Versteh mich nicht falsch

Transcription

Versteh mich nicht falsch
Versteh
mich nicht
falsch
Ein Heft über Deutsche
und Franzosen
1,75
11
55.000
MiLLionen schÜLer in Deutschland
der vierundzWanziG fussbaLLLändersPieLe zwischen Deutschland
ehen zWischen deutschen und
franzosen gibt es zur Zeit.
und Frankreich gewannen die
Franzosen. Deutschland siegte sieben
Mal. In sechs Fällen ging die Partie
unentschieden aus.
Deutsch-französische Ehen sind damit
die am häufigsten vorkommenden multinationale Ehen in Europa.
14
168
Prozent der deutschen
sPrechen Französisch, während
MiLLiarden euro betrug das
handeLsvoLuMen zwischen Deutsch-
sechs Prozent der Franzosen
Deutsch sprechen.
land und Frankreich im Jahr 2011.
1.078
französische bÜcher wurden 2009
ins Deutsche übersetzt. 2010 wurden
298 belletristische Titel aus dem
Französischen ins Deutsche übertragen.
8
MiLLionen JuGendLiche nahmen
seit der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) 1963 an
rund 300.000 Programmen teil. 2011
waren es etwa 195.000 Jugendliche.
30.000
eXeMPLare des roMans
„Die Vermessung der Welt“ von
Daniel Kehlmann wurden in
Frankreich verkauft. Der Roman ist
damit das meistgelesene deutsche
Buch der letzten Jahre.
QueLLen: Auswärtiges Amt, Allociné,
Centre national du cinéma et de l‘image
animée, Deutsch-Französisches Jugendwerk, Deutscher Fußball-Bund, Deutsches
Statistisches Bundesamt, De magazine
Deutschland, Deutsche Botschaft Frankreich, eurostat, FplusD, Goethe-Institut,
Ministère de l‘education nationale, netzwerk Deutsch, Institut français, Inside Kino,
Institut national de la statistique et des
études économiques
100
verschiedene französische fiLMe
laufen pro Woche in den deutschen
Kinos. Der meistgesehene Film 2012
ist mit knapp 8,5 Millionen
Besuchern „Ziemlich beste Freunde“.
Mit 1,8 Millionen Besuchern ist
„Der Pianist“ der meistgesehene
deutsche Film in Frankreich.
Jeder
4.
nach deutschLand iMPortierte
Wein kommt aus Frankreich.
Jede 12. Praline in Frankreich kommt
aus Deutschland.
7,1
2.200
städtePartnerschaften und
22 Regionalpartnerschaften verbinden
Deutschland und Frankreich.
Außerdem gibt es 4.300 Schulpartnerschaften, 2.400 Universitätskooperationen und 160 Universitätspartnerschaften.
114.372
franzosen hatten im Jahr 2011 einen
festen Wohnsitz in Deutschland,
davon jeder sechste in Berlin. In Frankreich wohnen 126.429 Deutsche.
7
Prozent ihrer Ausgaben verwendeten
Goethe-institute gibt es in Frank-
die privaten Haushalte in Frankreich
im Jahr 2011 für café- und
restaurantbesuche. In Deutschland waren es nur 5,9 Prozent.
reich, unter anderem in Lille, Paris,
Toulouse und Nancy. Deutschland
beheimatet elf Instituts français, etwa in
Berlin, Köln, Dresden und Hamburg.
Zusammengestellt von Michèle Mertens
lernten im Jahr 2010 Französisch,
das ist jeder Fünfte. Französisch ist damit nach Englisch die zweitwichtigste
Fremdsprache in Deutschland.
In Frankreich lernten im Jahr 2010
1,04 Millionen Schüler Deutsch.
die deutschen,
die franZosen
f
ünfzig Jahre sind sie jetzt zusammen: Frankreich
und Deutschland. Was ist das für ein Verhältnis? Vernunftehe, Freundschaft, vielleicht sogar Liebe? In diesem halben Jahrhundert gab es von allem ein bisschen. Als
Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad
Adenauer am 22. Januar 1963 im Pariser Élysée-Palast den
deutsch-französischen Freundschaftsvertrag unterzeichneten, setzten sie damit den Grundstein für enge Beziehungen
in Politik und Wirtschaft, in der Kultur und im Jugendaustausch. Anlaß dieses Sonderhefts ist der fünfzigste Jahrestag
des Élysée-Vertrags.
Wie steht es um die deutsch-französischen Beziehungen
heute? Wer sind die Menschen, die sie mit Leben füllen? Und
welche Rolle spielt diese besondere Freundschaft heute in Europa? Ein Frage, die alle Europäer zurzeit stark bewegt.
3
Jean-Pierre Lefebvre, geboren 1943 in Boulogne-sur-Mer,
ist Professor für Germanistik an
der École Normale Supérieure
in Paris. Er zählt zu den bekanntesten französischen Übersetzern und hat unter anderem
Paul Celan, Heinrich Heine und
Rainer Maria Rilke ins Französische übertragen.
Der Konzeptkünstler
Jochen Gerz, geboren 1940 in
Berlin, lebte von 1966 bis 2007
in Paris. Bekannt wurde er 1986
mit dem Mahnmal gegen den
Faschismus in Hamburg-Harburg.
Sein jüngstes Projekt heißt
„2-3 Straßen“ und ist im Ruhrgebiet entstanden. Gerz lebt seit
2008 in Kerry, Irland.
Carsten Keller, geboren 1971,
ist Professor an der Universität
Duisburg-Essen und forscht am
deutsch-französischen Zentrum
Marc Bloch in Berlin.
Marc-Olivier padis, geboren
1968 in Dijon, ist Chefredakteur
des französischen Magazins
Esprit und Redaktionsmitglied
beim Onlinemagazin Eurozine,
einem Netzwerk europäischer
Kulturzeitschriften.
4
Oskar Piegsa,
geboren 1984
in Goslar, ist
Redakteur bei
ZEIT Campus, dem
Hochschulmagazin
der ZEIT. Er lebt in
Hamburg.
Im gespräch: Gila Lustiger, geboren 1963 in Frankfurt am Main,
lebt seit 1987 als Lektorin und Schriftstellerin („So sind wir“) in Paris.
Sie ist in Deutschland aufgewachsen und hat in Israel studiert und
gearbeitet. Wilfried N’Sondé, geboren 1968 in Brazzaville im Kongo,
kam mit fünf Jahren nach Paris. Er wuchs in der Banlieue auf und
studierte Politikwissenschaft an der Sorbonne. Der Schriftsteller
(„Das Herz der Leopardenkinder“) ist mit einer Deutschen verheiratet
und lebt in Berlin.
Vincent Baudriller, geboren
1968, ist seit 2003 Intendant
des internationalen Festival
d’Avignon, des größten europäischen Theaterfestivals.
Im Januar 2012 erhielt er den
Ordre des Arts et des Lettres
des französischen Kulturministeriums. Baudriller ist mit einer
Deutschen verheiratet und lebt
in Avignon.
Sandra Kössler,
geboren 1986 in Stuttgart,
studierte in Eichstätt und
Rennes und ist Redakteurin bei
dem deutsch-französischen
Magazin ParisBerlin in Berlin.
Daniela Schwarzer ist
Politologin und leitet die Forschungsgruppe EU-Integration
der Stiftung Wissenschaft und
Politik in Berlin.
Zwei Briten denken über Deutschland und Frankreich nach: Der Politologe Colin Crouch, geboren 1944, ist auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung
in Köln. Bekannt wurde er mit seiner Arbeit zur Postdemokratie. Der
Schriftsteller Stephen Clarke,
geboren 1958 in Bournemouth,
studierte Französisch und Englisch an der Universität Oxford
und lebt in Paris. Sein Buch „Ein
Engländer in Paris“ wurde bisher
in 17 Sprachen übersetzt.
Im Gespräch: Barbara Vinken (rechts), geboren 1960 in Hannover,
ist Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin. Zu ihren bekanntesten Werken zählt „Die deutsche Mutter“, in dem sie sich mit
der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf befasst. Catherine
Millet (links), geboren 1948 in Paris, ist Chefredakteurin der Kunstzeitschrift art press. In Deutschland wurde sie 2001 mit ihrem autobiografischen Buch „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ bekannt.
Matthias Lahr-Kurten,
geboren 1974 in Mainz, forscht
an derJohannes GutenbergUniversität Mainz über Sprachpolitik und Förderung des
Deutschen im französischen
Bildungs­system.
FOTOS: (Von links nach rechts) Verena Hägler (1), Claire-Lise Buis (2), gezett (3), privat (4), privat (5), picture-alliance/dpa (6), Ilka Kramer / Festival d’Avignon (7), Jürgen Bauer (8), Natacha Henry (9), privat (10), Ali Ghandtschi (11, 12), privat (13), privat (14)
Autoren
INHALT
02
Ein paar Zahlen
06
„Zu Hause ist dort,
wo ich mich wohlfühle“
Die Autoren Wilfried N’Sondé und
Gila Lustiger über das, was deutsch
und was französisch ist
Ein Gespräch
18
Die nationale Rechnung
Welche Art von Freundschaft
wollen die Deutschen, Franzosen,
Europäer heute?
Von Marc-Olivier Padis
21
Neue Krise – alte Klischees
34
Wein und Bier
Der feine Unterschied
Von Stephen Clarke
35
Ein paar Zitate
Über die politische Zusammenarbeit in
schwierigen Zeiten
Von Daniela schwarzer
10
Wut und Chance
Wie Jugendliche mit ausländischen
Wurzeln in Deutschland und
Frankreich erwachsen werden
Von Carsten Keller
12
Vor Ort
Was sich Clichy-sous-Bois und
Berlin-Neukölln zu erzählen haben
Von Sandra Kössler
14
Demokratien gehen sehr
schnell unter
22
Schaut nach Norden
In der Sozialpolitik bieten weder
Deutschland noch Frankreich
gute Modelle. Europa sollte nach
Skandinavien blicken
Von Colin Crouch
24
Wie emanzipiert sind wir?
Die Autorin Catherine Millet und
die Literaturwissenschaftlerin
Barbara Vinken über gesellschaftlichen
Fortschritt
Ein Gespräch
Ein Interview
29
Voulez-vous parler
avec moi?
Der Intendant Vincent Baudriller glaubt
an die erneuernde Kraft des Theaters
Von Matthias Lahr-Kurten
Der Konzeptkünstler Jochen Gerz will,
dass Politik nicht nur in Parlamenten
gemacht wird
Wie Schüler für Fremdsprachen
begeistert werden sollen
Ein Interview
16
Die Mega-Macher
30
„Vorurteile sind ein erster
Schritt zur Weisheit“
Von Oskar Piegsa
Ein Interview
FOTO: Chloe Vollmer Lo
In einem gemeinsamen Studium
lernen Deutsche und Franzosen, wie
Europäer sich besser selbst verwalten
Der Übersetzer Jean-Pierre Lefebvre
erklärt die Geheimnisse der deutschen
Sprache.
Alle Illustrationen in
diesem Heft stammen von
dem französischen
Comiczeichner Wandrille.
Er nimmt an dem Projekt „ComicTransfer“ des Goethe-Instituts teil,
bei dem Illustratoren auf Reisen
geschickt werden, um ihren Blick
auf fremde Städte zu zeigen. Für
uns schaut Wandrille auf die Menschen in Paris und Berlin.
Wandrille, geboren 1977 in Paris,
studierte an der Kunsthochschule
EnsAD (École nationale supérieure
des Arts Décoratifs).
2004 gründete er den Comicverlag
Warum und 2008 mit Benoît Preteseille den Verlag Vraoum. Außerdem
betreibt er einen Comicblog und
arbeitet als Grafiker und Spielgestalter in Berlin und Paris.
5
Heimat
„Zu hause
ist dort, wo
ich mich
wohlfühle“
Wilfried N’Sondé und
Gila Lustiger sprechen
darüber, was deutsch
und was französisch ist
Zwei Autoren im Gespräch:
Wilfried N’Sondé (links)
und Gila Lustiger (rechts)
Fotos: Ali Ghandtschi (links), ullstein bild - Jürgen Bauer (rechts)
Interview: claire-lise Buis
Frau Lustiger, Herr N’Sondé, möchten
Sie, dass wir Deutsch oder Französisch
sprechen?
Wilfried N’Sondé: Wie Sie möchten!
Gila Lustiger: Mir ist beides recht. Ist
Französisch Ihre Muttersprache?
WNS: Es ist zumindest die Sprache, die
im Kongo, wo ich herkomme, gesprochen wird. Wobei Muttersprache kein
zutreffender Begriff ist, denn in Afrika
wächst man mit mehreren Sprachen
auf. Die Sprache der Mutter ist nicht
immer die des Vaters. Hinzu kommt bei
den meisten Französisch, Englisch oder
Portugiesisch. Bei uns war es Französisch. Meine Mutter spricht mich heute
noch in der Bantusprache Kikongo an.
GL: Von den Kindern aus der Banlieue
weiß man, dass sie durchschnittlich drei
Sprachen beherrschen. Der Staat weiß
das leider nicht zu schätzen. Meine Kinder sind auch mehrsprachig aufgewachsen. Eine Lehrerin war der Meinung,
das könnte sich störend auf ihre Lernfähigkeit auswirken. Darauhin habe ich
sie bei einer Privatschule angemeldet. Es
ist doch eine große Bereicherung, wenn
Jugendliche zwischen den Sprachen und
den Kulturen hin und her wandeln.
WNS: Ja, aber das wird in Frankreich
nicht gefördert.
Ist es in Deutschland anders?
GL: Deutschland hatte nicht so viele
Kolonien, es ist immer sehr europäisch
geblieben. Afrika oder Nordafrika hingegen gehörten zu Frankreich. Es wäre
schade, die kulturellen Beziehungen, die
daraus entstanden sind, zu vergessen.
WNS: Das Problem ist aber die historische Schizophrenie, die in dieser Kolonialgeschichte steckt. Einerseits war
die Kolonisation als Zivilisationsprojekt
auf der Grundlage der Menschenrechte konzipiert. Andererseits betrachtete
man die „indigènes“, die „Einheimischen“ nicht als Gleiche. Das, was sie
zu sagen hatten, war nicht wertvoll, gar
anstößig. In Berlin habe ich aber auch
festgestellt: Zweisprachig zu sein, ist
hoch angesehen, wenn man Deutsch
und Französisch kann – weniger aber,
wenn man Deutsch und Türkisch kann.
GL: Es gibt ja überall Vorurteile gegenüber armen Migranten. Im Frankfurt
der 1970er-Jahre gab es viele Ausländer, die im Bankensektor arbeiteten.
Aber man ging nicht ohne Bedenken
zur italienischen Eisdiele. In meinem
bürgerlichen Milieu waren wir vor allem von den amerikanischen Soldaten
fasziniert, die in der Nähe stationiert
waren und mit Muskeln und Stereoplayern protzten. Das waren unsere ersten
Begegnungen mit Ausländern in einer
damals noch sehr spießigen Stadt.
WNS: Als wir 1973 in Melun in der
Nähe von Paris ankamen, wohnten bei
uns im Haus eine libanesische Familie, außerdem bretonische Polizisten,
die ein Kind aus Laos adoptiert hatten,
dann noch Marokkaner, algerische Juden und Portugiesen. Diese Mischung
hat mich geprägt.
Herr N’Sondé, wie sind Sie nach
Berlin gekommen?
WNS: Ich bin im Dezember 1989 nach
Berlin gefahren, weil ich die Stadt nach
dem Mauerfall erleben wollte. Ich war
so naiv zu glauben, dass die Welt sich
verändern würde. Silvester dort zu feiern, war gigantisch! Kreativität und
Hoffnung lagen in der Luft. Ich habe auf
einer Baustelle gearbeitet, als Kellner,
Übersetzer, Sozialarbeiter. Ich stand
sogar als Weihnachtsmann auf dem
Alexanderplatz.
Und wie sind Sie nach Paris
gekommen, Frau Lustiger?
GL: Ich bin wegen der Liebe nach Paris
gegangen. Ich pendele heute jedoch sehr
viel zwischen mehreren Städten. Mein
Alltag findet aber in Paris statt.
Was bedeutet für Sie Heimat?
GL: Für mich ist Heimat ein obsoleter
Begriff, der die Realität der heutigen
Arbeitswelt völlig verkennt. Schauen
Sie die Generation meiner Kinder an.
Sie sind 19 und 22 Jahre alt. Sie wer7
den in ihrem Leben mehrere Berufe
haben, an verschiedenen Orten leben
und zwangsläufig mehrere Länder und
Kulturen kennenlernen. Mobilität ist
selbstverständlich geworden. Die Nation oder das Nationalgefühl hingegen
sind Erfindungen aus dem 19. Jahrhundert. Warum sollte ich mich darüber
definieren? Ich könnte auch sagen: Ich
bin eine Frau, Jüdin, braunhaarig, an
Buddhismus interessiert, Schriftstellerin, Vegetarierin. Ich bin in mehreren
Städten und mehreren Kulturen unterwegs und will mich nicht festlegen.
Dazu stehe ich. Für die jüngeren Generationen ist es aber gar keine Frage der
Entscheidung: Sie haben keine Wahl.
WNS: Ich bin nicht auf der Suche nach
einem Ort, wo ich mich zu Hause fühle,
sondern mein Zuhause ist überall dort,
wo ich mich wohlfühle. Meine Kinder
haben einen deutschen und einen französischen Pass. Meine Tochter lernt
Koreanisch, sie will in Korea studieren.
GL: Mein Sohn hat sich für Indien entschieden.
Fühlen Sie sich nicht manchmal doch
französisch oder deutsch?
WNS: Ich mag die Idee, dass Frankreich
die Wiege der Menschenrechte ist, und
identifiziere mich gerne damit. In Berlin
fühle ich mich dann als Franzose, wenn
ich etwas vermisse. Das hat viel mit dem
Essen zu tun: Einkäufe auf großen Wochenmärkten, große Tafeln, das feuchtfröhliche Beisammensein. Die Deutschen sind schon ziemlich ernst.
GL: Meine französischen Freunde sagen
oft, ich wäre nicht „leicht“ genug. Leichtigkeit ist aber wie Schaum. Warum sollte
es eine positive Eigenschaft sein? (lacht)
WNS: Am Anfang lag ich oft daneben
mit meinem Humor. In intellektuellen
Kreisen gibt es in Deutschland Dinge,
über die man nicht lachen darf.
GL: Ich lache aber ganz gerne!
WNS: Ja, es sind alles nur Verallgemeinerungen, die wir hier verbreiten. (lacht)
GL: Bei mir ist es so: Ich fühle mich
deutsch, wenn ich hier in Paris ein
deutsches Theaterstück sehe. Ich spüre,
dass ich dieselben Referenzen habe. Es
spricht mich an. Ansonsten bei Spaziergängen im Wald. In Frankreich waren
die Wälder im Besitz von adligen Familien und für die Jagd angelegt. Naturbelassen sind sie aber schöner.
8
Wilfried N’Sondé:
In Deutschland liege ich
oft daneben
mit meinem
Humor. In intellektuellen
Kreisen gibt
es hier Dinge,
über die man
nicht lachen
darf
Gila Lustiger:
Ich lache aber
ganz gerne!
Kehren Sie oft in die Länder Ihrer
Großeltern – in den Kongo und nach
Israel – zurück?
WNS: Ich bin nur einmal in den Kongo gefahren. Das liegt daran, dass dort
ein Bürgerkrieg tobte und dass ich mich
nicht besonders mit diesem Land verbunden fühle. Wie war die Rückkehr?
haben meine Freunde gefragt. Doch ich
empfand das nicht als Rückkehr: Es war
lediglich eine neue Entdeckung.
GL: Ich verstehe nicht, warum Identität
und Herkunft so wichtig sein sollten.
Ich rede lieber über Literatur.
Die Familie, die Vorfahren, spielen in Ihren
Büchern eine außerordentliche Rolle. Hat
das nicht mit Herkunft zu tun?
WNS: In meinem ersten Roman „Das
Herz der Leopardenkinder“ wird ein
junger Mann verhaftet und erinnert
sich langsam an seine Tat und daran,
was ihm vorgeworfen wird. Dabei hört
er die Stimme der Ahnen. Mit Afrika hat
das aber nichts zu tun. Denn die Geschichte ist nicht ortsgebunden. Ahnen
sind in vielen Kulturen zu finden. Das
Buch wurde ins Koreanische übersetzt
und mein Verleger dort dachte, ich sei
Buddhist. Unser Verhältnis zu unseren
Vorfahren und unseren Toten berührt
die Geschichte der Menschheit – in Afrika ebenso wie in Asien oder Europa.
Denken Sie nur an den Tod Jesu und
die Verehrung des Vaters. Wer wo geboren ist, das ist doch nicht wichtig. In einem Theaterstück habe ich diese Logik
so weit getrieben, dass alle Figuren gar
keinen Namen haben. Ich schreibe nie
etwas, weil ich aus dem Kongo komme.
Wir Schriftsteller bearbeiten menschliche Knete und sonst nichts.
GL: Diese Knete besteht aus Erinnerungen, Traumata, Erfahrungen aus der
Kindheit, die universell sind. Ich war
einmal in einem literarischen Kolloquium mit Schriftstellern aus der ganzen
Welt. Wir haben festgestellt, dass wir
alle etwas gemeinsam haben – nämlich
die Erfahrung der Demütigung. Der
eine war als Homosexueller gebrandmarkt worden, der andere fühlte sich
als Kind geschiedener Eltern anders.
Bei mir war es so, dass ich die einzige
Jüdin in meinem Gymnasium war. Dieses Gefühl des Andersseins, das ist das,
was wir teilen und was überall gleich ist.
WNS: Da bin ich mit Ihnen nicht ganz
auf einer Linie. Berlin hat mir ganz klar
die Gelegenheit gegeben, einen Ausweg
aus dem Problem der Identität zu finden. Bis 1989 war ich Franzose afrikanischer Herkunft. An meiner Pariser Universität gab es auch Afrikaner, aber aus
Afrika. Für sie waren wir Weiße. Für den
Rest der Bevölkerung – die Polizei zum
Beispiel – waren wir aber schwarz. Berlin bot mir dann eine Chance: Schwarze
Franzosen gab es dort keine. Ich konnte
bei null anfangen, mich erfinden. Mein
Leben hat sich verändert, weil ich sozusagen aufgehört habe, schwarz zu sein.
Foto: Claire-Lise Buis
GL: Mit Berlin als Stadt hat das aber
wenig zu tun, sondern mit der Tatsache,
dass Sie sich vom Blick des anderen befreien konnten. Selbstverständlich ist
man immer jemand aus der Sicht des
anderen. Doch man ist nie gezwungen, diese Identität anzunehmen. In
Deutschland werde ich eine jüdische
Schriftstellerin bleiben, diejenige, deren Vater den Holocaust überlebt hat,
die das thematisiert hat. In Frankreich,
in Spanien bin ich aber eine deutsche
Schriftstellerin. Trotzdem bleibt es mir
frei, mich von diesem Blick unabhängig
zu machen.
Denken Sie, dass es heute leichter ist,
anders zu sein?
GL: Sehen Sie sich doch die Jugendlichen an: Es gibt viele Gruppen – Tätowierte, Gothics, Aquapunks – und Subkulturen. In Paris, Berlin oder London
kann man sich sogar seine Sexualität
aussuchen – wie Joghurt im Supermarkt.
Da spielt die Nationalität überhaupt keine Rolle, sondern es sind globale, urbane Phänomene. Noch nie hatte man so
viel Freiheit, im Westen zumindest. Ich
war Gastdozentin auf einem amerikanischen College. Dort gibt es Studentenwohnheime für Juden, Buddhisten oder
Transsexuelle.
Sind die USA ein Vorbild für Europa?
WNS: In Frankreich wird das amerikanische Modell als „Kommunautarismus“
kritisiert. Doch es ist heuchlerisch, denn
bei uns gibt es auch Parallelgesellschaften. Die größte und mächtigste Gruppe
besteht aus Christen und Weißen. Sie
sind so allgegenwärtig in der Politik
und den Medien, dass sie sich selbst
nicht als Gruppe wahrnehmen. Wenn
sich aber andere mobilisieren, werden
sie kritisiert.
GL: Gerade weil es in Frankreich solche Debatten gibt, reagiere ich so allergisch auf den Begriff der Identität. Um
die Wähler der rechtsextremen Partei
Front National zu locken, hatte Nicolas
Sarkozy ein Ministerium für nationale
Identität und Einwanderung gegründet und eine Diskussion eröffnet, die
niemanden interessierte: Was bedeutet
es, Franzose zu sein? Es war nicht nur
obsolet, sondern pervers. Probleme,
die in Frankreich dringend zu lösen
sind – Arbeitslosigkeit und soziale Probleme – wurden zweitrangig. Das, was
die Franzosen trennt, ist vor allem die
Wirtschaft. Es gibt Reiche, Arme und
die Mittelschicht und nicht, wie uns
vorgegaukelt wird, Juden, Afrikaner,
Muslime.
Sind Integrations- und Identitätsdebatten
Ablenkungsmanöver?
GL: Im Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl war es offensichtlich. Die
wichtigen Fragen hatten mit Identität
nichts zu tun, sondern mit dem Sozialstaat, mit Bildung und Umwelt.
WNS: Dem stimme ich zu. In meinem
letzten Roman beschreibe ich das Leben
einer Familie, in der der Vater arbeitslos
ist. Für einige Kritiker ist es ein Roman
über die Banlieue. Doch für mich ist es
vor allem ein Roman über die Armen
unserer Gesellschaft. Man spricht oft
über die „quartiers sensibles“, was so etwas wie „anfällige Stadtteile“ bedeutet.
Doch die sind ganz einfach arm. Araber
aus Saudi-Arabien, die große Villen an
der Côte d’Azur kaufen, bereiten niemandem Sorgen.
Geht man mit solchen Problemen in
Deutschland besser um?
GL: Das würde ich schon sagen. Natürlich gibt es Sarrazin und Co. Offiziell
sind die Politiker aber etwas ehrlicher
und weniger versucht, die wirtschaftlichen Probleme zu vertuschen. Die Debatte wird nicht so ideologisch geführt.
In Frankreich geht es immer gleich um
große Prinzipien wie die Laizität.
WNS: Die deutschen Politiker sind
pragmatischer. Der Unterschied lässt
sich am Beispiel der Wohnungspolitik
beobachten. In Paris ist die Wohnungssituation katastrophal. Seit Jahren wird
darüber diskutiert, aber nichts ist passiert. In Berlin kann man vergleichsweise günstig und gut leben.
Führt dieser Pragmatismus zu einer größeren Toleranz gegenüber Ausländern oder
religiösen Minderheiten?
GL: Die Debatte über die Beschneidung
fand ich schlimm. Ich beobachte außerdem in Deutschland eine neue Hetze
gegen sogenannte „Club-Med-Länder“,
die südeuropäischen Krisenländer. In
der Schuldenkrise haben alte Klischees
Konjunktur.
WNS: Ja, es gibt überall intolerante Leute. Das Problem ist, dass eine unsinnige
Idee wie die der Integration in unsere
Köpfe eingepflanzt wurde. Wenn Men-
Gila Lustiger:
Auf den
Begriff
identität
reagiere ich
allergisch
schen aufeinandertreffen, gibt es nicht
solche, die sich integrieren wollen, oder
die, die es nicht wollen. Ein Treffen ist
ein kreativer Moment und kein Prozess,
bei dem etwas in eine Form gepresst
wird. Eine Kultur lässt sich nicht in eine
andere Kultur integrieren, die selbst unverändert bleiben würde.
GL: Ich habe einmal mit österreichischen
Kindern über Integration gesprochen.
Sie waren sehr gelangweilt. Dann haben
wir gespielt und versucht, herauszufinden, was es ohne Ausländer in Österreich gäbe. Das Ergebnis: fast nichts.
Sind es Entdeckungen dieser Art,
die das Verständnis zwischen den
Kulturen fördern?
GL: Ich glaube kaum, dass die wichtigen
Trennlinien in der globalisierten Welt
kultureller Art sind. Ein reicher Brasilianer hat mit einem reichen Londoner
mehr gemeinsam als mit dem armen
Slum-Bewohner vor seiner Tür. Dass
die multikulturelle Gesellschaft längst
Realität ist, wird die Politik früher oder
später realisieren.
WNS: Wie leben in einer historisch bemerkenswerten Epoche. Wir im Westen
sind vielleicht frei wie noch nie. Doch
Milliarden von Menschen verfügen
nicht mal über Trinkwasser. Abgesehen davon würde ich für eine offensivere Haltung der Politik plädieren. Ich
sage meinen Berliner Freunden oft:
Es ist schön und gut, gegen Fremdenfeindlichkeit zu sein, aber wann fangen
wir an, uns für Fremdenfreundlichkeit
zu engagieren? Anstatt zu denken, der
Fremde ist ein Problem, mit dem ich
jedoch zurechtkomme, ist es an der
Zeit, den Fremden als Bereicherung zu
betrachten.
9
Integration
wut und chance
Wie Jugendliche mit ausländischen
Wurzeln in Deutschland und Frankreich
erwachsen werden
Von Carsten Keller
D
as ist alles, was mir Frankreich angetan
hat. Der französische Staat und alles, was
dazugehört. Die Probleme. Wegen alldem
mag ich dieses Land nicht.“ Dieser Satz stammt
von einem jungen Franzosen mit marokkanischen
Wurzeln. Der 25-Jährige lebt zusammen mit seinen
Eltern und Geschwistern in der Pariser Banlieue.
Er hat keinen Schulabschluss, arbeitet als Händler
auf dem Markt und betreibt noch andere „Geschäfte“, auf die er nicht näher eingehen möchte. Der
junge Mann ist wütend auf das Land, in das seine
Eltern Ende der 1970er-Jahre eingewandert sind.
Denn er fühlt sich wie viele junge Migrantennachkommen in Frankreich und Deutschland von den
staatlichen Institutionen – wie den Schulsystemen
– ausgegrenzt.
Dies ist nur eins der Ergebnisse des Forschungsprojekts „Berufliche Strategien und Statuspassagen
von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in
Deutschland und Frankreich“, das Kollegen und
ich vom Centre Marc Bloch und vom Sozioökonomischen Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung durchgeführt haben. Wir haben
untersucht, wie Jugendliche mit ausländischen
Wurzeln in beiden Ländern den Übergang in das
Erwachsenenalter bewältigen und welche Rolle
dabei der institutionelle Rahmen spielt.
Im Mittelpunkt der Studie stand die Befragung
von 175 Männern und Frauen im Alter von 18 bis
35 Jahren, die in Deutschland als Nachkommen
von Zuwanderern aus dem Nahen Osten und der
Türkei, in Frankreich als Nachkommen von Zuwanderern aus dem subsaharischen Afrika und
dem Maghreb leben.
Diese jungen Erwachsenen sind im Bildungsund Erwerbsleben zwar seltener erfolgreich, aber
sie sind erfolgreich. Vergleicht man Frankreich
und Deutschland, zeigt sich, dass die instituti­
onellen Rahmenbedingungen wie die Bildungssysteme und die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik
10
die Lebensverläufe in beiden Ländern stark beeinflussen. Während in Deutschland Benachteiligungen aufgrund des Migrationshintergrundes
früh in der Schule einsetzen – insbesondere beim
Wechsel in die Sekundarstufe im Alter von circa
neun Jahren –, treten sie in Frankreich erst beim
Eintritt in den Arbeitsmarkt auf. Das französische Bildungssystem bietet mithin mehr Chancengleichheit und Aufstiegsmöglichkeiten, allerdings erhalten frühe Schulabbrecher seltener eine
„zweite Chance“, Bildungsabschlüsse nachzuholen.
Dieser instituti­onelle Ausschluss spiegelt sich bei
den jungen Männern in einem Gefühl der Distanz
oder sogar der Wut auf staatliche französische
Institutionen wider.
Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass in
Deutschland ein deutlich größerer Teil der jungen
Frauen mit ausländischen Wurzeln nicht erwerbstätig wird und offenbar dem traditionellen Modell
der Mutter und Hausfrau Priorität einräumt.
Überraschenderweise führt die Erfahrung
blockierter Chancen in Deutschland nicht zu sogenannten „informellen Strategien“, das heißt, die
Migrantennachkommen wenden sich von der Idee
des sozialen Aufstiegs durch Bildung nicht völlig
ab, um sich stattdessen mithilfe sozialer Netzwerke und Gelegenheitsjobs „durchzuwursteln“. Die
Lebensläufe der jungen Erwachsenen sind häufig
durch Wendepunkte geprägt. So werden „informelle Strategien“ durch einen ersten Wendepunkt,
meist im Alter von 13 bis 15 Jahren, eingeleitet. Später führen aber in aller Regel Lernprozesse, aber
auch institutionelle Angebote im Sinne einer „zweiten Chance“ zu einem zweiten Wendepunkt, der zu
einer Rückkehr zu formellen Handlungsstrategien
führt. Es bleibt zu hoffen, dass so auch das Gefühl
der Ausgrenzung und die Wut auf die Institutionen
nachlässt.
Mitarbeit: Ariane Jossin, Ingrid Tucci, Olaf Groh-Samberg
BerLIner IM Porträt 2011
11
INtegration
Vor Ort
Was sich Clichy-sous-Bois und
Berlin-Neukölln zu erzählen haben
Von Sandra Kössler
M
öschten Sie den Strudel kosten?“ „Er schmeckt sehr
gut ... zum Kotzen.“ Der Dialog zwischen Gästen und
Gastgeberin wird mit viel Witz und leichtem Akzent
auf Deutsch gespielt – von französischen Schülern aus dem
Pariser Vorort Clichy-sous-Bois. In der Szene danach schlüpfen Gymnasiasten aus Berlin-Neukölln in dieselben Rollen,
nehmen den Faden auf und spinnen die Geschichte nach dem
Vorbild von Yasmina Rezas Stück „Der Gott des Gemetzels“
auf Französisch weiter. Mit so viel Elan, dass die Autorin sogar
die Schirmherrschaft übernahm, als sie das erste inszenierte
Stück sah.
Fliegender Wechsel zwischen Sprachen, Kulturen und eine
gemeinsame Aktivität – so lassen sich alle zehn Einzelprojekte
von „Clichy-sous-Bois trifft Neukölln“ zusammenfassen. Drei
12
Jahre lang dauerte das Pilotprojekt zum Thema Integration
und Chancengleichheit des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) und des Instituts für Migration und Sicherheitsstudien (IMSS). Bei der Abschlusskonferenz Ende Oktober 2012 in der Werkstatt der Kulturen in Neukölln wurde
Bilanz gezogen, Ergebnisse wurden präsentiert und Möglichkeiten zur Fortsetzung ausgelotet.
Der Grundstein für die spätere enge Kooperation wurde
bereits 2006 gelegt. Die Initiative ging von dem damaligen
Bundestagsabgeordneten Ditmar Staffelt (SPD) aus dem Bezirk Neukölln aus, der Clichy besuchte und erste Kontakte
knüpfte. 2008 wurde ein erstes Seminar zum Fachkräfteaustausch organisiert. Doch, so erzählen es die Teilnehmer heute,
die Zeit reichte nicht aus, die Fragen konnten nur angeschnit-
FOTOS: Boris Bocheinski
ten, nicht ausreichend diskutiert werden. Doch 2010 wurde
eine neues Pilotprojekt aus der Taufe gehoben: Die Grundidee
besteht darin, zwei Stadtteile mit ähnlichen Konfliktfeldern
und Problemstellungen zusammenzubringen, um gemeinsam
an Lösungsansätzen zu arbeiten.
So sind Neukölln und Clichy-sous-Bois in mancherlei
Hinsicht durchaus vergleichbar: Beide werden von der Gesellschaft als Problembezirke gesehen, haben immer wieder
durch negative Ereignisse in der Presse auf sich aufmerksam
gemacht. Der Fall der Rütli-Schule in Neukölln und die gewaltsamen Jugendaufstände, die 2005 mit dem Tod zweier
Jugendlicher in Clichy anfingen und zu Krawallen in vielen
Städten Frankreichs führten, sind nur zwei der Ereignisse, die
in den Köpfen hängen geblieben sind. Ein hoher Migrationsanteil, hohe Arbeitslosigkeit: „Gerade weil wir vergleichbare
Ausgangssituationen haben, können wir viel voneinander
lernen“, betont Falko Liecke, stellvertretender Bürgermeister
von Neukölln. Doch neben allen Gemeinsamkeiten darf man
es sich mit dem Vergleich auch nicht zu leicht machen. So
hat Clichy rund 30.000 Einwohner, Neukölln allerdings etwa
300.000. Neukölln gehört zum Innenstadtbereich, Clichy dagegen ist abgeschnitten von Paris. Die Sicherheitsprobleme
sind in Clichy weit massiver als in Neukölln und, wie es der
stellvertretende Bürgermeister des Vororts, Gilbert Klein, unterstreicht: „Clichy ist eine der ärmsten Städte Frankreichs.“
Oder um es mit den Worten des Rappers Padman zu sagen, der
am Hip-Hop-Austausch des Pilotprojekts teilnahm: „Viele sagen, Neukölln ist Ghetto, aber Clichy, das ist wirklich Ghetto.“
Auch die Schülerinnen des Theaterprojekts sind immer
noch schockiert, wenn sie an ihren Besuch in der Pariser Vorstadt im Rahmen des Projekts zurückdenken. So erinnert sich
Sara Houmam an eine Situation im Supermarkt, als einige
französische und deutsche Jugendliche am Eingang abgewiesen wurden und nicht als Gruppe in das Geschäft gehen durften. „So etwas gibt es in Neukölln nicht!“, da ist sie sich sicher.
Das Besondere an „Clichy-sous-Bois trifft Neukölln“ besteht in einem Austausch auf unterschiedlichen Niveaus. So
wurden zum einen rund 130 Fachkräfte zusammengebracht,
Vertreter von Verwaltung, Politik, Justiz, Bildung und Jugendarbeit, die als Multiplikatoren wirken sollten. Zum anderen fanden Austauschprojekte von etwa 350 Jugendlichen
statt. Erstaunlicherweise schien sich Letzteres fast leichter
zu gestalten als die Treffen der Erwachsenen. So berichtet
Borris Diederichs, der das Projekt beim DFJW betreute, wie
insbesondere der Austausch der Polizei sich schwierig gestaltete. Viele der Ideen waren nicht so umsetzbar wie geplant,
komplexe Hierarchiegefüge und vor allem unterschiedliche
Organisation in beiden Ländern erwiesen sich als teilweise
unüberwindbare Hürden.
Auch bei den sogenannten Stadtteilmüttern gab es Anlaufschwierigkeiten. Die vorwiegend türkischstämmigen Frauen
tauschten sich zunächst über Skype aus – doch technische
Schwierigkeiten waren nur eines der Hindernisse. Ein Hauptproblem war anfangs die unterschiedliche Institutionalisierung der Gruppen. Während die Stadtteilmütter in Neukölln
eine sechsmonatige Fortbildung zu Sozialassistentinnen erhielten, um dann andere Familien mit Migrationshintergrund
zu unterstützen, waren die Frauengruppen in Clichy weniger
gut organisiert. Heute findet der Austausch der Neuköllner
Stadtteilmütter mit den „Femmes relais“ (Vermittlungsfrauen),
einem Verein, der sehr ähnlich funktioniert, statt.
Nach dieser Veränderung in der Organisation läuft der
Austausch inzwischen sehr intensiv. Verständigungssprache
ist oft Türkisch, Themen sind Beratung bei sozialen Problemen und konkrete Ansätze bei der Integration, beispielsweise
durch Hilfe bei Behördengängen und in Bezug auf Schulbildung, Erziehung und ärztliche Versorgung.
Gerade weil sie es in ihren Städten nicht immer einfach
haben, weil Austausch vielleicht nicht selbstverständlich ist,
kann man die echte Dankbarkeit und den Enthusiasmus der
Mütter und auch der Schüler spüren. Manche waren vorher
noch nie im Ausland. „Das war eine der schönsten Zeiten in
meinem Leben“, sagt eine der französischen Schülerinnen
bei der Feedbackrunde. Gerade beim Hip-Hop-Austausch,
bei dem deutsche und französische Jugendliche gemeinsam
Tanz-Choreografien auf dem deutsch-französischen Hip-HopFestival auf dem Flugfeld Tempelhof und bei einem Festival
in Paris aufführten, wird deutlich, wie schnell durch ein gemeinsames Thema eine Verbindung geschaffen wird, über
kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg. Auf die Frage,
ob sie auch über Diskriminierung oder Rassismus gesprochen
Beim deutsch-französischen Hip-Hop-Festival „Paris-Berlin“ (links), Proben für ein
Schülertheater nach Yasmina Rezas Stück „Drei Versionen des Lebens“ (rechts)
haben, schauen die Tänzer jedoch skeptisch. „Nein, wir haben
über Musik gesprochen, und über das Tanzen.“
In einem sind sich jedoch alle Beteiligten einig: Mit dieser Abschlusskonferenz soll die Kooperation zwischen Clichy
und Neukölln noch nicht abgeschlossen sein. Im Gegenteil,
so fasst Elisabeth Berger, die beim DFJW in der interkulturellen Fort- und Weiterbildung tätig ist und die Veranstaltung moderierte, zusammen: „Ich wünsche mir, dass von der
Konferenz der Impuls ausgeht, weiterzumachen und neue
Wege zu gehen.“ 13
Kultur und Politik
Demokratien gehen Sehr
Der Konzeptkünstler
Jochen Gerz will, dass
Politik nicht nur im
Parlament gemacht wird
Interview: Rosa Gosch
Herr Gerz, Sie
sind in Berlin geboren, haben von
1966 bis 2007 in
Frankreich gelebt
und haben vor
allem dort und in
Deutschland Werke
im öffentlichen
Raum geschaffen.
Gibt es dabei Unterschiede?
Wenn Arbeiten wie „Das Lebende Monument“ von Biron in der Dordogne
1996 oder jetzt in Bochum der „Platz
des europäischen Versprechens“ im
Atelier entstanden wären, gäbe es kaum
Unterschiede. Da aber beide Werke mit
und durch die Menschen im jeweiligen
Land geschaffen wurden, sieht man ihnen ihre Umwelt an. Es ist deshalb auch
ein Unterschied, ob sie in Passau oder
Berlin entstehen. Womöglich liegt der
Unterschied eher zwischen Dorf und
Stadt, Metropole und Provinz, heute
und gestern. Vielleicht ist Frankreich
eher ein ländliches Land, das von Paris
wie von einem bunten Regenschirm versteckt wird.
Warum sind Sie als junger Mann
nach Frankreich gegangen?
Als ich in den 1960er-Jahren ins europäische Ausland ging, kam ich aus einer
versteinerten Gesellschaft. Ich dachte,
ich bin nur mit einem halben Satz unterwegs, ich brauche die zweite Hälfte.
Die französische Kultur, das Gemeinwesen, war für einen jungen Deutschen
schwer zu verstehen. Das französische
14
Fenster, durch das ich damals mich
selbst sah, meine Vergangenheit, und
das deutsche Fenster, durch das ich auf
die neue Existenz in Frankreich schaute, waren oft Spiegel. Sie zeigten mir die
Notwendigkeit der eigenen Zweifel, der
Widerrede, der Provokation. In jedem
Fenster sieht man die andere Seite. Es
ist ja auch der Kunst nicht fremd, dass
sie nicht an der Grenze halt macht. Und
wenn man nicht immer von der Kunst
sprechen will, kann man auch von Europa sprechen.
In der derzeitigen Krise sehen viele Europa
und seine demokratische Legitimation
bedroht. Spielt die Kunst hier eine Rolle?
Ich beschäftige mich vor allem damit,
wie wir in Demokratien leben, die sich
vom Beitrag aller ernähren. Wir wissen,
wie schnell Demokratien untergehen
können. Daher brauchen wir einen neuen Konsens über das, was wir traditionell als Kultur bezeichnen. Die Länder
hätscheln in ihren Grenzen heute den
kulturellen, medialen, nationalen Konsumenten. Aber Kultur ist nicht dazu
da, Betrachter zu züchten. Sind unsere
Politiker also uneuropäisch? Nicht weil
sie gegen Europa wären, sind sie es, sondern weil sie nicht in Europa leben, sondern in Nordrhein-Westfalen, Bordeaux
oder sonst wo.
Alle Politiker müssten also einmal im
europäischen Ausland leben?
Warum einmal? Sie sollten sich nicht
nur im eigenen Winkel den Wählern
stellen müssen. Europa braucht eine
Praxis. Das würde auch den Wählern
helfen, europäischer denken und entscheiden zu lernen.
Welche Rolle spielt für Sie hierbei Kultur?
Die Geschichtsbücher, die für Schulen
in Frankreich und Deutschland gemeinsam geschrieben wurden, sind ein
gutes Beispiel. Es zeigt, wie viel heute
möglich ist und zugleich, woran die
kreativen Initiativen scheitern: Es fehlt
die Umsetzung, die europäische Praxis
im eigenen Leben. Bücher sind nicht
genug. Wir betrachten Kultur als etwas,
das man nicht tun muss oder gar kann.
Die Kultur ist eine Parallelaktion ohne
Konsequenzen für das eigene Verhalten.
In der deutlichen Trennung der Kunst in
Werk und Betrachter findet dieser Begriff von Kultur einen passenden und
skandalösen Ausdruck. Zurück zu den
Geschichtsbüchern: Wo und wie werden
sie gebraucht? Zu welcher neuen Praxis
führen sie bei den Schülern?
Sind die Menschen – auch in Deutschland
und Frankreich – weiter als die Politik?
Wir streben immer noch Hegemonie
und Einheitlichkeit an, obwohl wir in
Demokratien leben, die Vielfalt schaffen sollten. Die wachsende Vertrautheit der Menschen in Frankreich und
Deutschland wird nicht zu einer neuen
Einheit führen, sondern zu einer neuen
Vielfalt, die zum Glück an Kreativität
denken lässt, an viel Neues, Unbekanntes und warum nicht auch Unerhörtes.
Viele Politiker wollen mehr Europa, sie
träumen vielleicht sogar von der Einheit.
Der gemeinsame Platz ist aber nicht die
Einheit, sondern der eigene Beitrag. Nur
die eigene Stimme hört, akzeptiert, toleriert die Stimme des anderen. Das führt
zum Verschwinden der Grenzen. Politisch geschieht etwas, wenn Menschen
anfangen, etwas zu praktizieren. Viele
Menschen in Deutschland und Frankreich sind inzwischen der Meinung, es
geht nicht so sehr um die Länder. Es
gibt zu wenig Praxis zwischen den Menschen. Früher war die fehlende Freiheit
dafür der Grund. Heute muss man einen
neuen suchen.
schnell unter
Der Intendant
Vincent Baudriller glaubt
an die erneuernde Kraft
des Theaters
fotos: dpa picture-alliance (links), Ilka Kramer / Festival d’Avignon (rechts)
Interview: nikola richter
Herr Baudriller,
Sie sind Kodirektor eines der größten europäischen
Theaterfestivals,
des Festivals von
Avignon. Nach
Thomas Ostermeier
2004 haben Sie
2010 mit dem
Schweizer Christoph Marthaler wieder
einen deutschsprachigen Regisseur als Artiste
Associé eingeladen. Was fasziniert Sie so
am deutschsprachigen Theater?
Deutschland hat eine sehr starke Theatertradition, mit starken Schauspielerensembles, es ist politisch und ästhetisch sehr innovativ. Daher ist es eines
der wichtigen Theater in Europa. In
Avignon zeigten wir bisher ein Panorama verschiedener Ästhetiken der Kreativität: neben Marthaler und Ostermeier
auch Frank Castorf und René Pollesch.
Man könnte sagen, dass ich mich durch
das Theater mehr für die deutsche Kultur interessiert habe.
Ist also der deutsch-französische Dialog eher
ein individueller? Brauchen wir dafür noch
große Institutionen?
Man braucht beides. Ohne den Willen
eines Individuums kann man nichts erreichen. Aber man braucht Unterstützung. Das deutsche Theater funktioniert
anders als das französische, es ist ein
Ensembletheater und daher sehr teuer.
Wenn ich eine Inszenierung mit zehn
Schauspielern einlade, kommen vierzig
Personen, das gesamte Theater. Wenn
sich also nicht das Goethe-Institut und
andere Organisationen dem deutschfranzösischen Dialog widmen und Mittel
dafür bereitstellen, muss das französische
Theater auf hören, deutschsprachige Inszenierungen einzuladen. Ein Wille dazu
muss sowohl im künstlerischen als auch
im politischen Bereich vorhanden sein.
Die deutsch-französischen Kooperationen
sind Ihnen besonders wichtig. Warum?
Die europäische Konstruktion, auch die
deutsch-französische Freundschaft, ist
etwas sehr Neues. Für meine Generation
ist sie ganz natürlich, aber nicht für die
meiner Eltern. Wir müssen die Bedeutung dieser Entwicklungen der nächsten
Generation vermitteln.
Inwiefern ist die Krise in Europa ein
Thema beim Festival von Avignon?
Zwei Inszenierungen waren in den
vergangenen Jahren prägend: Thomas
Ostermeier fragte mit Henrik Ibsens
„Ein Volksfeind“ nach der politischen
Moral, dem politischen Engagement.
Im selben Jahr 2012 beeindruckte Nicolas Stemann mit „Die Kontrakte des
Kaufmanns“ von Elfriede Jelinek über
die Finanzkrise und die Folgen für das
Individuum. Das Stück hat viele politische Fragen zur aktuellen Krise aufgeworfen. Und die vom Theaterstück
ausgelösten Debatten fanden sich dann
in den Diskussionen mit Künstlern und
Philosophen wieder.
Reflektieren französische Künstler anders
über die Krise als deutsche?
Man landet schnell bei einem Zerrbild.
Aber in Frankreich behandelt man po-
litische Fragen tatsächlich anders auf
der Bühne als in Deutschland. Im deutschen Theater ist man viel direkter und
engagierter, der französische Ansatz ist
poetischer und sinnlicher.
Auch in der Politik ist man von einer gemeinsamen Sprache weit entfernt: François
Hollande fordert, um der Krise Herr zu
werden, Solidarität. Angela Merkel möchte
mehr Kontrolle.
Ich glaube, dass ihre Positionen gar
nicht so weit voneinander entfernt sind.
Viel fundamentaler ist, dass die Geschichte von Frankreich und Deutschland sehr unterschiedlich ist, sodass der
jeweilige Bezug zur Welt ein eigener ist.
Austauschprogramme und Kulturdialoge haben nicht das Ziel, dass wir einander ähnlicher werden, sondern dass
wir uns besser verstehen. Die Stärke des
europäischen Abenteuers ist, dass zum
ersten Mal Länder mit unterschiedlicher
Geschichte und Politik versuchen, trotz
dieser Differenzen zusammenzukommen. Wer ins Theater geht, setzt sich
einer anderen Vision der Welt aus.
Das Festival von Avignon lebt auch davon,
dass es nicht in Paris stattfindet. Muss man
die Kultur stärker dezentralisieren, um sie
besser zugänglich zu machen?
Es ist wichtig, dass überall Kultur ist!
Dass ein Maximum an Leuten, jungen
Leuten, Zugang zur Kultur hat. In Avignon kann man allerdings nicht von einer
Dezentralisierung sprechen, denn ganz
Paris kommt nach Avignon. Deutschland ist viel dezentralisierter als Frankreich, die großen Schauspielhäuser sind
im Land verteilt.
Wie schätzen Sie den aktuellen Stand der
französisch-deutschen Freundschaft ein?
Sie ist stark, sie ist real. Die deutschfranzösische Freundschaft ist notwendig. Man muss mit den unverzichtbaren
Dingen weitermachen, um weiter dieses
Europa zu bauen, um es zu zementieren. Denn es hat eine sehr junge Geschichte. Man muss diese Idee weiter
verteidigen, besonders in Zeiten der
Krise und trotz der Krise.
15
Hochschule
die mega-macher
In einem gemeinsamen Masterstudium lernen
Deutsche und Franzosen, wie Europäer sich besser
selbst verwalten könnten
Von Oskar Piegsa
D
ass sie nicht nur eine Deutsche ist, sondern
manchmal auch deutsch denkt und deutsch
arbeitet, lernte Ulrike Hansen im Masterstudium. „Ich bin sehr ergebnisorientiert und
strukturiert“, sagt sie. „Als Deutsche kommt man
schnell zum Punkt und erwartet auch von anderen
schnell eine Lösung.“ Etwas Ähnliches erzählt ihr
französischer Kommilitone Yvan Michit: „Deutsche
kommen immer schon mit Lösungsvorschlägen in
eine Sitzung. In Frankreich entsteht die Lösung
hingegen im gemeinsamen Gespräch.“
Ursprünglich haben Ulrike Hansen, 35, und
Yvan Michit, 43, beide Jura studiert – Hansen in
Göttingen mit Erasmus-Aufenthalt in der Normandie, Michit in Aix-en-Provence und am Europa-Institut in Saarbrücken – und eine öffentliche
Lauf bahn in ihren jeweiligen Heimatländern eingeschlagen. Hansen ging zur Bundesnetzagentur,
wo sie für den grenzüberschreitenden Stromaustausch zuständig ist. Michit arbeitete zunächst im
französischen Innenministerium. Dann erfuhren
beide von einem besonderen Auf baustudium, dem
„Master of European Governance and Administration“ – oder kurz: dem „MEGA“.
Der Élysée-Vertrag und dieser Masterstudiengang feiern gemeinsam Geburtstag: Seine Einführung wurde vor zehn Jahren beschlossen, zum 40.
Jubiläum der deutsch-französischen Freundschaft.
Seitdem wurden 112 Absolventen ausgebildet. Das
Besondere daran: Die meisten von ihnen sind deutsche und französische Verwaltungsmitarbeiter oder
Beamte. Nur ein Drittel der Studenten kommt aus
Drittstaaten oder aus der Wirtschaft, niemand direkt
aus dem Bachelorstudium. „Gemischte Gruppen
gibt es auch in anderen Hochschulprogrammen“,
sagt Manja Kliese, 34, ebenfalls MEGA-Absolventin,
die heute in der deutschen Botschaft in Beirut arbeitet, „aber im MEGA haben alle Teilnehmer zudem
bereits mehrere Jahre Berufserfahrung.“
Wer sich bewirbt, muss fit in beiden Sprachen
sein, denn die Seminare finden sowohl in Paris als
auch in Potsdam statt, mit Professoren und Prakti-
16
kern der jeweiligen Länder. Zwei Motivationsschreiben sind notwendig, eins auf Deutsch und eins auf
Französisch, und auch das 30-minütige Auswahlgespräche ist zweisprachig. Wer diese Prüfung besteht,
profitiert von einer einzigartigen Ausbildung. Denn
anders als etwa in einem Erasmus-Jahr oder im Beamtenaustausch geht es nicht darum, sich in einem
neuen Land zurechtzufinden und in bestehende
Strukturen einzupassen. Stattdessen begegnen sich
Deutsche und Franzosen im „MEGA“ zahlenmäßig ausgewogen und auf neutralem Terrain. „Alle
starten bei null“, sagt Manja Kliese, „und alle können sich einbringen.“ Gemeinsam diskutieren die
jungen Beamten über unterschiedliche Ansätze der
E-Governance oder der Verwaltungsreform, arrangieren sich in internationalen Referatsgruppen und
erzählen aus ihrem Beruf. Am Ende steht die Abschlussarbeit und der Mastertitel. Doch der „MEGA“
lehrt auch Nuancen, Verständnis, Annäherung, wie
sie beispielsweise durch Unterschiede in der Didaktik hervortreten.
In diesem Jahr sollen Theorie und Praxis noch
enger verzahnt werden. Die Studiendauer wird
von einem auf zwei Jahre erhöht und der Master
berufsbegleitend mit Fernstudium und längeren
Präsenzphasen angeboten – es ist dann nicht mehr
nötig, im Verwaltungsdienst ein Jahr lang zu pausieren. Dass sich diese Unterbrechung gelohnt hat,
bezweifeln die bisherigen Absolventen keineswegs.
„Der Draht zu französischen Kollegen ist kürzer
geworden“, sagt Ulrike Hansen. Ihr Arbeitsstil
wurde durch den „MEGA“ vielleicht nicht weniger
deutsch – aber europäischer. „Früher hätte ich kein
Fachgespräch auf Französisch führen wollen“, sagt
sie. „Jetzt fühle ich mich dabei sicher und kenne
die Wendung, die einen Franzosen merken lassen, dass ich mich mit seiner Sprache und Kultur
beschäftigt habe.“ Und obwohl Yvan Michit sich
erstmal an die dortigen Arbeitsweisen gewöhnen
musste, ist er in Potsdam geblieben. Er betreut den
Europäischen Strukturfonds für das brandenburgische Wirtschaftsministerium.
Paris 2009
Zwei im mittelpunkt
Die nationale
rechnung
Welche Art von Freundschaft
wollen die Deutschen,
Franzosen, Europäer, heute?
Von Marc-Olivier Padis
M
it der Verleihung des Friedensnobelpreises an die
Europäische Union rief das Komitee in Oslo eine offenkundige, aber viel zu häufig vergessene Tatsache
wieder in Erinnerung: Das größte Verdienst der Union besteht
darin, einen Krieg zwischen den in der langen Geschichte des
Kontinents allzu oft entzweiten Völkern künftig undenkbar zu
machen. Die friedliche Entwicklung in Europa, innerhalb derer die deutsch-französische Aussöhnung einen wichtigen Part
einnimmt, fußt auf einer beachtlichen Grundlage. Angefangen
bei der Rolle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bis hin zum Studentenaustauschprogramm Erasmus,
von der Abschaffung der Grenzen bis hin zur gemeinsamen
Währung hat sich die Zusammenarbeit in Europa kontinuierlich weiterentwickelt und die Verständigung zwischen
den Völkern vertieft. Die gemeinsamen Errungenschaften im
kulturellen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bereich sollen,
wie es in der Präambel zum EU-Vertrag heißt, dazu beitragen,
„eine immer engere Union der Völker Europas“ zu schaffen.
Doch der Ursprungsgedanke der Europäischen Union
enthielt noch mehr. Das gemeinsame Handeln wurde als Möglichkeit begriffen, Solidarität zu schaffen, ein tiefes Verständnis füreinander aufzubauen und voneinander zu lernen. Wie
steht es heute um dieses Ziel? Eine Art Gleichgültigkeit scheint
sich auszubreiten und das nach außen hin manifestierte Miteinander vermag das Festhalten an strikt nationaler Berechnung
nur schwer zu kaschieren. Die gemeinsamen Politikbereiche,
die zu einem breiteren gegenseitigen Verständnis verhelfen
sollten, geraten nun zum Selbstzweck, und um sie zu verteidigen, ist man bereit, sich voneinander zu entfernen. Was ist
aus den anfänglichen Ideen und Bemühungen der Europäer
geworden? Weshalb werden heute die Mittel, die doch der Verständigung dienen sollten, zur Erpressung und gegenseitigen
Einschüchterung genutzt?
Insbesondere in Frankreich ist der Euroskeptizismus
zwar nach wie vor schwach ausgeprägt, doch die Gegner des
18
Maastricht-Vertrags und später des Verfassungsvertrags riefen
damals im Namen eines „anderen“ Europa dazu auf, mit Nein
zu stimmen. Dem Europa des Binnenmarktes, der Standortverlagerungen, der Deregulierung, der Sparpolitik wollte man
die Stirn bieten. Doch weder dieses vage Gegenprojekt wurde
realisiert, noch gab es Alternativen für eine positive Entwicklung Europas. Für alle Mitgliedstaaten tut sich mittlerweile
eine Kluft auf zwischen den Gründen, die sie einst in die EU
führten, und den Zielen, die sich heute noch über die Unionsmitgliedschaft verfolgen lassen.
Die Franzosen nutzten das Referendum 2005 über den
Verfassungsvertrag dazu, sich im Rückblick zur EU-Erweiterung zu äußern. Denn die Aufnahme ehemaliger sowjetischer
Satellitenstaaten in die NATO und in die EU wurde in Frankreich weniger als Zeichen einer europäischen Aussöhnung
gewertet, sondern man fürchtete vielmehr um das Gewicht
der eigenen Stimme in der EU. Diese geopolitischen Erwägungen gingen einher mit einer neuen, pessimistischen Auslegung der Vorzüge des „doux commerce“. Dieser Auffassung
zufolge gereicht die wirtschaftliche Konkurrenz letztlich allen
zum Vorteil, denn durch sie wird die Produktivität angeregt,
Erfolg belohnt und Innovation gefördert. Doch mit der EUErweiterung wurden plötzlich ganze Gesellschaftssysteme
miteinander in Konkurrenz gesetzt. Die Arbeitnehmer in der
Industrie der Gründerländer mussten sich den Lohnkostenvergleich mit den neuen Beitrittsländern gefallen lassen. In
Frankreich blickte man sehnsuchtsvoll auf die Zeiten, als Europa noch den Einfluss Frankreichs förderte und sich nicht
anschickte, sein Gesellschaftsmodell infrage zu stellen.
Durch die Intensivierung des wirtschaftlichen Wettbewerbs
und die Zunahme von Euroskeptizismus und Ausländerfeindlichkeit haben sich unsere Erwartungen in Bezug auf das europäische Versprechen verändert. Haben wir Länder in unsere
Gemeinschaft aufgenommen, die historisch und kulturell zu
BerLIn 2012
weit von den gemeinsamen Grundlagen der Gründer entfernt
sind? Die Schwierigkeit, das europäische Projekt wieder klar
zu definieren, hat der kulturalistischen Auslegung den Weg
geebnet. Das zeigte sich etwa in der Staatsschuldenkrise, wenn
die südlichen Länder wie Portugal, Italien, Griechenland, Spanien durch die kulturelle Gegenüberstellung von Nord und
Süd in Europa als nachlässig abgestempelt wurden: undiszipliniertes Verhalten im Süden und Glaube an die Wettbewerbsfähigkeit im Norden. Frankreich nahm dabei eine unbequeme
Zwischenstellung ein.
Gleichzeitig sind in diesem Umfeld aus mangelndem Verständnis und Groll neue Instrumente der Solidarität entstanden.
Aber wird sich der Euro nur auf Kosten des guten Einvernehmens in Europa retten lassen? Für die europäischen Währungsund Wirtschaftsexperten scheint zwar eine Lösung in Sicht,
doch die Karikaturen und die Vorurteile werden sowohl im
Norden als auch im Süden ihre Spuren hinterlassen. Aber wer
sorgt sich um den von der Krise erschütterten europäischen
Geist? Wie lassen sich die Risse wieder glätten, die durch die
keineswegs schmerzfreie Rettung des Euro vertieft wurden?
Es verwundert kaum, dass Währungs- und Schuldenprobleme nach Jahren institutioneller Ruhe plötzlich Reibungen
erzeugen, bei denen nunmehr nationale kulturelle Eigenheiten in den Vordergrund rücken. Denn eine einheitliche Währung ist eben nicht nur ein gemeinsames Werkzeug, sie ist
weit mehr als das. Neben seiner Funktion als wirtschaftliches
Tauschmittel spielt das Geld auch eine Rolle als gesellschaftliche Institution. Um Geld als Instrument zum Tausch einzusetzen, ist Vertrauen erforderlich, und zwar kein vorübergehendes, sondern ein grundlegendes. Dies setzt voraus, dass es
eine sichere Grundlage für die Tauschbeziehungen gibt.
Mit den Schulden verhält es sich ebenso. Gemeinsame
Schulden zu haben, bedeutet, sich auf lange Sicht in eine gegenseitige Abhängigkeit zu begeben. In der Generationenfolge
offenbart sich die Schuld in der Erbschaft und in den Kosten
für die Investition in die Zukunft. Es besteht also eine gewisse
Ähnlichkeit zur nach wie vor nationalstaatlichen Steuer. Die
europäische Währung jedoch konnte bisher kein staaten- und
generationsübergreifendes Vertrauen erzeugen.
Daran wird deutlich, dass sich das Wesen des europäischen
Auf bauwerks derzeit wandelt. Doch liegt dies nicht, wie man
in Frankreich glaubte, an der Erweiterung und den neuen
Mitgliedsländern. Bei den Politikbereichen, die im Zuge
der voranschreitenden Integration Europas von den Staaten
vergemeinschaftet werden, steht die politische Kultur jeder
einzelnen Nation auf dem Prüfstand, und damit natürlich
auch die Vielfalt der gesellschaftlichen Modelle und Konflikte. Diese Frage betrifft nicht nur die Hoheitsbereiche wie
Währung, Verteidigung, Sicherheit, Polizei und Justiz, denn
mit dem Beitritt zur EU werden die Zuständigkeiten zwischen Nationalstaat und Union neu aufgeteilt. Die Themen
von gemeinschaftlichem Belang, über die die europäischen
Politiker Einigung erzielen müssen, berühren zunehmend
20
Gemeinsame Schulden
zu haben, bedeutet,
sich in abhängigkeit
zu begeben
Instrumente, deren Funktionsweise an tief verwurzelte
Gesellschaftsmodelle geknüpft ist und nicht lediglich von
technokratischen Entscheidungen abhängt. Deshalb treten
hier die von Land zu Land unterschiedlichen Vorgehensweisen klarer zutage. Dort, wo das Recht sich sonst ungeachtet der lokalen Gegebenheiten durchsetzt, gestaltet sich
die Situation ganz anders, wenn es um Sozialabkommen,
Finanztransaktionen, die Aufnahme gemeinsamer Schulden,
die Währung oder die Risiken im Zusammenhang mit den
Außenbeziehungen geht.
Es reicht nicht mehr, zu glauben, allein die Vergemeinschaftung einiger Politikbereiche könne eine Annäherung und
mehr Transparenz zwischen den Gesellschaften bewirken.
Die Verständigung, die wir in Europa benötigen, führt über
die Sprache. Ohne sprachlichen Austausch können wir uns
nicht verstehen. Eine Lingua franca wäre jedoch nicht die
beste Möglichkeit, sich auszudrücken und einander zu verstehen. Denn durch den Verzicht auf die eigene Sprache und
die Verwendung einer Minimalsprache wie „Globish“ (global
English) gehen begriffliche und gedankliche Nuancen häufig
verloren. Verständigung bedeutet nicht, dass man seine eigene
Sprache vergessen soll. Sprachen kann man lernen und Texte
übersetzen.
Die Freundschaft zwischen den Völkern, für die Europa
eintritt, wird nicht automatisch aus der gegenseitigen Abhängigkeit oder dem gemeinsamen Handel heraus entstehen. Wahre Verständigung weiß um die Schwierigkeiten des
Austauschs, ganz wie es in der Mehrsprachigkeit und bei der
Übersetzung der Fall ist, wo die Kluft zwischen zwei Sprachen
stets offenkundig ist, wo Andeutungen erkannt und die unterschiedlichen Konzepte hinter den Wörtern einer Sprache mitgedacht werden müssen; und trotz aller sprachlichen Besonderheiten gilt doch jede Sprache als grundsätzlich übersetzbar.
Ein sehr schönes Gemeinschaftswerk über die Geschichte der
kulturellen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland trägt den Titel „Au jardin des malentendus“ („Esprit/Geist.
100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen“). Und die Missverständnisse, auf die der Titel anspielt, sind häufig ja das
Interessanteste an einem kulturüberschreitenden Austausch.
Missverständnisse sind nie endgültig, sie können als solche erkannt, korrigiert und damit zum produktiven, schöpferischen
Moment jeder Begegnung werden. Aus dem Französischen von Henrike Rohrlack
paris-berlin
Neue Krise – alte Klischees
Über die politische Zusammenarbeit
in schwierigen Zeiten zwischen Paris und Berlin
Von Daniela Schwarzer
S
eit die Verschuldungskrise Anfang 2010 in
die Eurozone Einzug hielt, standen Deutschland und Frankreich immer wieder gemeinsam im Mittelpunkt des Krisenmanagements und
formulierten die wichtigsten Vorschläge für die Reform der Eurozone. Doch seit dem Machtwechsel
in Paris im Frühsommer 2012 scheinen alte Konflikte zurück zu sein in der deutsch-französischen
Zusammenarbeit. Der sozialistische Präsident François Hollande hat sich etwa für eine bessere Wachstumsstrategie eingesetzt und dabei mehr öffentliche
Investitionen und auch Eurobonds gefordert. Das
ist ein Reizthema für die Bundesregierung. Berlin
pocht dagegen auf Strukturreformen und Sparmaßnahmen, die in Frankreich umstritten sind.
Es zeigt sich, dass der Vertrag von Maastricht,
der 1992 die Grundlage für die gemeinsame Währung schuf, die Konflikte nur überdeckt, nicht aber
grundsätzlich ausgräumt hat. Im deutschen ordnungspolitischen Denken wird Geldwertstabilität,
der Unabhängigkeit der Zentralbank und dem Staat
als Rahmensetzer für einen freien Wettbewerb große Bedeutung beigemessen. Die Reaktion auf die
Krise war zudem stark durch neoklassisches Denken geprägt, demzufolge vor allem angebotsseitige Maßnahmen helfen, auf Schocks zu reagieren:
Sinkende Löhne und Preise sollen also die Wettbewerbsfähigkeit verbessern.
In Frankreich, wie auch im Vereinigten Königreich oder in den USA, dominiert die Einschätzung, dass Wirtschaftswachstum durch eine Stabilisierung der Nachfrage gefördert werden sollte.
Lohn- und Preissenkungen sind umstritten, da sie
Beschäftigungs- und Wachstumsperspektiven belasten könnten.
Diese Unterschiede haben Konflikte zwischen
Frankreich und Deutschland provoziert. Gerade in
Krisenzeiten besteht die Gefahr, dass alte Klischees
den Blick auf nuanciertere Positionen verstellen. So
wird in Frankreich jenseits der linken Regierungsrhetorik natürlich über Reformen und Sparmaßnahmen diskutiert und unter dem Druck der Krise
dürfte ein Politikwandel stattfinden. In Deutschland hingegen wird die Problematik der makroökonomischen Ungleichgewichte differenzierter
diskutiert, als es in Frankreich oftmals wahrgenommen wird: dann etwa, wenn der deutsche Finanzminister höhere Lohnabschlüsse begrüßt, weil sie
zu einem Abbau der Ungleichgewichte beitragen.
Damit das deutsch-französische Tandem in
Zukunft krisenfähig ist und auch mit profunden
unterschiedlichen Auffassungen, etwa auch über
die Rolle der Europäischen Zentralbank und einer
möglichen Wirtschaftsregierung, umgehen kann,
sollte besonders viel Wert darauf gelegt werden, das
gemeinsame Interesse am Erfolg der Währungsunion herauszuarbeiten. Hier muss man an Kompromisslösungen arbeiten. Eine Überhöhung der
eigenen Meinungen und Interessen und ein öffentliches Polarisieren gegen den Partner ist dem Ernst
der Lage unangemessen. Denn eine gute Zusammenarbeit zwischen Berlin und Paris, die zusammen 47 Prozent der Wirtschaftskraft der Eurozone
ausmachen und den entsprechenden Anteil in den
europäischen Rettungsmechanismen stellen, ist in
der derzeitigen Vertrauenskrise entscheidend. Diese kann nur beigelegt werden, wenn das Krisenmanagement funktioniert und den Anlegern Schritte
hin zu einer tieferen Integration in die Eurozone
aufgezeigt werden.
Das solide Fundament der engen Beziehungen
auf der Arbeitsebene, aber auch zwischen Parlamentariern und Parteien, gewährleistet Kontinuität im deutsch-französischen Verhältnis. Allerdings
können auch die engsten politischen und Arbeitsbeziehungen grundsätzliche Auffassungsunterschiede nicht abbauen. Sie können nur überbrückt
werden, wenn langfristig an einer Kompromissfindung, vielleicht sogar an einer Angleichung
der Positionen gearbeitet wird. Im Kontext der
gemeinsamen europäischen Interessen muss eine
aufgeklärte öffentliche Diskussion stattfinden, die
mit alten Klischees aufräumt, ohne legitime Auffassungsunterschiede auszublenden.
21
Gesellschaft
Schaut nach Norden
In der Sozialpolitik bieten
weder Deutschland noch Frankreich
gute Modelle. Europa
sollte nach Skandinavien blicken
Von Colin Crouch
A
us dem Blickwinkel der „hohen Politik“ erscheint die
Tatsache, dass die deutsch-französische Beziehung
das Kernelement der europäischen Einheit bildet,
unmittelbar einleuchtend – die Beziehung zweier einst verfeindeter Führungsmächte Europas, die im Gegensatz zu
Großbritannien nach 1945 die fundamentale Bedeutung eines einheitlichen und geeinten Europa erkannten. Aus dem
Blickwinkel der Sozialpolitik jedoch geben die beiden Länder
ein seltsames Paar ab. Von ihnen ist keines ein Paradebeispiel
für eine moderne Sozial- und Arbeitspolitik, und obwohl sie
sich in mancher Hinsicht ähneln, sie sind doch auch sehr unterschiedlich.
Will man Musterbeispiele dafür finden, was sich durch die
aktive Gestaltung von Sozialpolitik im Rahmen fortschrittlicher Wirtschaftssysteme erreichen lässt, wenn sie nicht als ein
bloßer Schutzmechanismus gegen die Folgen der Modernisierung verstanden wird, richtet sich der Blick – und das nun
schon seit Jahren – auf die skandinavischen Länder. Hier finden wir das, was Wissenschaftler den „investiven Sozialstaat“
nennen, in dem Bildung und eine aktive Arbeitsmarktpolitik
so vielen Bürgern wie möglich zu guten Beschäftigungsbedingungen verhelfen; in denen ein großzügig bemessenes Arbeitslosengeld und nicht „Workfare“ zur Flexibilität des Arbeitsmarktes beitragen; in denen Gewerkschaften eine wichtige,
vertrauensbildende Rolle spielen, da sie den Arbeitnehmern
glaubhaft versichern können, dass das System ihre Belange im
22
Blick hat und ein defensiver Widerstand nicht erforderlich ist;
in denen eine umfassende Kinderbetreuung jungen Müttern
hilft, am Erwerbsleben teilzunehmen; in denen die soziale
Ungleichheit auf das weltweit geringste Niveau gesunken ist;
in denen regionale Innovationsnetzwerke Regierung, Unternehmen, Universitäten und andere Forschungszentren auf
verschiedenen Ebenen miteinander in Kontakt bringen. Seit
Jahren gehören diese Volkswirtschaften zu den erfolgreichsten
der Welt, sie bieten umfangreiche Sozialleistungen und ein
hohes Beschäftigungsniveau und sind gleichzeitig Innovationsspitzenreiter.
Elemente dieses Modells finden sich auch anderswo, vor
allem in Österreich und in den Niederlanden und eingeschränkt auch in Deutschland und Frankreich. Deutschland
hat natürlich eine gute Berufsausbildung und einflussreiche
Gewerkschaften in der Fertigungsindustrie (allerdings nur
dort), kann aber keine besonders familienfreundliche Arbeitsmarktpolitik aufweisen. Für Frankreich gilt das Gegenteil: gute Kinderbetreuung, aber marginalisierte, defensive
Gewerkschaften. Diejenigen Teile Europas, denen, mit der
Ausnahme von Slowenien, praktisch alle Komponenten des
investiven Sozialstaats fehlen – der Süden und die neuen
Mitgliedstaaten im Osten – sind auch die Regionen, die ökonomisch hinterherhinken und, im Fall der südeuropäischen
Staaten, aufgrund der Schuldenkrise auch eine ernste Krise
ihres Sozialstaats erleben. Dazu muss man sagen, dass ihre
Berlin 2012
sozialen Sicherungssysteme nicht gut ausgebaut sind, sie sind
unterfinanziert und werden nicht als Beitrag zur Modernisierung, sondern als Hindernis betrachtet.
Die tragische Orientierungslosigkeit der Europäischen
Union in neuerer Zeit erklärt sich zu einem nicht unwesentlichen Teil daraus, dass der investive Sozialstaat für den Weg
in eine gangbare Zukunft nicht in Betracht gezogen wurde;
sonst hätten Länder außerhalb des Kernbereichs geeignete
Elemente daraus übernehmen können. Stattdessen wird das
Modell in Kerneuropa attackiert und spielt bei Maßnahmen
zur Krisenlösung keine Rolle. Die Bedingungen, die Griechenland und anderen Schuldnerstaaten auferlegt wurden,
beinhalten keine konstruktive Neuorientierung der Sozialpolitik, sondern nur deren Abbau. In ganz Europa, einschließlich der skandinavischen Länder, sind die Gewerkschaftsmitgliedschaften zurückgegangen, die Ungleichheit nimmt zu,
der Wert des Wohlfahrtsstaats bemisst sich nur noch daran,
inwieweit sich mit seiner Hilfe Privatprofite erzielen lassen.
Obwohl das angloamerikanische Finanzsystem die Welt in
die Finanzkrise von 2008 gestürzt hat, ist es als volkswirtschaftliches Modell für die politische und Wirtschaftselite
Europas noch immer attraktiv. Das ist nicht verwunderlich,
denn ein System mit einem hohen Maß an Ungleichheit
und einer schwachen Interessenvertretung von Beschäftigten kommt diesen Eliten sehr gelegen. Aber es kann wohl
kaum den Bürgern Europas Institutionen geben, die eine
hohe Wirtschaftsleistung mit einem gut ausgebauten Sozialschutz verbinden.
Die Europäische Kommission sprach, besonders unter ihrem damaligen Präsidenten Jacques Delors, gerne und stolz
von dem sogenannten „Europäischen Sozialmodell“. Aber ein
schablonenhaftes Sozialmodell auf europäischer Ebene war
von Anfang an zu pauschal gefasst, denn es definierte sich
allein durch verglichen mit den USA vollständigere soziale
Absicherung und die besseren Arbeitnehmerrechte. Es unterschied nicht zwischen den rudimentären Wohlfahrtsstaaten des
Südens und dem investiven Sozialstaat des Nordwestens, und
weder Frankreich noch Deutschland überzeugten als Vorbilder.
Heute, unter dem Einfluss des neu erstarkten Neoliberalismus,
wird das soziale Europa offenbar nur noch mit dem „südeuropäischen“ Begriff des Sozialschutzes gleichgesetzt, was bei
Politikern zu einer Aversion gegen das gesamte Konzept führt.
Wenn es um Sozialpolitik geht, sollten die Europäer weder
nach Süden noch nach Westen auf das angloamerikanische
Konzept blicken, auch nicht nach Osten, wo die postkommunistischen Eliten dem amerikanischen Vorbild nacheifern, und
nicht auf die Kernstaaten Frankreich und Deutschland, die in
diesem Bereich keine klaren Botschaften aussenden, sondern
zum nördlichen Rand des Kontinents – bevor das gut funktionierende Modell in dieser Region auch noch überrollt wird.
Aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff
23
männer und frauen
wie emanzipiert
sind wir?
Barbara Vinken und Catherine
Millet unterhalten sich über
gesellschaftlichen Fortschritt
Frau Millet, Frau Vinken, wie steht es um
die Beziehung zwischen Mann und Frau in
Deutschland und Frankreich?
Catherine Millet: In Frankreich würde
ich sagen, schlechter als vor zehn Jahren. In Sachen Sex und Sittlichkeit spielen leider Überwachung, Zensur und
öffentliche Moral eine größere Rolle.
Zwischen Mann und Frau herrscht zunehmend so etwas wie Krieg. Das liegt
am Einfluss einer bestimmten feministischen Ideologie.
Barbara Vinken: Ich würde nicht den
Feminismus an den Pranger stellen.
Wir beobachten eher den Erfolg einer
Erzählung über Ehe und Familie, die
im 18. Jahrhundert im protestantischen
Bürgertum europaweit entstanden ist.
Hier verkörpert die Frau Moral, Tugend
und Selbstkontrolle. Weibliche Tugend
soll männliche Begierde in die Bahnen
der monogamen Ehe lenken. In diesem
Szenario kommen Frauen nicht als begehrende Wesen, sondern als betrogene
Ehefrauen vor. Dafür ist aber der Feminismus nicht verantwortlich, denn dort
gibt es schon Tendenzen, die die Frau
als erotisches, begehrendes Wesen au24
ßerhalb der patriarchalischen Institution Ehe bejaht haben.
CM: Sicherlich muss man differenzieren, aber in Frankreich hat sich mittlerweile ein aggressiver Feminismus
etabliert, der die Frau nur noch als potenzielles Opfer sieht. Er spricht den
Frauen die Möglichkeit ab, sich selbst
mittels einer selbstbestimmten Sexualität zu emanzipieren. Wir haben letztes
Jahr den Skandal eines Politiker verfolgt ...
Meinen Sie die Sex-Affäre um
Dominique Strauss-Kahn?
CM: Ja. Sie hat zu einer Art Paranoia
geführt, bei der alle Männer als triebgesteuerte wilde Tiere und alle Frauen als
mögliche Beute dargestellt wurden. Eine
negative Entwicklung, finde ich.
BV: Bei der Strauss-Kahn-Affäre ist mir
das Wiedererstarken eben dieses puritanischen Bilds aufgefallen. Das Zimmermädchen, Vertreterin der tugendhaften
Bourgeoisie, wird von einem reichen
Lüstling belästigt, der sich allmächtig
wähnt. Die aristokratische Frau hingegen, die ihre Erotik selbst in der Hand
hat und sich keinem bourgeois patriar-
chalen Familienmodell unterwirft, gibt
es im öffentlichen Diskurs gar nicht
mehr. Die Ungebrochenheit dieser Eheund Moralvorstellungen sollte uns eher
Sorgen machen als der Feminismus. Der
hat, jedenfalls in seinen interessanteren
Varianten immer dafür gekämpft, dass
Frauen nicht nur als mehr oder weniger attraktive Objekte des Begehrens,
sondern als Subjekte des Begehrens in
Erscheinung treten.
CM: Was ich außerdem bei dieser Affäre bemerkt habe, ist, dass die französischen Medien den feministischen
Diskurs übernommen haben, während
die Mehrheit der Franzosen über diese
Episode eher amüsiert war.
BV: Trotzdem muss man sehen, dass Sex
als Machtmittel instrumentalisiert wird.
Und ich finde, dass man schon auch juristische Mittel haben sollte, um einen
solchen Machtmissbrauch vorzugehen.
Spielt in Sachen Sex und Rollenbildern
auch die Kultur eine Rolle?
BV: Gewiss. Man kann sagen, dass in
Deutschland die Aristokratie verbürgerlicht wurde, während in Frankreich
das Bürgertum aristokratische Werte
foto: Ali Ghandtschi
Interview: claire-lise Buis und Rosa Gosch
Die Autorin Catherine Millet (links)
und die Literaturwissenschaftlerin Barbara
Vinken (rechts) im Gespräch in Berlin
Catherine millet:
Eine Femme fatale
nimmt von den Männern,
was sie braucht, ohne
Rücksicht auf Verluste
Barbara Vinken:
ich glaube, dass die französische Frau in Deutschland
immer noch der Inbegriff der
freizügigen Sexualität ist
25
Catherine millet:
Manchmal
sind wir
bereit,
tolErant zu
sein, aber
können
die eigenen
Hemmungen
nicht überwinden
26
annahm. Frankreich hat eine ausgeprägtere erotische Kultur als Deutschland. Hier hat man viel daran gesetzt,
Weiblichkeit durch Mütterlichkeit auszutreiben. In Frankreich war Weiblichkeit resistenter gegen Mütterlichkeit.
Obwohl Sie von Rückschritt reden,
würde ich meinen, dass die französische Frau weiterhin eine Figur ist, deren
Erotik raffinierter ist. Die Liebe ist eine
französisch-italienische Erfindung, die
Erotik aber eine französische!
Ist das die Erklärung dafür, Frau Millet,
dass Ihr Buch „Das sexuelle Leben der
Catherine M.“ als „typisch französisch“
rezipiert wurde? Ist Catherine M. das
Inbild der französischen Femme fatale?
CM: Ich? (lacht) Niemand ist mir jemals
zum Opfer gefallen – glaube ich zumindest –, und das gehört zur Definition
einer Femme fatale. Sie nimmt von den
Männern, was sie braucht, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich bin eher ein Produkt der sexuellen Revolution.
BV: Ja, Sie sind eher eine „libertine“,
denn eine Femme fatale verfolgt andere Ziele. Dennoch glaube ich, dass die
französische Frau in Deutschland immer noch als Inbegriff freizügiger Sexualität gilt.
CM: Für mich ist Deutschland aber das
Land der Femme fatale – denken Sie an
Marlene Dietrich! Wir in Frankreich
haben vor allem die „midinette“, das
Nähmädchen, produziert. Sie arbeitet,
ist sehr frei.
BV: Und wird nicht ernst genommen!
CM: Sie interessiert sich, sagen wir mal
so, für frivole Sachen.
Marlene Dietrich, das war einmal.
Wer verkörpert heute die deutsche Frau?
BV: Die deutsche Frau war zuerst eine
Mutter. Dann kam die ultraemanzipierte Frau, die alles Weibliche anrüchig
fand. Sie ist emanzipiert und stark, aber
sie definiert sich nicht als Frau.
Meinen Sie Angela Merkel?
BV: Genau! Nur im Ausland wird sie als
Landesmutter wahrgenommen.
CM: Das liegt wahrscheinlich an ihrem
Aussehen. Die Bilder, auf denen sie neben Sarkozy stand, wurden bei uns sehr
viel kommentiert. Der kleine Mann
neben der beschützenden Frau. Heute
wird die Bundeskanzlerin in der Presse
eher mit bedrohlicher Gestik dargestellt.
Es ist oft von Hypersexualisierung und
von Sex als Konsumgut die Rede. Ist das
ein Hirngespinst der Puritaner oder eine
Realität?
CM: Ich habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft zweigleisig fährt. In ihr
konkurrieren antagonistische Entwicklungen. Einerseits werden wir überschwemmt mit Erotik, mit einer mehr
oder weniger provokanten Darstellung
von Sex. Andererseits baut die Gesellschaft immer höhere Barrieren auf und
ruft den Gesetzgeber zu Hilfe. Es verhält
sich so, als ob wir nicht mehr in der Lage
wären, selbstständig zu entscheiden.
Was wir sehen oder nicht sehen dürfen,
soll der Staat bestimmen. Ich finde das
sehr bedenklich. Der Gesetzgeber wird
aufgefordert, ins Schlafzimmer einzudringen. Eine verheiratete Frau kann so
den eigenen Mann wegen Vergewaltigung anklagen. Hier kümmert sich die
Justiz um etwas, das sie nichts angeht.
BV: Ich bin nicht für einen allmächtigen Gesetzgeber, finde aber schon, dass
Frauen geschützt werden sollten, wenn
sie von ihren Ehemännern schlecht behandelt werden. Ansonsten steht außer
Frage: Ware und Weiblichkeit sind ab
dem 19. Jahrhundert austauschbar geworden. Mit Sex den Konsum anzukurbeln, führt jedenfalls nicht zur Emanzipation, sondern zur Verdinglichung.
Das sexuelle Begehren wird vermarktet
und kontrolliert. Du musst zum Orgasmus kommen! – so lautet der moderne
Imperativ.
CM: Ich stimme Ihnen völlig zu. Dieser
Imperativ fördert aber Hemmungen,
Schuldgefühle.
Ist das nicht die Konsequenz der sexuellen
Revolution? Wo ist die Grenze zwischen
Befreiung und neuen Normen?
CM: Vielleicht wissen die Menschen
nur noch nicht, wie sie mit ihrer neuen
Freiheit umgehen sollen. Sie sind etwas
unbeholfen. Wenn ich junge Frauen mit
sehr suggestiven Outfits sehe, denke ich
oft an die möglichen Missverständnisse, die daraus entstehen. Die Mädchen
wollen bloß wie ihre Freundinnen aussehen. Sie richten sich dabei nicht an
Männer, aber das wird häufig falsch
interpretiert.
BV: Ich glaube, dass die Idee der Emanzipation, der Befreiung der Sexualität,
an sich irreführend ist. Erotik hängt
doch irgendwie am Verbot und am
Barbara Vinken:
fotos: Ali Ghandtschi
Die deutsche
Frau war
zuerst eine
Mutter. Dann
kam die ultraemanzipierte
Frau. Und
heute gibt es
noch eine
dritte Kategorie: sie ist
emanzipiert
und stark,
aber sie
definiert sich
nicht als Frau
Tabu. Genießen zu befehlen, ist paradox. Sexualität, mit Hygiene und Fitness
kurzgeschlossen, scheint mir völlig in
das Arbeits- und Leistungsdenken integriert. Regelmäßiger Geschlechtsverkehr
wird als gesundheitsfördernde Maßnahme empfohlen, gut für den Blutdruck.
Ich halte diese Art, über Erotik zu reden,
für verfehlt. So wird ihr jedes Geheimnis, jede Angst, jede Ekstase genommen.
Nicht mal mehr Frivolität überlebt so
viel Utilitarismus!
CM: Das ist ein wichtiger Punkt. Wir
sollten Praktiken von Mentalitäten unterscheiden. Manchmal sind wir bereit,
tolerant zu sein, können aber die eigenen Hemmungen nicht überwinden
oder umgekehrt.
Wenn es um Frauen geht, geht es meistens
auch um Männer. Wie unterscheiden sich
deutsche und französische Männer?
CM: Sie fragen, ob es das männliche
Pendant der „midinette“ gibt? (lacht)
BV: Eine Freundin von mir sagt, dass
deutsche Männer bereit sind, für ihre
Frauen den Unterhalt zu verdienen,
und dass dies in Frankreich unvorstellbar wäre. Ich weiß nicht, ob das stimmt.
(lacht)
Was halten Sie von der Idee einer
„Krise der Männlichkeit“?
CM: Die Männer sind von Schuldgefühlen geplagt. Aber das gilt höchstens für
die jüngeren.
BV: Diese These wurde plötzlich prominent, als man Statistiken von Schulleistungen näher betrachtete und merkte,
dass Jungen in der Schule nicht so gut
abschneiden wie Mädchen. Irgendeine
neue Form der Kastrationsangst; eine
forcierte Krise der Männer kann ich
jetzt nicht feststellen.
Momentan wird viel über Frauen in der
Arbeitswelt diskutiert. Es wird manchmal
behauptet, Frankreich sei da einen Schritt
voraus. Stimmt das?
CM: Es hängt stark vom sozialen Umfeld und vom Berufsfeld ab. Ich habe
das Glück, in einem Milieu zu arbeiten,
wo die Bedürfnisse der Frauen berücksichtigt werden und wo sie hohe Posten besetzen. In anderen Bereichen ist
es wahrscheinlich anders. Ich bin der
Meinung, dass wir Gesetze brauchen,
um Lohngleichheit zu garantieren. Das
Prinzip gleiche Arbeit, gleicher Lohn ist
sonst nur Theorie.
BV: In Frankreich kann eine Frau
gleichzeitig Ärztin und Mutter sein,
ohne dass das ihr Muttersein oder ihre
Kompetenz als Ärztin in Frage stellt.
Meine Freundinnen hier in Deutschland, die Karriere gemacht haben, sind
fast alle kinderlos. Mütter haben meistens Teilzeitstellen und machen keine
Karrieren. Genau wie sich in Frankreich
Weiblichkeit und Mütterlichkeit leichter
vereinbaren lassen, so auch Kinder und
Karriere.
CM: Gibt es bei Ihnen keine Elternzeit?
BV: Doch, aber die Väter nehmen sie
zwei Monate in Anspruch, um ihre Häuser zu renovieren oder um die Welt zu
reisen. Ich bin trotzdem für diese Regelung, die zu den positiven Entwicklungen der letzten Jahre in Deutschland
zählt. Als das Elterngeld eingeführt
wurde, war ich optimistisch. Angesichts
der jetzigen Politik hat sich meine Euphorie gelegt.
Wie stehen Sie zur Einführung von
Frauenquoten in großen Unternehmen?
BV: Ich bin entschieden dafür! Solange man an den männerbündlerischen
Strukturen nicht rüttelt, wird sich nichts
verändern. Quoten sind ein notwendiges Übel.
CM: Ich habe noch keine endgültige
Meinung zu diesem Thema. Doch vielleicht müssen wir da durch, um etwas
zu verändern.
Frauen Europas, vereinigt euch!
Wäre das ein guter Slogan?
BV: Klar! Warum wären wir sonst hier?
Für Deutschland ist es jedenfalls wichtig, nach Frankreich, Schweden oder
Italien zu schauen, sich die Augen zu
reiben und festzustellen, dass vieles
dort ganz anders ist. Nehmen Sie zum
Beispiel die Kinderbetreuung. Oder
die vielen Französinnen in Topstellen.
Zu sehen, dass die Nachbarn anders
leben und dennoch nicht neurotischer
oder blöder sind, das war doch mal ein
Schritt.
CM: Genau weil wir so unterschiedlich
sind, sind die Begegnungen spannend.
Ich reise oft nach Lateinamerika und
bin immer wieder aufs Neue fasziniert,
wie die europäische Kultur dort aufgenommen und dabei verändert wird.
Dieser Prozess von Verwandlung und
Bereicherung ist auch innerhalb Europas vorstellbar. 27
Paris 2010
Deutsch und französisch
voulez-vous
parler avec moi?
Wie Schüler für Fremdsprachen
begeistert werden sollen
Von MAtthias Lahr-Kurten
A
nlässlich des 40-jährigen Jubiläums des
Élysée-Vertrags 2003 erklärten Präsident
Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder, dass die jeweilige „Partnersprache“
entschlossen gefördert werden solle. Hintergrund
war die seit Langem sinkende Zahl der Schüler,
welche die Sprache des Nachbarlandes lernten.
Vor allem in den Schulen, wo die meisten
Menschen Fremdsprachen lernen, hat sich seitdem einiges getan: Im November 2004 wurde ein
Aktionsplan verkündet. Die Maßnahmen umfassen beispielsweise die Förderung des AbiBac, des
deutsch-französischen Abiturs, und der „classes
bilangues“ in Frankreich, bei denen die zweite
Fremdsprache zwei Jahre vorgezogen und parallel zur ersten Fremdsprache im collège begonnen
wird. So konnte der Abwärtstrend zumindest gestoppt werden, auch wenn zahlreiche Probleme wie
der Deutschlehrermangel in Frankreich bleiben
oder sich sogar verschärft haben.
Eine der Werbemaßnahmen zur Sprachförderung sind das DeutschMobil in Frankreich und
das FranceMobil in Deutschland, die vor allem
die Robert-Bosch-Stiftung finanziert. Seit Januar
2001 fahren junge Lektorinnen und Lektoren mit
derzeit zehn DeutschMobilen zu französischen
Schulen, um Schüler für die deutsche Sprache zu
begeistern. Aufgrund ihres großen Erfolges fahren
seit Herbst 2002 gegenwärtig zwölf FranceMobile
mit der gleichen Aufgabe zu deutschen Schulen.
Die FranceMobile fahren Deutschland flächendeckend ab, die DeutschMobile sind nur in etwa der
Hälfte der Regionen in Frankreich unterwegs.
Die Lektorinnen und Lektoren haben meist
gerade ihr Hochschulstudium abgeschlossen und
übernehmen die Aufgabe für ein Jahr. Auf Einladung der Schulen besuchen sie eine Unterrichtsstunde lang eine Klasse: Auf spielerische Weise
wird dann fast ausschließlich die Fremdsprache
benutzt und mithilfe transparenter Wörter – also
Wörter, die in beiden Sprachen gleich geschrieben
werden und die gleiche Bedeutung besitzen wie
„Banane“ oder „Tomate“ – gezeigt, dass die Sprache
nicht so schwer ist. Das ist wichtig, da sowohl dem
Deutschen in Frankreich als auch dem Französischen in Deutschland nachgesagt wird, eine schwere Sprache und elitär zu sein. Durch die Mobile stellen sich schnell erste kleine Lernerfolge ein, sodass
den Schülern diese Stunden meistens gut gefallen.
Dennoch sehen viele Experten die Mobile kritisch. Die Frage ist, ob Werbung für Sprachen eher
auf rationale Argumente oder Emotionen zurückgreifen sollte. Auch wenn die Lektorinnen und Lektoren der Mobile gute Argumente liefern, wollen sie
die Schüler in erster Linie auf der Gefühlsebene erreichen. Vertreter eines rationalen Ansatzes betonen
eher Fakten und Zahlen wie den Anteil des Bruttoinlandsprodukts am Handel mit dem Partnerland.
Daraus leiten sie ab, dass diejenigen, die beide Sprachen beherrschen, auf dem Arbeitsmarkt bessere
Chancen haben. Die Kritiker bezweifeln auch, dass
die Stippvisiten der Mobile an den Schulen einen
nachhaltigen Eindruck hinterlassen, während die
Befürworter die fehlende Konsequenz vor allem in
Frankreich kritisieren, wo die DeutschMobile nicht
flächendeckend vertreten sind.
Die Mobile bleiben jedoch ein sehr gutes Beispiel
dafür, wie Sprachförderung in Deutschland und
Frankreich den Kontakt und gute gemeinsame Erfahrungen mit Menschen aus dem Partnerland in den
Mittelpunkt stellt und so Menschen dafür gewinnt,
die Sprache des Nachbarlandes zu erlernen.
berlin 2012
29
Deutsch und Französisch
„Vorurteile sind
ein erster Schritt
zur Weisheit“
Der Übersetzer Jean-Pierre Lefebvre
erklärt die Geheimnisse der deutschen
und der französischen Sprache
Interview: Jeanne Turczynski
Herr Lefebvre, wie kamen Sie zur
deutschen Sprache?
Ziemlich spät. Ich wohnte am Ärmelkanal gegenüber von England. In der
Gegend studierte man Englisch oder
Naturwissenschaften. Nach dem Abitur
habe ich aber die Ferien in Konstanz
verbracht. Dadurch ist mir die deutsche
Sprache nähergekommen. Als ich in die
classe préparatoire kam, um mich auf
die Ecole normale superieure, die ENS,
vorzubereiten, hörte ich: Der Englischlehrer ist schlecht, aber der Deutschlehrer soll gut sein. So bin ich akademisch
zum Germanisten geworden und heute
sogar Mitglied der deutschen Akademie
für Sprache und Dichtung.
Deutsch sei so furchtbar schwer, heißt es in
Frankreich. Es gibt eine große Angst vor der
deutschen Grammatik. Verstehen Sie das?
Die Angst gibt es leider, aber sie ist total falsch! Deutsch ist viel leichter als
Englisch. Das ist der große Fehler der
Fremdsprachenpolitik der Regierung,
30
dass sie das nicht wahrnimmt. AirportEnglish ist eine eigene Sprache, ein
Kommunikationsmittel. Aber richtiges
Englisch ist sehr schwer.
Deutsch kam Ihnen nie schwer vor?
Nein. Möglicherweise, weil ich Latein
gelernt habe, das hilft. Die Deklinationen wirken nicht so befremdend. Aber
die logische strukturelle Ähnlichkeit
mit der französischen Sprache ist groß.
Insofern wäre die deutsche Sprache ein
extrem wirksames pädagogisches Mittel
für Schüler in Frankreich ab dem Alter
von zehn Jahren.
Aber wird in der Schule nicht eher die
Angst vor dem Sprechen vermittelt?
Ja, das ist eine große Tragödie. In Frankreich haben wir die besten Imitatoren
der Welt, die Menschen können Sprache
mit feinem Gefühl unterscheiden. Aber
in der Schule funktioniert das nicht.
Schüler schämen sich, blamieren sich,
haben Angst, dass man sie für doof hält.
Dabei ist es so: Wenn jemand Deutsch
spricht wie Charles Aznavour mit Pariser Akzent, das macht ja nichts. Das ist
egal, man darf mit einem fremden Akzent sprechen. Hauptsache, man wird
verstanden.
Sie haben über Heine promoviert und sind
ein begeisterter Heine-Fan. Haben Sie auch
andere Autoren übersetzt?
Ich habe sehr viel übersetzt: Marx, Hegel, Brecht und Hölderlin. Dann, etwas
später, Paul Celan. Inzwischen habe ich
bei dem Verlag Gallimard eine zweisprachige Anthologie deutscher Lyrik
veröffentlicht. Und momentan stecke
ich bis zum Hals in der Übersetzung
von Stefan Zweig, da die Urheberrechte
bald frei werden.
Sie haben Paul Celan persönlich kennengelernt. Wie war das?
Mitte der 1960er-Jahre kam Celan an
die ENS. Wir haben mit ihm Prosatexte
übersetzt und er hat uns immer fantastische Übersetzungen geliefert. Sie waren
niemals schwebend oder weit vom Text
entfernt, sie waren immer präzise. Er
hat bewiesen, dass eine anspruchsvolle
Übersetzung in die deutsche Sprache
möglich war. Dass man nicht auf das
foto: Verena Hägler
Jean-Pierre Lefebvre beim Gespräch in München
Paris 2010
„à peu près“ (das Ungefähre) angewiesen war. Man muss die Deutung so
verinnerlicht haben, dass man das anderswo sagen kann, mit anderen Mitteln. Aber, wenn man Lyrik übersetzt,
ist man natürlich immer auf das „à peu
près“ angewiesen.
Wie übersetzt man die wirklich
schwierige deutsche Lyrik?
Man muss davon ausgehen, dass man
auf manches verzichten muss. Es ist viel
schwieriger, Eichendorff zu übersetzen
als die Gedichte Celans, weil man auf
der Ebene der Deutung von Eichendorff
nichts erwarten kann. Das ist Musik,
eine kleine Geschichte, wenig übersetzbar. Eichendorff war wirklich meine
schlimmste Erfahrung als Übersetzer,
ein ziemlicher Frust. Die ganze Musikalität des Gedichts kommt abhanden und
es bleibt nur ein Skelett von zwei oder
drei Gedanken, die kaum Gedanken
sind. Bei Celan hingegen wird etwas vermittelt über das Spiel mit der Sprache,
über den semantischen Hintergrund der
Sätze und Worte, und zwar über den po32
Die Deutsche sprache ist immer
sehr gastfreundlich gewesen
litisch-geschichtlichen Hintergrund der
Aussagen. Bei Celan beginnt die Übersetzungsarbeit immer mit der Deutung.
Das hat er auch theorisiert: Man muss
daran arbeiten, bis man das Gedicht verstanden hat – was bei Eichendorff oder
Rilke weniger der Fall ist.
Wie lange haben Sie an Celans
„Todesfuge“ gearbeitet?
Ich habe das Gedicht Mitte der 1990erJahre zum ersten Mal veröffentlicht. Celans Witwe Gisèle hatte mich gebeten,
es zu übersetzen. Später kamen neue
Celan-Ausgaben, da habe ich wieder
Dinge geändert. Ein Beispiel: „Er hetzt
seine Rüden auf uns“. Diesen Satz habe
ich immer wieder geändert. Beim ersten
Mal habe ich die „Rüden“ übersetzt mit
„ses grands chiens“, weil „chiens“ ein
starkes Wort ist. Das normale Wort für
Rüden wäre „Bluthunde“ oder „Doggen“,
also „dogue“ im Französischen. Das Problem dabei: Das klingt englisch, diese
Übersetzung ist also unmöglich und
ausgeschlossen. „Chien de guerre“ (in
etwa: „Kriegshund“) habe ich ausprobiert, aber das ist zu kompliziert. Später entdeckte ich das Wort „molosse“ (in
etwa: „Hof hund“), da gibt es das „SS“
im Wort – damit wird ganz viel gesagt.
In den letzten zehn Jahren gab es verschiedene Gedichtausgaben von Celan –
und jedes Mal habe ich etwas geändert.
Was haben Sie von Celan über die
deutsche Literatur gelernt?
Er unterhielt Deutschland gegenüber
ein feindliches Verhältnis. Selbst gegenüber Thomas Mann und Theodor Adorno. Von ihm habe ich zwar viel über die
deutsche Sprache gelernt, aber nichts
über die deutsche Literatur. Das wollte
er auch nicht, das war Absicht.
berlin 2012
Ist es Ihnen manchmal auch sehr leicht
gefallen, etwas zu übersetzen?
Es gibt Gedichte, da ist das Übersetzen
wirklich eine Zumutung. Gedichte von
Christian Morgenstern beispielsweise.
Wenn man es dann schafft, ist man zufrieden. Mir gefällt der Ton der Übersetzung eines Gedichts von Conrad
Ferdinand Meyer: „Stapfen“. Es ist ein
melancholisches Gedicht, wo ein Junge
an der Seite eines Mädchens nach Hause
geht – und es passiert nichts zwischen
den beiden, aber es passiert das Gefühl.
Sie erwähnten das Airport-Englisch. Blutet
Ihr Herz, wenn Sprache von Anglizismen
durchsetzte wird?
Die deutsche Sprache ist immer sehr
gastfreundlich gewesen. Es ist ein Vorteil des Deutschen, dass es so viel von
anderen Sprachen übernimmt. Und das
passiert fast immer in Sprechsituationen,
in denen es leichter ist mit einem englischen Wort. Beispielsweise der „Trend“
– das ist zum deutschen Wort geworden
und es stört keinen. Niemand überlegt
sich, wo das herkommt. Die französi-
sche Sprache ist nicht so gastfreundlich.
Aber eine Sprache ist ein ökonomisches
System. Sie ist, soweit es geht, sparsam.
Wenn die Zwangsjacke zu eng wird,
dann findet man andere Lösungen, und
die beobachtet man als Übersetzer. Das
Kriterium ist ganz einfach. Wenn ein
Wort sich durchsetzt, dann nur, weil
man es braucht. Ein Beispiel aus dem
Französischen: „une espèce de fogue“
(„eine Art Nebel“). Was könnte man
sonst verwenden: „brouillard“, „brume“ – aber das ist nicht das Gleiche wie
„fogue“ – das ist eine Mischung aus
Feuchtigkeit, Dreck und all dem in der
Stadt. Bei „brouillard“ und „brume“ geht
das Städtische verloren. Bei „fogue“ hingegen ist man nicht auf der Wiese.
Welche deutsche Literatur sollte man gelesen
haben, um Einblick in die deutsche Literatur zu bekommen?
Heinrich Heine zum Beispiel. Aber man
sollte sich davon überzeugen, dass es
in Deutschland nicht nur Romantiker,
Goethe und Thomas Mann gibt, sondern auch andere Schriftsteller. Wissen
Sie, das Schlimmste an der gegenseitigen Beurteilung sind nicht die Vorurteile, sondern, wenn es sie nicht gibt!
Weil das Vorurteil ein erster Schritt zur
Weisheit ist. Dann darf man die Leute
enttäuschen, man hat einen Anfang!
Würden Sie sagen, man ist als Übersetzer
der Fährmann zwischen den Kulturen?
Nein, die Metapher ist völlig falsch für
die Arbeit als Übersetzer. Das ist sprachlich gegeben. Die Fährmann-Metapher
schließt ein, dass man ein Paket mitnimmt und überträgt. Man wäre dann
ein „porteur“, ein Träger – aber das gibt
es nur im Himalaja. Da trägt einer die
Last tagelang. Es ist eine schöne, melancholische romantische Metapher – aber
sie ist wertlos.
Was war Ihrer Meinung nach das wichtigste Buch, das Sie übersetzt haben – und bei
dem Sie am meisten getan haben für den
Kulturdialog der beiden Länder?
Die wichtigste Übersetzung war für
mich Hegels „Phänomenologie des
Geistes“ – die wichtigste Entdeckung
war sicher Paul Celan. 33
AnstoSSen
Wein und bier
Der feine Unterschied
Von Stephen Clarke
I
m September 2012 hielt Präsident François Hollande in
Ludwigsburg eine eigenwillige Rede zum 50. Jahrestag der
deutsch-französischen Freundschaft. Er verglich die Beziehung beider Staaten mit der eines „alten Paares, das schon lange
zusammen ist und manchmal die Orientierung verliert“. Das
klang weniger nach einer Freundschaftserklärung als nach einer Entschuldigung für Senilität oder Ehebruch, es klang wie
die Erkenntnis, dass sich beide Partner entfremdeten.
Noch bis knapp vor seiner Wahlniederlage im Mai 2012
riet Nicolas Sarkozy seinen Bürgern, sie sollten „arbeiten wie
die Deutschen“. Eigentlich meinte er damit, dass die französischen Arbeiter, Gewerkschaften und Chefs mehr Gewinn vom
Leben hätten, würden sie gemeinsam aushandeln, wie alle die
Rezession durchstehen könnten, statt sich nach alter französischer Sitte gegenseitig die Schuld am Ganzen zuzuschieben,
während die Wirtschaft den Bach runtergeht. Die Franzosen
verstanden den Aufruf jedoch als „mehr arbeiten, um mehr
zu verdienen“. Solches Denken ist den meisten Franzosen verhasst, die es (vernünftigerweise, finde ich) vorziehen, gerade
genug zu arbeiten, um sich ihren bequemen Lebenswandel
und anständige Altersbezüge leisten zu können – mehr nicht.
Die Franzosen sehen es als ihr Grundrecht an, ihren Chef
zu verachten und sich über ihren Job zu beklagen, selbst vor
der Kundschaft. Die deutsche Einstellung, dieser Job sei „eine
Beschäftigung, für die ich bezahlt werde, und daher bin ich
meinem Arbeitgeber wenigstens moralisch halbwegs verpflichtet“, geht ihnen beinahe völlig ab. Das soll nicht heißen,
in Frankreich wäre der Kundendienst schlecht. Vielmehr hatte
ich in Deutschland manchmal das Gefühl, nur aus moralischem Zwang heraus ordentlich bedient zu werden, wohingegen in Frankreich hervorragende Dienstleistung mitunter eine
Art soziale Vergeltung ist – der Angestellte gibt dem Kunden
mehr als das Erwartete und nimmt somit dem Chef einen Teil
seines Profits.
Die Franzosen richten ihr Augenmerk auf die Lebensqualität. Sie legen es auf lange Mahlzeiten und geschliffene
Konversation an. Die Deutschen gleichen eher uns Briten.
Wir wissen unsere Essenszeiten zu schätzen, aber sie sollen
nicht den ganzen Tag dauern. Statt an schlauen Gesprächen
erfreuen wir uns an spöttischem Geplänkel und gemeinsamen
Zechereien ohne begleitende Speisen.
Aber die Deutschen haben kein Monopol auf harte Arbeit. Die Franzosen arbeiten durchaus (außerhalb ihrer langen Ferien), und ihre Beachtung der Lebensqualität bringt der
Wirtschaft gewaltige Vorteile. Nicht zufällig exportiert gerade
Frankreich Luxusmarken und Delikatessen in alle Welt.
Beim Essen unterscheiden sich die beiden Länder wahrscheinlich am stärksten. Die Franzosen sehen in den Deutschen
(zu Unrecht) ein Volk, das sich nur von Sauerkraut, Würstchen
und Bier ernährt. Dabei vergessen die Franzosen, dass sie selbst
ganz ähnliche Sachen essen und trinken, und sehen stillschweigend über die Existenz deutschen Weins hinweg.
Frankreich ist in seinem Kern eine Nation von Weintrinkern. Das Land hat ein Gespür für die eigene Veredelung und
ist trotz aller Beteuerungen von Gleichheit ausgesprochen
klassenbewusst – schließlich kann eine „gute“ Flasche Wein
tausendmal mehr kosten als ein „vin ordinaire“.
Die Deutschen sind ihrem Wesen nach Biertrinker und
daher weniger snobistisch und stärker nutzenorientiert. Sie
trinken, um angespannte Lebenslagen erträglicher zu machen
und beisammen zu sein, statt aus beinahe intellektuellem Genuss an einer „guten“ Flasche.
So überrascht es nicht, dass der Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland zu den Gründen gehörte, deretwegen
Monsieur Sarkozy die Präsidentschaftswahl verlor. Und das
könnte einer der wahren Gründe gewesen sein, weshalb der
Sieger, Monsieur Hollande, seinen deutschen Nachbarn gegenüber eine gewisse, wenn auch verhaltene Herzlichkeit zum
Ausdruck brachte. Paris 2010
Aus dem Englischen von Johannes Sabinski
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Je näher man sich kommt, desto mehr sieht
man die Unterschiede. Aber die Unterschiede
sind das Wertvolle in Europa. Thomas Ostermeier, künstlerischer
Leiter der Berliner Schaubühne und Präsident des Deutsch-Französischen Kulturrates
Ich wundere
mich Immer
wieder über
dieses ganz
spezielle
Pariser Flair.
Klaus Wowereit, Regierender
Bürgermeister von Berlin
Das deutsch-französische
Paar hat viele gute Chancen,
dauerhaft zu bestehen,
aber es sollte sich nicht mit
einem gemeinsamen Konto
zufriedengeben.
Véronique Cayla, Präsidentin von Arte
Berlin und Paris teilen eine Reihe von Werten, die die Rolle von Metropolen
in Europa und der Welt definieren: eine aktive Solidarität zugunsten eines
Dialogs zwischen den Kulturen und des Friedens zwischen den Völkern.
Bertrand Delanoë, amtierender Bürgermeister von Paris
Impressum
Herausgeber
Institut für Auslandsbeziehungen
Ronald Grätz, Generalsekretär des ifa
Chefredakteurin
Jenny Friedrich-Freksa
Art DireKtion
Christine Rampl
Redaktion
Rosa Gosch, Claire-Lise Buis
mitarbeit
Christine Müller
Schlussredaktion
Kathrin Kurz
Deutschland und Frankreich: Es ist ein
Paar, das gut zusammenpasst. Es ist
vielleicht nicht mehr die leidenschaftliche Liebe, aber nach 50 Jahren bleibt
das Wesentliche: das Wohlwollen und
die Zärtlichkeit. Pierre Gagnaire, Starkoch
Zusammengestellt von Claire-Lise Buis
Anschrift der Redaktion
KULTURAUSTAUSCH
Institut für Auslandsbeziehungen
Linienstraße 139/140, D-10115 Berlin
Anschrift des Herausgebers
Institut für Auslandsbeziehungen
Charlottenplatz 17, D-70173 Stuttgart
DRUCKEREI
Kartenhaus Kollektiv Regensburg
Eine Publikation im Rahmen der
Maßnahmen des Auswärtigen Amtes zum
50. Jubiläum des Élysée-Vertrags.
Die Deutschen sind immer
gut gelaunt, haben so
eine andere Mentalität und
eine ganz andere Kultur.
Franck Ribéry, Fussballer