Versteh mich nicht falsch
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Versteh mich nicht falsch
Versteh mich nicht falsch Ein Heft über Deutsche und Franzosen 1,75 11 55.000 MiLLionen schÜLer in Deutschland der vierundzWanziG fussbaLLLändersPieLe zwischen Deutschland ehen zWischen deutschen und franzosen gibt es zur Zeit. und Frankreich gewannen die Franzosen. Deutschland siegte sieben Mal. In sechs Fällen ging die Partie unentschieden aus. Deutsch-französische Ehen sind damit die am häufigsten vorkommenden multinationale Ehen in Europa. 14 168 Prozent der deutschen sPrechen Französisch, während MiLLiarden euro betrug das handeLsvoLuMen zwischen Deutsch- sechs Prozent der Franzosen Deutsch sprechen. land und Frankreich im Jahr 2011. 1.078 französische bÜcher wurden 2009 ins Deutsche übersetzt. 2010 wurden 298 belletristische Titel aus dem Französischen ins Deutsche übertragen. 8 MiLLionen JuGendLiche nahmen seit der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) 1963 an rund 300.000 Programmen teil. 2011 waren es etwa 195.000 Jugendliche. 30.000 eXeMPLare des roMans „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann wurden in Frankreich verkauft. Der Roman ist damit das meistgelesene deutsche Buch der letzten Jahre. QueLLen: Auswärtiges Amt, Allociné, Centre national du cinéma et de l‘image animée, Deutsch-Französisches Jugendwerk, Deutscher Fußball-Bund, Deutsches Statistisches Bundesamt, De magazine Deutschland, Deutsche Botschaft Frankreich, eurostat, FplusD, Goethe-Institut, Ministère de l‘education nationale, netzwerk Deutsch, Institut français, Inside Kino, Institut national de la statistique et des études économiques 100 verschiedene französische fiLMe laufen pro Woche in den deutschen Kinos. Der meistgesehene Film 2012 ist mit knapp 8,5 Millionen Besuchern „Ziemlich beste Freunde“. Mit 1,8 Millionen Besuchern ist „Der Pianist“ der meistgesehene deutsche Film in Frankreich. Jeder 4. nach deutschLand iMPortierte Wein kommt aus Frankreich. Jede 12. Praline in Frankreich kommt aus Deutschland. 7,1 2.200 städtePartnerschaften und 22 Regionalpartnerschaften verbinden Deutschland und Frankreich. Außerdem gibt es 4.300 Schulpartnerschaften, 2.400 Universitätskooperationen und 160 Universitätspartnerschaften. 114.372 franzosen hatten im Jahr 2011 einen festen Wohnsitz in Deutschland, davon jeder sechste in Berlin. In Frankreich wohnen 126.429 Deutsche. 7 Prozent ihrer Ausgaben verwendeten Goethe-institute gibt es in Frank- die privaten Haushalte in Frankreich im Jahr 2011 für café- und restaurantbesuche. In Deutschland waren es nur 5,9 Prozent. reich, unter anderem in Lille, Paris, Toulouse und Nancy. Deutschland beheimatet elf Instituts français, etwa in Berlin, Köln, Dresden und Hamburg. Zusammengestellt von Michèle Mertens lernten im Jahr 2010 Französisch, das ist jeder Fünfte. Französisch ist damit nach Englisch die zweitwichtigste Fremdsprache in Deutschland. In Frankreich lernten im Jahr 2010 1,04 Millionen Schüler Deutsch. die deutschen, die franZosen f ünfzig Jahre sind sie jetzt zusammen: Frankreich und Deutschland. Was ist das für ein Verhältnis? Vernunftehe, Freundschaft, vielleicht sogar Liebe? In diesem halben Jahrhundert gab es von allem ein bisschen. Als Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer am 22. Januar 1963 im Pariser Élysée-Palast den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag unterzeichneten, setzten sie damit den Grundstein für enge Beziehungen in Politik und Wirtschaft, in der Kultur und im Jugendaustausch. Anlaß dieses Sonderhefts ist der fünfzigste Jahrestag des Élysée-Vertrags. Wie steht es um die deutsch-französischen Beziehungen heute? Wer sind die Menschen, die sie mit Leben füllen? Und welche Rolle spielt diese besondere Freundschaft heute in Europa? Ein Frage, die alle Europäer zurzeit stark bewegt. 3 Jean-Pierre Lefebvre, geboren 1943 in Boulogne-sur-Mer, ist Professor für Germanistik an der École Normale Supérieure in Paris. Er zählt zu den bekanntesten französischen Übersetzern und hat unter anderem Paul Celan, Heinrich Heine und Rainer Maria Rilke ins Französische übertragen. Der Konzeptkünstler Jochen Gerz, geboren 1940 in Berlin, lebte von 1966 bis 2007 in Paris. Bekannt wurde er 1986 mit dem Mahnmal gegen den Faschismus in Hamburg-Harburg. Sein jüngstes Projekt heißt „2-3 Straßen“ und ist im Ruhrgebiet entstanden. Gerz lebt seit 2008 in Kerry, Irland. Carsten Keller, geboren 1971, ist Professor an der Universität Duisburg-Essen und forscht am deutsch-französischen Zentrum Marc Bloch in Berlin. Marc-Olivier padis, geboren 1968 in Dijon, ist Chefredakteur des französischen Magazins Esprit und Redaktionsmitglied beim Onlinemagazin Eurozine, einem Netzwerk europäischer Kulturzeitschriften. 4 Oskar Piegsa, geboren 1984 in Goslar, ist Redakteur bei ZEIT Campus, dem Hochschulmagazin der ZEIT. Er lebt in Hamburg. Im gespräch: Gila Lustiger, geboren 1963 in Frankfurt am Main, lebt seit 1987 als Lektorin und Schriftstellerin („So sind wir“) in Paris. Sie ist in Deutschland aufgewachsen und hat in Israel studiert und gearbeitet. Wilfried N’Sondé, geboren 1968 in Brazzaville im Kongo, kam mit fünf Jahren nach Paris. Er wuchs in der Banlieue auf und studierte Politikwissenschaft an der Sorbonne. Der Schriftsteller („Das Herz der Leopardenkinder“) ist mit einer Deutschen verheiratet und lebt in Berlin. Vincent Baudriller, geboren 1968, ist seit 2003 Intendant des internationalen Festival d’Avignon, des größten europäischen Theaterfestivals. Im Januar 2012 erhielt er den Ordre des Arts et des Lettres des französischen Kulturministeriums. Baudriller ist mit einer Deutschen verheiratet und lebt in Avignon. Sandra Kössler, geboren 1986 in Stuttgart, studierte in Eichstätt und Rennes und ist Redakteurin bei dem deutsch-französischen Magazin ParisBerlin in Berlin. Daniela Schwarzer ist Politologin und leitet die Forschungsgruppe EU-Integration der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Zwei Briten denken über Deutschland und Frankreich nach: Der Politologe Colin Crouch, geboren 1944, ist auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Bekannt wurde er mit seiner Arbeit zur Postdemokratie. Der Schriftsteller Stephen Clarke, geboren 1958 in Bournemouth, studierte Französisch und Englisch an der Universität Oxford und lebt in Paris. Sein Buch „Ein Engländer in Paris“ wurde bisher in 17 Sprachen übersetzt. Im Gespräch: Barbara Vinken (rechts), geboren 1960 in Hannover, ist Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin. Zu ihren bekanntesten Werken zählt „Die deutsche Mutter“, in dem sie sich mit der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf befasst. Catherine Millet (links), geboren 1948 in Paris, ist Chefredakteurin der Kunstzeitschrift art press. In Deutschland wurde sie 2001 mit ihrem autobiografischen Buch „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ bekannt. Matthias Lahr-Kurten, geboren 1974 in Mainz, forscht an derJohannes GutenbergUniversität Mainz über Sprachpolitik und Förderung des Deutschen im französischen Bildungssystem. FOTOS: (Von links nach rechts) Verena Hägler (1), Claire-Lise Buis (2), gezett (3), privat (4), privat (5), picture-alliance/dpa (6), Ilka Kramer / Festival d’Avignon (7), Jürgen Bauer (8), Natacha Henry (9), privat (10), Ali Ghandtschi (11, 12), privat (13), privat (14) Autoren INHALT 02 Ein paar Zahlen 06 „Zu Hause ist dort, wo ich mich wohlfühle“ Die Autoren Wilfried N’Sondé und Gila Lustiger über das, was deutsch und was französisch ist Ein Gespräch 18 Die nationale Rechnung Welche Art von Freundschaft wollen die Deutschen, Franzosen, Europäer heute? Von Marc-Olivier Padis 21 Neue Krise – alte Klischees 34 Wein und Bier Der feine Unterschied Von Stephen Clarke 35 Ein paar Zitate Über die politische Zusammenarbeit in schwierigen Zeiten Von Daniela schwarzer 10 Wut und Chance Wie Jugendliche mit ausländischen Wurzeln in Deutschland und Frankreich erwachsen werden Von Carsten Keller 12 Vor Ort Was sich Clichy-sous-Bois und Berlin-Neukölln zu erzählen haben Von Sandra Kössler 14 Demokratien gehen sehr schnell unter 22 Schaut nach Norden In der Sozialpolitik bieten weder Deutschland noch Frankreich gute Modelle. Europa sollte nach Skandinavien blicken Von Colin Crouch 24 Wie emanzipiert sind wir? Die Autorin Catherine Millet und die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken über gesellschaftlichen Fortschritt Ein Gespräch Ein Interview 29 Voulez-vous parler avec moi? Der Intendant Vincent Baudriller glaubt an die erneuernde Kraft des Theaters Von Matthias Lahr-Kurten Der Konzeptkünstler Jochen Gerz will, dass Politik nicht nur in Parlamenten gemacht wird Wie Schüler für Fremdsprachen begeistert werden sollen Ein Interview 16 Die Mega-Macher 30 „Vorurteile sind ein erster Schritt zur Weisheit“ Von Oskar Piegsa Ein Interview FOTO: Chloe Vollmer Lo In einem gemeinsamen Studium lernen Deutsche und Franzosen, wie Europäer sich besser selbst verwalten Der Übersetzer Jean-Pierre Lefebvre erklärt die Geheimnisse der deutschen Sprache. Alle Illustrationen in diesem Heft stammen von dem französischen Comiczeichner Wandrille. Er nimmt an dem Projekt „ComicTransfer“ des Goethe-Instituts teil, bei dem Illustratoren auf Reisen geschickt werden, um ihren Blick auf fremde Städte zu zeigen. Für uns schaut Wandrille auf die Menschen in Paris und Berlin. Wandrille, geboren 1977 in Paris, studierte an der Kunsthochschule EnsAD (École nationale supérieure des Arts Décoratifs). 2004 gründete er den Comicverlag Warum und 2008 mit Benoît Preteseille den Verlag Vraoum. Außerdem betreibt er einen Comicblog und arbeitet als Grafiker und Spielgestalter in Berlin und Paris. 5 Heimat „Zu hause ist dort, wo ich mich wohlfühle“ Wilfried N’Sondé und Gila Lustiger sprechen darüber, was deutsch und was französisch ist Zwei Autoren im Gespräch: Wilfried N’Sondé (links) und Gila Lustiger (rechts) Fotos: Ali Ghandtschi (links), ullstein bild - Jürgen Bauer (rechts) Interview: claire-lise Buis Frau Lustiger, Herr N’Sondé, möchten Sie, dass wir Deutsch oder Französisch sprechen? Wilfried N’Sondé: Wie Sie möchten! Gila Lustiger: Mir ist beides recht. Ist Französisch Ihre Muttersprache? WNS: Es ist zumindest die Sprache, die im Kongo, wo ich herkomme, gesprochen wird. Wobei Muttersprache kein zutreffender Begriff ist, denn in Afrika wächst man mit mehreren Sprachen auf. Die Sprache der Mutter ist nicht immer die des Vaters. Hinzu kommt bei den meisten Französisch, Englisch oder Portugiesisch. Bei uns war es Französisch. Meine Mutter spricht mich heute noch in der Bantusprache Kikongo an. GL: Von den Kindern aus der Banlieue weiß man, dass sie durchschnittlich drei Sprachen beherrschen. Der Staat weiß das leider nicht zu schätzen. Meine Kinder sind auch mehrsprachig aufgewachsen. Eine Lehrerin war der Meinung, das könnte sich störend auf ihre Lernfähigkeit auswirken. Darauhin habe ich sie bei einer Privatschule angemeldet. Es ist doch eine große Bereicherung, wenn Jugendliche zwischen den Sprachen und den Kulturen hin und her wandeln. WNS: Ja, aber das wird in Frankreich nicht gefördert. Ist es in Deutschland anders? GL: Deutschland hatte nicht so viele Kolonien, es ist immer sehr europäisch geblieben. Afrika oder Nordafrika hingegen gehörten zu Frankreich. Es wäre schade, die kulturellen Beziehungen, die daraus entstanden sind, zu vergessen. WNS: Das Problem ist aber die historische Schizophrenie, die in dieser Kolonialgeschichte steckt. Einerseits war die Kolonisation als Zivilisationsprojekt auf der Grundlage der Menschenrechte konzipiert. Andererseits betrachtete man die „indigènes“, die „Einheimischen“ nicht als Gleiche. Das, was sie zu sagen hatten, war nicht wertvoll, gar anstößig. In Berlin habe ich aber auch festgestellt: Zweisprachig zu sein, ist hoch angesehen, wenn man Deutsch und Französisch kann – weniger aber, wenn man Deutsch und Türkisch kann. GL: Es gibt ja überall Vorurteile gegenüber armen Migranten. Im Frankfurt der 1970er-Jahre gab es viele Ausländer, die im Bankensektor arbeiteten. Aber man ging nicht ohne Bedenken zur italienischen Eisdiele. In meinem bürgerlichen Milieu waren wir vor allem von den amerikanischen Soldaten fasziniert, die in der Nähe stationiert waren und mit Muskeln und Stereoplayern protzten. Das waren unsere ersten Begegnungen mit Ausländern in einer damals noch sehr spießigen Stadt. WNS: Als wir 1973 in Melun in der Nähe von Paris ankamen, wohnten bei uns im Haus eine libanesische Familie, außerdem bretonische Polizisten, die ein Kind aus Laos adoptiert hatten, dann noch Marokkaner, algerische Juden und Portugiesen. Diese Mischung hat mich geprägt. Herr N’Sondé, wie sind Sie nach Berlin gekommen? WNS: Ich bin im Dezember 1989 nach Berlin gefahren, weil ich die Stadt nach dem Mauerfall erleben wollte. Ich war so naiv zu glauben, dass die Welt sich verändern würde. Silvester dort zu feiern, war gigantisch! Kreativität und Hoffnung lagen in der Luft. Ich habe auf einer Baustelle gearbeitet, als Kellner, Übersetzer, Sozialarbeiter. Ich stand sogar als Weihnachtsmann auf dem Alexanderplatz. Und wie sind Sie nach Paris gekommen, Frau Lustiger? GL: Ich bin wegen der Liebe nach Paris gegangen. Ich pendele heute jedoch sehr viel zwischen mehreren Städten. Mein Alltag findet aber in Paris statt. Was bedeutet für Sie Heimat? GL: Für mich ist Heimat ein obsoleter Begriff, der die Realität der heutigen Arbeitswelt völlig verkennt. Schauen Sie die Generation meiner Kinder an. Sie sind 19 und 22 Jahre alt. Sie wer7 den in ihrem Leben mehrere Berufe haben, an verschiedenen Orten leben und zwangsläufig mehrere Länder und Kulturen kennenlernen. Mobilität ist selbstverständlich geworden. Die Nation oder das Nationalgefühl hingegen sind Erfindungen aus dem 19. Jahrhundert. Warum sollte ich mich darüber definieren? Ich könnte auch sagen: Ich bin eine Frau, Jüdin, braunhaarig, an Buddhismus interessiert, Schriftstellerin, Vegetarierin. Ich bin in mehreren Städten und mehreren Kulturen unterwegs und will mich nicht festlegen. Dazu stehe ich. Für die jüngeren Generationen ist es aber gar keine Frage der Entscheidung: Sie haben keine Wahl. WNS: Ich bin nicht auf der Suche nach einem Ort, wo ich mich zu Hause fühle, sondern mein Zuhause ist überall dort, wo ich mich wohlfühle. Meine Kinder haben einen deutschen und einen französischen Pass. Meine Tochter lernt Koreanisch, sie will in Korea studieren. GL: Mein Sohn hat sich für Indien entschieden. Fühlen Sie sich nicht manchmal doch französisch oder deutsch? WNS: Ich mag die Idee, dass Frankreich die Wiege der Menschenrechte ist, und identifiziere mich gerne damit. In Berlin fühle ich mich dann als Franzose, wenn ich etwas vermisse. Das hat viel mit dem Essen zu tun: Einkäufe auf großen Wochenmärkten, große Tafeln, das feuchtfröhliche Beisammensein. Die Deutschen sind schon ziemlich ernst. GL: Meine französischen Freunde sagen oft, ich wäre nicht „leicht“ genug. Leichtigkeit ist aber wie Schaum. Warum sollte es eine positive Eigenschaft sein? (lacht) WNS: Am Anfang lag ich oft daneben mit meinem Humor. In intellektuellen Kreisen gibt es in Deutschland Dinge, über die man nicht lachen darf. GL: Ich lache aber ganz gerne! WNS: Ja, es sind alles nur Verallgemeinerungen, die wir hier verbreiten. (lacht) GL: Bei mir ist es so: Ich fühle mich deutsch, wenn ich hier in Paris ein deutsches Theaterstück sehe. Ich spüre, dass ich dieselben Referenzen habe. Es spricht mich an. Ansonsten bei Spaziergängen im Wald. In Frankreich waren die Wälder im Besitz von adligen Familien und für die Jagd angelegt. Naturbelassen sind sie aber schöner. 8 Wilfried N’Sondé: In Deutschland liege ich oft daneben mit meinem Humor. In intellektuellen Kreisen gibt es hier Dinge, über die man nicht lachen darf Gila Lustiger: Ich lache aber ganz gerne! Kehren Sie oft in die Länder Ihrer Großeltern – in den Kongo und nach Israel – zurück? WNS: Ich bin nur einmal in den Kongo gefahren. Das liegt daran, dass dort ein Bürgerkrieg tobte und dass ich mich nicht besonders mit diesem Land verbunden fühle. Wie war die Rückkehr? haben meine Freunde gefragt. Doch ich empfand das nicht als Rückkehr: Es war lediglich eine neue Entdeckung. GL: Ich verstehe nicht, warum Identität und Herkunft so wichtig sein sollten. Ich rede lieber über Literatur. Die Familie, die Vorfahren, spielen in Ihren Büchern eine außerordentliche Rolle. Hat das nicht mit Herkunft zu tun? WNS: In meinem ersten Roman „Das Herz der Leopardenkinder“ wird ein junger Mann verhaftet und erinnert sich langsam an seine Tat und daran, was ihm vorgeworfen wird. Dabei hört er die Stimme der Ahnen. Mit Afrika hat das aber nichts zu tun. Denn die Geschichte ist nicht ortsgebunden. Ahnen sind in vielen Kulturen zu finden. Das Buch wurde ins Koreanische übersetzt und mein Verleger dort dachte, ich sei Buddhist. Unser Verhältnis zu unseren Vorfahren und unseren Toten berührt die Geschichte der Menschheit – in Afrika ebenso wie in Asien oder Europa. Denken Sie nur an den Tod Jesu und die Verehrung des Vaters. Wer wo geboren ist, das ist doch nicht wichtig. In einem Theaterstück habe ich diese Logik so weit getrieben, dass alle Figuren gar keinen Namen haben. Ich schreibe nie etwas, weil ich aus dem Kongo komme. Wir Schriftsteller bearbeiten menschliche Knete und sonst nichts. GL: Diese Knete besteht aus Erinnerungen, Traumata, Erfahrungen aus der Kindheit, die universell sind. Ich war einmal in einem literarischen Kolloquium mit Schriftstellern aus der ganzen Welt. Wir haben festgestellt, dass wir alle etwas gemeinsam haben – nämlich die Erfahrung der Demütigung. Der eine war als Homosexueller gebrandmarkt worden, der andere fühlte sich als Kind geschiedener Eltern anders. Bei mir war es so, dass ich die einzige Jüdin in meinem Gymnasium war. Dieses Gefühl des Andersseins, das ist das, was wir teilen und was überall gleich ist. WNS: Da bin ich mit Ihnen nicht ganz auf einer Linie. Berlin hat mir ganz klar die Gelegenheit gegeben, einen Ausweg aus dem Problem der Identität zu finden. Bis 1989 war ich Franzose afrikanischer Herkunft. An meiner Pariser Universität gab es auch Afrikaner, aber aus Afrika. Für sie waren wir Weiße. Für den Rest der Bevölkerung – die Polizei zum Beispiel – waren wir aber schwarz. Berlin bot mir dann eine Chance: Schwarze Franzosen gab es dort keine. Ich konnte bei null anfangen, mich erfinden. Mein Leben hat sich verändert, weil ich sozusagen aufgehört habe, schwarz zu sein. Foto: Claire-Lise Buis GL: Mit Berlin als Stadt hat das aber wenig zu tun, sondern mit der Tatsache, dass Sie sich vom Blick des anderen befreien konnten. Selbstverständlich ist man immer jemand aus der Sicht des anderen. Doch man ist nie gezwungen, diese Identität anzunehmen. In Deutschland werde ich eine jüdische Schriftstellerin bleiben, diejenige, deren Vater den Holocaust überlebt hat, die das thematisiert hat. In Frankreich, in Spanien bin ich aber eine deutsche Schriftstellerin. Trotzdem bleibt es mir frei, mich von diesem Blick unabhängig zu machen. Denken Sie, dass es heute leichter ist, anders zu sein? GL: Sehen Sie sich doch die Jugendlichen an: Es gibt viele Gruppen – Tätowierte, Gothics, Aquapunks – und Subkulturen. In Paris, Berlin oder London kann man sich sogar seine Sexualität aussuchen – wie Joghurt im Supermarkt. Da spielt die Nationalität überhaupt keine Rolle, sondern es sind globale, urbane Phänomene. Noch nie hatte man so viel Freiheit, im Westen zumindest. Ich war Gastdozentin auf einem amerikanischen College. Dort gibt es Studentenwohnheime für Juden, Buddhisten oder Transsexuelle. Sind die USA ein Vorbild für Europa? WNS: In Frankreich wird das amerikanische Modell als „Kommunautarismus“ kritisiert. Doch es ist heuchlerisch, denn bei uns gibt es auch Parallelgesellschaften. Die größte und mächtigste Gruppe besteht aus Christen und Weißen. Sie sind so allgegenwärtig in der Politik und den Medien, dass sie sich selbst nicht als Gruppe wahrnehmen. Wenn sich aber andere mobilisieren, werden sie kritisiert. GL: Gerade weil es in Frankreich solche Debatten gibt, reagiere ich so allergisch auf den Begriff der Identität. Um die Wähler der rechtsextremen Partei Front National zu locken, hatte Nicolas Sarkozy ein Ministerium für nationale Identität und Einwanderung gegründet und eine Diskussion eröffnet, die niemanden interessierte: Was bedeutet es, Franzose zu sein? Es war nicht nur obsolet, sondern pervers. Probleme, die in Frankreich dringend zu lösen sind – Arbeitslosigkeit und soziale Probleme – wurden zweitrangig. Das, was die Franzosen trennt, ist vor allem die Wirtschaft. Es gibt Reiche, Arme und die Mittelschicht und nicht, wie uns vorgegaukelt wird, Juden, Afrikaner, Muslime. Sind Integrations- und Identitätsdebatten Ablenkungsmanöver? GL: Im Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl war es offensichtlich. Die wichtigen Fragen hatten mit Identität nichts zu tun, sondern mit dem Sozialstaat, mit Bildung und Umwelt. WNS: Dem stimme ich zu. In meinem letzten Roman beschreibe ich das Leben einer Familie, in der der Vater arbeitslos ist. Für einige Kritiker ist es ein Roman über die Banlieue. Doch für mich ist es vor allem ein Roman über die Armen unserer Gesellschaft. Man spricht oft über die „quartiers sensibles“, was so etwas wie „anfällige Stadtteile“ bedeutet. Doch die sind ganz einfach arm. Araber aus Saudi-Arabien, die große Villen an der Côte d’Azur kaufen, bereiten niemandem Sorgen. Geht man mit solchen Problemen in Deutschland besser um? GL: Das würde ich schon sagen. Natürlich gibt es Sarrazin und Co. Offiziell sind die Politiker aber etwas ehrlicher und weniger versucht, die wirtschaftlichen Probleme zu vertuschen. Die Debatte wird nicht so ideologisch geführt. In Frankreich geht es immer gleich um große Prinzipien wie die Laizität. WNS: Die deutschen Politiker sind pragmatischer. Der Unterschied lässt sich am Beispiel der Wohnungspolitik beobachten. In Paris ist die Wohnungssituation katastrophal. Seit Jahren wird darüber diskutiert, aber nichts ist passiert. In Berlin kann man vergleichsweise günstig und gut leben. Führt dieser Pragmatismus zu einer größeren Toleranz gegenüber Ausländern oder religiösen Minderheiten? GL: Die Debatte über die Beschneidung fand ich schlimm. Ich beobachte außerdem in Deutschland eine neue Hetze gegen sogenannte „Club-Med-Länder“, die südeuropäischen Krisenländer. In der Schuldenkrise haben alte Klischees Konjunktur. WNS: Ja, es gibt überall intolerante Leute. Das Problem ist, dass eine unsinnige Idee wie die der Integration in unsere Köpfe eingepflanzt wurde. Wenn Men- Gila Lustiger: Auf den Begriff identität reagiere ich allergisch schen aufeinandertreffen, gibt es nicht solche, die sich integrieren wollen, oder die, die es nicht wollen. Ein Treffen ist ein kreativer Moment und kein Prozess, bei dem etwas in eine Form gepresst wird. Eine Kultur lässt sich nicht in eine andere Kultur integrieren, die selbst unverändert bleiben würde. GL: Ich habe einmal mit österreichischen Kindern über Integration gesprochen. Sie waren sehr gelangweilt. Dann haben wir gespielt und versucht, herauszufinden, was es ohne Ausländer in Österreich gäbe. Das Ergebnis: fast nichts. Sind es Entdeckungen dieser Art, die das Verständnis zwischen den Kulturen fördern? GL: Ich glaube kaum, dass die wichtigen Trennlinien in der globalisierten Welt kultureller Art sind. Ein reicher Brasilianer hat mit einem reichen Londoner mehr gemeinsam als mit dem armen Slum-Bewohner vor seiner Tür. Dass die multikulturelle Gesellschaft längst Realität ist, wird die Politik früher oder später realisieren. WNS: Wie leben in einer historisch bemerkenswerten Epoche. Wir im Westen sind vielleicht frei wie noch nie. Doch Milliarden von Menschen verfügen nicht mal über Trinkwasser. Abgesehen davon würde ich für eine offensivere Haltung der Politik plädieren. Ich sage meinen Berliner Freunden oft: Es ist schön und gut, gegen Fremdenfeindlichkeit zu sein, aber wann fangen wir an, uns für Fremdenfreundlichkeit zu engagieren? Anstatt zu denken, der Fremde ist ein Problem, mit dem ich jedoch zurechtkomme, ist es an der Zeit, den Fremden als Bereicherung zu betrachten. 9 Integration wut und chance Wie Jugendliche mit ausländischen Wurzeln in Deutschland und Frankreich erwachsen werden Von Carsten Keller D as ist alles, was mir Frankreich angetan hat. Der französische Staat und alles, was dazugehört. Die Probleme. Wegen alldem mag ich dieses Land nicht.“ Dieser Satz stammt von einem jungen Franzosen mit marokkanischen Wurzeln. Der 25-Jährige lebt zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern in der Pariser Banlieue. Er hat keinen Schulabschluss, arbeitet als Händler auf dem Markt und betreibt noch andere „Geschäfte“, auf die er nicht näher eingehen möchte. Der junge Mann ist wütend auf das Land, in das seine Eltern Ende der 1970er-Jahre eingewandert sind. Denn er fühlt sich wie viele junge Migrantennachkommen in Frankreich und Deutschland von den staatlichen Institutionen – wie den Schulsystemen – ausgegrenzt. Dies ist nur eins der Ergebnisse des Forschungsprojekts „Berufliche Strategien und Statuspassagen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland und Frankreich“, das Kollegen und ich vom Centre Marc Bloch und vom Sozioökonomischen Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung durchgeführt haben. Wir haben untersucht, wie Jugendliche mit ausländischen Wurzeln in beiden Ländern den Übergang in das Erwachsenenalter bewältigen und welche Rolle dabei der institutionelle Rahmen spielt. Im Mittelpunkt der Studie stand die Befragung von 175 Männern und Frauen im Alter von 18 bis 35 Jahren, die in Deutschland als Nachkommen von Zuwanderern aus dem Nahen Osten und der Türkei, in Frankreich als Nachkommen von Zuwanderern aus dem subsaharischen Afrika und dem Maghreb leben. Diese jungen Erwachsenen sind im Bildungsund Erwerbsleben zwar seltener erfolgreich, aber sie sind erfolgreich. Vergleicht man Frankreich und Deutschland, zeigt sich, dass die instituti onellen Rahmenbedingungen wie die Bildungssysteme und die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik 10 die Lebensverläufe in beiden Ländern stark beeinflussen. Während in Deutschland Benachteiligungen aufgrund des Migrationshintergrundes früh in der Schule einsetzen – insbesondere beim Wechsel in die Sekundarstufe im Alter von circa neun Jahren –, treten sie in Frankreich erst beim Eintritt in den Arbeitsmarkt auf. Das französische Bildungssystem bietet mithin mehr Chancengleichheit und Aufstiegsmöglichkeiten, allerdings erhalten frühe Schulabbrecher seltener eine „zweite Chance“, Bildungsabschlüsse nachzuholen. Dieser institutionelle Ausschluss spiegelt sich bei den jungen Männern in einem Gefühl der Distanz oder sogar der Wut auf staatliche französische Institutionen wider. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass in Deutschland ein deutlich größerer Teil der jungen Frauen mit ausländischen Wurzeln nicht erwerbstätig wird und offenbar dem traditionellen Modell der Mutter und Hausfrau Priorität einräumt. Überraschenderweise führt die Erfahrung blockierter Chancen in Deutschland nicht zu sogenannten „informellen Strategien“, das heißt, die Migrantennachkommen wenden sich von der Idee des sozialen Aufstiegs durch Bildung nicht völlig ab, um sich stattdessen mithilfe sozialer Netzwerke und Gelegenheitsjobs „durchzuwursteln“. Die Lebensläufe der jungen Erwachsenen sind häufig durch Wendepunkte geprägt. So werden „informelle Strategien“ durch einen ersten Wendepunkt, meist im Alter von 13 bis 15 Jahren, eingeleitet. Später führen aber in aller Regel Lernprozesse, aber auch institutionelle Angebote im Sinne einer „zweiten Chance“ zu einem zweiten Wendepunkt, der zu einer Rückkehr zu formellen Handlungsstrategien führt. Es bleibt zu hoffen, dass so auch das Gefühl der Ausgrenzung und die Wut auf die Institutionen nachlässt. Mitarbeit: Ariane Jossin, Ingrid Tucci, Olaf Groh-Samberg BerLIner IM Porträt 2011 11 INtegration Vor Ort Was sich Clichy-sous-Bois und Berlin-Neukölln zu erzählen haben Von Sandra Kössler M öschten Sie den Strudel kosten?“ „Er schmeckt sehr gut ... zum Kotzen.“ Der Dialog zwischen Gästen und Gastgeberin wird mit viel Witz und leichtem Akzent auf Deutsch gespielt – von französischen Schülern aus dem Pariser Vorort Clichy-sous-Bois. In der Szene danach schlüpfen Gymnasiasten aus Berlin-Neukölln in dieselben Rollen, nehmen den Faden auf und spinnen die Geschichte nach dem Vorbild von Yasmina Rezas Stück „Der Gott des Gemetzels“ auf Französisch weiter. Mit so viel Elan, dass die Autorin sogar die Schirmherrschaft übernahm, als sie das erste inszenierte Stück sah. Fliegender Wechsel zwischen Sprachen, Kulturen und eine gemeinsame Aktivität – so lassen sich alle zehn Einzelprojekte von „Clichy-sous-Bois trifft Neukölln“ zusammenfassen. Drei 12 Jahre lang dauerte das Pilotprojekt zum Thema Integration und Chancengleichheit des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) und des Instituts für Migration und Sicherheitsstudien (IMSS). Bei der Abschlusskonferenz Ende Oktober 2012 in der Werkstatt der Kulturen in Neukölln wurde Bilanz gezogen, Ergebnisse wurden präsentiert und Möglichkeiten zur Fortsetzung ausgelotet. Der Grundstein für die spätere enge Kooperation wurde bereits 2006 gelegt. Die Initiative ging von dem damaligen Bundestagsabgeordneten Ditmar Staffelt (SPD) aus dem Bezirk Neukölln aus, der Clichy besuchte und erste Kontakte knüpfte. 2008 wurde ein erstes Seminar zum Fachkräfteaustausch organisiert. Doch, so erzählen es die Teilnehmer heute, die Zeit reichte nicht aus, die Fragen konnten nur angeschnit- FOTOS: Boris Bocheinski ten, nicht ausreichend diskutiert werden. Doch 2010 wurde eine neues Pilotprojekt aus der Taufe gehoben: Die Grundidee besteht darin, zwei Stadtteile mit ähnlichen Konfliktfeldern und Problemstellungen zusammenzubringen, um gemeinsam an Lösungsansätzen zu arbeiten. So sind Neukölln und Clichy-sous-Bois in mancherlei Hinsicht durchaus vergleichbar: Beide werden von der Gesellschaft als Problembezirke gesehen, haben immer wieder durch negative Ereignisse in der Presse auf sich aufmerksam gemacht. Der Fall der Rütli-Schule in Neukölln und die gewaltsamen Jugendaufstände, die 2005 mit dem Tod zweier Jugendlicher in Clichy anfingen und zu Krawallen in vielen Städten Frankreichs führten, sind nur zwei der Ereignisse, die in den Köpfen hängen geblieben sind. Ein hoher Migrationsanteil, hohe Arbeitslosigkeit: „Gerade weil wir vergleichbare Ausgangssituationen haben, können wir viel voneinander lernen“, betont Falko Liecke, stellvertretender Bürgermeister von Neukölln. Doch neben allen Gemeinsamkeiten darf man es sich mit dem Vergleich auch nicht zu leicht machen. So hat Clichy rund 30.000 Einwohner, Neukölln allerdings etwa 300.000. Neukölln gehört zum Innenstadtbereich, Clichy dagegen ist abgeschnitten von Paris. Die Sicherheitsprobleme sind in Clichy weit massiver als in Neukölln und, wie es der stellvertretende Bürgermeister des Vororts, Gilbert Klein, unterstreicht: „Clichy ist eine der ärmsten Städte Frankreichs.“ Oder um es mit den Worten des Rappers Padman zu sagen, der am Hip-Hop-Austausch des Pilotprojekts teilnahm: „Viele sagen, Neukölln ist Ghetto, aber Clichy, das ist wirklich Ghetto.“ Auch die Schülerinnen des Theaterprojekts sind immer noch schockiert, wenn sie an ihren Besuch in der Pariser Vorstadt im Rahmen des Projekts zurückdenken. So erinnert sich Sara Houmam an eine Situation im Supermarkt, als einige französische und deutsche Jugendliche am Eingang abgewiesen wurden und nicht als Gruppe in das Geschäft gehen durften. „So etwas gibt es in Neukölln nicht!“, da ist sie sich sicher. Das Besondere an „Clichy-sous-Bois trifft Neukölln“ besteht in einem Austausch auf unterschiedlichen Niveaus. So wurden zum einen rund 130 Fachkräfte zusammengebracht, Vertreter von Verwaltung, Politik, Justiz, Bildung und Jugendarbeit, die als Multiplikatoren wirken sollten. Zum anderen fanden Austauschprojekte von etwa 350 Jugendlichen statt. Erstaunlicherweise schien sich Letzteres fast leichter zu gestalten als die Treffen der Erwachsenen. So berichtet Borris Diederichs, der das Projekt beim DFJW betreute, wie insbesondere der Austausch der Polizei sich schwierig gestaltete. Viele der Ideen waren nicht so umsetzbar wie geplant, komplexe Hierarchiegefüge und vor allem unterschiedliche Organisation in beiden Ländern erwiesen sich als teilweise unüberwindbare Hürden. Auch bei den sogenannten Stadtteilmüttern gab es Anlaufschwierigkeiten. Die vorwiegend türkischstämmigen Frauen tauschten sich zunächst über Skype aus – doch technische Schwierigkeiten waren nur eines der Hindernisse. Ein Hauptproblem war anfangs die unterschiedliche Institutionalisierung der Gruppen. Während die Stadtteilmütter in Neukölln eine sechsmonatige Fortbildung zu Sozialassistentinnen erhielten, um dann andere Familien mit Migrationshintergrund zu unterstützen, waren die Frauengruppen in Clichy weniger gut organisiert. Heute findet der Austausch der Neuköllner Stadtteilmütter mit den „Femmes relais“ (Vermittlungsfrauen), einem Verein, der sehr ähnlich funktioniert, statt. Nach dieser Veränderung in der Organisation läuft der Austausch inzwischen sehr intensiv. Verständigungssprache ist oft Türkisch, Themen sind Beratung bei sozialen Problemen und konkrete Ansätze bei der Integration, beispielsweise durch Hilfe bei Behördengängen und in Bezug auf Schulbildung, Erziehung und ärztliche Versorgung. Gerade weil sie es in ihren Städten nicht immer einfach haben, weil Austausch vielleicht nicht selbstverständlich ist, kann man die echte Dankbarkeit und den Enthusiasmus der Mütter und auch der Schüler spüren. Manche waren vorher noch nie im Ausland. „Das war eine der schönsten Zeiten in meinem Leben“, sagt eine der französischen Schülerinnen bei der Feedbackrunde. Gerade beim Hip-Hop-Austausch, bei dem deutsche und französische Jugendliche gemeinsam Tanz-Choreografien auf dem deutsch-französischen Hip-HopFestival auf dem Flugfeld Tempelhof und bei einem Festival in Paris aufführten, wird deutlich, wie schnell durch ein gemeinsames Thema eine Verbindung geschaffen wird, über kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg. Auf die Frage, ob sie auch über Diskriminierung oder Rassismus gesprochen Beim deutsch-französischen Hip-Hop-Festival „Paris-Berlin“ (links), Proben für ein Schülertheater nach Yasmina Rezas Stück „Drei Versionen des Lebens“ (rechts) haben, schauen die Tänzer jedoch skeptisch. „Nein, wir haben über Musik gesprochen, und über das Tanzen.“ In einem sind sich jedoch alle Beteiligten einig: Mit dieser Abschlusskonferenz soll die Kooperation zwischen Clichy und Neukölln noch nicht abgeschlossen sein. Im Gegenteil, so fasst Elisabeth Berger, die beim DFJW in der interkulturellen Fort- und Weiterbildung tätig ist und die Veranstaltung moderierte, zusammen: „Ich wünsche mir, dass von der Konferenz der Impuls ausgeht, weiterzumachen und neue Wege zu gehen.“ 13 Kultur und Politik Demokratien gehen Sehr Der Konzeptkünstler Jochen Gerz will, dass Politik nicht nur im Parlament gemacht wird Interview: Rosa Gosch Herr Gerz, Sie sind in Berlin geboren, haben von 1966 bis 2007 in Frankreich gelebt und haben vor allem dort und in Deutschland Werke im öffentlichen Raum geschaffen. Gibt es dabei Unterschiede? Wenn Arbeiten wie „Das Lebende Monument“ von Biron in der Dordogne 1996 oder jetzt in Bochum der „Platz des europäischen Versprechens“ im Atelier entstanden wären, gäbe es kaum Unterschiede. Da aber beide Werke mit und durch die Menschen im jeweiligen Land geschaffen wurden, sieht man ihnen ihre Umwelt an. Es ist deshalb auch ein Unterschied, ob sie in Passau oder Berlin entstehen. Womöglich liegt der Unterschied eher zwischen Dorf und Stadt, Metropole und Provinz, heute und gestern. Vielleicht ist Frankreich eher ein ländliches Land, das von Paris wie von einem bunten Regenschirm versteckt wird. Warum sind Sie als junger Mann nach Frankreich gegangen? Als ich in den 1960er-Jahren ins europäische Ausland ging, kam ich aus einer versteinerten Gesellschaft. Ich dachte, ich bin nur mit einem halben Satz unterwegs, ich brauche die zweite Hälfte. Die französische Kultur, das Gemeinwesen, war für einen jungen Deutschen schwer zu verstehen. Das französische 14 Fenster, durch das ich damals mich selbst sah, meine Vergangenheit, und das deutsche Fenster, durch das ich auf die neue Existenz in Frankreich schaute, waren oft Spiegel. Sie zeigten mir die Notwendigkeit der eigenen Zweifel, der Widerrede, der Provokation. In jedem Fenster sieht man die andere Seite. Es ist ja auch der Kunst nicht fremd, dass sie nicht an der Grenze halt macht. Und wenn man nicht immer von der Kunst sprechen will, kann man auch von Europa sprechen. In der derzeitigen Krise sehen viele Europa und seine demokratische Legitimation bedroht. Spielt die Kunst hier eine Rolle? Ich beschäftige mich vor allem damit, wie wir in Demokratien leben, die sich vom Beitrag aller ernähren. Wir wissen, wie schnell Demokratien untergehen können. Daher brauchen wir einen neuen Konsens über das, was wir traditionell als Kultur bezeichnen. Die Länder hätscheln in ihren Grenzen heute den kulturellen, medialen, nationalen Konsumenten. Aber Kultur ist nicht dazu da, Betrachter zu züchten. Sind unsere Politiker also uneuropäisch? Nicht weil sie gegen Europa wären, sind sie es, sondern weil sie nicht in Europa leben, sondern in Nordrhein-Westfalen, Bordeaux oder sonst wo. Alle Politiker müssten also einmal im europäischen Ausland leben? Warum einmal? Sie sollten sich nicht nur im eigenen Winkel den Wählern stellen müssen. Europa braucht eine Praxis. Das würde auch den Wählern helfen, europäischer denken und entscheiden zu lernen. Welche Rolle spielt für Sie hierbei Kultur? Die Geschichtsbücher, die für Schulen in Frankreich und Deutschland gemeinsam geschrieben wurden, sind ein gutes Beispiel. Es zeigt, wie viel heute möglich ist und zugleich, woran die kreativen Initiativen scheitern: Es fehlt die Umsetzung, die europäische Praxis im eigenen Leben. Bücher sind nicht genug. Wir betrachten Kultur als etwas, das man nicht tun muss oder gar kann. Die Kultur ist eine Parallelaktion ohne Konsequenzen für das eigene Verhalten. In der deutlichen Trennung der Kunst in Werk und Betrachter findet dieser Begriff von Kultur einen passenden und skandalösen Ausdruck. Zurück zu den Geschichtsbüchern: Wo und wie werden sie gebraucht? Zu welcher neuen Praxis führen sie bei den Schülern? Sind die Menschen – auch in Deutschland und Frankreich – weiter als die Politik? Wir streben immer noch Hegemonie und Einheitlichkeit an, obwohl wir in Demokratien leben, die Vielfalt schaffen sollten. Die wachsende Vertrautheit der Menschen in Frankreich und Deutschland wird nicht zu einer neuen Einheit führen, sondern zu einer neuen Vielfalt, die zum Glück an Kreativität denken lässt, an viel Neues, Unbekanntes und warum nicht auch Unerhörtes. Viele Politiker wollen mehr Europa, sie träumen vielleicht sogar von der Einheit. Der gemeinsame Platz ist aber nicht die Einheit, sondern der eigene Beitrag. Nur die eigene Stimme hört, akzeptiert, toleriert die Stimme des anderen. Das führt zum Verschwinden der Grenzen. Politisch geschieht etwas, wenn Menschen anfangen, etwas zu praktizieren. Viele Menschen in Deutschland und Frankreich sind inzwischen der Meinung, es geht nicht so sehr um die Länder. Es gibt zu wenig Praxis zwischen den Menschen. Früher war die fehlende Freiheit dafür der Grund. Heute muss man einen neuen suchen. schnell unter Der Intendant Vincent Baudriller glaubt an die erneuernde Kraft des Theaters fotos: dpa picture-alliance (links), Ilka Kramer / Festival d’Avignon (rechts) Interview: nikola richter Herr Baudriller, Sie sind Kodirektor eines der größten europäischen Theaterfestivals, des Festivals von Avignon. Nach Thomas Ostermeier 2004 haben Sie 2010 mit dem Schweizer Christoph Marthaler wieder einen deutschsprachigen Regisseur als Artiste Associé eingeladen. Was fasziniert Sie so am deutschsprachigen Theater? Deutschland hat eine sehr starke Theatertradition, mit starken Schauspielerensembles, es ist politisch und ästhetisch sehr innovativ. Daher ist es eines der wichtigen Theater in Europa. In Avignon zeigten wir bisher ein Panorama verschiedener Ästhetiken der Kreativität: neben Marthaler und Ostermeier auch Frank Castorf und René Pollesch. Man könnte sagen, dass ich mich durch das Theater mehr für die deutsche Kultur interessiert habe. Ist also der deutsch-französische Dialog eher ein individueller? Brauchen wir dafür noch große Institutionen? Man braucht beides. Ohne den Willen eines Individuums kann man nichts erreichen. Aber man braucht Unterstützung. Das deutsche Theater funktioniert anders als das französische, es ist ein Ensembletheater und daher sehr teuer. Wenn ich eine Inszenierung mit zehn Schauspielern einlade, kommen vierzig Personen, das gesamte Theater. Wenn sich also nicht das Goethe-Institut und andere Organisationen dem deutschfranzösischen Dialog widmen und Mittel dafür bereitstellen, muss das französische Theater auf hören, deutschsprachige Inszenierungen einzuladen. Ein Wille dazu muss sowohl im künstlerischen als auch im politischen Bereich vorhanden sein. Die deutsch-französischen Kooperationen sind Ihnen besonders wichtig. Warum? Die europäische Konstruktion, auch die deutsch-französische Freundschaft, ist etwas sehr Neues. Für meine Generation ist sie ganz natürlich, aber nicht für die meiner Eltern. Wir müssen die Bedeutung dieser Entwicklungen der nächsten Generation vermitteln. Inwiefern ist die Krise in Europa ein Thema beim Festival von Avignon? Zwei Inszenierungen waren in den vergangenen Jahren prägend: Thomas Ostermeier fragte mit Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“ nach der politischen Moral, dem politischen Engagement. Im selben Jahr 2012 beeindruckte Nicolas Stemann mit „Die Kontrakte des Kaufmanns“ von Elfriede Jelinek über die Finanzkrise und die Folgen für das Individuum. Das Stück hat viele politische Fragen zur aktuellen Krise aufgeworfen. Und die vom Theaterstück ausgelösten Debatten fanden sich dann in den Diskussionen mit Künstlern und Philosophen wieder. Reflektieren französische Künstler anders über die Krise als deutsche? Man landet schnell bei einem Zerrbild. Aber in Frankreich behandelt man po- litische Fragen tatsächlich anders auf der Bühne als in Deutschland. Im deutschen Theater ist man viel direkter und engagierter, der französische Ansatz ist poetischer und sinnlicher. Auch in der Politik ist man von einer gemeinsamen Sprache weit entfernt: François Hollande fordert, um der Krise Herr zu werden, Solidarität. Angela Merkel möchte mehr Kontrolle. Ich glaube, dass ihre Positionen gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Viel fundamentaler ist, dass die Geschichte von Frankreich und Deutschland sehr unterschiedlich ist, sodass der jeweilige Bezug zur Welt ein eigener ist. Austauschprogramme und Kulturdialoge haben nicht das Ziel, dass wir einander ähnlicher werden, sondern dass wir uns besser verstehen. Die Stärke des europäischen Abenteuers ist, dass zum ersten Mal Länder mit unterschiedlicher Geschichte und Politik versuchen, trotz dieser Differenzen zusammenzukommen. Wer ins Theater geht, setzt sich einer anderen Vision der Welt aus. Das Festival von Avignon lebt auch davon, dass es nicht in Paris stattfindet. Muss man die Kultur stärker dezentralisieren, um sie besser zugänglich zu machen? Es ist wichtig, dass überall Kultur ist! Dass ein Maximum an Leuten, jungen Leuten, Zugang zur Kultur hat. In Avignon kann man allerdings nicht von einer Dezentralisierung sprechen, denn ganz Paris kommt nach Avignon. Deutschland ist viel dezentralisierter als Frankreich, die großen Schauspielhäuser sind im Land verteilt. Wie schätzen Sie den aktuellen Stand der französisch-deutschen Freundschaft ein? Sie ist stark, sie ist real. Die deutschfranzösische Freundschaft ist notwendig. Man muss mit den unverzichtbaren Dingen weitermachen, um weiter dieses Europa zu bauen, um es zu zementieren. Denn es hat eine sehr junge Geschichte. Man muss diese Idee weiter verteidigen, besonders in Zeiten der Krise und trotz der Krise. 15 Hochschule die mega-macher In einem gemeinsamen Masterstudium lernen Deutsche und Franzosen, wie Europäer sich besser selbst verwalten könnten Von Oskar Piegsa D ass sie nicht nur eine Deutsche ist, sondern manchmal auch deutsch denkt und deutsch arbeitet, lernte Ulrike Hansen im Masterstudium. „Ich bin sehr ergebnisorientiert und strukturiert“, sagt sie. „Als Deutsche kommt man schnell zum Punkt und erwartet auch von anderen schnell eine Lösung.“ Etwas Ähnliches erzählt ihr französischer Kommilitone Yvan Michit: „Deutsche kommen immer schon mit Lösungsvorschlägen in eine Sitzung. In Frankreich entsteht die Lösung hingegen im gemeinsamen Gespräch.“ Ursprünglich haben Ulrike Hansen, 35, und Yvan Michit, 43, beide Jura studiert – Hansen in Göttingen mit Erasmus-Aufenthalt in der Normandie, Michit in Aix-en-Provence und am Europa-Institut in Saarbrücken – und eine öffentliche Lauf bahn in ihren jeweiligen Heimatländern eingeschlagen. Hansen ging zur Bundesnetzagentur, wo sie für den grenzüberschreitenden Stromaustausch zuständig ist. Michit arbeitete zunächst im französischen Innenministerium. Dann erfuhren beide von einem besonderen Auf baustudium, dem „Master of European Governance and Administration“ – oder kurz: dem „MEGA“. Der Élysée-Vertrag und dieser Masterstudiengang feiern gemeinsam Geburtstag: Seine Einführung wurde vor zehn Jahren beschlossen, zum 40. Jubiläum der deutsch-französischen Freundschaft. Seitdem wurden 112 Absolventen ausgebildet. Das Besondere daran: Die meisten von ihnen sind deutsche und französische Verwaltungsmitarbeiter oder Beamte. Nur ein Drittel der Studenten kommt aus Drittstaaten oder aus der Wirtschaft, niemand direkt aus dem Bachelorstudium. „Gemischte Gruppen gibt es auch in anderen Hochschulprogrammen“, sagt Manja Kliese, 34, ebenfalls MEGA-Absolventin, die heute in der deutschen Botschaft in Beirut arbeitet, „aber im MEGA haben alle Teilnehmer zudem bereits mehrere Jahre Berufserfahrung.“ Wer sich bewirbt, muss fit in beiden Sprachen sein, denn die Seminare finden sowohl in Paris als auch in Potsdam statt, mit Professoren und Prakti- 16 kern der jeweiligen Länder. Zwei Motivationsschreiben sind notwendig, eins auf Deutsch und eins auf Französisch, und auch das 30-minütige Auswahlgespräche ist zweisprachig. Wer diese Prüfung besteht, profitiert von einer einzigartigen Ausbildung. Denn anders als etwa in einem Erasmus-Jahr oder im Beamtenaustausch geht es nicht darum, sich in einem neuen Land zurechtzufinden und in bestehende Strukturen einzupassen. Stattdessen begegnen sich Deutsche und Franzosen im „MEGA“ zahlenmäßig ausgewogen und auf neutralem Terrain. „Alle starten bei null“, sagt Manja Kliese, „und alle können sich einbringen.“ Gemeinsam diskutieren die jungen Beamten über unterschiedliche Ansätze der E-Governance oder der Verwaltungsreform, arrangieren sich in internationalen Referatsgruppen und erzählen aus ihrem Beruf. Am Ende steht die Abschlussarbeit und der Mastertitel. Doch der „MEGA“ lehrt auch Nuancen, Verständnis, Annäherung, wie sie beispielsweise durch Unterschiede in der Didaktik hervortreten. In diesem Jahr sollen Theorie und Praxis noch enger verzahnt werden. Die Studiendauer wird von einem auf zwei Jahre erhöht und der Master berufsbegleitend mit Fernstudium und längeren Präsenzphasen angeboten – es ist dann nicht mehr nötig, im Verwaltungsdienst ein Jahr lang zu pausieren. Dass sich diese Unterbrechung gelohnt hat, bezweifeln die bisherigen Absolventen keineswegs. „Der Draht zu französischen Kollegen ist kürzer geworden“, sagt Ulrike Hansen. Ihr Arbeitsstil wurde durch den „MEGA“ vielleicht nicht weniger deutsch – aber europäischer. „Früher hätte ich kein Fachgespräch auf Französisch führen wollen“, sagt sie. „Jetzt fühle ich mich dabei sicher und kenne die Wendung, die einen Franzosen merken lassen, dass ich mich mit seiner Sprache und Kultur beschäftigt habe.“ Und obwohl Yvan Michit sich erstmal an die dortigen Arbeitsweisen gewöhnen musste, ist er in Potsdam geblieben. Er betreut den Europäischen Strukturfonds für das brandenburgische Wirtschaftsministerium. Paris 2009 Zwei im mittelpunkt Die nationale rechnung Welche Art von Freundschaft wollen die Deutschen, Franzosen, Europäer, heute? Von Marc-Olivier Padis M it der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union rief das Komitee in Oslo eine offenkundige, aber viel zu häufig vergessene Tatsache wieder in Erinnerung: Das größte Verdienst der Union besteht darin, einen Krieg zwischen den in der langen Geschichte des Kontinents allzu oft entzweiten Völkern künftig undenkbar zu machen. Die friedliche Entwicklung in Europa, innerhalb derer die deutsch-französische Aussöhnung einen wichtigen Part einnimmt, fußt auf einer beachtlichen Grundlage. Angefangen bei der Rolle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bis hin zum Studentenaustauschprogramm Erasmus, von der Abschaffung der Grenzen bis hin zur gemeinsamen Währung hat sich die Zusammenarbeit in Europa kontinuierlich weiterentwickelt und die Verständigung zwischen den Völkern vertieft. Die gemeinsamen Errungenschaften im kulturellen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bereich sollen, wie es in der Präambel zum EU-Vertrag heißt, dazu beitragen, „eine immer engere Union der Völker Europas“ zu schaffen. Doch der Ursprungsgedanke der Europäischen Union enthielt noch mehr. Das gemeinsame Handeln wurde als Möglichkeit begriffen, Solidarität zu schaffen, ein tiefes Verständnis füreinander aufzubauen und voneinander zu lernen. Wie steht es heute um dieses Ziel? Eine Art Gleichgültigkeit scheint sich auszubreiten und das nach außen hin manifestierte Miteinander vermag das Festhalten an strikt nationaler Berechnung nur schwer zu kaschieren. Die gemeinsamen Politikbereiche, die zu einem breiteren gegenseitigen Verständnis verhelfen sollten, geraten nun zum Selbstzweck, und um sie zu verteidigen, ist man bereit, sich voneinander zu entfernen. Was ist aus den anfänglichen Ideen und Bemühungen der Europäer geworden? Weshalb werden heute die Mittel, die doch der Verständigung dienen sollten, zur Erpressung und gegenseitigen Einschüchterung genutzt? Insbesondere in Frankreich ist der Euroskeptizismus zwar nach wie vor schwach ausgeprägt, doch die Gegner des 18 Maastricht-Vertrags und später des Verfassungsvertrags riefen damals im Namen eines „anderen“ Europa dazu auf, mit Nein zu stimmen. Dem Europa des Binnenmarktes, der Standortverlagerungen, der Deregulierung, der Sparpolitik wollte man die Stirn bieten. Doch weder dieses vage Gegenprojekt wurde realisiert, noch gab es Alternativen für eine positive Entwicklung Europas. Für alle Mitgliedstaaten tut sich mittlerweile eine Kluft auf zwischen den Gründen, die sie einst in die EU führten, und den Zielen, die sich heute noch über die Unionsmitgliedschaft verfolgen lassen. Die Franzosen nutzten das Referendum 2005 über den Verfassungsvertrag dazu, sich im Rückblick zur EU-Erweiterung zu äußern. Denn die Aufnahme ehemaliger sowjetischer Satellitenstaaten in die NATO und in die EU wurde in Frankreich weniger als Zeichen einer europäischen Aussöhnung gewertet, sondern man fürchtete vielmehr um das Gewicht der eigenen Stimme in der EU. Diese geopolitischen Erwägungen gingen einher mit einer neuen, pessimistischen Auslegung der Vorzüge des „doux commerce“. Dieser Auffassung zufolge gereicht die wirtschaftliche Konkurrenz letztlich allen zum Vorteil, denn durch sie wird die Produktivität angeregt, Erfolg belohnt und Innovation gefördert. Doch mit der EUErweiterung wurden plötzlich ganze Gesellschaftssysteme miteinander in Konkurrenz gesetzt. Die Arbeitnehmer in der Industrie der Gründerländer mussten sich den Lohnkostenvergleich mit den neuen Beitrittsländern gefallen lassen. In Frankreich blickte man sehnsuchtsvoll auf die Zeiten, als Europa noch den Einfluss Frankreichs förderte und sich nicht anschickte, sein Gesellschaftsmodell infrage zu stellen. Durch die Intensivierung des wirtschaftlichen Wettbewerbs und die Zunahme von Euroskeptizismus und Ausländerfeindlichkeit haben sich unsere Erwartungen in Bezug auf das europäische Versprechen verändert. Haben wir Länder in unsere Gemeinschaft aufgenommen, die historisch und kulturell zu BerLIn 2012 weit von den gemeinsamen Grundlagen der Gründer entfernt sind? Die Schwierigkeit, das europäische Projekt wieder klar zu definieren, hat der kulturalistischen Auslegung den Weg geebnet. Das zeigte sich etwa in der Staatsschuldenkrise, wenn die südlichen Länder wie Portugal, Italien, Griechenland, Spanien durch die kulturelle Gegenüberstellung von Nord und Süd in Europa als nachlässig abgestempelt wurden: undiszipliniertes Verhalten im Süden und Glaube an die Wettbewerbsfähigkeit im Norden. Frankreich nahm dabei eine unbequeme Zwischenstellung ein. Gleichzeitig sind in diesem Umfeld aus mangelndem Verständnis und Groll neue Instrumente der Solidarität entstanden. Aber wird sich der Euro nur auf Kosten des guten Einvernehmens in Europa retten lassen? Für die europäischen Währungsund Wirtschaftsexperten scheint zwar eine Lösung in Sicht, doch die Karikaturen und die Vorurteile werden sowohl im Norden als auch im Süden ihre Spuren hinterlassen. Aber wer sorgt sich um den von der Krise erschütterten europäischen Geist? Wie lassen sich die Risse wieder glätten, die durch die keineswegs schmerzfreie Rettung des Euro vertieft wurden? Es verwundert kaum, dass Währungs- und Schuldenprobleme nach Jahren institutioneller Ruhe plötzlich Reibungen erzeugen, bei denen nunmehr nationale kulturelle Eigenheiten in den Vordergrund rücken. Denn eine einheitliche Währung ist eben nicht nur ein gemeinsames Werkzeug, sie ist weit mehr als das. Neben seiner Funktion als wirtschaftliches Tauschmittel spielt das Geld auch eine Rolle als gesellschaftliche Institution. Um Geld als Instrument zum Tausch einzusetzen, ist Vertrauen erforderlich, und zwar kein vorübergehendes, sondern ein grundlegendes. Dies setzt voraus, dass es eine sichere Grundlage für die Tauschbeziehungen gibt. Mit den Schulden verhält es sich ebenso. Gemeinsame Schulden zu haben, bedeutet, sich auf lange Sicht in eine gegenseitige Abhängigkeit zu begeben. In der Generationenfolge offenbart sich die Schuld in der Erbschaft und in den Kosten für die Investition in die Zukunft. Es besteht also eine gewisse Ähnlichkeit zur nach wie vor nationalstaatlichen Steuer. Die europäische Währung jedoch konnte bisher kein staaten- und generationsübergreifendes Vertrauen erzeugen. Daran wird deutlich, dass sich das Wesen des europäischen Auf bauwerks derzeit wandelt. Doch liegt dies nicht, wie man in Frankreich glaubte, an der Erweiterung und den neuen Mitgliedsländern. Bei den Politikbereichen, die im Zuge der voranschreitenden Integration Europas von den Staaten vergemeinschaftet werden, steht die politische Kultur jeder einzelnen Nation auf dem Prüfstand, und damit natürlich auch die Vielfalt der gesellschaftlichen Modelle und Konflikte. Diese Frage betrifft nicht nur die Hoheitsbereiche wie Währung, Verteidigung, Sicherheit, Polizei und Justiz, denn mit dem Beitritt zur EU werden die Zuständigkeiten zwischen Nationalstaat und Union neu aufgeteilt. Die Themen von gemeinschaftlichem Belang, über die die europäischen Politiker Einigung erzielen müssen, berühren zunehmend 20 Gemeinsame Schulden zu haben, bedeutet, sich in abhängigkeit zu begeben Instrumente, deren Funktionsweise an tief verwurzelte Gesellschaftsmodelle geknüpft ist und nicht lediglich von technokratischen Entscheidungen abhängt. Deshalb treten hier die von Land zu Land unterschiedlichen Vorgehensweisen klarer zutage. Dort, wo das Recht sich sonst ungeachtet der lokalen Gegebenheiten durchsetzt, gestaltet sich die Situation ganz anders, wenn es um Sozialabkommen, Finanztransaktionen, die Aufnahme gemeinsamer Schulden, die Währung oder die Risiken im Zusammenhang mit den Außenbeziehungen geht. Es reicht nicht mehr, zu glauben, allein die Vergemeinschaftung einiger Politikbereiche könne eine Annäherung und mehr Transparenz zwischen den Gesellschaften bewirken. Die Verständigung, die wir in Europa benötigen, führt über die Sprache. Ohne sprachlichen Austausch können wir uns nicht verstehen. Eine Lingua franca wäre jedoch nicht die beste Möglichkeit, sich auszudrücken und einander zu verstehen. Denn durch den Verzicht auf die eigene Sprache und die Verwendung einer Minimalsprache wie „Globish“ (global English) gehen begriffliche und gedankliche Nuancen häufig verloren. Verständigung bedeutet nicht, dass man seine eigene Sprache vergessen soll. Sprachen kann man lernen und Texte übersetzen. Die Freundschaft zwischen den Völkern, für die Europa eintritt, wird nicht automatisch aus der gegenseitigen Abhängigkeit oder dem gemeinsamen Handel heraus entstehen. Wahre Verständigung weiß um die Schwierigkeiten des Austauschs, ganz wie es in der Mehrsprachigkeit und bei der Übersetzung der Fall ist, wo die Kluft zwischen zwei Sprachen stets offenkundig ist, wo Andeutungen erkannt und die unterschiedlichen Konzepte hinter den Wörtern einer Sprache mitgedacht werden müssen; und trotz aller sprachlichen Besonderheiten gilt doch jede Sprache als grundsätzlich übersetzbar. Ein sehr schönes Gemeinschaftswerk über die Geschichte der kulturellen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland trägt den Titel „Au jardin des malentendus“ („Esprit/Geist. 100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen“). Und die Missverständnisse, auf die der Titel anspielt, sind häufig ja das Interessanteste an einem kulturüberschreitenden Austausch. Missverständnisse sind nie endgültig, sie können als solche erkannt, korrigiert und damit zum produktiven, schöpferischen Moment jeder Begegnung werden. Aus dem Französischen von Henrike Rohrlack paris-berlin Neue Krise – alte Klischees Über die politische Zusammenarbeit in schwierigen Zeiten zwischen Paris und Berlin Von Daniela Schwarzer S eit die Verschuldungskrise Anfang 2010 in die Eurozone Einzug hielt, standen Deutschland und Frankreich immer wieder gemeinsam im Mittelpunkt des Krisenmanagements und formulierten die wichtigsten Vorschläge für die Reform der Eurozone. Doch seit dem Machtwechsel in Paris im Frühsommer 2012 scheinen alte Konflikte zurück zu sein in der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Der sozialistische Präsident François Hollande hat sich etwa für eine bessere Wachstumsstrategie eingesetzt und dabei mehr öffentliche Investitionen und auch Eurobonds gefordert. Das ist ein Reizthema für die Bundesregierung. Berlin pocht dagegen auf Strukturreformen und Sparmaßnahmen, die in Frankreich umstritten sind. Es zeigt sich, dass der Vertrag von Maastricht, der 1992 die Grundlage für die gemeinsame Währung schuf, die Konflikte nur überdeckt, nicht aber grundsätzlich ausgräumt hat. Im deutschen ordnungspolitischen Denken wird Geldwertstabilität, der Unabhängigkeit der Zentralbank und dem Staat als Rahmensetzer für einen freien Wettbewerb große Bedeutung beigemessen. Die Reaktion auf die Krise war zudem stark durch neoklassisches Denken geprägt, demzufolge vor allem angebotsseitige Maßnahmen helfen, auf Schocks zu reagieren: Sinkende Löhne und Preise sollen also die Wettbewerbsfähigkeit verbessern. In Frankreich, wie auch im Vereinigten Königreich oder in den USA, dominiert die Einschätzung, dass Wirtschaftswachstum durch eine Stabilisierung der Nachfrage gefördert werden sollte. Lohn- und Preissenkungen sind umstritten, da sie Beschäftigungs- und Wachstumsperspektiven belasten könnten. Diese Unterschiede haben Konflikte zwischen Frankreich und Deutschland provoziert. Gerade in Krisenzeiten besteht die Gefahr, dass alte Klischees den Blick auf nuanciertere Positionen verstellen. So wird in Frankreich jenseits der linken Regierungsrhetorik natürlich über Reformen und Sparmaßnahmen diskutiert und unter dem Druck der Krise dürfte ein Politikwandel stattfinden. In Deutschland hingegen wird die Problematik der makroökonomischen Ungleichgewichte differenzierter diskutiert, als es in Frankreich oftmals wahrgenommen wird: dann etwa, wenn der deutsche Finanzminister höhere Lohnabschlüsse begrüßt, weil sie zu einem Abbau der Ungleichgewichte beitragen. Damit das deutsch-französische Tandem in Zukunft krisenfähig ist und auch mit profunden unterschiedlichen Auffassungen, etwa auch über die Rolle der Europäischen Zentralbank und einer möglichen Wirtschaftsregierung, umgehen kann, sollte besonders viel Wert darauf gelegt werden, das gemeinsame Interesse am Erfolg der Währungsunion herauszuarbeiten. Hier muss man an Kompromisslösungen arbeiten. Eine Überhöhung der eigenen Meinungen und Interessen und ein öffentliches Polarisieren gegen den Partner ist dem Ernst der Lage unangemessen. Denn eine gute Zusammenarbeit zwischen Berlin und Paris, die zusammen 47 Prozent der Wirtschaftskraft der Eurozone ausmachen und den entsprechenden Anteil in den europäischen Rettungsmechanismen stellen, ist in der derzeitigen Vertrauenskrise entscheidend. Diese kann nur beigelegt werden, wenn das Krisenmanagement funktioniert und den Anlegern Schritte hin zu einer tieferen Integration in die Eurozone aufgezeigt werden. Das solide Fundament der engen Beziehungen auf der Arbeitsebene, aber auch zwischen Parlamentariern und Parteien, gewährleistet Kontinuität im deutsch-französischen Verhältnis. Allerdings können auch die engsten politischen und Arbeitsbeziehungen grundsätzliche Auffassungsunterschiede nicht abbauen. Sie können nur überbrückt werden, wenn langfristig an einer Kompromissfindung, vielleicht sogar an einer Angleichung der Positionen gearbeitet wird. Im Kontext der gemeinsamen europäischen Interessen muss eine aufgeklärte öffentliche Diskussion stattfinden, die mit alten Klischees aufräumt, ohne legitime Auffassungsunterschiede auszublenden. 21 Gesellschaft Schaut nach Norden In der Sozialpolitik bieten weder Deutschland noch Frankreich gute Modelle. Europa sollte nach Skandinavien blicken Von Colin Crouch A us dem Blickwinkel der „hohen Politik“ erscheint die Tatsache, dass die deutsch-französische Beziehung das Kernelement der europäischen Einheit bildet, unmittelbar einleuchtend – die Beziehung zweier einst verfeindeter Führungsmächte Europas, die im Gegensatz zu Großbritannien nach 1945 die fundamentale Bedeutung eines einheitlichen und geeinten Europa erkannten. Aus dem Blickwinkel der Sozialpolitik jedoch geben die beiden Länder ein seltsames Paar ab. Von ihnen ist keines ein Paradebeispiel für eine moderne Sozial- und Arbeitspolitik, und obwohl sie sich in mancher Hinsicht ähneln, sie sind doch auch sehr unterschiedlich. Will man Musterbeispiele dafür finden, was sich durch die aktive Gestaltung von Sozialpolitik im Rahmen fortschrittlicher Wirtschaftssysteme erreichen lässt, wenn sie nicht als ein bloßer Schutzmechanismus gegen die Folgen der Modernisierung verstanden wird, richtet sich der Blick – und das nun schon seit Jahren – auf die skandinavischen Länder. Hier finden wir das, was Wissenschaftler den „investiven Sozialstaat“ nennen, in dem Bildung und eine aktive Arbeitsmarktpolitik so vielen Bürgern wie möglich zu guten Beschäftigungsbedingungen verhelfen; in denen ein großzügig bemessenes Arbeitslosengeld und nicht „Workfare“ zur Flexibilität des Arbeitsmarktes beitragen; in denen Gewerkschaften eine wichtige, vertrauensbildende Rolle spielen, da sie den Arbeitnehmern glaubhaft versichern können, dass das System ihre Belange im 22 Blick hat und ein defensiver Widerstand nicht erforderlich ist; in denen eine umfassende Kinderbetreuung jungen Müttern hilft, am Erwerbsleben teilzunehmen; in denen die soziale Ungleichheit auf das weltweit geringste Niveau gesunken ist; in denen regionale Innovationsnetzwerke Regierung, Unternehmen, Universitäten und andere Forschungszentren auf verschiedenen Ebenen miteinander in Kontakt bringen. Seit Jahren gehören diese Volkswirtschaften zu den erfolgreichsten der Welt, sie bieten umfangreiche Sozialleistungen und ein hohes Beschäftigungsniveau und sind gleichzeitig Innovationsspitzenreiter. Elemente dieses Modells finden sich auch anderswo, vor allem in Österreich und in den Niederlanden und eingeschränkt auch in Deutschland und Frankreich. Deutschland hat natürlich eine gute Berufsausbildung und einflussreiche Gewerkschaften in der Fertigungsindustrie (allerdings nur dort), kann aber keine besonders familienfreundliche Arbeitsmarktpolitik aufweisen. Für Frankreich gilt das Gegenteil: gute Kinderbetreuung, aber marginalisierte, defensive Gewerkschaften. Diejenigen Teile Europas, denen, mit der Ausnahme von Slowenien, praktisch alle Komponenten des investiven Sozialstaats fehlen – der Süden und die neuen Mitgliedstaaten im Osten – sind auch die Regionen, die ökonomisch hinterherhinken und, im Fall der südeuropäischen Staaten, aufgrund der Schuldenkrise auch eine ernste Krise ihres Sozialstaats erleben. Dazu muss man sagen, dass ihre Berlin 2012 sozialen Sicherungssysteme nicht gut ausgebaut sind, sie sind unterfinanziert und werden nicht als Beitrag zur Modernisierung, sondern als Hindernis betrachtet. Die tragische Orientierungslosigkeit der Europäischen Union in neuerer Zeit erklärt sich zu einem nicht unwesentlichen Teil daraus, dass der investive Sozialstaat für den Weg in eine gangbare Zukunft nicht in Betracht gezogen wurde; sonst hätten Länder außerhalb des Kernbereichs geeignete Elemente daraus übernehmen können. Stattdessen wird das Modell in Kerneuropa attackiert und spielt bei Maßnahmen zur Krisenlösung keine Rolle. Die Bedingungen, die Griechenland und anderen Schuldnerstaaten auferlegt wurden, beinhalten keine konstruktive Neuorientierung der Sozialpolitik, sondern nur deren Abbau. In ganz Europa, einschließlich der skandinavischen Länder, sind die Gewerkschaftsmitgliedschaften zurückgegangen, die Ungleichheit nimmt zu, der Wert des Wohlfahrtsstaats bemisst sich nur noch daran, inwieweit sich mit seiner Hilfe Privatprofite erzielen lassen. Obwohl das angloamerikanische Finanzsystem die Welt in die Finanzkrise von 2008 gestürzt hat, ist es als volkswirtschaftliches Modell für die politische und Wirtschaftselite Europas noch immer attraktiv. Das ist nicht verwunderlich, denn ein System mit einem hohen Maß an Ungleichheit und einer schwachen Interessenvertretung von Beschäftigten kommt diesen Eliten sehr gelegen. Aber es kann wohl kaum den Bürgern Europas Institutionen geben, die eine hohe Wirtschaftsleistung mit einem gut ausgebauten Sozialschutz verbinden. Die Europäische Kommission sprach, besonders unter ihrem damaligen Präsidenten Jacques Delors, gerne und stolz von dem sogenannten „Europäischen Sozialmodell“. Aber ein schablonenhaftes Sozialmodell auf europäischer Ebene war von Anfang an zu pauschal gefasst, denn es definierte sich allein durch verglichen mit den USA vollständigere soziale Absicherung und die besseren Arbeitnehmerrechte. Es unterschied nicht zwischen den rudimentären Wohlfahrtsstaaten des Südens und dem investiven Sozialstaat des Nordwestens, und weder Frankreich noch Deutschland überzeugten als Vorbilder. Heute, unter dem Einfluss des neu erstarkten Neoliberalismus, wird das soziale Europa offenbar nur noch mit dem „südeuropäischen“ Begriff des Sozialschutzes gleichgesetzt, was bei Politikern zu einer Aversion gegen das gesamte Konzept führt. Wenn es um Sozialpolitik geht, sollten die Europäer weder nach Süden noch nach Westen auf das angloamerikanische Konzept blicken, auch nicht nach Osten, wo die postkommunistischen Eliten dem amerikanischen Vorbild nacheifern, und nicht auf die Kernstaaten Frankreich und Deutschland, die in diesem Bereich keine klaren Botschaften aussenden, sondern zum nördlichen Rand des Kontinents – bevor das gut funktionierende Modell in dieser Region auch noch überrollt wird. Aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff 23 männer und frauen wie emanzipiert sind wir? Barbara Vinken und Catherine Millet unterhalten sich über gesellschaftlichen Fortschritt Frau Millet, Frau Vinken, wie steht es um die Beziehung zwischen Mann und Frau in Deutschland und Frankreich? Catherine Millet: In Frankreich würde ich sagen, schlechter als vor zehn Jahren. In Sachen Sex und Sittlichkeit spielen leider Überwachung, Zensur und öffentliche Moral eine größere Rolle. Zwischen Mann und Frau herrscht zunehmend so etwas wie Krieg. Das liegt am Einfluss einer bestimmten feministischen Ideologie. Barbara Vinken: Ich würde nicht den Feminismus an den Pranger stellen. Wir beobachten eher den Erfolg einer Erzählung über Ehe und Familie, die im 18. Jahrhundert im protestantischen Bürgertum europaweit entstanden ist. Hier verkörpert die Frau Moral, Tugend und Selbstkontrolle. Weibliche Tugend soll männliche Begierde in die Bahnen der monogamen Ehe lenken. In diesem Szenario kommen Frauen nicht als begehrende Wesen, sondern als betrogene Ehefrauen vor. Dafür ist aber der Feminismus nicht verantwortlich, denn dort gibt es schon Tendenzen, die die Frau als erotisches, begehrendes Wesen au24 ßerhalb der patriarchalischen Institution Ehe bejaht haben. CM: Sicherlich muss man differenzieren, aber in Frankreich hat sich mittlerweile ein aggressiver Feminismus etabliert, der die Frau nur noch als potenzielles Opfer sieht. Er spricht den Frauen die Möglichkeit ab, sich selbst mittels einer selbstbestimmten Sexualität zu emanzipieren. Wir haben letztes Jahr den Skandal eines Politiker verfolgt ... Meinen Sie die Sex-Affäre um Dominique Strauss-Kahn? CM: Ja. Sie hat zu einer Art Paranoia geführt, bei der alle Männer als triebgesteuerte wilde Tiere und alle Frauen als mögliche Beute dargestellt wurden. Eine negative Entwicklung, finde ich. BV: Bei der Strauss-Kahn-Affäre ist mir das Wiedererstarken eben dieses puritanischen Bilds aufgefallen. Das Zimmermädchen, Vertreterin der tugendhaften Bourgeoisie, wird von einem reichen Lüstling belästigt, der sich allmächtig wähnt. Die aristokratische Frau hingegen, die ihre Erotik selbst in der Hand hat und sich keinem bourgeois patriar- chalen Familienmodell unterwirft, gibt es im öffentlichen Diskurs gar nicht mehr. Die Ungebrochenheit dieser Eheund Moralvorstellungen sollte uns eher Sorgen machen als der Feminismus. Der hat, jedenfalls in seinen interessanteren Varianten immer dafür gekämpft, dass Frauen nicht nur als mehr oder weniger attraktive Objekte des Begehrens, sondern als Subjekte des Begehrens in Erscheinung treten. CM: Was ich außerdem bei dieser Affäre bemerkt habe, ist, dass die französischen Medien den feministischen Diskurs übernommen haben, während die Mehrheit der Franzosen über diese Episode eher amüsiert war. BV: Trotzdem muss man sehen, dass Sex als Machtmittel instrumentalisiert wird. Und ich finde, dass man schon auch juristische Mittel haben sollte, um einen solchen Machtmissbrauch vorzugehen. Spielt in Sachen Sex und Rollenbildern auch die Kultur eine Rolle? BV: Gewiss. Man kann sagen, dass in Deutschland die Aristokratie verbürgerlicht wurde, während in Frankreich das Bürgertum aristokratische Werte foto: Ali Ghandtschi Interview: claire-lise Buis und Rosa Gosch Die Autorin Catherine Millet (links) und die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken (rechts) im Gespräch in Berlin Catherine millet: Eine Femme fatale nimmt von den Männern, was sie braucht, ohne Rücksicht auf Verluste Barbara Vinken: ich glaube, dass die französische Frau in Deutschland immer noch der Inbegriff der freizügigen Sexualität ist 25 Catherine millet: Manchmal sind wir bereit, tolErant zu sein, aber können die eigenen Hemmungen nicht überwinden 26 annahm. Frankreich hat eine ausgeprägtere erotische Kultur als Deutschland. Hier hat man viel daran gesetzt, Weiblichkeit durch Mütterlichkeit auszutreiben. In Frankreich war Weiblichkeit resistenter gegen Mütterlichkeit. Obwohl Sie von Rückschritt reden, würde ich meinen, dass die französische Frau weiterhin eine Figur ist, deren Erotik raffinierter ist. Die Liebe ist eine französisch-italienische Erfindung, die Erotik aber eine französische! Ist das die Erklärung dafür, Frau Millet, dass Ihr Buch „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ als „typisch französisch“ rezipiert wurde? Ist Catherine M. das Inbild der französischen Femme fatale? CM: Ich? (lacht) Niemand ist mir jemals zum Opfer gefallen – glaube ich zumindest –, und das gehört zur Definition einer Femme fatale. Sie nimmt von den Männern, was sie braucht, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich bin eher ein Produkt der sexuellen Revolution. BV: Ja, Sie sind eher eine „libertine“, denn eine Femme fatale verfolgt andere Ziele. Dennoch glaube ich, dass die französische Frau in Deutschland immer noch als Inbegriff freizügiger Sexualität gilt. CM: Für mich ist Deutschland aber das Land der Femme fatale – denken Sie an Marlene Dietrich! Wir in Frankreich haben vor allem die „midinette“, das Nähmädchen, produziert. Sie arbeitet, ist sehr frei. BV: Und wird nicht ernst genommen! CM: Sie interessiert sich, sagen wir mal so, für frivole Sachen. Marlene Dietrich, das war einmal. Wer verkörpert heute die deutsche Frau? BV: Die deutsche Frau war zuerst eine Mutter. Dann kam die ultraemanzipierte Frau, die alles Weibliche anrüchig fand. Sie ist emanzipiert und stark, aber sie definiert sich nicht als Frau. Meinen Sie Angela Merkel? BV: Genau! Nur im Ausland wird sie als Landesmutter wahrgenommen. CM: Das liegt wahrscheinlich an ihrem Aussehen. Die Bilder, auf denen sie neben Sarkozy stand, wurden bei uns sehr viel kommentiert. Der kleine Mann neben der beschützenden Frau. Heute wird die Bundeskanzlerin in der Presse eher mit bedrohlicher Gestik dargestellt. Es ist oft von Hypersexualisierung und von Sex als Konsumgut die Rede. Ist das ein Hirngespinst der Puritaner oder eine Realität? CM: Ich habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft zweigleisig fährt. In ihr konkurrieren antagonistische Entwicklungen. Einerseits werden wir überschwemmt mit Erotik, mit einer mehr oder weniger provokanten Darstellung von Sex. Andererseits baut die Gesellschaft immer höhere Barrieren auf und ruft den Gesetzgeber zu Hilfe. Es verhält sich so, als ob wir nicht mehr in der Lage wären, selbstständig zu entscheiden. Was wir sehen oder nicht sehen dürfen, soll der Staat bestimmen. Ich finde das sehr bedenklich. Der Gesetzgeber wird aufgefordert, ins Schlafzimmer einzudringen. Eine verheiratete Frau kann so den eigenen Mann wegen Vergewaltigung anklagen. Hier kümmert sich die Justiz um etwas, das sie nichts angeht. BV: Ich bin nicht für einen allmächtigen Gesetzgeber, finde aber schon, dass Frauen geschützt werden sollten, wenn sie von ihren Ehemännern schlecht behandelt werden. Ansonsten steht außer Frage: Ware und Weiblichkeit sind ab dem 19. Jahrhundert austauschbar geworden. Mit Sex den Konsum anzukurbeln, führt jedenfalls nicht zur Emanzipation, sondern zur Verdinglichung. Das sexuelle Begehren wird vermarktet und kontrolliert. Du musst zum Orgasmus kommen! – so lautet der moderne Imperativ. CM: Ich stimme Ihnen völlig zu. Dieser Imperativ fördert aber Hemmungen, Schuldgefühle. Ist das nicht die Konsequenz der sexuellen Revolution? Wo ist die Grenze zwischen Befreiung und neuen Normen? CM: Vielleicht wissen die Menschen nur noch nicht, wie sie mit ihrer neuen Freiheit umgehen sollen. Sie sind etwas unbeholfen. Wenn ich junge Frauen mit sehr suggestiven Outfits sehe, denke ich oft an die möglichen Missverständnisse, die daraus entstehen. Die Mädchen wollen bloß wie ihre Freundinnen aussehen. Sie richten sich dabei nicht an Männer, aber das wird häufig falsch interpretiert. BV: Ich glaube, dass die Idee der Emanzipation, der Befreiung der Sexualität, an sich irreführend ist. Erotik hängt doch irgendwie am Verbot und am Barbara Vinken: fotos: Ali Ghandtschi Die deutsche Frau war zuerst eine Mutter. Dann kam die ultraemanzipierte Frau. Und heute gibt es noch eine dritte Kategorie: sie ist emanzipiert und stark, aber sie definiert sich nicht als Frau Tabu. Genießen zu befehlen, ist paradox. Sexualität, mit Hygiene und Fitness kurzgeschlossen, scheint mir völlig in das Arbeits- und Leistungsdenken integriert. Regelmäßiger Geschlechtsverkehr wird als gesundheitsfördernde Maßnahme empfohlen, gut für den Blutdruck. Ich halte diese Art, über Erotik zu reden, für verfehlt. So wird ihr jedes Geheimnis, jede Angst, jede Ekstase genommen. Nicht mal mehr Frivolität überlebt so viel Utilitarismus! CM: Das ist ein wichtiger Punkt. Wir sollten Praktiken von Mentalitäten unterscheiden. Manchmal sind wir bereit, tolerant zu sein, können aber die eigenen Hemmungen nicht überwinden oder umgekehrt. Wenn es um Frauen geht, geht es meistens auch um Männer. Wie unterscheiden sich deutsche und französische Männer? CM: Sie fragen, ob es das männliche Pendant der „midinette“ gibt? (lacht) BV: Eine Freundin von mir sagt, dass deutsche Männer bereit sind, für ihre Frauen den Unterhalt zu verdienen, und dass dies in Frankreich unvorstellbar wäre. Ich weiß nicht, ob das stimmt. (lacht) Was halten Sie von der Idee einer „Krise der Männlichkeit“? CM: Die Männer sind von Schuldgefühlen geplagt. Aber das gilt höchstens für die jüngeren. BV: Diese These wurde plötzlich prominent, als man Statistiken von Schulleistungen näher betrachtete und merkte, dass Jungen in der Schule nicht so gut abschneiden wie Mädchen. Irgendeine neue Form der Kastrationsangst; eine forcierte Krise der Männer kann ich jetzt nicht feststellen. Momentan wird viel über Frauen in der Arbeitswelt diskutiert. Es wird manchmal behauptet, Frankreich sei da einen Schritt voraus. Stimmt das? CM: Es hängt stark vom sozialen Umfeld und vom Berufsfeld ab. Ich habe das Glück, in einem Milieu zu arbeiten, wo die Bedürfnisse der Frauen berücksichtigt werden und wo sie hohe Posten besetzen. In anderen Bereichen ist es wahrscheinlich anders. Ich bin der Meinung, dass wir Gesetze brauchen, um Lohngleichheit zu garantieren. Das Prinzip gleiche Arbeit, gleicher Lohn ist sonst nur Theorie. BV: In Frankreich kann eine Frau gleichzeitig Ärztin und Mutter sein, ohne dass das ihr Muttersein oder ihre Kompetenz als Ärztin in Frage stellt. Meine Freundinnen hier in Deutschland, die Karriere gemacht haben, sind fast alle kinderlos. Mütter haben meistens Teilzeitstellen und machen keine Karrieren. Genau wie sich in Frankreich Weiblichkeit und Mütterlichkeit leichter vereinbaren lassen, so auch Kinder und Karriere. CM: Gibt es bei Ihnen keine Elternzeit? BV: Doch, aber die Väter nehmen sie zwei Monate in Anspruch, um ihre Häuser zu renovieren oder um die Welt zu reisen. Ich bin trotzdem für diese Regelung, die zu den positiven Entwicklungen der letzten Jahre in Deutschland zählt. Als das Elterngeld eingeführt wurde, war ich optimistisch. Angesichts der jetzigen Politik hat sich meine Euphorie gelegt. Wie stehen Sie zur Einführung von Frauenquoten in großen Unternehmen? BV: Ich bin entschieden dafür! Solange man an den männerbündlerischen Strukturen nicht rüttelt, wird sich nichts verändern. Quoten sind ein notwendiges Übel. CM: Ich habe noch keine endgültige Meinung zu diesem Thema. Doch vielleicht müssen wir da durch, um etwas zu verändern. Frauen Europas, vereinigt euch! Wäre das ein guter Slogan? BV: Klar! Warum wären wir sonst hier? Für Deutschland ist es jedenfalls wichtig, nach Frankreich, Schweden oder Italien zu schauen, sich die Augen zu reiben und festzustellen, dass vieles dort ganz anders ist. Nehmen Sie zum Beispiel die Kinderbetreuung. Oder die vielen Französinnen in Topstellen. Zu sehen, dass die Nachbarn anders leben und dennoch nicht neurotischer oder blöder sind, das war doch mal ein Schritt. CM: Genau weil wir so unterschiedlich sind, sind die Begegnungen spannend. Ich reise oft nach Lateinamerika und bin immer wieder aufs Neue fasziniert, wie die europäische Kultur dort aufgenommen und dabei verändert wird. Dieser Prozess von Verwandlung und Bereicherung ist auch innerhalb Europas vorstellbar. 27 Paris 2010 Deutsch und französisch voulez-vous parler avec moi? Wie Schüler für Fremdsprachen begeistert werden sollen Von MAtthias Lahr-Kurten A nlässlich des 40-jährigen Jubiläums des Élysée-Vertrags 2003 erklärten Präsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder, dass die jeweilige „Partnersprache“ entschlossen gefördert werden solle. Hintergrund war die seit Langem sinkende Zahl der Schüler, welche die Sprache des Nachbarlandes lernten. Vor allem in den Schulen, wo die meisten Menschen Fremdsprachen lernen, hat sich seitdem einiges getan: Im November 2004 wurde ein Aktionsplan verkündet. Die Maßnahmen umfassen beispielsweise die Förderung des AbiBac, des deutsch-französischen Abiturs, und der „classes bilangues“ in Frankreich, bei denen die zweite Fremdsprache zwei Jahre vorgezogen und parallel zur ersten Fremdsprache im collège begonnen wird. So konnte der Abwärtstrend zumindest gestoppt werden, auch wenn zahlreiche Probleme wie der Deutschlehrermangel in Frankreich bleiben oder sich sogar verschärft haben. Eine der Werbemaßnahmen zur Sprachförderung sind das DeutschMobil in Frankreich und das FranceMobil in Deutschland, die vor allem die Robert-Bosch-Stiftung finanziert. Seit Januar 2001 fahren junge Lektorinnen und Lektoren mit derzeit zehn DeutschMobilen zu französischen Schulen, um Schüler für die deutsche Sprache zu begeistern. Aufgrund ihres großen Erfolges fahren seit Herbst 2002 gegenwärtig zwölf FranceMobile mit der gleichen Aufgabe zu deutschen Schulen. Die FranceMobile fahren Deutschland flächendeckend ab, die DeutschMobile sind nur in etwa der Hälfte der Regionen in Frankreich unterwegs. Die Lektorinnen und Lektoren haben meist gerade ihr Hochschulstudium abgeschlossen und übernehmen die Aufgabe für ein Jahr. Auf Einladung der Schulen besuchen sie eine Unterrichtsstunde lang eine Klasse: Auf spielerische Weise wird dann fast ausschließlich die Fremdsprache benutzt und mithilfe transparenter Wörter – also Wörter, die in beiden Sprachen gleich geschrieben werden und die gleiche Bedeutung besitzen wie „Banane“ oder „Tomate“ – gezeigt, dass die Sprache nicht so schwer ist. Das ist wichtig, da sowohl dem Deutschen in Frankreich als auch dem Französischen in Deutschland nachgesagt wird, eine schwere Sprache und elitär zu sein. Durch die Mobile stellen sich schnell erste kleine Lernerfolge ein, sodass den Schülern diese Stunden meistens gut gefallen. Dennoch sehen viele Experten die Mobile kritisch. Die Frage ist, ob Werbung für Sprachen eher auf rationale Argumente oder Emotionen zurückgreifen sollte. Auch wenn die Lektorinnen und Lektoren der Mobile gute Argumente liefern, wollen sie die Schüler in erster Linie auf der Gefühlsebene erreichen. Vertreter eines rationalen Ansatzes betonen eher Fakten und Zahlen wie den Anteil des Bruttoinlandsprodukts am Handel mit dem Partnerland. Daraus leiten sie ab, dass diejenigen, die beide Sprachen beherrschen, auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen haben. Die Kritiker bezweifeln auch, dass die Stippvisiten der Mobile an den Schulen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, während die Befürworter die fehlende Konsequenz vor allem in Frankreich kritisieren, wo die DeutschMobile nicht flächendeckend vertreten sind. Die Mobile bleiben jedoch ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Sprachförderung in Deutschland und Frankreich den Kontakt und gute gemeinsame Erfahrungen mit Menschen aus dem Partnerland in den Mittelpunkt stellt und so Menschen dafür gewinnt, die Sprache des Nachbarlandes zu erlernen. berlin 2012 29 Deutsch und Französisch „Vorurteile sind ein erster Schritt zur Weisheit“ Der Übersetzer Jean-Pierre Lefebvre erklärt die Geheimnisse der deutschen und der französischen Sprache Interview: Jeanne Turczynski Herr Lefebvre, wie kamen Sie zur deutschen Sprache? Ziemlich spät. Ich wohnte am Ärmelkanal gegenüber von England. In der Gegend studierte man Englisch oder Naturwissenschaften. Nach dem Abitur habe ich aber die Ferien in Konstanz verbracht. Dadurch ist mir die deutsche Sprache nähergekommen. Als ich in die classe préparatoire kam, um mich auf die Ecole normale superieure, die ENS, vorzubereiten, hörte ich: Der Englischlehrer ist schlecht, aber der Deutschlehrer soll gut sein. So bin ich akademisch zum Germanisten geworden und heute sogar Mitglied der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Deutsch sei so furchtbar schwer, heißt es in Frankreich. Es gibt eine große Angst vor der deutschen Grammatik. Verstehen Sie das? Die Angst gibt es leider, aber sie ist total falsch! Deutsch ist viel leichter als Englisch. Das ist der große Fehler der Fremdsprachenpolitik der Regierung, 30 dass sie das nicht wahrnimmt. AirportEnglish ist eine eigene Sprache, ein Kommunikationsmittel. Aber richtiges Englisch ist sehr schwer. Deutsch kam Ihnen nie schwer vor? Nein. Möglicherweise, weil ich Latein gelernt habe, das hilft. Die Deklinationen wirken nicht so befremdend. Aber die logische strukturelle Ähnlichkeit mit der französischen Sprache ist groß. Insofern wäre die deutsche Sprache ein extrem wirksames pädagogisches Mittel für Schüler in Frankreich ab dem Alter von zehn Jahren. Aber wird in der Schule nicht eher die Angst vor dem Sprechen vermittelt? Ja, das ist eine große Tragödie. In Frankreich haben wir die besten Imitatoren der Welt, die Menschen können Sprache mit feinem Gefühl unterscheiden. Aber in der Schule funktioniert das nicht. Schüler schämen sich, blamieren sich, haben Angst, dass man sie für doof hält. Dabei ist es so: Wenn jemand Deutsch spricht wie Charles Aznavour mit Pariser Akzent, das macht ja nichts. Das ist egal, man darf mit einem fremden Akzent sprechen. Hauptsache, man wird verstanden. Sie haben über Heine promoviert und sind ein begeisterter Heine-Fan. Haben Sie auch andere Autoren übersetzt? Ich habe sehr viel übersetzt: Marx, Hegel, Brecht und Hölderlin. Dann, etwas später, Paul Celan. Inzwischen habe ich bei dem Verlag Gallimard eine zweisprachige Anthologie deutscher Lyrik veröffentlicht. Und momentan stecke ich bis zum Hals in der Übersetzung von Stefan Zweig, da die Urheberrechte bald frei werden. Sie haben Paul Celan persönlich kennengelernt. Wie war das? Mitte der 1960er-Jahre kam Celan an die ENS. Wir haben mit ihm Prosatexte übersetzt und er hat uns immer fantastische Übersetzungen geliefert. Sie waren niemals schwebend oder weit vom Text entfernt, sie waren immer präzise. Er hat bewiesen, dass eine anspruchsvolle Übersetzung in die deutsche Sprache möglich war. Dass man nicht auf das foto: Verena Hägler Jean-Pierre Lefebvre beim Gespräch in München Paris 2010 „à peu près“ (das Ungefähre) angewiesen war. Man muss die Deutung so verinnerlicht haben, dass man das anderswo sagen kann, mit anderen Mitteln. Aber, wenn man Lyrik übersetzt, ist man natürlich immer auf das „à peu près“ angewiesen. Wie übersetzt man die wirklich schwierige deutsche Lyrik? Man muss davon ausgehen, dass man auf manches verzichten muss. Es ist viel schwieriger, Eichendorff zu übersetzen als die Gedichte Celans, weil man auf der Ebene der Deutung von Eichendorff nichts erwarten kann. Das ist Musik, eine kleine Geschichte, wenig übersetzbar. Eichendorff war wirklich meine schlimmste Erfahrung als Übersetzer, ein ziemlicher Frust. Die ganze Musikalität des Gedichts kommt abhanden und es bleibt nur ein Skelett von zwei oder drei Gedanken, die kaum Gedanken sind. Bei Celan hingegen wird etwas vermittelt über das Spiel mit der Sprache, über den semantischen Hintergrund der Sätze und Worte, und zwar über den po32 Die Deutsche sprache ist immer sehr gastfreundlich gewesen litisch-geschichtlichen Hintergrund der Aussagen. Bei Celan beginnt die Übersetzungsarbeit immer mit der Deutung. Das hat er auch theorisiert: Man muss daran arbeiten, bis man das Gedicht verstanden hat – was bei Eichendorff oder Rilke weniger der Fall ist. Wie lange haben Sie an Celans „Todesfuge“ gearbeitet? Ich habe das Gedicht Mitte der 1990erJahre zum ersten Mal veröffentlicht. Celans Witwe Gisèle hatte mich gebeten, es zu übersetzen. Später kamen neue Celan-Ausgaben, da habe ich wieder Dinge geändert. Ein Beispiel: „Er hetzt seine Rüden auf uns“. Diesen Satz habe ich immer wieder geändert. Beim ersten Mal habe ich die „Rüden“ übersetzt mit „ses grands chiens“, weil „chiens“ ein starkes Wort ist. Das normale Wort für Rüden wäre „Bluthunde“ oder „Doggen“, also „dogue“ im Französischen. Das Problem dabei: Das klingt englisch, diese Übersetzung ist also unmöglich und ausgeschlossen. „Chien de guerre“ (in etwa: „Kriegshund“) habe ich ausprobiert, aber das ist zu kompliziert. Später entdeckte ich das Wort „molosse“ (in etwa: „Hof hund“), da gibt es das „SS“ im Wort – damit wird ganz viel gesagt. In den letzten zehn Jahren gab es verschiedene Gedichtausgaben von Celan – und jedes Mal habe ich etwas geändert. Was haben Sie von Celan über die deutsche Literatur gelernt? Er unterhielt Deutschland gegenüber ein feindliches Verhältnis. Selbst gegenüber Thomas Mann und Theodor Adorno. Von ihm habe ich zwar viel über die deutsche Sprache gelernt, aber nichts über die deutsche Literatur. Das wollte er auch nicht, das war Absicht. berlin 2012 Ist es Ihnen manchmal auch sehr leicht gefallen, etwas zu übersetzen? Es gibt Gedichte, da ist das Übersetzen wirklich eine Zumutung. Gedichte von Christian Morgenstern beispielsweise. Wenn man es dann schafft, ist man zufrieden. Mir gefällt der Ton der Übersetzung eines Gedichts von Conrad Ferdinand Meyer: „Stapfen“. Es ist ein melancholisches Gedicht, wo ein Junge an der Seite eines Mädchens nach Hause geht – und es passiert nichts zwischen den beiden, aber es passiert das Gefühl. Sie erwähnten das Airport-Englisch. Blutet Ihr Herz, wenn Sprache von Anglizismen durchsetzte wird? Die deutsche Sprache ist immer sehr gastfreundlich gewesen. Es ist ein Vorteil des Deutschen, dass es so viel von anderen Sprachen übernimmt. Und das passiert fast immer in Sprechsituationen, in denen es leichter ist mit einem englischen Wort. Beispielsweise der „Trend“ – das ist zum deutschen Wort geworden und es stört keinen. Niemand überlegt sich, wo das herkommt. Die französi- sche Sprache ist nicht so gastfreundlich. Aber eine Sprache ist ein ökonomisches System. Sie ist, soweit es geht, sparsam. Wenn die Zwangsjacke zu eng wird, dann findet man andere Lösungen, und die beobachtet man als Übersetzer. Das Kriterium ist ganz einfach. Wenn ein Wort sich durchsetzt, dann nur, weil man es braucht. Ein Beispiel aus dem Französischen: „une espèce de fogue“ („eine Art Nebel“). Was könnte man sonst verwenden: „brouillard“, „brume“ – aber das ist nicht das Gleiche wie „fogue“ – das ist eine Mischung aus Feuchtigkeit, Dreck und all dem in der Stadt. Bei „brouillard“ und „brume“ geht das Städtische verloren. Bei „fogue“ hingegen ist man nicht auf der Wiese. Welche deutsche Literatur sollte man gelesen haben, um Einblick in die deutsche Literatur zu bekommen? Heinrich Heine zum Beispiel. Aber man sollte sich davon überzeugen, dass es in Deutschland nicht nur Romantiker, Goethe und Thomas Mann gibt, sondern auch andere Schriftsteller. Wissen Sie, das Schlimmste an der gegenseitigen Beurteilung sind nicht die Vorurteile, sondern, wenn es sie nicht gibt! Weil das Vorurteil ein erster Schritt zur Weisheit ist. Dann darf man die Leute enttäuschen, man hat einen Anfang! Würden Sie sagen, man ist als Übersetzer der Fährmann zwischen den Kulturen? Nein, die Metapher ist völlig falsch für die Arbeit als Übersetzer. Das ist sprachlich gegeben. Die Fährmann-Metapher schließt ein, dass man ein Paket mitnimmt und überträgt. Man wäre dann ein „porteur“, ein Träger – aber das gibt es nur im Himalaja. Da trägt einer die Last tagelang. Es ist eine schöne, melancholische romantische Metapher – aber sie ist wertlos. Was war Ihrer Meinung nach das wichtigste Buch, das Sie übersetzt haben – und bei dem Sie am meisten getan haben für den Kulturdialog der beiden Länder? Die wichtigste Übersetzung war für mich Hegels „Phänomenologie des Geistes“ – die wichtigste Entdeckung war sicher Paul Celan. 33 AnstoSSen Wein und bier Der feine Unterschied Von Stephen Clarke I m September 2012 hielt Präsident François Hollande in Ludwigsburg eine eigenwillige Rede zum 50. Jahrestag der deutsch-französischen Freundschaft. Er verglich die Beziehung beider Staaten mit der eines „alten Paares, das schon lange zusammen ist und manchmal die Orientierung verliert“. Das klang weniger nach einer Freundschaftserklärung als nach einer Entschuldigung für Senilität oder Ehebruch, es klang wie die Erkenntnis, dass sich beide Partner entfremdeten. Noch bis knapp vor seiner Wahlniederlage im Mai 2012 riet Nicolas Sarkozy seinen Bürgern, sie sollten „arbeiten wie die Deutschen“. Eigentlich meinte er damit, dass die französischen Arbeiter, Gewerkschaften und Chefs mehr Gewinn vom Leben hätten, würden sie gemeinsam aushandeln, wie alle die Rezession durchstehen könnten, statt sich nach alter französischer Sitte gegenseitig die Schuld am Ganzen zuzuschieben, während die Wirtschaft den Bach runtergeht. Die Franzosen verstanden den Aufruf jedoch als „mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“. Solches Denken ist den meisten Franzosen verhasst, die es (vernünftigerweise, finde ich) vorziehen, gerade genug zu arbeiten, um sich ihren bequemen Lebenswandel und anständige Altersbezüge leisten zu können – mehr nicht. Die Franzosen sehen es als ihr Grundrecht an, ihren Chef zu verachten und sich über ihren Job zu beklagen, selbst vor der Kundschaft. Die deutsche Einstellung, dieser Job sei „eine Beschäftigung, für die ich bezahlt werde, und daher bin ich meinem Arbeitgeber wenigstens moralisch halbwegs verpflichtet“, geht ihnen beinahe völlig ab. Das soll nicht heißen, in Frankreich wäre der Kundendienst schlecht. Vielmehr hatte ich in Deutschland manchmal das Gefühl, nur aus moralischem Zwang heraus ordentlich bedient zu werden, wohingegen in Frankreich hervorragende Dienstleistung mitunter eine Art soziale Vergeltung ist – der Angestellte gibt dem Kunden mehr als das Erwartete und nimmt somit dem Chef einen Teil seines Profits. Die Franzosen richten ihr Augenmerk auf die Lebensqualität. Sie legen es auf lange Mahlzeiten und geschliffene Konversation an. Die Deutschen gleichen eher uns Briten. Wir wissen unsere Essenszeiten zu schätzen, aber sie sollen nicht den ganzen Tag dauern. Statt an schlauen Gesprächen erfreuen wir uns an spöttischem Geplänkel und gemeinsamen Zechereien ohne begleitende Speisen. Aber die Deutschen haben kein Monopol auf harte Arbeit. Die Franzosen arbeiten durchaus (außerhalb ihrer langen Ferien), und ihre Beachtung der Lebensqualität bringt der Wirtschaft gewaltige Vorteile. Nicht zufällig exportiert gerade Frankreich Luxusmarken und Delikatessen in alle Welt. Beim Essen unterscheiden sich die beiden Länder wahrscheinlich am stärksten. Die Franzosen sehen in den Deutschen (zu Unrecht) ein Volk, das sich nur von Sauerkraut, Würstchen und Bier ernährt. Dabei vergessen die Franzosen, dass sie selbst ganz ähnliche Sachen essen und trinken, und sehen stillschweigend über die Existenz deutschen Weins hinweg. Frankreich ist in seinem Kern eine Nation von Weintrinkern. Das Land hat ein Gespür für die eigene Veredelung und ist trotz aller Beteuerungen von Gleichheit ausgesprochen klassenbewusst – schließlich kann eine „gute“ Flasche Wein tausendmal mehr kosten als ein „vin ordinaire“. Die Deutschen sind ihrem Wesen nach Biertrinker und daher weniger snobistisch und stärker nutzenorientiert. Sie trinken, um angespannte Lebenslagen erträglicher zu machen und beisammen zu sein, statt aus beinahe intellektuellem Genuss an einer „guten“ Flasche. So überrascht es nicht, dass der Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland zu den Gründen gehörte, deretwegen Monsieur Sarkozy die Präsidentschaftswahl verlor. Und das könnte einer der wahren Gründe gewesen sein, weshalb der Sieger, Monsieur Hollande, seinen deutschen Nachbarn gegenüber eine gewisse, wenn auch verhaltene Herzlichkeit zum Ausdruck brachte. Paris 2010 Aus dem Englischen von Johannes Sabinski 34 Je näher man sich kommt, desto mehr sieht man die Unterschiede. Aber die Unterschiede sind das Wertvolle in Europa. Thomas Ostermeier, künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne und Präsident des Deutsch-Französischen Kulturrates Ich wundere mich Immer wieder über dieses ganz spezielle Pariser Flair. Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister von Berlin Das deutsch-französische Paar hat viele gute Chancen, dauerhaft zu bestehen, aber es sollte sich nicht mit einem gemeinsamen Konto zufriedengeben. Véronique Cayla, Präsidentin von Arte Berlin und Paris teilen eine Reihe von Werten, die die Rolle von Metropolen in Europa und der Welt definieren: eine aktive Solidarität zugunsten eines Dialogs zwischen den Kulturen und des Friedens zwischen den Völkern. Bertrand Delanoë, amtierender Bürgermeister von Paris Impressum Herausgeber Institut für Auslandsbeziehungen Ronald Grätz, Generalsekretär des ifa Chefredakteurin Jenny Friedrich-Freksa Art DireKtion Christine Rampl Redaktion Rosa Gosch, Claire-Lise Buis mitarbeit Christine Müller Schlussredaktion Kathrin Kurz Deutschland und Frankreich: Es ist ein Paar, das gut zusammenpasst. Es ist vielleicht nicht mehr die leidenschaftliche Liebe, aber nach 50 Jahren bleibt das Wesentliche: das Wohlwollen und die Zärtlichkeit. Pierre Gagnaire, Starkoch Zusammengestellt von Claire-Lise Buis Anschrift der Redaktion KULTURAUSTAUSCH Institut für Auslandsbeziehungen Linienstraße 139/140, D-10115 Berlin Anschrift des Herausgebers Institut für Auslandsbeziehungen Charlottenplatz 17, D-70173 Stuttgart DRUCKEREI Kartenhaus Kollektiv Regensburg Eine Publikation im Rahmen der Maßnahmen des Auswärtigen Amtes zum 50. Jubiläum des Élysée-Vertrags. Die Deutschen sind immer gut gelaunt, haben so eine andere Mentalität und eine ganz andere Kultur. Franck Ribéry, Fussballer