Das Dschungelbuch
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Das Dschungelbuch
Das Dschungelbuch Materialsammlung Spielzeit 2014/15 Fabeln Die Fabel verwendet Personifikationen von Tieren und Pflanzen, um moralische Lehren zu erteilen. Menschliche Eigenschaften werden in übersteigerter Form Tieren zugeschrieben – wie dem listigen Fuchs, dem störrischen Esel, dem stolzen Storch, der hinterhältigen Schlange –, um darüber Geschichten mit meist eindeutiger Schlussbotschaft zu ersinnen. Die bekanntesten Verfasser von Fabeln sind Äsop, Hans Sachs, Johann Wolfgang von Goethe, Ephraim Lessing, Ludwig Bechstein, Jean de la Fontaine, Iwan Krylow und James Thurber. Moderne Geschichten, die das Grundmotiv der Fabel aufgreifen, sind »Die Farm der Tiere« von George Orwell oder »Das Dschungelbuch« von Rudyard Kipling. (Holger Lindemann) INHALT Von A bis V Rudyard Kipling Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (Auszug) Stephan Nagel Menagerien1 Vom Wilden zum Menschen2 Ein Streifzug durch die Dritte Welt in der Kinder- und Jugendliteratur Rudyard Kipling Kim (Auszug) Michael Chabon Wildnis – für Kinder geschlossen Stadtkinder in der Wildnis Roddy Doyle WILDNIS (Auszug) Im Gespräch mit Sir David Attenborough AUS ALLER WELT 1 Der Text enthält Formulierungen wie das »N«-Wort. Ich habe sie bewusst nicht herausgestrichen, da sie auf den seinerzeit gewöhnlichen, kolonialistischen Sprachgebrauch zur Entstehungszeit des Textes hinweisen. 2 Hier habe ich entsprechende Begriffe (siehe Fußnote 1) durch »« kenntlich gemacht, da sie sonst, wenngleich die Autorin auf Stereotype hinweisen will, als gebräuchlich und politisch korrekt durchgehen würden. Das ist meiner Ansicht nach unbedingt zu vermeiden. A wie Der Affen-König, des -es, plur. die -e, der König unter den Affen; eine Würde, welche man den Brasilischen Affen, Aquiqui genannt, beylegt, unter welchen sich einer befinden soll, der die andern zu gewissen Zeiten durch sein Geschrey zusammen rufet.3 Wanderlied des Affenvolkes Wir schwingen uns, ein fliegender Kranz, Halbwegs bis zum neidischen Mond im Tanz. Bewunderst du nicht unsere prächtige Schar, Hätt'st gern noch ein Extrahändepaar? Möchtest du nicht, geschweift wär' dein Schwanz Wie Amors Bogen – voll Eleganz? Nun bist du böse. Doch glaube mir, Bruder, dein Schwanz hängt hinter dir. Hier sitzen wir im Gezweig und beraten Viel schöne Pläne und große Taten. Doch träumen wir nur von Dingen, Die im Ernst wir doch nie vollbringen. Was edel ist und klug und fein, Tun wir durch Wünschen ganz allein. Schon ist's vergessen. Doch glaube mir, Bruder, dein Schwanz hängt hinter dir. Alles Geschwätz, das wir brachten nach Haus, Vom Vogel, vom Wolf und der Fledermaus, Wir schnattern es nach und alle zugleich. Noch einmal! wie herrlich, wie rhythmenreich! Wahrhaftig, jetzt sind wir den Menschen gleich. Gut, seien wir's – doch glaube mir, Bruder, dein Schwanz hängt hinter dir. Das ist so recht der Affen Manier. Komm, reih' dich unsern Scharen ein, Die hoch in den Bäumen springen, Die mit der Dschungel wildem Wein Sich stolz in die Lüfte schwingen. Wir schwören, beim Schmutz auf unserm Pfad, Bald kommt sie, die große, erlösende Tat.4 3 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1798, Sp. 174– 175. 4 Rudyard Kipling: Das Dschungelbuch, Kapitel 4, 1984. Der Anführer, des -s, plur. ut nom. sing. Fämin. die -inn, eine Person, welche eine andere anführet, so wohl durch Zeigung des Weges, als auch durch Ertheilung des nöthigen Unterrichtes und Befehles. Mein Anführer in der Musik. Der Anführer der Soldaten in einer Schlacht. Einen zum Anführer erwählen. Die Vernunft sollte die beste Anführerinn zum Guten seyn.5 Und damit wandte er sich zu Baghira und erzählte ihm, wie er Hathi, den wilden Elefanten, gebeten habe, ihm die Meisterworte zu verraten – denn Hathi weiß alles; und wie dann Hathi Mogli selbst mit nach dem Sumpf genommen habe, um das Schlangenwort von den Wasserschlangen zu erfahren, denn das vermochte Balu nicht auszusprechen. Und nun wäre Mogli gegen alles Unglück in der Dschungel gefeit, da weder Schlangen noch Vögel noch Raubtiere ihm etwas anhaben könnten. (…) »Wahr ist, was Hathi sagte, der wilde Elefant: ›Niemand ist ohne Feind‹.6 F wie Der Freund, des -es, plur. die -e, Fämin. die Freundinn, plur. die -en, überhaupt eine Person, welche uns liebt, doch unter verschiedenen Einschränkungen. 1) Eine Person, welche durch die Bande der Verwandtschaft mit uns verbunden, und uns folglich zu lieben verbunden ist, ein Verwandter, eine Verwandte. Ein weitläufiger Freund. Ein naher Freund. Seine Freunde (d. i. Verwandten) wollten die Heirath nicht zugeben. S. Blutsfreund. 2) Eine geliebte Person des andern Geschlechtes, man mag ehelich mit ihr verbunden seyn, oder nicht, in der edlen und anständigen Schreibart. Schon in den Monseeischen Glossen wird Fruidilinna durch Concubina übersetzt, und im 5 Adelung, Band 2., 1798, Sp. 297. 6 Kipling, Kapitel 3. Schwabenspiegel kommt Friundinne in eben diesem Verstande vor. Siehe, mein Freund, du bist schön und lieblich, Hohel. 1, 16. Stehe auf, meine Freundinn, meine Schöne, Kap. 2, 10; und so in andern Stellen dieses Buches mehr. 3) Eine Person, mit der man durch den Umgang verbunden ist. Er ist mein alter Freund. Ein vertrauter Freund. Ihre Freundinnen und Gespielen. 4) Der Neigung nach, eine Person, die man liebt, deren Bestes man zu befördern sucht, ohne Rücksicht auf das Geschlecht. Er ist mein sehr guter Freund. Jemanden zum Freunde haben. Sich jemanden zum Freunde machen. Ein wahrer Freund. Ein falscher, verstellter Freund. Machen sie dem Dinge ein Ende, wenn wir Freunde bleiben sollen, Weiße. Der Freund kann nicht Freund seyn, ohne sich mit mir zur Tugend zu vereinigen, Gell. Er ist ein guter Freund von mir, für, er ist mein Freund, ist eine im gemeinen Leben sehr übliche, vermuthlich nach dem Französischen gebildete Art des Ausdruckes. 5) Im gemeinen Leben nennt man Freunde sehr oft solche Personen, mit welchen man in entfernten Verbindungen der Handlung oder der Nahrung stehet. In diesem Verstande pflegen die Kaufleute ihre Correspondenten und Bekannten Freunde zu nennen. 6) Oft ist mein Freund oder guter Freund ein Ausdruck, mit dem man [Bd. 2, Sp. 284] geringere unbekannte Personen aus Vertraulichkeit anredet, deren Nahmen oder Stand man nicht weiß. 7) Figürlich. Ich bin kein Freund von vielen Reden, d. i. ich liebe das viele Reden nicht. Er ist ein Freund vom Trinken, vom Lesen u. s. f. Ein Freund der Wahrheit und der Tugend. Die Nacht ist niemands Freund, begünstiget niemandes Vorhaben. Die Stille der Nacht und die Einsamkeit sind Freundinnen der Schmerzen, Weiße. Die Freude ist eine Freundinn der Gesellschaft und überläßt sich ungezwungen allen Führungen derselben, Sonnenf. Anm. Freund, bey dem Kero und Ottfried Friunt, im Niedersächs. Fründ, im Holländ. Vriend, im Angels. Freond, im Engl. Friend, bey dem Ulphilas Frionds, im Schwed. und Isländ. Fraende, ist eigentlich das Mittelwort von dem alten Zeitworte frigon, lieben, so wie Feind von fijan, hassen; S. Freyen. Aus dem Worte freundlich scheinet zu erhellen, daß Freund eigentlich eine Person bedeutet, die ihre gute Gesinnung gegen uns durch Geberden an den Tag leget.7 Es war in den Tagen, als Balu das Menschenjunge das Gesetz der Dschungel lehrte. Der große, würdige alte Bär freute sich, einen so gelehrigen Schüler zu haben; denn junge Wölfe wollen nur so viel von dem Dschungelgesetz lernen, als unbedingt nötig ist für das eigene Rudel, und laufen von dannen, sobald sie den Jagdspruch hersagen können: »Füße, die geräuschlos traben, Augen, die im Dunkeln sehen, Ohren, die den Wind hören, Zähne, die wie Messer schneiden – das sind die Zeichen unserer Brüder. […] Jetzt lehre ich ihn gerade die Meisterworte, Urworte der Völker der Dschungel, die ihm Schutz gewähren bei Vögeln und Schlangenvolk und bei allem, was vierfüßig auf dem Erdboden jagt. Wenn er die Worte behält, dann kann er bei allen Völkern der Dschungel Schutz und Hilfe heischen.«8 H wie Der Hêlfer, des -s, plur. ut nom. sing. Fämin. die Helferinn, plur. die -en, eine Person, welche hilft, in allen Bedeutungen des Zeitwortes. Gott der Herr ist ein Helfer, 2 Mos. 2, 22. Da ist kein Helfer, 2 Sam. 22, 42. Vor einem bescheidenen Helfer verbirgt sich die leidende Unschuld nicht, Gell. In der zweyten Hauptbedeutung des Zeitwortes, wo in der anständigen Schreibart 7 Adelung, Band 2., Sp. 283–285. 8 Kipling, Kapitel 3. Gehülfe üblicher ist, kommt es nur noch in den Provinzen vor, wo besonders die Diaconi oder Capelläne der Priester im Oberdeutschen Helfer genannt werden. Gott hat in der Gemeine gesetzt Helfer, 1 Cor. 12, 28. Ein Helfers Helfer, im verächtlichen Verstande, der dem Gehülfen eines andern in einer bösen Sache hilft. Schon bey dem Notker Helfare.9 Hatte er ein Gelüste nach Honig (Balu sagte ihm nämlich, daß Honig und Nüsse mindestens so gut schmeckten wie Fleisch), dann kletterte er in den Bäumen umher, und Baghira zeigte ihm, wie er das tun müsse. Der schwarze Panther war ein verständiger Lehrer. Er sprang zuerst selbst den Baum hinauf, als sei es gar kein Kunststück, streckte sich bequem auf einem Aste aus und rief: »Komm her zu mir, kleiner Bruder!« Anfänglich wollte Mogli sich anklammern wie das Faultier, aber später schwang er sich durch die Baumkronen fast so kühn wie der graue Affe. Er hatte bald auch seinen Platz bei dem Ratsfelsen in der Versammlung. Und hier machte er eines Tages die seltsame Entdeckung, daß die Wölfe seinen Blick nicht aushalten konnten. Starrte er einem von ihnen gerade ins Gesicht, so senkte der Wolf die Augen. Und so gewöhnte er sich daran, rein aus Mutwillen, sie anzustarren. Oft aber auch zog er mit seinem kleinen, flinken Händen die Dornen aus den Ballen seiner Freunde, denn Wölfe leiden schrecklich unter Dornen und Splittern in ihren Pfoten und ihrem Fell. Zuweilen schlich er sich des Nachts nahe an die Dörfer und betrachtete neugierig die braunen Bewohner der Hütten; aber er mißtraute den Menschen, denn Baghira hatte ihm eine Kastenfalle gezeigt, die mit schweren Fangeisen so geschickt im Grase verborgen war, daß Mogli beinahe hineingeraten wäre. Am liebsten ging Mogli mit dem Panther so recht in das dunkle, feuchtwarme Herz des 9 Adelung, Band 2., Sp. 1098–1100. Urwaldes, um dort den schwülen Tag über zu schlafen und des Nachts Baghira auf der Jagd zu begleiten.10 J wie Der Junge, des -n, plur. die -n, das vorige Beywort als ein Hauptwort gebraucht, wo es wider die Art solcher Hauptwörter auch mit dem Artikel der Einheit, ein Junge, und nicht ein Junger lautet. 1. Überhaupt, eine junge Person männlichen Geschlechtes, welche das Jünglingsalter noch nicht erreicht hat, so wie Mädchen eine solche Person weiblichen Geschlechtes bezeichnet; wo es doch nur in der niedrigen und vertraulichen Sprechart üblich ist, und oft einen verächtlichen Nebenbegriff hat, daher in der anständigern Sprechart Knabe dafür gebraucht wird. Ein kleiner Junge, ein guter Junge, in der vertraulichen Sprechart, ein guter junger Mensch, wenn er gleich schon ein Jüngling oder Mann ist. Ein Bauerjunge, Hirtenjunge, Gänsejunge, Schuljunge u. s. f. wofür man in der anständigern Sprechart ein Bauerknabe, Hirtenknabe, Gänseknabe, Schulknabe sagt. 2. Besonders. 1) Ein Lehrling, bey den Handwerkern, Künstlern und Kaufleuten, wo sich denn dieses Wort nicht so wohl auf das Alter, als vielmehr auf die Lehrjahre beziehet, indem ein solcher Mensch im gemeinen Leben so lange ein Junge heißt, bis seine Lehrjahre vorüber sind, und er los gesprochen worden. In den anständigern Sprecharten ein Lehrling. Einen Jungen aufdingen, los sprechen u. s. f. Ein Schneiderjunge, Schusterjunge u. s. f. Einige Künstler und Handwerker pflegen ihre Lehrlinge in der anständigen Sprechart Bursche zu nennen. 2) Ein Knabe, so fern er zur Aufwartung bestimmt ist, und seiner Jugend wegen noch nicht ein Bedienter genannt werden kann; gleichfalls nur im gemeinen Leben und mit Verachtung. Einen Jungen annehmen. Sich 10 Kipling, Kapitel 1. einen Jungen halten. Im Tatian ist Jungo ein Jüngling. Im Nieders. hat man auch das Diminut. Jünsken, Jüngelken, für Knäbchen.11 S wie Der Schurke, des -n, plur. die -n, ein in den gemeinen Sprecharten aller Deutschen Provinzen sehr übliches Schmähwort, eine Mowgli (indisch: wildes Kind) nichtswürdige männliche Person von jeder Art Rudyard Kipling hat den Namen frei erfunden zu bezeichnen. Nieders. gleichfalls Schurk, und in seiner erfundenen Sprache bedeutet Schwed. Skurk, Isländ. Skurka, Engl. Shark. Die Mowgli "kleiner Frosch". Der Name soll auch auf Abstammung dieses Wortes ist wie der meisten die Naturverbundenheit hindeuten und die ähnlichen Scheltwörter dunkel; wahrscheinlich Kommunikation mit Tieren. Der Name Mowgli ist es indessen doch, daß dieses Wort mit dem wird deshalb mit "w" geschrieben, weil Kipling Lateinischen Scurra verwandt ist, wofür im einen Namen wollte, der sich auf Kuh (englisch mittlern Lateine ohne Zischlaut Curro und cow) reimt, da die Kuh in Indien heilig ist.12 Curilis vorkommen. Schurk läßt sich füglich von Mutter Wolf warf sich keuchend zwischen ihre scheren und dessen Intensivo schergen, Jungen nieder, und Vater Wolf sagte jetzt mit schürgen ableiten, so fern sie ehedem auch besorgter Miene: »Schir Khan hat nicht ganz laufen, ingleichen im Lande umher streichen unrecht. Das Menschenjunge muß dem Rudel bedeuteten. Frisch führet bey dem Worte gezeigt werden. Willst du es wirklich behalten?« Scherge mehrere Beyspiele an, aus welchen »Wirklich behalten?« fragte sie entrüstet. erhellet, daß schurgen nicht nur antreiben, »Nackt und ganz allein kam es zu uns in der sondern auch laufen bedeutete. Vor etlicher Nacht und sehr hungrig und hatte doch nicht ein Jahren Schurg, ist bey dem Jeroschin, vor bißchen Furcht. Sieh doch nur, jetzt hat es einigen verlaufenen Jahren; in des Mayen schon wieder eins meiner Kinder beiseite Geschurg, im laufenden May, im Maymonath. gedrückt. Und dieser lahme Viehschlächter Schurk würde also eigentlich einen Landläufer, hätte es beinahe verschlungen und sich dann Landstreicher bedeuten können. Das zum Waingungaflusse aus dem Staube Schlesische Schurk, ein Tannapfel, Tannzapfen, gemacht, während die Dorfbewohner hier alle gehöret zu einem ganz andern Stamme.14 Schlupfwinkel durchsucht hätten, um Rache zu nehmen! Ihn behalten? Natürlich will ich das. Shir Khan ist ein höchst eloquenter Lieg still, kleiner Frosch. Oh, mein Mogli – denn Menschenfresser, der mit seinen Opfern – Mogli, Frosch, werde ich dich nennen –, der Tag ebenso wie Hannibal Lecter – ausgesprochen wird für dich kommen, diesen Schir Khan zu höflich umgeht. Zugegeben, sein Hass auf das jagen und zu hetzen, wie er dich heute gehetzt Menschengeschlecht ist verständlich, wenn hat!«13 man bedenkt, dass es seine gesamte Familie ausgelöscht hat. Doch Shir Khans kaltes, berechnendes Vorgehen erinnert stark an einen Soziopathen. Bonuspunkte bekommt der Tiger auch für seinen Handlanger: eine leutselige Schlange mit hypnotischen Fähigkeiten.15 11 Adelung, Band 2., Sp. 1448–1449. 12 http://www.vorname.com/name,Mowgli.html 13 Kipling, Kapitel 1. 14 Adelung, Band 3., Sp. 1685-1686. 15 Die ultimative Rangliste der 24 fiesesten DisneyBösewichte, Nr. 16, http://www.huffingtonpost.de/2014/02/11/24-ultimative- V wie Notker gebraucht ferfuoren und verfuoren in den jetzt veralteten Bedeutungen des Wegführens Verführen, verb. regul. act. 1. Für das einfache führen, doch in einer jetzt veralteten Bedeutung, und Versetzens. Der Verführer, des -s, plur. ut nom. sing. Fämin. so daß ver eine bloße Intension bezeichnet. Einen Lärmen, ein großes Geschrey verführen, die Verführerin, nur in der letzten Bedeutung d. i. erheben und fortsetzen. Nicht, wie der rohe des vorigen Zeitwortes, eine Person, welche durch irrige Vorstellungen eine andere zum Schwarm, der ein Geschrey verführt, Wenn wo ein Bürgerweib ein Kind zur Welt gebiert. Bernh. Bösen bewegt. Ein Verführer des Volkes. Die Verführer deiner Jugend.16 Man gebraucht es nur mit den schon angezeigten und einigen ähnlichen Kaas Jagdtanz Hauptwörtern. 2. In die Ferne führen, es Es prunkt in hell schillernden Farben/ der geschehe nun auf der Achse oder auf einem scheckige Leopard, / Stolz ist der mächtige Schiffe. Waaren, Güter verführen, wie der Büffel / auf Hörner gewaltiger Art, / . . . Doch Fuhrmann und Schiffer thun. 3. Irre führen, falsch führen, S. Ver 1. (2) (g). (1) Eigentlich. Von willst du als Jäger bestehen, / halt glänzend den seinem Wegweiser verführet werden, wofür man eigenen Pelz, / Denn Jugendstärke verkündet / des prächtigen Felles Schmelz. / . . . Und doch lieber sagt, irre geführet werden. Wie ein Irrlicht, welches den Wanderer verführet. Noch schleudert der kämpfende Büffel / den Feind zur Wolke hinauf, / Und spießt der schnaubende häufiger, (2) Figürlich, durch Beybringung Sambar / den Gegner in rasendem Lauf: / Das unrichtiger Vorstellungen zu einer bösen Handlung bewegen, wo dieses Zeitwort freylich brauchst du uns nicht mehr zu melden, / wir wissen's aus uralter Zeit. / Verschone das mehr sagt und härter ist, als verleiten, S. fremde Junge / und füge ihm zu kein Leid. / dasselbe. Jemanden zu etwas verführen. Die Nein, grüß es als Schwester und Bruder, / auch Israeliten ließen sich verführen, andere Götter anzubethen, 5 Mos. 30, 17. Sich von dem Zorne, wenn es noch wehrlos und klein, / Es könnte die von der Sinnlichkeit verführen lassen. Ingleichen starke Bärin / des Kleinen Mutter sein. / »Ich bin in der Dschungel der Stärkste!« / ruft prahlend absolute, durch irrige Vorstellungen jemandes Sitten verschlimmern. Einen jungen Menschen ein junges Blut / Nach dem ersten errungenen Siege / in törichtem Übermut! / Doch groß ist verführen. Er ist schon verführet worden. In die herrliche Dschungel, / und klein ist das weiterm Verstande bedeutet es oft, doch prahlende Kind, / Bald wird es wachsen und gemeiniglich nur im Scherze, jemanden durch wissen, / wer hier die Mächtigen sind. / Bis Vorstellungen, besonders durch sinnliche dahin laß es schwatzen, / wie es nun immer will, Vorstellungen, zu etwas bewegen, welches er … / Bald fühlt es Zähne und Tatzen, / dann vorher nicht willens war. Jemanden zu einem 17 Spatziergange verführen. Daher die Verführung, wird's von selber still. besonders in dieser letztern Bedeutung, die Handlung, da man andere verführet, zuweilen auch der Zustand, da man verführet wird. Sich vor der Verführung bewahren. Ingleichen die Gelegenheit verführet zu werden. In volkreichen Städten ist die Verführung immer groß. Anm. disney-boesewichte_n_4765335.html 16 Adelung, Band 4., Sp. 1037–1039. 17 Kipling, Kapitel 3. Rudyard Kipling 1865: 30. Dezember: Joseph Rudyard Kipling wird als Sohn des englischen Kurators John Lockwood und dessen Frau Alice Macdonald in Bombay geboren. 1871: Die Eltern schicken Kipling in ein Heim in Southsea, um ihn in englischer Tradition erziehen zu lassen. 1878-1882: Schulbesuch auf der Kadettenanstalt in der Grafschaft Devonshire (England). 1882: Kipling kehrt nach Indien zurück und ist dort sieben Jahre lang als Journalist tätig. 1888: Seine ersten Kurzgeschichten, wie "Schlichte Geschichten aus Indien" und "Drei Soldaten", erscheinen und sind ein großer Erfolg. In ihnen zeichnet er mit Ironie die Schwächen und Konflikte der englischen Bevölkerung in Britisch-Indien nach. 1889: Bei seiner Rückkehr nach England eilt ihm sein Ruf als Schriftsteller bereits voraus. Er wird innerhalb kurzer Zeit zu einem der beliebtesten englischen Autoren. 1892: Heirat mit Caroline Balestier. Das Paar siedelt in die USA über. Beide können sich jedoch dort nicht an das Leben gewöhnen. Sie kehren nach kurzer Zeit nach England zurück. Ab 1892: Mit seinen volkstümlichen Erzählungen und Gedichten wie "Balladen aus dem Biwak" (1892) und "Recessional" (1897) wird Kipling zum literarischen Sprachrohr des britischen Imperialismus. In vielen seiner Geschichten und Balladen idealisiert er das Britische Empire. Kipling ist überzeugt von der politischen und kulturellen Missionsaufgabe der Kolonialmächte und sieht im Kolonialismus eine zivilisatorische Leistung. 1894: Die Tiergeschichte "Das Dschungelbuch" erscheint mit großem Erfolg. Diesem Kinderbuch folgen in den nächsten Jahren weitere, zum Teil ebenso erfolgreiche Werke für Kinder wie "Nur so Geschichten für Kinder" (1902) und "Puck vom Buchsberg" (1906). 1895: Kipling lehnt die Ernennung zum "Poet Laureate" ab. 1897: Der Roman "Brave Seeleute" wird veröffentlicht. 1901: Der Abenteuerroman "Kim" erscheint. In ihm erzählt Kipling die Geschichte eines in den Slums von Lahore (Indien) aufgewachsenen Sohns einer irischen Unteroffiziersfamilie. Der Roman zeichnet ein genaues Bild Indiens und schildert den dort herrschenden Konflikt zwischen Indern und Briten. 1902: Kipling erwirbt ein Haus in Burwash (Sussex), in das sich die Familie zurückzieht. 1907: Kipling erhält als erster Engländer den Nobelpreis für Literatur. ab 1907: Er unternimmt zahlreiche ausgedehnte Reisen nach Südafrika. 1936: 18. Januar: Rudyard Kipling stirbt in London. 1941: Postum wird sein unvollendeter autobiographischer Essay "Something of myself" veröffentlicht aus: https://www.dhm.de/lemo/biografie/rudyard-kipling Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (Kapitel 2) Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Rußland führt. Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes; neben jedem wie ein schmutziger Schatten der dunkle, von dem Abdampfe in den Boden gebrannte Strich. Hinter dem niederen, ölgestrichenen Stationsgebäude führte eine breite, ausgefahrene Straße zur Bahnhofsrampe herauf. Ihre Ränder verloren sich in dem ringsum zertretenen Boden und waren nur an zwei Reihen Akazienbäumen kenntlich, die traurig mit verdursteten, von Staub und Ruß erdrosselten Blättern zu beiden Seiten standen. Machten es diese traurigen Farben, machte es das bleiche, kraftlose, durch den Dunst ermüdete Licht der Nachmittagssonne: Gegenstände und Menschen hatten etwas Gleichgültiges, Lebloses, Mechanisches an sich, als seien sie aus der Szene eines Puppentheaters genommen. Von Zeit zu Zeit, in gleichen Intervallen, trat der Bahnhofsvorstand aus seinem Amtszimmer heraus, sah mit der gleichen Wendung des Kopfes die weite Strecke hinauf nach den Signalen der Wächterhäuschen, die immer noch nicht das Nahen des Eilzuges anzeigen wollten, der an der Grenze große Verspätung erlitten hatte; mit ein und derselben Bewegung des Armes zog er sodann seine Taschenuhr hervor, schüttelte den Kopf und verschwand wieder; so wie die Figuren kommen und gehen, die aus alten Turmuhren treten, wenn die Stunde voll ist. Auf dem breiten, festgestampften Streifen zwischen Schienenstrang und Gebäude promenierte eine heitere Gesellschaft junger Leute, links und rechts eines älteren Ehepaares schreitend, das den Mittelpunkt der etwas lauten Unterhaltung bildete. Aber auch die Fröhlichkeit dieser Gruppe war keine rechte; der Lärm des lustigen Lachens schien schon auf wenige Schritte zu verstummen, gleichsam an einem zähen, unsichtbaren Widerstande zu Boden zu sinken. Frau Hofrat Törleß, dies war die Dame von vielleicht vierzig Jahren, verbarg hinter ihrem dichten Schleier traurige, vom Weinen ein wenig gerötete Augen. Es galt Abschied zu nehmen. Und es fiel ihr schwer, ihr einziges Kind nun wieder auf so lange Zeit unter fremden Leuten lassen zu müssen, ohne Möglichkeit, selbst schützend über ihren Liebling zu wachen. Denn die kleine Stadt lag weitab von der Residenz, im Osten des Reiches, in spärlich besiedeltem, trockenem Ackerland. Der Grund, dessentwegen Frau Törleß es dulden mußte, ihren Jungen in so ferner, unwirtlicher Fremde zu wissen, war, daß sich in dieser Stadt ein berühmtes Konvikt befand, welches man schon seit dem vorigen Jahrhunderte, wo es auf dem Boden einer frommen Stiftung errichtet worden war, da draußen beließ, wohl um die aufwachsende Jugend vor den verderblichen Einflüssen einer Großstadt zu bewahren. Denn hier erhielten die Söhne der besten Familien des Landes ihre Ausbildung, um nach Verlassen des Institutes die Hochschule zu beziehen oder in den Militär- oder Staatsdienst einzutreten, und in allen diesen Fällen sowie für den Verkehr in den Kreisen der guten Gesellschaft galt es als besondere Empfehlung, im Konvikte zu W. aufgewachsen zu sein. Vor vier Jahren hatte dies das Elternpaar Törleß bewogen, dem ehrgeizigen Drängen seines Knaben nachzugeben und seine Aufnahme in das Institut zu erwirken. Dieser Entschluß hatte später viele Tränen gekostet. Denn fast seit dem Augenblicke, da sich das Tor des Institutes unwiderruflich hinter ihm geschlossen hatte, litt der kleine Törleß an fürchterlichem, leidenschaftlichem Heimweh. Weder die Unterrichtsstunden, noch die Spiele auf den großen üppigen Wiesen des Parkes, noch die anderen Zerstreuungen, die das Konvikt seinen Zöglingen bot, vermochten ihn zu fesseln; er beteiligte sich kaum an ihnen. Er sah alles nur wie durch einen Schleier und hatte selbst untertags häufig Mühe, ein hartnäckiges Schluchzen hinabzuwürgen; des Abends schlief er aber stets unter Tränen ein. Er schrieb Briefe nach Hause, beinahe täglich, und er lebte nur in diesen Briefen; alles andere, was er tat, schien ihm nur ein schattenhaftes, bedeutungsloses Geschehen zu sein, gleichgültige Stationen wie die Stundenziffern eines Uhrblattes. Wenn er aber schrieb, fühlte er etwas Auszeichnendes, Exklusives in sich; wie eine Insel voll wunderbarer Sonnen und Farben hob sich etwas in ihm aus dem Meere grauer Empfindungen heraus, das ihn Tag um Tag kalt und gleichgültig umdrängte. Und wenn er untertags, bei den Spielen oder im Unterrichte, daran dachte, daß er abends seinen Brief schreiben werde, so war ihm, als trüge er an unsichtbarer Kette einen goldenen Schlüssel verborgen, mit dem er, wenn es niemand sieht, das Tor von wunderbaren Gärten öffnen werde. Das Merkwürdige daran war, daß diese jähe, verzehrende Hinneigung zu seinen Eltern für ihn selbst etwas Neues und Befremdendes hatte. Er hatte sie vorher nicht geahnt, er war gern und freiwillig ins Institut gegangen, ja er hatte gelacht, als sich seine Mutter beim ersten Abschied vor Tränen nicht fassen konnte, und dann erst, nachdem er schon einige Tage allein gewesen war und sich verhältnismäßig wohl befunden hatte, brach es plötzlich und elementar in ihm empor. Er hielt es für Heimweh, für Verlangen nach seinen Eltern. In Wirklichkeit war es aber etwas viel Unbestimmteres und Zusammengesetzteres. Denn der »Gegenstand dieser Sehnsucht«, das Bild seiner Eltern, war darin eigentlich gar nicht mehr enthalten. Ich meine diese gewisse plastische, nicht bloß gedächtnismäßige, sondern körperliche Erinnerung an eine geliebte Person, die zu allen Sinnen spricht und in allen Sinnen bewahrt wird, so daß man nichts tun kann, ohne schweigend und unsichtbar den anderen zur Seite zu fühlen. Diese verklang bald wie eine Resonanz, die nur noch eine Weile fortgezittert hatte. Törleß konnte sich damals beispielsweise nicht mehr das Bild seiner »lieben, lieben Eltern« – dermaßen sprach er es meist vor sich hin – vor Augen zaubern. Versuchte er es, so kam an dessen Stelle der grenzenlose Schmerz in ihm empor, dessen Sehnsucht ihn züchtigte und ihn doch eigenwillig festhielt, weil ihre heißen Flammen ihn zugleich schmerzten und entzückten. Der Gedanke an seine Eltern wurde ihm hiebei mehr und mehr zu einer bloßen Gelegenheitsursache, dieses egoistische Leiden in sich zu erzeugen, das ihn in seinen wollüstigen Stolz einschloß wie in die Abgeschiedenheit einer Kapelle, in der von hundert flammenden Kerzen und von hundert Augen heiliger Bilder Weihrauch zwischen die Schmerzen der sich selbst Geißelnden gestreut wird. – – – Als dann sein »Heimweh« weniger heftig wurde und sich allgemach verlor, zeigte sich diese seine Art auch ziemlich deutlich. Sein Verschwinden führte nicht eine endlich erwartete Zufriedenheit nach sich, sondern ließ in der Seele des jungen Törleß eine Leere zurück. Und an diesem Nichts, an diesem Unausgefüllten in sich erkannte er, daß es nicht eine bloße Sehnsucht gewesen war, die ihm abhanden kam, sondern etwas Positives, eine seelische Kraft, etwas, das sich in ihm unter dem Vorwand des Schmerzes ausgeblüht hatte. Nun aber war es vorbei, und diese Quelle einer ersten höheren Seligkeit hatte sich ihm erst durch ihr Versiegen fühlbar gemacht. Zu dieser Zeit verloren sich die leidenschaftlichen Spuren der im Erwachen gewesenen Seele wieder aus seinen Briefen, und an ihre Stelle traten ausführliche Beschreibungen des Lebens im Institute und der neugewonnenen Freunde. Er selbst fühlte sich dabei verarmt und kahl, wie ein Bäumchen, das nach der noch fruchtlosen Blüte den ersten Winter erlebt. Seine Eltern aber waren es zufrieden. Sie liebten ihn mit einer starken, gedankenlosen, tierischen Zärtlichkeit. Jedesmal, wenn er vom Konvikte Ferien bekommen hatte, erschien der Hofrätin nachher ihr Haus von neuem leer und ausgestorben, und noch einige Tage nach jedem solchen Besuche ging sie mit Tränen in den Augen durch die Zimmer, da und dort einen Gegenstand liebkosend berührend, auf dem das Auge des Knaben geruht oder den seine Finger gehalten hatten. Und beide hätten sie sich für ihn in Stücke reißen lassen. Die unbeholfene Rührung und leidenschaftliche, trotzige Trauer seiner Briefe beschäftigte sie schmerzlich und versetzte sie in einen Zustand hochgespannter Empfindsamkeit; der heitere, zufriedene Leichtsinn, der darauf folgte, machte auch sie wieder froh, und in dem Gefühle, daß dadurch eine Krise überwunden worden sei, unterstützten sie ihn nach Kräften. Weder in dem einen noch in dem andern erkannten sie das Symptom einer bestimmten seelischen Entwicklung, vielmehr hatten sie Schmerz und Beruhigung gleichermaßen als eine natürliche Folge der gegebenen Verhältnisse hingenommen. Daß es der erste, mißglückte Versuch des jungen, auf sich selbst gestellten Menschen gewesen war, die Kräfte des Inneren zu entfalten, entging ihnen. Törleß fühlte sich nun sehr unzufrieden und tastete da und dort vergeblich nach etwas Neuem, das ihm als Stütze hätte dienen können. Eine Episode dieser Zeit war für das charakteristisch, was sich damals in Törleß zu späterer Entwicklung vorbereitete. Eines Tages war nämlich der junge Fürst H. ins Institut eingetreten, der aus einem der einflußreichsten, ältesten und konservativsten Adelsgeschlechter des Reiches stammte. Alle anderen fanden seine sanften Augen fad und affektiert; die Art und Weise, wie er im Stehen die eine Hüfte herausdrückte und beim Sprechen langsam mit den Fingern spielte, verlachten sie als weibisch. Besonders aber spotteten sie darüber, daß er nicht von seinen Eltern ins Konvikt gebracht worden war, sondern von seinem bisherigen Erzieher, einem doctor theologiae und Ordensgeistlichen. Törleß aber hatte vom ersten Augenblicke an einen starken Eindruck empfangen. Vielleicht wirkte dabei der Umstand mit, daß es ein hoffähiger Prinz war, jedenfalls war es aber auch eine andere Art Mensch, die er da kennen lernte. Das Schweigen eines alten Landedelschlosses und frommer Übungen schien irgendwie noch an ihm zu haften. Wenn er ging, so geschah es mit weichen, geschmeidigen Bewegungen, mit diesem etwas schüchternen Sichzusammenziehen und Schmalmachen, das der Gewohnheit eigen ist, aufrecht durch die Flucht leerer Säle zu schreiten, wo ein anderer an unsichtbaren Ecken des leeren Raumes schwer anzurennen scheint. Der Umgang mit dem Prinzen wurde so zur Quelle eines feinen psychologischen Genusses für Törleß. Er bahnte in ihm jene Art Menschenkenntnis an, die es lehrt, einen anderen nach dem Fall der Stimme, nach der Art, wie er etwas in die Hand nimmt, ja selbst nach dem Timbre seines Schweigens und dem Ausdruck der körperlichen Haltung, mit der er sich in einen Raum fügt, kurz nach dieser beweglichen, kaum greifbaren und doch erst eigentlichen, vollen Art etwas SeelischMenschliches zu sein, die um den Kern, das Greif- und Besprechbare, wie um ein bloßes Skelett herumgelagert ist, so zu erkennen und zu genießen, daß man die geistige Persönlichkeit dabei vorwegnimmt. Törleß lebte während dieser kurzen Zeit wie in einer Idylle. Er stieß sich nicht an der Religiosität seines neuen Freundes, die ihm, der aus einem bürgerlich-freidenkenden Hause stammte, eigentlich etwas ganz Fremdes war. Er nahm sie vielmehr ohne alles Bedenken hin, ja sie bildete in seinen Augen sogar einen besonderen Vorzug des Prinzen, denn sie steigerte das Wesen dieses Menschen, das er dem seinen völlig unähnlich, aber auch ganz unvergleichlich fühlte. In der Gesellschaft dieses Prinzen fühlte er sich etwa wie in einer abseits des Weges liegenden Kapelle, so daß der Gedanke, daß er eigentlich nicht dorthin gehöre, ganz gegen den Genuß verschwand, das Tageslicht einmal durch Kirchenfenster anzusehen und das Auge so lange über den nutzlosen, vergoldeten Zierat gleiten zu lassen, der in der Seele dieses Menschen aufgehäuft war, bis er von dieser selbst ein undeutliches Bild empfing, so, als ob er, ohne sich Gedanken darüber machen zu können, mit dem Finger eine schöne, aber nach seltsamen Gesetzen verschlungene Arabeske nachzöge. Dann kam es plötzlich zum Bruche zwischen beiden. Wegen einer Dummheit, wie sich Törleß selbst hinterher sagen mußte. Sie waren nämlich doch einmal ins Streiten über religiöse Dinge gekommen. Und in diesem Augenblicke war es eigentlich schon um alles geschehen. Denn wie von Törleß unabhängig, schlug nun der Verstand in ihm unaufhaltsam auf den zarten Prinzen los. Er überschüttete ihn mit dem Spotte des Vernünftigen, zerstörte barbarisch das filigrane Gebäude, in dem dessen Seele heimisch war, und sie gingen im Zorne auseinander. Seit der Zeit hatten sie auch kein Wort wieder zueinander gesprochen. Törleß war sich wohl dunkel bewußt, daß er etwas Sinnloses getan hatte, und eine unklare, gefühlsmäßige Einsicht sagte ihm, daß da dieser hölzerne Zollstab des Verstandes zu ganz unrechter Zeit etwas Feines und Genußreiches zerschlagen habe. Aber dies war etwas, das ganz außer seiner Macht lag. Eine Art Sehnsucht nach dem Früheren war wohl für immer in ihn zurückgeblieben, aber er schien in einen anderen Strom geraten zu sein, der ihn immer weiter davon entfernte. Nach einiger Zeit trat dann auch der Prinz, der sich im Konvikte nicht wohl befunden hatte, wieder aus. Nun wurde es ganz leer und langweilig um Törleß. Aber er war einstweilen älter geworden, und die beginnende Geschlechtsreife fing an, sich dunkel und allmählich in ihm emporzuheben. In diesem Abschnitt seiner Entwicklung schloß er einige neue, dementsprechende Freundschaften, die für ihn später von größter Wichtigkeit wurden. So mit Beineberg und Reiting, mit Moté und Hofmeier, eben jenen jungen Leuten, in deren Gesellschaft er heute seine Eltern zur Bahn begleitete. Merkwürdigerweise waren dies gerade die übelsten seines Jahrganges, zwar talentiert und selbstverständlich auch von guter Herkunft, aber bisweilen bis zur Roheit wild und ungebärdig. Und daß gerade ihre Gesellschaft Törleß nun fesselte, lag wohl an seiner eigenen Unselbständigkeit, die, seitdem es ihn von dem Prinzen wieder fortgetrieben hatte, sehr arg war. Es lag sogar in der geradlinigen Verlängerung dieses Abschwenkens, denn es bedeutete wie dieses eine Angst vor allzu subtilen Empfindeleien, gegen die das Wesen der anderen Kameraden gesund, kernig und lebensgerecht abstach. Törleß überließ sich gänzlich ihrem Einflusse, denn seine geistige Situation war nun ungefähr diese: In seinem Alter hat man am Gymnasium Goethe, Schiller, Shakespeare, vielleicht sogar schon die Modernen gelesen. Das schreibt sich dann halbverdaut aus den Fingerspitzen wieder heraus. Römertragödien entstehen oder sensitivste Lyrik, die im Gewande seitenlanger Interpunktionen wie in der Zartheit durchbrochener Spitzenarbeit einherschreitet: Dinge, die an und für sich lächerlich sind, für die Sicherheit der Entwicklung aber einen unschätzbaren Wert bedeuten. Denn diese von außen kommenden Assoziationen und erborgten Gefühle tragen die jungen Leute über den gefährlich weichen seelischen Boden dieser Jahre hinweg, wo man sich selbst etwas bedeuten muß und doch noch zu unfertig ist, um wirklich etwas zu bedeuten. Ob für später bei dem einen etwas davon zurückbleibt oder bei dem andern nichts, ist gleichgültig; dann findet sich schon jeder mit sich ab, und die Gefahr besteht nur in dem Alter des Überganges. Wenn man da solch einem jungen Menschen das Lächerliche seiner Person zur Einsicht bringen könnte, so würde der Boden unter ihm einbrechen, oder er würde wie ein erwachter Nachtwandler herabstürzen, der plötzlich nichts als Leere sieht. Diese Illusion, dieser Trick zugunsten der Entwicklung fehlte im Institute. Denn dort waren in der Büchersammlung wohl die Klassiker enthalten, aber diese galten als langweilig, und sonst fanden sich nur sentimentale Novellenbände und witzlose Militärhumoresken. Der kleine Törleß hatte sie wohl alle förmlich in einer Gier nach Büchern durchgelesen, irgendeine banal zärtliche Vorstellung aus ein oder der anderen Novelle wirkte manchmal auch noch eine Weile nach, allein einen Einfluß, einen wirklichen Einfluß, nahm dies auf seinen Charakter nicht. Es schien damals, daß er überhaupt keinen Charakter habe. Er schrieb zum Beispiel unter dem Einflusse dieser Lektüre selbst hie und da eine kleine Erzählung oder begann ein romantisches Epos zu dichten. In der Erregung über die Liebesleiden seiner Helden röteten sich dann seine Wangen, seine Pulse beschleunigten sich und seine Augen glänzten. Wie er aber die Feder aus der Hand legte, war alles vorbei; gewissermaßen nur in der Bewegung lebte sein Geist. Daher war es ihm auch möglich, ein Gedicht oder eine Erzählung wann immer, auf jede Aufforderung hin, niederzuschreiben. Er regte sich dabei auf, aber trotzdem nahm er es nie ganz ernst, und die Tätigkeit erschien ihm nicht wichtig. Es ging von ihr nichts auf seine Person über, und sie ging nicht von seiner Person aus. Er hatte nur unter irgendeinem äußeren Zwang Empfindungen, die über das Gleichgültige hinausgingen, wie ein Schauspieler dazu des Zwanges einer Rolle bedarf. Es waren Reaktionen des Gehirns. Das aber, was man als Charakter oder Seele, Linie oder Klangfarbe eines Menschen fühlt, jedenfalls dasjenige, wogegen die Gedanken, Entschlüsse und Handlungen wenig bezeichnend, zufällig und auswechselbar erscheinen, dasjenige, was beispielsweise Törleß an den Prinzen jenseits alles verstandlichen Beurteilens geknüpft hatte, dieser letzte, unbewegliche Hintergrund, war zu jener Zeit in Törleß gänzlich verloren gegangen. In seinen Kameraden war es die Freude am Sport, das Animalische, welches sie eines solchen gar nicht bedürfen ließ, so wie am Gymnasium das Spiel mit der Literatur dafür sorgt. Törleß war aber für das eine zu geistig angelegt und dem anderen brachte er jene scharfe Feinfühligkeit für das Lächerliche solcher erborgter Sentiments entgegen, die das Leben im Institute durch seine Nötigung steter Bereitschaft zu Streitigkeiten und Faustkämpfen erzeugt. So erhielt sein Wesen etwas Unbestimmtes, eine innere Hilflosigkeit, die ihn nicht zu sich selbst finden ließ. Er schloß sich seinen neuen Freunden an, weil ihm ihre Wildheit imponierte. Da er ehrgeizig war, versuchte er hie und da, es ihnen darin sogar zuvorzutun. Aber jedesmal blieb er wieder auf halbem Wege stehen und hatte nicht wenig Spott deswegen zu erleiden. Dies verschüchterte ihn dann wieder. Sein ganzes Leben bestand in dieser kritischen Periode eigentlich nur in diesem immer erneuten Bemühen, seinen rauhen, männlicheren Freunden nachzueifern, und in einer tief innerlichen Gleichgültigkeit gegen dieses Bestreben. Besuchten ihn jetzt seine Eltern, so war er, solange sie allein waren, still und scheu. Den zärtlichen Berührungen seiner Mutter entzog er sich jedesmal unter einem anderen Vorwande. In Wahrheit hätte er ihnen gern nachgegeben, aber er schämte sich, als seien die Augen seiner Kameraden auf ihn gerichtet. Seine Eltern nahmen es als die Ungelenkigkeit der Entwicklungsjahre hin. Nachmittags kam dann die ganze laute Schar. Man spielte Karten, aß, trank, erzählte Anekdoten über die Lehrer und rauchte die Zigaretten, die der Hofrat aus der Residenz mitgebracht hatte. Diese Heiterkeit erfreute und beruhigte das Ehepaar. Daß für Törleß mitunter auch andere Stunden kamen, wußten sie nicht. Und in der letzten Zeit immer zahlreichere. Er hatte Augenblicke, wo ihm das Leben im Institute völlig gleichgültig wurde. Der Kitt seiner täglichen Sorgen löste sich da, und die Stunden seines Lebens fielen ohne innerlichen Zusammenhang auseinander. Er saß oft lange – in finsterem Nachdenken – gleichsam über sich selbst gebeugt. Zwei Besuchstage waren es auch diesmal gewesen. Man hatte gespeist, geraucht, eine Spazierfahrt unternommen, und nun sollte der Eilzug das Ehepaar wieder in die Residenz zurückführen. Ein leises Rollen in den Schienen kündigte sein Nahen an, und die Signale der Glocke am Dache des Stationsgebäudes klangen der Hofrätin unerbittlich ins Ohr. »Also nicht wahr, lieber Beineberg, Sie geben mir auf meinen Buben acht?« wandte sich Hofrat Törleß an den jungen Baron Beineberg, einen langen, knochigen Burschen mit mächtig abstehenden Ohren, aber ausdrucksvollen, gescheiten Augen. Der kleine Törleß schnitt ob dieser Bevormundung ein mißmutiges Gesicht, und Beineberg grinste geschmeichelt und ein wenig schadenfroh. »Überhaupt« – wandte sich der Hofrat an die übrigen – »möchte ich Sie alle gebeten haben, falls meinem Sohne irgend etwas sein sollte, mich gleich davon zu verständigen.« Dies entlockte nun doch dem jungen Törleß ein unendlich gelangweiltes: »Aber Papa, was soll mir denn passieren?!« obwohl er schon daran gewöhnt war, bei jedem Abschiede diese allzu große Sorgsamkeit über sich ergehen lassen zu müssen. Die anderen schlugen indessen die Hacken zusammen, wobei sie die zierlichen Degen straff an die Seite zogen, und der Hofrat fügte noch hinzu: »Man kann nie wissen, was vorkommt, und der Gedanke, sofort von allem verständigt zu werden, bereitet mir eine große Beruhigung; schließlich könntest du doch auch am Schreiben behindert sein.« Dann fuhr der Zug ein. Hofrat Törleß umarmte seinen Sohn, Frau von Törleß drückte den Schleier fester ans Gesicht, um ihre Tränen zu verbergen, die Freunde bedankten sich der Reihe nach, dann schloß der Schaffner die Wagentür. Noch einmal sah das Ehepaar die hohe, kahle Rückfront des Institutsgebäudes, – die mächtige, langgestreckte Mauer, welche den Park umschloß, dann kamen rechts und links nur mehr graubraune Felder und vereinzelte Obstbäume. Die jungen Leute hatten unterdessen den Bahnhof verlassen und gingen in zwei Reihen hintereinander auf den beiden Rändern der Straße – so wenigstens dem dicksten und zähesten Staube ausweichend – der Stadt zu, ohne viel miteinander zu reden. Es war fünf Uhr vorbei, und über die Felder kam es ernst und kalt, wie ein Vorbote des Abends. Törleß wurde sehr traurig. Vielleicht war daran die Abreise seiner Eltern schuld, vielleicht war es jedoch nur die abweisende, stumpfe Melancholie, die jetzt auf der ganzen Natur ringsumher lastete und schon auf wenige Schritte die Formen der Gegenstände mit schweren glanzlosen Farben verwischte. Dieselbe furchtbare Gleichgültigkeit, die schon den ganzen Nachmittag über allerorts gelegen war, kroch nun über die Ebene heran, und hinter ihr her wie eine schleimige Fährte der Nebel, der über den Sturzäckern und bleigrauen Rübenfeldern klebte. Törleß sah nicht rechts noch links, aber er fühlte es. Schritt für Schritt trat er in die Spuren, die soeben erst vom Fuße des Vordermanns in dem Staube aufklafften, – und so fühlte er es: als ob es so sein müßte: als einen steinernen Zwang, der sein ganzes Leben in diese Bewegung – Schritt für Schritt – auf dieser einen Linie, auf diesem einen schmalen Streifen, der sich durch den Staub zog, einfing und zusammenpreßte. Als sie an einer Kreuzung stehen blieben, wo ein zweiter Weg mit dem ihren in einen runden, ausgetretenen Fleck zusammenfloß, und als dort ein morschgewordener Wegweiser schief in die Luft hineinragte, wirkte diese, zu ihrer Umgebung in Widerspruch stehende, Linie wie ein verzweifelter Schrei auf Törleß. Wieder gingen sie weiter. Törleß dachte an seine Eltern, an Bekannte, an das Leben. Um diese Stunde kleidet man sich für eine Gesellschaft an oder beschließt ins Theater zu fahren. Und nachher geht man ins Restaurant, hört eine Kapelle, besucht das Kaffeehaus. Man macht eine interessante Bekanntschaft. Ein galantes Abenteuer hält bis zum Morgen in Erwartung. Das Leben rollt wie ein wunderbares Rad immer Neues, Unerwartetes aus sich heraus ... Törleß seufzte unter diesen Gedanken, und bei jedem Schritte, der ihn der Enge des Institutes nähertrug, schnürte sich etwas immer fester in ihm zusammen. Jetzt schon klang ihm das Glockenzeichen in den Ohren. Nichts fürchtete er nämlich so sehr wie dieses Glockenzeichen, das unwiderruflich das Ende des Tages bestimmte – wie ein brutaler Messerschnitt. Er erlebte ja nichts, und sein Leben dämmerte in steter Gleichgültigkeit dahin, aber dieses Glockenzeichen fügte dem auch noch den Hohn hinzu und ließ ihn in ohnmächtiger Wut über sich selbst, über sein Schicksal, über den begrabenen Tag erzittern. Nun kannst du gar nichts mehr erleben, während zwölf Stunden kannst du nichts mehr erleben, für zwölf Stunden bist du tot ...: das war der Sinn dieses Glockenzeichens. Als die Gesellschaft junger Leute zwischen die ersten niedrigen, hüttenartigen Häuser kam, wich dieses dumpfe Brüten von Törleß. Wie von einem plötzlichen Interesse erfaßt, hob er den Kopf und blickte angestrengt in das dunstige Innere der kleinen, schmutzigen Gebäude, an denen sie vorübergingen. Vor den Türen der meisten standen die Weiber, in Kitteln und groben Hemden, mit breiten, beschmutzten Füßen und nackten, braunen Armen. Waren sie jung und drall, so flog ihnen manches derbe slawische Scherzwort zu. Sie stießen sich an und kicherten über die »jungen Herren«; manchmal schrie eine auch auf, wenn im Vorübergehen allzu hart ihre Brüste gestreift wurden, oder erwiderte mit einem lachenden Schimpfwort einen Schlag auf die Schenkel. Manche sah auch bloß mit zornigem Ernste hinter den Eilenden drein; und der Bauer lächelte verlegen, – halb unsicher, halb gutmütig, – wenn er zufällig hinzugekommen war. Törleß beteiligte sich nicht an dieser übermütigen, frühreifen Männlichkeit seiner Freunde. Der Grund hiezu lag wohl teilweise in einer gewissen Schüchternheit in geschlechtlichen Sachen, wie sie fast allen einzigen Kindern eigentümlich ist, zum größeren Teile jedoch in der ihm besonderen Art der sinnlichen Veranlagung, welche verborgener, mächtiger und dunkler gefärbt war als die seiner Freunde und sich schwerer äußerte. Während die anderen mit den Weibern schamlos – taten, beinahe mehr um »fesch« zu sein, als aus Begierde, war die Seele des schweigsamen, kleinen Törleß aufgewühlt und von wirklicher Schamlosigkeit gepeitscht. Er blickte mit so brennenden Augen durch die kleinen Fenster und winkligen, schmalen Torwege in das Innere der Häuser, daß es ihm beständig wie ein feines Netz vor den Augen tanzte. Fast nackte Kinder wälzten sich in dem Kot der Höfe, da und dort gab der Rock eines arbeitenden Weibes die Kniekehlen frei oder drückte sich eine schwere Brust straff in die Falten der Leinwand. Und als ob all dies sogar unter einer ganz anderen, tierischen, drückenden Atmosphäre sich abspielte, floß aus dem Flur der Häuser eine träge, schwere Luft, die Törleß begierig einatmete. Er dachte an alte Malereien, die er in Museen gesehen hatte, ohne sie recht zu verstehen. Er wartete auf irgend etwas, so wie er vor diesen Bildern immer auf etwas gewartet hatte, das sich nie ereignete. Worauf ...? ... Auf etwas Überraschendes, noch nie Gesehenes; auf einen ungeheuerlichen Anblick, von dem er sich nicht die geringste Vorstellung machen konnte; auf irgend etwas von fürchterlicher, tierischer Sinnlichkeit; das ihn wie mit Krallen packe und von den Augen aus zerreiße; auf ein Erlebnis, das in irgendeiner noch ganz unklaren Weise mit den schmutzigen Kitteln der Weiber, mit ihren rauhen Händen, mit der Niedrigkeit ihrer Stuben, mit ... mit einer Beschmutzung an dem Kot der Höfe ... zusammenhängen müsse ... Nein, nein; ... er fühlte jetzt nur mehr das feurige Netz vor den Augen; die Worte sagten es nicht; so arg, wie es die Worte machen, ist es gar nicht; es ist etwas ganz Stummes, – ein Würgen in der Kehle, ein kaum merkbarer Gedanke, und nur dann, wenn man es durchaus mit Worten sagen wollte, käme es so heraus; aber dann ist es auch nur mehr entfernt ähnlich, wie in einer riesigen Vergrößerung, wo man nicht nur alles deutlicher sieht, sondern auch Dinge, die gar nicht da sind ... Dennoch war es zum Schämen. Menagerien von Stephan Nagel Titelbild des Kinderbuches “Grosse Menagerie”, Schreiber-Verlag Esslingen, Ende 19.Jh. Hereinspaziert in die Menagerie, Ihr stolzen Herrn, ihr lebenslust’gen Frauen, Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen Die unbeseelte Kreatur zu schauen, Gebändigt durch das menschliche Genie. Hereinspaziert, die Vorstellung beginnt! – Auf zwei Personen kommt umsonst ein Kind. ...Frank Wedekind, Beginn des Prologs zum „Erdgeist“, 1895 Zur Bude näher gelangt, durften sie die bunten, kolossalen Gemälde nicht übersehen, die mit heftigen Farben und kräftigen Bildern jene fremden Tiere darstellten, welche der friedliche Staatsbürger zu schauen unüberwindliche Lust empfinden sollte. Der grimmig ungeheure Tiger sprang auf den Mohren los, im Begriff, ihn zu zerreißen, ein Löwe stand ernsthaft und majestätisch, als wenn er keine Beute seiner würdig vor sich sähe, andere wunderliche, bunte Geschöpfe verdienten neben diesen weniger Aufmerksamkeit. (...) ‘Es ist wunderbar’, versetzte der Fürst, ‘daß der Mensch durch Schreckliches immer aufgeregt sein will. Drinnen liegt der Tiger ganz ruhig in seinem Kerker, und hier muß er grimmig auf einen Mohren losfahren, damit man glaube, dergleichen inwendig ebenfalls zu sehen; es ist an Mord und Totschlag noch nicht genug, an Brand und Untergang; die Bänkelsänger müssen es an jeder Ecke wiederholen. Die guten Menschen wollen eingeschüchtert sein, um hinterdrein erst recht zu fühlen, wie schön und löblich es sei, frei Atem zu holen. (Goethe: Novelle. Ausgabe Frankfurt/ M. 1989, S.21f) Reisende Tierschaustellungen beinhalteten bis ins 18. Jahrhundert hinein vorwiegend einzelne oder wenige Tiere (vgl. Haarhaus 1906, S.346ff). Aus Magdeburg sah man bereits im vorigen Monath October nachbenahmte Tierbude und Panorama, Holzstich 1844 (Ausschnitt), Sammlung Nagel sehenswürdige frembde Thiere anhero gebracht, und in einer aufm Neumarkt aufgebauten Bude umbs Geld sehen lassen: 1.) einen grossen See-Löwen, der seine Stimme mit grosser Verwunderung erhebet; 2.) einen grossen Beßmann oder Pavian, der ungemein schöne Farben in seinem Angesichte hat, auch am Hinterleibe mit curieusen Circuln und allerhand merckwürdigen Farben geziertet, er verursachet durch Complimentmachen u. Liebkosen jedermann vieles Plaisir; 3.) ein kleiner sehr lustiger Affe, der mit einen jungen Beßmänngen viel lächerliche Possen machet; 4.) eine Kuh mit 6. Beinen, davon 2. Auf den Rücken stehen.” (Kurzgefaßter Kern Dreßdenischer Merckwürdigkeiten von Jahr 1741 in Sagemüller 1993ff, S.118) Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstanden zunehmend Menagerien mit einem vielfältigen Tierbestand, ganz so, wie sie uns Karl von Holtei in seinem Roman „Die Vagabunden“ von 1852 sehr authentisch vor Augen führt. Eine typische Jahrmarktsmenagerie aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wird im nachfolgenden zeitgenössischen Text aufschlussreich beschrieben: "Wer ein Liebhaber abgerichteter Thiere ist, stellt sich auch gern in den Menagerien ein, welche in letzter Zeit sich in dem pompösen Titel “Zoologisches Etablissement” gefallen. Die Exercitien der Thierbändiger aber sind überall dieselben und waren es auch wohl von jeher. Auf einem Podium läßt sich ein lärmendes Orchester, ein Klirren, wie von zerschmettertem Geschirr hören; dumpfe Paukenschläge locken herbei. Ein Neger in himmelblauer Kleidung, einen numidischen Krieger vorstellend, führt einen Bären am Strick und läßt ihn auf den Brettern tanzen, gerade vor der blonden Cassiererin mit dem funkelnden Diadem im Haar; sie lächelt, allein ihre Zähne sind nicht so weiß wie die des Schwarzen. Ueber ihr, hinter dem Gasrohr, hängt das Bildnis eines Löwen mit schrecklich wüster Mähne und einem gen Himmel gerichteten Blick. Nicht weit davon der Löwenbändiger, aus Wunden blutend, die er auf der Brust zeigt, wie ein General seine Orden – daneben noch einmal der Löwenbändiger in der Apotheose: auf einer Pyramide von verschiedenartigen Bestien thront er, ein cäsarischer Sieger. Ein `Redner´ in einem buntcarrirten Costüm tritt hervor, winkt die Musik ab, lüftet den Hut alle Augenblicke und setzt ihn wieder auf; indem er ihm mit der einen Hand einen Holzstich nach einem Gemälde von P. Meyerheim (1864), Sammlung Nagel kleinen Ruck giebt, zeigt er mit der anderen auf ein Placat, welches die Preise der Plätze kund giebt, dann öffnet sich das Gehege seiner Zähne, und er giebt die feierliche Versicherung, daß das Publicum zufrieden, die Auslage ihm nicht leid sein würde – er bekräftigt seine Versicherung durch sein Ehrenwort. Das Publicum hat sich inzwischen angesammelt, man staunt, man horcht: Einige treten an den Zahltisch - damit ist der Anfang gemacht, der Nachahmungstrieb macht sich geltend, Andere folgen. Die Baracke ist fast voll. Draußen sitzt noch immer die Cassirerin, im blonden Haar das messingene `Regardez moi´. - `Seh mir mal an´, auf Berlinisch – sie kost mit dem Neger, der, die Hand in die Hüfte gestützt, sein krauses Haupt zu ihr neigt und bedeutsam Detail eines Holzstichs von 1887, Sammlung Nagel lächelt. Der Redner aber ist jetzt in voller Arbeit, er erzählt, die Hände in den Hosentaschen, von den Thaten des Negers und anderen unglaublichen Dingen, indem er bei den noch Zögernden durch seine feurige Beredtsamkeit den Entschluß zur Reife bringt, ihren Obolus zu spenden und näher zu treten. In der Baracke mit dem Zeltdach ist ein fürchterlicher Geruch nach wilden Thieren: Ellbogen an Ellbogen steht die Menge und starrt in die dicht vergitterten Käfige. Die Bären wackeln mit ihren Köpfen hin und her, als wären es Körbe mit Salat, den sie ausschwenken, erheben sich wohl auch auf den Hinterbeinen, lassen sich aber schnell wieder herab und brummen verächtlich: Niemand wirft ihnen etwas in die rosigen Schnauzen! Die Hyänen laufen hin und her, als schämten sie sich ihrer Einsperrung; die Panther gähnen und zeigen die schimmernden Zähne, als wäre es ein Halsschmuck aus Elfenbein; die Tiger, in schön gestreiftem, rothbraunem Burnus blinzeln mit den Augen; die Löwen, in würdevollem Schritt, gehen auf und ab, dann strecken sie sich wieder hin als versagten die Muskeln alle auf einmal den Dienst, der Kopf fällt auf die Vorderpranken: der König der Wüste ist übel gelaunt, das Publikum lacht; sein stöhnender Athem bläßt den gemeinen Staub, der ihm vor der Nase liegt, fort. (...) Ein Elephant schwingt seinen Rüssel über den Köpfen der Zuschauer und verlangt Spenden - oder ertheilt die asiatische Gottheit am Ende gar ihren Segen? Die Aras erheben ein Ohren zerreißendes Geschrei, und gucken den kleinen Anachoreten, den Affen, in die engen Klausen. Die Urahnen des Menschen aber knabbern in ihrer Verlegenheit an längst benagten Nußschalen immer und immer wieder. Mitten in der Reihe der aufgefahrenen Wagen steht einer mit dem `Vorstellungs-´ oder `Theaterkäfig´; dieser ist innen weiß angestrichen, der Boden ist bestreut mit einem Gemisch von Sägespähnen und Harz; ein großer, jetzt noch leerer Raum. Die Musikanten haben das äußere Podium verlassen, ihre Tribüne im Innern bestiegen und intoniren eine Teufels-Symphony, während die Gaslampen angezündet werden. Drei Hammerschläge, und die Thür in der Rückwand des Theaterkäfigs thut sich auf, ein junger Mann in polnischen Stiefeln und einem Dolman, mit Haaren, Vorführung eines zahmen Löwen 1760 Radierung in Haarhaus 1906, S.351 die lang sind, und einem Schnurbart, der kurz ist und wohl erst eben zu sprießen beginnt, mit einem Blick, der sanft ist wie der eines Pagen, der eine Mandoline unter dem Arm hat, tritt ein und begrüßt mit seiner Reitgerte und einem Neigen des Hauptes die Anwesenden. Jetzt werden die Thüren der anstoßenden Käfige, deren Bewohner bereits eine gewisse Unruhe verriethen, nach einander aufgezogen; in dem sich stark bemerkbar machenden Alkali-Geruch, dem sich noch der von allerhand thierischen Naturstoffen mischt, füllt sich der Raum mit an den Wänden hinjagenden, springenden und von der unbarmherzigen Peitsche des jungen Mannes geleiteten Thieren. Die Zuschauer recken die Hälse, die Augen flimmern. Es scheint, als jagten die Thiere nur herum, um einen Ausgang zu suchen, durch den sie entwischen könnten. Die Löwen, geschmeidig und schwerfällig, springen über das bestiefelte Bein, welches der Bändiger wider das Gitter stemmt. Die Löwinnen kratzen mit den Pranken und schnellen empor wie Bälle, ohne daß es irgend einer Anstrengung bedürfte; die Tiger dehnen die Glieder im Sprunge, einem Moment der Freiheit, Hyänen und Bären jagen wie Tölpel in wider Furcht dahin, als ob eine heilige Hermandad hinter ihnen wäre, um sie zu arretiren, die Panther schnauben und sehen sich um nach jedem Sprunge. Einige Uebungen, bei denen die Ueberredung eine Rolle zu spielen scheint, gewähren dem Bändiger Zeit, sich von dem ersten wilden Gehetz zu erholen. Eine Löwin hat sich auf den Boden hingestreckt, über sie streckt sich der Bändiger hin; vertrauensvoll, die Hände auf dem Rücken, steckt er der Bestie sein Haupt in den offnen Rachen. Jetzt drängt er sie zum Gitter, er kreuzt die Arme über der Brust; auf ein gegebenes Zeichen springt sie auf ihn ein; die Hinterbeine auf seinen Knien, ist ihr Kopf dicht an dem seinigen. In diesem Augenblick leuchtet am Plafond des Käfigs ein Feuerwerkskörper auf, und unter den sprühenden Funken desselben jagt, vor Furcht außer sich, die Löwin durch zwei mit Papier verklebten Reifen und schlüpft hurtig in den willkommenen Kerker, ihren Käfig, zurück, - wendet sich aber sogleich um und stürzt wüthend auf die inzwischen herabgelassene Thürklappe. Der Bändiger ist für sie nicht zu haben; er giebt seinem Haupt einen Ruck in die Höhe, daß das lange Haar auf die Schultern fällt, und verneigt sich vor der Beifall klatschenden Menge. (Hachet-Souplet 1898, S.12ff) Um die Tierschauen attraktiver zu machen, wurden dem Publikum über die reine Schaustellung der Tiere hinaus öffentliche Fütterungen, pseudo-wissenschaftliche Erläuterungen und Dressuren in der hier beschriebenen Art geboten. Die “Dressierbarkeit” bzw. die Empfänglichkeit für Erziehungsmaßnahmen wurde dabei als Zeichen für die Intelligenz der Tiere gedeutet. Als besonders “klug” galten Elefanten und Affen, denen entsprechend Kunststücke beigebracht wurden, die menschliche Tätigkeiten imitierten. Auch Raubtierdressuren sollten bis in die 1830er Jahre das “Menschliche” im Tier herausstellen, das sich in einer Überwindung der Wildheit, d.h. der Lernfähigkeit und Zahmheit der Tiere zeigte. Zumindest bis in das frühe 19. Jahrhundert Souvenirkarte 1903, Sammlung Nagel hinein stimmt die Vorstellung von brutalen Dressurmethoden in den Wandermenagerien nicht. Vielmehr stand die Zahmheit der Tiere im Vordergrund. Der vertraute, friedliche Umgang des mit überlegenen Kräften versehenen Menschen mit sanftmütigen Tieren, denen eigentlich Wildheit und Blutrünstigkeit nachgesagt wurde, sollte Verwunderung erwecken. (vgl. Riecke-Müller 1999, S.100ff) Goethes „Novelle“ um den Ausbruch zweier Raubtiere aus einer kleinen Jahrmarktsmenagerie ist ein eindrucksvolles literarisches Zeugnis solcher Auffassungen. Chamissos berühmtes Gedicht „Die Löwenbraut“ aus dem Jahr 1827 spiegelt – trotz seines tragischen Ausgangs – ebenfalls sehr genau diesen Zeitgeist wieder: Mit der Myrte geschmückt und dem Brautgeschmeid, Des Wärters Tochter, die rosige Maid, Tritt ein in den Zwinger des Löwen; Er liegt der Herrin zu Füßen, vor der er sich schmiegt. Der Gewaltige, wild und unbändig zuvor, Schaut fromm und verständig zur Herrin empor; Die Jungfrau, zart und wonnereich, Liebestreichelt ihn sanft und weinet zugleich: "Wir waren in Tagen, die nicht mehr sind, Gar treue Gespielen wie Kind und Kind, Und hatten uns lieb und hatten uns gern; Die Tage der Kindheit, sie liegen uns fern. Du schüttest machtvoll, eh wir's geglaubt, Dein mähnenumwogtes königlich Haupt; Ich wuchs heran, du siehst es: ich bin, Ich bin das Kind nicht mehr mit kindischem Sinn. O wär ich das Kind noch und bliebe bei dir, Mein starkes getreues, mein redliches Tier! Ich aber muß folgen, sie taten mir's an, Hinaus in die Fremde dem fremden Mann. Es fiel ihm ein, daß schön ich sei, Ich wurde gefreit, es ist nun vorbei: Der Kranz im Haar, mein guter Gesell, Und vor Tränen nicht die Blicke mehr hell. Verstehst du mich ganz? Schaust grimmig dazu, Ich bin ja gefaßt, sei ruhig auch du; Dort seh ich ihn kommen, dem folgen ich muß, So geb ich denn, Freund, dir den letzten Kuß!" Und wie ihn die Lippe des Mädchens berührt, Da hat man den Zwinger erzittern gespürt, Und wie er am Zwinger den Jüngling erschaut, Erfaßt Entsetzen die bagenden Braut. Er stellt an die Tür sich des Zwingers zur Wacht, Er schwinget den Schweif, er brüllet mit Macht, Sie flehend, gebietend und drohend begehrt Hinaus; er im Zorn den Ausgang wehrt. Und draußen erhebt sich verworren Geschrei. Der Jüngling ruft: bring Waffen herbei, Ich schieß ihn nieder, ich treff ihn gut. Aufbrüllt der Gereizte schäumend vor Wut. Die Unselige wagt's sich der Türe zu nahn, Da fällt er verwandelt die Herrin an: Die schöne Gestalt, ein gräßlicher Raub, Liegt blutig zerrissen entstellt in dem Staub. Und wie er vergossen das teure Blut, Er legt sich zur Leiche mit finsterem Mut, Er liegt so versunken in Trauer und Schmerz, Bis tödlich die Kugel ihn trifft in das Herz. . „Die Löwenbraut“ Veltees Stadtpanoptikum um 1890 Einer der herausragenden Dompteure dieser Zeit war Henri Martin, der damit warb, seine Tiere “ohne zu schlagen oder sonstige Gewalt” zu zähmen. Seine folgende Aussage ähnelt dabei durchaus den Auffassungen moderner „Tierlehrer“: Ich bemühe mich, den Charakter jedes einzelnen Tieres zu enträtseln, seinen Neigungen entgegenzukommen. Ich lasse die älteren in Ruhe, ich spiele mit den spielerisch veranlagten. Ich werde ihr Freund, weil sie Angst haben, ich könnte ihr Feind sein. Um die Ergebnisse zu haben, die sie in Erstaunen versetzen, bedarf es lediglich des Mutes, der Kraft und eines guten Beurteilungsvermögens.” (zit. n. Riecke-Müller 1999, S.111) Diese Einstellungen zum Tier und damit zur Dressur änderte sich während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – auch wenn zunächst weiterhin von “Zahmheits-Produktionen” die Rede war. Dem weniger empfindsamen Zeitgeist entsprechend, der den (zivilisierten) Menschen als Herrscher über alle Naturgewalten sah, gaben sich die Dompteure Mitte das Jahrhunderts oftmals als Bezwinger blutgieriger Tiere. So ließ zum Beispiel Gottlieb Kreutzberg angesichts der Erfolge der wilden Dressur des Dompteurs Batty im Circus Renz eine junge Dompteuse in den 1870er Jahren eine ebensolche Darbietung zeigen, obwohl sie eigentlich unter Kreutzbergs Niveau lag. (vgl. Gartenlaube Nr. 20. 1873, S.322) In einem älteren Führer seiner Menagerie warb er noch mit humanen Dressurmethoden: Obgleich die Vorstellungen außerordentlich erscheinen, so haben sie doch nichts Erschreckendes, da Herr Kreutzberg die Zähmung seiner Thiere nicht durch Brutalität, sondern nur durch die sanfteste Behandlung und größte Sorgfalt erreicht hat. (Kreutzberg’s große Menagerie, S.24) Kreutzbergs Menagerie auf der Leipziger Messe Holzstich Sammlung Nagel Neben diesen wandernden Theatern stehen die Menagerien am höchsten in der Gunst des Volkes, jene `Wilde-Tier-Buden´, in denen eine Musikkapelle in der Montur der Rindfleischesser (königliche Leibwache) und mit hohen Mützen aus Leopardenfell unaufhörlich spielt. Draußen hängen große, mit starken Farben prächtig kolorierte Bilder von Tigern, die gerade Menschenköpfe verspeisen oder von einem Löwen, den man gerade mit glühenden Eisen brennt, um zu erreichen, daß er seine Beute fahren läßt. Vor diesen Buden steht meist ein sehr großer heiserer Mann in einem Scharlachrock und mit einem Rohr in der Hand, mit dessen Hilfe er von Zeit zu Zeit an die Bilder schlägt, um sie zu erläutern: `Hierher! Hierher! Hierher müssen sie schauen! Das ist das Bild des Löwen, ganz akkurat das Bild des Löwen drinnen. Dieses schreckliche Tier hat vor einem Jahr auf dem Camberwellmarkt dem Herrn den Kopf abgebissen. Seit er ausgewachsen ist, hat er durchschnittlich jedes Jahr drei Wärter aufgefressen. Aber dafür müssen Sie nicht extra zahlen. Wir stellen keine unbilligen Forderungen. Alle zahlen nur sechs Pence für den Einlaß!' (Charles Dickens 1836, in Narciß 1967, S.45f) Besondere Publikumsmagnete waren junge weibliche “Beherrscherrinnen der wilden Bestien”, weshalb Frauen und Töchter von Menageriebesitzern häufig die Tiere vorführten. (vgl. Grubitzsch 1993, S.216) Solche „starken Frauen“ standen in vielerlei Hinsicht im Gegensatz zum sittsamen Frauenideal des 19. Jahrhunderts und inspirierten daher zahlreiche Schriftsteller – auch solche von zweifelhaftem Ruf: (…) Des Bändigers Tochter von hoher Figur, Von lieblich rundem und rosigem Gesicht, Von glänzend hellbraunem Augenlicht, Das schwarze Köpfchen in Mannesfrisur, Betritt grüßend den Kreis, im Miederchen nett Um schneeige Schultern, und lächelt kokett. Johanna, gewappnet mit bannendem Blick, Sie schwingt sich hinauf auf den Leu, Mit sanftem Mut und mit seltner Treu Erträgt sie das königliche Genick, Stolz kreuzt sie die Arme und lächelt dabei, Und die Menge lohnt ihr mit Bravogeschrei. Die Jungfrau steigt ab, und mit Heldenmut Fährt in des Panthers Rachen ihr Arm, Drin braust’s gewaltig wie Bienenschwarm, Und wilder tobt es in Heißhungers Glut. Sie reicht ihm das Becken mit Blut gefüllt, Und gierig, doch langsam den Durst es nun stillt. Inzwischen sieht man die Königin der Wut Gefräßig schnaubend spähen ringsum, Das Mädchen bieget den Nacken krumm, Und hinten hinauf steigt die wilde Brut. Den Mörder am Halse, sie lächelt dabei, Und die Menge lohnt ihr mit Bravogeschrei. (…) (Kempner, S.161f) Menagerie Malferteiner 1902, Sammlung Nagel Dompteurin in Kreutzbergs Menagerie, Ausschnitt eines Stichs nach einer Zeichnung von H. Leutemann, Sammlung Nagel Die Abbildung zeigt die oben erwähnte „viele Jahre hindurch sechszehnjährige Schwedin“, die bei Kreutzberg im Gegensatz zum Vorführstil des Prinzipals „Vorstellungen mit großem Geschrei, Peitschenhieben und Löwengebrüll“ gab. (vgl. Gartenlaube 1873, S. 322) (...) Im höchsten Grade interessant und bewundernswerth sind die Exercitien, welche Fräulein Rossi mit den verschiedenen reißenden Tieren ausführt. Sie zeigt sich als vollkommene Beherrscherin derselben, ihr zu Füßen schmiegt sich der Löwe, wie der Tiger, der Eisbär wie die tückische Hyäne. Wenn sie den Eisbären mit Füßen tritt oder als Ruhekissen gebraucht, wenn sie der hungrigen Hyäne ihre blutige Atzung entreißt und ein Blick, ein Zuruf von ihr hinreicht, die brüllende Bestie zum Schweigen, zur Unterwerfung zu bringen, so weiß der Zuschauer wahrlich nicht, was er mehr bewundern soll, den Muth des Fräulein Rossi oder die Macht des menschlichen Geistes, der alle Reiche der Natur unter seine Herrschaft bringt, der selbst die Thiere der Wüste dazu zwingt, ihre blutrünstige Natur seinem Willen zu unterwerfen. In solchen Fällen zeigt sich der Mensch wahrlich als Herr der Schöpfung.” (Zeitungsbericht von 1852, zit. in Stadtmuseum Münster 1986, S.185) Die männlichen Berufskollegen durften hier nicht nachstehen. Ihr martialisches Auftreten bediente und nährte Vorstellungen vom verwegenen Raubtierdompteur, die zum Teil bis heute fortwirken: Seit Dienstag befindet sich Herr Robert Daggesell mit seiner großen Menagerie, die zu den bedeutendsten der Jetztzeit gehört, in unserer Stadt, um nicht nur seine schönen, wohlgepflegten Thiere, deren Seltenheit und Schönheit selbst von den competentsten Seiten anerkannt ist, zu zeigen, sondern um auch in der Dressur der Raubthiere, welche von seinem kühnen Thierbändiger in der vorzüglichsten Weise ausgeübt wird, Zeugniß zu geben. (…) Der Thierbändiger tritt in den großen Centralkäfig, der eigens zu dem Zweck der Dressur gebaut ist und in dem sich den Tag über 8 Löwen herumtummeln. Er öffnet eine Pforte und herein treten mehrere, 2 bis 4 gestreifte Hyänen. In dem Nachbarkäfig werden mehrere Zwischenwände entfernt und die Gesellschaft vermehrt sich um 2 Wölfe und einen Bären. Die ansonsten an ein einsames Leben gewöhnten Thiere sind offenbar durch das Beisammensein nicht erfreut. Die Hyänen heulen, die Wölfe bellen, dort erhält ein Thier einen Biß, hier wird gekratzt, gekämpft und gerungen. Doch dies hindert den kühnen Mann, der nur mit einer Reitpeitsche bewaffnet, ruhig und sicher unter der furchtbaren Meute einherwandelt, nicht im Geringsten. Er hat noch nicht genug Leben um sich herum. Er schreitet zu der linken Thür, um die im nächsten Käfig befindlichen Löwen hereinzulassen. Der Thierbändiger ist genöthigt von Raubtierdressur in der Menagerie Daggesell, Holzstich 1876, Sammlung Nagel seiner Reitpeitsche Gebrauch zu machen, um sie mit einigen leichten Jagdhieben herauszubringen. Der eine Löwe ist nicht gutwillig, sondern legt sich vor die Thür, um seinem Meister den Weg streitig zu machen. Uns steigen die Haare zu Berge. Drinnen die wüthende Menge und hier der einzelne Mann, abgesperrt und von einem Löwen bewacht. Der Thierbändiger macht kurzes Federlesen, er nimmt das widerspenstige Thier am Kragen und schafft es herein in den Zentralkäfig. Man ruft die einzelnen Thiere bei Namen, streichelt und liebkost sie, läßt sie von einem Stück Zucker beißen, gibt ihnen Fleisch, das er ihnen wieder entreißt und anstatt dessen er ihnen seinen Arm in das Maul legt. Nun läßt er ein Schaf in den Käfig, über das die Wölfe springen, und dirigirt nach und nach die ganze Gesellschaft wieder in ihre alten Quartiere. Eine Zeitlang ist Ruhe. Der Thierbändiger öffnet von Neuem die Thür und herein stürmen 8 Löwen, übereinander hinwegsetzend und sich drängend. Der Thierbändiger ergreift den größten und lehnt ihn mit den Holzstich 1881, Sammlung Nagel Vordertatzen an das Eisengitter, um dem Publikum die Bauchseite zu zeigen. Dann wirft er ihn nieder, läßt die anderen Löwen darüber hinwegsetzen, dann über eine Latte, durch einen Reifen und endlich über sich selbst springen. – Es wäre Schade, wenn die gewiß so bald nicht wiederkehrende Gelegenheit, eine Menagerie allerersten Ranges kennen zu lernen, nicht allseitig, vornehmlich auch zum Besten der Jugend, benützt würde. Da Herr Daggesell nur bis Montag bleibt, sei der rechtzeitige Besuch angelegentlich empfohlen. (Nördlinger Anzeigenblatt vom 20.8.1875 in Sagemüller 1989, S.59f) Die Zahl der Unglücksfälle war bei diesen Methoden natürlich hoch – was den Reiz des Menageriebesuchs für das sensationslüsterne Publikum noch erhöhte. (...) Ehe aber Frau Castanel entkommen konnte, hatte der wildgewordene Löwe sich ihr genähert und mit einem einzigen Tatzenschlage streckte er die Thierbändigerin zu Boden. Der Schlag hatte die rechte Hüfte getroffen. Die Kleider waren zerrissen und das Fleisch hing in Fetzen von dem bloßgelegten Knochen herab. Mit unglaublicher Anstrengung erhob sich Frau Castanel noch einmal und peitschte den Löwen, daß er zurückwich. Der Thierbändigerin gelang es dann, aus dem Käfige zu entkommen. Ohnmächtig sank sie neben demselben nieder. Ihre Wunden sind sehr schwere und ihr Zustand flößt Besorgnis ein. (Rieser Volksblatt, 31.1.1890 in Sagemüller 1993ff, S.5) Zeitungsberichte aus dem 19. Jahrhundert belegen zudem, dass der Besuch einer Menagerie aufgrund mangelnder Sicherheitsvorkehrungen mitunter auch für das Publikum nicht ungefährlich war. Die zum Teil grauenvollen Unfälle wurden in erster Linie durch leichtsinnige Besucher verursacht, die den Käfigen zu nahe kamen. Viele Menagerien versuchten dem durch solche Unglücksfälle, das wenig ansprechende Erscheinungsbild einiger Tierbuden und das effekthaschende Gebaren vieler Tierbändiger verursachten schlechten Ruf der Wandermenagerien zu begegnen. Ein Beispiel war der Dompteur „Charles“: (...) Es ist in der That ein schönes Bild, wenn er z.B. auf der Löwin liegt, den Kopf zwischen ihren Pranken, während als Schemel seiner Füße das langmähnige Haupt des gehorsamen Löwen dient. Le Petit Journal, Paris 25. Avril 1891 Oder wenn er mit der Hyäne zu Tische sitzt und sie ihm das Stückchen Zucker vom Munde nascht: – man empfindet keinen Anflug von Besorgnis, die ruhige, sichere Art, mit der Herr Charles die Thiere behandelt, der mächtige, feste, in seinen Wirkungen große Blick des Mannes, läßt die magische Gewalt menschlichen Willens über das unvernünftige Geschöpf ahnen und auch in Zuschauer zum Bewußtsein kommen. Wir werden öfter diese Menagerie besuchen, und empfehlen dringend des Eltern ihre Kinder hinzusenden; für das Studium der Naturgeschichte ist der Besuch einer Menagerie ein unersetzliches Hülfsmittel. Wir geben vorläufig den geehrten Eltern Notiz, daß durch sehr zweckmäßige Einrichtung der Schranken jede Besorgniß vor Gefahr gänzlich beseitigt ist. Die ganze Einrichtung hat überhaupt etwas einfach Nobles; von einem Aufreizen der Thiere zu Gebrüll und derartigen Possen ist hier nicht die Rede. Herr Charles verschmäht solche Künste. (Der Bürgerfreund, Bremen, 23.10.1845 in Sagemüller 1993ff, S.59) Auch der Menageriebesitzer und Tierbändiger Theodor Opitz betont im Jahr 1870 genau wie Kreutzberg zuvor, dass seine außerordentlichen Vorstellungen nichts Abschreckendes haben, “da die Zähmungen nicht durch Brutalität und Hunger, sondern durch sanfte Behandlung und Geduld erreicht werden ”. (Nachrichten für Stadt und Land Oldenburg 29.6.1870 in Sagemüller 1993ff, S.10) Gegen Ende des 19. Jahrhunderts scheint dieser neuerliche Wandel in der Einstellung zum Raubtier recht weit fortgeschritten gewesen zu sein, worauf eine Besprechung der Dressur des Löwenpaares ‘Faust’ und ‘Grete” durch Frl. Ella Falk deutet: In staunenswerter Weise, als wären es dressierte Hunde, versteht diese Dame, in wohlverschlossenem Käfig mit den ‘gräulichen Katzen’ umzugehen. Schließlich benehmen sich die Tierchen so zärtlich, daß sie ihre Herrin sogar küssen und sie mit Grazie umarmen, ja sich bereitwilligst als Sopha benutzen lassen. Wie ein Löwenkuß schmeckt, weiß vielleicht sonst niemand in Nördlingen; wer sich aber überzeugen will, wie liebenswürdig in Wahrheit der König der Tiere ist, im Gegensatz zu den schlimmen Dingen, die ihm von sogenannten Naturforschern und auch von manchen Dichtern, welche nie einen Löwen sahen, nachgesagt werden, versäume nicht, die Falk’sche Menagerie zu besuchen. (Nördlinger Anzeigenblatt 8.12.1893 in Sagemüller 1989, S.87) Farblithographie 1896 nach einem Gemälde von G. Wertheimer, Sammlung Nagel Die Dompteurin Nouma Hawa mit zwei Löwen ihrer Menagerie. 1886, Sammlung Nagel Souvenirkarte 1907, Sammlung Nagel Die Haltungsbedingungen in den reisenden Menagerien waren an heutigen Maßstäben gemessen denkbar schlecht. Fehlende Kenntnisse über eine ausgewogene Ernährung, enge Käfige, Infektionskrankheiten, Zugluft und Kälte waren die Gründe für eine oftmals niedrige Lebenserwartung der Tiere. Ein kalter Winter konnte den Bestand einer Menagerie erheblich dezimieren. (siehe Lais 2005, S.43) Einige Exemplare erreichten Menagerie Bostock and Wombwell 1907, Führer 1927 trotzdem ein beachtliches Alter, offensichtlich konnte eine intensive Hinwendung zu den meist handzahmen Tieren gewisse Haltungsmängel ausgleichen. (Rieke-Müller 1999, S.56) Auch gelegentliche Raubtiergeburten deuten auf einen “guten physiologischen und Verhaltenszustand” hin. Andernfalls wären weder Trächtigkeit noch Geburt lebensfähiger Junger und deren Aufzucht möglich gewesen. (ebenda, S.58) H. Leutemann: Ein Morgen in der Menagerie. Holzstich um 1865, Sammlung Nagel In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich einige Menagerien zu großen Unternehmen, die um die Jahrhundertwende enorme Ausmaße annehmen konnten und zum Teil mit Sonderzügen transportiert wurden. Mit dem steigenden Anteil von Dressuren im Programm wandelten sich darüber hinaus gegen Ende des Jahrhunderts viele Menagerien in Circusse mit einem besonders hohen Anteil an Tierdarbietungen, darunter bekannte Namen wie Barum, Krone oder Bouglione. Kleinere Buden zeigten weiterhin nur einzelne oder wenige, mitunter ausgestopfte Tiere, die aber um so bombastischer angekündigt wurden, wobei die Schausteller das Informationsdefizit der Bevölkerung ausnutzten und den oft diffusen Vorstellungen über fremde Länder Vorschub leisteten. Ein Bison wandelte sich zum Beispiel zu einem wahren Ungeheuer: Zur Nachricht Es ist in dieser Stadt zu sehen der vierfache Teufel, der in der Naturgeschichte bekannt ist, der große Bison Jabatus, (...). Dieses Thier ist so stark, daß es ein Stein wie einen Ball fortwirft; den Elephanten, Rhinoceros, Zebus (...), tödtet der Bison alle. Der Löwe ist eine Mücke vor ihm, wie alle andere Thiere. Vor 400 Jahren war die Art davon ganz verlohren. (...) Es ist genug davon zu sagen, daß es gerne Zucker frißt, und so bald es Damen kommen sieht, ist es munter, in der Hoffnung, Zucker zu bekommen, mit welchem man auch seine Wuth, de ihre gleichen hat, besänftiget. Es trinkt Branntwein und Caffee, und frißt alles, ausser Fleisch nicht (...). (undatierter Akündigungszettel in Oettermann 1979ff, Abb.276) Detail einer humoristischen Postkarte um 1900, Sammlung Nagel (…) Die von einer Frau bei der Explication vorgetragenen naturwissenschaftlichen Erläuterungen waren zum Teil haarsträubend. Von dem Affen behauptete sie z.B. mit vollem Ernst, dass diese Thiere in ihrer Heimath, in Indien, in bewohnten Gegenden Kinder von ein bis eineinhalb Jahren raubten, mit diesen auf Bäume kletterten und die Kinder dann so lange kitzelten, bis sie todt wären, dann ließen die Affen die Kinder herabfallen! Der Affe, dessen Sippe solches nachgesagt wurde, machte dazu ein verschmitztes Gesicht und dachte wahrscheinlich, dass ihn selbst diese üble Nachrede nicht genire, wie er denn auch zum Beweis dessen an einem Apfel lustig knabberte. (Neuer Mainzer Anzeiger 1885, zit in Endres 1983, S.200) Solche ausufernden publikumswirksamen Freiheiten bei der Beschreibung einzelner Tiere beschränkten sich allerdings nicht auf kleinere Tierbuden, auch wenn sich die größeren Menagerien oftmals als wahre Volksbildungsstätten präsentierten. Viele Tierschaustellungen trugen dazu bei, verfälschte Sichtweisen in Bezug auf einige Familien oder Arten zu verbreiten und zu festigen. Alfred E. Brehm führt in seinem „Thierleben“ als Beispiel die Hyänen auf: Unter den Thieren der Schaubuden finden sich regelmäßig einige, denen sich, dank den Erläuterungen des trinkgeldheischenden Thierwärters, die besondere Aufmerksamkeit der Schaulustigen zuzuwenden pflegt. Der Erklärer verfehlt nie, diese Thiere als wahre Scheusale darzustellen, und dichtet ihnen die fürchterlichsten Eigenschaften an. Mordlust, Raubgier, Grausamkeit, Blutdurst, Hinterlist und Tücke ist gewöhnlich das geringste, was der Mann ihnen, den Hiänen, zuschreibt; er lehrt sie regelmäßig auch noch als Leichenschänder und Todtenausgräber kennen und erweckt sicherlich ein gerechtes Entsetzen in den Gemüthern aller naturunkundigen Zuschauer. Die Wissenschaft hat es bis jetzt noch nicht vermocht, solchen Unwahrheiten zu steuern, diese haben sich vielmehr, allen Belehrungen zum Trotze, seit uralter Zeit frisch und lebendig erhalten. (2. Auflage 1882-1887, Frankfurt 2006, S.117) kleine Menagerie, 20er Jahre Sammlung Nagel Eine überaus aufschlussreiche, authentische und eindrucksvolle Schilderung des Geschehens vor und hinter den Kulissen einer kleinen Menagerie stammt von Joachim Ringelnatz, der 1901 für kurze Zeit in einer der zahlreichen Schlangenbuden arbeitete (Ringelnatz 1983, S.156-169). Der Besitzer Friedrich Malferteiner gehörte zu einer Schaustellerfamilie, unter deren Mitgliedern viele Besitzer von Menagerien verschiedener Größenordnungen waren. Malferteiner präsentierte damals in einer ca. 25 Minuten dauernden Vorstellung neben einigen Schlangen lediglich eine Rieseneidechse, einen Pelikan und einige nach zoologischen Berechnungen über 1000 Jahre Krokodile. 'Man zeigt den Herrschaften zum Schluß die größte und gewaltigste Schlange der Gegenwart. – Alle Mann!!’ Auf letzteres Kommando (…) stellen sich die 4 Matrosen an der großen Kiste in bestimmter Reihenfolge auf. Malferteiners Frau erscheint in dem kleinen Spalt, der als Hinterthür dient. Es ist ein aufgedonnertes Weib. (…) Diese Alte löst den Alten ab, der als fünfter Matrose zu uns herunter kommt. Nun wird der Deckel der großen Kiste halb geöffnet und wir bücken uns in dieselbe hinein, um die zusammengerollte Boa zurechtzulegen. Der Alte ergreift das Kopfende und kommandiert: ‚Auf!’ Der Deckel wird vollständig geöffnet. ‚Achtung!’ Wir packen die Schlange jeder an der uns angewiesenen Stelle. ‚Hoch, gleichmäßig!’ Wir heben sie langsam aus dem Kasten heraus und auf unsere Schultern. - - - - Herrgott! Oh! Ah! Und andere Rufe des Erstaunens und der Bewunderung folgen einer vorangegangenen Pause spannenden Schweigens. – Die Schlange ist bei ihrer enormen Größe nicht übermäßig schwer, trotzdem keuchen wir unter ihrer Last. Das macht Effekt beim Publikum. Malferteiner selbst beginnt nun ohne Unterbrechung und jede Silbe scharf betonend: ‚Eine Boa constrictor. Ihre Heimat ist Südamerika. Der Biß der Boa ist ungefährlich, da dieselbe nicht giftig ist. Mensch und Tier wird sie gefährlich, durch ihre grässliche Gewalt und die furchtbare Kraft ihrer Muskeln; denn sie ringt in der Freiheit mit dem Sammlung Nagel Löwen und dem Tiger, besitzt auch die Kraft dem größten und stärksten Büffelochsen alle Knochen zu zerbrechen, sobald sie ihn umschlungen hat. Gefüttert wird sie alle 4 bis 6 Wochen mit lebenden kleinen Schweinen auch Schaf- oder Ziegenlämmern. 1000 Mark bietet die Direktion jedem Besucher Prämie, der beweisen würde oder könnte, wo er schon jemals in ganz Europa ein zweites Exemplar dieser Riesenschlange zur Schau ausgestellt gesehen hätte. Lebend ist sie die größte und gewaltigste Boa die gegenwärtig in ganz Europa zur Schau ausgestellt wird. Vorsichtig!’ Dieses letzte Wort gilt uns und wir legen nun das lange Tier wieder langsam auf die weichen Decken worauf wir noch eine Decke darüber decken. (Ringelnatz 1983, S.164f) Das Matrosen- oder Forscheroutfit der Angestellten solcher Schaustellungen sollte den Eindruck der Weitgereistheit erwecken. Man hatte jedem von Detail eines Friedländer-Plakats uns einen Matrosenanzug gegeben, der freilich aus Nachdruck, Original B. Gammals, Helsinki billigstem Zeug geschneidert war. Der meinige war viel zu groß, und so geschah es einmal, dass ich während der Vorstellung über meine eigenen Hosenbeine stolperte und hinfiel und die vier anderen Pseudomatrosen nebst Boa constrictor mit zu Boden riß. Herr Malferteiner benutzte die Situation geistesgegenwärtig und rief aufgeregt: ‚Sie wird wieder wild! Schnell fort mit ihr in den Kasten!’ Was großen Eindruck auf die Zuschauer machte. (ebenda, S.132) Auch kleine Raubtierschauen waren recht verbreitet. Dabei bildeten „Ringkämpfe“ mit Bären lange Zeit eine beliebte Schaubuden- und Kleincircusattraktion. Der Familiencircus von Hans Kaiser zeigte sie noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Schmidts “AltdeutscheBärenschauspiele” um 1910 Sammlung Nagel In einigen dieser kleinen Buden bildeten die Tiere nur die Staffage für Attraktionen mit – wiederum – offenkundig erotischvoyeuristischem Charakter: Junge Frauen zwischen allerlei vermeintlich giftigen bzw. als besonders abstoßend empfundenen Getier. Detail einer Postkarte, Anfang 20. Jh., Sammlung Nagel Parade einer kleinen Menagerie, Schaustellermuseum Essen Sammlung Nagel Hier ist Miarka, das Schlangenmädchen, lebendig und nackt in ihrem Glassarg. Miarka, die schöne Korsin! Mit Recht nennt man, wie Sie sehen werden, Korsika die Schönheitsinsel. Miarka, die keine Hemmungen hat, fast nackt – ich betone es – mit gefährlichen Schlangen zusammenzuleben, die an ihrem prächtigen Körper entlanggleiten!´ Maurice bellte dies in seinen Lautsprecher. Im Inneren der Bude bemerkte man über den Sarg gebeugte Burschen, die neugierig die schöne Korsin betrachteten; an dere, die auch etwas sehen wollten, versuchten, nach vorn in die erste Reihe zu kommen. `Die Schlangendame ist keine gewöhnliche Jahrmarktsnummer. Sie ist ein unvergeßliches Schauspiel. Dazu sehen Sie noch das Kind mit den vier Armen und Jacky, den zweigeschlechtlichen Affen. Kommen Sie herein, dreißig Centimes nur, dreißig armselige Kröten, sehen Sie sich Miarka die Korsin an, die herrliche Schönheit, die in jedem Augenblick ihr Leben aufs Spiel setzt.’ Miarka, nur mit einem Bikini bekleidet, lag auf dem Rücken. Sie hielt zwei träge Schlangen in den Händen, die sie von Zeit zu Zeit an die Lippen führte. Mitunter schlief sie ein. Sie schloß die Augen, die Schlangen in den Händen, und wartete darauf, daß Maurice sie zur Ordnung rief, indem er mit seinem Ring an das Glas klopfte. Die Zuschauer kamen wegen der Schlangen, aber auch, um `ein Auge zu riskieren´. In regelmäßigen Abständen mußte sie sich auf die Seite legen, damit ihre Brüste eine vollere Form annahmen, oder sie reckte sich, um ihren Venushügel hervorspringen zu lassen. Wenn sie als Kind auf dem Lande eine Ringelnatter erblickt hätte, wäre sie vor Angst in Ohnmacht gefallen. Wie weit hatte sie es doch gebracht! Im Morvan geboren und einfach Jeannette genannt, war sie als Mädchen für alles nach Paris gekommen, und dort hatte man aus ihr Miarka, die Korsin, gemacht. Wenn sie die Augen aufschlug, sah sie über die gebeugten Gesichter. `Wie lüstern und schmierig sie alle schauen!´ dachte sie. Es waren alte Männer darunter, Jugendliche in Gruppen, die Witze darüber machten, wohin die Schlangen kriechen könnten, aber auch Frauen, die zimperlich taten und Entrüstung heuchelten, weil sie nicht soviel herzuzeigen hatten. (Robert Sabatier 1963 in Narciß 1967, S.117f) Ähnliche Einblicke mögen auch viele Besucher der zahlreichen Schaustellungen „lebender Seejungfrauen“ erhofft haben. Die „Seejungfer“ war mitunter eine Illusion, meistens erwies sie sich beim Betreten der Bude allerdings als Robbe. Ihre Enttäuschung hierüber schluckten nicht alle Besucher herunter. 1904 gab es auf dem Bonner Pützchens Markt eine Schlägerei, als sich das Meerweibchen von Madagaskar als ein alter Seehund in.einer Badewanne entpuppte. (Brandt 2001, S.37) Fehlte das Adjektiv „lebend“ bei der Anpreisung von „Meer- oder Seejungfrauen“ wurden i.d.R. große Fischkörper mit aufgesetzten (Affen-) Schädeln und –armen gezeigt. Die typische Schaubudenattraktion hatte wie viele andere ihre Vorläufer in den Wunderkabinetten des 17. Jahrhunderts. Zu den Menagerien sind darüber hinaus die Buden zu zählen, die tierische Abnormitäten zeigten - ob im Einzelfall “echt”, sei dahingestellt... Noch nie dagewesen! Ein lebender Wunderochse mit Menschenarm und Hand, 3 Finger und 1 Daumen, Handgelenk, Ellenbogen und Schulterblatt. Eine lebende Wunderkuh mit 6 Füßen, wobei sich 2 Rehfüße befinden. Die Schaubude befindet sich auf dem Brettermarkt. Entree 20 Pfg. Kinder und Militär ohne Charge zahlen die Hälfte. (...) Zu zahlreichem Besuch ladet ergebenst ein Wittwe Beckmann. (Nördlinger Anzeigenblatt 14.6.1879 in Sagemüller 1989, S.64) J. Wittersheim bat 1875 in einer Annonce zum Liborifest in Paderborn um gütiges Wohlwollen gegenüber seiner Schaubude „Wunder d. Wunder“. Dort präsentierte er neben „Murphi“, dem „3200 Pfund wiegenden König der Stiere“, das lebende Wunderpferd, geboren mit 2 Vorderfüßen wie ein Kameel, der hintere Fuß ist ein Menschenarm und hängt an demselben ein Schnabel von einem Adler und ein Horn von einem Schaf, der vierte Fuß ist ein Menschenfuß und trägt einen Schuh von Horn. Wittersheim bot 1000 Mark demjenigen, der jemals ein ähnliches Thier gesehen hat. (Stambolis 1996, S.144) Besonders häufig wurden angeblich bis zu 4500 Pfund schwere „RiesenOchsen“ gezeigt, gegen die „Murphi“ allerdings ein „Leichtgewicht“war. Die „Echtheit“ der tierischen Abnormitäten wurde immer wieder angeblich durch „bedeutende Professoren“ „beglaubigt“. Sammlung Nagel Bei einem im 17. Jahrhundert ausgestellten „dreifachen Lamm“ genügte zur Bestätigung der Glaubhaftigkeit der Ankündigungen noch die Aussage dass es auch von fürnehmen Herrn gesehen worden. (vgl. Jenny 1996, S.60) Kalb mit zwei Köpfen und zwei Schwänzen, Ausschnitt einer Souvenirkarte um 1910, Sammlung Nagel … Sehr großer Beliebtheit erfreuten sich auf den Jahrmärkten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die “Affen- und Hundetheater”. Die verkleideten Tiere, neben Affen und Hunden mitunter auch dressierte Feldhasen, zeigten akrobatische Kunststücke sowie menschliche Handlungen in kleinen Szenen. Casanovas Affentheater (…) Wir beginnen mit den Künsten der beiden großen Mandrills. (…) Diese wilden Afrikaner treten als Soldaten auf, zeigen ihren Paß vor, den sie selbst aus der Tasche ziehen und öffnen, sie exercieren auf Commando, feuern das Gewehr ab, spielen Geige und schlagen die Becken, ziehen den Säbel und stecken ihn wieder in die Scheide und höchst possierlich ist es, wenn sie beim Exerzieren nach ihrem kleinen Ckako greifen, um ihn nicht zu verlieren. (…) Nicht minder bewundernswert sind die Leistungen der vierfüßigen Künstler als Kunstreiter. Was wir bei Menschen bewundert, das leisten diese Thiere, (…). Das afrikanische Gastmahl, die Madame Pompadour, die unglückliche Spazierfahrt, tanzende und spinnende Hunde, (…), Tonnen- und Kugelläufer fehlen natürlich auch nicht. Kurz, man findet hier die reichste Abwechslung und kommt gar nicht aus dem Staunen heraus. (Leipziger Tageblatt 29.9.1858) Massenandrang vor der Parade eines Affentheaters um 1900, Sammlung Nagel Szene aus Bringes Affentheater um 1905, Sammlung Nagel Die Programme der Affen- und Hundetheater ähnelten sich i.d.R. – der Auftritt von „Madame Pompadour“ und ihrer Begleitung gehörte zum festen Repertoire. Holzstich 1871, Sammlung Nagel Die größte Weltspecialität ist zum ersten male hier. Während der Kirmeß und des Schützenfestes auf dem Wiesenplatze vor dem Hessenthore: Das Theater der weltberühmten gelehrten Hunde. Darunter befindet sich der Königshund Professor Weiß, der den Titel von Sr. Majestät König Albert von Sachsen erhalten hat. Die kleinen Hündchen rechnen, lesen, schreiben, zählen Geld, kennen jede Taschenuhr, sowie alle Photographien aller Kaiser und Könige, Landesfahnen und Blumen, sie spielen Karten, Domino und Schach, sowie Klavier und machen Gymnastik, tanzen Ballet und bringen ganze militärische Scenen zur Aufführung. – Auch hatten sie die Ehre, vor anderen hohen Herrschaften Vorstellungen geben zu dürfen, u.a. vor ihrer Majestät Königin Viktoria von England, sowie vor Seiner Kgl. Hoheit dem Großherzog von Baden und Ihrer Königl. Hoheit der Kronprinzessin - Ww. Stephanie von Österreich. - Es ist eine wahre Lust, die kleinen Hunde zu beobachten, denn sie führen ihre Vorstellungen zur größten Freude des Publikums aus, da die Lehrmeisterin weder mit Stock noch mit Peitsche regiert. Die kleinen Hunde sind ausgebildet wie Kinder in der Schule. Mache die geehrten Herrschaften darauf aufmerksam, daß die kleinen Wunderhündchen einzig und allein ohne Concurrenten dastehen. Zu diesen interessanten Vorstellungen ist die geschätzte Bürgerschaft von Neuß und Umgegend freundlichst eingeladen. Um recht zahlreichen Besuch bittet Die Lehrmeisterin. (Neußer Zeitung vom 29.8. 1896 in Sagemüller 1993ff, S.661) Ausschnitt einer Ansichtskarte mit dem in der Annonce werbenden Hundetheater von 1908, Sammlung Nagel Holzstich nach einem Gemälde von Paul Meyerheim, um 1895 Sammlung Nagel Häufig gab es in den Jahrmarktsbuden auch einzelne Pferde zu sehen, denen allerlei Kunststücke andressiert waren. Das “Wunderpferd“ „Der Kluge Hans”, das zu Beginn des 20.Jahrhundert bis zur Widerlegung seiner vermeintlichen Rechenfähigkeiten für Furore sorgte, war Namensgeber vieler ähnlicher Darbietungen in Sammlung Nagel Schaubuden und Circussen. Weniger weit verbreitet waren Vorführungen dressierter (Kanarien-)Vögel oder “Ratten- und Mäusetheater”, in denen sich die Tiere meist in Miniaturszenerien bewegten. „Flohcircusse” gastierten hingegen häufiger auf den Jahrmärkten. Die Darbietungen der „Flohbändiger“ sind dabei weit älteren Ursprungs als häufig angegeben. Lässt man zum Beispiel die phantastisch-romantischen Überzeichnungen folgender Textstelle aus E.T.A. Hoffmans „Meister Floh“ außer Acht, treten deutlich typische Bestandteile der Floh-Vorführungen hervor: Es befand sich zu der Zeit ein Mann in Frankfurt, der die seltsamste Kunst betrieb. Man nannte ihn den Flohbändiger und das darum, weil es ihm, gewiß nicht ohne die größeste Mühe Stefan Mart 1933 und Anstrengung, gelungen, Kultur in diese kleinen Tierchen zu bringen und sie zu allerlei artigen Kunststück-chen abzurichten. Zum größten Erstaunen sah man auf einer Tischplatte von dem schönsten weißen, glänzend polierten Marmor Flöhe, welche kleine Kanonen, Pulverkarren, Rüstwagen zogen, andre sprangen daneben her mit Flinten im Arm, Patronentaschen auf dem Rücken, Säbeln an der Seite. Auf das Kommandowort des Künstlers führten sie die schwierigsten Evolutionen aus, und alles schien lustiger und lebendiger wie bei wirklichen großen Soldaten, weil das Marschieren in den zierlichsten Entrechats und Luftsprüngen, das Linksum und Rechtsum aber in anmutigen Pirouetten bestand. Die ganze Mannschaft hatte ein erstaunliches Aplomb, und der Feldherr schien zugleich ein tüchtiger Ballettmeister. Noch beinahe hübscher und wunderbarer waren aber die kleinen goldnen Kutschen, die von vier, sechs, acht Flöhen gezogen wurden. Kutscher und Diener waren Goldkäferlein der kleinsten, kaum sichtbaren Art, was aber drin saß, war nicht recht zu erkennen. (E.T.A. Hoffmannn 1820. 1981, S.41) Bei den Vorstellungen konnte er das Publikum maßlos in Erstaunen versetzen, wenn auf seinen Befehl die kleinen Fahrzeuge im Zicksack fuhren, wenn die Zugtiere aus der Insektenwelt auf das Kommando `Halt´ stehenblieben, und die Avisi `Rechts´ oder `Links´ strikte befolgten. Wer konnte denn ahnen, daß unter dem Tisch ein Gassenjunge sitze mit einem Hufeisenmagnet in der Hand? Da war es doch viel wahrscheinlicher, daß die gebändigten Flöhe mit einer unerhörten Intelligenz begabt und auf jeden Wink ihres Herrn dressiert seien. (Egon Erwin Kisch 1920 in Narciß 1967, S.157) In der Regel waren aber weder irgendwelche Magneten, noch die „unerhörte Intelligenz“ der Flöhe Grundlage der Kunststücke. Im gewissen Sinne kann durchaus von einer Art „Dressur“ gesprochen werden. (dazu Willke 2001) Gegen immer wieder aufkommende Zweifel an der Echtheit der Kunststücke verwahrten sich die Prinzipale entschieden – genauso, wie sie dem hochverehrten Publikum immer wieder versicherten, dass ein Entkommen ihrer Schützlinge ausgeschlossen sei: Holzstich 1892, Sammlung Nagel Flohzirkus-Ankündigung, Sammlung Nagel Der Ankündigungszettel zeigt das typische Programm eines Flohzirkus’ mit abschließender Fütterung. Letztere gestaltete sich recht einfach, indem die kleinen Künstler einfach auf die Arme des „Circusdirektors“ gesetzt wurden. Der traditionsreiche Flohcircus von Robert Birk, vormals im Besitz der Schaustellerfamilie Mathes, gastiert seit vielen Jahrzehnten auf dem Münchner Oktoberfest. Wichtige Auftrittsorte für Nostalgiegeschäfte dieser Art sind darüber hinaus mittlerweile die vielerorts etablierten „Historischen Jahrmärkte“. Flohcircus Mathes Detail einer Souvenirkarte von 1977 Sammlung Nagel aus: Stefan Nagel: Schaubuden. Geschichte und Erscheinungsformen. Münster 2000–2014, http://www.schaubuden.de/ Vom Wilden zum Menschen Ein Streifzug durch die Dritte Welt in der Kinder- und Jugendliteratur von Jutta Kleedorfer Wo die wilden Kerle wohnen Im aufsteigenden Bürgertum des 18. Jahrhunderts erhielten Bildung, Erziehung, Familie und Kindheit einen besonderen Stellenwert und wurden in der für die Jugend geschriebenen Literatur neu definiert. Das Fundament einer moralisch und bürgerlich heilen Welt und deren wohlbegründete Ordnung wurde zusätzlich gefestigt durch den neugierigen Blick in fremde Welten: Doch die Abenteuer- und Reiseliteratur, die Seefahrts- und Indianergeschichten vermittelten Projektionen sozialer Intentionen, waren geprägt von Unkenntnis und Intoleranz. J.J. Rousseau, einer der bedeutendsten Schriftsteller und Philosophen der europäischen Aufklärung, vertrat die Ansicht, dass der Mensch von Natur aus gut sei und nur durch die Zivilisation und Gesellschaft verdorben werde. Die natürlichen Instinkte, die ersten Eindrücke und Gefühle, mit denen der kleine Mensch auf seine Umwelt, die Natur und die Mitmenschen reagiert, seien seine besten Lehrmeister und Führer zu einem richtigen Verhalten. Am besten geschähe dies durch einige wenige Bücher, daher schenkte er seinem Emile im gleichnamigen Roman zum 12. Geburtstag ein Buch mit dem Titel „Robinson Crusoe“. Wie der Titelheld in Daniel Defoes Roman sich auf einer fernen Insel durchschlägt, so soll sich der jugendliche Leser sein Leben aus eigener Kraft selbst gestalten. Freitag, der Wilde und Menschenfresser, verdankt Robinson sein Leben. Er unterwirft sich ängstlich dem „göttlichen“ Weißen, läßt sich domestizieren und wird ein willkommener Gefährte in der Einsamkeit und Wildnis. Die „gottgewollte soziale Ordnung“ von Herr und Knecht, die Überlegenheit des weißen Mannes dokumentieren sich damit wie von selbst. Das Gesetz des Dschungels Es ist nicht zu bestreiten, dass die Durchsetzung von Kinder- und Jugendliteratur, ehe sie ihr eigentliches Publikum erreicht, zunächst einmal davon abhängt, ob sie den Erwartungen und ideologischen Präferenzen der Erwachsenengesellschaft entspricht. Dies gilt vielfach für klassische Kinder- und Jugendbücher, wie z.B. Mark Twains „Tom Sawyer“ (1876), H. BeecherStowes „Onkel Toms Hütte“ oder R. Kiplings „Dschungelbuch“ (1894). Letzteres zeigt massiv kolonialistische, ja rassistische Züge, an die sich viele Fragen anknüpfen lassen: Mowglis Leben mit den Tieren, mit dem Bären Baloo und dem Panther Bagheera, der Pythonschlange Kaa und dem Wolfsrudel bleibt ja nicht bei der unschuldig-paradiesischen Gleichheit aller Kreaturen, wie es uns die Disney-Verfilmung glauben machen will. Im Buch wird völlig klar ausgesprochen, dass das Dschungelvolk unterworfen werden muss, mit Gewalt in Schach gehalten werden muss, was nur durch die Überlegenheit des weißen Mannes möglich ist. Eine Blutsbrüderschaft mit den Wölfen ist und bleibt trügerisch, denn die Tiere hassen den Fremdling wegen seiner Überlegenheit. Hier wird die romantische Kindheitsutopie in Frage gestellt: Kindheit, das bedeutet von vornherein Auseinandersetzung mit Gewalt. Der Dschungel selbst ist kein friedlicher Kindheitsraum, sondern Kampfplatz, auf dem das Recht des Stärkeren gilt. Das kann man nicht früh genug lernen. In diesem Sinn formuliert Baloo im Abgesang seine letzte Mahnung an den Abschied nehmenden Mowgli: „Achte das Gesetz, das das Menschen-Rudel macht – rein oder befleckt, heiß oder schal, achte es, als wäre es die Fährte durch den Tag und durch die Nacht, weder links noch rechts zweifelnd:“ 1 Diesem Dschungelgesetz liegt kein ethisches Prinzip zugrunde, sondern das Gesetz des Stärkeren, das die historische und politische Wirklichkeit des Imperialismus bestimmte. In der Beherrschung der „Naturvölker“, mit denen die Kolonisatoren zusammenstießen, zeigte sich die Kraft der geistig und moralisch höherstehenden Rassen. Dabei sei, so die sozialdarwinistische Legimation, Gewaltanwendung zunächst unerlässlich, um sich Raum und Sicherheit zu schaffen. Danach könnten auch die zwischenmenschlichen Verhältnisse zu den Unterworfenen humanisiert werden. Die deutsche „Kolonialliteratur“2 waren eine propagandistische Rechtfertigung der Feldzüge, wodurch die „primitiven, barbarischen Ein heimischen „zivilisiert“ und der christlichabendländischen Kultur zugeführt wurden. Dabei wurde z.B. die brutale Vorgangsweise der Engländer den freundlichen Methoden der Deutschen in Afrika gegenüber gestellt, was die deutsche Kolonialpolitik und den deutschen Imperialismus in doppelter Weise sanktionierte. Der koloniale Held, Siedler oder Soldat und die züchtige, treue, zupackende Siedlersgattin entsprachten dem Idealbild der deutschen Männer und Frauen. »Zehn kleine Negerlein« Abenteuerbücher spielen in fernen Ländern, ihre Helden begegnen Vertretern fremder Rassen und informieren als Reiseliteratur auch über exotische Völker, Länder und Landschaften. Sie verarbeiten aus der Sicht des „Weißen“ subjektiv Erlebtes und berichten über Unheimliches, Bedrohliches, Verlockendes. Moralische Stärkung erfuhr der kindliche Leser durch die Identifikationsfiguren dieser Bücher. Der weiße Held trotzte jeder Gefahr, blieb gleichmütig im Unglück, war diszipliniert auch in extremen Situationen und blieb seinen bürgerlichen, europäischen Wertevorstellungen wie seinem christlichen Glauben treu. Das weit verbreitete Kinderlied von den „Zehn kleinen Negerlein“ spiegelt diese Einstellung wider und vermittelt die verschlüsselte koloniale Herrschaftsideologie3 des 19. Jahrhunderts. Der Aufbau folgt dem Prinzip der abnehmenden Zahl, wonach die „Negerlein“ in die europäische Zivilisation kommen und der Reihe nach wegen Kulturunfähigkeit sterben. Sie sind einfach zu dumm, zu ungeschickt, daher sind am Schluß „alle futsch“. Eine andere Version endet damit, dass ein kleines »Negerlein« erstaunlich schlau ist, denn „es ging zurück nach Kamerun und nahm sich eine Frau“. Die Moral von der Geschichte: Der „Neger“ bleibe am besten, wo er ist, und maße sich nicht an, Kulturträger sein zu wollen wie die Weißen. Das Lied handelt daher auch weniger von „Negerkindern“ als vielmehr von „Kindnegern“, die gemäß dem rassistischen Klischee vom „primitiven Wilden“ über das infantile Entwicklungsstadium nicht hinauskommen, es sei denn, der Kolonisator, der Missionar oder der Entwicklungshelfer führen ihn. Dieses Denken war praktisch, denn es legitimierte die christlichen wie imperialistischen Europäer und Amerikaner, sich die Dritte Welt in Kolonien und wirtschaftliche Einflussgebiete unter sich aufzuteilen. In der Zeit der Romantik hatte sich auch das Bild vom edlen, reinen Wilden entwickelt, das bei James F. Cooper in seinen Erzählungen „Der Lederstrumpf“ oder „Der letzte Mohikaner“ in einer verherrlichenden Darstellung des Naturmenschen gipfelt. Die Vorstellung reichten demnach vom kindlich unverdorbenen, drolligen Wilden bis zum bedrohlichen, zähnefletschenden Kannibalen, vom exotischen, bunt geschmückten Fabelwesen bis zum primitiven, unterentwickelten Sklaven oder zum armen Heidenkind, das es zu bekehren galt. Wie bei den Hottentotten Mit der industriellen wie technischen Revolution im 19. Jahrhundert wurden Reisen in die fernsten Winkel der Erde möglich und bald bildeten sich die unterschiedlichsten Klischees 4 dazu. Jules Verne, einer der meistgelesenen und meistübersetzten Autoren des 19. Jahrhunderts, vergleicht in seinem Roman „In 80 Tagen rund um die Welt“ die Schwarzafrikaner mit Affen, hält sie für Übergangswesen zwischen Affe und Mensch. Die Darstellung von anderen Völkern und ihren Kontinenten ist in der Kinder- und Jugendliteratur so oft in vereinfachter Form gestaltet worden, dass auch heute noch beim Hören von Namen und Begriffen einem sofort stereotype Bilder und Vorurteile aufsteigen: •AFRIKA Die Afrikaner erscheinen als grausame Kannibalen, werden als dümmlich-drollig mit Kulleraugen und Baströckchen dargestellt und sprechen ein entsetzliches Kauderwelsch. Afrika als der dunkle Kontinent mit riesigen Urwäldern, großen Tierparks und primitiven, nackten Eingeborenen, die als Wilderer ihr Unwesen treiben. Seltsame Riten und Tänze, Großwildjagden und Safaris, reiche »Neger«häuptlinge und Kinder mit vor Hunger aufgeblähten Bäuchen … •ASIEN Gelbe „Gefahr“ mit Schlitzaugen und Zopf, hohe, unverständliche Kultur, geheimnisvolle und grausame Menschen, tückische und gefährliche Verbrecher, Großfamilien und „Land des Lächelns“ … •LATEINAMERIKA Regenwald, Karneval, Fußball, Samba, Slums, Straßenkinder, Korruption … •INDIANER Prärie, Pferde, Tipis und Wigwam, Häuptlinge und Squaws, Büffel, Federschmuck und Skalp, Cowboys, Ausrottung durch die Weißen, Medizinmann, Naturverbundenheit, Reservate … •AFROAMERIKANER Sklaven, Onkel Tom, Jazz, Sportler und Entertainer, arm, gutmütig, faul … •ARABIEN Islam, unterdrückte, schleiertragende Frauen, Harem, Blutrache, Bauchtanz, schnelle Pferde, stolze und freiheitsliebende Nomaden (Tuareg), Waffenschmuggel, Kamele, Wüstensöhne … Solche übertriebenen Verallgemeinerungen sind meist gekoppelt mit einer negativen Wertung, wodurch kulturell und religiös verankerte Feindbilder entstanden sind. Offenen Rassismus findet man nicht nur in der Abenteuerliteratur, er wurde auch von der Filmindustrie bestens vermarktet. Tarzan ist nicht zufällig weiß. Sein Schöpfer, Edgar Rice Burroughs, konzipierte ihn in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts als Idealfigur, die Schwarzen dagegen als Inkarnation des Dummen und Bösen. Diese gängigen Vorurteile wurden zur Zeit des Nationalsozialismus durch die Rassenlehre noch verschärft. Erich Ohser, besser bekannt als E.O. Plauen, wagte es in seinen bis heute beliebten schwarzweißen Bildergeschichten zum Ausdruck zu bringen, was in der bedrückenden Welt der Nazis, keinen Platz hatte: Menschlichkeit, Toleranz und befreiender Humor. Alles, was den Nazis fremd war, verfolgten sie mit ihrem Hass, und sie machten sich über andere Völker lustig. Das machen einmal auch der melonenköpfige, schnauzbärtige Vater und sein kleiner Sohn mit der Struwwelpeterfrisur: Mit ausgestrecktem Zeigefinger lachen sie über eine Afrikanerin und ihre Tochter. Aber es funktioniert auch umgekehrt: Im nächsten Bild lachen die Afrikanerin und ihre Tochter über Vater und Sohn, denn die sehen aus ihrer Sicht mindestens ebenso exotisch aus. Vater und Sohn lehren, friedliebend und fröhlich das Leben zu meistern; als ihnen dies nicht mehr möglich ist, spazieren sie einfach in den Mond hinein. Ihrem Schöpfer war so ein märchenhaftes Verschwinden nicht gegönnt. Nach seiner Verhaftung durch die Nazis erhängte er sich einen Tag vor der Gerichtsverhandlung im Gefängnis. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente die „Dritte Welt“ weiterhin als exotische Kulisse für weiße Helden oder Abenteurer. Es entstanden bis weit in die sechziger Jahre Missionsbücher und Romane von Entwicklungshelfern als fast eigenständige Gattung. Man wollte den „rückständigen“ Menschen mit technologischem Fortschritt helfen und ihnen den „wahren“ Glauben bringen. Die unterentwickelten Menschen im Süden sollten mit Hilfe des großen Bruders aus dem Norden in den Genuss der zivilisatorischen Errungenschaften kommen. Diskriminierung und europazentrierte Überheblichkeit können auch sehr subtil in Kinderund Jugendbücher einfließen. Oft sind die Geschichten so geschrieben, dass sie durchaus Sympathie und Verständnis für uns fremde Menschen, Länder und Kulturen wecken. Doch die vordergründig positive Haltung, die letztlich nur die eigene Kultur hervorhebt oder väterlich wohlwollend zeigt, wie rückschrittlich die anderen sind, kann in gefährlicher Weise bei unkritischen Lesern – das sind ja Kinder und Jugendliche, die zum ersten Mal ein solches Thema kennenlernen – unreflektierte Vorurteile wachsen und entstehen lassen. Diese Art der Darstellung wird entlarvt anhand folgender Kriterien5, wie J. Becker sie formuliert: • Das Vermeidungsyndrom: Es gibt keine Rassenkonflikte, alle kommen wunderbar miteinander aus. • Das Biologiesyndrom: Unterschiede ergeben sich naturgemäß aus der angeblich biologischen Andersartigkeit. • Das Harmonisierungssyndrom: Vorhandene augenscheinliche Konflikte werden privatisiert, bagatellisiert und verniedlicht. • Das Oasesyndrom: Es steht nur ein Schwarzer im Konflikt mit der weißen Gesellschaft. • Das Gewaltsyndrom: Schwarze Gewalt wird kriminalisiert, weiße Gewalt wird sanktioniert. • Das Syndrom der Enthistorisierung: Rassenkonflikte werden so gelagert, dass sie die weiße Vorherrschaft nicht tangieren. Wer fürchtet sich vom Schwarzen Mann? „Was macht zwei Millionen Norweger zu einem Volk und ebenso viele Baganda zu einem Stamm, ein paar Hunderttausend Isländer zu einem Volk und 14 Millionen Haussa-Fulbe zu einem Stamm? Es gibt dafür nur eine Erklärung: Rassismus“.6 „Als Kind habe ich gelernt. Jenseits der Grenzen liegt das Ausland mit all den Ausländern, vor denen man sich in Acht nehmen muss; ich war Inländer. Isländer und Irländer, dachte ich, müssen uns irgendwie verwandt sein; es trennt uns ja bloß ein einziger Buchstabe!“ 7 So die Überlegungen des Autors Lukas Hartman über seinen frühen Hang zu Internationalismus, der schön zeigt, welche Fallstricke und Fußangeln schon in früher Kindheit in den einzelnen Sprachmustern stecken. Wie tief verwurzelt ist die Angst vor dem Schwarzen (oder Roten oder Gelben) Mann, den wir in Bilderbüchern gesehen haben, womit uns Angst gemacht wurde? Die Sprache verrät’s! Es ist gerade bei Kinderbüchern aus und über Afrika, Lateinamerika und Asien bedeutsam zu beobachten, ob und wie folgende Tendenzen8 sichtbar werden: •Ethnozentrismus – Kulturüberheblichkeit Mit Ethnozentrismus wird eine Einstellung bezeichnet, die das eigene Denken, Fühlen und Handeln, die eigene Lebensart und Kultur ins Zentrum der Welt gestellt. Es ist ein ambivalenter Begriff, der positive und negative Aspekte aufweist. Es wird dadurch der innere Zusammenhalt, einer Gruppe gestärkt und deren Existenz und Identität gesichert, andererseits bedeutet es auch die Unfähigkeit, dem Fremden und Unbekannten aufgeschlossen und lernbereit zu begegnen. Die Kulturüberheblichkeit ist nicht auf die Industriegesellschaften beschränkt. •Paternalismus Der Paternalismus zeigt sich in der „väterlich wohlwollenden“ Einstellung und im Verhalten von Industriegesellschaften gegenüber Menschen in sogenannten Entwicklungsländern. Es ist eine herablassende Art im Umgang mit den „Unterentwickelten“, denen – oft gewaltsam und meist zum eigenen Vorteil – zum technischen und zivilisatorischen Fortschritt verholfen wird. •Sexismus Sexismus ist die Diskriminierung eines Menschen auf Grund seines Geschlechtes. Die Benachteiligung der Frauen in der Dritten Welt zeigt sich in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und wird nur zu gern von europäischen oder amerikanischen Schriftstellern als Sujet aufgegriffen, können dadurch Sehnsüchte und geheime Wünsche ungehindert auf den fernen Orient, auf fremde Kontinente, projiziert werden. •Rassismus Merkmal rassistischen Denkens ist es, ungleiche und ungerechte Verhältnisse zwischen einzelnen Menschen, Gruppen oder Völkern auf biologische Unterschiede (z.B. Hautfarbe) zurückzuführen. Auf diese Weise wird versucht, vermeintliche Überlegenheit der einen gegenüber der anderen Gruppe zu rechtfertigen. Diese Herabsetzung von Menschen anderer Völker und Kulturkreise legitimiert Gewalt und Unterdrückung und damit die Beibehaltung von Macht und wirtschaftlicher Überlegenheit. Wo kommen die Löcher im Rassismus-Käse her? Erste Tendenzen, diese rassistischen Darstellungen zu hinterfragen, zeigen sich im Zuge der antiautoritären 68er Bewegung. Man begann sich um das politisch wie sozial unverfälschte, wahrhaftige Kinder- und Jugendbuch zu bemühen, das die Anliegen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen ernst nahm und sich um Wahrheit bemühte. Durch den gesellschaftlichen Umbruch Ende der sechziger Jahre wurden traditionelle Werte und Normen kritisiert. Dazu gehörte auch die kritische Auseinandersetzung mit der Entwicklungshilfe, die als Hilfe zur Unterentwicklung angeprangert wurde. Und die Invasion geht weiter9 Und die Invasion geht weiter. Viele bedrängen uns von allen Seiten – sie wollen uns verändern nach ihren Vorstellungen und uns abhängig machen von all den Dingen die sie produzieren, und womit sie vermeinen, glücklich zu werden. Sie kommen in Massen, um unsere Tänze zu sehen, und wenn sie durcheinander reden, klingen ihre Worte nach Streit, nach Bauchweh und Lärm mit angeberischem, vulgärem Sinn. Sie haben einen unstillbaren Durst nach Silber und Gold, den wir nicht begreifen wollen. Aber die Invasoren sehen und denken anders. Um ihren Durst zu stillen, benehmen sie sich wie Raubtiere: Sie holzen die Wälder ab und öffnen die Erde – ohne Achtung und mit Gewalt. Sie vergessen, dass die Erde ein lebender Körper ist. Diese Kritik ging wesentlich auf die Forderung der „Dritten Welt“ zurück, wo inzwischen viele Länder unabhängig geworden waren. In Nordamerika kämpfte die Blackpower-Bewegung für die Gleichberechtigung der Schwarzen. 1978 war die Diskussion um die Darstellung der Dritten Welt im Kinder- und Jugendbuch so aktuell, dass sie an der Frankfurter Buchmesse zu einem Schwerpunktthema wurde. Die Bemühungen um eine vorurteilsfreie, ehrliche Begegnung mit außereuropäischen Ländern, Völkern und Kulturen gipfelten in der noch heute gültigen Erklärung von Bern, die Grundlage für die Bewertung von Kinder- und Jugendbüchern wurde. Mittlerweile ist die Dritte Welt in der Jugendliteratur ein anerkanntes Thema. Laufend erscheinen gute und empfehlenswerte Kinder- und Jugendbücher von europäischen oder anglo-amerikanischen Schriftstellern über Länder der Dritten Welt. Bücher aus diesen Ländern jedoch gibt es nach wie vor eher selten, haben sie doch schon bei der Herausgabe im eigenen Land mit großen Problemen zu kämpfen und finden kaum Verleger und Übersetzer. Der Kinderbuchfonds Baobab, Terres des Hommes und einige engagierte Verlage in Deutschland, der Schweiz und Österreich fördern im Besonderen Kinder- und Jugendbücher von Autor/inn/en aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Die Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendmedien, „Eselsohr“ stellt in einer eigenen Rubrik „Verlag gesucht“ Texte aus der Dritten Welt vor, um gerade authentische Literatur aus Afrika, Asien oder Lateinamerika zu fördern.10 Die nachkoloniale Kinderstube Heute zeichnen sich in der Entwicklung des Kinder- und Jugendbuches zum Thema Dritte Welt zwei Schwerpunkte ab11: •Texte über die Dritte Welt, vornehmlich von Autor/inn/en aus Europa oder Nordamerika geschrieben. Sie sind aus der Sicht westlicher Industrieländer verfasst. Sie wollen meist etwas erklären, wollen aufklären, wollen zeigen, wie Kinder anderswo leben, wie schlecht es jenen und wie gut dagegen uns geht. Es entsteht ein Bild aus Elend, Hunger und Ungerechtigkeit, das Mitleid und paternalistische Gefühle hervorruft. Manche der dargestellten Kinderschicksale sind erschütternd, erdrückend und hoffnungslos. Sie appellieren an die Solidarität der reichen Länder und wollen ein Umdenken einleiten. •Bücher von Autor/inn/en aus Afrika, Asien und Lateinamerika sprechen von ihrer eigenen Kultur. Sie lassen uns teilhaben an Dingen, die für uns Europäer fremdartig sind, zeigen aber auch, wo Annäherungen möglich sind, wo Gemeinsames sichtbar wird. Die Auseinandersetzung mit ungewohnten Gedanken, Vorstellungen und Lebensweisen fällt nicht leicht, schockiert und stößt ab, bietet aber auch die Chance, unser eigenes Denken zu erweitern und andere Seinsweisen zu tolerieren, wenn auch das Verständnis dazu von beiden Seiten fehlt. Vor allem geht es um die Förderung von Empathie, um jene latente Angst vor dem Fremden und Unbekannten abzubauen, die meist Ursache von Vorurteilen, Diskriminierungen und Rassismus ist. Es gibt einige Fragestellungen12, die gezielt eine rasche Analyse ermöglichen, ob ein Buch vorurteilsfrei und authentische geschrieben ist: 1. Wer sind die Helden der Geschichte? 2. Wie werden Menschen verschiedener Völker beschrieben? Wie handeln sie, und wie gehen sie miteinander um? 3. Wie werden andere Lebensformen beschrieben und andere Lebensnormen gewürdigt? 4. Was ist die Botschaft des Buches? 5. Wie sind die Illustrationen gestaltet? Wiederholen sie Klischees und bestätigen sie Vorurteile? 6.Wie sind Sprache und Stil des Buches? Gelingt es dem Autor, die Menschen und ihre Umgebung authentisch zu beschreiben, oder liegt in Stil und Wortwahl schon eine Wertung? 7. Trägt das Buch dazu bei, bei Leser/inne/n eine solidarische Haltung zu verstärken? 8. Ist der Autor ein Einheimischer oder ein Europäer bzw. Amerikaner? Wer hat das Buch illustriert? 9. Wann ist das Buch erschienen? Am Ende der Weißheit? In der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur sind solche Bemühungen zur Überwindung der Vorurteile schon Anfang der sechziger Jahre deutlich zu beobachten. Käthe Recheis hat aufgrund ihrer wiederholten Reisen und Recherchen bei Indianerstämmen die konkreten Formen indianischen Lebens beobachtet und beschrieben. Das für die Bewusstseinsänderung bedeutendste Buch ist m.E. „Der lange Weg des Nataiyu“, in dem der Einfluss „weißer Erziehung“ auf das Welt- und Menschenbild junger Indianer von heute schonungslos dargestellt wird und deren Widerstand und Identitätssuche zur Folge hatte. Neben vielen Bilder-Buch-Texten schrieb sie auf Erfahrung beruhende informative Erzählungen oder mit Fotos bebilderte Reports über fremde Völker, Lebensweisen und Kulturen. Besonders erwähnenswert ist die von ihr übersetzte und redigierte „Indianerbibiliothek“ (Verlag Herder, ab 1989) in der indigene Vertreter zu Wort kommen und authentische Texte vorgelegt werden. Ähnliches gelingt auch Renate Welsh in dem Sammelband afrikanischer Erzählungen mit dem Titel „Ich verstehe die Trommel nicht mehr“. Weiters wären Mira Lobes „Geggis“ (1989) zu nennen, aber auch Lene Mayer-Skumanz, die das historische Bild der christlichen Mission mutig und wortgewaltig durcheinanderbeutelt. Ihre schwarze Schwester Halleluja spricht ein zorniges Gebet: „Gott, ich hab’ was zu reden mit dir! Wirf einen Blick in die Bibel, dorthin, wo Maria das große Loblied singt! Wofür will sie dich preisen und loben? Dafür dass du die Hungrigen satt machst? Hör nur, ich lese dir vor: ‚Die Hungrigen beschenkt er mit seinen Gaben, die Reichen schickt er mit leeren Händen fort.‘ Gott, hat sich Maria geirrt? Oder gilt dies nicht für unser Land? Schau unsre Felder an, die jungen Hirsepflanzen! Heute waren Regierungsbeamte da, mächtige Herren aus der Stadt. Sie haben befohlen: ‚Reißt die Hirse heraus! Baut Baumwolle an, Erdnüsse und Kakao!‘ Gott, du weißt es: Von diesen Nüssen, diesem Kakao werden unsere Kinder nicht satt. Aus dieser Baumwolle werden sie keine Kleider tragen! All diese Güter werden ins Ausland verkauft. Unsere Bauern bekommen nichts von dem Gewinn, den stecken andere ein. Reiche werden noch reicher. Ohne Hirsefelder aber müssen wir verhungern! Gott, du hast mich, deine schwarze Dienerin, so geschaffen, dass ich nicht wegschauen kann, wenn Arme leiden und ihnen Unrecht geschieht. Mach meine Stimme laut, wenn ich schreie! Gib mir einen langen, kräftigen Atem, wenn ich Anklage erheb im Namen der Armen! Lass meine Worte wie Pfeile aus Wind ins Gewissen der Mächtigen treffen, dorthin, wo vielleicht noch, von dir behütet, ein Funken Barmherzigkeit glimmt.“ 13 Ein weiterer Meilenstein ist die von Peter Wesely 1991 herausgegebene Anthologie „Niños del mundo“ (Verlag St. Gabriel), eine Sammlung von historischen und zeitgenössischen Berichten, von Begegnungen und Erlebnissen einzelner sowie Sachinformationen z.B. über die Ausbeutung der Landbevölkerung in Lateinamerika. Einzelne Geschichten, geschrieben von bekannten Kinderbuchautoren, erzählen über das Leben junger Menschen, während die übrigen Beiträge von Entwicklungshelfern, Fachleuten und anderen Kennern dieses Erdteils verfasst wurden, die ihr Leben in den Dienst der Armen und Ärmsten gestellt haben. Sie geben Auskunft über die Lebenswirklichkeit, zeigen die Folgen der Konquista, der Ausbeutung und Sklaverei. Voll Engagement beschreibt auch Robert Klement seine Eindrücke während seines Aufenthalts in Brasilien in dem Buch „Die Straßenkinder von Rio“ (Verlag Jugend&Volk, 1994) Er weist auf den unvorstellbaren Existenzkampf dieser Kinder hin und versucht durch die Identifikation mit der Hauptfigur Solidarität bei den jugendlichen Leser/inne/n zu wecken. Doch bleibt er seinem eurozentrischen Blickwinkel verhaftet, indem er informiert, erklärt und wertet. Bei allem Wohlwollen und gut gemeintem Engagement wird aber auch deutlich, welch gewichtige Unterschiede in der Rezeption entstehen, ob nun ein Autor aus seiner europäischen Perspektive Ausschnitte aus der fremden Wirklichkeit wahrnimmt oder ob er als Angehöriger eine Geschichte mit seinem eigenen kulturellen Hintergrund authentisch gestaltet. Ein Stück österreichischer Entwicklungshilfe verpackt Wilhelm Pellert in seiner Erzählung „Ayana und das goldene Tor“ (Neuer Breitschopf, Wien 1992). Es wird einleitend erzählt, wie junge Österreicher als Entwicklungshelfer mit ihren Kenntnissen den afrikanischen Dorfbewohnern bei der Arbeit helfen und eine Genossenschaft aufbauen. Als Austausch gibt es auch die Möglichkeit, dass junge Afrikaner ein Jahr lang nach Europa kommen und im Fall Ayanas ein Jahr in die Schule gehen. Als das schwarze Mädchen als unzivilisiert und primitiv bezeichnet wird, setzt sie sich folgendermaßen zur Wehr: „Heißt das, dass ich eine Primitive bin? … Weißt du, wir in Togo können uns eine Lehmhütte und ein Strohdach über dem Kopf bauen, wir können Stoffe für unsere Kleidung weben und Hirse anbauen, ernten und zubereiten, und das nennst du primitiv? … Wenn man im Kreis wohnt, wie in Afrika, dann sieht man einander, aber wer übereinander wohnt, sieht den anderen nicht. Jeder will alles nur für sich kaufen! Keiner will tauschen und teilen. … In Europa würde alles irgendwem gehören. Wald, Fluss, Berg und Tal. In Wirklichkeit gehört doch alles allen. … Es gibt dazu ein afrikanisches Sprichwort: ‚Der Hund hebt an einer Hütte sein Bein und glaubt die Hütte gehört ihm.‘ Und wenn ein Baum Früchte trägt, die für die Menschen nicht gut sind, sind sie vielleicht für die Tiere gut. Und wenn seine Früchte auch für die Tiere nicht gut sind, so ist er immer noch ein Schattenbaum!“ 14 BAOBAB – mehr als ein Schattenbaum Baobab, so heißt der Affenbrotbaum, der in vielen Teilen Afrikas anzutreffen ist. Im Schatten seiner weit ausladenden Äste pflegen die Menschen sich zu treffen und Geschichten zu erzählen. BAOBAB ist ein Markenzeichen für eine bestimmte Reihe von Kinder- und Jugendbüchern geworden, die authentisch Geschichten von Kindern und Jugendlichen in der Dritten Welt erzählen. Sie wollen Vorurteilen entgegenwirken, jungen Leser/inne/n zutreffende Informationen über Leben und Probleme von Menschen in außereuropäischen Kulturen vermitteln und sie miterleben lassen, was junge Menschen in fernen Ländern bewegt und beschäftigt, freut und bedrückt. Vermittelt werden authentische Aussagen durch den Inhalt von Text und Illustration, beantwortet werden Fragen, die für Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt wichtig sind: • Wie ist das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern? • Wie sind die Pflichten, Freiheiten und materiellen Bedingungen? • Welchen Anteil haben die Kinder am Leben und an den Gesprächen der Erwachsenen? • Wie wird gelernt? • Wie wirken sich die Probleme, mit denen eine Gesellschaft kämpft, auf die Kinder aus? • Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen leben die Kinder, wie werden sie erwachsen? Die Reihe BAOBAB, die vom Kinderbuchfond Baobab, der Erklärung von Bern zusammen mit terre des hommes Schweiz herausgegeben wird, erscheint beim Verlag Nagel&Kimche für Deutschland und die Schweiz und beim Verlag St. Gabriel für Österreich. Geboten werden Kinderbücher aus Ländern der sogenannten Dritten Welt, ausschließlich geschrieben von afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Autor/inn/en. Ein Buch ist nicht die Welt Ein Buch ist nicht die Welt. Es erzählt Menschengeschichten. „Aber wenn nur ein einziger junger Mensch sich beim Lesen über soviel Leid und Verzweiflung empört, hat meine Arbeit an dem Buch sich gelohnt“, meint Júlio Emílio Braz über seine packende Geschichte „Kinder im Dunkel“ (1996) aus Brasilien. Die Bücher der Australierin Patricia Wrightson wurden kongenial von dem österreichischen Schriftsteller Wolf Harranth ins Deutsche übertragen und geben Einblick in die gewandelten Dimensionen: „Das alte Land liegt im Süden der Erde wie eine quer über den Globus gelegte, sanft gewölbte offene Hand … an den grünen Küsten, da und dort in Städten zusammengeschart, leben die Glücksjäger, das Gesicht zum Meer. Dem Glück gilt ihr Leben, glücklich zu sein ist ihr Beruf und ihre Pflicht. Sie erforschen die Wege des Glücks und unterweisen ihre Kinder darin; sie zerreden es und stopfen es in enge Gesetze, sie erkämpfen es und führen es aus und ein. Vor allem aber kaufen und verkaufen sie das Glück. Da bleibt ihnen freilich keine Zeit, einen Blick über die Schulter auf das alte Land zu werfen, das hinter ihrem Rücken liegt. … Die Glücksjäger sind davon überzeugt, die wahren Herren des Landes zu sein, und glauben, dass alles ihnen gehört. Und doch leben zwischen den Städten und jenseits der steilen, kahlen Berge auch Menschen ganz anderer Art. Ihre Zahl ist gering, und sie sind weit übers Land verstreut: die Inländer und jene, die sich einfach ‚das Volk‘ nennen. Die vom Volk sind dunkelhäutig, sie haben buschige Brauen und wachsame Augen, und sie sind innig mit dem Land verbunden; sie spüren es unter ihren bloßen Füßen. Gewiss, auch ihre Vorväter haben einmal das Land einem anderen Volk weggenommen, aber das ist so lange her, dass sie das getrost vergessen können und behaupten dürfen, einen Anspruch auf dieses Land zu haben – sofern nicht vielmehr das Land einen Anspruch auf diese Menschen erhebt. … Und während die Glücksjäger, die Inländer und das Volk versuchen sich näherzukommen und dabei immer weiter auseinandergeraten, lebt die älteste Rasse von allen ganz im Geheimen mitten unter ihnen. Das sind jene Geschöpfe, die das Land selbst gebar: aus roten Felsen und versonnenen Tümpeln, aus Staubwirbeln und abgelegener Einsamkeit, aus grünem Dschungel und kobalbtlauen Salzsträuchern. Die Leute aus dem Volk kennnen sie seit langem und erwähnen sie kaum. Und die anderen, die Glücksjäger und die Inländer? Sollte wirklich jemals einer von ihnen auf einen Erdgeist stoßen, verschlägt ihm das gleich die Sprache und deshalb ist uns keine derartige Begegnung überliefert.“ 15 Bücher wie diese, deren Bilderwelten sich nicht an gängigen Kindheitsmustern orientieren, deren Textgestaltung behutsam den fremden Erzählrythmus nachgestaltet, erweitern die inneren Bilder einer anderen Welt und regen zum Nachdenken in vielfacher Hinsicht an. Abschließend sei die kubanische Schriftstellerin Hilda Perera zitiert, die in ihrem Buch „Traumtausch“ ein facettenreiches Bild von den Nord-SüdSpannungen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gestaltet und resümierend feststellt: „Seit ich klein war, hatte ich so viele Kinder auf dem Boden schlafen sehen; armen Kindern hatte ich zugeschaut, wie sie an felsigen Stellen im Meer badeten, statt an den sauberen, blauen Stränden, an die ich Privilegierte ging. Von klein auf hatte ich Mitgefühl mit armen Leuten, machte mir Vorwürfe, dass es sie gab. Später dann mein ganzes Lateinamerika mit armen Leuten, Indios, Analphabeten, unbezahlbaren Schulden, Unterentwicklung und Arbeitslosigkeit. Dort gärt es, solange ich denken kann. Und plötzlich sehe ich mich selbst: ich kann nichts ausrichten. Ich bin per Definition, durch meine Umgangsformen, meine Bildung, aus Mangel an Läusen die ‚Senora‘. Über mir schlägt eine Flut von Gewissensbissen zusammen, aber ich weiß nicht, welche Sünden ich begangen haben soll. … Jetzt weiß ich, dass es mir nicht gelingen wird, Mercedes (illegales Dienstmädchen aus Honduras) aus ihren fatalen Erinnerungen herauszuhelfen oder sie von ihrer Vergangenheit zur kurieren. Aber Maria, ihre Tochter schon. Maria werde ich als Anwältin oder Ärztin oder Bankpräsidentin erleben. Und sie wird drei Sprachen sprechen: Die erste Generation arbeitet, die zweite schafft den Durchbruch; in der dritten erinnert sich niemand mehr daran, dass die Großmutter einmal barfuß herumgelaufen ist.“ 16 Lesen sprengt Grenzen, die Menschen auf der ganzen Welt stehen einander näher, als es die Landkarte vermuten lässt. Kinder- und Jugendbücher werden vom Prinzip Hoffnung getragen, vermitteln die Utopie einer humanen, einer besseren Welt, der einen Welt: „Es ist die Literatur, die das Bild eines Landes bestimmt, gerade indem sie allen fertigen Bildern mit Hartnäckigkeit und sanfter Gewalt widerspricht.“ 17 Anmerkungen: 1) Rudyard Kipling: Das zweite Dschungelbuch. Neu übersetzt von Gisbert Haefs. Zürich: Haffmans Verlag, 1989, 2. Aufl., S. 237f. 2) Erklärung von Bern-Dokumentation, 5/95, S. 3. 3) Vgl. dazu: Karl Luger, Vergnügen, Zeitgeist, Kritik. Streifzüge durch die populäre Kultur: Österreichischer Kunst- und Kulturverlag, Wien 1998, S. 152ff. 4) Margret Wannemacher-Zehnder: Fremde Welt – ein Spiegel unserer eigenen Welt? In: Tausend und Ein Buch, #5/1997, S. 9. 5) Gerhard Haas (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Handbuch. Reclam: Stuttgart 1984, 3. Aufl., S. 99. 6) Mamood Mamdani, ugandischer Sozialwissenschaftler, in: Guck mal über den Tellerrand, hg. Von der deutschen Welthungerhilfe, 1995, S. 10. 7) Lukas Hartmann, ISIS, in: Eselsohr 9/98, S. 7. 8) Zitiert aus: Fremde Welten, hg. Kinderbuchfonds Babobab Basel, 1997, 12. Aufl., S. 5. 9) Luciano, Schamane der Tarahumara, in: Unser Amerika, hg. von der Gesellschaft für bedrohte Völker, Jugend&Volk: Wien 1992, S. 7. 10) Weitere Auskünfte, auch über Bücher, erhält man bei: Claudia Stein, Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V., Postfach 100116, 60001 Frankfurt/Main, Tel.: 0692/2102-270, Fax: 0692/2102-227. aus: Kleedorfer, Jutta: Vom Wilden zum Menschen. Ein Streifzug durch die Dritte Welt in der Kinder- und Jugendliteratur, Medien-Impulse, 7 (1998), 26, S. 33–41. Kipling, Rudyard Kim Oh ye who tread the Narrow Way By Tophet-flare to Judgment Day, Be gentle when »the heathen« pray To Buddha at Kamakura! [Ihr, die ihr geht bei Höllenglast den Schmalen Pfad zum Jüngsten Tag, seid milde, wenn »Die Heiden« beten zum Buddha in Kamakura!] Er saß, allen behördlichen Anordnungen trotzend, rittlings auf der Kanone Zam-Zammah auf ihrem Ziegelsockel gegenüber dem alten Ajaib-Ghar – dem Wunder-Haus, wie die Eingeborenen das Museum von Lahore nennen. Wer Zam-Zammah besitzt, jenen »feuerspeienden Drachen«, der besitzt den Punjab, denn das große Geschütz aus grüner Bronze ist immer wichtigstes Beutestück des Eroberers. Es gab eine gewisse Rechtfertigung für Kim– mit den Füßen hatte er Lala Dinanaths Sohn von den Schildzapfen gestoßen – , da die Engländer den Punjab besaßen und Kim Engländer war. Zwar war er schwarzgebrannt wie nur irgendein Eingeborener; zwar benutzte er mit Vorliebe die Umgangssprache und seine Muttersprache nur in einem verstümmelten, ungewissen Singsang; zwar verkehrte er mit den kleinen Jungen des Basars auf völlig gleichem Fuß; aber Kim war ein Weißer – ein armer Weißer, einer von den allerärmsten. Die halbblütige Frau, die sich um ihn kümmerte (sie rauchte Opium und gab vor, an dem Platz, wo die billigen Droschken stehen, einen Laden mit gebrauchten Möbeln zu betreiben), erzählte den Missionaren, sie sei die Schwester von Kims Mutter; aber seine Mutter war Kindermädchen in der Familie eines Obersten gewesen und hatte Kimball O’Hara geheiratet, einen jungen Fahnensergeanten von den Mavericks, einem irischen Regiment. Später nahm er eine Stellung bei der Sind-Punjab-Delhi-Eisenbahn an, und sein Regiment kehrte ohne ihn in die Heimat zurück. Seine Frau starb in Firozpur an Cholera, und O’Hara begann zu trinken und mit dem dreijährigen Kind, das lebhafte Augen hatte, die Bahnlinie entlangzustromern. Gesellschaften und Geistliche, die sich um den Jungen sorgten, suchten ihn einzufangen, aber O’Hara trieb weiter, bis er der Frau begegnete, die Opium nahm, und von ihr lernte er den Geschmack daran und starb, wie arme Weiße in Indien sterben. Beim Tod bestand sein Besitz aus drei Papieren – das eine nannte er sein »ne varietur«, weil diese Wörter auf dem Papier unter seiner Unterschrift standen; das zweite sein »Klarierungs-Zeugnis«. Das dritte war Kims Geburtsschein. Diese Dinger, pflegte er in seinen glorreichen Opiumstunden zu sagen, würden aus dem kleinen Kimball noch einmal einen Mann machen. Kim solle sich auf keinen Fall von ihnen trennen, denn sie seien Teil einer großen Magie – solch einer Magie, wie Männer sie drüben hinter dem Museum betreiben, in dem großen blau-weißen Jadū-Ghar – dem Zauber-Haus, wie wir die Freimaurer-Loge nennen. Alles würde, sagte er, irgendwann in Ordnung kommen, und Kims Horn würde erhöht werden zwischen Säulen – ungeheuren Säulen – der Schönheit und Kraft. Der Oberst selbst, auf einem Pferd sitzend, an der Spitze des feinsten Regiments der Welt, würde sich um Kim kümmern – den kleinen Kim, der es besser haben sollte als sein Vater. Neunhundert erstklassige Teufel, deren Gott ein Roter Stier auf einem grünen Feld sei, würden sich um Kim kümmern, wenn sie O’Hara nicht vergessen hätten – den armen O’Hara, der Rottenführer auf der Firozpur-Linie gewesen war. Dann weinte er immer bitterlich, in seinem zerbrochenen Binsenstuhl auf der Veranda. So kam es, daß die Frau nach seinem Tod Pergament, Papier und Geburtsschein in eine Amulettscheide aus Leder nähte, die sie Kim um den Hals hängte. »Und irgendwann«, sagte sie, wobei sie sich verworren an O’Haras Prophezeiungen erinnerte, »wird deinetwegen ein großer Roter Stier auf einem grünen Feld kommen, und der Oberst auf seinem großen Pferd, ja, und« – hier fiel sie ins Englische – »neunhundert Teufel.« »Ah«, sagte Kim, »ich werde daran denken. Ein Roter Stier und ein Oberst auf einem Pferd werden kommen, aber zuerst, hat mein Vater gesagt, kommen die beiden Männer, die den Boden für diese Dinge bereiten. Genauso, hat mein Vater gesagt, haben sie es immer gemacht; und überhaupt ist es immer so, wenn Männer Magie machen.« Wenn die Frau Kim mit diesen Papieren zum örtlichen Jadū-Ghar geschickt hätte, wäre er natürlich von der Provinz-Loge aufgenommen und ins Freimaurer-Waisenhaus in den Bergen geschickt worden; aber was sie von Magie gehört hatte, machte sie mißtrauisch. Kim hatte ebenfalls seine eigenen Ansichten. Als er in die Flegeljahre kam, lernte er, Missionare und ernst dreinblickende weiße Männer zu meiden, die wissen wollten, wer er war und was er machte. Denn Kim machte mit großem Erfolg gar nichts. Er kannte zwar die wunderbare, umwallte Stadt Lahore vom Delhi-Tor bis zum äußeren Festungsgraben, war bestens vertraut mit Männern, deren Dasein merkwürdiger war als alles, was einst Harun al-Raschid träumte, und selbst lebte er ein Leben, das so phantastisch war wie das in Tausendundeiner Nacht, aber Missionare und Sekretäre mildtätiger Gesellschaften waren blind für die Schönheit dieses Daseins. Kims Spitzname im Viertel war »Kleiner Freund der ganzen Welt«; und da er geschmeidig und unauffällig war, übernahm er oft Botengänge für gewandte und feine junge Herren, nachts, auf den dichtbelebten Hausdächern. Natürlich ging es um Liebeshändel – das wußte er wohl, so wie er von allem Übel wußte, seit er sprechen konnte – , aber was er daran liebte, war das Spiel um des Spieles willen – verstohlen durch dunkle Kanäle und Gassen streifen, Wasserrohre hinaufkriechen, Anblick und Klang der Frauenwelt auf den Dachterrassen und die jähe Flucht von Dach zu Dach im Schutz des heißen Dunkels. Dann gab es da heilige Männer, aschebeschmierte Fakire neben ihren Schreinen aus Ziegeln, unter den Bäumen am Flußufer; mit ihnen war er gut bekannt – er begrüßte sie, wenn sie von Bettelreisen zurückkehrten, und wenn niemand in der Nähe war, aß er mit ihnen aus einer Schüssel. Die Frau, die sich um ihn kümmerte, bedrängte ihn unter Tränen, europäische Kleidung zu tragen – Hosen, ein Hemd, einen abgeschabten Hut. Kim fand es einfacher, in Hindu- oder Mohammedanertracht zu schlüpfen, wenn er mit gewissen Geschäften befaßt war. Einer der feinen jungen Herren – und zwar jener, der in der Nacht des Erdbebens tot auf dem Grund eines Brunnens gefunden wurde – hatte ihm einmal eine komplette Hindu-Ausstattung geschenkt, die Kleidung eines Straßenjungen aus niedriger Kaste, und Kim verwahrte sie in einem geheimen Versteck unter einigen Balken von Nila Rams Zimmerplatz, hinter dem Obersten Gerichtshof des Punjab, wo die duftenden Deodarstämme zum Auswittern liegen, nachdem sie den Ravi herabgetrieben sind. Wenn Geschäfte oder Unfug angesetzt waren, holte Kim seine Besitztümer hervor; im Morgengrauen kam er dann zur Veranda zurück, völlig erschöpft davon, daß er am Ende einer Hochzeitsprozession gejubelt oder bei einer Hindufeier gejohlt hatte. Manchmal gab es im Haus etwas zu essen, häufiger nichts, und dann ging Kim wieder los, um mit seinen eingeborenen Freunden zu essen. Während er mit den Fersen gegen Zam-Zammah trommelte, wandte er sich manchmal von seinem Wer-ist-der-Herr-der-Burg-Spiel mit dem kleinen Chota Lal und Abdullah, dem Sohn des Zuckerwerk-Verkäufers, um dem einheimischen Polizisten, der am Museumstor neben Reihen von Schuhen Wache stand, eine Frechheit zuzurufen. Der dicke Punjabi grinste nachsichtig: Er kannte Kim schon ewig. Ebenso der Wasserträger, der aus seinem Schlauch aus Ziegenfell Wasser auf die trockene Straße rieseln ließ. Ebenso Jawahir Singh, der Tischler des Museums, der sich über neue Packkisten beugte. Überhaupt kannten ihn alle in Sichtweite, außer den Bauern aus dem Hinterland, die zum WunderHaus hinaufliefen, um die Dinge zu betrachten, die Leute in ihrer eigenen Provinz und anderswo verfertigten. Das Museum war indischen Künsten und Handwerkserzeugnissen gewidmet, und jeder, der Weisheit suchte, konnte den Kurator um Erklärungen bitten. »Runter! Runter! Laß mich rauf!« rief Abdullah; er kletterte Zam-Zammahs Rad hinauf. »Dein Vater, der bäckt Zuckerwerk, deine Mutter klaut das ghi«, sang Kim. »Alle Moslems sind längst von Zam-Zammah runtergefallen!« »Laß mich rauf!« kreischte der kleine Chota Lal mit seiner goldbestickten Kappe. Sein Vater war vielleicht eine halbe Million in Sterling wert, aber Indien ist das einzige demokratische Land der Welt. »Die Hindus sind auch von Zam-Zammah runtergefallen. Die Moslems haben sie runtergeschubst. Dein Vater, der bäckt Zuckerwerk ...« Er hielt inne; um die Ecke, vom lärmenden Moti-Basar her, kam nämlich mit schleppenden Schritten ein Mann, wie Kim, der alle Kasten zu kennen glaubte, ihn noch nie gesehen hatte. Er war beinahe sechs Fuß groß, gekleidet in Falten über Falten eines schmutzigbraunen Stoffs, ähnlich einer Pferdedecke, und keine einzige dieser Falten konnte Kim einem ihm bekannten Gewerbe oder Beruf zuschreiben. An seinem Gürtel hingen ein langer, durchbrochen gearbeiteter Federbehälter aus Eisen und ein hölzerner Rosenkranz, wie heilige Männer ihn tragen. Auf dem Kopf trug er eine spitze Mütze mit Ohrenklappen. Sein Gesicht war gelb und runzlig wie das von Fook Shing, dem chinesischen Stiefelmacher im Basar. Seine Augen bogen sich an den Winkeln hoch und sahen aus wie schmale Schlitze aus Onyx. »Wer ist das denn?« sagte Kim zu seinen Kameraden. »Vielleicht ist es ein Mensch«, sagte Abdullah; er hatte einen Finger im Mund und starrte. »Ohne Zweifel«, erwiderte Kim; »aber er ist kein Mensch aus Indien, wie ich ihn je gesehen hab.« »Vielleicht ein Priester«, sagte Chota Lal; er entdeckte den Rosenkranz. »Sieh mal! Er geht ins Wunder-Haus!« »Nein, nein«, sagte der Polizist; dabei schüttelte er den Kopf. »Ich verstehe Eure Rede nicht.« Der Constable sprach Punjabi. »O Freund der ganzen Welt, was sagt er?« »Schick ihn her«, sagte Kim; er rutschte von Zam-Zammah herab und schwenkte dabei seine bloßen Füße. »Er ist ein Fremder, und du bist ein Büffel.« Der Mann wandte sich hilflos ab und kam langsam zu den Jungen. Er war alt, und sein wollener Kaftan roch noch nach dem stinkenden Beifuß der Gebirgspässe. »O Kinder, was ist dies große Haus?« sagte er in sehr gutem Urdu. »Das Ajaib-Ghar, das Wunder-Haus!« Kim redete ihn nicht mit einem Titel an – etwa Lala oder Mian. Er konnte nicht erraten, welchem Glauben der Mann angehörte. »Ah! Das Wunder-Haus! Darf jeder eintreten?« »So steht es über der Tür geschrieben – jeder darf hinein.« »Ohne Bezahlung?« »Ich gehe ein und aus. Bin ich ein Bankier?« Kim lachte. »Ach! Ich bin ein alter Mann. Ich wußte es nicht.« Dann tastete er nach seinem Rosenkranz und wandte sich halb zum Museum um. »Was ist Eure Kaste? Wo steht Euer Haus? Kommt Ihr weit her?« fragte Kim. »Ich bin über Kulu gekommen – von jenseits des Kailas –, aber was wißt ihr denn? Aus den Bergen, wo« – er seufzte – »die Luft und das Wasser frisch und kühl sind.« »Aha! Khitai [ein Chinese]«, sagte Abdullah stolz. Fook Shing hatte ihn einmal aus dem Laden gejagt, weil er den Götzen über den Stiefeln angespuckt hatte. »Pahari [ein Bergmensch]«, sagte der kleine Chota Lal. »Ja, Kind – ein Bergmensch aus Bergen, die du niemals sehen wirst. Hast du schon mal von Bhotiyal [Tibet] gehört? Ich bin kein Khitai, sondern ein Bhotiya [Tibeter], wenn ihr es wissen müßt – ein Lama – oder auch, in eurer Sprache, ein Guru.« »Ein Guru aus Tibet«, sagte Kim. »So einen Mann habe ich noch nie gesehen. Die in Tibet sind dann also Hindus?« »Wir folgen dem Mittleren Pfad und leben in Frieden in unseren Lamaklöstern, und ich bin aufgebrochen, um die Vier Heiligen Stätten zu sehen, bevor ich sterbe. Jetzt wißt ihr, die ihr Kinder seid, so viel wie ich, der ich alt bin.« Er lächelte gütig auf die Jungen hinab. »Hast du gegessen?« Unbeholfen tastete er im Gewand vor seiner Brust herum und zog eine abgenutzte, hölzerne Bettelschale hervor. Die Jungen nickten. Alle Priester, die sie kannten, bettelten. »Ich will noch nicht essen.« Er drehte seinen Kopf wie eine alte Schildkröte in der Sonne. »Ist es wahr, daß es viele Bildwerke gibt im Wunder-Haus von Lahore?« Er wiederholte die letzten Wörter wie jemand, der sich einer Adresse versichern will. »Das stimmt«, sagte Abdullah. »Es ist voll von heidnischen būts. Du bist auch so ein Götzendiener.« »Kümmer dich nicht um den da«, sagte Kim. »Das Haus gehört der Regierung, und es gibt darin keine Götzendienerei, sondern nur einen Sahib mit weißem Bart. Komm mit, ich zeig es dir.« »Fremde Priester essen kleine Jungen«, flüsterte Chota Lal. »Und er ist ein Fremder und ein būt-parast [Götzendiener]«, sagte Abdullah, der Mohammedaner. Kim lachte. »Er ist was Neues. Rennt ihr doch zu euren Müttern und kriecht ihnen auf den Schoß; da seid ihr sicher. Komm!« Kim ließ das zählende Drehkreuz klicken; der alte Mann folgte und blieb verwirrt stehen. In der Eingangshalle standen die größeren Gestalten der gräko-buddhistischen Bildhauerei, angefertigt vor so langer Zeit, daß nur die Gelehrten es wissen, von vergessenen Handwerkskünstlern, deren Hände nicht ohne Geschick versucht hatten, den geheimnisvoll vermittelten griechischen touch zu erfühlen. Da gab es Hunderte von Stücken, Friese mit Gestalten in Relief, Fragmente von Statuen und von Figuren wimmelnde Platten, die einmal die Ziegelwände der buddhistischen stupas und viharas des Nordlands bedeckt hatten und nun, ausgegraben und etikettiert, der Stolz des Museums waren. Staunend und mit offenem Mund wandte sich der Lama hierhin und dorthin, und schließlich hielt er verzückt und hingerissen inne vor einem großen Hochrelief, das eine Krönung oder Apotheose des Buddha darstellte. Der Meister saß in dieser Darstellung auf einem Lotos, dessen Blätter so tief unterhöhlt waren, daß sie beinahe losgelöst schienen. Es umgab Ihn eine anbetende Hierarchie von Königen, Ältesten und Buddhas der Vorzeit. Unter ihnen waren lotosbedeckte Gewässer mit Fischen und Wasservögeln. Zwei devas mit Schmetterlingsflügeln hielten ein Blumengewinde auf Sein Haupt; über ihnen stützten zwei weitere einen Sonnenschirm, den der juwelenbesetzte Kopfschmuck des Bodhisat überragte. »Der HErr! Der HErr! Es ist Sakya Muni selbst«, sagte der Lama beinahe schluchzend, und mit verhaltender Stimme begann er die herrliche buddhistische Anrufung: To Him the Way – the Law – Apart – Whom Maya held beneath her heart, Ananda’s Lord – the Bodhisat. [Sein sind allein Pfad und Gesetz, den Maya unterm Herzen barg: Anandas Herr, der Bodhisat.] »Und Er ist hier! Das Höchst Vortreffliche Gesetz ist auch hier. Meine Pilgerreise hat gut begonnen. Und welch ein Kunstwerk! Welch ein Kunstwerk!« »Da drüben ist der Sahib«, sagte Kim; er verdrückte sich zur Seite, zwischen die Schaukästen des Flügels der Kunst- und Handwerkserzeugnisse. Ein weißbärtiger Engländer schaute den Lama an, der sich würdevoll umwandte, ihn grüßte und nach einigem Tasten ein Notizbuch und ein Stück Papier hervorzog. »Ja, das ist mein Name.« Der Engländer lächelte über die unbeholfene, kindliche Druckschrift. http://www.fischerverlage.de/media/fs/308/LP_978-3-596-90526-3.pdf (Auszug aus dem ersten Kapitel) Wildnis – für Kinder geschlossen In der schönen, neuen Sicherheitsgesellschaft ist kein Platz mehr für Abenteuer. Und auch kein Platz mehr für Literatur, befürchtet Michael Chabon. Als ich aufwuchs, grenzte unser Haus an den Wald, ein dünnes Zwei-Hektar-Überbleibsel einer einst mächtigen Wildnis. Das war in einer Stadt in Maryland, deren aufgeklärte Planer für ein paar solcher bleibender Streifen Grün gesorgt hatten. Sie waren denkbar zahm, unsere Wälder, und doch füllten sie sich des Nachts noch immer mit unermesslichen Schatten. Im Winter waren sie tief verschneit und schienen all die gewöhnlichen Geräusche deines Körpers und deiner Welt zu schlucken. In diesen Wäldern konnten immer noch schaurige Dinge geschehen. Sie waren der Ort, wohin sich die bösen Buben flüchteten, nachdem sie an Halloween deine Fenster mit Eiern beschmissen und deine Kürbisse zermatscht in der Einfahrt hatten liegen lassen. Indianer gab es in diesen Wäldern keine, aber es hatte sie dort gegeben. Wir hörten in der Schule von ihnen. PatuxentIndianer, hatte man sie genannt. Schnell, zielsicher, still wie Wild. Verschwunden bis auf ihre wunderbaren Ortsnamen: Patapsco, Wicomico, Patuxent. Eine unbedeutende, aber nicht zu leugnende romantische Aura heftete der Geschichte Marylands an: geflohene englische Katholiken, Kavaliere mit Ringellocken und Schulterkragen, Piraten, Schlachten, die Verheerung Washingtons, "The Star-Spangled Banner", Harriet Tubman, Antietam. Und wenn du in die Wälder hinter unserem Haus hinausliefst, konntest du diese Geschichte spüren, die Schlachten und Dramen und Romanzen, all diese Geschichten. Du konntest sie in deine Spiele einbauen, in deine Fantasien, deine einsamen Fluchten aus dem Durcheinander oder Dämmer deines Lebens daheim. Meine Freunde und ich brachten Stunden dort zu, Krieger, Kreuzfahrer, Kommandotruppen, Blaue und Graue. Doch die Wildnis der Kindheit, wie jedes Kind, das, wie mein Vater, in den Vierzigerjahren auf den Straßen von Flatbush aufwuchs, beschwören könnte, hatte nichts mit Bäumen oder Natur zu tun. Ich konnte mich auf Brachen und Spielplätzen verlieren, in der Gasse hinter dem Wawa, in den Vorgärten der Nachbarn, auf den Bürgersteigen. Überall, kurzum, wohin ich mit meinem Fahrrad kam, einem Schwinn Typhoon von 1970, coladosenrot mit einem Bananensattel, Sissybar und Chopper-Lenker. Mit ihm fuhr ich die Nachbarschaft im Umkreis einer halben Meile ab. Ich kannte die Häuser aller meiner Klassenkameraden, wusste, wie viele Haustiere und Geschwister sie hatten, welche Sorte Eis es bei ihnen gab und wie gefährlich ihre Väter werden konnten. Matt Groening hat einen großartigen "Life in Hell"-Strip in Form von Bongos Nachbarschaft gezeichnet. Am einen Ende der Straße, die sich zwischen Gärten und Häusern wand, stand Bongo, der einohrige Hasenjunge. Am anderen Ende stand seine Mutter, kurz davor, in die Luft zu gehen Bongo war schon wieder zu spät zum Abendessen. Zwischen Mutter und Sohn lagen die Gefahren bissige Hunde, vagabundierende Hooligans, ein in Bongo verknalltes Mädchen - einer jeden Reise durch die Wildnis: todbringende Tiere, feindliche Menschen, Köder und Fallen. Der Strip fing die Karten, die Kinder in ihren Köpfen endlos verbessern und verfeinern, perfekt ein. Kindheit ist ein Zweig der Kartografie. Die meisten großen Abenteuergeschichten, vom "Hobbit" bis zu den "Sieben Säulen der Weisheit", sind mit einer Karte versehen. Das ist so, weil jede Abenteuergeschichte auch die Geschichte einer Landschaft ist, der Beziehung von Menschen und Topografie. Jede Abenteuergeschichte ist nur in Bezug auf die besonderen geografischen Gegebenheiten denkbar, die, buchstäblich, ihren Kurs festlegen. Aber es gibt noch einen anderen, tieferen Grund dafür, dass sich in oder am Ende einer Abenteuergeschichte verlässlich eine Karte findet. Wir glauben nämlich an die Idee einer Reise im Lehnstuhl und stellen uns einen Leser vor, der in einer packenden Geschichte oder der Schilderung einer Polarexpedition in unbekannte, halb sagenhafte Gegenden die Sorte Heldentum und Gefahr sucht, auf die er oder sie im Leben nicht hoffen kann. Das ist eine falsche Vorstellung. Die Leute lesen – und schreiben – Abenteuergeschichten, weil sie selbst Abenteurer gewesen sind. Und das große ursprüngliche Abenteuer ist, war, sollte die Kindheit sein, die von Entbehrung, Mut, ständiger Wachsamkeit, Gefahr und manchmal von Unglück erzählt. Meist ziehen die jungen Abenteurer dabei nur mit einer fragmentarischen Karte los, einer Karte, die er oder sie aus dem Flickwerk persönlicher Missgeschicke, der Gutenachtlektüre und der Überlieferung durch die Nachbarskinder gewonnen hat. Bezeichnend, wie viele Geschichten für Kinder, darunter viele Klassiker, von den Abenteuern eines Kindes, öfter noch einer Gruppe von Kindern erzählen, die sich in einer Welt bewegen, in der Erwachsene, insbesondere Eltern, kaum eine oder gar keine Rolle spielen. Denken Sie an "Der König von Narnia" oder die "Peanuts". Philip Pullmans Trilogie "His Dark Materials" präsentiert mit Cittàgazze, einer Stadt, deren Erwachsene gestohlen worden sind, eine packende Version dieser Welt. Dann wäre da noch der blühende Zweig einer Kinderliteratur, die von ganz gewöhnlichen zeitgenössischen Kindern erzählt, die ihre Abenteuer in einer ganz zeitgenössischen, nichtfantastischen Welt erleben, auf die die Erwachsenen wenigstens eine Zeit lang keinen unmittelbaren Einfluss haben - die "Superfritz"-Bücher zum Beispiel, die "Great Brain"-Bücher, die "Henry Reed"- und "Homer Price"-Bücher, die Geschichten des "Mad Scientists' Club". Als Kind mochte ich eine Reihe von, ich bin sicher, großteils fiktiven Biografien besonders gern, die die Kindheit berühmter Amerikaner - Washington, Jefferson, Kit Carson, Henry Ford, Thomas Edison, Daniel Boone - dramatisierten. Ein nahezu universelles Element dieser Geschichten war die ungeheure Menge an Zeit, die diese berühmten historischen Jungs angeblich damit verbracht hatten, mit ihren Busenfreunden, netten Indianerjungen oder einem treuen Sklaven, durch die einst mächtige Wildnis zu ziehen, die Wildnis der Kindheit, von erwachsener Aufsicht gänzlich befreit. Obwohl die Wildnis, die mir zur Verfügung stand, auf einen bloßen Grünstreifen ihrer vorherigen Gewaltigkeit geschrumpft war, obwohl sich die Kindheit in den Jahren, die zwischen den Abenteuern des jungen George Washington auf seiner Seite des Potomac und meinen VorstadtExpeditionen am anderen Ufer, so sehr verändert hatte, gab es da noch ein Kontinuum der Kindheit. Das Virginia des 18. Jahrhunderts, das Maryland des 20., das Großbritannien des 10., Narnia, Nimmerland, Prydian - es war alles die gleiche Wildnis. Die sagenhaften Wanderungen Boones und Carsons und des jungen Daniel Beard (des Vaters der amerikanischen Boy Scouts), die Kriegsspiele und Expeditionen, von denen ich las, die furchterregende Erfahrung echter Gefahr, ohne dass Mutter und Vater hätten helfen können, war mir - und ich glaube, das ist mein zentraler Punkt völlig vertraut. Wenn ich heute über die Wildnis der Kindheit nachdenke, überrascht mich die unglaubliche Freiheit, die mir meine Eltern gaben, in dieser Wildnis das Abenteuer zu suchen. Unsere Vorstellung von Kindheit hat seitdem einen sehr tiefergehenden, sehr bedeutsamen Wandel erlebt. Die Wildnis der Kindheit ist verschwunden, die Zeit des Abenteuers ist vorbei. Das von den Kindern beherrschte Land, in das sich ein Kind aus dem benachbarten Königreich der Erwachsenen wenigstens für ein paar Stunden jedes Tages flüchten konnte, ist zu großen Teilen besetzt, vereinnahmt, kolonisiert, vom Nachbarland geschluckt worden. Der Reisende lernt schnell, dass der einzige Weg, eine Stadt kennenzulernen, sie im Kopf wie provisorisch auch immer zu kartieren und sich nach und nach in ihr zurecht zu finden, darin besteht, sie allein zu erkunden, am besten zu Fuß, und sich dann so gründlich wie möglich zu verlaufen. Ich war, auf Lesereise, vielleicht ein halbes Dutzend Mal in Chicago und kann doch North Shore und North Side noch immer nicht unterscheiden, weil ich jedes Mal, wenn ich da war, abgeholt und herumkutschiert wurde und jemand, der sich mit den Wundern und Wirren der Stadt viel besser auskannte als ich, mir die Sehenswürdigkeiten zeigte. Das ist der allumspannende Tür-zu-Tür-Bringeservice, den wir Erwachsenen für unsere Kinder auf die Beine gestellt haben. Wir planen ihre Erlebnisse, wir fahren sie vom Haus des einen zum Haus des anderen, sodass sie nie die Chance bekommen, die unerforschten Länder dazwischen zu entdecken. Wenn sie Glück haben, schicken wir sie zum Spielen in den Garten, wo man sie einzäunen kann und, in Extremfällen, sogar mit Kameras überwachen. Als meine Familie und ich nach Berkeley zogen, zählte zur Familie nebenan auch ein neun Jahre altes Mädchen; zwei Häuser weiter wohnte ein neun Jahre alter Junge, exakt gleich alt und, wie sie, in der Straße geboren. Die beiden hatten sich nie kennengelernt. Die Sandplätze und Bachbetten, die Gassen und Wälder sind zugunsten eines Systems von Reservaten aufgegeben worden. Fröhliche Freizeitzentren, von Erwachsenen entworfen und geplant, mit keinen weißen Flecken bis auf die Türen mit der Aufschrift "Nur für Mitarbeiter". Wenn Kinder Radfahren oder Rollerskaten, dann gerüstet wie für die Schlacht, und üblicherweise sind ihre Eltern in der Nähe. Für all das gibt es Gründe. Dass ist teils Folge einer Warentest-Mentalität, des generell gewachsenen Bewusstseins für Sicherheit und Gefahr. Hinzufügen ließen sich noch die steigenden Ansprüche der Versicherungsmathematik und die amerikanische Eigenart, sich mit Schadensersatzklagen die Zeit zu vertreiben. Der Hauptgrund für die Beschneidung des Abenteuers, die Schließung der Wildnis jedoch ist die gewachsene Angst, die wir alle vor dem Missbrauch unserer Kinder durch Fremde haben; wir fürchten die Wölfe der Wildnis. Diese Angst ist nicht rational; 1999 etwa lag die Zahl der Missbrauchsfälle durch Fremde nach Angaben des amerikanischen Justizministeriums bei 115. Solche Verbrechen sind zu allen Zeiten etwa gleich häufig geschehen; Kindsein ist heute nicht mehr und nicht weniger gefährlich denn je. Nur ist uns das Grauen heute viel vertrauter. Zeitweilig sieht es so aus, als würden Eltern absichtlich dazu angehalten, um das Leben ihrer Kinder zu fürchten, auch wenn nur ein Zyniker auf die Idee käme, damit ließe sich Geld verdienen. Die Gefährdung unserer Kinder – dieses Dauerthema des Lebens, der Kunst, der Literatur der vergangenen 20 Jahre – hallt so gewaltig wider, weil wir als Eltern auf den vergifteten Nachlass der modernen Industriegesellschaft schauen, auf die Welt des Streits und der Radioaktivität, der Klimakatastrophe und Überbevölkerung, und uns schuldig dabei fühlen. So wie das nationale Schuldgefühl nach der Auslöschung der Indianer zu einer Art Kult um den Indianer geführt hat, werden uns unsere Kinder zu Kultobjekten, zu kostbar, um sie aufs Spiel zu setzen. Und sie werden Fetische, Objekte einer ungesunden Fixierung. Und ist etwas erst fetischisiert, eilt der Kapitalismus herbei und findet einen Weg, es zu verkaufen. Welche Folgen hat die Schließung der Wildnis für die Entwicklung der Fantasie der Kinder? Ich wuchs in einem Freiraum, mit einer Freiheit auf, die einem heute den Atem raubt und undenkbar vorkommt Neulich hat meine jüngere Tochter nach den üblichen Kämpfen und Komödien Fahrradfahren gelernt. Auf ihre Freude folgte schnell eine schleichende Verwirrung und Enttäuschung, als uns beiden klar wurde, dass es für sie keinen Ort gab, an den sie würde fahren können - nichts, wohin ich sie lassen würde. Soll ich meine Kinder zum Spielen nach draußen schicken? Um die Ecke gibt es ein kleines Lebensmittelgeschäft, keine zweihundert Yards von unserer Haustür entfernt. Kann ich sie dahin fahren lassen, damit sie die einzigartige Freude erfährt, sich an einem heißen Sommertag selbst ein Eis zu kaufen und es auf dem Bürgersteig zu essen, allein mit ihren Gedanken? Bald nachdem sie Radfahren gelernt hatte, gingen wir nach dem Abendessen auf die Straße, sie auf ihrem Fahrrad, ich in sicherem Abstand hinterher. Was mir, als wir an diesem herrlichen Sommerabend durch die schönen Straßen unseres Viertels streiften, gleich auffiel, war, dass uns zu dieser Stunde, die einmal der Gipfel, die magische Stunde meiner Kindheit gewesen war, nicht ein einziges anderes Kind über den Weg lief. Selbst wenn ich sie rausschicke, werden sie jemanden zum Spielen finden? Kunst ist eine Form der Erkundung, ein selbstständiger Aufbruch ins Unbekannte, das Ziel sind die weißen Flecken auf der Landkarte. Wenn Kindern nicht erlaubt – nicht beigebracht – wird, als Kinder Abenteurer zu sein, was wird dann aus der Welt der Abenteuer, der Geschichten, der Literatur selbst? aus: http://www.welt.de/welt_print/kultur/literatur/article4189309/Wildnis-fuer-Kindergeschlossen.html Stadtkinder in der Wildnis von Rebecca Stringa (2011) Mönchengladbach. Kräftig packen die sechs- bis zehnjährigen Grundschulkinder bei der Erlebniswoche mit an. Gemeinsame Aktionen wie der Bau einer Höhle stärken das Gemeinschaftsgefühl und fördern das Bewusstsein für die Natur. FOTO: Markus Rick Mönchengladbach. 34 Grundschüler lernen eine fremde Welt kennen. Während einer Erlebniswoche bringt der Kinder- und Jugendsportverein den Teilnehmern mit Höhlenbau und Pflanzenbestimmung den Hardter Wald näher. Mit großen Augen bestaunen die aufgeregten Kinder die Bäume und Pflanzen des Hardter Walds. Für die 34 Mädchen und Jungen gleicht das Dickicht aus Nadel- und Laubgehölz einem verwunschenen Märchenwald. Die Sonne flutet die Lichtung und lässt die Blätter bunter erscheinen. Von der Sommerhitze sind die Kinder im Schatten der Bäume geschützt. In der Erlebniswoche "Abenteuer in der Wildnis" des Kinder- und Jugendsportvereins Mönchengladbach lernen die sechs- bis zehnjährigen Grundschulkinder nicht nur die unterschiedlichsten Pflanzen- und Baumarten kennen, sondern auch, wie sie sich im Wald richtig zu verhalten haben. Mit diesem Angebot trifft der Verein damit ins Schwarze. Das Interesse der Kinder ist schnell geweckt. Fragen wie: "Welcher Baum hat solche Blätter?" oder "Wo verstecken sich die Tiere tagsüber?" machen die Runde und werden mit viel Fachwissen und Geduld der zwei Betreuer beantwortet. Der Andrang auf die Outdoor-Erlebniswoche war groß: "Wir haben erst mit nur 20 oder 25 Kindern gerechnet, aber nicht mit 34. Uns freut es natürlich, dass sich die Mädchen und Jungen noch für den Wald und seine Bewohner interessieren", sagt Sportwissenschaftler und Betreuer Roland Fabisch, der sich über die große Teilnehmerzahl sichtlich freut. Unterstützung beim Betreuen der Rasselbande bekommt der 27-Jährige von dem angehenden Sportlehrer Michel Röhrs (25). Unter der Aufsicht der beiden können sich die Kinder eine ganze Woche lang von neun bis 13 Uhr im Wald austoben, spielen und basteln. Besonders bei gemeinsamen Projekten knüpfen die Kleinen schnell neue Freundschaften. So auch bei der Aktion Höhlenbau, bei der die Kinder einen Unterschlupf zum Schutz vor Regen selber zimmern. "Das macht den Kindern unglaublich viel Spaß und sie haben keine Scheu, sich auch mit Erde dreckig zu machen", sagt Roland Fabisch. Und falls es bei den Arbeiten zur ein oder anderen Schramme kommt, ist Michel Röhrs mit Pflaster und aufmunternden Worten zur Stelle. Zwar steht der Spaß der Kinder im Vordergrund, zusätzlich werden mit der Erlebniswoche aber auch motorische Fähigkeiten, Kreativität und Teamfähigkeit der Kleinen geschult. Und auch das Bewusstsein für die heimische Natur wächst. Schon nach wenigen Stunden fühlen sich die Kinder mit dem Wald verbunden. Oder, wie es Michel Röhrs formuliert: "Unsere Stadtkinder fühlen sich jetzt auch im Wald zu Hause." http://www.rp-online.de/nrw/staedte/moenchengladbach/stadtkinder-in-der-wildnis-aid-1.1536173 Roddy Doyle WILDNIS DIE AUGEN Die beiden Jungen musterten die Augen des Hundes. »Was ist das für eine Farbe?«, sagte Johnny. »Weiß nicht«, sagte Tom. Die Augen ließen sich mit nichts vergleichen, was die Jungen je zuvor gesehen hatten. Für diese Farbe gab es tatsächlich keine Bezeichnung. »Blau?«, sagte Tom. »Nein«, sagte Johnny. »Türkis?« »Eher nicht.« Der Hund starrte zurück. Die meisten anderen Hunde in der Einzäunung jaulten und machten Laute, die fast wie Worte aus einer fremden Sprache klangen. Sie zerrten an ihren Ketten, brachten sie zum Rasseln. Aber dieser Hund direkt vor ihnen war anders. Stand dort im schmutzigen Schnee, völlig unbewegt, und musterte die Jungen, sah zu Tom und dann zu Johnny, zu Tom, dann Johnny. Sie sahen gar nicht wirklich aus wie Hundeaugen. Jedenfalls glichen sie keinen Hundeaugen, wie die Jungen sie von zu Hause kannten. Viele ihrer Freunde besaßen Hunde, ihre eigene Tante sogar zwei, doch die hatten alle gewöhnliche Hundeaugen. Die Augen dieses Hundes aber, der sie gerade anstarrte, schienen zu einer völlig anderen Art von Tier zu gehören. Sie wirkten beinahe menschlich. »Es ist, als wäre jemand in ihnen gefangen«, sagte Tom. Johnny nickte. Er verstand genau, was sein Bruder meinte. Sie traten einen Schritt zurück, den Blick immer noch auf den Hund gerichtet. Sie hatten Angst davor, ihm ihre Rücken zuzuwenden. Ein weiterer Schritt zurück, in den tiefen, sauberen Schnee. Noch einer, und sie stießen gegen etwas Hartes. Sie drehten sich um und sahen zu dem hünenhaftesten und breitschultrigsten Mann hoch, den sie je gesehen hatten. Der Mann türmte sich wie eine Mauer vor ihnen auf. Unmittelbar hinter ihnen stand der Hund. »Warum – seid – ihr – hier?«, sagte der Mann. KAPITEL EINS Johnny Griffin war schon fast zwölf und sein Bruder, Tom, war zehn. Mit ihren Eltern und ihrer Schwester wohnten sie in Dublin. Sie waren ganz normale Jungen. Und an jenem Tag, als ihre Mutter die Ankündigung machte, waren sie besonders normal. Sie saßen in der Küche und erledigten ihre Hausauf – gaben. Draußen regnete es und der Regen hämmerte auf das flache Küchendach. Deshalb hörten sie den Schlüssel ihrer Mutter in der Haustür nicht und sie hörten sie auch nicht durch den Flur kommen. Sie war ganz plötzlich einfach da. Sie mochten es sowieso, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, aber heute war es noch besser, denn sie war klatschnass. Um ihre Füße bildete sich bereits eine Pfütze. »Bin ein bisschen nass geworden, Jungs«, sagte sie. Sie schüttelte sich und große, mitgebrachte Regentropfen spritzten die Jungen voll und ließen sie aufschreien und lachen. Sie packte nach ihnen und drückte ihre Gesichter gegen ihre feuchte Jacke. Tom lachte erneut, Johnny aber nicht. Er fand, dafür sei er schon zu alt. »Lass los!«, schrie er in die Jacke. »Sag bitte«, sagte seine Mutter. »Nein!« Aber sie ließ ihn los, und dann auch seinen Bruder. »Wo wir hinfahren, Jungs, gibt es keinen Regen«, sagte sie. Das klang interessant. »Nur Schnee.« Das klang sehr interessant. Also erzählte sie ihnen, was sie heute getan hatte, während der Mittagspause. Sie war an einem Reisebüro vorbeigegangen und etwas Helles im Fenster hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie war stehen geblieben und hatte es sich angesehen. Es war ein Hügel, mitten im Fenster, aus künstlichem Schnee errichtet, und diesen Hügel fuhr ein Teddybär auf Skiern herunter. Es war Werbung für die Winterferien. »Es war wirklich albern, Jungs«, sagte sie. »Der arme Teddy trug einen viel zu großen Sturzhelm und die Skier hatten sie ihm falsch herum angezogen. Aber, völlig egal, ich ging rein und buchte eine Reise für uns.« »Wohin?«, sagte Johnny. »Finnland.« Die Jungen flippten aus. Tom schoss durch den Flur, die Treppen rauf, sprang auf die Betten, und kam wieder zurück. »Wo ist Finnland?«, fragte er. Sie holten Johnnys Atlas aus der Schultasche und fanden Finnland. Ihre Mutter zeigte ihnen die Route, die sie nehmen würden. Ihre Finger glitten über Dublin, die Irische See. »Zuerst müssen wir bis Manchester fliegen«, sagte sie. Und ihr Finger tippte auf Manchester und glitt auf der Karte weiter nach Norden. »Und dann nach Helsinki.« Der Klang des Namens gefiel ihnen. »Helsinki! Helsinki!« Sie stießen sich gegenseitig an und lachten. »Und dann«, sagte ihre Mutter, »wechseln wir nochmals das Flugzeug und fliegen sogar noch weiter nach Norden.« Ihr Finger glitt ab Helsinki aufwärts und hielt dann inne. »An einen Ort, der nicht mal auf der Karte verzeichnet ist«, sagte sie. »Warum nicht?«, fragte Tom. »Wahrscheinlich weil er dafür zu klein ist«, sagte Johnny. »Stimmt«, sagte ihre Mutter. »Wie heißt er?« »Hab ich vergessen«, sagte ihre Mutter. »Und die Reisebroschüre hab ich auf der Arbeit liegen lassen. Aber es sieht dort wunderbar aus.« »Wann fahren wir los?«, sagte Johnny. »In zwei Wochen.« »Krass«, sagte Tom. »Aber dann haben wir noch Schule«, bemerkte Johnny. Er hatte es ausgerechnet. Jetzt war Mitte November. Zwei Wochen dazu und es war Anfang Dezember, drei Wochen vor dem Beginn der Weihnachtsferien. »Nein, habt ihr nicht«, sagte ihre Mutter. »Ich hab schon mit Mrs Ford telefoniert.« Mrs Ford war die Direktorin ihrer Schule. Johnny ging in die sechste Klasse und Tom war in der fünften. »Sie sagte, sie neige dazu, gnädig über mein Anliegen zu entscheiden, weil ihr beide dabei so wahnsinnig viel lernen könnt.« »Heißt das, wir dürfen mit?« »Ja«, sagte ihre Mutter. »Sie meinte, ihr sollt abzischen, aber bloß nicht vergessen, ihr ein Geschenk mitzubringen.« Damit war die Sache geritzt. Sie würden nach Finnland fahren. »Coohool!« Im Großen und Ganzen stimmte das alles. Doch einiges von dem, was ihre Mutter Johnny und Tom erzählt hatte, entsprach nicht der Wahrheit. Sie hatte ihnen gesagt, sie habe die Reisebroschüre auf ihrem Schreibtisch liegen lassen. Hatte sie aber nicht. Sie steckte in ihrer Handtasche. Sie wollte aber nicht, dass die Jungs sich auf ihre Tasche stürzten und darin herumwühlten. Es waren Dinge darin, die die beiden nicht sehen sollten. Sie hatte ihnen erzählt, der Teddy im Schaufenster habe einen zu großen Sturzhelm getragen und falsch herum auf den Skiern gestanden. Das stimmte nicht. Es gab gar keinen Teddy. Und sie hatte ihnen erzählt, sie sei schnurstracks ins Reisebüro marschiert, um den Urlaub zu buchen. Aber auch das stimmte nicht. Sie hatte die Reise heute während der Mittagspause gebucht. Aber geplant hatte sie sie bereits seit Wochen. Johnnys und Toms Mutter hieß Sandra. Sandra Hammond. »Kommt Dad mit?«, fragte Tom später, beim Mittagessen. Ihr Vater hieß Frank. Frank Griffin. »Nein«, sagte Sandra. »Warum nicht?« »Na ja«, sagte Sandra. »Das wird ein Abenteuerurlaub. Und ihr kennt doch euren Dad. Unter einem Abenteuer versteht er, an die Haustür zu gehen und die Milch reinzuholen.« »Was ist mit Gráinne?« Gráinne war ihre Schwester. »Nein«, sagte Sandra. »Die kommt auch nicht mit.« »Warum denn nicht?«, sagte Johnny. »Weil sie nicht wollen würde«, sagte Sandra. Tom und Johnny berührte das nicht weiter. Ihre Mutter hatte Recht, Gráinne würde nicht mitkommen wollen, selbst in ein so cooles Land wie Finnland nicht. Gráinne war viel älter als die Jungen. Sie war achtzehn. Und Tom und Johnny mochten sie nicht besonders. Hauptsächlich deshalb, weil Gráinne sie auch nicht mochte. Ihr Vater kam nach Hause. Sie hörten es an der Musik. Er drehte sie immer laut auf, die Autofenster heruntergelassen, allerdings erst, wenn er in die Auffahrt einbog. Er tat es, um ihre Nachbarin zu ärgern. Das war eine lange Geschichte. Jedenfalls reichte sie weit zurück. Sie reichte zurück in die Zeit, als Gráinne erst drei Jahre alt und Frank mit einer Frau namens Rosemary verheiratet war und sie in das Haus einzogen. Frank half den Möbelpackern dabei, ein Sofa ins Haus zu tragen. Bloß war er ihnen keine wirkliche Hilfe. Eigentlich war er eher im Weg. Er stand vor der Tür und beobachtete Gráinne. Sie sprach mit einer Frau, die gerade ihre Seite der Hecke beschnitt. Das war Mrs Newman, die neue Nachbarin, auch wenn sie keineswegs wirklich neu war – sie war mindestens vierzig. Und Gráinne redete mit ihr. »Hallo«, sagte sie. Aber die neue Nachbarin gab keine Antwort. »Hallo, Frau«, sagte Gráinne. Frank sprang über das Sofa und ging geradewegs zur Hecke. »Meine Tochter hat Hallo zu Ihnen gesagt«, sagte er. »Was?«, sagte Mrs Newman. »Sie hat Hallo zu Ihnen gesagt.« »Ich hab sie nicht gehört.« Sie sah Frank nicht wirklich an. Sie beugte sich vor und kappte ein Stück Hecke mit der Schere. Es fiel vor Franks Füße. »Ich bin ein wenig taub«, sagte sie. »Oh«, sagte Frank. Er streckte seine Hand aus, über die Hecke. »Ich bin übrigens Frank Griffin.« Aber Mrs Newman schüttelte Franks Hand nicht. Tatsächlich schnippelte sie ihm beinahe die Finger ab. Er zog seine Hand gerade noch rechtzeitig zurück. Er spürte den Luftzug an den Fingerspitzen, als die beiden Klingen zuschnappten. Er hob Gráinne hoch und trug sie in das neue Haus. Mit Mrs Newman sprach er nie wieder, aber die Musik begann er erst viel später lauter zu stellen, etwa drei Jahre nach dem Einzug. Das war der traurige Teil der Geschichte. Frank und Rosemary waren nicht mehr glücklich verheiratet. Er wusste nicht, woran es lag, genauso wenig wie sie. Es schien einfach so zu passieren. Sie liebten einander nicht mehr. Und sie stritten sich. Über Kleinigkeiten, über dummes Zeug. Sie hatten einen Riesenstreit über einen verfaulten Apfel, den Frank am Boden von Gráinnes Schultasche fand. Die Apfelmatsche war in zwei ihrer Schönschreibhefte gesickert und er machte Rosemary dafür verantwortlich. Er wusste, dass es gemein war. Aber er konnte nicht anders. So fühlte es sich an: Er wollte aufhören, aber er konnte nicht. »Wenn du dich auch nur ein bisschen für ihre Erziehung interessieren würdest, hättest du den Apfel gefunden, bevor er in ihrer Tasche explodierte«, sagte er. Er brüllte es. »Und was ist mit dir?«, sagte Rosemary. Sie brüllte zurück. Sie waren im Schlafzimmer, das zur Straße hinaus lag. Es war eine wunderschöne Septembernacht. Das Fenster stand weit offen. Frank sah es, das geöffnete Fenster, aber es war ihm egal. »Wo ist denn dein Interesse an ihrer Erziehung?«, sagte Rosemary. »Jedenfalls bin ich interessierter als du«, sagte Frank. »Das steht mal fest.« So ging der Streit immer weiter. Er war wirklich albern und führte zu nichts. Es klingelte an der Haustür. Rosemary schaute zum Fenster hinaus und sah den Polizeiwagen. »O Gott«, sagte sie. Sie gingen nach unten, um die Tür zu öffnen. Die beiden jungen Beamten, ein Mann und eine Frau, wirkten peinlich berührt. Es habe eine Beschwerde wegen des Lärms gegeben, erklärten sie Frank. Die Frau, die Polizistin, führte die Unterhaltung. Rosemary stand direkt hinter Frank, sie betrachtete die Beamten über seine Schulter. Frank bat um Entschuldigung und Rosemary hinter ihm nickte ebenfalls. Es tat ihnen sehr leid. »Ja, also dann«, sagte die Polizistin. Sie musterte sie beide sorgfältig, und Frank erkannte plötzlich den Grund dafür, und er wünschte sich, ein Loch würde sich im Boden auftun und ihn verschlingen. Sie suchte nach Blutergüssen, Hautabschürfungen, Anzeichen für eine gewalttätige Auseinandersetzung. »Es war nur ein Streit«, sagte Frank. »Tut mir leid.« Die Polizistin hatte ihre Untersuchung beendet. »Gut«, sagte sie. »So etwas kennt jeder von uns. Aber vielleicht könnten Sie nächstes Mal das Fenster schließen, Mr Griffin.« Frank lachte, obwohl ihm in seinem ganzen Leben nie weniger zum Lachen zumute gewesen war. Er fühlte sich so gedemütigt, so schrecklich – er wollte bloß noch die Tür schließen. Und genau das tat er. Da sah er die Zigarette. Sie sahen sie beide. Draußen war es dunkel, und es wurde noch dunkler, als der Polizeiwagen wendete und davonfuhr. Aber da war sie, die glühende Zigarette, auf der anderen Seite der Hecke. Hinter der Zigarette verbarg sich Mrs Newman und beobachtete sie. Und jetzt wussten sie es. Sie war es gewesen, die die Polizei angerufen hatte. »Die ist nur dann taub, wenn es ihr in den Kram passt«, sagte Frank, als er die Tür schloss. Frank und Rosemary umarmten einander im Flur. Sie gingen in die Küche, setzten Tee auf und kamen überein, dass sie nicht mehr länger zusammen leben konnten. Es war eine fürchterliche Nacht und im Nachhinein gab Frank immer Mrs Newman die Schuld daran. Er wusste, dass das nicht fair von ihm war. Aber wenn er an jene Nacht dachte und an die Tage und Monate, die darauf hingeführt hatten, sah er immer diese glühende Zigarette vor sich. Dreizehn Jahre nach dieser Nacht, acht Jahre, nachdem Mrs Newman das Rauchen aufgegeben hatte, drehte Frank immer noch die Musik auf, wenn er in die Auffahrt einbog, bloß um sie daran zu erinnern, dass er es wusste – sie war kein bisschen taub. Er war längst nicht mehr sauer. Aber es machte ihm immer noch Spaß, Mrs Newman zu ärgern. Johnny und Tom holten ihn an der Haustür ab. »Wir fahren nach Finnland«, rief Tom. »Seht zu, dass ihr zum Schlafen rechtzeitig wieder hier seid«, sagte Frank. »In zwei Wochen«, sagte Tom. »Ist das euer Ernst?« Frank zog seine Jacke aus und hängte sie übers Treppengeländer. »Ja«, sagte Johnny. »Wir fahren mit Mum.« »Kommt mit in die Küche und erzählt mir alles«, sagte Frank. Aber er wusste längst Bescheid. Tatsächlich war es seine Idee gewesen. Und die Freude in den Gesichtern der Jungen war das Beste, was er seit langer Zeit gesehen hatte. Am Tag nach dem letzten Streit machte Rosemary Gráinnes Lunchpaket für die Schule zurecht. Sie half Gráinne in den Mantel und sie begleitete Gráinne die Straße hinunter zur Schule. Sie küsste Gráinne und umarmte sie. »Mach’s gut, Honigbienchen«, sagte sie. »Ich wünsch dir einen schönen Tag.« Dann stand sie am Geländer des Pausenhofs und beobachtete Gráinne, wie sie über den Hof und in die Tür verschwand. Sie weinte, und es war ihr gleichgültig, dass die Leute sie dabei sahen. Sie ging nach Hause zurück und packte zwei Koffer. Die Großmutter holte Gráinne von der Schule ab und Frank holte Gráinne nach der Arbeit bei der Großmutter ab. Als Frank und Gráinne zu Hause ankamen, war Rosemary nicht mehr da. »Wo ist Mama?«, fragte Gráinne. »Sie macht Urlaub«, sagte Frank. Tagelang waren es dieselbe Frage und dieselbe Antwort und dann kam eine weitere Frage hinzu. »Wann kommt sie wieder nach Hause?« Und eine weitere Antwort. »Bald.« Und eine weitere Frage. »Wann denn?« Und die Antwort. »Ich weiß nicht.« Bis Gráinne die Fragen nicht mehr stellte. Eine ganze Weile lang hörte Frank nichts mehr von Rosemary. Er fand heraus, dass sie nach Amerika gegangen war. Dann hörte er, dass sie in New York lebte. Ein paar Mal im Jahr telefonierte sie mit ihren Eltern und sie schickte Gráinne liebe Grüße. Aber das war alles. Für eine lange Zeit gab es nur noch ihn und Gráinne. Und es war gut so. Sie waren einsam, aber sie waren gemeinsam einsam. Gráinne vermisste ihre Mutter und glaubte irgendwann nicht mehr daran, dass sie wieder nach Hause kommen würde. Aber sie liebte ihren Vater, und er war stets für sie da, lächelnd, stets zu Hause, wenn sie einschlief, stets wach, bevor sie selber erwachte. Stets ihr Vater. Dann traf er Sandra. Sie lernten sich bei einem Konzert kennen. Sie war mit ihrem festen Freund dort und sie saß auf Franks Platz. Er warf einen zweiten Blick auf sein Ticket. »M17«, sagte er. »Tut mir leid, aber Sie sitzen auf meinem Platz.« »Wirklich?«, sagte sie. Ihr Freund, auf der anderen Seite, stand auf. »Was ist los?«, fragte er. »Das ist mein Platz«, sagte Frank. Der Freund schaute auf Franks Ticket. Dann schaute er auf sein eigenes. »N18«, sagte er. »Wir sind in der falschen Reihe. Ups.« Er räumte seinen Platz und Frank setzte sich auf den frei gewordenen Platz neben Sandra. Und als das Konzert zu Ende war, hatten sie sich ineinander verliebt, obwohl Sandras Freund nur eine Reihe hinter ihnen saß. Später erklärte sie es Frank. »Es lag an der Art, wie du zugehört hast«, sagte sie. »Du hast dich in deinem Sitz vorgebeugt. Du hast wirklich zugehört. Das gefiel mir. Und du hast eine wundervolle Nase. Was hat dir an mir gefallen?« »Alles«, sagte Frank. Es stimmte. Er liebte alles an Sandra. Er liebte sogar die Art, wie sie gehustet hatte, als sie sich während einem der ruhigeren Lieder an ihrem Bonbon verschluckt hatte. »Was ist mit Jason?«, sagte Frank. Jason war ihr bisheriger Freund. »Na ja«, sagte Sandra. »Er ist in Ordnung. Aber ich könnte nie einen Mann wirklich lieben, der ›Ups‹ sagt.« Sandra lernte Gráinne kennen und die beiden mochten sich. Gráinne war sechs. Sandra brachte sie oft zum Lachen, und Gráinne fand sie wunderschön, und es gefiel ihr, wie ihr Dad sie anschaute. Er lachte ebenfalls oft. Und drei Wochen danach gingen Frank und Gráinne ins Bad Ass Café, nur sie beide, und er erklärte ihr, dass Sandra bei ihnen einziehen würde, und wie fühlte sich Gráinne dabei? »Was ist mit Mami?«, sagte sie. »Sie wohnt in New York«, sagte Frank. »Wahrscheinlich brauchte sie Abstand. Für eine Weile zumindest. Sie liebt dich, Gráinne, aber mich liebt sie nicht mehr. Du kannst sie in New York besuchen. Wenn du älter bist.« Also nickte Gráinne und sagte: »Gut.« Sie mochte Sandra. Es würde nett werden. Und das wurde es. Sandra war keine gute Köchin, aber sie war witzig und liebenswert und sie sang sehr häufig. Sie gingen zusammen einkaufen und sie kaufte Gráinne Dinge, auf die Frank nicht im Traum gekommen wäre – Jeans und Tops, Socken und Slips. Frank kaufte ihr ständig feine Kleidchen und Röcke, farbige Strumpfhosen und Halsketten. Sie fuhren häufig zusammen durch die Gegend, die drei, in die Berge und nach Howth oder Malahide. Dann, eines Morgens, wachte Gráinne auf. Draußen war es noch dunkel, also ging sie in Franks Zimmer, um sich neben Frank ins Bett zu legen. Und neben Frank lag Sandra, beide schliefen. Gráinne stand vor ihnen und betrachtete sie. Ihr war kalt. Sie krabbelte ins Bett, neben Frank. Er umarmte sie. Seine Augen waren noch geschlossen. Er drehte sich um, Gráinne fest im Arm, und sie rutschte zwischen die beiden, eingequetscht zwischen Frank und Sandra, und das gefiel ihr. Es war wunderbar und warm. Als sie wieder wach wurde, war es draußen hell, und das Bett war leer, und von unten hörte sie Gelächter. Frank und Sandra lachten. Dann, eines anderen Tages, Monate später, gingen sie mit ihr wieder ins Bad Ass und erzählten es ihr – Sandra erzählte es ihr. Sie war schwanger, sie würde ein Baby bekommen. »Bist du der Papa?«, fragte Gráinne Frank. Frank war von ihrer Frage schockiert und er war beeindruckt. Sie sah ihm fest in die Augen. »Ja«, sagte Frank. »Das Baby wird dein Bruder oder deine Schwester sein.« »Nein, wird es nicht«, sagte Gráinne. Sie erklärte es ihnen. »Es wird nur meine Halbschwester sein oder mein Halbbruder.« »Aber es sind doch trotzdem gute Neuigkeiten, oder?«, sagte Sandra. »Ja«, sagte Gráinne. Aber in Wirklichkeit wusste sie nicht, ob es gut oder schlecht oder ob es überhaupt Neuigkeiten waren. Sie wusste nicht, was sie fühlte. Das Baby war Johnny. Und Gráinne liebte ihn. Er war so niedlich! Sandra war jetzt die ganze Zeit zu Hause, und auch wenn sie Johnny oft fütterte und mit ihm spielte, gefiel das Gráinne trotzdem. Sie war alt genug, um allein zur Schule zu gehen, und Sandra war immer da, wenn Gráinne klingelte oder ums Haus herumging und die Hintertür benutzte, und fast immer war ihr Mittagessen fertig und erfüllte mit seinem Duft die Küche. Manchmal fühlte sie sich allein, und ein paar Mal, wenn sie im Schlafzimmer zu ihrem Vater ins Bett schlüpfen wollte, bat er sie, zurück in ihr eigenes Zimmer zu gehen, weil Johnny schon in der Mitte lag und der Platz nicht reichte. »Er ist ein echtes Monstrum«, sagte Frank. »Schau dir nur mal an, wie groß er ist.« Aber Frank und Sandra stellten sicher, dass Gráinne nicht zu lang allein blieb. Sie liebte es, wenn Frank sich neben ihr auf den Boden setzte, um mit ihr zu spielen. Das tat er häufig, und Sandra ebenso. Gráinne wusste, dass die beiden sich um sie kümmerten. Sie schauten sich ihre Hausaufgaben an, sie schauten nach, ob ihre Kleidung sauber war, sie schauten auf ihrem Kopf nach Läusen, als der Brief aus der Schule kam. »O-oh, der Läusebrief.« »Es ist jedes Mal der gleiche«, sagte Gráinne. »Genau dieselben Worte.« »Das ist den Läusen gegenüber nicht gerade fair«, sagte Sandra. »Jede Laus ist verschieden. Komm her, wir schauen mal nach.« Dann gingen sie wieder mit Gráinne ins Bad Ass und bald darauf wurde Tom geboren. Auch er war niedlich, aber er hielt Sandra wahnsinnig auf Trab, und Johnny war sehr eifersüchtig. Wenn Sandra Tom fütterte, kletterte und drängelte er sich auf ihren Schoß. Er schleuderte sein Essen durch die Küche. Er klatschte es sich auf den Kopf. Er tat alles, um Sandras Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Für Gráinne blieb nicht viel Platz. Aber Frank küsste und herzte sie immer als Erste, wenn er nach Hause kam, auch wenn Johnny ihn manchmal ins Bein biss, während er sie umarmte. Und oft unternahm er mit ihr ganz besondere Ausflüge nur zu zweit. Sie fuhren sogar für ein verlängertes Wochenende nach Paris. Es war okay, in diesem Haus zu leben, neben Frank und Sandra aufzuwachsen, mit Johnny und Tom. Gráinne war glücklich. Dann war sie ein Teenager und ganz plötzlich, so schien es, war sie unglücklich und ruppig und gleichzeitig still und laut. Sie sprach mit niemandem, knallte aber die Türen zu. Sie drehte ihre Musik auf, quasselte in voller Lautstärke mit ihren Freunden übers Handy, erklärte ihnen, wie blöde ihre Familie war und wie sehr sie alle hasste. Das war typisches Teenagerzeugs, das wussten Frank und Sandra, aber es war heftig. Besonders für Frank. Er fühlte sich schuldig und manchmal wütend. Sie verhielt sich so, weil er ein schlechter Vater war – irgendetwas machte er nicht richtig. Dann wieder fand er, sie sei ein selbstsüchtiges Miststück, wie ihre Mutter, und je früher sie erwachsen war und aus dem Haus, umso besser. Und dann fühlte er sich wieder schuldig. Er war es, der selbstsüchtig war. Sie war ein Teenager, sie steckte bloß in einer Phase. Das würde enden und sie wären wieder Freunde. »Lust aufs Bad Ass?«, fragte er sie eines Freitags, als er nach Hause kam und sie allein im Flur antraf. »Nein«, sagte sie. »Nur wir beide«, sagte Frank. »Voll der Bringer«, sagte sie und verschwand nach oben. Er spürte die Tür knallen. Das ganze Haus bebte. »Du bist nicht meine Mutter!«, brüllte sie Sandra an. Immer häufiger. Es war heftig. »Das dauert nur ein paar Jahre«, erklärte Sandra Frank, obwohl sie gerade eben wegen irgendetwas, das Gráinne zu ihr gesagt hatte, geweint hatte. »In ihrem Alter war ich genauso.« »Klar«, sagte Frank. Aber überzeugt klang er nicht. Er ging Gráinne aus dem Weg. Er mischte sich in nichts ein und hoffte, dass sie in der Schule klarkam. Er hoffte, dass sie keine Dummheiten machte, wenn sie an den Wochenenden nachts ausging. Er blieb immer wach, bis sie nach Hause kam, aber stets im Bett. Er wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass er ihr nachspionierte. Am nächsten Tag fragte er sie dann, wie es bei ihr lief, und er musterte niemals zu intensiv ihre Augen oder versuchte, ihren Atem zu riechen. Er hielt Abstand und respektierte ihre Unabhängigkeit. Aber es war schwer. Sie wurde beim Schulschwänzen erwischt und für zwei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen. Sie wurde beim Klauen erwischt. Mrs Fallon, aus dem Laden am Ende der Straße, verständigte zwar nicht die Polizei, aber es war schrecklich. Frank bat sie um Entschuldigung und bedankte sich und kaufte jede Menge Zeugs, das er weder benötigte noch haben wollte. Gráinne ging zwei Monate vor dem Abschlussexamen von der Schule ab. Sie wollte nicht wieder hin. »Ihr könnt mich nicht zwingen«, sagte sie. Und das war das wirklich Beängstigende: Sie hatte Recht. Sie konnten sie nicht zwingen. Sie konnten bloß hoffen, dass sie sich wieder einkriegen und Gráinne werden würde, ihre Gráinne. Aber momentan war sie eine andere Gráinne. Ein Monstrum, ein großes, grauenhaftes Kind. Eine Terroristin. Nachdem sie mit einer Tasse nach Sandra geworfen hatte, schlug Frank vor, dass Sandra und die Jungs eine Auszeit brauchten. Er wickelte die Scherben in Zeitungspapier. Sie könnten für eine Weile verschwinden, erklärte er. Das täte ihnen gut. Es könnte sogar Frank und Gráinne guttun, das Haus für sich zu haben. So wie in alten Zeiten. »In den guten alten Zeiten«, sagte Sandra. »Bevor ich auftauchte.« »Ach, hör auf«, sagte Frank. »Nein«, sagte sie. »Werde ich nicht.« übersetzt von Andreas Steinhöfel, 2010 Im Gespräch mit Sir David Attenborough Vom Mutterinstinkt der Zwergkaimane oder dem Aufstand der Lurche: Sir David Attenborough erzählt im Interview von seinen atemberaubenden Begegnungen im Reich der Kaltblüter. e: Sir David Attenborough mit einem Mississippi-Alligator SRF Lyn Hughes: Was war die besondere Herausforderung beim Dreh der Serie «Kaltblütig»? David Attenborough: Vor allem hatte ich das Problem, dass Reptilien nicht als besonders attraktiv gelten. Lyn Hughes: Reptilien haben also ein Image-Problem? David Attenborough: Ja, das begann doch schon im Garten Eden. Seitdem sind Reptilien eine relativ vernachlässigte Spezies. Daher gibt es viele nie zuvor gesehene Dinge zu entdecken. Die Jagdtechniken von Chamäleons oder die elterliche Fürsorge einer aussergewöhnlichen Froschart zu beobachten, ist faszinierend. Viele Menschen sind der Meinung, Reptilien seien dumm, aber es gibt einige sehr intelligente Arten. Lyn Hughes: Krokodile und Co. haben also Eigenschaften, die ihr negatives Image wettmachen können? David Attenborough: Ja! Das Verhalten von Krokodilmüttern zum Beispiel ist aussergewöhnlich – Zwergkaimane etwa kümmern sich fürsorglich um ihre Jungen. Die Weibchen legen Eier und wenn die Jungen schlüpfen, tragen die Mütter sie im Maul zur nächstgelegenen Wasserstelle. Das ist ein ganz ausserordentlicher Anblick. Aber nur eines der Weibchen bleibt bei den Jungen und passt auf sie auf. Lyn Hughes: Wie in einer Kinderkrippe? David Attenborough: Genau. Eines der Weibchen findet sich also plötzlich mit 100 bis 120 Jungen wieder. Wenn die Wasserstelle austrocknet, entschliesst es sich eines Nachts, alle Jungen zum nächsten Fluss zu führen – der mehrere Kilometer entfernt sein kann. Sie bleibt immer wieder stehen und wartet darauf, dass die Jungen sie einholen, bis sie schliesslich alle ans Ziel gebracht hat. Lyn Hughes: Was hat Sie bei den Dreharbeiten am meisten überrascht? David Attenborough: Es gibt diese Amphibien ohne Gliedmassen, sogenannte Schleichenlurche. Sie sehen aus wie Würmer, haben aber ein Rückgrat und aussergewöhnliche Farben, ein leuchtendes Blau zum Beispiel. Sie bauen kleine Höhlen in der Erde und bekommen etwa 20 Junge, die anfangs dicht bei ihrer Mutter bleiben. Dann ist plötzlich die Hölle los bei den Lurchbabys und es sieht so aus, als würden sie ihre Mutter angreifen. In Wirklichkeit fressen sie aber nur Streifen ihrer Haut ab. Die Mutter erneuert ihre sehr fetthaltige Haut einfach wieder. Das hatte zuvor noch niemand gesehen. Lyn Hughes: Mussten Sie sich besonderen technischen Herausforderungen beim Dreh von «Kaltblütig» stellen? David Attenborough: Anders als Säugetiere können Reptilien tagelang dasitzen und absolut nichts tun! Filme von Schlangen, die ihre Beute fangen, entstehen deshalb fast immer mithilfe technischer Tricks: Man bringt die Schlange dazu, etwas anzugreifen, filmt einen erschrocken aussehenden Hasen und schneidet die Szenen dann zusammen. Lyn Hughes: Haben Sie auch mit Tricks gearbeitet? David Attenborough: Wir haben eine Nachtkamera an einen Bewegungsmelder angeschlossen. So fanden wir eine Klapperschlange, die reglos auf Beute lauerte – das tut sie problemlos wochenlang. Als eine Maus den Felsen heruntertrippelte, begann die Kamera zu filmen. Die Schlange griff an, doch die Maus konnte entkommen. Die Kamera schaltete sich wieder ab. Als die Schlange durchs Gras glitt, schaltete sich die Kamera wieder an und wir glaubten, sie suche die Maus. Man konnte regelrecht sehen, wie sie dachte: «Wo zum Teufel ist die Maus?» Aber auf einmal schoss die Schlange hervor und starrte direkt in die Kamera. Was für ein Anblick! Lyn Hughes: Wo haben Sie all diese Geschichten gedreht? David Attenborough: An allen warmen Orten der Erde: Australien, Südamerika, Afrika, Nordamerika. Lyn Hughes: Und hatten Sie bei dieser Serie genauso viel Vergnügen wie bei den anderen? David Attenborough: Oh ja. Es ist einfach eine wunderbare Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das Interview führte Lyn Hughes. aus: http://www.srf.ch/sendungen/kaltbluetig-und-warmherzig/im-gespraech-mit-sir-davidattenborough AUS ALLER WELT Von Tag zu Tag – Im Dschungel So viel steht fest: Die Marienfelder Zirkuselefanten haben nie unter Colonel Hathi gedient, dem legendären Leitbullen in Disneys „Dschungelbuch“. Statt zu exerzieren – „ Rechts, zwei, drei, vier, aufgepasst, zwei, drei, vier“ –, trampeln sie nur ziellos auf einer Wiese herum oder spielen mit älteren Damen Fangen, geben so dem Schlagwort vom Großstadtdschungel eine ganz neue, nicht länger nur metaphorische Bedeutung. Dickhäuter auf freier Wildbahn mitten in Berlin – das wird vielleicht einmal in die Annalen der Stadt eingehen und in einem Atemzug genannt werden mit dem Zug von Hannibals Kriegselefanten über die Alpenpässe. Es ist zudem ein Schauspiel, dass eindeutig in unsere vom Klimawandel bedrohte Zeit passt. Gerade erst wurde ein totes Krokodil aus einem der hiesigen Gewässer gefischt, nun die Elefanten, demnächst kriecht wohl Ka, die Schlange, durch den Grunewald, und im Tiergarten geht Shir Khan auf Menschenjagd. Sollte Ihnen also bald schon eine getigerte Großkatze begegnen, bleiben Sie ruhig und befolgen Sie den Rat von Balu, dem Bären: „Probier’s mal mit Gemütlichkeit.“ aus: http://www.tagesspiegel.de/berlin/von-tag-zu-tag-im-dschungel/1798068.html (26.04.2009) AUKTIONEN Der gefesselte Mogli Dem kleinen Jungen und den niedlichen Tieren aus dem Disney-Zeichentrickfilm "Das Dschungelbuch" droht ein baldiges Ende. Mogli und Balu der Bär, King Louie, Shir Khan und Hathi Junior warten gefesselt und mit verbundenen Augen auf ihre Exekution, der Dschungel hinter ihnen ist bereits abgeholzt. Dieses Motiv entwarf der sagenumwobene britische Straßenkünstler, der sich Banksy nennt, 2001 im Auftrag von Greenpeace, um auf die Abholzung der Regenwälder aufmerksam zu machen. Das Original soll nun am 11. Januar zusammen mit anderen Kunstwerken von "Urban Art"-Künstlern wie Shepard Fairey und D(*) Face vom Auktionshaus Bonhams in London versteigert werden, Schätzpreis: 80 000 Pfund. Die Versteigerung dürfte dem Disney-Konzern, der "Das Dschungelbuch" 1967 als Zeichentrickfilm adaptiert hat, missfallen. Denn Banksys Figuren sehen aus wie jene aus dem Film. "Disney schickte uns damals Drohbriefe mit der Forderung, das Mogli-Motiv aus urheberrechtlichen Gründen nicht zu verwenden", sagt Graham Thompson von Greenpeace, allerdings blieb es bei den Drohungen. Greenpeace verbreitete das provokante Kunstwerk ungestraft auf Stickern, Plakaten und Bannern. Banksys Graffiti und Installationen erzielen inzwischen Preise von über 100 000 Dollar. Der teuerste Banksy brachte im Februar 2008 bei Sotheby's in New York knapp 1,9 Millionen Dollar ein. aus: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-75803511.html (20.12.2010) erstellt von Eva Bormann, Dramaturgie Junges Theater, September 2014