es draußen hell, und das Bett war leer, und von unten hörte sie Gelächter.
Frank und Sandra lachten. Dann, eines anderen Tages, Monate später, gingen sie mit ihr wieder ins
Bad Ass und erzählten es ihr – Sandra erzählte es ihr. Sie war schwanger, sie würde ein Baby
bekommen. »Bist du der Papa?«, fragte Gráinne Frank. Frank war von ihrer Frage schockiert und er
war beeindruckt. Sie sah ihm fest in die Augen. »Ja«, sagte Frank. »Das Baby wird dein Bruder oder
deine Schwester sein.« »Nein, wird es nicht«, sagte Gráinne. Sie erklärte es ihnen. »Es wird nur
meine Halbschwester sein oder mein Halbbruder.« »Aber es sind doch trotzdem gute Neuigkeiten,
oder?«, sagte Sandra. »Ja«, sagte Gráinne. Aber in Wirklichkeit wusste sie nicht, ob es gut oder
schlecht oder ob es überhaupt Neuigkeiten waren. Sie wusste nicht, was sie fühlte. Das Baby war
Johnny. Und Gráinne liebte ihn. Er war so niedlich! Sandra war jetzt die ganze Zeit zu Hause, und
auch wenn sie Johnny oft fütterte und mit ihm spielte, gefiel das Gráinne trotzdem. Sie war alt
genug, um allein zur Schule zu gehen, und Sandra war immer da, wenn Gráinne klingelte oder ums
Haus herumging und die Hintertür benutzte, und fast immer war ihr Mittagessen fertig und erfüllte
mit seinem Duft die Küche. Manchmal fühlte sie sich allein, und ein paar Mal, wenn sie im
Schlafzimmer zu ihrem Vater ins Bett schlüpfen wollte, bat er sie, zurück in ihr eigenes Zimmer zu
gehen, weil Johnny schon in der Mitte lag und der Platz nicht reichte. »Er ist ein echtes Monstrum«,
sagte Frank. »Schau dir nur mal an, wie groß er ist.« Aber Frank und Sandra stellten sicher, dass
Gráinne nicht zu lang allein blieb. Sie liebte es, wenn Frank sich neben ihr auf den Boden setzte, um
mit ihr zu spielen. Das tat er häufig, und Sandra ebenso. Gráinne wusste, dass die beiden sich um
sie kümmerten. Sie schauten sich ihre Hausaufgaben an, sie schauten nach, ob ihre Kleidung
sauber war, sie schauten auf ihrem Kopf nach Läusen, als der Brief aus der Schule kam. »O-oh, der
Läusebrief.« »Es ist jedes Mal der gleiche«, sagte Gráinne. »Genau dieselben Worte.« »Das ist den
Läusen gegenüber nicht gerade fair«, sagte Sandra. »Jede Laus ist verschieden. Komm her, wir
schauen mal nach.« Dann gingen sie wieder mit Gráinne ins Bad Ass und bald darauf wurde Tom
geboren. Auch er war niedlich, aber er hielt Sandra wahnsinnig auf Trab, und Johnny war sehr
eifersüchtig. Wenn Sandra Tom fütterte, kletterte und drängelte er sich auf ihren Schoß. Er
schleuderte sein Essen durch die Küche. Er klatschte es sich auf den Kopf. Er tat alles, um Sandras
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Für Gráinne blieb nicht viel Platz. Aber Frank küsste und herzte
sie immer als Erste, wenn er nach Hause kam, auch wenn Johnny ihn manchmal ins Bein biss,
während er sie umarmte. Und oft unternahm er mit ihr ganz besondere Ausflüge nur zu zweit. Sie
fuhren sogar für ein verlängertes Wochenende nach Paris. Es war okay, in diesem Haus zu leben,
neben Frank und Sandra aufzuwachsen, mit Johnny und Tom. Gráinne war glücklich. Dann war sie
ein Teenager und ganz plötzlich, so schien es, war sie unglücklich und ruppig und gleichzeitig still
und laut. Sie sprach mit niemandem, knallte aber die Türen zu. Sie drehte ihre Musik auf, quasselte
in voller Lautstärke mit ihren Freunden übers Handy, erklärte ihnen, wie blöde ihre Familie war und
wie sehr sie alle hasste. Das war typisches Teenagerzeugs, das wussten Frank und Sandra, aber es
war heftig. Besonders für Frank. Er fühlte sich schuldig und manchmal wütend. Sie verhielt sich so,
weil er ein schlechter Vater war – irgendetwas machte er nicht richtig. Dann wieder fand er, sie sei
ein selbstsüchtiges Miststück, wie ihre Mutter, und je früher sie erwachsen war und aus dem Haus,
umso besser. Und dann fühlte er sich wieder schuldig. Er war es, der selbstsüchtig war. Sie war ein
Teenager, sie steckte bloß in einer Phase. Das würde enden und sie wären wieder Freunde. »Lust
aufs Bad Ass?«, fragte er sie eines Freitags, als er nach Hause kam und sie allein im Flur antraf.
»Nein«, sagte sie. »Nur wir beide«, sagte Frank. »Voll der Bringer«, sagte sie und verschwand nach
oben. Er spürte die Tür knallen. Das ganze Haus bebte. »Du bist nicht meine Mutter!«, brüllte sie
Sandra an. Immer häufiger. Es war heftig. »Das dauert nur ein paar Jahre«, erklärte Sandra Frank,
obwohl sie gerade eben wegen irgendetwas, das Gráinne zu ihr gesagt hatte, geweint hatte. »In
ihrem Alter war ich genauso.« »Klar«, sagte Frank. Aber überzeugt klang er nicht. Er ging Gráinne
aus dem Weg. Er mischte sich in nichts ein und hoffte, dass sie in der Schule klarkam. Er hoffte,
dass sie keine Dummheiten machte, wenn sie an den Wochenenden nachts ausging. Er blieb
immer wach, bis sie nach Hause kam, aber stets im Bett. Er wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass
er ihr nachspionierte. Am nächsten Tag fragte er sie dann, wie es bei ihr lief, und er musterte
niemals zu intensiv ihre Augen oder versuchte, ihren Atem zu riechen. Er hielt Abstand und
respektierte ihre Unabhängigkeit. Aber es war schwer. Sie wurde beim Schulschwänzen erwischt
und für zwei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen. Sie wurde beim Klauen erwischt. Mrs Fallon,
aus dem Laden am Ende der Straße, verständigte zwar nicht die Polizei, aber es war schrecklich.
Frank bat sie um Entschuldigung und bedankte sich und kaufte jede Menge Zeugs, das er weder
benötigte noch haben wollte. Gráinne ging zwei Monate vor dem Abschlussexamen von der Schule
ab. Sie wollte nicht wieder hin. »Ihr könnt mich nicht zwingen«, sagte sie. Und das war das wirklich
Beängstigende: Sie hatte Recht. Sie konnten sie nicht zwingen. Sie konnten bloß hoffen, dass sie
sich wieder einkriegen und Gráinne werden würde, ihre Gráinne. Aber momentan war sie eine
andere Gráinne. Ein Monstrum, ein großes, grauenhaftes Kind. Eine Terroristin. Nachdem sie mit
einer Tasse nach Sandra geworfen hatte, schlug Frank vor, dass Sandra und die Jungs eine Auszeit
brauchten. Er wickelte die Scherben in Zeitungspapier. Sie könnten für eine Weile verschwinden,
erklärte er. Das täte ihnen gut. Es könnte sogar Frank und Gráinne guttun, das Haus für sich zu
haben. So wie in alten Zeiten. »In den guten alten Zeiten«, sagte Sandra. »Bevor ich auftauchte.«
»Ach, hör auf«, sagte Frank. »Nein«, sagte sie. »Werde ich nicht.«
übersetzt von Andreas Steinhöfel, 2010
Im Gespräch mit Sir David Attenborough
Vom Mutterinstinkt der Zwergkaimane oder dem Aufstand der Lurche: Sir David Attenborough
erzählt im Interview von seinen atemberaubenden Begegnungen im Reich der Kaltblüter.
e:
Sir David Attenborough mit einem Mississippi-Alligator SRF
Lyn Hughes: Was war die besondere Herausforderung beim Dreh der Serie «Kaltblütig»?
David Attenborough: Vor allem hatte ich das Problem, dass Reptilien nicht als besonders attraktiv
gelten.
Lyn Hughes: Reptilien haben also ein Image-Problem?
David Attenborough: Ja, das begann doch schon im Garten Eden. Seitdem sind Reptilien eine
relativ vernachlässigte Spezies. Daher gibt es viele nie zuvor gesehene Dinge zu entdecken. Die
Jagdtechniken von Chamäleons oder die elterliche Fürsorge einer aussergewöhnlichen Froschart
zu beobachten, ist faszinierend. Viele Menschen sind der Meinung, Reptilien seien dumm, aber es
gibt einige sehr intelligente Arten.
Lyn Hughes: Krokodile und Co. haben also Eigenschaften, die ihr negatives Image wettmachen
können?
David Attenborough: Ja! Das Verhalten von Krokodilmüttern zum Beispiel ist aussergewöhnlich –
Zwergkaimane etwa kümmern sich fürsorglich um ihre Jungen. Die Weibchen legen Eier und wenn
die Jungen schlüpfen, tragen die Mütter sie im Maul zur nächstgelegenen Wasserstelle. Das ist ein
ganz ausserordentlicher Anblick. Aber nur eines der Weibchen bleibt bei den Jungen und passt auf
sie auf.
Lyn Hughes: Wie in einer Kinderkrippe?
David Attenborough: Genau. Eines der Weibchen findet sich also plötzlich mit 100 bis 120 Jungen
wieder. Wenn die Wasserstelle austrocknet, entschliesst es sich eines Nachts, alle Jungen zum
nächsten Fluss zu führen – der mehrere Kilometer entfernt sein kann. Sie bleibt immer wieder
stehen und wartet darauf, dass die Jungen sie einholen, bis sie schliesslich alle ans Ziel gebracht
hat.
Lyn Hughes: Was hat Sie bei den Dreharbeiten am meisten überrascht?
David Attenborough: Es gibt diese Amphibien ohne Gliedmassen, sogenannte Schleichenlurche.
Sie sehen aus wie Würmer, haben aber ein Rückgrat und aussergewöhnliche Farben, ein
leuchtendes Blau zum Beispiel. Sie bauen kleine Höhlen in der Erde und bekommen etwa 20 Junge,
die anfangs dicht bei ihrer Mutter bleiben. Dann ist plötzlich die Hölle los bei den Lurchbabys und es
sieht so aus, als würden sie ihre Mutter angreifen. In Wirklichkeit fressen sie aber nur Streifen ihrer
Haut ab. Die Mutter erneuert ihre sehr fetthaltige Haut einfach wieder. Das hatte zuvor noch
niemand gesehen.
Lyn Hughes: Mussten Sie sich besonderen technischen Herausforderungen beim Dreh von
«Kaltblütig» stellen?
David Attenborough: Anders als Säugetiere können Reptilien tagelang dasitzen und absolut nichts
tun! Filme von Schlangen, die ihre Beute fangen, entstehen deshalb fast immer mithilfe
technischer Tricks: Man bringt die Schlange dazu, etwas anzugreifen, filmt einen erschrocken
aussehenden Hasen und schneidet die Szenen dann zusammen.
Lyn Hughes: Haben Sie auch mit Tricks gearbeitet?
David Attenborough: Wir haben eine Nachtkamera an einen Bewegungsmelder angeschlossen. So
fanden wir eine Klapperschlange, die reglos auf Beute lauerte – das tut sie problemlos wochenlang.
Als eine Maus den Felsen heruntertrippelte, begann die Kamera zu filmen. Die Schlange griff an,
doch die Maus konnte entkommen. Die Kamera schaltete sich wieder ab. Als die Schlange durchs
Gras glitt, schaltete sich die Kamera wieder an und wir glaubten, sie suche die Maus. Man konnte
regelrecht sehen, wie sie dachte: «Wo zum Teufel ist die Maus?» Aber auf einmal schoss die
Schlange hervor und starrte direkt in die Kamera. Was für ein Anblick!
Lyn Hughes: Wo haben Sie all diese Geschichten gedreht?
David Attenborough: An allen warmen Orten der Erde: Australien, Südamerika, Afrika, Nordamerika.
Lyn Hughes: Und hatten Sie bei dieser Serie genauso viel Vergnügen wie bei den anderen?
David Attenborough: Oh ja. Es ist einfach eine wunderbare Art, seinen Lebensunterhalt zu
verdienen.
Das Interview führte Lyn Hughes.
aus: http://www.srf.ch/sendungen/kaltbluetig-und-warmherzig/im-gespraech-mit-sir-davidattenborough
AUS ALLER WELT
Von Tag zu Tag – Im Dschungel
So viel steht fest: Die Marienfelder Zirkuselefanten haben nie unter Colonel Hathi gedient, dem
legendären Leitbullen in Disneys „Dschungelbuch“. Statt zu exerzieren – „ Rechts, zwei, drei, vier,
aufgepasst, zwei, drei, vier“ –, trampeln sie nur ziellos auf einer Wiese herum oder spielen mit
älteren Damen Fangen, geben so dem Schlagwort vom Großstadtdschungel eine ganz neue, nicht
länger nur metaphorische Bedeutung. Dickhäuter auf freier Wildbahn mitten in Berlin – das wird
vielleicht einmal in die Annalen der Stadt eingehen und in einem Atemzug genannt werden mit dem
Zug von Hannibals Kriegselefanten über die Alpenpässe. Es ist zudem ein Schauspiel, dass
eindeutig in unsere vom Klimawandel bedrohte Zeit passt.
Gerade erst wurde ein totes Krokodil aus einem der hiesigen Gewässer gefischt, nun die Elefanten,
demnächst kriecht wohl Ka, die Schlange, durch den Grunewald, und im Tiergarten geht Shir Khan
auf Menschenjagd. Sollte Ihnen also bald schon eine getigerte Großkatze begegnen, bleiben Sie
ruhig und befolgen Sie den Rat von Balu, dem Bären: „Probier’s mal mit Gemütlichkeit.“
aus: http://www.tagesspiegel.de/berlin/von-tag-zu-tag-im-dschungel/1798068.html (26.04.2009)
AUKTIONEN
Der gefesselte Mogli
Dem kleinen Jungen und den niedlichen Tieren aus dem Disney-Zeichentrickfilm "Das
Dschungelbuch" droht ein baldiges Ende. Mogli und Balu der Bär, King Louie, Shir Khan und Hathi
Junior warten gefesselt und mit verbundenen Augen auf ihre Exekution, der Dschungel hinter ihnen
ist bereits abgeholzt. Dieses Motiv entwarf der sagenumwobene britische Straßenkünstler, der sich
Banksy nennt, 2001 im Auftrag von Greenpeace, um auf die Abholzung der Regenwälder
aufmerksam zu machen. Das Original soll nun am 11. Januar zusammen mit anderen Kunstwerken
von "Urban Art"-Künstlern wie Shepard Fairey und D(*) Face vom Auktionshaus Bonhams in London
versteigert werden, Schätzpreis: 80 000 Pfund. Die Versteigerung dürfte dem Disney-Konzern, der
"Das Dschungelbuch" 1967 als Zeichentrickfilm adaptiert hat, missfallen. Denn Banksys Figuren
sehen aus wie jene aus dem Film. "Disney schickte uns damals Drohbriefe mit der Forderung, das
Mogli-Motiv aus urheberrechtlichen Gründen nicht zu verwenden", sagt Graham Thompson von
Greenpeace, allerdings blieb es bei den Drohungen. Greenpeace verbreitete das provokante
Kunstwerk ungestraft auf Stickern, Plakaten und Bannern. Banksys Graffiti und Installationen
erzielen inzwischen Preise von über 100 000 Dollar. Der teuerste Banksy brachte im Februar 2008
bei Sotheby's in New York knapp 1,9 Millionen Dollar ein.
aus: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-75803511.html (20.12.2010)
erstellt von Eva Bormann, Dramaturgie Junges Theater, September 2014